Internationale Beziehungen
Eine Einführung
0130
2017
978-3-8233-7744-3
978-3-8233-6744-4
Gunter Narr Verlag
Anja Jetschke
Als Einführung für Bachelor-Studierende der Politikwissenschaft oder Nachschlagewerk für höhere Semester stellt der Band zentrale Konzepte und Theorien vor und verbindet sie systematisch mit den wichtigsten Phänomenen der Internationalen Beziehungen. Der erste Teil vermittelt die Geschichte der Internationalen Beziehungen und ihre globalen Trends vom Wiener Kongress bis zum Ende des Ost-West-Konflikts. Der zweite Teil befasst sich mit den wichtigsten Theorien der Internationalen Beziehungen und erläutert ihre Grundannahmen und Erklärungsansprüche. Im dritten Teil schließlich werden die wichtigsten aktuellen Forschungsfelder vorgestellt und zentrale Probleme aus Sicht der Theorien der Internationalen Beziehungen erläutert. Umfangreiches Zusatzmaterial im Internet ergänzt die Darstellung und bietet Möglichkeiten zur Vertiefung.
<?page no="0"?> ISBN 978-3-8233-6744-4 www.bachelor-wissen.de www.narr.de Als Einführung für Bachelor-Studierende der Politikwissenschaft oder Nachschlagewerk für höhere Semester stellt der Band zentrale Konzepte und Theorien vor und verbindet sie systematisch mit den wichtigsten Phänomenen der Internationalen Beziehungen. Der erste Teil vermittelt die Geschichte der internationalen Beziehungen und ihre globalen Trends vom Wiener Kongress bis zur Arabellion. Der zweite Teil befasst sich mit den wichtigsten Theorien der Internationalen Beziehungen und erläutert ihre Grundannahmen und Erklärungsansprüche. Im dritten Teil schließlich werden die wichtigsten aktuellen Forschungsfelder vorgestellt und zentrale Probleme aus Sicht der Theorien der Internationalen Beziehungen erläutert. Umfangreiches Zusatzmaterial im Internet ergänzt die Darstellung und bietet Möglichkeiten zur Vertiefung. Jetschke Internationale Beziehungen Internationale Beziehungen Anja Jetschke Eine Einführung <?page no="1"?> narr BACHELOR-WISSEN.DE ist die Reihe für die modularisierten Studiengänge ▸ die Bände sind auf die Bedürfnisse der Studierenden abgestimmt ▸ das fachliche Grundwissen wird in zahlreichen Übungen vertieft ▸ der Stoff ist in die Unterrichtseinheiten einer Lehrveranstaltung gegliedert ▸ auf www.bachelor-wissen.de finden Sie begleitende und weiterführende Informationen zum Studium und zu diesem Band <?page no="2"?> Internationale Beziehungen Anja Jetschke Mit umfangreichem Download-Material unter: http: / / openilias.uni-goettingen.de/ lehrbuch_IB Eine Einführung <?page no="3"?> Idee und Konzept der Reihe: Johannes Kabatek, Professor für Romanische Philologie mit besonderer Berücksichtigung der iberoromanischen Sprachen an der Universität Zürich. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen · Deutschland Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.bachelor-wissen.de E-Mail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISSN 1864-4082 ISBN 978-3-8233-6744-4 <?page no="4"?> V Einheit Inhalt Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII 1 Globalgeschichte der internationalen Beziehungen I: Vom Wiener Kongress bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs . . . . . . 1 1.1 Die Welt zwischen 1815 und 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.2 Die Ordnung des Wiener Kongresses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.3 Die wichtigsten globalen Trends und Entwicklungen vom Wiener Kongress bis zum Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1.3.1 Territoriale nationalstaatliche Expansion . . . . . . . . . . . . . . . 12 1.3.2 Nationalstaatliche Entwicklung und die Verbreitung unabhängiger Verfassungsstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1.3.3 Industrielle Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.4 Innerstaatlicher und geopolitischer Wandel 1860-1870 . . . . . . . . 18 1.5 Der Wettlauf Europas um kolonialen Besitz 1870-1914 . . . . . . . . 21 1.5.1 Die Kolonialisierung Afrikas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.5.2 Die Kolonialisierung Asiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.6 Deutschland und Japan als aufsteigende Mächte . . . . . . . . . . . . . . 26 1.7 Globaler Wandel und der Weg in den Ersten Weltkrieg . . . . . . . . 28 1.8 Die Welt zwischen 1919 und 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 1.9 Die Ordnung der Versailler Verträge (1919) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 1.10 Die wichtigsten globalen Trends und Entwicklungen (1919-1939) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1.10.1 Weltwirtschaftliche Verflechtung und Weltwirtschaftskrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1.10.2 Die Welt zwischen kommunistischer Revolution und Autoritarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1.10.3 Flottenrüstungswettlauf in Asien und Europa . . . . . . . . . . 43 1.11 Globaler Wandel und der Weg in den Zweiten Weltkrieg . . . . . . . 45 Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 <?page no="5"?> VI I nhalt 2 Globalgeschichte der internationalen Beziehungen II: Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis nach dem Ost-West-Konflikt 53 2.1 Die Ordnung der Alliierten Konferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2.2 Regionale Konflikte und die Formierung des Ost-West-Konflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2.3 Die wichtigsten globalen Trends und Entwicklungen von den Alliierten Konferenzen bis Mitte der 1960er Jahre . . . . . . . . . . . . . 62 2.3.1 Blockbildung (1948-1963) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2.3.2 Die regionale Teilordnung Europas: Westeuropäische Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2.3.3 Dekolonisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 2.3.4 Dekolonisationskriege in Afrika und Asien . . . . . . . . . . . . 71 2.3.5 Regionale Ordnungskonflikte in der Nahsicht . . . . . . . . . . 73 2.3.5.1 Der Nahost-Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 2.3.5.2 Der Angola-Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2.3.6 Die Verbreitung autoritärer Staaten in der Dritten Welt . 80 2.4 Alternative Blockbildung und Spannungen innerhalb der Blöcke 82 2.5 Entspannungspolitik: Partielle Ost-West-Kooperation (1963-1979) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 2.6 Globale Effekte der Dritten Demokratisierungswelle ab 1974 . . . 88 2.7 Das Ende der Entspannungspolitik und Rüstungswettlauf (1979-1988) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 2.8 Die Ordnung nach dem Ost-West-Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 2.8.1 Die globalen Effekte der Auflösung der Sowjetunion . . . . 95 2.8.2 Die Einbindung eines vereinigten Deutschlands . . . . . . . . 96 2.9 Friedenssicherung im Schatten des unipolaren Moments und der wachsenden Autorität internationaler Organisationen . . . . . 98 2.10 Die wichtigsten globalen Trends und Entwicklungen (1990-2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2.10.1 Demokratisierung im globalen Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . 101 2.10.2 Staatszerfall und die Verbreitung von Bürgerkriegen . . . . 104 2.10.3 Die wachsende Bedeutung von Regionalorganisationen . 106 2.11 Demokratisierungstrends, Bürgerkriege und Friedenssicherung im Nahen und Mittleren Osten und Südwestasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 2.12 Aufstieg der Schwellenländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 <?page no="6"?> VII I nhalt Einheit Inhalt 3 Was sind internationale Beziehungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 3.1 Internationale Politik--= Internationales Regieren ohne Staat . . . 116 3.2 Internationale Politik und internationale Beziehungen . . . . . . . . . 118 3.3 Der Gegenstandsbereich internationaler Politik . . . . . . . . . . . . . . . 120 3.4 Brauchen wir Theorien der internationalen Beziehungen? . . . . . 123 3.5 Warum Theorien? -- Funktionen von Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . 124 3.6 Warum gibt es keine Theorienverdrängung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 3.7 Große Debatten-- Pragmatischer Eklektizismus . . . . . . . . . . . . . . . 131 Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 4 Realismus und Neorealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 4.1 Die neue Machtpolitik in Europa und Asien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 4.2 Klassischer Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 4.3 Struktureller Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 4.4 Kernannahmen des Strukturellen Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 4.5 Sicherheitsdilemma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 4.6 Machtgleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 4.7 Ordnungen innerhalb des internationalen Systems . . . . . . . . . . . . 146 4.8 Weiterentwicklungen der neorealistischen Theorie . . . . . . . . . . . . 147 4.9 Sind Realismus und Struktureller Realismus Theorien, die Kriege befürworten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 4.10 Sind Deutschland und Europa machtvergessen? . . . . . . . . . . . . . . . 151 Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 5 Neoliberaler Institutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 5.1 Warum kooperieren Staaten nicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 5.2 Entwicklung des neoliberalen Institutionalismus in den Internationalen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 5.3 Interdependenz als Schlüsselkonzept des Institutionalismus . . . . 158 5.4 Kooperation durch Hierarchie oder Institutionen . . . . . . . . . . . . . 162 5.5 Herausforderungen für internationale Kooperation-- Spieltheoretische Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 5.5.1 Gefangenendilemma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 5.5.2 Kampf der Geschlechter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 5.5.3 Die Kollektivgutproblematik oder die Tragödie der Allmende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 5.6 Die evolutionäre Entwicklung von Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . 171 5.7 Institutionen als Weg aus dem Kooperationsdilemma . . . . . . . . . 172 5.8 Einfluss der Situationsstruktur auf Institutionen . . . . . . . . . . . . . . 174 <?page no="7"?> VIII I nhalt 5.9 Design und Unabhängigkeit von internationalen Institutionen . 175 Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 6 Marxistische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 6.1 Warum führt internationale Kooperation zu Ausbeutung und Krisen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 6.2 Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse als Schlüsselkonzepte des Marxismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 6.3 Kernannahmen marxistischer Theorien in den Internationalen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 6.4 Historisch-soziologisches Theorieverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 6.5 Marxistische Theorien internationaler Beziehungen . . . . . . . . . . . 189 6.6 Die Weltsystemtheorie von Immanuel Wallerstein . . . . . . . . . . . . . 190 6.7 Neo-Gramscianismus: Robert Cox . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 6.8 Benno Teschke: Marxistische Theorie und Anarchie im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 7 Liberale Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 7.1 Innerstaatliche und internationale Politik: Wie hängen sie zusammen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 7.2 Liberaler Internationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 7.3 Analytischer Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 7.4 Zwei-Ebenen-Spiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 7.5 Kernannahmen analytisch-liberaler Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 7.5.1 Präferenzen innerstaatlicher Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 7.5.2 Aggregation der gesellschaftlichen Präferenzen durch Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 7.5.3 Interaktion zwischen Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 7.6 Varianten des Liberalismus nach Moravcsik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 7.6.1 Ideeller Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 7.6.2 Kommerzieller Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 7.6.3 Republikanischer Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 7.7 Liberaler Internationalismus und das Ende des Ost-West-Konflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 7.8 Analytischer Liberalismus und regionale Kooperation . . . . . . . . . 222 Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 <?page no="8"?> IX I nhalt Einheit Inhalt 8 Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 8.1 Können nicht-staatliche Akteure internationale Politik beeinflussen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 8.2 Entwicklung des Konstruktivismus in den Internationalen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 8.3 Die Anarchie des internationalen Systems als eine Sicherheitskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 8.4 Kollektives Wissen als Schlüsselkonzept des Konstruktivismus . 234 8.5 Handlungslogiken: Konsequentialismus und Angemessenheit . . 241 8.6 Wandel als Konstante der internationalen Politik . . . . . . . . . . . . . . 243 8.7 Beobachtbare Effekte einer internationalen Sozialstruktur . . . . . 245 8.8 Können soziale Strukturen kausale Wirkung entfalten? . . . . . . . . 248 8.9 Anwendungsbeispiel: Die Kony 2012-Kampagne . . . . . . . . . . . . . . 249 Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 9 Poststrukturalismus (mit Maren Wagner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 9.1 Bilder und Texte als Gegenstand internationaler Politik . . . . . . . . 258 9.2 Entwicklung des Poststrukturalismus in den Internationalen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 9.3 Sprache als Schlüsselkonzept des Poststrukturalismus . . . . . . . . . 263 9.4 Unterschiede zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 9.5 Wie stabilisiert und destabilisiert Sprache das internationale System als kulturelle Ordnung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 9.6 Dekonstruktion von Theorien der Internationalen Beziehungen durch Poststrukturalisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 9.7 Postkolonialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 9.8 Feministische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 9.9 Gender und internationale Beziehungen: Frauen in den Hierarchien privat/ öffentlich und innerstaatlich/ international . . 278 Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 10 Internationale Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 10.1 Der steinige Weg zur Bombe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 10.2 Das Dilemma der Atomenergie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 10.3 Komponenten einer Atomwaffe: Nukleares Material, Anreicherungsanlagen, Trägersysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 10.4 Nukleare Nichtverbreitungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 <?page no="9"?> X I nhalt 10.4.1 Kontrolle des spaltbaren Nuklearmaterials: Der Nichtverbreitungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 10.4.2 Technologiekontrolle: Zangger-Komitee und die Nuclear Suppliers Group . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 10.4.3 Kontrolle der Trägersysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 10.5 Atomwaffenfreie Zonen und Teststoppabkommen . . . . . . . . . . . . 296 10.6 Nukleare (Nicht-)Verbreitung und die Theorien der Internationalen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 10.6.1 Struktureller Realismus: Warum wollen Staaten die Bombe? Und wie kommt es zur Proliferation? . . . . . . . . . . 297 10.6.2 Institutionalismus: Warum besitzen die meisten Staaten keine Bombe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 10.6.3 Konstruktivismus: Wozu brauchen Staaten die Bombe? Und warum wird es in Zukunft Atomwaffenstaaten geben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 10.7 Warum die Bombe? -- Determinanten für den Besitz von Atomwaffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 11 Globale Machtverschiebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 11.1 Was sind aufstrebende Mächte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 11.2 BRIC: Schwellenländer auf der Überholspur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 11.3 Grundlagen des wirtschaftlichen Erfolgs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 11.4 Governance-Indikatoren: Die BRIC-Staaten auf verschiedenen Spuren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 11.5 BRIC: Natürliches oder strategisches Bündnis? . . . . . . . . . . . . . . . . 317 11.6 BRIC und die Theorien der Internationalen Beziehungen: Ein Fall von Machttransition in den internationalen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 11.6.1 Machttransitionstheorie: Aufsteigende Mächte als potentiell gefährliche Herausforderer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 11.6.2 Liberaler Internationalismus: Warum die US-Hegemonie überdauern wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 11.6.3 Institutionalismus: Autorität und Politisierung internationaler Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 12 Der internationale Klimaschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 12.1 Die Dringlichkeit des Klimawandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 <?page no="10"?> XI I nhalt Einheit Inhalt 12.2 Erderwärmung, Treibhauseffekt und globaler Klimawandel . . . . 333 12.3 Welche Staaten haben den größten CO 2 -Ausstoß? . . . . . . . . . . . . . 336 12.4 Geschichte des internationalen Klimaschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . 338 12.5 Elemente einer internationalen Klimaschutzpolitik . . . . . . . . . . . . 344 12.6 Klimaschutzrahmenkonvention und das Kyoto-Protokoll: Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 12.7 Der internationale Klimaschutz und Theorien der Internationalen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 12.7.1 Institutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 12.7.1.1 Interdependenz, Trittbrettfahrer, Gemeinschaftsgüter . 348 12.7.1.2 Problem der großen Gruppen und unterschiedlicher Verhandlungsmacht . . . . . . . . . . . . . . . 350 12.7.2 Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 13 Internationaler Menschenrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 13.1 Menschenrechtsverletzungen früher und heute . . . . . . . . . . . . . . . 358 13.2 Internationale Entwicklung des Menschenrechtsschutzes . . . . . . 359 13.3 Welche Faktoren begünstigen die Einhaltung von Menschenrechten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 13.4 Internationale Menschenrechtsverträge-- Papiertiger oder effektive Beschränkung von Staatenverhalten? . . . . . . . . . . . . . . . . 371 13.5 Internationaler Menschenrechtsschutz und die Theorien der Internationalen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 13.5.1 Liberale Theorie: Anreize für sich demokratisierende Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 13.5.2 Konstruktivismus: Debatten über Menschenrechte ändern Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 14 Regionalismus und regionale Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 14.1 Verlangt die Euro-Krise nach mehr regionaler Integration? . . . . 380 14.2 Die Ausbreitung von Regionalorganisationen seit 1945 in Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 14.3 Regionalorganisationen im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 14.4 Warum gibt es einen Trend zu Regionalisierung? . . . . . . . . . . . . . . 384 14.5 Regionale Integration als wachsende Interaktionen . . . . . . . . . . . . 387 14.6 Regionale Integration als Aufbau von Entscheidungsstrukturen 387 14.7 Wie stark integriert ist die EU? -- Und wie viele EUs gibt es? . . . 393 <?page no="11"?> XII I nhalt 14.8 Warum vertieft sich Integration und kann sie sich verselbstständigen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 14.8.1 Institutionalismus: Supranationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . 398 14.8.2 Analytischer Liberalismus: Intergouvernementale Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 14.9 Die Euro-Krise und die Theorien der internationalen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 14.9.1 Neo-Gramscianismus: Der Kampf um die soziale Bestimmung der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 14.9.2 Konstruktivismus: Ist die Euro-Krise ein Indikator für mangelnde europäische Identität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 15 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 16 Nachweise der Abbildungen, Tabellen und Tafeln . . . . . . . . . . . . 415 17 Tafelteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 <?page no="12"?> XIII I nhalt Einheit Vorwort Vorwort Die vorliegende Einführung in die Internationalen Beziehungen als Teildisziplin der Politikwissenschaft ist als Lehr- und Übungsbuch für eine Vorlesung oder ein Einführungsseminar konzipiert. Sie richtet sich in erster Linie an Studierende der Politik- und Sozialwissenschaften, eignet sich aber auch für Master-Studierende, die das erste Mal in einem Master-Studiengang ein Modul Internationale Beziehungen besuchen oder die ihre Kenntnisse der internationalen Beziehungen aus dem Bachelor-Studium auffrischen wollen. Die Teildisziplin Internationale Beziehungen hat sich als interdisziplinäres Fach herausgebildet. Die Diplomatie- und Zeitgeschichte hat sie ebenso geprägt wie die Politikwissenschaft und in neuerer Zeit die Soziologie oder die Kulturwissenschaften. Genau das macht Internationale Beziehungen als Fach so faszinierend und übt eine hohe Attraktion auf Studierende aus. Wenn aber prinzipiell die ganze Welt Gegenstandsbereich der Internationalen Beziehungen ist und diese unter Beteiligung vieler Disziplinen untersucht wird, dann ist die Herausforderung umso größer, in einer einführenden Darstellung die richtige Balance zwischen der Breite des Faches und der notwendigen Tiefe zu finden. Denn es ist die Balance, die das Bachelor-Studium als strukturiertes Studium auszeichnet. Der Anspruch dieses Lehrbuchs ist es, internationale Politik aus einer globalen Perspektive zu vermitteln: Dabei sind die Inhalte im Vergleich zu den anderen Lehrbüchern in Raum und Zeit weiter ausgreifend. Räumlich betrachtet wirft das Lehrbuch den Blick nicht nur auf die OECD-Welt, sondern über diese hinaus. Der Globale Süden und die aufstrebenden Staaten Brasilien, Indien und China als neue Akteure werden ebenso behandelt wie die EU. Die Themen internationale Sicherheit, Klimaschutz und Menschenrechte sind sowieso globale Themen. Aber sie werden bewusst in einer globalen und regionalen Dimension diskutiert, sowie im Hinblick auf Staaten des Globalen Nordens und des Globalen Südens. Zeitlich betrachtet behandelt das Lehrbuch nicht nur aktuelle Phänomene, sondern es gibt auch einen Überblick über die historische Entwicklung der internationalen Beziehungen. Die Globalgeschichte der internationalen Beziehungen erfreut sich zunehmender Aufmerksamkeit, aber sie findet nur sehr selten Eingang in die Lehrbücher der Disziplin. Auch hier ist der Anspruch des Lehrbuchs also global. Es geht nicht nur um die Darstel- IB = Internationale Beziehungen Räumlich: Nicht nur OECD-Welt, sondern auch Globaler Süden Zeitlich: Geschichte und aktuelle Phänomene der internationalen Beziehungen <?page no="13"?> XIV V orwort lung der Geschichte der internationalen Beziehungen in Europa, sondern auch um ihren Zusammenhang mit Ereignissen in anderen Teilen der Welt. Dieses Lehrbuch ist in drei Teile gegliedert: einen historischen Teil (Einheit 1 und 2), einen theoretischen Teil (Einheit 3-9) und einen Anwendungsteil (Einheit 10-14). Der erste Teil liefert einen Überblick über die historische Entwicklung der internationalen Beziehungen zwischen 1815 und 2015. Die Darstellung der Geschichte der internationalen Beziehungen verfolgt dabei einen neuartigen Ansatz: Er verbindet den Fokus auf die großen Friedensverträge und die damit verbundenen Ordnungen der letzten beiden Jahrhunderte mit einer Darstellung der wichtigsten globalen Trends, wie der Ausbreitung von Verfassungsstaaten, Demokratisierung, aber auch Kolonisation und Dekolonisation. Dadurch ist es möglich, Entwicklungen aus einer globalen Perspektive darzustellen, ohne das Kapitel mit Einzeldaten zu überfrachten. Dieser Ansatz macht sich vor allem aktuelle Erkenntnisse aus der Forschung über die internationale Verbreitung von Ideen und Institutionen, aber auch der institutionellen Designforschung zunutze. Der zweite Teil umfasst bedeutende theoretische Erklärungsansätze. Auch hier ist das Lehrbuch breit angelegt. Der Theorienkanon der Internationalen Beziehungen umfasst sowohl die Mainstream-Theorien wie den Realismus, Institutionalismus, Liberalismus und Konstruktivismus als auch kritische Ansätze wie marxistische Theorien und den Poststrukturalismus. Diese breite Anlage macht eine Beschränkung notwendig: Es werden die jeweils einflussreichsten Ansätze präsentiert, nicht aber alle Ausdifferenzierungen der Theorie katalogisiert. Der dritte Teil gibt einen Überblick über wichtige Problemfelder der internationalen Beziehungen, wie Sicherheit, Umwelt und Menschenrechte. Darüber hinaus geht er auf neue Trends ein wie den Aufstieg der Schwellenländer und die Zunahme von Regionalisierung. Damit sind sowohl die klassischen Politikfelder abgedeckt als auch bedeutende neue Phänomene. Angesichts der Fülle der Herausforderungen, mit denen sich die internationale Politik konfrontiert sieht, musste auch hier eine Auswahl getroffen werden. Folglich werden viele andere Themen wie die internationalen Finanzkrisen oder Migration und Flüchtlinge nicht behandelt. Sie haben aber die Möglichkeit, auf einen umfassenden Online-Content zuzugreifen, der zusätzliche Themen behandelt. Der Ansatz dieses Lehrbuchs für die Darstellung der Problemfelder besteht darin, erstens grundlegendes Wissen über die Themen zu vermitteln, zweitens internationale Bemühungen zur Regelung der Probleme darzustellen und drittens diese mithilfe der Theorien der internationalen Beziehungen zu erklären. Dabei geht es darum, die grundlegend unterschiedlichen Herangehensweisen der Theorien exemplarisch darzustellen. Die Einheiten verzichten auf einen stringenten Theorietest, der am Ende die Klassische Politikfelder und neue Phänomene http: / / openilias. uni-goettingen.de/ lehrbuch_IB <?page no="14"?> XV V orwort Einheit Vorwort Überlegenheit einer Theorie oder deren jeweilige Erklärungsreichweite zeigt. Ziel ist es vielmehr, die Anwendung der Theorien auf ganz unterschiedliche Themen zu wiederholen und dadurch das zugrundeliegende Erklärungsschema zu erkennen und zu verinnerlichen. Die Lernziele der einzelnen Teile sind die folgenden: Neben diesen inhaltlichen Aspekten zeichnet sich dieses Lehrbuch durch sein didaktisches Konzept aus: Viele Details erleichtern die Lektüre und das Verarbeiten von viel Text. Zu Beginn des Lehrbuchs finden Sie jeweils eine Synopse, die die Lernziele der Kapitel zusammenfasst. Innerhalb der einzelnen Teile-- der Geschichte, Theorien, Problemfelder-- sind die Kapitel weitgehend einheitlich gegliedert: Auf diese Weise können jeweils historische Epochen, Theorien und Problemfelder miteinander verglichen werden. Die Fülle an Information lässt sich dadurch schneller verarbeiten und prägt sich Lernziel zum Ende des 1. Teils Ziel Überblick über die historische Entwicklung der internationalen Beziehungen im Zeitabschnitt 1815-2015 Zugang ▶ Ursachen und Verlauf der großen Kriege ▶ Inhalte der großen Friedensverträge als Versuche, eine globale Ordnung, eine Friedensordnung zu etablieren ▶ zeitliche Abfolge und geografische Ausbreitung wichtiger Trends ▶ Effekte dieser Trends auf die internationalen Beziehungen Lernziel zum Ende des 2. Teils Ziel Überblick über das konzeptuelle und theoretische Instrumentarium der Internationalen Beziehungen Zugang ▶ Breite des theoretischen Analyseinstrumentariums der internationalen Beziehungen wird dargestellt, Begründung seiner Notwendigkeit ▶ Fokus: Kernkonzepte, Kernannahmen und Strukturwirkungen für internationale Beziehungen, die die Theorien etablieren ▶ Anwendungsbeispiele illustrieren Theorien, Beispiele aus der Forschung zur historischen Entwicklung der internationalen Beziehungen stellen Verbindung zu Teil I her Lernziel zum Ende des 3. Teils Ziele Überblick und ein vertieftes Verständnis einzelner Problemfelder und neuer Phänomene Zugang ▶ Grundlegende Einführung in aktuelle Herausforderungen der internationalen Politik ▶ Referenzen zu aktuellen Forschungsergebnissen zeigen auf, was wir über empirische Zusammenhänge wissen ▶ Erklärungen aus dem Pool der Theorien aus Teil II werden exemplarisch angewandt und vermitteln die jeweilige grundlegende Herangehensweise an die Themen Lernziele des Lehrbuchs Tab. 0.1 <?page no="15"?> XVI V orwort besser ein. Schlüsselbegriffe in den Randspalten bieten Anhaltspunkte für die Gliederung und erleichtern zusätzlich das schnelle Erfassen von Textinhalten. Karten, Tabellen, Definitionen, Zusammenfassungen, Anmerkungen und kleinere Fallstudien sind grafisch hervorgehoben und fokussieren auf wichtige Inhalte. Am Ende jedes einzelnen Kapitels finden sich Fragen, die dazu einladen, das Gelesene noch einmal zu rekapitulieren, den Wissensstand abzuprüfen und Themen weiter zu bearbeiten. Das Lehrbuch bietet am Ende ein Sach- und Personenregister, das Zugriff auf Inhalte des Buches gibt. Hier können zentrale Begriffe und Konzepte nachgeschlagen und rekapituliert werden. Zusammengefasst: Das Lehrbuch vermittelt nicht nur Inhalte, sondern macht es auch so leicht wie möglich, sich diese Inhalte anzueignen. Dieses Buch wäre ohne die tatkräftige Unterstützung meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht entstanden oder es sähe zumindest ganz anders aus. An erster Stelle möchte ich Angela Osorio und Nadine Schröder herzlich danken, deren konstruktive Kritik in der Frühphase des Schreibprozesses wesentlich dazu beigetragen hat, die Kapitel anschaulicher zu machen. Beide haben die Anlage des Lehrbuchs von Beginn an systematisch mit mir durchdacht. Wesentlicher Dank gebührt meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und studentischen Hilfskräften am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen der Universität Göttingen, die das Manuskript wiederholt gelesen und kommentiert haben. Dazu gehören: Jun. Prof. Dr. Bernd Schlipphak (Universität Münster), Dr. Patrick Theiner, Kristina Kurze und Benjamin Barth, Hannah Becker, Julia Egle, Lena Gottschalk, Franziska Lammers, Samira Meier, Fabian Rasem und Alina Ripplinger. Die Verantwortung für verbleibende Fehler liegt bei der Autorin. Großer Dank gebührt auch dem Narr Francke Attempto Verlag, vor allem Dr. Bernd Villhauer, Daniel Seger und Stephanie Stojanovic. Sie haben stets geduldig auf Verzögerungen reagiert und die Drucklegung professionell begleitet. Göttingen, im Sommer 2016 <?page no="16"?> Unit 1 1 Einheit 1 Globalgeschichte der internationalen Beziehungen I: Vom Wiener Kongress bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Inhalt 1.1 Die Welt zwischen 1815 und 1919 5 1.2 Die Ordnung des Wiener Kongresses 7 1.3 Die wichtigsten globalen Trends und Entwicklungen vom Wiener Kongress bis zum Ersten Weltkrieg 12 1.4 Innerstaatlicher und geopolitischer Wandel 1860-1870 18 1.5 Der Wettlauf Europas um kolonialen Besitz 1870-1914 21 1.6 Deutschland und Japan als aufsteigende Mächte 26 1.7 Globaler Wandel und der Weg in den Ersten Weltkrieg 28 1.8 Die Welt zwischen 1919 und 1945 31 1.9 Die Ordnung der Versailler Verträge (1919) 32 1.10 Die wichtigsten globalen Trends und Entwicklungen (1919-1939) 39 1.11 Globaler Wandel und der Weg in den Zweiten Weltkrieg 45 Übungen 50 Verwendete Literatur 51 <?page no="17"?> 2 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Was wäre, wenn es die Möglichkeit gäbe, eine Zeitreise in die Vergangenheit zu machen und die Welt zu drei unterschiedlichen Zeitpunkten aus einer Vogelperspektive zu erleben: 1815, 1915 und 2015. Zu allen drei Zeitpunkten würde man sich zweifelsohne an relevanten Punkten der Weltgeschichte befinden: 1815 wäre man Zeuge des Wiener Kongresses, 1915 wäre man mitten in einem Weltkrieg und 2015 würde man sich vielleicht darüber wundern, dass kein Staat mehr unter kolonialer Herrschaft steht und ein Gegensatz zwischen einem relativ friedlichen Europa und einem kriegerischen Nahen und Mittleren Osten herrscht. Zentrale Veränderungen der internationalen Beziehungen in zwei längeren und ereignisreichen Zeitabschnitten darzustellen, die durch die drei Datenpunkte markiert werden, ist das Ziel dieser und der nächsten Einheit. Das Kapitel vermittelt grundlegendes Wissen zu den empirischen Trends und Entwicklungen der globalen internationalen Beziehungen zwischen 1815 und 1939 mit dem Ziel, einen Überblick über die zentralen Veränderungen in diesem Zeitraum zu geben, die die internationalen Beziehungen beeinflusst haben. Es beschreibt und analysiert die Ursachen von zwei Weltkriegen und befasst sich mit den Inhalten der großen Friedensverträge mit dem Ziel, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den großen Friedensschlüssen bis nach dem Zweiten Weltkrieg zu erfassen. Ziel der Einführung in die Geschichte der internationalen Beziehungen ist es, einen Überblick über die Entwicklung internationaler Beziehungen zu geben, der vor allem eines leisten soll: deutlich machen, dass sich die Praxis der internationalen Beziehungen in den letzten beiden Jahrhunderten beständig gewandelt hat und aufzeigen, worin dieser Wandel genau besteht. Nehmen wir die verschiedenen Extreme, die in der Disziplin diskutiert werden: Für die Einen ist internationale Politik eine Wiederholung von großen Kriegen, die sich mit gewisser Regelmäßigkeit einstellen (Morgenthau 1954). Für Andere ist es Fortschritt in Richtung einer Zivilisierung von Politik, durch den die Machtpolitik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts durch die Schaffung internationaler Organisationen und die Zunahme internationaler Verträge gebändigt wird (Zangl/ Zürn 2004; Alter 2014). Dieser Überblick liefert-- trotz aller Kürze-- eine differenzierte Sichtweise. Er zeigt aus einem historischen und globalen Blickwinkel, wie sich zentrale Charakteristika von Staaten als bedeutende Akteure des internationalen Systems entwickelt haben, wie sich Krieg und Frieden global verteilen und welche Systeme der Friedenssicherung Staaten und andere Akteure im Lauf der Zeit entwickelt haben, um vor allem eine Wiederholung der großen Kriege der letzten beiden Jahrhunderte zu vermeiden. Die beiden Einheiten sind so konzipiert, dass sie zentrale Muster der internationalen Beziehungen erkennbar machen, die einen Schnellzugriff auch auf aktuelle Herausforderungen der Überblick <?page no="18"?> Unit 1 3 Einheit 1 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I internationalen Politik geben. Dabei geht diese und die folgende Einheit von folgenden Annahmen aus: Kernannahme 1 Die Beschaffenheit der Einheiten der internationalen Politik macht einen fundamentalen Unterschied für die internationalen Beziehungen. Deshalb lohnt es sich, etwas mehr über die Entwicklung der Staatenlandschaft zu erfahren. Es macht einen Unterschied, ob die zentralen Akteure des internationalen Systems stabil sind oder nicht, ob es sich um Demokratien oder Autokratien, Wohlfahrtsstaaten oder Entwicklungsländer, liberale oder sozialistische, sunnitische oder schiitische, säkulare oder religiöse Staaten handelt, ob sie in Sicherheitssysteme eingebunden sind oder nicht. Staatliche Charakteristika beeinflussen die internationalen Beziehungen. Diesen Zusammenhang aufzuzeigen ist Ziel der ersten beiden Kapitel. Selbst wenn im Einzelnen keine kausalen Zusammenhänge zwischen bestimmten staatlichen Charakteristika und internationalen Beziehungen hergestellt werden können, kann die Entwicklung der Staatenlandschaft über Zeit und Raum zeigen, warum in manchen Regionen Kriege ausbrechen, in anderen aber nicht, oder warum sich institutionelle Strukturen unterscheiden. Kernannahme 2 Viele Phänomene erfassen eine große Anzahl von Staaten in relativ kurzer Zeit. Sie verbreiten sich schnell über die Einheiten des internationalen Systems, in der Regel die Staaten. Solche Wellen oder Trends erzeugen eine eigene Dynamik für die internationalen Beziehungen und prägen ihre Strukturen. Das Phänomen der Trends dürfte nach der Arabellion, bei der innerhalb kürzester Zeit eine Reihe von Staaten von Demokratiebewegungen erfasst wurden, leicht zu begreifen sein. Nur Wenige wissen, dass wir es in der internationalen Politik oft mit einer solchen Häufung von Ereignissen zu tun haben. Die globale Verbreitung von Kolonisation und Dekolonisation sind beispielsweise Massenphänomene, ebenso wie die Ausbreitung von Autoritarismus und Demokratien. Genau dieses Phänomen macht sich diese Einheit zunutze, um erstens möglichst effizient globale Veränderungen darzustellen. Zweitens wird dadurch aber auch eine räumliche Dimension der Entwicklung internationaler Beziehungen abbildbar. Manche Phänomene betreffen Staatengruppen stärker oder schwächer. Drittens bietet diese Vorgehensweise aber auch einen bequemen Schnellzugriff auf die Entwicklung ganzer Staatengruppen. <?page no="19"?> 4 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Wenn man weiß, welche Staatengruppen in welchem Zeitraum von welchen Trends erfasst wurden, kann man Länder schneller einordnen: Von wem es wann kolonialisiert wurde, wann die Dekolonisation stattgefunden hat, ob es sich um eine Demokratie oder Autokratie handelt und in welche Sicherheitsbündnisse es eingebunden war oder ist. Kernannahme 3 Es gibt eine wechselseitige Abhängigkeit (Interdependenz) von Ereignissen über weite Distanzen hinweg. Ereignisse, die in einem Teil der Welt passieren, beeinflussen systematisch, was in anderen Teilen der Welt passiert. Ein Beispiel ist die Auflösung der Sowjetunion. Ihr Zusammenbruch beeinflusste nicht nur Staaten in Osteuropa, sondern auch in Afrika und in Zentralamerika. Auch wenn wir beispielsweise in Europa oftmals denken, dass Ereignisse außerhalb Europas wenig Einfluss auf Ereignisse in Europa haben (und andersherum), zeigt sich, dass sie häufig miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Weitere Beispiele: Die Dekolonisation Lateinamerikas wäre höchstwahrscheinlich sehr viel später passiert, hätte Napoleon 1808 nicht Spanien besetzt. Der Kalte Krieg hätte sich nicht verschärft und Deutschland wäre vermutlich nicht geteilt worden, hätte nicht der Koreakrieg stattgefunden. Diese Zusammenhänge punktuell aufzuzeigen und ihre Bedeutung für die Entwicklung internationaler Beziehungen aufzuzeigen, ist ein Anliegen der ersten beiden Einheiten. Kernannahme 4 Für die Verbreitung von empirischen Trends und für Zusammenhänge durch wechselseitige Abhängigkeit von Ereignissen gibt es einige soziale Mechanismen, die unterschiedliche Dynamiken der Entwicklung des internationalen Systems erklären. Diese Mechanismen erklären sowohl die Verbreitung als auch die Dynamik wichtiger Trends. Die Forschung über die Diffusion von politischen Institutionen und Praktiken liefert hier wichtige Hinweise für Mechanismen, die auf die Entwicklung der internationalen Beziehungen einwirken. Einer der wichtigsten Mechanismen ist der Einfluss mächtiger Staaten, auch hegemoniale Koordination genannt. Ein weiterer Mechanismus ist der Wettbewerb unter den Einheiten, die sich in einer ähnlichen Position innerhalb des internationalen Systems finden und ein dritter Mechanismus sind Prozesse des Lernens. Auf die eine oder andere Art und Weise werden uns diese Mechanismen immer wieder begegnen. Sowohl die Existenz von Hegemonien, wie <?page no="20"?> Unit 1 5 d Ie w elt zwIschen 1815 und 1919 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Einheit 1 das Napoleonische Frankreich oder Großbritannien im 20. Jahrhundert, wie auch ihr Zusammenbruch, zum Beispiel im Falle der Sowjetunion, haben über die jeweils mit ihnen verbundenen Staaten systemweite Effekte. Wettbewerb unter ähnlich positionierten Staaten wirkt oft als Verstärker bestehender Trends, die sich im internationalen System zeigen. Und Staaten sind in der Lage sowohl voneinander als auch untereinander und aus dramatischen Ereignissen zu lernen. Die verschiedenen Ansätze zur Friedenssicherung sind hier ein gutes Beispiel. Kernannahme 5 Viele globale Phänomene manifestieren sich lokal, innerhalb eines bestimmten geographischen Raumes. Lokale Manifestation globaler Ereignisse Viele der Entwicklungen, die für die Disziplin interessant sind, ergeben sich aus politischen Veränderungen, die sich geographisch manifestieren und deren Effekte deshalb ebenfalls oftmals geographisch lokalisierbar sind. Nicht alle Trends erfassen alle Regionen der Welt gleichmäßig. Viele Trends werden regional und lokal gefiltert. Andere Trends haben nicht-intendierte Effekte. Beispiele dafür sind die Französische Revolution, deren Effekte in ganz Europa, aber auch in Lateinamerika bemerkbar waren, aber auch die Konsequenzen der Kolonialisierung Indiens durch die Briten, die die Grundlage für das britische Interesse und eine Einmischung Großbritanniens im Nahen und Mittleren Osten legte. Die Welt zwischen 1815 und 1919 Wie sich die internationalen Beziehungen im 19. Jahrhundert gestalten, erschließt sich einfacher, wenn man zunächst den Blick auf eine Landkarte von Europa wirft. Tafel I und II (S.- 418-421) zeigen Europa vor und nach dem Napoleonischen Eroberungsfeldzug. Europa war zu diesem Zeitpunkt durch eine Macht dominiert: Frankreich unter Napoleon Bonaparte. Frankreich dominierte bereits seit dem 17. Jahrhundert die internationalen Beziehungen, aber die Herrschaft Napoleons stellte einen Höhepunkt französischer Macht in Europa dar. Napoleon hatte sich nach der Französischen Revolution aufgemacht, in einem letzten Krieg aller Kriege ganz Europa zu demokratisieren und von der monarchischen Herrschaft zu befreien. Innerhalb von wenigen Jahren hatte Napoleon die bis dahin geltende Ordnung erschüttert, mit bedeutenden Ausnahmen ganz Europa erobert und in einem Krieg der Demokratie über die Monarchien Europas deren Staatsformen verändert. Nicht mehr die Konfliktlinie zwischen Katholizismus und Protestantismus beziehungsweise Christentum und Islam wurde bestimmend für die 1.1 Dominanz Frankreichs in den internationalen Beziehungen <?page no="21"?> 6 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I internationalen Beziehungen zumindest in Europa, sondern die Konfliktlinie zwischen Demokratien und Monarchien wurde dominant. Zur Sicherung seiner Herrschaft betrieb Napoleon die Politik der Einsetzung von Verwandten in den eroberten Fürstentümern und schuf dadurch die mit ihm verwandtschaftlich vernetzten Napoleoniden-Staaten, vor allem in Italien, Spanien und Westphalen. Auf dem Höhepunkt seiner Macht dominierte Frankreich mit sehr wenigen Ausnahmen ganz Europa. Erst der Russlandfeldzug Napoleons setzte der französischen Herrschaft ein Ende. Napoleon wurde in der Völkerschlacht bei Leipzig (1813) auf dem Kontinent vernichtend geschlagen. Nach der Herrschaft der 100 Tage, die Napoleon kurzzeitig wieder an die Macht in Frankreich brachte, wurde er 1815 in der Schlacht bei Waterloo endgültig besiegt. Tafel III (S.- 422-423) zeigt Europa 1815, nach den vertraglichen Regelungen des Wiener Kongresses. Die territoriale Unabhängigkeit Spaniens, der deutschen Territorien ebenso wie der Territorien Italiens ist wieder hergestellt, wenn auch nicht in exakt den gleichen Grenzen wie vor den Napoleonischen Eroberungen. Frankreich befindet sich wieder in seinen Grenzen von 1792. Die meisten Staaten sind relativ große Flächenstaaten. Davon heben sich nur Deutschland und Italien ab, die sich-- wie vor den Napoleonischen Kriegen auch-- durch viele kleine Territorien auszeichnen. In Deutschland dominiert Preußen, das einige Besonderheiten aufweist: Es ist territorial zerstückelt, in einen Ostteil, der sich bis nach Litauen erstreckt, und in einen Westteil, der das Rheinland umfasst. Das Osmanische Reich endet erst an den Grenzen Österreichs, die südosteuropäischen Staaten sind noch integraler Bestandteil des riesigen osmanischen Herrschaftsgebietes, das auf dem eurasischen Festland bis nach Georgien reicht und auch noch die Gebiete des heutigen Israels, des Libanons und Palästinas umfasst. Die territorialen Veränderungen sind das Werk des Wiener Kongresses, der 1814 etabliert wurde, um mit den Folgen der Napoleonischen Herrschaft in Europa und in der Welt umzugehen. Die Karten sagen aber noch nichts über die Bedeutung der einzelnen Staaten aus. Deshalb ist es sinnvoll, diese kurz vorzustellen. Aus den Napoleonischen Kriegen ging eine Großmacht hervor, die alle anderen klar dominierte: Großbritannien. Es wird wie kein anderer Staat vor ihm in dem nun folgenden Jahrhundert über ein Weltreich regieren, das weniger auf der direkten Herrschaft auf dem europäischen Festland beruht als vielmehr auf einem weit verstreuten kolonialen Empire mit einem Schwerpunkt in Nordamerika und der Kontrolle über die Weltmeere. Es löst damit Frankreich ab, das das Jahrhundert vor ihm dominiert hatte, und das habsburgische Österreich, das auf dem europäischen Festland nach wie vor eine bedeutende Rolle spielt. Während in Kontinentaleuropa Frankreich, Österreich und Preußen <?page no="22"?> Unit 1 7 d Ie o rdnunG des w Iener K onGresses G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Einheit 1 die dominierenden Staaten sind-- mit Frankreich und dem habsburgischen Österreich als Antagonisten auf dem Festland-- und Portugal und Spanien durch ihren Kolonialbesitz vor allem in Lateinamerika eine bedeutende Rolle spielen, sind in der Weltpolitik Großbritannien und Russland die prägenden Staaten. Neue Staaten bilden sich einerseits in Nordamerika, andererseits in Lateinamerika, wo sich Staaten von Spanien und Portugal emanzipieren. Russland ist zugleich eine europäische, asiatische und-- zu diesem Zeitpunkt auch-- amerikanische Macht. Das Jahrhundert geht als Pax Britannica in die Geschichtsbücher ein. Dieser Ausdruck bezieht sich auf einige wesentliche Charakteristika der internationalen Ordnung, die unter Führung Großbritanniens in dieser Zeit entstand: Die Gleichgewichtspolitik in Europa, seine Herrschaft in Übersee, ein britisches Überlegenheitsgefühl und Sendungsbewusstsein, das sich auf liberale Ideen gründet, wie der Idee konstitutioneller Herrschaft (durch Verfassung), der Selbstregierung durch Kooperation für alle zivilisierten Menschen und der Idee der Freiheit der Meere und des Handels. Pax Britannica bezieht sich aber auch auf die lange Friedensperiode, die in Europa nach den Napoleonischen Kriegen einsetzte. Der lange Frieden in Europa wurde lediglich unterbrochen durch den Krim-Krieg (1853-1856) und die deutschen und italienischen Einigungskriege, die zum Teil zu internationalen Kriegen wurden. Dieses Jahrhundert verzeichnet sehr viel weniger Kriege als die Epoche davor. Dies ist umso erstaunlicher, wenn man sich die fundamentalen Veränderungen ansieht, die die internationalen Beziehungen in dieser Zeit prägten. Pax Britannica (Britischer Friede) bezeichnet die britische Hegemonie zwischen 1815 und 1919. Der Name drückt eine Analogie zu früheren Großreichen aus, wie der Pax Augusta oder der Pax Romana. Er bezieht sich sowohl auf die spezifischen ideellen Charakteristika der britischen Hegemonie als auch auf die lange Friedenszeit, die mit der Dominanz Großbritanniens verbunden ist. Pax Britannica Die Ordnung des Wiener Kongresses Für die europäischen Mächte hatte es sich bereits seit längerem eingebürgert, große Kriege durch bedeutende Verträge zu beenden. Beispiele dafür sind der Westfälische Friede von 1648, der den Dreißigjährigen Krieg beendete, oder der Frieden von Utrecht 1713, der den Spanischen Erbfolgekrieg beendete. Diese großen Friedensverträge regelten nicht nur den Umgang mit den Kriegsverlierern, sondern wurden auch als Verträge verstanden, 1.2 Große Friedensverträge als Ordnungsinstrumente <?page no="23"?> 8 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I in denen die Beziehungen zwischen den Staaten für kommende Generationen geregelt wurden. Die größere Bedeutung lag also darin, dass es um die Aushandlung von Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren für eine Friedensordnung und dadurch um Friedenssicherung ging (Murray/ Lacey 2009; Ikenberry 2014). Der Wiener Kongress selbst dauerte fast ein Jahr und an ihm nahm alles Teil, was in Europa Rang und Namen hatte. Die Teilnehmer des Kongresses- - die Repräsentanten von rund 200 Staaten in ganz Europa, darunter Außenminister Fürst Metternich für Österreich, der russische Zar Alexander, Preußens Friedrich Wilhelm III. und der britische Gesandte Lord Castlereagh- - hatten eine gewaltige Aufgabe zu bewältigen, die vor allem mit den längerfristigen Effekten der Herrschaft Napoleons zu tun hatte. Dabei ging es hauptsächlich um die Wiederherstellung (Restauration) des Gleichgewichts der europäischen Mächte vor 1792, und damit um eine Friedenssicherung. Diese hatte verschiedene Komponenten, die wichtigsten waren die Eindämmung und die Kontrolle Frankreichs, aber es wurden auch wichtige zwischenstaatliche Prinzipien etabliert. Eindämmung Frankreichs durch territoriale Neuordnung: Die Wiener Kongressmächte verfolgten das Ziel der Eindämmung Frankreichs. Daran ist an sich nichts Ungewöhnliches. Aus heutiger Perspektive ist daran nur überraschend, wie Eindämmung funktionierte: Über eine wohl abgewogene territoriale Umorganisation der umliegenden Staaten, die durch Kompensation durch andere Territorien in Europa ausgeglichen wurde und die damit sowohl territoriale als auch politische Konsequenzen hatte (vgl. Tabelle 1.1). Frankreich sollte durch einen Kranz von Staaten um Frankreich herum eingedämmt werden. Diese Staaten wurden durch territoriale Vergrößerung nicht unerheblich aufgewertet. Dazu gehörten das Königreich der Niederlande, Preußen durch den Zugewinn der Rheinlande, die neugeschaffene Schweizer Konföderation als neutrale Staaten und die unabhängigen italienischen Staaten, die aber unter dem Einfluss des habsburgischen Österreich blieben. Darüber hinaus wurde mit der Schaffung des Deutschen Bundes eine Pufferzone zwischen Preußen und Österreich geschaffen. Die Eindämmung Frankreichs gestaltete sich jedoch insofern als schwierig, als Napoleon über die während seiner Herrschaft durchgeführten Reformen in vielen Staaten einen innerstaatlichen Strukturwandel angestoßen hatte, der schwerlich physisch einzudämmen oder rückgängig zu machen war. Dazu gehörten beispielsweise neue Verfassungen. Außerdem hatte er über die von ihm geschaffenen Napoleoniden-Staaten die Chance, über direkte Verwandtschaftsverhältnisse weiter Einfluss in Europa zu nehmen (Duchhardt 2013: 16-17). <?page no="24"?> Unit 1 9 d Ie o rdnunG des w Iener K onGresses G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Einheit 1 Überwachung Frankreichs als Friedensstörer: Darüber hinaus wurde Frankreichs militärische Entwicklung und seine Außenpolitik mehrere Jahre kontrolliert. Die französische Regierung wurde zu Reparationen verpflichtet. Diese Funktion übernahm die im November 1815 gebildete Quadrupelallianz aus Großbritannien, Österreich, Russland und Preußen. Diese Staatengruppe bildete auch zunächst den Kern des europäischen Sicherheitssystems (Erbe 2004: 361-362). Die Funktion des Wiener Kongresses ging aber weit über die Eindämmung hinaus. Von seiner institutionellen Ausgestaltung her nahm der Wiener Kongress den späteren Völkerbund und die Vereinten Nationen vorweg: Der Kongress privilegierte die fünf mächtigsten Staaten des Systems (Pentarchie), sie stell- … beinhaltet in einem engeren Sinne die Wiener Kongressakte als einen Vertrag zur Eindämmung Frankreichs durch eine territoriale Neuordnung Europas nach den Napoleonischen Kriegen. Damit verbunden waren bedeutende Gebietsverschiebungen und die Schaffung neuer Staaten zum Schutz gegen eine erneute Expansion Frankreichs. … etabliert ein Kontrollorgan in Form einer Botschafterkonferenz der vier Siegermächte mit dem Ziel der vorübergehenden außenpolitischen und militärischen Überwachung Frankreichs als ehemaligem Friedensstörer. … etabliert mit dem Wiener Kongress das erste kollektive Entscheidungsgremium in Europa bzw. eine Institution zur Friedenssicherung mit den Zielen der Wahrung des politischen Gleichgewichts unter den Großmächten, unter anderem durch die Festlegung auf Prinzipien der monarchischen Legitimität und Solidarität, womit vor allem die Unterstützung für revolutionäre Ideen und Bewegungen in Mitgliedsstaaten geächtet werden sollte. … etabliert ein Entscheidungsgremium der fünf mächtigsten Staaten, die für andere kollektiv bindende Entscheidungen treffen. Das Wiener-Kongress-System Territoriale Neuordnung Außenpolitische Überwachung Frankreichs Friedenssicherung Eindämmung und Kontrolle von Friedensstörern Die Wiener Kongressakte ordnete Europa neu mit dem Ziel der Eindämmung Frankreichs als Friedensstörer. Gebietsverschiebungen hatten das Ziel, Staaten mit hinreichender Größe zu schaffen, die als Puffer gegenüber Frankreich dienen konnten. Frankreichs Außenpolitik wurde für einen begrenzten Zeitraum durch die Kriegsgewinner kontrolliert. Mit diesem System der Eindämmung und der Kontrolle war bereits im 19. Jahrhundert ein Modell für den internationalen Umgang mit Friedensstörern entwickelt, das später als Vorbild für den Umgang mit anderen Staaten diente. Merke Wiener Kongress als Modell <?page no="25"?> 10 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Staat territoriale Veränderung weitere Regelungen/ Implikationen Frankreich wird auf die Größe von 1792 reduziert, verliert alle danach eroberten Gebiete Eindämmung durch umliegenden „Kranz mittlerer Staaten“ (Schweden/ Norwegen (Personalunion), neues Königreich der Vereinigten Niederlande, das um Savoyen erweiterte Sardinien (jetzt: Königreich beider Sizilien)) Vorübergehender Souveränitätsverlust durch Überwachung der Außenpolitik Großbritannien in Personalunion mit dem neuen Königreich Hannover; gewinnt Malta, Ceylon (Sri Lanka), Helgoland (das „Gibraltar des Nordens“) Großbritannien geht als eigentlicher Sieger des Kongresses hervor Russland gewinnt „Kongresspolen“ (mit eigener Verfassung) steigt zur führenden Kontinentalmacht auf wird durch Zugewinn Polens „westlicher“ und ständig präsenter Faktor in Europa Österreich verzichtet auf die habsburgischen Niederlande („Spanische Niederlande“) und Vorderösterreich zugunsten von Galizien (heutiger Westteil der Ukraine), Oberitalien und Dalmatien (heutiges Kroatien) erhält politischen Primat über Italien wächst als Vielvölkerstaat aus dem Deutschen Bund heraus beansprucht Führung im Deutschen Bund Preußen erhält einen Teil Sachsens, wird mit Rheinprovinz und Westfalen entschädigt wird wirtschaftlich und konfessionell gespalten übernimmt Überwachung Frankreichs am Rhein wächst in den Deutschen Bund hinein (vgl. Tafel I und III) Schweiz entsteht als eigenständiger Staat wird neutral Territoriale Neuregelung Europas nach der Wiener Kongressakte (1815) Tab. 1.1 In Europa wurde mit dem Wiener Kongress 1815 das erste Mal eine Institution in Form eines zwischenstaatlichen Entscheidungsgremiums geschaffen, das gemeinsame Entscheidungen im Bereich der Sicherheit traf. Die fünf mächtigsten Staaten Europas (Großbritannien, Österreich, Preußen, Russland, ab 1818 Frankreich) trafen für andere Staaten des Systems kollektiv verbindliche Entscheidungen (Watson 1992: 238-250). „Die Großmächte definierten sich jetzt nicht nur als Teile eines Ganzen, sondern zusammen als das Ganze selbst. Sie sprachen sich die Ordnungsfunktion für den ganzen Kontinent zu.“ (Erbe 2004: 153) Zwischen 1815 und 1910 traf sich das europäische Mächtekonzert mehr als 30 Mal, um gesamteuropäische Belange zu regeln. Es befasste sich vor allem mit Territorialfragen, die dann zur Entscheidung kamen, sobald sie das stabilitätserhaltende Gleichgewicht in Europa gefährdeten. Der Wiener Kongress als erstes kollektives Entscheidungsgremium Europas <?page no="26"?> Unit 1 11 d Ie o rdnunG des w Iener K onGresses G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Einheit 1 ten die Weltregierung. Allerdings repräsentierten sie zu diesem Zeitpunkt auch drei Viertel der Weltbevölkerung und mehr als drei Viertel der militärischen Macht (Watson 1992: 242). Ein wichtiges Prinzip des Wiener Kongresses war die Verpflichtung auf anti-revolutionäre Normen als Standards für zwischenstaatliches Verhalten. Dies kam in den Prinzipien der dynastischen Legitimität und Solidarität zum Ausdruck. Notfalls durch militärische Interventionen verhindert werden sollten liberale Umsturzversuche in den Mitgliedsstaaten des Wiener Kongresses, die auf die Abschaffung der Monarchie als Regierungsform gerichtet waren. Wesentliche Triebkräfte dieser Ausrichtung waren die monarchischen Mitglieder Russland unter Zar Alexander I. und Österreich unter seinem Außenminister Fürst Metternich. Diese Norm war nicht unumstritten: Frankreich und Großbritannien waren ihre Gegner. Frankreich unterstützte ab Mitte des 19. Jahrhunderts unter Napoleon Bonaparte III. die italienischen und osteuropäischen Einigungsbestrebungen ideologisch und aus einem Interesse an der Einhegung Österreichs heraus. England sah in den innerstaatlichen Interventionen einen Verrat an den eigentlichen Zielen der heiligen Allianz, nämlich für Stabilität in Europa zu sorgen. Geografisch war der Wiener Kongress in seiner Autorität auf Europa begrenzt. Die USA erklärten 1823 mit der Monroe-Doktrin, dass der Kongress keine Autorität in den Staaten der amerikanischen Hemisphäre hätte. Mit dem Kongress von Panama (1826) entstand in Lateinamerika ein spiegelbildliches Forum, das gegen die Autorität des Wiener Kongresses gerichtet war. Der Wiener Kongress stellte die bedeutendste Institution der internationalen Beziehungen des 19. Jahrhunderts dar. Er etablierte das erste kollektive Entscheidungsorgan. Mitglieder übertrugen ihm eine gemeinsame Verantwortung für die Friedenssicherung in Europa (vgl. ausführlich Erbe 2004: 150-155). Dieser Wandel war auch durch die Kriegserfahrung bedingt: Die Staatenwelt des angehenden 19. Jahrhunderts ging aus den Napoleonischen Geografische Beschränkung der Autorität des Wiener Kongresses Daneben etablierte der Kongress wichtige Verhaltensstandards: Alle Beteiligten waren grundsätzlich gleichberechtigt und es wurde ein möglichst fairer Ausgleich zwischen allen angestrebt, um einen dauerhaften Frieden zu gewährleisten (Erbe 2004: 355). Unter ihnen sollte ein gewisses Maß an Solidarität herrschen im Sinne einer gemeinsamen Verantwortung für die Aufrechterhaltung von „Ruhe und Sicherheit“ (Erbe 2004: 154). In Bezug auf Territorial- und Herrschaftsansprüche galt die Norm der Zurückhaltung. Die Verpflichtung zur Vertragstreue gegenüber den Regelungen des Wiener Kongresses bildete eine weitere Norm. Und es sollte Kooperationsgeist herrschen (Erbe 2004: 154). Verhaltensstandards Gleichberechtigung der Mitglieder <?page no="27"?> 12 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Befreiungskriegen mit dem starken Bewusstsein hervor, dass Krieg nicht mehr als normaler Bestandteil der internationalen Beziehungen zu sehen ist, sondern als etwas Gefährliches und Zerstörerisches. Napoleons Strategie der Aushebung von Massenarmeen und der Mobilisierung der Zivilbevölkerung für die Ziele der Revolution waren seit der französischen Revolution fester Bestandteil der Kriegsführung, und damit ein potentieller Destabilisierungsfaktor innerhalb der Staaten (Erbe 2004: 152). „Die Staatsführer hatten die Revolution fürchten gelernt-- mehr als sie sich voreinander fürchteten.“ (Hobson 2004: 15) Die wichtigsten globalen Trends und Entwicklungen vom Wiener Kongress bis zum Ersten Weltkrieg Territoriale nationalstaatliche Expansion Die massive Expansion Frankreichs unter Napoleon ist für Europa ungewöhnlich, stellt ansonsten aber einen globalen Trend der Zeit dar, mit dem Unterschied, dass Frankreich bestehende staatliche Gebilde vereinnahmt. Dies wird auf den globalen Landkarten, Tafel IV und V (S.-424-427), deutlich. Fast alle Staaten expandierten territorial ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Russland und China weiteten ihre Territorien ab Mitte des 18. Jahrhunderts massiv aus, ab Mitte des 19. Jahrhunderts beobachten wir diesen Prozess auch für die USA, und in gewisser Hinsicht auch für Deutschland und Italien mit den Einigungsbestrebungen ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Landnahme setzt sich insbesondere ab 1850 fort mit der kolonial-überseeischen Expansion Großbritanniens und Frankreichs, gefolgt von Belgien, Deutschland, Italien in Afrika und Asien und Japan in Ostasien. Andere Staaten-- wie die USA, Deutschland und Russland-- expandieren kontinental. Insgesamt lässt sich eine territoriale Expansion, verbunden mit der Entstehung von Flächenstaaten, in einem globalen Maßstab beobachten. Das Territorium Chinas verdoppelte sich innerhalb von 60 Jahren. Ausgehend von den Kernprovinzen des Mandschu-Reiches im 17. Jahrhundert, kamen 1697 zunächst die Mongolei, dann Tibet (1724) und schließlich Sinkiang dazu (1757). Verschiedene außerchinesische Staaten waren dem Mandschu-Kaiser gegenüber tributpflichtig, wie Korea, Annam (das heutige Vietnam), Nepal, Myanmar und sogar Teile Westindiens. Russland erweiterte sein Territorium sukzessive in Richtung Süden und Osten. Die ersten Gebietserweiterungen bis an den Pazifik hatten sich bereits bis 1650 vollzogen. In den 100 Jahren zwischen 1720 und 1820 schob sich das russische Reich von Moskau bis ans Schwarze Meer vor und umfasste Teile 1.3 1.3.1 Entstehung von Flächenstaaten <?page no="28"?> Unit 1 13 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Einheit 1 Vom w Iener K onGress bIs zum e rsten w eltKrIeG Polens. Der Südosten wurde innerhalb von 70 Jahren ab 1822 nach mehreren Kriegen mit dem Osmanischen Reich in den russischen Herrschaftsbereich integriert und erstreckte sich nun bis nach Afghanistan. Die Grenzen im Südwesten bildeten Sinkiang (das heutige uighurische, autonome Gebiet Xinjiang in China), die Mongolei und die Mandschurei. Globale Trends beschreiben dynamische Prozesse und langfristige Entwicklungstendenzen, die sich anhand ihrer Auswirkungen und tiefgreifenden Veränderungen auf die internationalen Beziehungen nachvollziehen lassen. Die Entwicklungen vom Wiener Kongress bis zum Ersten Weltkrieg prägten sowohl die nationalstaatliche als auch die zwischenstaatliche Ebene. nationalstaatliche Ebene zwischenstaatliche Ebene Zeit Raum Territoriale nationalstaatliche Expansion Flächenstaaten entstehen Territoriale Expansion und Ausweitung der Territorien: Vereinnahmung neuer Gebiete und Völker Grenzkonflikte ab Mitte 18. Jahrhundert ab 19. Jahrhundert Russland, China, USA, Frankreich unter Napoleon Großbritannien Verbreitung unabhängiger Verfassungsstaaten und nationalstaatliche Einigung Verfassungsbewegungen, innerstaatlicher Strukturwandel, Zentralisierung von Herrschaft Herausbildung souveräner Staaten: Forderung nach nationaler Selbstbestimmung und Unabhängigkeit von anderen Staaten erste Hälfte 19. Jahrhundert Lateinamerika, Europa (darunter nationalstaatliche Einigung in Italien und dem Deutschen Reich) Industrielle Revolution Lebensweltliche Änderungen durch die Dynamisierung ökonomischer Prozesse & durch voranschreitende Industrie und Infrastruktur Außenbeziehungen der Nationalstaaten werden durch technischen Vorsprung & Innovation geprägt: Industrialisierte Nationalstaaten nehmen Führungsrollen in der Weltpolitik ein zweite Hälfte 19. Jahrhundert zuerst: Großbritannien, Belgien, Deutschland, Frankreich dann: USA, Japan Gemeinsame Effekte der drei Trends Geopolitischer Wandel (1860-1870): Größere strategische Bedeutung des Balkans, des Nahen und Mittleren Ostens und Vorderasiens Mitglieder des Wiener Kongresses treten in Konflikt miteinander Kolonialisierung Nationalstaatliche Strategien der Kolonialmächte Imperialismus: Internationaler Wettlauf europäischer Staaten um Kolonien ab Mitte 19. Jahrhundert Europa, Afrika und Asien Die wichtigsten globalen Trends und Entwicklungen vom Wiener Kongress bis zum Ersten Weltkrieg Tab. 1.2 <?page no="29"?> 14 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Das Territorium der USA vergrößerte sich zwischen 1815 und 1889 durch systematische Gebietserwerbungen von den ursprünglich 13 Staaten an der Ostküste bis zur Westküste. Den Startschuss für diese Expansion gab das Ende der Kriegshandlungen zwischen Großbritannien und den USA 1814. Die US-kanadische (britisch-nordamerikanische) Grenze wurde in zwei Grenzverträgen 1818 und 1846 festgelegt. Unterbrochen wurde diese Expansion lediglich durch den amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865), während dessen sich die Südstaaten über die Frage der Sklaverei von den Nordstaaten abspalteten. Großbritannien vollzog im selben Zeitraum, begünstigt durch die Konzentration der anderen Mächte auf ihr kontinentales Umfeld, eine nahezu ungehinderte Expansion im überseeisch-kolonialen Raum. Mit der Kolonialisierung Indiens, Kanadas, Australiens und Neuseelands legte es die Grundlagen des modernen Empires. Insgesamt entstanden also nicht nur größere, sondern an den Rändern dieser Flächenstaaten auch mehr Nationen. In Folge dieser Expansion kam es nicht nur zur Vereinnahmung ganzer Völker, sondern auch zu einer Reihe von Grenzkonflikten, die alleine dadurch entstehen konnten, dass Gemeinwesen sukzessive aneinander grenzten. Nationalstaatliche Entwicklung und die Verbreitung unabhängiger Verfassungsstaaten Internationale Beziehungen waren zwischen 1815 und 1919 durch einen aufkommenden Nationalismus geprägt, der einen fundamentalen innerstaatlichen Strukturwandel innerhalb der Staatenlandschaft nach sich zog. Zwar gab es Nationalismus auch schon vor der amerikanischen und französischen Revolution, aber er war auf kleine Gruppen oder Eliten beschränkt. Jetzt nahm er Massencharakter an. Die Bedeutung des Nationalismus lag darin, dass er, so Erbe (2004: 83), alle anderen existierenden Gruppenbindungen, wie feudale Bindungen, die Bindung an einen Stand, eine Landschaft, ein Dorf oder eine Dynastie überformte. Daraus entsprang die Idee der Volkssouveränität. Die Ideen der Freiheit und bürgerlichen Rechte, der Nation und nationalen Selbstbestimmung der amerikanischen und französischen Revolutionen wirkten sich unmittelbar auf die Verfasstheit der Staaten aus. Das 19. Jahrhundert war „ausgefüllt vom Kampf zwischen den Prinzipien der Volkssouveränität und des Selbstbestimmungsrechts auf der einen und von der Idee des Gottesgnadentums des Monarchen auf der anderen Seite“ (Erbe 2004: 84). Ausgelöst durch die Revolutionen von 1830 und 1848 in Westeuropa einerseits und als Nebeneffekt des Kampfes gegen die Napoleonische Herrschaft andererseits sind überall in Europa, an den Grenzen des Osmanischen Reichs und in Lateinamerika jeweils neue, unabhängige Staaten zu beobachten. Entstehung neuartiger Grenzkonflikte 1.3.2 Innerstaatlicher Strukturwandel: Nationalismus und Volkssouveränität <?page no="30"?> Unit 1 15 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Einheit 1 Vom w Iener K onGress bIs zum e rsten w eltKrIeG Die Effekte dieses Strukturwandels zeigten sich besonders in zwei Regionen: in Lateinamerika und in Europa, hier vor allem in Ost- und Südosteuropa. In Lateinamerika führten nationalistische und verfassungsrechtliche Bewegungen zur Dekolonisation beziehungsweise Unabhängigkeit. Nach dem Vorbild der USA emanzipierten sich die portugiesischen und spanischen Kolonien unter Führung von Simón Bolivar von ihren europäischen Herrschern. Allerdings folgten die Unabhängigkeitserklärungen nicht direkt aus der amerikanischen Revolution. Erst die Machtübernahme Madrids durch Napoleon im Jahre 1808 lockerte den Zugriff Spaniens auf seine Kolonien und ermöglichte die Unabhängigkeit des südamerikanischen Kontinents. Argentinien erklärte 1810 seine Unabhängigkeit. Bis 1825 waren die ehemals spanischen und portugiesischen Kolonien des südamerikanischen Kontinents selbstständige Staaten. Großbritannien und Frankreich unterstützten die Unabhängigkeit dieser Staatengruppe aus dem Interesse heraus, die Herrschaft Spaniens auf dem Kontinent zu beenden. Ähnlich zum Wiener Kongress etablierten die neuen Regierungen in Lateinamerika 1826 den Kongress von Panama als regionale Institution zur Regelung zwischenstaatlicher Angelegenheiten. In Europa fördern Verfassungsbewegungen die nationale Selbstbestimmung und Unabhängigkeit vieler Staaten. Belgien erlangte in dieser Zeit die Unabhängigkeit von den Vereinigten Niederlanden. In Deutschland, Polen, Ungarn und Italien entstanden Nationalbewegungen. In Polen und weiten Teilen Österreichs ging es dabei um die Befreiung von Fremdherrschaft, in Deutschland und Italien um die Gründung von Nationalstaaten. Der Wiener Kongress entwickelte vor diesem Hintergrund eine Interventionspolitik, die zur Niederschlagung der meisten revolutionären Bewegungen von 1848 führte. Aber er konnte insbesondere die Einigung Deutschlands und Italiens nicht verhindern. Italien entwickelte sich zwischen 1859 und 1870 von einem „geographischen Begriff “ (Metternich, zitiert nach Rudolf/ Oswalt 2010: 150) zum Nationalstaat. Seine Herrschaftsbereiche wurden mit Unterstützung Frankreichs sukzessive vereint. Auf dem Balkan und in Südosteuropa verbreiteten sich revolutionäre Bewegungen mit einer rasanten Geschwindigkeit. Diese stellten vor allem für das Osmanische Reich eine große Herausforderung dar, das an seiner Westgrenze deutliche Zerfallserscheinungen verzeichnete, die von den europäischen Mächten Frankreich, Großbritannien und Russland für ihre eigenen Interessen instrumentalisiert wurden. Als viraler Schwachpunkt erwiesen sich hier unter anderem die Ionischen Inseln. Diese hatten während der Napoleonischen Kriege unter britischer Besatzung 1809 eine demokratische Verfassung erhalten. 1821 rebellierten die Griechen gegen das Osmanische Geographische Ausbreitung von Verfassungsbewegungen Lateinamerika: Dekolonisation Europa und Balkan/ Südosteuropa: Staatliche Unabhängigkeit <?page no="31"?> 16 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Reich und forderten eine mit der ionischen Verfassung vergleichbare Verfassung und ihre Unabhängigkeit. Die griechische Rebellion wiederum wirkte sich begünstigend auf angrenzende Gebiete aus. Auch hier erhielten Verfassungsbewegungen externe Unterstützung: Russland unterstützte die griechischen Unabhängigkeitsbestrebungen, da sich mit einem unabhängigen Griechenland die Möglichkeit eröffnete, seinen Einfluss in Südosteuropa zu vergrößern. Mit der Herauslösung Rumäniens und Bulgariens entlang der Westküste des Schwarzen Meeres wäre für Russland die große Chance verbunden gewesen, einen Zugang zum Mittelmeer zu erlangen, der ihm bisher durch das Osmanische Reich versperrt war. Nach einer Serie von regionalen, militarisierten Konflikten erlangten schließlich Griechenland, Serbien und die sogenannten Donaufürstentümer, das sind die an der Donau gelegenen Staaten Bulgarien und Rumänien, ihre Unabhängigkeit. Deutschland und Italien nahmen im gleichen Zeitraum ihre Gestalt als einheitliche Nationalstaaten an. In Deutschland hatte Preußen bereits die ersten Schritte im 18. Jahrhundert mit der Eroberung Schlesiens während des Österreichischen Erbfolgekriegs unternommen. Nach den Revolutionen von 1848/ 1849 wurde der Deutsche Bund zwar restauriert, in dem Österreich, Preußen und einige Mittelstaaten dominierten (vor allem Bayern, Württemberg). Preußen gelang es aber danach, seine Interessen an einer deutschen Einigung auch gegen die Interessen Österreichs durchzusetzen. In den drei deutschen Einigungskriegen gegen Dänemark (1864), Österreich (1866) und Frankreich (1870/ 71) weitete Preußen sein Reich sukzessive aus. Zwischen 1866 und 1871 war eine neue „Großmacht in der Mitte Europas“ (Rudolf/ Oswalt 2010: 152) entstanden. Italien hatte bis ins 19. Jahrhundert nur als geographischer Begriff existiert: Es bestand aus fünf Herrschaftsbereichen-- dem Königreich beider Sizilien, Sardinien, dem Kirchenstaat und den von Österreich abhängigen Herzogtümern (z. B. Lombardei). Der Einfluss Österreichs erwies sich als größtes Hindernis für eine nationalstaatliche Einigung. Unter der Führung des Königreichs Sardinien-Piemont und mit Unterstützung Frankreichs gelang es, durch einen Krieg gegen Öster- Externe Unterstützung durch Russland Nationalstaatliche Einigung in Deutschland und Italien Der Kongress von Panama stellte das erste System kollektiver Sicherheit dar und von ihm gingen später wesentliche Impulse für das Prinzip der Streitschlichtung des Völkerbunds aus. Anders als der Wiener Kongress verstand sich der Kongress von Panama als ein gegen äußere Angriffe gerichtetes System, das sich dem Schutz der Demokratie gegen die Interventionspolitik des Wiener Kongresses verschrieb. Die lateinamerikanischen Staaten fürchteten, dass die in der Quadrupelallianz vereinigten Mächte die Interventionspolitik des Wiener Kongresses auch gegenüber ihren Kolonien durchsetzen würden. Der Kongress von Panama <?page no="32"?> Unit 1 17 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Einheit 1 Vom w Iener K onGress bIs zum e rsten w eltKrIeG reich 1859 zunächst den Norden zu einigen, ein Jahr später wurde der Süden angeschlossen, nachdem eine nationale Bewegung den bourbonischen König entmachtet hatte. Industrielle Revolution Während die erste Hälfte des Jahrhunderts dominiert war von Verfassungs- und Demokratisierungsbewegungen, war die zweite Hälfte durch die Erfolge der industriellen Revolution geprägt. Sie ist einer der Trends mit tiefgreifenden Effekten in dieser Epoche, der sich auch auf die internationalen Beziehungen auswirkt. Sie beeinflusste alle Lebensbereiche, indem sie die statische und agrarisch geprägte Wirtschaftsverfassung, die seit dem Mittelalter galt, aufbrach. Ausgangspunkt der Industrialisierung war Großbritannien. Nach und nach wurden vor allem einzelne Staaten in Kontinentaleuropa erfasst, allen voran Belgien, Deutschland und Frankreich, dann aber auch die USA und Japan. England schaffte aufgrund einer Reihe von bahnbrechenden Erfindungen als erstes den Take-Off. Dazu gehörten die Erfindung des mechanischen Webstuhls, der die Textilproduktion revolutionierte, der Einsatz der Dampfmaschine in Bergbau und in der Schwerindustrie und die Entwicklung der dampfgetriebenen Eisenbahn. In vielen Staaten kam es zu Innovationen in der Landwirtschaft, einer Ausweitung von Binnen- und Außenmärkten und technischen Neuerungen. Die technischen Neuerungen der Industrialisierung ermöglichten erst Phänomene wie staatliche Expansion und Kolonialisierung, die ohne den Ausbau des Schienennetzes beispielsweise schwer vorstellbar gewesen wären. Die Industrialisierung wirkte sich grundlegend auch auf die Kriegführung aus. Sie leitete in den „indus- 1.3.3 Auswirkungen auf staatliche Expansion, Kolonialisierung und Kriegführung Globale Trends und internationale Staatengemeinschaft Durch tiefgreifende Veränderungen aufgrund der globalen Trends im 19. und 20. Jahrhundert und die fortschreitende Emergenz von Nationalstaaten ergab sich eine neue internationale Ordnung, in welcher Staaten verschiedene weltpolitische Rollen einnehmen konnten. Nationalstaaten definierten sich nicht nur als in sich geschlossene Territorien, sie reflektierten auch innerstaatliche Volkssouveränität, zwischenstaatliche Souveränitätsansprüche und nationale Machtansprüche oder Sicherheitsbedürfnisse. Diese lassen sich einerseits im Unabhängigkeitsbestreben einzelner Nationen wiederfinden, andererseits in der Suche nach einem politischen Gleichgewicht der internationalen Staatengemeinschaft. Dies wird nicht zuletzt durch eine sich entwickelnde Rechtsverbindlichkeit zwischen Staaten und anhand verschiedener vertraglicher Steuerungselemente und Friedensordnungen reflektiert, die sich im 18. und 19. Jahrhundert etablieren. Merke <?page no="33"?> 18 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I trialisierten Volkskrieg“ über, in dem technologischer Vorsprung und Organisationsgeschick-- und nicht mehr nur Truppenstärke-- kriegsentscheidend waren. Der Einsatz der Eisenbahn machte es für Frankreich beispielsweise möglich, 120.000 Soldaten in nur 11 Tagen an die Front zu transportieren. Die systematische Integration von Eisenbahnen und Telegrafen in die Mobilmachung und Kriegsplanung stärkte die strategische Offensive, während die gesteigerte Feuerkraft von Gewehren und Artillerie die Defensive förderte (Hobson 2004: 19). Damit waren die Grundlagen für die zermürbenden Stellungskriege des Ersten Weltkriegs geschaffen. Die beginnende Kolonialisierung einerseits sowie die Schaffung von großen Nationalstaaten andererseits waren die Voraussetzungen für eine kostengünstige Warenproduktion. Stark beeinflusst wurde diese Entwicklung wiederum durch die napoleonische Herrschaft, da in dieser Zeit in vielen Staaten die wirtschaftlichen und sozialen Hemmnisse für Handelsfreiheit beseitigt wurden. Beispiele dafür sind die Einführung einer staatlichen Schulbildung, die Gewerbefreiheit, die Bauernbefreiung und die Verstaatlichung des Kirchenbesitzes. Die Kolonien wurden zu zuverlässigen und günstigen Rohstofflieferanten. Großbritannien war hier der Vorreiter und seine hochentwickelten Außenbeziehungen ermöglichten es ihm schnell, auch weltpolitisch eine Führungsrolle einzunehmen. Es wurde erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts von Deutschland überholt. Aber die Industrialisierung hatte auch negative Effekte: Die Verdrängung von Kleinbauern in der Landwirtschaft führte zu großer Landflucht in die Städte, sozialen Problemen, Verarmung und Ausbeutung. Innerstaatlicher und geopolitischer Wandel 1860-1870 Territoriale Expansion, nationale Einigungsbestrebungen und industrielle Revolution veränderten die geopolitische Lage in und außerhalb Europas zur Mitte des Jahrhunderts fundamental. In der Folge kam es verstärkt zu Konflikten zwischen den Mitgliedern des Wiener Kongresses. Erstens hatten die Einigungsbestrebungen in Italien und dem deutschen Reich fundamentale geopolitische Effekte. Diese beiden Regionen waren bisher die Hauptaustragungsorte der Konflikte zwischen Frankreich und dem Habsburgerreich gewesen. Sie waren gleichzeitig der Preis für gewonnene Kriege. Mit der Einigung entstanden selbstständige Akteure, deren Interessen berücksichtigt werden mussten, auch wenn beide innerhalb des Kongresssystems noch Juniorpartner darstellten. In ihrer Folge kam es, zweitens, zu einer weiteren geopolitischen Verschiebung der Interessen Österreichs von Westen nach Osten. Österreich hatte mit der italienischen Einigung seine angestammten Territorien in Ita- Bedingung für Großbritanniens Hegemonie 1.4 Innerstaatlicher Wandel und Geopolitik <?page no="34"?> Unit 1 19 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Einheit 1 I nnerstaatlIcher und GeopolItIscher w andel 1860-1870 lien verloren. Daraufhin geriet der Balkan in den Fokus seines Interesses, wo sich durch den Zerfall des Osmanischen Reiches die Chance auf territoriale Kompensation eröffnete. Außerdem wollte Österreich den Verlust seines Mittelmeerzugangs kompensieren, den es durch den Verzicht auf Venetien im Zuge der nationalstaatlichen Einigung Italiens hinnehmen musste. Damit blieb ihm nur der schmale Küstenstreifen Dalmatiens an der Adria als direkter Mittelmeerzugang. Über den Einfluss auf Bosnien und Serbien erhoffte es sich diesen Weg. Dies führte notwendigerweise zu Interessengegensätzen mit Russland, das ebenfalls die Gelegenheit zu einer weiteren territorialen Erweiterung nutzen wollte und vor allem das für Russland strategisch wichtige Ziel verfolgte, einen direkten Mittelmeerzugang zu erhalten. Damit wurde der Balkan, auf dem sich ähnliche nationale Einigungs- und Unabhängigkeitsbestrebungen vollzogen wie im westlichen Teil Europas, zu einem Dauerbrenner europäischen Krisenmanagements. Der Balkan wurde die „gefährlichste Sollbruchstelle“ (Osterhammel) der internationalen Politik. Diese Konstellation führte zwischen 1877 und 1914 zu verschiedenen Balkan-Krisen. Die letzte löste den Ersten Weltkrieg aus. Drittens verschoben sich mit der Kolonialisierung die Interessen Großbritanniens dauerhaft auf die Sicherung des britischen Empires, wobei Indien den Grundpfeiler bildete und sich die Beherrschung der Verbindungslinien als wichtigstes strategisches Ziel herauskristallisierte (Barraclough 1991: 717). Die Expansion Großbritanniens in das Mittelmeer, das den strategisch wichtigen Zugang zum Suezkanal und damit die kürzeste Verbindung zu seinem Kolonialreich in Asien sicherte, begründete das britische strategische Interesse am Nahen und Mittleren Osten. Eine Folge war, dass sich die strategische Bedeutung von Südosteuropa und dem Nahen und Mittleren Osten enorm vergrößerte. Die traditionellen Konflikte zwischen Russland und dem Osmanischen Reich fanden nun unter Einmischung Frankreichs und Großbritanniens statt. Das Interesse, den Mittleren Osten als Indiens westliches Vorfeld zu schützen, bewegte Geographische Verschiebung der Konflikte auf den Balkan Konkurrenz zwischen Österreich und Russland Wachsende Bedeutung des Nahen und Mittleren Ostens für Großbritannien Großbritannien expandierte vor allem über die Etablierung wichtiger Flottenstützpunkte ins Mittelmeer und schuf dort eine permanente militärische Präsenz. Nach dem spanischen Erbfolgekrieg war Großbritannien im Frieden von Utrecht (1713) Gibraltar zugesprochen worden. Damit erlangte es Kontrolle über die Meerenge zwischen Afrika und Spanien. Im Zuge der Auseinandersetzung mit Frankreich besetzte es 1800 Malta. Im Gegenzug für eine Beistandsgarantie gegenüber dem Osmanischen Reich pachtete es 1878 Zypern. Damit war es in den Besitz einer Reihe strategisch wichtiger Stützpunkte im Mittelmeer gekommen, die einen direkten Weg nach Asien ohne die notwendige Umsegelung Afrikas versprachen: durch den Suezkanal. Dieser war 1856, basierend noch auf Plänen Napoleons, fertiggestellt worden. Großbritanniens Expansion im Mittelmeer <?page no="35"?> 20 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I die Briten zur Teilnahme am Krim-Krieg (1853-1856) und bestimmte ihre Politik in allen Fragen, die den Suezkanal betrafen (Barraclough 1991: 717). Indien war das Kronjuwel des britischen Empires aus verschiedenen Gründen: Seine Bevölkerung - zu diesem Zeitpunkt 150 Millionen Einwohner - stellte einen riesigen Markt für britische Produkte dar. Indien hatte darüber hinaus enorme militärische Bedeutung: Die indische Armee, die aus der Armee der Ostindischen Kompanie und regulären britischen Offizieren gebildet wurde, war nicht nur groß und gut ausgerüstet, sondern sie unterstand auch nicht dem Parlament. Außerdem wurde sie durch die indische Bevölkerung finanziert. Dadurch ergaben sich flexible Einsatzmöglichkeiten. Die Truppen wurden immer wieder außerhalb zur Sicherung der englischen Herrschaft eingesetzt, so im Krieg gegen China, Persien und Afghanistan sowie zur Sicherung Hongkongs und Singapurs (Baumgart 2007: 173 f.). Die Bedeutung Indiens für Großbritannien Damit verbunden war die Herausbildung eines neuen britisch-russischen Interessengegensatzes. Die Expansion Großbritanniens entlang des Golfs von Aden bis nach Indien (über weitere insulare Stützpunkte) und vor allem die Ausweitung seiner Herrschaft im Norden Indiens führte, bei gleichzeitiger Expansion Russlands nach Mittelasien (1867-1873), zu territorialen Konflikten zwischen Großbritannien und Russland und 1877/ 78 und 1885 zu erheblichen Spannungen an der Nordgrenze Indiens. Wie wichtig der Konkurrenz zwischen Großbritannien und Russland Die wichtigsten geopolitischen Veränderungen ▶ Der Wiener Kongress stellte ein Instrument zur Eindämmung Frankreichs dar und etablierte ein kollektives Entscheidungssystem zur Regelung wichtiger Fragen in Europa. ▶ Er konnte diverse Unabhängigkeits- und Verfassungsbestrebungen aber weder rückgängig machen noch stoppen. ▶ Die Einigung des Deutschen Reiches und Italiens sowie die territoriale Expansion Großbritanniens und Russlands führten zur Konstitution von drei wichtigen Regionen als Konfliktregionen: Balkan, Naher und Mittlerer Osten, Vorderasien. ▶ In allen drei Regionen konkurrierten Großmächte (aber auch kleinere Mächte) um Einfluss: Österreich und Russland auf dem Balkan, Großbritannien und Russland im Mittleren Osten, Großbritannien und Russland in Vorderasien. ▶ Der Wiener Kongress war als Steuerungsinstrument begrenzt: außereuropäische Konflikte waren von seiner Agenda ausgeklammert. Merke <?page no="36"?> Unit 1 21 d er w ettlauf e uropas um KolonIalen b esItz 1870-1914 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Einheit 1 Anspruch auf Indien für Großbritannien war, wird daran deutlich, dass das britische Parlament 1877 Königin Victoria zur Kaiserin von Indien proklamierte und dadurch eindeutig signalisierte, dass Indien für Großbritannien einen besonderen Status hatte. In Südasien entstand ein britisches Kaiserreich mit einer eigenen Interventionskapazität, die im gesamten asiatischen Raum eingesetzt werden konnte. Daraus ergaben sich wiederum eine Reihe militärischer Auseinandersetzungen mit den etablierten Mächten Südwestasiens, dem Iran und Afghanistan, auf die sowohl Russland als auch Großbritannien territoriale Ansprüche erhoben. Zwar gelang es Afghanistan und Iran, sich der Kolonisierung sowohl durch Großbritannien als auch durch Russland zu widersetzen, aber beide mussten zum Teil empfindliche Gebietsverluste hinnehmen und wurden zu Objekten fortwährender Auseinandersetzungen. Der Wettlauf Europas um kolonialen Besitz 1870-1914 Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts traten alle bedeutenden Mächte in einen Wettbewerb um vorwiegend außereuropäische Kolonien ein (siehe Tafel VI, S. 428-429). Der neue Kolonialismus, auch Imperialismus genannt, unterschied sich qualitativ von den Kolonisationsbestrebungen des 16. und 17. Jahrhunderts: Es ging nicht mehr nur um Handelsinteressen oder die Suche nach neuen Siedlungsgebieten, sondern es war ein Konkurrenzkampf der souveränen Nationalstaaten, die nationale Stärke und nationales Prestige über ihre außereuropäische Position definierten. Der räumliche Pfad, den die Kolonialisierung nahm, war durch Großbritanniens Expansion in den Mittelmeerraum vorgezeichnet. Die dauerhafte Präsenz Großbritanniens im Mittelmeer rief die Mittelmeeranrainer Frankreich und Italien auf den Plan, die beide-- jeweils im Rahmen ihrer eigenen Pläne für eine Dominanz des Mittelmeers-- um die Kontrolle der nordafrikanischen Territorien konkurrierten. Beide forderten, als Protektoratsstaaten für Tunesien anerkannt zu werden. Großbritannien gewährte daraufhin Frankreich diesen Status (1881), um eine italienische Kontrolle der Meerenge zu verhindern. Damit war der Wettlauf um Kolonien in Afrika eröffnet. Die Kolonialisierung Afrikas Die europäischen Mächte teilten innerhalb von nur einem Vierteljahrhundert ganz Afrika unter sich auf (siehe Tafel VII, S. 430), verschont blieben zunächst nur langjährige Königreiche wie Ägypten und Abessinien 1.5 Räumlicher Pfad der Kolonialisierung Konkurrenz zwischen Frankreich und Italien 1.5.1 <?page no="37"?> 22 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I (das heutige Äthiopien). Die Verteilung des Kolonialbesitzes auf historischen Landkarten lässt noch heute die Strategien der Kolonialmächte erkennen: ▶ Großbritannien als mächtigster Staat wollte in Afrika ein Kolonialreich, „britisch vom Kap bis Kairo“ (vgl. Abbildung 1.1). ▶ Frankreich verfolgte das Ziel, ein Kolonialreich von Westnach Ostafrika zu errichten („von Dakar zum Golf von Aden“). ▶ Portugal versuchte ausgehend von seinen traditionellen Handelsstätten an den Küsten Afrikas, die es im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts errichtet hatte, seinen Kolonialbesitz auszuweiten. ▶ Demgegenüber waren Belgien, das Deutsche Reich und Italien „Nachzügler“, die deshalb umso vehementer darauf bestanden, ebenfalls in Kolonialbesitz zu kommen. ▶ Das Deutsche Reich verfolgte das Ziel, einen Landgürtel quer durch Afrika zu schaffen, der im südlichen Afrika gelegen war. ▶ Belgien blieb auf Belgisch-Kongo beschränkt, als persönlicher Besitz von König Leopold, den er wie ein privater Unternehmer ausbeutete. ▶ Italien eignete sich Libyen, Eritrea sowie jeweils einen Teil des heutigen Somalia und des Kongo an. Innerstaatlicher Widerstand gegen die Kolonialisierung wurde zumeist blutig niedergeschlagen, wie im Kampf der Briten gegen die südafrikanischen Buren-Siedler 1899 oder bei der rassistisch motivierten Vertreibung und Vernichtung der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika 1904-1908 als Strafaktion für ihre Auflehnung gegen die deutsche Herrschaft. Die von Bismarck im November 1884 einberufene Berliner Konferenz trieb den Imperialismus weiter an. Sie löste einen Wettbewerb um möglichst weitgehende Gebietsansprüche aus, als- - beginnend bei den Großmächten Frankreich und der Kolonialmacht Portugal-- plötzlich alle anderen ebenfalls Ansprüche anmeldeten, „besessen von der Idee, eine ‚Parität‘ erreichen zu müssen [und] Anteile an der ‚Beute‘ zu fordern“. (Barraclough 1991: 718) Mit der Festlegung des Kriteriums der effektiven Besetzung verschärfte Großbritannien: Britisch von Kap bis Kairo Frankreich: Von Dakar zum Golf von Aden Berliner Konferenz: Verschärfung des kolonialen Wettbewerbs Karikatur des britischen Eroberers Cecil Rhodes von Edward Linley Sambourne, 1892 Abb. 1.1 <?page no="38"?> Unit 1 23 d er w ettlauf e uropas um KolonIalen b esItz 1870-1914 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Einheit 1 die Berliner Konferenz den Wettlauf um Kolonialisierung noch (Dallinger/ Golz 2005: 148). Die Konkurrenz um Kolonien führte an vielen Punkten zu zwischenstaatlichen Krisen, wie der Marokko-Krise zwischen Deutschland und Frankreich, oder Auseinandersetzungen zum Beispiel um die Türkei und das Horn von Afrika, an denen sowohl Deutschland, Großbritannien als auch Frankreich beteiligt waren. Die Kolonialisierung Asiens Der koloniale Wettbewerb um Asien zeigt in vielerlei Hinsicht ein ähnliches Muster wie in Afrika, mit einem wesentlichen Unterschied: Bei den asiatischen Staaten, insbesondere China, handelte es sich um Gebiete, die bereits über ein hohes Maß an Staatlichkeit verfügten. Aber in noch einem anderen Punkt unterschied sich Asien von Afrika: Durch die Präsenz der USA, die bis 1898 kein Interesse an kolonialen Besitzungen hatte, aber große Handelsinteressen, setzte sich in Auseinandersetzung mit den europäischen Mächten der Freihandel als zentrales Prinzip für den Handel in Asien durch. Tatsächlich wurden hier erstmals jene Prinzipien etabliert, die später zu globalen Handelsprinzipien wurden: Das Meistbegünstigungs- und Nichtdiskriminierungsgebot, die beide die Grundlage der liberalen Handelsordnung bilden. Die Expansion der europäischen Staaten und der USA führte zunächst über eine Reihe ungleicher Verträge zur erzwungenen wirtschaftlichen Öffnung Chinas und Japans. Mit dem sich verschärfenden Wettbewerb um kolonialen Besitz setzte jedoch auch in Asien eine schnelle Kolonialisierung ein. Dennoch weichen die Entwicklungspfade Chinas und Japans voneinander ab, bedingt durch unterschiedliche Grade an Staatlichkeit und der damit verbundenen Fähigkeit, der Konkurrenz der europäischen Mächte um kolonialen Besitz zu widerstehen. Während ein intern geschwächtes China bedingungslos unterworfen und fast zerstört wurde, etablierte sich Japan relativ schnell als regionale Macht, die sich selbst aktiv an der Kolonialisierung Asiens beteiligte und die Anerkennung der europäischen Staaten erwarb. 1.5.2 Asien Erzwungene Öffnung „Imperialismus“, Die Aufteilung Chinas von Henry Meyer, 1898 Abb. 1.2 <?page no="39"?> 24 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I In Südostasien standen mehrere europäische Mächte in Konkurrenz zueinander. Die Niederlande waren bereits seit dem 16. Jahrhundert Kolonialmacht. Frankreich etablierte sich zunächst als Protektoratsmacht über Kambodscha (1863) und weitete seine Herrschaft schrittweise auf Vietnam und Laos aus. Die Niederlande erweiterten in Reaktion auf das französische Vordringen in Südostasien ihr eigenes Kolonialreich über Java hinaus nach Sumatra, Borneo und Celebes (das heutige Sulawesi). Auch Großbritannien zog nach. Von Indien und Myanmar ausgehend besetzte es 1888 Nord-Borneo. Damit war die Kolonialisierung Südostasiens vollendet. Kolonialbesitz an sich galt lange Zeit selbst unter den Kolonialmächten als nicht besonders lukrativ. Wie konnte sich die Praxis dann so schnell verbreiten? Dafür gibt es drei Ursachen: ▶ Kolonialer Besitz vermittelte, so Zeitgenossen, das Gefühl nationalstaatlicher Größe. Der britische liberale Politiker Charles Dilke verband damit Ursachen des Kolonialismus China Japan Ereignisse weitgehende Selbstisolation weitgehende Selbstisolation Widerstand gegen Öffnung des Handels für europäische Mächte Modernisierung Japans, Abschaffung der Feudalordnung, Iwakura-Mission in USA und Europa 1871-1873 Aufgabe Isolationspolitik 1876 Opiumkrieg 1839-1842 Niederschlagung Boxeraufstand 1900-1901 Erster Chinesisch-Japanischer Krieg 1894-1895: Im Frieden von Shimonoseki erhält Japan Taiwan; Korea wird unabhängig Russisch-Japanischer Krieg 1904-1905: Japan erhält Protektorat über Korea und die Süd- Mandschurei ungleiche Verträge Vertrag von Nanking 1842: Abtretung Hongkongs an GB Erzwingung des Handels mit USA 1853 Vertrag von Tianjin 1858: Einheitliche Basis für internationalen Handel erste Handelsverträge mit westlichen Mächten 1854: Zunächst Konzessionen für zwei Häfen für die USA, dann Verträge mit europäischen Staaten erstes Büro für Auslandsbeziehungen Annexionen durch Andere Annexionen Nordostchina durch Japan Korea 1910 Mandschurei 1931 Korea durch Japan 1910 Nordostchina Südostasien 1941 Aufteilung Chinas in Interessensphären Japan wird selbst Kolonialmacht 1874-1945 China und Japan als Kolonisationsobjekte Tab. 1.3 <?page no="40"?> Unit 1 25 d er w ettlauf e uropas um KolonIalen b esItz 1870-1914 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Einheit 1 Territoriale Ausdehnung der Kolonialmächte Nach dem Wettlauf um Kolonien war Großbritannien mit fast 33,8 Millionen km 2 territorial gesehen ein Drittel größer als Russland (22,8 Millionen km 2 ) und drei Mal so groß wie Frankreich (11,1 Millionen km 2 ). Es stellte mit über 440 Millionen Einwohnern knapp mehr als ein Viertel der Weltbevölkerung (vgl. Abbildung 1.3 und 1.4). Merke Prozentuale Anteile der Kolonialmächte an der Erdoberfläche und der Weltbevölkerung 1914 Abb. 1.3 und 1.4 27% 10% 6% 5% 6% 4% 3% 22% 17% Weltbevölkerungsanteil in Millionen Großbritannien Russland Frankreich Deutschland USA Japan übrige Kolonialmächte China, Persien, Osmanisches Reich übrige Länder 25% 17% 8% 3% 7% 1% 7% 11% 21% Flächenanteil in Prozent Großbritannien Russland Frankreich Deutschland USA Japan übrige Kolonialmächte China, Persien, Osmanisches Reich übrige Länder 27% 10% 6% 5% 6% 4% 3% 22% 17% Weltbevölkerungsanteil in Millionen Großbritannien Russland Frankreich Deutschland USA Japan übrige Kolonialmächte China, Persien, Osmanisches Reich übrige Länder 25% 17% 8% 3% 7% 1% 7% 11% 21% Flächenanteil in Prozent Großbritannien Russland Frankreich Deutschland USA Japan übrige Kolonialmächte China, Persien, Osmanisches Reich übrige Länder <?page no="41"?> 26 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I „das Element der ungeheuren Größe eines Herrschaftsbereichs, das wir in dieser Epoche brauchen, um zu einer großzügigen Denkweise zu kommen“ (zitiert nach Barraclough 1991: 714). ▶ Koloniale Erfolge lenkten von inneren Spannungen der wirtschaftlichen Depression 1873-1896 ab (Jansen/ Osterhammel 2013). Dass Kolonialisierung zum Teil angetrieben war durch das Streben nach Prestige und Anerkennung, änderte nichts an ihren Effekten: sie verschärfte den Wettbewerb auch in anderen Bereichen. ▶ Zunehmender Protektionismus unter den europäischen und amerikanischen Staaten verstärkte den Konkurrenzkampf und erzeugte den wirtschaftlichen Druck, weitere Absatzmärkte zu erschließen. Auch das Ziel, weltweit den Freihandel zu verbreiten, verkehrte sich Ende des 19. Jahrhunderts in sein Gegenteil. Mit der tatsächlichen Herrschaftsgewalt über die Kolonien bauten die meisten Kolonialmächte exklusive Handelsbeziehungen zu ihren Kolonien auf, was notwendigerweise zu Lasten der anderen Staaten lief. Das Ergebnis dieser Kräfte war, dass alle Großmächte auf Eroberungen aus waren und bis auf Österreich-Ungarn auch Kriege führten, um ihre Besitzrechte auf andere Kontinente auszuweiten. Deutschland und Japan als aufsteigende Mächte Eine wichtige Antriebskraft in diesem Wettbewerb waren die neuen aufstrebenden Mächte Deutschland, Italien, Japan und die USA. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es immer noch Frankreich, das sich im Wettbewerb um die globale Hegemonie mit Großbritannien betrachtete. Die nationalstaatliche Einigung und die mit der Industrialisierung einhergehende technologische Innovation brachten aber ganz neue Staaten in Stellung, Großbritannien herauszufordern. Dies waren vor allem die USA, die durch ihre neuen kolonialen Besitzungen in Zentralamerika (Kuba) und im Pazifik (Hawaii, Philippinen) im Vergleich zu vorher nun mehr Interessen im Pazifik entwickelten, sowie Japan und Deutschland, die in diesem Zeitraum eine enorme technologische Entwicklung vollzogen und ebenfalls begannen, sich in Konkurrenz zu Großbritannien zu positionieren. Das Deutsche Reich hatte durch seine nationalstaatliche Einigung flächenmäßig in Europa Großbritannien und Frankreich überholt. Zwischen 1850 und 1910 hatte sich seine Bevölkerung von 36 auf 65 Millionen Einwohner vergrößert. Im Vergleich dazu war die französische Bevölkerung nur sehr maßvoll gewachsen, von 36 auf 40 Millionen. Großbritanniens Bevölkerung war von 28 Millionen auf 45 Millionen angestiegen (Osterhammel 2012). 1898 begann das Deutsche Reich eine Flottenpolitik, die explizit 1.6 Aufstrebende Mächte USA Deutsches Reich <?page no="42"?> Unit 1 27 d eutschland und J apan als aufsteIGende m ächte G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Einheit 1 darauf angelegt war, Großbritanniens Hegemonie auf den Weltmeeren zu brechen. Außenpolitisch gelang es dem Deutschen Reich unter Bismarck, die sich abzeichnenden Konflikte durch ein kompliziertes Allianzsystem einzuhegen. Bismarcks Allianzpolitik zielte nach 1871 darauf ab, immer mindestens ein Dreiergespann einer Allianz gegen Frankreich und Großbritannien zu bilden und gleichzeitig Konflikte zwischen gegensätzlichen Interessen innerhalb der Dreierkonstellation auszutarieren (vgl. Tabelle 1.4). Die Interessenkonvergenz zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien bzw. Russland verschwand jedoch im Zuge der verschiedenen Balkankonflikte sowie der Interessen des Deutschen Reiches an der Türkei und am Horn von Afrika, die das britische Misstrauen weckten. Gleichzeitig einigten sich Großbritannien und Frankreich sowie Großbritannien und Russland über koloniale Einflusssphären und näherten sich an. Damit zeichnete sich eine außenpolitische Isolierung des Deutschen Reichs ab. Wilhelm II. (Bismarck war abgesetzt) empfand die Selbstverpflichtung, die in dem Bündnissystem angelegt war, als Beschränkung seiner Möglichkeiten, verfolgte eine Politik der freien Hand, und verlängerte wichtige Abkommen nicht, darunter das Außenpolitik: Bismarck’sches Bündnissystem Vertrag Beteiligte Zweck Bündnissystem Bismacks Dreibund (1882) Italien, Österreich, Deutschland wechselseitiger Schutz vor Angriff Rückversicherungsvertrag (1887) Deutschland, Russland wechselseitiger Schutz vor Bündnis mit Großbritannien oder Frankreich; Abschirmung gegen Nebeneffekte der österreichisch-russischen Spannungen Mittelmeerabkommen (1887) Deutschland, Großbritannien Verhindern eines französischen Vorstoßes ins Mittelmeer bzw. russischer Vorstöße auf Balkan oder türkische Meerengen Gegenallianzen Französisch-Russisches Bündnis (1892) Russland, Frankreich sofortige und gleichzeitige Mobilmachung von Streitkräften gegen Deutschland bei Angriff Entente Cordiale (1904) Frankreich, Großbritannien Schutz vor Deutschland Britisch-Russisches Abkommen (1907) Großbritannien, Russland Schutz vor Deutschland und Österreich Das Bündnissystem Bismarcks und seine Gegenallianzen Tab. 1.4 <?page no="43"?> 28 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Rückversicherungsabkommen mit Russland. Damit war die Grundkonstellation des Ersten Weltkriegs entstanden, mit dem Deutschen Reich und Österreich auf der einen Seite und Großbritannien, Frankreich und Russland auf der anderen Seite. Ähnlich wie Deutschland in Europa hatte auch Japan seine Position in Ostasien stark verbessert. Es war vom potentiellen Kolonisationsobjekt bis 1905-- nach dem Krieg mit Russland-- zu einem vollwertigen Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft aufgestiegen (Osterhammel 2011: 689). Beide Staaten gehörten zur Gruppe der Staaten, die sich schnell industrialisierten. Bei beiden Staaten handelte es sich also um aufstrebende Mächte. Japan und Deutschland schickten sich auch zunächst unabhängig voneinander an, eine regionale Vormachtstellung zu erreichen. Für Deutschland ging es dabei jedoch recht schnell auch um die Ablösung Großbritanniens als Weltmacht. Dies sollte über die Herausforderung der britischen Hegemonie im Schlachtschiffflottenbau geschehen, entsprach aber ebenfalls einem allgemeinen „Trend im internationalen System-[…], die britische Seehegemonie durch ein neues Gleichgewicht auf den Ozeanen abzulösen“ (Osterhammel 2011: 676). Europa und Asien traten damit in einen offensiven Rüstungswettlauf ein, der aneinander gekoppelt war, weil er sich gegen ein in beiden Regionen präsentes Großbritannien richtete. Globaler Wandel und der Weg in den Ersten Weltkrieg Zum Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts hatten sich somit bedeutende globale Veränderungen vollzogen: ▶ Die USA, Deutschland und Japan waren-- beeinflusst durch eine enorme wirtschaftliche Entwicklung- - die aufstrebenden Staaten am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Sie standen nicht nur im Wettbewerb mit den etablierten Mächten Großbritannien, Frankreich und Russland, sondern konkurrierten auch untereinander um Anerkennung als neue Großmächte. ▶ Die bisherigen Großmächte stiegen zum selben Zeitpunkt in eine verstärkte Konkurrenz um Kolonien ein. In Afrika und Asien ging es um Handelsprivilegien und politischen Einfluss. Verschärft wurde dieser Wettbewerb durch einen nationalstaatlichen Protektionismus: Die neuen Kolonien wurden durch exklusive Handelsbeziehungen mit ihren Kolonialmächten integriert, was andere Staaten benachteiligte. ▶ Auf dem Balkan standen die führenden Großmächte Großbritannien, Frankreich, Österreich-Habsburg, Deutschland und Russland im Wettbewerb. ▶ In Asien kam es zum Krieg zwischen Japan und Russland. 1.7 <?page no="44"?> Unit 1 29 G lobaler w andel und der w eG In den e rsten w eltKrIeG G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Einheit 1 Global betrachtet war die Wahrscheinlichkeit eines Kriegsausbruchs somit relativ hoch. Dass sich dieser Krieg ausgerechnet im Balkan entzündete und dann globale Ausmaße annahm, hatte viele Ursachen. Kriegsauslöser war die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand und seiner Frau in Sarajevo durch einen serbischen Nationalisten. Österreich stellte daraufhin Serbien ein Ultimatum, den Attentäter auszuliefern, das die serbische Regierung verstreichen ließ. Das österreichische Ultimatum aktivierte eine Reihe von Bündnisverpflichtungen, bzw. löste Reaktionen auf antizipierte Gegenmaßnahmen aus, wie den preußischen Präventivangriff auf Belgien (Schlieffen-Plan) zur Einkreisung der französischen Truppen. Dies führte zur schnellen Eskalation und machte den Krieg letztlich schwer vermeidbar. Nachdem die Serben das österreichische Ultimatum verstreichen ließen, führte dies zu einer Reihe von Aktionen und Reaktionen, die letztlich in den Krieg führten: ▶ Österreichs Truppenmobilisierung löste für Russland, das wiederum mit Serbien ein Beistandsabkommen hatte, den Verteidigungsfall aus. ▶ Der Kriegseintritt Russlands hätte aufgrund des Französisch-Russischen Bündnisses den unmittelbaren Kriegseintritt Frankreichs nach sich gezogen. Preußen verfolgte deshalb die Option, einer französischen Mobilisierung zuvorzukommen und über Belgien die französischen Truppen einzukreisen. Allerdings geriet der Vormarsch schnell ins Stocken. Auf dem Vormarsch durch Belgien verübten deutsche Truppen Massaker an der belgischen Zivilbevölkerung und zerstörten die belgischen Städte Löwen und Lüttich. Auch die belgische Stadt Ypern wurde völlig zerstört. ▶ Der völkerrechtswidrige Angriff auf Belgien führte zum Kriegseintritt Englands und damit zu einem Dreifrontenkrieg für das Deutsche Reich. Bündnisverpflichtungen und Eskalation bis zum Kriegsausbruch Von Kriegsauslösern zu unterscheiden sind die tieferliegenden Ursachen des Ersten Weltkriegs, die jedoch sehr unterschiedlich bewertet werden: Die Standardursache, die Historiker anführen ist, dass das nach dem Reichsaußenminister benannte Bismarck’sche Bündnissystem als ein defektes Allianzsystem zu betrachten ist, über das sich das Deutsche Reich und Österreich wechselseitig in die Balkan-Konflikte verstrickten und dann in einen Krieg zogen (vgl. Craig/ George 1988; Clark 2012: Kap. 3, vgl. Einheit 6). Eine andere Erklärung zielt auf territoriale Expansion und damit zusammenhängend auf die Bedeutung der Konzentration von Großmachtinteressen ab: Laut Barraclough (1991) wurde der Balkan kriegsauslösend, da sich die Großmachtkonkurrenz hier stark konzentrierte: Russland wandte sich Tieferliegende Ursachen <?page no="45"?> 30 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I nach seiner Niederlage gegen Japan über Korea wieder dem Westen zu und stieß hier direkt auf die Interessen Österreich-Ungarns. Das Deutsche Reich mischte sich im Balkan ein, um Interessenkonflikte zwischen Großbritannien, Österreich-Habsburg, Frankreich und Russland zu schüren und diese aus dem Deutschen Reich herauszuhalten. Gleichzeitig schürte die deutsche Expansion in der Türkei und im Nahen Osten das Misstrauen Großbritanniens und Russlands, die diese als Bedrohung ihrer eigenen Interessen wahrnahmen. Aus einer globalen Perspektive war der Erste Weltkrieg das Ergebnis einer Kombination von Faktoren, durch die es nicht mehr gelang, Kriege zu lokalisieren. Dazu gehört der imperialistische Wettlauf um Kolonien, der die Rivalitäten zwischen den europäischen Staaten verschärfte, und bei dem es nicht mehr nur um Großmacht-, sondern um Weltmachtstatus ging. Dazu gehörten auch die Erschütterung des Machtgleichgewichts durch die deutschen und italienischen Einigungen sowie die Bedrohung der britischen Hegemonie durch die neuen aufstrebenden Mächte Deutschland, Japan und die USA. Im Ersten Weltkrieg kämpften ursprünglich die sogenannten Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn gegen die Entente, bestehend aus Russland, Frankreich, Serbien und Großbritannien. Italien war anfangs neutral, trat jedoch 1915 auf der Seite der Entente in den Krieg ein. Rumänien folgte ihm 1916 (siehe dazu Tafel VII, S. 430). Das Osmanische Reich und Bulgarien traten auf der Seite der Mittelmächte in den Krieg ein. Im Verlauf des Kriegsgeschehens im Nahen Osten schlossen Frankreich und Großbritannien 1916 das für die Region folgenreiche Sykes-Picot-Abkommen, in dem sie den Nahen Osten unter sich aufteilten mit dem Ziel, der Osmanischen Herrschaft in diesem geografischen Raum ein Ende zu setzen. Großbritannien und Frankreich einigten sich im Sykes-Picot-Abkommen auf eine Aufteilung der Interessensphären im Nahen und Mittleren Osten. Im Kampf gegen die Mittelmächte machte Großbritannien in der Balfour-Deklaration (1917) darüber hinaus weitgehende Zugeständnisse an die jüdische Bevölkerung und sicherte ihr eine „Heimstätte“ in Palästina zu. Dies führte zu verstärkter Einwanderung der jüdischen Bevölkerung nach Palästina und zu Konflikten zwischen der jüdischen und der arabischen Bevölkerung, die noch heute den Kern des israelisch-palästinensischen Konflikts bildet. Die Abkommen bildeten die Grundlage des Friedensvertrags nach dem Ersten Weltkrieg für die Türkei. Sie stießen auf den Protest der US-Regierung unter Woodrow Wilson, der in ihnen eine Verletzung der von ihm proklamierten Prinzipien sah. Das Sykes-Picot-Abkommen 1916 <?page no="46"?> Unit 1 31 d Ie w elt zwIschen 1919 und 1945 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Einheit 1 Der Krieg wurde über vier Jahre unter einem menschenverachtenden Einsatz von Leben in einer-- wie die deutsche Oberste Heeresleitung es nannte-- „Materialschlacht“ (darunter fielen auch die Soldaten) geführt. Russland schied 1917 aufgrund der Russischen Revolution aus dem Krieg aus, dafür traten jedoch die USA auf Seiten der Entente ein und sorgten für einen nahezu unbegrenzten Nachschub an Truppen (Rudolf/ Oswalt 2010: 164), der letztlich kriegsentscheidend war. Zum Verlauf des Ersten Weltkriegs siehe Tafel VIII, S. 431. Als verhängnisvoll für das Deutsche Reich erwies sich seine Reaktion auf die durch Großbritannien verhängte Kontinentalsperre, die vor allem seinen Handel treffen sollte: Es begegnete der Handelsblockade durch einen „unbeschränkten U-Bootkrieg“ gegen Handels- und Kriegsschiffe, bei dem Schiffe ohne Vorwarnung versenkt wurden. Dies betraf vor allem den Handel neutraler Staaten wie den USA, die sich lange Zeit aus dem Krieg herausgehalten hatten, und bewirkte deren Kriegseintritt. Der Krieg endete im November 1918 mit einem Waffenstillstand und wurde offiziell mit den Versailler Verträgen 1919 beschlossen. Die Welt zwischen 1919 und 1945 Der kriegsentscheidende Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg bedeutete deren weltpolitischen Aufstieg und läutete nach dem Ende des Ersten Weltkriegs für die internationalen Beziehungen eine entscheidende Gewichtsverlagerung ein. Bis zum Ersten Weltkrieg lag dieser Schwerpunkt in Europa, jetzt verlagerte er sich hin zur überseeischen Welt. Allerdings nahm Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg zunächst weiterhin eine Führungsrolle ein. Dies war dadurch möglich, dass die USA nach dem Ersten Weltkrieg zu der Rolle zurückkehrten, die sie bis dahin auch eingenommen hatten: Der Regionalmacht auf dem amerikanischen Kontinent, die lediglich durch die pazifischen Territorien (Hawaii, Philippinen) auch in Asien präsent war. Eine institutionelle Form erhielt die britisch-amerikanische Vorherrschaft durch den Völkerbund und den Briand-Kellogg-Pakt (1928). Es bildete sich ein teils englisch, teils amerikanisch bestimmtes System der Sicherung des Friedens und der Aufrechterhaltung des Status quo heraus. Damit verbanden sich einerseits die Pariser Vorortverträge, die die territoriale Neuordnung Europas und des Nahen Ostens festlegten und den Wiederaufstieg Deutschlands verhindern sollten, und andererseits die Washingtoner Abrüstungskonferenzen ab 1921, die ein System der effektiven Kriegsverhütung durch Abrüstung etablieren sollten. Die britische Dominanz des Völkerbundsystems war mit US-Interessen durchaus vereinbar. Die USA hatten ein nach 1.8 <?page no="47"?> 32 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Kontinenten und Hemisphären gegliedertes Weltsystem im Sinn, in dem sie lediglich die Vorherrschaft in Lateinamerika und in der Karibik haben sollten. Sie verstanden sich unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg als amerikanische, nicht als europäische Macht. Präsident Woodrow Wilson war mit seinem Versuch einer Neuordnung des internationalen Systems nach dem Ersten Weltkrieg gescheitert. Die Prinzipien für eine Weltordnung, die Wilsons 14-Punkte-Programm enthielt, setzten sich nicht oder nicht unmittelbar unter den europäischen Mächten durch. Dazu gehörten die Öffentlichkeit internationaler Abkommen, die Freiheit der Schifffahrt, der Abbau von Handelsbarrieren und die unparteiische Anpassung kolonialer Ansprüche unter Berücksichtigung der betroffenen Völker. Der für die künftige Wahrung des Weltfriedens vielleicht wichtigste Punkt war der Vorschlag eines Allgemeinen Zusammenschlusses der Nationen zur gegenseitigen Garantie der Anerkennung der territorialen Integrität und politischen Unabhängigkeit. Aber auch der US-Kongress verweigerte die nötige Zustimmung zum Beitritt der USA zum Völkerbund. Die Außenpolitik der USA beschränkte sich in der Folge darauf, die britische Flottenrüstung mit möglichst geringen Kosten zu begrenzen, stellte aber Großbritanniens Seeherrschaft nicht grundsätzlich in Frage. Das 14-Punkte Programm Woodrow Wilsons Die Ordnung der Versailler Verträge (1919) Wiederum war es eine internationale Friedenskonferenz, auf der die Neuordnung Europas verhandelt wurde. Jedoch verbinden sich mit dem Namen Versailler Vertrag bzw. Pariser Vorortverträge (für die anderen Kriegsverlierer) bis heute nicht Erfolg, sondern das Scheitern einer Nachkriegsordnung und der Zweite Weltkrieg. In Deutschland ging der Versailler Vertrag als „Schandvertrag“ in die Geschichte ein. Aber die Verträge führten auch außerhalb Deutschlands zu Unzufriedenheit unter den betroffenen Staaten. Mit dem Frieden von Versailles verbindet sich eine Reihe von Friedensverträgen zwischen den Entente-Mächten als Kriegsgewinnern und Deutschland, Österreich und dem Osmanischen Reich als Kriegsverlierern (vgl. Tabelle 1.5). Ähnlich wie der Wiener Kongress hatten die Versailler Verträge mehrere konkrete Funktionen: Territoriale Neuordnung, Eindämmung und neue Weltfriedensordnung. Allerdings war diese Aufgabe ungleich schwerer als zur Zeit des Wiener Kongresses. Denn obschon das Schicksal Deutschlands ein zentrales Thema der Friedenskonferenz war, spielten weitere Fragen eine ebenso große Rolle: Was sollte aus Russland werden? Und wie sollte man auf dem Balkan und 1.9 <?page no="48"?> Unit 1 33 d Ie o rdnunG der V ersaIller V erträGe (1919) G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Einheit 1 in Osteuropa verfahren? Schließlich mussten auch noch die Verhältnisse im Nahen Osten befriedet werden und eine Regelung für das Osmanische Reich gefunden werden. Der Versailler Vertrag (Deutschland), der Vertrag von St. Germain (Österreich-Habsburg), der Vertrag von Trianon (Ungarn) und derjenige von Sèvres (Osmanisches Reich) sahen dabei recht ähnliche Regelungen vor. In allen vier Fällen verloren die Kriegsverlierer Territorium, mussten Kriegsreparationen bezahlen, wurden außenpolitisch überwacht und entmilitarisiert. Dies folgte im Wesentlichen der Praxis, wie sie bereits nach dem Wiener Kongress erfolgreich eingeübt worden war. Territoriale Neuordnung Europas und des Nahen und Mittleren Ostens: Die Versailler Verträge und der Vertrag von St. Germain (für Österreich- Ungarn) sahen bedeutende Gebietsabtretungen vor. Deutschland musste im Westen das Elsass und Lothringen, im Osten Posen und Westpreußen abtreten. Das Saarland wurde der Verwaltung des Völkerbunds unterstellt, das Ruhrgebiet einer gemeinsamen Verwaltung durch eine Reparationskommis- Das Versailler Vertragssystem war … im engeren Sinne eine Institution zur territorialen Neuordnung Europas und des Nahen und Mittleren Ostens in der Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs. Damit verbunden waren bedeutende Gebietsverschiebungen, die Etablierung neuer Flächenstaaten, das Aberkennen kolonialer Besitzungen und das Auslöschen Österreich-Ungarns als Nationalstaat. … eine Institution zur Eindämmung Deutschlands, Österreichs und des Osmanischen Reichs als Friedensstörer. … im weiteren Sinne durch die Gründung des Völkerbunds eine Institution zur Sicherung einer neuen Weltfriedensordnung. Mit der Etablierung des Völkerbunds wurden neue Verhaltensnormen entwickelt, wie die normative Ächtung des Angriffskriegs, die friedliche Streitbeilegung und die Abrüstung als wichtigstes Mittel der Kriegsverhütung. Er sah ein Sanktionssystem aus Wirtschaftsboykott und militärischer Sanktion (über einen Beistandspakt) vor. Der Völkerbund wurde durch den Briand-Kellogg-Pakt unter Führung der USA ergänzt. Merke Territoriale Neuordnung Eindämmung der Kriegsschuldigen Das Versailler Vertragssystem und das Wiener-Kongresssystem ähneln sich in den territorialen Regelungen zur Eindämmung von Staaten. Sie unterscheiden sich aber auch in wichtigen Punkten, insbesondere in den Normen zur Friedenssicherung: Der Völkerbund ächtete den Angriffskrieg, der zu Zeiten des Wiener Kongresses noch nicht als ächtungswürdig betrachtet wurde. Und er etablierte ein Friedenssicherungssystem, das auch kollektive Sanktionen vorsah. Wien und Versailles im Vergleich <?page no="49"?> 34 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I sion. Das Deutsche Reich verlor alle seine kolonialen Besitzungen. Genauso bedeutend waren die Regelungen zur Rüstungsbeschränkung: Das Deutsche Reich musste 90 Prozent seiner Handelsflotte abtreten oder ausliefern und versenkte diese vorsorglich (vgl. Tabelle 1.5). Der gesamte Balkan wurde im Zuge der Versailler Verträge ebenfalls neu territorial geordnet. Österreich-Ungarn wurde aufgelöst, ebenso wie ein Teil Russlands. In der Folge entstanden Ungarn, Jugoslawien und die Tschechoslowakei als unabhängige Staaten. Mit der Schaffung dieser drei territorialen Flächenstaaten sollte einerseits ein Puffer gegenüber Russland geschaffen werden, der Deutschland gegenüber dem Bolschewismus abschirmte. Andererseits sollte Auflösung Österreich-Ungarns Territoriale Neuordnung Osteuropas Region Staat territoriale Veränderung weitere Regelungen/ Implikationen Europa Deutschland (Versailles) Gebietsverluste an Litauen, Polen, Tschechoslowakei, Frankreich, Belgien, Dänemark verliert alle koloniale Besitzungen in Afrika und Asien unter Völkerbundverwaltung: Danzig, Saargebiet (für 15 Jahre) alliierte Besetzung des Ruhrgebiets Demilitarisierung: Begrenzung von Heer, Marine, Verbot einer Luftwaffe Reparationen Österreich (St. Germain) Gebietsabtretungen an Tschechische Republik, Jugoslawien, Rumänien, Polen, Abtretung Südtirols an Italien Demilitarisierung: Abtretung der gesamten Kriegs- und Handelsflotte Reparationen Ungarn (Trianon) Abtretung Slowakei an Tschechoslowakei, weitere Abtretungen an Rumänien, Jugoslawien und Österreich Demilitarisierung Reparationen Bulgarien (Neuilly) Abtretung von Gebieten an Griechenland, Jugoslawien, Rumänien Demilitarisierung Reparationen Naher Osten Osmanisches Reich (Sèvres, revidiert durch Vertrag von Lausanne 1923) Gebietsabtretung von Syrien und Libanon (an Frankreich), Palästina und Irak (Völkerbundmandat, verwaltet durch Großbritannien), Thrakien und Smyrna (an Griechenland) Demilitarisierung der Meerengen (Bosporus, Dardanellen) Russland erhält lange angestrebten Mittelmeerzugang Türkei wird aus Europa gedrängt Friedensvertrag führt zu einem Bürgerkrieg, der erst 1923 beendet wird Territoriale Neuordnung nach den Versailler Verträgen Tab. 1.5 <?page no="50"?> Unit 1 35 d Ie o rdnunG der V ersaIller V erträGe (1919) G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Einheit 1 diese Staatengruppe ein östliches Gegengewicht gegen eine künftige „deutsche Gefahr“ bilden (Berghahn 2009: 110). Neben Deutschland waren vor allem Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich die Kriegsverlierer (Murray 2009). Österreich-Ungarn und damit das Habsburger Königreich hörten auf zu existieren- - auch völkerrechtlich. Der Friede von St. Germain löste das Reich auf, auch Österreich wurde als Kriegsschuldiger bezeichnet. Aus ihm gingen mehrere Staaten hervor. Vom einstmals großen Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn blieb Österreich mit etwas mehr als 6 Millionen Einwohnern übrig. Ähnlich erging es dem Osmanischen Reich, dessen Territorium stark verkleinert wurde. Das türkische Territorium wurde reduziert auf Anatolien und Istanbul, der Rest wurde unter den Alliierten aufgeteilt oder dem Völkerbund unterstellt. Die Regelung von Sèvres führte zum Bürgerkrieg im Osmanischen Reich, der erst 1923 beendet war und in das nachhaltigere Abkommen von Lausanne mündete. Überwachung des Deutschen Reichs und Österreichs: Die Versailler Verträge sahen die nahezu vollständige Demobilisierung und Demilitarisie- Territoriale Regelungen der Versailler Verträge zu Deutschland Abb. 1.5 <?page no="51"?> 36 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I rung Deutschlands vor. Die Wehrpflicht wurde verboten. Der Vertrag verbot den Besitz einer Luftwaffe und begrenzte die Größe des deutschen Heeres und seiner Offiziere. Ruhrgebiet und Saarland wurden demilitarisiert. Österreichs Heer wurde ebenfalls begrenzt. Völkerbund als Friedenssicherungssystem: Mit den Versailler Verträgen wurde ein System der Friedenssicherung in Form des Völkerbunds als einem kollektiven Sicherheitssystem etabliert. Kern war die Beschränkung der traditionellen einzelstaatlichen Gewaltpolitik und Geheimdiplomatie, an deren Stelle die kollektive Gewaltanwendung aller Staaten treten sollte und die freie Diskussion der Staatsmänner vor der Weltöffentlichkeit. Die Streitschlichtung war ein zweiter zentraler Pfeiler des Völkerbunds. Die Mitglieder verpflichteten sich, ihre „einer schiedsrichterlichen Lösung zugänglichen“ Differenzen entweder vor den Völkerbundrat oder den Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu bringen. Die Regelungen zur Streitschlichtung blieben jedoch letztlich unverbindlich. Die Schwächen des Schiedsgerichtsverfahrens sollten durch Sanktionsbestimmungen der Völkerbundsatzung ausgeglichen werden. Diese traten automatisch in Kraft, sobald ein Mitglied unter Nichtbeachtung der Schlichtungsbestimmungen einen Krieg begann. Als Sanktion gegen den Angreifer war der Wirtschaftsboykott vorgesehen. Die Anwendung militärischer Sanktionen war zwar vorgesehen, ihre Durchführung war aber den Mitgliedern überlassen. Die Wirksamkeit oder Effektivität des Völkerbunds war damit letzten Endes von der Bereitschaft seiner Mitglieder abhängig, seine Verfügungen, wenn nötig, mit Waffengewalt zu unterstützen. Die Lösung für dieses Problem sollte ein internationaler Beistandspakt sein, über den die Völkerbundversammlung im Herbst 1923 beriet. Dieser sollte garantieren, dass Mitglieder im Falle eines Angriffskriegs einander helfen. „Die im Völkerbund zusammengeschlossenen Staaten sollten gegebenenfalls einen notorischen Friedensstörer oder Aggressor aus ihren Reihen ausgrenzen und gegen ihn eine ‚überwältigende Koalition‘ bilden, um ihn notfalls mit dem gemeinsamen Einsatz von Machtmitteln auf den Pfad des Friedens zurückzwingen zu können.“ (Knapp 2004: 88) Allerdings konnten sich die Staaten nicht auf eine Definition eines „Aggressors“ einigen und vielen ging die darin enthaltene Beistandsverpflichtung zu weit. Der Versuch, den Völkerbund durch ein internationales Militärbündnis zu ergänzen und zu stärken, war damit fehlgeschlagen. Der Völkerbund war von seiner Anlage als ein globales Friedenssicherungssystem ausgelegt, die Reichweite seiner Autorität blieb jedoch in zweifacher Hinsicht beschränkt. Durch die Nicht-Mitgliedschaft der USA fehlte ihm der Staat, dessen materielle Macht kriegsentscheidend für den Ersten Weltkrieg gewesen war. Der Völkerbund blieb aber auch beschränkt in sei- Keine rechtlich verbindliche Wirkung der Streitschlichtung Globales Friedenssicherungssystem mit beschränkter Reichweite <?page no="52"?> Unit 1 37 d Ie o rdnunG der V ersaIller V erträGe (1919) G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Einheit 1 ner räumlichen Autorität: Die kolonialen Besitzungen waren von den Beratungen im Völkerbund explizit ausgeschlossen. Damit verbunden war, dass Kolonialismus als eine Praxis der Unterdrückung ganzer Völker auch nicht normativ geächtet war. Eine der wichtigsten Ideen Woodrow Wilsons in seinem 14-Punkte-Programm in Bezug auf die Gebiete unter kolonialer Herrschaft hatte sich nicht durchgesetzt. Mangelnde Durchsetzungskraft des Völkerbunds Der Völkerbund blieb in seiner wichtigsten Funktion, die internationale Sicherheit in einem System kollektiver Sicherheit zu garantieren, wirkungslos. Die Durchsetzung des allgemeinen Kriegsverbots war nicht nur davon abhängig, dass sich im Falle eines Konfliktes alle Staaten darauf einigten, wer der Urheber einer Aggression sei, sondern auch davon, dass alle bereit sind, mit allen Mitteln gegen einen identifizierten Aggressor vorzugehen. Die fehlende Durchsetzungsfähigkeit wurde erstmals 1931 beim japanischen Überfall auf die Mandschurei und vier Jahre später beim italienischen Angriff auf Abessinien deutlich. Im italienischen Fall befürchtete Großbritannien, in einen Krieg verwickelt zu werden und schloss sich einem Boykott gegen Italien nicht an. Wie stark der Völkerbund danach an Bedeutung verlor, spiegelt sich in seiner Mitgliedschaft wider. Zwischen 1931 und 1941 traten ein Drittel der Mitglieder bereits wieder aus, obwohl auch einige Staaten dem Völkerbund beitraten (vgl. Abb. 1.6). Die letzten beiden Mitglieder, die austraten, waren Frankreich (1941) und Haiti (1942). Merke Ineffektivität des Völkerbunds Völkerbund Briand-Kellogg-Pakt Aufgaben allgemeine Abrüstung Streitschlichtung Streitschlichtung allgemeines Kriegsverbot Kriegsächtung: Freiwilliger Verzicht auf Krieg als Mittel der Außenpolitik Sanktionsbestimmungen Wirtschaftsboykott Selbstverteidigung Internationaler Beistandspakt Teilnahme an Sanktionen des Völkerbunds Mitgliedschaft 1933: 58 Mitglieder 1941: 40 Mitglieder 62 Mitglieder Bedeutungsverlust ab 1933 Das kollektive Sicherheitssystem der Friedenssicherung durch Völkerbund und Briand-Kellogg-Pakt Tab. 1.6 <?page no="53"?> 38 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Durch den Völkerbund und nachgelagerte Verhandlungen gelang es, einige zentrale Probleme, die die Versailler Verträge aufwarfen, zu regeln. Dazu gehörte die Regelung der Kriegsreparationen, die durchgängiger Konfliktgegenstand und Thema internationaler Verhandlungen war. Zentral für Abbildung 1.6 Tabelle 1. 7 nochmal mit Original-Formatierung in Zip.-Datei EXTRA_TAB_ABB 0 10 20 30 40 50 60 70 1920 1921 1922 1923 1924 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 Schiedssprüche Mitgliedschaft nach Eintritten Mitgliedschaft nach Austritten Gesamtmitgliedschaft Entwicklung der Mitgliedschaft des Völkerbunds und der Schiedsverfahren des ständigen internationalen Gerichtshofes (1920-1944) Abb. 1.6 Der Völkerbund regelte zentrale Probleme nicht, die als kausale Mitverursacher des Ersten Weltkriegs betrachtet werden müssen, oder verschärfte sie sogar. ▶ Der Wettbewerb um kolonialen Besitz, den Großbritannien mit großem Abstand anführte, war auch nach Beendigung des Ersten Weltkriegs nicht beendet. Kolonialismus war nicht geächtet. ▶ Mit den globalen Aufsteigern Japan, USA und dem Deutschen Reich blieb der britische Hegemonialanspruch umkämpft. Japan und die USA stellten die britische Dominanz vor allem in Ostasien in Frage. Aber auch der deutsche Weltmachtanspruch war ungebrochen und wurde lediglich auf sein kontinentales Umfeld umgelenkt. Dies führte nach 1933 zur deutschen Expansion nach Osteuropa. ▶ Mit der Herausforderung der britischen Dominanz war verbunden, dass der Flottenrüstungswettlauf unvermindert fortgesetzt wurde. Er ging vor allem von Ostasien aus, beeinflusste aber über die Präsenz Großbritanniens und Frankreichs in Asien und Europa auch den europäischen Flottenrüstungswettlauf. Beschränkung der Reichweite und Effektivität des Völkerbunds Umkämpfter Hegemonialanspruch Großbritanniens <?page no="54"?> Unit 1 39 d Ie wIchtIGsten Globalen t rends und e ntwIcKlunGen (1919-1939) G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Einheit 1 Deutschland war die Senkung der Reparationen sowie Grenzfragen. Britische und französische Kriegsschulden gegenüber den USA sowie deutsche Reparationen waren voneinander abhängig. Zur Bedienung seiner eigenen Schulden drängte vor allem Frankreich auf hohe Reparationen. Dies führte dennoch schrittweise zur Schuldenreduktion und schließlich mit den Dawes- und Young-Plänen zu nachhaltigeren Reparationsregelungen. Deutschland erkannte die neuen Grenzregelungen in separaten Verträgen an. Auch das Streitschlichtungsverfahren funktionierte effektiv bis Anfang der 1930er Jahre. Dann nahm die Zahl der Streitschlichtungen ebenso rapide ab, wie die Zahl der Austritte zunahm. Daneben gab es jedoch einige zentrale Bereiche, die der Völkerbund nicht oder nur in geringem Maße bearbeiten konnte. Verträge besiegelten nicht nur die Nachkriegsordnung. Sie zeugen vor allem von der Idee eines zwischenstaatlichen Gleichgewichts- und Sicherheitsprinzips sowie von den bestehenden Bestrebungen der Staatengemeinschaft, ein institutionalisiertes Revisionsorgan internationalen Friedens zu etablieren. Wie schon der Wiener Kongress sollten die Versailler Verträge als Instrument für die internationale Politik dienen. Dennoch konnten die Versailler Verträge die ihnen zugrunde liegenden Ziele der Streitbeilegung und der Abrüstung nur unzureichend durchsetzen. Die Flottenbegrenzungsverhandlungen scheiterten, Kolonialansprüche der Großmächte und der Wettbewerb um kolonialen Besitz konnten nicht vermindert werden und die Ansprüche der neuen Mächte Deutschland und Japan auf einen Großmachtstatus konnten nicht befriedigt werden. Verträge als Revisionsorgan internationalen Friedens? Die wichtigsten globalen Trends und Entwicklungen (1919-1939) Weltwirtschaftliche Verflechtung und Weltwirtschaftskrise Zu Beginn der Zwischenkriegszeit erlebten die meisten Staaten einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung. Dieser hatte im Jahr 1929 ein jähes Ende, als die New Yorker Börse zusammenbrach. Die nachfolgende Rezession und Depression in den USA stellte alle vorherigen Wirtschaftskrisen in den Schatten und hatte aufgrund der asymmetrischen Wirtschaftsbeziehungen, die die Wirtschaftsentwicklung vieler Staaten an diejenige der USA koppelte, starke negative Effekte auf viele andere Staaten. Innerhalb von vier Jahren schrumpften das Bruttosozialprodukt, private Einkommen und der Außenhandel der USA auf die Hälfte zusammen. Die Investitionen gingen um 90 Prozent zurück. Die Agrarpreise fielen um 60 Prozent. Ein Viertel der arbeitsfähigen Bevölkerung in den USA verlor ihre Arbeit. Noch härter traf es jedoch eine Reihe von Staaten, die mit den USA auf das Engste verflochten waren: 1.10 1.10.1 <?page no="55"?> 40 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I ▶ Japans Exporte gingen in der Zwischenkriegszeit überwiegend in die USA. Hier hatte die Krise einschneidende politische Folgen. ▶ In Lateinamerika, wo die USA Großbritannien als größten Handelspartner abgelöst hatten, wurde der Entwicklungs- und Modernisierungsprozess jäh beendet. ▶ In Europa waren Großbritannien und Deutschland am härtesten betroffen. In Großbritannien erreichte die Arbeitslosigkeit 1932 einen Höchststand: ein Fünftel der Erwerbstätigen war arbeitslos. In Deutschland betrug die Arbeitslosenquote sogar ein Drittel der Erwerbstätigen. Die industrielle Produktion sank um 40 Prozent. Auswirkungen auf Japan nationalstaatliche Ebene zwischenstaatliche Ebene Zeit Raum weltwirtschaftliche Verflechtung und Weltwirtschaftskrise politische und ökonomische Folgen der Krise zeigen sich unter anderem in hoher Arbeitslosigkeit, dem Rückgang des Bruttosozialprodukts / industrieller Produktion und nationalstaatlicher Entwicklungsprozesse asymmetrische Wirtschaftsbeziehungen stellen die internationale Staatenwelt in Abhängigkeit zur USA 1929 USA, Japan, Lateinamerika, Europa (Großbritannien und Deutschland) die Welt zwischen kommunistischer Revolution und Autoritarismus Strukturwandel durch Umwälzungen in den Staatenverfassungen: Machtübernahme durch extrem nationalistische oder kommunistische Bewegungen und autoritäre Regierungen durch internationale Transformationsprozesse entstehen Faschismus und Kommunismus als Gegenspieler zur parlamentarischen Demokratie und generieren eine transnationale Anhängerschaft ab 1929, insbesondere zwischen 1917 und 1937 Europa, Lateinamerika, Japan Rüstungswettlauf in Konkurrenz stehende Nationalstaaten trachten nach regionalem Einfluss und regionaler Vorherrschaft in ihrem jeweiligen territorialen Interessengebiet / Flottenrüstungswettlauf aufgrund ihrer Antizipation einer direkten Sicherheitsbedrohung durch andere zwischenstaatliche Abrüstungsverhandlungen haben nicht den erwünschten Erfolg ab 1920 Europa, Asien Die wichtigsten globalen Trends und Entwicklungen 1919-1939 Tab. 1.7 <?page no="56"?> Unit 1 41 d Ie wIchtIGsten Globalen t rends und e ntwIcKlunGen (1919-1939) G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Einheit 1 Die Welt zwischen kommunistischer Revolution und Autoritarismus Die weltwirtschaftliche Krise wurde begleitet durch die Auswirkungen der Russischen Revolution von 1917, die in vielen Staaten Resonanz fand. Sie führte mit der Entstehung kommunistischer Parteien zu einer Polarisierung der Parteienlandschaft vor allem in solchen Staaten, die eine starke landbesitzende Oligarchie hatten. Dazu gehörten beispielsweise auch Teile des Deutschen Reiches. Unmittelbarer Auslöser der Revolution in Russland war das Versagen der zaristischen Regierung bei der Versorgung ihrer Soldaten während des Ersten Weltkriegs. Die längerfristigen Ursachen lagen aber in der Unfähigkeit der russischen Monarchie, eine Modernisierung und Industrialisierung der Gesellschaft zu befördern, wie sie in vielen anderen Staaten stattfanden. Die Oktoberrevolution 1917 führte unmittelbar in einen Bürgerkrieg (1918-1922) zwischen Bolschewisten, zaristischen und verschiedenen anderen Gruppierungen. Im Bürgerkrieg ging es auch um die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Russlands. Viele Territorien nutzten die Gelegenheit, sich für unabhängig zu erklären, wie der Kaukasus, Finnland, Estland, die Ukraine, Georgien, Weißrussland, Polen, Lettland und Litauen. Russland gelang es zunächst 1918 durch die Gründung der Russischen Sozialistischen Föderativen Republik und 1922 durch die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) einen Teil dieser Territorien in föderativen Strukturen wieder anzubinden. Unabhängig blieben jedoch Finnland und die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. Beeinflusst durch die kommunistische Revolution und ab 1929 durch die Weltwirtschaftskrise vollzog sich zwischen 1917 und 1937 eine weitere umfassende Umwälzung in den Staatenverfassungen. In diesen zwei Dekaden befand sich die liberale Demokratie weltweit auf dem Rückzug. Der demokratische Rückzug betraf vor allem Lateinamerika und Europa. Auch hier können Daten das Ausmaß dieses Transformationsprozesses verdeutlichen. Zu Beginn der Zwischenkriegsperiode hatten fast alle europäischen Staaten demokratische Reformen eingeführt. An ihrem Ende waren mehr als die Hälfte von ihnen unter autoritärer Kontrolle (Skanning 2011). Studien zum Prozess des demokratischen Rückzugs zeigen, dass die Staatengruppe, die in den Autoritarismus verfiel, einige Gemeinsamkeiten aufweist: ▶ Betroffen waren vor allem junge Demokratien, die die Weltwirtschaftskrise besonders getroffen hatte. ▶ Staaten, die eine ausgeprägte landbesitzende Oligarchie hatten und in denen die Kirche relativ unabhängig vom Staat agierte, hatten eine größere Wahrscheinlichkeit, in Autoritarismus zu verfallen als Demokratien, 1.10.2 Effekte der Russischen Revolution 1917 Innerstaatlicher Strukturwandel: Autokratische Transitionen in Lateinamerika und Europa Begünstigende Faktoren für Autoritarismus <?page no="57"?> 42 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I die bereits länger etabliert waren und in denen Landbesitz gleichmäßiger verteilt war (Skanning 2011). Als Ergebnis dieser autoritären Wellen war ein Großteil der existierenden Staaten in den 1930er Jahren autoritär regiert. In vielen europäischen Staaten, aber auch in Japan, entwickelten sich faschistische bzw. extrem nationalistische Bewegungen. Fast alle osteuropäischen Staaten schlugen in Diktaturen um: Den Anfang machte 1920 Ungarn, danach folgten 14 weitere Regierungswechsel, von denen 12 Staaten betroffen waren (Portugal und Spanien erlebten in dieser Zeit je zwei Regierungswechsel). In Spanien führte dies 1936 zu einem offenen Bürgerkrieg, der 1939 mit der Machtübernahme General Francisco Francos endete. In Rumänien verhinderte der König 1938 durch Einsetzung einer Königsdiktatur die Machtübernahme der „Eisernen Garde“, die sich an die NSDAP und die Nationale Faschistische Partei Italiens anlehnte (vgl. Tabelle 1.8 und Rudolf/ Oswalt 2010: 170-171). In Zentralamerika kam es zu einer ähnlichen Autoritarismuswelle. Hier kam es in kurzem Abstand zwischen 1930 und 1936 zur Errichtung von Militärdiktaturen in der Dominikanischen Republik, Guatemala, El Salvador, Honduras, Kuba und Nicaragua. Das Ergebnis dieser Transformation war, dass Faschismus und Kommunismus als Ideologien zu mächtigen Gegenspielern von Liberalismus und dem Modell der parlamentarischen Demokratie aufstiegen. Sie entwickelten sich in den internationalen Beziehungen zu einer starken Einflussgröße und schlossen sich wechselseitig aus. Der Kommunismus propagierte die Solidarität zwischen einer internationalen Arbeiterschaft unabhängig von ihrer Nationalität und war damit transnational ausgerichtet. Er richtete sich mit dem Ziel der Umverteilung von Grund und Boden aber auch gegen die land- Faschismus und Kommunismus als Gegenspieler zur parlamentarischen Demokratie Jahr Betroffene Staaten 1920 Ungarn 1921 1922 Italien 1923 Spanien 1924 1925 1926 Portugal, Polen 1927 1928 1929 Jugoslawien 1930 Dominikanische Republik, Guatemala 1931 1932 El Salvador, Honduras 1933 Deutschland, Österreich, Portugal, Kuba 1934 Lettland, Estland, Bulgarien 1935 1936 Griechenland, Spanien, Nicaragua 1937 1938 Rumänien Globale Autoritarismuswelle 1920-1938 Tab. 1.8 <?page no="58"?> Unit 1 43 d Ie wIchtIGsten Globalen t rends und e ntwIcKlunGen (1919-1939) G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Einheit 1 besitzende Oligarchie. Der Faschismus richtete sich an die Mitglieder einer Nation, die sich an rassischen Merkmalen orientierte. Aber auch er vermochte es, eine transnationale Anhängerschaft zu generieren (Bell 2013: 58). Flottenrüstungswettlauf in Asien und Europa Der Ende des 19. Jahrhunderts begonnene Flottenrüstungswettlauf setzte sich auch nach dem Ende des Ersten Weltkriegs fort, trotz der „allgemeinen Abrüstung“, die laut Völkerbund vorgesehen war. Die Ursachen für diesen Rüstungswettlauf lagen in den Interaktionen zwischen den globalen Aufsteigernationen Japan, USA und Deutschland auf der einen Seite und Großbritannien auf der anderen Seite. Zwar war Deutschland durch die Versailler Verträge erheblich außenpolitisch eingeschränkt, seine hegemonialen Ambitionen waren aber damit nicht gebrochen. Der Flottenrüstungswettlauf setzte sich zunächst über Entwicklungen in Asien fort. Das hatte damit dazu tun, dass die Beziehungen der wichtigsten Staaten in dieser Region (Großbritannien, die USA, Japan, Frankreich) durch den Ersten Weltkrieg kaum berührt worden waren. Der einzige Effekt des Ersten Weltkriegs in dieser Region war, dass laut Versailler Vertrag die deutschen Kolonien Japan übertragen wurden. Somit setzte sich gerade dort der Flottenrüstungswettlauf aus der Vorkriegszeit fort, auch wenn es zum Teil wichtige Vereinbarungen gab, diesen zu beschränken. Über die gemeinsame Präsenz von Großbritannien und Frankreich in Asien bestanden Interdependenzen zwischen den Vereinbarungen zur Flottenstärke in Asien und in Europa. Da die Abrüstungsvereinbarungen in Asien eine Aufrüstung in Europa ermöglichten, scheiterten schließlich die internationalen Abrüstungsverhandlungen. Zwischen 1914 und 1922 bauten Großbritannien, die USA und Japan massiv ihre Schlachtschiffflotte aus. Frankreich und Italien folgten diesem Trend mit etwas Abstand. Großbritanniens Flotte hatte beispielsweise eine 1.10.3 Liberalismus konträre realpolitische Annahmen Kommunismus ▶ Parlamentarismus ▶ Einbezug der Öffentlichkeit ▶ das Individuum steht als Wähler im Mittelpunkt ▶ Herrschaftslegitimation durch Volkssouveränität politische und rechtliche Gleichheit der Bürger → ▶ antidemokratische Orientierung ▶ nicht das Individuum, sondern das Wohl aller steht im Mittelpunkt ▶ Bruch mit der demokratischen Ordnung und der Bourgeoisie zum Wohle der unteren Arbeiterschichten ← soziale und ökonomische Ungleichheit der Bürger Liberalismus und Kommunismus im Vergleich Tab. 1.9 <?page no="59"?> 44 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Tonnage von über zwei Millionen. Im Krieg verlor es ein Fünftel (450.000). Zwischen 1914 und 1920 baute es Schlachtschiffe mit einer Gesamttonnage von über einer Million. Die USA besaßen 1914 eine Tonnage von 878.000 und vergrößerten ihre Flotte danach in gleicher Höhe. Zur Eindämmung des Deutschen Reiches hatte der Versailler Vertrag die deutsche Flotte auf eine Größe von 108.000 Tonnen begrenzt, was etwa ein Zehntel der Tonnage war, über die das Deutsche Reich 1914 verfügte. Im Einklang mit der Charta des Völkerbunds fanden in dessen Rahmen wichtige Abrüstungsverhandlungen in den Kategorien der großen und leichten Schlachtschiffe statt. Die Washingtoner Konferenz von 1921/ 22 beispielsweise verabschiedete bedeutende Regelungen, wie einen Nichtangriffspakt zwischen den USA, Großbritannien, Japan und Frankreich, der eine Multilateralisierung des existierenden Bündnisses zwischen Großbritannien und Japan darstellte. Auch kam es zu einer Einigung auf Obergrenzen und Paritäten beim Schlachtschiffbau, die die Sorge der USA vor einem japanischen Expansionismus dämpften. Und die offizielle Anerkennung des Prinzips der „Offenen Tür“ sicherte China sowohl territoriale Integrität und Souveränität als auch die Verfolgung seiner Wirtschaftsinteressen. Aber die Abrüstungsverhandlungen hatten mehrere Schwächen, die letztlich zur weiteren Aufrüstung führten. Erstens berücksichtigten die Verhandlungen in erster Linie das Kräfteverhältnis in Ostasien und nicht in Europa. Das lag daran, dass die USA als führende Kraft hinter Abrüstungsgesprächen ein stärkeres Interesse daran hatten, die Flottenrüstung dort zu begrenzen: Als pazifische Macht waren sie in Ostasien eher betroffen als in Europa. Die beiden Hauptziele ihrer Anstrengungen waren Großbritannien und Japan, also ihre beiden Hauptkontrahenten in Ostasien. Die Regelung dort hatte aber notwendigerweise Konsequenzen für die Flottenrüstung in Europa, da Frankreich und Großbritannien sowohl europäische als auch asiatische Mächte waren. Dieser Umstand wirkte sich insofern negativ auf Europa aus, da die Abrüstungskonferenzen im Endergebnis die Flottenrüstung nicht effektiv beschränkten, sondern sie nur verlagerten, nämlich von der Kategorie der Schlachtschiffe über 10.000 Tonnen hin zur Kategorie der leichten Schlachtschiffe unter 10.000 Tonnen. Und genau in dieser Gewichtsklasse der Schlachtschiffe ging der Flottenrüstungswettlauf unvermindert weiter. Aber auch die Aufrüstung in der Kategorie der schweren Schlachtschiffe war nicht gestoppt. Treibende Kräfte waren: ▶ Großbritannien, das Abrüstungskonferenzen forcierte, um seinen eigenen Weltmachtstatus abzusichern und andere Staaten daran zu hindern, Parität zu erlangen. Abrüstung bei großen Schlachtschiffen Aufrüstung bei leichten Schlachtschiffen <?page no="60"?> Unit 1 45 G lobaler w andel und der w eG In den z weIten w eltKrIeG G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Einheit 1 ▶ Japan, das in seiner Flottenrüstung einerseits ein Symbol für seinen regionalen Status sah und andererseits für seine pazifische Expansion eine größere Flotte benötigte. ▶ Die Sowjetunion, die eine Kontrolle des Arktischen, Baltischen und des Schwarzen Meers sowie des Pazifiks anstrebte und eine Hochseeflotte als Projektionsmittel betrachtete, um die kommunistische Revolution in die Welt zu tragen. Stalin knüpfte die Rüstungskontrolle an die Erwartung technologischer Hilfe durch Großbritannien. ▶ Italien, das sich als aufstrebender Staat an der Flottenstärke Frankreichs maß und mit ihm im Wettbewerb um die Vorherrschaft des Mittelmeerraumes stand. ▶ Frankreich, das einerseits ebenfalls aus Prestigegründen eine Hochseeflotte anstrebte und andererseits die Aufrüstung als Rückversicherung gegen die Wiederaufrüstung des Deutschen Reichs betrachtete. Sie sollte sicherstellen, dass im Kriegsfall mit dem Deutschen Reich notfalls tausende afrikanischer Truppen über das Meer nach Europa hätten verschifft werden können. ▶ Das Deutsche Reich, das durch die Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrags gebunden war und dessen Aufrüstung überwacht wurde. Es fühlte sich durch die Sowjetunion bedroht und klagte die Gleichberechtigung mit den anderen Staaten ein. 1936 scheiterte die Abrüstungskonferenz des Völkerbunds. Globaler Wandel und der Weg in den Zweiten Weltkrieg Mitte der 1930er Jahre hatte sich die Staatenlandschaft bedeutend verändert. ▶ Ein Großteil der Staaten war autoritär regiert. ▶ Durch innerstaatliche Verwerfungen im Zuge der kommunistischen Revolution in Russland waren viele Staaten innerstaatlich instabil. ▶ Mit Deutschland, Italien und Japan existierten drei aufsteigende Mächte, die sich als nachholende Kolonialmächte verstanden und massiv begannen zu expandieren. ▶ Der Flottenrüstungswettlauf konnte nicht effektiv begrenzt werden. Merke Geografisch betrachtet vollzog sich der Weg in den Zweiten Weltkrieg, verstärkt durch den Wettbewerb der drei Achsenmächte Deutschland, Italien und Japan untereinander als aufstrebende Mächte, nahezu gleichzeitig an drei verschiedenen Schauplätzen: Europa, Nordafrika und Asien. Die in Abbildung 1.10 dargestellte Abfolge von Ereignissen liefert auch Hinweise 1.11 Kriegsschauplätze: Europa, Nordafrika, Asien <?page no="61"?> 46 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I darauf, wie abhängig die Aktionen Japans von denen Italiens und Deutschlands waren-- und anders herum. Deutschland unter den Nationalsozialisten verfolgte ab 1933 eine aggressivere Außenpolitik, die die diplomatischen Erfolge der Ära Stresemanns zunichte machte. Diese Außenpolitik zielte zunächst darauf ab, die Territorialbestimmungen des Versailler Vertrags zu revidieren, nahm dann aber stark expansionistische Züge an. Innerhalb kürzester Zeit besetzte und eroberte das Deutsche Reich in einer Mischung aus Anschlüssen und Eroberungen fast ganz Europa (vgl. Tabelle 1.10), beginnend mit der Einnahme der östlichen Gebiete (Sudetenland, der Tschechoslowakei, Polen nach dem Hitler-Stalin-Pakt) über die skandinavischen Staaten (Dänemark und Norwegen) bis zur Einnahme Belgiens, Luxemburgs, Hollands und schließlich Frankreichs. Die ersten Gebietserweiterungen wurden durch die Münchner Konferenz 1938 durch Frankreich und Großbritannien im Rahmen ihrer Appeasement-Politik gegenüber Hitler bestätigt. Wie bereits im Ersten Welt- Nationalsozialistische Expansion in Europa Ziele und Eroberungen der diktatorischen Achsenmächte Japan Deutschland Italien ostasiatische „Wohlstandssphäre“ Beherrschung des ostasiatischen Raums, rassische Ideologie Lebensraum im Osten: Polen und Sowjetunion, Neuaufteilung der Welt nach rassischen Gesichtspunkten Mare Nostro: Vorherrschaft im Mittelmeerraum Ereignisse Ereignisse Ereignisse Überfall auf Mandschurei 1932 Überfall auf Abessinien 1935/ 36 Austritt Völkerbund, März 1933 Austritt Völkerbund, Oktober 1933 Austritt Völkerbund 1937 Überfall auf Indochina 1941 Angriff auf Pearl Harbour 1941 Anschluss Österreichs, März 1938 Annexion Tschechoslowakei 1939 Besetzung Polens, Dänemarks, Norwegens, Belgiens, Luxemburgs, der Niederlande, Frankreichs, ab September 1939 Angriff auf die Sowjetunion 1941 Überfall auf Albanien 1939 Überfall auf Griechenland 1941 Niederlage Frankreichs, Juni 1940 Eintritt in den Krieg, Juni 1940 Eintritt in den Krieg, Dezember 1941 Niederlage Sowjetunion denkbar Ende 1941 Eintritt in den Krieg gegen USA Kapitulation, September 1945 Kapitulation, Mai 1945 Kapitulation, 1943/ 45 Der Weg in den Zweiten Weltkrieg Tab. 1.10 <?page no="62"?> Unit 1 47 G lobaler w andel und der w eG In den z weIten w eltKrIeG G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Einheit 1 krieg eröffnete Deutschland mit der Bombardierung Rotterdams den Krieg auf die Zivilbevölkerung. Im Osten führte es einen Vernichtungskrieg gegen die Bevölkerung, der weder Frauen noch Kinder schonen sollte. Wie innerstaatlich auch, wurde insbesondere die jüdische Bevölkerung Opfer der Vernichtungsaktion. Am 14. Juni 1940 marschierten deutsche Truppen in Paris ein und die deutsche Regierung begann über die Besetzung Frankreichs zu verhandeln. Nach Deutschlands Erfolgen in seiner Westoffensive und einem Waffenstillstand zwischen deutschen und französischen Truppen wurde Frankreich in eine Besetzte und eine Unbesetzte Zone unterteilt. Der Norden Frankreichs unterlag direkt der Befehlsgewalt der deutschen Besatzungsmacht; der Süden war zwar als freie Zone nicht direkt an Deutschland gebunden, jedoch richtete sich die in Vichy eingerichtete Regierung unter Marschall Pétain nach deutschen nationalsozialistischen Idealen und war in ihrem politischen Handeln von Deutschland abhängig. Erst mit General Charles de Gaulles Forderung nach einem freien Frankreich und seiner aus dem Exil in Großbritannien erfolgten Kooperation mit der französischen Widerstandsbewegung, der Résistance, konnte das Vichy-Regime - zeitgleich mit dem Vordringen der Alliierten Truppen in Europa - gestürzt werden. Frankreich während des Zweiten Weltkriegs Die Sowjetunion nutzte ihrerseits die Gelegenheit zur Annexion der baltischen Staaten (1940) und zum gewaltsamen Anschluss Finnlands im März 1940. Damit hatte die Sowjetunion zumindest an ihrer Nordgrenze den Status quo von vor der Russischen Revolution wieder hergestellt. Italien unter Mussolini empfand sich als Nachzügler in Bezug auf Kolonialisierung und verleibte sich Kolonien in Nordafrika ein. Italien rechtfertigte seine Eroberungen damit, dass es den Abstand in kolonialen Besitzungen im Verhältnis zu Frankreich und Großbritannien verringern müsse. Abessinien, das einen relativ unsicheren Status als gemeinsames Protektorat von Großbritannien und Ägypten hatte, bot dazu einen Ansatzpunkt- - es wurde 1935 überfallen und 1937 annektiert. 1939 folgte Albanien. Im September 1940 überschritten italienische Truppen die libysch-ägyptische Grenze, um Kairo zu besetzen. Kurz darauf folgte der Angriff auf Griechenland. Sie wurden zumindest aus Ägypten von britischen Truppen nach Libyen zurückgedrängt. Damit wurde die strategische Bedeutung des Mittelmeerraums und vor allem Gibraltars und Nordafrikas als Verbindungspunkte zwischen Großbritannien und seinen Kolonien überdeutlich. Über diese Verbindungslinie verfügte Großbritannien über ein nahezu unerschöpfliches Reservoir an Truppennachschub. Dies zu unterbinden, wurde zu einem Ziel des deutschen Feldzugs, der deutsche Truppen bis nach Ägypten führte. Russische Expansion Italiens Expansion in Nordafrika und Südosteuropa <?page no="63"?> 48 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Der Kriegsschauplatz verlagerte sich damit insgesamt nach Südosteuropa. Die für eine Eroberung Gibraltars aus Sicht Deutschlands notwendige Kooperation mit Spanien kam nicht zustande, wohl aber die Kooperation mit den südosteuropäischen Staaten Slowakei, Bulgarien, Ungarn und Rumänien. Dies ermöglichte es Deutschland, in Jugoslawien einzufallen. Innerhalb von zwei Jahren nach dem Überfall auf Polen hatte Deutschland fast ganz Europa erobert. In Ostasien hatte Japan 1938 verkündet, eine neue Ordnung verwirklichen zu wollen. Es hatte damit auch unmissverständlich deutlich gemacht, dass es weitergehende Pläne hatte, als lediglich Territorien in China zu annektieren. Nach dem Anschluss der Mandschurei (dann Mandschukuo genannt) konzentrierte sich Japan zunächst auf die Eroberung Chinas. 1939 eroberte es das für die europäischen Kolonialmächte wichtige Hainan. 1940 hatte es eine Satellitenregierung in Nanking errichtet und übte Regierungsgewalt über einen Großteil Ostchinas aus. Ein Neutralitätspakt mit der Sowjetunion garantierte Japan den Nichtangriff. Es expandierte massiv nach Ost- und Südostasien und vertrieb die Kolonialmächte Frankreich und Holland Japans Expansion in Ost- und Südostasien Herausbildung der Achsenmächte ab 1941 Unter den drei konkurrierenden Staaten Japan, Deutschland und Italien zeichnet sich eine engere Kooperation in Form der Achsenmächte ab. Konfrontation der Achsenmächte mit den Alliierten Es bildet sich eine geschlossene Front der Alliierten, bestehend aus Großbritannien, Russland und den USA. nach 1941 Die Sowjetunion schließt sich nach dem deutschen Angriff den Alliierten an. Auf Seiten der Alliierten kämpfen nun Großbritannien, die Sowjetunion und die USA. Frankreich trat erst nach seiner Befreiung durch die Alliierten 1944 in den Krieg gegen Hitler-Deutschland ein. Russland kämpfte an seiner Westfront gegen Deutschland, war aber wiederum bis 1943 nicht Teil des Kriegs in Ostasien. Weiterer Kriegsverlauf und Kapitulationen: Zeitlich versetzt kapitulierten die drei Achsenmächte Italien, Deutschland und Japan. 1943 Süditalien scheidet aus dem Krieg aus, nachdem alliierte Truppen auf Sizilien gelandet waren. Die Deutschen kontrollieren durch die Einsetzung einer norditalienischen Marionettenregierung den Norden Italiens bis 1945 weiter. Mai 1945 Deutschland kapituliert am 8. Mai 1945. August 1945 Japan kämpft im Ostpazifik weiter. Es kapituliert bedingungslos nach dem Einsatz der beiden Atombomben über Hiroshima und Nagasaki im August 1945 durch die USA (vgl. Einheit 10). Kriegsverlauf zwischen den Fronten der Alliierten und den drei Achsenmächten Tab. 1.11 <?page no="64"?> Unit 1 49 G lobaler w andel und der w eG In den z weIten w eltKrIeG G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Einheit 1 aus Indochina und Indonesien. Angesichts des Kriegs in Europa waren die europäischen Kolonien in Südostasien eine leichte Beute für Japan: Durch die Besetzung der Niederlande und Frankreichs wurden deren Kolonialregierungen in Südostasien isoliert. Das eröffnete der japanischen Regierung die Möglichkeit, ihren Einfluss in Südostasien auszuweiten. Nach Verhandlungen mit der französischen Vichy-Regierung stationierte Japan Truppen in Indochina. Damit war das Tor zu Südostasien geöffnet. Allerdings stellte sich auch für Japan-- ähnlich wie für Deutschland-- das Problem, dass Großbritannien durch den Nachschub aus Indien über die Burmastraße nicht leicht zu besiegen war. Folglich drang Japan bis nach Burma vor und forderte Großbritannien damit direkt heraus. Japans massive Gebietserweiterungen vor allem in China bedrohten amerikanische Handelsinteressen, was die USA verwundbarer in Bezug auf Asien machte als in Bezug auf Europa. Mit dem Angriff auf Pearl Harbour 1941 erklärte Japan den Krieg gegen die USA und löste damit deren Kriegseintritt aus. Den Achsenmächten stand ab 1941 eine alliierte Koalition unter der Führung der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion gegenüber. Allerdings bildete nur Europa einen gemeinsamen Kriegsschauplatz aller Alliierten. In Europa trug die Sowjetunion die Hauptlast des Landkriegs, während der Krieg im Pazifik vor allem von den USA und Großbritannien bestritten wurde. Als ein wichtiger Kriegsschauplatz erwies sich der Atlantik, über den die kriegswichtigen Lieferungen der USA an ihre Alliierten erfolgten. Wie im Fall des Ersten Weltkriegs waren auch die Ursachen des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs heftig umstritten. Warum kam es zum Krieg? Bereits Zeitgenossen und vor allem eine deutsche öffentliche Meinung erblickten in einer internationalen Institution in Form des Versailler Vertrags und in der fehlerhaften Ausgestaltung des Völkerbunds eine Kriegsursache. Wie bereits der Begriff „Schandvertrag“ oder „Versailler Diktat“ impliziert, ist hier das Kernargument, dass der Versailler Vertrag kein gerechter Vertrag gewesen sei und Revisionismus provozierte. Ein mit dem Völkerbund als Institution verbundenes Argument ist, dass aufgrund der Nichtteilnahme der USA keine effektive Sanktionierung von Regelverstößen stattfinden konnte. Er erwies sich als unzulänglich, um den entscheidenden Konflikten-- der Annexion der Mandschurei durch Japan, dem Krieg Italiens gegen Abessinien und der Remilitarisierung Deutschlands, den darauf folgenden Anschlüssen und der Zerschlagung der Tschechoslowakei-- effektive Sanktionen entgegenzusetzen. Dieser Erklärung steht eine andere entgegen (z. B. Watson 1984): Demnach war es das Fehlen eines effektiven Machtgleichgewichts in Europa, das den deutschen Machtzuwachs rechtzeitig hätte ausbalancieren können. Nach dem Ersten Weltkrieg war Österreich-Ungarn von der politischen Kriegsursachen Versailler Verträge und Völkerbund als ineffektive Institutionen <?page no="65"?> 50 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Landkarte Europas verschwunden. Über Jahrhunderte hatte das Bemühen um einen machtpolitischen Ausgleich zwischen Habsburg und Frankreich Europa geprägt und das Deutsche Reich war der Austragungsort zahlreicher Konflikte gewesen. Mit der deutschen Einigung war im Kern Europas eine neue Großmacht entstanden, die effektiv hätte ausbalanciert werden können, wäre Österreich noch existent gewesen. Russland war durch die Revolution mit sich selbst beschäftigt und intern geschwächt. Dem gegenüber stand ein nur vorübergehend geschwächtes Deutschland. Hitler konnte Deutschlands Expansion Richtung Osten nahezu ungebremst vollziehen. Ein ähnliches Argument ließe sich für Japan bringen: Auch hier entfielen Russland und China als Mächte, die gegenüber Japan eine effektive Gleichgewichtspolitik hätten betreiben können. Eine weitere Schwächung dieses Gleichgewichts stellten nach dieser Logik innerstaatliche Auseinandersetzungen dar. In Spanien tobte ein Bürgerkrieg, Frankreichs politisches System war ebenso instabil wie die Weimarer Republik und durch häufige Regierungswechsel gekennzeichnet. Großbritannien zeigte wenig Neigung, als einziger Staat zu intervenieren und die Kosten eines solchen Unterfangens zu tragen. Im Osten wie im Westen fehlte es an einer effektiven Einhegung deutscher Machtambitionen. Im Vergleich zu den Ursachen des Ersten Weltkriegs wird jedoch auch deutlich, dass viele davon auch für den Zweiten Weltkrieg relevant waren. Der Kampf um Kolonien und koloniales Territorium war nicht beendet, sondern für viele Staaten nur umgelenkt. Damit verbunden waren Machtrivalitäten zwischen den europäischen Staaten, den USA und Japan in Ostasien. 1. In welchem Vertrag findet man das Statut des Völkerbunds? 2. Inwiefern unterscheiden sich Völkerbund und Wiener Kongress voneinander und inwiefern ähneln sie sich? 3. Welche Konsequenzen hatte die deutsche und die italienische Einigung aus einer geopolitischen Perspektive? 4. Rekapitulieren Sie, warum der Balkan im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem Krisenherd wurde. 5. Datieren und beschreiben Sie die Wellen von Demokratie und Autoritarismus. Welche Staaten waren regional besonders betroffen? 6. Skizzieren Sie einen Zeitstrahl vom 18.-20. Jahrhundert, an dem Sie die zentralen globalen Trends sowie die davon betroffenen Länder kennzeichnen. Erklären Sie anhand des Zeitstrahls die Bedeutung der Häufung bestimmter politischer Ereignisse, Phänomene und Mechanismen des Wandels. Übungen <?page no="66"?> Unit 1 51 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen I Einheit 1 V erwendete l Iteratur 7. Rekapitulieren Sie noch einmal den Ausbruch des Ersten Weltkriegs: Erstellen Sie eine Liste der Ursachen des Kriegsausbruchs. Barraclough, Geoffrey (1991): Das europäische Gleichgewicht und der neue Imperialismus. In: Mann, Golo (Hrsg.): Das 19. Jahrhundert. Propyläen Weltgeschichte. Berlin u. Frankfurt a. M.: Propyläen, 703-742. Baumgart, Winfried (2007): Europäisches Konzert und nationale Bewegung. Internationale Beziehungen 1830-1878. Paderborn u. a.: Schöningh. Bell, P. M. H. (2013): Origins of the Second World War in Europe. London: Routledge. Berghahn, Volker (2009): Der Erste Weltkrieg. München: C. H. Beck. Bracher, Karl-Dietrich (1991): Zusammenbruch des Versailler Systems und Zweiter Weltkrieg. 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Verwendete Literatur <?page no="68"?> 53 G lobaler w andel und der w eG In den z weIten w eltKrIeG Einheit 2 Globalgeschichte der internationalen Beziehungen II: Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis nach dem Ost-West-Konflikt Inhalt 2.1 Die Ordnung der Alliierten Konferenzen 54 2.2 Regionale Konflikte und die Formierung des Ost-West-Konflikts 60 2.3 Die wichtigsten globalen Trends und Entwicklungen von den Alliierten Konferenzen bis Mitte der 1960er Jahre 62 2.4 Alternative Blockbildung und Spannungen innerhalb der Blöcke 82 2.5 Entspannungspolitik: Partielle Ost-West-Kooperation (1963-1979) 86 2.6 Globale Effekte der Dritten Demokratisierungswelle ab 1974 88 2.7 Das Ende der Entspannungspolitik und Rüstungswettlauf (1979-1988) 90 2.8 Die Ordnung nach dem Ost-West-Konflikt 92 2.9 Friedenssicherung im Schatten des unipolaren Moments und der wachsenden Autorität internationaler Organisationen 98 2.10 Die wichtigsten globalen Trends und Entwicklungen (1990-2015) 101 2.11 Demokratisierungstrends, Bürgerkriege und Friedenssicherung im Nahen und Mittleren Osten und Südwestasien 109 2.12 Aufstieg der Schwellenländer 112 <?page no="69"?> 54 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Übungen 113 Verwendete Literatur 114 Dieses Kapitel vermittelt grundlegendes Wissen zu den empirischen Trends und Entwicklungen der globalen internationalen Beziehungen zwischen 1945 bis heute. Es zeichnet die Entwicklung des Ost-West-Konflikts und seine globalen Auswirkungen nach, identifiziert dessen Phasen und zeigt, welche Effekte die zentralen empirischen Trends - Blockbildung und Dekolonisation - auf die Organisation der internationalen Beziehungen mit der sich selbst so bezeichnenden „Dritten Welt“ hatten. Das Kapitel beschreibt Demokratisierungs- und Bürgerkriegstrends nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und institutionelle Antworten darauf. Die Ordnung der Alliierten Konferenzen Die Staatenwelt ging aus dem Zweiten Weltkrieg mit Millionen von Toten und einer unglaublichen Zerstörung hervor. Von den alliierten Mächten stiegen die USA als diejenige Macht auf, die die internationalen Beziehungen unmittelbar dominierte. Sie hatte militärisch und wirtschaftlich weit weniger Verluste zu verzeichnen als die europäischen Staaten oder die Sowjetunion. Wirtschaftlich und technologisch-- das hatte unter anderem der Einsatz der Atombombe gegen Japan gezeigt-- waren die USA anderen Staaten mit großem Abstand überlegen. Großbritannien und Frankreich als europäische Weltmächte hatten dagegen stark an Einfluss eingebüßt. Ihre jeweiligen Kolonialreiche zerfielen. Der Zweite Weltkrieg endete nicht mit einem großen internationalen Friedensvertrag vergleichbar mit der Wiener Kongressakte oder den Versailler Verträgen. Die einsetzende Blockbildung ab 1947 verhinderte einen solchen Friedensvertrag. In Europa fehlte ein solcher Vertrag bis zum 2+4 Vertrag (1990) ganz. Mit Japan wurde 1951 ein Friedensvertrag geschlossen, mit Österreich 1955. Das heißt aber nicht, dass es deshalb keine Nachkriegsordnung vergleichbar mit dem Wiener Kongress oder Versailles gab. Auf den Konferenzen von Teheran (1943), Jalta (1944) und Potsdam (1945) erzielten die Alliierten eine Einigung über wichtige Verhandlungsgegenstände, die eine Grundlage für eine Nachkriegsordnung darstellten (vgl. Tabelle 2.1). Gegenstand der Verhandlungen war nicht nur die Neuordnung in Europa, sondern auch die in Asien und im Nahen und Mittleren Osten. Sehen wir uns die getroffenen Vereinbarungen etwas genauer entlang der bereits bekannten Trias von territorialer Neuordnung, Überwachung und Friedenssicherung an: Überblick 2.1 Dominanz der USA nach dem Zweiten Weltkrieg Alliierte Konferenzen als Grundlage für Nachkriegsordnung <?page no="70"?> Unit 2 55 d Ie o rdnunG der a llIIerten K onferenzen G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 Eindämmung Deutschlands und Japans: Die Alliierten veränderten zwar den Zuschnitt Deutschlands, das einen Teil seines Gebiets abtreten musste (an Polen, das nach Westen verschoben wurde), bestätigten aber dessen territoriale und wirtschaftliche Einheit. Die zahlreichen Annexionen und der Anschluss Österreichs wurden rückgängig gemacht. Ruhrgebiet und Saarland wurden-- wie bereits 1918-- demilitarisiert. Langfristig würde Deutschland durch die Institutionalisierung der Teilung in Besatzungszonen und die Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik weiter geteilt werden. Das war zwar von den Alliierten zunächst nicht intendiert, stellte aber langfristig betrachtet sicher, dass Deutschland keine Bedrohung für die Nachbarstaaten mehr darstellte. Auch Österreich wurde in Besatzungszonen geteilt und eine Alliierte Kontrollkommission übernahm bis 1955 die Verwaltung. Für Japan waren die territorialen Veränderungen etwas größer: Die Uhren wurden in territorialer Hinsicht auf 1854 zurückgestellt, das heißt, Japan verlor auch alle vor dem Ersten Weltkrieg erworbenen Gebietsansprüche. Vietnam und Korea, die beide von Japan besetzt worden waren, wurden unter eine Teheran (1943) Roosevelt, Churchill, Stalin Jalta (1944) Roosevelt, Churchill, Stalin Potsdam (1945) Truman, Churchill/ Attlee, Stalin Gegenstände Invasionspläne, Teilung Deutschlands territoriale Aufteilung Asiens, Deutschlands, Osteuropas, Entmilitarisierung Deutschlands, Entwurf für Vereinte Nationen Verwaltung Deutschlands, Reparationen, Gebietsabtretungen an Polen Ergebnisse Bestätigung der Grenzen der Sowjetunion nach dem Hitler-Stalin-Pakt Aufteilung Osteuropas in Einflusssphären: Rumänien: US 90 % - andere 10 % Griechenland: GB 90 % - RUS 10 % Jugoslawien, Ungarn: RUS 50 % - andere 50 % Bulgarien: RUS 75 % - andere 25 % Bestätigung der polnischen Verwaltung über deutsche Gebiete westlich Oder- Neiße-Linie Unabhängigkeit Finnlands, Jugoslawiens Kriegseintritt Russlands gegen Japan, Bündnis mit China Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen Unabhängigkeit des Iran nach Besetzung durch britische und sowjetische Truppen Atlantik-Charta Ereignisse Kapitulation Italiens und Kriegserklärung Italiens an Deutsches Reich Alliierte Invasion in Frankreich Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki August 1945 Verhandlungsgegenstände und Ergebnisse der Alliierten Konferenzen Tab. 2.1 <?page no="71"?> 56 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II gemeinsame Verwaltung gestellt: Im Fall Koreas hatten sich Stalin, Chiang Kai-Scheck und Churchill 1943 darauf verständigt, das Land unter die Verwaltung der Sowjetunion und der USA zu stellen. Im Fall Vietnams wurde eine Treuhandschaft durch China und Großbritannien vereinbart. Diese sollte explizit die Wiederbesetzung durch Frankreich verhindern. Überwachung Deutschlands und Japans als Angreiferstaaten: Die Eingriffe der Alliierten in die innerstaatlichen politischen und wirtschaftlichen Strukturen Deutschlands und Japans waren umfassend. Ähnlich zur Alliierten Militär-Kontrollkommission, die die Einhaltung der Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrags überwachen sollte, wurden Deutschland und Japan einer externen Kontrolle unterworfen. Für Deutschland agierte der Alliierte Kontrollrat, dem die Siegermächte unter Beteiligung Frankreichs angehörten. De facto waren es aber die jeweiligen Militärbefehlshaber der Besatzungszonen, die Entscheidungen trafen (Dallinger/ Golz 2005: 316). Die Kontrolle war im Verhältnis zu den für Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg getroffenen Regelungen nicht nur tiefer (der Kontrollrat traf sämtliche politischen Entscheidungen für Deutschland, nicht nur außenpolitische, diese wurden von zwölf Direktoraten vorbereitet), sie war auch breiter, da sie das gesamte Staatsgebiet Deutschlands umfasste. In beiden Staaten wurden Verwaltung und Wirtschaftsorganisationen dezentralisiert. In Japan war ursprünglich die Auflösung der wirtschaftlichen Riesenkonzerne (Zaibatsu) geplant, denen die Verantwortung für Japans aggressive Kriegs- und Eroberungspolitik zugewiesen wurde. Dieser Plan wurde nicht verwirklicht; verwirklicht wurde aber eine umfassende Bodenreform, die den Großgrundbesitz verteilte und eine gerechtere Verteilung innerhalb Japans gewährleistete (Dallinger/ Golz 2005: 367 f.). Überwachung Deutschlands durch Alliierten Kontrollrat Wirtschaftliche Dezentralisierung ▶ beinhalteten Regelungen zur territorialen Eindämmung Deutschlands und Japans. Damit verbunden waren Gebietsabtretungen Deutschlands an Polen. Japan verlor alle vor dem Ersten Weltkrieg erworbenen Gebiete. ▶ etablierten je einen Alliierten Kontrollrat als Institution für die Überwachung Deutschlands und Österreichs. In Japan übernahm diese Funktion der Alliierte Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte. ▶ schufen durch die Aufteilung von Deutschland und Österreich in Besatzungszonen eine effektive territoriale Kontrolle. ▶ erreichten durch die Demilitarisierung des Saarlands und die gemeinsame Verwaltung des Ruhrgebiets eine effektive Kontrolle der deutschen Rüstungsproduktion. ▶ zielten mit diesen vorübergehenden Maßnahmen auf die umfassende außenpolitische und militärische Überwachung insbesondere von Deutschland und Japan als ehemaligen Angreiferstaaten. Die Alliierten Konferenzen Außenpolitische Überwachung Deutschlands und Japans <?page no="72"?> Unit 2 57 d Ie o rdnunG der a llIIerten K onferenzen G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 Region Staat territoriale Veränderung weitere Regelungen/ Implikationen Europa Deutschland nimmt durch Westverschiebung Polens Gebietsverluste hin; wird in Besatzungszonen aufgeteilt wird durch die Gründung der deutschen Teilstaaten langfristig geteilt und stellt keine Bedrohung für Nachbarstaaten dar; externe Kontrolle durch Alliierte Kontrollkommission; Abtrennung Saargebiet (als franz. Protektorat), Demontage und Kontrolle des Ruhrgebiets; Reparationszahlungen; Demilitarisierung, Denazifizierung, Demokratisierung, Dezentralisierung Österreich wird wieder unabhängig; wird in Besatzungszonen aufgeteilt Überwachung der Außenpolitik (bis 1955); Demilitarisierung; wird neutral Italien Rückgabe der besetzten Gebiete (Albanien); Verlust der Kolonien (Libyen, Somaliland) Polen wird nach Westen und Süden verschoben Asien Japan wird auf die Größe von 1854 reduziert; gibt besetzte Gebiete zurück (Korea, Mandschurei) und die vor dem Ersten Weltkrieg erworbenen Gebiete (z. B. Taiwan) Überwachung durch militärischen Oberbefehlshaber der USA; Demilitarisierung Korea wird entlang des 38. Breitengrades in Besatzungszonen aufgeteilt (Kontrolle durch Sowjetunion, USA) Souveränitätsverzicht durch Alliierte Treuhandschaft (ab 1947 der Vereinten Nationen); Demilitarisierung; wird durch den Koreakrieg dauerhaft geteilt Vietnam wird entlang des 47. Breitengrades in Besatzungszonen aufgeteilt (Kontrolle durch China, GB) Souveränitätsverzicht durch Alliierte Treuhandschaft; Demilitarisierung; bleibt bis zum Ende des Vietnamkriegs geteilt Territoriale und sonstige Regelungen nach den Alliierten Konferenzen Tab. 2.2 <?page no="73"?> 58 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Der Alliierte Kontrollrat löste sich im Zusammenhang mit der Entscheidung der USA und Großbritanniens, einen westdeutschen Bundesstaat zu gründen, auf. Die Sowjetunion verließ den Rat. Sie versuchte danach, mit der Berlin-Blockade (1948) und der Blockade der Lebensmittelversorgung Berlins die Westmächte zur Aufgabe West-Berlins zu zwingen. Im Fall Japans traf, da es keine vergleichbare Institution zum Alliierten Kontrollrat gab, der militärische Oberbefehlshaber der US-Armee alle Entscheidungen. Friedenssicherung durch die Vereinten Nationen: Mit den Vereinten Nationenwurde eine Organisation geschaffen, die, ähnlich zum Systemdes Völkerbunds, als wichtigste Aufgabe die Friedenssicherung hatte. Darüber hinaus sollte sie die Menschenrechte schützen und die sozialen Lebensbedingungen sowie den Lebensstandard der Bevölkerung weltweit verbessern. Als ultimatives Entscheidungsgremium vergleichbar mit dem Völkerbundrat wurde der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen etabliert. Er wurde Friedenssicherung durch die Vereinten Nationen Die Bedeutung der Regelungen zu Deutschland und Japan Die Bedeutung der Regelungen zu Deutschland und Japan liegt darin, dass beide Staaten sowohl territorial verkleinert als auch in ihrer staatlichen Entwicklung so überwacht wurden, dass sie für ihr regionales Umfeld keine Bedrohung mehr darstellten. Beide Staaten verloren ihre Anwartschaft auf einen Großmachtstatus und schieden aus dem Kreis der Großmächte aus. Merke ▶ etabliert mit den Vereinten Nationen ein kollektives Entscheidungsgremium bzw. eine Weltorganisation, deren wichtigstes Ziel der Erhalt und die Förderung des Weltfriedens, der Schutz der Menschenrechte sowie die Steigerung der sozialen Lebensbedingungen und des Lebensstandards der Menschen sind. ▶ etabliert zusätzlich zu den bestehenden Grundnormen, wie der friedlichen Streitbeilegung und dem Verbot eines Angriffskriegs, neue Verhaltensnormen: Das Verbot der Gewaltanwendung zwischen Staaten, das Recht von Staaten auf territoriale Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit, das Verbot der Unterstützung von Staaten, gegen die die Vereinten Nationen Zwangsmaßnahmen verhängen und damit verbunden die Befugnis der Vereinten Nationen, Zwangsmaßnahmen gegenüber Staaten überhaupt durchzuführen. Die Charta der Vereinten Nationen (1945) Naher und Mittlerer Osten Palästina wird von den VN ab 1947 treuhänderisch verwaltet Irak wird von den VN ab 1947 treuhänderisch verwaltet <?page no="74"?> Unit 2 59 d Ie o rdnunG der a llIIerten K onferenzen G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 als höchste Autorität im Bereich der Friedenssicherung konzipiert mit der Hauptverantwortung für die Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der Sicherheit. Die fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder bildeten China, Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA, die in Fragen der kollektiven Sicherheit je ein Vetorecht erhielten. Japan war, anders noch als im Völkerbund, kein ständiges Mitglied des Sicherheitsrats mehr. Neben den permanenten Sicherheitsratsmitgliedern wurden nicht-ständige Mitglieder zugelassen, die bis heute durch die Generalversammlung gewählt werden. Im Unterschied zum Völkerbund waren die USA diesmal Mitglied der Vereinten Nationen. Aber nicht nur das: Alle existierenden Staaten wurden Mitglied, was die Vereinten Nationen zu einer Weltorganisation machte. Aufgrund der negativen Erfahrungen des Völkerbunds mit dem Abrüstungsgebot wurde in der Charta der Vereinten Nationen auf einen Artikel zur Abrüstung verzichtet. Dafür wurden eine Reihe Unterorganisationen der Vereinten Nationen geschaffen, wie die United Nations Conference on Food and Agriculture oder die United Nations Relief and Rehabilitation Administration, um die von der NS-Herrschaft befreiten Länder zu unterstützen. Als eine der Ursachen des Zweiten Weltkriegs betrachteten die Alliierten die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre. Folglich etablierten sie wirtschaftliche Institutionen, die eine Wiederholung einer solchen Krise verhindern sollten. Dies geschah in Form einer Reihe von internationalen Wirtschafts- und Finanzorganisationen, die die wirtschaftliche Seite der Kriegsverhütung bearbeiten sollten. Diese wurden kollektiv als Bretton-Woods-Institutionen bezeichnet, benannt nach dem Ort, an dem ihre Statute ausgehandelt wurden. Die unbestrittene Hegemonie der USA nach dem Zweiten Weltkrieg führte dazu, dass diese internationalen Organisationen als Instrumente zur Verwirklichung einer liberalen Welthandelsordnung konzipiert wurden. Die meisten Organisationen hatten dabei ursprünglich sehr konkrete Aufgaben im Rahmen des wirtschaftlichen Aufbaus vor allem in Europa, entwickelten aber bald globale Aktivitäten und wandelten sich. ▶ Die drei neu gegründeten Institutionen Internationaler Währungsfonds, Weltbank und Allgemeines Abkommen für Handel und Zölle (GATT) wurden mit dem Ziel gegründet, den Freihandel international zu fördern und die Risiken der weltwirtschaftlichen Verflechtung zu kontrollieren. Die Bretton-Woods-Institutionen Der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank (ursprünglich Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung) wurden speziell mit der Aufgabe gegründet, die Weltwirtschaft neu zu ordnen und den Ergänzung durch internationale Finanz- und Wirtschaftsinstitutionen <?page no="75"?> 60 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Freihandel zu fördern. Diese Aufgabe sollten die drei so genannten Bretton- Woods-Institutionen arbeitsteilig erledigen. Der IWF war dafür zuständig, Zahlungsbilanzdefizite der Staaten kurzfristig auszugleichen, womit verhindert werden sollte, dass ein Staat zu irgendeinem Zeitpunkt zahlungsunfähig wird. Die Weltbank war für die Förderung entsprechender Projekte des Wiederaufbaus zuständig. Die Gründung einer geplanten Internationalen Handelsorganisation, die für die Liberalisierung des internationalen Handels zuständig sein sollte, scheiterte. Die Ersatzlösung war das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen, auch GATT genannt. Alle drei Institutionen waren keine globalen Institutionen, selbst wenn sie als solche angelegt waren. Ihre Mitgliedschaft war auf die westlich orientierten Staaten begrenzt. Das GATT hatte beispielsweise 1948 nur 18 Mitglieder und die danach beigetretenen Mitglieder waren überwiegend neue Staaten. 1963 wuchs diese Zahl durch die Dekolonisation auf 59 Mitglieder an. Die grundlegende Bedeutung der Bretton-Woods-Institutionen lag darin, dass sie nach dem Zweiten Weltkrieg eine liberale Ordnung etablierten, die auf dem Prinzip des Freihandels aufbaute. Regionale Konflikte und die Formierung des Ost-West-Konflikts Eine Reihe von zum Teil lokalen, zum Teil regionalen Konflikten hatte bereits während der Potsdamer Konferenz zu großem Misstrauen gegenüber expansionistischen Motivationen zwischen den Alliierten geführt. Großbritannien und die Sowjetunion hatten starke Interessengegensätze in Bezug auf Südosteuropa und den Nahen und Mittleren Osten. Der Sowjetunion schwebte eine Aufteilung in Interessensphären in Europa vor, und sie beanspruchte einen Teil Libyens (Tripolitanien). Diesen Anspruch lehnte Großbritannien mit Blick auf die strategische Bedeutung der Region für das Empire vehement ab. Vor allem die Iran-, die Griechenland- und die Türkeikrisen verschärften die feindlichen Wahrnehmungen zwischen Großbritannien und der UdSSR. In Asien waren es der Vietnam-Krieg, der Sieg der kommunistischen Bewegung in China unter Mao Tse-tung und der Korea-Krieg, die in den USA große Befürchtungen weckten, dass es zu einer rapiden Ausbreitung kommunistischer Systeme kommen könnte. Beide Regierungen reagierten darauf mit Strategien der politischen und militärischen Eindämmung der Sowjetunion. Allen Krisen war gemeinsam, dass sie sich in strategisch wichtigen Regionen ereigneten, in denen britische direkt auf sowjetische Interessen trafen. Die Krisen hatten große Relevanz für die Herausbildung des Ost-West-Konflikts, weil sie eine Annäherung zwischen den USA und Großbritannien anzeigten, die ansonsten größere Interessenkonflikte über den weltpolitischen Machtanspruch Großbritanniens hatten (Young/ Kent 2013: 38). Ab 1946/ 47 2.2 <?page no="76"?> Unit 2 61 r eGIonale K onflIKte und dIe f ormIerunG des o st -w est -K onflIKts G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 verhärteten sich die jeweiligen Positionen zwischen den westlichen Alliierten und der UdSSR, mit Rückwirkungen auf eine europäische Friedensordnung. Konflikt Ereignisse Ergebnis Libyen-Krise (1945) Konflikt zwischen Großbritannien und der Sowjetunion um Tripolitanien (Libyen) als ehemaliger italienischer Kolonie Libyen bleibt in westlicher Interessensphäre Iran-Krise (1946) Konflikt um Abzug sowjetischer Truppen aus Iran nach alliierter Besetzung (zur Organisation kriegswichtiger Güter, Erdöl) während des Zweiten Weltkriegs und sowjetische Unterstützung von Unabhängigkeitsbewegungen im Iran Abzug sowjetischer Truppen auf Druck der USA Türkei-Krise (1946-1947) Konflikt um Forderung der Sowjetunion nach Abtretung von Gebieten der Türkei an Georgien und Armenien sowie um internationale Verwaltung des Bosporus und der Dardanellen als strategischem Meereszugang für Sowjetunion (Sowjetunion strebt Revision des Vertrags von Montreux 1936 an) US-Unterstützung im Rahmen der Truman-Doktrin sichert türkische Souveränität Griechenland-Krise (1944-1947) Konflikt um Regierungskontrolle nach Ausbruch des Bürgerkriegs in Griechenland zwischen Royalisten und Kommunisten Großbritannien muss sich 1947 zurückziehen; USA und Sowjetunion treten in Stellvertreterkrieg ein Vietnamkrieg (1946-1954) Rückzug Großbritanniens als Verwalter Südvietnams führt zu Dekolonisationskrieg unter Führung Ho Chi Minhs zur Wiedervereinigung Vietnams vertragswidrige Wiederbesetzung des Südens nach britischem Abzug durch Frankreich endet in französischer Niederlage bei Dien Bien Phu; Unterstützung der USA für Frankreich ab 1954 führt zu Stellvertreterkrieg mit China und Sowjetunion bis 1975 Ende des chinesischen Bürgerkriegs (1949) Wiederaufflammen des Bürgerkriegs zwischen Kommunisten und Nationalisten nach Niederlage Japans 1945; Kuomintang flieht nach Taiwan und gründet dort einen neuen Staat Sieg der Kommunisten unter Führung Mao Tse-tungs über die nationalistische Kuomintang; Etablierung diplomatischer Beziehungen zwischen China und Sowjetunion beschwört im Westen die „Rote Gefahr“ herauf Koreakrieg (1950-1953) Angriff Nordkoreas auf Südkorea mit Unterstützung Chinas und der Sowjetunion von den Vereinten Nationen mandatierter Einsatz militärischer Truppen sichert Südkoreas Unabhängigkeit; Teilung entlang des 38. Breitengrades wird beibehalten Regionale Krisen und die Herausbildung des Ost-West-Konflikts Tab. 2.3 <?page no="77"?> 62 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Die wichtigsten globalen Trends und Entwicklungen von den Alliierten Konferenzen bis Mitte der 1960er Jahre Für Europa markierte das Jahr 1947 somit einen fundamentalen Umbruch: In diesem Jahr begann in Europa die Blockbildung, im Westen forciert durch Großbritannien und die USA, im Osten durch die Sowjetunion. Als Ergebnis dieser Blockbildung entstanden jeweils zwei hochintegrierte, institutionalisierte Wirtschafts- und Militärbündnisse mit jeweils ausschließlicher Mitgliedschaft. Die zweite wichtige Entwicklung war die Dekolonisation, die die Positionen Großbritanniens und Frankreichs schwächte. Dies hatte den Effekt, dass die USA und die Sowjetunion als die stärksten Mächte international aufstiegen. Blockbildung (1948-1963) Blockbildung Blockbildung bezeichnet die institutionalisierte Integration der ost- und westeuropäischen Staaten nach 1947 in zwei unterschiedliche wirtschaftliche, politische und ideologisch ausgerichtete Systeme. In beiden Fällen vollzieht sich diese Integration unter der Dominanz eines Hegemons, im Fall des westlichen Blocks der USA, im Fall des östlichen Blocks der Sowjetunion. Sie wird durchbrochen durch die Bildung der Blockfreienbewegung im Zuge der Dekolonisation ab 1947. Merke In Westeuropa war es Großbritannien, das damit begann, eine Allianz als Gegengewicht zur sowjetischen Einflusssphäre zu organisieren. Der Bündnis- und Beistandsvertrag von Dünkirchen (1947) zwischen Großbritannien und Frankreich war zwar primär gegen Deutschland gerichtet, stellte jedoch zugleich den Kristallisationskern für eine westeuropäische Zusammenarbeit im Kontext des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts dar. Dieser Vertrag wurde 1948- - wiederum auf Initiative Großbritanniens- - um Belgien, Luxemburg und die Niederlande (Brüsseler Fünf-Mächte-Pakt) zu einem Pakt zur kollektiven Verteidigung und zur wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Zusammenarbeit erweitert. Die USA hatten 1947 damit begonnen, den wirtschaftlichen Aufbau Westeuropas durch den Marshall-Plan zu unterstützen. 1948 gründeten sie die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC), zur Koordination der europäischen Volkswirtschaften mit Kanada und den westeuropäischen Staaten. Die Berlin-Blockade im Juni 1948 führte zu Verhandlun- 2.3 2.3.1 Westeuropa: Blockbildung unter Führung Großbritanniens <?page no="78"?> Unit 2 63 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 d Ie wIchtIGsten Globalen t rends und e ntwIcKlunGen gen über einen Atlantischen Vertrag und zur Gründung der NATO 1949 durch die USA, Kanada und zehn westeuropäische Staaten. Die NATO war zu diesem Zeitpunkt jedoch noch keine integrative Militärorganisation mit Nationalstaatliche Ebene Zwischenstaatliche Ebene Zeit Raum Blockbildung Entstehung einander wechselseitig ausschließender Staatengruppen, liberal-marktwirtschaftlich organisierte und sozialistische Staaten hohe Interaktion und Integration innerhalb der Blöcke, wenig Integration über Blöcke hinweg 1948-1963 Global Dekolonisation Staatenbildungsprozesse unter den ehemaligen Kolonien; Entstehung einer hohen Zahl neuer Staaten im Globalen Süden, die eigenständige Außenpolitik verfolgen neue integrative Verbünde, explizit konzipiert als Blockfreiheit (Dritte Welt); Wettbewerb zwischen USA und Sowjetunion um neu entstandene Staaten ab 1946/ 47 Afrika und Asien Dekolonisationskriege in Afrika und in Asien Kriege zwischen Kolonialmacht und Unabhängigkeitsbewegungen, oftmals gegen Unternehmensinteressen durchgesetzt; anhaltende Konflikte mit hohen Opferzahlen (Dekolonisationskriege); interventionistische Maßnahmen durch Weltmächte transnationale Effekte in Form einer Destabilisierung neuer Staaten; Konflikte werden als Teil der Ost-West-Konfliktkonstellation und im Rahmen globaler Machtkonkurrenz ausgetragen ab 1960er Jahre Asien, Naher Osten, am Horn von Afrika, Südafrika regionale Ordnungskonflikte in der Nahsicht: Nahost-Konflikt und Angola- Konflikt Kriege zwischen Staaten der Dritten Welt um regionale Führerschaft oder zur Klärung von Grenzstreitigkeiten Konflikte werden als Teil der Ost-West-Konfliktkonstellation und im Rahmen globaler Machtkonkurrenz ausgetragen ab 1948 Naher Osten, südliches Afrika Verbreitung autoritärer Staaten in der „Dritten Welt“ nach der Dekolonisation kommt es zur Etablierung autoritärer Einparteienherrschaften; Militärdiktaturen und Entwicklungsdiktaturen dominieren den gesamten Globalen Süden kommunistische Ideologie wirkt auf ehemalige Kolonien ein; westliche Staaten wirken mit einer militärisch angeleiteten Entwicklungsstratgie entgegen ab 1950 Lateinamerika, Afrika, Asien Die wichtigsten globalen Trends von 1947 bis Mitte der 1960er Jahre Tab. 2.4 <?page no="79"?> 64 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II gemeinsamen militärischen Einheiten und einem Oberkommando, sondern definierte sich selbst als kollektives Sicherheitssystem. Die Transformation der NATO in eine Integrierte Allianz vollzog sich erst 1950: Sie wurde mit dem „Verlust“ Chinas (1949) für den Westen, unter dem Eindruck der Explosion der ersten sowjetischen Atombombe (September 1949) und insbesondere durch den Ausbruch des Korea-Kriegs (Juni 1950) gefördert. 1950 fiel die Entscheidung, die Bundesrepublik wieder aufzurüsten und in die NATO zu integrieren, bei gleichzeitiger Verstärkung der Bodentruppen in Europa und der Entsendung eines US-amerikanischen NATO-Oberbefehlshabers nach Brüssel. Mit der Integration Griechenlands (1952) sowie Deutschlands und der Türkei (beide 1955) war die Bildung der NATO vollendet. Sie sollte in dieser Form bis nach dem Ende des Ost-West- Konflikts bestehen bleiben. Spiegelbildlich zur Integration des westlichen Verteidigungsbündnisses und diesem auf dem Fuß folgend, verlief die Integration des östlichen Verteidigungsbündnisses. Im Januar 1949 wurde auf Initiative der Sowjetunion Beitritt Deutschlands zur NATO 1955 Spiegelbildliche Integration des östlichen zum westlichen Bündnis US-Einflussbereich Sowjetischer Einflussbereich Europa Vertrag von Dünkirchen 1947 (Führung: GB) bilaterale Bündnis- und Beistandsverträge (1943-1948) Koordination der Volkswirtschaften: Organization for European Economic Cooperation (OEEC, 1948) Koordination der Volkswirtschaften: Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW, 1949) NATO (1949, 1952 Griechenland, Türkei, 1955 Beitritt Westdeutschland) Warschauer Pakt (1955, Beitritt DDR) Welt Rio Pakt (1947) OAS (1948) SEATO (1954) ANZUS-Pakt (1951) CENTO (1955) Bilaterale Verträge Nordkorea (1955) Kuba (1960) Vietnam (1975) Innerstaatliche Interventionen Guatemala (1954) Kuba (1962) Brasilien (1964) Chile (1970-1973) El Salvador (1981) Grenada (1983) Britisch Guayana (1963) Dominik. Republik (1965) El Salvador (1981) Panama (1989) DDR (1953) Ungarn (1956) Tschechoslowakei (1968) Afghanistan (1979) Ideologische Rechtfertigung Truman-Doktrin (1947) Breschnew-Doktrin der eingeschränkten Souveränität sozialistischer Staaten (1968) Ausscheren Frankreichs (1966) Abspaltung Chinas (1963) Organisation der Bündnissysteme in Ost und West Tab. 2.5 <?page no="80"?> Unit 2 65 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 d Ie wIchtIGsten Globalen t rends und e ntwIcKlunGen der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) zwischen Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien gegründet. Die DDR wurde 1950 Mitglied. Der RGW koordinierte die Volkswirtschaften der Volksdemokratien, ähnlich wie die OEEC dies für Westeuropa tat. Mit dem Warschauer Pakt über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand bildete die Sowjetunion 1955 mit Albanien (1962/ 68 ausgeschieden), Bulgarien, der DDR, Polen, Rumänien, der Tschechoslowakei und Ungarn einen militärischen Beistandspakt. Ähnlich zur NATO ab 1955 integrierte der Warschauer Pakt die Streitkräfte seiner Mitglieder unter einem Vereinten Oberkommando unter sowjetischem Oberbefehl. Die USA und die Sowjetunion entwickelten eine Interventionspraxis in ihre jeweiligen „Vorhöfe“. Die Sowjetunion intervenierte offen in der DDR und in Ungarn sowie beim Prager Frühling 1968. Die offizielle Rechtfertigung dafür lieferte später die sogenannte Doktrin der eingeschränkten Souveränität der sozialistischen Staaten (Breschnew-Doktrin). Die USA entwickelten aufgrund der Sensibilität der lateinamerikanischen Staaten für ihre Souveränität die Praxis der Intervention ohne zu interventieren. Dabei handelte es sich um mehr oder weniger verdeckte Interventionen, bei denen missliebige Präsidenten gestürzt wurden. Sie wurden mit der Truman- Doktrin gerechtfertigt. Internationale Aufmerksamkeit erlangte in diesem Zusammenhang die Kuba-Krise (1962). Die USA versuchten zunächst auch außerhalb Europas, Staaten durch eine Vielzahl von multilateralen und bilateralen Verträgen einzubinden und dadurch die Sowjetunion einzudämmen (vgl. Tabelle 2.7). In Asien und im Entwicklung Rechtsgerichteter Präsident General Batista flieht in die Dominikanische Republik 1959 Fidel Castro übernimmt Regierung in Kuba Sowjetunion und Kuba etablieren diplomatische Kontakte (1960) Staatliche Enteignung von US-Eigentum in Kuba Versuche Castro zu stürzen (Invasion in der Schweinebucht) oder zu ermorden (Operation Mongoose) scheitern 1961 Kuba-Krise Kuba stationiert sowjetische Atomwaffen auf seinem Territorium 1962 USA verhängen Seeblockade über Kuba Konfrontation auf See zwischen USA und Sowjetunion Abzug des sowjetischen Nukleararsenals, Bestandsgarantie für Kuba, Kuba entwickelt unabhängige Außenpolitik Verlauf der Kuba- Krise Tab. 2.6 <?page no="81"?> 66 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Nahen und Mittleren Osten entstanden ähnliche Verteidigungsorganisationen wie NATO und Rio-Pakt, die sich jedoch wieder auflösten. Die regionale Teilordnung Europas: Westeuropäische Integration Parallel zur verteidigungspolitischen Organisation in der NATO vollzog sich in Westeuropa ab 1950 die westeuropäische Integration. Sie stellte zunächst eine Antwort auf das zentrale Ordnungsproblem Europas dar, das der Aufstieg Deutschlands unter den Nationalsozialisten und der Zweite Weltkrieg bedeutet hatten: Wie verhindern, dass das Streben Deutschlands nach Hegemonie noch einmal zu Krieg führt? Hier erwies sich europäische Integration mit dem Aufbau überstaatlicher (supranationaler) Entscheidungsstrukturen als Lösung, die auf der einen Seite eine Fortführung der bereits im Wiener Kongress und den Versailler Verträgen eingeübten Praxis im Umgang mit Angreiferstaaten bedeutete. Auf der anderen Seite zeichnete sich die neue Ordnung durch einen sehr viel stärkeren und auf Dauer gestellten Souveränitätstransfer Deutschlands aus, aber langfristig auch anderer Staaten. Die europäische Integration war ein zentrales Instrument zur Einhegung Westdeutschlands und zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Westeuropas, wobei eine künftige unabhängige deutsche Entwicklung verhindert würde (Young/ Kent 2013: 134-138). 2.3.2 Westeuropäische Integration als Antwort auf Deutschlandfrage Einhegung Westdeutschlands und wirtschaftlicher Wiederaufbau Europas Region Mitglieder Status Rio-Pakt (1947) Lateinamerika Kanada, USA, alle Staaten Lateinamerikas in Charta der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) überführt NATO (1949/ 55) Europa Belgien, Dänemark, Westdeutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Portugal, Türkei, USA aktiv SEATO (1955) Asien USA, Frankreich, Großbritannien, Australien, Neuseeland, Pakistan, Philippinen, Südvietnam aufgelöst (1977) Auslöser: Ende des Vietnamkriegs ANZUS (1951) Asien Australien, Neuseeland, USA inaktiv CENTO (1955) Mittlerer Osten USA, Großbritannien, Irak, Iran, Türkei; Pakistan aufgelöst (1979) Austritte: Irak 1959, Pakistan 1979, Türkei 1979 Von den USA nach dem Zweiten Weltkrieg initiierte Militärbündnisse Tab. 2.7 <?page no="82"?> Unit 2 67 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 d Ie wIchtIGsten Globalen t rends und e ntwIcKlunGen Durch die supranationale Integration Deutschlands sollte sichergestellt werden, dass jedweder Machtzuwachs Deutschlands Europa insgesamt nutzt und kontrolliert werden kann. „The threat to peace, which the Germans represented, would be reduced by federal controls, the threat to peace, which the Soviets represented, would be reduced by the Western European nations.“ (Young/ Kent 2013: 135 f.) Den Kern der europäischen Integration bildete die gemeinsame Verwaltung des Ruhrgebiets. Während die vier Siegermächte des Ersten Weltkriegs in der Entmilitarisierung des Ruhrgebiets eine Lösung für das Aufrüstungsrisiko sahen, bestand mit dem sich herausbildenden Ost-West-Gegensatz die Notwendigkeit das Ruhrgebiet- - etwa die Hälfte der Kohleproduktion Deutschlands war hier konzentriert-- für den wirtschaftlichen Aufbau Westeuropas und die potentielle Verteidigung gegenüber der Sowjetunion zu nutzen. Die Lösung bestand in der gemeinsamen Nutzung seiner Kohle- und Stahlproduktion und der Unterstellung dieser Produktion unter eine gemeinsame Verwaltung durch Deutschland und Frankreich. Nach dem Plan des französischen Außenministers Robert Schuman wurde die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS)- - auch Montanunion genannt- - gegründet, die einerseits französische Interessen an einem Ausbau französischer Industriekapazitäten befriedigte und andererseits dem Ziel einer europäischen Friedensordnung entsprach. Die revolutionäre Bedeutung der EGKS hob der damalige deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer in einer Rede hervor, die zudem noch einmal verdeutlicht, dass die zentrale Funktion der Organisation in der Schaffung von Frieden gesehen wurde, sollte sie doch die gegenseitige Überwachung der kriegswichtigen Produktion von Stahl ermöglichen. Wenn eine Organisation geschaffen werde, so Adenauer, die es den Franzosen gestattet, alles das zu sehen, was auf dem Gebiet der Fabrikation von Stahl und der Förderung von Kohle in Deutschland vor sich geht, und wenn umgekehrt die Deutschen sehen, was in Frankreich vor sich geht, dann sei diese gegenseitige Kontrolle das beste Mittel, um eine Politik zu treiben, die sich auf Vertrauen stützt. Die Audio-Datei finden Sie im Online-Bereich des Lehrbuchs. Die Bedeutung der EGKS als Überwachungsinstitution 🖰 http: / / openilias. uni-goettingen.de/ lehrbuch_IB Weitergehende Pläne, nach dem Vorbild der EGKS auch eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) zu gründen (Pleven-Plan), scheiterten hingegen. Die Franzosen waren nach einem verheerenden Krieg nicht bereit, einen Teil ihrer Streitkräfte einer supranationalen Autorität zu unterwerfen, die auch deutsche Streitkräfte integriert hätte. Für Paris wäre damit nicht nur der Verlust der vollen Souveränität über Frankreichs Streitkräfte, son- Gemeinsame Verwaltung des Ruhrgebiets Erfolgreiche Zusammenarbeit in der EGKS Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft <?page no="83"?> 68 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II dern auch die Anerkennung Deutschland als gleichberechtigter Staat verbunden gewesen. Die Briten waren zu einer Assoziation mit Kontinentaleuropa bereit, nicht aber zu ihrer Einbindung in eine supranationale Organisation (Young/ Kent 2013: 199), die Frankreich und Westdeutschland auf einen gleichen Rang wie Großbritannien gehoben hätte (Young/ Kent 2013: 201). Als Alternative zur EVG wurden Italien und Westdeutschland in die Brüsseler Vertragsorganisation und Westdeutschland später als NATO-Mitglied aufgenommen. Die europäische Integration erwies sich schnell als Erfolg und so kam es zu weiteren Integrationsschritten und sogar zur territorialen Erweiterung der Organisation (vgl. ausführlich Einheit 14). Dekolonisation Die scheinbar klare Struktur des Ost-West-Konflikts verdeckt andere grundlegende Entwicklungen der internationalen Beziehungen. Ein Prozess, der die internationalen Beziehungen in ihrer Überschaubarkeit erheblich verkomplizierte, war die Dekolonisation. Die erste Welle der Dekolonisation im 19. Jahrhundert hatte überwiegend Lateinamerika betroffen. Beginnend mit der Unabhängigkeit der Philippinen (1946) und Indiens (1947), erfasste die Dekolonisation nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Asien und Afrika mit zunehmender Geschwindigkeit (vgl. die Animation im Internet „Dekolonisation in 20 Minuten“). Dieser Prozess veränderte die Struktur der internationalen Beziehungen dauerhaft: Aus den riesigen Kolonialreichen entstanden eine Vielzahl unabhängiger Staaten, die eine eigenständige Außenpolitik verfolgten. Sie stellten auch einen Pool von Staaten dar, um deren Gunst die USA und die Sowjetunion, aber auch China und Kuba im Wettbewerb standen. Dem Wettbewerb um koloniale Handelsplätze des 19. und frühen 2.3.3 Räumliche und zeitliche Ausbreitung der Dekolonisation Abbildung 2.1 [Überschrift im Original bitte entfernen! ] 0 10 20 30 40 50 60 70 80 Kumulative Anzahl unabhängiger Staaten (1945-1984) Dekolonisation-- zeitliche Ausbreitung neuer Staaten (1945-1984) Abb. 2.1 <?page no="84"?> Unit 2 69 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 d Ie wIchtIGsten Globalen t rends und e ntwIcKlunGen 20. Jahrhunderts folgte nun der Wettbewerb um Unterstützung in einer ideologischen Auseinandersetzung. Aus einer globalen Perspektive vollzog sich die Befreiung vom Kolonialismus ab 1947 in umgekehrter Reihenfolge der Kolonialisierung (historisch gesehen waren Spanien und Portugal die ersten Kolonialmächte, gefolgt von Frankreich und Großbritannien. Räumlich wurden zuerst Lateinamerika, dann Afrika und danach Asien kolonialisiert). Beginnend mit den Philippinen (1946) und Indien (1947) erlangten die meisten asiatischen Staaten als Erste ihre Unabhängigkeit zurück, danach folgten die Staaten Afrikas. Britische Kolonien erlangten im Schnitt früher ihre Unabhängigkeit als französische Kolonien. Portugal hielt bis 1975 an seinen Kolonien fest. Die Unabhängigkeit weniger Länder hatte Signalwirkung für viele andere, so Indiens Unabhängigkeit für Asien oder Ägyptens Unabhängigkeit für weitere Staaten auf dem afrikanischen Kontinent. Das Ausmaß dieses Staatenbildungsprozesses wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es zum Zeitpunkt der Gründung der Vereinten Nationen nur 51 Staaten gab. Am Ende des Kalten Kriegs hatte sich die Zahl der Staaten mit 159 mehr als verdreifacht. Die Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien verfolgten dabei zunächst grundsätzlich die Strategie, ihren kolonialen Einfluss unter neuen Bedingungen zu halten (Young/ Kent 2013: 31) und die Dekolonisation in ihrem Sinne zu steuern. Großbritannien entwickelte die Idee eines Commonwealth of Nations, in dem sich die Kolonien in einer Konförderation zusammenschließen und selbst verwalten. Herzstück der nachkolonialen Gegenstrategien der Kolonialmächte Abbildung 2.2 wenige unabhängige Staaten vor dem Zweiten Weltkrieg • britische Dominions, Liberia, Äthiopien, Sudan Versuch der Steuerung des Prozesses • Französische Union (F) • Commonwealth (GB) • gewaltsame Kontrolle (Portugal) schnell wachsende Zahl unabhängiger Staaten ab 1947 • z. B. 18 neue Staaten im „Afrikanischen Jahr“ 1960 räumliche/ zeitliche Entwicklung Dekolonisation • räumlich: 1. Asien, 2. Afrika • zeitlich: 1. britische, 2. französische, 3. portugiesische Kolonien Zeitlicher und räumlicher Pfad der Dekolonisation Abb. 2.2 <?page no="85"?> 70 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Vorstellungen Frankreichs war der auf der Konferenz von Brazzaville im Januar 1944 entwickelte Plan für die Transformation des französischen Kolonialverhältnisses in eine Französische Union. Darin sollte Frankreich nur noch die gemeinsame Außen-, Verteidigungs-, Justiz- und Währungspolitik der Mitgliedstaaten kontrollieren. Bürgerinnen und Bürger der Kolonien, die die Attribute des französischen Zivilisationsstandards erfüllten, sollten Staatsbürgerschaftsrechte und eine größere politische Mitsprache in der französischen Nationalversammlung genießen (Young/ Kent 2013: 66-67). Diese Versuche misslangen jedoch. In einem sich beschleunigenden Prozess erlangten die meisten Staaten in den 60er Jahren ihre Unabhängigkeit. In Asien erlangte 1947 Indien (und Pakistan, durch Teilung von Indien)-- das „Kronjuwel“ Großbritanniens- - seine Unabhängigkeit. Der Unabhängigkeit waren schwierige-- durch die britische Kolonialpolitik verschärfte-- innerstaatliche Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Moslems vorangegangen, die letztlich zur Spaltung Indiens und zur Gründung Pakistans führten. Ein Jahr nach Indien wurden Ceylon (das heutige Sri Lanka) und Burma (das heutige Myanmar) unabhängig. In Südostasien nutzten lokale Herrscher die Gelegenheit des Abzugs der japanischen Streitkräfte aus den ehemaligen Kolonien, um ihre Unabhängigkeit einzufordern. Der Widerstand einiger Kolonialstaaten, vor allem Frankreichs in Indochina, führte in Vietnam zu einem blutigen Befreiungskrieg, den Frankreich 1954 in der Schlacht von Dien Bien Phu verlor. Die malayischen Territorien waren zum Teil unter indirekter britischer Regierung, zum Teil in britischem Besitz. Sie wurden 1946 zunächst in der Malayischen Union und später in der Malayischen Föderation als sich selbst regierende Territorien organisiert und erhielten 1957 ihre Unabhängigkeit. In Afrika hatten vor dem Zweiten Weltkrieg nur wenige Staaten ihre Unabhängigkeit erlangt. Ägypten hatte bereits 1922 die eingeschränkte Souveränität durch Großbritannien erhalten. Allerdings blieben britische Truppen weiterhin in dem Land stationiert, um den Suezkanal zu kontrollieren. Ägypten und Großbritannien teilten sich außerdem die Verwaltung über den Sudan. Äthiopien hatte während der gesamten Kolonialzeit seine Unabhängigkeit bewahrt (bis auf die kurze Phase der italienischen Annexion). Südafrika hatte- - wie die anderen britischen Dominions Australien, Kanada und Neuseeland-- innerhalb des britischen Empires einen Sonderstatus. Die von ehemaligen amerikanischen Sklaven gegründete Republik Liberia hatte sich bereits 1847 unabhängig erklärt. Der Dekolonisationsprozess begann mit den nordafrikanischen Staaten (Libyen, Sudan, Tunesien und Marokko). Als erstes schwarzafrikanisches Land wurde 1957 Ghana unabhängig. 1958 entschied sich die Bevölkerung von Guinea in einem Referendum für die Unabhängigkeit von Frankreich. <?page no="86"?> Unit 2 71 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 d Ie wIchtIGsten Globalen t rends und e ntwIcKlunGen Danach erkannte Frankreich, dass die Dekolonisation nicht mehr aufzuhalten war. Im Afrikanischen Jahr (1960) erlangten alle 14 französischen Kolonien in Afrika, zusammen mit Nigeria (Großbritannien), dem Kongo (Belgien) und Somalia (britisch und italienisch Somaliland) ihre Unabhängigkeit. Allein Portugal hielt unter einer rechtsgerichteten, diktatorischen Regierung bis 1975 an seinen Kolonien fest. Dies führte angesichts der Existenz von Unabhängigkeitsbewegungen im übrigen Afrika zu langen innerstaatlichen Konflikten, die durch die Einmischung der USA und der Sowjetunion sowie Chinas und Kubas befeuert wurden. Erst der Sturz des portugiesischen Präsidenten Marcelo Caetano durch eine Demokratiebewegung ermöglichte dieser Staatengruppe die Unabhängigkeit, befriedete sie aber nicht. Die Unabhängigkeit der afrikanischen und asiatischen Staaten führte zu einem Institutionalisierungsschub auf internationaler Ebene. Die zuvor in den jeweiligen Kolonialreichen zusammengeschlossenen Staaten waren nun eigenständige Subjekte des Völkerrechts mit autonomen Vertragsschließungskompetenzen. Zum ersten Mal seit der Kolonialisierung gab es keine eigenständigen völkerrechtlichen Regelungen mehr für diese Gebiete. Viele von ihnen schlossen sich unmittelbar in regionalen Verbünden zusammen. Die Unabhängigkeit der afrikanischen und asiatischen Staaten Dekolonisationskriege in Afrika und Asien Die Entstehung eines globalen Ost-West-Konflikts, die Dekolonisation mit einer großen Zahl neuer Staaten in Afrika, Asien und dem Nahen und Mittleren Osten sowie die Spaltung zwischen der Sowjetunion und China führten zu einer Vielzahl von regionalen Konflikten, die äußerst komplex waren: Ungeklärte Territorialfragen, die zum Teil mit überlappenden Volkszugehörigkeiten zusammenfielen, vermischten sich mit regionalen Ordnungsfragen, so im Nahen Osten, am Horn von Afrika und im südlichen Afrika. Der Wettbewerb der globalen Hegemonien USA und Sowjetunion und ab 1963 zum Teil auch Chinas um die innerstaatliche politische Ausrichtung der neuen Staaten verlängerte oftmals die Kriege. Deshalb beobachten wir zum Teil lang andauernde Konflikte mit sehr hohen Opferzahlen. Viele regionale Konflikte waren dabei eindeutig assoziiert mit dem Ende kolonialer Herrschaft. Trotz des Images, das insbesondere Afrika als Kontinent anhaftet, auf dem der Krieg nicht endet, sind die Konflikte bei genauerem Hinsehen überraschend begrenzt. Die schwersten Konflikte beobachten wir im Zusammenhang mit dem Dekolonisationsprozess von Frankreich und Portugal. Hier vollzog sich der Übergang von der Fremdherrschaft zur 2.3.4 Koloniale Unternehmens- und Siedlerinteressen <?page no="87"?> 72 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Souveränität unter hohen Opfern und zum Teil sehr lange. Das hatte unterschiedliche Ursachen. Eine davon war die Stärke von kolonialen Unternehmens- und Siedlerinteressen. In Algerien, im Kongo, in Angola und in Mosambik gestaltete sich der Ablösungsprozess sehr schwierig, weil er gegen die Interessen von internationalen Unternehmen der Kolonialmächte und europäischen Siedlern ausgefochten werden musste. Im Kongo, das nach Zeitzeugen über einen „skandalösen Reichtum“ (zitiert nach Eckert 2006: 72) an Bodenschätzen verfügte (wie Kupfer, Gold und Diamanten), hatte die Kolonialverwaltung großzügige Konzessionen auch an internationale Firmen vergeben (Eckert 2006: 72). Diese unterstützten nach der Unabhängigkeitserklärung Kongos aktiv die Ablösung eines Teils des Territoriums. In Algerien, Ursachen schwerer Dekolonisationskriege Wo Ereignis Wann Asien Unabhängigkeitskrieg Indonesiens von den Niederlanden 1945-1949 Asien Indochinakrieg Frankreichs 1946-1954 Asien Erster Indisch-Pakistanischer Krieg 1947/ 1948 Naher Osten Erster Nahostkrieg 1948-1949 Asien Koreakrieg 1950-1953 Afrika Unabhängigkeitskrieg Algeriens von Frankreich 1954-1962 Afrika Nationalisierung des Suezkanals (Suez-Krise + Zweiter Nahostkrieg) 1956 Afrika Bürgerkrieg im Kongo 1960-1965 Asien Vietnamkrieg 1961/ 1964-1975 Naher Osten Dritter Nahostkrieg (Sechs-Tage-Krieg) 1967 Zentralamerika Fußballkrieg 1969 Asien Bürgerkrieg in Kambodscha 1964-1975 Afrika, Südostasien Unabhängigkeitskriege von Portugal (Angola, Mosambik, Osttimor etc.) 1962- z.T. 1994 Afrika Unabhängigkeitskrieg Biafras von Nigeria 1967-1970 Europa Zypernkrieg 1974 Naher Osten Vierter Nahostkrieg (Jom-Kippur-Krieg) 1973 Naher Osten Bürgerkrieg im Libanon 1975-1992 Afrika Ogadenkrieg (Äthiopien, Somalia) 1977/ 1978 Mittlerer Osten Sowjetische Invasion in Afghanistan 1978 Mittlerer Osten Erster Golfkrieg 1980-1988 Afrika Tschadkrieg (Bürgerkrieg) 1982 Ausgewählte regionale Konflikte seit 1945 Tab. 2.8 <?page no="88"?> Unit 2 73 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 d Ie wIchtIGsten Globalen t rends und e ntwIcKlunGen in Angola und in Mosambik kam es zu schweren „Bürgerkriegen“, die sich im Fall von Angola und Mosambik als sehr langlebig erwiesen. Ein zweiter Faktor, der mit dem ersten zusammenhängt, ist die jeweilige Reaktion der Kolonialmacht auf Unabhängigkeitsbestrebungen. In Angola und in Mosambik dauerte der Krieg unter anderem deshalb so lange, weil Portugal als Kolonialmacht bis 1974 zögerte, die Staaten in die Unabhängigkeit zu entlassen. Unabhängigkeitsbewegungen in diesen beiden Staaten waren aber bereits in den 1960er Jahren, unter anderem angespornt durch den Vorbildcharakter der Unabhängigkeit der umliegenden Staaten, entstanden. Ein dritter Einflussfaktor besteht in der Einmischung der USA oder der Sowjetunion in den Konflikt durch die militärische Unterstützung einer oder mehrerer Kriegsparteien, so dass die Kriege auch als Stellvertreterkriege bezeichnet werden. Je länger Kriege dauerten, desto wahrscheinlicher war die Einmischung durch einen der beiden oder beide Staaten. Dabei gab es eine starke Interdependenz zwischen diesen Konflikten und der Konkurrenz der Weltmächte untereinander. Die stärkere Assoziation eines Staates mit einer der beiden Mächte hatte oft den Effekt, dass benachbarte Staaten sich stärker mit der anderen Macht assoziierten. Einen extremen Fall stellt in dieser Hinsicht der Angola-Krieg und die Interdependenz dieses Kriegs mit dem Krieg im südlichen Afrika dar. Regionale Ordnungskonflikte in der Nahsicht Nicht alle Kriege sind als Dekolonisationskriege einzustufen. Daneben entwickelten sich eine Reihe wichtiger regionaler Ordnungskonflikte, die zwar im Kontext der Dekolonisierung stehen, die aber von Staaten, meistens regionalen Hegemonien, gegen Nachbarstaaten geführt wurden. Dazu zählen der Erste Nahostkrieg (1948-1949), der den Versuch Ägyptens darstellt, das gerade unabhängig gewordene Israel territorial zu vereinnahmen, ebenso wie der Erste Indisch-Pakistanische Konflikt (1947-1948) über den territorialen Zuschnitt Indiens, die Kriege, die Äthiopien mit Somalia geführt hat, und der Erste Irak-Iran-Krieg (1980-1988). Diese Kriege enthalten zusätzlich zu ihrer ursprünglichen noch Konfliktdynamik eine Ost-West-Konfliktdimension. Es gab aber auch Konflikte, in denen es nicht nur zur Rivalität zwischen der Sowjetunion und den USA kam, sondern in denen auch noch eine Einmischung durch China oder Kuba erfolgte. Dies betrifft Konflikte nach 1963 wie den Angola-Konflikt, der Teil der Konfliktkonstellation im südlichen Afrika war und auch noch den Kongo sowie Südafrika betraf. 2.3.5 Regionale Ordnungskonflikte <?page no="89"?> 74 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Als besonders langwierige Konfliktregionen haben sich vier Regionen herauskristallisiert: Der Nahe Osten mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt als Zentrum, die Südwestasien-Achse mit dem Irak und dem Iran, das Horn von Afrika mit Äthiopien, dem Sudan und Somalia und das südliche Afrika mit Angola, Mosambik und Südafrika. Näher betrachtet werden im Folgenden zwei exemplarische Konflikte: der Nahost-Konflikt und der Konflikt im südlichen Afrika. Merke Der Nahost-Konflikt Beim Nahost-Konflikt verschränken sich verschiedene Konfliktdimensionen. Seinen Ursprung als territorialen Konflikt hat er zeitlich betrachtet nach dem Ersten Weltkrieg (vgl. Einheit 1), als Teile des Osmanischen Reichs unter den Kriegsgewinnern aufgeteilt wurden. Großbritannien verwaltete das Völkerbundmandat über Palästina und den Irak, Frankreich das über den Libanon und Syrien. Verstärkt durch die Erfahrung der Vernichtung des jüdischen Volkes durch Deutschland während des Nationalsozialismus gab es nach dem Zweiten Weltkrieg eine große Bereitschaft seitens der Alliierten, die Schaffung eines jüdischen Staates zu ermöglichen. Als sich Großbritannien 1947 nicht mehr in der Lage sah, die Verwaltung Palästinas fortzuführen, gab es sein Mandat an die Vereinten Nationen ab. Diese verabschiedeten 1948 einen Teilungsplan für Palästina und entließen Israel in die Unabhängigkeit. Zwischen 1948 und 1989 führten die beteiligten Staaten insgesamt drei Kriege gegeneinander. Dies waren der Erste Nahostkrieg (1948 -1949) unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung Israels, der Sechstagekrieg (1967) und der Jom-Kippur-Krieg (1973) (vgl. Tabelle 2.9). Die arabischen Staaten verfolgten dabei das Ziel, Israel als unabhängigen Staat zu beseitigen. Israel verfolgte das Ziel, sein Recht auf Selbstbestimmung in einem jüdischen Staat zu verteidigen. Der Nahost-Konflikt ist in einem engeren Sinne ein israelisch-palästinensischer Konflikt (1. Ebene) und hier ein Territorialkonflikt, bei dem sich der israelische Staat mit seinen innerstaatlichen Interessengruppen und Palästinenser, die ebenfalls politisch organisiert sind, gegenüberstehen. Beide kämpfen um dasselbe Land. Die arabischen Palästinenser bilden dabei eine weit verstreute Flüchtlingsgruppe, die inzwischen 10 Millionen Menschen umfasst und in mehreren Wellen Israel verlassen hat. Sie leben überwiegend in den umliegenden Staaten Libanon, Jordanien und Syrien, häufig Flüchtlingscamps, sowie in den USA. In den arabischen Staaten sind sie mit Ausnahme Jordaniens wenig in die Gesellschaft integriert und ihr Lebensstandard liegt in der Regel unter demjenigen der Bevölkerung der Aufnah- 2.3.5.1 <?page no="90"?> Unit 2 75 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 d Ie wIchtIGsten Globalen t rends und e ntwIcKlunGen meländer. Dem gegenüber stehen mehrere Wellen jüdischer Einwanderung nach Israel, die die Bevölkerung Israels stark hat anwachsen lassen. Als politische Interessenvertretung der Palästinenser gründete sich 1964 die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO). Sie hatte ihren Hauptsitz zunächst in Jordanien, wurde aus diesem Land aber 1970 vertrieben, da die PLO mit ihrer Selbstverwaltung und dem Aufbau eigener Sicherheitskräfte einen Staat im Staate gebildet hatte, der die Autorität des jordanischen Königshauses zunehmend bedrohte. Der Nahost-Konflikt (2. Ebene) ist auch ein regionaler Konflikt, bei dem sich sowohl Israel und seine arabischen Nachbarstaaten gegenüberstehen als auch arabische Staaten untereinander in Konkurrenz stehen. Die arabischen Staaten hatten sich 1945 bereits vor Gründung der Vereinten Nationen in der Arabischen Liga organisiert, deren Ziel die Unterstützung eines unabhängigen palästinensischen Staates ist. Zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn kam es zu insgesamt drei Kriegen, die zu mehreren territorialen Veränderungen durch Gebietsgewinne geführt haben. Ägypten hat 1979 einen Friedensvertrag mit Israel geschlossen und Jordanien hat 1988 seine Gebietsansprüche auf das Westjordanland und Ostjerusalem aufgegeben, so dass heute vor allem Syrien und der Libanon territorial betroffen sind. Auf einer globalen Ebene war der Nahost-Konflikt (3. Ebene) Teil der Ost-West-Konfliktkonstellation, allerdings war diese Konstellation auf regionaler Ebene sehr unbeständig, da es viele Regierungsumstürze gab, die die außenpolitischen Orientierungen der Staaten permanent veränderten. So waren die Königshäuser des Irak, Irans, Jordaniens und Libyens nach ihrer Unabhängigkeit zunächst eng mit Großbritannien verbunden, der Libanon und Syrien mit Frankreich (französische Truppen zogen 1946 ab). Nur Ägypten, das spät kolonialisiert und früh wieder unabhängig geworden war, war nicht Teil dieses Bündnisses. Diese Zuordnung änderte sich nach der Suez- Krise. Sie bedeutete den Anfang vom Niedergang der kolonialen Stellvertreter-Königshäuser in der Region und veränderte die regionale Konstellation Der Nahost-Konflikt stellt sich als Konflikt auf drei Ebenen dar: 1. Auf einer ersten Ebene stehen sich der Staat Israel und die arabischen Palästinenser gegenüber. 2. Auf einer zweiten, regionalen Ebene stehen sich Israel und die arabischen Staaten gegenüber. Letztere sind aber selten geeint. 3. Auf einer dritten, internationalen Ebene war der Nahost-Konflikt Teil der Ost-West- Konfliktkonstellation, mit wechselnden Allianzen. Nahost-Konflikt <?page no="91"?> 76 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II fundamental: Unter anderem als ein Effekt der Intervention stürzten im Irak, in Syrien und in Libyen die Königshäuser und Militärregierungen kamen an die Macht, die sich eher am sowjetischen Entwicklungsmodell orientierten als am Westen. Dem Modell Ägyptens folgend, gingen der Irak, Syrien und Libyen den Weg eines arabischen Sozialismus. Dieser richtete sich insbe- Ereignis Verlauf Weitere Effekte Erster Nahostkrieg (1948-1949) Israel vs. Ägypten, Libanon, Jordanien Ziel: Die Zerstörung Israels als territorialer Staat; Ergebnis: Sieg Israels; Ausdehnung des israelischen Territoriums um mehr als ein Drittel über den UNO-Plan hinaus Massenflucht von ca. 700.000 Palästinensern, v. a. nach Jordanien jüdische Immigration nach Israel 1952 1954 Sturz d. ägyptischen Königshauses; Machtübernahme Gamal Abdel Nassers Ägypten geht Weg eines „Arabischen Sozialismus“ und panarabischen Nationalismus 1955 Bildung der Central Treaty Organization (CENTO) als anti-sowjetisches Bündnis; Mitglieder: USA, Großbritannien, Irak, Iran, Türkei Suez-Krise (1956) Ägypten vs. Israel, Großbritannien, Frankreich Ägyptische Nationalisierung des Suezkanals führt zu Interventionen Großbritanniens, Frankreichs und Israels mit dem Ziel des Sturzes Gamal Abdel Nassers; Absetzungspläne scheitern am Protest der VN und der USA; Großbritannien und Frankreich ziehen ab; Israel zieht sich zurück Delegitimation der mit Großbritannien und Frankreich assoziierten Königshäuser; Umstürze in: Irak (1958), Libyen (1969), Revolution in Syrien (1963); Jordanisches Königshaus (1957) und Regierung Libanons (1958) retten sich nur mit US-Unterstützung; Irak, Libyen, Syrien folgen Ägypten auf dem Weg eines „Arabischen Sozialismus“; Annäherung Saudi-Arabiens an die USA 1958-1961 Gründung der Vereinigten Arabischen Republik zwischen Ägypten und Syrien 1964 Gründung der PLO (Palestine Liberation Organization) als Interessenvertretung der arabischen Palästinenser 1966 Verteidigungsabkommen zwischen Ägypten und Syrien Eskalation in Richtung Sechstagekrieg Israelisch-arabische Kriege-- Verlauf und Ergebnisse bis 1979 Tab. 2.9 <?page no="92"?> Unit 2 77 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 d Ie wIchtIGsten Globalen t rends und e ntwIcKlunGen sondere gegen die als reaktionär empfundenen Königshäuser Saudi-Arabiens und der kleineren arabischen Ölmonarchien. Das jordanische Königshaus und die libanesische Regierung überlebten politisch nur durch die Unterstützung der USA (Smith 2008: 46). Saudi-Arabien näherte sich zu diesem Zeitpunkt den USA an. Damit stand einer stärker mit den USA assoziierten Koalition aus Iran, Jordanien, Libanon und Saudi-Arabien ein stärker mit der Sowjetunion assoziiertes Bündnis zwischen Irak, Libyen und Syrien gegenüber. Dies führte zu einer noch stärkeren Anbindung des Iran als einer der wenigen verbleibenden Monarchien unter Shah Reza Pahlevi an die USA. Sechstagekrieg (1967) Israel vs. Ägypten Ziel: Präventivkrieg Israels zur Eroberung d. Sinai; Ergebnis: Ägyptische Luftwaffe wird vernichtet; Israel besetzt den Sinai (Ägypten), das Westjordanland und Ost-Jerusalem (Jordanien) und die Golanhöhen (Syrien) Delegitimation von Nassers arabischem Sozialismus / Panarabismus 1967-1977 Beginn der israelischen Siedlungspolitik im Westjordanland 1970 Tod Nassers in Ägypten; Ägypten wendet sich unter Anwar el Sadat von der Sowjetunion ab; weder USA noch Israel honorieren den ägyptischen Kurswechsel Jom-Kippur-Krieg (1973) Ägypten, Syrien vs. Israel Ziel: Rückeroberung d. Sinais (Ägypten) und der Golanhöhen (Syrien); Ergebnis: Waffenstillstandsabkommen Formierung der OPEC, die durch Drosselung der Erdölförderung europäische Zurückhaltung im Konflikt erzwingt; Ölboykott gegen westliche Staaten (1973-1974) Camp David Abkommen (1978) Ägyptisch-israelischer Friedensvertrag (1979) Ziel: Entspannung des israelischpalästinensischen Konflikts; Ergebnis: Anerkennung der Grenzen Israels und damit der Existenz Israels als Staat; Rückgabe des Sinai an Ägypten; Arabische Staaten betrachten Friedensvertrag als Verrat an arabischen Prinzipien, Ägypten wird aus der Arabischen Liga ausgeschlossen; Ermordung Sadats (1981) durch islamische Fundamentalisten Delegitimation der USA, Sturz von Shah Reza Pahlevi im Iran: Iranische Revolution 1978; Syrien nähert sich der Sowjetunion an <?page no="93"?> 78 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Diese Konstellation änderte sich wiederum 1979. Nach dem Jom-Kippur- Krieg von 1973 kam es 1978 zum ersten Friedensvertrag zwischen einem arabischen Staat und Israel. Das durch die USA unter Jimmy Carter vermittelte Camp David Abkommen (1978) und der Ägyptisch-Israelische Friedensvertrag (1979) wurden innerhalb der arabischen Staatengemeinschaft als Affront bewertet, weil sie die Grenzen des israelischen Staates anerkannten. Ägypten, ein Gründungsmitglied der Arabischen Liga, wurde aus dieser ausgeschlossen und verlor seine informelle Führungsrolle innerhalb der sozialistisch ausgerichteten Gruppe der arabischen Staaten. Um diese Rolle konkurrierten in der Folge die verbleibenden Staaten Irak und Syrien. Der Friedensvertrag hatte aber noch weiterreichende regionale Effekte: Er trug zur fortschreitenden Delegitimation des US-Verbündeten Iran unter dem Shah von Persien bei und schließlich zur Iranischen Revolution. Mit der Machtübernahme durch den Ayatollah Khomeini verfolgte der Iran eine eigenständige Außenpolitik, die sich an keinem der Blöcke orientierte. Zusätzlich zu der durch den Ost-West-Konflikt bestimmten regionalen Konfliktlinie entstand eine religiös definierte Konfliktlinie zwischen dem Iran als schiitischer Theokratie und den anderen arabischen Regierungen. Damit standen einer relativ einheitlichen Gruppe, die mit den USA assoziiert waren, eine heterogene Gruppe aus sozialistischen und schiitisch dominierten Staaten gegenüber. Nach dieser Entwicklung kam es bis zum Ende des Ost-West-Konflikts zu keinem zwischenstaatlichen Krieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn mehr. Der Konflikt verlagerte sich jedoch auf die gesellschaftliche Ebene (1. Ebene). Die PLO erklärte nach ihrer Vertreibung aus dem Libanon 1982 im Jahr 1987 ihre erste Intifada, die Erhebung des arabischen Volkes. 1988 wurde die Hamas gegründet. Der Angola-Konflikt Der Angola-Konflikt begann zeitgleich mit der Verbreitung unabhängiger Staaten in Afrika um 1960. Die drei Konfliktebenen können auch hier die Konfliktdynamiken verdeutlichen. Auf einer innerstaatlichen Ebene war Angola Teil einer Konfliktkonstellation von Staaten, in denen die schwarze Bevölkerungsmehrheit entweder durch europäische Kolonialregierungen regiert wurde (Angola, Mosambik) oder in denen die schwarze Bevölkerungsmehrheit von einer dominierenden Siedlergruppe regiert wurde, die den Rassismus institutionalisiert hatte (Südafrika, Namibia). Die kolonial regierten Staaten Angola und Mosambik schirmten die Apartheidstaaten geographisch vom Rest Schwarzafrikas ab. 2.3.5.2 <?page no="94"?> Unit 2 79 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 d Ie wIchtIGsten Globalen t rends und e ntwIcKlunGen Auf einer regionalen Ebene war Angola- - zusammen mit Mosambik- - einer der wenigen Staaten, die bis 1975 selbst keine Unabhängigkeit erlangten, aber innerhalb der Staatengruppe lagen, die von der Dekolonisationswelle in den 1960er Jahren erfasst wurden. In Angola selbst formierten sich deshalb drei Unabhängigkeitsbewegungen, die zunächst gemeinsam gegen Portugal kämpften: Die Nationale Befreiungsfront für Angola (FNLA), die Volksbewegung für die Befreiung Angolas (MPLA) und die Nationale Union für die totale Unabhängigkeit Angolas (UNITA). Die FNLA und die MPLA waren beide marxistisch orientiert. Nach dem Sturz der Regierung Portugals 1974 übernahm die MPLA 1975 die Macht in Angola. Danach brach der Wettbewerb um die Ausrichtung des neuen Staates aus. Daraufhin kam es zum Bürgerkrieg zwischen der FNLA, der MPLA und der UNITA und der innerstaatliche Krieg entwickelte sich zu einem Stellvertreterkrieg: Die MPLA wurde von der Sowjetunion und Kuba unterstützt (ein großer Teil der kubanischen Bevölkerung ist angolanischen Ursprungs), die FNLA durch den Kongo und die USA und die UNITA durch Südafrika. Die sozialistische Ausrichtung Angolas (und Mosambiks, das ebenfalls 1975 unabhängig wurde) änderte die regionale Konfliktkonstellation in bedeutsamer Weise: Sie brachte Angola und Mosambik als schwarzafrikanische Staaten in Frontstellung zu Südafrika als auf einem institutionalisierten Rassismus in Form des Apartheidregimes beruhenden Staat. Die marxistisch orientierten Gruppierungen machten es sich zum Ziel ihrer Außenpolitik, auch das Apartheidregime in Südafrika als größtes Symbol des Kolonialismus und Rassismus zu beseitigen. Dadurch weitete sich der Krieg auf das südliche Afrika aus. Der Begriff der Apartheid stammt ursprünglich aus dem Afrikaans und bedeutet im Allgemeinen ,Trennung‘ beziehungsweise ,Gesondertheit‘. Als Apartheidregierung oder -regime wird heute die strikte Rassentrennung und die Unterdrückung der nicht-weißen Bevölkerung in Südafrika betitelt. Im Rahmen dieses Systems wurden systematisch diskriminierende Gesetze erlassen und damit die schwarze Mehrheitsbevölkerung einer kolonialistischen und ausbeutenden Regierungspolitik der weißen Minderheitsbevölkerung ausgesetzt. Apartheidregierung Das Ende der Apartheid-Politik in Südafrika fiel 1991 mit dem Zerfall der Sowjetunion zusammen, was zunächst das Ende des Kriegs im südlichen Afrika ermöglichte. Diese Konstellation bedeutete jedoch noch nicht das Ende des Kriegs in Angola. Es kam wiederum zu einem Bürgerkrieg, der erst 2002 beendet wurde. Angola zeigt damit sehr anschaulich das kom- Ausweitung auf Südafrika <?page no="95"?> 80 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II plexe Zusammenspiel zwischen den Effekten der Dekolonisation, der Ost- West-Konkurrenz und dem Zerfall der Sowjetunion, die den Krieg beeinflusst haben. Angola ist mit über 40 Jahren Bürgerkrieg allerdings extrem in Bezug auf die Länge des Kriegs. Die Verbreitung autoritärer Staaten in der Dritten Welt Die Dekolonisation von Staaten in Afrika, Asien und Lateinamerika hatte indessen nicht den Effekt, dass diese Staatengruppe sich zu stabilen demokratischen Staaten entwickelte. In vielen Staaten führte der Abzug der Kolonialmacht unmittelbar in den Bürgerkrieg, weil innerstaatliche politische Gruppierungen um die Nachfolge in der politischen Herrschaftsausübung konkurrierten und Kolonialmächte auf einflussreiche innerstaatliche Gruppen Einfluss nahmen, um ein Ergebnis in ihrem Sinne herbeizuführen. Obwohl einige Staaten Erfahrungen mit demokratischen Systemen machten, beispielsweise Indien, Malaysia, Sri Lanka, die Philippinen oder auch Nigeria als größter afrikanischer Staat, etablierte sich in keinem der neuen Staaten langfristig ein demokratisches, pluralistisches System. Stattdessen wurden politische Regierungsumstürze und die Einparteienherrschaft zur Norm, die oftmals durch das Militär politisch abgestützt wurde. Dieser Trend hatte zwei Ursachen. Beide stehen in einem Zusammenhang mit zentralen entwicklungspolitischen Leitbildern, die in Bezug auf die sogenannten Entwicklungsländer existierten: Viele Staaten orientierten sich an einem sozialistischen Entwicklungsmodell. Die Sowjetunion mit ihrem Schwerpunkt auf zentralstaatlicher Planung und kapitalintensiver Industrialisierung in großem Maßstab galt zu Beginn der 1950er Jahre aufgrund ihres hohen Wirtschaftswachstums als Erfolgsmodell unter internationalen Entwicklungsorganisationen und den Entwicklungsländern, das viele Regierungen folglich übernahmen (Bruton 1998). Afrikanische Eliten 2.3.6 Dekolonisation und innerstaatliche Entwicklung Verbreitung autoritärer Einparteienregierungen 1. Auf einer ersten Ebene stehen sich die Parteien FNLA, die PMLA und UNITA in einem innerstaatlichen Konflikt gegenüber. 2. Auf einer zweiten, regionalen Ebene geht es um den Kampf zwischen schwarzafrikanischen Staaten und dem „weißen Imperialismus“ in Namibia, Rhodesien und Südafrika. 3. Auf einer dritten Ebene stellen die Unabhängigkeit Angolas und Mosambiks und die Machtübernahme durch kommunistische Regierungen einen „Dammbruch“ im südlichen Afrika für die westlich orientierten Staaten dar. Mit Angola und Mosambik verstärkt sich die Präsenz sozialistischer Staaten im südlichen Afrika. Das südliche Afrika wird Bestandteil der globalen Machtkonkurrenz. Angolakonflikt: Apartheidregime und Bruch mit der alten Ordnung auf drei Ebenen <?page no="96"?> Unit 2 81 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 d Ie wIchtIGsten Globalen t rends und e ntwIcKlunGen fanden davon abgesehen die „sozialistische, die Ordnungsaufgabe des Staates und eine ‚wissenschaftliche‘ Gesellschaftsplanung betonende Visionen genuin attraktiv.“ (Jansen/ Osterhammel 2013: 105) Schließlich übte die kommunistische Ideologie mit den Ideen der Befreiung von Unterdrückung eine starke Anziehungskraft aus. In westlich orientierten Staaten war dieses Phänomen das Ergebnis der politischen Entscheidung für eine militärisch angeleitete Entwicklungsstrategie. Diese zielte darauf ab, sowohl kommunistische Bewegungen innerstaatlich einzudämmen als auch die als entwicklungshemmend empfundenen traditionellen Gesellschaftsstrukturen zu modernisieren (Simpson 2008). Sowohl Clan-, Cliquen- und ethnische als auch religiöse Organisationsformen anderer Kulturen und Zivilisationen galten aufgrund ihres antimodernen und nicht-säkularen Charakters als modernisierungshinderlich. Gleichzeitig galt das Militär als Bollwerk gegen kommunistische und islamistische Bewegungen. Westliche Entwicklungsorganisationen und Regierungen sahen in der Stärkung des Militärs mit seiner hierarchischen Entscheidungsstruktur und einem bürokratischen Apparat eine dem westlichen Staat durchaus vergleichbare Organisation, aus der staatliche Strukturen herauswachsen hätten können. Die meisten Staaten entwickelten sich folglich entweder zu autoritär regierten Militärdiktaturen-- wobei die politische Einmischung des Militärs variierte-- oder Entwicklungsdiktaturen, das waren die durch Einheitsparteien regierten Staaten. In beiden Staatengruppen waren die Bürger- und Freiheitsrechte eingeschränkt. Dies führte zu wechselseitiger Kritik der Bündnissysteme aneinander und gab Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International Auftrieb, die die Menschenrechtslage in beiden Lagern gleichermaßen kritisierten (vgl. Einheit 12). Dekolonisation und innerstaatliche Strukturen ▶ Unter den neu entstandenen Staaten der Dritten Welt entwickelte sich die Einparteienherrschaft zur Norm für innerstaatliche Parteiensysteme. Keiner der neuen Staaten entwickelte dauerhaft pluralistische, innerstaatliche Strukturen. ▶ Sowohl aus der Perspektive westlicher als auch aus planwirtschaftlicher Entwicklungsplanung war diese Entwicklung gewollt, da man davon ausging, dass die Einschränkung pluralistischer Strukturen die wirtschaftliche Entwicklung beschleunigt. ▶ In Bezug auf die Entwicklung innerstaatlicher Strukturen war die Welt 1972 zweigeteilt: Demokratien finden sich in Nordamerika und Westeuropa, der Rest weist mehr oder weniger starke Einschränkungen politischer Freiheitsrechte auf. Merke Unterscheidung von Militär- und Entwicklungsdiktaturen <?page no="97"?> 82 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Abbildung 2.3 und 2.4 zeigen, wie sich demokratische Staaten zu zwei Zeitpunkten, 1950 und 1972 weltweit verteilen. Die Messung der Demokratie beruht auf einem Index von 10 (für die höchsten Demokratiewerte) bis -10 (für die niedrigsten Demokratiewerte). Deutlich zu sehen ist die Autokratisierung Afrikas, Lateinamerikas aber auch Südostasiens zwischen diesen beiden Zeitpunkten. Alternative Blockbildung und Spannungen innerhalb der Blöcke Trotz der klar dominierenden Struktur der Bipolarität, die auf jeweils unterschiedlichen Ordnungen aufbaute, waren die Beziehungen innerhalb der Blöcke keineswegs ohne Spannungen und Konflikte (Modelski 1973). Zwei Entwicklungen waren hier zentral: ▶ Die Gründung der Blockfreienbewegung (Dritte Welt) und anderer internationaler Organisationen und Netzwerke als Alternative zu den 2.4 Globale Demokratiewerte 1950 1950 / 1972 Demokratie-Skala Autokratisch Demokratisch ohne Einfärbung--= keine Daten vorhanden Abb. 2.3 Globale Demokratiewerte 1972 Abb. 2.4 <?page no="98"?> Unit 2 83 a lternatIVe b locKbIldunG und s pannunGen Innerhalb der b löcKe G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 existierenden Blöcken und Entwicklungsstufen (westlicher Block: Erste Welt; östlicher Block: Zweite Welt). ▶ Die Spaltung des Weltkommunismus durch den Konflikt zwischen China und der Sowjetunion. Viele ehemalige Kolonien versuchten sich kurz nach der Erlangung ihrer Unabhängigkeit zusammenzuschließen, um sich damit einem am Ost-West- Konflikt orientierten Bündnissystem zu entziehen: Die Blockfreienbewegung gründete sich 1955. Die Gründungskonferenz fand im indonesischen Bandung statt. Federführende Staaten in der Bewegung waren Ägypten, Indien, Indonesien und Jugoslawien unter Tito. Der alternative Zusammenschluss der Entwicklungsländer gewann vor allem in den späten 1960er Jahren und zu Beginn der 1970er Jahre im Rahmen der Gruppe der 77 (G77) maßgeblichen Einfluss über die Generalversammlung der Vereinten Nationen, wo sie beispielsweise Vorstellungen über eine neue Weltwirtschaftsordnung entwickelte. Die Bewegung ist noch heute aktiv und gewann 2014 im Rahmen der Ukraine-Krise Bedeutung, als die ukrainische Regierung bekannt gab, den Status der Ukraine als Mitglied der Blockfreienbewegung aufzugeben. Auch die 1963 gegründete Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) verstand sich als Regionalorganisation (im Sinne der Vereinten Nationen) mit dem Ziel, den Großmächte-Einfluss in Afrika abzuwehren (siehe auch Einheit 14). Eine weitere Organisation von einiger Bedeutung ist die Organisation Erdölexportierender Staaten (OPEC). Sie entstand 1960 mit dem Ziel, die weltweite Förderung des Erdöls zu koordinieren, die unabhängige Preisbildung zu beeinflussen und den Preis für Öl innerhalb eines von den OPEC-Mitgliedern festgelegten Zielpreiskorridors zu halten. Sie umfasst heute zwölf Mitglieder aus Afrika (Algerien, Angola, Libyen, Nigeria), Lateinamerika (Ecuador, Venezuela) und dem Mittleren Osten (Iran, Irak, Kuwait, Katar, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate). Dies verschaffte ihr Anfang der 1970er Jahre politischen Einfluss, als sie über die künstliche Verknappung der Ölversorgung den Ölpreis als politisches Druckmittel gegen die westlichen Staaten im Jom-Kippur-Krieg in die Höhe trieb. Ziel war es damals, die europäischen Staaten dazu zu bewegen, sich im Nahost-Konflikt neutral zu verhalten. Die Ölkrise 1973-1974 führte westlichen Staaten ihre Abhängigkeit von den erdölexportierenden Staaten vor Augen (vgl. Einheit 5). Zeitgleich mit dem Dekolonisationsprozess vollzog sich innerhalb des kommunistischen Lagers eine bedeutende Entwicklung. Mit dem Ausscheren Chinas aus dem sowjetischen Bündnissystem entwickelte sich das Land ab Ende der 1950er Jahre zu einem dritten Machtpol in der Weltpolitik. China trat 1956 in einen offenen Konflikt mit der Sowjetunion ein, der sich <?page no="99"?> 84 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II unter anderem in über 4000 Grenzzwischenfällen ausdrückte und 1969 fast in einen Atomkrieg mündete. Auslöser dieses Prozesses war der Tod Joseph Stalins 1953. Sein Nachfolger Nikita S. Chruschtschow distanzierte sich in einer Geheimrede 1956 von der Politik seines Vorgängers. Chruschtschow machte Stalin direkt für die politischen Säuberungen-- zu denen Terror, Deportationen und willkürliche Exekutionen gehörten-- verantwortlich und erlaubte eine politische Liberalisierung. In den osteuropäischen Staaten führte dies zu einer Kritik am sozialistischen Staatsumbau und Forderungen nach mehr politischen Freiheiten: In der DDR und in Ungarn kam es 1953 und 1956 zu Volksaufständen, die beide niedergeschlagen wurden. In China führte Chruschtschows offene Kritik dazu, dass sich Mao Tse-tung von der Sowjetunion abwandte. Das hatte mit der Legitimität seines eigenen Regimes zu tun, die von der Ähnlichkeit zu Stalins Politik abhängig war (Lüthi 2008), da Mao bisher ein ähnliches Wirtschaftsprogramm wie Stalin verfolgt hatte. Mao formulierte daraufhin seinen eigenen, chinesischen Weg der Revolution, den nach ihm benannten Maoismus, mit zwei wichtigen Innovationen. Der Maoismus ging erstens davon aus, dass nicht das Proletariat, sondern die Bauern die revolutionären Massen stellten. Zweitens hielt Mao, im Gegensatz zu Chruschtschow, daran fest, dass Außenpolitik die Verlängerung des innerstaatlichen revolutionären Kampfes sei und dies den Kampf gegen den Imperialismus und die Förderung revolutionärer Bewegungen impliziere. Den von Chruschtschow eingeschlagenen Weg der friedlichen Koexistenz mit dem Westen lehnte er ab. Die Folge war eine Spaltung des Weltkommunismus, wie er bisher durch die gemeinsamen Positionen der Sowjetunion und Chinas zum Ausdruck gekommen war. Dies führte dazu, dass beide außenpolitisch in Konkurrenz zueinander traten (Modelski 1973). China Maoismus als chinesische Variante des Kommunismus Konkurrenz zwischen China und Sowjetunion Zu einer der einflussreichsten Organisationen entwickelte sich die Gruppe der 77, abgekürzt G77. Dabei handelt es sich um eine Gruppe, die innerhalb der von den Vereinten Nationen 1964 einberufenen Konferenz über Handel und Entwicklung (UNCTAD) entstand. Diese Konferenz sollte eigentlich über die Gründung einer neuen Welthandelsorganisation beraten, die über das GATT hinausging. Die G77 entwickelte sich aus zwei Gruppen, die von der UNCTAD zur besseren Steuerung der Verhandlungen eingerichtet worden waren: der afro-asiatischen Verhandlungsgruppe und der Gruppe mit planwirtschaftlichen Systemen. Der Zusammenschluss bezeichnete sich selbst als „Gewerkschaft der Entwicklungsländer“ und zielte auf eine größere Solidarität unter Entwicklungsländern in Fragen des Handels ab. G77 <?page no="100"?> Unit 2 85 a lternatIVe b locKbIldunG und s pannunGen Innerhalb der b löcKe G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 entwickelte-- und testete am 16. Oktober 1964 erfolgreich-- seine erste Wasserstoffbombe, die es nicht nur ohne sowjetische Hilfe, sondern gegen deren expliziten Willen hergestellt hatte (vgl. Einheit 13). 1963 brachen die sowjetische und die chinesische Kommunistische Partei (KP) ihre Beziehungen ab. Innerstaatlich war Maos Politik jedoch nicht von Erfolg gekrönt. Mit der wirtschaftlichen Politik des Großen Sprung nach vorne (1958) wollte Mao die Entwicklung einer kommunistischen Gesellschaft beschleunigen. Dies beinhaltete die forcierte Verstaatlichung von Privateigentum und die Kollektivierung von landwirtschaftlicher Nutzfläche, aber auch das Zerschlagen von traditionellen Familienstrukturen, um den „neuen Menschen“ zu erziehen. Der große Sprung nach vorne kostete zwischen 1960 und 1962 bis zu 30 Millionen Menschen das Leben (Dallinger/ Golz 2005: 398), weil die überhastete Kollektivierung zum Zusammenbruch der Landwirtschaft führte. Chinas Politik hatte bedeutende Konsequenzen für andere Staaten, insbesondere in Südostasien, wo ethnische Chinesen bis heute eine substantielle Minderheit (im Fall Singapurs sogar eine Mehrheit) stellen (Young/ Kent 2013: 309-312). Große Resonanz fanden Maos Lehren in Nordkorea und Kambodscha. In Kambodscha kopierten die Roten Khmer, die zwischen 1975 und 1978 regierten, das chinesische Modell, mit ähnlich desaströsen Folgen wie in China. Die Terrorherrschaft kostete ein Viertel der kambodschanischen Bevölkerung das Leben. Indonesien stellte ein anderes Extrem dar. Hier kam es zu Massakern (1965-1966) an mutmaßlichen Mitgliedern der indonesischen kommunistischen Partei, darunter vielen ethnischen Chinesen, und die Kommunistische Partei wurde verboten (Jetschke 2010). Die sowjetische Unterstützung für die Unabhängigkeitsbewegung in Tibet 1959 und Indiens im Sino-Indischen Krieg 1962 besiegelte den Bruch zwischen China und der Sowjetunion. Dekolonisationsprozess ▶ Rund 80 neue Staaten haben sich im Zuge des Dekolonisationsprozesses zwischen 1946 und 1986 gegründet. Sie stellen einen Pool an Staaten, um den die USA und die Sowjetunion konkurrieren. ▶ Im Prozess der Dekolonisation führen diese Staaten zum Teil lang anhaltende Dekolonisationskriege gegen die Kolonialmächte, aber es kommt auch zu Kriegen über die regionale Vorherrschaft. ▶ Wo es zu Kriegen kommt, entwickeln sich diese häufig zu Stellvertreterkriegen. ▶ Diese Staaten erlangen ein stärkeres Gewicht in internationalen Organisationen, z. B. die Mehrheit in der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Merke Einfluss Chinas auf südostasiatische Staaten <?page no="101"?> 86 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Entspannungspolitik: Partielle Ost-West-Kooperation (1963-1979) Die Vielzahl an neuen Staaten stellte für die beiden Großmächte USA und Sowjetunion eine große Herausforderung dar. Die Spaltung zwischen China und der Sowjetunion schuf für die sowjetische Führung Anreize, mit den USA zu kooperieren. Konkret warfen beide Entwicklungen das Problem der Proliferation von Atomwaffen auf. Gerade der Wettbewerb zwischen der Sowjetunion und den USA barg nicht nur die Gefahr der Sicherheitsbedrohung durch die Anwerbung von Alliierten in der eigenen Interessensphäre-- wie durch den Fall Kuba repräsentiert--, sondern auch die Gefahr der unkontrollierten Verbreitung von Atomwaffen. Dafür steht der Fall Chinas. Mit der Annäherung der USA an China unter US-Präsident Nixon ab 1972 entstand weiterer Druck auf die sowjetische Führung, sich gegenüber dem westlichen Bündnis kooperativ zu zeigen. Diese Entwicklungen schufen konkrete Anreize für mehrere Kooperationsinitiativen (vgl. Tabelle 2.10). In den Vereinten Nationen verhandelten beide Staaten über eine Menschenrechtskonvention, die die grundlegendsten Menschenrechte international verbindlich definieren sollte. Das Ergebnis waren 1968 zwei Pakte, da sich die USA und die Sowjetunion nicht auf einen Pakt einigen konnten: Der eine Pakt definierte bürgerliche und politische Rechte, der andere wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (vgl. Einheit 12). Die USA und die Sowjetunion verhandelten bilateral über eine Reihe von Rüstungsbeschränkungsmaßnahmen. Darüber hinaus gab es wichtige Verhandlungen zwischen der deutschen Bundesregierung unter Kanzler Willy Brandt und den Regierungen der Sowjetunion, der DDR, Polens und der Tschechoslowakei, die auf eine offizielle Anerkennung der Grenzen entsprechend der Regelungen der Alliierten Konferenzen hinausliefen und alle Parteien auf die Norm des Gewaltanwendungsverbots verpflichteten (vgl. Tabelle 2.10). Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und die 1975 verabschiedete Schlussakte von Helsinki stellten eine weitere bedeutende Kooperationsinitiative dar, die 1965 von der UdSSR ausging, nach dem Austritt Frankreichs aus der Verteidigungsstruktur der NATO 1966 von de Gaulle aufgenommen und schließlich mit der Ostpolitik unter Willy Brandt auf ein breites westeuropäisches Fundament gestellt wurde (Young/ Kent 2013). In ihrem Gefolge kam es zur Einrichtung einer Konferenzfolge, die explizit die Entspannung der Ost-West-Beziehungen anstrebte. Die grundlegende Bedeutung der KSZE lag darin, dass alle Beteiligten, vor allem Westdeutschland, die Teilung Deutschlands akzeptierten und die DDR explizit anerkannten; die USA und die Sowjetunion erklärten sich bereit, 2.5 Anreize für blockübergreifende Kooperation <?page no="102"?> Unit 2 87 e ntspannunGspolItIK : p artIelle o st -w est -K ooperatIon (1963-1979) G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 ihre jeweiligen Einflusssphären wechselseitig zu respektieren, und sie entwickelten vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen. Im Rahmen der KSZE wurden nicht nur rüstungsbegrenzende Vereinbarungen getroffen, sondern auch Vereinbarungen über menschenrechtliche und humanitäre Fragen, wie die der Familienzusammenführung (Altrichter/ Wentker 2010). Der Helsinki-Effekt wirkte sich überraschenderweise auf die innerstaat- Jahr Abkommen Inhalt 1963 Atomarer Teststoppvertrag erster Vertrag zur atomaren Rüstungsbegrenzung; Verbot des Tests von Atomwaffen 1968 Nichtverbreitungsvertrag (NVV) Festlegung der Staatengruppe, die legal Atomwaffen besitzen darf (USA, Sowjetunion, China, Großbritannien, Frankreich) und der Staatengruppe, für die der Erwerb zu militärischen Zwecken verboten ist; Verbot der Weiterverbreitung von Atomwaffen, Förderung der Atomkraft für zivile Zwecke 1971 Berliner Viermächteabkommen Bestätigung, dass West-Berlin kein konstitutiver Bestandteil der Bundesrepublik ist; aber: Regelung des Transitverkehrs und der Besuche zwischen Ost- und West-Berlinerinnen und Berlinern 1970-1973 Ostverträge 1970: Moskauer Vertrag 1970: BRD-Polen 1972: Grundvertrag BRD-DDR 1973: Prager Vertrag Anerkennung des Status Quo in Europa; Anerkennung der Unverletzlichkeit der innerdeutschen Grenze, der deutsch-polnischen Grenze (Oder-Neiße- Linie) und der deutsch-tschechischen Grenze (Münchner Abkommen von 1938 wird für nichtig erklärt); faktische Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik; Gewaltverzicht 1972 Vertrag über die Begrenzung strategischer Waffen (SALT I) Raketenabwehrvertrag (ABM-Vertrag) Einfrieren der Zahl der land- und seegestützten Interkontinentalraketen; Begrenzung der Abschussvorrichtungen gegen anfliegende Raketen; Sicherung der Zweitschlagskapazität und damit der wechselseitigen Abschreckung 1973 Aufnahme von Verhandlungen über einen Vertrag über beiderseitig ausgewogene Truppenreduzierungen (MBFR- Vertrag) nicht abgeschlossen, da keine Einigung auf tatsächliche Truppenstärke 1975 Helsinki-Schlussakte kollektives Sicherheitssystem für Europa; Helsinki-Effekt auf osteuropäische Dissidenten und Demokratiebewegung 1978 SALT II-Vertrag (nicht ratifiziert) Entspannungsphase-- Blockübergreifende Kooperation Tab. 2.10 <?page no="103"?> 88 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II lichen Oppositionsbewegungen in Osteuropa aus und führte zu deren Mobilisierung gegen die kommunistischen Regierungen. Organisationen nutzten die in dem Abschlussdokument verankerten Normen über politische Versammlungsfreiheit, um sich politische Freiräume in ihren eigenen Staaten zu erkämpfen (Thomas 2001). Globale Effekte der Dritten Demokratisierungswelle ab 1974 Als im April 1974 in Portugal die diktatorische Regierung von Marcello Caetano durch einen Militärcoup gestürzt wurde, löste dies eine Kettenreaktion in vielen anderen Staaten aus. Bis zum Ende des Ost-West-Konflikts wurden 30 Staaten in Europa, Lateinamerika und Asien von einer globalen Demokratisierungswelle erfasst (Huntington 1990). Zwar gab es auch Entwicklungen in die umgekehrte Richtung-- in Richtung eines autoritären Staates wie in Chile unter Augusto Pinochet zwischen 1973 und 1989--, aber die Zahl der Demokratien nahm insgesamt stärker zu als die der Autokratien. Demokratisierungswellen In seinem Standardwerk zu demokratischen Transitionen spricht Samuel S. Huntington (1990) von Demokratisierungswellen, denen umgekehrte Wellen der Transition von Demokratien in Autokratien folgen. Merke Zum gleichen Zeitpunkt begann sich auch Spanien nach dem Tod seines seit 1936 regierenden Diktators Francisco Franco zu demokratisieren. Argentinien folgte 1983, Brasilien 1985. Diese Dritte Welle der Demokratisierung hatte jedoch regional betrachtet sehr unterschiedliche Auswirkungen. In Europa waren wichtige Staaten Träger dieser Dritten Demokratisierungswelle, wie Griechenland, Spanien und Portugal. Ihre Transition zu Demokratien ermöglichte dieser Staatengruppe den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft, die damit ihre ersten Integrationserfahrungen mit süd- und südosteuropäischen Staaten machte (vgl. Einheit 14). Unmittelbare Effekte hatte durch die enge kulturelle und wirtschaftliche Verbundenheit Portugals und Spaniens mit seinen ehemaligen Kolonien die Demokratisierung dieser beiden Staaten auf Lateinamerika. Hier kam es Helsinki-Effekt: Mobilisierung von Oppositionellen 2.6 ▶ Erste Demokratisierungswelle: 1828-1926 ▶ Erste umgekehrte Welle: 1922-1942 ▶ Zweite, kurze Demokratisierungswelle: 1943-1962 ▶ Zweite, umgekehrte Welle: 1958-1975 ▶ Dritte Demokratisierungswelle: seit 1974 Regionale Verbreitung Demokratisierung in Süd- und Südosteuropa … und Lateinamerika <?page no="104"?> Unit 2 89 G lobale e ffeKte der d rItten d emoKratIsIerunGswelle ab 1974 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 zur Demokratisierung des gesamten lateinamerikanischen Kontinents. Den Auftakt für diese Demokratisierung machte 1978/ 79 Ecuador, das bis dahin kaum eine demokratische Tradition hatte. Es folgten Peru, Bolivien, Argentinien (1982) und Brasilien und damit die beiden größten Staaten des lateinamerikanischen Kontinents. Nicht alle Demokratisierungswellen endeten jedoch mit der Etablierung einer Demokratie. In Südwestasien hatte diese Welle den nicht-intendierten Effekt, dass ein illiberaler Regierungstyp in Form eines islamischen Staates und der Islamisierung breiter Gesellschaftsschichten entstand. Politische Entwicklungen im Iran und in Afghanistan hatten weitreichende regionale Erschütterungen zur Folge. In beiden Ländern standen die USA und die Sowjetunion im Wettbewerb um Einfluss über die jeweiligen politischen Führungen. Im Iran führte dies schließlich im Februar 1979 zu einer religiös motivierten politischen Revolution, der Iranischen Revolution. Diese brachte Ajatollah Ruhollah Khomeini an die Macht. Mit dem Iran entstand ein weltweit einzigartiges Modell eines islamischen Staates. In Afghanistan, das durch zahlreiche Regierungswechsel innerstaatlich instabiler als Iran war, konkurrierten ebenfalls starke religiöse und kommunistische politische Bewegungen. Die Sowjetunion nutzte eine Situation der Instabilität in Afghanistan nach dem Sturz von Mohammed Daud dazu, in Afghanistan einzumarschieren. Neben der Motivation, territorialen Einfluss zu nehmen, bestand ein Motiv der sowjetischen Führung darin, dass sie Effekte der iranischen Revolution auf ihre eigene muslimische Bevölkerung in Zentralasien begrenzen wollte (de Hart 2008). Damit begann ein neun Jahre währender Krieg gegen verschiedene organisierte innerstaatliche Gruppen, die zum Teil von den USA unterstützt wurden. Die Besetzung wurde auch innerhalb der Sowjetunion stark kritisiert. Die Sowjetunion zog ihre Truppen schließlich 1989 aus Afghanistan ab. Die Iranische Revolution und die Besetzung Afghanistans hatten wiederum weitreichende regionale und globale Effekte, die sowohl politischer als auch religiöser Natur waren: Auf einer regionalen Ebene legte die Iranische Revolution den Grundstein für eine religiös motivierte Außenpolitik des Nicht-intendierte illiberale Effekte in Südwestasien Der Umsturz des Shah von Persien ▶ beeinflusst Instabilität und Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan, ▶ führt zu Irakisch-Iranischem Krieg (1. Golfkrieg), ▶ führt zu regionaler Diffusion schiitischer Lehren, ▶ führt zu stärkerem Einfluss des Militärs in naheliegenden Staaten des Nahen und Mittleren Ostens und Südostasiens (z. B. Türkei, Indonesien). Iranische Revolution <?page no="105"?> 90 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Iran, die darauf abzielte, ähnliche Reformen auch in anderen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens anzustoßen. Iran verfolgte eine Politik des iranischen Revolutionsexports. Dies führte zur direkten militärischen Auseinandersetzung mit dem Irak und zum Ersten Golfkrieg zwischen Irak und Iran (1980-1988). Sowohl durch direkte Unterstützung politischer Gruppierungen als auch durch Nachahmungseffekte gewannen in vielen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens, aber auch in Südostasien, radikal-islamische Gruppierungen an Einfluss. In der Türkei, im Irak und in Indonesien führte dies jeweils zur Stärkung des politischen Einflusses des Militärs, das sich als säkulares „Bollwerk“ gegen islamistische Strömungen positionierte. Das Ende der Entspannungspolitik und Rüstungswettlauf (1979-1988) Zum Ende der 1970er Jahre hatten sich bedeutende Entwicklungen vollzogen, die letztlich in die verstärkte Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion führten. Auf einer globalen Ebene verstärkte der sowjetische Einmarsch in Afghanistan den Eindruck der US-Regierung unter Jimmy Carter und ab 1980 unter Ronald Reagan, dass die Sowjetunion ihren globalen Einfluss auf Kosten der USA vergrößerte. Der Umsturz der diktatorischen Somoza-Regierung in Nicaragua 1979 durch die kommunistischen Sandinisten reihte sich für die US-Öffentlichkeit hier ebenso ein wie die Bürgerkriege in den überraschend unabhängig gewordenen ehemaligen portugiesischen Kolonien Angola und Mosambik. In Afrika war die Sowjetunion das erste Mal physisch präsent. Dieser größere territoriale Einfluss wurde von der US-Führung als „globaler Expansionismus“ gebrandmarkt. Ein direkter Effekt war eine stärkere Unterstützung westlich orientierter Staaten durch die USA, selbst wenn es sich dabei um autokratisch regierte Staaten handelte, die im Zuge der globalen Demokratisierungswelle stark unter politischen Druck geraten waren, wie die Philippinen, Argentinien und Chile, aber auch der US-Bündnispartner Türkei. In all diesen Staaten ging es für die US-Regierung um die Frage, ob am Ende eine den USA oder der Sowjetunion freundlich gesonnene Regierung an die Macht kommen würde. Das Jahr 1979 markierte somit einen Wendepunkt der weltpolitischen Auseinandersetzung zwischen den USA und der UdSSR, das Ende der Kooperationsbzw. Entspannungsphase in Europa und die Wiederaufnahme des Rüstungswettlaufs zwischen beiden Großmächten. Als ein Auslöser für das Ende der Entspannung wurde die Aufrüstung der Sowjetunion betrachtet sowie die Modernisierung ihres Atomwaffenpotentials mit Raketen des Typs SS-20 ab 1976/ 77. Die Stationierung dieses neuen Waffentyps vollzog sich gleichzeitig mit Vorverhandlungen zu einer neuen 2.7 <?page no="106"?> Unit 2 91 d as e nde der e ntspannunGspolItIK und r üstunGswettlauf (1979-1988) G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 SALT-Abrüstungsinitiative. Für die Sowjetunion handelte es sich dabei um eine Modernisierungsmaßnahme, die nach dem SALT-Vertrag erlaubt war. Allerdings stellte die Maßnahme nicht nur einen signifikanten Fortschritt des sowjetischen Rüstungsarsenals dar, sondern forderte die westeuropäische Verteidigungsfähigkeit und die der NATO grundlegend heraus. Die Sowjetunion wäre in der Lage gewesen, eine Reihe strategischer Ziele in Westeuropa zu erreichen, ohne dass sie die USA in einen Krieg hätte verwickeln müssen. In der Konsequenz hieß das, dass ein potentieller Atomkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion allein in Europa hätte ausgetragen werden können. Vor allem in den Augen der westeuropäischen politischen Eliten barg dies das Risiko, dass die Sicherheit der USA von der europäischen Sicherheit entkoppelt würde. Aufgrund der Unterscheidungsfähigkeit zwischen einem Atomkrieg in Europa mit und ohne Beteiligung der USA nannte Helmut Schmidt die SS-20 deshalb auch eine „eurostrategische Nötigungswaffe“ (zitiert nach Rühl 2013). Die Episode führte schließlich zur Verabschiedung des NATO-Doppelbeschlusses 1979 und zu einer umstrittenen Aufrüstungsinitiative unter der Reagan-Administration, die Strategic Defense Initiative (SDI). Dabei handelte es sich um ein weltraumgestütztes Abwehrsystem für Interkontinentalraketen. Sie war deshalb umstritten, weil sie die Zweitschlagskapazität der Sowjetunion eingeschränkt und damit die Politik der wechselseitigen Abschreckung unterlaufen hätte. Der Beschluss heißt NATO-Doppelbeschluss, da er bis 1983 eine Modernisierung der in Europa stationierten Pershing-Raketen vorsah, der Sowjetunion aber gleichzeitig ein Verhandlungsangebot zu Begrenzung nuklearer 7 Teil 2 / S. 91 Teil 2 / S. 97 Europa territoriale Veränderung weitere Regelungen/ Implikationen Vereinigtes Deutschland Festlegung des Staatsgebiets des vereinten Deutschlands, damit auch der mitteleuropäischen Grenzen; Absage an Gebietsansprüche an andere Staaten Begrenzung der Personalstärke der Streitkräfte auf 370.000 Personen; Verzicht auf Herstellung, Verfügung und Besitz von ABC-Waffen; Verbot eines Angriffskrieges; Ende der Alliierten Kontrolle, Abzug der Alliierten Streitkräfte bis 1994; Recht, Bündnissen anzugehören 0 20000 40000 60000 80000 100000 120000 140000 1945 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 Anzahl der Sprengköpfe USA Russland Gesamt Globale Nuklearwaffenbestände 1945-2010 Anmerkung: Differenz zur Gesamtzahl ergibt sich aus den Nuklearwaffenbeständen der anderen Nuklearmächte Abb. 2.5 <?page no="107"?> 92 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Mittelstreckenwaffen machte. Der Beschluss führte zu massenhaften Protesten vor allem in der Bundesrepublik und der Formierung einer Friedensbewegung. Die Sowjetunion brach schließlich 1990-- auch als Folge ihrer kostspieligen Intervention in Afghanistan und der innerstaatlichen Kritik daran- - wirtschaftlich zusammen und löste sich 1991 auf, fast 70 Jahre nach ihrer Gründung. Eingeleitet wurde das Ende des Ost-West-Konflikts durch die Perestroika-Politik Michail Gorbatschows, mit der eine politische Öffnung der Sowjetunion einherging, die schließlich im Zusammenbruch des Ostblocks durch demokratische Revolutionen endete. Die Auflösung der Sowjetunion begann mit der Unabhängigkeitserklärung aller 15 Unionsrepubliken 1990. Sie nahmen damit ihr verfassungsmäßig garantiertes Recht zum Austritt aus der Sowjetunion wahr oder wiesen auf die zwangsweise Eingliederung hin, wie im Fall der baltischen Staaten, die während des Zweiten Weltkriegs annektiert worden waren. Elf der ausgetretenen Staaten (alle ehemaligen Sowjetrepubliken bis auf die baltischen Staaten und Georgien) traten jedoch einer neuen Organisation bei, der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Sie wurde am 21. Dezember 1991 gegründet. Die Ordnung nach dem Ost-West-Konflikt Die Post-Ost-West-Konflikt-Ära ging mit einer Reihe von dramatischen Veränderungen in den internationalen Beziehungen einher. Aus dem Konflikt gingen die USA als die einzig verbleibende Macht hervor. Der amerikanische Politikwissenschaftler Charles Krauthammer prägte dafür den Begriff des unipolaren Moment (Krauthammer 1991). Militärisch betrachtet waren die USA die zu diesem Zeitpunkt mit Abstand führende Macht im internationalen System. Sie waren nicht nur eine Supermacht, sondern eine Hypermacht. Der wirtschaftliche und politische Niedergang der Sowjetunion hatte eine weltpolitische Konfrontation beendet, ohne dass diese in einen zerstörerischen Krieg eskaliert war. Der Kalte Krieg war nicht nur unblutig zu Ende gegangen, sondern hatte auch mit dem Sieg von Demokratie und freier Marktwirtschaft geendet. Der politische Philosoph Francis Fukuyama bezeichnete diesen Moment als das „Ende der Geschichte“: Der historische Kampf um Anerkennung war mit der weltweiten Demokratisierung zu einem Ende gekommen (vgl. Einheit 7). Diese Analysen erwiesen sich nur als teilweise richtig. Aus der Abwesenheit einer Katastrophe ergab sich die Abwesenheit einer großen Weltkonferenz über ein neues Friedenssicherungssystem oder regionale Friedenssicherungssysteme. Stattdessen vollzog sich ein inkrementeller Wandel, der entweder auf bestehenden Strukturen, die sich global 2.8 Ende des Kalten Kriegs als unipolares Moment <?page no="108"?> Unit 2 93 d Ie o rdnunG nach dem o st -w est -K onflIKt G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 und regional herausgebildet hatten, aufbaute, oder aber zu deren Schaffung führte. Neben der überragenden Rolle der USA, die wichtige Strukturveränderungen unilateral herbeiführte, waren wichtige Antriebskräfte dieser Entwicklung internationale Organisationen, die multilaterale Verfahren weiterentwickelten und eine Verrechtlichung der internationalen Beziehungen bewirkten (Alter 2014). Das unipolare Moment ging mit einer Reihe von Initiativen seitens der USA einher, die darauf abzielten, die Welt „für Demokratien sicherer“ zu machen: Dazu gehörte die Unterstützung für Prozesse der innerstaatlichen Demokratisierung, die globale Abrüstung, der Stopp der Proliferation von Atomwaffen. Die USA setzten hierfür auch vermehrt Sanktionen gegen Staaten ein (Hufbauer u. a. 2007). Nach den Terrorangriffen auf die USA im September 2001 gingen sie zu einem konzertierten Kampf gegen den globalen Terrorismus über. Diese Strategie führte jedoch zu Widersprüchen mit den etablierten Institutionen der internationalen Gemeinschaft, vor allem dem Sicherheitsrat der VN. Die US-Administration unter George W. Bush und ihre Verbündeten umgingen in wichtigen Fragen der (amerikanischen) Sicherheit den VN-Sicherheitsrat als das höchste multilaterale Entscheidungsgremium der internationalen Gemeinschaft, so bei dem NATO-Einsatz im Kosovo 1999 oder dem von den USA und Großbritannien geführten Krieg gegen den Irak 2003. Den Höhepunkt dieser Entwicklung bildete die US-Ankündigung, das völkerrechtliche Nichtangriffsgebot durch ein Recht des präventiven Angriffs auf von den USA definierten Schurkenstaaten zu durchlöchern und im Kampf gegen den Terrorismus international verankerte Menschenrechtsnormen nicht zu beachten, wie etwa das Recht auf Haftprüfung und ein faires Gerichtsverfahren (vgl. Einheit 13). Die als erfolgreich wahrgenommenen Institutionen des Westens sollten für die Staaten des ehemaligen Ostblocks oder die Blockfreien zur Integration geöffnet werden. Dies erforderte jedoch vielfach auf die größere Mitgliedszahl abgestimmte effizientere Entscheidungsmechanismen. Internationale und regionale Organisationen erhielten mehr Autorität gegenüber ihren Mit- Amerikanischer Unilateralismus wachsende Autorität internationaler Organisationen Das unipolare Moment ist ein Charakteristikum der Ordnung nach dem Ende des Ost-West- Konflikts. Daneben lässt sich jedoch auch die Weiterentwicklung der nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen internationalen Organisationen, vor allem der Vereinten Nationen, beobachten. Dieser Bedeutungszuwachs ergab sich einerseits daraus, dass die Konfliktlinien des Ost-West-Konflikts keine Relevanz mehr hatten. Dem Ende des Ost-West-Konflikts folgte ein neuer Geist internationaler Kooperation und der Wille, internationale Institutionen effektiver und durchsetzungsfähiger zu machen. Merke <?page no="109"?> 94 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II gliedern. Mit dem Internationalen Strafgerichtshof wurde außerdem eine neue Institution geschaffen, die mit der Strafverfolgung von Hauptverantwortlichen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch die individuelle Seite der Friedenssicherung bearbeitet. Die Handels- und Finanzinstitutionen entwickelten sich zudem zu globalen Organisationen. Neben dieser Ausweitung im Aufgabenbereich internationaler Organisationen lassen sich noch zwei weitere zentrale Trends beobachten: Zum einen eine Regionalisierung der internationalen Beziehungen, die sich darin ausdrückt, dass sowohl Kompetenzen von der internationalen auf die regionale Ebene verlagert werden, als auch Kompetenzen von der staatlichen auf die regionale Ebene; zum anderen der Aufstieg von Schwellenländern, insbesondere der größten Staaten Brasilien, China und Indien. Regional lassen sich sehr unterschiedliche Trends beobachten: Während in Lateinamerika, Asien und Afrika eine Regionalismuswelle mit der Gründung einer Vielzahl von Regionalorganisationen eingesetzt hat, hat die letzte Demokratisierungswelle ab 2011 im Nahen und Mittleren Osten einen Flächenbrand aus sich transnationalisierenden Bürgerkriegen ausgelöst. Die Auflösung der Sowjetunion hatte ähnlich gewichtige Konsequenzen für das internationale System wie das Ende des Ersten oder des Zweiten Weltkriegs. Sie hatte sicherheitspolitische, politische und wirtschaftliche Effekte globalen Ausmaßes. Merke Internationale Organisationen haben seit dem Ende des Ost-West-Konflikts einen enormen Autoritätszuwachs erlebt. Dieser Autoritätszuwachs speist sich aus verschiedenen Faktoren. ▶ Durch den Zerfall der Sowjetunion hat sich die Zahl der Staaten im internationalen System noch einmal signifikant erhöht, ohne dass die Entscheidungsverfahren der internationalen Organisationen in gleichem Maße mitgehalten hätten. Wenige Staaten entscheiden über mehr Staaten, die nicht in den Entscheidungsgremien sitzen. Am bedeutendsten ist dies im Sicherheitsrat. ▶ Die Aktivitäten von internationalen Organisationen haben sich wesentlich verändert und zielen heute stärker auf Regelungen im Inneren von Staaten ab, zum Beispiel nichttarifäre Handelshemmnisse, innerstaatliche Kriege, Schutz und die Förderung von Demokratie. Internationale Organisationen haben ihre Eingriffstiefe erhöht. Die wachsende Autorität internationaler Organisationen <?page no="110"?> Unit 2 95 d Ie o rdnunG nach dem o st -w est -K onflIKt G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 Die globalen Effekte der Auflösung der Sowjetunion Die Effekte der Auflösung der Sowjetunion waren weitreichend. Sie waren nicht nur auf die Staaten der ehemaligen Sowjetunion und ihrer Verbündeten beschränkt, sondern hatten systemweite Effekte. Es war das Ende einer Supermacht, die die Weltordnung der Vor- und Nachkriegszeit wesentlich mitgestaltet hatte. Dies hatte globale politische, sicherheitspolitische und wirtschaftliche Effekte. Die Implosion hatte politische Effekte: Jahrzehntelang hatten viele Regierungen und nicht-staatliche Akteure im Wesentlichen nur aufgrund der Unterstützung der Sowjetunion oder der USA politisch überlebt. Das Ausbleiben der internationalen finanziellen und politischen Unterstützung untergrub die politische Stellung von Regierungen und nichtstaatlichen Gruppen in beiden Lagern gleichermaßen. Viele der während des Ost- West-Konflikts etablierten Regierungen und Einparteiensysteme konnten sich unter den neuen Bedingungen nicht mehr halten. Dies ermöglichte die weitflächige Demokratisierung und historische Friedensregelungen für langjährige Konflikte wie den Angola-Konflikt, den Kambodscha-Konflikt oder bedeutende Friedensinitiativen im Nahen Osten, wo sich durch die Gewährung einer Autonomie an die Palästinenser eine Lösung des Konflikts mit Israel abzeichnete. In den wenigsten Staaten existierten jedoch funktionierende Mechanismen des geregelten politischen Machtübergangs. Gewaltsame Machtwechsel und Bürgerkriege folgten. Die Implosion der Sowjetunion hatte sicherheitspolitische Effekte, insbesondere für die Staaten, denen die Sowjetunion Sicherheitsgarantien gegeben hatte: Mit der Sowjetunion löste sich auch der Warschauer Pakt auf. Da das sowjetische Atomwaffenarsenal in verschiedenen Teilrepubliken der Sowjetunion stationiert war, wie in Weißrussland und der Ukraine, stiegen sie von einem Tag auf den anderen zu Atommächten auf (vgl. Einheit 10). Die Implosion hatte schließlich auch wirtschaftliche Effekte, nicht nur in der Sowjetunion selbst und in den osteuropäischen Staaten, sondern auch in Staaten wie Indien, die vom sowjetischen Markt abhängig waren. Der fast komplette Wegfall des sowjetischen Exportmarktes durch die Auflösung des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe und die Abkehr von den Planwirtschaften sowjetischen Stils bedeutete für diese Staaten signifikante Einbußen ihres Bruttosozialprodukts. Sie führte in allen Staaten zu einer wirtschaftspolitischen internationalen Liberalisierung. Diese Effekte zeigten sich regional differenziert und lassen sich-- analog zu den regionalen Effekten des Ersten und Zweiten Weltkriegs- - lokalisieren. Besonders betroffen vom Zusammenbruch der Sowjetunion waren Osteuropa, Afrika und Zentralamerika, wo sich durch Nachbarschaftseffekte die wirtschaftlichen, politischen und sicherheitspolitischen Effekte der Auf- 2.8.1 Globale Effekte <?page no="111"?> 96 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II lösung der Sowjetunion verstärkten. In besonderer Form stellte sich diese Frage für die DDR und damit verbunden Westdeutschland. Die beiden deutschen Teilstaaten strebten eine Vereinigung an und warfen damit die Frage der europäischen Sicherheit auf. Die Staaten, denen die sowjetischen Führungen Sicherheitsgarantien gegeben hatten, waren ebenfalls direkt betroffen, insbesondere Nordkorea, aber auch Syrien im Nahen und Mittleren Osten und Vietnam in Südostasien. In Südwestasien hatte die Auflösung vor allem wegen des Abzugs der sowjetischen Truppen aus Afghanistan Effekte. Die Einbindung eines vereinigten Deutschlands Mit der sich abzeichnenden Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten stand die abschließende Lösung des Deutschlandproblems auf der Tagesordnung der ehemaligen Alliierten. Denn die Teilung Deutschlands spiegelte immer noch die Situation unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wider. Nun bot sich die Chance, eine abschließende Lösung zu verhandeln. Die Lösung dieser beiden Probleme bestand in der Anerkennung der Einheit Deutschlands im September 1990 unter Wahrung bestimmter außenpolitischer Restriktionen, die im 2+4 Vertrag festgelegt waren; sie bestand in der fortgesetzten Westintegration des vereinigten Deutschlands; und sie bestand schließlich in der Osterweiterung der NATO und der EU als effektivste Organisationen Europas. Kurz: Die Lösung war die Fortsetzung des Multilateralismus in Form der Integration in regionale Organisationen. Zentral dafür ist der Maastricht-Vertrag der EU von 1992, mit dem die westeuropäischen Staaten nicht nur ihre Zusammenarbeit vertieften. Der Maastricht-Vertrag stellte eine wichtige Sicherheitsgarantie gegen ein vereinigtes Deutschland dar. Zentral dabei war die Schaffung einer politischen und einer Währungsunion (vgl. Einheit 13). 2.8.2 Außenpolitische Restriktionen <?page no="112"?> Unit 2 97 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 d Ie o rdnunG nach dem o st -w est -K onflIKt Europa territoriale Veränderung weitere Regelungen/ Implikationen Vereinigtes Deutschland Festlegung des Staatsgebiets des vereinten Deutschlands, damit auch der mitteleuropäischen Grenzen; Absage an Gebietsansprüche anderer Staaten Begrenzung der Personalstärke der Streitkräfte auf 370.000 Personen; Verzicht auf Herstellung, Verfügung und Besitz von ABC- Waffen; Verbot eines Angriffskriegs; Ende der Alliierten Kontrolle, Abzug der Alliierten Streitkräfte bis 1994; Recht, Bündnissen anzugehören Die Regelungen des 2+4 Vertrags für Deutschland Tab. 2.11 Wie würde ein territorial und bevölkerungsmäßig sehr viel größeres Deutschland agieren? Wäre ein vereinigtes Deutschland genauso effektiv einzubinden wie Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg? Frankreich und Großbritannien fürchteten einen Rückfall deutscher Außenpolitik in die Rolle einer ambitionierten Großmacht ebenso wie Polen, das mit dem Zerfall des Warschauer Paktes seine Sicherheitsgarantien verloren hatte. Für Osteuropa bestand ein ähnliches Problem: Osteuropa war zwei Mal Schauplatz großer Kriege geworden. Was würde mit den osteuropäischen Staaten ohne Sicherheitsbindung geschehen? Deutschland-Frage 3.0 Der Zusammenbruch der Sowjetunion ▶ ermöglichte die Demokratisierung ganzer Regionen, wie in Lateinamerika, Osteuropa, Afrika und Asien, ▶ ermöglichte historische Friedensabkommen, ▶ führte zu Bürgerkriegen vor allem in Afrika und im Nahen und Mittleren Osten, ▶ warf durch die Auflösung von Institutionen und den Wegfall von Sicherheitsgarantien sicherheitspolitische Probleme auf. Merke <?page no="113"?> 98 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Friedenssicherung im Schatten des unipolaren Moments und der wachsenden Autorität internationaler Organisationen ▶ Die Autorität des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen ist nach dem Ende des Ost-West-Konflikts stark angestiegen. ▶ Das Ziel der Förderung des Weltfriedens wird weiter gefasst und umfasst nun auch die Strafverfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. ▶ Mit der Agenda für den Frieden verabschieden die Vereinten Nationen ein umfassendes Programm zur Friedenssicherung, das auch präventive Maßnahmen einschließt und die Konfliktnachsorge. ▶ Die Vereinten Nationen werden ihren anderen Zielsetzungen neben der Friedenssicherung in umfassenderer Weise gerecht. Sie verabschieden programmatische Ziele, wie die Millenniums-Entwicklungsziele oder Abkommen zum Klimaschutz. ▶ Die bestehenden Normen werden bestätigt und neue Normen weiterentwickelt. Weiterentwicklung des Friedenssicherungssystems der Vereinten Nationen Bedingt durch die großflächige Demokratisierung und die damit assoziierten innerstaatlichen Konflikte erlebten die Vereinten Nationen als Organisation der Friedenssicherung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts einen enormen Bedeutungszuwachs. Insbesondere der Sicherheitsrat übernahm in Reaktion auf die hohe Zahl an Bürgerkriegen in Afrika und Osteuropa die Funktionen, die ihm seine Schöpfer unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zugedacht hatten. Die Zahl der Erzwingungsmaßnahmen, das sind Maßnahmen der kollektiven Sicherheit, die gegen den Willen eines Staates durchgeführt werden, stieg an und zwar von etwa einem Zehntel auf ein Viertel aller Maßnahmen der Streitbeilegung (Heldt/ Wallensteen 2006). In Bezug auf die globalen Ordnungsprobleme hieß das unilaterale Moment, dass die USA wesentlich an der Umsetzung der Entscheidungen des Weltsicherheitsrats beteiligt waren. Die USA übernahmen die Führung in einer Reihe von militärischen Interventionen, die von den Vereinten Nationen mandatiert waren- - wie im Fall des Irak nach der Invasion Kuweits 1991 und zur Abwendung einer humanitären Katastrophe in Somalia 1993. Angesichts des signifikanten Anstiegs an innerstaatlichen Konflikten entwickelten die Vereinten Nationen innerhalb von 10 Jahren ein Instrumentarium zur Prävention und Befriedung innerstaatlicher Konflikte. Den rechtlichen Kern dieses Instrumentariums bildet seit 2005 die Doktrin der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect: R2P). Aber auch die anderen Organe der Vereinten Nationen entwickelten sich zu aktiven Organisationen. Sie reagierten dabei einerseits auf globale 2.9 <?page no="114"?> Unit 2 99 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 d Ie o rdnunG nach dem o st -w est -K onflIKt Herausforderungen, wie Hungerkrisen, die Versteppung ganzer Regionen oder den Klimawandel, nutzten aber auch das ihnen in der Charta der Vereinten Nationen verliehene Mandat, einen Beitrag zu Menschenrechten und der Steigerung der Lebensqualität der Menschheit zu leisten. So fanden zu Beginn des Jahrtausends verschiedene VN-Konferenzen statt, die programmatische Ziele verabschiedeten wie die Millenniums-Entwicklungsziele des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) oder die Klimaschutzkonferenzen des Umweltprogramms der VN (UNEP). In Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 und auf verschiedene terroristische Anschläge in anderen Staaten entwickelten die Vereinten Nationen ein differenziertes Instrumentarium zur Sanktionierung von terroristischen Vereinigungen. Ein wesentlicher Pfeiler der internationalen Ordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts blieben die internationalen Wirtschaftsinstitutionen, das GATT und der Internationale Währungsfonds (IWF). Ihre Mandate entwickelten sich ebenfalls weiter. Der IWF hatte bereits in den 1980er Jahren eine Veränderung seiner Ausrichtung erfahren. Unter dem Druck der USA unter der Administration von Ronald Reagan wandelten sich Weltbank und IWF in den 1980er Jahren zu Institutionen, die internationale Kredite an neoliberale politische Reformen koppelten und damit tief in die Haushalts- und Wirtschaftspolitik der betroffenen Staaten eingriffen. Viele Staaten des Globalen Südens mussten zum Teil unter schwierigen innerstaatlichen Bedingungen ihren Außenhandel liberalisieren, indem sie Schutzzölle und Importbeschränkungen abbauten, ihre Binnenwirtschaft deregulierten und den Kapitalverkehr erleichterten. Strukturanpassungsprogramme umfassten zusätzlich die Förderung von Demokratie und Menschenrechten durch die politische Konditionierung von Krediten oder Entwicklungshilfe. In Abwesenheit des Block-Wettbewerbs waren diese Programme insgesamt effektiver darin, auch tatsächliche Reformen anzustoßen (Bratton/ van der Walle 1997; Dunning 2004). Während der globalen Finanzkrise waren von diesen Programmen nun auch die industrialisierten Staaten der G20 betroffen, deren Staatsverschuldung beträchtlich angewachsen war und 2005 erstmals diejenige der Entwicklungsländer überstieg (vgl. Abb. 2.7). Die wirtschaftspolitische Liberalisierung und der Wegfall alternativer Integrationsschemata hatte wiederum erhebliche Auswirkungen auf das globale Handelsvolumen. Diese Staaten drängten nun in das GATT. Die Organisation wurde in Bezug auf ihre Mitgliedschaft sehr viel globaler. Die Zahl der Mitglieder des GATT stieg ab 1991 signifikant an. 1995 wurde das GATT in die Welthandelsorganisation (World Trade Organization: WTO) überführt. Die WTO stellt eine neue Organisation dar, die stärkere Durchsetzungsmechanismen aufweist als das GATT. Kern des Durchsetzungsmechanismus ist <?page no="115"?> 100 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II der verstärkte Streitbeilegungsmechanismus in Form eines WTO-Gerichtshofes. Die gewachsene Globalität und das stärker verrechtlichte Verfahren steigerte jedoch nicht notwendigerweise ihre Effektivität: Mit der größeren Mitgliedschaft musste die WTO auch sehr viel heterogenere Präferenzen verhandeln. Mit den Beitritten Indiens (1995), Chinas (2001) und Russlands (2012) zur WTO traten Staaten mit sehr großem Marktpotential der Organisation bei, die den bisher größten Verhandlungspartnern, den USA und der EU, Verhandlungsmacht entgegensetzen konnten. Während die industrialisierten Staaten dafür eintraten, die Verhandlungen um Vereinbarungen über Investitionen, zur Wettbewerbspolitik und die Transparenz bei der Vergabe staatlicher Aufträge zu erweitern (die sogenannten Singapur-Themen) sowie Arbeitsnormen und Umweltschutz zu berücksichtigen, drängten die Staaten des Globalen Südens unter Führung von Brasilien und Indien auf die Liberalisierung der Agrarmärkte und des Handels mit Textilien. Die Verhandlungen über weitere Handelsliberalisierungen gerieten ins Stocken. Die 2001 begonnene Doha-Runde war bis 2015 nicht abgeschlossen. Mit dem Internationalen Strafgerichtshof wurde 2002 außerdem ein neuer Gerichtshof für die Ahndung von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid geschaffen und damit ein Meilenstein auf dem Weg der internationalen Verrechtlichung gesetzt. Die Besonderheit des Internationalen Strafgerichtshofs ist, dass er der erste permanente Gerichtshof ist, der eine prinzipiell universelle Jurisdiktion hat, vorausgesetzt, alle Staaten treten ihm bei. Die beiden vor ihm geschaffenen internationalen Gerichtshöfe zu Ruanda und Jugoslawien waren weder dauerhaft eingerich- Abbildung 2.6 (Überschrift bitte entfernen) 0 20 40 60 80 100 120 140 160 180 1949 1951 1953 1955 1957 1959 1961 1963 1965 1967 1969 1971 1973 1975 1977 1979 1981 1983 1985 1987 1989 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 Beitritte zu GATT (1949-1995) und WTO (1995-) Beitritte zum GATT kumulativ Beitritte zur WTO kumulativ Zahl der Mitglieder in GATT (1945-1995) und WTO (ab 1995) Abb. 2.6 <?page no="116"?> Unit 2 101 d Ie wIchtIGsten Globalen t rends und e ntwIcKlunGen (1990-2015) G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 tet noch universell, sondern sie ahndeten Kriegsverbrechen in Ruanda und Jugoslawien. 2015 gehörten dem Internationalen Strafgerichtshof 123 Staaten an, darunter die Staaten der gesamten EU. Dafür fehlen wichtige Staaten als Unterzeichner, darunter die USA, China und Russland. Bis 2015 hatte der Internationale Strafgerichtshof sechs Urteile gefällt, darunter so bedeutende wie gegen den ehemaligen liberianischen Präsidenten Charles Taylor, den Verantwortlichen für den Krieg im Nachbarland Sierra Leone. Die wichtigsten globalen Trends und Entwicklungen (1990-2015) Demokratisierung im globalen Maßstab Wie auch im Fall der demokratischen Wellen vorher war ein Ergebnis des Zusammenbruchs einer Hegemonie in den internationalen Beziehungen die Demokratisierung ganzer Staatenlandschaften (Gunitsky 2014). Die Demokratisierungswelle erfasste alle Regionen mit Ausnahme des Nahen und Mittleren Ostens. In Osteuropa, Lateinamerika und Afrika ist eine umfassende Demokratisierung zu beobachten, die den gesamten Kontinent bzw. die Region erfasst. In anderen Regionen sieht das Bild gemischter aus. In Osteuropa ermöglichte der Zusammenbruch der Sowjetunion einen tiefgreifenden Demokratisierungsprozess. Hier feierten langjährige Dissidentenbewegungen einen Sieg über ihre Regierungen und ermöglichten umfassende Demokratisierungsprozesse, vor allem in den an Westeuropa angrenzenden Staaten. Innerhalb von nur wenigen Monaten fielen die sozialistischen Regierungen in Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei, der DDR, in Estland, Lettland und Litauen und in Slowenien und es etablierten sich demokratische Regierungen. Auf dem amerikanischen Kontinent wirkte sich der Zusammenbruch der 2.10 2.10.1 Abbildung 2.7 (Überschrift bitte entfernen) 0 20 40 60 80 100 120 1960 1962 1964 1966 1968 1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 Prozentuale staatliche Verschuldung (1947-2012) G-20 Industriestaaten G-20 Industrialisierende Staaten Entwicklungsländer Anteil unterschiedlicher Staatengruppen an internationaler Verschuldung Abb. 2.7 <?page no="117"?> 102 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Sowjetunion vor allem auf Zentralamerika und die umliegenden Staaten aus, in denen zahlreiche Stellvertreterkriege geführt worden waren. Mitte der 1990er Jahre galten 14 von 20 lateinamerikanischen Staaten uneingeschränkt als Demokratien. Fünf Staaten befanden sich auf dem Weg zu demokratischen Verhältnissen, darunter Haiti und Mexiko. Nur Kuba blieb von diesen Entwicklungen ausgespart. In Asien sieht das Bild sehr viel gemischter aus. Nach der Demokratisierung von Südkorea (1986), Taiwan (1987) und in Südostasien den Philippinen (1986) folgte 1992 überraschenderweise Indonesien. 1998 fanden dort Globale Trends und Entwicklungen 1990-2015 Tab. 2.12 nationalstaatliche Ebene zwischenstaatliche Ebene Zeit Raum Demokratisierung im globalen Maßstab politische Proteste und Reformen leiten innerstaatliche Umstrukturierungsprozesse ein und führen zur Etablierung demokratischer Regierungen Zusammenbruch der sowjetischen Hegemonie, internationale Demokratisierungshilfen und Restrukturierung durch den IWF ab 1990 Osteuropa, Lateinamerika, Asien, Afrika Staatszerfall und die Verbreitung von Bürgerkriegen fehlende Mechanismen für die Machttransition führen zu Bürgerkriegen; Sezessionsbestrebungen im Rahmen der Demokratisierungsprozesse schüren Konflikte; ethnisch-religiös bestimmte Konflikte Entwicklung eines Instrumentariums für internationale Interventionen, Bürgerkriege werden durch internationale Rechtsinstanzen aufgearbeitet ab 1990 Afrika, Zentralasien, Osteuropa Integration in regionalen Organisationen Integration und politische Anbindung neuer Staaten an regionale und internationale Bündnissysteme Etablierung internationaler Normen um Selbstbestimmungs-, Demokratie- und Menschenrechte; Bündnisfreiheit als tragende Selbstbestimmungseigenschaft; Osterweiterung EU und NATO ab 1990 Europa, Afrika, Asien, Lateinamerika Aufstieg der Schwellenländer eine Gruppe aus bevölkerungsreichen Staaten gewinnt, angetrieben durch nationale Liberalisierungsmaßnahmen und dadurch erzeugtes Wirtschaftswachstum, an politischem Gewicht Veränderung regionaler und internationaler Machtverhältnisse; Einfluss auf internationale Institutionen ab 2006 China, Brasilien, Indien <?page no="118"?> Unit 2 103 d Ie wIchtIGsten Globalen t rends und e ntwIcKlunGen (1990-2015) G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 erstmals demokratische Wahlen statt. Mit Indonesien demokratisierte sich der Staat mit dem weltweit größten muslimischen Bevölkerungsanteil. Weniger Einfluss hatte die Demokratisierungswelle auf den historisch von China dominierten geographischen Raum. Die chinesische Führung unter Deng Xiaoping schlug eine Protestbewegung 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tiananmen-Massaker) nieder. Die anschließende Verhaftungswelle löste internationale Empörung aus und hatte für China umfassende Wirtschaftssanktionen seitens westlicher Staaten zur Folge. In Myanmar kam es zwar zu Wahlen, bei denen die Opposition unter Aun San Suu Kyi gewann. Das Militär erkannte das Ergebnis jedoch nicht an. Neben Lateinamerika ist es Afrika, das die umfassendste Demokratisierungserfahrung machte. 1989 fanden in Namibia die ersten freien Wahlen in Afrika nach dem Ende des Ost-West-Konflikts statt. Allein bis 1994 fanden in 29 Staaten, also etwas mehr als der Hälfte der Staaten Afrikas, erstmals kompetitive Wahlen statt, von denen wiederum die Hälfte als frei und fair gelten (Bratton/ van der Walle 1997: 197). Mit dem Fall der Apartheidregierung unter Pieter Botha in Südafrika demokratisierte sich zudem der Staat mit der höchsten Symbolkraft in Afrika. Mit Nelson Mandela kam 1994 eine Symbolfigur des auch international organisierten Widerstands gegen die Apartheidpolitik an die Regierung. Für seine Freilassung hatten sich nationale und internationale Menschenrechtsorganisationen jahrzehntelang eingesetzt, Südafrika war die Zielscheibe internationaler Sanktionen. Kategorisch ausgespart von dieser Demokratiewelle blieben allein die muslimisch dominierten Staaten in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten und die mit dem neuen Russland wirtschaftlich besonders verbundenen zentralasiatischen Republiken. Zwar kam es in Tunesien, Marokko und Algerien ebenfalls zu Beginn der 1990er Jahre zu einem Demokratisierungs- Abbildung 2.8 (Überschrift bitte entfernen) 0 5 10 15 20 25 30 35 1989 1990 1991 1992 1993 1994 Gesamt Zahl der ersten demokratischen Wahlen in Afrika 1989-1994 Zahl der ersten demokratischen Wahlen in Afrika Zahl der demokratischen Erstwahlen in Afrika 1989-1994 Abb. 2.8 <?page no="119"?> 104 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II prozess. Dieser kam jedoch zu einem abrupten Ende, als in Algerien 1991 bei freien Wahlen die Islamische Heilsfront (Front Islamique du Salut: FIS), eine islamistische Partei, in einem ersten Wahlgang die Mehrheit erlangte. Das algerische Militär unterbrach daraufhin 1992 den Wahlprozess. Es kam zu einem Bürgerkrieg. Warum setzte sich der Demokratisierungstrend nicht fort? Die Ursachen für die fehlende Demokratisierung der Staaten des Nahen und Mittleren Ostens und Südwestasiens lagen einerseits in der vergleichsweise großen Autarkie der meisten arabischen Staaten, die die Gewinne aus Erdölexporten zur Herrschaftssicherung einsetzen konnten. Sie lagen andererseits in der Immunisierung der Region durch die antiwestliche Ausrichtung der südwestasiatischen Staaten Iran, Afghanistan und Irak. Merke Staatszerfall und die Verbreitung von Bürgerkriegen Die mit der großflächigen Demokratisierung verbundene Hoffnung auf eine friedliche Welt erfüllte sich jedoch zunächst nicht. Vor allem in Afrika kam es im Zusammenhang mit vielen Demokratisierungsprozessen zu zum Teil ethnisch und religiös bestimmten Bürgerkriegen. Die Zahl der Bürgerkriege (innerstaatliche militärische Konflikte) stieg zwischen 1990 und 1991 noch einmal deutlich an (Abbildung 2.9) und überstieg diejenige der zwischenstaatlichen Kriege. 2.10.2 Bewaffnete Konflikte 1946-2014 Abb. 2.9 [hellgrau] außerstaatliche Konflikte | [weiß] zwischenstaatliche Konflikte | [schwarz] internationalisierte Konflikte | [dunkelgrau] innerstaatliche Konflikte y-Achse--= Zahl der Konflikte x-Achse--= Jahr des Konflikts <?page no="120"?> Unit 2 105 d Ie wIchtIGsten Globalen t rends und e ntwIcKlunGen (1990-2015) G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 Einen dramatischen Höhepunkt erlebte die Gewalt in Ruanda, wo innerhalb von nur neun Wochen nach konservativen Schätzungen 500.000 ethnische Tutsis und zum Teil Hutus von organisierten Gruppen innerhalb der ethnischen Hutus ermordet wurden. Auch in Somalia, in Sierra Leone und in Liberia kam es zu Bürgerkriegen. Andere Demokratisierungsprozesse waren mit Prozessen nationaler Selbstbestimmung verquickt und führten ebenfalls in einen Bürgerkrieg: In Zentralasien und in Osteuropa kam es nach Sezessionsbestrebungen zu Kriegen zur Wiederherstellung der staatlichen territorialen Integrität. Im ethnisch sehr heterogenen Jugoslawien löste die Abspaltung der Teilrepubliken Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina einen Bürgerkrieg aus, da die serbisch dominierte Regierung auf die Unabhängigkeitserklärungen mit militärischer Gewalt reagierte. Internationalen Organisationen, allen voran den Vereinten Nationen, fehlten in dieser Situation wichtige Kompetenzen und Instrumentarien des Umgangs mit Bürgerkriegsstaaten. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hatte zwar Autorität bei der Herstellung internationaler Sicherheit, aber keine Autorität zum Eingreifen in Staaten, solange die innerstaatlichen Konflikte keine Bedrohung der internationalen Sicherheit darstellten. Dies lag in der Logik des Souveränitätsprinzips begründet: Solange innerstaatliche militärische Auseinandersetzungen keine bedeutenden Effekte auf Nachbarstaaten oder den internationalen Frieden insgesamt hatten, eine gewisse Schwelle also nicht überschritten, galten sie als innere Angelegenheit der Staaten, die keine äußere Einmischung gebot. Zwar wurde dieses Prinzip auch während des Kalten Kriegs durch die Einmischung der Großmächte in Bürgerkriege vielfach missachtet, aber gerade deshalb bedurfte es einer Klärung nach dem Ende der ideologischen Auseinandersetzung. Zudem fehlten den Vereinten Nationen bei der Vielzahl der Konflikte entsprechende Einsatzkräfte, da diese von den Mitgliedstaaten individuell für jeden Einsatz gestellt werden müssen. Die Folge war die Überforderung der Vereinten Nationen durch eine Vielzahl von Konflikten. Den USA fiel es in dieser Situation zu, viele der vom Sicherheitsrat beschlossenen Interventionen und Maßnahmen durchund/ oder anzuführen. Nach den Erfahrungen mit humanitären Interventionen in Somalia (1993) und Haiti (1994) sank die Bereitschaft der Staatengemeinschaft bzw. der USA, als eine der wenigen Mächte mit militärischen Kapazitäten, solche Interventionen durchzuführen, rapide. Das Scheitern der Somalia-Operation 1993 wirkte sich negativ auf Entscheidungen für nachfolgende militärische Interventionen unter dem Dach der Vereinten Nationen aus. So ist gut dokumentiert, dass die westlichen Sicherheitsratsmitglieder und der Generalsekretär der Vereinten Nationen Informationen, die Hinweise auf den bevorstehenden Völker- Sicherheitsrat: Fehlende Kompetenzen für innerstaatliche militärische Interventionen Fehlen von Einsatzkräften <?page no="121"?> 106 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II mord in Ruanda enthielten, mit Blick auf die öffentliche Meinung zurückhielten (Barnett 2003). Die Lösung für diese Probleme bestand erstens in der Weiterentwicklung internationaler Normen für das militärische Eingreifen von Staaten in innerstaatliche Konflikte, wie sie in der Responsibility to Protect (R2P) zum Ausdruck kommt. Zweitens wurden Regionalorganisationen und deren Fähigkeit, friedenserhaltende Maßnahmen durchzuführen, konsequent ausgebaut (vgl. Einheit 14). Die Integration von Staaten in funktionierende Bündnisse, wie in Europa die Aufnahme osteuropäischer Staaten in die EU und in die NATO, wurde integraler Bestandteil einer Sicherheitsstrategie. Die Zurückhaltung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen in den 1990er Jahren lieferte den Anstoß für die Entwicklung der Reponsibility to Protect. Beide Extreme - ein völkerrechtswidriger Einsatz im Fall des Kosovo und der Nicht-Einsatz im Falle eines sich abzeichnenden Völkermords in Ruanda - zeigten, dass die Bedingungen, unter denen der Sicherheitsrat eingreifen sollte, präzisiert werden mussten. Es ging um nicht mehr und nicht weniger als um die Neuverhandlung der Balance zwischen dem Recht von Staaten auf Nichteinmischung und dem Recht der Bevölkerungen auf Schutz. Die R2P definiert den Schutz der Menschenrechte als die Daseinsberechtigung für Staaten und weist ihnen die Hauptverantwortung für den Schutz ihrer Bevölkerung zu. Können oder wollen sie dieser Verantwortung nicht gerecht werden, geht sie an die Staatengemeinschaft über, die das Recht hat, einzugreifen. Responsibility to Protect (R2P) Die wachsende Bedeutung von Regionalorganisationen Die Demokratisierung ganzer Regionen und die damit verbundenen nationalen Selbstbestimmungsprozesse blieben nicht auf die innerstaatliche Ebene beschränkt. Sie hatten wiederum systemweite Effekte und veränderten internationale Beziehungen nachhaltig. Sie wirkten sich beispielsweise auf internationale Normen der Selbstbestimmung auch in Fragen der Bündnisfreiheit aus, auf internationale und regionale Instrumentarien zur Konfliktlösung und auf die Stärkung internationaler Menschenrechts- und Demokratienormen, die von internationalen und regionalen Organisationen offensiv gefördert wurden. Fast alle Regionen bauten das Feld der Regionalorganisationen aus. Sie erwiesen sich in vieler Hinsicht als Lösungen für die drei Herausforderungen, denen sich Staaten in den 1990er Jahren gegenübersahen: Der Herausforderung der stärkeren Integration in Weltmärkte, der Herausforderung der Bildung effektiver Sicherheitsinstitutionen, die den Frieden nach innen beför- 2.10.3 <?page no="122"?> Unit 2 107 d Ie wIchtIGsten Globalen t rends und e ntwIcKlunGen (1990-2015) G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 dern und gleichzeitig einen Sicherheitsrahmen gegen externe Herausforderungen bilden, und einer Nachfrage nach regionalen Instrumenten der Demokratie- und Menschenrechtsförderung in Mitgliedsstaaten (vgl. Einheit 14). Vor diesem Hintergrund entwickelten existierende Organisationen ihre Mandate und es gründeten sich eine Reihe neuer Regionalorganisationen. Viele der neuen Organisationen verstehen sich dabei nicht mehr allein als Instrumente der wirtschaftlichen Integration- - die stark forciert wurde- -, sondern zunehmend als durch eine Regionalcharta verfassungsmäßig konstituierte Organisationen. Dazu gehört beispielsweise die Afrikanische Union, die sich 1999 aus der Organisation für Afrikanische Einheit entwickelt hat, in Lateinamerika die Union Südamerikanischer Nationen (UNA- SUR) und in Südostasien die ASEAN, die ebenfalls 2008 eine Charta verabschiedet hat (vgl. Einheit 13). Auf dem amerikanischen Kontinent entstand die NAFTA als weltweit größte Freihandelszone zwischen den USA, Kanada und Mexiko. Diese Organisationen entwickelten auch in Form des Interregionalismus neue regionenübergreifende Beziehungen. In Europa änderte die NATO als einziges verbliebenes globales Militärbündnis ihr Sicherheitskonzept von einem Konzept der kollektiven Verteidigung in ein Konzept der kollektiven Sicherheit. Ihre Aufgabe besteht darin, die Mitglieder nicht mehr nur gegen äußere Angriffe zu verteidigen, sondern sie versteht sich als umfassendere Regionalorganisation, die Aufgaben der kollektiven Friedenssicherung in Europa übernimmt. Dazu hat sie auch das Mandat für Einsätze außerhalb des NATO-Gebietes erhalten. Seither wurde die NATO mehrmals vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mandatiert, solche Einsätze durchzuführen, beispielsweise in Afghanistan. Parallel dazu entwickelte die EU mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ein Instrumentarium und gemeinsame Streitkräfte. Als einzige gesamteuropäische Institution entwickelte sich die KSZE zu einer neuen Organisation in Form der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Ihre Schwerpunkte bilden die Demokratieförderung und der Minderheitenschutz in Osteuropa. Für die osteuropäischen Staaten ersetzte der Wirtschafts- und Sicherheitsrahmen der EU und der NATO die nicht mehr existierenden Strukturen des Warschauer Pakts. Beginnend mit der Aufnahme von Polen, Tschechien und Ungarn in die NATO ab 1997 traten mehr und mehr osteuropäische Staaten der EU oder der NATO oder beiden bei. Damit war für diese Staatengruppe wiederum ein institutioneller Sicherheitsrahmen auf regionaler Ebene geschaffen. Gleichzeitig wurden durch Partnerschaftsabkommen Staaten wie Russland und die Ukraine stärker assoziiert. Die Integration und politische Anbindung immer neuer Staaten- - mit Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Georgien sowie der EU <?page no="123"?> 108 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II und der Ukraine-- kam mit der Ukraine-Krise zu einem vorläufigen Ende. An dem Punkt der Assoziation der Ukraine machte Russland unter Präsident Wladimir Putin deutlich, dass es eine weitere Anbindung als Bedrohung von Russlands Sicherheit wertet. Im Juni 2014 annektierte Russland die Krim. Ein Referendum unter der Bevölkerung besiegelte die Annexion. Die Ukraine-Krise eskalierte 2014 in einen Krieg zwischen von Russland unterstützten separatistischen Gruppen in der Ostukraine und der ukrainischen Regierung. Beitrittskandidaten NATO-Beitritt EU-Beitritt Polen 1999 2004 Tschechien 1999 2004 Ungarn 1999 2004 Bulgarien 2004 2007 Estland 2004 2004 Lettland 2004 2004 Litauen 2004 2004 Rumänien 2004 2007 Slowakei 2004 2004 Malta 2004 Slowenien 2004 2004 Zypern 2004 Kroatien 2009 2013 Mazedonien 2005 (Beitrittskandidat) Türkei seit 1952 2005 (Beitrittskandidat) Montenegro 2015 (Beitrittskandidat) 2012 (Beitrittskandidat) Albanien 2009 2014 (Beitrittskandidat) Serbien 2015 (Beitrittskandidat) Die Integration der osteuropäischen Staaten in NATO und EU Tab. 2.13 <?page no="124"?> Unit 2 109 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 d emoKratIsIerunGstrends , b ürGerKrIeGe und f rIedenssIcherunG Demokratisierungstrends, Bürgerkriege und Friedenssicherung im Nahen und Mittleren Osten und Südwestasien Die Region des Nahen und Mittleren Ostens bzw. ihre politischen Eliten schienen zunächst gegen Demokratisierungstrends nach westlichem Vorbild immunisiert. Im Gegenteil schien es, dass insbesondere über den Iran und Afghanistan in Südwestasien eine Bastion entstand, die sich explizit gegen eine kulturelle Verwestlichung richtete. Dennoch blieb die Region von den globalen Trends der Demokratisierung und der Bürgerkriege nicht ausgespart. Im Gegenteil scheint sich-- nach schweren Konflikten zwischen 2003 und 2011-- ein vorsichtiger Demokratisierungstrend selbst in Südwestasien durchzusetzen. Dieser wurde, obwohl die USA in der Region sehr kritisch betrachtet 2.11 In Südostasien stellte sich eine ähnliche Frage wie in Europa: Wie sollte mit den ehemaligen Verbündeten der Sowjetunion verfahren werden, damit sie keinen Instabilitätsfaktor darstellen? Die ASEAN wählte einen recht ähnlichen Weg wie Europa. Sie integrierte in den Jahren 1995-1997 die sozialistischen Staaten Vietnam, Laos und Kambodscha und das bis dahin isolierte Myanmar in den Staatenverbund. Anders als in Europa existierte zu diesem Zeitpunkt in der ASEAN kein Demokratiekriterium für die Aufnahme weiterer Mitglieder. Während die Integration die Region sicherheitspolitisch stabilisierte, führten massive Menschenrechtsverletzungen in Myanmar das Bündnis 2007 in eine Krise. Das Ende des Ost-West-Konflikts war eine zentrale Antriebskraft bei der Gründung einer Reihe von regionalen Verbünden, über die die ASEAN-Mitglieder versuchten, zentrale Akteure, wie Australien, China, die EU, Japan, Südkorea, Taiwan, Russland und die USA und einige andere Staaten, wirtschafts- und sicherheitspolitisch einzubinden. Ansonsten bedeutete das Ende des Ost-West-Konflikts in Asien keinen fundamentalen Umbruch in den internationalen Beziehungen wie beispielsweise in Afrika. Für die vormals westlich orientierten Staaten Japan, Südkorea und Taiwan änderte sich wenig in Bezug auf ihre Einbettung in Allianzstrukturen. Die USA blieb der wichtigste Verbündete. Die sowjetisch-amerikanische Rivalität wurde durch diejenige zwischen einem aufstrebenden China (vgl. Einheit 11) und Japan bzw. den USA ersetzt. Allein für Nordkorea änderte sich die Situation ähnlich dramatisch wie für die osteuropäischen Staaten, da es mit der Sowjetunion einen seiner wichtigsten Verbündeten und Sicherheitsgarantien verlor. Dies ist ein wichtiger Erklärungsfaktor für das Streben Nordkoreas nach einer nuklearen militärischen Kapazität (Einheit 10). Wirtschaftlich entwickelte sich Asien ab Mitte der 1990er Jahre zu einem zentralen Knotenpunkt internationalen Handels. In Bezug auf sein Wirtschaftswachstum war es sehr viel dynamischer als Europa und Nordamerika. Dieser Wachstumsschub wurde nur kurzzeitig durch die Finanzkrise 1997-1999 unterbrochen, die ganz Asien besonders hart traf. Integration und wirtschaftliche Entwicklung in Asien <?page no="125"?> 110 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II wurde, paradoxerweise genau durch den Unilateralismus der USA gefördert und in Interaktion mit dem Iran ansatzweise durchgesetzt. In Südwestasien befanden sich mit dem Irak und dem Iran zunächst zwei, ab 1996 mit Afghanistan drei Staaten in unmittelbarer Nachbarschaft, deren Regierungen zwar in direkter Konkurrenz um die Führerschaft in der Region standen, die aber in ihrer anti-westlichen Haltung geeint waren. Auf einer gesellschaftlichen Ebene waren in Afghanistan nach dem Abzug der Sowjetunion 1989 und nach einem Bürgerkrieg 1996 die Taliban an die Macht gekommen und etablierten ein Modell einer sunnitischen Theokratie. Diese stand in expliziter Konkurrenz zum iranischen Modell einer schiitischen Theokratie. Der Irak isolierte sich durch die Invasion Kuweits 1990. Für alle drei war der Westen, symbolisiert durch die USA, das Feindbild. Der Iran und Afghanistan trugen dabei beide erheblich zur Transnationalisierung des Widerstands gegen die USA bei, indem sie terroristische Bewegungen, die sich gegen das mit den USA stark assoziierte Israel und die militärische Präsenz der USA im Nahen und Mittleren Osten richteten, unterstützen, wie die Hisbollah-Milizen (Iran) oder Al-Qaida (Taliban). Auf einer internationalen Ebene zielten die Bemühungen der Vereinten Nationen und wesentlich der USA auf eine Eindämmung des Irak und die Terrorismusbekämpfung ab. Insbesondere die US-Politik verfolgte das Ziel, den Irak und Iran einzudämmen (Strategie der doppelten Eindämmung). Diese wurden als weit größere Bedrohung der US-Interessen in der Region betrachtet als Afghanistan. Der Irak bedrohte mit seinem Anspruch auf die Kontrolle des Golfs die Erdölinteressen der USA, der Iran stellte in den Augen der USA sowohl eine Bedrohung Israels als auch der arabischen Nachbarn dar. In Bezug auf Afghanistan bestand die US-Politik in erster Linie darin, die Unterstützung von Al-Qaida durch die Taliban zu unterbinden. Al-Qaida entwickelte sich unter diesen Bedingungen zu der transnationalen terroristischen Organisation, die den USA am kontinuierlichsten Schaden zufügte. Im Laufe der 1990er Jahre kam es- - in Verbindung mit den Interventionen der USA während des Zweiten Golfkriegs (1991) und in Somalia (1993)- - zu terroristischen Anschlägen auf militärische Einrichtungen der USA in Afrika. Die USA verstärkten daraufhin ihre Maßnahmen gegen Terrorgruppen und griffen unter anderem 1998 Stellungen in Afghanistan und im Sudan an. Afghanistan wurde mit schärferen Sanktionen belegt und zur Auslieferung von Osama bin Laden, dem Anführer von Al-Qaida, aufgefordert. Die Eskalation erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt schließlich mit den Terrorangriffen auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001, bei denen 3000 Menschen starben. <?page no="126"?> Unit 2 111 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 d emoKratIsIerunGstrends , b ürGerKrIeGe und f rIedenssIcherunG Nach den Anschlägen radikalisierte sich die US-Außenpolitik in Bezug auf die Region. Die strategische Zielsetzung änderte sich- - unter Ausnutzung der militärischen Überlegenheit der USA (unipolares Moment) von einer Eindämmung zu einer Neuordnung der Region (Greater Middle East Initiative). Die Afghanistan-Invasion, die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen unter dem Eindruck der 9/ 11-Anschläge mandatiert und an der die NATO beteiligt war, entmachtete die Taliban. 2003 folgte die Invasion des Irak durch die USA und Großbritannien. Die Notwendigkeit dafür wurde mit einem konstruierten Bedrohungsszenario gerechtfertigt, das Afghanistan, den Irak und den Iran als Schurkenstaaten darstellte, die das Risiko der Weitergabe von Massenvernichtungswaffen an terroristische Bewegungen bargen. Die Intervention hatte nicht das erforderliche Mandat der Vereinten Nationen. Mit der Etablierung von Übergangsverwaltungen in Afghanistan (Verwaltung durch die International Stabilization Force for Afghanistan, ISAF) und im Irak (Verwaltung durch die USA und Großbritannien) verlagerte sich der Konflikt sowohl in Afghanistan als auch im Irak auf die innerstaatliche Ebene. Hier standen sich diverse ethnisch-religiöse Gruppen und Fraktionen einerseits gegenüber und kämpften andererseits zum Teil gemeinsam gegen die USA und ihre Verbündeten. Auf einer regionalen Ebene verschwanden mit den militärischen Interventionen in Afghanistan 2001 und im Irak 2003 zwar Irans wichtigste ideologische und politische Konkurrenten in der Region, gleichzeitig waren die USA aber nun in beiden Nachbarstaaten militärisch präsent. Diese Konstellation führte zur Eskalation der Situation zwischen dem Iran und den USA. Der Iran kündigte daraufhin an, ein Atomwaffenprogramm zu verfolgen, was zur internationalen Überwachung führte und ab 2009 zu internationalen Sanktionen gegen Iran. Längerfristig erlaubten es jedoch sowohl die Entwicklungen im Irak als auch in Afghanistan, dass die Interaktion zwischen dem Iran und den USA eine positivere Wendung nahm. Dies waren- - trotz aller Rückschritte und der Menge an zivilen und militärischen Opfern-- die Fortschritte der Übergangsverwaltungen in Irak und in Afghanistan bei der Etablierung pluraler Strukturen und die Anerkennung der Interessen des Iran durch die internationalen Verhandlungen über ein ziviles Atomprogramm. Der Iran profitierte von der Demokratisierung im Sinne einer Pluralisierung beider Staaten durch die Stärkung der Rechte der schiitischen Bevölkerungsgruppen. Insgesamt wurde seine regionale Stellung dadurch gestärkt. Alles in allem stabilisierte sich Südwestasien bis 2011. Bedingt durch die wirtschaftliche Rezession, die durch die Euro-Krise ab 2009 bedingt war und die arabischen Staaten besonders traf, veränderten Von Eindämmung zu Neuordnung <?page no="127"?> 112 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II sich die regionalen Bedingungen für eine Demokratisierung. Ab 2011 war die gesamte Region des Nahen und Mittleren Ostens weniger immun gegen Demokratisierungstrends, die sich früher in Osteuropa, Afrika und Asien gezeigt hatten. Diese Demokratisierung ging, ähnlich wie in Afrika, mit sich transnationalisierenden Bürgerkriegen einher. Die Selbstverbrennung eines jungen Mannes in Tunesien aus Protest gegen die Regierung und Polizeiwillkür löste einen Proteststurm aus, der innerhalb von einem Monat Tunesiens langjährigen Herrscher Abidine Ben Ali zum Rücktritt zwang. Von Tunesien setzte sich die Demokratisierungsbewegung in Marokko, Algerien, Ägypten und weiter auf der arabischen Halbinsel fort. In Bahrain intervenierte Saudi-Arabien zum Schutz des dortigen Herrscherhauses. Wochenlange Proteste führten schließlich zum Sturz von Ägyptens Präsident Hosni Mubarak. In Libyen schlug Muammar al- Gaddafi, anders als seine Amtskollegen, zurück. Er nutzte das libysche Militär zur Niederschlagung von Protesten. Auch sein syrischer Amtskollege Bashar al Assad wählte die Option der militärischen Unterdrückung der Opposition. In Syrien entwickelte sich ein Bürgerkrieg, der sich durch die Einmischung der umliegenden Staaten transnationalisierte und zu einer massiven Flüchtlingswelle führte. Der Bürgerkrieg in Syrien bot einigen aus dem Pluralisierungsprozess im Irak ausgeschlossenen sunnitischen Gruppierungen die Gelegenheit, mit der Gründung der Milizengruppe „Islamischer Staat“ auf einen eigenen Territorialstaat in Form eines Kalifats militärisch hinzuarbeiten. Dies führte auch zur Destabilisierung umliegender Staaten. Trotz der dramatischen Entwicklungen in dieser Region lassen sich hier sehr gut die beschriebenen Trends der Demokratisierung, der damit verbundenen Bürgerkriege und des Einsatzes eines neuen Instrumentariums der Friedenssicherung erkennen, das sehr viel stärker in die Souveränität von Staaten eingreift. Demokratisierung, Bürgerkriege, Friedenssicherung Aufstieg der Schwellenländer Die stärkere Regionalisierung der internationalen Politik stellt eine Herausforderung insbesondere in Bezug auf die großen Schwellenländer dar, die aufgrund der Größe ihres Marktes kaum auf regionale Integration angewiesen sind. Aus der Gruppe der Schwellenländer stiegen ab Mitte der 2000er Jahre drei Staaten besonders auf, die durch ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum ihre Position in der internationalen Politik merklich verbessern konnten: China, Brasilien und Indien. Sie formierten sich, zusammen mit 2.12 <?page no="128"?> Unit 2 113 a ufstIeG der s chwellenländer G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II Einheit 2 Russland, 2006 als die BRIC-Staaten. Diese Gruppe tritt mit einer umfassenden Reformagenda für internationale Organisationen an und versucht konsequent, die Interessen, Normen und Werte der Staaten der ehemaligen Dritten Welt international stärker zu vertreten. Dazu gehören Forderungen nach einer Reduktion globaler Ungleichheit und der besseren Repräsentation der Interessen nicht-westlicher Staaten sowie eine Reform der Struktur des VN-Sicherheitsrats. Der Aufstieg der BRIC-Staaten gilt als eine der größten Herausforderungen für die internationale Politik und wird deshalb in Einheit 11 gesondert behandelt. 1. Beschreiben Sie den Prozess der Dekolonisation über Zeit und Raum. 2. Was für eine Art von Konflikt lag der Spaltung des Weltkommunismus zugrunde? 3. Nennen Sie drei Organisationen, die sich explizit als blockfreie Organisationen verstehen. 4. Benennen Sie stichpunktartig, welche Trends und Entwicklungen der internationalen Beziehungen folgende Konflikte/ Kriege beeinflusst haben: Kapitel 1 Angola- und Mosambik-Krieg (vor allem ab 1975) Kapitel 2 Afghanistan-Invasion (1979) 5. Inwiefern sind die Rüstungswettläufe zwischen den USA und der Sowjetunion einerseits und der Flottenrüstungswettlauf der Zwischenkriegszeit miteinander vergleichbar? Worin unterscheiden sie sich? 6. Welche Faktoren beeinflussten den Zusammenbruch der Sowjetunion? 7. Warum setzte sich der Demokratisierungstrend im Nahen Osten erst so spät durch? Übungen Der Übergang in eine neue Ordnung der Welt ist durch großflächige Prozesse der Demokratisierung begleitet, die zeitlich versetzt fast alle Weltregionen erfassen. In vielen Staaten wird der Demokratisierungsprozess durch Bürgerkriege begleitet. Die neue Ordnung ▶ zeichnet sich auf einer institutionellen Ebene durch die zunehmende Ausdifferenzierung internationaler Organisationen aus, die globaler in ihrer Ausrichtung werden, umfangreichere Aufgaben wahrnehmen und eine hohe Eingriffstiefe in Staaten besitzen. ▶ zeichnet sich durch die Neuetablierung und Weiterentwicklung regionaler Organisationen aus, an die zum Teil substantielle Entscheidungskompetenzen delegiert werden und die sowohl die Herausforderungen der Globalisierung auffangen als auch als Konfliktlösungsinstrumente an Bedeutung gewinnen. Merke <?page no="129"?> 114 G lobalGeschIchte der InternatIonalen b ezIehunGen II 8. Zeigen Sie am Beispiel Brasiliens, zu welchen globalen Trends dieser Staat gehörte. Alter, Karen J. (2014): The new Terrain of International Law: Courts, Politics, Rights. Princeton University Press. Altrichter, Helmut von; Wentker, Hermann (2010): Der KSZE-Prozess. München: Oldenbourg. Barnett, Michael (2003): Eyewitness to a Genocide. 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Inhalt 3.1 Internationale Politik--= Internationales Regieren ohne Staat 116 3.2 Internationale Politik und internationale Beziehungen 118 3.3 Der Gegenstandsbereich internationaler Politik 120 3.4 Brauchen wir Theorien der internationalen Beziehungen? 123 3.5 Warum Theorien? -- Funktionen von Theorien 124 3.6 Warum gibt es keine Theorienverdrängung? 126 3.7 Große Debatten-- Pragmatischer Eklektizismus 131 Übungen 131 Verwendete Literatur 132 Ausgehend von dem historischen Überblick der Einheiten 1 und 2 beantwortet diese Einheit die grundlegende Frage: Was sind internationale Beziehungen? Das Kapitel unterscheidet zwischen dem grundlegenden Charakteristikum internationaler Politik im Vergleich zu innerstaatlicher Politik, definiert den Gegenstandsbereich und erläutert, warum sich die Disziplin mit so vielen Theorien auseinandersetzt. Was sind internationale Beziehungen? Basierend auf den vorherigen Einheiten lassen sich darauf bereits einige Antworten finden, beispielsweise: Internationale Politik handelt vom Verhalten der mächtigen Staaten, oder: Sie befasst sich mit großen Kriegen, stellt die Frage nach globaler Ordnung oder behandelt globale Trends. Diese Einheit nähert sich der Frage „Was sind internationale Beziehungen? Und was ist internationale Politik? “ auf eine systematische Art. Eine erste Antwort zielt darauf ab, internationale Poli- Überblick Systematische Annäherung an internationale Politik als Gegenstand <?page no="131"?> 116 w as sInd InternatIonale b ezIehunGen ? tik von Politik ganz allgemein zu unterscheiden. Eine zweite Antwort unterscheidet zwischen internationaler Politik als Interaktion zwischen Staaten und internationalen Beziehungen als System. Eine dritte Antwort schließlich zielt darauf ab, den Gegenstandsbereich von internationaler Politik zu definieren, also die Phänomene, die wir im Bereich der internationalen Beziehungen verorten und politikwissenschaftlich untersuchen. Internationale Politik = Internationales Regieren ohne Staat Internationale Politik wird hier definiert als Politik unter den Bedingungen der Anarchie. In dieser Definition geht es zunächst darum, deutlich zu machen, was internationale Politik von Politik im Allgemeinen, also in der Regel von Politik innerhalb eines Staates, unterscheidet. Sie differenziert hingegen noch nicht zwischen internationaler Politik und internationalen Beziehungen (vgl. auch Schimmelfennig 2012). Internationale Politik ist Politik unter den Bedingungen der Anarchie, insofern sich das internationale System dadurch auszeichnet, dass es keine zentralisierte Instanz mit einem allgemein anerkannten Gewaltmonopol gibt. Es fehlen „allgemein akzeptierte Institutionen mit politischer Vollzugsgewalt“ (Berg-Schlosser/ Stammen 2013: 226). „Anarchie“ beschreibt hier also die Abwesenheit einer solchen Institution, nicht Chaos. Zwar gibt es selbstverständlich Akteure, die den Anspruch erheben, Entscheidungen zu treffen, die dann für alle gelten sollen, aber kein uns bekannter Akteur der internationalen Politik hat die Kompetenz, Entscheidungen verbindlich zu treffen, eine absolute Folgebereitschaft zu erzeugen oder diese notfalls unter Einsatz von Gewalt durchzusetzen. Internationale Politik ist daher permanent mit dem Problem konfrontiert herauszufinden, wer überhaupt ein Mandat hat, bestimmte Entscheidungen zu treffen, und wie einmal getroffene Entscheidungen Verbindlichkeit in dem Sinne erlangen, dass alle Beteiligten diese befolgen. Die Abwesenheit einer zentralstaatlichen Instanz charakterisiert die internationalen Beziehungen in ihrer Erscheinung ganz grundlegend. Sie ist Ergebnis einer Entwicklung, die sich mit der Ausbildung von Nationalstaaten mit einem konkurrierenden Anspruch auf ein Gewaltmonopol eingestellt hat, die also mit der Herausbildung von Staaten verknüpft ist. Historisch betrachtet gab es immer wieder Hegemonien, wie das Habsburger Reich oder Frankreich, die sehr wohl beanspruchten, in ihrem Herrschaftsgebiet Regeln zu setzen und durchzusetzen, wie während des Wiener Kongresses (vgl. Einheit 1). Nichtsdestotrotz ist es heute eine unbestreitbare Tatsache, dass Staaten keine ihnen prinzipiell übergeordnete Instanz anerkennen. Dies wird daran deutlich, dass-- auch das hat der historische Über- 3.1 Historische Entwicklung Konkurrierender Anspruch auf ein Gewaltmonopol <?page no="132"?> 117 w as sInd InternatIonale b ezIehunGen ? I nternatIonale p olItIK = I nternatIonales r eGIeren ohne s taat Einheit 3 blick der Einheiten 1 und 2 gezeigt- - internationale Organisationen keine Befugnisse zur Durchsetzung von kollektiv geschlossenen Entscheidungen haben. Die Durchsetzung bleibt nach wie vor den Staaten selbst überlassen. Selbst das Völkerrecht, das den Anspruch erhebt, die internationalen Beziehungen zu regeln, bindet mit wenigen Ausnahmen nur diejenigen, die von sich aus diese Regelungen als verbindlich anerkennen. Und internationalen Organisationen fehlt die Fähigkeit, Regelungen zwangsweise durchzusetzen. Mit der Emergenz der Nationalstaaten entstand auch das völkerrechtliche Verständnis von Staaten als Souveräne der internationalen Politik. Als politische Akteure sind Staaten demnach eigenständige Einheiten, die sich vor allem über ein Recht auf ihre Unversehrtheit und ein Recht auf die Nicht-Einmischung anderer in ihre inneren Angelegenheiten auszeichnen. Der Begriff der Souveränität erstreckt sich demnach sowohl über innenwie außenpolitische Bereiche und kann sowohl als Pflicht als auch als Anspruch der Staaten gegenüber anderen betrachtet werden. Anarchie bedeutet in dieser Hinsicht, dass im internationalen Staatensystem jeder Staat seine Souveränität voll und ganz ausschöpft, ohne diese einer übergeordneten Instanz abzutreten. Anarchie in der internationalen Staatengemeinschaft und die Souveränität von Staaten Diese Aussage bleibt auch vor dem Hintergrund der Existenz der Europäischen Union (EU) wahr, also einer Institution, die bereits einige staatliche Charakteristika aufweist. Wir wissen natürlich, dass es durchaus möglich ist, sowohl verbindliche Entscheidungen in der internationalen Politik zu treffen als auch eine Autorität zu schaffen, die diese durchsetzen kann. Aber auch hier gilt: Möglich wird dies erst dadurch, dass sich Staaten freiwillig dazu entschlossen haben, einer internationalen Organisation Souveränitätsrechte zu übertragen. In diesem Fall treffen die Staaten gemeinsam Entscheidungen, die dann für sie als verbindlich gelten. Auch bei der EU fehlt jedoch die Fähigkeit, auf EU-Ebene getroffene Entscheidungen gegen den Willen der Mitgliedsstaaten durchzusetzen. Im Bereich der wirtschaftlichen Integration haben die EU-Kommission und der Gerichtshof der EU zwar die Möglichkeit, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen einzelne Mitgliedsstaaten einzuleiten, das Geldstrafen nach sich ziehen kann. Aber weder die EU noch tatsächlich die Mitgliedsstaaten können eine Umsetzung der EU-Gesetzgebung erzwingen. Sie sind auf die freiwillige Folgebereitschaft der Mitglieder angewiesen. Das gilt noch mehr für die Vereinten Nationen: Auch sie haben kein Gewaltmonopol. Sie sind die höchste Interessenvertretung der Staaten, fast alle Staaten der Welt sind Mitglied (mit Ausnahmen wie dem Heiligen Stuhl Fehlendes Gewaltmonopol der EU … … und der Vereinten Nationen <?page no="133"?> 118 w as sInd InternatIonale b ezIehunGen ? und Palästina, die Beobachterstatus haben). Sie entwickeln und verabschieden Politikprogramme, die die Staaten umsetzen sollen. Aber diese tun dies in der Regel freiwillig und können nicht gezwungen werden. Der Sicherheitsrat kann zwar Zwangsmaßnahmen beschließen und diese gegen den Willen eines Staates durchsetzen, dies erfordert aber wiederum die Kooperation der Mitgliedstaaten, da die Vereinten Nationen nicht über eigene Truppen verfügen können (Gehring 2004). Auch die Vereinten Nationen sind demnach mit dem Problem konfrontiert, dass sie kein Gewaltmonopol bzw. keine Exekutivkompetenz haben. Damit können wir die Frage, was internationale Politik ist beziehungsweise was internationale Beziehungen sind, wie folgt beantworten: Internationale Politik ist Politik unter den Bedingungen der Anarchie. Anarchie wird dabei verstanden als die Abwesenheit einer zentralstaatlichen Autorität oder eines Souveräns mit einem legitimen Gewaltmonopol. Internationale Politik I Internationale Politik und internationale Beziehungen Internationale Politik hat aber auch noch eine weitere Bedeutung, in welcher sie häufig von internationalen Beziehungen unterschieden wird (Lemke 2007; Berg-Schlosser/ Stammen 2013). Internationale Politik umfasst nach einem engeren Verständnis außenpolitisches Handeln zwischen zwei staatlichen oder sonstigen außenpolitisch relevanten Akteuren. Diese Handlungen sind dadurch als außenpolitisches Handeln definiert, dass sie regelmäßig sind bzw. sich wiederholen, dass sie in der Regel Aktionen darstellen, die eine Reaktion hervorrufen, und dass sie sich auf einen politisch relevanten Bereich jenseits des Staates beziehen. Internationale Politik II Der Sinn dieser Definition ergibt sich daraus, dass ein solchermaßen definiertes Handeln darauf angelegt ist, einen Beitrag zur Herausbildung internationaler Beziehungen zu leisten. Sich nicht wiederholende Handlungen leisten diesen Beitrag ebenso wenig wie eine außenpolitische Handlung, die keine Reaktionen hervorruft, oder eine Handlung, die keinen politischen Bezug aufweist. Die Entscheidung einer Regierung, ihre eigene Landessprache durch eine einmalige Maßnahme auch in anderen Ländern zu fördern, wäre demnach nicht Außenpolitik. Erstens ist diese Maßnahme nicht regelmäßig und 3.2 <?page no="134"?> 119 w as sInd InternatIonale b ezIehunGen ? I nternatIonale p olItIK und InternatIonale b ezIehunGen Einheit 3 berührt nicht unbedingt politische Entscheidungen anderer Regierungen. Es ist unwahrscheinlich, dass Regierungen überhaupt auf eine solche Maßnahme reagieren. Stellen wir uns aber vor, dass Russland beschließt, die Förderung russischer Gemeinschaften im Ausland auf Dauer zu verfolgen. Diese Entscheidung würde die Autorität im Bereich der Sprachenpolitik anderer Staaten berühren. Sie hätte zwangsläufig Reaktionen zur Folge und sie könnte sich auf die internationalen Beziehungen auswirken. Viele wundern sich beispielsweise angesichts der Flüchtlingskrisen, warum das Thema der internationalen Migration nicht schon lange Thema der Internationalen Beziehungen ist. Die obige Definition macht dies nachvollziehbar: Solange Regierungen im Bereich der Migration steuerungsfähig waren und daraus entstehende Herausforderungen ohne internationale Zusammenarbeit bearbeiten konnten, war sie für die Internationalen Beziehungen uninteressant. Weder bildete Migration regelmäßige Interaktionen zwischen Regierungen heraus, noch war deren politische Steuerungsfähigkeit bedroht. Erst seit das Ausmaß von Migration regelmäßige Interaktionen zwischen Regierungen erfordert und Kooperation zur Lösung notwendig macht, ist sie aus disziplinärer Sicht ein Phänomen, das für Internationale Beziehungen relevant ist. Internationale Beziehungen bezeichnen die Gesamtheit der Transaktionen zwischen mehreren oder allen Staaten, nicht-staatlichen Akteuren und internationalen Organisationen und alle grenzüberschreitenden Handlungen, die ein dauerhaftes Handlungsgeflecht herstellen. Internationale Beziehungen Internationale Beziehungen müssen nach dieser Definition nicht unbedingt einen politischen Bezug aufweisen, aber zweifelsohne werden sie für die Disziplin erst interessant, wenn sie diesen Bezug haben. Den Zusammenhang zwischen internationaler Politik und internationalen Beziehungen macht die Definition von Ernst-Otto Czempiel deutlich: Er definiert internationale Politik als „das Produkt außenpolitischer Aktionen und Reaktionen-[…], die über Zeit aufrecht erhalten werden und so bestimmte Muster ausbilden, die dann als Beziehungen zu gelten haben“ (Czempiel 2004: 3). Der Unterschied mündet also im Endeffekt in einer Unterscheidung zwischen regelmäßigen außenpolitischen Handlungen (internationale Politik) und einem komplexen, dauerhaften Handlungsgeflecht, das eine systematische Beziehung zwischen Nationalstaaten und transnationalen Akteuren darstellt (internationale Beziehungen). <?page no="135"?> 120 w as sInd InternatIonale b ezIehunGen ? Internationale Politik - Internationale Beziehungen Internationale Politik bezeichnet in einem engeren Sinne regelmäßige außenpolitische Handlungen, die nach dem Muster der Aktion und Reaktion verlaufen und sich auf einen politisch relevanten Bereich jenseits des Staates beziehen. Internationale Beziehungen bezeichnet das sich daraus bildende Handlungsgeflecht zwischen Akteuren. „Internationale Beziehungen“ kann sich sowohl auf den Gegenstand als auch die Disziplin beziehen. Die jeweilige Bedeutung wird durch die Schreibweise erkennbar: Der Gegenstand wird durch die Kleinschreibung des Adjektivs angezeigt (internationale Beziehungen), für die Disziplin wird die Großschreibung des Adjektivs markiert (Internationale Beziehungen). Merke Der Gegenstandsbereich internationaler Politik Die dritte Antwort auf die Frage, was internationale Politik ist, besteht darin festzulegen, womit sich eine Politikwissenschaftlerin 1 beschäftigt, wenn sie Internationale Beziehungen studiert. Was in den Gegenstandsbereich der Internationalen Beziehungen (IB) fällt, ist in der Disziplin nicht ganz unumstritten. Lange Zeit gab es die Auffassung, dass sich die Disziplin der Internationalen Beziehungen durch die Beschäftigung mit bestimmten Themen auszeichnen müsse, die den Gegenstand der IB definieren, und gewissermaßen „typisch“ für internationale Beziehungen bzw. Politik sind. Karl Deutsch definierte den Gegenstand Internationaler Beziehungen entsprechend entlang von insgesamt zehn Forschungsthemen, die den Untersuchungsgegenstand jeweils umrissen. Dazu gehörten „Nation und Welt“, „Krieg und Frieden“, „internationale Politik und internationale Gesellschaft“ oder „Freiheit und Unterdrückung“. Lange Zeit wurde die Beschäftigung mit dem Problembereich „Krieg und Frieden“ als zentral betrachtet, diese Engführung wurde von Rittberger und Hummel mit Blick auf andere zentrale Themen- - wie Außenpolitik, der Forschung über Regionen oder einzelne Politikfelder wie Wirtschaftspolitik-- verworfen (1990: 19 f.). Viele Einführungen betrachten den Bereich der „Außenpolitik“ als den zentralen Gegenstand der internationalen Beziehungen (Berg-Schlosser/ Stammen 2013: 228). Insofern in solchen Definitionen eine Trennung zwischen der hohen Sicherheitspolitik und den „weniger wichtigen“ Politikfeldern wie Wirtschaft, Umwelt oder Menschenrechte angelegt ist, wurden diese Definitionen des Gegenstandsbereichs auch heftig kritisiert. Dies ist vor 1 Bei allen Personenbezeichnungen sind stets beide Geschlechter gemeint, auch wenn nur eine Form verwendet wird. Die Verwendung erfolgt zufällig. 3.3 Krieg und Frieden als zentraler Problembereich? <?page no="136"?> 121 w as sInd InternatIonale b ezIehunGen ? d er G eGenstandsbereIch InternatIonaler p olItIK Einheit 3 allem vor dem Hintergrund der Globalisierung bedeutend, in der sich mehr und mehr Politikfelder de-nationalisieren (Zürn 2002) und für internationale Politik relevant werden, wie Migration oder Menschenrechte. Andere schlugen als Gegenstand Phänomene vor, die sich entsprechend unterschiedlicher Akteursklassen und Interaktionsmuster gruppierten, um politische Interaktionen jenseits des Staates zu erfassen. Im Rückgriff auf Keohane und Nye (1972) klassifiziert Lothar Brock beispielsweise Akteure des internationalen Systems, wie supranationale Organisationen, internationale Organisationen und Bündnisse, gesellschaftliche Akteure und gouvernementale Akteure. Grenzüberschreitende Gemeinschaftsprozesse, in denen Kompetenzen auf ein neues übergeordnetes politisches Zentrum verlagert werden, wie zum Beispiel in der EU, sind demnach supranationale Politik. Politische Prozesse zwischen supranationalen Organisationen, Staatengruppen, internationalen Organisationen und Bündnissen, wie beispielsweise die Beziehungen zwischen der EU und der NATO fallen in den Bereich der multinationalen Politik. Die Einwirkung von nicht-staatlichen Akteuren wie Parteien, Kirchen, Interessengruppen und transnationalen Konzernen auf andere Regierungen, internationale Organisationen und Staatengruppen zählen zu der transnationalen Politik. Politik zwischen einzelnen Instanzen des politischen Systems mehrerer Länder, beispielsweise der Umweltbürokratien, ist transgouvernementale Politik (Mohr/ Claußen 1997: 615; Knapp/ Krell 2004). So „plastisch“ das vor uns entstehende Bild von internationaler Politik auch sein mag, so umstritten ist es gleichzeitig. Der Kern der Internationalen Beziehungen könne nicht darin liegen, so Ernst-Otto Czempiel (1981: 127), lediglich die Akteure und ihre Beziehungen untereinander zu bestimmen. Eine solche Konventionalität von Kategorien und Prozessen verdränge „das Nachdenken über den Gegenstand“ und zeige lediglich, dass der Disziplin das „Problembewusstsein entfallen“ (ebenda) sei. Czempiel sah in der Klassifizierung nach Politikfeldern und ihrer jeweiligen Kooperationsmuster und Kooperationswahrscheinlichkeiten eine Antwort auf die Frage. Als zentrale Politikfelder identifizierte er internationale Sicherheit, Wirtschaft und Herrschaft (darunter fallen auch Menschenrechte). Inzwischen ist diese Diskussion weitgehend verstummt und das Feld hat sich mittlerweile weit ausdifferenziert. Eine neuere Debatte dreht sich weniger um den Unterschied zwischen internationaler Politik und internationalen Beziehungen oder den Gegenstandsbereich, als vielmehr um die Frage, inwiefern überhaupt noch von internationaler Politik oder internationalen Beziehungen gesprochen werden sollte. Damit verbinde sich- - so die Kritiker- - immer noch eine staatszentrierte Analyse, die angesichts der Vielzahl von Akteuren, die internationale Politik heute betreiben, und dem Verlust der Unterscheidung nach Akteursklassen und Interaktionsmustern Klassifizierung nach Politikfeldern, internationalen Kooperationsmustern und Kooperationswahrscheinlichkeiten <?page no="137"?> 122 w as sInd InternatIonale b ezIehunGen ? Steuerungsfähigkeit des Staates nicht mehr angemessen sei. Man denke nur an internationale Organisationen wie die Welthandelsorganisation, Nichtregierungsorganisationen wie Greenpeace oder Amnesty International, multinationale Konzerne wie Shell, aber auch transnationale Bewegungen, die zunehmend an die Seite von Staaten treten. An die Stelle der obigen Bezeichnungen sind Begriffe wie globale Politik oder auch Weltpolitik getreten und für die Bezeichnung der Disziplin wird Global Studies vorgeschlagen. Diese Begriffe haben sich jedoch noch nicht wirklich durchgesetzt. In diesem Lehrbuch wird deshalb weiterhin von Internationalen Beziehungen für die Dis- Staat A: Einheit des politischen Systems Staat B: Einheit des politischen Systems gestalten Transgouvernementale Politik Staat A und Staat B: je Abgabe von politischen Kompetenzen an eine neue, übergeordnete Instanz grenzüberschreitende Gemeinschaftsprozesse gestalten Supranationale Politik supranationale Organisationen Staatengruppen internationale Organisationen gestalten Multinationale Politik nichtstaatlicher Akteur A nichtstaatlicher Akteur B gestalten Transnationale Politik Alle politischen Interaktionen, die sich in einem internationalen Raum vollziehen, also nicht innerstaatliche Politik sind und die auf den Staat einwirken oder aus dem internationalen Raum auf den innerstaatlichen Raum einwirken, sind Gegenstandsbereich der Internationalen Beziehungen. Politischer Bezug und der räumliche Bezug auf Politik, Akteure und Interaktionsmuster jenseits, also außerhalb des Staates, sind charakteristische Merkmale des Gegenstandsbereichs. Gegenstandsbereich der Internationalen Beziehungen Akteursklassen und Interaktionsmuster internationaler Beziehungen Abb. 3.1 <?page no="138"?> 123 w as sInd InternatIonale b ezIehunGen ? b rauchen wIr t heorIen der InternatIonalen b ezIehunGen ? Einheit 3 ziplin gesprochen, wobei darunter natürlich auch andere Akteursgruppen als Staaten fallen. Brauchen wir Theorien der internationalen Beziehungen? Eine zentrale Frage jeder Einführungsveranstaltung im Bereich der Internationalen Beziehungen lautet: Warum gibt es so viele Theorien internationaler Beziehungen? Wozu brauchen wir diese Theorien überhaupt? Und: Warum ist es nicht möglich, die bestehende Theorienvielfalt zu reduzieren? Diese Fragen kommen von Studierenden, aber auch von Politikern oder Regierungsbeamtinnen in Außenministerien, die sich für aktuelle Probleme internationaler Politik interessieren und die ganz konkrete Antworten suchen: Warum gelingt es nicht, eine Lösung für den Bürgerkrieg in Syrien zu finden? Welchen Kurs soll die deutsche Außenpolitik gegenüber China verfolgen? Wie kann der israelisch-palästinensische Konflikt endlich gelöst werden? Wie kann man den Klimawandel verhindern? Für viele bleibt unverständlich, warum sie sich durch klassischen und strukturellen Realismus oder Konstruktivismus-- gar nicht erst zu sprechen vom Poststrukturalismus- - kämpfen müssen, um Antworten auf ihre Fragen zu finden. Die vorrangige Beschäftigung mit Theorien der internationalen Beziehungen wird hier oft als Abkehr von den realweltlichen Problemen der internationalen Politik, manchmal sogar als Mangel an Verantwortungsbewusstsein für politische Relevanz empfunden (Wallace 1996). Diese Fragen werden aber auch von Politikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern gestellt, die sich als „disziplinär“ orientierte Wissenschaftler verstehen, das heißt als Wissenschaftler, die sich stärker variablen-orientiert systematischen oder allgemeinen Fragestellungen widmen, wie etwa: Was verursacht Kriege in der internationalen Politik? Halten sich Regierungen an internationale Menschenrechtsverträge, bzw. führt die Unterzeichnung solcher Verträge auch zu einer Verbesserung der Menschenrechtspraxis? Verändern nichtstaatliche Akteure systematisch die internationalen Beziehungen? Auch diese Gruppe ist in der Regel verwundert über die Theorienverliebtheit ihrer Kolleginnen und Kollegen. Interessanterweise sehen sich die Internationalen Beziehungen heute einer Kritik in Bezug auf die Theorienvielfalt ausgesetzt, die in einem starken Kontrast zur Kritik steht, die noch in den 1960er Jahren an die Disziplin gerichtet wurde. Damals wurde den Internationalen Beziehungen vorgeworfen, keine Theorie zu haben (Wight 1966; vgl. die Darstellung bei Meyers 1990: 49-53) und lediglich über internationale Gemeinschaft zu spekulieren. Die heutzutage geäußerte Kritik eines Zuviels an Theorie müsste demgegenüber also als Fortschritt bewertet werden. Das ist allerdings unbefrie- 3.4 Theorien als Abkehr von den realweltlichen Problemen der internationalen Politik <?page no="139"?> 124 w as sInd InternatIonale b ezIehunGen ? digend, denn Theorienvielfalt an sich ist ja noch kein Qualitätsmerkmal für eine disziplinäre Entwicklung. Auch hier gibt es mehrere Antworten. Die erste zielt auf die Bedeutung von Theorie für jede Form von Beschreibung und Wissenschaft ab, also auf die Notwendigkeit von Theorie. Die zweite Antwort zielt auf die Art des Erkenntnisfortschritts in den internationalen Beziehungen ab. Die dritte Antwort ist pragmatisch und betont die Notwendigkeit der Datenverfügbarkeit für einen stärkeren Theorienwettbewerb. Warum Theorien? - Funktionen von Theorien Von grundsätzlicher Bedeutung ist in dieser Hinsicht zunächst einmal der Hinweis auf die Notwendigkeit von Theorie für jede Wissenschaft. Jede Theorie erfüllt mindestens drei zentrale Funktionen: Selektion, Erklärung und Prognose (Haftendorn 1975). Die Selektionsfunktion ermöglicht es, die Komplexität der Realität internationaler Beziehungen zu reduzieren. Theorien filtern aus einer unübersichtlichen Anzahl an Akteuren, Strukturen und Handlungen die jeweils relevanten Faktoren heraus und strukturieren dadurch Analysen. Gäbe es keine Theorien, wären wir gefangen in einem Meer von Komplexität, das es unmöglich machen würde, wichtige Informationen von unwichtigen zu unterscheiden. Diese Selektionsfunktion tritt immer ein, egal ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Mit anderen Worten: Eine theorieunabhängige Beschreibung ist nicht möglich, jeder bedient sich bestimmter Theorien. Diese Funktion hat Konsequenzen: Sie definiert beispielsweise, was als Problem in den internationalen Beziehungen wahrgenommen wird. Wie Einheit 11 zeigen wird, kann der wirtschaftliche Aufstieg der BRIC-Staaten Brasilien, China, Indien und Russland als völlig unproblematisch betrachtet werden („Wie gut, dass relativ arme Länder endlich zu mehr Wohlstand kommen.“) oder aber als Problem oder sogar als bedrohlich für die Stabilität des internationalen Systems. Welche Ereignisse Bedeutung haben, hängt also immer von dem Vorverständnis ab, mit dem man sich dieser Realität nähert. Theorien haben zudem eine Erklärungsfunktion. Sie erheben den Anspruch, realweltliche Phänomene zu erklären, also Ursache-Wirkungszusammenhänge zu etablieren. Man möchte wissen, welche Faktoren Kriege auslösen, ob militärische Friedensmissionen einen dauerhaften Frieden bringen, oder ob Entwicklungszusammenarbeit auch wirtschaftliche Entwicklung fördert. Oder welche Faktoren, wie beispielsweise das pro-Kopf- Einkommen, die Art des politischen Systems, die Zahl von Nichtregierungsorganisationen oder die Ratifikation von Menschenrechtsverträgen, einen Theorien als Notwendigkeit 3.5 <?page no="140"?> 125 w as sInd InternatIonale b ezIehunGen ? w arum t heorIen ? - f unKtIonen Von t heorIen Einheit 3 Funktion Bedeutung Beispiel Selektion Zielt darauf ab, die Komplexität von Realität zu reduzieren, indem entsprechend der von den Theorien spezifizierten Faktoren wichtige von unwichtigen Informationen unterschieden werden können. In einer Beschreibung des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs, die in der Großmachtkonkurrenz einen Erklärungsfaktor sieht, ist die Information, dass der Krieg durch die Ermordung des österreichischen Thronfolgers ausgelöst wurde, unwichtig. Erklärung Zielt darauf ab, kausale Ursache-Wirkungszusammenhänge zu etablieren. Theorien bestimmen Verursacher, deren Präsenz immer wieder bestimmte Phänomene produziert. Unterschiedliche Erklärungen für den Ersten und Zweiten Weltkrieg: 1. Die Abwesenheit eines funktionierenden Machtgleichgewichts erklärt die Kriege. 2. Die Unfähigkeit, aufstrebende Staaten wie das Deutsche Reich und Japan international einzubinden, erklärt die Kriege. Prognose Zielt darauf ab, unter bestimmten Bedingungen von gegebenem Wissen über kausale Zusammenhänge auf künftige Entwicklungen in den internationalen Beziehungen zu schließen. In der Vergangenheit hat die Existenz von aufstrebenden Staaten zu Kriegen geführt, der Aufstieg Chinas in der internationalen Politik wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Krieg führen. Funktionen von Theorien Tab. 3.1 Beitrag zur Verbesserung von Menschenrechten weltweit leisten. Theorien geben wichtige Hinweise auf die Variablen, die sinnvollerweise in Betracht gezogen werden müssen. Sie etablieren einen Ursache-Wirkungszusammenhang im Sinne von Wenn-dann- (deterministische Kausalität) oder Je mehrdesto-Aussagen (probabilistische Kausalität). Die Disziplin der Internationalen Beziehungen ist mit ihrer Theorienvielfalt einfach nur transparent im Hinblick auf die möglichen (unterschiedlichen) Erklärungen für bestimmte Phänomene der internationalen Politik. Theorien haben auch eine Prognosefunktion. Sie erlauben es unter bestimmten (restriktiven) Bedingungen von Wissen, das wir haben, auf Wissen zu schließen, über das wir nicht verfügen. Theorien sind also notwendig, denn ohne sie hätte man überhaupt keine Möglichkeit, Wahrnehmungen zu strukturieren, Realität zu beschreiben und Wissenschaft zu betreiben. Eine andere Weise, Theorien bzw. politikwissenschaftliche Konzepte zu sehen ist, sie als die grundlegenden Untersuchungsinstrumente zu begreifen, die es Sozialwissenschaftlern möglich machen, soziale Phänomene wie Krieg und Frieden, internationale Klimaschutzpolitik oder Sicherheitspolitik zu analysieren. Biologen arbeiten mit Mikroskopen, Astronomen mit Teleskopen, Physiker mit mathematischen Formeln und Ethnologen beobachten und interpretieren Gesellschaften oder ihre Artefakte, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Sozialwissenschaften <?page no="141"?> 126 w as sInd InternatIonale b ezIehunGen ? arbeiten mit Theorien und theoretischen Konzepten, ohne die sie Realität nicht entdecken können. Warum gibt es keine Theorienverdrängung? Theorien sind also wichtig. Aber es bleibt immer noch die Frage: Müssen es gleich so viele sein? In vielen anderen Disziplinen, so das Argument, findet ein stärkerer Theorienwettbewerb statt, der zur Verdrängung von Theorien durch erklärungskräftigere Theorien führt. In der Physik wurde Newtons klassische Mechanik und sein Gravitationsgesetz durch die allgemeine Relativitätstheorie Albert Einsteins abgelöst. Galileo Galilei verhalf der Theorie zum Durchbruch, dass Planeten um die Sonne kreisen und nicht andersherum-- Kopernikus’ heliozentrisches Weltbild löste somit das bis dahin geltende geozentrische Weltbild ab. Warum gibt es keinen vergleichbaren Verdrängungswettbewerb in der Disziplin der Internationalen Beziehungen? Unmittelbar damit verknüpft ist die Frage nach dem Erkenntnisfortschritt. Denn wenn es eine Pluralität von Theorien gibt und wenig Konsens darüber, wie wissenschaftlich über internationale Beziehungen geforscht wird, dann könnte dies Erkenntnisfortschritt behindern (vgl. im Folgenden Meyers 1990: 53 f.). Erkenntnisfortschritt ist- - nach einem auch „positivistisch“ genannten Wissenschaftsverständnis- - mit der Idee verbunden, dass wir es mit einer linearen Zunahme von Wissen zu tun haben, und zwar in einer Breiten- und in einer Tiefendimension. Positivistisch wird dieses Verständnis deshalb genannt, weil es davon ausgeht, dass wir Fakten und kausale Zusammenhänge in den internationalen Beziehungen genauso entdecken können wie in den Naturwissenschaften, nämlich in erster Linie durch Beobachtung von sozialen Phänomenen. Dieses Verständnis wird auch mit dem Begriff der „Einheitswissenschaft“ verbunden. Erkenntnisfortschritt in einer Breitendimension heißt in diesem Fall: Entdeckung neuer Tatsachen durch immer vielfältigere und präzisere Messinstrumente. Die Entdeckung neuer Sterne durch bessere Teleskope ist ein Beispiel. Auch wenn eine Übertragung auf die Sozialwissenschaften schwierig ist, ist sie nicht unmöglich: Die umfassende Einführung statistischer Verfahren in den Sozialwissenschaften hat die Entdeckung neuer Tatsachen und Zusammenhänge ermöglicht, wie beispielsweise den, dass Demokratien fast keine Kriege untereinander führen (Hasenclever 2002; Russett/ Oneal 2002). Die umfassende Methodendebatte, die die Disziplin in den letzten Jahren geprägt hat und bei der starke Impulse aus der quantitativen Methodik kommen (King u. a. 1994; McKeown 1999), führt zumindest in diesem Bereich 3.6 Behinderung von Erkenntnisfortschritten Die Breitendimension des Erkenntnisfortschritts <?page no="142"?> 127 w as sInd InternatIonale b ezIehunGen ? w arum GIbt es KeIne t heorIenVerdränGunG ? Einheit 3 zur Präzisierung unserer Messinstrumente (vgl. die Debatten in der Zeitschrift Political Analysis, pan.oxfordjournals.org). Erkenntnisfortschritt in einer Tiefendimension heißt, dass empirische Regelmäßigkeiten langfristig durch mathematisch formulierte Gesetzmäßigkeiten ersetzt werden, die wiederum in umfassendere Theorien eingebettet werden. Das methodische Vorgehen bei der Suche nach Wissen „impliziert die systematische Verknüpfung seiner Resultate. Vermehrung von Wissen beinhaltet immer das Hinzukommen von Wissen über die Verknüpfung zuvor schon verfügbarer Wissenselemente- - d. h. aber Theoriebildung.“ (Meyers 1990: 53) Mehr Theorienpluralität eröffnet also das Dilemma, dass mehr Wissen in der Breite möglicherweise zu Lasten des Wissens in der Tiefe geht. Auch hier wäre es also sinnvoll, die Zahl der Theorien zu reduzieren. Ein möglicher Prozess der Verdrängung von Theorien könnte sich auf dieser Ebene zumindest dann vollziehen, wenn es beispielsweise gelänge, bessere von schlechteren Theorien zu unterscheiden. Bessere Theorien sind diejenigen, die stringenter in der Begriffsbildung, Formalisierung und Überprüfung sind und die Entwicklungen in der internationalen Politik genauer vorhersagen. Anatol Rapoport hat in dieser Hinsicht Theorien nach „weichen“ und „harten“ Theorien unterteilt, wobei harte Theorien solche sind, die solche Prognosen zulassen, während „weiche“ Theorien solche Prognosen nicht erlauben (Rapoport 1970, nach Meyers 1990: 54; siehe auch Bueno de Mesquita 2000). Aber genau an diesem Punkt scheiden sich die Geister: Es fehlt in der Disziplin ein Konsens darüber, was bessere Theorien sind. Viele Vertreter sogenannter „weicher“ Theorien erheben eben gar nicht den Anspruch, Prognosen zu liefern und-- im Gegenteil-- lehnen ein positivistisches Wissenschaftsverständnis, das sich an den Naturwissenschaften orientiert, mit wissenschaftstheoretisch gestützten Argumenten sogar ab. Vertreter/ innen einer post-positivistischen Wissenschaft vertreten die Auffassung, dass Sozialwissenschaften eben nicht wie Naturwissenschaften verfolgt werden können und dass es nicht möglich ist, kausale Gesetzmäßigkeiten zu entdecken. Das liegt in erster Linie daran, dass sich die Sozialwissenschaften mit gesellschaftlichen Zusammenhängen befassen, die immer von Konventionen und gesellschaftlichen Vorstellungen über das Angemessene und Gute geprägt sind. Poststrukturalisten weisen darauf hin, dass auch unser Verständnis davon, was „Wissenschaft“ und „wissenschaftlich“ ist, bzw. was vor allem „gute Wissenschaft“ ist, auf gesellschaftlicher Konvention beruht. Theorien im Sinne des Positivismus können deshalb nicht als von bestehender, sozialer Realität unabhängig existierenden „kausalen Ursache- Wirkungszusammenhängen“ definiert werden. Die Vorstellung, dass es in der Wissenschaft der Internationalen Beziehungen darum geht, genau diese Die Tiefendimension des Erkenntnisfortschritts Verdrängung weniger erklärungskräftiger Theorien Kein Konsens darüber, was gute Theorien sind Post-positivistisches Wissenschaftsverständnis <?page no="143"?> 128 w as sInd InternatIonale b ezIehunGen ? Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge aufzudecken, sei ebenfalls Teil eines Wissenschaftsdiskurses, der Aussagen darüber macht, was man für richtig und angemessen hält. Da jeder Diskurs nach diesem Verständnis aber eine Form von Machtbeziehung ist, und Macht in Form von Hierarchien problematisch ist, kann es immer nur darum gehen, solche Diskurse-- und damit auch das Wissenschaftsverständnis-- zu dekonstruieren. Historisch orientierte Zugänge zu den internationalen Beziehungen bezweifeln, dass ein positivistisches Wissenschaftsverständnis angemessen ist, das sich an universellen, über Zeit und Raum gültigen empirischen Regelmäßigkeiten oder gar Gesetzmäßigkeiten orientiert. Sie untersuchen historische und aktuelle Weltordnungen und Weltordnungsmodelle. Dieser Zugang wird von marxistischen Ansätzen ebenso favorisiert wie von Vertreterinnen und Vertretern der Englischen Schule, die-- wie der Name bereits andeutet-- in Großbritannien entwickelt wurde (Wight 1991; Hurrell 1993; Bull 1995 (1977)). Aus einer historischen Perspektive ergibt es beispielsweise wenig Sinn, nach der Ursache von Kriegen allgemein zu suchen, da diese sich über verschiedene Weltordnungen hinweg unterscheiden können. Eine Epoche, in der Krieg ein anerkanntes Mittel der Politik ist, wie es beispielsweise bis zum Völkerbund der Fall war, wird ein anderes empirisches Muster an Kriegen produzieren als eine Zeit, in der Krieg geächtet ist (vgl. Einheiten 1 und 2). Aber nicht nur die Häufigkeit von Krieg könnte sich unterscheiden, sondern auch seine Ursachen. Eine positivistische Wissenschaft ist nach diesem Verständnis ahistorisch, das heißt, es fehlt ihr an einem grundlegenden Verständnis geschichtlicher Zusammenhänge. Eine universelle, überzeitliche Erklärung für Kriege ist demnach nicht möglich. Stattdessen ist immer ein Verständnis für historische Zusammenhänge notwendig, um Phänomene der internationalen Beziehungen zu erklären. Auch Vertreter eines historischen Positivismus als Wissenschaftsdiskurs Positivismus als Ahistorismus Positivistische Erkenntnistheorie und post-positivistische Wissenschaft Der Positivismus geht davon aus, dass Erkenntnisgewinnung nur aus positiv gegebenen Tatsachen resultieren kann. Einem Exaktheitsideal nach naturwissenschaftlichem Vorbild entsprechend sollen auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen metaphysische Annahmen - also jene, die nicht aus sinnlichen Erfahrungen entstanden - ausgeschlossen werden. Die post-positivistische Wissenschaft dagegen plädiert für eine offenere Herangehensweise an wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung. Gesellschaftliche Prozesse sowie der Diskurs darüber seien von normativen Fragen und Ansprüchen durchzogen und ein rein positiver Erkenntnisfortschritt somit nicht annehmbar. Merke <?page no="144"?> 129 w as sInd InternatIonale b ezIehunGen ? w arum GIbt es KeIne t heorIenVerdränGunG ? Einheit 3 Zugangs lassen sich also nicht mit dem Argument eines „höheren Theoriestandards“ verdrängen. Unmöglichkeit einer Verdrängung von Theorien Die Debatte um ein positivistisches und post-positivistisches Wissenschaftsverständnis zeigt eindrücklich, warum es nicht zu einer Verdrängung von Theorien kommen kann: Es gibt keinen von beiden Seiten anerkannten Standard, anhand dessen man die Qualität von Theorien bewerten könnte. Dieser Befund ist das Ergebnis unterschiedlicher Wissenschaftsverständnisse, nicht das Ergebnis der Unfähigkeit, schlechtere Theorien zu verdrängen. Merke Auch wenn man anzweifeln kann, dass es in naher Zukunft zu einer spürbaren Verringerung der Theorienvielfalt in den Internationalen Beziehungen kommen kann, mangelt es nicht an Versuchen, einen solchen Verdrängungsprozess in Gang zu bringen. Die amerikanischen Politikwissenschaftler Robert Keohane und Joseph Nye haben ihre institutionalistische Theorie der internationalen Beziehungen Mitte der 1980er Jahre damit gerechtfertigt, dass die bis dahin dominierende realistische Theorie mit der tatsächlichen Entwicklung der internationalen Beziehungen nicht Schritt gehalten habe (Keohane/ Nye 1977). Die beiden Autoren „bezweifelten nicht grundsätzlich die Erklärungskraft des realistischen Modells, sondern kritisierten seinen Realitätsbezug. Gleichzeitig gingen sie davon aus, dass die Veränderungen des internationalen Systems keine vorübergehende konjunkturelle Erscheinung seien, sondern einem langfristigen Entwicklungstrend entsprechen.“ (Kohler-Koch 1990: 115) Ähnlich argumentieren in neuerer Zeit Bernhard Zangl und Michael Zürn in ihrer Begründung einer neuen Theorie zur Erklärung von Krieg und Frieden nach dem Ende des Kalten Kriegs. Für sie gehören die traditionellen Erklärungen der internationalen Beziehungen für Krieg und Frieden zur „nationalen Konstellation“, die sie aber durch die „realweltlichen sicherheitspolitischen Entwicklungen im Zeitalter der Globalisierung“ als überholt ansehen (Zangl/ Zürn 2003: 12; ähnlich auch Neyer 2013). Mit anderen Worten: Der fundamentale Wandel internationaler Beziehungen macht auch einen Theorienwandel notwendig (Albert u. a. 2013). Die verschiedenen theoretischen Debatten, die in den internationalen Beziehungen seit den 1940er Jahren immer wieder geführt wurden, zeigen, dass die Idee der Theorienverdrängung oder des Paradigmenwechsels auch in der Disziplin greift. Doch während diese Debatten zweifelsohne Theorieentwicklung ermöglicht haben, hatten sie eben nicht den Effekt, dass Theorien verdrängt wurden. Im Gegenteil: Lange bestehende Theorien werden Versuche der Theorienverdrängung in den Internationalen Beziehungen <?page no="145"?> 130 w as sInd InternatIonale b ezIehunGen ? inzwischen durch poststrukturalistische Theorien ergänzt und selbst marxistische Theorien, die seit dem Zerfall des Ostblocks als überholt galten, erfahren im Zuge eines wissenschaftlichen Interesses an der Geschichte der internationalen Beziehungen (Friedrichs 2001; Teschke 2003), weltweiter Ungleichheit und wirtschaftlicher Krisen, die regelmäßig als „Krise des Kapitalismus“ interpretiert werden, eine Renaissance. Das Ende des Ost- West-Konflikts und die damit verbundene Aussicht auf stärkere Kooperation haben ebenfalls zu einer Fülle neuer Theorien geführt, anstatt zu einer Reduktion. Es ist sogar wahrscheinlich, dass die Theorien und die Theorienproduktion in den IB weiter hinterfragt und debattiert werden. Die Globalisierung der Disziplin führt beispielsweise dazu, dass viele nicht-westliche Vertreter und Vertreterinnen der Disziplin betonen, dass die vornehmlich in Nordamerika und Europa produzierten Theorien der internationalen Beziehungen nicht einfach auf nicht-westliche Regionen übertragbar sind (Tickner 2013; Acharya 2014). Als letzte Antwort auf den möglicherweise notwendigen, aber bisher weitgehend fehlenden Verdrängungsprozess innerhalb der Theorien ist auf einer ganz pragmatischen Ebene eine fehlende Datenverfügbarkeit zu nennen. Das Fehlen einer zentralen Instanz, gar eines Weltstaates, hat auch die Menge an verfügbaren Daten beeinflusst. Historisch betrachtet waren es Staaten, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit dem Erfassen, Messen und Klassifizieren von Daten begannen. Auf internationaler Ebene gab es nur wenige Institutionen, die eine vergleichbare „Sammelleidenschaft“ an den Tag legten. Internationale Organisationen wie die Weltbank oder das Ent- Fehlende Datenverfügbarkeit als Ursache für Mangel an Theorienverdrängung Die Postkoloniale Theorie rekapituliert auf kritische Weise, wie der noch immer bestehende koloniale Diskurs Auswirkungen auf unsere heutigen wissenschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen hat. Vertreter der Postkolonialen Theorie beschreiben einen Eurozentrismus, der Machtansprüche aus kolonialen Zeiten bis ins 21. Jahrhundert weiterzeichnet und einen auf den Westen ausgerichteten Kultur- und Identitätsbegriff abbildet. Auch verschiedene Politikbereiche, internationale Beziehungen und Trends der Neuzeit, wie die Globalisierung, sind demnach durch eine auf die westliche Kultur konzentrierte Sichtweise geprägt. Als Ziel der Postkolonialen Theorie rückt somit die Sensibilisierung der internationalen Gemeinschaft für einen neutralen Kulturbegriff in den Mittelpunkt. Solch ein neu definierter Kulturbegriff ließe sich auch in internationale Politikbereiche weitertragen, wenn nämlich westliche Ansprüche und machtpolitische Forderungen, koloniale Denkweisen und Kategorisierungen, zugunsten einer neuen Perspektive auf internationale Beziehungen weichen. Wichtige Vertreter der Postkolonialen Theorie sind Edward Said, Gayatri Chakravorty Spivak und Homi K. Bhabha (vgl. Einheit 9). Nicht-westliche Theorien im Blickpunkt: Die Postkoloniale Theorie <?page no="146"?> 131 w as sInd InternatIonale b ezIehunGen ? G rosse d ebatten - p raGmatIscher e KleKtIzIsmus Einheit 3 wicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP), aber auch viele Forschungsinstitute haben erst in den letzten Jahren damit begonnen, systematisch vergleichbare Daten zu internationalen Phänomenen zu sammeln. Ohne diese Daten konnten viele Theorien nicht empirisch getestet werden, was einen Verdrängungsprozess zumindest behindert hat. In den letzten Jahren hat die Zahl der für internationale Beziehungen nutzbaren Datensätze erheblich zugenommen, so dass ein stärkerer Theorienwettbewerb zumindest möglich scheint. Große Debatten - Pragmatischer Eklektizismus Der Anspruch dieses Lehrbuches ist es, einen Überblick über die ganze Breite des Faches zu vermitteln und die Pluralität der theoretischen Zugänge aufzuzeigen. Das Lehrbuch unterstützt Sie darin, die unterschiedlichen Zugänge zu identifizieren und es macht deutlich, wie sich Blickwinkel und Fragestellungen je nach Theorie verändern. Dies ermöglicht nicht nur in einem klassischen Sinne, den Erklärungsanspruch und die Reichweite einer Theorie zu beurteilen; der Ansatz fördert das, was für die internationalen Beziehungen in Zeiten der Globalisierung vielleicht am Wichtigsten ist: Unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, um politisch relevante Phänomene und Akteurshandeln besser zu verstehen. Die Entwicklung von theorieorientiertem Denken besitzt dabei Priorität vor einer bloßen Vermittlung von größtmöglicher Kenntnis über diverse Ansätze und bildet die Grundlage des Studiums der internationalen Beziehungen. Die damit verbundene Einführung in zentrale Problemfelder wie Sicherheit, Wirtschaft, Menschenrechte und Umwelt dient wiederum dazu, Ihnen empirisches Wissen über diese Felder zu vermitteln und zu erkennen, wie unterschiedlich die einzelnen Theorien an diese Probleme herangehen, so dass je nach theoretischem Zugang sehr unterschiedliche Fragen ins Blickfeld rücken. 1. Sehen Sie sich noch einmal die Liste der von Karl Deutsch identifizierten Kernthemen der Internationalen Beziehungen an. Warum hat er wohl diese Themen gewählt? Würden Sie diese Themen aktuell noch als relevant erachten? Gibt es andere Themen, die aus heutiger Sicht relevanter sind? 2. Was ist der Unterschied zwischen internationalen Beziehungen und Internationalen Beziehungen? Was ist der Unterschied zwischen internationaler Politik und internationalen Beziehungen? 3. Nennen Sie Gründe dafür, warum es so viele Theorien der internationalen Beziehungen gibt. 3.7 Übungen <?page no="147"?> 132 w as sInd InternatIonale b ezIehunGen ? 4. Sehen Sie sich die Zeitschriften Zeitschrift für Internationale Beziehungen, Internationale Politik und Blätter für Deutsche und Internationale Politik an. Worin unterscheiden sich die Zeitschriften in ihrer Ausrichtung? Welches Publikum sprechen sie an? Welche Zeitschrift spricht Sie persönlich am meisten an? Acharya, Amitav (2014): Global International Relations (IR) and Regional Worlds. In: International Studies Quarterly 58: 4, 647-659. Albert, Mathias u. a. (Hrsg.) (2013): Bringing Sociology to International Relations. World Politics as Differentiation Theory. Cambridge: Cambridge University Press. Baylis, John; Smith, Steve (Hrsg.) (2011): The Globalization of World Politics. An Introduction to International Relations. 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Des Weiteren werden die wichtigsten Konzepte des Realismus, wie das Sicherheitsdilemma, das Machtgleichgewicht und andere Strategien der Außenpolitik besprochen. Nach Lektüre dieser Einheit können realistische und neorealistische Theorien auf internationale Politik angewendet und ein realistisches Erklärungsmuster erkannt werden. Die neue Machtpolitik in Europa und Asien Im März 2014 annektierte Russland die zum ukrainischen Staatsgebiet gehörende Krim, nachdem sich in einem Referendum eine große Mehrheit der russisch-stämmigen Bevölkerung für die Eingliederung entschieden hatte. Das Referendum fand im Kontext einer politischen Umbruchsituation in der Ukraine statt. Die Ukraine war seit einigen Monaten mit einer umfassenden Staatskrise konfrontiert, die über die Weigerung des amtierenden Präsidenten Viktor Janukowitsch ausgebrochen war, ein Assoziationsabkommen mit der EU zu unterschreiben. Demonstrationen in der ukrainischen Hauptstadt eskalierten, Janukowitsch flüchtete aus der Ukraine. Eine vom Westen unterstützte, aber weder vom Osten der Ukraine und der Krim noch von Russland anerkannte Übergangsregierung übernahm die Regierungsgeschäfte. Daraufhin organisierten pro-russische Kräfte Referenden, die zur Abspaltung der Krim und zu einer separatistischen Bewegung in der Ostukraine führten, die ihre Ziele auch militärisch durchzusetzen versuchte. Die Krise führte einer europäischen Öffentlichkeit deutlich vor Augen, dass völkerrechtswidrige Annexionen keineswegs ein Relikt aus der europäischen Vergangenheit sind, sondern auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts möglich sind. Beide Seiten warfen sich außerdem wechselseitig vor, eine auf Expansion angelegte Machtpolitik zu verfolgen und entgegen vorher getroffener Absprachen ihren regionalen Einfluss auszudehnen. Auch in Asien verändern sich die internationalen Beziehungen. Dort fürchten Staaten den wirtschaftlichen, militärischen und politischen Aufstieg ihres mächtigsten Nachbarn China. Seit Mitte der 1990er Jahre streiten sich China und seine Nachbarn um die Souveränität über mehrere Inselgruppen im Südchinesischen Meer, unter denen große Rohölvorkommen vermutet werden. China hat mehrmals deutlich gemacht, dass es die konkurrierenden territorialen Ansprüche seiner Nachbarn nicht akzeptiert, die Situation ist in der Vergangenheit mehrfach eskaliert, blieb aber unterhalb der Schwelle eines militarisierten Konfliktes. Für viele Beobachter ist Chinas Verhalten in der Region ein Gradmesser dafür, wie es sich global verhalten wird, wenn es durch seinen wirtschaftlichen Aufstieg mehr Macht erlangt. Wird China Überblick 4.1 <?page no="152"?> 137 r ealIsmus und n eorealIsmus K lassIscher r ealIsmus Einheit 4 sich eher kooperativ verhalten? In 2012 stand eine Mehrheit von Befragten in den USA und in Großbritannien dem Aufstieg Chinas sehr skeptisch gegenüber (CNN Poll: Americans see China as economic threat 2012). Skepsis in Bezug auf China zeigte sich auch in einer globalen Meinungsumfrage, die im Auftrag der BBC in 33 Staaten durchgeführt wurde und bei der die Befragten angaben, ob sie ein Land eher positiv oder negativ bewerten (Globescan 2015). Diese Schlaglichter auf zwei regionale Brennpunkte verdeutlichen, dass Krieg um Territorialgewinne immer noch eine reale Möglichkeit ist. Für Beobachter internationaler Politik erschien Europa lange als friedliebende Venus, die USA beziehungsweise die außereuropäische Welt als kriegerischer Mars (Kagan 2003). Auch wenn dieses Bild durch die Ukraine-Krise in Europa erschüttert wurde, ist außerhalb Europas sehr viel sichtbarer, dass viele Staaten die existentielle Sorge um ihre Sicherheit umtreibt. Existentielle Unsicherheit führt aber dazu, dass viele Staaten militärisch aufrüsten, um sich zu schützen. In den Fällen des Nahen und Mittleren Ostens und Chinas scheint deutlich zu werden, dass internationale Politik mit Macht zu tun hat. Es geht darum, sie zu erlangen oder bestehende Macht zu verteidigen. Damit sind wir beim Realismus als einer Theorie, die diese Auseinandersetzungen um Macht als das wichtigste Wesensmerkmal von internationaler Politik überhaupt sieht. Diese Einheit führt in die am besten etablierte Theorie der Internationalen Beziehungen ein. Unter Realismus werden hier alle Ansätze vereint, die im Streben von Staaten nach Macht eine zentrale Erklärung für immer wiederkehrende Konflikte und Krisen sehen. Realistische Theorien unterteilen sich in zwei Varianten des Realismus, die als Klassischer Realismus und Struktureller Realismus-- auch Neorealismus genannt-- bezeichnet werden. Das Kapitel erklärt die Grundannahmen des Realismus sowie seine Modifikationen und zeigt, warum diese sehr archaisch wirkende Theorie noch immer populär ist. Klassischer Realismus Mit realistischen Theorien begegnet uns die älteste Schule der Internationalen Beziehungen. Obwohl der Realismus in den 1930er und 1950er Jahren entwickelt wurde, finden wir das Denken in Grundzügen bereits in klassischen Werken Asiens und Europas, zum Beispiel in „Der Peloponnesische Krieg“ des griechischen Geschichtsschreibers Thukydides (431 v. Chr.), oder Niccolò Machiavellis „Der Fürst“ (1532). Schließlich führen viele Realisten für ihre Theorie den Soziologen Max Weber (1864-1920) an, der das Wesen 4.2 Realismus <?page no="153"?> 138 r ealIsmus und n eorealIsmus von Politik als „das Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung“ (Weber 1992 [1919]): 4) definierte. Bis in die 1970er Jahre hinein galt Hans Joachim Morgenthau als der Referenztheoretiker des Realismus. In seinem Hauptwerk „Politics among Nations“ (1948) entwickelt Morgenthau die Grundlagen für eine Theorie der internationalen Politik. Das in Deutschland unter dem Titel „Macht und Frieden“ erschienene Werk sieht die internationale Umwelt als einen Schauplatz von fortwährenden Macht- und Interessenkonflikten, die sich immer wieder gewaltsam äußern. Morgenthau beginnt sein Werk mit den Worten: „Internationale Politik ist, wie alle Politik, ein Kampf um Macht. Wo immer die letzten Ziele der internationalen Politik liegen mögen, das unmittelbare Ziel ist stets die Macht.“ (Morgenthau 1954: 25) Der immerwährende Kampf um Macht und Einfluss über andere ist das bestimmende Charakteristikum von internationaler Politik. Dieses eherne Gesetz gewinnt er aus seiner empirischen Analyse der internationalen Beziehungen. Den Grund dafür sieht Morgenthau in der sozialethisch unvollkommenen Natur des Menschen, die in der anarchischen Struktur des internationalen Systems zum Tragen kommt. Der Mensch strebt nicht nur nach dem Guten und Wahren, sondern verhält sich auch egoistisch und opportunistisch, wenn dies seine Macht erhält oder erweitert. Daraus folgt, dass selbst die moralischsten Staatsmänner in der internationalen Politik gezwungen sind, Machtpolitik zu betreiben und Kriege zu führen. Morgenthau macht in seinem Werk sehr deutlich, dass weder hehre Ideen noch völkerrechtliche Prinzipien Staatsmännern politische Schranken auferlegen können, die eine einseitige Machtpolitik verfolgen. Das destruktive Potential der Machtpolitik kann nur durch aufgeklärte Staatsmänner beschränkt werden, die Machtstreben als zentrale Motivation für außenpolitisches Handeln anerkennen. Das Wissen um die Funktionsbedingungen internationaler Politik ermöglicht Streben nach Macht Der politische Realismus in den Internationalen Beziehungen entstand nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in Auseinandersetzung mit dem Idealismus - inzwischen auch liberaler Internationalismus genannt -, der in der Zwischenkriegszeit eine kurze Blütezeit erlebt hatte und vor allem durch die internationale Politik des US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson verkörpert wurde (vgl. Einheit 1). Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und das Versagen des Völkerbunds (vgl. Einheit 1) führten in den USA zu einer umfassenden Delegitimierung des liberalen Internationalismus. Der Realismus in den Internationalen Beziehungen nach 1950 ist deshalb auch eine Theorie, die vor allem in den USA entwickelt und dort am einflussreichsten wurde. Entwicklung des Realismus in Abgrenzung zum Idealismus <?page no="154"?> 139 r ealIsmus und n eorealIsmus s truKtureller r ealIsmus Einheit 4 es Regierenden, eine Außenpolitik durchzusetzen, die zum Frieden führt: Macht kann nur durch Gegenmacht beschränkt werden. Diese wird wiederum durch eine unbedingte Ausrichtung am nationalen Interesse begrenzt. Daraus leitet Morgenthau verschiedene Prinzipien für eine rationale Außenpolitik ab, die nach seiner Argumentation Kriege effektiv vermeiden kann. Prinzipien für eine verantwortungsvolle Außenpolitik Unter der Bedingung, dass Staaten nach Macht streben, entsteht zwangsläufig eine Konstellation und eine Politik, in der sich ein Machtgleichgewicht einstellt. Eine verantwortungsvolle Außenpolitik besteht in der Orientierung an nationalen Interessen statt an moralischen Werten, deren Stützung durch adäquate Machtmittel und einer rationalen Abwägung des außenpolitisch Machbaren. Merke Die beiden umfassenden, immerwährenden Gesetze, die Morgenthau für die internationale Politik entdeckt, sind das Streben nach Macht als Konstante politischen Handelns und das Gesetz des Machtgleichgewichts, das seiner Meinung nach erklärt, wann Staaten ein stabiles internationales System bilden. Hans J. Morgenthau wurde 1904 aus deutsch-jüdischer Abstammung in Coburg geboren und starb 1980 in New York. Morgenthau studierte Philosophie und Jura in Frankfurt am Main, München sowie Berlin und promovierte 1929 über das Völkerrecht. Er arbeitete zunächst als Richter in Deutschland und lehrte ab 1932 öffentliches Recht in Genf. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland durfte Morgenthau aufgrund des antisemitischen Berufsverbots seinen Beruf nicht mehr ausüben und wanderte 1937 in die USA aus. 1949 wurde er Professor für Politikwissenschaft und Zeitgeschichte an der University of Chicago. Bis 1977 lehrte er an verschiedenen hochrangigen Universitäten wie Harvard, Yale, Columbia, Princeton und an der University of California in Berkeley. Hans J. Morgenthau Struktureller Realismus Realistisches Denken wurde in den 1970er Jahren weiterentwickelt und schließlich abgelöst von der Theorie des Strukturellen Realismus oder auch Neorealismus. Der Hauptvertreter des Strukturellen Realismus ist Kenneth N. Waltz, der 1979 sein Hauptwerk „Theory of International Politics“ veröffentlichte (Waltz 1979). Orientierung an nationaler Sicherheit 4.3 Struktureller Realismus <?page no="155"?> 140 r ealIsmus und n eorealIsmus Darin entwickelt Waltz eine Theorie internationaler Beziehungen, die versucht, zwei grundsätzliche Fragen zu klären: Warum ist die von Morgenthau beschriebene Gleichgewichtspolitik eine Konstante internationaler Politik? Und gibt es Ordnungen im internationalen System, die tendenziell stabiler sind als andere Ordnungen? Waltz übernimmt von Morgenthau die Annahme, dass internationale Politik durch Machtkonkurrenz gekennzeichnet ist. Er weicht aber in einem bedeutenden Aspekt von der Annahme des Klassischen Realismus ab. Waltz geht davon aus, dass die Strukturzwänge des internationalen Systems ursächlich für Kriege sind, nicht die sozialethische Unzulänglichkeit des Menschen. Da seine Theorie wesentlich auf die Struktur des internationalen Systems in Form der Anarchie abhebt, hat sich der Name Struktureller Realismus für die Theorie durchgesetzt. Die Anarchie des internationalen Systems und die sich daraus ergebenden strukturellen Zwänge erklären sowohl, warum Staaten eine Gleichgewichtspolitik verfolgen müssen, als auch warum es mal mehr und mal weniger Kriege gibt. Kernannahmen des Strukturellen Realismus Anarchie Anarchie heißt, es gibt keine übergeordnete Ordnungs- und Sanktionsmacht, die mit dem innerstaatlichen Gewaltmonopol vergleichbar ist. Merke Internationale Anarchie wirkt sich stark einschränkend auf die Außenpolitik von Staaten und deren Handlungsmöglichkeiten aus: Außenpolitik ist auf den Kampf ums Überleben ausgerichtet. Staaten besitzen ein zentrales Bedürfnis, das in ihrer Präferenzordnung an erster Stelle steht, und das ist das Bedürfnis nach Überleben bzw. Sicherheit; sie sorgen sich um den Erhalt ihrer staatlichen und physischen Integrität. Folglich hat Sicherheit absolute Priorität; sie ist das wichtigste Politikfeld (high politics), in dem Staaten sich behaupten müssen. Alle anderen Politikfelder sind demgegenüber von nachrangiger Bedeutung (low politics). In einem anarchischen, durch Konflikt und Wettbewerb charakterisierten System überleben nur die wettbewerbsfähigsten Einheiten. Aus diesem Grund geht der Strukturelle Realismus davon aus, dass Staaten die wichtigsten, wenn nicht sogar einzigen, Akteure des internationalen Systems sind. Während sich im innerstaatlichen politischen System Regierungssysteme ausdifferenzieren, beispielsweise nach Exekutive, Legislative und Judikative, müssen im internationalen System alle Staaten gleiche Funktionen überneh- Streben nach Sicherheit anarchisches System 4.4 Wettbewerb <?page no="156"?> 141 r ealIsmus und n eorealIsmus K ernannahmen des s truKturellen r ealIsmus Einheit 4 men, es findet keine funktionale Ausdifferenzierung statt. Jeder Staat ist beispielsweise für die Sicherheit und Wohlfahrt seiner Bürgerinnen und Bürger verantwortlich. Staaten sind funktional homogen, weil sie sich nicht in Abhängigkeit von anderen Staaten begeben wollen. Sie streben nach Autonomie, weil nur das ihr Überleben sichert. Dabei ist es für den Strukturellen Realismus unerheblich, ob es sich um demokratisch oder autokratisch verfasste Staaten handelt. Genau diese funktionale Homogenität jedoch setzt sie in Konkurrenz zueinander. Daraus folgt, dass Staaten als einheitliche Akteure betrachtet werden, die die Umsetzung ihrer zentralen Präferenzen rational verfolgen, d. h. sie orientieren sich in ihren Entscheidungen an dem Kriterium der Zweck-Mittel-Rationalität. Da es im internationalen System keine übergeordnete Instanz gibt, die für die Sicherheit Aller sorgt, müssen Staaten auf Selbsthilfestrategien zurückgreifen. Dazu gehört, dass sie aufrüsten und alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um ihre Autonomie zu wahren. Bezüglich der Intentionen der anderen Staaten herrscht fundamentale Unsicherheit. Aggressivität und Expansionsdrang der anderen stehen immer als drohende Möglichkeiten im Raum und müssen bei der Suche nach einer rationalen außenpolitischen Strategie berücksichtigt werden. Daraus folgt, dass Staaten sich um ihre relative Macht sorgen: Sie sind darauf bedacht, mächtiger als andere Staaten zu sein. Aber für Neorealisten ist Macht kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um Sicherheit zu erlangen. Das heißt, solange ihre Machtposition nicht gefährdet ist, verhalten sie sich nicht offensiv aggressiv, sie sind defensive Positionalisten. Da sich Staaten nicht ausdifferenzieren und die anarchische Struktur nicht veränderbar ist, hängt die internationale Politik wesentlich von der Machtverteilung des internationalen Systems ab. Die Machtverteilung zwischen Staaten ist das zentrale Kriterium zu ihrer Unterscheidung. Sie ergibt sich aus der Verteilung nationaler Ressourcen. Dazu gehören Größe des Territoriums, Größe der Bevölkerung, Waffenarsenale und wirtschaftliche Leistung. Nationale Machtressourcen geben an, ob es sich bei Staaten um ernst zu nehmende Großmächte, weniger bedeutende Mittelmächte oder unbedeutende Kleinstaaten handelt. Die Machtverteilung zwischen Staaten bestimmt aber nicht nur über deren Position im internationalen System, sondern sie determiniert auch dessen Ordnung. Machtverteilung ist also nicht Selbsthilfe Internationale und innerstaatliche Politik lassen sich in zwei eindeutig begrenzte Bereiche teilen: Die nationale Politik ist durch das staatliche Gewaltmonopol befriedet, die internationale Politik kennt dieses Gewaltmonopol nicht. Trennung zwischen innerstaatlicher und internationaler Politik <?page no="157"?> 142 r ealIsmus und n eorealIsmus alleiniges Merkmal der Akteure, sondern vielmehr das Merkmal des internationalen Systems. Aus den theoretischen Annahmen des Strukturellen Realismus lassen sich bestimmte Verhaltensweisen und Dynamiken für Staaten und internationale Politik ableiten. 1. Alle Staaten streben nach Sicherheit und rüsten militärisch auf, um ihr Sicherheitsbedürfnis zu befriedigen. Dies führt zur wechselseitigen Bedrohung und mündet schließlich in einem Sicherheitsdilemma. 2. Staaten müssen verhindern, dass andere Staaten mehr Macht haben als sie. Folglich ist eine Außenpolitik, die auf den Ausgleich von Machtungleichgewichten abzielt, eine rationale Strategie. Staaten werden zunächst versuchen, ein Machtungleichgewicht durch eigene Aufrüstung, also durch eine Strategie des internen Ausbalancierens auszugleichen. Reicht dies nicht aus, bilden sie als Strategie des externen Ausbalancierens Allianzen mit anderen Staaten gegen Dritte. 3. Langfristige Kooperation ist allerdings unwahrscheinlich, da Staaten immer um ihre relativen Gewinne fürchten müssen. Das heißt, sie müssen befürchten, dass andere Staaten von der Kooperation mehr profitieren als sie selbst. Selbst kleine Unterschiede zugunsten ursprünglich weniger mächtiger Staaten können sich langfristig aufhäufen, so dass der ursprünglich unterlegene Staat mächtiger wird. Diesen Zusammenhang verdeutlicht das hypothetische Beispiel in Tabelle 4. 1. Obwohl Staat B ursprünglich geringere Gewinne hat als Staat A (80 Einheiten im Vergleich zu 120), steht er nach neun Jahren der Kooperation mit Staat A besser da als Staat A. Staaten müssen folglich immer dafür sorgen, dass Orientierung an relativen Gewinnen Kernannahmen des Strukturellen Realismus 1. Anarchie - definiert als Abwesenheit einer zentralen Ordnungsinstanz - ist das Kennzeichen des internationalen Systems. 2. Staaten sind rationale und einheitliche Akteure, die unabhängig von ihrer innerstaatlichen Verfasstheit agieren. 3. Das prägende Strukturmerkmal der internationalen Beziehungen ist die Machtverteilung der Staaten; es entscheidet, in welcher Position sich ein Staat befindet, und wie das System strukturiert ist. 4. Aggressionen anderer Staaten und Krieg sind jederzeit möglich. Daraus folgt, dass die Überlebenssicherung oberste Priorität für Staaten hat. 5. Internationale Anarchie schränkt das Verhalten von Staaten stark ein und zwingt sie, sich zuerst um ihre Sicherheit zu kümmern. Dazu sind sie auf Selbsthilfestrategien angewiesen. <?page no="158"?> 143 r ealIsmus und n eorealIsmus K ernannahmen des s truKturellen r ealIsmus Einheit 4 sie relativ zu anderen Staaten einen höheren Gewinn machen, zumindest aber der Gewinn gleich verteilt ist. Aus der Sorge um relative Gewinne ergibt sich auch, dass Staaten sich nicht langfristig innerhalb von Institutionen binden, oder nur, solange sie relative Gewinner sind. Institutionen oder internationale Organisationen können folglich als wenig einflussreiche Randphänomene der internationalen Beziehungen betrachtet werden, die keinen von mächtigen Staaten unabhängigen Einfluss auf Staaten ausüben. Mit anderen Worten, da wo internationale Organisationen bestehen, müssen sie als Instrumente der Großmächte angesehen werden. Entsprechend werden Realisten und Neorealisten nicht müde zu betonen, dass die tatsächlich durchsetzungsfähigen internationalen Organisationen wie die NATO oder die WTO diese Qualität nur aufweisen, weil sie von den mächtigsten Staaten gestützt werden bzw. die Ziele der Organisation mit den Interessen dieser Staaten deckungsgleich sind. Wo dies nicht der Fall ist, sind Organisationen letztendlich bedeutungslos oder ineffektiv. Staat A Staat B ursprüngliche Höhe der Machtressource 120 80 Zeitpunkt Gewinn Summe Gewinn Summe 1 10 130 15 95 2 10 140 15 110 3 10 150 15 125 4 10 160 15 140 5 10 170 15 155 6 10 180 15 170 7 10 190 15 185 8 10 200 15 200 9 10 210 15 215 10 10 220 15 230 Gesamtgewinne aus Kooperation für zwei Staaten Tab. 4.1 <?page no="159"?> 144 r ealIsmus und n eorealIsmus Sicherheitsdilemma Ein zentrales Konzept, das zum Verständnis der Sicherheitsdynamiken im internationalen System beiträgt, ist das des Sicherheitsdilemmas. Der Begriff geht auf John Herz zurück, der das Konzept 1950 erstmals beschrieb (Herz 1950). Das Sicherheitsdilemma erscheint auf den ersten Blick als Situation, die Staaten durch ihre Handlungen herbeiführen. Genauer betrachtet ist das Dilemma jedoch ein Resultat der Struktur des internationalen Systems. Die internationale Anarchie zwingt Staaten dazu, nach Macht zu streben, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Sie rüsten militärisch auf, um sich gegen potentielle feindliche Attacken zu schützen. Aber genau dadurch erhöhen sie die Unsicherheit für andere Staaten, die ihrerseits aufrüsten, was den ursprünglichen Staat zur weiteren Aufrüstung zwingt. Das Wettrüsten während des Kalten Kriegs ist ein historisches Beispiel, die Interaktionen zwischen dem Iran und Israel sind ein aktuelles Beispiel dafür. Realisten gehen davon aus, dass der Iran auf jeden Fall eine Motivation hat, sich Nuklearwaffen anzueignen. Die Intervention der USA im Nachbarland Irak hat der iranischen Regierung gezeigt, dass sie eine ähnliche Intervention im eigenen Land nur verhindert, wenn sie andere Staaten militärisch abschrecken kann. Die iranischen Sicherheitsanstrengungen führen dazu, dass sich Israel bedroht fühlt und die israelischen Drohungen resultieren darin, dass der Iran versucht, sein Programm so schnell wie möglich zu Ende zu bringen. Das allseitige Sicherheitsstreben mündet im Sicherheitsdilemma und einem Wettbewerb um Macht. Die Interaktion gewinnt eine Eigendynamik, 4.5 Abbildung 4.1 Staat A: Unsicherheit bezüglich des Verhaltens von Staat B Staat A strebt nach Sicherheit Staat A häuft Macht und Sicherheit an Staat B: Unsicherheit bezüglich des Verhaltens von Staat A Staat B strebt nach Sicherheit Staat B häuft Macht und Sicherheit an Sicherheitsdilemma nach John Herz (1950) Abb. 4.1 <?page no="160"?> 145 r ealIsmus und n eorealIsmus m achtGleIchGewIcht Einheit 4 die dazu führt, dass Staaten in der Machtkonkurrenz gefangen bleiben. Selbst rein defensiv eingestellten Staaten gelingt es nicht, aus ihr auszusteigen. „Da sich in einer Welt derart konkurrierender Einheiten niemand je ganz sicher fühlen kann, ergibt sich ein Wettlauf um die Macht, und der Teufelskreis von Sicherheitsbedürfnis und Machtanhäufung schließt sich.“ (Krell 2004) Das Dilemma liegt darin, dass jeder Staat individuell rational handelt, um seine Sicherheit zu erhöhen; weil aber alle Staaten dies tun, schaffen sie kollektiv eine riskantere Umgebung als im Ausgangszustand. Genau die Handlungen, die Staaten sicherer machen sollen, erhöhen also die Unsicherheit. Eine zentrale Frage ist an dieser Stelle, ob sich in so einem internationalen System Stabilität einstellt, und wenn ja, wie. Traditionell geben Realismus und Struktureller Realismus hier die gleiche Antwort: Stabilität wird über ein System des Machtausgleichs hergestellt, bei dem sich Staaten wechselseitig ausbalancieren und notfalls durch ein Gleichgewicht des Schreckens verhindern, dass ein Staat übermächtig wird. Machtgleichgewicht Das Streben nach Machtgleichgewicht ist die dominante Strategie von Staaten unter den Bedingungen der Anarchie: „Balance-of-power politics prevail wherever two, and only two, requirements are met: that the order be anarchic and that it be populated by units wishing to survive.“ (Waltz 1979: 121) Die Idee des Machtgleichgewichts ist, dass Staaten die Stellung eines stärkeren Staates ausgleichen wollen, da sie bei einer massiven Übermacht Gefahr laufen, ihre Autonomie und Souveränität zu verlieren. Die meisten Staaten verhalten sich dabei wie defensive Positionalisten (defensive positionalists), das heißt, sie sind vor allem bestrebt, ihre Position zu halten und zu verteidigen und nicht unbedingt ihre Macht um jeden Preis zu vergrößern. Eine große Gefahr geht aber von Staaten aus, die mehr Machtressourcen haben und somit andere Staaten bedrohen können, da kein anderer Staat wissen kann, wann dieser Staat seine Ressourcen nutzt, um diese auch in politische Macht umzuwandeln. Hier bietet China ein gutes Beispiel: Auch wenn China im Moment noch nicht über mehr Machtressourcen verfügt als die USA, wird China in den nächsten Jahrzehnten durch sein wirtschaftliches Wachstum an Macht gewinnen. Dies vergrößert die Unsicherheit unter den asiatischen Staaten, die als Ausgleich versuchen, die USA als Schutzmacht in der Region zu verankern. Wenn Staat A wahrnimmt, dass Staat B, beispielsweise aufgrund von Bevölkerungswachstum, Territorialgewinnen, dynamischer Wirtschaft, neuen Energieressourcen, vor allem aber aufgrund militärischer Aufrüs- 4.6 <?page no="161"?> 146 r ealIsmus und n eorealIsmus tung mächtiger wird, leitet Staat A eine Politik des Gleichgewichts (balancing) ein. Er wird zunächst versuchen, seinen potentiellen Machtverlust durch Mobilisierung eigener Ressourcen auszugleichen. Wenn dies nicht gelingt, geht er zu einer externen Gleichgewichtspolitik über: Er verbündet sich mit anderen Staaten. Auch Staat B wird versuchen, sich Bündnispartner zu suchen. Solange er Staat A überlegen ist, wird es für ihn jedoch schwierig, Bündnispartner zu finden, da Staaten sich prinzipiell der schwächeren Seite anschließen: Kleinere Staaten können zwar von der mächtigeren Seite mehr Schutz erhalten, aber sie wollen nicht nur überleben, sondern auch ihre Souveränität und Autonomie aufrechterhalten. Wenn sie sich Staat B anschließen, dann könnte Staat B sich zum Hegemon entwickeln und sogar ein Imperium bilden. Ein Hegemon ist ein Staat, der alle anderen Staaten durch „harte“ Machtressourcen wie militärische und wirtschaftliche Kapazitäten dominieren kann, und den kein anderer einzelner Staat ernsthaft gefährdet. Allerdings sind solche Allianzen, wie Kooperation insgesamt, nicht von Dauer. Dies ergibt sich aus der Sorge von Staaten um ihre positionale Macht und relativen Gewinne. Ordnungen innerhalb des internationalen Systems Anarchie des internationalen Systems, Machtgleichgewicht und Sicherheitsdilemma schließen nicht aus, dass es zu Formen internationaler Ordnung kommen kann. Wir unterscheiden drei prinzipielle Ordnungen je nach der Machtverteilung zwischen Staaten im internationalen System: Das unipolare System, das bipolare System und das multipolare System. Das unipolare System bzw. die Hegemonie eines Staates stellt eine stabile Form internationaler Ordnung dar. Eine Hegemonie ist nicht nur dadurch charakterisiert, dass ein Staat alle anderen Staaten durch seine militärische und wirtschaftliche Übermacht dominiert, sondern auch dadurch, dass der Hegemon die Spielregeln für die Interaktionen zwischen Staaten setzt und er den Willen und die Macht hat, diese durchzusetzen. Hegemonie schafft also im internationalen System Bedingungen, die mit denen innerhalb eines Staates vergleichbar sind. Wie in den Einheiten 1 und 2 deutlich wurde, waren die internationalen Beziehungen seit dem 16. Jahrhundert durch eine Abfolge von Hegemonien gekennzeichnet, die sich auf unterschiedliche Machtressourcen stützten: Portugal und Spanien dominierten im 16. Jahrhundert, gestützt auf ihre Seemacht und die höhere Weihe durch die katholische Kirche; die Niederlande dominierten im 17. Jahrhundert, gestützt auf ihre Position als Zwi- 4.7 Unipolare Systeme <?page no="162"?> 147 r ealIsmus und n eorealIsmus w eIterentwIcKlunGen der neorealIstIschen t heorIe Einheit 4 schenhändler für Spanien und Portugal; Großbritannien dominierte im 18. und 19. Jahrhundert als Seemacht und durch seinen Kolonialbesitz. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind die USA die dominante Macht. Bipolare Systeme bestehen aus zwei dominanten Staaten, die die Macht und die Staatenwelt untereinander aufgeteilt haben. Das klassische Beispiel ist die Machtrivalität zwischen den USA und der Sowjetunion während des Ost-West-Konflikts, aber auch die Doppelhegemonie von Großbritannien und den USA in der Zwischenkriegsperiode zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg ist ein Beispiel hierfür (vgl. Einheit 1). Multipolare Systeme bestehen typischerweise aus fünf bis sechs Machtzentren, die nicht in Allianzen miteinander verbunden sind. Tripolare Systeme sind relativ rar, existieren aber auch: Die Spaltung des sowjetisch-chinesischen Verhältnisses ab 1963 führte zu einem tripolaren System. Chinas Position zu dieser Zeit, aber mehr noch Japans wirtschaftlicher Aufstieg in den 1980er Jahren wurde von vielen als die Herausbildung eines tripolaren Systems interpretiert. Die drei Machtordnungen im internationalen System ▶ Die Hegemonie eines Staates wird als die stabilste internationale Ordnung betrachtet; sie ist aber gleichzeitig am wenigsten wahrscheinlich, da Staaten sich dem Hegemon unterordnen und damit Freiheitsverluste in Kauf nehmen müssen. ▶ Das bipolare System gilt ebenfalls als stabil, auch wenn es mit großen Spannungen verbunden ist. Der Grund dafür ist, dass das System trotz der Konkurrenz zwischen Staaten überschaubar ist und es wenig Anlass zu Fehlkalkulation gibt. ▶ Das multipolare System ist das instabilste und damit am meisten anfällig für Kriege. Das liegt daran, dass es im Vergleich zur Hegemonie weder über eine zentrale Instanz verfügt, die für Ordnung sorgt, noch ist es so übersichtlich wie das bipolare System. Die Wahrscheinlichkeit der Fehlkalkulation ist deshalb groß. Merke Weiterentwicklungen der neorealistischen Theorie Neorealisten haben seit der Veröffentlichung von Kenneth Waltz’ „Theory of International Politics“ die Theorie einer kontinuierlichen Prüfung und Weiterentwicklung unterzogen. Die folgenden Fragen standen dabei im Mittelpunkt: Determiniert die Struktur des internationalen Systems eher offensives oder defensives Verhalten? John J. Mearsheimer argumentiert in einer Reihe von einflussreichen Arbeiten, dass Staaten nicht defensive Positionalisten (defensive positionalists) sind, wie Waltz annimmt, sondern offensive Posi- Bipolare Systeme Multipolare Systeme 4.8 <?page no="163"?> 148 r ealIsmus und n eorealIsmus tionalisten (offensive positionalists) (Mearsheimer 1990; 1994). Das heißt, sie geben sich nicht mit einem einmal gefundenen Machtgleichgewicht beziehungsweise dem Status Quo zufrieden, sondern sie versuchen, ihre Macht stets zu mehren, weil nur das ihr Sicherheitsbedürfnis optimal befriedigt. Offensive Positionalisten unterscheiden sich also vom Strukturellen Realismus in seiner ursprünglichen Formulierung in einem zentralen Punkt: Staaten sind unzufrieden mit ihrer Machtposition, maximieren ihre relative Macht und streben immer nach der Hegemonie im internationalen System. Was erklärt die Instabilität des multipolaren Systems? Thomas Christensen und Jack Snyder (1990) argumentieren, dass ein multipolares System grundsätzlich Allianzentscheidungen verkompliziert. Beobachten lassen sich zwei Strategien, die beide das Kriegsrisiko erhöhen: Bei der Strategie des Schwarzen-Peter-Zuschiebens (buck passing) hoffen Staaten darauf, dass andere Staaten das Machtgleichgewicht herstellen werden. Sie bilden keine Allianzen, weil sie hoffen, die Kosten einer Gleichgewichtspolitik auf andere Staaten abwälzen zu können. Sie kalkulieren, dass der Kelch der Allianzpolitik an ihnen vorüber geht. Bei der Strategie der aneinander geketteten Strafgefangenen (chain ganging) binden sich Staaten auf Gedeih und Verderb an einen Staat, weil er für den Erhalt des Gleichgewichts notwendig ist. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs wird in dieser Hinsicht als Ergebnis der Strategie der angeketteten Strafgefangenen erklärt: Österreich griff Serbien an, das mit Serbien verbündete Russland griff daraufhin Österreich an, was Deutschland, das mit Österreich verbündet war, in den Krieg hineinzog. Dagegen wird der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs als Ergebnis des Schwarzen-Peter-Zuschiebens erklärt: Sowohl Frankreich als auch Großbritannien und die Sowjetunion hofften, dass die jeweils anderen Staaten Deutschlands Expansion unter Hitler eindämmen würden. Auch die vorbehaltlose Unterstützung Israels durch die USA folgt demnach der Logik der aneinander geketteten Strafgefangenen, weil Israel als essenziell für das Machtgleichgewicht im Nahen und Mittleren Osten betrachtet wird. Der Neoklassische Realismus stellt eine eigene Richtung dar, die sich-- im Rückgriff auf das Werk Hans Morgenthaus- - wieder stärker innenpolitischen Faktoren für das außenpolitische Verhalten von Staaten zuwendet. Diese werden dabei als intervenierende Variablen betrachtet, die den Effekt der materiellen Struktur des internationalen Systems auf Staaten verändern, ihn aber nicht aufheben. Randall Schweller (1994) hebt hervor, dass Staaten unterschiedliche Interessen haben. Sie lassen sich in Staaten kategorisieren, die eher eine Status- Quo-Orientierung haben und solche, die revisionistisch sind. Staaten, die ihre Macht vergrößern wollen, haben also große Anreize, eher eine Politik des Auf-den-Zug-Springens als eine Gleichgewichtspolitik zu verfolgen. <?page no="164"?> 149 r ealIsmus und n eorealIsmus s Ind r ealIsmus und s truKtureller r ealIsmus t heorIen , dIe K rIeGe befürworten ? Einheit 4 Diese Unterscheidung ist dabei innenpolitisch determiniert, nicht durch die Struktur des internationalen Systems. Fareed Zakaria (1998) führt die Variable „staatliche Kapazitäten“ (state strength) ein, um zu erklären, warum einige Staaten eine interne Gleichgewichtspolitik betreiben und andere eine externe Gleichgewichtspolitik. Er argumentiert, dass die Fähigkeit, interne Ressourcen zu mobilisieren, einen entscheidenden Einfluss darauf hat, ob Staaten überhaupt intern ausbalancieren können. Diese Fähigkeit hängt mit der Stärke der staatlichen Strukturen zusammen. Sind Realismus und Struktureller Realismus Theorien, die Kriege befürworten? Realisten und Neorealisten sehen Krieg immer als Möglichkeit am Horizont der internationalen Beziehungen. Sie teilen einen grundlegenden Pessimismus darüber, dass Staaten auf Dauer friedlich zusammenleben können. Aber der Realismus und der Strukturelle Realismus sind keine Theorien, die Kriege grundsätzlich befürworten (Masala 2011). Auch Morgenthau hat Zeit seines Lebens deutlich gemacht, dass eine verantwortliche Außenpolitik darin besteht, durch Machtpolitik einen Krieg zu verhindern. Staaten hätten deshalb die unbedingte Verantwortung, Machtpolitik zu betreiben, da nur sie das Streben nach einem Machtgleichgewicht induziert. Nur ein Machgleichgewicht kann Krieg verhindern. Hier wird deutlich, dass sich Realismus und Struktureller Realismus als analytische und nicht normative Theorien verstehen, selbst wenn die eben dargelegte öffentliche Intervention zeigt, dass Neorealisten durchaus Handlungsempfehlungen abgeben, wie sich Staaten verhalten sollen. Der Unterschied zu einer normativen Theorie wie der des Idealismus ist darin zu sehen, dass Neorealistinnen nicht davon ausgehen, dass Anarchie an sich gut und eine Politik des Machtgleichgewichts an sich erstrebenswert sei, wie Idealisten das für internationale Kooperation beansprucht haben. Vertreter des Strukturellen Realismus treten hier nicht als Idealisten, sondern als Zweckrationalisten auf, ihre Handlungsanweisung ist nicht normativ, sondern präskriptiv, das heißt, sie geben an, welche Strategie unter gegebenen Bedingungen und in Anbetracht eines gegebenen Ziels vernünftig ist. Realismus und Struktureller Realismus sehen-- nach Meinung ihrer Vertreterinnen und Vertreter-- internationale Beziehungen in aller Klarheit so, wie sie sind und nicht, wie sie sein sollten. In einer von Anarchie und Selbsterhaltungstrieb geprägten Welt haben Staaten wenig Alternativen, als das Spiel um Macht mitzuspielen. 4.9 <?page no="165"?> 150 r ealIsmus und n eorealIsmus Führende Neorealisten wie John J. Mearsheimer und Stephen Walt wandten sich 2003 öffentlich gegen den Einmarsch der USA im Irak. Die USA unter Präsident George W. Bush hatten der irakischen Führung unter Saddam Hussein vorgeworfen, sie verfolge ein Nuklearbombenprogramm und habe die Fähigkeit zum Abschuss von Atomwaffen erlangt. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen arbeitete hart daran, den Irak für eine umfassende Inspektion seiner atomaren Anlagen zu gewinnen. Die irakische Führung stritt jedoch vehement ab, ein Atomwaffenprogramm zu verfolgen. Insgesamt 34 führende Neorealisten unterzeichneten zu diesem Zeitpunkt einen offenen Brief, in dem sie die Pläne der Bush-Administration, in den Irak einzumarschieren, stark kritisierten. Ein Krieg sei mit unabsehbaren Folgen verbunden, die Opfer auf amerikanischer Seite höchstwahrscheinlich sehr hoch. Aber vor allem kritisierten die Wissenschaftler, dass die Bush-Administration die Politik der Abschreckung als ineffektiv bewertete, obgleich es sich dabei erwiesenermaßen um eine sehr wirkungsvolle Politik handle. So, wie es dem Westen während des Kalten Kriegs gelungen sei, die Sowjetunion abzuschrecken, könne auch der Irak abgeschreckt werden. Mearsheimer, Walt und ihre Kollegen warfen der Bush-Administration vor, gegen das aufgeklärte nationale Interesse der USA zu handeln und sich dabei von Kriegstreibern in den USA anstacheln zu lassen. „It is not surprising that those who favor war with Iraq portray Saddam as an inveterate and only partly rational aggressor. They are in the business of selling a preventive war, so they must try to make remaining at peace seem unacceptably dangerous. […] Both logic and historical evidence suggest a policy of vigilant containment would work, both now and in the event Iraq acquires a nuclear arsenal. Why? Because the United States and its regional allies are far stronger than Iraq. […] If the United States is, or soon will be, at war with Iraq, Americans should understand that a compelling strategic rationale is absent. This war would be one the Bush administration chose to fight but did not have to fight. Even if such a war goes well and has positive long-range consequences, it will still have been unnecessary. And if it goes badly - whether in the form of high U. S. casualties, significant civilian deaths, a heightened risk of terrorism, or increased hatred of the United States in the Arab and Islamic world - then its architects will have even more to answer for.“ Den gesamten Brief finden Sie im Internet: John J. Mearsheimer and Stephen Walt, „An unnecessary war“, Foreign Policy, http: / / mearsheimer.uchicago.edu/ pdfs/ A0032.pdf (letzter Zugriff 08.08.2016). Sind Realisten Kriegstreiber? <?page no="166"?> 151 r ealIsmus und n eorealIsmus s Ind d eutschland und e uropa machtVerGessen ? Einheit 4 Sind Deutschland und Europa machtvergessen? Während in den USA darüber diskutiert wird, ob die militärischen Interventionen des Landes die internationale Stabilität stützen oder sie eher konterkarieren, wird Deutschland und Europa oft nachgesagt, militärische Mittel zu wenig einzusetzen. Zwei Ansätze sollen hier erläutert werden: Ein normativer Ansatz, der fordert, dass Europa in seiner Außenpolitik umschwenken müsse, und ein analytischer Ansatz, der erklärt, warum die europäische Außenpolitik relativ wenig militärische Instrumente nutzt. Der Journalist und Politikwissenschaftler Nikolas Busse kritisiert in seinem Buch „Die Entmachtung des Westens: Die neue Ordnung der Welt“ (2009) die Machtvergessenheit Deutschlands und Europas. Aber gerade in der internationalen Politik komme es auf Macht an und weil Europa sich nicht darum kümmere, wer die aufstrebenden Machtzentren sind, verliere es an Einfluss. Asien steht dabei im Zentrum seiner Überlegungen, weil die wirtschaftlich aufstrebenden Mächte China, Indien und Russland den Einfluss des Westens Schritt für Schritt zurückdrängten. Europa verliere dabei auf mehreren Ebenen: militärisch, energiepolitisch und politisch. Während asiatische Staaten wie die Volksrepublik China und Japan ihre Streitkräfte modernisierten und dabei wichtige Lehren aus dem Irak-Krieg gewonnen hätten, der neue Maßstäbe für die konventionelle Kriegsführung gesetzt habe, dächten die europäischen Staaten nicht daran, ihre Militärstrategie zu verändern. Mit dem militärischen Zwergendasein schwinde aber der globale Einfluss Europas. Busse kritisiert Europas fehlenden Selbstbehauptungswillen und die europäische Politik des „Menschenrechtsinterventionismus“, die idealistisch motiviert sei und gerade deshalb versage. Diese würde außerhalb Europas als Umerziehungsprojekt des Westens abgelehnt und könne die Probleme in den betroffenen Staaten auch nicht effektiv lösen. Europa verliere letztlich an Ansehen, weil es die wesentlich effektiveren „harten“ Mittel der Politik nicht einsetzen wolle. Adrian Hyde-Price (2006) geht nicht der Frage nach, ob Europa mehr militärische Machtmittel einsetzen solle, sondern er stellt eine klassische Warum-Frage: Warum hat die EU weniger militärische außenpolitische Instrumente entwickelt als andere Staaten? Warum kann sie es sich leisten, ein militärisches Zwergendasein zu führen bzw. als eine „normative Macht“ zu agieren? Er erklärt dieses Phänomen als Ergebnis von Strukturzwängen des internationalen Systems beziehungsweise der Existenz von internationalen Strukturen, die eine Abweichung von dem Zwang zur Konzentration auf Selbsthilfestrategien ermöglichen. Nach Hyde-Price konnten sich die europäischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg auf die wirtschaftliche Integration konzentrieren, weil mit der bipolaren Struktur ein relativ stabiles System 4.10 Einfluss Europas schwindet mit militärischem Zwergendasein <?page no="167"?> 152 r ealIsmus und n eorealIsmus entstand, in dem die USA und die Integration in der NATO einen effektiven Sicherheitsschirm für die Mitglieder darstellten. Dieser machte die Entwicklung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik überflüssig. Das Ende des Ost- West-Konflikts hatte drei sicherheitspolitische Konsequenzen für Europa, die jedoch alle über wirtschaftliche Integration gelöst werden konnten: Das Erstarken eines geeinten Deutschlands, die wachsende wirtschaftliche Konkurrenz zu den USA und Japan und politische Instabilität in Osteuropa, die vor allem für Deutschland als stärkste Kraft eine Herausforderung darstellte. Alle drei Probleme konnten durch die verstärkte Integration innerhalb der EU gelöst werden, während die „harte“ oder militärische Sicherheit weiterhin von den USA garantiert wurde. Die EU agierte hier aber nicht allein als „normative Kraft“, sondern setzte auch „harte“ Mittel ein, wie politische Konditionalität, um einen innerstaatlichen Umbau in den osteuropäischen Staaten zu erreichen. Mit dem unipolaren Moment änderte sich wiederum die Sicherheitsstruktur für die EU-Staaten. Es machte die US-Sicherheitspolitik weniger berechenbar für die EU, die stärker entsprechend der eigenen Interessen intervenierte, ein Faktor, der dadurch verschärft wurde, dass sich die USA weniger dem transatlantischen Allianzmanagement widmeten. Diese Unsicherheit erforderte Anpassung: Die EU entwickelte die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die auch den Einsatz militärischer Mittel vorsieht. Wie realistische Ansätze vorhersehen, sei dieser Prozess dominiert durch die großen Mitgliedsstaaten der EU und über zwischenstaatliche Kooperation organisiert ohne Souveränitätsverzicht. <?page no="168"?> 153 r ealIsmus und n eorealIsmus Einheit 4 V erwendete l Iteratur 1. Was besagt das Sicherheitsdilemma in aller Kürze? 2. Inwiefern würden sich die Aussagen von klassischen und strukturellen Realisten in Bezug auf das Verhalten Russlands und Chinas im Eingangsbeispiel unterscheiden? Welche Motivationen würden die beiden theoretischen Richtungen den Staatsführungen unterstellen und welche weitergehenden Aussagen würden beide für das konkrete Verhalten in Bezug auf Territorialfragen treffen? 3. Warum ist nach Ansicht von Realisten die Wahrscheinlichkeit gering, dass Staaten dauerhaft kooperieren? 4. Diskutieren Sie, was der Realismus unter einer verantwortungsvollen Außenpolitik versteht. Unter welchen Bedingungen würden Neorealisten einem Krieg zustimmen? 5. Ist die Position von Nikolas Busse zur Politik Europas und Deutschlands eine realistische oder strukturell realistische Position? 6. Rekapitulieren Sie Einheiten 1 und 2. Welche der Erklärungen für den Ausbruch des Ersten und Zweiten Weltkriegs entspricht am ehesten einer realistischen Erklärung? Busse, Nikolas (2009): Die Entmachtung des Westens: Die neue Ordnung der Welt. Berlin: Propyläen Verlag. 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Weber, Max (1992 [1919]): Politik als Beruf. In: Weber, Max (Hrsg.): Gesamtausgabe, Band 17, Tübingen: Mohr Siebeck. Übungen Verwendete Literatur <?page no="170"?> 155 s Ind d eutschland und e uropa machtVerGessen ? Einheit 5 Neoliberaler Institutionalismus Inhalt 5.1 Warum kooperieren Staaten nicht? 156 5.2 Entwicklung des neoliberalen Institutionalismus in den Internationalen Beziehungen 157 5.3 Interdependenz als Schlüsselkonzept des Institutionalismus 158 5.4 Kooperation durch Hierarchie oder Institutionen 162 5.5 Herausforderungen für internationale Kooperation-- Spieltheoretische Erkenntnisse 164 5.6 Die evolutionäre Entwicklung von Kooperation 171 5.7 Institutionen als Weg aus dem Kooperationsdilemma 172 5.8 Einfluss der Situationsstruktur auf Institutionen 174 5.9 Design und Unabhängigkeit von internationalen Institutionen 175 Übungen 177 Verwendete Literatur 177 Dieses Kapitel erklärt, unter welchen Bedingungen in den internationalen Beziehungen kooperiert wird. Es wird hierzu die Theorie des neoliberalen Institutionalismus eingeführt. Es werden spieltheoretische Modelle erläutert, um aufzuzeigen, warum Kooperation im internationalen System zwar schwierig, aber nicht unmöglich ist. Überblick <?page no="171"?> 156 n eolIberaler I nstItutIonalIsmus Warum kooperieren Staaten nicht? Im Mai 2012 veröffentlichte der Club of Rome, eine seit 1968 bestehende Vereinigung bekannter Persönlichkeiten, seine Prognose über die Welt im Jahr 2052 (Club of Rome 2012). Das Szenario ist erschreckend: Nach Ansicht der Experten des Clubs bleiben uns noch 40 Jahre, um die schlimmsten negativen Konsequenzen der jahrzehntelangen Übernutzung natürlicher Ressourcen abzuwenden. Im Moment ist der Anpassungsprozess, dem wir uns unterziehen, zu langsam, um den globalen Klimawandel aufzuhalten: Wir verbrauchen 40 Prozent mehr an natürlichen Rohstoffen, als die Natur produzieren kann. Wenn wir so weiter machen, wird die globale Temperatur bis 2080 um 2,8 Grad Celsius angestiegen sein, die globale Erwärmung wäre dann nicht mehr aufzuhalten und würde sich verselbstständigen. Durch abschmelzende Pole und den Anstieg des Meeresspiegels werden Küstengebiete die Folgen des Klimawandels als Erstes zu spüren bekommen. Dabei gehören Küstengebiete zu den am dichtesten bewohnten Regionen der Erde: 22 der 50 größten Städte der Welt sind Küstenstädte, darunter Tokio, Shanghai, Hongkong, New York und Mumbai. In Bangladesch liegen 17 Prozent der Landesfläche, auf der 35 Millionen Menschen leben, nicht höher als einen Meter über dem Meeresspiegel. In Asien werden außerdem Vietnam sowie Teile Chinas und Indiens besonders betroffen sein. Länder, die im Pazifik auf Atollen liegen, wie Nauru oder Tuvalu, werden ganz versinken. Obwohl Staaten große Anreize haben müssten, sich auf verbindliche Klimaschutzziele zu einigen, waren die Ergebnisse der großen Klimaschutzkonferenzen einschließlich der Pariser Konferenz 2015 aus Sicht von Umweltschützern enttäuschend. Klimaschutzexperten rechnen nicht damit, dass die Klimaschutzziele überhaupt erreicht werden können. Warum fällt es Staaten so schwer, zu kooperieren? Müssten sie nicht alle ein Interesse daran haben, das Klima-- und damit auf lange Sicht die Menschheit-- zu retten? Neoliberale Institutionalisten geben hierauf eine klare Antwort: Das internationale System ist kooperationsfeindlich. Das liegt daran, dass es keine zentrale Instanz-- einen Weltstaat-- gibt, die Kooperation erzwingt bzw. Staaten bestimmte Politiken vorschreibt und deren Implementierung überwachen könnte. Ein solcher Weltstaat bleibt vorerst auch utopisch. Warum, wie und unter welchen Bedingungen Institutionen entstehen, die trotzdem effektive Kooperation zwischen Staaten ermöglichen, ist zentraler Gegenstand des neoliberalen Institutionalismus und damit dieser Einheit. 5.1 Die Herausforderung der Kooperation ... ... unter kooperationsfeindlichen Bedingungen <?page no="172"?> 157 n eolIberaler I nstItutIonalIsmus Einheit 5 e ntwIcKlunG des neolIberalen I nstItutIonalIsmus Entwicklung des neoliberalen Institutionalismus in den Internationalen Beziehungen Der Dominanz des Realismus und Strukturellen Realismus in der Disziplin der Internationalen Beziehungen stand die immer wiederkehrende Erfahrung gegenüber, dass Staaten langfristig kooperieren. Auch wenn der Ost- West-Konflikt die internationalen Beziehungen beherrschte, existierte innerhalb der Blöcke weitreichende Kooperation, die für die realistische Theorie ein Rätsel blieb. Warum kooperierten die westeuropäischen Staaten in so hohem Maße? Nur sechs Jahre nach einem zerstörerischen Weltkrieg wurde in Europa die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl gegründet, ein politisches Experiment der Kooperation im Sicherheitsbereich, das in dieser Form neu war: Die Kohle- und Stahlproduktion von zwei ehemals verfeindeten Staaten wurde vergemeinschaftet, um Transparenz und Vertrauen aufzubauen (vgl. Einheit 2, 14). In den 1970er Jahren hatte sich diese Form der Kooperation mit der Europäischen Gemeinschaft sogar vertieft. Es war dieses Rätsel der institutionalisierten Kooperation zwischen industrialisierten Staaten, das nicht in das Erklärungsschema realistischer Theorie passte und das Robert O. Keohane motivierte, eine institutionalistische Theorie internationaler Beziehungen zu entwickeln (Conversations with History: Robert O. Keohane 2008: 10’50). Mit fortschreitender politischer Integration in Westeuropa und anderen Regionen setzte sich immer stärker die Idee durch, dass Kooperation auf Dauer möglich ist (vgl. Einheit 14). Der neoliberale Institutionalismus hat sich dabei von einer Theorie, die historische Veränderungsprozesse zum Ausgangspunkt nimmt, innerhalb von 10 Jahren zu einer Theorie entwickelt, die auf der Basis formalisierter Interaktionen und ökonomischer Theorien Kooperation erklärt. Vertreter/ innen haben sich der Herausforderung internationaler Kooperation aus ganz unterschiedlichen Richtungen genähert, die erst nach und nach zu einem kohärenten Gedankengebäude geworden sind: Robert O. Keohane und Joseph Nye beispielsweise haben sich in ihren frühen Veröffentlichungen überwiegend mit der Frage beschäftigt, wie internationale Organisationen auf das außenpolitische Verhalten von Staaten einwirken und Kooperation fördern können (Keohane/ Nye 1972). Sie arbeiteten den Beitrag transnationaler Akteure für internationale Politik heraus, wie zum Beispiel von Teilen nationaler Ministerien, multinationalen Unternehmen und Nicht-Regierungsorganisationen (Keohane/ Nye 1977). Diese Akteure vernetzen sich an Regierungen vorbei und beeinflussen den Kontext, in dem Regierungshandeln stattfindet: Sie stellen eine wirtschaftliche und politische Interdependenz zwischen Staaten her, die die Kooperationswahrscheinlichkeit signifikant verändert. 5.2 Das Rätsel institutionalisierter Kooperation Erklärung auf der Basis formalisierter Theorie <?page no="173"?> 158 n eolIberaler I nstItutIonalIsmus Erst in der Auseinandersetzung mit dem Realismus und Strukturellen Realismus in den 1980er Jahren ging es grundsätzlicher um die Frage, unter welchen Bedingungen überhaupt internationale Institutionen entstehen, und welche Funktionen sie erfüllen (Keohane 1984; Zürn u. a. 1991; Baldwin 1993; Kegley 1995; Hasenclever u. a. 2002). Diese Präzisierung der Fragestellung ging aber auch mit einem stärkeren Fokus auf staatliche Akteure einher, während die in den 1970er Jahren so vielbeachteten transnationalen Akteure in den Hintergrund rückten (Jetschke 2004). Neoliberaler Institutionalismus Neoliberaler Institutionalismus hat sich erst in den frühen 1980er Jahren als Sammelbegriff für diese Theorie herausgebildet. Bis dahin war die Theorie auch unter transnationalem Intergouvernementalismus bekannt oder später als Regimetheorie. Im Folgenden wird diese Theorieschule der Einfachheit halber als Institutionalismus bezeichnet. Merke Der Institutionalismus teilt bewusst wesentliche Grundannahmen des Strukturellen Realismus, nämlich dass das internationale System ein anarchisches ist und dass Staaten die relevanten Akteure sind, die rational handeln und ihre Interessen verfolgen. Während aber der Strukturelle Realismus daraus ausschließlich eine Welt des Konfliktes ableitet, zeigt der Institutionalismus, dass internationale Kooperation dennoch möglich ist. Staaten kooperieren, weil Verflechtung und wechselseitige Abhängigkeit der Staaten Probleme schaffen, die gemeinsam gelöst werden müssen und können. Staaten kooperieren, weil es in ihrem rationalen Interesse ist: Sie ziehen materielle Vorteile aus Kooperation. Überall dort, wo Staaten durch Kooperation Gewinne realisieren können, besteht also die Chance der Kooperation (Müller 1993). Zwar weist die Struktur des internationalen Systems Eigenschaften auf, die kooperationshinderlich sind, aber diese können unter bestimmten Bedingungen durch Institutionen abgemildert werden. Interdependenz als Schlüsselkonzept des Institutionalismus Interdependenz ist das Schlüsselkonzept, das es Institutionalisten erlaubt, die Kooperationsprobleme der internationalen Politik in einem anderen Licht zu sehen und deshalb die Chance auf Kooperation besser zu bewerten, als dies Realisten tun. Kein Staat kann zur Kooperation gezwungen werden, aber es muss ein gewisses Maß an Kooperation stattfinden, wenn bestimmte Probleme gelöst werden sollen. Interdependenz erfasst hier den Steuerungsverlust von Staaten, die sich durch die Veränderung der Strukturen des interna- Bedingungen für Entstehung und Funktionen internationaler Institutionen Auf der Grundlage der Annahmen des Neorealismus Kooperation als rationales Interesse 5.3 <?page no="174"?> 159 n eolIberaler I nstItutIonalIsmus I nterdependenz als s chlüsselKonzept des I nstItutIonalIsmus Einheit 5 tionalen Systems ergeben haben (Kohler-Koch 1989: 111). Der Klimawandel hat beispielsweise solche Ausmaße angenommen, dass Staaten zusammenarbeiten müssen, um ihn abzumildern. Um ihn zu stoppen, müssten sie sogar in hohem Maß kooperieren. Die Struktur des internationalen Systems wiegt jedoch schwer und kann verhindern, dass Staaten kooperieren. Dies liegt vor allem daran, dass Kooperation, die nicht zentral koordiniert wird, allein darauf bauen muss, dass Staaten Anreize haben, freiwillig zu kooperieren und versprochene Leistungen zu erbringen. Interdependenz ist ein analytisch gehaltvoller Begriff: Er beschreibt nicht nur die zunehmende Verflechtung zwischen Staaten in Form einer Dif- Kernannahmen der Theorie des Institutionalismus 1. Anarchie - definiert als Abwesenheit einer zentralen Ordnungsinstanz - ist das Kennzeichen des internationalen Systems. 2. Die zentralen Akteure des internationalen Systems sind Staaten und transnationale Gruppen, die als rationale Akteure handeln und ihren Eigennutz maximieren. 3. Das prägende Strukturmerkmal der internationalen Beziehungen ist Interdependenz. Interdependenz ist problemfeldspezifisch, so dass die Position eines jeden Akteurs über Problemfelder hinweg variieren kann. 4. Akteure orientieren sich an absoluten - nicht relativen - Gewinnen, das heißt, entscheidend ist ihr Gewinn im Vergleich zum eigenen Status Quo. Institutionalismus Der Institutionalismus gibt Antworten auf die Fragen: ▶ Unter welchen Bedingungen kommt es zur Bildung effektiver internationaler Institutionen? ▶ Wie müssen Institutionen ausgestaltet sein, um Kooperation auf Dauer zu gewährleisten? ▶ Welchen Beitrag leisten transnationale Akteure, internationale Kooperation auf Dauer zu stellen? Institutionalismus erklärt ▶ warum und wie internationale Institutionen dazu beitragen, dass prinzipiell kooperationswillige Staaten auch tatsächlich kooperieren (Martin/ Simmons 1998), und ▶ warum sich durch Zusammenarbeit in Institutionen die Grundstruktur der internationalen Politik tendenziell dahingehend verändern kann, dass die Wahrscheinlichkeit der Kooperation über Zeit höher wird: Die Wirkung der Anarchie lässt sich abmildern. Merke Zentrale Fragestellungen Erklärungsanspruch <?page no="175"?> 160 n eolIberaler I nstItutIonalIsmus ferenzierung in der internationalen Arbeitsteilung und eines zunehmend rascheren Anstiegs der internationalen Transaktionen in Bezug auf Güter, Dienstleistungen, Wissenschaft und Technologie, Menschen und Kapital (dies wäre Verbundenheit). Der Begriff wird genauer für die Art von Verbundenheit verwendet, die wechselseitige Kostenwirkungen hat. Wo Interaktionen keine wesentlichen kostspieligen Effekte haben, besteht einfach nur gegenseitige Verbundenheit. Interdependenz vs. Verbundenheit Interdependenz = Interaktionen mit wechselseitigen Kostenwirkungen Verbundenheit = Interaktionen ohne wechselseitige Kostenwirkungen Merke Keohane und Nye unterscheiden darüber hinaus, wie schnell und wie effektiv Akteure auf Interdependenz reagieren können (Keohane/ Nye 1977: 9). Empfindlichkeit beschreibt, wie schnell und umfassend ein Land auf kostspielige Effekte (negative Externalitäten), die die Politik eines anderen Landes hervorruft, reagieren und sich anpassen kann. Verwundbarkeit bezeichnet eine Situation, in der ein Akteur die Kosten negativer Externalitäten selbst dann tragen muss, wenn er seine Politik angepasst hat. Empfindlichkeit und Verwundbarkeit Im Fall der Empfindlichkeit kann die Kostenwirkung also reduziert werden, im Fall der Verwundbarkeit bleiben die Kosten bestehen, selbst wenn ein Staat seine Politik modifiziert hat. Verwundbarkeit ist mit Anpassungskosten verbunden. Anpassungskosten für eine alternative Handlungsstrategie können sich dabei von Problemfeld zu Problemfeld unterscheiden. So kann ein Staat verwundbar sein in Bezug auf einen plötzlichen Anstieg der internationalen Rohölpreise, aber nur empfindlich gegenüber Fluktuationen bei bestimmten strategischen Mineralien wie Seltenen Erden oder Gold. Interdependenz und ihre Kosteneffekte werfen die Frage der politischen Strategiewahl auf: Wie sollen Akteure mit ihrer Verwundbarkeit umgehen? Prinzipiell haben Staaten drei Optionen: Sie können versuchen, Staaten dazu zu zwingen, Anpassungskosten zu schultern (hegemoniale Strategie). Das ist aber teuer. Sie können versuchen, einseitig ihre Verwundbarkeit zu reduzieren (unilaterale Strategie). Das ist unter der Bedingung von Interdependenz wenig erfolgversprechend. Sie können schließlich versuchen, ihre Verwund- <?page no="176"?> 161 n eolIberaler I nstItutIonalIsmus I nterdependenz als s chlüsselKonzept des I nstItutIonalIsmus Einheit 5 barkeit mit anderen zu managen (multilaterale Strategie). Multilateralismus zielt darauf ab, andere Staaten dazu zu bringen, internationale Institutionen zu etablieren. Für Keohane und Nye besteht in Interdependenz die Chance, durch internationale Kooperation gemeinsame Gewinne zu erzielen. Die Realisierung von individuellen Zielen hängt von den Entscheidungen anderer ab. Wenn Ziele unilateral verfolgt werden, bleiben Gewinne suboptimal. Die Entstehung von Institutionen setzt dabei paradoxerweise voraus, dass sowohl gemeinsame Interessen als auch Interessenkonflikte gegeben sein müssen. Kooperation erfordert eine Mischung von Motiven (mixed motives). Bei gleichen Interessen sind Institutionen unnötig, weil das kollektive Ergebnis durch das unilaterale Handeln jedes einzelnen Staates erreicht wird. So hat beispielsweise Japan in den 1980er Jahren damit begonnen, in Asien unilateral seine Zölle zu senken, um seine Wirtschaft zu öffnen. Andere Staaten in der Region zogen nach. Dadurch wurde in Asien der Handel liberalisiert, ohne dass dazu Kooperation nötig war oder eine Institution geschaffen werden musste. Im Fall der Konflikte ohne gemeinsame Interessen sind Institutionen unwahrscheinlich, weil es schwer oder sogar unmöglich ist, Kompromisse zu finden. Wenn zwei Länder an einem Flusslauf liegen, ist das flussabwärts liegende Land von den unter Umständen umweltschädlichen Wassereinleitungen des flussaufwärts gelegenen Staats betroffen. Der Oberlieger ist jedoch nicht von den Einleitungen des Unterliegers betroffen. Der weiter unten liegende Staat hat ein Interesse an Kooperation, nicht aber unbedingt der weiter oben liegende. Nur im Fall der gemeinsamen Interessen und Konflikte ist eine Institutionenbildung wahrscheinlich. Nur dann haben Akteure Anreize zur Kooperation, nämlich ihre gemeinsamen Interessen auch tatsächlich gemeinsam zu verwirklichen. Mischung von Motiven als Bedingung für Kooperation Unnötige Institutionenbildung Unwahrscheinliche Institutionenbildung Wahrscheinliche Institutionenbildung In nahezu jeder Wohngemeinschaft gibt es Streit über das Abspülen oder darum, wer die Spülmaschine ein- oder ausräumt. Sie selbst würden die Spülmaschine ja regelmäßig ausräumen, aber nur, wenn Ihre Mitbewohnerin das auch mit der gleichen Regelmäßigkeit tut. Sie beide haben auch Anreize, das Ausräumen einfach zu vertagen und darauf zu warten, dass der andere die Spülmaschine ausräumt, bevor Sie es selbst machen müssen. Solange es keine Regelung gibt, werden Sie sich wahrscheinlich immer wieder darüber streiten, wer mit der Arbeit dran ist. Sie haben beide ein Interesse an einer aufgeräumten Küche und beide Anreize, die Maschine nicht selbst auszuräumen. In dieser Situation ist es wahrscheinlich, dass Sie sich an den Tisch setzen und eine Regelung ausarbeiten, z. B. das Ausräumen immer an wechselnden Tagen zu machen. Das alltägliche Gefangenendilemma in der Wohngemeinschaft <?page no="177"?> 162 n eolIberaler I nstItutIonalIsmus Kooperation durch Hierarchie oder Institutionen Robert O. Keohane gewann aus der historischen Entwicklung von internationalen Institutionen eine wichtige Erkenntnis: effektive Zusammenarbeit oder institutionalisierte Kooperation entstand dort, wo die Anarchie des internationalen Systems außer Kraft gesetzt oder doch zumindest stark abgemildert war. In „After Hegemony: Cooperation and Discord in the World Political Economy“ (Keohane 1984) zeigt er, dass die bestehenden internationalen Institutionen, wie die internationalen Finanzinstitutionen Internationaler Währungsfonds (IWF), die Weltbank oder das General Agreement on Tarifs and Trade (GATT), entstehen und wachsen konnten, weil sie von den USA nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet und unterstützt worden waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellten die USA als weithin anerkannter Hegemon mit den Ressourcen zur Machtausübung und dem Willen, diese auch einzusetzen, Institutionen bereit. Die Motive des Hegemons sind dabei durchaus eigennützig: Andere Staaten binden sich an Regeln, die der Hegemon setzt und letztlich etabliert der Hegemon Institutionen bzw. eine Ordnung, von denen er am meisten profitiert. Die Existenz einer Autorität, die diese Leistungen erbringt, ermöglicht Kooperation, weil damit wesentliche Probleme von Kooperation, wie beispielsweise die Sanktionierung von Regelverletzern, behoben sind. Gleichzeitig ging Keohane- - wie auch viele seiner Zeitgenossen- - aber davon aus, dass die USA ihre Stellung als Hegemon verlieren würden. Damit stellte sich die drängende Frage, ob die von den USA geschaffenen internationalen Institutionen, die sich stabilisierend auf das internationale System ausgewirkt hatten, Bestand haben könnten. Keohane beantwortete die Frage mit einem eindeutigen „Ja! “ und begründete diese Antwort mit einer ausgefeilten Theorie von Institutionen: Rationale Akteure haben ein Interesse, internationale Institutionen zu schaffen 5.4 Konflikte Gemeinsame Interessen Institutionenbildung? − es gibt keine Konflikte + es gibt gemeinsame Interessen − Institutionen unnötig + es gibt Konflikte − es gibt keine gemeinsamen Interessen − Institutionen unwahrscheinlich + es gibt Konflikte + es gibt gemeinsame Interessen + Institutionen wahrscheinlich Wann ist Institutionenbildung wahrscheinlich? Tab. 5.1 <?page no="178"?> 163 n eolIberaler I nstItutIonalIsmus K ooperatIon durch h IerarchIe oder I nstItutIonen Einheit 5 Hegemonie und Institution Keohane benutzt die Theorie der hegemonialen Stabilität, um zu zeigen, welche Leistungen eine koordinierende Instanz erbringen muss, um Kooperation zu erleichtern. Diese Leistungen können von einem Hegemon oder einer Institution erbracht werden. Hegemonie ist eine hinreichende, aber keine notwendige Bedingung für Kooperation. Diese kann grundsätzlich auch über Institutionen erzielt werden. Merke Die Theorie der hegemonialen Stabilität geht davon aus, dass stabile und effektive Institutionen von dominanten Staaten - dem Hegemon - geschaffen werden. Ein Hegemon stellt eine Form von zentralisierter Autorität dar. Er gibt nicht nur Regeln vor, nach denen Kooperation stattfindet, sondern er hat auch die Machtressourcen, diese Regeln durchzusetzen und die Nichteinhaltung zu sanktionieren. Die Interessen eines Hegemons sind dabei eigennützig: Er profitiert am meisten von Institutionen, die er selbst geschaffen hat. Ursprünglich geht die Theorie auf Charles P. Kindleberger (1919-2003) zurück, der sie am Fall der Großen Depression der 1930er Jahre entwickelt hat (Kindleberger 1973). Anlässlich des 40-jährigen Jubiläums der ersten Ausgabe von „The Great Depression“ (1973) ist das Buch 2012 neu aufgelegt worden. Der Anlass ist aktuell: Kindleberger analysierte die Finanzkrise der 1930er Jahre und ihren Einfluss auf Europa. Theorie der hegemonialen Stabilität und aufrechtzuerhalten. Institutionen erbringen bestimmte Leistungen oder Funktionen, die die Kooperation befördern. Rationale Akteure antizipieren diese Funktionen, was es ihnen erleichtert, sie auch tatsächlich zu schaffen. Nichtsdestotrotz stellt die Abwesenheit einer zentralen koordinierenden Instanz eine enorme Herausforderung für Kooperation dar. Theorie Struktureller Realismus Institutionalismus Akteure des internationalen Systems Staaten Staaten und transnationale Gruppen Ziele des Handelns Selbsterhalt und Sicherheitsinteresse (fix) Realisierung problemfeldspezifischer Interessen Logik des Handelns Kosten-Nutzen-orientiert Kosten-Nutzen-orientiert Grundkennzeichen der internationalen Beziehungen Materielle Struktur der Anarchie Materielle Struktur der Anarchie Grundstruktur der internationalen Beziehungen Verteilung von Machtpotenzial Problemfeldspezifische Interdependenz Vergleich der Grundannahmen von Strukturellem Realismus und Institutionalismus Tab. 5.2 <?page no="179"?> 164 n eolIberaler I nstItutIonalIsmus Der neoliberale Institutionalismus untersucht, unter welchen Bedingungen-- insbesondere in der Abwesenheit eines Hegemons-- Institutionen überhaupt entstehen und was die zentralen Kooperationshindernisse sind (Hasenclever et al. 1997: 87). Um die Kooperationsprobleme in solchen Situationen zu verdeutlichen, greifen Institutionalisten auf verschiedene ökonomische Theorien wie die Spieltheorie zurück. Anhand von drei zentralen Spielen, dem Gefangenendilemma, dem Kampf der Geschlechter und der Tragödie der Allmende, lassen sich die wichtigsten Probleme internationaler Kooperation kurz und knapp darstellen. Herausforderungen für internationale Kooperation - Spieltheoretische Erkenntnisse Internationale Kooperation sieht sich ganz offensichtlich mit bestimmten Herausforderungen konfrontiert. Aber worin bestehen diese genau? Spieltheorie Die Spieltheorie ist ein zentrales Element des neoliberalen Institutionalismus und hilft, kooperationsförderliche und -hinderliche Elemente von Interaktionen zwischen strategisch handelnden Akteuren abzubilden und dadurch besser zu verstehen. Sie betrachtet institutionalisierte Kooperation als situativ, und die Spieltheorie hilft zu verstehen, in welchen Situationen Kooperation erwartet wird. Merke Für Keohane liegt genau darin das Ziel von Theorie: ein fundamentales Verständnis der grundlegenden Dynamiken und Strukturen zu gewinnen, die Akteure in ihrem Handeln beeinflussen und beschränken (Conversations with History: Robert O. Keohane 2008: 9’30). Zwei zentrale strukturell unterschiedliche Spielsituationen, das Gefangenendilemma (prisoner’s dilemma) und der Kampf der Geschlechter (battle of the sexes), sind dafür grundlegend (Jervis 1978). Sie verdeutlichen zwei besondere Herausforderungen: Kooperation zu erreichen, wenn es zwar Anreize für Zusammenarbeit gibt, aber die Anreize, nicht zu kooperieren, größer sind; und Kooperation zu erreichen, wenn das Interesse an Kooperation hoch ist, aber die Interessen inkompatibel sind. 5.5 <?page no="180"?> 165 n eolIberaler I nstItutIonalIsmus Einheit 5 h erausforderunGen für InternatIonale K ooperatIon Gefangenendilemma Die klassische Spielsituation des Gefangenendilemmas beschreibt das Ergebnis einer Interaktion zwischen zwei Verbrechern, die gemeinsam einen Banküberfall begangen haben und nun unabhängig voneinander befragt werden. Dass die beiden die Schuldigen sind, steht außer Zweifel, aber die Ermittler haben zu wenige Beweise, um sie für den Banküberfall anklagen zu können. Sie können ihnen lediglich illegalen Waffenbesitz nachweisen, auf den aber eine geringere Gefängnisstrafe von zwei Jahren steht. Sie müssen also wenigstens einen Verbrecher dazu bringen, zu gestehen. In getrennt stattfindenden Verhören wird jedem Gefangenen das folgende Angebot gemacht: „Gib zu, dass ihr den Bankraub begangen habt. Wenn du aussagst, wirst du nicht bestraft, aber wir können deinen Komplizen wegen des Bankraubs hinter Gitter bringen. Für den Bankraub wird er fünf Jahre ins Gefängnis kommen. Du kannst schweigen, aber wenn der andere redet, erhältst du fünf Jahre Gefängnis, und der andere geht straffrei aus.“ Die Verbrecher fragen unabhängig voneinander nach: „Was passiert, wenn wir beide reden? Und was, wenn keiner von uns redet? “-- „Gestehst du, und der andere auch, dann wird eure Strafe wegen des Geständnisses gemindert und ihr erhaltet nur vier Jahre Gefängnis für den Bankraub. Gesteht keiner von euch den Bankraub, können wir euch immerhin wegen des Waffenbesitzes ins Gefängnis bringen.“ In dieser Situation würden beide am besten fahren, wenn sie schwiegen. Dann müssten sie beide jeweils nur zwei Jahre ins Gefängnis. Aber: Beide haben auch einen hohen Anreiz, zu gestehen und den anderen zu belasten, da sie damit das für sie günstigste Strafmaß heraushandeln, die Freilassung. Beide handeln individuell rational, wenn sie versuchen, das für sie beste Ergebnis zu erzielen. Diese Situation führt zwangsläufig dazu, dass beide gestehen und damit die hohe Strafe für das Verbrechen erhalten. Warum? Das Problem, mit dem beide konfrontiert sind, ist, dass sie nicht wissen können, ob der jeweils andere „dicht“ hält. Täte er es, müssten zwar beide ins Gefängnis, sie kämen aber immer noch günstiger weg als bei einer Verurteilung wegen des Bankraubs. Aus Sicht des Verbrechers 1 stellt sich die Situation wie folgt dar: Er hat den größten Nutzen, wenn er redet und der andere schweigt. Dann wird er als Kronzeuge frei gelassen, während der andere für fünf Jahre ins Gefängnis muss. Die zweitbeste Option ist für Verbrecher 1, wenn er selbst schweigt und der andere auch schweigt. Dann muss er nur, genau wie sein Komplize, eine geringe Strafe von zwei Jahren für den bereits bewiesenen Waffenbesitz ableisten. Aber die Option ist nur dann die beste, wenn der andere tatsächlich kooperiert und schweigt. Denn wenn er redet, bekommt Verbrecher 1 ja die Höchststrafe. Das drittschlechteste Ergebnis für Verbrecher 1 5.5.1 <?page no="181"?> 166 n eolIberaler I nstItutIonalIsmus ist, wenn er redet und der andere auch redet, wenn also keiner von beiden kooperiert, denn dann muss er, genau wie sein Komplize, die für das Geständnis leicht reduzierte Höchststrafe absitzen und kommt vier Jahre ins Gefängnis. Das schlechteste Ergebnis wäre für ihn, wenn er schweigt und der andere redet, denn dann muss er für die Höchststrafe von fünf Jahren hinter Gitter. Aus Sicht des Verbrechers 2 haben wir die gleichen Handlungsoptionen: Auch er gewinnt am meisten, wenn er redet und der andere schweigt. Das Hauptproblem ist, dass Verbrecher 1 immer besser dran ist, wenn er redet, unabhängig davon, was Verbrecher 2 macht (Defektieren als dominante Strategie). Das Dilemma liegt darin, dass Kooperation eine bessere kollektive Lösung wäre als gegenseitiger Verrat, aber dass dies unwahrscheinlich ist, weil eine solche Kooperation auf der individuellen Ebene nicht rational ist. Das Gefangenendilemma ergibt sich daraus, dass beide rational die für sie richtige Entscheidung treffen, dadurch aber beide relativ gesehen schlechter davonkommen. Hätten sie beide geschwiegen, hätten sie jeweils nur zwei Jahre Gefängnis bekommen. Diese Situation lässt sich in einer Zweiermatrix schematisch darstellen, die zum einen Aussagen darüber macht, welche Handlungsoptionen sich für jeden Verbrecher ergeben und zum anderen darüber, was für einen Nutzen er aus der jeweiligen Situation zieht. Jeder Verbrecher hat die Wahl, entweder zu kooperieren (hier dargestellt durch den Buchstaben C für das Englische cooperate) oder sich zu verweigern (hier dargestellt mit dem Buchstaben D für das Englische defect). Achtung: Es geht in der Zwei-Spieler-Matrix nicht darum, dass je ein Verbrecher mit den Ermittlern kooperiert, sondern ob sie miteinander kooperieren oder sich verweigern. Tabelle 5.3 zeigt die Verteilung der Strategien und ihrer Ergebnisse. Tabelle 5.4 beschreibt diesen Sachverhalt schematischer und weist den einzelnen Strategien bestimmte Gewinne zu, wobei 1 der niedrigste und 4 der höchste Gewinn ist. Für Realisten und Neorealisten spiegelt das Gefangenendilemma die Grundsituation der internationalen Politik wider. In Abwesenheit einer Instanz, die Kooperation erzwingt, können sich Staaten nicht auf das Kooperationsversprechen verlassen, wenn der Gegenspieler starke Anreize hat, nicht zu kooperieren. Im Gefangenendilemma ist das dadurch gegeben, dass Reden die Freiheit bringen kann, während Schweigen immer noch eine Gefängnisstrafe nach sich zieht. Der Institutionalismus zeigt auf, wie die Dilemmata unter kooperationsfeindlichen Bedingungen überwunden werden können. <?page no="182"?> 167 n eolIberaler I nstItutIonalIsmus Einheit 5 h erausforderunGen für InternatIonale K ooperatIon Das Gefangenendilemma gilt als eine weitverbreitete Abstraktion der internationalen Politik. Nehmen wir das Beispiel des Klimaschutzes: Die fehlende Kooperation für den Klimaschutz ist mit dem Gefangenendilemma klar nachvollziehbar. Der Klimaschutz erfordert vor allem die Kooperation der großen CO 2 -Produzenten, also der USA, China, Indien und Brasilien, die sich aber gleichzeitig in einem globalen Wettbewerb um Rohstoffe, natürliche Ressourcen und Marktanteile befinden. Ergreift nur ein Staat Klimaschutzmaßnahmen auf Kosten seiner wirtschaftlichen Produktivität, aber die anderen nicht (CD), dann gewinnen die anderen Staaten. Während ein Staat kooperiert, sichern sich die anderen den Zugriff auf wichtige Ressourcen und gefährden damit auch langfristig das Wachstum des kooperierenden Staates. Klimaschutz mag wichtig sein, aber Zugriff auf natürliche Res- Gefangenendilemma als Abstraktion der internationalen Politik Gefangenendilemma Verbrecher 2 schweigt (C) gesteht (D) Verbrecher 1 schweigt (C) beide erhalten 2 Jahre Gefängnis wg. illegalen Waffenbesitzes V2 wird freigelassen; V1 bekommt 5 Jahre Gefängnis wg. Bankraubs gesteht (D) V1 wird freigelassen; V2 bekommt 5 Jahre Gefängnis wg. Bankraubs beide bekommen 4 Jahre Gefängnis wg. Bankraubs, ihre Strafe wird gemildert Gefangenendilemma, Handlungsoptionen und Strafmaße Tab. 5.3 Gefangenendilemma Spieler 2 kooperiert (C) defektiert (D) Spieler 1 kooperiert (C) CC 3,3 CD 1,4 defektiert (D) DC 4,1 DD 2,2 Schematische Darstellung des Gefangenendilemmas nach Gewinn (1-= niedrigster; 4-= höchster) Tab. 5.4 Das Gefangenendilemma ist eine Spielsituation, ▶ in der die Spieler große Anreize haben, nicht zu kooperieren, weil der erwartete Gewinn aus der Nicht-Kooperation größer ist als der Gewinn aus der Kooperation. ▶ in der die Präferenzordnung für jeden Spieler durch DC>CC>DD>CD gegeben ist. ▶ die durch ein Dilemma gemeinsamer Interessen gekennzeichnet ist. ▶ die auch Kollaborations- oder „Dilemmaspiel“ genannt wird. Gefangenendilemma <?page no="183"?> 168 n eolIberaler I nstItutIonalIsmus sourcen zu haben, um Wirtschaftswachstum zu sichern, ist auch wichtig. Umgekehrt kann ein Staat, der nichts zum Klimaschutz beiträgt, von den Anstrengungen anderer Klimaschützer profitieren. Kümmern diese sich auch nicht um das Klima, besteht das Problem zwar weiterhin, aber immerhin hatte der Staat keine Ausgaben. Unabhängig von den Handlungen anderer Staaten hat ein Staat also in jedem Fall Anreize nicht zu kooperieren: kooperieren die anderen, kann er Trittbrett fahren; kooperieren die anderen nicht, ist nichts verloren. Da die Situation für alle Staaten gleich ist, landen alle Staaten beim ungünstigen Ergebnis (DD). Dieses Verhalten geht zu Lasten des Klimaschutzes und damit zukünftiger Generationen. Effektiver Klimaschutz könnte nur erreicht werden, wenn alle Spielerinnen und Spieler kooperieren, das heißt, der Kollektivnutzen wäre am größten, wenn alle CC wählten. Kampf der Geschlechter Die zweite Spielsituation ist der Kampf der Geschlechter. Ein Paar möchte gerne einen Abend in der Woche gemeinsam verbringen. Aber er möchte am liebsten ein Fußballspiel anschauen, während sie überhaupt kein Interesse an Fußball hat und lieber ins Theater gehen möchte. Das möchte er aber nicht unbedingt. Beide sind sich einig, dass sie auf jeden Fall den Abend zusammen verbringen möchten, können sich aber nicht einigen, was sie gemeinsam unternehmen. Auch hier besteht ganz offensichtlich eine Nachfrage nach einer Regelung, da beide sonst ihr gemeinsames Interesse nicht realisieren können. Aber der Anreiz, nicht zu kooperieren, ist im Vergleich zum Gefangenendilemma sehr viel geringer. Beide haben die Präferenz, ihren Vorschlag durchzusetzen, während der jeweils andere kooperiert (DC). Es wäre aber auch noch akzeptabel, wenn man selbst kooperiert und der oder die andere nicht (CD). In beiden Fällen würde man den Abend gemeinsam verbringen. Inakzeptabel ist die Option, dass beide nicht kooperieren, also jeder seine Präferenz durchsetzt. Ebenso inakzeptabel ist die Option, dass jeweils beide kooperieren, also auf ihre erste 5.5.2 Kampf der Geschlechter Spieler 2 (Frau) Fußball (C) Theater (D) Spieler 1 (Mann) Fußball (D) DC 2,1 DD -1,-1 Theater (C) CC -1,-1 CD 1,2 Schematische Darstellung des Kampfs der Geschlechter Tab. 5.5 <?page no="184"?> 169 n eolIberaler I nstItutIonalIsmus Einheit 5 h erausforderunGen für InternatIonale K ooperatIon Präferenz verzichten und sich deswegen nicht treffen, weil jeweils der eine das tut, was vom anderen vorgeschlagen wurde. Der Kampf der Geschlechter ist eine Spielsituation, ▶ in der die Spieler starke Anreize haben, zu kooperieren, weil der Gewinn aus der einseitigen Kooperation größer ist als der Gewinn aus der wechselseitigen Nicht-Kooperation; ▶ in der die Präferenzordnung für jeden Spieler durch DC>CD>DD>CC gegeben ist; ▶ die durch ein Dilemma gemeinsamer Abneigungen gekennzeichnet ist; ▶ die auch Koordinationsspiel genannt wird. Kampf der Geschlechter Die zentrale Frage, die sich aus der Sicht des neoliberalen Institutionalismus stellt, ist deshalb: Was macht es bei den gegebenen Dilemmasituationen mehr oder weniger wahrscheinlich, dass die Spieler kooperieren und beim Ergebnis CC (Gefangenendilemma) oder DC/ CD (Kampf der Geschlechter) landen? Institutionalisten geben darauf eine klare Antwort: Die Orientierung an eigenen Gewinnen und die Schaffung von Institutionen, die Kooperation erleichtern. Sobald Akteure die Möglichkeiten haben, gemeinsame Gewinne zu erzielen bzw. unkooperatives Verhalten zu suboptimalen Ergebnissen führt, haben Akteure Anreize zur Kooperation. Um diese Gewinne zu realisieren, sind sie bereit sich selbst zu beschränken, wenn sie sicher sein können, dass der jeweils andere sich auch beschränkt. Der Institutionalismus zeigt, dass Realismus und Neorealismus die Kooperationsbereitschaft von Staaten selbst im Gefangenendilemma unterschätzen und deshalb einem zu pessimistischen und kooperationsfeindlichen Bild der internationalen Politik anhängen. Staaten orientieren sich nicht nur am Interesse des Machtgewinns und -erhalts, sondern zumindest teilweise auch am Gemeinwohl oder Kollektivinteresse und ihrem eigenen absoluten Nutzen aus der Kooperation. Erzielung von Gewinnen Wenn Staaten die Möglichkeit haben, gemeinsame Gewinne zu erzielen und den Kollektivnutzen zu erhöhen, werden sie Institutionen bilden, die es ihnen ermöglichen, den höheren Gewinn auf Dauer einzufahren. Die Orientierung an ihrem eigenen absoluten Gewinn ermöglicht es ihnen, diese Kooperationschancen zu sehen und auf deren Realisierung hinzuarbeiten. Merke <?page no="185"?> 170 n eolIberaler I nstItutIonalIsmus Die Kollektivgutproblematik oder die Tragödie der Allmende Institutionalisten greifen noch auf andere wirtschaftswissenschaftliche Theoreme zurück, um Kooperationsprobleme der internationalen Politik zu erklären und Lösungen dafür zu identifizieren. Die Kollektivgutproblematik weist auf das Problem der großen Gruppen und das in ihnen weit verbreitete Trittbrettfahrerproblem hin. Ein Kollektivgut zeichnet sich dadurch aus, dass ▶ es von mehreren Akteuren genutzt werden kann, ▶ diese nicht von der Nutzung ausgeschlossen werden können, beispielsweise indem sie für die Nutzung bezahlen müssen, und ▶ der Nutzen aus dem Kollektivgut unabhängig von der Anzahl der Nutzer ist und der Konsum eines Akteurs den eines anderen Akteurs nicht ausschließt. Kollektivgut Das klassische Beispiel ist die Allmende, eine in Süddeutschland noch immer gebräuchliche Bezeichnung für landwirtschaftliche Nutzflächen, die von allen Dorfbewohnern genutzt werden können, also Gemeindegut darstellen. Allmende wird aber inzwischen für jede Form des gemeinschaftlichen Eigentums verwendet. Gemeinschaftsressourcen haben die Eigenschaft, dass sie von jedem genutzt werden können und niemand von ihrer Nutzung ausgeschlossen werden kann. Ist die Ressource knapp, dann führt die allseitige Nutzung schnell zur Übernutzung der Ressource. Lassen alle Bauern in einem Dorf ihre Kühe auf der Allmende weiden, dann gibt es dort bald kein Futter mehr für die Tiere. Die individuelle Inanspruchnahme der Allmende bedeutet als Konsequenz für alle anderen Nutzer eine Einschränkung. Aber für den einzelnen Bauern ist es in einer hinreichend großen Gruppe nicht rational, für ein Kollektivgut zu zahlen oder sich an der Herstellung zu beteiligen, wenn er von seinem Genuss nicht ausgeschlossen werden kann. Der CO 2 -Ausstoß ist ein sehr gutes Beispiel für die Kollektivgutproblematik. Alle wollen saubere Luft, aber niemand fühlt sich dafür verantwortlich, sie zu produzieren, weil die einmal „hergestellte“ saubere Luft auch denen zugänglich ist, die nichts zu ihrer Herstellung beigetragen haben. Dieses Problem wird als Freifahrer- oder Trittbrettfahrerproblem bezeichnet. Jeder verlässt sich darauf, oder rechnet strategisch damit, dass andere das Gut bereitstellen, man selbst aber nichts dafür tun muss. Institutionen, die regeln, wer Zugang zu Gemeinschaftsgütern hat bzw. welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, um das Gut nachhaltig zu produzieren, können helfen, die Tragödie der Allmende zu verhindern. 5.5.3 <?page no="186"?> 171 n eolIberaler I nstItutIonalIsmus Einheit 5 h erausforderunGen für InternatIonale K ooperatIon Das Trittbrettfahrerproblem erfasst das Verhalten von Akteuren, die sich öffentliche Ressourcen aneignen, sich aber gemeinsamen Ressourcenschutzanstrengungen entziehen. Trittbrettfahrerproblem Popularisiert wurde der Begriff der „Tragödie der Allmende“, der ursprünglich von Garret Hardin stammt, durch Elinor Ostrom, einer amerikanischen Sozialwissenschaftlerin. In ihrem Buch „Governing the Commons: The Evolution of Institutions for Collective Action“ (1990) führt sie aus, dass die wichtigste Lösung des Allmendeproblems auf lokaler Ebene in einer gemeinsamen Verwaltung durch die Nutzer der öffentlich zugänglichen Güter liegt. Dadurch, dass die Nutzer mit in die Verantwortung zum Erhalt der Ressourcen gezogen werden, sie in Eigenregie Regeln und Kontrollmechanismen aushandeln und sich der speziellen lokalen Situation bewusst sind, ist eine lokale Verwaltung kollektiver Güter meistens effektiver als eine zentral gesteuerte Problemlösung. Anlässlich der Verleihung des Nobelpreises an Ostrom hat die Zeitschrift Das Parlament eine ihrer Beilagen dem Thema Gemeinschaftsgüter gewidmet, die sehr informativ ist. Kurz vor ihrem Tod hat Elinor Ostrom die Tragik der Allmende auch selbst in einem Videoclip erklärt (www.youtube.com/ watch? v- = ByXM47Ri1Kc, letzter Zugriff 02.01.2015). Die Beilage ist über den Online Content verfügbar. Der Institutionalismus sieht zwei Möglichkeiten, wie sich Kooperation entwickeln kann: die evolutionäre Entwicklung durch wiederholtes Aufeinandertreffen und den Aufbau von Institutionen. Die evolutionäre Entwicklung von Kooperation Diese Möglichkeit bedarf nur geringer Veränderungen im Kontext des Gefangenendilemmas. Wir stellen uns vor, unsere Verbrecher sehen sich nicht nur einmal, sondern wissen, dass sie sich bald wieder in einer ähnlichen Situation befinden werden. Wird aus dem einmaligen Spiel ein wiederholtes Spiel, werden beide Spieler die Entscheidungen ihres Gegenübers genau registrieren, um daraus Erwartungen über zukünftiges Verhalten abzuleiten. Diese Bedingung ist unter den Voraussetzungen der komplexen Interdependenz erfüllt. Komplexe Interdependenz entspricht wiederholten Spielen. Dieses Merkmal der komplexen Interdependenz weist auch das gegenwärtige internationale System auf, in dem Staaten in ein dichtes Geflecht von Institutionen eingebunden sind. Dieses Geflecht aus Kooperationsbeziehungen verlängert den „Schatten der Zukunft“. http: / / openilias. uni-goettingen.de/ lehrbuch_IB 5.6 <?page no="187"?> 172 n eolIberaler I nstItutIonalIsmus Der Schatten der Zukunft beschreibt das Verhalten von Individuen in einer Interaktion. Wenn sie annehmen, dass sie sich in Zukunft häufiger treffen, dann antizipieren sie diese Situation bereits in ihrer Strategie, die sie für die aktuelle Interaktion wählen. Mit der Aussicht auf ein neues Aufeinandertreffen verlängert sich der Schatten der Zukunft und sie verhalten sich kooperativer. Der Schatten der Zukunft ist also der Effekt, den eine antizipierte Interaktion oder ein Kontakt in der Zukunft auf die aktuelle Strategiewahl hat. Schatten der Zukunft Robert Axelrod zeigte 1986, dass sich unter den Bedingungen der Anarchie Kooperation evolutionär entwickelt (Axelrod 1986). Die Situation verändert sich für Akteure qualitativ, wenn sie wissen, dass sie mehrmals aufeinander treffen und nicht nur einmal. In wiederholten Spielen haben Akteure die Möglichkeit, Vertrauen aufzubauen und können damit die Kooperationsbereitschaft eines anderen Akteurs besser einschätzen. Zwar können Akteure auch in dieser Situation ein Ausscheren eines anderen Staates aus Verabredungen nicht verhindern. Aber sie können kooperatives Verhalten belohnen und unkooperatives Verhalten bestrafen. Axelrods Studie legte eine Titfor-Tat-Strategie nahe („Wie du mir, so ich dir.“). Der erste Zug sollte dabei kooperativ sein. Antwortet der Gegenspieler mit unkooperativem Verhalten, reagiere ich im nächsten Zug ebenfalls unkooperativ. Reagiert der Gegenspieler daraufhin kooperativ, erwidert der Spieler ebenfalls mit kooperativem Verhalten und so fort. Axelrod zeigte, dass sich nach einiger Zeit ein Muster der Kooperation entwickelte. In der internationalen Politik wird für Staaten ein Weg zur Kooperation auch dadurch beschritten, dass sie kooperatives oder unkooperatives Verhalten mit gleichem Verhalten erwidern. Eine solche Strategie basiert auf Reziprozität oder dem Prinzip der Gegenseitigkeit: Ich gebe etwas und erwarte dafür eine Gegenleistung. Die evolutionäre Entwicklung der Kooperation hat den Vorteil, dass sie ohne Institutionen auskommt. Sie hat aber den Nachteil, dass sie relativ unbeständig ist und sich Akteure im Wesentlichen auf das Kooperationsversprechen verlassen müssen. Institutionen als Weg aus dem Kooperationsdilemma Der zweite Weg kann prinzipiell über die Bildung von Institutionen oder so genannten Regimen beschritten werden. Institutionen verändern ebenfalls das Gefangenendilemma. Sie können Kooperationshindernisse ausräumen, insbesondere die Sorge, betrogen zu werden. Evolutionäre Entwicklung von Kooperation Tit-for-Tat-Strategie 5.7 <?page no="188"?> 173 n eolIberaler I nstItutIonalIsmus I nstItutIonen als w eG aus dem K ooperatIonsdIlemma Einheit 5 Institutionen übernehmen zentrale Funktionen, die Kooperation erleichtern. Sie ▶ reduzieren Unsicherheit, ▶ senken Transaktionskosten, ▶ erhöhen die Glaubwürdigkeit der Kooperationsversprechen. Funktionen von Institutionen Selbst wenn Institutionen nur minimale Aufgaben für Staaten übernehmen, wie beispielsweise das Sammeln von Informationen, kann sich dies schon kooperationsförderlich auswirken. Wenn Institutionen Informationen über die Präferenzen und Intentionen der Spieler sammeln und diese allen anderen zur Verfügung stellen, sind alle Akteure besser über die geplanten Entscheidungen ihres Gegenübers im Bild und können ihre eigenen Strategien entsprechend anpassen. Vor allem wissen alle Akteure voneinander, ob sie betrügen oder nicht. Institutionen senken Transaktionskosten, das sind die Kosten, die aufgebracht werden müssen, um Vereinbarungen zu schließen oder sich regelmäßig zu treffen. Wenn ein institutionalisiertes Verhandlungsforum besteht, dann müssen Akteure nicht jedes Mal neue Verhandlungen einberufen oder alle anderen Akteure kontaktieren. Institutionen erhöhen die Glaubwürdigkeit der Kooperationsversprechen. Auch im Fall der reziproken Kooperation arbeiten Staaten ja zusammen. Aber die Kooperation beruht allein auf Versprechen, die relativ schnell zu brechen sind. Institutionen sind ein Satz formeller und informeller Regeln, die Rollenverhalten vorschreiben, Handlungsspielräume definieren und Erwartungen formen. Sie regeln beispielsweise, was überhaupt kooperatives Verhalten ist. Oftmals ist Akteuren schlichtweg nicht klar, ob sie sich bei einer gegebenen Vereinbarung regelkonform verhalten oder nicht. Institutionen können helfen, für alle Akteure verbindliche Regeln festzulegen. Die Vorteile von Institutionen sind, dass sie relativ beständig sind und deshalb die Erwartungssicherheit erhöhen. Die Nachteile sind, dass es Kosten verursacht, sie zu schaffen und sie zu unterhalten-- Kosten, für die irgendjemand aufkommen muss. Für die Theorie der hegemonialen Stabilität ist dies die Aufgabe des Hegemons, der das kollektive Gut zum Nulltarif für alle anderen produziert. Er hat dafür Anreize, weil er die mit Abstand größten Ressourcen hat, die von ihm etablierten Regeln seinen Einfluss dauerhaft sichern und er den größten Nutzen von der Bereitstellung des Gutes hat. Nach Keohane besteht der Wert von Institutionen für Regierungen darin, dass Staaten durch sie gemeinsame Kooperationsgewinne erzielen. Er besteht nicht in erster Linie darin, dass Institutionen Regeln etablieren, die durch- <?page no="189"?> 174 n eolIberaler I nstItutIonalIsmus setzbar sind. Institutionen ermächtigen Staaten mehr, als sie sie fesseln („They empower governments rather than shackling them.“ (Keohane 1984: 13)). Damit betont er nochmals die Freiwilligkeit von Kooperation immer dann, wenn dadurch Gewinne erzielt werden können. Einfluss der Situationsstruktur auf Institutionen Die Unterscheidung zwischen Spielsituationen wie des Gefangenendilemmas und des Kampfes der Geschlechter erlaubt es nicht nur, Aussagen darüber zu treffen, wie wahrscheinlich es tatsächlich ist, dass internationale Institutionen geschaffen werden. Sie erlaubt es auch, Aussagen darüber zu treffen, welcher Typ von Institutionen entsteht (Axelrod/ Keohane 1986: 235 f., Hasenclever et al. 1997: 48, Stein 2008). Ein Faktor, der die Entstehung von Institutionen beeinflusst, ist die Auszahlungsstruktur. Sind die Gewinne aus der Nichtkooperation hoch, dann ist die Kooperation im Gefangenendilemma relativ schwer zu erreichen. Entsteht eine internationale Institution, muss diese Vorkehrungen gegen das Ausscheren aus der Kooperation treffen. Die Chance, dass Akteure sich gegenseitig betrügen, ist anfangs relativ hoch. Also muss die Institution starke Überwachungsfunktionen haben, um Betrug zu entdecken, und sie muss klare Regeln definieren, was als Betrug gewertet wird. Aber auch die Bildung von Überwachungs- und Sanktionsmechanismen unterliegt der Kosten-Nutzen-Analyse der beteiligten Akteure. Starke Überwachungsmechanismen sind kostspielig und damit es sich lohnt, teure Sanktionsmechanismen zu etablieren, müssen die Gewinne vergleichsweise hoch sein. 5.8 Interaktionsspiele und Typen von Institutionen Institutionen mit starken Überwachungsfunktionen Abbildung 5.1 Wege der Verstetigung von Kooperation Abb. 5.1 <?page no="190"?> 175 n eolIberaler I nstItutIonalIsmus d esIGn und u nabhänGIGKeIt Von InternatIonalen I nstItutIonen Einheit 5 Reziprozität kann auch in institutionalisierter Kooperation ein effektives Mittel sein, um Kooperation langfristig zu fördern. Aber im Fall von Regelverstößen hängt die Wirksamkeit von Reziprozität davon ab, dass es den anderen Akteuren gelingt, die Abtrünnigen eindeutig zu identifizieren und ihre Nichtkooperation zu vergelten. Dafür müssen sie aber wiederum ausreichende langfristige Interessen haben, um Abtrünnige zu sanktionieren. Dies ist umso schwieriger, je größer die Gruppe ist. Bei großen Gruppen ist es oftmals unmöglich, Abtrünnige zu identifizieren und zu bestrafen. Und selbst wo es möglich ist kann es sein, dass jeder Mitspieler versucht, die Kosten für Sanktionen auf andere abzuwälzen. Sanktionsregime sind dafür ein sehr gutes Beispiel. Selbst wenn- - was relativ selten ist-- die Vereinten Nationen ein Waffenembargo gegen ein Land beschließen, das aufgrund seiner Handlungen eine Gefahr für den Weltfrieden bedeutet, wird es immer Staaten geben, die versuchen, ein solches Embargo zu unterlaufen. Wenn alle anderen Staaten sich an das Embargo halten, profitiert der Staat am meisten, der sich nicht daran hält und seine Güter verkauft. Alle anderen Staaten haben aber in dieser Situation wiederum ein Interesse, die Kosten für die Bestrafung dieses einen Staates auf andere abzuwälzen. Im Vergleich dazu können Institutionen, die zur reinen Koordination-- wie im Kampf der Geschlechter-- benötigt werden, ohne Sanktionsmechanismen auskommen. Das Problem des Betrugs stellt sich hier nicht, da die Akteure ja prinzipiell bereit sind, zu kooperieren, sich aber koordinieren müssen. Sie kommen deshalb in der Regel mit weniger formalisierten Regeln und Überwachungsmechanismen aus. Institutionalisten gehen davon aus, dass Institutionen die Strukturwirkungen der Anarchie mindern können. Wenn Institutionen erst einmal etabliert sind und das Verhalten von Akteuren beeinflussen, dann wird es weniger wahrscheinlich, dass Staaten Konflikte gewaltsam austragen. Nicht nur der konkrete Konflikt wird bearbeitet, sondern die Kooperationserfahrung ermöglicht es den beteiligten Staaten, ihre Beziehungen allgemein zu befrieden. Anarchie wird dadurch zur „regulierten Anarchie“ (Efinger et al. 1990). Design und Unabhängigkeit von internationalen Institutionen In jüngerer Zeit hat sich der Institutionalismus davon entfernt, nur zu fragen, wie Kooperation zustande kommt und welche Kontexte eher internationale Institutionen hervorbringen, und sich der Frage zugewandt, wie Institutionen ausgestaltet sind. Das Interesse für institutionelles Design zielt darauf ab herauszufinden, ob es Institutionen gibt, die ihre Aufgaben bes- Institutionen ohne Überwachungsmechanismen 5.9 <?page no="191"?> 176 n eolIberaler I nstItutIonalIsmus ser erfüllen als andere und wie diese Effektivität mit institutionellen Strukturen und Prozessen zusammenhängt. Nehmen wir die EU, die starke Kompetenzen im Bereich der wirtschaftlichen Integration ihrer Mitgliedstaaten hat (vgl. Einheit 14). Ist diese Organisation besser darin, ihre Mitglieder wirtschaftlich zu integrieren und hohes Wirtschaftswachstum zu garantieren als andere Institutionen, wie beispielsweise der MERCOSUR in Lateinamerika, der diese Kompetenzen nicht hat? Die Mitglieder des Verbandes Südostasiatischer Nationen (ASEAN) geben keine Souveränität an Gemeinschaftsinstitutionen ab, aber sie haben seit über zwei Jahrzehnten konstant hohe Wirtschaftswachstumsraten (weitere Informationen zu ASEAN finden Sie über www.asean.org, letzter Zugriff 02.01.2015). Gibt es einen systematischen Zusammenhang zwischen dem Design internationaler Institutionen und ihren Effekten? Bisher gibt es dazu wenige Ergebnisse, und letztlich fehlen uns auch systematische Daten zur Ausgestaltung internationaler Institutionen. Aber Politikwissenschaftlerinnen haben zumindest damit begonnen, Konzepte zu entwickeln, wie man institutionelles Design erfassen und entsprechende Daten erheben kann. Damit verbunden ist die Erwartung der sozialen Steuerung der Performanz von internationalen Institutionen. Auch die Unabhängigkeit von internationalen Institutionen ist eine Frage, die zunehmend wichtiger wird. Staaten gründen Organisationen, um bestimmte Probleme zu bearbeiten. Aber wenn diese Institutionen keine Unabhängigkeit von den Akteuren erlangen, denen sie dienen sollen, dann kann es sein, dass Probleme weniger effektiv gelöst werden. Auch in der EU stellt sich immer wieder die Frage, wie viel Autorität die EU-Institutionen haben und haben sollten. Die Debatte um die Rolle von nationalen Parlamenten im EU-Entscheidungsprozess ist auch eine Debatte darüber, ob die EU-- um der vermuteten größeren Effizienz willen-- gegen den Willen von Mitgliedstaaten Aufgaben übernehmen sollte, weil damit die demokratische Rückbindung an das Volk verloren gehen würde. <?page no="192"?> 177 n eolIberaler I nstItutIonalIsmus Einheit 5 V erwendete l Iteratur 1. Welche Situationen fallen Ihnen aus Ihrem persönlichen Umfeld ein, die Beispiele für das Gefangenendilemma sind? 2. Wikipedia hat immer wieder einen Spendenaufruf auf der Homepage. Erklären Sie anhand des Trittbrettfahrens, warum es so wenige Spender im Verhältnis zu Nutzern von Wikipedia gibt. Erklären Sie die zugrunde liegende Anreizstruktur. 3. Handelt es sich beim Sicherheitsdilemma um ein Gefangenendilemma? -- Wie könnte man aus dem Sicherheitsdilemma eine kooperative Struktur machen? 4. Rekapitulieren Sie die Erklärungen aus Einheit 1 und 2 für die beiden Weltkriege. Welche der Erklärungen entspricht am ehesten dem Institutionalismus? Baldwin, David A. (1993): Neorealism, Neoliberalism, and World Politics. In: Baldwin, David A. (Hrsg.): Neorealism and Neoliberalism: The Contemporary Debate, New York: Columbia University Press, 3-25. Club of Rome (2012): The Count-Up to 2052: An Overarching Framework for Action. http: / / www.clubofrome. org/ ? p=703 (letzter Zugriff 02. 08. 2012). Conversations with History: Robert O. Keohane. In: (2008). Original Edition, http: / / www.youtube.com/ watch/ 5foxGFXNI-s (letzter Zugriff 13. 12. 2016). Haftel, Yoram Z.; Thompson, Alexander (2006): The Independence of International Organizations. In: Journal of Conflict Resolution 50: 2, 253-275. Hasenclever, Andreas u. a. (2002): Theories of International Regimes. Cambridge: Cambridge University Press. Jetschke, Anja (2004): Robert Keohane. In: Riescher, Gisela (Hrsg.): Politische Theorie der Gegenwart in Einzeldarstellungen, von Adorno bis Young, Stuttgart: Kröner, 258-261. Kegley, Charles W. (1995): The Neoliberal Challenge to Realist Theories of World Politics: An Introduction. In: Kegley, Charles W. (Hrsg.): Controversies in International Relations Theory. Realism and the Neoliberal Challenge, New York, 1-24. Keohane, Robert (1984): After Hegemony. Cooperation and Discord in the World Political Economy. Princeton: Princeton University Press. Keohane, Robert; Nye, Joseph S. (1972): Transnational Relations and World Politics. Cambridge, MA: Harvard University Press. Keohane, Robert; Nye, Joseph S. (1977): Power and Interdependence. New York. Koremenos, Barbara u. a. (2001): The Rational Design of International Institutions. In: International Organization 55: 4, 761-799. Martin, Lisa L.; Simmons, Beth A. (1998): Theories and Empirical Studies of International Institutions. In: International Organization 52: 4, 729-757. Müller, Harald (1993): The Internalization of Principles, Norms, and Rules by Governments: The Case of Security Regimes. In: Rittberger, Volker (Hrsg.): Regime Theory and International Relations, Oxford: Clarendon Press, 361-388. Zürn, Michael u. a. (1991): Problemfelder und Situationsstrukturen in der Analyse internationaler Politik. Eine Brücke zwischen den Polen? In: Rittberger, Volker (Hrsg.): Theorien der internationalen Beziehungen, Opladen: Westdeutscher Verlag, 151-174. Übungen Verwendete Literatur <?page no="194"?> 179 d esIGn und u nabhänGIGKeIt Von InternatIonalen I nstItutIonen Einheit 6 Marxistische Theorien Inhalt 6.1 Warum führt internationale Kooperation zu Ausbeutung und Krisen? 180 6.2 Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse als Schlüsselkonzepte des Marxismus 182 6.3 Kernannahmen marxistischer Theorien in den Internationalen Beziehungen 186 6.4 Historisch-soziologisches Theorieverständnis 187 6.5 Marxistische Theorien internationaler Beziehungen 189 6.6 Die Weltsystemtheorie von Immanuel Wallerstein 190 6.7 Neo-Gramscianismus: Robert Cox 192 6.8 Benno Teschke: Marxistische Theorie und Anarchie im Mittelalter 198 Übungen 201 Verwendete Literatur 202 In dieser Einheit werden die Grundlagen marxistischer und marxistisch inspirierter Theorien der Internationalen Beziehungen erläutert. Es werden die grundlegenden Konzepte marxistischen Denkens, wie soziale Produktionsverhältnisse, Mehrwert und soziale Klasse, definiert und von den Konzepten des Neorealismus und des neoliberalen Institutionalismus abgegrenzt. Außerdem werden die bevorzugte Methode marxistischer Theorien der internationalen Beziehungen sowie die Werke von zwei der wichtigsten Vertreter der marxistischen Theorie in den internationalen Beziehungen vorgestellt. Überblick <?page no="195"?> 180 m arxIstIsche t heorIen Warum führt internationale Kooperation zu Ausbeutung und Krisen? Wohlstand ist in der Welt extrem ungleich verteilt. Diese ungleiche Verteilung des Reichtums der Welt findet sich innerstaatlich, aber auch in der Welt. Ein Prozent der Weltbevölkerung hält etwa 40 Prozent des weltweiten Vermögens. 80 Prozent des Welthandels machen drei Pole aus: Europa, Ost- und Südostasien und die USA. 25 von 186 Ländern kontrollieren zusammen 80 Prozent des Welthandels. Diese Pole haben sich seit der Kolonisation kaum verändert, obwohl inzwischen auch andere Staaten des Globalen Südens aufsteigen. Globale Daten, die den Stand der menschlichen Entwicklung anzeigen, zeigen große Ungleichgewichte zwischen den industrialisierten Staaten der OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development mit derzeit 34 Mitgliedern (Stand: Februar 2016)) und den nicht industrialisierten Staaten. Ein Indikator ist der Human Development Index. Er wurde entwickelt, weil er besser als das Bruttosozialprodukt eines Staates wiedergibt, wie es um die individuellen Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb eines Staates bestellt ist. Er erfasst beispielsweise, welche Chance Menschen haben, ein gesundes Leben zu führen, inwiefern sie eine Chance auf Bildung und einen angemessenen Lebensstandard haben. Der Human Development Index zeigt starke Ungleichgewichte an: Insbesondere afrikanische Staaten schneiden auf dem Index relativ schlecht ab. Sehr plastisch zeigt das die der Human Development Report, den man unter http: / / hdr.undp.org/ en/ data-explorer (letzter Zugriff 02.01.2015) abrufen kann. Seit 2009 befindet sich Europa in einer tiefen Finanzkrise. Als erstes Land beantragte Irland im November 2010 Hilfe aus dem Euro-Rettungsschirm und konnte so relativ schnell saniert werden. Bereits im März 2010 wurde ein Notfallplan aus freiwilligen bilateralen Krediten für Griechenland eingerichtet. Italien, Spanien und Portugal sind ebenfalls hochverschuldet und müssen ihre Haushalte kräftig sanieren. Aber die Finanzkrise in Europa ist kein vereinzeltes regionales Phänomen: 1994/ 95 erlebte Mexiko eine Währungskrise, die so genannte Tequila-Krise. 1997/ 98 erwischte es die Staaten Südostasiens, 2002 Argentinien und 2007 schließlich die USA. Während die Eurogruppe, allen voran Frankreich und Deutschland, 2015 viel Zeit darauf verwendeten, an Lösungen zu arbeiten, um innerhalb Europas mit der massiven Verschuldung einzelner Staaten umzugehen, prophezeiten einige Wissenschaftlerinnen, dass das internationale Finanzsystem nicht mehr mit ein paar kosmetischen Veränderungen zu retten ist. Die Häufung dieser massiven Krisen wird von vielen als Krise des Kapitalismus interpretiert. Diese zwei Schlaglichter auf aktuelle Herausforderungen der internationalen Beziehungen illustrieren das Grundanliegen marxistischer Theorien 6.1 Das Rätsel der andauernden weltweiten Ungleichheit Das Rätsel wiederkehrender Weltkrisen <?page no="196"?> 181 m arxIstIsche t heorIen w arum führt InternatIonale K ooperatIon zu a usbeutunG und K rIsen ? Einheit 6 der internationalen Beziehungen: Sie wollen erklären, warum Wohlstand unter Staaten so ungleich verteilt ist und die Entwicklungshilfe westlicher Staaten daran nichts ändert. Marxistische Theorien erklären aber auch, warum es immer wieder zu Krisen des internationalen Systems kommt, die sich heutzutage vor allem in Finanzkrisen ausdrücken. Der Marxismus gründet auf der Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie von Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895). Ausgehend von einer systematischen Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise, die nach Marx zur Ausbeutung der Arbeiterklasse führt, entwickelte er die Idee einer kommunistischen Gesellschaft, in der nicht nur das Privateigentum abgeschafft, sondern auch die Arbeitsteilung aufgehoben ist. Marx hat sich dabei jedoch wenig mit den transnationalen oder internationalen Implikationen seiner Theorie auseinandergesetzt, auch wenn er davon ausging, dass Kapital derart expansive Bestrebungen hat, dass es über nationalstaatliche Grenzen hinausgeht. Erst spätere marxistisch inspirierte Denkerinnen und Denker wie Leo Trotzky (1879-1940) und Rosa Luxemburg (1871-1919) entwickelten die internationalen Implikationen des Marx’schen Denkens. Mit dem Vorrücken kommunistischer und sozialistischer Systeme in Osteuropa und anderen Teilen der Welt ab 1917 wurde die marxistische Welt- Leo Trotzky stellte die These der kombinierten und ungleichzeitigen Entwicklung auf (Trotzky 1968 [1929]): Der Entwicklungsstand eines jeden Staates ist abhängig von den Beziehungen zu anderen Staaten. Da sich kein Staat von der Entwicklung anderer Staaten abkoppeln kann, ist nach Trotzky Entwicklung immer kombiniert. Diese Entwicklung jedoch ist ungleichzeitig, weil sie keinem einheitlichen Muster folgt: Sie führt genauso zu Armut wie zu Wohlstand und genauso zu Unterentwicklung wie zu Entwicklung. Rosa Luxemburg stellte die Theorie der Abhängigkeit der kapitalistischen von präkapitalistischen Staaten auf, die die Absatzmärkte für Waren der entwickelten Staaten und die Quelle billiger Arbeitskräfte gestellt haben (Luxemburg 1970 [1913]). Wladimir I. U. Lenin (1870-1924) beschrieb 1917 den „Imperialismus als jüngste Etappe des Kapitalismus“ (Lenin 1979 [1917]). Nach Lenin hat der Kapitalismus seine höchste Entwicklungsstufe in Form des Monopolkapitalismus gefunden, der zu einer zweigleisigen Struktur innerhalb der Weltökonomie führe: Entwickelte Staaten im Zentrum beuten weniger entwickelte Staaten in der Peripherie aus. Mit dieser Differenzierung, so argumentiert Lenin, kann nicht mehr von einer Interessenharmonie zwischen den Arbeiterklassen in verschiedenen Staaten ausgegangen werden. Kapitalisten in den Staaten des Zentrums nutzten jetzt die Ausbeutung der Arbeiterklasse in den Ländern der Peripherie, um die Lage der Arbeiterklasse in ihren Ländern zu verbessern und sie damit ruhig zu stellen. Vordenker des Marxismus in den Internationalen Beziehungen <?page no="197"?> 182 m arxIstIsche t heorIen anschauung in vielen Staaten zur Staatsideologie. Damit war der Marxismus seiner Kraft als „oppositionelle Doktrin“ (Wallerstein 1974: 388) beraubt: Bis dahin verstand er sich als Kritik an bestehenden Herrschaftsverhältnissen, jetzt wurde er selbst zur herrschenden Ideologie. Für viele westliche IB-Forscher war er durch den Ost-West-Konflikt als Theorie der Politik diskreditiert. In Form der kritischen Theorie erlebte marxistisches Denken jedoch ab den 1970er Jahren einen erneuten Aufschwung. Vor allem die Werke von Immanuel Wallerstein zum kapitalistischen Weltsystem (Wallerstein 1974; 1979) und etwas später die Ansätze von Robert W. Cox und Susan Strange zum Begriff der kulturellen Hegemonie fanden große Resonanz (Cox 1981; Strange 1982; Cox 1983). Wichtige Vertreter in Deutschland zu dieser Zeit waren beispielsweise Ekkehart Krippendorff (Krippendorff 1975; 1977) und Dieter Senghaas (Senghaas 1977). Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts haben historisch orientierte marxistische Analysen stärkere Aufmerksamkeit erfahren. Diese Analysen widmen sich wieder vermehrt der Geschichte der internationalen Beziehungen seit dem Mittelalter. Ihr Ausgangspunkt ist eine Kritik am Ahistorizismus neorealistischer und institutionalistischer Theorien: Vertreterinnen und Vertretern dieser beiden Theorieschulen wird hierbei vorgeworfen, dass sie nicht nur die historische Entwicklung internationaler Beziehungen unzureichend reflektieren würden und ihnen deshalb entginge, dass die internationalen Beziehungen selbst einem fundamentalen Wandel unterliegen. Sie werden auch dafür kritisiert, Ausbeutungsverhältnisse zwischen Staaten nicht zu thematisieren. Annahmen über die beständige Anarchie des internationalen Systems oder seine Staatszentriertheit relativierten sich nämlich stark, wenn man die internationalen Beziehungen aus einer geschichtlichen und nicht eurozentrischen Perspektive untersucht (Hobden/ Hobson 2002; Teschke 2003; Hobson 2004). Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse als Schlüsselkonzepte des Marxismus Zentral für das Verständnis der Entwicklungsdynamiken internationaler Beziehungen sind in marxistischen Theorien die Konzepte der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse. Der Marxismus beschäftigt sich insbesondere mit der Entwicklung und den Konsequenzen eines kapitalistischen Wirtschaftssystems. Marx war einer der entschiedensten Kritiker des Kapitalismus als einer modernen Form sozialen Lebens beziehungsweise einer wirtschaftlichen Produktionsweise, auch wenn er die Rationalisierung und Technisierung des Arbeitsprozesses durchaus positiv bewertete. 6.2 Produktivkräfte und Produktionsverhältnis <?page no="198"?> 183 m arxIstIsche t heorIen Einheit 6 p roduKtIVKräfte und p roduKtIonsVerhältnIsse Marx sah als das wesentliche Merkmal des Kapitalismus, dass in ihm Waren produziert werden, die nicht mehr nur dem eigentlichen Lebensunterhalt dienen. Produktion ist nicht mehr auf den direkten Ge- oder Verbrauch durch die Produzentinnen ausgerichtet, sondern auf die Vermehrung des Kapitals im Sinne von Geld und Produktionsmitteln. Im Zuge des Prozesses werden Arbeitende selbst kommodifiziert. Ihr Wert bemisst sich nicht mehr an individuellen Eigenschaften sondern nur noch an ihrem Wert im Arbeitsprozess. Kommodifizierung bezeichnet den Prozess des Zur-Ware-Werdens. Marx theoretisierte vor allem die Auswirkungen der Kommodifizierung auf Menschen. Kommodifizierung der Arbeitskraft heißt für ihn, dass der Mensch sich selbst als Arbeitskraft vermarkten muss. Kommodifizierung Die Warenproduktion mit dem Ziel der Profitmaximierung hat mehrere Konsequenzen, die sich vor allem auf den Arbeiter als Produzenten negativ auswirken, aber auch auf andere für die Produktion notwendige Faktoren wie natürliche Ressourcen. Boden (Natur), Arbeit (Mensch) und Geld (Tauschmittel) werden alle einer Marktlogik unterworfen, sie werden kommodifiziert beziehungsweise kommerzialisiert. Auch wenn Marx darin einerseits einen Fortschritt gegenüber anderen Produktionsweisen, vor allem der Sklaverei sah, in der Arbeitern ihre Arbeitskraft nicht gehörte, geht damit Unfreiheit einher. Arbeit ist der Marktlogik unterworfen und muss profitabel sein. Lohndruck, aber vor allem auch die Ablösung humaner Werte, sind die Konsequenzen. Effekte der Kommodifizierung Kapitalismus an sich wäre nicht unbedingt problematisch-- Marx selbst sieht in ihm eine fortschrittliche Kraft--, wenn sich nicht die Möglichkeit, Kapital anzuhäufen, historisch betrachtet nur für eine bestimmte soziale Klasse ergeben hätte: die Kapitalisten. Herausbildung sozialer Klassen Kapitalismus bezeichnet ein auf weitgehend frei von staatlichen Eingriffen beruhendes Wirtschaftssystem, in dem Produkte unter dem Gesichtspunkt der Gewinnmaximierung hergestellt werden und die Produktionsmittel, wie Maschinen und Kapitalgüter, überwiegend nicht den Arbeitern gehören, sondern den Kapitalisten. In der Organisation des Produktionsprozesses manifestiert sich ein Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnis. Der Ursprung dieses ungleichen Verhältnisses liegt in der einseitigen Verteilung des Eigentums an Produktionsmitteln und des Mehrwerts zugunsten der Kapitalisten. Kapitalismus <?page no="199"?> 184 m arxIstIsche t heorIen Die kapitalistische Klasse hat sich historisch durch zwangsmäßige Aneignung bestimmter Besitztümer herausgebildet. Seit der Entstehung dieser spaltet sich die Gesellschaft in zwei Klassen, die auf unterschiedliche Weise an der Herstellung der Güter beteiligt sind. Die produktiv Arbeitenden erzeugen durch ihre Arbeit einen Mehrwert mithilfe der Produktionsmittel der Kapitalisten. Diesen Mehrwert beanspruchen die Kapitalisten für sich mit der Begründung, dass sie die Eigentümer der Produktionsmittel seien und das Investitionsrisiko tragen würden. Produktionsmittel sind Maschinen, Werkzeuge, Rohstoffe, Nutzflächen und Gebäude, aber auch geistige und technische Fertigkeiten des arbeitenden Menschen, sowie produktionstechnische Verfahren. Die Aneignung der Produktionsmittel durch eine kleine Klasse von nicht arbeitenden Privatbesitzern führt dazu, dass den eigentlichen Produzenten der Ware, den Arbeitenden, der Zugang zu Produktionsmitteln versperrt wird. Da die Arbeitenden keinen Zugang zu Produktionsmitteln haben, bleibt ihnen nichts anderes übrig als das einzige zu verkaufen, was sie haben: ihre Arbeitskraft. Denn Arbeitskraft hat die besondere Eigenschaft, dass sie mehr produzieren kann, als zum bloßen Überleben des Einzelnen notwendig ist. Die rechtlichen Eigentumsverhältnisse führen dazu, dass der Profit aus dem Verkauf der gemeinsam produzierten Ware nur den Kapitalisten zusteht. Das eigentliche Herrschaftsverhältnis liegt also in der Organisation der Arbeit begründet. Die durch Eigentumslosigkeit zur Arbeit Verurteilten produzieren zwar Reichtum in Form von Waren, dieser wird aber zu einer verselbstständigten Gewalt im Interesse der nichtarbeitenden Kapitalisten (Ladwig 2009). Ökonomische Basis Produktionsmittel und Produktionsverhältnisse bilden zusammen die ökonomische Basis einer Gesellschaft. Der Staat und seine Institutionen bilden den Überbau der ökonomischen Basis. Merke Um ein System der Ungleichheit zu stabilisieren, braucht es Institutionen, die dieses Ungleichheitsverhältnis legitimieren. Diese Funktion erfüllt bei Marx der Staat. Er bildet den Überbau. Der kapitalistische Staat und seine Organe stellen sicher, dass geeignete Rahmenbedingungen existieren, die die Aneignung gesellschaftlich erzeugter Reichtümer dauerhaft ermöglichen. Sie sorgen für die Sicherheit der Verträge zwischen Arbeitern und Unternehmern und zwischen Unternehmern untereinander. Weiter stellen sie Infrastruktur zur Verfügung und unterdrücken Aufstände und Demonstrationen, die gegen diese Formen der Aneignung gerichtet sind. Daraus ergibt Aneignung der Produktionsmittel durch Kapitalisten <?page no="200"?> 185 m arxIstIsche t heorIen Einheit 6 p roduKtIVKräfte und p roduKtIonsVerhältnIsse sich, dass Institutionen im weitesten Sinne immer die Macht- und Herrschaftsinteressen der dominanten Klasse widerspiegeln. Der kapitalistische Staat ist nur ein Produkt von Klassenkämpfen und ein Instrument der politischen Herrschaft. Intern besteht seine Aufgabe darin, die Ausbeutung der Arbeiterklasse zu ermöglichen, extern darin, die Expansion des Kapitals auf andere Weltregionen auszudehnen. Alle Kämpfe innerhalb des Staates, beispielsweise um Demokratie oder Wahlrecht, spiegelten tatsächlich Klassenkämpfe wider. Staat als Herrschaftsinstrument Pyramide des kapitalistischen Systems Abb. 6.1 <?page no="201"?> 186 m arxIstIsche t heorIen Diesen Zusammenhang gibt die obige Abbildung wieder. Das kapitalistische Weltsystem, symbolisiert durch den mit Dollar gefüllten Sack an der Spitze der Pyramide, baut auf einem hierarchischen Gesellschaftssystem auf, an dessen unterem Ende die arbeitende Bevölkerung steht. Über der arbeitenden Bevölkerung ist das Bürgertum, das „für die Arbeiter isst“ anstatt ihnen die Möglichkeit der ausreichenden Ernährung zu geben; darüber ist das Militär, das die unteren Klassen mit Waffengewalt unterdrückt („We shoot at you“). Darüber sind der Klerus als religiöse Vertreter, der das Volk durch Religion ruhig stellt, und die Regierung, die aus Königen und Kapitalisten besteht. Jede Klassengesellschaft, auch die kapitalistische, erzeugt nach dem Marxismus aus sich heraus eine funktionale Spannung, die irgendwann unerträglich wird. Ab einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung überholen die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft die gegebenen Produktionsverhältnisse, innerhalb derer sie sich bisher bewegt haben. Die Produktionsverhältnisse werden zu Fesseln der Produktivkräfte. Diese können nur durch eine soziale Revolution abgestreift werden, in der das Produktionsverhältnis transformiert und der bestehenden Konfiguration der Produktionsmittel angepasst wird. Kernannahmen marxistischer Theorien in den Internationalen Beziehungen Marxistische Theorien internationaler Beziehungen vereinen alle Ansätze, die in den Gegensätzen zwischen sozialen Klassen- - oder allgemeiner: gesellschaftlichen Kräften- - das zentrale Charakteristikum von internationaler Politik sehen. Marxistische Theorien verstehen sich dabei als kritische Theorien: Ihre zentrale Aufgabe besteht darin, diese Strukturen sichtbar zu machen und dadurch Ansätze für Veränderungen zu bieten. Marxistische Theorien Marxistische Theorien untersuchen internationale Kooperation und internationale Institutionen, aber auch Kriege unter der Fragestellung, inwiefern sie bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse beziehungsweise Ausbeutungsverhältnisse widerspiegeln und stabilisieren. Für marxistische Theorien sind Krisen und Kriege nicht notwendigerweise etwas Katastrophales, sondern sie stellen sich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit ein, als Ausdruck der radikalen Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse. Merke Marxistische Theorien kritisieren am neoliberalen Institutionalismus, dass er sich der Frage, inwiefern internationale Kooperation Ungleichheit insti- Revolutionen als Transformation überkommener Produktionsverhältnisse 6.3 Marxistische Kritik an Realismus und Institutionalismus <?page no="202"?> 187 m arxIstIsche t heorIen h IstorIsch sozIoloGIsches t heorIeVerständnIs Einheit 6 tutionalisiert, gar nicht stellt. An realistischen Theorien hingegen kritisieren marxistische Theoretiker, dass Machthierarchien nicht nur zwischen Staaten im internationalen System bestünden, sondern bereits in den Staaten durch Klassenhierarchien gegeben seien. Das internationale System sei deshalb nicht durch Anarchie charakterisiert, sondern durch ein kapitalistisches Produktionssystem, das durch die Ausbreitung einer bereits innerstaatlichen bestehenden Klassenstruktur entstanden sei und ein System von Ungleichheit konstituiere. Analog zum nationalstaatlichen Rahmen geht der Marxismus davon aus, dass bestimmte Staatengruppen die Rolle des Ausbeuters übernehmen, während andere Staatengruppen ausgebeutet werden. Entsprechend ist internationale Politik ein mehr oder weniger verdeckter Krieg zwischen wenigstens zwei sich unversöhnlich gegenüberstehenden Interessengruppen, in dem sich politische Prozesse so gestalten, dass die wirtschaftlich begünstigte Klasse immer im Vorteil ist. Die Aufteilung der Interessengruppen ergibt sich dabei aus der Position im gesellschaftlichen Produktionsprozess. Kernannahmen marxistischer Theorien 1. Kennzeichen des internationalen Systems ist das kapitalistische Produktionssystem. 2. Das prägende Strukturmerkmal innerstaatlicher wie internationaler Beziehungen ist die horizontale Schichtung entlang von staatenübergreifenden Klassenstrukturen. 3. Die wichtigsten Akteure sind gesellschaftliche Akteure in Form von sozialen Klassen oder - allgemeiner gefasst - sozialen Kräften. 4. Das Verhältnis zwischen sozialen Kräften bestimmt die Dynamik des internationalen Systems, im Kapitalismus ist dieses durch die Ausbeutung einer der beiden sozialen Kräfte durch die andere gekennzeichnet. 5. Internationale Politik ist durch Krisen gekennzeichnet, die sich aus den inneren Widersprüchen der kapitalistischen Produktionsweise ergeben. Historisch-soziologisches Theorieverständnis Marxistisch angeleitete Forschung basiert immer noch vornehmlich auf einer soziologisch-historischen Methodik. Internationale Entwicklungen werden vor dem Hintergrund langfristiger Veränderungen von sozialen Kräfteverhältnissen im internationalen System interpretiert und erklärt. Ein Phänomen wie die internationale Finanzkrise kann sich nur unter den Bedingungen einer globalisierten, sich zuspitzenden Produktion vollziehen. Diese 6.4 Historisch-soziologisches Theorieverständnis <?page no="203"?> 188 m arxIstIsche t heorIen Bedingungen und ganz besonders die Ausprägungen und Abhängigkeiten unseres globalen Finanzmarktes sind heute einmalig und unterscheiden sich von den Bedingungen des 18. und 19. Jahrhunderts, in denen Finanzkapital weniger stark globalisiert war. Nach dem soziologisch-historischen Ansatz muss ein wahres Verständnis von internationalen Beziehungen deshalb ein geschichtliches sein (Gill 1997). In diesem Zusammenhang kritisieren Vertreterinnen und Vertreter andere Theorien für ihren Ahistorizismus. Zwar greifen auch Vertreterinnen und Vertreter realistischer und neorealistischer Theorien auf Beispiele aus der Geschichte zurück, Geschichte ist für sie aber lediglich das Material, mit dem sie die Beständigkeit des Machtmotivs illustrieren. Realisten nutzen historische Beispiele, um die Unabänderlichkeit bestimmter Prinzipien zu zeigen, Marxisten zeigen anhand eines geschichtlichen Prozesses auf, dass sich internationale Beziehungen permanent wandeln. Diese historischen Fallstudien sind nicht vergleichbar mit dem Anspruch marxistischer Theorien, einen Entwicklungsprozess der internationalen Beziehungen aufzuzeigen und dabei das internationale System in seiner Gesamtheit oder Totalität zu erfassen. Für viele marxistische Theorien (aber nicht alle) sind Prozesse historischen Wandels immer auf die ökonomischen Veränderungen in der Gesellschaft zurückzuführen. Sie reflektieren Veränderungen in den materiellen Strukturen einer Gesellschaft. Die methodische Vorgehensweise marxistischer Theorien besteht darin, die internationalen Beziehungen in Epochen oder Zeitabschnitte zu untersuchen. Jede historische Epoche bildet Institutionen und Praktiken heraus, die für die jeweilige Zeit typisch sind. Diese können dann im zeitlichen Verlauf miteinander verglichen werden. Die marxistische Methode besteht also eigentlich in einer genauen Beschreibung der für die jeweilige Epoche charakteristischen Merkmale der Klassenverhältnisse und Eigentumsrechte und dem systematischen Vergleich über Epochen hinweg. Ursächlich für diese Veränderungen sind meistens Veränderungen an der ökonomischen Basis, also die Veränderungen sozialer Kräfte und Produktionsverhältnisse. Da es also immer dieselben Faktoren (Variablen) sind, die untersucht werden, diese jedoch in jeder Epoche andere Zusammenhänge erzeugen, ist die marxistische Methode am ehesten als konfigurative Analyse zu bezeichnen (Skocpol 1984). Totalität bedeutet in diesem Zusammenhang, dass spezifische Phänomene der internationalen Politik in ihren Zusammenhängen gesehen werden müssen und nicht losgelöst voneinander betrachtet werden können. So macht es aus Sicht marxistischer Theorie wenig Sinn, Menschenrechte für sich genommen zu untersuchen, also zu fragen, wie sie definiert werden und wie sie am besten umgesetzt werden können (vgl. Einheit 12). Marxistische Theorien sehen die eigentliche Aufgabe darin zu untersuchen, wie es möglich wurde, Kritik am Ahistorizismus Methodische Vorgehensweise <?page no="204"?> 189 m arxIstIsche t heorIen m arxIstIsche t heorIen InternatIonaler b ezIehunGen Einheit 6 dass sich politische und liberale Menschenrechte zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt im 19. Jahrhundert entwickelt haben (aber eben nicht früher) und als Folge welcher gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderungen sie entstanden sind. Marxistische Theorien lösen damit den emanzipatorischen Anspruch ein, den sie erheben. Die Analyse von sozialen Phänomenen aus einer historischen Perspektive geschieht niemals als Selbstzweck, sondern soll zeigen, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse, in die wir eingebunden sind und die wir als gegeben und unveränderlich betrachten, tatsächlich historischen Veränderungen unterliegen. Ihr kritisches Potential lösen marxistische Theorien ein, indem sie aufzeigen, welche sozialen Kräfte die existierenden Strukturen stützen oder gefährden und Veränderungsprozesse dadurch blockieren oder begünstigen. Marxistische Theorien internationaler Beziehungen Im Folgenden wird auf zwei der bekanntesten neueren marxistischen Theorien genauer eingegangen: die Weltsystemtheorie von Immanuel Wallerstein und der Neo-Gramscianismus von Robert W. Cox. Ihre Werke können in den Internationalen Beziehungen als paradigmatisch für die Art und Weise betrachtet werden, wie marxistische Theorien internationale Politik beziehungsweise das internationale System erklären. Bei beiden Autoren werden zentrale marxistische Themen deutlich: die Bedeutung sozialer Klassen als treibende Kräfte des kapitalistischen Welt- Emanzipatorischer Anspruch 6.5 Der Erklärungsanspruch von Weltsystemtheorie und Neo-Gramscianismus Weltsystemtheorie und Neo-Gramscianismus wollen etwas Ähnliches erklären: Warum bilden sich stabile Strukturen wirtschaftlicher Abhängigkeit heraus und warum brechen diese immer wieder krisenhaft zusammen? Warum nehmen diese Strukturen über Staatsformationen und Epochen hinweg unterschiedliche Formen an und haben dennoch eine ganz ähnliche Rolle bei der Stabilisierung des Systems? Dabei setzen beide jedoch unterschiedliche Schwerpunkte: ▶ Immanuel Wallerstein interessiert sich für das Ausbeutungsverhältnis zwischen ausbeutenden, industrialisierten Staaten (bei ihm Zentrum genannt) und ausgebeuteten, Rohstoffe exportierenden Staaten (bei ihm Peripherie genannt). Er erklärt, warum Wohlstand in der Welt extrem ungleich verteilt ist und die reichen Staaten nach wie vor begünstigt sind, ohne dass es zu einem Zusammenbruch des Systems kommt. ▶ Robert W. Cox erklärt dagegen, welche Rolle die soziale Anerkennung von Hegemonie im internationalen System spielt und warum wir trotz eines Wandels von Hegemonien eine relative Stabilität des internationalen Systems beobachten können. Merke <?page no="205"?> 190 m arxIstIsche t heorIen systems, die verblüffende Stabilität dieses Systems über Epochen hinweg und der Wandel internationaler Phänomene in Abhängigkeit davon, wie historische internationale Systeme konfiguriert sind. Die Weltsystemtheorie von Immanuel Wallerstein Die Weltsystemtheorie von Wallerstein baut im Kern auf der Theorie Lenins über die Ausbeutung von Staaten der Peripherie durch die Staaten des Zentrums auf. Für Wallerstein ist die Geschichte der internationalen Beziehungen geprägt von dem Aufstieg und Fall einer Serie von Weltsystemen. Die Weltsystemtheorie geht davon aus, dass es zeitlich gesehen immer nur ein Weltsystem gibt, in dem nur eine Form von Arbeitsteilung vorhanden ist. Dennoch gibt es multiple kulturelle Systeme. So kann ein Weltsystem prinzipiell zwei unterschiedliche Formen annehmen: Ein System mit einem gemeinsamen politischen System, so genannte Weltreiche, oder ein System ohne gemeinsames politisches System, so genannte Weltwirtschaften. Historisch betrachtet gab es verschiedene Weltreiche, etwa die großen Zivilisationen Chinas, Ägyptens und Roms. Weltsysteme nehmen bei Wallerstein nicht unbedingt globale Ausmaße an. Wallerstein widmet sich eingehender den unterschiedlichen Rollen, die entwickelte und weniger entwickelte Staaten im internationalen System spielen. Für ihn reflektiert der geringe wirtschaftliche Entwicklungsstand der meisten Länder des Globalen Südens nicht die Tatsache, dass die betroffenen Staaten 6.6 Zentrum, Semi-Peripherie und Peripherie in der Weltsystemtheorie Abb. 6.2 <?page no="206"?> 191 m arxIstIsche t heorIen d Ie w eltsystemtheorIe Von I mmanuel w allersteIn Einheit 6 sich in einem früheren Entwicklungsstadium im Vergleich zu entwickelten Staaten befinden, wie es die Modernisierungstheorie behauptet. Die Armut ganzer Staatengruppen resultiert vielmehr aus ihrer sozialen, peripheren Position im kapitalistischen Weltsystem und ihrer Beziehung zu den Zentren des Systems, da sie vor allem als Rohstoff- und Arbeitskräftelieferanten agieren. Welche Staaten dabei zur Peripherie werden, ist relativ zufällig. „But once this minor accident is given, it is the operations of the world-market forces which accentuate the differences, institutionalize them, and make them impossible to surmount over the short run.“ (Wallerstein 1974: 403) Wallerstein führt zusätzlich zur Unterscheidung zwischen Staaten des Zentrums und der Peripherie den Begriff der Semi-Peripherie ein. Im Zentrum haben sich demokratisch organisierte Wohlfahrtsstaaten herausgebildet, die relativ hohe Löhne und sozialen Frieden garantieren. In der Peripherie herrschen größtenteils nicht-demokratische Staaten vor, in denen die Löhne unterhalb des Subsistenzniveaus liegen. In den Staaten der Semi- Peripherie wiederum werden die Regierungen überwiegend durch das Militär gestützt, das eine zentrale Rolle bei der Unterdrückung einer sich mobilisierenden Arbeiterklasse spielt (vgl. Abbildung 6.2). Gäbe es im Weltsystem nur Zentrum und Peripherie, so würden die internen Widersprüche dieses Systems, vor allem sein ausbeuterischer Charakter, relativ schnell zu Krisen und Umwälzungen führen. Neben der militärischen Übermacht des Zentrums und der Herausbildung von mit diesem System selbst verknüpften Interessen ist es die Staatengruppe der Semi-Peripherie, die eine zentrale Funktion einnimmt. Die Semi-Peripherie stabilisiert das System der Ungleichheit. Das kapitalistische Weltsystem könnte zwar auch ohne die Semi-Peripherie funktionieren, aber es wäre lange nicht so stabil. Die politische Funktion der Semi-Peripherie besteht darin, dass sie sowohl in der Position des Ausbeuters ist-- gegenüber der Peripherie-- als auch in der Position der Ausgebeuteten- - gegenüber dem Zentrum. Ihre Existenz führt dazu, dass sich die kapitalistische Klasse im Zentrum keiner großen Opposition gegenüber sieht. Damit wirkt die Semi-Peripherie stabilisierend auf das kapitalistische Weltsystem insgesamt. Wie aber funktioniert diese stabilisierende Wirkung der Semi-Peripherie genau? Die Antwort darauf ergibt sich aus dem komplexen Zusammenspiel der unterschiedlichen Klassen in Zentrum und Peripherie. So ist es die kapitalistische Klasse des Zentrums, die die landbesitzende Klasse der Peripherie stützt, sie dadurch abhängig macht und die Entwicklung eines kapitalistischen Systems verhindert. Die Klasse, die in Europa historisch betrachtet Staatlichkeit gestärkt hat-- das Bürgertum in Form einer kaufmännischen Klasse-- bleibt in den Ländern der Peripherie unterentwickelt. Als weiteren Armut als Ergebnis der Position im kapitalistischen Weltsystem Peripherie <?page no="207"?> 192 m arxIstIsche t heorIen Effekt bilden diese Staaten auch nur eine schwache Staatlichkeit heraus. Die Stärkung der landbesitzenden Klasse ergibt sich daraus, dass die Interessen dieser Gruppe sehr viel stärker mit den Interessen der ausländischen Kapitalisten konvergieren als mit denen der inländischen kaufmännischen Klasse. Vertreter der landbesitzenden Klasse unterstützen die Liberalisierung des Handels, weil sie als Rohstofflieferanten unmittelbar von dieser profitierten. Gleichzeitig haben sie ein Interesse daran, dass die einheimische kaufmännische Klasse durch die externen Kapitalisten ersetzt wird, weil letztere keine politische Konkurrenz in ihren eigenen Staaten darstellen. Ähnlich wie im Strukturellen Realismus verhindert das zwischenstaatliche System, in dem die Hauptakteure Staaten sind, dass ein Staat absolute Dominanz über andere Staaten ausüben kann. Dieses Machtgleichgewicht dient bei Wallerstein aber nicht dem Staat an sich, sondern der kapitalistischen Klasse. Die Existenz rivalisierender Machtzentren stellt sicher, dass kein Staat umfassende Kontrollen einführt, um das expandierende Kapital beziehungsweise die Unternehmen in ihren Aktivitäten zu behindern. Versucht ein Staat dies dennoch, könnten Kapitalisten in andere Staaten abwandern und der Staat würde seine Produktion und seinen Einfluss verlieren. Ähnlich wie der Neorealismus nimmt auch die Weltsystemtheorie an, dass das Entstehen eines Weltstaates (eines „Weltreiches“) das kapitalistische Weltsystem unterminieren würde. In der Weltsystemtheorie ist diese Herausbildung eines Weltreiches aber unwahrscheinlich, eben weil die Macht von Staaten letztlich von der Stärke ihrer Unternehmen abhängt, sie aber starken Fluktuationen unterworfen sind und folglich die Machtverteilung zwischen Staaten und Regionen relativ häufig wechselt. Kapitalistisches System und zwischenstaatliches System unterstützen sich damit wechselseitig. Neo-Gramscianismus: Robert Cox Im Unterschied zu Wallerstein denkt Cox allgemeiner darüber nach, wie bestimmte Faktoren dazu beitragen, ein System zu stabilisieren und wie ein solches System aus sich heraus transformiert werden kann. Zentral ist für ihn das Zusammenspiel von Ideen, materiellen Kapazitäten und Institutionen. Cox widmet sich insbesondere der Rolle von politischen Institutionen und Ideologien für die Aufrechterhaltung von Herrschaft beziehungsweise Hegemonie im internationalen System. Für Cox ist das heutige System dadurch gekennzeichnet, dass staatliche Souveränität einem globalen wirtschaftlichen System unterworfen ist, in dem das transnationale Finanzsystem eine herausragende Rolle spielt und das durch ein korrespondierendes System von Produktionsverhältnissen gekennzeichnet ist. Die stärksten Spieler in diesem System sind heute 6.7 Neo-Gramscianismus als Zusammenspiel von Ideen, materiellen Kapazitäten und Institutionen <?page no="208"?> 193 m arxIstIsche t heorIen n eo -G ramscIanIsmus : r obert c ox Einheit 6 multinationale Unternehmen und internationale Finanzinstitutionen wie die Weltbank und der Internationale Währungsfonds. Beide üben als historischer Block eine globale Hegemonie über Staaten aus. Mit anderen Worten, das internationale System ist nicht anarchisch und Staaten regieren sich nicht selbst, sondern sie werden regiert durch Finanzinstitutionen. Bevor dieses Kapitel später erklärt, wie es zur Herausbildung eines solchen transnationalen Finanzkapitals gekommen ist, soll zunächst der Begriff der Hegemonie geklärt werden. Gramscianismus Der Neo-Gramscianismus geht auf die Schriften des italienischen Schriftstellers, Politikers und politischen Theoretikers Antonio Gramsci zurück, der von 1891 bis 1937 lebte. Er war Gründer der italienischen kommunistischen Partei und wurde 1926 wegen seiner politischen Aktivitäten unter der Regierung von Benito Mussolini inhaftiert. Gramsci saß bis kurz vor seinem Tod 1937 im Gefängnis. Er starb an den Folgen der schlechten Haftbedingungen. Gramsci entwickelte während seiner Inhaftierung in Form von Tagebüchern sein Konzept der kulturellen Hegemonie, die seiner Meinung nach den Fortbestand des Staates in einer kapitalistischen Gesellschaft erklärte. Das Puzzle, auf das seine Theorie eine Antwort gibt, ist eines des Marxismus. Dieser hatte vorhergesagt, dass die vorangeschrittenen kapitalistischen Ökonomien Träger der Revolution sein würden. Stattdessen war die Revolution von Russland ausgegangen, dessen Ökonomie wesentlich weniger entwickelt im Sinne des Kapitalismus war. Gramscis Ansatz wurde in den internationalen Beziehungen enorm einflussreich, nachdem er von Robert W. Cox in den 1980er Jahren aufgegriffen und angewandt wurde. Merke Cox geht es vor allem darum zu zeigen, dass Hegemonie eine kulturelle Dimension hat. Sie beruht auf Zwang und auf Konsens. Das perfide an kultureller Hegemonie ist, dass sie gleichzeitig omnipräsent und nichtexistent ist. Sie ist allgegenwärtig und prägt alle Lebensbereiche, ohne dass dies noch im öffentlichen Bewusstsein ist. Sie ist also nicht nur-- wie im Neorealismus-- eine Herrschaftsform, die sich in erster Linie über die Ausübung von Gewalt stabilisiert und für die materielle Kapazitäten wichtig sind. Genauso wichtig ist der schweigende Konsens derjenigen, über die regiert wird. Hegemonie hat eine soziale und relationale Dimension: Die soziale Dimension der Hegemonie besteht darin, dass sie immer an bestimmte soziale Klassen gebunden ist; die relationale Dimension der Hegemonie besteht darin, dass diese Klassen in Relation zu anderen Klassen stehen. Kulturelle Hegemonie ist das Ergebnis eines Prozesses, bei dem die Interessen einer sozialen Klasse universalisiert werden. Cox historische Auseinander- Kulturelle Hegemonie: Zwang und Konsens <?page no="209"?> 194 m arxIstIsche t heorIen setzung mit unterschiedlichen Hegemonien zeigt, wie Konfigurationen von materieller Macht, vorherrschenden Ideen von Weltordnung und Institutionen ein internationales System stabilisieren. Unter Hegemonie versteht Cox vorherrschende Macht- und Herrschaftsstrukturen, die durch einen hegemonialen Konsens abgesichert sind. Hegemonie hat soziale, kulturelle und ideologische Dimensionen. Ein hegemonialer Konsens besteht dann, wenn eine Vielzahl von Akteuren die hegemoniale Idee akzeptiert hat. Dieser Konsens wird durch materielle Ressourcen und Institutionen gestützt. Hegemonie Cox definiert Hegemonie als eine Ordnung, die nicht nur ein System von Staaten ist: Es ist eine Ordnung innerhalb einer Weltökonomie mit einer dominanten Produktionsweise, die alle Länder durchdringt und zu anderen, untergeordneten Produktionsweisen führt. Es ist auch ein Komplex internationaler Sozialbeziehungen, der die sozialen Klassen unterschiedlicher Länder verbindet.- […] Welthegemonie drückt sich in universellen Normen, Institutionen und Mechanismen aus, die generelle Regeln festlegen für das Verhalten von Staaten und für die sozialen Kräfte, die die nationalen Grenzen überschreiten-- Regeln, die die dominante Produktionsweise unterstützen. (Cox 1983: 172 f. in der Übersetzung von Bieling/ Deppe/ Tidow 1998: 15) Ursprünglich war der Neoliberalismus eine Verbesserung zum klassischen Liberalismus, der die freie Entwicklung des Marktes möglichst ohne staatliche Eingriffe propagierte. Im Neoliberalismus der 30er und 40er Jahre des letzten Jahrhunderts drückte sich die Auffassung aus, dass staatliche Interventionen dann sinnvoll sind, wenn sie die negativen Effekte der Marktwirtschaft dämpfen, zum Beispiel durch die finanzielle Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Neoliberalismus ist heute wieder sehr viel stärker mit der ursprüngliche Idee des Liberalismus assoziiert. Hegemonial ist er, da das Denken des Neoliberalismus in alle Lebensbereiche - auch die ursprünglich nicht-ökonomischen - Einzug gehalten hat. Nationale Bildungssysteme und Wissen werden genauso einem Ökonomisierungszwang unterworfen wie internationale Kapitalmärkte. Die in ihm zum Ausdruck kommende Marktmentalität durchdringt alles und ist sogar krisenresistent: Viele sehen eine Lösung der Finanzkrisen der letzten Jahrzehnte in der weiteren Stärkung der Märkte, nicht in ihrer staatlichen Beschränkung. Neoliberalismus als hegemoniale Idee <?page no="210"?> 195 m arxIstIsche t heorIen n eo -G ramscIanIsmus : r obert c ox Einheit 6 Den Prozess der Durchsetzung kann man sich-- von der Position der sozialen Klasse aus gedacht-- so vorstellen, dass eine dominierende soziale Klasse mit überlegener materieller Macht versucht, ihren hegemonialen beziehungsweise dominanten Status dadurch abzusichern, dass sie ihre Ideologie (oder: ihre Idee) mithilfe von staatlichen und überstaatlichen Institutionen durchsetzt. Man kann diesen Prozess aber auch aus der Position einer hegemonialen Idee verstehen. Diese ist immer gestützt durch Institutionen, die wiederum durch die dominante Klasse gestützt werden und insgesamt die dominante Position dieser Klasse in der Gesellschaft absichern. Cox hat in diesem Zusammenhang den Satz geprägt: „Theory is always for someone, and for some purpose.“ (Cox 1981: 128) Damit kommt zum Ausdruck, dass Ideen und Werte immer Ausdruck einer bestimmten Art von sozialen Beziehungen sind. Wenn sich diese Beziehungen transformieren, transformieren sich auch die korrespondierenden Ideen. Zu jeder Zeit reflektiert also unser Wissen über die soziale Welt immer einen bestimmten Kontext, eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Raum (vgl. Hobden 2014: 148). Über historische Strukturen hinweg theoretisieren marxistische Theorien historischen Wandel. Innerhalb der historischen Strukturen stellen sie dar, wie staatliche und ideelle Erscheinungsformen mit den jeweiligen Produktionsverhältnissen korrespondieren. Cox vergleicht die historischen Hegemonien der Pax Britannica und der Pax Americana, um danach zu zeigen, wie Veränderungen in den sozialen Abbildung 6.3 soziale Produktionsverhältnisse / materielle Kapazitäten Staatsformen / Institutionen Weltordnungsvorstellungen Zusammenhang zwischen Ideen, Institutionen und Produktionsverhältnissen Abb. 6.3 <?page no="211"?> 196 m arxIstIsche t heorIen Produktionsverhältnissen die Transition von der Pax Britannica zur Pax Americana einleiten. Als Pax Britannica wird globale Vorherrschaft Großbritanniens zwischen 1815 und 1919 bezeichnet, die sich nach Cox entsprechend der oben genannten Elemente analysieren lässt. Die materielle Macht Großbritanniens beruhte auf seiner Vorherrschaft auf den Meeren, die es mittels seiner Seemacht ausübte, das heißt durch seine große Flotte und durch seine strategische Position (vgl. Einheit 1). Liberale Wirtschaftsnormen (Freihandel, Goldstandard, Bewegungsfreiheit für Kapital und Personen) waren weitgehend anerkannt und boten eine universelle Ideologie. Formale Institutionen waren kaum nötig, um dieses System aufrechtzuerhalten. Im Zeitalter des Wirtschaftsliberalismus steuerten sich wirtschaftliche Kräfte selbst und benötigten nur eine geringe Zahl zwischenstaatlicher Institutionen. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre veränderte sich dieses System: Materiell wurde die britische Seemacht erst durch Deutschland, dann durch die USA herausgefordert. Ideell wurde der Freihandel durch Protektionismus und einen wachsenden Imperialismus in Frage gestellt. Institutionell scheiterte Großbritannien in den 1920er mit dem Versuch, seine Macht durch den Völkerbund abzusichern. Diese drei Prozesse führten zur Ablösung Großbritanniens als globalem Hegemon. Die folgende Pax Americana war rigider als die Pax Britannica: Allianzen dominierten zwischenstaatliche Beziehungen, die vor allem dazu dienen sollten, die Sowjetunion abzuschrecken. Ansonsten spielten die USA jedoch eine ähnliche Rolle wie Großbritannien und wurden eine treibende Kraft bei der Etablierung einer globalen Ökonomie. Sie setzten eine neoliberale Wirtschaftsideologie weitgehend ohne Gewaltanwendung durch. Unter ihrer Hegemonie entstanden jedoch sehr viel mehr internationale Institutionen. Diese erklären sich daraus, dass der Staat-- anders als im Wirtschaftsliberalismus-- stärker mit dem Wirtschaftsbereich verschmolzen war und ihm Materielle Macht: Vorherrschaft auf den Meeren Freihandel als universelle Ideologie Wenige internationale Institutionen Dominanz durch Allianzen Neoliberalismus als Wirtschaftsideologie Die drei Ebenen der Untersuchung innerhalb der marxistischen Theorie Innerhalb einer konkreten historischen Struktur untersucht marxistische Theorie den Prozess der Durchsetzung hegemonialer Formen immer auf drei Ebenen: ▶ Auf der Ebene der sozialen Produktionsverhältnisse, ▶ auf der Ebene des Staates und der Staatsformen, und ▶ auf der Ebene der Weltordnung. Veränderungsprozesse gehen dabei in der Regel von der Ebene der sozialen Produktionsverhältnisse aus und wirken sich auf alle anderen Ebenen aus. Merke <?page no="212"?> 197 m arxIstIsche t heorIen n eo -G ramscIanIsmus : r obert c ox Einheit 6 eine explizite Funktion bei der Förderung des Handels zukam. Staaten handelten internationale Handelsabkommen aus und trieben damit die Zahl der internationalen Institutionen in die Höhe. Wodurch entstand diese Transformation von Staatlichkeit und der Weltordnung? Cox Antwort darauf lautet: Der Wandel der sozialen Produktionsverhältnisse. Die Pax Britannica basierte auf dem Aufstieg einer verarbeitenden kapitalistischen Klasse in der internationalen Wirtschaft, in der Großbritannien das Zentrum bildete. Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert nahm eine sich herausbildende industrielle Arbeiterschaft in den Industriezentren mehr und mehr Einfluss auf den Staat und forderte Rechte ein. Die Einbindung dieser Gruppe in den Staat führte dazu, dass Staaten ihre Tätigkeiten ausweiteten: Sie intervenierten mehr in der Sozialpolitik und zugunsten organisierter Arbeit. Damit wurde die Sicherung wohlfahrtsstaatlicher Verhältnisse ein Aspekt, der die Außenpolitik beeinflusste. Außenhandelsinteressen reflektierten nun nicht mehr nur die Interessen einer sich internationalisierenden kapitalistischen Klasse, sondern auch das Interesse an Wohlfahrt und sozialer Sicherung. Die Ausbreitung von Industrialisierung und die Mobilisierung sozialer Klassen veränderten nicht nur die Charakteristika von Staaten, sondern auch internationale Machtkonfigurationen zwischen Staaten. Die industrialisierten Staaten vertraten zunehmend einen internationalen Protektionismus, der die Freihandelsideologie Großbritanniens herausforderte und den ideologischen Konsens unterminierte. Rivalisierende Machtzentren entstanden. Großbritannien wurde abgelöst. Die nachfolgende Pax Americana ist in vieler Hinsicht ähnlich zur Pax Britannica, unterscheidet sich aber von ihr in einer Weise, die charakteristisch für die Entwicklung des kapitalistischen Systems dieser Zeit ist: Sie ist in allen Bereichen stärker institutionalisiert und internationalisiert als die Pax Britannica. Institutionen wie der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank erfüllen die Interessen des interventionistischen Wohlfahrtsstaats auf internationaler Ebene und sind das Schmiermittel des kapitalistischen Produktionssystems. Sie koordinieren die innenpolitischen Anforderungen von wohlfahrtsstaatlichen Interessen mit den Anforderungen einer globalen Weltwirtschaft und helfen den wirtschaftlich schwächeren Staaten, die Anpassungskosten einer kapitalistischen Restrukturierung zu tragen. Damit einher geht eine stärkere Internationalisierung auf allen Ebenen: Staaten internationalisieren sich: Innerstaatliche Macht verschiebt sich zu den verfassungsrechtlichen Organen, die eine Schlüsselfunktion bei der Internationalisierung der nationalen Wirtschaft einnehmen: das Finanzministerium und die Regierung. Institutionen zur Förderung des Handels Stärkere Institutionalisierung und Internationalisierung der Pax Americana Internationalisierung von Staaten … <?page no="213"?> 198 m arxIstIsche t heorIen Produktionsprozesse internationalisieren sich. Investitionen verschieben sich von Portfolioinvestitionen hin zu Direktinvestitionen. Portfolioinvestitionen sind eine Form einer Vermögensanlage oder Teilhabe ohne Kontrolle durch den Investor, Direktinvestitionen zielen dagegen auf die Kontrolle der Geschäftstätigkeit im Ausland ab. Dadurch entsteht eine längerfristige Verflechtung zwischen Volkswirtschaften. Klassenstrukturen internationalisieren sich. Durch die Internationalisierung des Produktionssystems differenzieren sich nationale soziale Klassen zunehmend aus und können nicht mehr als ein kollektiver Block betrachtet werden. Durch alle Klassen ziehen sich Gräben, je nachdem ob sie in internationale oder nationale Produktionsprozesse eingebunden sind. Letztere sind eher protektionistisch eingestellt, erstere eher freihandelsorientiert. Bedeutend hier ist aber die Neuformierung einer globalen Managerklasse. Diese Klasse ist eine soziale Klasse für sich, sie bildet sich um internationale Finanzinstitutionen und andere internationalen Organisationen herum und entwirft für diese Richtlinien und Programme. Sie umfasst sowohl Repräsentanten multinationaler Unternehmen, als auch Individuen in Finanzministerien oder das lokale Management von Unternehmen, die in ein internationales Produktionssystem eingebunden sind. Cox’ Analyse hegemonialer Strukturen im internationalen System ist von großer Aktualität. Sie zeigt zugrundeliegende Klassendynamiken auf, die im Zuge der Internationalisierung einer kapitalistischen Produktionsweise entstehen; sie weist aber auch auf Hindernisse hin, die eine Mobilisierung derjenigen sozialen Kräfte erschwert, die einem kapitalistischen Produktionssystem kritisch gegenüberstehen. Benno Teschke: Marxistische Theorie und Anarchie im Mittelalter Benno Teschke (Teschke 1998; 2003) nutzt die marxistische Theorie, um eine zentrale Annahme der internationalen Beziehungen zu problematisieren, nämlich dass der Westfälische Friede von 1648 einen epochalen Wendepunkt darstellt: den Beginn des internationalen Systems, das wesentlich durch Anarchie gekennzeichnet ist. Nach 1648 hätten sich spezifisch moderne Normen der internationalen Beziehungen etabliert, wie staatliche Souveränität, exklusive Territorialität, rechtliche Gleichheit zwischen Staaten, das Recht auf Nichtintervention und diplomatische Normen, die sich von den vormodernen Verhältnissen, wie sie insbesondere im Lehenswesen zum Ausdruck kamen, unterschieden. Teschke zeigt, dass die mittelalterliche Anarchie sich in Form der dynastischen, also der absolutistischen Königsherrschaft bis ins 19. Jahrhundert gehalten hat. Anarchie selbst ist ein Ergebnis der Produktionsverhältnisse zwischen Bauern, Vasallen und Fürsten bzw. Königen und … von Produktionsprozessen … und von Klassenstrukturen 6.8 1648 als epochaler Wendepunkt Ursachen der Anarchie <?page no="214"?> 199 m arxIstIsche t heorIen b enno t eschKe : m arxIstIsche t heorIe und a narchIe Im m Ittelalter Einheit 6 zieht sich bis auf die geopolitische Ebene der internationalen Beziehungen durch. Damit liefert Teschke nicht nur eine marxistische Erklärung für die Anarchie des Mittelalters, er versucht auch den Gründungsmythos der Disziplin der Internationalen Beziehungen zu widerlegen. Als zentrale Variable, die diesen Sachverhalt erklärt, identifiziert Teschke die mittelalterlichen Besitzverhältnisse, genauer: die Tatsache der „bedingten Eigentumsrechte“ durch das Lehen. Das Lehen konstituierte ein Herrschaftsverhältnis zwischen den Lehensnehmern, den Bauern, und den Lehensgebern, den Fürsten und Königen. Eingeschrieben in die Feudalordnung war die legitime Gewaltanwendung beider Seiten durch das Recht auf Fehde. Innenpolitischer Widerstand war nicht kriminalisiert, sondern in der feudalen Verfassung garantiert. Diese Diffusion des Gewaltmonopols hatte-- so Teschke-- profunde Konsequenzen für die Struktur der politischen Macht, der Territorialität und der internationalen Organisation. Die Mittel der Subsistenzproduktion lagen bei den Bauern, der Adel musste sich den Zugang zu diesen Mitteln sozusagen mit militärischen Mitteln erzwingen. Da jeder Fürst sein Fürstentum nicht nur politisch, sondern individuell reproduzieren musste, lag das Gewaltmonopol nicht beim Staat, sondern war oligopolisiert, und zwar in der Hand des landbesitzenden Adels, den Vasallen. Der mittelalterliche Staat bestand aus einer Gemeinschaft von Adligen, die das Recht auf militärischen Widerstand hatten. Die Beziehungen zwischen den Fürsten waren also nicht-friedlich und wettbewerbsorientiert. Aus dieser Handlungssituation heraus leitet Teschke verschiedene Strategien des landbesitzenden Adels und der Bauern ab, die in der Interaktion zur Herausbildung von Anarchie geführt haben. Als Vasallen hatten die Fürsten eine Mittlerposition inne zwischen den Bauern, die sie beherrschten, und ihren Lehnsherren. Um in der Wettbewerbssituation zwischen diesen beiden Akteursgruppen zu bestehen, mussten Vasallen eine der folgenden Strategien beherzigen: ▶ sie konnten ihr Einkommen maximieren, indem sie die Bauern zwangen, mehr zu erwirtschaften ▶ sie konnten das Land effizienter bewirtschaften und kultivieren und so ihren Besitz vermehren ▶ sie konnten externes Land erobern und für sich reklamieren ▶ sie konnten fremden Besitz erobern, ohne eine direkte Herrschaft auszuüben (Tribute) ▶ sie konnten Krieg führen und andere Besitztümer plündern ▶ sie konnten durch eine geschickte Heiratspolitik ihren Landbesitz vergrößern Mittelalterliche Besitzverhältnisse <?page no="215"?> 200 m arxIstIsche t heorIen Alle Strategien legten nahe, dass die Vasallen in militärische Ausrüstung investieren mussten! Die Bauern hatten Interessen, die den Adligen diametral entgegenstanden und sich ebenfalls aus ihrer Position ergaben: ▶ im Rahmen der Subsistenzwirtschaft hatten sie ein Interesse, den landwirtschaftlichen Anbau zu diversifizieren ▶ sie konnten ihre Arbeitszeit reduzieren, da sie nicht abhängig vom Arbeitsmarkt und nicht profitorientiert waren ▶ sie konnten heiraten oder ihren Besitz teilen und so das Risiko minimieren, kein oder weniger Land zu bewirtschaften ▶ sie konnten durch Organisation in Gemeinschaften und die Ausbildung von Formen der Klassenorganisation versuchen, sich gegen die Einmischung der Fürsten zu schützen Die Reproduktionsstrategien der Bauern führen dabei tendenziell zu wirtschaftlicher Stagnation, die Reproduktionsstrategien der Fürsten zu militärischer Innovation. Dadurch hatten Fürsten Mittel, um Bauern zu Umverteilung zu zwingen. Die erzwungene Umverteilung der bäuerlichen Produktion spielte sich auf drei Achsen ab: Zwischen Bauern und Fürsten, zwischen Fürsten und zwischen den fürstlichen Kollektiven und ausländischen Fürsten. Das geopolitische System, das dadurch entstand, zeichnete sich durch eine beständige militärische Rivalität von Fürsten, Kollektiven und Staaten um Landbesitz und die Arbeitskraft der Bauern aus. Die geopolitische Dynamik des mittelalterlichen Europas ist die Logik eines Nullsummenspiels von territorialen Eroberungen. Die Form und Dynamik des mittelalterlichen Systems folgt also der generativen Struktur der Besitzverhältnisse. Teschkes Arbeiten zeigen, dass marxistische Theorie sich als Instrument der Analyse von historischen internationalen Ordnungen über ihren eigentlichen Entstehungskontext hinaus eignet und eine überzeugende Erklärung für internationale Anarchie liefern kann. Marxistische Theorien erklären Krieg und Kooperation oder auch Institutionen immer als durch Profitinteressen der kapitalistischen Klasse motivierte Praktiken. Die Stärke marxistischer Theorien liegt hierbei zweifelsohne in ihrer epochenübergreifenden, historischen Perspektive. Marxistische Theorien erweitern das Verständnis internationaler Organisationen, die nicht nur im Sinne des neoliberalen Institutionalismus als Strukturen wahrgenommen werden, die Transaktionskosten senken oder die Glaubwürdigkeit von Kooperation erhöhen. Marxistische Theorien begreifen Institutionen immer als Agenten der jeweils dominanten sozialen Kräfte, die durch diese Institutionen ihre Interessen stabilisieren. Hier entspricht das Militärische Rivalität charakterisiert das geopolitische System <?page no="216"?> 201 m arxIstIsche t heorIen Einheit 6 ü bunGen Verständnis des Marxismus eher dem des Neorealismus, mit dem Unterschied, dass der Marxismus in den internationalen Organisationen nicht die Interessen des Hegemons wiedererkennt, sondern die Interessen der sozialen Klassen. 1. Was ist Kommodifizierung? Erklären Sie den Begriff an zwei Beispielen. 2. Inwiefern unterscheidet sich der Institutionenbegriff des Marxismus von dem Institutionenbegriff des Institutionalismus? 3. Welche Rolle übernimmt die Semi-Peripherie im internationalen System? 4. Erklären Sie den Hegemoniebegriff nach Robert W. Cox. 5. Sehen Sie sich noch einmal die Grafik des Human Development Index an (http: / / hdr.undp.org/ en/ data-explorer, letzter Zugriff 02.01.2015). Können Sie Entwicklungen entdecken, die sich mit den Annahmen der Weltsystemtheorie decken? 6. Eine Gruppe von Aktivisten, die sich in der Organisation Rules for the World organisiert haben, hat ein Video erstellt, auf dem sie globale Ungleichheit anschaulich darstellen. Der Sprecher erklärt, was die Ursache von Ungleichheit ist. Schauen Sie sich das Video an unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=uWSxzjyMNpU (letzter Zugriff 02.01.2015). Handelt es sich dabei um eine Erklärung, die mit marxistischen Annahmen konform ist? 7. „Entwicklungshilfe ist Geldverschwendung, weil sie armen Ländern nicht aus der Armut hilft.“ Begründen Sie die These mit der marxistischen Theorie. 8. Gehen Sie noch einmal zurück zu Einheit 2. Welche Trends korrespondieren mit der Beschreibung marxistischer Ansätze? Gibt es Trends, die mit einer marxistischen Beschreibung nur schwer vereinbar sind? Überlegen Sie, wie marxistische Ansätze die Demokratisierungstrends nach dem Ende des Ost-West-Konflikts erklären würden. Übungen <?page no="217"?> 202 m arxIstIsche t heorIen Cox, Robert W. (1981): Social Forces, States, and World Orders: Beyond International Relations Theory. In: Millennium 10: 2, 126-155. Cox, Robert W. (1983): Gramsci, Hegemony and International Relations: An Essay in Method. In: Millennium 12: 2, 162-175. Gill, Stephen (1997): Transformation and Innovation in the Study of World Order. In: Gill, Stephen; Mittelman, James H. (Hrsg.): Innovation and Transformation in International Studies, Cambridge: Cambridge University Press, 5-24. Hobden, Stephen; Hobson, John M. (Hrsg.) (2002): Historical Sociology of International Relations. Cambridge: Cambridge University Press. Hobson, John M. (2004): The Eastern Origins of Western Civilisation. Cambridge: Cambridge University Press. Krippendorff, Ekkehart (1975): Probleme der internationalen Beziehungen. Essays. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Krippendorff, Ekkehart (1977): Einführung in die internationalen Beziehungen Band 2: Internationale Beziehungen als Wissenschaft. Frankfurt a. M.: Campus. 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Verwendete Literatur <?page no="218"?> 203 m arxIstIsche t heorIen b enno t eschKe : m arxIstIsche t heorIe und a narchIe Im m Ittelalter Einheit 7 Liberale Theorie Inhalt 7.1 Innerstaatliche und internationale Politik: Wie hängen sie zusammen? 204 7.2 Liberaler Internationalismus 205 7.3 Analytischer Liberalismus 209 7.4 Zwei-Ebenen-Spiele 210 7.5 Kernannahmen analytisch-liberaler Theorien 212 7.6 Varianten des Liberalismus nach Moravcsik 217 7.7 Liberaler Internationalismus und das Ende des Ost-West-Konflikts 221 7.8 Analytischer Liberalismus und regionale Kooperation 222 Übungen 223 Verwendete Literatur 223 Dieses Kapitel stellt einen Ansatz vor, der die Verfasstheit von Staaten und innerstaatlichen Interessengruppen mit außenpolitischem Verhalten verbindet und erklärt, wie sich daraus internationale Beziehungen entwickeln. Es werden zwei Ansätze unterschieden: ein liberaler Internationalismus und ein analytischer Liberalismus. Des Weiteren wird dargelegt, unter welchen Bedingungen es zu Kooperation und Konflikten kommt. Überblick <?page no="219"?> 204 l Iberale t heorIe Innerstaatliche und internationale Politik: Wie hängen sie zusammen? Warum führen demokratische Staaten keine Kriege gegeneinander? Was würde passieren, wenn alle Staaten Demokratien wären? Gäbe es dann ewigen Frieden wie Immanuel Kant vorhergesagt hat (Kant 1991 (1795))? Konkreter gefragt: Waren die einhundert Jahre zwischen 1815 und 1915 friedfertiger, weil sie unter der Hegemonie Großbritanniens standen, oder weil die Phase mit der Ersten Welle der Demokratisierung zusammenfiel? Bekämpften sich die USA und die Sowjetunion 50 Jahre lang, weil sie sich in einem Dilemma befanden, bei dem die Rüstungsanstrengungen und der Kampf um die führende Machtposition des einen die Sicherheit des anderen bedrohten? Oder lag es daran, dass es sich beim einen um einen kommunistischen und beim anderen um einen marktwirtschaftlich orientierten Staat handelte? Und warum siegten die USA? Warum sind wirtschaftliche Integrationsvorhaben in Regionen, in denen das Militär stärker an der Regierung beteiligt ist, durch weniger wirtschaftliche Offenheit gekennzeichnet als Regionen, in denen dies nicht der Fall ist? All diese Fragen führen uns vor Augen, dass innerstaatliche Faktoren eine zentrale Rolle bei strategischen Interaktionen zwischen Staaten spielen könnten. Die Tatsache, dass internationale Beziehungen und innerstaatliche Strukturen und Prozesse einen wechselseitigen Einfluss aufeinander ausüben, steht für viele wahrscheinlich kaum außer Frage. Auch der historische Überblick in den Einheiten 1 und 2 hatte als zentrale Annahme, dass Charakteristika von Staaten internationale Beziehungen beeinflussen und innerstaatliche und internationale Politik einander beeinflussen. Die liberale Theorie internationaler Beziehungen ist diejenige Theorie, die die- 7.1 Innerstaatliche Strukturen und internationale Beziehungen Liberale Theorien Unter dem Begriff der liberalen Theorien der Internationalen Beziehungen vereinen sich alle Ansätze, die das außenpolitische Verhalten von Staaten auf innerstaatliche Strukturen zurückführen. Charakteristisch für das Verständnis liberaler Theorien von internationaler Politik ist die Annahme, dass Außenpolitik nicht allein durch die anarchische Struktur des internationalen Systems bestimmt ist (wie der Strukturelle Realismus annimmt) oder durch Interdependenz (wie im Institutionalismus), sondern ganz wesentlich durch innerstaatliche Faktoren beeinflusst wird. Die Außenpolitik von Staaten und auch das Muster an internationalen Beziehungen variieren systematisch mit innerstaatlichen Strukturen. Merke <?page no="220"?> 205 l Iberale t heorIe l Iberaler I nternatIonalIsmus Einheit 7 sen Zusammenhang am stärksten ausleuchtet und systematische Zusammenhänge herstellt. Sie stellt in dieser Hinsicht auch eine Ergänzung zum Institutionalismus und Realismus dar, die die innerstaatliche Struktur ausblenden. Es lassen sich zwei Arten liberaler Theorie unterscheiden. Es gibt eine wertbezogene und eine analytische Variante. Die wertbezogene Variante geht auf den politischen Liberalismus zurück, der sich Ende des 18. Jahrhundert als politische Weltanschauung etabliert hat. Sie wird auch als liberaler Internationalismus bezeichnet und im Folgenden konsequent so bezeichnet. In Abgrenzung dazu hat sich in den 1970er Jahren der analytische Liberalismus der internationalen Beziehungen entwickelt. Beide Varianten beschäftigen sich eingehend mit den Faktoren, die zu Kooperation oder Konflikt in den internationalen Beziehungen führen. Während der liberale Internationalismus Werten wie Freiheit, Menschenrechten und Demokratie eine friedensfördernde Wirkung zuschreibt, ist der Ansatz des analytischen Liberalismus als Theorie der internationalen Beziehungen breiter, da er sich auf einer abstrakteren Ebene mit dem Einfluss innerstaatlicher Faktoren auf Außenpolitik und Kooperation bzw. Konflikt befasst. Im Folgenden sollen beide Varianten eingehender beschrieben werden. Liberaler Internationalismus Für den internationalen Liberalismus ist die Idee des Liberalismus der wichtigste Bezugspunkt, um die Entwicklung internationaler Beziehungen zu erklären. Liberalismus ist eine Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsauffassung, die die Freiheit des Einzelnen als grundlegende Norm menschlichen Zusammenlebens betrachtet. Er sieht in der Eigenverantwortung und individuellen Freiheit eine fortschrittliche Kraft und will die Kontrolle oder Bevormundung des Einzelnen durch staatliche Einrichtungen möglichst gering halten. Liberalismus Ursprünglich entstand der politische Liberalismus als politische Gegenbewegung zum Absolutismus im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts, während dessen die gesamte Staatsgewalt von einem Alleinherrscher ausging. Wichtige Vertreter des Liberalismus sind Adam Smith, John Locke und Immanuel Kant. Der politische Liberalismus geht davon aus, dass das Individuum vernunftgesteuert und lernfähig ist und die Fähigkeit zur moralischen Einsicht hat. Generell werden nach dieser Auffassung Institutionen, 7.2 <?page no="221"?> 206 l Iberale t heorIe die diese Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen, beispielsweise Institutionen, die den Interessenausgleich befördern und transparent sind, als wünschenswert betrachtet. John Locke (1632-1704) gilt als Vordenker der Aufklärung und Vertragstheoretiker. Er ging in einem Gedankenexperiment der Frage nach, unter welchen Bedingungen sich Individuen einer staatlichen Ordnung unterwerfen. Seine Antwort: Legitime staatliche Ordnungen sind freiwillige Zusammenschlüsse von Individuen, welche zum Schutz der Freiheit der Bürgerinnen und Bürger geschaffen werden. Adam Smith (1723-1790) untersuchte als Erster systematisch die wohlstandsfördernde Wirkung freier Märkte und einer arbeitsteiligen Wirtschaft. Er ging davon aus, dass die Triebfeder wirtschaftlichen Fortschritts die Maximierung des Eigennutzes sei. Selbst dann, wenn er es gar nicht beabsichtige, diene der einzelne Mensch immer auch dem Gemeinwohl. Eine „unsichtbare Hand“ sorge damit für die eigenständige Marktregulierung und die Erhöhung des gesellschaftlichen Wohlstands. Immanuel Kant (1724-1804) widmete sich nicht nur der Frage, was Vernunft ist, sondern theoretisierte auch die Verbindung zwischen individuellen vernünftigen Entscheidungen und friedlichen Beziehungen zwischen Staaten. In seiner 1795 erschienenen Schrift „Zum ewigen Frieden“ entwickelte er die These, dass es einen Zusammenhang zwischen der demokratischen Verfassung eines Staates und seiner friedlichen Außenpolitik gibt. Nach Kant garantieren Demokratien, dass individuelle Entscheidungen sich auch in der Außenpolitik bemerkbar machen. Rational und egoistisch handelnde Individuen entscheiden sich nicht für einen Krieg, da sie unmittelbar die Kosten dieser Entscheidung tragen müssten, indem sie als Soldaten in den Krieg ziehen müssten oder unter den wirtschaftlichen Kosten eines Kriegs in Form von erhöhten Steuern zu leiden hätten. Vordenker des Liberalismus Das gilt auch in den internationalen Beziehungen: Institutionen, die die Freiheit des Einzelnen schützen und gewährleisten, dass die Interessen jedes Einzelnen bestmöglich gewahrt werden, können auch international eine friedensfördernde Wirkung haben. Folglich schreibt der politische Liberalismus der demokratischen Regierungsform eine fortschrittliche Kraft zu. Trotz einer langen Tradition liberalen Denkens in der politischen Theorie führte der Liberalismus in den Internationalen Beziehungen bis in die späten 1980er Jahre hinein ein Schattendasein. Der amerikanische Politikwissenschaftler Stanley Hoffman sah 1987 in der anarchischen Struktur des internationalen Systems die größte Herausforderung für den Liberalismus als friedensfördernde Kraft. Kern des Liberalismus bildeten für Hoffman „Selbstbeschränkung, Mäßigung, Kompromiss und Frieden“. Internationale Politik hingegen verkörpere das genaue Gegenteil: Im besten Fall Bedeutungslosigkeit des Liberalismus während des Ost-West-Konflikts <?page no="222"?> 207 l Iberale t heorIe l Iberaler I nternatIonalIsmus Einheit 7 einen schwierigen Frieden, im schlechtesten Fall Krieg (Hoffman 1987: 396). Auch während des Kalten Kriegs gab es Ansätze von namhaften Autorinnen, die liberale Grundannahmen vertraten. Diese blieben jedoch eher die Ausnahme in der Debatte, die maßgeblich vom Neorealismus und Institutionalismus geprägt war und die Staaten explizit als undurchsichtige Box (black box) betrachteten und die Frage, wie sich innenpolitische Interessen formierten, für schlichtweg uninteressant hielten. Besonders nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und verstärkt in den vergangenen Jahren erlangte der Liberalismus starke Aufmerksamkeit. Die historische Wegmarke des Endes der ideologischen Auseinandersetzung zwischen den USA und der Sowjetunion fiel mit mehreren internationalen Trends zusammen, die zusammengenommen die Vorhersage liberaler Theorien zu bestätigen schienen, dass Frieden im internationalen System vor allem durch die innere Verfasstheit von Staaten beeinflusst wird. Einer dieser Trends war die dritte Welle der Demokratisierung, die ab Mitte der 1970er Jahre in Westeuropa begann und schnell die Staaten Lateinamerikas, Osteuropas und zum Teil Asiens erfasste (vgl. Einheit 2). Ein anderer Trend war, dass internationale Organisationen erheblich an Bedeutung gewannen und die Globalisierung als Gelegenheit für mehr wirtschaftlichen, aber auch kulturellen Austausch wahrgenommen wurde. Die umfangreiche Forschung zum demokratischen Frieden bestätigte die Vermutungen liberaler Ansätze (Russett 1993; Risse-Kappen 1995; Oneal/ Russett 2001; Hasenclever 2002; Müller 2002). Diese Phänomene wurden als Zeichen interpretiert, dass die Weltpolitik im Begriff ist, sich auf eine insgesamt friedlichere Zukunft zuzubewegen. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama ging soweit, in diesem Zusammenhang bereits vom „Ende der Geschichte“ zu sprechen: „[…] the end point of mankind’s ideological evolution and the universalization of Western liberal democracy as the final form of human government.“ (Fukuyama 1992: xi) Aber Theorien des liberalen Internationalismus interessieren sich nicht allein für die Interaktion zwischen Demokratien und Nicht-Demokratien. Großen Raum nimmt auch die Frage nach den Charakteristika und der Dauerhaftigkeit der von den USA nach dem Zweiten Weltkrieg begründeten internationalen Ordnung ein. Diese Frage stellt sich vor allem angesichts der beiden Herausforderungen, denen sich die USA als Hegemon gegenüber sehen: Der Verfall der amerikanischen Hegemonie und der Aufstieg aufstrebender Mächte wie China, Brasilien und Indien (vgl. Einheit 13). Dabei geht es aber auch grundsätzlich um die Frage, ob die von liberalen Staaten oder Staatengruppen geprägten internationalen Ordnungen dauerhafter und friedfertiger sind als die Ordnungen, die durch Hegemonien anderer staatlicher Verfasstheit geprägt wurden. Aufstieg des Liberalismus nach dem Ost-West-Konflikt Demokratischer Trend und Liberalismus <?page no="223"?> 208 l Iberale t heorIe Einer der exponiertesten Vertreter des liberalen Internationalismus ist G. John Ikenberry. Er analysiert systematisch den Einfluss, den die USA als liberaler Staat im letzten Jahrhundert auf eine internationale Ordnung hatte und identifiziert spezifische Phasen, die er Liberalismus 1.0, Liberalismus 2.0 und Liberalismus 3.0 nennt (Ikenberry 2009). Liberalismus 1.0 korrespondiert mit der Zwischenkriegsperiode zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, in der sich mit dem Völkerbund wichtige liberale Prinzipien, wie die Ächtung des Kriegs und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, durchgesetzt haben, selbst wenn diese-- wie Einheit 2 gezeigt hat-- nicht effektiv durchgesetzt wurden. Liberalismus 2.0 ist die liberale Ordnung des Ost-West-Konflikts, die im Wesentlichen auf die westliche Hemisphäre beschränkt war und Liberalismus 3.0 ist die Zeit nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Ikenberry beschäftigt sich in diesem Zeitraum ausführlich mit unterschiedlichen Ausprägungen liberaler Ordnung und stellt die wichtige Frage, ob das liberale Ordnungssystem ohne die USA überlebensfähig ist. Auf diese Frage wird Einheit 13 verstärkt eingehen. Viele Vertreterinnen und Vertreter des liberalen Internationalismus sehen diesen in einer Krise. Dazu beigetragen haben verschiedene Entwicklungen: ▶ Der Globale Krieg gegen den Terror, der unter der Führung der USA bereits vor den Angriffen auf das World Trade Center und das Pentagon 2001 in vielen Staaten mit muslimischen Bevölkerungsgruppen Realität war, hat nicht nur westliche liberale Werte verteidigt, sondern Wesentlichen Auftrieb erhielt der liberale Internationalismus durch die umfangreiche Forschung zum demokratischen Frieden. Lange Zeit galt die These, dass Demokratien tatsächlich weniger Kriege gegeneinander führen, lediglich als gut begründete Vermutung. Erst die Verfügbarkeit von Daten, die seit den 1960er Jahren zum staatlichen Konfliktverhalten gesammelt wurden, machte die These überprüfbar. Die Ergebnisse sind verblüffend. Über einen Zeitraum zwischen 1946-1986 zeigen die Studien, dass Demokratien tatsächlich keine Kriege gegeneinander führen, selbst wenn sie in militarisierte Konflikte verwickelt sind. Demokratien drohen einander mit Gewalt, sie bringen Waffen in Stellung und setzen Waffengewalt ein. Darin unterscheiden sie sich nicht von Paaren aus demokratischen und nicht-demokratischen Staaten. Sie unterscheiden sich aber darin, dass sie diese Instrumente weniger einsetzen als gemischte Staatenpaare und dass sie Krieg überhaupt nicht einsetzen. Allerdings zeigt sich auch, dass Demokratien nicht an sich friedlicher sind. Denn in der Interaktion mit nicht-demokratischen Staaten verhalten sie sich genauso wie nichtdemokratische Staaten (Russett et al. 1992). Sind Demokratien friedfertiger als andere Staaten? <?page no="224"?> 209 l Iberale t heorIe a nalytIscher l IberalIsmus Einheit 7 auch den Glauben an westliche liberale Werte zerstört, weil er mit massiven Menschenrechtsverletzungen einher ging. ▶ Die Missachtung internationaler Institutionen und vor allem des Interventionsrechts durch den Unilateralismus der USA, wie im Fall der Intervention im Irak 2003, hat die Glaubwürdigkeit der USA als liberalen Hegemon erschüttert. In neuerer Zeit mahnen Vertreterinnen und Vertreter deshalb eine stärkere Fokussierung der Forschung auf die internen Widersprüche des Liberalismus an. Analytischer Liberalismus In Abgrenzung zum liberalen Internationalismus hat sich in den 1970er Jahren der analytische Liberalismus entwickelt. Diese Variante erklärt, warum und über welche Mechanismen sich unterschiedliche innerstaatliche Strukturen auf Außenpolitik und internationale Beziehungen auswirken. Sie beschäftigt sich nicht mit dem Einfluss spezifisch liberaler Normen und Wertvorstellungen auf die internationale Politik. Die bekanntesten Vertreter aus den Anfängen des analytischen Liberalismus in den 1970er Jahren sind Peter J. Katzenstein, Peter Gourevitch und Robert Putnam. Peter J. Katzenstein (* 1945) ist Walter S. Carpenter Jr. Professor for International Studies an der Cornell University in Ithaca, NY. Katzenstein ist gebürtiger Hamburger, emigrierte aber in die USA, wo er 1973 an der Harvard University promovierte. Katzenstein bezeichnet sich selbst als „rastlosen Intellektuellen“, der von Themen gelangweilt ist, sobald sie sich etabliert haben. Er vereint in seinen Werken ein tiefes historisches Verständnis für internationale Veränderungsprozesse, das stark durch Max Weber beeinflusst ist, mit einer analytischen Klarheit, die oftmals trendsetzend ist. Katzenstein gilt weltweit als einer der einflussreichsten Politikwissenschaftler in den Internationalen Beziehungen. Er ist der Autor unzähliger Bücher und Zeitschriftenartikel, vor allem über grundlegende Entwicklungsprozesse in der internationalen politischen Ökonomie. Während seine frühen Schriften die Außenpolitik führender Industrienationen untersuchen, widmen sich seine späteren Werke stärker dem Vergleich von Europa und Asien als Wirtschaftsräume und politischen Regionen (Katzenstein 1985; 1996b; 1996a; Katzenstein 2005). In seinem Buch „A World of Regions“ erklärt Katzenstein, warum sich Prozesse der regionalen Integration in Europa und Asien unterscheiden (vgl. Einheit 14). Peter J. Katzenstein Peter Katzenstein untersuchte in den 1970er Jahren die wirtschaftlichen Außenpolitiken von Frankreich und den USA und führte deren charakteris- 7.3 Analytischer Liberalismus <?page no="225"?> 210 l Iberale t heorIe tische Unterschiede auf interne politische Strukturen der Interessenaggregation zurück. In den USA sah er außenpolitische Entscheidungen durch gesellschaftliche Politiknetzwerke gesteuert, in Frankreich hingegen durch ein staatlich-dominiertes Politiknetzwerk. Er zeigte damit, dass sich selbst industrialisierte Staaten in ihrer Außenpolitik charakteristisch unterschieden, und dass diese Unterschiede auf interne politische Strukturen zurückgeführt werden können (Katzenstein 1976). Zwei-Ebenen-Spiele Eine prominente Variante analytischer liberaler Theorien sind die sogenannten Zwei-Ebenen-Spiele (two-level games). Die von Robert Putnam 1988 entwickelte Logik der Zwei-Ebenen-Spiele stellt ein Modell für internationale Verhandlungen auf, das ebenfalls gesellschaftliche Interessengruppen integriert (Putnam 1988). Putnam entwickelt eine Ratifikationstheorie internationaler Verhandlungsergebnisse, die auf der zentralen Erkenntnis aufbaut, dass Regierungen bei internationalen Verhandlungen immer an zwei Verhandlungstischen gleichzeitig sitzen: Dem internationalen Verhandlungstisch, an dem sie mit anderen Regierungen kooperative Vereinbarungen treffen wollen, und dem innenpolitischen Verhandlungstisch, an dem sie mit internen Interessengruppen vor dem Hintergrund der internationalen Verhandlungen einen Kompromiss finden müssen, der für alle akzeptabel ist und die Implementierung des Verhandlungsergebnisses sichert. In der Politikwissenschaft wird zwischen Unterzeichnung und Ratifikation eines internationalen Vertrages in der Weise unterschieden, dass ein Staat zwar mit der Unterschrift erklärt, dem Vertragsinhalt zuzustimmen, das Inkrafttreten des Vertrages aber von der Genehmigung oder Zustimmung der Parlamente der Vertragspartner abhängig ist. Im Völkerrecht gilt ein Vertrag dann als ratifiziert und tritt in Kraft, wenn der Vertrag durch die Vertragspartner an dem vertraglich vereinbarten Ort hinterlegt wurde, beispielsweise bei den Vereinten Nationen oder dem Sitz des Generalsekretariats von Regionalorganisationen (Doehring 2004: 554). Ratifikation von internationalen Verträgen Internationale Verhandlungsergebnisse stehen immer unter einem innenpolitischen Ratifikationsvorbehalt, was bedeutet, dass bereits vor und während der Verhandlungen für Verhandlungsführer deutlich werden muss, was durchsetzbar ist. Berücksichtigt eine Regierung die innenpolitischen Präferenzen einflussreicher Interessengruppen nicht, dann kann sie aushandeln, was sie möchte, doch das Ergebnis wird nicht ratifiziert werden. 7.4 Ratifikationstheorie internationaler Verhandlungsergebnisse <?page no="226"?> 211 l Iberale t heorIe z weI -e benen -s pIele Einheit 7 Das Überraschende an Putnams Theorie ist, dass die Regierungen, die am wenigsten innenpolitischen Widerstand fürchten müssen, in internationalen Verhandlungen am meisten Kompromisse machen müssen. Starke innerstaatliche Opposition bedeutet nicht immer eine Einschränkung außenpolitischen Handelns, sondern stärkt auch die Verhandlungsmacht und die Fähigkeit, die eigenen Präferenzen gegenüber anderen Staaten durchzusetzen. In diesem Zusammenhang prägt Putnam den Begriff des Win- Set. Das Win-Set beschreibt das Spektrum an möglichen Verhandlungslösungen, die sowohl außenpolitisch als auch innenpolitisch durchsetzbar sind. Das Win-Set jeder internationalen Verhandlung wird nicht nur von den Präferenzen und Koalitionen auf der internationalen Ebene beeinflusst, sondern auch von den Präferenzen und Koalitionen von Veto-Spielern auf der nationalen Ebene. Das Erzielen einer Verhandlungslösung ist nur dann möglich, wenn sich die Win-Sets der beteiligten Staaten überlappen. Das bedeutet: Je größer das Win-Set einer Regierung ist, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit einer Verhandlungslösung. Je kleiner das Win-Set einer Regierung ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie ihre präferierte Verhandlungslösung auf internationaler Ebene durchsetzen kann. Definition Win-Set Für eine Regierung, die sich in Verhandlungen befindet, kann ein kleines Win-Set aufgrund starker innenpolitischer Opposition außenpolitisch durchaus von Vorteil sein. Die Seite, die glaubhaft auf innenpolitische Beschränkungen verweisen kann, die ihre Kompromissfähigkeit stark einschränken, hat einen Vorteil gegenüber demjenigen Verhandlungspartner, der nicht in gleicher Weise auf diese Opposition verweisen kann (Jönsson 2002: 226). Diese Fesseln können eine starke parlamentarische Opposition, starke Interessengruppen oder die öffentliche Meinung sein. Umgekehrt Vorteile eines kleinen Win-Sets In der Geschichte der USA gibt es eine Reihe von Beispielen, die diese Annahme verdeutlichen: ▶ Die Nichtratifikation der Internationalen Handelsorganisation (ITO) durch den US-Kongress Ende der 1940er Jahre, die letztlich zur Etablierung des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (General Agreement on Tariffs and Trade: GATT) als Ersatzlösung führte. ▶ Die Nichtratifikation des Kyoto-Protokolls im US-Kongress 1997. US-Präsident Bill Clinton hatte das Protokoll noch unterzeichnet, aber der Kongress ratifizierte es nicht (Müller/ Risse-Kappen 1993). Beispiele für innerstaatliche Ratifikationshindernisse internationaler Verträge <?page no="227"?> 212 l Iberale t heorIe kann ein großes innerstaatliches Win-Set aufgrund geringer innenpolitischer Opposition von Nachteil sein. Dem gegnerischen Verhandlungspartner kann nicht plausibel vermittelt werden, warum man nicht von seiner Position abweicht, obwohl auch ein anderes Verhandlungsergebnis möglich wäre. Putnam zeigt auf, wie die Verteilung von Präferenzen auf nationaler Ebene und nationale Institutionen und Strategien von Verhandlungsführern das Win-Set beeinflussen können. Kernannahmen analytisch-liberaler Theorien Ansätze des analytischen Liberalismus teilen die Auffassung, dass die staatlich-gesellschaftlichen Beziehungen (hier dargestellt am Beispiel der liberalen Theorie Andrew Moravcsiks) die staatliche Willensbildung maßgeblich beeinflussen: „Societal ideas, interests, and institutions influence state behavior by shaping state preferences, that is, the fundamental social purposes underlying the strategic calculations of governments.“ (Moravcsik 1997: 514) Es gibt also einen kausalen Nexus zwischen der Gesellschaft und dem staatlichen Verhalten in der Außenpolitik. Die Verteilung der Präferenzen von Interessengruppen auf innerstaatlicher Ebene und innerstaatliche Strukturen beeinflussen die Außenpolitik von Staaten und internationale Politik. Dabei sind die Ergebnisse der Interaktion von Staaten wesentlich dadurch beeinflusst, ob Staaten mit ähnlichen bzw. unterschiedlichen innenpolitischen Konstellationen interagieren. Der analytische Liberalismus steht in der Tradition des methodologischen Individualismus und teilt damit wichtige Annahmen des Realismus und Institutionalismus. Allerdings gibt er deren Vorstellung von einheitlich handelnden Staaten auf und auch die Vorstellung, diese würden uniforme Nachteile eines großen innerstaatlichen Win-Sets 7.5 Gesellschaft und außenpolitisches Verhalten von Staaten Kernannahmen liberaler Theorien ▶ Kennzeichen des internationalen Systems werden durch die Interaktionen zwischen Akteuren herausgebildet. ▶ Das prägende Strukturmerkmal internationaler Beziehungen sind Anarchie und staatliche und gesellschaftliche Strukturen. ▶ Liberaler Internationalismus: Internationale Beziehungen streben auf die Etablierung von Institutionen hin, die Akteuren größtmögliche Freiheit gewähren: liberale Institutionen. ▶ Analytischer Liberalismus: Ähnliche Strukturen, Präferenzen und Werte erzeugen Stabilität, unähnliche Strukturen, Präferenzen und Werte erzeugen Instabilität. ▶ Die wichtigsten Akteure sind innerstaatliche Akteure, die nach dem Prinzip der Nutzenmaximierung handeln. <?page no="228"?> 213 l Iberale t heorIe K ernannahmen analytIsch lIberaler t heorIen Einheit 7 staatliche oder nationale Interessen verfolgen. Moravcsik interessiert sich auch nicht für die Wirkung internationaler Strukturen auf Staaten, sondern er dreht die Logik um: Welchen Einfluss haben innerstaatliche Interessenkonstellationen auf internationale Strukturen? Das heißt, er bezweifelt die Annahme, dass die Anarchie die dominierende und für internationale Politik letztlich ausschlaggebende Struktur des internationalen Systems ist. Stattdessen sind innerstaatliche Strukturen die relevanten Strukturen. Er geht von einer Vielzahl und Vielfalt gesellschaftlicher Akteure mit unterschiedlichen Präferenzen, einer unterschiedlichen Ressourcenausstattung und Durchsetzungsfähigkeit aus. Analytisches Vorgehen Das analytische Vorgehen Moravcsiks erschließt sich am Besten über drei Analyseebenen, die er selbst vorschlägt. Erklärungen für relevante Phänomene umfassen immer die Analyse ▶ der Präferenzen auf der Ebene der innerstaatlichen Gruppen, ▶ der Interessenaggregation durch Staaten und ▶ der Interaktionsebene zwischen Staaten, die sich in innerstaatlichen Präferenzen und in Bezug auf die Interessenaggregation unterscheiden. Merke Präferenzen innerstaatlicher Gruppen Politisches Handeln geht immer von einer Gesellschaft aus, deren individuelle Mitglieder unterschiedliche Präferenzen haben und rational handeln. Zwar schließen sich Individuen in der Regel zu kollektiv handlungs- Innerstaatliche Strukturen als relevante Strukturen des internationalen Systems 7.5.1 Präferenzen auf der Ebene innerstaatlicher Gruppen ▶ die Präferenzen innerstaatlicher Interessengruppen können stark oder schwach variieren ▶ sie können harmonisch sein oder in Konflikt stehen ▶ sie können in einem Wettbewerb um knappe Ressourcen stehen oder nicht Interessenaggregation durch den Staat ▶ Staaten aggregieren innergesellschaftliche Präferenzen ▶ sie können stark oder schwach in der Interessenaggregation sein ▶ sie können unterschiedlich strukturiert sein (Demokratien - Autokratien, pluralistisch - korporatistisch, Mehrparteiensysteme - Einparteiensysteme etc.) Interaktion von Staaten ▶ Präferenzen sind kompatibel, wenn Externalitäten positiv sind ▶ Präferenzen sind inkompatibel, wenn Externalitäten negativ sind Analyseebenen des analytischen Liberalismus Tab. 7.1 <?page no="229"?> 214 l Iberale t heorIe fähigen Gruppen zusammen wie Parteien, Gewerkschaften, religiösen und ethnischen Gruppierungen bis hin zu Staaten. Aber das Handeln lässt sich immer auf das Agieren von Individuen zurückführen. Innerstaatliche Gruppen sind auf unterschiedliche Weise mit Ressourcen ausgestattet. Die sozial differenzierten Individuen definieren ihre Interessen unabhängig von anderen und versuchen, sie durch politischen Austausch und kollektives Handeln durchzusetzen. Das heißt, sie handeln rational, sind auf ihren eigenen materiellen und ideellen Vorteil bedacht und konzentrieren sich auf ihre absoluten Gewinne. Dabei existiert keine Interessenharmonie, im Gegenteil: Die Bedingungen internationaler Politik machen Konflikte über alle möglichen Problemfelder wahrscheinlich. Moravcsik geht davon aus, dass innerstaatliche Konflikte von drei unterschiedlichen Faktoren bedingt sein können: 1) Akteure unterscheiden sich in ihren Auffassungen über die Welt, sie haben schlichtweg voneinander abweichende Weltbilder und vertreten unterschiedliche Werte oder glauben an etwas anders. 2) Selbst wenn Akteure ähnliche Werte vertreten, entstehen Konflikte dann, wenn Ressourcen knapp sind und dadurch Verteilungskonflikte ausgelöst werden-- das heißt Konflikte darüber, wer wie viel von der Ressource haben soll. Extreme Knappheit wirkt sich konfliktverschärfend aus, weil Akteure unter diesen Bedingungen bereit sind, größere Risiken in Kauf zu nehmen, um diese Ressourcen nutzen zu können. Ein Überangebot an Ressourcen hingegen führt dazu, dass sich Konflikte vermindern, weil Individuen ihre Bedürfnisse befriedigen können, ohne dabei den Zugriff anderer auf die Ressourcen einschränken zu müssen. 3) Konflikte werden begünstigt, wenn politische Macht ungleich verteilt ist, da dies die Anwendung von Zwang oder Ausbeutung wahrscheinlicher macht. Ist Macht gleichmäßig verteilt, bilden sich mehr soziale Netzwerke, das Vertrauen zwischen den Mitgliedern eines solchen Netzwerkes wird vergrößert und damit steigt die freiwillige Kooperationsbereitschaft. Machtasymmetrien wirken sich dagegen tendenziell negativ aus, weil der Stärkste die Möglichkeit hat, Zwang auszuüben oder Gefahr läuft, von weniger starken Mitgliedern ausgenutzt zu werden. Kooperation vs. Konflikt Komplementäre, also einander nicht ausschließende, Interessen befördern soziale Harmonie und Kooperation. Grundlegende Differenzen darüber, wie die Welt beschaffen ist oder sein soll, führen eher zu Konflikten. Merke In Gruppen organisierte Individuen als relevante Akteure Ursachen innerstaatlicher Konflikte <?page no="230"?> 215 l Iberale t heorIe K ernannahmen analytIsch lIberaler t heorIen Einheit 7 Aggregation der gesellschaftlichen Präferenzen durch Staaten Bisher war in dieser Einheit nur von gesellschaftlichen Trägern von Präferenzen die Rede, weil sie die grundlegenden Bausteine der liberalen Theorie sind. Aber welche Rolle spielt der Staat als internationaler Akteur? Nach Moravcsik repräsentieren Staaten immer nur einen Teil der internen Gesellschaft. In der liberalen Theorie ist der Staat kein eigenständiger Akteur, sondern wird immer wieder von gesellschaftlichen Interessen vereinnahmt. Daher können staatliche Interessen immer nur die Interessen der jeweils dominanten gesellschaftlichen Gruppierung abbilden. Staatliche Interessen sind ein Ergebnis gesellschaftlicher Interessensdurchsetzung. Präferenzen gesellschaftlicher Gruppen werden dann zur Regierungspräferenz, wenn der Machterhalt der Regierung maßgeblich von dieser Gruppe abhängig ist. Der Staat als bürokratische Organisation ist lediglich eine Hülle, während sein außenpolitisches Handeln von der jeweils stärksten Gruppe beeinflusst ist. Während der strukturelle Realismus davon ausgeht, dass alle Staaten Sicherheit als primäres Ziel verfolgen und der Institutionalismus allen Staaten das Streben nach Maximierung von Wohlfahrt und Sicherheit zuschreibt, geht der Liberalismus davon aus, dass Staaten eben keine statischen Interessen teilen (wie das Streben nach Macht oder Sicherheit), sondern jeweils spezifische Konfigurationen von Souveränität, Wohlfahrt oder Sicherheit verfolgen. Staatliche repräsentative Institutionen unterscheiden sich im Hinblick auf die Regeln und Mechanismen, die gesellschaftliche Interessen bündeln. Diese Mechanismen wiederum können sich auf die innenpolitische Machtverteilung auswirken, wobei staatliche Institutionen ebenfalls variabel sind, je nachdem, wie sie gesellschaftliche Interessen übersetzen. Starke Staaten können die gesellschaftlichen Präferenzen besser bündeln als schwache Staaten. Starke Staaten zeichnen sich dadurch aus, dass ihr Staatsapparat beispielsweise zentralisierter und geschlossener ist als derjenige schwacher Staaten. Starke Staaten greifen in hohem Maße regulierend in die gesellschaftlichen Beziehungen ein und sind in der Lage, ihre außenpolitischen Interessen gegenüber den Interessen gesellschaftlicher Akteure durchzusetzen. Je stärker der Staat in der Interessenaggregation ist, desto eher entspricht er den zentralen Annahmen von Realismus und Institutionalismus über die Einheitlichkeit von Staaten. Schwache Staaten zeichnen sich demgegenüber dadurch aus, dass sie intern fragmentiert sind, entweder durch Föderalisierung oder durch Dezentralisierung von Staatsfunktionen oder weil einzelne bürokratische Akteure innerhalb eines Verwaltungsapparates einen hohen Grad an Autonomie besitzen. Je schwächer ein Staat in der Interessenaggregation, desto autonomer regulieren die innerstaatlichen Interessengruppen ihre Interessenaggre- 7.5.2 Gesellschaftliche Vereinnahmung des Staates Staaten teilen keine statischen Interessen Unterscheidung im Hinblick auf gesellschaftliche Interessenaggregation <?page no="231"?> 216 l Iberale t heorIe gation und umso wahrscheinlicher ist es, dass sich die stärkste Interessengruppe durchsetzt. Staaten unterscheiden sich auch darin, ob sie nach außen hin als einheitliche Akteure auftreten oder nicht. Wenn ihnen die Bündelung von Interessen gelingt, verhalten sie sich tatsächlich, als wären sie einheitliche Akteure. Der innenpolitische Machtkampf hört auf, wenn es um Außenpolitik geht und alle innenpolitischen Akteure hinter den staatlichen Repräsentanten stehen. Staaten verhalten sich jedoch disaggregiert, und staatliche Exekutiven, Gerichte, Zentralbanken, Regulierungsbehörden usw. verfolgen auch weiterhin ihre jeweils eigenen Interessen, wenn es dem Staat nicht gelingt, diese Interessen zu bündeln. Die innenpolitischen Machtkämpfe enden nicht an den Außengrenzen, sondern setzen sich außerhalb des Staates fort. Interaktion zwischen Staaten Wie genau übersetzen sich unterschiedliche innenpolitische Interessenkonfigurationen in systemische Beziehungen? Wann lösen innerstaatliche Präferenzen und ihre Aggregation durch Staaten relevante Interaktionen mit anderen Staaten aus? Für Moravcsik ist es Interdependenz, die beide Ebenen miteinander verbindet. Entscheidend dafür, ob Staaten kooperieren müssen, sind die Konsequenzen, die die eigene Interessenverfolgung für die Handlungsmöglichkeiten anderer hat. Hier schließt nun aber Moravcsiks Analyse von Interdependenz direkt an die Interdependenzanalyse des neoliberalen Institutionalismus an, der ja in der Interdependenz das zentrale Kriterium für die Notwendigkeit der Kooperation sieht. Auch hier präzisiert Moravcsik das Instrumentarium des Institutionalismus. Für Moravcsik sind es die mit Interdependenz verbundenen Externalitäten-- also Nebeneffekte von Aktivitäten, die auf unbeteiligte Dritte unbeabsichtigte, positive oder negative Wirkungen haben- - die Interaktion initiieren. Damit teilt Moravcsik die Annahme neoliberaler Ansätze über die Wirkung der Interdependenz. Entscheidend ist, dass das eigene Handeln Konsequenzen für die Handlungen anderer hat. Ein Staat, der nach außen eine Präferenz vertritt, Abwässer direkt in einen staatenübergreifenden Fluss einzuleiten anstatt Kläranlagen einzubauen, berührt damit die umweltbezogenen Präferenzen von Gruppen in einem anderen Staat, deren Trinkwasser dadurch verschmutzt wird (negative Externalität). Aber Interdependenz ist nicht gleich Interdependenz. Ob diese zum Tragen kommt, hängt davon ab, wie stark umweltpolitische Gruppen in dem anderen Staat sind bzw. ob sie ihre Präferenzen auch artikulieren können, indem sie beispielsweise protestieren. Starke Bündelung: Staaten als einheitliche Akteure 7.5.3 Interdependenz als Bedingung für Interaktion Negative Externalität <?page no="232"?> 217 l Iberale t heorIe V arIanten des l IberalIsmus nach m oraVcsIK Einheit 7 Das Verhalten von Staat A ist mit dem von Staat B kompatibel oder harmonisch, wenn die Externalitäten der Politik von Staat A positiv für Staat B sind oder die eigenen Präferenzen nicht weiter berühren. Ein Beispiel: Führt Staat A Wasserschutzmaßnahmen ein, dann profitiert auch Staat B von dem sauberen Flusswasser (positive Externalität). Das Verhalten von Staat A ist mit dem von Staat B wechselseitig inkompatibel oder schließt sich aus, wenn der Gewinn des einen den Verlust des anderen bedeutet. Das ist dann der Fall, wenn die Präferenzdurchsetzung eines Staates gesellschaftlichen Gruppen des anderen Staates Kosten aufbürdet. Wenn ein Staat durch negative Externalitäten vom Handeln anderer Staaten betroffen ist, hat er einen erhöhten Anreiz zu kooperieren, wie im Fall der Einleitung von Abwasser in einen Fluss. Auch hier unterscheidet sich die liberale Theorie charakteristisch vom Neorealismus und Institutionalismus: Die Ursache für Konflikte sind weder Machtungleichgewichte noch Unsicherheit im internationalen System, sondern eine Konfiguration von Präferenzen, die solche Konflikte heraufbeschwört, dass Akteure die Kosten und Risiken einer militärischen Machtanwendung nicht mehr scheuen. Varianten des Liberalismus nach Moravcsik Moravcsik (1997: 525 f.) beschreibt drei unterschiedliche Varianten einer liberalen Theorie: ideeller Liberalismus, kommerzieller Liberalismus und republikanischer Liberalismus. Diese Einteilung eröffnet die Möglichkeit, bestehende liberale Ansätze, die bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts zirkulieren, zu kategorisieren. Positive Externalität 7.6 Ideeller Liberalismus Einfluss von kompatiblen oder nicht kompatiblen Werten und Legitimitätsvorstellungen von Interessengruppen } auf die Struktur der internationalen Beziehungen Kommerzieller Liberalismus Einfluss von kompatiblen oder nicht kompatiblen wirtschaftlich determinierten Präferenzen von Interessengruppen Republikanischer Liberalismus Einfluss von kompatiblen oder nicht kompatiblen staatlichen Institutionen der Interessenaggregation Varianten des Liberalismus nach Moravcsik Tab. 7.2 <?page no="233"?> 218 l Iberale t heorIe Ideeller Liberalismus Der ideelle Liberalismus konzentriert sich auf die Kompatibilität fundamentaler Auffassungen über Werte oder die politische Legitimität von Institutionen. Demnach ist die spezifische Konfiguration von internen sozialen Werten und Identitäten die grundlegende Determinante staatlicher Präferenzen und damit auch entscheidend für Konflikt und Kooperation. Soziale Identität wird dabei definiert als ein Spektrum von Präferenzen, welche öffentlichen Güter in welchem Umfang bereitgestellt werden sollen; welche sozialen Akteure zum Gemeinwesen gehören und was für das Gemeinwesen erbracht werden muss. Sie sagen insgesamt etwas über die Natur der internen politischen Ordnung aus. Unter soziale Identitäten fallen Präferenzen im Hinblick auf territoriale Integrität, politische Souveränität und nationale Sicherheit. Der ideelle Liberalismus definiert diese nicht als Ziele an sich, sondern als empirisch in unterschiedlichen Ausprägungen vorhandenen Phänomene, die mit gesellschaftlichen Forderungen korrespondieren. Soziale Akteure unterstützen ihre Regierungen, sofern diese dafür sorgen, dass Institutionen, die identitäts-basierte Akteurspräferenzen unterstützen, erhalten bleiben. Ein Beispiel für Konflikte durch unterschiedliche Präferenzen über soziale Werte ist der Konflikt um die unterschiedliche Regulierung von Lebensmittelstandards bei Lebensmittelimporten. Während die US-Regierung die Gabe von Hormonen bei der Rindfleischerzeugung erlaubt, ist dies in der EU verboten. Gleiches gilt für das Chlorbad bei geschlachteten Hühnchen (sogenannte „Chlor-Hühnchen“). Nach Auffassung der EU stellen mit Hormonen behandeltes Rindfleisch und Chlor-Hühnchen ein hohes Risiko für die Gesundheit der EU- Bürgerinnen und Bürger dar. Die EU vertritt eine starke Präferenz für ein hohes Regulierungsniveau in Bezug auf die Vermeidung gesundheitlicher Risiken durch den Konsum von behandeltem Fleisch. Die USA vertreten demgegenüber eine Präferenz für ein niedriges Regulierungsniveau. Dem Konflikt liegt also offensichtlich eine unterschiedliche Auffassung über das richtige Maß an Regulierung von Hormongaben bei der Fleischerzeugung zugrunde. Konflikte über Regulierungsniveaus: Hormon-Rinder und Chlor-Hühnchen Die Konsequenzen identitätsbasierter Präferenzen für internationale Politik hängen dann jeweils wieder von der Art der transnationalen Externalitäten ab, die entstehen, wenn Akteure versuchen, ihre Präferenzen durchzusetzen. Sind diese für andere Gruppen in anderen Staaten vernachlässigbar, ist Koexistenz wahrscheinlich. Können nationale Präferenzen durch wechselseitige Anpassung kompatibel gemacht werden, ist Kooperation wahrscheinlich. Und: Sind soziale Identitäten nicht miteinander vereinbar, sind Spannungen und Konflikte wahrscheinlich. 7.6.1 <?page no="234"?> 219 l Iberale t heorIe V arIanten des l IberalIsmus nach m oraVcsIK Einheit 7 Kommerzieller Liberalismus Der kommerzielle Liberalismus erklärt das Ausmaß an Kooperation und Konflikt im Wirtschaftsbereich. Er erklärt das individuelle und kollektive Verhalten von Staaten basierend auf Marktanreizen, denen sich innenpolitische und transnationale Akteure gegenüber sehen. Jede Änderung in der Struktur der innenpolitischen und globalen Wirtschaft verändert auch die Kosten und Nutzen für transnationalen Wirtschaftsaustausch. Für exportorientierte Präferenzen ergeben sich grundsätzlich Anreize, auf den Staat Druck auszuüben, um exportfreundliche Regelungen zu verabschieden, wie beispielsweise Zölle zu senken. Für andere Gruppen, beispielsweise für organisierte Arbeiterinteressen oder auch Industriezweige, die nicht wettbewerbsfähig sind, ergeben sich dagegen eher Anreize, solche Regeln zu verhindern. Sie haben protektionistische Präferenzen und werden eher protektionistische Maßnahmen einfordern. Anders als im klassischen Liberalismus geht der kommerzielle Liberalismus nach Moravcsik nicht davon aus, dass Freihandel sich aufgrund seines großen gesellschaftlichen Nutzens automatisch durchsetzt, wenn staatliche Strukturen die Entfaltung gesellschaftlicher Interessen begünstigen. Moravcsik tut dies als „Utopismus“ ab (Moravcsik 1997: 528). Der gesamtgesellschaftliche Nutzen mag gegeben sein, aber er ist möglicherweise auf innerstaatliche Interessengruppen ganz unterschiedlich verteilt. Die einen profitieren in hohem Maße, die anderen verlieren. Der gesellschaftliche Gesamtnutzen mag durch eine wirtschaftliche Marktöffnung höher sein, aber die Verlierer werden trotzdem alle politischen Hebel in Gang setzen, um eigene Verluste zu verhindern. Die jeweilige Konfiguration von Präferenzen auf innerstaatlicher Ebene erklärt, warum manche Staaten stärker Handelshemmnisse beseitigen als andere. Eine wichtige Quelle für protektionistische Konflikte sieht Moravcsik in der ungleichen Internalisierung von Kosten und Nutzen einer Politik bei verschiedenen Gruppen. Kosten und Nutzen sind dann ungleich internalisiert, wenn beispielsweise eine Gruppe permanent die Kosten eines protektionistischen Marktes trägt, die andere aber überwiegend profitiert. In diesem Fall strebt die Gruppe, die profitiert, nach politischen Renten (rent-seeking). Dieser Begriff stammt aus der Public-Choice-Theorie und beschreibt das Verhalten von wirtschaftlichen Akteuren, die staatliche Leistungen erhalten, ohne dass sie dafür eine Arbeits- oder Investitionsleistung erbringen. Dies gelingt umso besser und protektionistischer Druck ist folglich umso größer, je stärker protektionistische Gruppen konzentriert sind. Als Beispiel kann das indische Lizenzsystem dienen. Dieses regelte bis in die 1990er Jahre die Importe von Wirtschaftsgütern nach Indien und war für diejenigen, die die Lizenzen ausstellten, ein profitables Geschäft, das sie 7.6.2 Kommerzieller Liberalismus Keine automatische Durchsetzung klassisch „liberaler“ Freihandelspräferenzen <?page no="235"?> 220 l Iberale t heorIe auf Kosten anderer Importeure machten. Diese Gruppe stellte deshalb die größte Opposition gegen die wirtschaftlichen Liberalisierungsbemühungen der indischen Regierung dar. Republikanischer Liberalismus Der republikanische Liberalismus beschäftigt sich schwerpunktmäßig damit, wie sich repräsentative Institutionen auf die Möglichkeiten auswirken, politische Renten zu beziehen. Er greift vor allem frühere liberale Theorien auf, die in der Existenz demokratischer Strukturen in einem Staat eine Ursache für das Verhalten von Staaten sehen. Moravcsik spricht hier aber nicht explizit von demokratischen Strukturen, sondern abstrahiert diese auf die Fähigkeit, innenpolitische Strukturen und innergesellschaftliche Präferenzen möglichst getreu abzubilden. Die Schlüsselvariable im republikanischen Liberalismus ist somit die Art der innenpolitischen Repräsentation von Interessen. Sie bestimmt, welche sozialen Präferenzen institutionell privilegiert sind. Wo politische Repräsentation durch partikulare Gruppen verzerrt ist, können diese Gruppen den Staat für sich vereinnahmen und ihn allein zur Durchsetzung ihrer Interessen nutzen. Welche Politik ein Staat verfolgt, hängt davon ab, welche interne Gruppe am stärksten repräsentiert ist. Moravcsik glaubt hier, dass Staaten, in denen die Bandbreite an innenpolitisch repräsentierten Gruppen hoch ist, weniger konfliktiv sind: Weil sich dadurch intern keine Hierarchien herausbilden, ist es unwahrscheinlicher, dass repräsentierte Gruppen die Kosten von Entscheidungen auf nicht repräsentierte Gruppen abwälzen: „Fair representation tends to inhibit international conflict.“ (Moravcsik 1997: 531) Moravcsik behauptet hier also nicht, dass Demokratien per se friedfertiger sind als Autokratien, sondern er führt dies auf die Art der Interessenrepräsentation zurück: The more precise liberal prediction is thus that despotic power, bounded by neither law nor representative institutions, tends to be wielded in a more arbitrary manner by a wider range of individuals, leading both to a wider range of expected outcomes and a more conflictual average. (Moravcsik 1997: 532) Liberale Ansätze werden inzwischen zur Erklärung vieler Phänomene in der internationalen Politik herangezogen. Dennoch herrscht innerhalb des liberalen Lagers selbst häufig Uneinigkeit. Christian Reus-Smit (2001; 2002) beispielsweise kritisiert Moravcsiks Theorie dafür, dass mit der Verschiebung von der Frage nach der guten internationalen Ordnung hin zur rationalen, 7.6.3 Republikanischer Liberalismus Verzerrung durch partikulare Interessen Hohe Repräsentation, weniger Konflikt <?page no="236"?> 221 l Iberale t heorIe l Iberaler I nternatIonalIsmus und das e nde des o st -w est -K onflIKts Einheit 7 präferenzbasierten Erklärung konkreter internationaler Ordnungen nichts von der wertbezogenen Inspiration des Liberalismus übrig geblieben sei. Fragen nach Ethik in den internationalen Beziehungen oder Legitimität würden als unwissenschaftlich abqualifiziert. Politisches Handeln werde nur noch auf strategische Interaktionen reduziert und streiche damit die wichtige Aufgabe der wertbezogenen, normativen Reflexion darüber, was eine internationale Ordnung auszeichnen sollte, aus dem Programm des Liberalismus (ähnlich auch Deudney/ Ikenberry 1999). Liberaler Internationalismus und das Ende des Ost-West-Konflikts In „The End of History and the Last Man“ interpretiert Fukuyama den Zusammenbruch der Sowjetunion und das Ende des Ost-West-Konflikts als Endpunkt einer universellen Geschichtsschreibung, in der der fortwährende Kampf um Anerkennung das zentrale Antriebsmoment war. Dieser Endpunkt ist durch den Sieg des liberaldemokratischen Systems westlicher Prägung über alternative Ordnungsmodelle gekennzeichnet. Demokratie hat sich als Ordnungsmodell deshalb durchgesetzt, weil sie das menschliche Bedürfnis nach sozialer Anerkennung relativ gesehen besser befriedigt als andere Systeme. Fukuyama beschreibt die weltpolitischen Konsequenzen, die der Siegeszug der Demokratie hat. Wo eine gewisse Dichte an Demokratien herrscht, wird das Machtprinzip der internationalen Politik durch wirtschaftlichen Wettbewerb abgelöst. Staaten nehmen sich nicht mehr als bedrohlich war, sondern lediglich als Wettbewerber. Dies ist in Europa, Nordamerika und zum Teil in Lateinamerika der Fall. Dies ist die post-historische Welt. Außerhalb dieser pazifistischen Unionen gibt es die historische Welt, geografisch im Wesentlichen deckungsgleich mit der islamischen Welt, in der internationale Politik nach wie vor durch Machtpolitik gekennzeichnet ist. Fukuyama widmet sich den Perspektiven einer liberalen Demokratie, in der der Kampf um Anerkennung weitgehend beendet ist und es wenige soziale Unterschiede gibt. Diese Entwicklung hätte zur Folge, dass es keinen Fortschritt mehr gibt, die menschliche Entwicklung abgeschlossen ist, und der Typus Mensch, der entstanden ist, der letzte seiner Art ist („last man“). Mit dem Sieg dieses Modells würde der Kampf um Anerkennung enden und es würde nach Ansicht Fukuyamas folgerichtig das Antriebsmoment der Geschichte gestoppt werden. Im Rückgriff auf Nietzsche prophezeit Fukuyama, dass dieser Staat neue Widersprüche beinhalten würde: Mit dem Ende des Kampfes um Anerkennung stellte sich Langeweile ein. Menschen hätten nichts mehr, wofür sie sterben würden, sie würden dagegen rebellieren, undifferenzierte Mitglieder eines universellen und homoge- 7.7 Stoppen des Antriebsmoments der Geschichte <?page no="237"?> 222 l Iberale t heorIe nen Staates zu sein. Nach Fukuyama gäbe es nur noch wenige Bereiche, in denen Menschen ihr Streben nach einer fundamentalen Anerkennung ihres Besser-Sein-Wollens (megalothymia) ausleben könnten: neben der Politik, die in sehr beschränktem Maße das Ausleben dieses Bedürfnisses erlaubt, sind es vor allem die Außenpolitik und der Sport, in denen dieses Streben ausgelebt werden könnte. Hier liegt dann auch der große Defekt des Endes der Geschichte: das liberaldemokratische Modell ist nicht aus sich heraus befriedigend, weil es keinen Gemeinschaftssinn stiften kann. Es gewährleistet Anerkennung und den Selbsterhalt des Menschen, gibt ihm nie dagewesenen Komfort, aber es stiftet keinen Antrieb (Kampf um Anerkennung) und damit Sinn (Werte, für die es sich lohnt zu sterben) für das politische Zusammenleben. Zwischenstaatlicher Krieg bliebe die letzte Möglichkeit des Auslebens dieses Bedürfnisses. Für Demokratien sei es daher gesünder, ab und an Kriege zu führen, als in einem ewigen Zustand des Friedens zu leben. Der Mensch braucht den stetigen Kampf um Anerkennung, denn er wird nicht aufhören, selbst wenn Anerkennung verwirklicht ist. Analytischer Liberalismus und regionale Kooperation Etel Solingen erklärt die unterschiedliche Integrationstiefe verschiedener Regionalorganisationen in Ostasien, in Lateinamerika und im Nahen und Mittleren Osten. Ähnlich wie Moravcsik argumentiert sie, dass sich regionale Kooperationsstrukturen nur dort herausbilden, wo ähnliche Interessenkonstellationen aufeinander treffen. Diese Interessenkonstellationen können zwei Ausprägungen annehmen: Internationalistische Koalitionen bestehen aus Gruppen, die einen Anreiz haben, Liberalisierung zu unterstützen. Das sind meistens exportorientierte Unternehmen, die von Liberalisierungsmaßnahmen wirtschaftlich profitieren und deshalb ein starkes Interesse an regionaler Kooperation haben. Nationalistisch-konfessionelle-militaristische Koalitionen haben hingegen kein großes Interesse an regionaler Kooperation, da die damit verbundene Öffnung von Märkten ihre eigene Machtbasis gefährdet. Sie betrachten regionale Kooperation oftmals als Angriff auf ihre nationale Identität und Souveränität (nationalistische Gruppen) oder ihre religiöse Identität (konfessionelle Gruppen). Außerdem scheuen sie die größere politische Transparenz, die eine wirtschaftliche Liberalisierung meist erfordert, weil mit ihr die Verquickung der Interessen des Militärs mit der Wirtschaft in vielen Staaten sichtbar würde (militaristische Gruppen). Hohe Zölle, die auf Einfuhren verwendet werden, kommen als politische Renten (Einkommen aus Wohlstand, den sie nicht selbst erzeugen) an das Militär und stabilisieren deren innerstaatliche Position. 7.8 <?page no="238"?> 223 l Iberale t heorIe Einheit 7 V erwendete l Iteratur Aus der Kombination von gesellschaftlichen Interessen auf einer zwischenstaatlichen Ebene ergeben sich dann verschiedene Variationen regionaler Ordnung: ▶ Kooperative Ordnungen entstehen dort, wo internationalistische Koalitionen aufeinandertreffen. Das ist in Lateinamerika der Fall und zum Teil in Südostasien. ▶ Gemischte Ordnungen entwickeln sich dort, wo sowohl nationalistischkonfessionelle-militaristische Koalitionen und internationalistische gesellschaftliche Gruppen aufeinandertreffen. ▶ Hoch konfliktive aber auch friedliche Ordnungen entstehen dort, wo nationalistisch-konfessionelle-militaristische Koalitionen aufeinandertreffen. Ihre Ordnungen beruhen meist auf einem Konsens, externe Einmischung zu verhindern und damit interne Herrschaft möglichst zu stabilisieren. Auch wenn sich also darunter sehr viele autoritäre Regierungsformen finden, heißt das nicht, dass deshalb Krieg ein wahrscheinliches Ergebnis ist. 1. Was unterscheidet den liberalen Internationalismus vom analytischen Liberalismus? 2. Sowohl marxistische Ansätze als auch liberale Ansätze betonen die Rolle von innerstaatlichen Interessengruppen. Wo liegen zentrale Unterschiede in der Argumentationslinie der beiden Theorien? 3. Welche Varianten des Liberalismus unterscheidet Moravcsik? 4. Sollten Theorien der internationalen Beziehungen tatsächlich auch Fragen nach der Legitimität von internationalen Ordnungen stellen? Wie kann man einer solchen Frage nachgehen, ohne normativ zu werden? Deudney, Daniel; Ikenberry, G. John (1999): The Nature and Sources of Liberal International Order. In: Review of International Studies 25, 179-196. 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Princeton, NJ: Princeton University Press. <?page no="240"?> 225 l Iberale t heorIe a nalytIscher l IberalIsmus und reGIonale K ooperatIon Einheit 8 Konstruktivismus Inhalt 8.1 Können nicht-staatliche Akteure internationale Politik beeinflussen? 226 8.2 Entwicklung des Konstruktivismus in den Internationalen Beziehungen 227 8.3 Die Anarchie des internationalen Systems als eine Sicherheitskultur 230 8.4 Kollektives Wissen als Schlüsselkonzept des Konstruktivismus 234 8.5 Handlungslogiken: Konsequentialismus und Angemessenheit 241 8.6 Wandel als Konstante der internationalen Politik 243 8.7 Beobachtbare Effekte einer internationalen Sozialstruktur 245 8.8 Können soziale Strukturen kausale Wirkung entfalten? 248 8.9 Anwendungsbeispiel: Die Kony 2012-Kampagne 249 Übungen 254 Verwendete Literatur 254 <?page no="241"?> 226 K onstruKtIVIsmus Diese Einheit bietet einen Zugriff auf internationale Politik, der sich mit internationalen Beziehungen als soziales System befasst. Ausgangspunkt dieses Kapitels ist die Beobachtung, dass Individuen immer auf der Grundlage bestimmter sozial konstruierter Vorstellungen über angemessenes Verhalten über die Welt interagieren, und dadurch erst das schaffen, was uns dann als internationale Beziehungen entgegentritt. Anhand eines Fallbeispiels wird konkret aufgezeigt, warum selbst materiell schwache Akteure wie Menschenrechtsorganisationen Einfluss auf internationale Politik nehmen können. Können nicht-staatliche Akteure internationale Politik beeinflussen? Im April 2012 machte ein Youtube-Video Schlagzeilen: „Kony 2012“. Es handelt sich dabei um eine Doppelreportage, die zum einen das Leben von Jacob Acaye aus Nord-Uganda, der als Kind von der Lord’s Resistance Army (LRA) entführt wurde, darstellt. Die LRA ist eine seit 1987 existierende Rebellenorganisation, die sich während des 20 Jahre andauernden Bürgerkriegs im Norden von Uganda verschiedener Menschenrechtverletzungen und Verletzungen gegen das Kriegsvölkerrecht an der Zivilbevölkerung schuldig gemacht hat. Die LRA hat Jacob zu einem Kindersoldaten gemacht. Jacob steht stellvertretend für ca. 30.000 Kinder, die gezwungen wurden, für die Rebellen zu morden und zu plündern. Der Film ist zum anderen auch eine Reportage über den Dokumentarfilmer Jason Russell und seinen Sohn Gavin. Russell erzählt seinem Sohn die Geschichte von Jacob aus Uganda und erklärt ihm seine Mission: Den Anführer der LRA, Joseph Kony, bekannt zu machen, ihn festzunehmen und vor dem Internationalen Strafgerichtshof zur Verantwortung zu ziehen. Der Film ruft vor allem Jugendliche dazu auf, sich für eine Festnahme Konys zu engagieren, indem sie durch Plakataktionen, soziale Zusammenkünfte und Anrufe bei Kongressabgeordneten (der Film richtet sich vor allem an amerikanische Jugendliche) Druck auf die Obama-Regierung ausüben. Diese soll letztlich dazu gebracht werden, eine Militäroperation zu autorisieren, mit der Kony gefangen genommen werden soll. Was hat Kony mit Konstruktivismus in den internationalen Beziehungen zu tun? -- Ganz einfach: Der Film ist ein aktuelles Fallbeispiel dafür, wie Akteure ohne klassische materielle Machtressourcen-- in diesem Fall nichtstaatliche Akteure- - versuchen, Einfluss auf internationale Politik zu nehmen. Konstruktivistische Theorie erklärt, warum und unter welchen Bedingungen diese Aktivitäten erfolgreich sind und zeigt diejenigen Qualitäten des internationalen Systems auf, welche aus Sicht der konstruktivistischen Theorie einen solchen Einfluss möglich machen. Überblick 8.1 Einfluss von Akteuren ohne materielle Machtressourcen auf internationale Politik <?page no="242"?> 227 K onstruKtIVIsmus e ntwIcKlunG des K onstruKtIVIsmus In den I nternatIonalen b ezIehunGen Einheit 8 Entwicklung des Konstruktivismus in den Internationalen Beziehungen Der Konstruktivismus in den internationalen Beziehungen entwickelte sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zu einem Erklärungsansatz und hat sich innerhalb kürzester Zeit neben dem Realismus und Institutionalismus als eine der einflussreichsten Theorien der internationalen Beziehungen etabliert. Er ist tief verwurzelt in neueren soziologischen Ansätzen, wie beispielsweise Anthony Giddens Strukturierungstheorie der Gesellschaft (Giddens 1988), bedient sich aber auch marxistischer Theorien, insbesondere in Bezug auf seinen emanzipatorischen Anspruch (vgl. Einheit 6). Den Ausgangspunkt für den Aufstieg des Konstruktivismus in den internationalen Beziehungen bildete die Erkenntnis, dass konventionelle Theorien der IB, insbesondere der bis dahin dominante Erklärungsansatz, der Strukturelle Realismus, das Ende des Ost-West-Konflikts weder vorhergesehen hatte noch erklären konnte. Der Zusammenbruch eines Hegemons ohne Krieg und die mit der breitflächigen Demokratisierung der Staatenwelt einhergehende Kooperation (vgl. Einheit 2) und Verankerung von Demokratie- und Menschenrechtsnormen auf einer internationalen Ebene stellte aus Sicht des Realismus ein Rätsel dar. Das Ende des Ost-West-Konflikts erschütterte außerdem eine der Grundannahmen des Realismus, nämlich dass das internationale System nicht wandelbar ist. Warum es möglich war, dass das System der Bipolarität, das mehr als 40 Jahre lang bestanden hatte und als sehr stabil galt, sich plötzlich auflöste, war ein zentrales Erklärungsanliegen konstruktivistischer Ansätze. Dahinter stand jedoch ein allgemeineres Erkenntnisinteresse: Wie entstehen internationale Strukturen, und wie verändern sie sich? Wie kommt es, dass Staaten sich einmal als Gegner wahrnehmen und dann wieder als Kooperationspartner? Realistische Ansätze nehmen an, dass Staaten bzw. ihre Regierungsvertreter in einem Wettbewerb stehen; der Institutionalismus eröffnete aber zumindest die Möglichkeit, dass Staaten auch kooperieren, wenn sie durch Interdependenz verbunden sind. Der Konstruktivismus erklärt sowohl, warum Staaten sich als im Wettbewerb stehend sehen als auch warum sie häufig kooperieren, indem er dies auf ideele Faktoren zurückführt und nicht auf materielle Faktoren. Er führt dies auf die Art und Weise zurück, wie Individuen ihre Umwelt wahrnehmen und strukturieren und damit auf ideelle Faktoren, nicht auf materielle Faktoren. Der Konstruktivismus ist keine Theorie der Internationalen Beziehungen wie es der Realismus oder der Institutionalismus sind. Konstruktivismus versteht sich als eine Sozialtheorie, die sich mit den Fragen beschäftigt, wie Akteure bestimmte Strukturen erzeugen bzw. in welcher Weise ihr Ver- 8.2 Konstruktivismus als Sozialtheorie <?page no="243"?> 228 K onstruKtIVIsmus halten von Strukturen bestimmt ist. Sie ist damit vergleichbar mit Rational-Choice-Ansätzen, nicht aber mit den anderen Theorien der Internationalen Beziehungen. Im Gegensatz zu allen bisher behandelten Theorien, macht sie beispielsweise keine substantiellen Aussagen darüber, wie internationale Politik beschaffen ist oder welche Akteure die zentralen Akteure sind. Welche Akteure und Prozesse jeweils relevant werden, unterliegt Konstruktionsprozessen. Entsprechend variabel sind konstruktivistische Ansätze. Einige befassen sich mit Staaten als Akteuren der internationalen Politik (vgl. Alexander Wendt), andere untersuchen den Einfluss nicht-staatlicher Akteure und deren Konstruktionsprozesse (vgl. Thomas Risse, Kathryn Sikkink). Einige befassen sich aus einer strukturorientierten Perspektive mit den kulturell bestimmten Strukturen des internationalen Systems, andere aus einer Akteursperspektive mit der Herausbildung normativer Strukturen durch Akteure. Konstruktivismus Gemeinsam ist allen konstruktivistischen Ansätzen, dass sie erstens davon ausgehen, dass die Welt „da draußen“ (d. h. die Realität) das Ergebnis eines gesellschaftlichen Konstruktionsprozesses ist. Was in den internationalen Beziehungen als „real“ gilt, ist real nur aufgrund der Bedeutung, die Individuen Dingen zuweisen. Phänomene wie die Anarchie des internationalen Systems können nur existieren, weil Gesellschaften sie für real halten und sich so verhalten, als existierte Anarchie wirklich. Dieser Prozess ist zweitens eng verknüpft mit der eigenen Identität: Die Erfahrung von jedem Ding „da draußen“ wird auf eine spezifische Weise durch bereits verinnerlichte Vorstellungen konfiguriert: Identität liefert die Bedeutungen, die „Dingen“ zugewiesen werden. Werden solche Bedeutungszuweisungen und Handlungen in der Interaktion mit anderen Individuen verstetigt und institutionalisiert, dann werden dauerhafte kognitive und soziale Strukturen geschaffen, die Individuen letztlich als Faktum wahrnehmen, als gesellschaftliche Strukturzwänge, die bestimmte Handlungen determinieren. Jede Gesellschaft kann deshalb gesehen werden als ein Resultat von Strukturzwängen und als ein Interaktionssystem. Die Reflexion dieses Konstruktionsprozesses ermöglicht es, den Konstruktionsprozess zu durchschauen und „Realität“ zu ändern. Merke Wenn Menschen miteinander interagieren, dann tun sie dies mit dem Verständnis, dass ihre jeweiligen Auffassungen bzw. Wahrnehmungen der Welt übereinstimmen. Diese Übereinstimmung der Wahrnehmungen wird Intersubjektivität genannt. Es ist die wechselseitige Anerkennung subjektiver Weltwahrnehmungen. Keine substantiellen Aussagen über die Beschaffenheit des internationalen Systems und seiner Akteure <?page no="244"?> 229 K onstruKtIVIsmus e ntwIcKlunG des K onstruKtIVIsmus In den I nternatIonalen b ezIehunGen Einheit 8 Individuen sind sich dessen oftmals kaum bewusst und sind deshalb überzeugt, dass die Welt, so wie sie sie wahrnehmen, real sei. Aber die von ihnen wahrgenommene Welt existiert nicht objektiv und damit getrennt von ihnen; sie tritt ihnen lediglich als etwas quasi-Objektives und nicht-Veränderbares gegenüber. Es mag eine Welt „da draußen“ im Sinne einer objektiv existierenden Welt geben, aber diese erschließt sich nicht unmittelbar. Sie erschließt sich nur über bestimmte Repräsentationen der Wirklichkeit, und diese sind sozial konstruiert. Selbst die beständigsten Institutionen wie Anarchie oder Souveränität beruhen auf kollektiven Übereinkommen. Das Verhalten von Akteuren in der internationalen Politik ist wesentlich durch diese verinnerlichte kulturell bestimmte Struktur beeinflusst. Konstruktivisten gehen davon aus, dass sich die menschliche Fähigkeit zur Reflexion und zum Lernen entscheidend darauf auswirkt, wie Individuen und soziale Akteure der materiellen Welt Bedeutung zuweisen, sie kognitiv rahmen, erfahren und verstehen (Adler 1997: 322). Handeln beruht auf einem Prozess der Signifikation, bei dem Bedeutungsstrukturen zugewiesen werden und auf ihrer Basis gehandelt wird. Gleichzeitig gehen sie davon aus, dass die Reflexionsfähigkeit von Individuen sie in die Lage versetzt, diese Strukturen zu erkennen und sie gegebenenfalls zu ändern. Soziale Konstrukte sind nicht direkt beobachtbare Phänomene und soziale Prozesse, auf deren Existenz man nur durch die Folgeerscheinungen, die sie hervorrufen, schließen kann. Es handelt sich meist um gedankliche Konzepte. Ein typisches Beispiel ist Souveränität. Diese ist nicht direkt beobachtbar, aber wir können sie durch bestimmte Verhaltensweisen beobachten, beispielsweise durch die Bestellung von Botschaftern, die formale Anerkennung von neuen Staaten oder die Errichtung und Überwachung von Grenzen. Daraus folgt, dass man von dem Verhalten der Akteure auf die zugrundeliegenden sozialen Konstruktionen schließen kann. Soziale Konstrukte Aufbauend auf dieser Erkenntnis haben Vertreter des Konstruktivismus in den Internationalen Beziehungen zunächst versucht zu zeigen, dass die Grundannahme von Neorealismus und neoliberalem Institutionalismus, nämlich dass das internationale System an sich anarchisch und unveränderlich sei, falsch ist. Die erste Generation von Konstruktivisten in den Internationalen Beziehungen wollte deshalb nur die grundlegende Annahme internationaler Anarchie als eine soziale Konstruktion „entlarven“. Den umfassendsten Versuch dazu unternahm Alexander Wendt in einer Reihe von einflussreichen Zeitschriftenaufsätzen, die ab 1987 erschienen. Der <?page no="245"?> 230 K onstruKtIVIsmus bekannteste Artikel trägt den programmatischen Titel „Anarchy is What States Make of It“ und ist 1992 erschienen. Kernannahmen des Konstruktivismus 1. Die Existenz einer internationalen Sozialstruktur ist das Kennzeichen des internationalen Systems. 2. Zwei der prägenden Strukturmerkmale internationaler Beziehungen sind intersubjektiv erzeugtes Wissen und Wissensstrukturen, auf deren Basis Akteure handeln. 3. Wichtige Akteure können prinzipiell alle Akteure sein (Staaten bei Wendt). Eine notwendige Bedingung für Akteursqualität ist ein Bewusstsein für den fortwährenden Produktionsprozess. 4. Akteure verhalten sich entsprechend einer Logik der Angemessenheit. Sie orientieren sich an den in der Sozialstruktur eingebetteten normativen Verhaltensstandards. Die Anarchie des internationalen Systems als eine Sicherheitskultur Wendt argumentiert in seinem Werk nicht, dass die Art und Weise, wie die realistische Schule das internationale System beschreibt, falsch oder überholt ist (wie es neoliberale Ansätze in ihrer Kritik des Neorealismus versuchten). Er zeigt vielmehr, dass die realistische Schule einen konzeptionellen Konstruktionsfehler aufweist. Dieser Konstruktionsfehler macht es ihr unmöglich, einen Wandel des internationalen Systems zu konzipieren, und ist mitverantwortlich dafür, dass die realistische Schule Wandel für unmöglich hält. Ein fataler Fehler, der es unmöglich machte, das Ende des Ost-West-Konflikts vorherzusehen. Wendt identifiziert zwei zentrale Gründe für diesen Konstruktionsfehler. Die Ausführung dieser beiden Gründe macht zum einen den Stellenwert des Konstruktivismus als Sozialtheorie deutlich und zum anderen dessen Fokus auf Wissen bei der Konstruktion von Ordnung. Als ersten Grund für die Statik des internationalen Systems nennt Wendt die Betonung materieller Faktoren bei der Herausbildung internationaler Strukturen. Realisten gehen davon aus, dass es die Verteilung materieller Ressourcen wie die territoriale Größe, die Bevölkerungszahl, das Rüstungspotential oder die wirtschaftliche Kaufkraft unter Staaten ist, die über die Struktur des internationalen Systems entscheidet. Wendt argumentiert hier, dass unsere Wahrnehmung dieser materiellen Faktoren, genauso wie über- 8.3 Konstruktionsfehler des Strukturellen Realismus <?page no="246"?> 231 K onstruKtIVIsmus d Ie a narchIe des InternatIonalen s ystems als eIne s IcherheItsKultur Einheit 8 haupt die Welt „da draußen“, nicht unabhängig von im Wesentlichen kulturell und gesellschaftlich geprägten Ideen über diese Welt existiert. Die tatsächliche Ausprägung des internationalen Systems variiert, aber sie variiert durch die unterschiedliche Verteilung von Wissen unter den Akteuren (bei Wendt Staaten) im internationalen System; Wissen, das ihr Selbstverständnis und das Verständnis von anderen bestimmt (Wendt 1992b: 397). Anders ist nicht zu erklären, warum Systeme mit relativ stabilen Kooperationsbeziehungen neben Systemen existieren, in denen sich Staaten feindlich gegenüber stehen. Diese Ausprägungen werden als Teil eines zunächst bewussten Interaktionsprozesses herausgebildet, dann aber internalisiert, als selbstverständlich betrachtet und nicht mehr hinterfragt. Verteilung materieller Ressourcen versus Verteilung von Wissen Anarchisches Staatensystem Staaten als autonome Einheiten funktionale Differenzierung Staaten in einem anarchischen und einem konstruktivistischen Staatensystem Abb. 8.1 und 8.2 Konstruktivistisches Staatensystem Staaten als in eine Sozialstruktur eingebettete Einheiten „ Wir ” <?page no="247"?> 232 K onstruKtIVIsmus Die einseitige Betonung materieller Strukturen ist aber nur ein Faktor, den Wendt nennt-- und zugegebenermaßen der einfachere. Der grundsätzliche Fehler, den Wendt in der Konstruktion realistischer Theorie ausmacht, besteht darin, dass Realisten letztlich keine Annahmen über die Beschaffenheit von Akteuren machen und in einen Reduktionismus verfallen, der die Unterscheidung zwischen Akteur und Struktur unmöglich bzw. redundant macht. Es ist gerade die fehlende Differenzierung, die in der realistischen Theorie dazu führt, dass sich das internationale System nicht wandeln kann und Staaten immer in einem anarchischen Selbsthilfesystem gefangen bleiben. Wendt zeigt an dieser Stelle die extreme Reduktion auf, welche der Annahme zugrunde liegt, dass sich das internationale System allein durch die Verteilung materieller Ressourcen unter Akteuren konstituiert. Akteursqualität zu haben heißt, Rationalität zu besitzen und zur Wahl unterschiedlicher Handlungsstrategien prinzipiell in der Lage zu sein. Realisten minimieren bzw. eliminieren diese Wahlfreiheit durch ihre beiden Annahmen der Anarchie und des Primats materieller Ressourcen. Sie nehmen an, dass die Wahlmöglichkeiten von Staaten aufgrund der Struktur des internationalen Systems extrem eingeschränkt sind, nämlich im Wesentlichen auf Selbsthilfestrategien, die letztlich zur Reproduktion des immer gleichen (anarchischen) Systems beitragen. Nach Wendt handelt es sich dabei um eine reduktionistische Auffassung von Akteuren, die dem Konzept eines Akteurs nicht gerecht wird. Sobald wir die Annahme zulassen, dass die Eigenschaften von Akteuren variieren können und dass diese Eigenschaften evtl. dazu führen, dass externe materielle Strukturen unterschiedlich wahrgenommen werden, determiniert Anarchie nicht mehr ein bestimmtes Verhalten, sondern lässt auch andere Verhaltensweisen zu. Bereits eine geringe Lockerung der restriktiven realistischen Annahmen hat damit weitreichende Folgen für möglichen Wandel im internationalen System: Lassen wir die Annahme zu, dass es nicht materielle Ressourcen an sich, sondern die Wahrnehmung dieser Ressourcen ist, die das Handeln von Akteuren bestimmt, dann kann selbst eine kleine Veränderung dieser Wahrnehmung einen grundlegenden Wandel bewirken. Die Entscheidung Gorbatschows, die Breschnew-Doktrin der eingeschränkten Souveränität der sozialistischen Staaten trotz massiver Proteste nicht anzuwenden und militärisch einzuschreiten, hatte einen umfassenden Wandel der Systemstrukturen zur Folge (Koslowski/ Kratochwil 1994). Eine Regierung kann sich entscheiden, ob sie auf die Aufrüstung ihres Nachbarn ebenfalls mit Aufrüstung reagiert oder ob sie die Aufrüstung „kalt“ lässt; es könnte ja sein, dass sich die Bedrohung gar nicht gegen sie richtet. So war Kanada zu Zeiten des Kalten Kriegs unbeeindruckt von der Aufrüstung der Materielle Ressourcen vs. Wahrnehmung materieller Ressourcen <?page no="248"?> 233 K onstruKtIVIsmus d Ie a narchIe des InternatIonalen s ystems als eIne s IcherheItsKultur Einheit 8 USA, weil es wusste, dass sich die Aufrüstung nicht gegen Kanada richtete, sondern gegen die Sowjetunion. Lassen wir die viel weitergehende Annahme zu, dass es keine sozialen Systeme an sich gibt, sondern nur Repräsentationen von Systemen mit ihren je eigenen Regeln und Vorstellungen davon, was jeweils angemessenes Verhalten ist, werden ganz unterschiedliche internationale Systeme denkbar. Wendt (Wendt 1999) sieht drei idealtypische Welten, für die er jeweils realweltliche Annäherungen sieht: Die Hobbes’sche Welt, die Locke’sche Welt und die Kantianische Welt. Jede dieser Welten beruht auf unterschiedlichen Regeln-- wie wir uns in eine Situation einbringen--, Interaktionslogiken und Konsequenzen für das internationale System. In der Hobbes’schen Welt dominiert die Vorstellung bzw. der kollektive Glaube, dass die Welt anarchisch ist und Staaten sich nur auf sich selbst verlassen können. Staaten identifizieren sich gegenseitig negativ mit ihrer wechselseitigen Sicherheit. Die Sicherheit des einen Staates ist die Unsicherheit des anderen Staates. In dieser Welt sind Staaten um ihre relativen Gewinne besorgt: Selbst geringe Unterschiede im Kooperationsgewinn des Anderen können sich auf längere Zeit zu einer Übermacht summieren. Im Extremfall, dem Hobbes’schen Naturzustand, wird kollektives Handeln unmöglich, weil alle permanent fürchten müssen, durch andere Staaten vernichtet zu werden. Die Hobbes’sche Sicherheitskultur bedeutet auch, dass sich Staaten immer wieder in der Rolle von Feinden wiederfinden. Die Locke’sche Welt ist weniger anarchisch als vielmehr kompetitiv. Staaten sehen sich in erster Linie als Wettbewerber oder Rivalen. In einer durch Individualismus geprägten Welt sind Akteure gegenüber der Sicherheit anderer indifferent. Sie sind egoistisch in dem Sinne, dass sie sich um ihre Sicherheit sorgen, sind dabei aber vor allem auf ihren jeweils eigenen absoluten Gewinn konzentriert und darauf, ob sie sich beispielsweise durch Kooperation besser stellen oder nicht. Die eigene Position in der Machtverteilung ist weniger wichtig und kollektives Handeln deshalb eher möglich. Auch in dieser Sicherheitskultur betrachten sich Staaten noch als gewaltbereite Akteure, aber hier herrscht gleichzeitig das kollektive Verständnis, dass sich Rivalen an grundlegende Regeln halten und Rechte besitzen: Sie achten ihre wechselseitige Souveränität, ihr Leben, und ihre Freiheit und sie versuchen nicht, den jeweils anderen zu erobern oder zu vernichten. In der Kantianischen Welt herrschen kooperative Sicherheitspraktiken. Staaten identifizieren sich positiv mit der Sicherheit des jeweils anderen und Sicherheit wird als die Verantwortung aller Staaten definiert. Selbstinteresse und Gemeinschaftsinteresse überlappen sich. Abhängig davon, wie stark die kollektive Identifikation ist, bilden sich mehr oder weniger starke prosoziale oder auch altruistische Sicherheitspraktiken heraus. <?page no="249"?> 234 K onstruKtIVIsmus Kollektives Wissen als Schlüsselkonzept des Konstruktivismus Selbsthilfe und unkooperatives Verhalten als Ergebnis einer Sicherheitskultur Selbsthilfe bzw. unkooperatives Verhalten sind die beobachtbaren Ergebnisse einer anarchischen Sicherheitskultur, während andere Kulturen kooperativeres Verhalten produzieren. Konstruktivismus geht hier davon aus, dass die Interaktionen zwischen Staaten einerseits soziale Strukturen herausbilden, diese aber andererseits staatliche Identitäten, Interessen und Verhaltensweisen bestimmen. Merke Die zentrale Idee des Konstruktivismus in den internationalen Beziehungen ist, dass sich hinter jedem internationalem System, sei es kooperativ oder konflikthaft, letztlich immer nur eine entsprechende Sicherheitskultur verbirgt, die die mit dieser Kultur verknüpften Interessen hervorbringt (Jepperson/ Wendt/ Katzenstein 1992). In einer anarchischen Sicherheitskultur wird die Bedeutung der Machtverteilung auf der systemischen, internationalen Ebene durch entsprechende kulturelle Formationen und kollektive Ideen beeinflusst, die dann entsprechende Verhaltensstandards und Institutionen konstituieren. Eine solche Kultur entsteht dann, wenn mehrere Akteure ein bestimmtes Wissen über relevante Phänomene teilen. Wie aber entstehen soziale Strukturen? Soziale Strukturen haben zwei Komponenten: Sie ergeben sich aus den jeweiligen Vorverständnissen der Akteure und entwickeln im Verlauf der Interaktion eine intersubjektive Qualität. Konstruktivistische Ansätze theoretisieren diesen Prozess über die wiederholte Interaktion zwischen Individuen, die einerseits in ihren eigenen sozialisierten Rollen sind, sich aber wechselseitig beobachten können. Im Prozess entsteht ein geteiltes und dann kollektives Wissen durch einen dreistufigen Prozess der Habitualisierung, der Typisierung und der Institutionalisierung. Jeder individuelle Akteur agiert zunächst einmal auf der Basis eingespielter Routinen und Rollen, die er entwickelt hat, um sich zu organisieren, erfolgreich zu sein und zu überleben. Diese Routinen sind habitualisierte Handlungen und haben den Vorteil, dass sie Akteure von Entscheidungen entlasten und damit Energien für andere Tätigkeiten frei setzen. Individuen müssen nicht in jeder Situation neu überlegen, wie sie handeln, sondern sie kategorisieren die Situation und handeln entsprechend der eingeübten Routine. Treffen zwei Akteure aufeinander (diese werden hier als Akteur A und Akteur B bezeichnet) aufeinander, beobachten sie sich wechselseitig und stellen fest, dass der jeweils andere ebenfalls routiniert an die Situation herangeht, aber eben ganz unterschiedliche Routinen vollzieht. Eine Insti- 8.4 Habitualisierung: Ausführen routinierter Handlungen <?page no="250"?> 235 K onstruKtIVIsmus K olleKtIVes w Issen als s chlüsselKonzept des K onstruKtIVIsmus Einheit 8 tutionalisierung geschieht, sobald habitualisierte Handlungen durch Typen reziprok typisiert werden, zum Beispiel Handlungen des Typs X (Kooperation) werden durch Handelnde des Typs X (Freunde) ausgeführt. Das geschieht dadurch, dass sich Akteur A und Akteur B wechselseitig beobachten, wiederkehrende Handlungen erkennen und diese typisieren, und sich Handlungsmotive unterstellen. Dabei unterstellen sie eine wechselseitige Reziprozität der Typisierungen, das heißt, sie gehen davon aus, dass der andere Akteur ebenso verfährt. Im Verlauf der Interaktion entwickeln sich aus den wechselseitigen Typisierungen Handlungsmuster. Beide Akteure spielen ihre vis-à-vis-Rollen. Die Möglichkeit der erfolgreichen Interaktion ergibt sich erst, wenn beide dieselben Handlungen vollziehen. Damit die Interaktion gelingt, müssen beide in die Rollen des jeweils anderen schlüpfen, um die Handlung gemeinsam zu vollziehen. Akteur A macht sich innerlich die Rolle von Akteur B zu eigen, Akteur B macht sich innerlich die Rolle von Akteur A zu eigen, es entsteht eine Reihe von wechselseitig typisierten Handlungen, die sich zu einem Rollenspiel verdichten. Rollen haben hier die Funktion, dass sie Erwartungssicherheit schaffen. Sowohl Akteur A als auch Akteur B sind in der Lage, die Handlungen des Anderen vorherzusehen; jeder ist in der Lage, seine Handlungen darauf abzustimmen. Der nächste Schritt der gesellschaftlichen Konstruktion besteht in der Weitergabe dieser Rollen an andere Generationen. Dadurch wird das Verhalten institutionalisiert und tradiert. Wissen über den Ursprung von Handlungen wird unhinterfragt übernommen, die Handlungen werden einfach ausgeführt (vgl. Berger/ Luckmann 2012: 56-64). Ein reales Beispiel für eine solche Interaktion ist die sowjetisch-chinesische Spaltung 1963, die Gegenstand des historischen Überblicks in Einheit 2 war. Dieses Beispiel wird hier gewählt, weil es zeigt, dass „erfolgreiche Interaktion“ nicht notwendigerweise heißt, dass damit freundschaftliche Interaktionen verbunden sind. Entscheidend für das Gelingen der Interaktion ist, dass es zu einer Identifikation mit der eigenen Rolle und zur Akzeptanz der vis-à-vis-Rollen kommt. Aus einer konstruktivistischen Perspektive stellt sich die chinesisch-sowjetische Spaltung wie folgt dar (vgl. Hopf 2009: 304-312): Bis zum Tod Josef Stalins 1953 beruhte die Interaktion zwischen der Sowjetunion und China auf dem wechselseitig akzeptierten Rollenverständnis, dass China wie die Sowjetunion ist, nur mit dem Unterschied, dass China technologisch und intellektuell weniger entwickelt und weniger modern ist (Hopf 2009: 307). Die vis-à-vis Rollen bestanden darin, dass die Sowjetunion in der Hierarchie über China stand und China in einer untergeordneten, von der Sowjetunion abhängigen Rolle war. Diese Rolle war von der chinesischen Führung in ihrem alltäglichen außenpolitischen Verhalten auch akzeptiert. Mit der Typisierung: Wechselseitige Zuschreibung von Rollen und Handlungsmotivationen Institutionalisierung: Weitergabe des Wissens an andere Mitglieder des Systems <?page no="251"?> 236 K onstruKtIVIsmus Machtübernahme Nikita S. Chruschtschows in der Sowjetunion nach dem Tod Stalins vollzogen sowjetische Führungseliten einen Identitäts- und Rollenwandel, der mit einer Abkehr vom Stalinismus verbunden war. Diese Veränderung bedrohte sowohl die alte Identitätskonstruktion der Sowjetunion, als auch diejenige Chinas. Bedingt auch durch die sowjetische Abkehr vom Stalinismus verstärkte sich die Identifikation Maos mit dem Stalinismus. Das innen- und außenpolitische Verhalten des jeweils anderen beobachtend, typisierten sich beide nun wechselseitig als „Verräter“ an der bolschewistischen Revolution (Hopf 2009: 311). Sie traten in einen Wettbewerb darüber ein, wer der bessere kommunistische Staat sei, vor allem in Afrika und Asien, und spielten nun ihre vis-à-vis-Rollen als Wettbewerber. Von einer freundschaftlichen (Kantianischen) Sicherheitskultur veränderte sich die Sicherheitskultur zu einer feindlichen (Hobbes’schen) Sicherheitskultur. Nichtsdestotrotz waren beide neuen Rollenkonzeptionen wieder voneinander abhängig. Die neue Sicherheitskultur funktionierte nur, weil beide Akteure ihre neue Rolle als Feinde akzeptierten. Die damit verbundenen außenpolitischen Routinen institutionalisierten sich und überdauerten die Absetzung eines der beiden Architekten dieser Sicherheitskultur, Chruschtschow (1964). Sicherheitskultur Welche Art von Sicherheitskultur sich durch diese Interaktion herausbildet und als Systemstruktur verfestigt, hängt wesentlich davon ab, wie häufig sich beide treffen, wie sich beide wechselseitig typisieren, ob sie sich positiv oder negativ miteinander identifizieren, und wie viele Mitglieder eines anderen Systems die wechselseitige Typisierung übernehmen. Dabei kann sich sowohl eine Sicherheitskultur herausbilden, in der sich alle als Feinde wahrnehmen, aber auch eine Sicherheitskultur, in der sich alle als Freunde wahrnehmen. Merke Konstruktivisten definieren Institutionen sowohl als ein Set von Normen, Prozeduren und Verfahren, das Akteursverhalten reguliert, als auch in einem weiteren Sinne als jede Form von kognitiver Struktur, die die Regeln des Spiels definieren. Institutionen sind regulativer und konstitutiver Art, sie beschränken Verhalten (wie im Institutionalismus) und ermöglichen es erst. Institution Wenn mehr und mehr Mitglieder eines Systems beginnen, sich wechselseitig als Feinde zu repräsentieren, wird irgendwann ein Umschlagspunkt erreicht, zu dem diese Repräsentationen die Logik des Systems bestimmen. An diesem Punkt beginnen Akteure zu glauben, dass „Feindschaft“ eine Eigenschaft <?page no="252"?> 237 K onstruKtIVIsmus K olleKtIVes w Issen als s chlüsselKonzept des K onstruKtIVIsmus Einheit 8 des Systems sei, und nicht nur eine Eigenschaft individueller Akteure und sie beginnen alle anderen Akteure ebenfalls als Feinde zu repräsentieren, nur weil sie Mitglieder des Systems sind. Nun wird der besondere „Andere“ der „generalisierte Andere“. Darin kommen eine kollektive Wissens- oder Überzeugungsstruktur und Erwartungen zum Ausdruck, die an andere Mitglieder des Systems weitergegeben werden, sich institutionalisieren und nicht weiter hinterfragt werden. Sicherheitskulturen sind also sowohl nach ihrer Genese (als Resultat vergangenen Handelns), also auch in ihrer Präsenz in jedem Augenblick (sie bestehen nur, solange sie durch menschliche Aktivitäten produziert werden) ein Produkt des Menschen. Diese Überlegungen haben zur so genannten Akteur-Struktur-Debatte in den internationalen Beziehungen geführt (siehe Box). Das Akteur-Struktur-Problem in den Sozialwissenschaften beschreibt, wie sich Akteure und soziale Strukturen zueinander verhalten. Das Kernproblem, das hier behandelt wird, kreist um die Frage, ob es eher Strukturen sind, die Akteurshandeln determinieren, oder ob es Akteurshandeln ist, das Strukturen beeinflusst (Giddens 1988: 290). In dieser Klassifikation ist der Strukturelle Realismus eine strukturzentrierte Theorie der Internationalen Beziehungen, weil internationale Strukturen Akteursverhalten dominieren bzw. sogar determinieren. Der Institutionalismus hingegen ist eine tendenziell akteurszentrierte Theorie, die davon ausgeht, dass die Interessen und Präferenzen der Akteure ihr Verhalten bestimmen und Strukturen diese Präferenzen lediglich einschränken, aber nicht festlegen. Der Konstruktivismus geht von Strukturierung aus. Menschen und ihre Organisationen sind bewusst handelnde Akteure, die die gesellschaftlichen Strukturen, in denen sie leben, reproduzieren und verändern. Akteure handeln auf der Basis von Strukturen, die ihnen ein bestimmtes Handeln nahelegen, ohne es zu determinieren. Sie können diese Strukturen reproduzieren, wenn sie immer ähnlich handeln, oder sie können sie verändern, wenn sie sich anders verhalten. Jede Analyse von Handlung setzt also ein zumindest implizites Verständnis der sozialen Strukturen voraus, innerhalb dessen sich diese Handlung vollzieht. Und jede Analyse von sozialen Strukturen setzt ein Verständnis von Akteuren voraus, deren Beziehungen den strukturellen Kontext produzieren und reproduzieren. Folglich sind sowohl die Eigenschaften von Akteuren, als auch die Strukturen für eine Erklärung sozialen Verhaltens relevant. Das Akteur-Struktur-Problem Entscheidend für eine konstruktivistische Theorie internationaler Beziehungen sind somit Wissensstrukturen und deren Verteilung über Akteure hinweg. Die Verteilung von Wissen, nicht die Verteilung materieller Struktu- <?page no="253"?> 238 K onstruKtIVIsmus ren im internationalen System entscheidet über Staatenverhalten. Wissen hat aber eine andere Qualität als die materiellen Strukturen in neorealistischen oder institutionalistischen Analysen. Wissensstrukturen sind flexibel: Sie beschränken Verhalten, aber sie ermöglichen es auch. Akteurshandeln basiert auf sozialen Strukturen, deren Regeln und Verhaltenserwartungen diese Akteure vorher verstanden haben müssen. Vor allem sind diese Strukturen prinzipiell veränderbar- - wir können sie aktualisieren oder uns entscheiden, sie zu verändern (vgl. Abbildung 8.2). Aber was genau verstehen Konstruktivisten unter einer Sozialstruktur? Zentral für konstruktivistische Theorie ist die Vorstellung von Sozialstruktur als einer intersubjektiven Struktur, die sich in fünf wissensbasierten Konzepten widerspiegelt: 1) Kultur, 2) Identität, 3) Ideen, 4) Normen und 5) Praktiken. Allen fünf Konzepten ist gemeinsam, dass sie nicht objektiv oder unabhängig von Akteuren existieren, sondern dass sie durch deren Interpretationsleistungen und Handeln produziert werden. Besonders deutlich wird dieser Aspekt in kulturvergleichenden Studien, in denen gezeigt wird, dass sich selbst bei sehr ähnlichen materiellen Strukturen unterschiedliche Kulturen herausbilden können. Ein Beispiel: Ein Wal ist ein Wal. Er existiert unabhängig von uns Menschen in der Welt da draußen. Unsere Wahrnehmung eines Wals kann aber über Zeit und Raum ganz unterschiedlich sein. Er kann als bedrohlich konstruiert werden oder als hilfloses Opfer. Kultur ist die Gesamtheit der Ideen und Normen innerhalb einer Gruppe. Die in ihr eingebetteten Ideen und Normen sind im weitesten Sinne als ideelle Ressourcen zu verstehen, die in der Summe unsere soziale Umwelt darstellen und auf die wir für unsere Wirklichkeitsrepräsentationen zurückgreifen. Struktur - Wissen - Ressourcen - Unterschiedlich ausgreifend in Zeit und Raum Handeln bewusst - Legt nahe, aktualisiert Handlungssystem reflexiv beschränkt Struktur und Handeln in einem Handlungssystem Abb. 8.3 <?page no="254"?> 239 K onstruKtIVIsmus K olleKtIVes w Issen als s chlüsselKonzept des K onstruKtIVIsmus Einheit 8 Kultur ist ein menschliches Artefakt, ein System von Vorstellungen und Wahrnehmungsmustern, das durch wiederholte menschliche Interaktion entsteht und tradiert wird. Kultur Das Konzept der Kultur ist mit den Konzepten Idee und Norm eng verbunden. Es beschreibt ein komplexes System dieser beiden Elemente, das institutionalisiert ist und in dem Ideen und Normen hierarchisch strukturiert sind. Eine weitere Form von Wissen verbindet sich mit dem Konzept der Identität, in diesem Fall handelt es sich um Wissen, über das Akteure über sich selbst verfügen bzw. in Relation zur eigenen und fremden Gruppen. Identität ist, zusammen mit der kulturell definierten Sozialstruktur, eines der wichtigsten Konzepte im Konstruktivismus. Identität ist ein relativ stabiles, rollenspezifisches Verständnis bzw. eine Erwartung über das Selbst (Wendt 1992a: 397). Das Konzept der Identität gibt Antworten auf die Fragen: „Wer bin ich? Was eint uns? Wer gehört zu uns? “ Identität ist aber auch ein Relationsbegriff, der Antworten gibt auf die Fragen: „Wer bin ich hier im Vergleich zu dort? “ oder „Wer bin ich jetzt im Vergleich zu früher? “ So wird Deutschland oft eine Rolle oder Identität als „Zivilmacht“ zugeschrieben, die sich bewusst in Abgrenzung von seiner früheren Identität als militaristischer Staat unterscheidet (Maull/ Kirste 1996). Identität nimmt in konstruktivistischen Analysen einen zentralen Stellenwert ein, da die Theorie davon ausgeht, dass sie erst die Interessen von Akteuren bestimmen. Wie Akteure eine Realität wahrnehmen, und welche Interessen sie herausbilden, hängt in erster Linie damit zusammen, welche Identitäten sie haben. Aber auch Identitäten bilden sich erst in der Interaktion heraus, wie im Fall der Typisierung beschrieben. Identität Unterschieden werden personale (bei Individuen) oder korporative Identität (bei Gruppen) und die soziale Identität. Die personale Identität ist derjenige Anteil eines Selbstkonzepts, der durch die Beschreibung und Zuschreibung individualisierender Faktoren entsteht. Die korporative Identität drückt die Vorstellungen und Institutionen aus, auf deren Basis Individuen in Staaten erst als Kollektiv handeln können. Sie generiert bestimmte Wünsche, wie den nach physischer Unversehrtheit, ein grundlegendes Bedürfnis nach Sicherheit und Vorhersagbarkeit sozialer Beziehungen jenseits des nackten Überlebens sowie den Wunsch nach Entwicklung (Wendt 1996: 50-51). Soziale Identität beschreibt Rollen und Bedeutungen, die sich Individuen zuschreiben, wenn sie die Perspektive eines anderen bzw. eine Außenperspektive einnehmen. Sie kommt durch die Beschreibung der Zugehörigkeiten zu sozialen <?page no="255"?> 240 K onstruKtIVIsmus Kategorien und Systemen zustande. Identität bildet sich während der sozialen Interaktion (endogen) heraus (Jepperson u. a. 1996: 33-34) und ist der Interessenbildung vorgelagert. Ideen sind geistige Abstraktionen konkret erfahrbarer Phänomene oder auch Weltbilder, die allgemeiner oder spezifischer Art sind. Ideen Wir sprechen von der „Idee der Freiheit“ oder der „Idee der Demokratie“. Beide Ideen sind konkret erfahrbar, interessant sind aber-- und darauf hat Max Weber eindrücklich hingewiesen- - die hinter den allgemeinen Ideen liegenden kognitiven Strukturen, weil sie kollektives Verhalten beeinflussen. Der „Idee der Freiheit“ liegen ganz unterschiedliche Abstraktionen zugrunde wie beispielsweise die Vorstellung, dass die eigene Freiheit an der Freiheit anderer ihre Grenzen findet. Normen sind „kollektive Standards angemessenen Verhaltens in einer gegebenen Situation“ (Jepperson u. a. 1996: 33). Sie haben die Qualität von Regeln, die definieren, was Akteure tun sollen oder was für sie angemessen ist. Im Vergleich zu Kultur sind Normen situationsbezogen, sie schreiben vor, wie sich ein Akteur in einer bestimmten Situation verhalten soll. Normen Im Verhältnis zu seinen Bürgerinnen achtet ein „guter“ Staat die Menschenrechte; in der Interaktion mit anderen Staaten hält ein „guter“ Staat vertragliche Verpflichtungen ein; im Verhältnis zur Gesamtheit der Staaten wird ein Staat überhaupt nur als Staat anerkannt, wenn er bestimmte institutionelle Strukturen aufweist. Folglich ist es für Staaten angemessen, diese institutionellen Strukturen, wie etwa bestimmte Verwaltungsstrukturen, aufzuweisen (Finnemore 1996). Soziale Praktiken bezeichnen das in alltäglichem Handeln von Individuen zum Ausdruck kommende praxeologische Wissen, das für diese Praktiken essentiell ist und weitergegeben wird. Die Annahme ist, dass sich erst durch Praktiken Routinen herausbilden, die erst Institutionen reproduzieren (Pouliot 2012). Soziale Praktiken <?page no="256"?> 241 K onstruKtIVIsmus h andlunGsloGIKen : K onsequentIalIsmus und a nGemessenheIt Einheit 8 Handlungslogiken: Konsequentialismus und Angemessenheit Den Konstruktivismus unterscheidet von anderen Theorien, dass er Annahmen über die Handlungsorientierungen der Akteure macht, die von den bisher diskutierten Theorien des Rational Choice und des Marxismus abweichen. In diesem Zusammenhang werden zwei unterschiedliche Handlungslogiken unterschieden, die definieren, wie sich Individuen verhalten (March/ Olsen 1998): Die Logik des Konsequentialismus und die Logik der Angemessenheit. Die Logik des Konsequentialismus geht davon aus, dass Individuen Präferenzen haben, die sie möglichst effizient durchsetzen wollen und dass sie jede Handlung daraufhin überprüfen, welche Konsequenzen diese für die Verwirklichung ihrer Präferenzen hat. Jede Handlung ist nach dieser Logik eine strategische Handlung, die so gewählt wird, dass sich der Nutzen für die Akteure maximiert. Die Logik des Konsequentialismus basiert auf dem Homo oeconomicus. Die Logik der Angemessenheit geht im Gegensatz davon aus, dass die Präferenzen von Individuen durch die Kultur herausgebildet werden, in die sie eingebettet sind. Die Identifikation mit dieser Kultur führt dazu, dass sie sich im Einklang mit sozialen Regeln verhalten, selbst wenn das aus einer rationalistischen Sicht mit Kosten verbunden ist. In jeder neuen Situation stellt ein Akteur deshalb immer zunächst die folgenden Fragen: „Um was für eine Situation handelt es sich? “, „Wer bin ich und was ist meine Rolle? “, „Was wird von mir erwartet? “ und versucht sich entsprechend zu verhalten. Aus der Logik der Angemessenheit ergibt sich die Sorge um die Rechtmäßigkeit oder 8.5 Homo oeconomicus Homo sociologicus Individuum verwirklicht seine Nutzenvorstellungen handelt gemäß internalisierter Normen der Gesellschaft Mitmenschen Mitmenschen sind Konkurrenten um knappe Ressourcen überindividuelle gesellschaftliche Kräfte üben Einfluss auf das Individuum aus Handlung individuelle Handlungen sind das Ergebnis einer rationalen Abwägung zwischen Kosten und Nutzen jeder Handlungsalternative Handlungen resultieren aus den Zwängen der sozialen Beziehungen, soziale Sanktionen beeinflussen die Handlung Erklärung alle sozialen Tatbestände können auf das Handeln dieser Individuen zurückgeführt werden alle sozialen Tatbestände resultieren aus Handlungsumständen Logik Logik des Konsequentialismus Logik der Angemessenheit Theorie Neoliberaler Institutionalismus, Neorealismus Sozialkonstruktivismus Vergleich der Handlungslogiken Tab. 8.1 <?page no="257"?> 242 K onstruKtIVIsmus Legitimität von Handeln: Handlungen, bei denen man davon ausgehen kann, dass sie sozial anerkannt oder legitimiert sind, werden bevorzugt gegenüber Handlungen, die sozial geächtet sind. Die Logik der Angemessenheit basiert auf dem Homo sociologicus. Allerdings geht die Theorie nicht notwendigerweise davon aus, dass sich Akteure ausschließlich entsprechend der Logik der Angemessenheit und im Einklang mit den in einer Sozialstruktur eingebetteten Werten und Normen handeln. Die Theorie betrachtet dies nur als eine von verschieden Möglichkeiten der Herangehensweise an Sozialstruktur. Wenn sie sich konform in Bezug auf die Erwartungshaltungen einer Sozialstruktur verhalten, dann handeln sie wertrational. Sie maximieren ihre Werte und ziehen daraus den größten persönlichen Nutzen. Dies kann unreflektiert passieren, weil sie die Werte so verinnerlicht haben, dass sie sie nicht mehr bewusst reflektieren, oder aus Überzeugung aus dem Glauben heraus, dass die Normen an sich gut sind. In diesem Fall sind sie bereit, sogar hohe Kosten für ihre Prinzipientreue in Kauf zu nehmen. Ein Beispiel dafür ist die Aufnahme von Flüchtlingen, wenn diese aus humanitären Prinzipien heraus aufgenommen werden. Für die Gastländer sind damit hohe Kosten verbunden. Dass sie diese in Kauf nehmen, kann als ein Indikator dafür betrachtet werden, wie stark sie von der Norm überzeugt sind. Norm-Unternehmer sind Akteure, die vor allem neue Normen verbreiten wollen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine feste Auffassung davon haben, was angemessenes oder wünschenswertes Verhalten ist. Ihr Verhalten ist häufig altruistisch und idealistisch motiviert. Beispiele sind Nichtregierungsorganisationen, aber es können auch Unternehmen sein, die sich für eine stärkere Verantwortung von Unternehmen bei der Durchsetzung von Menschenrechten oder Umwelt- und Sozialstandards im Rahmen der Corporate Social Responsibility einsetzen (Flohr u. a. 2010). Norm-Unternehmer Die andere Möglichkeit, die eher mit der Logik des Konsequentialismus vereinbar ist, ist die strategische Herangehensweise an eine Sozialstruktur. In diesem Fall wissen Akteure um die Existenz der Sozialstruktur und kennen die in sie eingebetteten Normen, verhalten sich ihnen gegenüber aber nutzenmaximierend. Insbesondere wenn konfligierende Normen in einer Sozialstruktur enthalten sind oder Normen umstritten sind (Wiener 2009), eröffnet dies Akteuren die Möglichkeit der strategischen Nutzung von Normen (Jetschke 2010): Sie beziehen sich auf die Norm, die stärker mit ihren Präferenzen konvergiert. In bestimmten Situationen müssen Akteure sich sogar strategisch gegenüber einer Sozialstruktur verhalten, nämlich dann, wenn <?page no="258"?> 243 K onstruKtIVIsmus w andel als K onstante der InternatIonalen p olItIK Einheit 8 sie- - wie Normunternehmer- - Normen verändern wollen (Keck/ Sikkink 1998; Schimmelfennig 2006). Wandel als Konstante der internationalen Politik Ein zentrales Anliegen konstruktivistischer Analysen ist die Erklärung von Wandel in der internationalen Politik. Vor allem im Vergleich zum Realismus und Neorealismus geht es konstruktivistischen Theorien darum zu zeigen, dass die grundlegenden Strukturen internationaler Politik und dementsprechend das Handeln von Akteuren in der internationalen Politik einem permanenten Wandel über Raum und über Zeit unterliegen. Dieser Wandel ist aber nicht zufällig oder chaotisch, sondern er erfolgt systematisch mit dem Wandel in Bedeutungsstrukturen. Wie in Einheit 4 deutlich wurde, gehen realistische Theorien davon aus, dass internationale Politik durch Regelmäßigkeiten geprägt ist, die in Form des Machtstrebens und der Gleichgewichtspolitik bestehen und über Zeit und Raum eine Grundkonstante des Verhaltens von Akteuren bilden. Konstruktivistische Analysen zeigen dagegen, dass sich internationale Systeme permanent verändern. Folglich sind-- ähnlich wie in marxistischen Analysen-- historische Veränderungsprozesse und räumliche Variationen ein zentraler Untersuchungsgegenstand. Internationale Beziehungen wandeln sich beständig durch die wechselseitige Konstitution von Akteuren und Strukturen. Internationalen Beziehungen ist durch ein Maß an Regelmäßigkeit des Verhaltens der Akteure geprägt, aber dieses unterliegt Veränderungen über Zeit und Raum. Diese Veränderungen zeichnen sich in Kooperations- und Konfliktmustern ab, aber auch in internationalen Ordnungen, die sowohl entlang der Zeitachse als auch entlang der Raumachse variieren können. Ein Beispiel sind die Normen der Assoziation Südostasiatischer Staaten (ASEAN), die-- so argumentiert Amitav Acharya in einer Reihe einflussreicher Schriften (2001, 2009)-- eine andere Sicherheitskultur hervorgebracht haben als europäische Staaten. Dieser liegen Normen der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und der Respekt für die territoriale Integratität eines Staates zugrunde, die durch die Erfahrung einer gemeinsamen kolonialen Vergangenheit der Staaten eine besondere Tiefe haben und sehr ernst genommen werden. In der konstruktivistischen Theorie sind es drei zentrale soziale Mechanismen des Wandels, die über die Veränderung von Akteurseigenschaften internationale soziale Strukturen verändern können. Diese unterscheiden sich von den Mechanismen des Strukturellen Realismus und des Institutionalismus dadurch, dass sie weder auf Zwang noch auf materielle Anreize rekurrieren, sondern auf kognitive und soziale Mechanismen abheben. 8.6 <?page no="259"?> 244 K onstruKtIVIsmus 1) Lernen: Staaten verändern durch einen Lernprozess ihre Wahrnehmung darüber, was angemessene Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele sind, oder sie verändern die Wahrnehmung über die Angemessenheit von Zielen an sich (Checkel 2003). 2) Sozialisation: Staaten verinnerlichen bestimmte Normen und Werte und ändern so dauerhaft ihr Verhalten. Internationale Sozialisation ist ein Prozess, durch den internationale Akteure (die Sozialisanden) die Ideen, Normen und Wertvorstellungen einer internationalen Gesellschaft übernehmen. Im Ergebnis einer erfolgreichen Sozialisation verinnerlichen sie die Wissensbestände so weit, dass sie sie als ihre eigenen wahrnehmen und entsprechend angemessen handeln (Schimmelfennig u. a. 2006). Sozialisation setzt dabei voraus, dass es Sozialisationsagenten von hinreichender Autorität gibt, die es schaffen, die Sozialisanden von neuen Ideen oder Normen zu überzeugen. Dies können epistemische Gemeinschaften sein oder auch Nichtregierungsorganisationen, die aufgrund ihrer moralischen Autorität Anerkennung genießen, wie Amnesty International oder Greenpeace. 3) Verständigungsprozesse: Eine ganze Reihe von Konstruktivisten hat die Sprachphilosophie von Jürgen Habermas dazu genutzt, um auf Prozesse der Verständigung in der internationalen Politik hinzuweisen (Risse 2000; Deitelhoff 2006). Diese Autoren sehen in Diskursen zentrale Produktionsmechanismen für internationale Normen. In diesem Sinn ist Diskurs ein argumentativer Dialog, in dem über den jeweiligen Geltungsanspruch internationaler Normen und deren Legitimität mit dem Ziel einer grundlegenden Verständigung gesprochen wird. Hier geht es darum, sich wechselseitig von der Norm zu überzeugen. Beispiele dafür sind Diskurse über die Menschenrechtspraxis von menschenrechtsverletzenden Regierungen, in denen sie von der Geltungskraft der Menschenrechte überzeugt werden. Diese Verständigung kann aber nur dann als legitim betrachtet werden, wenn sie selbst unter ganz bestimmten Bedingungen und Voraussetzungen geführt wird. Dazu gehört, dass sich Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Diskurses offen begegnen und bereit sind, ihre Vorstellungen zur Disposition zu stellen. Ein Diskurs soll herrschaftsfrei geführt werden. Er zeichnet sich dadurch aus, dass Teilnehmende die Position anderer einnehmen und nicht versuchen, ihre eigennützigen Interessen durchzusetzen, sondern fragen: Was ist das Beste für die Gemeinschaft? <?page no="260"?> 245 K onstruKtIVIsmus b eobachtbare e ffeKte eIner InternatIonalen s ozIalstruKtur Einheit 8 Diskurs wird in konstruktivistischen Analysen sehr unterschiedlich verwendet und untersucht. Ursprünglich bezeichnete „Diskurs“ einen „erörternden Vortrag“ oder aber ein „hin- und hergehendes Gespräch“, eine längere Reflexion zu einem Thema. Im 14. und 15. Jahrhundert handelte es sich beim Diskurs um einen Vortrag in einer Akademie, in der „gegensätzliche Stellungnahmen hörend und diskutierend zur Kenntnis genommen werden“ oder auch um eine „urteilende Gedankenbewegung“ (Kohlhaas 2000). In den 1960er Jahren diskutierten vor allem französische Intellektuelle, inwiefern der Sprachgebrauch an sich gesellschaftliche Strukturierungsmöglichkeiten schafft. Seither eint der Begriff „Diskurs“ Perspektiven, die die Rolle von Kommunikation und Sprache für die Entstehung, Verbreitung und Verteilung von Wissen und konsequenterweise für die Herausbildung sozialstrukturierter Praktiken untersuchen (Keller et al. 2006: 8). Darunter fallen sowohl Untersuchungen, die „Diskurs“ im Sinne von Habermas als rationalen Austausch von Argumenten definieren, welcher eine konsensorientierte Verständigung zum Ziel hat - und damit die Reproduktion lebensweltlicher Strukturen -, als auch Untersuchungen, die „Diskurs“ als strukturierte und umfassende Denksysteme über die Welt „da draußen“ auffassen. Diskursbegriff Schnell wurde die Vermutung aufgestellt, dass der Mechanismus des Wandels auch die Dauerhaftigkeit von Veränderungen beeinflussen könnte. Diese wären nur dann von Dauer, wenn Staaten sich von dem Geltungsanspruch der Norm überzeugen ließen, Normen also nicht durch Zwang oder finanzielle Anreize durchgesetzt werden. Beobachtbare Effekte einer internationalen Sozialstruktur Ausgehend von diesen Überlegungen hat sich konstruktivistische Forschung darauf konzentriert zu zeigen, dass der normative Gehalt des internationalen Systems sehr viel größer als von der realistischen Schule angenommen ist und diese Normen staatliches Verhalten vorhersagen können. Sie kontrastieren dabei in der Regel Verhalten, das aus den Bedingungen der Interdependenz resultiert oder den Zwängen des internationalen Systems mit dem tatsächlich beobachtbaren Verhalten von Staaten, das auf deren Identität oder soziale Normen zurückgeführt wird. Erklärt wird beispielsweise die relative Resistenz von Staaten gegenüber Veränderungen in ihrer externen materiellen Struktur. Staatliche Identitäten sind relativ stabil, auch wenn sich materielle Strukturen ändern. Staaten verändern ihre einmal etablierte Identität nicht so schnell, da damit ein Selbstverständnis und entsprechende Routinen und Praktiken verbunden sind. Gleichzeitig reagieren sie-- je nach Identität und nicht je nach Präfe- 8.7 <?page no="261"?> 246 K onstruKtIVIsmus renzkonstellationen im Inneren, wie liberale Theorien es erklären würden-- unterschiedlich auf wahrgenommene Zwänge des internationalen Systems. Für Deutschland und Japan, die sich immer noch schwer tun, sich an internationalen militärischen Interventionen zu beteiligen, wird dieses Verhalten auf ihre nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildete Identität zurückgeführt. Erklärt wird, wie erfolgreiche internationale Kampagnen von Akteuren mit wenig oder keinen materiellen Machtmitteln in der internationalen Politik erfolgreich sein können und neue Normen produzieren. Dies wird durch Prozesse der Reflexion, des Überzeugens und Lernens erklärt. Hier geht es darum zu zeigen, dass die soziale Konstruktion der Welt über Diskurse vermittelt wird. Diese Diskurse können das Denken der Akteure über bestimmte Phänomene ändern und dazu führen, dass Akteure bestimmte Verhaltensstandards internalisieren, weil sie von deren Angemessenheit überzeugt werden. Besonders populär sind Studien über den Einfluss nichttraditioneller Akteure der internationalen Politik, wie Nichtregierungsorganisationen, wissenschaftliche Netzwerke, internationale Organisationen. Erklärt wird auch, warum manche Staaten, die entsprechend der Annahmen realistischer und neoliberaler Theorien der internationalen Politik wenig Überlebenschance im internationalen System haben, immer noch existieren, wie eine Vielzahl von Staaten mit einem geringen Grad an Staatlichkeit. Internationale Normen regeln, welche Staaten Anerkennung durch andere Staaten verdienen und die mit der normativen Konformität verbundene soziale Anerkennung sichert Überleben. Es wirkt sich auf die Überlebenswahrscheinlichkeit von Staaten im internationalen System aus. Wesentlich für das Überleben von Staaten ist, dass sie sich den jeweils existierenden Legitimitätsstandards annähern und nicht, dass sie sich entsprechend eines macht- oder sicherheitspolitisch verstandenen Interesses verhalten. Ein weiteres Beispiel für die Relevanz der Konformität mit einer Sozialstruktur sind Nordkorea und der Iran. Obwohl es sich bei beiden Staaten um stabile Staaten handelt, die im Fall vom Iran auch über beträchtliche Machtressourcen verfügen, stehen beide für Identitäten, Werte und Normen, die in einem starken Kontrast zu westlich liberalen Normen stehen. Konstruktivisten würden deshalb davon ausgehen, dass ihre Überlebenswahrscheinlichkeit geringer ist, wie die Fälle Afghanistan und Irak zeigen (vgl. Einheit 2). Als besonders einflussreich hat sich hier der sogenannte soziologische Institutionalismus erwiesen. Dieser Ansatz wurde von einer Gruppe Soziologen um John Meyer an der Stanford University entwickelt (Meyer u. a. 1997). Die von ihm begründete Richtung ist auch als John-Meyer-Schule bekannt. Dieser Ansatz zeigt, dass der Wandel von sozialen Strukturen in Einfluss auf Überlebenswahrscheinlichkeit im internationalen System <?page no="262"?> 247 K onstruKtIVIsmus b eobachtbare e ffeKte eIner InternatIonalen s ozIalstruKtur Einheit 8 Staaten einhergeht, die alle Staaten systematisch erfassen, egal ob es sich um arme oder reiche, demokratische oder autokratische, große oder kleine Staaten handelt. Staaten verinnerlichen diese Strukturen unreflektiert, weil diese Strukturen mit hoher sozialer Anerkennung bzw. Legitimität verbunden sind. Dieser Mechanismus wird auch Mimikry genannt. Soziale, nicht materielle Strukturen definieren, was Staaten als Akteure auszeichnet. Martha Finnemore zeigt in ihrem 1996 erschienenen Buch „National States in International Society“, dass unsere Vorstellungen darüber, was Staaten als Staaten auszeichnet, einem beständigen Wandel unterliegen. Ihr zentrales Argument lautet aber, dass internationale Organisationen und nicht das internationale System definieren, welche Interessen Staaten haben. Sie rekonstruiert die Entwicklungsgeschichte verschiedener staatlicher Verwaltungen, die wir selbstverständlich mit Staatlichkeit assoziieren, wie die Existenz von Wissenschaftsministerien in Staaten, und zeigt, dass diese auf Programmaktivitäten internationaler Organisationen zurückzuführen sind. Selbst Staaten, die gar keine Universitäten haben, haben Wissenschaftsbürokratien, weil diese von internationalen Organisationen wie der UNESCO gefördert wurden und als konstitutiv für Staatlichkeit betrachtet wurden. Die zentrale Aussage des Buches ist, dass internationale Organisationen Staaten lehren, was sie wollen! Ähnlich könnte man argumentieren, dass Nichtregierungsorganisationen Staaten lehren können, was sie wollen, indem sie öffentliche Debatten darüber anregen, was angemessen und richtig ist. Woher kommen staatliche Interessen? Internationale Organisationen und staatliche Interessen Internationale Organisationen als Lehrer Konstruktivisten erklären, warum sich Regeln zwischenstaatlicher Interaktion massiv verändern: Was gestern als selbstverständliche Verhaltensstandards gegolten hat, ist heute undenkbar, beispielsweise, dass Territorien nach Theorie Neorealismus Neoliberaler Institutionalismus Konstruktivismus Akteure des internationalen Systems Staaten Staaten und Gruppen Staaten und Individuen in der Gesellschaftswelt Ziele des Handelns nutzenmaximierend (Selbsterhalt und Machtinteresse (fix)) Maximierung der problemfeldspezifischen Interessen wertmaximierend (Anerkennung, stabile soziale Identität) Logik des Handelns zielorientiert, zweckrational zielorientiert, zweckrational zielorientiert und wertrational Grundkennzeichen der iB materielle Struktur der Anarchie materielle Struktur der Interdependenz immaterielle Wissensstruktur Theorienvergleich Tab. 8.2 <?page no="263"?> 248 K onstruKtIVIsmus Kriegen getauscht wurden, Krieg ein legales Mittel der Politik war, oder die Beherrschung und Unterordnung anderer Völker, wie im Kolonialismus, die zum Prestige von Staaten beigetragen hat (vgl. Einheit 1). Können soziale Strukturen kausale Wirkung entfalten? Diskurs ist weiter mit Erkenntnis verbunden bzw. mit der Fähigkeit, zu Erkenntnis zu gelangen. Damit geht es um die philosophische Frage, wie wir überhaupt Wissen generieren. Hier stehen die Sozialwissenschaften vor einem besonderen Problem, das sie von den Naturwissenschaften kategorisch unterscheidet: Konstruktivisten gehen auch hier davon aus, dass Erkenntnis bzw. das, was wir als „wahr“ voraussetzen können, ebenfalls konstruiert ist. Alle sozialwissenschaftlichen Theorien bauen letztendlich auf bestimmten Annahmen darüber auf, wie die Welt beschaffen ist. Aber mit welcher Bestimmtheit können wir sagen, dass die Annahmen über unsere Welt „wahr“ sind? Mit welcher Bestimmtheit können wir sagen, dass die Instrumente, mit denen wir Realität untersuchen, überhaupt in der Lage sind, Realität zu entdecken? Konstruktivisten gehen davon aus, dass es darüber prinzipiell keine Gewissheit gibt. Selbst unsere Standards für gute Theorien sind sozial konstruiert. Wenn wir glauben, dass eine gute Sozialwissenschaft darin besteht, kausale Zusammenhänge, also Ursache- und Wirkungszusammenhänge zu etablieren, dann spiegelt dies dominante Wissenschaftsdiskurse wider. Wir glauben, dass diese Standards wichtig sind; wir halten sie für objektiv, richtig, und damit wahr, was daran liegt, dass sie gesellschaftliche Macht und damit Relevanz erhalten haben. Allerdings gehen die meisten konstruktivistischen Ansätze nicht so weit, die Konstruktion von Wissenschaftsdiskursen zu untersuchen, wie es Gegenstand des Poststrukturalismus ist (vgl. Einheit 9). Sie teilen mit dem Strukturellem Realismus, dem Institutionalismus und liberalen Theorien in der Regeln ein Verständnis, das auf Erklärung abzielt. Ein noch tiefer greifender und den Konstruktivismus mit konstruktivistischen Mitteln selbst hinterfragender Punkt besteht darin zu fragen, ob Normen oder die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit überhaupt eine Ursache für Handeln sein und als Erklärung für Handeln gelten können. Erklärungen haben dabei eine ganz bestimmte Konnotation. „Erklärungen“ fußen auf einem Ursache-Wirkungszusammenhang: Ursachen sind einer Wirkung zeitlich vorgelagert und ihr Auftreten produziert regelmäßig dieselbe Wirkung. Aber können soziale Konstruktionen eine solche Wirkung ausüben? 8.8 <?page no="264"?> 249 K onstruKtIVIsmus a nwendunGsbeIspIel : d Ie K ony 2012-K ampaGne Einheit 8 Manche Konstruktivisten sagen: Ja. Weil Normen Standards für bestimmtes Verhalten aufstellen und somit Handlungsoptionen beschränken, ist- - bei gegebener Internalisierung der Norm- - auch nur ein bestimmtes Verhalten zu erwarten. Akteure verhalten sich deshalb vorhersehbar und somit kann eine internalisierte Norm als Ursache für Verhalten konzeptualisiert werden. Wenn ein Akteur verinnerlicht hat, dass Menschenrechte zu achten sind, dann verteidigt er diese in jeder Situation, in der Menschenrechte bedroht sind. Andere Konstruktivisten sagen: Nein. Normen kann man nicht wie Ursachen im physikalischen Sinne betrachten. Selbst in ganz ähnlichen Situationen rufen Akteure nicht dieselben Normen als handlungsleitend ab. Mit anderen Worten: Die Frage „Was für eine Situation ist das? “ könnte immer wieder anders beantwortet werden, selbst wenn wir es mit einer objektiv ähnlichen Situation zu tun haben. Mit der Antwort auf diese Frage variieren aber auch die Normen, die dann jeweils handlungsleitend werden. Man sollte deshalb aber nicht schließen, dass Verhalten, das offensichtlich gegen eine Norm verstößt, ein Beweis dafür ist, dass man Normen generell für die Erklärung von Verhalten vernachlässigen kann. Entschuldigt sich ein Akteur für einen Regelverstoß, indem er auf die entsprechende Norm verweist, erkennt der Akteur die Existenz der Norm an. Sie existiert, auch wenn sie für ihn nicht handlungsleitend ist (Kratochwil 1989). Anwendungsbeispiel: Die Kony 2012-Kampagne Es soll im Folgenden versucht werden, das bisher Beschriebene auf die Kony- Kampagne zu übertragen. Die von Invisible Children durchgeführte internationale Kampagne ist ein Fallbeispiel dafür, wie nichtstaatliche Akteure ohne materielle Machtressourcen in der internationalen Politik Einfluss ausüben können (vgl. das Kampagnenvideo bei Youtube: URL: https: / / www.youtube. com/ watch? v=Y4MnpzG5Sqc). Sie tun dies über die Veränderung von Diskursen über bestimmte Themen und indem sie an eine bestimmte Identität der Zuschauer appellieren. Vorreiter solcher Kampagnen waren Greenpeace und Amnesty International. Um an die in der Kampagne zum Ausdruck kommenden Sozialstrukturen heranzukommen und sie entdecken zu können, bietet sich ein Analyseschema an, das im Rahmen der sozialen Bewegungsforschung entwickelt wurde und das dazu geeignet ist, von den Praktiken und Diskursen sozialer Bewegungen auf die ihnen zugrundeliegenden sozialen Konstrukte zu schließen (Snow/ Benford 1992; Jasper/ Poulsen 1995: 496). Zentral für diese Analyse ist der Begriff der Rahmung: 8.9 <?page no="265"?> 250 K onstruKtIVIsmus Rahmung (engl. framing) ist die Tätigkeit, durch die Akteure Situationen und Ereignissen eine bestimmte Bedeutung zuweisen mit dem Zweck, ein Publikum zu mobilisieren (Snow/ Benford 2000: 613). Zuvor in diesem Buch wurde der Prozess als Signifikation oder Bedeutungszuweisung bezeichnet. Rahmung Die Rahmung eines Ereignisses besteht darin, ihm aus einer Fülle von möglichen Bedeutungen eine zuzuweisen und diese mithilfe bestimmter Strategien zur Mobilisierung von Zuhörern einzusetzen. Für diesen Signifikationsprozess lassen sich drei Typen von Rahmung unterscheiden, die notwendig für eine erfolgreiche Mobilisierung sind. ▶ Die diagnostische Rahmung, durch die ein Publikum überzeugt werden soll, dass ein Problem behandelt werden muss. Sie benennt Verantwortliche und zeigt auf, welche Ursachen einem Problem zugrunde liegen. ▶ Die prognostische Rahmung schlägt angemessene Strategien, Taktiken und Ziele der Kampagne vor und entwickelt daraus ein kausales Narrativ, wie sich die Welt verändert, wenn man das tut, was die Kampagne vorschlägt. ▶ Die motivationale Rahmung zielt darauf ab, Anreize zu schaffen, um sich an dieser zu beteiligen, indem beispielsweise auf moralische Imperative bzw. Normen verwiesen wird, die Handeln unbedingt geboten erscheinen lassen. Konstruktivismus geht erstens davon aus, dass internationale Kampagnen dann zu einer gesellschaftlichen Mobilisierung führen, wenn sie die Elemente diagnostischer, prognostischer und motivationaler Rahmung aufweisen. Er geht zweitens davon aus, dass eine gesellschaftliche Mobilisierung dann gelingt, wenn die Rahmung an bereits vorhandene, zum Teil kulturell geprägte Vorstellungen davon, wie die Welt beschaffen ist, anschließt bzw. wenn die Darstellung vor dem Hintergrund unserer eigenen lebensweltlichen Erfahrung plausibel ist (Plausibilitätsstruktur). Wir sprechen hier auch von Resonanz. Ein weiteres zentrales Element ist der Einsatz von Bildern, die das Thema auf einen Punkt bringen. Dies wird auch als kondensierende Bildsprache bezeichnet. Erfolgsbedingungen von Kampagnen von nichtstaatlichen Akteuren Die Kony 2012-Kampagne hat zum Ziel, weit verbreitete Vorstellungen über das Phänomen Bürgerkrieg und die dabei akzeptierten sozialen Praktiken zu verändern. Für internationale Politik ist die Kony-Kampagne aus zwei Gründen relevant: Erstens soll die Kampagne zu einer veränderten Außenpolitik Typen von Rahmung: diagnostisch, prognostisch, motivational <?page no="266"?> 251 K onstruKtIVIsmus a nwendunGsbeIspIel : d Ie K ony 2012-K ampaGne Einheit 8 führen, die sich nicht allein am nationalen Interesse orientiert, sondern solidarisch ist und sich für die Verwirklichung von Menschenrechten einsetzt. Es geht um eine mögliche Rekonstruktion von Außenpolitik auf normativmoralische Ziele. Zweitens verfolgt sie das ganz konkrete Ziel, Joseph Kony, den Anführer der Rebellengruppe Lord’s Resistance Army in Uganda, festzunehmen und vor dem Internationalen Strafgerichtshof für die Rekrutierung von Kindersoldaten anzuklagen. Dazu wird eine militärische Intervention in Uganda gefordert. Das ist eine bedeutende Forderung in der internationalen Politik, da sie die Souveränität eines Staates berührt. Drittens geht es darum, den unzähligen Kindersoldaten auf der Welt eine Zukunft zu geben. Die Botschaft der Kampagne ist: Man kann etwas gegen Krieg in fernen Ländern unternehmen! Auf die Fragen ▶ Um was für eine Situation handelt es sich? ▶ Wer bin ich und was ist meine Rolle? ▶ Was wird von mir erwartet? antworten die Macher der Kampagne, dass die Situation durch Staaten definiert ist, deren Regierungen entscheiden, welche Praktiken eine Intervention rechtfertigen und welche nicht. Es geht darum, diese Situation zu verändern, im Rückgriff auf Normen der Menschenrechte und Solidarität, die auch in der Sozialstruktur verankert sind. Die Rolle, die das staatszentrierte Framing Zuschauern nahelegt, ist die eines Zuschauers, der nichts ändern kann („Who are you to change a war? “). Dem setzt die Kampagne eine neue Identität entgegen („I am going to tell you who you are not.“). Erwartet wird entsprechend des althergebrachten Framings Passivität, die Kampagne zielt auf Veränderung dieser Rolle ab, indem das aktive Handeln eingefordert wird. Die Kony-Kampagne arbeitet dabei mit verschiedenen kulturellen Vorstellungen, die dem Zuschauer nicht direkt bewusst sind, solange er diese nicht reflektiert, und sie arbeitet mit unterschiedlichen Identitätskonzeptionen, die im Film direkt angesprochen werden. Diese Vorstellungen sind in Tabelle 8.3 zusammengestellt. Anarchie und Machtverteilung haben also nur Bedeutung für staatliches Handeln vor dem Hintergrund des gemeinsamen Verständnisses und der Erwartungen, die sich damit verbinden und die Interessen und Identitäten konstituieren. Die Kony-Kampagne definiert die Situation in Uganda und der Welt neu, teilt der Zuschauerin oder den Regierungen eine neue Identität und Rolle zu und formuliert Erwartungen an das Publikum als Zivilbevölkerung und an die Regierung der USA. <?page no="267"?> 252 K onstruKtIVIsmus Rahmungselemente Darstellung im Film Beispielzitate (Minutenangabe im Video) Schließt an welche nationalen und internationalen kulturell geprägten Vorstellungen an? Ziel der Kampagne der Anführer der ugandischen Milizenorganisation Lord’s Resistance Army (LRA) Joseph Kony und seine Verbrechen müssen bekannt gemacht werden Wissen ist Macht Diagnostische Rahmung ▶ der Bürgerkrieg in Uganda als Problem der Rekrutierung von Kindersoldaten (nicht als Problem eines Bürgerkriegs zwischen der LRA und der ugandischen Regierung) ▶ Problem, dass niemand Joseph Kony kennt „The problem is: 99 per cent of the population do not know who Joseph Kony is.“ (13’20) Kinder als besonders schützenswerte Individuen und unschuldige Opfer Attribution von Verantwortung für die Rekrutierung von Kindersoldaten. ▶ Joseph Kony, als skrupelloser Milizionär, der keine politischen Ziele verfolgt. ▶ US-Regierung, die wegen des Fehlens strategischer Interessen in Uganda nicht gegen Kony vorgeht „He is not fighting for any cause, but only to maintain his power. He is not supported by anyone.“ (11’55) Kontrast „nationale Sicherheit“ versus „Menschenrechte“ „There is no way that the US would ever get involved in a conflict where our national security or financial interests aren’t at stake.“ (13’20) „That is what defines us.“ (14’45-14’52) ▶ Politik ist der Kampf um Macht zur Durchsetzung politischer Ziele, Politiker sind skrupellos ▶ Kony ist schlimmer als ein Politiker, er verfolgt keine politischen Ziele ▶ Außenpolitik ist im Allgemeinen an Interessen orientiert, nicht an grundlegenden Menschenrechten ▶ Außenpolitik sollte sich an gesellschaftlichen Zielen orientieren: Menschenrechte, Empathie und Solidarität Wissensbasierte Elemente der Kony 2012-Kampagne Tab. 8.3 <?page no="268"?> 253 K onstruKtIVIsmus a nwendunGsbeIspIel : d Ie K ony 2012-K ampaGne Einheit 8 Prognostische Rahmung Wissen und Solidarität verändern Politik! Wenn die Verbrechen Konys bekannt sind, kann niemand untätig bleiben → es findet eine soziale Mobilisierung statt → es entsteht sozialer Druck auf die US-Regierung → sie muss reagieren und in Uganda intervenieren → Kony wird gefangengenommen → Konys Festnahme ermöglicht seine Anklage → die Politik der Rekrutierung von Kindersoldaten wird beendet. „It is bad for the world if we fail.“ (20’37-20’47) ▶ das Wissen und die Handlungen eines Einzelnen können Politik nicht verändern ▶ kollektives Wissen und kollektives Handeln kann internationale Politik verändern Motivationale Rahmung ▶ Appell an die eigene Identität als soziale Individuen, die sich über den Schutz von Menschenrechten und Solidarität definieren ▶ mitmachen ist einfach („Tool-Kit“) ▶ nicht mitmachen ist unmoralisch ▶ Enddatum erzeugt Dringlichkeit Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft „reminds us what we have in common“ „connection changes the way the world works“ (0’30-1’40) „Who are you to end a war? I am here to tell you who you are not to.“ (3’40-3’45) Vokabular aus Ernsthaftigkeit der Lage, Dringlichkeit, Wirksamkeit, Anstand Kondensierende Bildsprache Kontrast „heile“ Welt vs. Kriegswelt Gewalttätigkeit der Milizen, Friedfertigkeit solidarischer Massen Plausibilitätsstruktur Heranwachsende Kinder in friedlichen Regionen; tagtägliche Hilflosigkeit gegenüber Gewalt und Unterdrückung <?page no="269"?> 254 K onstruKtIVIsmus 1. Welches sind die Kritikpunkte des Konstruktivismus an den ursprünglichen Theorien der Internationalen Beziehungen? Benennen Sie bei der Erklärung die Merkmale des internationalen Systems aus Sicht des Konstruktivismus. 2. Welche internationalen Kampagnen sind Ihnen bekannt? Analysieren Sie mit Hilfe des Analyserahmens eine Kampagne, die Sie kennen. 3. Erklären Sie das Akteur-Struktur-Problem. 4. Können soziale Strukturen kausale Wirkung entfalten? Beschreiben Sie mit eigenen Worten die sich gegenüberstehenden Antwortmöglichkeiten. 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Das Kapitel führt in die Grundannahmen des Poststrukturalismus ein, zeigt die Relevanz dieser Theorie für die Internationale Beziehung-Forschung auf und erläutert, welchen Beitrag sie zum Verständnis internationaler Politik leistet. Der Poststrukturalismus teilt mit dem Konstruktivismus die schwerpunktmäßige Beschäftigung mit kulturellen Ordnungsvorstellungen und Diskursen. In Abgrenzung zum Konstruktivismus liegt im Poststrukturalismus der Akzent aber mehr auf Sprache im weiteren Sinne und der Frage, wie diese selbst Wirklichkeit erzeugt. Bilder und Texte als Gegenstand internationaler Politik Internationale Politik (aber auch nationale Politik) wird in erster Linie medial vermittelt. Medien in jeder Form haben schon immer ganz zentral dazu beigetragen, wie wir andere Länder, deren Beziehungen zueinander und deren Bevölkerungen wahrnehmen. Das Wissen über die Bevölkerung Lateinamerikas zu Zeiten eines Christoph Kolumbus oder über Asien oder Australien beruhte auf den Reiseberichten einiger weniger Entdecker, Eroberer oder Literaten. Kriegsbeschreibungen wie die des Peloponnesischen Kriegs, der Ursprungserzählung des Realismus in der internationalen Politik (vgl. Einheit 3), sind uns nur als Text überliefert. Während uns als Rezipienten bei der Lektüre dieser Texte relativ schnell deutlich wird, dass die Beschreibung der historischen Realitäten ein stark subjektives Moment hat, nehmen wir dieses Moment bei Fotografien oder sogar Kameraaufnahmen oft nicht so bewusst wahr. Die ersten beiden Kriege, bei denen Fotografen auf dem Schlachtfeld anwesend waren und von denen es folglich Bilder gibt, waren der Krim- Krieg (1853-56) und der amerikanische Bürgerkrieg. 1862 zeigte der amerikanische Fotograf Matthew Brady erstmals Bilder des amerikanischen Bürgerkriegs in einer Ausstellung in New York. Die Bilder schockierten die New Yorker Öffentlichkeit. „Erstmals waren auf den Fotos Opfer des verlustreichen Kampfes zu sehen-- so schonungslos wie später nie wieder.“ (Grothe 2012) Durch die heutigen technischen Möglichkeiten scheint der Krieg nicht nur noch näher gerückt zu sein, sondern auch noch „realer“. Revolutioniert wurde die Kriegsberichterstattung durch die technische Verfügbarkeit von Smartphones und sozialen Netzwerken. Inzwischen werden auf den einschlägigen Internet-Plattformen täglich unzählige Videos von Bürgerkriegen hochgeladen, die uns den Krieg ganz unmittelbar näherbringen. Der Journalist oder die Journalistin als vermittelnde Person zwischen Realität und Bild entfällt. Aber ist unser Bild von Kriegen deshalb wirklich realitätsnäher Überblick 9.1 Mediale Vermittlung internationaler Politik <?page no="274"?> 259 Einheit 9 e ntwIcKlunG des p oststruKturalIsmus In den I nternatIonalen b ezIehunGen geworden? Wissen wir, von welchen Orten diese Videos jeweils stammen? Wissen wir, von wem sie stammen? Warum werden spezielle Bildsequenzen ausgewählt und was bestimmt diesen Prozess? Mediale Berichterstattung ist ein zentrales Phänomen internationaler Politik. Sie vermittelt Informationen und Neuigkeiten aus aller Welt auf eine besonders anschauliche und sehr greifbare Weise. Sie scheint unser Auge vor Ort zu sein, selbst wenn wir tausende Kilometer entfernt sind. Aber Fotografien und Filme sind zwangsläufig immer soziale Konstruktionen, die vom jeweiligen Kontext, aber auch von Aspekten wie der Bildkomposition, dem verwendeten Filmmaterial, Kamerawinkeln und dem Abstand zum Aufgenommenen oder auch der Verwendung von Musik abhängen. Die Herausforderung einer objektiven Berichterstattung in einer Extremsituation wie einem Krieg illustriert die ganz grundsätzliche Fragestellung: Was ist internationale Politik? Poststrukturalistische Theorien geben darauf eine Antwort, die zunächst überrascht, die aber vor dem Hintergrund der hier geschilderten Situationen plausibel ist: Internationale Politik ist ein Text. Denn auch wenn sich das Beispiel der Kriegsberichterstattung um mediale, genauer die visuelle Darstellung von realen Phänomenen dreht, stellen sich bei schriftlichen Darstellungen ähnliche Fragen: Wissen wir, ob es sich um eine objektive Beschreibung handelt? Können wir der Darstellung vertrauen? Wie können wir wissen, was daran real ist? Poststrukturalistische Ansätze antworten darauf, dass es prinzipiell nicht möglich ist, eine wie auch immer geartete wahre Abbildung zu produzieren. Ein Kernanliegen besteht darin zu untersuchen, wie Phänomene dargestellt werden und wie es dazu kommt, dass manche Beschreibungen realitätsnäher empfunden werden als andere. Poststrukturalismus und internationale Beziehungen Eine der Kernannahmen poststrukturalistischer Theorien lautet: Bilder und Texte stellen internationale Politik her. Daran nimmt der Fotograf oder die Journalistin ebenso teil wie Politiker, Wissenschaftlerinnen, Studierende, Zeitungsleser usw. Merke Entwicklung des Poststrukturalismus in den Internationalen Beziehungen Im Vergleich zu realistischen oder liberalen Theorien sind poststrukturalistische Ansätze in den Internationalen Beziehungen relativ neu. Poststrukturalistische Ideen begannen Ende der 80er Jahre mit dem Sammelband „International/ Intertextual Relations. Postmodern Readings of World Politics“ von Internationale Politik als Text 9.2 <?page no="275"?> 260 p oststruKturalIsmus James Der Derian und Michael J. Shapiro (Der Derian 1989), einen ernstzunehmenden Einfluss auf die Forschung in den IB zu gewinnen. Anstatt ihre Argumente auf traditionellen IB-Annahmen aufzubauen, wie wir sie vor allem von positivistischen Theorien wie etwa dem Realismus kennen, unterzogen die Autoren dieses Sammelbandes traditionelle Konzeptionen wie beispielsweise die zentrale Rolle des Staates oder die Annahme des anarchischen Zustands des internationalen Systems einer sorgfältigen Prüfung. Ähnlich wie beim Konstruktivismus war diese kritische Herangehensweise in erster Linie eine Reaktion auf die neuartigen globalen Entwicklungen und entsprechende Veränderungen in der internationalen Politik. Die mit dem Ende des Ost-West-Konflikts verbundene Zeitenwende stellte Annahmen konventioneller (und binär strukturierter) Theorien grundsätzlich in Frage. Während aber konstruktivistische Theorien in ihrer Kritik auf die Umwelt von Akteuren in Form einer Sozialstruktur fokussieren, widmen sich poststrukturalistische Theorien stärker der Darstellung internationaler Politik. Vertreter kritisierten die dominanten Theorien des Strukturellen Realismus und Institutionalismus dafür, dass sie an der Annahme von Staaten als einzig bedeutenden Akteuren des internationalen Systems festhielten. Damit schrieben sie die Hegemonie des Staates, seiner Souveränität und bestimmter staatlicher Praktiken fest. Tatsächlich würden damit Hierarchien aufrecht erhalten werden, der Staat würde ein souveränes Privileg erhalten, das andere Akteure und andere souveräne Praktiken, die es historisch immer gegeben hat, systematisch ausschließe. Einer der Ausschlussmechanismen, die sie identifizierten, war der durch eine wissenschaftliche Gemeinschaft praktizierte Wissenschaftsdiskurs, der Der Poststrukturalismus wurde Ende der 1960er Jahre in Frankreich in Auseinandersetzung mit dem klassischen Strukturalismus (v. a. von Ferdinand de Saussure) entwickelt. Er versteht sich als Methode, als ein „Feld kulturwissenschaftlich orientierter analytischer Instrumentarien“ (Moebius 2008: 114), mit denen die Funktionsweise von Kultur und ihre historische Dynamik sowohl theoretisiert als auch kritisch analysiert werden können. In den Internationalen Beziehungen fand dieser Ansatz zuerst Anfang der 1980er Jahre Eingang. Dort kritisierten Poststrukturalisten die Fixierung der Disziplin nicht nur bezüglich der Beschaffenheit des internationalen Systems in Form der Anarchie, in dem Staaten die einzigen Akteure darstellten. Sie kritisierten auch die damit verbundene Fixierung der Disziplin auf eine bestimmte Theorie der Internationalen Beziehungen: den Strukturellen Realismus und den damit einhergehenden Ausschluss seiner Kritiker und deren Darstellungen alternativer „Lesarten“ des internationalen Systems (Ashley 1984; Ashley/ Walker 1990). Poststrukturalismus als Methode der Analyse von kulturellen Ordnungsvorstellungen <?page no="276"?> 261 e ntwIcKlunG des p oststruKturalIsmus In den I nternatIonalen b ezIehunGen Einheit 9 kritische Methoden und ihre Vertreter als „unwissenschaftlich“ abqualifizierte und dadurch marginalisierte (Ashley/ Walker 1990: 368). Insofern hatten Poststrukturalisten in den IB zunächst also vor allem das ethische Anliegen, sowohl Akteure der internationalen Politik als auch Wissenschaftler/ innen, die durch hegemonialen Diskurs über internationale Politik an den Rand gedrängt waren, in Analysen internationaler Politik einzubeziehen. Unter Poststrukturalismus werden verschiedene Theoriekonzepte zusammengefasst, die die sprachtheoretischen Grundannahmen des Strukturalismus aufnehmen (vgl. unten), diese aber weiterentwickeln. Er steht im Zusammenhang mit der so genannten „kulturellen“ und „linguistischen Wende“ (Rorty 1967) in den Sozialwissenschaften, die sich bewusst gegen die Überbetonung materieller Strukturen für die Erklärung sozialer Phänomene wenden, wie im Strukturellen Realismus (vgl. Einheit 3) und Marxismus (vgl. Einheit 5). Beide Paradigmenwechsel bezeichnen die Abkehr von der Auffassung, dass Kultur lediglich ein Überbauphänomen gegenüber dem Sozialen oder Materiellen sei („Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ (Marx)). Das Soziale ist von Anfang an kulturell, sinnhaft und symbolisch strukturiert (Moebius/ Reckwitz 2008: 19). Der Poststrukturalismus steht auch im Zusammenhang mit einer grundsätzlichen Kritik am wissenschaftlichen Positivismus (Schnädelbach 1992). Dieser ist in den Sozialwissenschaften mit einer methodischen Herangehensweise assoziiert, die sich an den Naturwissenschaften orientiert und kausale Ursache-Wirkungszusammenhänge aufdecken möchte. Die kritische Bewegung dazu bezeichnet sich als Post-Positivismus und betont die Instabilität, Nichtdeterminierbarkeit und Unterbestimmtheit sozialer Prozesse (vgl. Einheit 3). Der Begriff Poststrukturalismus wird in den Internationalen Beziehungen häufig synonym mit den Begriffen Postmoderne, Post-Positivismus oder sogar manchmal Konstruktivismus benutzt. Selbst einige Poststrukturalisten in den IB bezeichnen sich als postmodern (Ruggie 1993; Albert 1994; Diez 1996). Poststrukturalistische Ansätze können durchaus als Teil der Postmoderne gesehen werden. Während der Begriff Postmoderne in aller Regel den Zustand der abendländischen Gesellschaft nach der Moderne (und hier v. a. den Prozess der Ausdifferenzierung westlicher Gesellschaften nach 1960) bezeichnet, und zudem eher mit Kunst oder mit Kultur- und Literaturwissenschaften verbunden wird, lassen sich poststrukturalistische Ansätze als interpretatorische Analytik verstehen, die sich kritisch mit den Veränderungen der Moderne und ihren gesellschaftlichen Folgen auseinandersetzt (Campbell 2010: 222). Postmoderne oder Poststrukturalismus? <?page no="277"?> 262 p oststruKturalIsmus Keine substantiellen Annahmen über internationale Beziehungen Der Poststrukturalismus ist nicht als Theorie zu verstehen, sondern als kritischer Ansatz, der die Bedeutung von Zeichen, der Sprache und der konkreten Sprachpraxis für die Entstehung von Ideologien und Wissensordnungen untersucht (Keller u. a. 2006: 11). Insofern werden - ähnlich wie im Konstruktivismus - keine substantiellen Aussagen über zentrale Akteure oder die Beschaffenheit internationaler Politik getroffen. Merke Ein zentraler Begriff ist in diesem Zusammenhang der des Diskurses als eine Form der Repräsentation von gesellschaftlichen Sinnstrukturen. Alles, was wir wissen, „ist über sozial konstruiertes, typisiertes und in unterschiedlichen Graden als legitim anerkanntes und objektiviertes Wissen vermittelt“ (Keller 2001: 114). Wie diese Konstruktionsprozesse ablaufen, welche Regeln und Ressourcen ihn definieren, welche sozialen Akteure darin eingebunden sind, und welche Folgen sie für soziale Kollektive haben, ist Gegenstand der Diskursforschung (Keller 2004: 8). Die verschiedenen Formen des Poststrukturalismus werden jedoch zum einen durch spezifische philosophische Grundlagen und zum anderen durch eine generell kritische Haltung gegenüber dem klassischen Strukturalismus, der Moderne und der Postmoderne zusammengehalten. Michel Foucault (1926-1984) war ein französischer Philosoph, der als Begründer der Diskursanalyse gilt. Zu seinen bekanntesten Werken zählen u. a. „Wahnsinn und Gesellschaft“ (1961), „Die Ordnung der Dinge“ (1966) und „Archäologie des Wissens“ (1969). Foucault interessierte die Frage, wie Wissen entsteht und Gültigkeit erlangt. Hierzu analysierte er die Struktur bestimmter Ordnungen des Wissens, die in Aussagensystemen unserer Diskurse widergespiegelt werden, um herauszufinden, wie es zu der Herausbildung von Wahrheiten und unserem Verständnis von Wirklichkeit kommt. Diskurse unterliegen bestimmten Formationsregeln, die Objekte, Typen von Äußerungen, Begriffe und thematische Äußerungen festlegen. Diese Formationsregeln beziehen sich nicht auf die sprachlich-grammatikalische Ebene, sondern auf die Regeln der Bedeutungserzeugung und die institutionell eingebetteten und stabilisierten Praktiken der Diskursproduktion. Für ihn ist Wissen und Diskurs eine Form von Macht. Nicht alles, was sich sagen ließe, wird gesagt. Nicht überall kann alles gesagt werden. Es sind Ausschlussmechanismen, die hier wirken. Michel Foucault <?page no="278"?> 263 u nterschIede zwIschen s truKturalIsmus und p oststruKturalIsmus Einheit 9 Sprache als Schlüsselkonzept des Poststrukturalismus Alle poststrukturalistischen Ansätze gehen von der Annahme aus, dass sich die Funktion von Sprache nicht darin erschöpft, lediglich Hilfsmittel zu sein, mit der wir eine äußerliche und unabhängig von ihr selbst bestehende Bedeutung transportieren. Sieht eine Person einen Baum, ist Sprache nicht nur das Medium, das es der Person ermöglicht, die Bedeutung von „Baum“ an eine andere Person zu kommunizieren. Die Person ist auch nicht die Quelle der Bedeutung „Baum“. Sprache ist selbst eine Bedeutungsstruktur, die aus Merkmalen von Zeichen und differentiellen Beziehungen zu anderen Zeichen besteht. Nicht der Mensch generiert also Bedeutungen, sondern Sprache selbst. Poststrukturalismus ist als direkte Kritik und Weiterentwicklung des klassischen Strukturalismus zu verstehen und wird mit diesem in Verbindung gebracht. Strukturalisten analysieren die soziale und kulturelle Konstruktion der vielfältigen Strukturen, die unser alltägliches Leben mit Bedeutung versehen. Es geht um die Frage, welche Rolle symbolische Ordnungen für die Vermittlung gesellschaftlicher Weltverhältnisse spielen. Unterschiede zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus Der Strukturalismus nach Saussure versteht Sprache als ein Zeichensystem, das die grundlegende Struktur für alle anderen Formen von Organisation unserer Wirklichkeit liefert (Moebius/ Reckwitz 2008: 11). Bedeutung wird über Zeichen vermittelt. Jedes Zeichen besteht aus einer Verbindung von zwei zentralen Elementen, dem Signifikant (Signifiant) und dem Signifikat (Signifié). Der Signifikant (das Bezeichnende) ist das gesprochene oder geschriebene Wort (wie z. B. „Baum“), das etwas bezeichnet. Das Signifikat (das Bezeichnete) bezieht sich dagegen auf die dahinter liegende Vorstellung oder das repräsentierte Phänomen; es ist das, was bezeichnet wird. 9.3 9.4 Signifikant Signifikat gesprochenes/ geschriebenes Wort Vorstellung/ repräsentiertes Konzept BAUM Sprache als Zeichensystem im Strukturalismus nach de Saussure Tab. 9.1 <?page no="279"?> 264 p oststruKturalIsmus Nach Saussure ist es aber nun nicht die Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat, die erschließt, welche Bedeutung ein Zeichen hat, sondern nur die Beziehung und die Differenz zu anderen Signifikanten. Das Verhältnis zwischen Signifikant und Signifikat ist arbiträr, also nur durch Vereinbarung entstanden, aber stabil. Dass es arbiträr ist, kann man an dem Umstand verdeutlichen, dass andere Kulturen für dasselbe Signifikat Signifikanten wie „tree“ oder „arbre“ verwenden. Dass es stabil ist wird daran deutlich, dass das dahinterstehende Konzept immer ein materieller Baum bleibt. Des Weiteren erhält der Signifikant „Baum“ seine Bedeutung überhaupt erst durch die Kontrastierung mit anderen Signifikanten (wie „Raum“, „beim“ oder „Bauch“). Bedeutung ist somit nicht ein der Sprachstruktur äußerlicher Sinn, sondern sie wird in der Sprachstruktur selbst produziert. Sprache konstituiert Differenzen und Relationen Daraus schließen strukturalistische wie auch poststrukturalistische Ansätze, ▶ dass Sinnzusammenhänge durch Differenzen und Relationen konstituiert werden und nicht Abbildungen und Repräsentationen einer vorsprachlichen Wirklichkeit sind. ▶ Alle kulturellen und sozialen Phänomene werden ähnlich gedacht wie Saussures Verbindung von Signifikat und Signifikant (de Saussure 2001: 105). Ihr Sinn ergibt sich erst aus ihrer differentiellen Beziehung zu anderen Phänomenen in einem kulturellen System (de Saussure 2001; Quadflieg 2008). Merke Der zentrale Unterschied zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus besteht darin, dass der Poststrukturalismus das Verhältnis zwischen Signifikat und Signifikant als instabil betrachtet und nicht mehr als stabil. Der Signifikant „Baum“ bezeichnet also nicht mehr den materiellen Baum, sondern diese Bedeutung verschiebt sich permanent. Dies mag für das Verhältnis des Signifikanten „Baum“ zu seinem Signifikat, dem realen Baum, nicht unmittelbar einleuchten, es wird aber deutlich, wenn man sich ideellen Konzepten wie „Souveränität“ zuwendet. Das Verhältnis des Signifikanten „Souverän“ zu seinem Signifikat unterliegt historisch einem Wandel. Bis ins 18. Jahrhundert bezeichnete „souverän“ einen König, also eine tatsächlich existierende Herrscherperson, heute bezeichnen wir damit den Staat oder das Volk (Volkssouveränität). Die Bedeutung des Wortes „Souveränität“ hat sich also verschoben. Die Annahme, dass sich unsere Welt nur über Sprache oder Diskurse manifestiert, verändert die Art der Fragen, die Politikwissenschaft im Allgemeinen und Internationale Beziehungen im Besonderen stellt: <?page no="280"?> 265 u nterschIede zwIschen s truKturalIsmus und p oststruKturalIsmus Einheit 9 ▶ Wenn sich kulturelle Ordnungen nicht mehr über eine wie auch immer geartete materielle Struktur bestimmen und durch diese stabilisiert werden, sondern nur noch durch sprachliche Äußerungen, wie entstehen sie dann, wie stabilisieren sie sich, und wie wandeln sie sich? ▶ Wie verändert sich unser Konzept von Macht, wenn es nicht mehr über die Verteilung materieller Ressourcen definiert ist? ▶ Wie wird Macht durch Texte ausgeübt, wer hat Macht, wie kommt jemand zu Macht, wie wird sie stabilisiert? Die drei Hauptthemen poststrukturalistischer Analyse haben also immer mit der Entstehung von symbolischen, kulturellen und sozialen Ordnungen zu tun, mit ihrer Stabilisierung und mit ihrem Wandel durch Sprache. Konzeption von Signifikat und Signifikant im Strukturalismus (oben) und Poststrukturalismus (unten) Abb. 9.1 und 9.2 <?page no="281"?> 266 p oststruKturalIsmus Wie stabilisiert und destabilisiert Sprache das internationale System als kulturelle Ordnung? Trotz aller Unterschiede innerhalb poststrukturalistischer Ansätze lassen sich sechs konzeptuelle Grundannahmen identifizieren, die den Poststrukturalismus einen (Moebius/ Reckwitz 2008: 13-18) und die sich auch in poststrukturalistischen Ansätzen der Internationalen Beziehungen finden. Diese beziehen sich auf das Spiel von Zeichen und die sich selbst destabilisierende Logik der Kultur, auf die Performativität von Diskursen, auf die Mechanismen von Macht und Hegemonie, auf das konstitutive Außen als Grundlage für Identität und die widersprüchlichen kulturellen Mechanismen asymmetrischer Differenzmarkierungen, auf die Verzeitlichung und historische Entuniversalisierung und auf Subjektivierungsformen. Poststrukturalisten betrachten die Bedeutungskonstruktion als „Spiel von Zeichen“. Der Ausdruck „Spiel von Zeichen“ geht auf Jacques Derrida zurück, der den Strukturalismus mit seiner Annahme, dass auch die Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat nicht stabil ist, radikalisiert hat. Das „Spiel von Zeichen“ heißt nichts anderes, als dass Sprache eine reine Verweisstruktur zwischen Signifikanten ist. Insofern als diese kulturelle Signifikationssysteme und Wissensordnungen erzeugen, unterliegen diese Systeme einer permanenten Destabilisierung, ständiger Selbstdekonstruktion, Scheitern und der Produktion von neuartigen, unberechenbaren Sinnelementen. Dieser Prozess wird nur zeitweilig durch kulturelle Stabilisierungen und durch scheinbar alternativlose kulturelle Ordnungen gestoppt. Jacques Derrida (1930-2004) ist als Begründer und Hauptvertreter der Dekonstruktion bekannt geworden. Dekonstruktion ist einerseits ein philosophischer Ansatz, andererseits eine Methode zur Interpretation von Texten. Es geht darum, Gegensätze, Widersprüche und Hierarchien in (philosophischen) Texten aufzudecken und zu zeigen, dass sich diese Texte - genau wie literarische Texte auch - selbst dekonstruieren. Scheinbar neutrale und feststehende Konzepte, die innerhalb unseres Sprachgebrauchs bestehen, sind nach Derrida nichts weiter als künstliche Konstruktionen. Entsprechende Gegensatzpaare wie etwa Mann/ Frau, Natur/ Kultur, wahr/ falsch oder gut/ böse werden dementsprechend dekonstruiert. Bei der Dekonstruktion geht es darum, diese Art von vorherrschenden binären Begriffspaaren rückgängig zu machen, um aufzuzeigen, welche entscheidende Rolle die Abgrenzung beziehungsweise Ausschließung des zweiten Begriffes für die Bedeutung des ersten Begriffes einnimmt. Jacques Derrida 9.5 <?page no="282"?> 267 Einheit 9 (d e )s tabIlIsIerunG Von s prache In poststrukturalistischen Theorien werden Diskurse nicht nur als Text betrachtet, sondern als Handlungen, als performative Praktiken. Mit dieser Annahme weisen Poststrukturalisten darauf hin, dass Diskurse die Objekte konstituieren, von denen sie sprechen. „Die Tatsache, dass jedes Objekt als ein Objekt innerhalb eines Diskurses konstituiert ist, hat nichts damit zu tun, ob es eine Welt außerhalb des Denkens gibt-[…]. Was verneint wird ist nicht, dass Objekte unabhängig von Denken existieren, verneint wird, dass sie sich selbst als Objekte unabhängig von Diskursen konstituieren können.“ (Laclau/ Mouffe 1985: 108). Das bedeutet nicht, dass alles nur Sprache ist, es keine Realität gibt und die Welt nicht voller Dinge ist, die tatsächlich existieren oder geschehen. Es ist nach Auffassung von Poststrukturalisten nur nicht möglich, sich in der Wahrnehmung von Wirklichkeit jenseits der Sprache beziehungsweise jenseits von Diskursen zu bewegen (Sarasin 2001: 59). Ein Beispiel dafür wurde oben bereits eingeführt: Die permanente Betonung des Staates als zentralem Akteur der internationalen Beziehungen führt dazu, dass dieser immer wieder als Objekt konstituiert wird und dass internationale Beziehungen ohne Staaten nicht mehr denkbar sind. Internationale Politik konstituiert dann Praktiken, die auf die Herstellung des Staates als Akteur abzielen, wie die Unterstützung staatlicher Kapazitäten bei fragilen Staaten. Poststrukturalisten grenzen sich dabei vom Begriff der Konstruktion von Wirklichkeit ab, wie ihn die Konstruktivisten benutzen. Konstruktivisten halten am Dualismus von Akteur und Struktur fest, was-- nach Auffassung von Poststrukturalistinnen-- suggeriert, dass Akteure zum Zeitpunkt der Konstruktion von Wissen außerhalb von Diskursen stehen und Kontrolle über kulturelle Symbolik haben (Butler 2006). Sie können Bedeutungen nicht neu generieren, sondern greifen dabei immer auf schon vorhandene Bedeutungsstrukturen und Wissen zurück. Innen - innerhalb des Staates ↔ Außerhalb - das Internationale Ordnung ↔ Anarchie Gemeinschaft ↔ Differenz Vernunft ↔ Macht Vertrauen ↔ Misstrauen Fortschritt ↔ Wiederholung Kooperation ↔ Selbsthilfe Recht ↔ Kapazitäten Frieden ↔ Krieg Die Innen-Außen- Dichotomie in den Internationalen Beziehungen und ihre stabilisierenden Oppositionen Tab. 9.2 <?page no="283"?> 268 p oststruKturalIsmus Eine der wichtigsten Methoden des Poststrukturalismus ist die der Dekonstruktion. Dekonstruktion nach Jacques Derrida heißt, dass die in Diskursen eingebetteten Ordnungsvorstellungen analysiert und vor allem die in ihnen eingebetteten Begriffe einzeln und in Beziehung zueinander untersucht werden. Poststrukturalistische Dekonstruktion wird auf zwei unterschiedliche Arten praktiziert (Zehfuss 2002: 202-204): Bei der ersten Art besteht die Vorgehensweise darin, formal-logische Paradoxe eines Diskurses aufzuzeigen. Einen Diskurs zu dekonstruieren bedeutet demnach zu zeigen, wie der Diskurs die Philosophie, die er geltend macht, oder die hierarchischen Oppositionen, auf denen er aufbaut, selbst unterläuft. Bei der zweiten Art der Dekonstruktion besteht die Vorgehensweise darin, auf die differentielle Macht der Bedeutungszuweisung und auf ihre Widersprüchlichkeit hinzuweisen. Es geht nicht darum, einen Autor bloßzustellen, sondern darauf aufmerksam zu machen, dass das, was die Autorin in einem Text beschreibt und sieht, notwendig ist und systematisch damit zusammenhängt, was die Autorin nicht sieht. Dekonstruktion legt die Voraussetzungen bestimmter Stellungnahmen offen. Dekonstruktion als poststrukturalistische Methode Eng damit verbunden sind die Analyse von Machtprozessen, das Konzept des konstitutiven Außens und die Historisierung von Strukturen. Macht ist ein Fixpunkt vieler poststrukturalistischer Analysen, aber der Machtbegriff unterscheidet sich von dem des Strukturellen Realismus. Während dieser Macht materiell definiert, als Verfügung über Waffen, Bevölkerung oder Wirtschaftsleistung, geht es im Poststrukturalismus, ähnlich wie im Neo-Gramscianismus, um kulturelle Macht. Zum einen interessieren sich Poststrukturalist(inn)en für Macht als einen Mechanismus, der dazu führt, dass sich kulturelle Ordnungen vorübergehend gegenüber Veränderungen schließen und sich uns als alternativlos präsentieren. Das Konzept der kulturellen Hegemonie spielt hier eine Rolle, aber auch Naturalisierungsdiskurse, durch die eine Naturhaftigkeit sozialer Phänomene unterstellt wird, die tatsächlich sozial produziert sind. Zum anderen interessieren sich Poststrukturalisten für Macht als einen Mechanismus, der derartige Sinnfixierungen wieder aufbricht. Die Betonung von Ausschließungen und der diskursiven Öffnung in poststrukturalistischen Ansätzen impliziert dabei ein anderes Verständnis von Macht als in realistischen oder instititutionalistischen Theorien. Macht ist die Fähigkeit, etwas Neues durchzusetzen, sie manifestiert sich in der Allgegenwärtigkeit und Beweglichkeit sozialer Kräfte und in symbolischen Konflikten über Bedeutungsinhalte. Die Kony-Kampagne aus Einheit 8 liefert dafür ein gutes Beispiel: Macht wird darüber erzeugt, dass Bedeutungsinhalte verändert werden: Außenpolitik ist nicht etwas anderes als Innenpolitik, sondern <?page no="284"?> 269 Einheit 9 (d e )s tabIlIsIerunG Von s prache in ihr sollten die gleichen Werte zum Ausdruck kommen, wie sie auch im Inneren von Staaten verfolgt werden. Ein für die poststrukturalistische Analyse in den Internationalen Beziehungen wichtiges Konzept ist das eines konstitutiven Außen. Es ist ein zentraler Bestandteil der Praxis der Dekonstruktion bei Derrida. Dabei geht es um das Sichtbarmachen des ausgeschlossenen Anderen in Diskursen über bestimmte Phänomene. Die Idee dabei ist, dass jede Ordnung und Struktur und jede Institution nur dauerhaft existieren kann, indem sie sich von einem Anderen, einem Außen abgrenzt. Konstitutives Außen Das Außen ist konstitutiv, weil es notwendigerweise ausgeschlossen werden muss, damit die symbolische Ordnung sich ihrer Reinheit vergewissern kann. Auch der Konstruktivismus interessiert sich für diese Art von Differenzen. Poststrukturalistische Theorien radikalisieren diese Idee aber, weil sie davon ausgehen, dass das Innen nicht ohne das Außen existieren kann und sich beides bedingt. Wiederum sind es die Ausschlussmechanismen, für die sich Poststrukturalisten interessieren. Das „Innere“ assoziieren wir immer mit uns selbst - etwas, das grundlegend, ursprünglich oder gut ist -, während wir das „Äußere“ mit dem anderen verbinden - etwas, das abgeleitet, sekundär oder gefährlich ist. Diese Einordnung hängt fest mit der Funktionsweise unserer Kultur zusammen. Merke In den Internationalen Beziehungen wird in diesem Zusammenhang immer wieder auf das Begriffspaar Souveränität und Anarchie verwiesen. Anarchie wird eben nicht nur mit Abwesenheit einer zentralisierten Institution mit einem Gewaltmonopol gleichgesetzt, sondern oftmals auch mit Chaos und Gewalt. Diese Gleichsetzung stabilisiert gleichzeitig den Staat (Ashley/ Walker 1990). Schließlich erfahren die Konzepte Subjekt, Subjektivität und Identität im Poststrukturalismus eine charakteristische Wendung, die als Dezentrierung des Subjekts beschrieben wird. Sie steht in einem klaren Kontrast zur Subjektkonzeption anderer Theorien der internationalen Beziehungen, inklusive konstruktivistischer Theorien. Konventionelle Theorien der internationalen Beziehungen beruhen in ihren Handlungsannahmen entweder auf Theorien des Rational Choice und dem Homo oeconomicus (Realismus, Neoliberalismus, liberale Theorien) oder auf soziologischen Theorien und dem damit verbundenen Bild des sich an kulturellen Strukturen orientierenden Homo sociologicus (vgl. Einheit 8). Alle diese Theorien basieren auf der Idee, dass dem Subjekt Rationalität zu eigen ist, dass es denkt und ein Bewusstsein hat und dass diese Eigenschaften universell und überzeitlich sind. Konstruktivis- Konstitutives Außen <?page no="285"?> 270 p oststruKturalIsmus tische Theorien betonen darüber hinaus die Rolle von Identität, die erklärt, wie sich das Individuum an gesellschaftliche Rollenerwartungen anpasst (vgl. Einheit 7). Poststrukturalistische Theorie bricht hier insofern mit diesen Annahmen, als sie auch diese als ein Ergebnis historisch spezifischer kultureller und historischer Prozesse betrachtet, über die sich unterschiedliche Vorstellungen von Subjektivität herausbilden. Dieser Prozess wird als Herausbildung von Subjektivierungsformen bezeichnet. Logik des Konsequentialismus und Logik der Angemessenheit sind nur jeweils unterschiedliche Subjektivierungsformen, die in die kulturelle Ordnung eingebettet sind. Indem sich der einzelne bestimmten kulturellen Ordnungen unterwirft, die ihm körperlich und psychisch die Merkmale akzeptabler Subjekthaftigkeit ‚einschreiben‘, kann er erst jene Kompetenzen von Selbstregierung, Expressivität, rationaler Wahl etc. herausbilden, die ein Subjekt ausmachen sollen. (Reckwitz 2008: 78) In Bezug auf Identität bedeutet das, dass die konstruktivistische Annahme, Identitäten würden durch Sozialisation in einem relativ stabilen, normativ aufgeladenen Kontext herausgebildet, gelockert, wenn nicht sogar aufgegeben wird. An ihre Stelle tritt die eigene Identifizierung des Subjekts mit bestimmten Eigenschaften in Abgrenzung und Differenz zu anderen (Reckwitz 2008: 79). Diskurse konstituieren bei Foucault auch Subjekt-Positionen: Sie legen fest, wer legitime und nicht-legitime Sprecher sind. Wiederum steht im Vordergrund, über welche sprachlichen Äußerungen diese Subjekt-Positionen hergestellt werden. Materielle oder nicht-sprachliche Elemente erschließen sich uns nur über diskursive Praktiken. Daraus ergibt sich auch, dass ein Diskurs nicht etwas ist, über das ein Subjekt spricht, um ein Objekt-- das soziale Phänomen, welches wir betrachten-- einfach nur zu beschreiben. Ein Diskurs konstituiert beide gleichermaßen. Der Wissenschaftsdiskurs über Armut konstituiert eine Person als Wissenschaftler und das Phänomen einer hungernden Bevölkerung als Armutsproblem, für das Wissenschaftlerinnen Lösungen entwickeln sollen. Aus diesem Grund liegt der Fokus poststrukturalistischer Forschung auf sozialen Praktiken, die durch Einbeziehen oder Ausschließen die Bedeutung sozialer Phänomene überhaupt erst produzieren. In realistischen und institutionalistischen Theorien der IB ist der Staat ein real existierendes Phänomen und der maßgebliche Akteur der internationalen Beziehungen, der bestimmte Qualitäten aufweist, wie ein Gewaltmonopol oder die Herrschaft über ein territorial begrenztes Gebiet mit einem Staatsvolk. Für einen Post- <?page no="286"?> 271 Einheit 9 d eKonstruKtIon Von t heorIen der I nternatIonalen b ezIehunGen strukturalisten wie David Campbell (Campbell 2010: 226) existiert der Staat als solcher aufgrund einer Vielzahl diskursiver Praktiken, die Einwanderungspolitik, kulturelle Debatten, Militäreinsätze, politische Reden und ökonomische Investitionen einschließen. Kernannahmen poststrukturalistischer Theorien ▶ Internationale Beziehungen „existieren“ nicht unabhängig von Texten und Diskursen, die „internationale Beziehungen“ erst als Subjekt konstituieren. ▶ Internationale Politik ist eine Serie von Repräsentationen und Praktiken, durch die Bedeutungen produziert, Identitäten konstituiert und Ergebnisse mehr oder weniger möglich werden. ▶ Bedeutungszuschreibungen sind durch binäre Gegensatzpaare - Dichotomien - strukturiert, die durch innen/ außen-Unterscheidungen gekennzeichnet sind; Bedeutung ergibt sich auch über das, was sie nicht ist. ▶ Die wichtigsten Akteure sind Individuen, die durch ihre Texte, Diskurse und Praktiken Repräsentationen der internationalen Beziehungen erschaffen. ▶ Welche Bedeutung sich durchsetzt ist eine Frage der Macht, die im Diskurs selbst begründet ist. Macht ist in diesem Sinne produktiv, sie produziert erst bestimmte (politische) Subjekte. Dekonstruktion von Theorien der Internationalen Beziehungen durch Poststrukturalisten Maja Zehfuss (Zehfuss 2002) geht in ihrem Buch „Constructivism in International Relations: The Politics of Reality“ der Frage nach, wie es möglich ist, dass Deutschland Ende der 1990er Jahre einen offensichtlichen Identitätswandel vollzogen hat. Hierzu betrachtet sie Deutschlands Richtungswechsel nach dem Ende des Kalten Kriegs, sein Militär im Ausland einzusetzen und sich an internationalen humanitären Interventionen zu beteiligen, also einer Abkehr von Deutschlands Identität und Rollenverständnis als Zivilmacht, die bis dahin außenpolitisch auf den Einsatz militärischer Mittel verzichtete (Maull/ Kirste 1996). Allerdings will sie diesen Identitätswandel nicht erklären. Sie untersucht anhand von drei konstruktivistischen Ansätzen (Alexander Wendt, Friedrich Kratochwil und Nicolas Onuf) wie diese Theorien den Identitätswandel erklären und zeigt, dass jede der drei Theorien sich im Zuge der Erklärung selbst dekonstruiert und ihre eigenen Annahmen widerlegt. Dadurch werden zentrale Prinzipien der Dekonstruktion nach Derrida aufgezeigt. Das poststrukturalistische Verständnis von Identität als im Diskurs wandelbar und sein Fokus auf ausgeschlossene Andere stellt-- so Zehfuss-- das bessere analytische Instrumentarium zur Verfügung. 9.6 <?page no="287"?> 272 p oststruKturalIsmus Ein sehr gutes Beispiel dafür, wie poststrukturalistische Konzepte in der Disziplin der Internationalen Beziehungen angewendet werden, ist der Artikel „Territoriality and beyond: problematizing modernity in international relations“ (Ruggie 1993) des amerikanischen Politikwissenschafters John Gerard Ruggie (* 1944) (der Artikel findet sich auch im Online-Content zum Lehrbuch). Dieser Artikel schließt sehr gut an den geschichtlichen Überblick in Einheit 1 an, da in ihm die Geschichte der internationalen Beziehungen im Übergang vom Mittelalter zur Moderne spezifisch poststrukturalistisch interpretiert wird, was ihn als Referenztext für diese Einheit besonders geeignet macht. Ruggie stellt in dem Artikel zunächst fest, dass es Politikwissenschaftlern nach dem Ende des Ost-West-Konflikts offenbar sehr schwer fällt, internationale Beziehungen ohne den Westfälischen Staat zu theoretisieren. Solange es kein vollwertiges funktionales Substitut für den Staat gebe, würden viele Politikwissenschaftlerinnen sich schlichtweg weigern anzuerkennen, dass das internationale System einem fundamentalen Wandel unterliege. Ruggies Strategie besteht nun genau darin aufzuzeigen, wie das westfälische Staatensystem sich an einem bestimmten historischen Umschlagpunkt entwickelt. Damit dekonstruiert er die zentralen Annahmen neorealistischer und institutionalistischer Theoriebildung: Die Annahme des Staates als Akteur, der auf seine materielle Umwelt reagiert, sich strategisch verhält und als einheitlicher Akteur aufgefasst werden kann. Er kontrastiert dafür zwei historische Epochen: das Mittelalter und den Übergang zum westfälischen Staatensystem. Dadurch gelingt es ihm, drei Prozesse aufzuzeigen: Die prinzipielle Veränderbarkeit des internationalen Systems, den Ursprung einer modernen Konzeption von Staatlichkeit innerhalb eines bestimmten historischen Kontextes und die Historizität des Subjektbegriffs. Ruggie zeigt, dass sich das in den IB verwendete Verständnis von Staatlichkeit und die Vorstellung, dass Staaten die wichtigsten Akteure der internationalen Politik seien, über den Begriff von Territorialität mit seiner Bedeutung „Herrschaft über ein begrenztes Territorium“ erschließt. Staatlichkeit hatte diese Bedeutung aber historisch betrachtet nicht immer, was in der differentiellen Betrachtung zum Mittelalter deutlich wird, in dem es weder ein Konzept von territorialer Herrschaft, noch ein Konzept von Staat gab. Charakteristisch für das Mittelalter war das System der überlappenden Autoritäten, bei der sich verschiedene Autoritäten eben nicht wechselseitig ausschlossen. Autorität war personalisiert, fragmentiert und umfasste selten zusammenhängende Territorien. Grenzen bildeten sich erst im Übergang zum 17. Jahrhundert heraus. Erst mit einer zunehmenden Zentralisierung des Staates konnte sich die Idee eines souveränen Staates herauskristallisieren. Als illustrativ für den Bruch im Souveränitätsverständnis betrachtet http: / / openilias. uni-goettingen.de/ lehrbuch_IB Internationale Beziehungen ohne Staat <?page no="288"?> 273 Einheit 9 d eKonstruKtIon Von t heorIen der I nternatIonalen b ezIehunGen Ruggie die Einführung eines staatlichen Gewaltmonopols. Dessen historische Bedeutung wird klar, wenn man bedenkt, dass vor seiner Einführung ganze soziale Klassen bewaffnet waren und physische Gewalt willkürlich anwenden konnten. Nach Außen manifestierte sich das neue Verständnis von Souveränität in einem exklusiven Kriegsführungsrecht von Souveränen. Ruggie zeigt hier, wie das Konzept der Differenziellen Zuweisung von Bedeutung sinnvoll auf die Geschichte der internationalen Beziehung angewendet werden kann. Auch die materielle Umwelt von Staaten als wichtige Determinante moderner Theorien der internationalen Beziehungen habe sich im Verlauf der Zeit geändert, vor allem durch die Einführung stehender Heere. Diese seien selbst erst durch die Umstellung auf ein frühkapitalistisches Produktionssystem und die Verfügbarkeit von Geld, das Souveräne dazu befähigte, stehende Heere zu unterhalten, möglich geworden. Strategisches Verhalten mit seiner grundlegenden Annahme, dass die Grundlage für Entscheidungen die Höhe des privaten Nutzens sei, habe sich erst mit der Herausbildung bestimmter sozialer Akteure im Mittelalter entwickeln können. Anreiz- und Gelegenheitsstrukturen, die eine individuelle Kosten- und Nutzenkalkulation ermöglichen, hätten sich erst mit einem rudimentären kapitalistischen System herausgebildet. Mittelalterliche Märkte haben dabei eine wesentliche Rolle gespielt, weil sie es Kaufleuten ermöglichten, Steuern zu erheben und dadurch unabhängiger vom König zu werden. Die moderne Konzeption des Staates als einheitlicher, rationaler Akteur sei denkbar geworden, weil diese Konzepte durch Wissenschaftsgemeinschaften, vor allem politischen Theoretikern wie Niccolò Machiavelli und Thomas Hobbes, definiert und damit terminologisch fixiert worden seien. Hier illustriert Ruggie das poststrukturalistische Konzept eines Anhaltens des prinzipiell unendlichen Prozesses der Bedeutungsverschiebungen. Die kreative Macht eines Machiavelli und Hobbes kann darin gesehen werden, dass sie-- im Übergang vom Mittelalter zur Moderne-- einen individualistischen Begriff von Staatlichkeit (Staat als einheitlicher, rationaler Akteur) geschaffen haben, der über Jahrhunderte seine Bedeutung weitgehend behält, aber letztlich auch historischen Ursprungs ist. Ruggie erläutert zudem, wie das postrukturalistische Konzept der Allgegenwärtigkeit und Beweglichkeit sozialer Kräfte und das Konzept des konstitutiven Außens für die Analyse von Souveränität genutzt werden kann. Er zeigt, dass Souveränität immer mit der sozialen Anerkennung der Untertanen verbunden war. Im Mittelalter war der König, gerade weil er wenig Durchsetzungsmittel hatte, auf die Folgebereitschaft seiner Untergebenen angewiesen und genoss folglich relativ wenig Unabhängigkeit. Die territoriale Zentralisierung von Staaten und die Etablierung abgegrenzter Einhei- <?page no="289"?> 274 p oststruKturalIsmus ten, die sich wechselseitig anerkennen, verschiebt das Kraftfeld der Macht: Staaten werden extern ermächtigt, sie erhalten symbolische Anerkennung und bilden darüber einen Begriff von Souveränität heraus, der es ihnen erlaubt, sich über andere Fürsten zu erheben. Schließlich zeigt Ruggie, dass die Konstruktion von Souveränität als territorial organisierte Herrschaft unitarer Staaten ein Paradox produziert. Bestimmte Praktiken in den internationalen Beziehungen seien mit einer territorialen Konzeption von Staatlichkeit gar nicht vereinbar, wie etwa diplomatische Beziehungen und Interdependenz. Dies habe immer zu bestimmten Ausschlussmechanismen geführt, durch die Staaten Institutionen geschaffen hätten, die es ihnen ermöglichen, das Konzept der Territorialität beizubehalten. Die diplomatische Praxis der Exterritorialität stellt so ein Paradox dar. Exterritorialität ist ein völkerrechtliches Konstrukt, mit dem ein völkerrechtliches Subjekt (Diplomaten) oder Gebäude (Botschaften) nicht der Hoheitsgewalt des Staates, in dem sie sich aufhalten, unterworfen sind. Diplomaten sind Angehörige fremder Staaten in einem Staat und untergraben deshalb eigentlich den Territorialitätsanspruch dieses Staates. Das Konzept der Exterritorialität ermögliche es, an Souveränität festzuhalten. Die Botschaft eines anderen Staates wird als „exterritorial“ definiert, obwohl sie sich in dem Staat befindet. Ähnliches passiert durch die Bildung funktionaler Institutionen. Diese würde ebenfalls einen künstlichen Raum schaffen, der staatliche Interdependenzen regelt, ohne dass die Vorstellung von Territorialität aufgegeben werden müsse. Dieses Beispiel zeigt recht anschaulich, wie eine poststrukturalistische Analyse in den Internationalen Beziehungen aussieht, die ihren Schwerpunkt auf die historischen Bedingungen der Möglichkeit legt. Postkolonialismus Der Postkolonialismus ist schon länger ein wichtiger Ansatz in der Literaturtheorie, Kulturtheorie sowie der Anthropologie und hat inzwischen auch seinen Weg in die Internationalen Beziehungen gefunden, wobei er häufig dem Poststrukturalismus zugerechnet wird. Wie schon im Namen anklingend, beschäftigen sich postkoloniale Ansätze sowohl mit der Kolonialzeit und dem Imperialismus als auch mit der Zeit danach. Es geht um Deutungen von Kultur und Identität sowie kulturelle Konflikte der Kolonisierten und auch der Kolonisierenden. In unserer „westlichen“ Art und Weise über die Welt zu denken, werden dekolonisierte Kulturen und Menschen oft zu einer homogenen Gesamtheit reduziert. So kennen wir zum Beispiel alle den für uns typischen und vertrauten Begriff der Dritten Welt, wenn von Afrika, Asien und Lateiname- Verschiebung des Kraftfelds der Macht 9.7 <?page no="290"?> 275 p ostKolonIalIsmus Einheit 9 rika gesprochen wird. Der Postkolonialismus kritisiert solche allumfassenden Ausdrücke und möchte im Gegensatz dazu die Augen dafür öffnen, dass die „Dritte Welt“ aus zahlreichen heterogenen Völkern und Kulturen besteht und der Einfluss des Kolonialismus vor allem auch zu ganz unterschiedlichen Auswirkungen führte-- und zwar immer in Bezug zu dem entsprechenden Land, der vorherrschenden Kultur usw. In der Disziplin der Internationalen Beziehungen argumentieren postkoloniale Ansätze dementsprechend, dass sich koloniale Formen der Macht auch in der aktuellen internationalen Politik hartnäckig halten und dadurch bestimmte Deutungen von Herkunfts- und Geschlechter-Unterschieden aufrecht erhalten. Vor allem Rassismus werde fortlaufend, zum einen offensichtlich, zum anderen aber auch subtil, in der Weltpolitik bedient-- für Vertreterinnen des Postkolonialismus ein Phänomen, das von konventionellen Ansätzen kaum bearbeitet wird. Postkoloniale Studien untersuchen deshalb Rollenverständnisse, Hierarchien und Repräsentationen der kolonialen Vergangenheit. Sie analysieren, wie diese reproduziert werden und somit dazu beitragen, ein naturalisiertes Bild der Welt hervorzubringen. Eines der einflussreichsten Bücher aus dem Bereich des Postkolonialismus ist Orientalism von Edward W. Said (Said 1978), in dem er kritisch auf die westlichen Vorstellungen des Orients eingeht. Said untersucht die Konstruktion des Orients in der abendländischen Kultur durch Praktiken der Wissensproduktion. Er analysiert, dass der Orient durch westliche Studien im Vergleich zu dem rationalen, starken und maskulinen Westen als ein irrationales, schwaches und feminines „Anderes“ dargestellt wird. Said beruft sich hierbei auf poststrukturalistische Ideen wie etwa von Foucault und Derrida und argumentiert, dass solche grundsätzlichen Dichotomien (komplementäre Begriffspaare) zu einem verzerrten Bild des Orients führen. Diese Repräsentation „des Ostens“ war seiner Meinung nach auch entscheidend für die militärische und wirtschaftliche Dominanz der westlichen Welt gegenüber der östlichen und die damit einhergehende Konstruktion von Identitäten in beiden Gesellschaften. Kritiker von Saids Werk weisen darauf hin, dass es allerdings durchaus eine Vielzahl an Formen und Traditionen des Orientalismus gab und es insofern ebenso reduzierend ist, sie alle unter den einen Rahmen „der“ orientalistischen Tradition zu stellen. Ebenso dominierten zwar sicherlich viele Zerrbilder und Fantasien über den Orient, die allerdings nicht notwendigerweise in allen Kulturen als zwingend negatives Gegenbild zum Westen verstanden wurden. Aus dieser Perspektive betreibt Said selbst eine Art „Okzidentalismus“. In postkolonialistischen Studien geht es dabei generell darum, bestimmten Machtgefügen entgegenzuwirken, die in solchen Begriffspaaren wie etwa ‚zivilisiert-primitiv‘ oder ‚fortschrittlich-rückschrittlich‘ zum Ausdruck Orientalismus <?page no="291"?> 276 p oststruKturalIsmus gebracht werden. Ziel ist es, diese Begriffspaare zu dekonstruieren. Der von Derrida geprägte Begriff der Dekonstruktion hat auch in den Studien des Postkolonialisten Homi K. Bhabha (1994) eine zentrale Bedeutung. Dieser geht auf das Verhältnis von Kolonialherren und Kolonisierten ein und argumentiert, dass diese wechselseitige Beziehung zwischen „Herrn“ und „Knecht“ auf beiden Seiten dazu geführt hat, sich seiner eigenen kulturellen Identität nicht mehr bewusst werden zu können. Vielmehr wird die Identität beider Parteien durch die Differenz zum Anderen gekennzeichnet, die ihre Beziehung zum Ausdruck bringt. Identitäten sind demnach nicht unveränderlich, sondern werden durch soziale Praktiken und Prozesse erzeugt. Diese Idee, dass Identität von Kolonisierenden und Kolonisierten ständig im Wandel begriffen ist und sich gegenseitig konstituiert, bezeichnet Bhabha als Hybridität. Er spricht in diesem Zusammenhang auch von hybriden Identitäten, die in dem Zwischenraum („The Third Space“) zwischen der ehemaligen Kolonie und der westlichen Welt entstehen. In diesem Zwischenraum werden durch die postkoloniale Ausgangssituation beide Seiten-- also Herr und Knecht- - in eine derartige Beziehung gesetzt, die eine klare Abgrenzung voneinander unscharf werden lässt und keine eindeutige Identität mehr zulässt. Heute sind solche hybriden Identitäten auch in Bezug auf den Transnationalismus von Interesse, der nationalstaatliche Grenzen überschreitet. Postkoloniale Forschung beschäftigt sich zusammenfassend mit der kritischen Auseinandersetzung intellektueller Theorien, die einer westlichen Art und Weise folgen, die Welt zu denken, zu konzipieren und zu verstehen. Ihr Anliegen ist es, den dieser westlichen Denkweise ‚untergebenen‘ Personen eine eigene Stimme zu geben und damit alternative Vorstellungen zum dominanten wir/ sie-Diskurs anzuregen. Einer ebenfalls in der IB-Forschung weitgehend marginalisierten Gruppe nehmen sich feministische Theorien an. Es geht im Folgenden um Vorstellungen von Geschlechterrollen in den internationalen Beziehungen. Feministische Theorien Feminismus in den Internationalen Beziehungen umfasst die Forschung, die sich mit dem Konzept des sozialen Geschlechts-- Gender-- in der internationalen Politik auseinandersetzt. „Feministische“ Theorien der internationalen Beziehungen befassen sich mit der Frage, welche Rollen „Frauen“ in der internationalen Politik einnehmen. Dennoch ist der Begriff teilweise irreführend, da er suggeriert, dass Frauen dabei im Vordergrund der Forschung stehen. Vielmehr geht es darum, das Verhältnis von Geschlechtern durch deren soziale Rolle kritisch zu hinterfragen und zu beleuchten, wie sich diese Rollenverteilung in der internationalen Politik fortsetzt. 9.8 <?page no="292"?> 277 f emInIstIsche t heorIen Einheit 9 Der Begriff „Gender“ bezieht sich generell auf die sozial konstruierten Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Dementsprechend gibt es solche feministischen Theoretiker, die zugleich biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen voraussetzen. Aber es gibt auch solche, die sowohl das biologische Geschlecht (sex) als auch das soziale Geschlecht (gender) als gesellschaftliche Konstrukte ansehen. Gender Folglich gibt es nicht die „eine“ feministische Theorie in den IB, sondern verschiedene Ansätze, die ihren Ursprung in liberalen, marxistischen, postkolonialen oder poststrukturalistischen Ideen haben, aber auch unterschiedliche wissenschaftstheoretische Standpunkte einnehmen. Sandra Harding hat die unterschiedlichen Ansätze in Standpunktfeminismus, empirischen Feminismus und poststrukturalistischen Feminismus kategorisiert (Harding 1986; Sylvester 1994; Harding 1996). Was alle Ansätze verbindet, ist die Frage, wie internationale Politik in einem System von Wechselwirkungen einerseits Männer und Frauen beeinflusst und andererseits aber auch von diesen selbst beeinflusst wird. Viele feministische Theorien wenden den Fokus ihrer Betrachtung deshalb von der diplomatischen Ebene zentraler (männlicher) Akteure ab und hin zur Lebensrealität von Frauen in ihren lokalen Gegebenheiten. Hierbei geht es unter anderem auch um den Sicherheitsbegriff in den IB, der, so die feministische Kritik, auf einem staatsbezogenen Verständnis beruht und das Sicherheitsbedürfnis speziell von Frauen nicht berücksichtigt. Auch die Frage nach der politischen Gestaltung der Lebensverhältnisse von Frauen wird häufig thematisiert. Standpunktfeminismus unterzieht Theorien internationaler Beziehungen einer grundsätzlichen Kritik aus feministischer Perspektive, und zeigt, wo sich in Theorien internationaler Beziehungen gender-spezifische Konstruktionen einschleichen. Eine seiner wichtigsten Vertreterinnen ist Ann Tickner, die Morgenthaus sechs realistische Prinzipien analysiert und zeigt, dass seine Theorie auf der Konstruktion von Unterschieden zwischen innerstaatlicher und internationaler Politik gründet, die genderspezifisch sind. Dabei ist außenpolitisches Verhalten in der Regel mit Begriffen verknüpft, die mit Männlichkeit assoziiert sind, wie Objektivität, Verstand und Politik, während innerstaatliche Politik mit Begriffen wie Subjektivität, Emotionalität und Moral assoziiert ist (Tickner 1988; Hutchings 2008: 98). Empirischer Feminismus legt stärkeres Gewicht darauf zu zeigen, inwiefern Frauen durch Staaten, die als patriarchalisch aufgefasst werden, durch die Praxis der internationalen Beziehungen systematisch benachteiligt werden. Ein Beispiel für empirischen Feminismus wird mit dem Werk von Cynthia Enloe weiter unten ausführlich vorgestellt. <?page no="293"?> 278 p oststruKturalIsmus Postmoderner Feminismus dekonstruiert noch stärker als die beiden vorherigen Varianten internationale Politik, indem er binäre Oppositionen und die damit verbundenen Hierarchien und hegemonialen Praktiken untersucht. In diesem Sinne beschäftigt sich der poststrukturalistische Feminismus in erster Linie mit in der Sprache festgelegten Bedeutungen. Dabei wird darauf hingewiesen, dass Männer generell die „Wissenden“ waren- - so zum Beispiel auch in den Anfängen der IB-Forschung-- und durch diesen bevorzugten Zugang zur Sprache Bedeutungen und Wissen konstruieren konnten (Hekman 1992; Sylvester 1994). Diese männliche Dominanz zieht sich durch Konzepte und Begriffe der IB sowie Prozesse und Mechanismen der internationalen Politik. Dichotomien und deren Auflösung stehen im Fokus poststrukturalistisch feministischer Analysen. So werden zum Beispiel Begriffspaare wie zivilisiert/ unzivilisiert, entwickelt/ unterentwickelt, die zu hierarchisierenden Bedeutungen führen, als „gendered“ verstanden. Die Dekonstruktion solcher Hierarchien soll zum einen helfen, diese überhaupt zu erkennen, zum anderen, eine weniger hierarchische Vorstellung zu begünstigen. Hier werden wiederum Ausschlussmechanismen in der Wissenschaft untersucht. Cynthia Weber dekonstruiert Robert Keohanes Bestandsaufnahme feministischer Ansätze in den internationalen Beziehungen als „männlich paranoid“, weil sein Überblick über feministische Ansätze in der Disziplin eine Subjekt-Objekt-Position einnimmt und sich zu einer Autorität erhebt, um aus dieser Position feministische Ansätze zu bewerten (Weber 1994). Gender und internationale Beziehungen: Frauen in den Hierarchien privat/ öffentlich und innerstaatlich/ international Wo sind die Frauen? Diese Frage stellte Cynthia Enloe in ihrem Buch „Bananas, Beaches and Bases“ (1989), welches der feministischen IB-Theorie wesentlich den Weg ebnete. Sie fragt, warum Frauen von Macht ausgeschlossen sind und es ihnen nicht möglich ist, zentrale Rollen und Positionen in internationalen politischen Handlungen einzunehmen. Enloes Frage war zu dieser Zeit wegweisend, da Frauen in den bisherigen Studien der IB quasi unsichtbar blieben. Dementsprechend wollte sie zunächst vor allem herausfinden, wo die Frauen denn nun eigentlich sind, und ging davon aus, dass dann ihre Relevanz und Präsenz in der Weltpolitik automatisch sichtbar würde. Sie wurde auch fündig: Frauen sind durchaus in internationaler Politik vertreten, etwa als Ehefrauen von Diplomaten und hochrangigen Politikern, als billige Plantagen- oder Fabrikarbeiterinnen oder auch als Prostituierte bei Militärstützpunkten, letztlich also häufig in Positionen, in denen sie untergeordnet und sogar ausgebeutet sind. 9.9 <?page no="294"?> 279 Einheit 9 ü bunGen Enloes Beitrag ist in zweifacher Hinsicht exemplarisch für eine poststrukturalistische Analyse internationaler Politik mit feministischem Blickwinkel: Sie plädiert stringent für die Auflösung der Dichotomie zwischen internationaler und innerstaatlicher Politik und zwischen privater und öffentlicher Politik, indem sie lokale und globale Praktiken in ihrer Analyse verknüpft. Sie zeigt, wie bedeutende politische Ereignisse, wie die Iran-Contra-Affäre, von Sekretärinnen, die internationale politische Ökonomie des Tourismus von Urlauberinnen und Zimmermädchen, und Militärallianzen von Prostituierten abhängig sind und macht die Beteiligung von Frauen sichtbar (Jaeger 1996: 332). Sie bricht die Dichotomie international/ innerstaatlich weiter auf, indem sie zeigt, dass die damit verbundenen Vorstellungen der Abwesenheit von Repression und gesellschaftlichen Macht- und Dominanzstrukturen in einem innerstaatlichen Kontext fragwürdig ist. Die internationale politische Ökonomie konstituiert innerstaatlich bestimmte Formen der Erwerbsarbeit, aber diejenige von Frauen im Besonderen. Dies lässt sich relativ aktuell an dem Einsturz einer Fabrik in Bangladesch 2013 aufgrund von Verstößen gegen Sicherheitsvorkehrungen illustrieren. In der Fabrik waren in erster Linie Frauen als Näherinnen beschäftigt, die Kleidung für Konsumenten in Industriestaaten produzierten. Insgesamt geht es Enloe aber darum zu zeigen, „wie Staaten von bestimmten Konstruktionen der häuslichen und privaten Sphäre abhängig sind, um Beziehungen im öffentlichen und internationalen Bereich auf spezifische Weise unterhalten zu können“ (Locher 1996: 387). 1. In welchem Verhältnis stehen im Poststrukturalismus Sprache, Diskurs und Wirklichkeit zueinander? 2. Was interessiert Poststrukturalisten an einem Ereignis wie der Hungerkrise am Horn von Afrika und welche Fragen stellen sie im Vergleich zu traditionellen Perspektiven? 3. Warum lehnt der Poststrukturalismus die Ansichten positivistischer Theorien der Internationalen Beziehungen wie dem Realismus oder Liberalismus ab? Welche Punkte werden kritisiert? 4. Welche Ideen und Argumente verbinden den Poststrukturalismus, Postkolonialismus und einige feministische Theorien? 5. Wie lässt sich die kritische Haltung poststrukturalistischer Ansätze verstehen und inwiefern unterscheiden sich diese von anderen kritischen Ansätzen wie dem Marxismus? 6. Wie verstehen Poststrukturalisten (insbesondere Foucault) Macht und wie unterscheidet sich dieses Verständnis vom traditionellen Machtbegriff in den Internationalen Beziehungen? Übungen <?page no="295"?> 280 p oststruKturalIsmus 7. Gehen Sie noch einmal zurück zu Einheit 8. Wie würde eine poststrukturalistische Analyse der Kony-Kampagne aussehen? Auf welche Aspekte würde sich eine solche Analyse im Vergleich zu einer konstruktivistischen Analyse konzentrieren? Albert, Mathias (1994): Postmoderne und Theorie der Internationalen Beziehungen. In: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1, 45-63. Ashley, Richard K. (1984): The Poverty of Neorealism. In: International Organization 38: 2, 225-286. Ashley, Richard K.; Walker, R. B. J. 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Es wird dargestellt, wie drei Theorien der internationalen Beziehungen das Politikfeld der nuklearen Nichtverbreitung untersuchen und die Verbreitung von Atomwaffen erklären. Der steinige Weg zur Bombe Am 18. Mai 1974 führte Indien seinen ersten unterirdischen Test eines atomaren Sprengsatzes durch. Der Sprengsatz war mit 12 Kilotonnen TNT nur wenig kleiner als die Atombombe von Hiroshima (13 Kilotonnen). Indien Überblick 10.1 Indiens erster Atomwaffentest <?page no="299"?> 284 I nternatIonale s IcherheIt gehörte von einem Tag auf den anderen zum Kreis der nuklearwaffenbesitzenden Staaten. Das waren bis dato die USA, die Sowjetunion, Frankreich, Großbritannien und China. Der Protest über den Test blieb nicht aus, ebenso wenig wie die Reaktionen seiner Nachbarn. Westliche Medien geißelten die Investition von Milliarden von Dollar in ein Atomwaffenprogramm in einem „Armutsland“. Kanada kündigte sofort nach der Explosion seine „nukleare Entwicklungshilfe“, weil das Plutonium für die Herstellung des Sprengsatzes aus einem Reaktor stammte, der mit kanadischer Unterstützung gebaut worden war. Pakistans damaliger Präsident Zulfikhar Ali Bhutto ließ daraufhin wissen, ebenfalls eine Atombombe entwickeln zu wollen, „selbst wenn wir Gras und Blätter essen oder hungrig bleiben“ (zitiert nach Kuhrau 2004). Der Protest hielt die indische Regierung nicht davon ab, ihr Programm weiter zu verfolgen. Ab 1983 forcierte sie ein Programm zum Bau ballistischer Raketen und Lenkwaffen. Damit entwickelte sie die Technologie für den Einsatz ihrer Nuklearwaffen für Angriffe auf weiter entfernte Ziele. Diese Raketen wurden dabei mit Hilfe von Technologie gebaut, die Indien zunächst für sein nicht-nukleares Rüstungsprogramm erworben hatte: Raketenantriebe aus sowjetischer Produktion sowie Beschleunigungsmesser und Bewegungssimulatoren aus Frankreich, Schweden, den USA und Deutschland. 1988 testete Indien seine erste Boden-Boden-Rakete kurzer Reichweite, ein Jahr später eine Rakete mittlerer Reichweite und 1999 eine Rakete mit einer Reichweite von 2000 Kilometern. Mit dem ersten Atombombentest und der darauffolgenden Entwicklung entsprechender Raketentechnologie hatte Indien innerhalb von 25 Jahren selbstständig die Fähigkeit erworben, Nuklearwaffen mit so hoher Reichweite zu entwickeln, dass sie bis tief nach China hinein wirken können. Der Iran betreibt seit mehreren Jahrzehnten ein Atomprogramm, das vertraglich der Überwachung der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) unterliegt. Obwohl der Iran immer wieder darauf beharrte, dass er Atomenergie zu rein zivilen Zwecken nutze, wurden seit 2002 auf der nahe Teheran liegenden Militärbasis Partschin Experimente zur Herstellung atomarer Sprengköpfe vermutet. Dieser Verdacht eines Atomprogrammes mit militärischen Perspektiven ist gleichzustellen mit einen mutmaßlichen Verstoß gegen die Auflagen des IAEA. Mit einem im Oktober 2015 geschlossenen Abkommen zwischen dem Iran und den fünf Sicherheitsratsmitgliedern der Vereinten Nationen plus Deutschland soll nun auch der Iran am Bau von Atombomben gehindert werden. Am 20. Juli 2015 war vom Sicherheitsrat bereits einstimmig für die Resolution 2231 gestimmt worden, die im Gegenzug für den Abbau des nuklearen Atomprogrammes im Iran die Aufhebung der dem Iran seit 2006 auferlegten Sanktionen vorsieht. Die IAEA <?page no="300"?> 285 I nternatIonale s IcherheIt d er steInIGe w eG zur b ombe Einheit 10 hatte zudem einen Fahrplan ausgearbeitet, die in Kooperation mit dem Iran offene Fragen und verschiedene Aspekte des iranischen Nuklearprogrammes klären sollen. Nach jahrelangen Forderungen nach mehr Transparenz und einer Beschränkung des atomaren Programms des Iran soll der IAEA für die nächsten 25 Jahre der Zugang zu allen Informationen gewährt werden, auf die sie im Rahmen der Überwachung des iranischen zivilen Atomprogrammes zurückgreifen muss. In scheinbarem Kontrast zur regionalen Ebene, auf der Staaten wie Indien, Pakistan und Nordkorea an Atomwaffenprogrammen arbeiten, gibt es seit 2009 auf internationaler Ebene Bemühungen, die Zahl der Atomwaffen zu begrenzen. Im April 2009 kündigte US-Präsident Barack Obama in einer Rede anlässlich seines Staatsbesuchs in Tschechien eine globale nukleare Abrüstungsinitiative an. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz Aufrüstung auf regionaler Ebene Abrüstung auf globaler Ebene Staaten mit einem offiziellen Atomwaffenprogramm dunkle Farbe: große Zahl an Sprengköpfen mit globaler Reichweite mittlere Farbe: geringere Zahl an Sprengköpfen mit globaler Reichweite helle Farbe: kleine Zahl an Sprengköpfen mit regionaler Reichweite Abb. 10.1 Nach Angaben der Federation of American Scientists lag im Jahr 2015 die international aufsummierte Anzahl nuklearer Sprengköpfe bei mehr als 15.000. Diese teilen sich die de facto Atommächte, darunter die USA, Russland, China, Nordkorea, Indien und Pakistan, Israel, Frankreich und Großbritannien. Trotz eines signifikanten Abbaus nuklearer Sprengköpfe seitens der USA und der Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich seit dem Ende des Kalten Kriegs, werden die nationalen Atomwaffenprogramme weitergeführt, modernisiert und vor allem von den USA und Russland größtenteils in sofortiger Abrufbereitschaft gehalten. Für detaillierte Informationen: fas.org/ issues/ nuclear-weapons (letzter Zugriff 02.01.2015). Anzahl nuklearer Sprengköpfe <?page no="301"?> 286 I nternatIonale s IcherheIt im Februar 2011 tauschten die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton und ihr russischer Amtskollege Sergej Lawrow die Ratifikationsurkunden für einen Vertrag aus, durch den die Zahl der einsatzbereiten Langstreckenraketen mit Atomsprengköpfen begrenzt werden sollten. Der Strategic Arms Reduction Treaty oder auch START-Vertrag erneuert einen gleichlautenden Vertrag zwischen den USA und Russland von 1991, der 2009 auslief. Im September 2009 verabschiedete außerdem der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine Resolution, in der er sich für die Abschaffung von Nuklearwaffen aussprach (S/ RES/ 1887, 24. September 2009). 2 Unterstützt werden diese Bemühungen von einer zivilgesellschaftlichen Bewegung, die-- überwiegend von Universitäten ausgehend- - mit dem Slogan „Global Zero“ für eine Welt ohne Atomwaffen wirbt (www.globalzero.org, letzter Zugriff 02.01.2015). Diese beiden Schlaglichter zeigen die Chancen und Herausforderungen auf, die sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts für die internationale Nichtverbreitungspolitik von Atomwaffen ergeben: Für die ehemaligen Gegner USA und Russland bietet sich seitdem die historische Chance der nuklearen Abrüstung. In Asien dagegen betrachten Indien und Pakistan- - zum Teil bedingt durch den Aufstieg Chinas, zum Teil bedingt durch ihren lange 2 Der Text der Resolution ist über die Homepage der Vereinten Nationen abrufbar: UN Security Council Resolutions 2009, www.un.org/ en/ sc/ documents/ resolutions/ 2009.shtml, letzter Zugriff 12.11.2015. Chancen und Herausforderungen internationaler Nichtverbreitungspolitik Gibt es nach dem sogenannten „ersten nuklearen Zeitalter“ - dem Zeitalter des Kalten Kriegs - eine Chance auf eine nuklearwaffenfreie Welt? Global Zero plädiert gegen ein auf Atomwaffen ausgerichtetes Sicherheitsstreben und somit gegen die Aufrechterhaltung nationaler Atomwaffenprogramme. Die globale Kampagne bezeichnet sich selbst als „internationale Bewegung für die Eliminierung aller Atomwaffen“ und ruft weltweit zur Unterstützung und Ausgestaltung der Idee auf. Mit einem Aktionsplan fordert sie die Abschaffung aller Atomwaffen bis 2030, die durch eine umfassende Reduzierung der nuklearen Sprengköpfe von Seiten der USA und Russlands initiiert werden soll, welche im Besitz von mehr als 90 % aller nuklearen Sprengköpfe weltweit sind. International wird die Forderung nach einem Global Zero auf sehr unterschiedliche Weise aufgenommen: Kritiker betonen die Perspektivlosigkeit des Programmes, da das Abschreckungspotential und die national gewonnene Sicherheit durch keine anderen als die nuklearen Waffen so effektiv aufrecht erhalten werden könne. Andere wiederum schätzen die weltweite Kampagne des Global Zero als mögliche Grundlage für einen gemeinsamen und unausweichlichen Weg in eine sicherere Zukunft ohne Atomwaffen. Global Zero <?page no="302"?> 287 I nternatIonale s IcherheIt d as d Ilemma der a tomenerGIe Einheit 10 bestehenden Konflikt-- Nuklearwaffen als angemessenes Abschreckungsmittel. Irans Deal über ein ziviles Nuklearprogramm wird von seinen Nachbarn sehr kritisch gesehen. In diesem Kapitel wird am Beispiel der internationalen Nichtverbreitungspolitik das Politikfeld Sicherheit in den internationalen Beziehungen illustriert. Die nächsten Abschnitte erklären, wie eine Nuklearwaffe funktioniert und welche Komponenten dafür erforderlich sind. Danach wird deutlicher, über welche internationalen Abkommen die Verbreitung dieser Komponenten kontrolliert werden, wie dem Nichtverbreitungsvertrag von 1968 als eines der wichtigsten Abkommen. Der letzte Abschnitt des Kapitels veranschaulicht, wie die Theorien internationaler Beziehungen dieses Feld in der Forschung bearbeiten. Das Dilemma der Atomenergie Als Otto Hahn, Liese Meitner und Fritz Strassmann 1938 die Kernspaltung entdeckten, war allen Beteiligten klar, dass damit sowohl der Weg zu ungeahnter wirtschaftlicher Entwicklung geebnet ist wie auch jener zu unvorstellbarer militärischer Vernichtungskraft. Bereits ein Jahr nach Entdeckung der Kernspaltung, im August 1939, warnte der in die USA emigrierte Atomphysiker Albert Einstein den damaligen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt davor, dass Nazi-Deutschland an der Entwicklung einer Atombombe arbeite. Er forderte die US-Regierung auf, ihrerseits die Entwicklung von Atombomben zu forcieren, um Deutschland erfolgreich abschrecken zu können. Die Amerikaner reagierten und begannen 1942 das streng geheime Manhattan-Projekt. Dieses wurde weiterverfolgt, selbst als sich herausstellte, dass Deutschland nicht in der Lage war, die Bombe herzustellen. Die weltweit erste Zündung einer Atomwaffe erfolgte am 16. Juli 1945 in der Nähe von Los Alamos (New Mexico) in den USA. Drei Wochen später, am 6. August 1945, zündeten die Amerikaner die erste Atombombe über der japanischen Stadt Hiroshima, drei Tage später diejenige über Nagasaki. Trotz der Schrecken der beiden Atombombenabwürfe verlor die Nuklearenergie danach nicht ihre Faszination. Experten schwärmten in den 1950er Jahren von dem Potential der Atomenergie: Sie sagten eine Welt atomar angetriebener Autos voraus, Energie, die so billig zu produzieren sei, dass niemand mehr dafür zahlen müsse; sie bezeichneten Atomenergie als eine „ewige Quelle von Wohlstand auf der Welt“ (zitiert nach Cirincione 2007: 23). In den USA entwickelte sich ein Baukasten für Kinder namens Atomic Energy Lab zu einem Verkaufsschlager und es gab Wahlen zur Miss Atomic. 10.2 Faszination der Nuklearenergie <?page no="303"?> 288 I nternatIonale s IcherheIt Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer Reihe von Versuchen, vor allem initiiert durch die USA und die Sowjetunion, die Weiterverbreitung von Uran zu kontrollieren. Die Regelungen reflektierten dabei sowohl die Machtposition der USA als auch allgemeine Trends, die eine Kontrolle durch die USA unterliefen, wie Chinas Entwicklung einer Bombe. Die Versuche reichten von einer unilateralen Kontrolle durch die USA bis hin zur Idee einer Uranbank und schließlich der Idee, waffenfähiges Uran zu begrenzen, dafür aber die zivile Nutzung von Atomenergie durch die Verbreitung der neuesten Technologien zu fördern. Angesichts der beiden extremen Möglichkeiten von ziviler und militärischer Nutzung besteht seither das Dilemma, das mit der Kernenergie verbundene wirtschaftliche Entwicklungspotential gegen die Risiken einer Weiterverbreitung von Kernwaffen - auch Proliferation genannt - abzuwägen. Das Dilemma der Atomenergie Komponenten einer Atomwaffe: Nukleares Material, Anreicherungsanlagen, Trägersysteme Wie die Geschichte des indischen Atomwaffenprogramms zu Beginn dieses Kapitels zeigt, ist die Entwicklung der Atombombe keine Angelegenheit, zu der jeder Staat selbstständig fähig ist. Die Herstellung einer Nuklearwaffe erfordert nicht nur eine ausreichende Menge Uran eines bestimmten Isotops, das nur sehr selten in der Natur vorkommt, sondern auch die entsprechenden Trägersysteme, um die nuklearen Sprengköpfe zu transportieren. Eine Nuklearwaffe beruht auf der Vernichtungswirkung der durch die Kernspaltung freigesetzten Energie. Der Prozess verläuft für Uran und Plutonium ähnlich. Der Atomkern wird mit einem Neutron beschossen, dieser teilt sich und setzt dabei Neutronen frei. Diese Neutronen können wiederum weitere Atome spalten, so dass eine Kettenreaktion einsetzt. Bei jeder einzelnen Kernspaltung wird dabei Energie freigesetzt. Abbildung 10.3 zeigt diesen Prozess am Beispiel von 235 Uran. 10.3 Luftansicht des Atombombenabwurfs auf Nagasaki Abb. 10.2 <?page no="304"?> 289 I nternatIonale s IcherheIt Einheit 10 K omponenten eIner a tomwaffe Für eine Atombombe kommen nur zwei Elemente in Frage: Uran und Plutonium. Uran ist ein Metall, dessen gesamte Isotope radioaktiv sind. Für die Kernspaltung ist jedoch nur das Isotop 235 U geeignet, da es instabiler ist als das Isotop 238 U und deshalb spaltbar ist. Das instabilere Isotop 235 U ist in der Natur aber sehr viel seltener zu finden als das Isotop 238 U, so bestehen nur 0,7 Prozent des natürlich in Mineralen vorkommenden Urans aus dem Isotop 235 U, dafür aber 99,3 Prozent aus 238 U. Egal ob das Uran für eine zivile oder militärische Nutzung benötigt wird, muss es in jedem Fall angereichert werden. Für den Betrieb eines Kernkraftwerks ist schwach angereichertes Uran ausreichend (2-4 Prozent), für eine Nuklearwaffe jedoch wird hochangereichertes Uran benötigt (80-90 Prozent). Auch beim Plutonium, das 1940 von amerikanischen Wissenschaftlern entdeckt wurde, sind alle Isotope radioaktiv. Es ist ein so genanntes Transuranelement, das durch Beschuss von 238 U mit Neutronen entsteht. Moderne Kernwaffen verwenden in der Regel Plutonium, da es mehr Energie als die Kernspaltung von 235 U freisetzt. Weltweit gibt es nur wenige Staaten, in denen Uran gefördert wird. Dies sind Australien, Kanada, Russland, Niger, Namibia, Kasachstan, Usbekistan, Südafrika und die USA. Plutonium kommt dagegen in der Natur nur in sehr geringen Mengen vor, wird aber in größeren Mengen bei der Energiegewinnung in Kernreaktoren produziert. Um die Konzentration von 235 U zu erhöhen, muss natürliches Uran angereichert werden. Darunter versteht man einen Prozess der Isotopentrennung, der die Zusammensetzung natürlich vorkommenden Urans zugunsten von 235 Uran verändert. Die Anreicherung des Urans erfolgt heute in der Regel über spezielle Gaszentrifugen, in die gasförmiges Uran eingeleitet und mit sehr hoher Geschwindigkeit rotiert wird. Dadurch trennen sich die schweren Kernspaltung Abb. 10.3 <?page no="305"?> 290 I nternatIonale s IcherheIt 238 Urangasmoleküle von den leichteren 235 Urangasmolekülen. Um eine große Menge an 235 U zu erhalten, wird eine Vielzahl von Gaszentrifugen hintereinander geschaltet. Da Gaszentrifugen für die Anreicherung notwendig sind, werden sie von einer interessierten Öffentlichkeit auch als Indikator für die Verfolgung eines militärisches Atomprogramms herangezogen, wie im Falle des Iran seit 2008 (vgl. Spiegel Online 31. 01. 2013). Nuklearwaffen benötigen keine speziellen Trägersysteme, sondern können im Prinzip aufgrund ihres relativ geringen Gewichts auf alle Trägersysteme montiert werden. Für viele Staaten steigt aber ihre Abschreckungswirkung, wenn die Waffen über eine große Reichweite verfügen, wie das Beispiel Indiens gezeigt hat. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Trägersysteme in Form von Raketen stark weiterentwickelt und ihre Zielgenauigkeit und Reichweite haben zugenommen. Abbildung 10.4 verdeutlicht den sehr viel größeren Aktionsradius, den Mittelstreckenwaffen den Staaten verschaffen, die diesen Raketentyp besitzen. Jeder Kreis ist dabei dem in der gleichen Farbe markierten Land zugeordnet. Indiens Mittelstreckenwaffen (lila) erreichen Ziele in Südostasien ebenso wie irakisches Territorium (hellorange). Israels Mittelstreckenwaffen (rosa) treffen den Irak ebenso wie Ziele in Nordafrika und Europa. Und von irakischem Territorium könnten theoretisch Ziele in Deutschland und Indien getroffen werden. Die Taepodong-2-Rakete, die von Nordkorea entwickelt wurde, wäre in der Lage, einen Atomsprengkopf zwischen 3500 und 4300 Kilometer zu transportieren. Damit sind sowohl Ziele in Südkorea, als Unterschieden werden in der Regel ballistische Raketen mit unterschiedlicher Reichweite und die so genannten Marschflugkörper (cruise missiles). ▶ Ballistische Raketen folgen einer ballistischen (ungelenkten) Flugbahn und werden meist von festen Standorten aus gestartet. ▶ Marschflugkörper oder auch Lenkwaffen verhalten sich wie kleine Flugzeuge, fliegen in geringer Höhe und haben meistens einen vorausbestimmten Kurs. Sie können unterirdisch, von U-Booten, Schiffen oder Flugzeugen gestartet werden. Die ballistischen Raketen unterteilen sich weiterhin in die so genannten strategischen Waffen. Zu den strategischen Waffen gehören ▶ Taktische oder Kurzstreckenwaffen: Sie haben eine Reichweite von bis zu 1000 km Reichweite. ▶ Mittelstreckenwaffen oder auch Intermediäre Ballistische Raketen (IBMs): Sie haben eine Reichweite zwischen 1000-4800 Kilometer. ▶ Langstreckenwaffen oder auch Interkontinentalraketen (ICBMs): Sie haben eine Reichweite von mehr als 4800 Kilometern. Unterscheidung der Trägersysteme für atomare Sprengköpfe <?page no="306"?> 291 I nternatIonale s IcherheIt n uKleare n IchtVerbreItunGspolItIK Einheit 10 auch in Russland, China und Japan erreichbar. Selbst wenn nicht in jedem Fall der tatsächliche Einsatz geplant ist, stellen diese Waffen folglich ein hohes Risiko dar. Nukleare Nichtverbreitungspolitik Die auf internationaler Ebene vereinbarten Kontrollen zur Verhinderung der Proliferation bestehen aus mehreren miteinander verbundenen Verträgen. Diese betreffen die Verbreitung von ▶ atomwaffenfähigem Material, ▶ Aufbereitungstechnologie und ▶ Trägersystemen, die unterbunden werden sollen. Darüber hinaus gibt es ▶ Anstrengungen, das Testen von Atomwaffen, sowie ▶ seit 1963 globale und regionale Initiativen, den Test von Atombomben beziehungsweise deren Stationierung zu ächten. 10.4 Maximale Reichweite nationaler Raketensysteme Abb. 10.4 <?page no="307"?> 292 I nternatIonale s IcherheIt Kontrolle des spaltbaren Nuklearmaterials: Der Nichtverbreitungsvertrag Das wichtigste Vertragsinstrument zur Kontrolle von nuklearwaffenfähigem Material ist der 1968 geschlossene Nichtverbreitungsvertrag (NVV)-- er wird auch Atomwaffensperrvertrag genannt. Am Tag der Auslegung am 1. Juli 1968 unterschrieben die USA, Großbritannien und die Sowjetunion den Vertrag gemeinsam mit 59 weiteren Staaten. 1992 traten China und Frankreich dem Abkommen bei, in dem inzwischen 190 von 195 Staaten Mitglied sind. Nuklearwaffenbesitzende Nicht-Mitglieder sind Israel, Indien, Nordkorea und Pakistan. Nordkorea war schon Mitglied des Abkommens, nutzte aber 2003 die im Vertrag vorgesehene Möglichkeit (Art. X), von seinen Verpflichtungen zurückzutreten. Einteilung der Staaten Der Vertrag teilt die Staatenwelt in zwei Gruppen ein: Nuklearwaffenstaaten (NWS), also Staaten, die bereits im Besitz von Atomwaffen sind (China, Frankreich, Großbritannien, die Sowjetunion und die USA), und Nicht-Nuklearwaffenstaaten (NNWS), die sie nicht besitzen. Merke Die NWS verpflichten sich, weder Atomwaffen weiterzugeben noch anderen Staaten dabei zu helfen, Atomwaffen zu entwickeln oder ihnen Verfügung darüber zu gewähren. Die NNWS wiederum verpflichten sich, keine Versuche zu unternehmen, Atomwaffen oder nukleare Sprengstoffe zu entwickeln, zu erwerben oder die Verfügung darüber zu erlangen (Art. I und II). Sowohl die vertikale Proliferation (die Entwicklung neuer Arten von Kernwaffen), als auch die horizontale Proliferation (die Verbreitung von Kernwaffen) wird verboten (Neuneck 2011). 10.4.1 NWS: Keine Weitergabe von Nuklearwaffen Komponenten der Proliferationskontrolle von Nuklearwaffen Kontrolle des spaltbaren Materials ▶ Nichtverbreitungsvertrag ▶ IAEA-Sicherheitsmaßnahmen Kontrolle des Exports der Aufbereitungstechnologie ▶ Zangger-Komitee * 1971; 38 Mitglieder, Nukleartechnologie ▶ Nuclear Suppliers Group * 1974; 46 Mitglieder, Dual-Use-Technologien Kontrolle des Exports der Trägersysteme ▶ Missile Technology Control Regime MTCR, * 1987; 34 Mitglieder ▶ START-Verträge Komponenten der Proliferationskontrolle von Nuklearwaffen Tab. 10.1 <?page no="308"?> 293 I nternatIonale s IcherheIt n uKleare n IchtVerbreItunGspolItIK Einheit 10 Die NNWS versprechen weiter, ihre eingegangenen Verpflichtungen überprüfen zu lassen. Dies geschieht durch die IAEA, die dazu umfassende Inspektionen durchführt. Diese stellt sicher, dass Nicht-Nuklearmächte das nuklearwaffenfähige Material, das für die friedliche Nutzung bestimmt ist, nicht militärisch nutzen. Gleichzeitig sollen diese Sicherheitsmaßnahmen aber so implementiert werden, dass es die technologische und wirtschaftliche Entwicklung der Mitglieder nicht behindert (Art. III). Zudem wird allen Mitgliedern das nicht-veräußerliche Recht zugesprochen, Ausrüstung, Material sowie wissenschaftliche und technologische Informationen für die friedliche Nutzung von Atomenergie auszutauschen. Der freie Austausch von ziviler Nukleartechnologie wird garantiert (Art. IV), außerdem der Zugang zu Forschungsergebnissen und Anwendungen aus Kernwaffentests, sofern sie zur friedlichen Nutzung von Atomenergie geeignet sind (Art. V). Alle Mitglieder sollen sich an Verhandlungen beteiligen, um das nukleare Wettrüsten zu beenden (Art. VI). Die Zustimmung der NWS zur Verbreitung von Nuklearmaterial ist davon abhängig, dass die Empfängerstaaten dieses Material ausschließlich friedlich nutzen. Der NVV sah sogenannte Überprüfungskonferenzen in einem Fünf-Jahres-Turnus vor. Der Vertrag lief 1995 aus und wurde dann auf unbegrenzte Zeit verlängert. Die Internationale Atomenergieagentur Die Atomenergieagentur IAEA ist das zentrale Überwachungsorgan des NVV. Allerdings muss jeder Vertragsstaat mit der IAEA einen gesonderten Vertrag schließen. Diese zusätzliche Verpflichtung sind bisher 140 Staaten eingegangen. Merke Ähnlich wie im Fall des Menschenrechtsschutzes (siehe Einheit 13) sieht die Überwachung durch die IAEA ein Berichtsverfahren vor, in dem Staaten Rechenschaft darüber ablegen, wo ihr Nuklearmaterial gelagert ist und wie viel davon wie genutzt wird. Ein wichtiges Überprüfungsinstrument sind Inspektionen. Staaten gehen durch die Unterzeichnung der Sicherheitsmaßnahmen der IAEA Verpflichtungen ein, die die Überwachung erhöhen: So überprüft die IAEA den Stoffkreislauf, um sicher zu stellen, dass tatsächlich kein Material für die zivile Nutzung in die militärische Nutzung umgeleitet wird und sie macht Tests in der Umwelt auf erhöhte Strahlung. Da der Atombombenbau erst ab einer kritischen Menge an angereichertem Uran möglich ist, diese aber mit ca. 15-50 kg tatsächlich nicht sehr hoch ist, ist es für die IAEA sehr wichtig, genau zu wissen, wie viel Uran wo vorhanden ist. Deshalb müssen Staaten hier präzise Gewichtsangaben machen und ihre Berichte über Zu- und Abgänge von spaltbarem Material werden genau überprüft. NNWS: Ausschließlich friedliche Nutzung der Atomenergie Überwachungsmechanismus: Berichtsverfahren Überwachung Stoffkreislauf <?page no="309"?> 294 I nternatIonale s IcherheIt Zusätzlich werden die Einrichtungen streng überwacht, beispielsweise durch Kameras und Siegel, die an Gebäuden angebracht werden, in denen Material lagert. ▶ Die Weiterverbreitung oder der Erwerb von Nuklearmaterial zur militärischen Nutzung ist verboten. ▶ Die friedliche Nutzung von Kernenergie ist erlaubt und wird gefördert. ▶ Die Abrüstung des Atomwaffenpotentials der NWS ist geboten. ▶ Mitglieder erlauben mehr oder weniger umfassende Inspektionen, um die friedliche von der militärischen Nutzung zu unterscheiden. Der Nichtverbreitungsvertrag in Kürze Roger K. Smith hat den NVV etwas lapidar als großes nukleares Feilschen (nuclear bargain) zwischen den „nuklear Begüterten und den nuklearen Habenichtsen“ (Smith 1987: 257) bezeichnet. Tatsächlich wurde und wird der NVV von den NNWS als Festschreibung eines Status Quo empfunden. Die NNWS befürchteten, dass durch ihn lediglich die Vormachtstellung der NWS zementiert werden sollte, während ihnen selbst der Aufbau eines eigenen Atomwaffenarsenals untersagt bleibt. Ferner steht aus Sicht einiger NNWS der potentiellen Vertragsverletzung der NNWS die Vertragsverletzung durch fehlende Abrüstungsbemühungen seitens der NWS gegenüber. Technologiekontrolle: Zangger-Komitee und die Nuclear Suppliers Group Ein wichtiger Bestandteil der internationalen Nichtverbreitungspolitik ist die Kontrolle der Ausfuhr der Technologien, die für die Herstellung einer Bombe erforderlich sind. Als Teil des Nichtverbreitungsvertrags gründeten sich 1971 mit dem Zangger-Komitee und drei Jahre später der Nuclear Suppliers Group zwei Staatengruppen, die Richtlinien für den Export von Technologien entwickelten. Das Zangger-Komitee ist nach seinem ersten Vorsitzenden benannt, dem Schweizer Claude Zangger. Die Gruppe hatte ursprünglich 15 Mitglieder (auch Nuclear Exporters Committee genannt) und traf sich zwischen 1971 und 1974 regelmäßig, um sich darüber zu verständigen, was genau unter die im Vertrag genannte „Ausrüstung und Materialien“ falle, mit denen spaltbares Nuklearmaterial gewonnen werden kann. Die Anzahl der Mitglieder ist auf inzwischen 39 angewachsen (Stand 2015). Das Zangger-Komitee konzentriert sich auf Exportkontrollen für sogenannte sensible Nukleargüter, also Technologie, die in jedem Fall für Atomwaffen genutzt werden können. Überwachung der Anlagen 10.4.2 <?page no="310"?> 295 I nternatIonale s IcherheIt n uKleare n IchtVerbreItunGspolItIK Einheit 10 Die Nuclear Suppliers Group gründete sich 1974, nachdem Indien seine erste Atombombe gezündet hatte. Die Mitglieder des NVV waren am meisten darüber beunruhigt, dass Indien eine Atombombe mit dem Plutonium entwickelt hatte, das Kanada in den 50er Jahren im Rahmen des Atoms-for- Peace-Programms an Indien geliefert hatte, allerdings ohne dessen Nutzung zu begrenzen. Die Zündung zeigte nicht nur, dass es wahrscheinlich eine Reihe von „Grenzstaaten“ gab, die Nuklearwaffenkapazitäten entwickelt hatten. Sie machte auch deutlich, dass die für friedliche Zwecke gedachte Nuklearenergie für militärische Zwecke missbraucht werden kann. Die Möglichkeit, dieselbe Technologie sowohl zivil als auch militärisch zu nutzen, wird im Englischen Dual-Use Technology genannt. Diese Eigenschaft von bestimmten Technologien macht es relativ schwer, zu entscheiden, welche Technologien noch im Sinne der Exportrichtlinien erlaubt sind und welche nicht. Die Nuclear Suppliers Group konzentriert sich deshalb auf die Erstellung von Richtlinien für Dual-Use-Technologien. Die Gruppe besteht aus 48 nuklearmaterialexportierenden Staaten (März 2016), zu denen sowohl Atommächte als auch Nicht-Atommächte zählen. So gehören die USA und China ebenso dazu wie Deutschland oder Tschechien. Für weitere Informationen sei auf die Homepage der Gruppe verwiesen: www.nuclearsuppliersgroup.org/ en/ history1 (letzter Zugriff 02.01.2015). Kontrolle der Trägersysteme Eine Reihe von Rüstungskontrollverträgen soll die Verbreitung der Trägersysteme verhindern, die Nuklearsprengköpfe transportieren. Das vielleicht bekannteste Rüstungskontrollregime ist der START-Vertrag (Strategic Arms Reduction Treaty). Der START-Vertrag wurde 1991 verabschiedet und stellt einen der komplexesten Abrüstungsverträge dar. In dem Vertrag verpflichteten sich die USA und Russland nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, Obergrenzen für strategische Raketen einzuhalten. Hintergrund dieses Vertrages war die sprunghaft ansteigende Proliferation durch nuklearwaffenbesitzende Staaten nach der Auflösung der Sowjetunion. Da die Sowjetunion auf heute weißrussischem, kasachischem und ukrainischem Gebiet Atomwaffen stationiert hatte, stiegen diese drei Staaten nach ihrer Unabhängigkeit zu Atommächten auf. Alle drei traten aber dem Nichtverbreitungsvertrag bei und entsagten damit dem Status als atomwaffenbesitzende Staaten. Das Missile Technology Control Regime (MTCR) wurde 1987 gegründet und ist eine freiwillige zwischenstaatliche Vereinbarung, die die Verbreitung von ballistischen Raketen beschränken soll, die für Massenvernichtungswaffen genutzt werden können (ursprünglich atomare Waffen, seit 1993 auch biologische und chemische Waffen). Das MTCR verfährt ähnlich wie die Zangger- 10.4.3 Nichtverbreitung der Trägersysteme <?page no="311"?> 296 I nternatIonale s IcherheIt Gruppe oder die Nuclear Suppliers Group, nur dass sie sich auf die Trägersysteme konzentriert. Das Regime etabliert Exportkontrollen für diese Systeme. Ein wichtiger Erfolg der Gruppe ist, dass China im November 2000 bekanntgab, dass es die Exportkontrollen des MTCR mittragen und anderen Staaten nicht weiter bei der Entwicklung ballistischer Raketen helfen werde. 2004 stellte es einen Antrag auf Mitgliedschaft im MTCR. China hatte zuvor für Pakistan und Nordkorea eine zentrale Rolle bei der Entwicklung ihres Raketenprogramms gespielt. Indien stellte 2008 einen Antrag auf Mitgliedschaft. Atomwaffenfreie Zonen und Teststoppabkommen Neben Bemühungen, die Verbreitung von Atomwaffen zu beschränken, gibt es seit den 1960er Jahren auch Initiativen zum Verbot von Atomwaffentests. 1963 wurde ein partieller Kernwaffenteststoppvertrag (Partial Test-Ban Treaty) abgeschlossen, der Tests im Weltraum, in der Arktis und unter Wasser verbietet. Dem Abkommen sind bisher 131 Staaten beigetreten. 1996 wurde der Umfassende Kernwaffenteststoppvertrag (Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty) abgeschlossen, der ein umfassendes Verbot von Atomwaffentests und ein globales Verifikationssystem durch entsprechende Messstationen vorsieht. Bis zum Januar 2013 hatten 183 Staaten den Vertrag unterzeichnet, 158 hatten ihn ratifiziert. Damit dieser Vertrag tatsächlich in Kraft treten kann, müssen allerdings 44 der im Anhang des Vertrages genannten Staaten den Vertrag ratifizieren. Dies haben 36 Staaten getan, aber es fehlen die Ratifikationsurkunden von China, Nordkorea, Ägypten, Indien, Iran, Israel, Pakistan und den USA. 3 3 Sehr informativ und gut aufbereitet ist die Webseite des Organisationskomitees des Vertrages, http: / / www.ctbto.org/ (letzter Zugriff 02.01.2015). 10.5 Vertrag Region Unterzeichnungen/ Ratifizierungen Jahr abgeschlossen/ in Kraft getreten Antarktis Antarktis 47 / 47 1959 / 1961 Weltraum Weltraum 91 / 62 1967 / 1967 Tlatelolco Lateinamerika/ Karibik 33 / 33 1967 / 1968 Meeresboden weltweit 89 / 66 1971 / 1972 Raratonga Südpazifik 13 / 13 1985 / 1986 2+4-Vertrag DDR/ Berlin 6 / 5 1990 / 1992 Bangkok Südostasien 10 / 10 1995 / 1997 Pelindaba Afrika 51 / 28 1996 / 2009 Semei Zentralasien 5 / 5 2006 / 2009 Regionale Verträge über atomwaffenfreie Zonen Tab. 10.2 <?page no="312"?> 297 I nternatIonale s IcherheIt n uKleare (n Icht -)V erbreItunG und dIe t heorIen der I nternatIonalen b ezIehunGen Einheit 10 Daneben gibt es einige regionale Initiativen, die das Ziel der Abschaffung von Atomwaffen verfolgen-- so ist die gesamte südliche Hemisphäre atomwaffenfrei. 2009 sind dabei zwei wichtige Verträge in Kraft getreten, der Vertrag von Pelindaba und der Vertrag von Semei, die die Regionen Afrika und Zentralasien betreffen. Nukleare (Nicht-)Verbreitung und die Theorien der Internationalen Beziehungen Stellt die Entwicklung von Atomwaffen durch Indien, Pakistan, Nordkorea und eventuell den Iran ein Versagen der Nichtverbreitungspolitik dar? Oder ist die Nichtverbreitungspolitik erfolgreich gewesen, weil tatsächlich sehr viel weniger Staaten Atombomben entwickelt haben, als möglich gewesen wäre? Die Antwort auf diese Fragen hängt ganz zentral davon ab, mit welchen Theorien der Internationalen Beziehungen man die Nichtverbreitungspolitik untersucht. Trotzdem lassen sich einige zentrale Argumentationen und Ansätze für die Forschung erkennen (für folgende Ausführungen vgl. Sagan 2011). Die Forschung innerhalb der Internationalen Beziehungen konzentriert sich bei der theoretischen Aufarbeitung der Proliferationsproblematik in den letzten Jahren vor allem auf zwei zentrale Fragen. 1. Warum erwerben Staaten Atomwaffen, was sind ihre Motive? Geht es dabei um Sicherheitsinteressen, Prestige oder einfach nur um die technologische Fähigkeit, Atombomben herzustellen? 2. Wie gut funktioniert Nicht-Proliferation? Kann man von einem Erfolg der internationalen Bemühungen um eine Nichtverbreitung sprechen? Forschungsfragen zur Proliferation von Atomwaffen Struktureller Realismus: Warum wollen Staaten die Bombe? Und wie kommt es zur Proliferation? Die Theorie des Realismus erklärt vor allem, warum Staaten die kontinuierliche Bereitschaft zeigen, sich Atomwaffen anzueignen. Sie würde aber nicht generell davon ausgehen, dass es zu einer rasanten Proliferation kommt. Die defensiven Positionalisten unter den Realisten wie Kenneth N. Waltz gehen davon aus, dass sich Staaten nur dann waffenfähiges nukleares Material beschaffen oder ein Atomwaffenprogramm entwickeln, wenn sie sich durch einen anderen Staat bedroht sehen. Sie verteidigen lediglich ihre positionale Macht, sind aber nicht aggressiv bei der Verfolgung ihrer Machtin- 10.6 10.6.1 <?page no="313"?> 298 I nternatIonale s IcherheIt teressen. Ihr erstes Ziel ist die Herstellung eines Machtgleichgewichts. Realistische Theorien nehmen an, dass sich Atomwaffen unter den Bedingungen der Anarchie und bei einem Sicherheitsdilemma stabilisierend auf zwischenstaatliche Beziehungen auswirken können. Folglich gehen Realisten auch davon aus, dass Staaten, die ein Atomwaffenprogramm verfolgen, rational auf Bedrohungswahrnehmungen reagieren. Sie sehen das Risiko als gering an, dass diese Staaten andere Staaten angreifen und vernichten wollen. Sie wollen abschrecken, nicht auslöschen, zumal sie bei einem Einsatz auch ihre eigene Vernichtung riskieren. Die Geschichte der nuklearen Weiterverbreitung erklärt sich demzufolge als eine Art Kettenreaktion auf Sicherheitsbedrohungen. Während des Zweiten Weltkriegs entwickelten die USA, Großbritannien, Deutschland, die Sowjetunion und Japan Atomwaffenprogramme. Aus diesem Wettrennen gingen die USA als Sieger hervor. Die sowjetische Führung verstärkte erst nach den Atombombenangriffen auf Japan die Arbeiten an einer eigenen Atombombe. Das sowjetische Atomprogramm gab wiederum den Anstoß für China, eine Bombe zu entwickeln, da es sich durch die Sowjetunion bedroht fühlte und in den 1960er Jahren in einen militarisierten Aneignung als rationale Reaktion auf Bedrohungswahrnehmungen Theorie Warum Aneignung? Wer erwirbt? Muster der Verbreitung Wie kontrollieren? Struktureller Realismus ▶ Staaten streben nach Sicherheit ▶ Atomwaffen als interne Gleichgewichtspolitik gegen eine Bedrohung ▶ Staaten, die sich einer Bedrohung ausgesetzt sehen ▶ Beispiele: Israel, Nordkorea, Iran ▶ nicht möglich und nötig ▶ Kontrolle schädlich, da Gleichgewichtspolitik verhindert wird ▶ kontrollierte Proliferation erwünscht Institutionalismus ▶ Staaten kooperationswillig, aber misstrauisch ▶ wenig interdependente Staaten (Außenseiter) ▶ Beispiele: Südafrika während Apartheid, Nordkorea ▶ gezielte Einbindung in Nichtverbreitungsregime ▶ strengere Kontrollen ▶ Abrüstung Konstruktivismus ▶ Identitäten: verknüpft mit Führungsrolle, Prestige ▶ Staaten, die den Besitz von Atomwaffen mit einer Führungsrolle assoziieren ▶ Beispiele: Frankreich; evtl. Iran ▶ Rollenverständnis ändern: „Verantwortungsvolle Führungsmacht“ ▶ Legitimität des NVV durch konsequente Regeldurchsetzung stärken Aneignung, Verbreitung und Kontrolle nuklearen Materials im Erklärungsmuster des Strukturellen Realismus, neoliberalen Institutionalismus und Konstruktivismus Tab. 10.3 <?page no="314"?> 299 I nternatIonale s IcherheIt n uKleare (n Icht -)V erbreItunG und dIe t heorIen der I nternatIonalen b ezIehunGen Einheit 10 Konflikt mit seinem Nachbarn verwickelt war. Das chinesische Atomwaffenprogramm provozierte das indische Programm, dieses wiederum das pakistanische und so weiter. Die globale Begrenzung von Atomwaffen erklärt sich aus realistischer Perspektive nicht aus der Existenz des Nichtverbreitungsvertrags, sondern aus variablen Sicherheitsbedrohungen. Lassen diese nach, können Staaten es sich leisten, ihre kostspieligen militärischen Nuklearwaffenprogramme aufzugeben. Südafrika, Brasilien und Argentinien gaben ihre Programme auf, nachdem sie sich nicht mehr von Nachbarstaaten bedroht fühlten. Institutionen wie die IAEA haben nicht die Autorität, das Inspektionsregime gegenüber den Mitgliedsstaaten durchzusetzen und damit Proliferation effektiv zu verhindern. Die IAEA ist nach realistischer Theorie nur durchsetzungsfähig, wenn sie durch die Interessen der mächtigsten Staaten gestützt wird. Gerade weil die Weiterverbreitung von Atomwaffen der Herstellung eines Machtgleichgewichts dient, verteidigen Vertreter eines Strukturellen Realismus in der Politikberatung oftmals die Weiterverbreitung und wenden sich gegen Maßnahmen-- vor allem militärische-- die eine Politik der Nichtweiterverbreitung durchsetzen sollen. Der Strukturelle Realismus sieht Proliferation als notwendiges Übel an, um ein internationales Machtgleichge- In Kenneth N. Waltz’ Veröffentlichung „Why Iran should get the bomb“ (Waltz 2012) bringt dieser folgende Argumente: ▶ Ein nuklear bewaffneter Iran könne die Stabilität im Nahen Osten erhöhen. ▶ Der Iran werde nicht mit sich verhandeln lassen, was das Atomwaffenprogramm angeht: die iranische Führung reagiere rational auf Sicherheitsbedrohungen. ▶ Die Nuklearpolitik Israels stelle in den Augen der Anrainerstaaten eine Sicherheitsbedrohung im Nahen und Mittleren Osten dar: „It is Israel’s nuclear arsenal, not Iran’s desire for one, that has contributed most to the current crisis.“ (Waltz 2012: 3) Die Politik Israels, sein Nuklearmonopol in der Region auch militärisch zu verteidigen - wie durch die Angriffe auf den Irak 1981 und Syrien 2007 -, wirke sich destabilisierend aus. ▶ Weil es zugelassen worden sei, dass Israel dies ohne Sanktionen tun kann, würden andere Staaten auf Selbsthilfemittel zurückgreifen. Deren Nuklearwaffenprogramme dienten der Abschreckung Israels. ▶ Es bestehe wenig Gefahr, dass Iran verantwortungslos mit der Bombe umgeht. Die Führung agiere bisher rational. Auch das Risiko, dass Atomwaffen in die Hände von terroristischen Netzwerken gelangen, sei gering. ▶ Sei Iran erst im Besitz der Atomwaffen, werde der Rüstungswettlauf in Nahen und Mittleren Osten wahrscheinlich sein Ende finden. Struktureller Realismus und das iranische Atomprogramm <?page no="315"?> 300 I nternatIonale s IcherheIt wicht herzustellen. Im Fall des Irak und des Iran haben sich Neorealisten deshalb auch aktiv in die politische Debatte über Sanktionen und präventive Angriffe gegen beide Staaten eingemischt und jeweils davon abgeraten, solche durchzuführen. Waltz Argumente sind provozierend, leiten sich aber vollständig aus den Annahmen des Strukturellen Realismus ab. Die Frage ist, ob er mit seiner Prognose, dass es nach dem Iran zu keiner Weiterverbreitung kommt, nicht zu positiv ist. So wurde auf der Review Conference des NVV die Sorge geäußert, dass nach dem Iran Ägypten nuklear aufrüsten könnte und danach ein atomarer Rüstungswettlauf im Nahen und Mittleren Osten in Gang käme (Kuppuswamy 2006). Institutionalismus: Warum besitzen die meisten Staaten keine Bombe? Die Theorie des Institutionalismus erklärt, warum es den Nichtverbreitungsvertrag gibt. Sie hat also einen anderen Erklärungsgegenstand als die anderen beiden Theorien. Ausgangspunkt des Institutionalismus ist, dass die Weiterverbreitung von Nuklearwaffen das kollektive Gut „Sicherheit“ gefährde. Das Risiko eines nuklearen Rüstungswettlaufs an mehreren Fronten erhöht die Wahrscheinlichkeit eines ungewollten Atomkriegs durch Fehlwahrnehmung oder -kalkulation. Der Institutionalismus fragt im zweiten Schritt, ob das Nichtverbreitungsregime ein effektives Vertragsregime ist. Der Institutionalismus geht davon aus, dass Staaten Anreize haben zu kooperieren, wenn die absoluten Gewinne aus Kooperation größer sind als die Gewinne aus der Nicht-Kooperation. Der Nichtverbreitungsvertrag löst zwei kollektive Handlungsprobleme, denen sich Staaten gegenübersehen. Das erste Problem besteht darin, einen Konsens über die Notwendigkeit von Nicht-Proliferation zu schaffen, wenn es gleichzeitig große Anreize zur Weitergabe von Atomwaffen gibt. Zwei Motivationen sind hier wichtig: die NWS haben selbst Anreize, Atomwaffen weiterzugeben, und zwar an ihre Alliierten, da dies ihre Sicherheit erhöht. Sie wissen aber auch, dass die anderen NWS genauso denken. Eine schnelle Proliferation wäre die Folge und damit größere Unsicherheit. Die NNWS haben die Präferenz, dass die Weiterverbreitung effektiv gestoppt wird. Wenn noch mehr NNWS in den Besitz von Atomwaffen kommen, dann gefährdet das ihre Sicherheit. In Abwesenheit eines wirksamen Sanktionsregimes wollen sie sich aber die Option offenhalten, Atomwaffen zu entwickeln, für den Fall, dass sie bedroht sind-- also als Teil einer Selbsthilfestrategie. In beiden Gruppen besteht das Gefangenendilemma darin, dass sie sich prinzipiell selbst mit einem Vertrag binden würden, wenn sie sicher sein können, dass sich andere NNWS ebenfalls binden (Müller 2005). 10.6.2 <?page no="316"?> 301 I nternatIonale s IcherheIt n uKleare (n Icht -)V erbreItunG und dIe t heorIen der I nternatIonalen b ezIehunGen Einheit 10 Das zweite Problem besteht im wechselseitigen Misstrauen. Jeder Staat fürchtet, von den anderen betrogen zu werden. Der Nichtverbreitungsvertrag soll dieses Dilemma lösen. Er leistet, was alle internationalen Institutionen mehr oder weniger gut leisten: Er schafft Transparenz über die kontinuierliche Kooperation anderer Staaten, erhöht die Glaubwürdigkeit in ihre Kooperationsbereitschaft und erleichtert somit schließlich Kooperation. Das Inspektionsregime der IAEA und die Exportkontrollen der Nuclear Suppliers Group ermöglichen es zudem, zu überprüfen, ob die Mitglieder ihren Selbstverpflichtungen nachkommen. Für den Institutionalismus ist das Nichtverbreitungsregime hierbei begrenzt erfolgreich. Die Weiterverbreitung von Atomwaffen konnte in der Tat beschränkt werden. Auch wenn die teils existierenden, teils vermuteten Nuklearwaffenprogramme Indiens, Irans, Nordkoreas und Pakistans in den letzten Jahren viel Medienaufmerksamkeit auf sich gezogen haben, täuscht das Bild, dass die Politik der Nichtverbreitung gescheitert ist. Experten gehen davon aus, dass weltweit zwischen 34 und 48 Staaten über die technischen Mittel verfügen, Atomwaffen zu bauen. Sehr viel weniger Staaten, nämlich neun, sind derzeit tatsächlich im Besitz von Atomwaffen. Aus Sicht des Institutionalismus ist dies ein Ergebnis der Existenz des Nichtverbreitungsregimes. Dieses Regime beeinflusst das Verhalten von Staaten, auch wenn es vielleicht nicht immer die Aneignung von Atomwaffen verhindern kann. Es definiert regelkonformes Verhalten, indem es klar definiert, welches Verhalten erlaubt ist. Die Inspektionen der IAEA ermöglichen es einzuschätzen, welche Staaten eine kritische Masse an waffenfähigem Uran haben und gegen diese gezielt vorzugehen. Die bei Nichteinhaltung drohenden Sanktionen erhöhen die Kosten der Verletzung der vertraglichen Verpflichtungen. Im Fall des Iran hatte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen seit Juli 2006 mehrere Resolutionen verabschiedet, die Sanktionen gegen den Iran vorsahen, bis hin zum Einsatz militärischer Mittel nach Artikel 41 der Charta der Vereinten Nationen (Resolution 1696 vom 31. Juli 2006). Dennoch kann das Nichtverbreitungsregime nur effektiv sein, solange die Kosten der Nichteinhaltung hoch genug sind. Jeder Staat, der aus der Aneignung von Atomwaffen einen Vorteil zieht, der größer ist als die Kosten, die ihm aus Sanktionen entstehen, wird die Regeln brechen. Der Nutzen des NVV verringert sich, je weniger das Regime in der Lage ist, Nichtverbreitung effektiv zu verhindern. Vor allem Staaten, die sich einer akuten Bedrohung ausgesetzt sehen, werden also auch weiterhin Atomwaffen entwickeln. Wechselseitiges Misstrauen Kosten-Nutzenabwägung der Nicht-Einhaltung <?page no="317"?> 302 I nternatIonale s IcherheIt Konstruktivismus: Wozu brauchen Staaten die Bombe? Und warum wird es in Zukunft Atomwaffenstaaten geben? Konstruktivistische Theorien konzentrieren sich auf zwei Faktoren, die erklären, warum sich Staaten unabhängig von sicherheitspolitischen Kalkulationen Atomwaffen aneignen und damit gegen internationale Vereinbarungen verstoßen. Sie gehen davon aus, dass es jeweils soziale Normen sind, die den Erwerb von Nuklearwaffen, die Einhaltung des NVV, aber auch den Einsatz von Nuklearwaffen regeln. Bestimmte soziale Rollen und der damit verbundene Status, beispielsweise im Falle einer regionalen Führungsrolle, können den Erwerb nahelegen. Die beobachtbare Implikation ist, dass man unabhängig von einer konkreten Sicherheitsbedrohung Proliferation unter regionalen Konkurrenten um eine Führungsrolle beobachten könnte. Scott D. Sagan zeigt für Frankreich, dass die Entscheidung für die Entwicklung der Atombombe vor allem damit zu tun hatte, dass französische Politiker darin ein Prestigeobjekt sahen. Frankreich war aus dem Zweiten Weltkrieg mit einem erheblichen weltpolitischen Machtverlust herausgegangen. Im Zuge der Entkolonialisierung verlor Frankreich zahlreiche Kolonien und somit eine wichtige Basis seiner bisherigen Macht (vgl. Einheit 2). Frankreichs Identität als eine „Grande Nation“ und Großmacht musste folglich durch ein anderes Mittel Ausdruck verliehen werden: der Atombombe (Sagan/ Waltz 1995: 78 f.). McGeorge Bundy, der damalige nationale Sicherheitsberater unter US-Präsident John F. Kennedy schreibt Frankreich genau diese Motivation zu. Für Frankreich sei die Bombe der „Ausweis internationaler Größe. Sie würde Frankreich dahin zurückbringen, wo es hingehörte, in den Kreis der Großmächte“ (zitiert nach: Cirincione 2007). Einen ähnlichen Antrieb vermuten Experten beim Atomprogramm des Iran. Der Iran gelangte in den 1960er Jahren an die Technologie zur friedlichen Nutzung von Kernenergie. Er galt damals- - unter der Führung des Shahs von Persien-- als ein sich modernisierender, westlich orientierter Staat. Die Nuklearenergie war Ausdruck seiner modernen Identität. Erst sehr viel später führte eine konkrete Sicherheitsbedrohung zur Überlegung, ein militärisches Atomprogramm zu entwickeln. Die iranische Führung verbindet die Atombombe auch mit Prestige: „Iran’s three main reasons for aspiring to nuclear power are prestige, influence and power and security, in that order.“ (Kuppuswamy 2006: 150) Die zweite konstruktivistische Erklärung konzentriert sich auf die Legitimität des Nichtverbreitungsvertrages. Unabhängig von den materiellen Sanktionen, die der NVV vorsieht, sei es die Überzeugung, dass es sich bei Atomwaffen um unmoralische Waffen handelte, die eine starke Motivation zur Regeleinhaltung liefere. Dieser moralische Impetus wird durch die gerechte Ahndung von Regelverstößen aufrechterhalten und aktualisiert. 10.6.3 <?page no="318"?> 303 I nternatIonale s IcherheIt w arum dIe b ombe ? - d etermInanten für den b esItz Von a tomwaffen Einheit 10 Wo Regelverstöße regelmäßig nicht geahndet werden, versiegt das moralische Kapital des NVV. Unter nicht geahndete Regelverstöße fielen sowohl die mangelnde Verpflichtung der NNWS zur Abrüstung, als auch die fehlende Kritik an den offiziell nicht anerkannten Atommächten aufgrund ihres Atomwaffenprogramms. Der Widerstand der arabischen Staaten Ägypten, Jordanien, Syrien, Kuweit und Libanon gegen eine Verlängerung des NVV nach 1995 hinaus erklärt sich aus der fehlenden Verpflichtung Israels, dem NVV beizutreten und Inspektionen der IAEA zuzulassen (Tannenwald 2013). Warum die Bombe? - Determinanten für den Besitz von Atomwaffen In den letzten Jahren sind aufgrund neuer Daten eine Reihe empirischer Untersuchungen durchgeführt worden, die Erklärungen dafür liefern, warum Staaten sich Atomwaffen aneignen oder davon absehen. So untersuchen Dong-Joon Jo und Erik Gartzke (Jo/ Gartzke 2007), welche Faktoren dazu führen, dass Staaten 1) ein Atomwaffenprogramm beginnen und 2) warum sie es beenden oder nicht. Sie nehmen an, dass die Fähigkeit, ein solches Programm zu beginnen und dann zu beenden, von Faktorenbündeln beeinflusst werden, die sie als Gelegenheit und Bereitschaft zum Bau einer Bombe bezeichnen. Die Gelegenheit zum Bau einer Atomwaffe ergibt sich durch die Verfügbarkeit von Technologien, des nuklearen Spaltmaterials und einer entsprechenden wirtschaftlichen Kapazität. Die Bereitschaft, eine Nuklearwaffe herzustellen, besteht dann, wenn Staaten entweder bedroht sind (und nicht auf einen nuklearen Sicherheitsschirm zurückgreifen können), durch ihre Verfasstheit (autokratisch) starke innerstaatliche Präferenzen für einen Bau einer Nuklearwaffe existieren, Verhalten durch vertragliche Verpflichtungen wie den NVV eingeschränkt ist, oder aber der Erwerb der Waffe mit Statusgewinnen einher geht. Im Ergebnis sind es die gleichen Variablen, die den Beginn eines Atomwaffenprogramms und dessen Abschluss erklären, diese haben aber unterschiedlich starken Einfluss auf die beiden Entscheidungsstufen. Die Faktoren technologische Fähigkeit, wirtschaftliche Kapazität und konventionelle Bedrohung sind diejenigen, die-- statistisch betrachtet-- den stärksten Einfluss darauf haben, ob Staaten ein Programm entwickeln und es zu Ende führen. Für die Entscheidung zum Beginn eines Nuklearprogramms ist die technologische Fähigkeit der wichtigere Erklärungsfaktor, für den Abschluss aber die wirtschaftliche Kapazität. Mit anderen Worten: Staaten müssen nicht nur 10.7 <?page no="319"?> 304 I nternatIonale s IcherheIt die technologischen Fähigkeiten und das Wissen besitzen, sondern auch die wirtschaftliche Leistungskraft, ein solches Programm weiterzuführen. In Bezug auf „Bereitschaft“ haben zwei Faktoren sehr große Effekte auf die Existenz eines Nuklearwaffenprogramms und seinen Abschluss: konventionelle Bedrohung und Großmachtstatus. Die Existenz eines nuklearen Schutzschirms-- durch ein Abkommen mit einer Nuklearmacht wie die USA oder Russland- - senkt die Wahrscheinlichkeit des Beginns eines Atomprogramms. Staaten, die sich einer nuklearen Bedrohung gegenüber sehen, haben aber eine geringere Wahrscheinlichkeit, ein Nuklearwaffenprogramm zu entwickeln, was die beiden Autoren als Bestätigung der von Sagan und Waltz vertretenen These werten, dass Staaten durch einen nuklear bewaffneten Nachbarn vom Bau einer eigenen Waffe eher abgeschreckt als ermutigt werden. Die diplomatische Isolierung eines Staates erhöht dagegen nicht die Wahrscheinlichkeit eines Nuklearwaffenprogramms. Wenig empirische Unterstützung finden Argumente, dass innerstaatliche Faktoren die Entscheidungen beeinflussen, oder dass der NVV als Institution staatliches Verhalten beeinflusst. Ein weiteres interessantes Ergebnis bezieht sich auf die Status-Variable. Sie hat zwar die höchsten Effekte auf die Existenz eines Programms und den schlussendlichen Besitz, aber nur für Großmächte. Regionalmächte beginnen zwar mit größerer Wahrscheinlichkeit ein Nuklearwaffenprogramm, die Wahrscheinlichkeit, dass sie dieses auch abschließen, ist aber nicht höher als bei Staaten, die keinen regionalen Führungsanspruch erheben. Die Studien von Matthew Fuhrmann (Fuhrmann 2009) und Brown und Kaplow (Brown/ Kaplow 2014) betonen hingegen einen ganz anderen Faktor, der von den Theorien bisher vernachlässig wird: Die Proliferation von Atomwaffen korreliert signifikant mit zivilen Nuklearprogrammen. Sowohl bilaterale Abkommen zur nicht-militärischen Nutzung von Kernenergie als auch die technischen Programme der IAEA erhöhen die statistische Wahrscheinlichkeit, dass ein Staat auch ein militärisches Atomprogramm entwickelt. Fuhrmann widerspricht daher der konventionellen Auffassung, dass die zivile Nutzung keinen Einfluss auf die militärische Nutzung der Kernenergie habe: Er argumentiert: „[T]he conventional wisdom is wrong-- and dangerous. All types of civilian nuclear assistance raise the risks of proliferation.“ (Fuhrmann 2009: 8) Theorien der Internationalen Beziehungen sehen ganz unterschiedliche Ursachen für die Verbreitung von Atomwaffen und sie machen aufgrund ihrer Annahmen über die internationale Politik unterschiedliche Aussagen darüber, ob und wie man die nukleare Proliferation einschränken kann. Quantitative Untersuchungen ermöglichen einen Test der theoretischen Erklärungen. Sie zeigen aber auch, dass die nukleare Nutzung ein bisher <?page no="320"?> 305 I nternatIonale s IcherheIt Einheit 10 V erwendete l Iteratur unterschätztes Risiko ist. Das Dilemma der Förderung der zivilen Nutzung von Kernenergie bei gleichzeitiger Kontrolle der militärischen Nutzung ist letztlich nicht gelöst. 1. Benennen Sie die drei zentralen Komponenten, an denen die Politik der internationalen Nichtverbreitung ansetzt. 2. Was besagt der Nichtverbreitungsvertrag? 3. Was sind aus Sicht des Institutionalismus und aus Sicht des Konstruktivismus Motive dafür, keine Atomwaffen zu entwickeln? 4. Wie passt der Iran in das Ergebnis der Studie von Jo/ Gartzke (2007) und Fuhrmann (2009)? Und was könnten die Ergebnisse für das Anfang 2016 geschlossene Atomabkommen mit dem Iran bedeuten? Atomwaffen A-Z (2010): Die Start-Verträge. http: / / www. atomwaffena-z.info/ atomwaffen-heute/ ruestungskontrolle/ start-vertraege/ index.html (letzter Zugriff 04. 08. 2012). 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Übungen Verwendete Literatur <?page no="322"?> 307 w arum dIe b ombe ? - d etermInanten für den b esItz Von a tomwaffen Einheit 11 Globale Machtverschiebungen Inhalt 11.1 Was sind aufstrebende Mächte? 309 11.2 BRIC: Schwellenländer auf der Überholspur 310 11.3 Grundlagen des wirtschaftlichen Erfolgs 311 11.4 Governance-Indikatoren: Die BRIC-Staaten auf verschiedenen Spuren? 315 11.5 BRIC: Natürliches oder strategisches Bündnis? 317 11.6 BRIC und die Theorien der Internationalen Beziehungen: Ein Fall von Machttransition in den internationalen Beziehungen 320 11.7 Institutionalismus: Autorität und Politisierung internationaler Institutionen 327 Übungen 329 Verwendete Literatur 329 <?page no="323"?> 308 G lobale m achtVerschIebunGen In diesem Kapitel werden die aufsteigenden Staaten, insbesondere die sogenannten BRIC-Staaten Brasilien, Russland, Indien und China behandelt. Es wird erläutert, was das Konzept der aufstrebenden Staaten analytisch gehaltvoll macht, und was diese Staatengruppe besonders auszeichnet, so dass sie aus Perspektive der Internationalen Beziehungen interessant werden. Die Bedeutung eines möglichen Aufstiegs dieser Staaten für die internationalen Beziehungen sowie drei unterschiedliche Sichtweisen auf den Aufstieg der BRIC-Staatengruppe werden dargestellt. Dieses Kapitel ist einem jüngeren Phänomen der internationalen Beziehungen gewidmet, dem Aufstieg neuer Mächte. Gemeint sind hier in erster Linie die bevölkerungsreichen Staaten Brasilien, China, Indien, und Russland, die seit einigen Jahren ein rasches Wirtschaftswachstum erleben. Die Investmentfirma Goldman-Sachs hat für diese Staatengruppe 2001 den Begriff der BRIC-Staaten geprägt. Inzwischen werden oft noch mindestens zwei weitere Staaten in einem Atemzug mit den BRIC-Staaten genannt, nämlich Südafrika und Mexiko, so dass von den BRICS oder inzwischen auch schon von den BRICSAM-Staaten gesprochen wird. Dass sich Investmentfirmen für wirtschaftlich sehr dynamische Staaten interessieren, ist nicht überraschend. Aber der Aufstieg dieser Staatengruppe stößt auch unter Wissenschaftlerinnen aus den Internationalen Beziehungen auf große Aufmerksamkeit. Was macht diese Staatengruppe aus der Perspektive der internationalen Beziehungen so interessant? Dafür gibt es zwei zentrale Gründe: Erstens werden die BRIC-Staaten aller Voraussicht nach in einem Zeitraum von 10 bis 40 Jahren die wirtschaftlich stärksten Staaten der Welt, gemessen an ihrem Bruttosozialprodukt, überholt haben. Es wird demnach eine historische Machtverschiebung in der internationalen Politik geben, an deren Ende vermutlich erstmals seit der industriellen Revolution nicht mehr westliche Staaten oder heutige OECD-Staaten an der Spitze der Weltwirtschaft stehen werden. In unterschiedlichen Kombinationen agieren diese Schwellenländer als Staatengruppen unter verschiedenen Etiketten. So haben sich die demokratischen aufsteigenden Schwellenländer Indien, Brasilien und Südafrika als IBSA-Staaten informell zusammengeschlossen. Andere Betitelungen sind „Next 11“ oder „Global Swing States“ (vgl. Kappel/ Pohl 2013: 2). Zweitens verbindet sich damit aber auch die Erwartung, dass diese Machtverschiebung Konsequenzen für die Stabilität der internationalen Beziehungen haben wird. Einige Szenarien sehen darin eine Quelle von Instabilität und potentiell von einem großen Krieg. Zumindest haben derart dramatische Machtverschiebungen historisch betrachtet sehr häufig zu vernichtenden Kriegen geführt (Vasquez 1996; Tammen u. a. 2000). Überblick Konsequenzen für die Stabilität internationaler Beziehungen <?page no="324"?> 309 G lobale m achtVerschIebunGen w as sInd aufstrebende m ächte ? Einheit 11 Dieses Kapitel fragt im ersten Teil-- aufbauend auf dem analytischen Konzept von aufstrebenden Mächten- -, inwiefern es gerechtfertigt ist, bei den BRIC-Staaten von einer Gruppe gleichgesinnter Staaten zu sprechen, die aufgrund ihrer Position ähnliche Interessen vertreten. Der Überblick über die Grundlagen des wirtschaftlichen Erfolgs der BRIC-Staaten sowie die Bedingungen der Formation der BRIC-Staaten als politischer Akteur liefert im zweiten Teil der Einheit eine Annäherung an eine Antwort. Der dritte Teil beschreibt, wie die Theorien der IB den wirtschaftlichen Aufstieg der BRIC- Staaten beschreiben und welche Prognosen sie für die internationale Politik ableiten. Drei Szenarien werden hier vorgestellt: Eine Serie langanhaltender Kriege um die Hegemonie zwischen den USA und China (Machttransitionstheorie), die Weiterentwicklung des bestehenden Systems mit den USA als wichtigem Akteur (liberaler Internationalismus) und schließlich die Politisierung von internationalen Institutionen als eigentliche Herausforderung für globale Politik, der durch das Phänomen der aufsteigenden Mächte lediglich verschleiert wird (Institutionalismus). Was sind aufstrebende Mächte? Aufstrebende Mächte zeichnen sich erstens dadurch aus, dass sie aufgrund ihres Wirtschaftswachstums in der Zukunft (sehr wahrscheinlich) einen Zuwachs an Einfluss verzeichnen werden. Ihre Position wird dann eine höhere sein als heute. Ihr künftiger Positionsgewinn kann bereits in aktuellen Verhandlungen eingesetzt werden. Sie agieren unter einem Schatten der Zukunft. Das hat bereits heute Konsequenzen für ihre materielle Verhandlungsposition und für Erwartungen an ihr Verhalten, die ihnen gegenüber formuliert werden. 11.1 Gruppierungen von Schwellenländern BRICS Brasilien, China, Indien, Russland, Südafrika G20 Argentinien, Australien, BRICS, Deutschland, Europäische Union, Frankreich, Großbritannien, Indonesien, Italien, Japan, Kanada, Mexiko, Saudi-Arabien, Südkorea, Türkei, USA Next 11 Ägypten, Bangladesch, Indonesien, Iran, Mexiko, Nigeria, Pakistan, Philippinen, Südkorea, Türkei, Vietnam Schlüsselpartner der OECD Brasilien, China, Indien, Indonesien, Südafrika Global Swing States Brasilien, Indien, Indonesien, Türkei Middle Kingdoms Ägypten, Argentinien, BRICS, Chile, Indonesien, Kolumbien, Korea, Malaysia, Mexiko, Philippinen, Polen, Thailand, Türkei Gruppierungen von Schwellenländern Tab. 11.1 <?page no="325"?> 310 G lobale m achtVerschIebunGen Sie zeichnen sich zweitens durch ihr schieres Gewicht aus. Durch ihre hohe Bevölkerungszahl sind sie in vielen Bereichen der internationalen Politik Größen, die nicht mehr ignoriert werden können. Beispielsweise liegen die BRIC-Staaten nach ihrem pro-Kopf-Ausstoß an CO 2 weit unter denen eines durchschnittlichen US-Bürgers. Durch ihre große Bevölkerungszahl sind sie trotzdem wichtige Spieler bei den Klimaverhandlungen (Einheit 12). Ohne ihre Verhaltensänderung geht nichts, denn sie sind Veto-Spieler, d. h. Akteure, deren Zustimmung für politische Veränderungen oder Reformen notwendig ist. Drittens handelt es sich um Staaten, die einen regionalen und globalen Führungsanspruch erheben. Sie sind auf militärische Machtmittel und die soziale Anerkennung ihres Führungsanspruchs durch andere Staaten angewiesen. Kernannahme BRIC-Staaten als aufstrebende Mächte definieren sich: 1. materiell durch ihr hohes Wirtschaftswachstum und ihren hohen Anteil an der Weltbevölkerung, 2. politisch durch ihre Position als aufsteigende Spieler: Alle wissen, dass diese Aufsteiger in Zukunft über mehr Macht verfügen werden. Dies kann bereits heute in Verhandlungen genutzt werden, 3. politisch agiert diese Staatengruppe als Veto-Spieler: In einigen Bereichen haben sie einen großen Einfluss bei der Bewältigung globaler Herausforderungen, 4. sozial durch ihre Angewiesenheit auf Anerkennung durch andere Staaten, damit sie in Zukunft eine führende Rolle in der Weltpolitik einnehmen können. BRIC: Schwellenländer auf der Überholspur Was macht gerade die BRIC-Staatengruppe so erfolgreich, bzw. warum weckt sie so viel Aufmerksamkeit? Diese Staaten haben in den letzten Jahren eine rasante wirtschaftliche Entwicklung erlebt, die-- sollte sie sich fortsetzen-- bis zur Mitte des Jahrhunderts zu großen Veränderungen in der wirtschaftlichen Hierarchie der Staaten führen wird (siehe Abbildung 11.1). Gemessen am Bruttoinlandsprodukt und in Kaufkraftparitäten zur besseren Vergleichbarkeit des Pro-Kopf- Einkommens bilden die Spitze der wirtschaftlichen Hierarchie die USA, China, Japan, Indien, Deutschland, Russland, Großbritannien, Frankreich, Brasilien und Italien. Damit sind von den zehn Staaten mit dem größten BIP sechs Staaten aus der OECD, bzw. vier europäische Staaten. Im Jahr 2050 wird die Reihenfolge voraussichtlich wie folgt aussehen: China, Indien, die USA, Brasilien, Japan, Russland, Mexiko, Indonesien, 11.2 <?page no="326"?> 311 G lobale m achtVerschIebunGen G rundlaGen des wIrtschaftlIchen e rfolGs Einheit 11 Deutschland und Großbritannien. Nach dieser Projektion werden nur noch vier OECD-Staaten unter den ersten 10 Plätzen sein, darunter lediglich zwei europäische Staaten. Die BRIC-Staaten werden sogar unter den ersten sechs Plätzen sein. Neu aufsteigen unter die ersten zehn Staaten werden demzufolge Mexiko und Indonesien, dicht gefolgt von der Türkei, Nigeria und Vietnam auf den weiteren Rängen. Grundlagen des wirtschaftlichen Erfolgs Die wirtschaftliche Aufholjagd der BRIC-Staaten seit Mitte der 1980er Jahre ist ein wesentliches Ergebnis ihrer wirtschaftlichen Integration in Weltmärkte. Trotz markanter politischer Unterschiede zeichnen sich die BRIC- Staaten als neue „ökonomische Kraftwerke“ durch recht ähnliche wirtschaftliche Entwicklungspfade aus. So ist ihnen gemeinsam, dass sie ab 1950 eine mehr oder weniger erfolgreiche Politik der Importsubstitution verfolgten, die eine Integration in globale Wirtschaftsstrukturen weitgehend vermied. Erst ab 1980er Jahren integrierten sie sich in den Weltmarkt (Sachs u. a. 1995). Importsubstitution ist eine staatlich sehr stark gesteuerte Politik, die darauf abzielt, eine Industrialisierung in einem Staat zu fördern, indem die heimischen Industrien durch hohe Außenzölle vor internationaler Konkurrenz geschützt werden. Sie wurde vor allem in Ländern des Globalen Südens implementiert, deren Produktionsstrukturen stark durch Landwirtschaft und Mineralförderung geprägt sind. Importsubstitution 11.3 Rangliste der wirtschaftlich stärksten Staaten, 2009 und 2050 Abb. 11.1 <?page no="327"?> 312 G lobale m achtVerschIebunGen Brasilien und Indien galten in den 1950er Jahren als Erfolgsfälle dieser Politik der Importsubstitution (Bruton 1998). In den 1990er Jahren vollzogen beide aufgrund verheerender Wirtschaftskrisen einen Kurswechsel und führten Wirtschaftsreformen durch, die auf eine starke Handelsliberalisierung hinausliefen. Bereits in den 1960er Jahren galt Brasilien als ein Wachstumsland, das sich dank massiver finanzieller Unterstützung durch das Ausland wirtschaftlich modernisierte, eine eigene Industrieproduktion aufbaute und den Export ankurbeln konnte. Zwischen 1950 und 1966 betrug das jährliche Wirtschaftswachstum der brasilianischen Wirtschaft über fünf Prozent (Bruton 1998: 915). Die Industrialisierung hatte eine Kehrseite: Sie führte zur Stärkung einer oligarchischen landbesitzenden Elite und unter der Militärdiktatur zu wachsenden innerstaatlichen Disparitäten. 1982 erlebte die brasilianische Wirtschaft einen Zusammenbruch, der Staat konnte seine hohen Schulden im In- und Ausland nicht mehr bedienen. 1983 wurden seine Schulden international durch den Internationalen Währungsfonds umstrukturiert. Der von Fernando Henrique Cardoso „Plano Real“ genannte Reformplan führte dazu, dass die Inflation von monatlich 50 Prozent (1994) auf unter zwei Prozent 1998 im Jahresdurchschnitt sank. Der Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung ging von 25 Prozent auf zwölf Prozent deutlich zurück und der Umfang ausländischer Direktinvestitionen verzwanzigfachte sich zwischen 1991 und 1998 von 1 Mrd. auf 20 Milliarden US-$. Ein nach wie vor großes Problem ist jedoch die Disparität zwischen Arm und Reich. Mitte der 1990er Jahre war Brasilien nach Botswana das Land, in dem der Gegensatz zwischen arm und reich am größten war. Auch Indien galt sehr lange als Erfolgsmodell der Importsubstitutionspolitik. Die internen Verwerfungen, die in Brasilien durch eine landbesitzende Oligarchie existierten, bildeten sich in Indien nicht heraus. Erst der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Folgen des Irakkriegs führten zu einer Wirtschaftskrise und einem erheblichen Zahlungsbilanzdefizit. Die Sowjetunion war bis dahin wichtigster Öllieferant Indiens, der Irak eine starke Quelle von ausländischen Kapitalzuflüssen durch indische Arbeitsemigranten im Irak. Die indische Regierung musste den bis dahin verfolgten Wirtschaftskurs aufgeben und leitete 1991 umfassende Wirtschaftsreformen ein. Einfuhrzölle wurden gesenkt, die Infrastruktur massiv ausgebaut und der Markt für Investitionsgüter praktisch vollständig geöffnet. Die Bedingungen für ausländische Direktinvestitionen wurden dadurch grundlegend geändert. Im Zeitraum von 1991 bis 1996 wurden gesamtwirtschaftliche Wachstumsraten von bis zu acht Prozent erreicht. Das industrielle Wachstum stieg in einzelnen Jahren sogar bis auf über 12 Prozent. Die Liberalisierungsmaßnahmen wurden ab 1996 gegen starken innerstaatlichen Wider- <?page no="328"?> 313 G lobale m achtVerschIebunGen G rundlaGen des wIrtschaftlIchen e rfolGs Einheit 11 stand, der von Interessengruppen ausging, die bis dahin vor allem von dem Lizenzsystem profitiert hatten, durchgeführt. Neoliberale wirtschaftspolitische Maßnahmen fördern im Allgemeinen freie Märkte und einen größtmöglichen Wettbewerb, der durch staatliche Instrumente und Regulierungen erhalten und ausgebaut werden soll. Der Neoliberalismus orientiert sich zu Teilen an klassisch liberalen Annahmen über Selbstheilungskräfte des Marktes. In klassischen Modellannahmen kann dementsprechend durch Wettbewerb und das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage das Gleichgewicht der Märkte garantiert werden, das sich wie durch eine „unsichtbare Hand“ einstellt (Adam Smith). Um dabei möglichen Anomalien des Marktes entgegen zu wirken, wie einer zu hohen Arbeitslosigkeit und sozialer Ungleichheit, wird der Staat im Neoliberalismus als Akteur mit in den Prozess eines freien Marktes einbezogen. Der Staat kann durch deregulierende und liberalisierende Maßnahmen sowie durch eine (internationale) Öffnung des Marktes dafür garantieren, dass Konkurrenzfähigkeit und somit auch eine Umverteilung von Kapital und die Lösung sozialer Ungleichheiten erfolgen können. Brasilien war stets durch die große Schere zwischen Arm und Reich geprägt. Seit Mitte der 90er und zuletzt mit Amtsantritt von Luiz Inácio da Silva im Jahre 2002 wurden Brasiliens Märkte nach neoliberalem Prinzip nach außen hin geöffnet. Neben der Förderung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit reagierte man außerdem durch staatliche Regulierungen und finanzpolitische Maßnahmen auf die sozialen Probleme der Ungleichheit und der Klassenbildung zwischen Arm und Reich. Neoliberale Wirtschaftspolitik am Beispiel Brasiliens Russland privatisierte sein sozialistisches Wirtschaftssystem 1991 beinahe über Nacht, initiiert durch den wirtschaftlichen Zusammenbruch der Sowjetunion. Die russische Wirtschaft schrumpfte um mehr als ein Drittel. 1998 wurde Russland von den Auswirkungen der Asienkrise erfasst und musste den Rubel stark abwerten. Steigende Ölpreise verhalfen Russland ab 1999 zu einem wirtschaftlichen Wachstum. Die russische Wirtschaft wuchs seither im Schnitt um 6,8 Prozent pro Jahr (bis 2009). Der Wert des Rubels versechsfachte sich gegenüber dem US-Dollar, Löhne stiegen um das Achtfache. Der Schuldendienst sank von 150 Prozent auf unter zehn Prozent im Jahr 2004 (Goldman Sachs 2004: 29). Ein großes Problem ist jedoch, dass sich Russlands Wachstum „investitionsfrei“ vollzieht. Die Wirtschaft greift auf die nach 1991 nicht mehr genutzten industriellen Kapazitäten zurück. Ihre Infrastruktur ist stark veraltet. Die Investitionsrate der russischen Regierung lag und liegt weit unter der anderer aufsteigender Mächte. Der russische Staatshaushalt profitierte dabei vor allem von Steuern auf den Ölverkauf, die seit 2004 in einen Nationalen Stabilisierungsfonds fließen, der im Fall sinkender <?page no="329"?> 314 G lobale m achtVerschIebunGen Weltmarktpreise für Öl den Haushalt konsolidiert. 2008 wurde der Fonds in einen Reservefonds (für Staatsausgaben) und einen Wohlstandsfonds (für Wohlfahrtsprojekte) aufgeteilt, die beide enorme Überschüsse aufwiesen. Der Wert der beiden Fonds belief sich am 1. März 2009 auf 136,33 Milliarden US-Dollar für den Stabilisierungs- und auf 83,86 Milliarden US-Dollar für den nationalen Wohlstandsfonds. Die gegen Russland 2014 verhängten Sanktionen der USA und der EU wegen der Annexion der Krim haben das Wirtschaftswachstum verlangsamt. China begann 1978 unter Deng Xiaoping grundlegende wirtschaftliche Reformen einzuleiten. Seither hat das Land ein „Wirtschaftswunder“ erlebt: Im Schnitt ist die Wirtschaft Chinas um mehr als neun Prozent pro Jahr gewachsen, mehr als die jedes anderen Landes in diesem Zeitraum. Es führte unorthodoxe Reformen in dem Sinne durch, dass sie keinem Standardmodell der Wirtschaftswissenschaften folgten. Reformen waren experimentell und auf Lernen am Erfolg geprägt und zunächst auf kleine Bereiche beschränkt, die sukzessive ausgeweitet wurden. Sie vollzogen sich in drei Phasen: Die erste Phase von 1978 bis 1984: Unter dem Motto „Planwirtschaft als Basis, Marktregulierung als Extra“ wurden landwirtschaftliche Kommunen durch Umwandlung in Familienbetriebe privatisiert. In der zweite Phase von 1984-1992 („Eine geplante Warenwirtschaft“) wurden die Reformen auf Städte und staatlich kontrollierte Unternehmen ausgeweitet. Die dritte Phase ab 1992 wird als „Sozialistische Marktwirtschaft“ bezeichnet. Die chinesische Führung begann damit, den chinesischen Markt stärker in den Weltmarkt zu integrieren. Dies geschah durch die wirtschaftliche Öffnung weniger, meist an der Küste gelegenen Städte. Dies erlaubte es China, die Auswirkungen auf seine Märkte genau zu studieren und die Konsequenzen der Liberalisierung zu kontrollieren. Die langsame Einführung eines Wettbewerbs zu den staatseigenen Betrieben ermöglichte deren Anpassung und verhinderte ihren Kollaps. Chinas Rolle als global player definiert sich vor allem über sein hohes Wirtschaftswachstum und seinen bedeutenden Beitrag zum Welthandel beziehungsweise seine zunehmende Integration in den Weltmarkt. Durch Chinas Beitritt zur WTO im Jahre 2001 verpflichtete sich die Nation zur Öffnungspolitik und Liberalisierung ihrer Märkte. Seitdem zeichnet sich Chinas Außenhandel durch seine Dynamik und hohes Wachstum aus; die Exportzahlen sind in den vergangenen Jahren immer weiter angestiegen. Das Wirtschaftswachstum Chinas hat in den Jahren 2011 bis 2015 gemessen am BIP um gut 8 Prozent jährlich zugenommen; in den Jahren zuvor war der Anstieg noch höher. Chinas Integration in den Weltmarkt <?page no="330"?> 315 G lobale m achtVerschIebunGen G oVernance -I ndIKatoren : d Ie brIc-s taaten auf VerschIedenen s puren ? Einheit 11 Zusammenfassend kann man feststellen, dass die weltwirtschaftliche Integration der BRIC-Staaten seit Beginn der 1990er Jahre ein wesentlicher Faktor in einer Erklärung ihres wirtschaftlichen Erfolgs ist. Insbesondere der wirtschaftliche Aufstieg Chinas erscheint dabei unumkehrbar. Der Aufstieg dieser Staaten wird die Machtverhältnisse in der internationalen Politik in heute kaum vorstellbarer Weise verändern. Governance-Indikatoren: Die BRIC-Staaten auf verschiedenen Spuren? Von ihren innerstaatlichen Strukturen eint diese vier Staaten relativ wenig, wie Abbildungen 11.2-11.5 zeigen. Es handelt sich um Darstellungen aus dem Bertelsmann-Transformationsindex (BTI), der für 128 Staaten weltweit einen Index zur Qualität von Demokratie, Marktwirtschaft und politischem Management erstellt. Das Kreisdiagramm ist in drei Zonen unterteilt, deren Position zu Darstellungszwecken mit Uhrzeiten gleichgesetzt wird: Der marktwirtschaftliche Status, im Bereich von 11 bis 4 Uhr, erfasst makroökonomische Indikatoren wie Währungs- und Preisstabilität oder Wohlfahrtsstaatlichkeit; der Management Index (Position 4 bis 7 Uhr) erfasst den Grad der internationalen Kooperation, Konsensbildung, und Ressourceneffizienz; der Demokratiestatus im Bereich von 7 bis 11 Uhr erfasst den Status von Staatlichkeit, politischer Partizipation, Rechtsstaatlichkeit und politischer und sozialer Integration. Wie man an den unterschiedlich starken Ein- und Ausbuchtungen erkennen kann, unterscheiden sich die BRIC-Staaten in diesen drei Dimensionen markant, was die Diagramme wie Donuts aussehen lässt, in die an unterschiedlichen Stellen hineingebissen wurde. Was alle vier BRIC-Staaten eint, ist die starke wirtschaftliche Performanz, hier auf der 3: 30 Uhr-Position abgebildet. Sie ist für China und Indien zumindest im Jahr 2012 am stärksten ausgeprägt, während Brasilien und Russland demgegenüber etwas geringere wirtschaftliche Performanz aufweisen. Die zweite Auffälligkeit besteht im Demokratiestatus. Dieser zeigt für Brasilien und Indien recht hohe Werte, während die für Russland und in noch stärkerem Maße jene Chinas relativ schwach ausgeprägt sind. Interessant sind auch die Werte für internationale Kooperation, die für die demokratischeren Staaten Indien und Brasilien höher ausfallen als jene für Russland und China. Diese Dimension erfasst die Bereitschaft von Regierungen auf internationale Partner zur Verwirklichung von langfristigen Entwicklungszielen zurückzugreifen und die Verlässlichkeit der Regierung in Bezug auf die Einhaltung internationaler Abkommen und Kooperation mit Nachbarstaaten (Bertelsmann Transformation Index 2012: 45). Veränderung der Machtverhältnisse in der internationalen Politik 11.4 BRIC und innerstaatliche Strukturen <?page no="331"?> 316 G lobale m achtVerschIebunGen Governance-Index der BRIC-Staaten für 2012 Abb. 11.2-11.5 Brasilien Indien Russland China <?page no="332"?> 317 G lobale m achtVerschIebunGen brIc: n atürlIches oder strateGIsches b ündnIs ? Einheit 11 Der BTI gibt bereits einen ersten Hinweis darauf, dass die BRIC-Staaten zwar in Bezug auf ihre wirtschaftliche Entwicklung eine ähnliche Position aufweisen, in Bezug auf ihre innerstaatlichen Strukturen und ihre staatliche Kapazität aber sehr unterschiedlich sind. Der nächste Abschnitt beschreibt die Geschichte der Formation der BRIC als politischen Akteur und zeigt, dass Position alleine kein hinreichendes Kriterium für die Einheit der BRIC-Staaten ist. Der Zusammenschluss ist zumindest teilweise auch strategisch motiviert: Das BRIC-Forum erlaubt einzelnen Mitgliedern, ihre Interessen besser durchzusetzen als sie das ohne Kooperation könnten. BRIC: Natürliches oder strategisches Bündnis? Die Abkürzung „BRIC“ oder „BRICS“ existiert seit 2001. Sie ist eine Namensschöpfung der Unternehmensberatungsfirma Goldman-Sachs und hier wahrscheinlich von Jim O’Neill, der den Begriff in einem Bericht über Investment-Strategien prägte. In einem Folgebericht von 2004 ließ Goldman-Sachs anklingen, dass der Aufstieg dieser Staatengruppe auch Konsequenzen für internationale Institutionen, wie etwa Finanzinstitutionen, haben könnte. Damit war der Grundstein für eine politische Debatte über die BRIC-Staaten gelegt. Es war die russische Regierung unter Wladimir Putin, die 2006 damit begann, dem BRIC-Etikett politisches Leben einzuhauchen. Putin lud die Außenminister Brasiliens, Chinas und Indiens 2006 nach Moskau ein, um erstmals politische Positionen abzustimmen. 2008 folgte ein Treffen der BRIC-Finanzminister, Vertretern der nationalen Zentralbanken, und anderer Regierungsvertreter, um Ansätze für die Lösung internationaler Pro- 11.5 Governance-Index der BRIC-Staaten für 2012 Abb. 11.2-11.5 Brasilien Indien Russland China <?page no="333"?> 318 G lobale m achtVerschIebunGen bleme zu diskutieren und zu koordinieren. Dies mündete in die gemeinsame Forderung der BRIC-Staaten, die Rolle der G20 zulasten der G8 zu stärken, weil die G20 ihrer Meinung nach besser die neuen finanziellen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse widerspiegelt. Im Juli 2009 fand schließlich der erste offizielle BRIC-Gipfel in Jekaterinburg in Russland statt. 2011 wurde Südafrika als fünfte aufstrebende Macht eingeladen, eine Geste, die aufgrund der vergleichsweise schwächeren Wirtschaftsleistung Südafrikas umstritten war. Ein großer Diskussionspunkt zum Aufstieg der BRIC-Staaten ist, ob es sich bei den BRIC-Staaten tatsächlich um „natürliche“ Partner handelt oder ob der Zusammenschluss politisch motiviert ist. Die „natürliche-Partner“- These geht davon aus, dass die ähnliche Position als aufstrebende Mächte auch ähnliche Präferenzen der BRIC-Staaten determiniert. Die „strategische- Partner“- These geht demgegenüber davon aus, dass sich die Partner aus strategischen Gründen des Machtzuwachses und der Verbesserung ihrer Reputation als BRIC-Staaten zusammengeschlossen haben. Natürliche oder strategische Partner? Der russischen Regierung wird beispielsweise unterstellt, dass sie mit der Formation der BRIC-Staaten eine Position zurückerlangen wolle, die sie mit dem Ende der Sowjetunion verloren hat (Roberts 2010). Mit anderen Worten: Russland ist eigentlich ein weltpolitischer Abstiegs- und kein Aufstiegskandidat. Beiden, Russland und China wird unterstellt, dass sie das Forum nutzen, um ihre angeschlagene Reputation zu verbessern (MacFarlane 2006). Russland wird dabei als ein Staat portraitiert, der weder die militärische Gewaltanwendung (wie bei militärischen Interventionen im Kaukasus oder der Ukraine), noch diplomatischen Druck unter Ausnutzung der asymmetrischen Interdependenz („Energiediplomatie“) scheut, um seine Nachbarstaaten an sich zu binden und den wachsenden Einfluss der USA einzudämmen. Ähnliches gelte für China, dessen Regierung unkooperatives Verhalten in seiner Region Ost- und Südostasien vorgehalten wird (Roberts 2011). Brasilien, Russland und Indien, die weit weniger gute Wachstumszahlen als China haben, wird unterstellt, ihr Mehr an internationalem Einfluss nur unter Ausnutzung des Einflusses des wirtschaftlichen „Superstars“ China zu gewinnen. Der ungewöhnliche Umstand der Gründung der BRIC als Forum- - quasi durch eine Marketingstrategie-- gibt solchen Einschätzungen Auftrieb. Unabhängig davon, welche Motivationen die BRIC-Staaten haben: Es handelt sich um eine Staatengruppe, die es geschafft hat, ihren Einfluss in der internationalen Politik zu vergrößern. Russland als weltpolitischer Abstiegskandidat <?page no="334"?> 319 G lobale m achtVerschIebunGen brIc: n atürlIches oder strateGIsches b ündnIs ? Einheit 11 Ihre Forderungen umfassen ▶ eine Reform der Bretton-Woods-Institutionen Weltbank und Internationaler Währungsfonds mit dem Hinweis, dass diese Institutionen ein Legitimitätsdefizit aufwiesen. ▶ eine Reform des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen mit dem Ziel, Brasilien und Indien zu permanenten Mitgliedern des Sicherheitsrates zu machen. ▶ eine Reform des Handelssystems dahingehend, dass der US-Dollar als Leitwährung und Währung, in dem alle Handelsgeschäfte abgewickelt werden, abgelöst wird. Sie begannen, mit einem Währungskorb für ihren eigenen Handel untereinander zu experimentieren. Als Erfolg der BRIC-Diplomatie wird die Neuverteilung der finanziellen und Stimmquoten innerhalb des IWF bewertet. Diese hat der IWF in zwei Reformen 2008 und 2010 vollzogen, die aber bis 2015 nicht umgesetzt wurden, da die Zustimmung der USA fehlte. Der US-Senat ratifizierte schließlich nach einer jahrelangen Blockadehaltung im Dezember 2015. Die finanziellen Quoten wurden um 100 % aufgestockt und die Stimmverteilung zugunsten der BRIC-Staaten verschoben. Die Höhe der Finanzquoten spiegelt das wirtschaftliche Gewicht eines Staates wider und bestimmt die Zahl der Stimmrechte eines Staates im Governance-Board des IWF. Die Stimmgewichtsverschiebung geht zu Lasten Europas. Durch die Reformen wird China das drittmächtigste Mitglied des IWF und überholt Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Europa verliert zwei Sitze im 24-Mitglieder zählenden Exekutiv-Board, in dem es bisher überrepräsentiert war. Stimmanteile 2016 USA 17,023 16,479 Japan 6,108 6,138 Deutschland 5,968 5,308 Frankreich 4,929 4,024 Großbritannien 4,929 4,024 China 2,928 6,071 Russland 2,734 2,587 Indien 1,916 2,629 Brasilien 1,492 2,218 Veränderung der Stimmanteile im IWF Governance-Board Tab. 11.2 <?page no="335"?> 320 G lobale m achtVerschIebunGen BRIC und die Theorien der Internationalen Beziehungen: Ein Fall von Machttransition in den internationalen Beziehungen Was bedeutet der Aufstieg der BRIC-Staaten für die internationalen Beziehungen? Hat der wirtschaftliche Aufstieg Brasiliens, Russlands, Indiens und Chinas irgendeine Auswirkung auf internationale Politik? Man könnte den Aufstieg dieser Staatengruppe als völlig unproblematisch betrachten. Immerhin ist es etwas extrem Positives, wenn die Regierungen dieser Staatengruppe in der Lage sind, ihre Bevölkerungen besser zu ernähren oder ihnen Sozialleistungen zu gewähren, kurz: ihnen mehr Wohlfahrt zu gewähren. In der politikwissenschaftlichen Forschung wird das Phänomen der BRIC als ein Phänomen der allgemeineren Klasse der Machttransitionen gesehen. Mit der Antwort auf die Frage: „Um was für ein Phänomen handelt es sich bei den BRIC-Staaten? “ versucht man in den Sozialwissenschaften vordergründig singuläre Phänomene als Teil einer größeren Klasse von Phänomenen zu kategorisieren, um zu generellen Aussagen über die Antriebskräfte dieser Phänomene zu kommen. Es ist eine Standardfrage für jedes aktuelle Phänomen, egal ob es sich um die „Arabellion“ handelt, die Ukraine-Krise oder die BRIC. Die Einordnung in eine übergreifende Klasse gibt zugleich Hinweise auf die relevante wissenschaftliche Literatur. BRIC als ein Phänomen der Klasse von Machttransitionen Die wissenschaftliche Forschung über die BRIC-Staaten untersucht diese Staatengruppe als einen Fall von Machttransitionen. Diese Forschung befasst sich mit historischen Machttransitionen und Aufsteigerstaaten, wie die Machttransition von Großbritannien zu den USA nach dem Ersten Weltkrieg, oder die Gruppe der Aufstiegskandidaten Deutschland, Japan und Italien zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter der Fragestellung, ob solche Übergänge friedlich erfolgen, und welche Konsequenzen sie für die globale Ordnung haben. Der bekannteste Ansatz zu Machttransitionen in der internationalen Politik ist das Forschungsprogramm der Machttransitionstheorie, das von Abramo Fimo Kenneth (AFK) Organski und Jacek Kugler entwickelt wurde (Organski/ Kugler 1980; Tammen u. a. 2000). Seine Vertreter haben historische Machttransitionen genauer untersucht, um deren Muster und Dynamiken erklären zu können. Herausgekommen ist dabei eine Theorie über verheerende Kriege. Es gibt aber auch eine Reihe von weiteren Ansätzen, die sich mit ähnlichen Fragestellungen beschäftigen und die unter der generischen Kategorie von Machttransitionen gefasst werden können (vgl. Gil- 11.6 <?page no="336"?> 321 G lobale m achtVerschIebunGen Einheit 11 brIc und dIe t heorIen der I nternatIonalen b ezIehunGen pin 1981, Doran, 1991; Copeland, 2000). Die theoretischen Alternativen zur Machttransitionstheorie sind liberaler Internationalismus und Institutionalismus. Machttransitionstheorie: Aufsteigende Mächte als potentiell gefährliche Herausforderer 1980 veröffentlichten A. F. K. Organski und Jacek Kugler das Buch „The War Ledger“. Das Buch wurde nie ins Deutsche übersetzt, aber man kann den Titel etwa mit „Kriegsbuch“ übersetzen. „The War Ledger“ spiegelt dabei die intensive Beschäftigung Organskis mit den Entwicklungsdynamiken von aufstrebenden Mächten wider. Die zentralen Fragestellungen der Machttransitionstheorie sind sowohl theoretisch als auch pragmatisch begründet: Wie verlaufen Machttransitionen? Unter welchen Bedingungen verlaufen sie friedlich und wann unfriedlich? Und welche Strategien leiten sich daraus für den Umgang mit aufsteigenden Staaten ab? Die Machttransitionstheorie ist eine der hegemonialen Stabilitätstheorie nahestehende Theorie (vgl. Einheit 5), die aber auch Elemente des analytischen Liberalismus und des Institutionalismus vereint. Kernannahmen der Machttransitionstheorie ▶ Hierarchie: Die internationalen Beziehungen zeichnen sich durch eine hierarchische Struktur aus. Diese wird von nationalen Entscheidungsträgern anerkannt. Sie stabilisiert das internationale System. ▶ Wirtschaftswachstum: Aufgrund eines großen Wirtschaftswachstums steigen aus dem Pool der Großmächte „Herausforderer“ auf, die die etablierten entwickelten Staaten wirtschaftlich überholen. ▶ Unzufriedenheit: Staaten an der Spitze der Hierarchie profitieren von den Regeln, die sie selbst gesetzt haben. Herausforderer sehen sich demgegenüber mit Regeln konfrontiert, die sie nicht gesetzt haben und die ihre Aufwärtsmobilität behindern. ▶ Überholen: Es wird immer eine Reihe von Staaten geben, die mit den Regeln des Systems unzufrieden sind. Entscheidend ist, wie groß die Unzufriedenheit ist und ob ein ausreichend unzufriedener Staat aus dem Pool der Großmächte in der Lage ist, den dominanten Staat zu überholen. ▶ Parität: Die Wahrscheinlichkeit für Konflikt ist dann am größten, wenn ein Herausforderer Parität mit dem Hegemon erlangt hat. Die Machttransitionstheorie geht davon aus, dass die internationalen Beziehungen hierarchisch organisiert sind. Zu jedem Zeitpunkt existieren dominante Mächte, Groß-, Mittel- und kleine Mächte. Das internationale System wird von einem Staat dominiert, der an der Spitze eine Pyramide steht. Die- 11.6.1 <?page no="337"?> 322 G lobale m achtVerschIebunGen ser Hegemon kann die Handlungen anderer Staaten aber nicht vollständig kontrollieren. Mit dem Wandel von einer agrarischen zu einer industrialisierten Gesellschaft können vor allem bevölkerungsreiche Staaten in relativ kurzer Zeit ein sehr großes Wirtschaftswachstum erzielen. Aus dem Pool der Großmächte können deshalb Herausforderer aufsteigen, die die etablierten entwickelten Staaten wirtschaftlich überholen. Diese Staaten empfinden die Spielregeln des Hegemons des internationalen Systems als Beschränkung ihrer Machtambitionen. Sie sind deshalb unzufrieden mit dem Status Quo und entwickeln sich potentiell zu revisionistischen Staaten, die eine Veränderung des internationalen Systems anstreben. Da etablierte Hegemone ihre Position mit großer Wahrscheinlichkeit verteidigen, ist ein Krieg wahrscheinlich. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zum Krieg kommt, ist im Moment der Parität zwischen Verteidiger und Herausforderer am größten. Auch wenn die Machttransitionstheorie in Bezug auf das Machtstreben von Staaten Ähnlichkeiten zu Realismus und Strukturellem Realismus aufweist, widerspricht sie deren Annahmen in einigen Punkten grundlegend. Dies betrifft den Zeitpunkt der größten Wahrscheinlichkeit eines Kriegsausbruches. Für die Machttransitionstheorie ist dies der Zeitpunkt der Parität zwischen Verteidiger und Herausforderer. Strukturelle Realisten gehen hingegen davon aus, dass bei Parität aufgrund des Machtgleichgewichts die Kriegswahrscheinlichkeit am geringsten ist. Es sind die großen Machtungleichgewichte, die Kriege wahrscheinlicher machen, da sie die Anreize für den mächtigen Staat erhöhen, seine Macht auf Kosten der kleineren und weniger mächtigen Staaten zu vergrößern. Die Machttransitionstheorie geht außerdem davon aus, dass Allianzen kein effektives Mittel zur Machtbeschränkung von aufstrebenden Staaten sind. Allianzen werden zwischen Staaten aus zufriedenen und unzufriedenen Gruppen gebildet und sind deshalb zu unflexibel, als dass sie auf Bedrohungen reagieren könnten. Die Allianz zwischen den etablierten und damit zufriedenen Staaten wird von den Herausforderern als Hindernis für grundlegende Veränderungen betrachtet. Für Neorealisten sind Allianzen eine Notwendigkeit. Sie entstehen, um die Macht eines übermächtigen Staates oder einer Gruppe von Staaten auszugleichen. In der Machttransitionstheorie ist das Machtstreben von Staaten durch ihre wirtschaftliche Entwicklung determiniert. Staaten wachsen wirtschaftlich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, aber Staaten, die sich später industrialisieren, wachsen schneller als Staaten, die früher einen Industrialisierungsprozess durchlaufen haben-- Staaten streben nicht nach Macht an sich, weil es ihrer Natur entspricht (Realismus) oder weil das internationale System ihnen eine solche Strategie nahelegt (Neo-Realismus). Herausforderung durch revisionistische Staaten <?page no="338"?> 323 G lobale m achtVerschIebunGen Einheit 11 brIc und dIe t heorIen der I nternatIonalen b ezIehunGen Die Theorie geht von einer Wachstumsfunktion aufsteigender Mächte aus, die durch die wirtschaftliche Entwicklung eines Staates determiniert ist. Nicht alle sich wirtschaftlich schnell entwickelnden Staaten schaffen den Aufstieg. Sehr viele stecken in einer Armutsfalle, in der kurzfristiger wirtschaftlicher Aufschwung von rasantem Bevölkerungswachstum zunichte gemacht wird. Ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum ist nur von Staaten zu erwarten, die eine relativ hohe staatliche und politische Kapazität aufweisen. Relativ unbedeutend in der Machttransitionstheorie ist die Legitimität der Forderungen nach Reform seitens der herausfordernden Staaten. Viele der Forderungen der BRIC-Staaten nach einer gerechteren Umgestaltung des internationalen Systems werden von Staaten des Globalen Südens als berechtigt betrachtet. Diese Faktoren haben aber keinen Einfluss auf den Modus der Machttransition. Machttransitionen sind--, unabhängig von der Legitimität der Forderungen-- immer mit einer erhöhten Kriegswahrscheinlichkeit verknüpft, weil sie auf die etablierten Spielregeln des internationalen Systems abzielen, die Position des Verteidigers bedrohen und die etablierte Ordnung gefährden. Der aktuelle Hegemon profitiert von den Spielregeln des internationalen Systems, die er selbst etabliert hat. Er trägt zwar die Kosten der Kooperation, legt aber auch die Regeln fest und diese Regeln können so gesetzt werden, dass sie auch der dominanten Macht dauerhaft nützen (Gilpin 1981). Ob zum Zeitpunkt der Parität ein Krieg ausbricht, hängt vom Grad der Unzufriedenheit eines Herausforderers mit seiner Position und den Regeln des internationalen Systems ab. Herausforderer, die „zufrieden“ mit dem Status Quo sind-- etwa weil sie die Werte des Hegemons teilen--, werden keinen Krieg suchen. Für sie kann es sich trotz ihres wirtschaftlichen Aufstiegs rentieren, dass ein anderer Staat die Kosten der Aufrechterhaltung der globalen Ordnung übernimmt. Für Tammen und Kugler (Tammen/ Kugler 2006) bestätigen die Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Annahmen: Die USA waren aus dem Zweiten Weltkrieg als zunächst unumstrittene dominante Macht hervorgegangen. Diese wurde trotz des Wiederaufstiegs Deutschlands und Japans nicht in Frage gestellt; die innerstaatlichen Umstrukturierungsmaßnahmen in Deutschland und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg führten sogar zu einer Konvergenz mit den Werten der USA. Die Koalition aus Staaten mit einer ähnlichen Status-Quo-Orientierung und deren Integration bilden bis heute die Basis der transatlantischen Partnerschaft. Legitimität der Forderungen unbedeutend <?page no="339"?> 324 G lobale m achtVerschIebunGen Wie in Tabelle 11.4 ersichtlich wird, gibt es prinzipiell zwei Kombinationen, die eine geringe Wahrscheinlichkeit für kriegerische Auseinandersetzungen ergeben. Das sind auf der einen Seite die Dyaden zufrieden-zufrieden und unzufrieden-unzufrieden in jeweils kooperativen Kontexten. Auf der anderen Seite gibt es eine Staatendyade, die ein sehr großes Risiko für einen Krieg hat, der gleichzeitig sehr schwerwiegende Ausmaße annimmt bzw. in absoluter Vernichtung enden wird: Das ist die Staatendyade unzufrieden-unzufrieden, die sich in einem unkooperativen Kontext befindet. Struktureller Realismus Machttransition Anarchie Hierarchie Staaten agieren vorausschauend, orientieren sich an Machtmaximierung in einem Selbsthilfesystem vormals marginalisierte Staaten ändern ihre Erwartungen über den Nutzen der internationalen Ordnung für sie selbst Machtungleichgewicht erhöht Kriegswahrscheinlichkeit Machtgleichgewicht / Parität erhöht Kriegswahrscheinlichkeit Allianzbildung ist sicherheitspolitisch determiniert und dient der Herstellung eines Machtgleichgewichts Allianzbildung findet zwischen zufriedenen und unzufriedenen Staaten statt, letztere betrachten etablierte Staaten als Hindernis für globale Veränderungen gleiche Machtverteilung zwischen Staatengruppen sichert Frieden ( = friedenserhaltendes Machtgleichgewicht) Anpassung - durch etablierte Staaten der internationalen Machtverhältnisse an Wirtschaftsmacht d. Herausforderers sichert Frieden Vergleich von Strukturellem Realismus und Machttransitionstheorie Tab. 11.3 Gemeinsame Status-Quo-Evaluierung Zufrieden-Zufrieden Zufrieden- Unzufrieden Unzufrieden- Unzufrieden kooperativ ▶ keine Kriege ▶ keine Dispute ▶ seltene, niedrigschwellige, kurze Konflikte ▶ keine Kriege ▶ keine Dispute ↕ ▶ seltene, moderatschwere Konflikte ▶ kurze bis mittlere Dauer ▶ viele Konflikte unterhalb d. Kriegsschwelle ▶ jede Dauer und Schwere möglich ▶ moderate Zahl mittel-hoher Dispute ▶ Dauer variiert nicht-kooperativ ▶ seltene, intensive Kriege ▶ lange Dauer ▶ enden mit Unterwerfung ▶ seltene, intensive, lang anhaltende Kriege ▶ totaler Krieg ▶ endet in der Auslöschung Status-Quo-Evaluierung und Kriegswahrscheinlichkeit Tab. 11.4 <?page no="340"?> 325 G lobale m achtVerschIebunGen Einheit 11 brIc und dIe t heorIen der I nternatIonalen b ezIehunGen Dazwischen gibt es eine Vielzahl von Kombinationen, die sich ebenfalls durch eine erhöhte Kriegswahrscheinlichkeit auszeichnen, bei denen die Kriege aber unterschiedlich lang und unterschiedlich schwer ausfallen. Ein weiteres Modell für die Erklärung von Machttransitionen liefern David Rapkin und William R. Thompson (Rapkin/ Thompson 2003). Sie ergänzen die Machttransitionstheorie um verschiedene Faktoren, die erklären, wann ein Staat zum Herausforderer wird bzw. wie sich die Machttransition gestalten wird. Ihre Erweiterung ist als Leadership Long Cycle Modell (LLC-Modell) bekannt. Das Modell kombiniert die historische Perspektive mit Annahmen über den Einfluss von weiteren Faktoren. Historisch betrachtet stellen Rapkin und Thompson fest, dass es eine westwärts-Bewegung in historischen Machttransitionen gegeben hat: Die erste historische Hegemonie existierte in China mit der Song-Dynastie (960-1126). Danach verschob sich der Sitz der Hegemonie kontinuierlich westwärts, und zwar von den Stadtstädten Genua und Venedig hin zu Portugal und Spanien, den Niederlanden und Großbritannien. Schließlich verlagerte sich der Sitz der Hegemonie noch weiter westwärts über den Atlantik zu den USA. Historisch betrachtet gibt es also schon immer Machttransitionen, und diese bringen unterschiedliche Regionen an die Macht. Mehr Einfluss darauf, wer zu einem Herausforderer wird, haben dann aber das technologische Innovationspotential sowie die strategische Orientierung der aufstrebenden Macht. Herausforderer, die am territorialen Landgewinn orientiert sind, sind gefährlicher als Herausforderer, die eine Seemachts- und damit globale Orientierung haben. Der Verlust von Territorium ist bedrohlicher als der potentielle Verlust von Marktanteilen. (Rapkin/ Thompson 2003). Bevölkerungsgröße und das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt der Bevölkerung seien nur ein sehr ungenaues Maß für die tatsächliche Fähigkeit eines Herausforderers, einen dominanten Staat zu überholen und dessen Herrschaft zu erschüttern. Die Machttransitionstheorie geht davon aus, dass die Kombination aus schnellem Wirtschaftswachstum und Unzufriedenheit mit den Spielregeln des internationalen Systems hinreichende Bedingungen für Machttransitionskriege sind. Das Leadership-Long-Cycle- Modell davon aus, dass die strategische Orientierung und technologisches Innovationspotential zusätzliche notwendige Bedingungen dafür sind, dass eine Machttransition kriegerisch verläuft. Die Machttransitionstheorie <?page no="341"?> 326 G lobale m achtVerschIebunGen Liberaler Internationalismus: Warum die US-Hegemonie überdauern wird Eine gegensätzliche Position nehmen Vertreter eines liberalen Internationalismus ein. Diese argumentieren, dass die US-Hegemonie bestimmte Charakteristika aufweist, die es ungleich unwahrscheinlicher als in vergangenen Machttransitionen machen, dass der Aufstieg Chinas in einem kriegerischen Konflikt endet. Einer der bekanntesten Vertreter dieser Position ist John Ikenberry (Deudney/ Ikenberry 1999; Ikenberry 2000, 2009). Auch wenn er sich in erster Linie mit der Frage befasst, warum die Nachkriegsordnung stabiler ist als von Strukturellen Realisten erwartet (vgl. Einheit 5), ist seine Analyse auch auf Machttransitionen anwendbar. Eingebettet in eine Analyse von hegemonialen Machttransitionen seit dem Westfälischen Frieden argumentiert Ikenberry, dass die von den USA geschaffene liberale internationale Ordnung in besonderer Weise dazu angelegt ist, stabil zu sein und Herausforderer zufriedenzustellen. Wie andere Ordnungen davor, handelt es sich bei der internationalen Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg um eine konstitutionelle Ordnung, an deren Aushandlung viele Staaten beteiligt waren (Ikenberry 2009). Die Elemente der liberalen Ordnung unterschieden sich aber in charakteristischer Weise von der Ordnung des Strukturellen Realismus. Darin liege der entscheidende Unterschied für die kommende Machttransition. 11.6.2 Stabilität der liberalen internationalen Ordnung Liberaler Internationalismus Struktureller Realismus Eigenschaft Funktion Eigenschaft Funktion wechselseitige Sicherheitsbindung vermindert Dynamik der Anarchie Gleichgewichtspolitik erhält die Autonomie von Einheiten Hegemonie (durchdringend, reziprok) vergrößert Legitimität durch Zugang und gemeinsame Entscheidungen Hegemonie (erzwingend) stellt öffentliche Güter zur Verfügung und hält Ordnung aufrecht Existenz semi-souveräner Staaten und partieller Großmächte stellt einen Mechanismus dar, um Problemstaaten einzubinden Existenz von Großmächten mit voller Souveränität ermöglicht das Management des Systems durch führende Staaten wirtschaftliche Offenheit beutet komparative Vorteile aus und generiert Interdependenz Autarkie vermeidet Abhängigkeit und erhält militärische Kapazität zur Mobilisierung bürgerliche Identität moderiert Konflikte und erleichtert Integration nationale Identität verstärkt staatliche Kohärenz, Legitimität und Interdependenz Vergleich liberaler Internationalismus und Struktureller Realismus Tab. 11.5 <?page no="342"?> 327 G lobale m achtVerschIebunGen Einheit 11 brIc und dIe t heorIen der I nternatIonalen b ezIehunGen Die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen internationalen Institutionen zeichnen sich nicht nur ebenfalls durch Offenheit für neue Mitglieder aus, sondern sie binden Staaten systematisch in die internationale Ordnung ein. Die Offenheit und Dezentralisierung des amerikanischen Entscheidungssystems garantiert anderen Staaten, dass sie routinemäßigen Zugang zum Entscheidungsprozess in den USA haben. Der liberale Internationalismus bewertet die Effekte des Aufsteigens von Staaten auf die Weltordnung im Vergleich zur Machttransitionstheorie positiver. Die Implikationen für den Aufstieg Chinas sind relativ ähnlich zur Machttransitionstheorie, allerdings aus anderen Gründen. Der liberale Internationalismus sieht grundsätzlich die Möglichkeit der konstruktiven Einbindung eines Herausforderers in die von den USA geschaffene liberale Weltordnung. Bei dieser handele es sich um eine Ordnung, deren Entscheidungsprozesse transparent seien und gleichen Zugang ermöglichen. Der Aufstieg Chinas ist aus dieser Perspektive relativ unproblematisch. Institutionalismus: Autorität und Politisierung internationaler Institutionen Für die Theorie des Institutionalismus stellt der Aufstieg der BRIC-Staaten lediglich einen Nebenaspekt dar und der Fokus auf aufsteigende Mächte vernachlässigt eher die grundsätzliche Herausforderung, der sich internationale Institutionen gegenübersehen (Zürn u. a. 2007). Diese bestehen in manifesten politischen Widerständen gegenüber internationalen Institutionen, die sich in wachsender Nichtbefolgung internationaler Abkommen, aber auch in Protestbewegungen ausdrücken. Dies führt zur Politisierung internationaler Institutionen. Dieser Widerstand speist sich aus zwei Entwicklungen: 1. Weltgeschichtliche Dynamiken nach dem Zweiten Weltkrieg hätten zu einer nichtintendierten Transformation internationaler Institutionen geführt, zu einer wachsenden Trans- und Supranationalisierung und Autorität dieser Institutionen. 2. Die politische Trans- und Supranationalisierung des Regierens führt zu einer ebenfalls nicht-intendierten Politisierung der internationalen Sphäre. Internationale Institutionen werden zu Adressaten von Ansprüchen an effektives und legitimes Regieren, die sie oftmals nicht befriedigen können. Proteste sind die Folge. Im Wirtschaftsbereich seien die unter amerikanischer Hegemonie entstandenen internationalen Institutionen nach dem Zweiten Weltkrieg extrem erfolgreich gewesen, unterstützten 30 Jahre lang das stabile Wachstum in 11.6.3 <?page no="343"?> 328 G lobale m achtVerschIebunGen den westlichen Industriestaaten, förderten die Integration der Weltwirtschaft und die Rolle exportorientierter Industriezweige. Solange die Effekte dieser internationalen Institutionen den in diesen Institutionen eingebetteten wohlfahrtsstaatlichen Konsens nicht gefährdeten, seien sie auch nicht umkämpft gewesen. Die nicht-intendierten Effekte der Institutionen bestehen jedoch darin, dass ihre Deregulierungsmaßnahmen zunehmend tiefer in nationalstaatliche Souveränität eingreifen und auch das erreichte wohlfahrtsstaatliche Niveau in den Staaten der OECD-Welt gefährden. Im Sicherheitsbereich habe ebenfalls eine Denationalisierung stattgefunden. Zwar habe sich ein globales Gewaltverbot herausgebildet, die Herausbildung internationaler Menschenrechtsstandards sowie die Denationalisierung von Sicherheitsbedrohungen etwa durch organisierte Kriminalität hätten aber zu verstärkten Interventionen in Staaten geführt, die ebenfalls empfindlich in die Steuerungsfähigkeit nationalstaatlicher Regierungen eingriffen. Beide Entwicklungen würden zu Widerstand unter den Mitgliedern dieser Institutionen führen. Denationalisierung Der Trend hin zur Denationalisierung beschreibt verschiedene Prozesse, die die Bedeutung der Staatlichkeit im Allgemeinen herunterstufen: Denationalisierung kann einerseits bedeuten, dass nationale Souveränität auf eine neue supranationale Institution übergeht, oder andererseits innerstaatlich durch interne Vorgänge untergraben wird. Politische, soziale und wirtschaftliche Fragen würden demnach beispielsweise nicht mehr direkt aus einer nationalen Perspektive heraus erörtert und gelöst werden, sondern integrativ beziehungsweise im internationalen oder regionalen Rahmen. Gleichfalls wachsen auch Probleme und Herausforderungen über nationalstaatliche Kompetenzgebiete hinaus und überwinden die Souveränitätsansprüche der Nationalstaaten über ihre inneren Angelegenheiten. Internationaler Terrorismus oder der Schutz von Menschenrechten durch interventionistische Maßnahmen zeugen von Herausforderungen und Merkmalen einer Denationalisierung. Die Denationalisierungstendenz hat sich in den letzten Jahrzehnten verstärkt, mit dem Ergebnis, dass die Vielzahl nationaler Regelungen zu Kollisionen, der innerstaatliche Fokus dieser Regelungen zu Verifikationsproblemen und die Komplexität der Regelungen zu Wissensproblemen führten (Zürn u. a. 2007: 147). Auch wenn sich dieser Ansatz- - wie der des liberalen Internationalismus- - nicht speziell mit den aufsteigenden Mächten befasst, lassen sich einige Argumente für eine Erklärung entwickeln, die auch für die Machttransition relevant sind. Die BRIC-Staaten sind nach diesem Verständnis lediglich die stärksten Kritiker innerhalb einer breiter werdenden Protestbewe- Größere Eingriffstiefe internationaler Institutionen <?page no="344"?> 329 G lobale m achtVerschIebunGen Einheit 11 V erwendete l Iteratur gung, der auch Nichtregierungsorganisationen angehören. Ihr Effekt besteht in einer Verstärkung der Politisierungstendenzen. Ihre Kritik richtet sich nicht notwendigerweise gegen die Hegemonie der USA, sondern gegen die wachsende Eingriffstiefe- - bei mangelnder Legitimation- - internationaler Institutionen. Auch wenn die wachsende Zahl von Protesten gegen internationale Organisationen wie die Weltbank oder den IWF auf eine fehlende Akzeptanz dieser Institutionen hinweist, sieht der Institutionalismus die Lösung in der radikalen Reform dieser Institutionen. Die Antwort auf Kollisionsprobleme sei die Etablierung unabhängiger Instanzen (Schiedsgerichte), die Antwort auf Verifikationsprobleme die transnationale Überwachung und die Antwort auf Wissensprobleme die Etablierung von Wissensagenturen. Die Implikationen dieser Theorie für Machttransition sind nicht eindeutig: Dieser Ansatz würde zum einen davon ausgehen, dass der Aufstieg der BRIC-Staaten ein nachgeordnetes Problem ist. Das eigentliche Problem ist eine grundsätzliche Politisierung dieser Institutionen. Dieses muss vorgängig behandelt werden. Insofern die BRIC-Staaten diese Politisierungstendenzen verstärken, müsste aber auch über eine institutionelle Reform dieser Institutionen jenseits der Lösungen nachgedacht werden, so wie sie zum Teil auch schon realisiert wurden. 1. Welcher Klasse von Phänomenen gehören die BRIC-Staaten an? 2. Rekapitulieren Sie noch einmal den historischen Überblick über die internationalen Beziehungen aus Einheit 1 aus Sicht der Machttransitionstheorie: Kann man Deutschland, Italien und Japan mit dem Instrumentarium der Machttransitionstheorie analysieren? Wie haben sich diese Machttransitionen gestaltet? Sind sie friedlich oder kriegerisch verlaufen? 3. Wie sollten die USA und Europa Ihrer Meinung nach mit einem aufsteigenden China umgehen? 4. Diskutieren Sie, ob die vom Institutionalismus vorgeschlagenen Lösungen die BRIC-Staaten oder auch trans- und zivilgesellschaftliche Akteure aus Ländern des Südens zufrieden stellen würde. Denken Sie dabei vor allem an die Verteilung von Wissen und Zugang dieser Akteure zu internationalen Organisationen. Bertelsmann Transformation Index (2012): Codebook for Country Assessments. http: / / www.bti-project.de/ uploads/ tx_jpdownloads/ BTI2012_Codebook.pdf (letzter Zugriff 09. 01. 2014). Bruton, Henry J. (1998): A Reconsideration of Import Substitution. In: Journal of Economic Literature 36: June, 903-936. Übungen Verwendete Literatur <?page no="345"?> 330 G lobale m achtVerschIebunGen Buck, Trevoru. a. (2000): Different Paths to Economic Reform in Russia and China: Causes and Consequences. In: Journal of World Business 35: 4, 379. Copeland, D. C. (2000): The Origins of Major War. Ithaca, London: Cornell University Press. Deudney, Daniel; Ikenberry, G. John (1999): The Nature and Sources of Liberal International Order. In: Review of International Studies 25, 179-196. Doran, C. F. (2000): Confronting the Principles of the Power Cycle. In: Midlarski, M. I. 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Überblick <?page no="347"?> 332 d er InternatIonale K lImaschutz Die Dringlichkeit des Klimawandels Das Klimasystem ist das Resultat sehr komplexer und dynamischer Interaktionen zwischen der Erdatmosphäre, der Biosphäre und den Weltmeeren. Dieses System wird durch menschliche Aktivitäten zunehmend aus dem Gleichgewicht gebracht. Durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe, Entwaldung, Landwirtschaft, landwirtschaftliche Tierhaltung und andere menschliche Aktivitäten haben atmosphärische Emissionen sogenannter Treibhausgase in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen, mit dem Effekt, dass die globale Durchschnittstemperatur auf der Erde im letzten Jahrhundert um 0,74 Grad Celsius angestiegen ist. Auch der Anteil von Kohlenstoffdioxid in der Atmosphäre ist heute um mehr als ein Drittel höher als zu Beginn der Industrialisierung. Bereits seit den 1980er Jahren warnt eine internationale Gemeinschaft von Wissenschaftlern vor den Konsequenzen des menschlich verursachten Klimawandels. Wegweisend in dieser Hinsicht war der vierte Sachstandsbericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), der nicht nur feststellte, dass der Treibhauseffekt sich durch anthropogene Emissionen beschleunigt, sondern auch sachlich die dramatischen Veränderungen des Klimas beschrieb: „Beobachtungsdaten aller Kontinente und fast aller Meere zeigen, dass viele natürliche Systeme von regionalem Klimawandel beeinflusst sind, vor allem von Temperaturanstiegen.“ (IPCC 2007b, eigene Übersetzung) Das IPCC ist eine internationale Organisation, deren Mitglieder ausschließlich Wissenschaftlerinnen sind. Er stellt die wissenschaftliche Autorität in Bezug auf den globalen Klimawandel dar (Haas 2004). Wovor diese und andere wissenschaftlichen Einrichtungen vor allem warnen, ist ein globaler Umschlagspunkt (Tipping Point), ab dem bereits kleinere zusätzliche Temperaturanstiege zu dramatischen, nicht mehr kontrollierbaren Veränderungen der Ökosysteme, zu Nahrungsmittelknappheit und weltweiten Konflikten führen (Yamin/ Depledge 2004: 22). Der Klimawandel gibt vielen Wissenschaftlerinnen aber immer noch Rätsel auf. Bis zum 4. Sachstandsbericht des IPCC 2007 schien es kaum Zweifel darüber zu geben, dass der durchschnittliche globale Temperaturanstieg zu dramatischen Klimaschäden führen wird. Die unterschiedlichen Szenarien der Computersimulationsmodelle rechneten zunächst mit einem globalen Temperaturanstieg zwischen 1,1 und 6,4 Grad Celsius bis 2100 (IPCC-2007a). Andere Erkenntnisse von Wissenschaftlern, die vorher Apologeten des anthropogenen Klimawandels waren, bestätigten zwar die Prognosen, wiesen aber auf hohe Unsicherheitsfaktoren hin, mit denen extreme Szenarien belegt sind (Der Spiegel 2013). 12.1 Beschleunigung des Treibhauseffekts <?page no="348"?> 333 d er InternatIonale K lImaschutz e rderwärmunG , t reIbhauseffeKt und Globaler K lImawandel Einheit 12 Ein Tipping Point beschreibt im Allgemeinen einen Kipppunkt, ab dem ein betrachtetes System durch das kontinuierliche Einwirken verschiedener Elemente (Tipping Elements) und dadurch veränderten Rahmenbedingungen aus seinem ursprünglichen Gleichgewicht fällt. Das System kann nach einem Tipping Point nicht mehr in seinen vorherigen Zustand zurückgebracht werden - die Systemänderungen sind somit irreversibel. Eine kausale Ursache- Wirkungsanalyse kann in linearen Systemen dabei helfen, vorzeitig auf diese Tipping Elemente aufmerksam zu machen. Diese können dementsprechend umgestaltet und ein Tipping Point verhindert werden. Das Klima und der Klimawandel, als hoch komplexe Systeme, können jedoch nicht anhand einer linearen Kausalkette betrachtet werden. Ein genauer Wirkungszusammenhang zwischen einzelnen Elementen bleibt unklar - zusätzlich können Effekte durch Rückkopplungen verstärkt werden und in weit größerem Maße auf das Gesamtsystem wirken, als vermutet. Es bleibt ungeklärt, welche Faktoren zu welchem Maße auf das Gesamtsystem „Klima“ wirken und welches Element (wie eine Erhöhung der Temperaturen um kleine Einheiten oder zusätzlicher Schadstoffausstoß) bewirken kann, dass der Tipping Point erreicht und eine Rückkehr zu dem vorherigen Klimasystem nicht mehr möglich wäre. Tipping Point Unsicherheit über die kausalen Zusammenhänge des Klimawandels verschärft Kooperationsprobleme, die es in diesem Politikfeld sowieso schon gibt und stellt staatliche Kooperation vor große Herausforderungen. Dieses Kapitel führt in die grundlegende Problematik des internationalen Klimaschutzes ein. Es wird zunächst beschrieben, wie es zu globalem Klimawandel kommt. Der zweite Teil widmet sich der Geschichte internationaler Klimaschutzpolitik. Der dritte Teil benennt die wichtigsten Instrumente internationaler Klimaschutzpolitik. Im vierten Teil werden zwei zentrale Theorien der Internationalen Beziehungen vorgestellt, anhand derer illustriert werden kann, mit welchen Fragestellungen die Internationalen Beziehungen das Thema bearbeitet. Erderwärmung, Treibhauseffekt und globaler Klimawandel Erderwärmung und der damit verbundene Klimawandel sind zunächst natürliche Phänomene. Unser Klima unterliegt seit Jahrtausenden beständigen Schwankungen. Ohne Erderwärmung wäre die Erde nur schwer bewohnbar, weil die Durchschnittstemperatur bei nur -18 Grad Celsius liegen würde. Der Treibhauseffekt bezeichnet also zunächst den natürlichen Vorgang der Erderwärmung durch das Sonnenlicht, wie er erstmals 1824 von Jean- Baptiste Fourier physikalisch beschrieben und mit den Vorgängen in einem Treibhaus verglichen wurde. 12.2 Klimawandel als natürliches Phänomen <?page no="349"?> 334 d er InternatIonale K lImaschutz In einem Treibhaus tritt kurzwellige Solarstrahlung nahezu ungehindert durch das Glasdach und wird im Innern des Hauses je nach Oberfläche zu unterschiedlichen Teilen absorbiert beziehungsweise reflektiert. Dabei heizt sich das Haus durch zwei parallele Mechanismen auf: durch Konvektion, indem die absorbierenden Oberflächen die Luft erwärmen und diese dann nicht entweichen kann; und durch Reflexion langwelliger Solarstrahlung (Infrarotstrahlung). Da das Glas eines Treibhauses zwar für die kurzwellige Strahlung durchlässig ist, nicht aber für die langwellige, entweicht die mit dieser Strahlung verbundene Wärmeenergie nicht zurück ins Freie, sondern wird fast vollständig durch das Glas absorbiert. Die dabei entstehende Wärmeenergie wird sowohl nach Außen, als auch in das Innere des Glashauses zurückgestrahlt. Damit bleibt ein Teil der Wärmeenergie im Glashaus eingeschlossen, was zu einer Erhöhung der Temperatur im Innern führt. In einem echten Treibhaus ist die Konvektion der wichtigere Faktor, für die Erde bezieht sich der Treibhauseffekt aber vor allem auf den Reflexionsmechanismus. Hier fungiert die Erdatmosphäre, genauer die in ihr enthaltenen Spurenelemente, als das Glas. Treibhauseffekt Unterschieden werden ein „natürlicher“ Treibhauseffekt, der dafür sorgt, dass die durchschnittliche Erdtemperatur von -18 Grad Celsius auf +14 Grad Celsius steigt, und der anthropogene Treibhauseffekt, der für ein zusätzliches Ansteigen der Erdtemperatur und einen gefährlichen Klimawandel verantwortlich gemacht wird (Schönwiese 1996). Merke Als hauptsächliche kausale Verursacher der Erderwärmung in einem naturwissenschaftlichen Sinne gelten fünf Gase: 1) Wasserdampf (H 2 O) 2) Kohlenstoffdioxid (CO 2 ) 3) Ozon (O 3 ) 4) Methan (CH 4 ) 5) Distickstoffmonoxid (N 2 O) Diese fünf Gase werden auch als sogenannte Treibhausgase bezeichnet, weil sie- - ähnlich wie das Glas eines Treibhauses, das als Wärmebarriere nach innen fungiert-- dafür sorgen, dass durch Sonnenlicht erzeugte Wärmeenergie auf der Erde bleibt und diese erwärmt. Obwohl der Anteil der fünf Treibhausgase am Gasgemisch der Atmosphäre insgesamt nur weniger als 0,05 Volumenprozent beträgt, sind sie für die Treibhauswirksamkeit von großer Bedeutung. Der weitaus größte Teil der Atmosphäre (99,95 Volumen- <?page no="350"?> 335 d er InternatIonale K lImaschutz e rderwärmunG , t reIbhauseffeKt und Globaler K lImawandel Einheit 12 prozent) besteht aus Stickstoff (78,08 Vol%), Sauerstoff (20,94 Vol%) und Argon (0,93 Vol%). Im Vergleich zu Sauerstoff oder Stickstoff können Treibhausgase Wärmestrahlung viel besser aufnehmen. Dies liegt daran, dass sie als mehratomige Moleküle im Vergleich zu zweiatomigen Molekülen (also beispielsweise O 2 , N 2 ) die Fähigkeit besitzen, Infrarotstrahlung zu absorbieren. Die Absorptionsfähigkeit der Treibhausgase variiert dabei. So nimmt CO 2 das Infrarotlicht in anderen Spektralbereichen auf als NO 2 . Außerdem verfügen die einzelnen Spurengase über eine unterschiedliche Verweildauer in der Atmosphäre. Zusammen genommen bedeutet dies, dass Spurengase unterschiedlich klimawirksam sind (vgl. Tabelle 12.1: Klimawirksamkeit ausgewählter Treibhausgase). Klimawirksamkeit Um klimaschädliche Gase miteinander vergleichen zu können, wurde das Konzept der Klimawirksamkeit eingeführt. Dieses vergleicht alle Treibhausgase miteinander, indem sie in Verhältnis zur Klimawirksamkeit von CO 2 gesetzt werden (Schönwiese 1996). Seither werden die anderen klimawirksamen Gase auch nicht mehr extra ausgewiesen. Das CO 2 ist sozusagen die Leitwährung, in die alle anderen Gase konvertiert werden. Merke Neben den genannten Treibhausgasen verursachen weitere Gase eine Erderwärmung: Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW), Halone, perfluorierte Fluorkohlenwasserstoffe (FKW, darunter insbesondere CF 4 und C 2 F 6 ), Schwefelhexafluorid (SF 6 ), teilhalogenierte FCKW (H-FCKW), wasserstoffhaltige Fluorkohlenwasserstoffe (HFKW) und in geringem Umfang in größeren Höhen durch den Flugverkehr emittierter Wasserdampf. Die steigende Temperatur der Luft und der Ozeane ist ein weiterer Verstärker des Klimawandels. Durch sie steigt der Gehalt von Wasserdampf in der Atmosphäre und damit auch die globale Temperatur. Es gibt aber auch Spurengase, die einen gegenläufigen Effekt auf die Erderwärmung haben. So hat man erkannt, dass Aerosole (Rußpartikel, Pollen) einen abkühlenden Effekt haben: Sie tragen zur Wolkenbildung bei. Das Solarlicht wird von Hemmer der Erderwärmung Treibhausgas Klimawirksamkeit Verweildauer in der Atmosphäre Kohlenstoffdioxid (CO2) 1 variabel Methan (CH4) 21 9 bis 15 Jahre Distickstoffmonoxid (N2O) 310 120 Jahre Fluor-Kohlenwasserstoffe (FKW) 140 bis 11.700 1,5 bis 264 Jahre Klimawirksamkeit ausgewählter Treibhausgase Tab. 12.1 <?page no="351"?> 336 d er InternatIonale K lImaschutz den Wolken ins All zurückreflektiert und kann so den Boden nicht mehr erwärmen. Der IPCC ging in seinem vierten Sachstandsbericht (2007) davon aus, dass eine Stabilisierung der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre dazu führen wird, dass der Anstieg der globalen Mitteltemperatur auf 2,0 bis 2,4 Grad Celsius gegenüber vorindustriellen Werten begrenzt werden kann. Allerdings waren die Anstrengungen der Staaten bis 2014 nicht ausreichend, um das Ziel zu erreichen. Erst Ende 2015 verabschiedete die Staatengemeinschaft ein Klimaabkommen, das verbindliche Reduktionsziele vorsieht. Welche Staaten haben den größten CO 2 -Ausstoß? CO 2 entsteht durch die Verbrennung von Kohle, Öl und Gas zur Generierung von Elektrizität und Wärme, in Produktionsprozessen, beim Transport durch Fahrzeuge und Flugzeuge und die Umwandlung von Wald in anderweitige Flächen. Die Antwort auf die Frage, wer die Hauptverantwortung für den anthropogenen Treibhauseffekt trägt, hängt sehr stark davon ab, welche Bemessungsgrundlage gewählt wird, der nationale oder der pro-Kopf-Ausstoß an CO 2 . Würde man eine gewichtete Landkarte erstellen, in der die Landfläche proportional zum CO 2 -Ausstoß dargestellt ist, wären deutliche Unterschiede im CO 2 -Ausstoß zu sehen. Die Industriestaaten hätten einen überproportionalen Anteil an der Gesamtemission, allen voran die USA, Europa und Japan. Sie wären folglich von ihrer Landfläche sehr viel größer als normal. China wäre ebenfalls wesentlich größer dargestellt als seine Landfläche normalerweise ist. Auffällig wäre in einer solchen Karte der geringe Beitrag Afrikas, Lateinamerikas, Russlands, Australiens und der südostasiatischen Region an der globalen CO 2 -Emission. Insbesondere Afrikas Landfläche würde auf Tropfengröße zusammenschmelzen. Eine solche Karte ist bei worldmapper. org zu sehen (http: / / www.worldmapper.org/ display.php? selected-= 299, Kartennummer 299 (letzter Zugriff 13.05.2016)). Abbildung 12.1 stellt den nationalen und den pro-Kopf-Ausstoß klimaschädlicher Treibhausgase in Tonnen dar. Die Tabelle wird angeführt von China, dessen Bevölkerung mit 6028 Millionen Tonnen den höchsten CO 2 hat. Auf Platz zwei befinden sich die USA, deren nationaler CO 2 -Ausstoß nur unwesentlich niedriger als der Chinas ist. Man beachte aber, dass der pro- Kopf-Ausstoß einer Chinesin im Durchschnitt nur ein Viertel des pro-Kopf- Ausstoßes einer durchschnittlichen US-Amerikanerin beträgt. Mit großem Abstand, aber immerhin auf Platz drei und vier liegen Russland und Indien, deren Bevölkerungen 1587 Tonnen CO 2 beziehungsweise 1324 Tonnen CO 2 produzieren, wobei aber ein Inder durchschnittlich nur ein Zehntel des pro- 12.3 <?page no="352"?> 337 d er InternatIonale K lImaschutz w elche s taaten haben den Grössten co2-a usstoss ? Einheit 12 Kopf-Ausstoßes eines Russen aufweist. Die europäischen Bevölkerungen, die in einer gewichteten Landkarte noch einen überproportionalen CO 2 -Ausstoß im Hinblick auf ihre geografische Größe verzeichnen, finden sich bei der Betrachtung der länderspezifischen Emissionen-- mit Ausnahme Deutschlands und Großbritanniens-- wenn überhaupt nur relativ weit unten auf der Rangliste, wobei dies wiederum anders aussähe, würde man die Rangfolge anhand des durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausstoßes bilden. Interessant ist in Abbildung 12.1 auch Australien, das von seinem Gesamtausstoß her betrachtet auf Platz 13 der Rangliste liegt, der Pro-Kopf- Ausstoß ist aber fast genauso hoch wie der eines durchschnittlichen Amerikaners. Die Abbildungen verdeutlichen sehr gut das grundsätzliche Problem der Größe der Bevölkerung für den Klimawandel. Selbst wenn beispielsweise der durchschnittliche Pro-Kopf-Ausstoß in Deutschland drastisch sinkt, bleibt der Effekt auf die globale Emissionsreduktion eher gering, weil die deutsche Bevölkerung relativ klein ist. Dagegen ist das pro-Kopf Einsparpotential in China vergleichsweise gering, weil der Ausstoß mit 4,6 Tonnen je Einwohner bereits recht niedrig ist. Durch die Bevölkerungsgröße ist Chinas Anteil am weltweiten Ausstoß von CO 2 trotzdem sehr hoch. Insgesamt wird hier die grundsätzliche Herausforderung für Kooperation deutlich: Das größte Einsparpotential an CO 2 haben eindeutig die Industriestaaten des Globalen Nordens. Vor dem Hintergrund des pro-Kopf-Ausstoßes wäre es unangemessen, von Ländern des Globalen Südens Einsparun- Kohlendioxid-Ausstoß im Jahr 2007 in Tonnen je Einwohner Abb. 12.1 <?page no="353"?> 338 d er InternatIonale K lImaschutz gen zu verlangen. Diese sind aber genauso notwendig, da sie-- allein durch ihre Bevölkerungsgröße- - maßgeblichen Einfluss auf effektive globale Klimapolitik haben. Geschichte des internationalen Klimaschutzes Die ersten Bemühungen um den Schutz des Klimas gehen bis in das Jahr 1957 zurück. In diesem Jahr führte der damalige Internationale Rat Wissenschaftlicher Vereinigungen, der heutige Internationale Wissenschaftsrat, das Internationale Geophysikalische Jahr durch. Es sollte der Anfang für eine weltweite Koordination der Datensammlung von geophysischen Daten sein. In diesem Rahmen wurde unter anderem beschlossen, Eiskernbohrungen in der Antarktis durchzuführen und den Kohlenstoffdioxidgehalt der Atmosphäre durch Erkundungssatelliten im All kontinuierlich zu messen. Durch die dadurch verfügbaren Daten bestätigten sich Vermutungen über die steigende Konzentration an Spurengasen in der Atmosphäre. In den folgenden Jahren begann die Auswertung der Daten. 1979 fand die Erste Weltklimakonferenz statt, auf der das Umweltprogramm der Vereinten 12.4 Evidenz über steigende Konzentration an Treibhausgasen Der Begriff der Klimagerechtigkeit rückt eine ethische Herangehensweise an den Diskurs um Ursachen und Folgen des Klimawandels in den Mittelpunkt. Aus einer normativen und moralischen Perspektive heraus werden Verantwortliche und Leidtragende globaler Erderwärmung gegenübergestellt und Ungerechtigkeit im Kontext des Klimawandels offenbart. In den Vordergrund rückt dabei zum Beispiel die Betrachtung historischer und aktueller „Klimasünder“. Staaten, welche die Industrialisierung bereits durchlaufen haben, sind heute nicht mehr in gleichem Maße zur Verantwortung zu ziehen, wie diejenigen Staaten, die momentan einen wirtschaftlichen Aufschwung erleben und aktuell einen großen Anteil an den gesamten Emissionen tragen. Eine weitere Problematik beschreibt die Tatsache, dass Nationen (des Globalen Südens), die am wenigsten zum Klimawandel beigetragen haben, am meisten unter seinen Folgen zu leiden haben werden. Vor allem Trockenheit, Dürre, Umweltkatastrophen oder auch der Anstieg des Meeresspiegels stehen den wohl verletzlichsten Ländern der Erde bevor: Darunter fallen im Allgemeinen Schwellenländer, insbesondere die von den Vereinten Nationen als die am wenigsten entwickelten Länder (Least Developed Countries, LDCs) bezeichnete Staatengruppe, und kleine Inselstaaten, die sich bereits zu einer Allianz zusammengeschlossen haben (AOSIS). Der Pro-Kopf-Ausstoß betroffener Länder ist dabei bei Weitem geringer als jener von Ländern der nördlichen Hemisphäre. Zudem müssten bei einer ethischen Perspektive auf den Klimawandel auch innerstaatliche Ungleichheiten des CO 2- -Ausstoßes von Schwellenländern berücksichtigt werden, die aufgrund einer großen Kluft zwischen den Eliten und den Armen zustande kommen. Klimagerechtigkeit <?page no="354"?> 339 d er InternatIonale K lImaschutz G eschIchte des InternatIonalen K lImaschutzes Einheit 12 Nationen (United Nations Environment Programme: UNEP) und die World Meteorological Organization (WMO) die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus den gesammelten und ausgewerteten geophysischen Daten international diskutierten. Obwohl es bereits Mitte der 1980er Jahre eindeutige Hinweise auf einen globalen Klimawandel gab, formierte sich nur geringe politische Unterstützung. Lediglich eine kleine Gruppe von umweltbewussten westlichen Wissenschaftlern, darunter der Schwede Bert Bolin und der US- Amerikaner James Hansen, arbeiteten daran, die Risiken des Klimawandels unter Entscheidungsträgern bekannt zu machen. Die nahezu zeitgleiche aber voneinander unabhängige Entdeckung des Ozonlochs im Jahre 1982 durch einen japanischen und einen US-amerikanischen Wissenschaftler erhöhte die Wahrnehmung des Einflusses menschlicher Aktivitäten auf die Natur ebenso wie die Diskussion um den sauren Regen, der durch die Einleitung von Schwefeldioxid in die Atmosphäre entstanden war. Beide Ereignisse verstärkten durch ihre transnationale Dimension das Bewusstsein für die internationale Dimension von Umweltproblemen. Der saure Regen wurde erstmals von dem schwedischen Wissenschaftler Svante Oden entdeckt, der zeigte, dass der saure Regen in Schweden durch den Transport von Schwefeldioxid aus anderen Staaten Europas verursacht wurde. Er warf europäischen Staaten einen „heimtückischen chemischen Krieg“ gegen Schweden vor (zitiert nach: Chasek u. a. 2000: 101, eigene Übersetzung). Nichtregierungsorganisationen wie Greenpeace schufen ein öffentliches Bewusstsein für globale Umweltbelange. Schließlich sorgte eine Dürreperiode, die bis zum Hurrikan Katrina die teuerste Naturkatastrophe in der Geschichte der USA war, 1988 für eine umweltpolitische Mobilisierung in Nordamerika. Das Jahr 1988 markiert mithin eine wichtige Wegmarke im internationalen Klimaschutz. In diesem Jahr gründeten die WMO und das UNEP das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), ein Forum von 2000 anerkannten Wissenschaftlerinnen, um die Auswirkungen des Treibhauseffektes zu untersuchen (McCright/ Dunlap 2003). Eine Reihe von zwischenstaatlichen Konferenzen und Dokumenten widmete sich nun ausführlich dem internationalen Klimaschutz: Die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete 1988 eine Resolution zum Klimawandel. 1989 befassten sich zum ersten Mal die G7-Staaten (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada, USA) mit dem Thema. Elf Jahre nach der ersten Weltklimakonferenz fand 1990 die Zweite Weltklimakonferenz statt. Pünktlich zur Konferenz legte das IPCC seinen ersten Bericht vor. Dort stellte es fest, dass, selbst unter Beachtung von Unsicherheiten, menschliche Aktivitäten zu einem signifikanten Anstieg atmosphärischer Treibhausgase und einem globalen Temperaturanstieg geführt haben. Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen Gründung des IPCC <?page no="355"?> 340 d er InternatIonale K lImaschutz Der IPCC legte ein Elemente-Papier zur Ausgestaltung einer Klimaschutzrahmenkonvention vor. Daraufhin etablierte die Generalversammlung der Vereinten Nationen einen internationalen Verhandlungsausschuss (Intergovernmental Negotiating Committee: INC), der bis zur Konferenz über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro (Brasilien) 1992 eine unterschriftsreife Konvention erarbeiten sollte. Die Verhandlungen zu dieser Konvention wurden von der EU angeführt, die sich bereits 1992 dazu verpflichtet hatte, den gemeinsamen Ausstoß von Kohlenstoffdioxidemissionen bis zum Jahr 2000 auf den Wert von 1990 zurückzuführen. Während einige Staaten, darunter Australien, Deutschland, Dänemark, die Niederlande, Neuseeland und Österreich, bereit waren, sich zu Reduktionen verbindlich zu verpflichten, wehrten sich Schwellenländer und die USA gegen bindende Verpflichtungen. Auf Druck der USA wurden daraufhin Referenzen auf die Verbindlichkeit von Reduktionen aus dem Entwurf gestrichen (Chasek u. a. 2000: 120). Auf der Konferenz in Rio 1992 wurden verschiedene Dokumente erarbeitet, die die Notwendigkeit einer nachhaltigen Entwicklung, der Reduktion von Treibhausgasen, des Schutzes der Umwelt und weiterer bereichsspezifischer Politikmaßnahmen unterstreichen. 1. Rio-Deklaration über Umwelt und Entwicklung 2. Klimaschutzkonvention 3. Biodiversitätskonvention 4. Walddeklaration 5. Agenda 21 6. Konvention zur Bekämpfung der Wüstenbildung Ergebnisse der Konferenz über Umwelt und Entwicklung von 1992 Die Verhandlungen wiesen zwei Konfliktlinien auf: Eine erste Konfliktlinie verlief dabei innerhalb der industrialisierten Staaten des Globalen Nordens zwischen den Staaten, die stark von Kohle und Mineralöl als Primärenergieträger abhängig sind, und den Staaten, die davon weniger abhängig sind. Eine zweite Konfliktlinie verlief zwischen den Staaten des Globalen Nordens, die aufgrund tendenziell eher sinkender Bevölkerungszahlen und technologischen Fortschritts langfristig einen eher sinkenden CO 2 -Ausstoß haben werden, und den Staaten des Globalen Südens, die aufgrund wachsender Bevölkerungszahlen und ihrer wirtschaftlichen Entwicklung langfristig definitiv mit einem höheren CO 2 -Ausstoß rechnen müssen. Daraus ergibt sich ein prinzipieller Konflikt zwischen der Notwendigkeit des Kampfes gegen den anthropogen verursachten Klimawandel und der Notwendigkeit von wirtschaftlicher Entwicklung für Staaten des Globalen Südens. Konfliktlinien Innerhalb des Globalen Nordens Zwischen Globalem Norden und Globalem Süden <?page no="356"?> 341 d er InternatIonale K lImaschutz G eschIchte des InternatIonalen K lImaschutzes Einheit 12 Die Klimaschutzrahmenkonvention der Vereinten Nationen (United Nations Framework Convention on Climate Change: UNFCCC) ist eine der drei verabschiedeten Umweltkonventionen auf dem sogenannten Erdgipfel von Rio. Die Konvention wurde am 09. Mai 1992 gemeinsam mit der Konvention zur Biologischen Diversität und der Konvention zum Kampf gegen die Desertifikation (Verwüstung) verabschiedet. Die UNFCCC trat am 21. März 1994, drei Monate nach Hinterlegung der 50. Ratifikationsurkunde, in Kraft. Im Moment gibt es 192 Vertragsparteien, 191 Staaten plus die Europäische Union als Regionalorganisation. Stabilisierung der Treibhausgaskonzentrationen Die Klimaschutzrahmenkonvention hat die Stabilisierung der Treibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre zum Ziel. Ziel ist nicht, den Klimawandel umzukehren. Die Stabilisierung soll eine Adaption der Ökosysteme ermöglichen. Vor allem soll diese Verlangsamung dazu führen, dass die Nahrungsmittelsicherheit gewährleistet und eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung möglich ist. Merke Die Klimaschutzrahmenkonvention hat die Stabilisierung der Treibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre auf einen Wert, der den anthropogen verursachten Klimawandel verhindert, zum Ziel. Diese Stabilisierung soll innerhalb eines Zeitrahmens realisiert werden, der es Ökosystemen erlaubt, sich dem Klimawandel anzupassen. Ziel ist also nicht, den Klimawandel umzukehren, sondern ihn zu verlangsamen und eine Adaption der Ökosysteme zu ermöglichen. Vor allem soll diese Verlangsamung dazu führen, dass die Nahrungsmittelsicherheit gewährleistet und eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung möglich ist. Die Klimaschutzrahmenkonvention sieht keine verbindlichen Reduktionen vor. Aufgrund des für viele Staaten unbefriedigenden Ergebnisses der UNFCCC erteilte die Konferenz der Parteien einer kleinen Gruppe innerhalb der Vertragsstaatenkonferenz das Mandat, ein Zusatzprotokoll oder ein anderes rechtliches Instrument zu erarbeiten. Dieses Berliner Mandat strebte keine neuen Reduktionsziele an, sondern eine höhere Verbindlichkeit der in der UNFCCC vereinbarten Ziele. Das hieraus hervorgehende Zusatzprotokoll zur Klimaschutzrahmenkonvention, das Kyoto-Protokoll, wurde in den Jahren 1995-1997 verhandelt und am 11. Dezember 1997 verabschiedet. Ähnlich wie die Sicherheitsmechanismen der Internationalen Atomenergiebehörde stellt es eine freiwillige zusätzliche Verpflichtung für Staaten dar. Klimaschutzrahmenkonvention der Vereinten Nationen <?page no="357"?> 342 d er InternatIonale K lImaschutz US-Präsident Bill Clinton setzte zwar 1997 seine Unterschrift unter das Protokoll, aber der US-Senat stimmte mit 95-0 Stimmen gegen die Ratifikation. Der Senat hatte in dieser Phase eine Ratifikation des Kyoto-Protokolls an Reduktionsverpflichtungen eines Großteils der Entwicklungsländer gekoppelt. Damit fehlte dem Kyoto-Protokoll der in Bezug auf globale Treibhausgasemissionen wichtigste Vertragsstaat. Das Protokoll sieht verbindliche Reduktionsziele und weitere Mechanismen zum Schutz des globalen Klimas vor. In dem Protokoll verpflichtet sich eine ursprünglich kleine Gruppe von 38 Staaten aus den Annex-I- Staaten der UNFCCC (die im Kyoto-Protokoll Annex-B-Staaten sind), ihre Emissionen im Zeitraum von 2008 bis 2012 um durchschnittlich 5,2 Prozent im Vergleich zum Basisjahr 1990 zu reduzieren. Dabei sieht das Protokoll aber nicht für alle der Vertragsparteien Reduktionen vor, sondern erlaubt einigen der Staaten eine Erhöhung des CO 2 -Ausstoßes (u. a. Australien und Island). Die sich zum Kyoto-Protokoll verpflichtenden Staaten deckten 50 Prozent aller globalen CO 2 -Emissionen ab. Die EU hat sich mit ihren damaligen 15 Mitgliedsstaaten zu einer Reduktion von 8 Prozent verpflichtet. Dieses Ziel sollte dadurch erreicht werden, dass es einen internen Lastenausgleich unter den EU-Staaten gibt. Demnach werden die Begrenzungen des CO 2 -Ausstoßes einiger Mitglieder (u. a. Deutschland, Großbritannien, Dänemark) mit erhöhten CO 2 -Emissionen anderer Mitglieder (u. a. Portugal, Griechenland, Spanien u. a.) verrechnet. Die Verhandlungen zum Kyoto-Protokoll wurden 2001 abgeschlossen und das Protokoll zur Unterschrift ausgelegt. Die Klimaschutzverhandlungen umfassen verschiedene Phasen und unterteilen sich in Verhandlungen über die Klimaschutzrahmenkonvention (UNFCCC) und das Kyoto-Protokoll. Die UNFCCC wurde durch ein internationales Verhandlungskomitee (INC) ausgearbeitet. Nach ihrer Verabschiedung konstituierte sich die Vertragsstaatenkonferenz (Conference of the Parties: COP) der UNFCCC. Die nachfolgenden Verhandlungen über die Klimaschutzziele im Rahmen der UNFCCC führte seither die COP. Die Treffen werden seit den ersten Verhandlungen mit COP plus der Nummer des Treffens abgekürzt. COP1 steht für das erste Treffen in Berlin 1995, COP2 für das zweite Treffen in Genf, COP6 für das sechste Treffen in Den Haag, etc. Mit dem Inkrafttreten des Kyoto-Protokolls 2005 hat sich das Treffen der Vertragsparteien als höchstes Entscheidungsgremium dieser Gruppe konstituiert. Es wurde zunächst als Treffen der Parteien (Meeting of the Parties: MOP) bezeichnet und ebenfalls durchnummeriert. MOP1 stand für das erste Treffen der Mitgliedsstaatenkonferenz in Montreal, Kanada. Die MOP wurde inzwischen umbenannt in Conference of the Parties serving as the Meeting of the Parties to the Kyoto Protocol (CPM). INC, COP, MOP, CMP? Verhandlungsphasen und ihre Bezeichnungen <?page no="358"?> 343 d er InternatIonale K lImaschutz G eschIchte des InternatIonalen K lImaschutzes Einheit 12 Seit 2005 finden parallele Treffen der Vertragsstaatenkonferenz (COP) der UNFCCC und der Treffen der Parteien des Kyoto-Protokolls (CMP) statt. Parallel zu den Verhandlungen innerhalb des Kyoto-Protokolls unternahm die Vertragsstaatenkonferenz der UNFCCC ab 2006 Schritte in Richtung größerer Verbindlichkeit. Mit dem Bali Action Plan einigten sich die Vertragsstaaten auf einen Aktionsplan zur rechtlich verbindlichen Ausgestaltung der UNFCCC bis 2009, verfehlten aber dieses Ziel. 25 Vertragsstaaten inklusive China und den USA verabschiedeten zwar eine „Politische Vereinbarung“, diese stellte jedoch kein Vertragsdokument innerhalb der UNFCCC Jahr Ereignis 1957 internationales Geophysikalisches Jahr - erste Eiskernbohrungen in der Antarktis 1979 ▶ erste Weltklimakonferenz in Genf ▶ Veröffentlichung der Erkenntnisse zum Klimawandel 1988 Einrichtung des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) 1990 erster Bericht des IPCC beschreibt anthropogenen Treibhauseffekt 1990-1992 Verhandlungen über Klimaschutzrahmenkonvention 1992 ▶ Annahme der Klimaschutzrahmenkonvention auf dem „Erdgipfel“ in Rio de Janeiro ▶ Konvention wird gemeinsam mit der Konvention zur Biologischen Diversität und der Konvention zum Kampf gegen Wüstenbildung verabschiedet 1995-97 COP1 erteilt das „Berliner Mandat“ zur Aushandlung eines verbindlichen Klimaschutzprotokolls 1997 ▶ Verabschiedung des Klimaschutzprotokolls (Kyoto-Protokoll) zwischen 38 Staaten ▶ das Protokoll tritt 2005 in Kraft und deckt 50 % der globalen Treibhausgasemissionen ab ▶ die USA ratifizieren nicht Ab 2005 parallele Treffen zwischen der COP (UNFCCC) und der CMP (Kyoto-Protokoll) führen zu verbesserten Mechanismen zum Schutz des Klimas 2006-2009 ▶ Bali Aktionsplan (2007): Bis 2009 soll auch die Klimaschutzkonvention verbindlich sein ▶ Ziel wird 2009 in Kopenhagen verfehlt. 2010 Fortschritte werden bei der Einrichtung von Finanzierungsinstrumenten für Klimaschutzvorhaben gemacht (z. B. Globale Umweltfazilität) 2011 Klimaschutzkonferenz in Durban verspricht erneut ein verbindliches Klimaschutzabkommen bis 2015 2012 ▶ Kyoto-Protokoll läuft aus ▶ Verhandlungen zu einer neuen Verpflichtungsperiode (ohne Kanada und Russland) 2015 Pariser Klimaschutzverhandlungen 2016 Unterzeichnung des neuen Klimaschutzvertrags Wichtige Daten zur Entwicklung des internationalen Klimaschutzes Tab. 12.2 <?page no="359"?> 344 d er InternatIonale K lImaschutz dar. 2010 in Cancún (Mexico) (COP-16) wurde die Einrichtung eines Globalen Umweltfonds (Global Environmental Facility: GEF) beschlossen, der mit 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr ausgestattet werden sollte. Ein Jahr später in Durban (Südafrika) (COP-17/ MOP 7) versprachen die Staaten erneut ein rechtlich verbindliches Dokument, das bis 2015 erarbeitet und 2020 in Kraft treten sollte. Dies gelang schließlich mit dem Pariser Klimaschutzvertrag. Zwei Staaten sind von ihren Verpflichtungen aus dem verbindlichen Kyoto-Protokoll zurückgetreten, Kanada 2011 und Russland 2012. Die kanadische Regierung begründete ihren Austritt damit, dass sie die Reduktionsziele des Protokolls nicht erfüllen könne und Strafen in Höhe von 10,3 Milliarden Euro zu fürchten habe (BBC News 2011). Russland begründete seinen Austritt damit, dass das Protokoll durch den Nicht-Beitritt der großen Treibhausgas-Emittenten sowieso nicht wirkungsvoll sei. Nach Ansicht von Beobachtern spielte eine Rolle, dass mit der Nicht-Ratifikation des Kyoto-Protokolls durch die USA der Wert der internationalen Vereinbarung für Russland gering war. Russland hatte darauf spekuliert, seine Emissionsanteile an die USA verkaufen zu können. Diese hätten sich dadurch dem Kyoto-Protokoll unterwerfen können, ohne dass sie sich wirklich auf Reduktionen ihrer eigenen Emissionen hätten einlassen müssen (Bernard u. a. 2003). Aufgrund des Austrittes Russlands konnte die Ratifikationsschwelle nicht mehr erreicht werden und das Protokoll lief am 31. Dezember 2012 aus. Elemente einer internationalen Klimaschutzpolitik Internationale Klimaschutzpolitik zielt grundsätzlich auf eine Reduktion der Menge klimaschädlicher Gase in der Atmosphäre. Ähnlich wie im Bereich der Sicherheit wird die internationale Klimaschutzpolitik durch verschiedene miteinander verbundene internationale Vereinbarungen geregelt. Die Maßnahmen umfassen nationale Reduktionen von klimaschädlichen Treibhausgasen, die international mehr oder weniger stark überprüft werden; bilaterale und transnationale Kooperationen zwischen Industriestaaten und Ländern des Globalen Südens, die Klimaschutzprojekte in den Ländern des Globalen Südens fördern sollen (z. B. flexible Mechanismen des Kyoto- Protokolls); Kapazitätsbildung über Finanzierungsinstrumente, wie die Globale Umweltfazilität, die über verbilligte Kredite Anreize für Investitionen in Klimaschutztechnologien schaffen. Diese verschiedenen Elemente finden sich mehr oder weniger stark gewichtet in allen derzeit geltenden Klimaschutzabkommen. 12.5 <?page no="360"?> 345 d er InternatIonale K lImaschutz K lImaschutzrahmenKonVentIon und das K yoto -p rotoKoll : r eGelunGen Einheit 12 Klimaschutzrahmenkonvention und das Kyoto-Protokoll: Regelungen Kern der UNFCCC ist die Feststellung des Prinzips der gemeinsamen aber differentiellen Verantwortung der Staaten für den Klimawandel und den Kampf dagegen. Es wird explizit festgehalten, dass die heutigen Industriestaaten die Hauptverantwortlichen für den Ausstoß von CO 2 sind und dass sie deshalb auch die größten Anstrengungen bei der Reduktion von Treibhausgasen machen müssen. Gleichzeitig wird festgehalten, dass alle Staaten, also auch die des Globalen Südens, Verantwortung dafür übernehmen müssen, dass der Klimawandel gebremst wird. Entsprechend unterteilen sich die Staaten in sogenannte Annex-I und Annex-II-Länder. Die Annex-I-Staaten sind alle OECD-Länder mit Ausnahme von Südkorea, Mexiko und den osteuropäischen Ländern (außer dem ehemaligen Jugoslawien und Albanien), die Annex-II-Staaten alle übrigen. Die Zielvereinbarungen der Klimaschutzrahmenkonvention sehen (Art. 4.2 UNFCCC) unilaterale Reduktionsvereinbarungen für Treibhausgasemissionen, den Schutz und die Ausweitung von Senken für Treibhausgase seitens der Annex-I-Staaten und eine Kooperationsverpflichtung gegenüber den Annex-II-Staaten vor. Diese Kooperationsverpflichtung wird im Wesentlichen über das Instrument der Global Environmental Facility (GEF) eingelöst, einer neuen internationalen Institution mit Beteiligung von Organisationen der Zivilgesellschaft und des Privatsektors zur Finanzierung von globalen Umweltprojekten unter Berücksichtigung einer nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung (www.thegef.org/ gef/ whatisgef, letzter Zugriff 13.05.2016). Die Reduktionsvereinbarung der Annex-I-Länder besagt, dass jeder Staat nationale Maßnahmen ergreifen muss, um seine Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2000 auf das Niveau von 1990 zurückzuführen. Zur Überprüfung der Regeleinhaltung berichten die Regierungen regelmäßig gegenüber dem eigens dafür eingerichteten Sekretariat der UNFCCC über ihre Maßnahmen zum Schutz des Klimas. Diese Berichte werden von der Konferenz der Vertragsparteien auf der Grundlage einer Auswertung des IPCC regelmäßig evaluiert. Damit unterwerfen sich Regierungen formell einem Staatenberichtsverfahren, wie wir es auch schon bei der Nichtverbreitungspolitik (vgl. Einheit 10) kennengelernt haben, und wie es uns auch beim internationalen Menschenrechtsschutz (vgl. Einheit 13) begegnen wird. Die Kooperationsvereinbarung der Konvention (Art. 4.3 UNFCCC) sieht eine verstärkte technologische und finanzielle Zusammenarbeit zwischen Annex-I und Annex-II-Staaten vor, um es Annex-II-Staaten zu ermöglichen, ihre Klimaschutzziele zu erreichen. Dazu soll der Transfer entsprechender Technologien erleichtert und vor allem auch finanziert werden. Die Annex- 12.6 Prinzip der gemeinsamen aber differentiellen Verantwortung <?page no="361"?> 346 d er InternatIonale K lImaschutz I-Staaten sollen dabei berücksichtigen, dass die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Annex-II-Staaten absolute Priorität gegenüber Umweltschutzbelangen hat. Außerdem ist die Durchführung gemeinsamer Forschungsanstrengungen vorgesehen, um das Ausmaß und die Konsequenzen des Klimawandels zu erforschen (Art. 5 UNFCCC). Das Kyoto-Protokoll sieht ebenfalls individuelle CO 2 -Reduktionen vor, die in diesem Fall verpflichtend sind. Darüber hinaus soll der globale CO 2 - Ausstoß durch flexible Mechanismen reduziert werden: Diese sind die Gemeinsame Implementation (Joint Implementation), der Mechanismus für Saubere Entwicklung (Clean Development Mechanism: CDM) und der Emissionshandel (Emissions Trade). Wie diese Mechanismen funktionieren, zeigt Abbildung 12.2. Der Mechanismus der Gemeinsamen Implementation bezeichnet dabei Maßnahmen, bei denen Industriestaaten Klimaschutzprojekte gemeinsam mit anderen Industriestaaten durchführen. Dabei wird das Projekt zwar in Land A durchgeführt, aber von Land B finanziert. Die in Land A vermiedenen Emissionen darf Land B in der Verpflichtungsperiode entweder zusätzlich ausstoßen oder sich gutschreiben lassen. Der Mechanismus der Sauberen Entwicklung bezeichnet Maßnahmen, bei denen Industriestaaten des Annex-B Klimaschutzprojekte in Entwicklungsländern durchführen, wie zum Beispiel den Bau einer Windkraftanlage. Das Entwicklungsland muss das Kyoto-Protokoll ratifiziert haben. Damit soll ein Anreiz für Länder des Globalen Südens geschaffen werden, das Protokoll Abbildung 12.2 Tabelle 12.3 Flexible Mechanismen des Kyoto- Protokolls Abb. 12.2 <?page no="362"?> 347 d er InternatIonale K lImaschutz K lImaschutzrahmenKonVentIon und das K yoto -p rotoKoll : r eGelunGen Einheit 12 zu ratifizieren. Das Industrieland darf die dadurch in einem dieser Länder vermiedenen Emissionen in der jeweiligen Verpflichtungsperiode zusätzlich emittieren oder sich gutschreiben lassen. Ein Teil der Finanztransfers fließt in den Anpassungsfonds und finanziert diesen. Klimaschutzrahmenkonvention (1992/ 1994) Klimaschutzprotokoll (Kyoto-Protokoll 1997, 2005, ausgelaufen 2012, 2. Verpflichtungsperiode 2013) als Zusatzprotokoll zur Rahmenkonvention Ziel Stabilisierung der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre unter Beachtung der gemeinsamen aber differenzierten Verantwortung (common but differentiated responsibilities) ▶ Vorsorgeprinzip ▶ Verursacherprinzip ▶ Recht auf nachhaltige Entwicklung (Art. 3) Reduktion der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre Verfahren ▶ Berichtspflichten der Vertragsstaaten (Daten über Quellen und Senken von Treibhausgasen) ▶ Entwicklung nationaler Programme ▶ Förderung von nachhaltigem Management (Art. 4) ▶ wissenschaftliche Zusammenarbeit Annex-I-Staaten: Industriestaaten mit Berichtspflicht Annex-II-Staaten: ▶ Entwicklungsländer ohne Berichtspflicht (keine Ziele zur Senkung von Treibhausgasen, freiwilliger Ansatz) ▶ Streitbeilegungsverfahren (aber: kein Sanktionsverfahren bei Regelbruch! ) ▶ Einrichtung nationaler Institutionen ▶ Festlegung individueller, rechtlich verbindlicher Ziele zur Reduktion von Treibhausgasen (insgesamt 5 % weniger als 1990): CO2, Methan, Distickoxide, Hydrofluorkarbon, Perfluorkarbon, Sulfohexafluorid ▶ zunächst freiwillige (2008-2010) und ab 2010 verbindliche Berichtspflichten für Mitglieder ▶ rechtsverbindliche Verpflichtungen, die durch ein System von Sanktionsverfahren im Falle von Verletzung der Abkommen durchgesetzt wurden Ratifikationsstand ▶ 195 Parteien ▶ 166 Unterzeichnerstaaten ▶ 192 Parteien ▶ 83 Unterzeichnerstaaten ▶ Prominentester Nichtratifizierer: USA ▶ Austritte: Kanada (2011), Russland (2012) Klimaschutzrahmenkonvention und Klimaschutzprotokoll im Vergleich Tab. 12.3 <?page no="363"?> 348 d er InternatIonale K lImaschutz Beim Emissionshandel entscheiden sich Vertragsparteien, ob sie ihre zulässige Emissionsmenge selbst verbrauchen oder diese mit anderen Annex- B-Ländern handeln. Davon profitieren beispielsweise Russland und die Ukraine, die laut Kyoto-Protokoll keine Reduktionen nachweisen müssen, sondern sogar noch mehr CO 2 emittieren dürfen. Da ihr CO 2 -Ausstoß nach 1990 durch den Zusammenbruch ihrer Industrieproduktion stark gefallen ist, bedeutet eine Rückkehr auf das Niveau von 1990 für diese beiden Staaten, dass sie effektiv mehr CO 2 ausstoßen dürfen. Der internationale Klimaschutz und Theorien der Internationalen Beziehungen Was tragen die Theorien Internationaler Beziehungen zur Erklärung internationaler Klimaschutzbemühungen bei? Wie im Fall der nuklearen Nichtverbreitung (vgl. Einheit 10) muss hinsichtlich der internationalen Klimaschutzpolitik zunächst gefragt werden, ob die Theorien der Internationalen Beziehungen sich eigentlich darüber einig sind, was für ein Phänomen sie erklären wollen. Ist das Klimaschutzregime ein Beispiel für erfolgreiche internationale Verhandlungen oder für deren Scheitern? Oder geht es gar nicht darum, Erfolg oder Misserfolg zu erklären, sondern um die Ausgestaltung des Klimaschutzregimes? Die nächsten Abschnitte werden vor allem diskutieren, mit welchen Fragestellungen die einschlägigen Theorien der internationalen Beziehungen die Thematik bearbeiten. Institutionalismus Die Theorie des Institutionalismus betrachtet internationale Klimaschutzpolitik als ein typisches Kooperationsproblem zwischen egoistischen Akteuren. Klimaschutz ist ein Problem kollektiven Handelns. Es ruft förmlich nach Koordinationsbemühungen seitens der Regierungen, ist aber auch so gelagert, dass die Herausbildung effektiver Institutionen eine große Herausforderung darstellt. Der neoliberale Institutionalismus erklärt, warum es zwar zur Bildung einer internationalen Institution kommt, diese aber eine schwache Institution darstellt, da sie keine starke Reduktion der Treibhausgase vorsieht und die vereinbarten Reduktionen einen relativ geringen Verpflichtungsgrad aufweisen. Interdependenz, Trittbrettfahrer, Gemeinschaftsgüter Die Treibhausgasemissionen sind so verteilt, dass kein einzelner Akteur bzw. eine Gruppe von Akteuren das Klimaproblem im Alleingang lösen kann. 12.7 12.7.1 Hoher Kooperationsbedarf 12.7.1.1 <?page no="364"?> 349 d er InternatIonale K lImaschutz Teil 12 d er InternatIonale K lImaschutz und t heorIen der Ib Wenn alle Annex-I-Staaten der UNFCCC, also die industrialisierten Staaten wie die USA, Deutschland oder Großbritannien, unilateral ihre Emissionen senken würden, während die Annex-II-Staaten, darunter Brasilien, China und Indien weiterhin klimaschädliche Gase produzieren, würde das Klimaproblem nicht gelöst werden. Das Gleiche gilt, wenn alle Annex-II- Staaten ihre Emissionen reduzieren würden, nicht aber die Annex-I-Staaten. Regierungen zeigen wenig Bereitschaft, unilateral ihre Emissionen zu senken, wenn sie nicht sicherstellen können, dass andere Akteure dies ebenso tun. Kooperation für einen effektiven Klimaschutz ist hier mit einem Gefangenendilemma konfrontiert. Dieses Problem wird verstärkt durch asymmetrisch Verteilte Anpassungskosten, die wiederum die Entwicklungsländer stärker betreffen als die Industriestaaten. Wie Tabelle 12.4 verdeutlicht, kostet es Entwicklungsländer sehr viel mehr, beispielsweise eine CO 2 -Steuer einzuführen. Das heißt, für die Staatengruppe (vor allem China, Indien), die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit künftig einen sehr viel höheren CO2-Ausstoß haben wird, sind die Kosten, Klimaschutzmaßnahmen einzuführen, viel höher als für die Gruppe der Industriestaaten. Im Falle Chinas sind sowohl die wohlfahrtsstaatlichen als auch die direkten Kosten im Schnitt doppelt so hoch wie die Anpassungskosten Deutschlands oder der USA. Kooperation zum Klimaschutz ist auch ein Gemeinschaftsgüterproblem. Als Gemeinschaftsressource haben Emissionskontrollen die Eigenschaft, dass sie von jedem genutzt werden und niemand von ihrer Nutzung ausgeschlossen werden kann: Staaten, die selbst bereit sind, ihre Politik im Sinne eines globalen Klimaschutzes zu ändern, können andere Staaten nicht vom Konsum und den Vorteilen sauberer Luft ausschließen, selbst wenn diese selbst keinen Beitrag leisten (Hare u. a. 2012: 601). Eng mit dem Problem des Gemeinschaftsgutes verbunden ist das Problem des Angebots von öffentlichen Gütern. Dazu gehört das Angebot an USA EU Rus MENA LA SSA China Indien Wohlfahrt 1 1 3 3 2 3 3 1 Direkte Kosten 1 1 2 2 2 2 2 1 Direkte Kosten in 2050 1 1 2 2 1 2 2 2 GDP Verlust in 2050 1 1 3 2 1 1 2 3 Einkommensverlust 1 1 3 3 2 k. A. k. A. k. A. Legende Rus = Russland, MENA = Mittlerer Osten und Nordafrika, LA = Lateinamerika, SSA = Subsahara-Afrika 1 = weniger als Durchschnitt, 2 = Durchschnitt bis doppelt so hoch; 3 = mehr als doppelt so hohe Kosten, k. A. = keine Angabe Kosten für CO 2 - Steuer nach Region bzw. Staat, bei 20€ Steuer/ Tonne bei steigender Tendenz zur Stabilisierung von 450ppm CO 2 - Äquivalenten Tab. 12.4 <?page no="365"?> 350 d er InternatIonale K lImaschutz Institutionen und glaubwürdigen Informationen ebenso wie grünen Technologien und Forschungskapazitäten, die es Staaten erlauben, ihre Emissionen zu senken und Anpassungsstrategien an den Klimawandel zu entwickeln. Eine der frühen Forderungen der Länder des Globalen Südens bestand darin, dass Industriestaaten entsprechende Technologien inklusive der Patentrechte in diese Länder transferieren sollten, um ihnen die eigene Produktion der Technologien zu ermöglichen. Die technologischen Komitees, die im Rahmen der Klimaschutzrahmenkonvention etabliert wurden verdeutlichen sehr gut die Bemühungen, technologisches Wissen zu einem Kollektivgut zu machen. Selbst wenn Industriestaaten prinzipiell bereit gewesen wären, diese Forderung zu erfüllen, wäre ein weiteres Kooperationshindernis in Form des Trittbrettfahrerproblems unter Industriestaaten zu überwinden: Ein einzelner Staat könnte sich darauf verlassen, dass andere Industriestaaten die Technologien liefern, und er würde profitieren, ohne dass seine eigenen Technologien an einen potentiellen wirtschaftlichen Wettbewerber geliefert würden. Da Staaten ihre Entscheidungen in Abhängigkeit voneinander treffen, würde letztlich kein Staat die entsprechenden Technologien bereitstellen. Hier begegnet uns das Gefangenendilemma wieder: Unilaterales Handeln bzw. in diesem Fall die Nicht-Kooperation hat einen größeren Nutzen als die Kooperation. Dies gilt vor allem auch für Privatunternehmen, die diese Technologien herstellen. Sie müssten wiederum von ihren Regierungen für entgangene Profite entschädigt werden. Problem der großen Gruppen und unterschiedlicher Verhandlungsmacht Die Beteiligung von mehr Staaten steigert die Komplexität der Verhandlungen. Einige Staaten haben zudem aufgrund sie begünstigender Interdependenzasymmetrien eine bessere Verhandlungsposition als andere. China, Russland und die USA wissen beispielsweise genau, dass ihre Zustimmung zu einer Klimaschutzregelung für effektive Zusammenarbeit notwendig ist. Das gibt ihnen Vetomacht. Diese großen Staaten können für sich günstige Konditionen aushandeln, was internationale Klimaschutzbemühungen unterläuft. So zeigt gerade der Aushandlungsprozess zum UNFCCC, dass die kooperationswilligeren Staaten große Kompromisse eingehen mussten, um die großen Emittenten USA, Brasilien, China und Indien zur Unterschrift unter das Abkommen zu bewegen. Effektive Kooperation wird aber nicht nur durch Gefangenendilemma, Trittbrettfahrerproblem und die Vetomacht weniger Staaten behindert. Klimawandel ist ein so komplexes Problem, dass es nur schwer durch eine einzige institutionelle Lösung in den Griff zu bekommen ist. Zentral für das Trittbrettfahrerproblem 12.7.1.2 Begünstigende Interdependenzasymmetrien <?page no="366"?> 351 d er InternatIonale K lImaschutz Einheit 12 d er InternatIonale K lImaschutz und t heorIen der Ib Gelingen von Kooperation ist in dieser Hinsicht Gewissheit nicht nur über die Kooperationsbereitschaft anderer Akteure, sondern, auf einer grundlegenden, kognitiven Ebene, auch Sicherheit über das zugrundeliegende Problem. Trotz der tendenziell eher pessimistischen Einschätzung der Möglichkeit globaler Kooperation zum Klimaschutz sieht der Institutionalismus eine Chance für Kooperation. Keohane und Victor (Keohane/ Victor 2010) unterscheiden drei idealtypische Situationen, in denen Anreize zur Kooperation bestehen, vor allem auch für privatwirtschaftliche Akteure. In der sogenannten Vorreiter-Situation (first mover advantage situation) haben Firmen einen Vorteil, wenn sie als erste in eine neue Technologie investieren. Die Entwicklung grüner Technologien kann potentiell große Profite für Unternehmen generieren, weshalb sie Anreize haben, in diese zu investieren. Diese Anreize werden dann erhöht, wenn Industriezweige reguliert sind und die Investitionen der Unternehmen in die neuen Technologien vor nachfolgendem Wettbewerb erst einmal geschützt sind. Subventionen können einen ähnlichen Zweck erfüllen, weil sie-- wie im Fall der Solarfirmen und Hersteller von Windrädern-- die Herstellung neuer Technologien erst wettbewerbsfähig machen. In der sogenannten Gemeinschaftsgüterzugewinn-Situation (common pool resources co-benefits situation) besteht der Kooperationsanreiz durch das Angebot an weniger umweltschädlichen Alternativen zu klimaschädlichen Treibhausgasen. Die Konvention zum Schutz der Ozonschicht war unter anderem deshalb erfolgreich, weil relativ schnell kostengünstigere Alternativen zu den ozonschädigenden Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKWs) verfügbar waren (Thoms 2003). Eine ähnliche Situation könnte geschaffen werden, wenn die Verbrennung fossiler Brennstoffe verteuert oder kostengünstige Alternativen entwickelt werden, beispielsweise durch die Einführung einer CO 2 -Steuer. Bei der sogenannten Situation der Reziprozität in einer kleinen Gruppe (small group reciprocity situation) wird der Kooperationsanreiz durch die Verkleinerung der Akteursgruppe verstärkt. In kleineren Gruppen lässt sich das Verhalten der Kooperationspartner besser beobachten und gegebenenfalls sanktionieren. Die Möglichkeit der Reziprozität in Situationen, in denen Akteure wiederholt aufeinandertreffen, fördert Kooperation. Konstruktivismus Die Theorie des Konstruktivismus betrachtet internationale Klimaschutzpolitik als einen typischen Fall von Konstruktionsprozessen, bei dem bestimmte Akteure Einfluss darüber ausüben, wie das Problem des Klimawandels wahr- 12.7.2 <?page no="367"?> 352 d er InternatIonale K lImaschutz genommen wird. Die konstruktivistische Grundannahme lautet, dass sich die soziale Konstruktion des Klimawandels vom Klimawandel als einem naturwissenschaftlichen Phänomen unterscheiden könnte. Klimawandel existiert naturwissenschaftlich (fast) unbestritten, aber ob wir ihn als problematisch betrachten oder nicht, beziehungsweise die Problemwahrnehmung, ist das Ergebnis sozialer Konstruktion. Um die Deutungshoheit über „Klimawandel“ kämpfen verschiedene politische Gruppen: Umweltschutzgruppen und staatliche Umweltbehörden, aber auch Gruppen, die leugnen, dass es einen anthropogen verursachten Klimawandel gibt (McCright/ Dunlap 2003). Ziel konstruktivistischer Analysen ist es deshalb, diese Konstruktionen zu erschließen und ihre Konsequenzen für das Handeln von Akteuren aufzuzeigen. Die konstruktivistische Analyse setzt bereits in der Agenda-Setting- Phase des Klimawandels als Problem an. Warum kommt er jetzt auf die politische Agenda, und nicht schon in den 1970er Jahren, als das Problem des anthropogenen Treibhauseffekts entdeckt wurde? Wie ist es gelungen, dem Problem innerhalb sehr kurzer Zeit einen so großen Stellenwert in der Medienberichterstattung zu verschaffen, die zu globalen Konferenzen und Abkommen führt? Exemplarisch für eine konstruktivistische Erklärung ist die Arbeit David Demeritts. Demeritt (Demeritt 2001) untersucht die Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik im Diskurs über globalen Klimawandel. Er unterstellt einen wechselseitigen Einfluss der beiden Arenen. Zwar habe es die Wissenschaft vermocht, durch ihre Expertise den politischen Entscheidungsbildungsprozess zu beeinflussen. Aber die Nachfrage aus der Politik habe auch die Praxis der Wissenschaft beeinflusst: [D]ie Nachfrage nach und Erwartung von politischer Relevanz hat unmerklich die Formulierung von Forschungsfragen, Wahl der Methoden, Standards der Beweisführung und die Definition anderer Aspekte „guter“ wissenschaftlicher Praxis beeinflusst. (Demeritt 2001: 308, eigene Übersetzung) Demeritt konzentriert sich in seiner Analyse auf den Wissenschaftsdiskurs über globalen Klimawandel. Er identifiziert verschiedene Merkmale dieses Diskurses, die die Art und Weise, wie wir über Klimawandel denken, beeinflussen. Zentral ist der physikalische Reduktionismus des Wissenschaftsdiskurses, der durch die frühe Beteiligung von Physikern und Chemikern und deren Beschäftigung mit Klimawandel als Teil von Klimasystemen beeinflusst worden sei. Deren Interesse vor allem für die universellen physikalischen Eigenschaften und die Effekte ansteigender atmosphärischer Kon- Klimawandel als soziale Konstruktion <?page no="368"?> 353 d er InternatIonale K lImaschutz Einheit 12 d er InternatIonale K lImaschutz und t heorIen der Ib zentrationen von Treibhausgasen hat einen Einfluss darauf, als was für ein Problem wir den Klimawandel wahrnehmen und mit welchen Methoden er untersucht wird. Zunächst führt die Fokussierung auf Treibhausgase als kausale Verursacher in einem physikalischen Sinn zu einer Wahrnehmung als universelles und globales Problem. Diese Problemkonstruktion ist aber verzerrt: Treibhausemissionen sind ein regionales Problem, genauer, ein Problem des Globalen Nordens, weniger des Globalen Südens. Der physikalische Fokus auf globale Treibhausgasemissionen lässt eine solche Differenzierung zunächst nicht zu. Die Problemkonstruktion ist zudem auch ausschließend: Physikalischer Reduktionismus führt sukzessive zum Ausschluss alternativer Formen der Thematisierung des Klimawandels- - wie beispielsweise die Diskussion struktureller Imperative des kapitalistischen Produktionssystems, die Emissionen erst bedingen. Schließlich führt der physikalische Reduktionismus mit seiner Implikation eines globalen aber tatsächlich nur regionalen Problems zur Relativierung der tatsächlichen existentiellen Probleme des Globalen Südens, wie Hunger oder Krankheiten. Demeritt zeigt weiter, dass physikalischer Reduktionismus in der Folge auch die Wahl der Methoden wissenschaftlicher Bearbeitung der Klimaproblematik bestimmt. Computersimulationsmodelle seien das bevorzugte Instrument zur Bestimmung der Folgen des Klimawandels, obwohl sie nur eine von vielen Möglichkeiten darstellten, Klimaforschung zu betreiben. Vor allem die empirische Klimaforschung mit ihrem Fokus auf der Sammlung aktueller Klimadaten sei ins Hintertreffen geraten. Dieser Schwerpunkt habe bedeutende Konsequenzen für die Konstruktion der Folgen des Klimawandels, die als deterministisch dargestellt würden. Dabei lieferten Computersimulationsmodelle aus verschiedenen Gründen nur ein sehr ungenaues Bild der Risiken des Klimawandels. Eine präzise Vorhersage ist unmöglich. Die Vorhersage von Klimafolgen erfordere eigentlich, dass die Simulationsmodelle mit tatsächlichen Beobachtungsdaten gefüttert werden, auf der Basis derer sie dann die wahrscheinliche Entwicklung des Klimasystems von einem anfangs beobachteten Ausgangszustand vorhersagen. Da das Klimasystem sehr sensibel gegenüber kleinen Veränderungen ist, müssten theoretisch die Ausgangsdaten immer wieder aktualisiert werden, um genaue Vorhersagen machen zu können. Klimasimulationsmodelle werden aber weitgehend ohne diese Daten und ohne einen vorherigen Referenzpunkt erstellt. Mathematischer Determinismus der Klimalösung: Computersimulationsmodelle berechnen eine einzigartige Lösung für einen gegebenen Satz von Anfangsbedingungen. Die Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Systemzustands kann deshalb nur dadurch berechnet werden, dass man die Anfangs- <?page no="369"?> 354 d er InternatIonale K lImaschutz bedingungen immer wieder leicht verändert und die Simulation wiederholt. Die entsprechenden Techniken sind bisher noch unterentwickelt, Simulationen liefern deshalb nur ungenaue Zustände. Grundsätzliches Problem der Parameterwahl: Computersimulationsmodelle basieren auf weitgehend statischen Annahmen über Bevölkerungsgröße, Verbrauch fossiler Brennstoffe und Energie und können Veränderungen in diesen Größen in der Simulation nicht beachten. Obwohl diese Probleme der computergestützten Simulationsmodelle bekannt seien, werde in der politischen Öffentlichkeit nicht zwischen Simulation und tatsächlicher Vorhersage unterschieden und die technischen Grenzen der Simulationen nicht thematisiert. Computergestützte Klimasimulationsmodelle würden als wissenschaftliche „Kristallkugeln“ zur genauen Vorhersage von Klimazuständen gehandelt und als einzig wissenschaftliche Möglichkeit zur Vorhersage des Klimawandels, dem sich andere Ansätze unterordnen müssen. Die Folge sei ein „stillschweigender Umweltdeterminismus“ innerhalb des Diskurses über globale Erwärmung, der auf einer sehr unsicheren Datenlage beruhe (Demeritt 2001: 318). Da die computergestützte Simulation des Klimawandels auf angreifbaren Annahmen beruhe, sei sie relativ anfällig für politische Einflussnahme. Beispielsweise habe die politische Diskussion über die Effekte von Aerosolen in der Luft auf das Klima dazu geführt, dass diese in die Simulationsmodelle eingegangen seien. Diese Entscheidung sei aber nicht auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse gefallen, da deren Effekte lange bekannt gewesen seien, sondern aufgrund politischen Drucks. 1. Erklären Sie die wesentlichen Unterschiede zwischen der Klimaschutzrahmenkonvention und dem Klimaschutzprotokoll. 2. Was sind die zentralen Gründe, warum die BRIC-Staaten verbindliche Reduktionsziele ablehnen? 3. Technologietransfer ist ein Kollektivgüterproblem. Begründen Sie, warum das so ist. 4. Übernehmen Sie die Position eines Konstruktivisten und argumentieren Sie, warum es sinnvoll ist, über einen Institutionenansatz hinauszugehen. BBC News (2011): Canada to Withdraw from Kyoto Protocol. BBC News US & Canada. 13. December. http: / / www. bbc.co.uk/ news/ world-us-canada-16151310 (letzter Zugriff 13.07.2013). Bernard, Alain u. a. 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Yamin, Farhana; Depledge, Joanna (2004): The International Climate Change Regime: A Guide to Rules, Institutions and Procedures. Cambridge: Cambridge University Press. <?page no="372"?> 357 d er InternatIonale K lImaschutz und t heorIen der I nternatIonalen b ezIehunGen Einheit 13 Internationaler Menschenrechtsschutz Inhalt 13.1 Menschenrechtsverletzungen früher und heute 358 13.2 Internationale Entwicklung des Menschenrechtsschutzes 359 13.3 Welche Faktoren begünstigen die Einhaltung von Menschenrechten? 369 13.4 Internationale Menschenrechtsverträge-- Papiertiger oder effektive Beschränkung von Staatenverhalten? 371 13.5 Internationaler Menschenrechtsschutz und die Theorien der Internationalen Beziehungen 373 Übungen 377 Verwendete Literatur 378 Dieses Kapitel beschreibt die internationalen Vorkehrungen, die Staaten getroffen haben, um die Menschenrechte international zu schützen. Es werden die wichtigsten internationalen Abkommen und -verfahren dargestellt und es wird erklärt, welche empirischen Faktoren die Menschenrechtssituation eines Staates beeinflussen. Weiterhin wird anhand von liberalen und konstruktivistischen Theorien der internationalen Beziehungen erklärt, warum Menschenrechtsabkommen manchmal Papiertiger sind und manchmal nicht. Überblick <?page no="373"?> 358 I nternatIonaler m enschenrechtsschutz Menschenrechtsverletzungen früher und heute Als Teile des indonesischen Militärs 1966 einen Putsch gegen den amtierenden Präsidenten Sukarno verübten, vorgeblich um einer Übernahme durch kommunistische Gruppierungen zuvorzukommen, wurden innerhalb weniger Monate mehr als 250.000 mutmaßlich kommunistische Indonesierinnen verhaftet. Viele von ihnen wurden sofort erschossen, andere wurden auf abgelegene Inseln deportiert, wo sie im Zuge von Verhören gefoltert wurden. 10 Jahre nach dem Putsch waren noch immer 10.000 Indonesier unter lebensbedrohlichen Bedingungen ohne die Aussicht auf ein Gerichtsverfahren in absehbarer Zeit inhaftiert. Die politische Verfolgung der Anhänger der kommunistischen Partei Indonesiens zu Beginn der 1970er Jahre stellte den Auftakt für umfassende politische Umstrukturierungsmaßnahmen durch die militärisch gestützte Suharto-Regierung dar. Diese verfolgte das Ziel, Indonesien in einen modernen und wirtschaftlich prosperierenden Staat zu verwandeln, dies ging dabei jedoch fortwährend mit erheblichen Einschränkungen grundlegender Menschen- und Bürgerrechte einher. Die staatliche Repression richtete sich vor allem in den 1980er Jahren gegen zwei Gruppen. Zu der ersten gehörten Anhänger islamischer Parteien, die bestrebt waren, Indonesien in einen islamischen Staat zu überführen. Verfolgt wurden jedoch auch jene Politiker, die die willkürliche Inhaftierung von Moslems kritisiert hatten. Die zweite Gruppe waren Osttimoresen, die gegen die völkerrechtlich illegale Besatzung und Annexion der ehemaligen portugiesischen Kolonie Osttimors durch Indonesien nach 1975 kämpften. Sie wurden als Separatisten staatlich verfolgt. Internationale Menschenrechtsgruppen erhielten regelmäßig Berichte über die systematische Folter von Osttimoresen, unter denen sich sowohl Zivilisten als auch Anhänger militärisch organisierten Widerstands befanden. Angesichts einer repressiven Regierung, die nicht davor scheute, auch mit Gewalt gegen die Bevölkerung vorzugehen, schien die Situation für die betroffenen Gruppen hoffnungslos. Wie und an wen sollten sie sich wenden? Die kommunistischen Gefangenen saßen fest auf Inseln fernab moderner Kommunikationstechnik, es gab keine staatlichen Beschwerdestellen oder -verfahren, nationale Menschenrechtsorganisationen waren verboten und internationale Organisationen weit weg. Zwar war Indonesien im Zeitraum der Ereignisse Mitglied der Vereinten Nationen, hatte aber kein einziges der damals existierenden Menschenrechtsabkommen unterzeichnet. Erst 1985 sollte Indonesien die Anti-Folterkonvention unterzeichnen. Ortswechsel: Im Oktober 2001 marschierten US-amerikanische Streitkräfte in Afghanistan ein. Ziel war der Sturz der Taliban-Regierung, der die 13.1 <?page no="374"?> 359 I nternatIonaler m enschenrechtsschutz I nternatIonale e ntwIcKlunG des m enschenrechtsschutzes Einheit 13 Mitverantwortung für die Anschläge von Al Qaida auf das World Trade Center und das Pentagon im September 2001 zugeschrieben wurde. Im Laufe des bewaffneten Konfliktes wurden sowohl in Afghanistan als auch in den mit den USA verbündeten arabischen Staaten hunderte von Männern festgenommen und ab Januar 2002 in das eigens dafür geschaffene Gefängnis nach Guantanamo Bay (Kuba) gebracht. Ihnen wurde das Recht auf Haftprüfung verweigert, was bedeutete, dass sie nicht gerichtlich überprüfen lassen durften, ob ihre Verhaftung legal war. Sie sollten- - so die offizielle Verlautbarung der zu diesem Zeitpunkt regierenden George W. Bush-Regierung-- kein Gerichtsverfahren erhalten. Die Bush-Regierung hielt die Gefangenen für ungesetzliche Kämpfer, denen weder Schutz durch die Menschenrechtsgarantien der US-Verfassung noch von internationaler Ebene zustand. Sowohl amerikanische Menschenrechtsorganisationen wie die American Civil Liberties Union als auch internationale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International prangerten-- und prangern weiterhin-- diese Politik der US-Administration an. Auch wenn ein Großteil der 780 Gefangenen mittlerweile entlassen wurde, sind immer noch ca. 100 Gefangene auf Guantanamo Bay inhaftiert. Die ersten Prozesse vor einem amerikanischen Militärgericht begannen im Juni 2011. Diese zwei unterschiedlichen Situationen zeigen die Vielschichtigkeit der Herausforderungen, vor die der internationale Menschenrechtsschutz gestellt ist. Staaten verletzen sehr häufig Menschenrechte und damit ihre Pflicht, die Bürger zu schützen. Speziell für diese und vergleichbare Situationen wurde seit dem Zweiten Weltkrieg ein internationales Instrumentarium an Menschenrechtsabkommen geschaffen, das die Menschenrechtspraxis von Staaten besser überwachen soll und den Staaten eine Rechenschaftspflicht auferlegt. Wie ist dieses Instrumentarium beschaffen? Und wie effektiv ist der internationale Menschenrechtsschutz tatsächlich? Internationale Entwicklung des Menschenrechtsschutzes Der internationale Schutz der Menschenrechte ist heute eine der wichtigsten Aufgaben der internationalen Gemeinschaft. Mit der Gründung der Vereinten Nationen (1945) sowie der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) wurden Normen generiert, die sich nicht mehr allein auf die Formulierung des Verbotes unrechter Taten in Kriegen konzentrieren (Kriegsvölkerrecht-- Haager Abkommen, Genfer Konventionen), sondern ausdrückliche Gebote menschenwürdigen staatlichen Handelns in Friedenszeiten formulieren. Diese legen allen Staaten ein gewisses Maß an Rechenschaftspflicht darüber auf, wie deren Regierungen die Menschenrechte ihrer Bürgerinnen und Bürger schützen. Allein durch die Mit- 13.2 <?page no="375"?> 360 I nternatIonaler m enschenrechtsschutz gliedschaft in den Vereinten Nationen sind Staaten verpflichtet, regelmäßig Bericht an die Vereinten Nationen zu erstatten, indem sie Auskunft über den Stand des Menschenrechtsschutzes in ihrem Hoheitsgebiet geben müssen. Der internationale Menschenrechtsschutz hat seit dem Zweiten Weltkrieg eine revolutionäre Entwicklung erfahren. Mehr und mehr Menschenrechte wurden international kodifiziert. So waren vor dem Zweiten Weltkrieg nur wenige Gruppenrechte, auf die sich die Staaten des Wiener Kongresses 1815 verständigt hatten (vgl. Einheit 1), international anerkannt, wie zum Beispiel das Recht von ethnischen und nationalen Minderheiten auf Schutz vor staatlicher Repression. Die Londoner Konvention gegen Sklaverei von 1840 verankerte das Recht auf Befreiung von Sklaverei. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch wurden die Menschenrechte von Individuen international anerkannt. In Zuge dessen wurde zum ersten Mal das Individuum als Subjekt des Völkerrechts verankert. Die World Anti-Slavery Convention, die im Juni 1840 in London stattfand, stellte die bis dahin größte Zusammenkunft der vor allem in Großbritannien und den USA vertretenen Anti-Sklaverei-Komitees dar. Sie war die Geburtsstunde von Anti-Slavery International, einer bis heute tätigen internationalen Menschenrechtsorganisation, und der internationalen Frauenrechtsbewegung. Frauen waren auf der Londoner Anti-Slavery Convention in großer Zahl vertreten und klagten Rechte ein, indem sie ihren Status als Bürgerinnen 2. Klasse mit dem von Sklaven verglichen. Das Recht auf Freiheit von Sklaverei wurde im 19. Jahrhundert vor allem durch Großbritannien durchgesetzt, das zwischen 1817 und 1871 eine Serie bilateraler Verträge abschloss, die die Abschaffung von Sklaverei zum Ziel hatten. Im Rahmen dieser Verträge wurden internationale Tribunale für die Abschaffung des Sklavenhandels geschaffen, die als eine der ersten Menschenrechtstribunale gelten können. Im Zeitraum der Gültigkeit dieser Verträge wurden insgesamt 600 Anklagen in Fällen von Sklaverei durch die Gerichte angehört. Diese führten letztlich zur Befreiung von 80.000 Sklaven. Im Kampf gegen die Sklaverei nutzte Großbritannien dabei vor allem seine dominante Position auf den Meeren aus, um Sklavenschiffe aufzubringen, das heißt, deren „Ladung“ zu inspizieren und gegebenenfalls zu beschlagnahmen. Der Sklavenhandel verlief traditionell vor allem über See auf den Handelsrouten zwischen Afrika und Lateinamerika und war deshalb relativ leicht zu kontrollieren. Der internationale Kampf gegen die Sklaverei Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 kodifizierte Menschenrechte erstmals auf internationaler Ebene. Sie bildet bis heute den Minimalkonsens über die international geltenden zivilen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte, an <?page no="376"?> 361 I nternatIonaler m enschenrechtsschutz I nternatIonale e ntwIcKlunG des m enschenrechtsschutzes Einheit 13 die sich alle Staaten halten müssen. Sie etabliert in Artikel 1, dass alle Menschen frei und gleich in Würde und an Rechten geboren sind. Im Folgenden werden das Recht auf Nicht-Diskriminierung (Art. 2) und das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit (Art. 3) genannt. In Artikel 4 bis 21 werden grundlegende bürgerliche und politische Rechte angeführt, wie das Recht auf Freiheit von Sklaverei, von Folter und erniedrigender Behandlung, das Recht auf einen effektiven Zugang zu Rechtsinstanzen und -mitteln, die Freiheit von willkürlicher Verhaftung oder das Recht auf Privatheit. Die Artikel 22 bis 27 bestimmen grundlegende wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, wie das Recht auf soziale Sicherheit und das Recht auf Arbeit. Artikel 28 bis 30 besagen, dass jeder ein Recht auf eine soziale und internationale Ordnung hat, in der diese Rechte etabliert sind, und beschreibt Rechte und Pflichten des Einzelnen. Seither sind eine Reihe internationaler Verträge entstanden, die spezifische Rechte definieren und diejenigen Staaten, die die Verträge unterzeichnen und ratifizieren, verpflichten, diese Rechte einzuhalten und umzusetzen. Beispielsweise kodifiziert der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (im Folgenden Zivilpakt) von 1966 das Recht auf Leben (Art. 6), das Recht auf Freiheit von Folter (Art. 7), das Recht auf Freiheit von Sklaverei (Art. 8), das Recht auf Freiheit von willkürlicher Verhaftung (Art. 9) oder das Recht auf Gedanken- und Gewissensfreiheit (Art. 18), auf Versammlungsfreiheit (Art. 21) und das Recht, freiwillige Assoziationen zu gründen (Art. 22). Die internationale Frauenrechtskonvention von 1979 kodifiziert die Rechte von Frauen weltweit, wie das Recht auf Nichtdiskriminierung auf der Basis des Geschlechts, ihr Recht auf gleiche Teilhabe am öffentlichen und politischen Leben (Art. 7 u. 8), und ihre Rechte auf Anstellung, Gesundheit und weitere Rechte in anderen Bereichen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens (Art. 11-13). Die Menschenrechtskonvention zum Schutz der Rechte von allen Migranten benennt die Rechte von Arbeitsmigrantinnen und deren Familien. Darüber hinaus beschreibt sie die Rechte, die während des gesamten Migrationsprozesses zu wahren sind, also von der Vorbereitung der Migration, über Rechte beim Verlassen des Heimatstaates bis hin zu Rechten in den Staaten, in denen Arbeit aufgenommen wird. Die Konvention unterscheidet Rechte, die nur dokumentierten Arbeitsmigranten zustehen, und Rechte, die auch undokumentierten Arbeitsmigranten zugestanden werden. <?page no="377"?> 362 I nternatIonaler m enschenrechtsschutz Insgesamt zehn Verträge bilden den Kernbestand an international kodifizierten Menschenrechten: ▶ die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) ▶ die Internationale Konvention über die Verhinderung und die Bestrafung des Verbrechens des Genozids (1948) ▶ die Internationale Konvention über die Eliminierung aller Formen von Rassendiskriminierung (1965) ▶ der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1966) ▶ der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1966) ▶ die Konvention über die Eliminierung aller Formen von Diskriminierung von Frauen (1979) ▶ die Konvention gegen Folter und andere Formen grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung (1984) ▶ die Kinderrechtskonvention (1989) ▶ die Internationale Konvention zum Schutz der Rechte von allen Migranten und deren Familienmitgliedern (1990) ▶ das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2006) Alle Verträge finden Sie auf den Webseiten des Hochkommissars für Menschenrechte der Vereinten Nationen (www.ohchr.org, letzter Zugriff 13.05.2016). Der Kernbestand internationaler Menschenrechtsverträge Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Pakte über bürgerliche und politische Rechte und wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte bilden den internationalen Menschenrechtskodex. Es gibt verschiedene Lesarten, mit denen man international verankerte Menschenrechte interpretieren kann. Eine Möglichkeit ist es, Menschenrechte danach zu klassifizieren, welche Rolle Staaten bei deren Schutz einnehmen und um welche Art von Rechten es sich handelt. Entsprechend unterscheidet man drei Typen von Menschenrechten: Abwehrrechte, Partizipationsrechte und Solidarrechte. Abwehrrechte sind Rechte, die das Verhältnis zwischen einem Staat und seinen Bürgerinnen definiert. Sie etablieren die Grenzen zwischen dem, was ein Staat gegenüber seinen Bürgern tun darf und was nicht. Abwehrrechte werden sie deshalb genannt, weil sie der Abwehr des Staates gegenüber bestimmten Eingriffen in das Leben und die Lebensführung seiner Bürger dienen. Sie werden auch als „Freiheit von“-Rechte bezeichnet. Ein klassisches Beispiel ist das Recht auf Freiheit von Folter: Ein Staat bzw. die Strafverfolgungsbehörden dürfen niemanden foltern oder andere erniedrigende Behandlung anwenden, um ein Geständnis zu erzwingen. Ein Staat darf nicht Klassifikation von Menschenrechten … … nach Typ <?page no="378"?> 363 I nternatIonaler m enschenrechtsschutz I nternatIonale e ntwIcKlunG des m enschenrechtsschutzes Einheit 13 grundsätzlich verhindern, dass seine Bürgerinnen friedlich demonstrieren. Abwehrrechte fordern von Staaten „nur“ Zurückhaltung oder das Unterlassen bestimmter Handlungen. Mitwirkungsrechte sind Rechte, die Bürgern ermöglichen, sich am politischen und sozialen Leben zu beteiligen. In vielen Staaten genügt es nicht, „Freiheiten von“-Rechte zu haben, weil erst einmal grundlegende menschliche Bedürfnisse befriedigt werden müssen, wie das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard. Diese Rechte werden folgerichtig Teilhaberechte genannt. Der Staat hat hier die Rolle, öffentliche Güter bereitzustellen, wie nationale Gesundheitsversorgung, Gesetze zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen oder eine produktive Wirtschaft, die die Teilhabe am Arbeitsleben ermöglicht. Die beiden Begriffe der Freiheit von und der Freiheit zu stammen aus der politischen Theorie und wurden maßgeblich von Immanuel Kant geprägt. Freiheit von wird auch als negative Freiheit bezeichnet, da sie ihrem ursprünglichen Sinn nach allein auf das Freisein von etwas - zum Beispiel von Zwängen - zu verstehen ist. Repressive und das Individuum unterdrückende Zwänge können dabei sowohl von anderen Personen als auch von gesellschaftlichen Institutionen oder allgemeingültigen Normen ausgehen. Negative Freiheit implementiert also keine Abwertung des Freiheitsbegriffs, sondern weist dem Individuum vorerst eine passive Rolle zu, in der es sich jedoch bereits in Freiheit befindet. Auf dieser Grundlage der negativen Freiheit eröffnet sich auch die Entfaltung einer positiven Freiheit, der „Freiheit zu …“ Diese beschreibt für ein Individuum die Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen und ohne Fremdbestimmung das eigene Leben aktiv zu gestalten. „Freiheit von…“ und „Freiheit zu…“ Solidaritätsrechte sind Rechte, die internationale Kooperation sowie die Bildung einer internationalen Solidargemeinschaft erfordern, wie das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das Recht auf Entwicklung, das Recht auf Frieden oder das Recht auf eine saubere Umwelt. Bei diesen Kategorien spricht man oftmals von Generationen von Menschenrechten, da sie historisch betrachtet in unterschiedlichen Epochen entstanden sind. Abwehrrechte haben sich im Laufe des 18. Jahrhunderts herausgebildet und spiegeln die historische Unrechtserfahrung der politischen Unterdrückung von politischen Freiheitsbewegungen durch monarchische Regierungssysteme wider (bürgerliche und politische Rechte als erste Generation). Partizipationsrechte sind im 19. Jahrhundert entstanden und entspringen der historischen Unrechtserfahrung durch die Missachtung von Bedürfnissen im Zuge der Industrialisierung, die von manchen als Unterdrückung durch ein kapitalistisches Wirtschaftssystem betrachtet wurden (wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte als zweite Generation). Die Soli- <?page no="379"?> 364 I nternatIonaler m enschenrechtsschutz daritätsrechte sind im 20. Jahrhundert durch Unrechtserfahrungen wie die Ausbeutung des Globalen Südens durch industrialisierte Staaten (kollektive Rechte als dritte Generation) bedeutsam geworden. Historisch betrachtet lassen sich die drei Kategorien von Menschenrechten auch verschiedenen Staatengruppen zuordnen. Westliche Staaten unter Führung der USA haben sich traditionell für die Menschenrechte der ersten Generation eingesetzt, sozialistische Staaten für die Förderung der Menschenrechte der zweiten Generation und Entwicklungsländer für die Förderung der Menschenrechte der dritten Generation. Dieser Umstand hat vor allem während des Kalten Kriegs zur Politisierung von Menschenrechten geführt (vgl. Einheit 2). Sie wurden als Mittel im Machtkampf zwischen den USA und der Sowjetunion gesehen, mit denen der jeweilige Gegner gebrandmarkt werden konnte: Die USA warfen der sowjetischen Führung regelmäßig Verletzungen der bürgerlichen und politischen Rechte vor, vor allem die Verletzung des Rechts auf Versammlungsfreiheit, während die Sowjetunion darauf verwies, dass es in ihrem Herrschaftsbereich zumindest keine starken sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten gebe. Politische Philosophen haben dagegen immer argumentiert, dass die drei Generationen immer als Gesamteinheit zu denken seien und nicht politisch gegeneinander ausgespielt werden dürfen: Freiheit begründet die Gleichheit der Individuen, diese wiederum kann sich nicht auf isolierte Individuen beziehen, sondern umfasst die gemeinschaftliche Verantwortung für eine politische Freiheitsordnung. Bisher sind große Fortschritte bei der Kodifizierung internationaler Menschenrechtsstandards festzustellen. Offen ist die Frage, was dies in der Praxis bedeutet. Wie viele Staaten haben die einzelnen Verträge unterzeich- … nach Staatengruppen Mitwirkungsrechte (Freiheit im Staat) Abwehrrechte (Freiheit vom Staat) Teilhaberechte (Soziale Sicherheit durch den Staat) ▶ Recht auf Teilhabe an Wahlen und Abstimmungen ▶ Petitionsrecht ▶ Versammlungsfreiheit ▶ Vereins- und Koalitionsfreiheit ▶ Pressefreiheit ▶ Unantastbarkeit der Menschenwürde ▶ Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ▶ Recht auf freie Entfaltung ▶ Glaubens- und Bekenntnisfreiheit ▶ Freiheit der Berufswahl ▶ Unverletzlichkeit der Wohnung ▶ Gleichberechtigung und Verbot der Benachteiligung ▶ Recht auf Freizügigkeit ▶ Anspruch auf Sicherung des Existenzminimums (z. B. Sozialhilfe) ▶ Recht auf Teilhabe an staatlichen Leistungen ▶ Gewährleistung von Chancengleichheit ↕ ▶ Gewährleistung hängt ab von finanzieller Leistungskraft von Staat und Wirtschaft Mitwirkungs-, Abwehr- und Teilhaberechte (Beispiele) Tab. 13.1 <?page no="380"?> 365 I nternatIonaler m enschenrechtsschutz I nternatIonale e ntwIcKlunG des m enschenrechtsschutzes Einheit 13 net (Akteur: Regierung) und ratifiziert (Akteur: Parlament)? Hier lassen sich interessante Unterschiede feststellen. Der Stand der jeweiligen Unterzeichnung von zwei internationalen Menschenrechtsverträgen, die eine hohe staatliche Anerkennung genießen, ist in Abbildung 13.1 wiedergegeben: Die Verträge der Internationalen Frauenrechtskonvention und der Internationalen Kinderrechtskonvention. Der Wirtschaftspakt genießt ebenfalls hohe Anerkennung. Demgegenüber fällt der Zivilpakt im Vergleich zu allen vorherigen Konventionen ab, was die Zahl der Unterzeichnungen und Ratifikationen betrifft. Die Internationale Konvention zur Verhütung von Folter (die sogenannte Anti-Folter-Konvention) hat seit ihrer Verabschiedung im Jahr 1984 schnelle Anerkennung gefunden, steht aber noch hinter dem Zivilpakt zurück. Im Mai 2015 hatten 195 Staaten die Kinderrechtskonvention unterzeichnet oder ratifiziert und fast alle die Frauenrechtskonvention (189 Staaten). 177 Staaten hatten die Konvention gegen Rassendiskriminierung unterzeichnet, die Ratifikationsquote für den Internationalen Zivilpakt lag mit 168 Staaten bei 87 Prozent. Immerhin noch vier Fünftel aller Staaten (155) haben die Anti-Folter-Konvention unterschrieben. Bisher sind ein Viertel aller Staaten (47) Unterzeichner der Konvention zum Schutz von Arbeitsmigranten, aber der steile Anstieg bei den Unterzeichnungen lässt darauf hoffen, dass innerhalb kurzer Zeit die breite Anerkennung der Konvention erfolgt. Die beeindruckende Zahl an Vertragsparteien für fast alle Abkommen wird relativiert, wenn man sich vor Augen führt, dass nur drei der genannten Menschenrechtsabkommen-- die Allgemeine Menschenrechtserklärung Unterschiede in Ratifikationszahlen und Verpflichtungsgrad 9 Teil 12 / S. 367 0 50 100 150 200 250 Zahl der Ratifikationen von Menschenrechtsverträgen (2012) Zahl der Ratifikationen Hauptvertrag Zahl der Ratifikationen Zusatzprotokolle Zahl der Ratifikationen der wichtigsten Instrumente des Menschenrechtsschutzes Abb. 13.1 CAT: Convention against Torture CCPR: Convention on Civil and Political Rights CEDAW: Convention on the Elimination of Discrimination against Women CERD: Convention on the Elimination of Racial Discrimination CRC: Convention on the Rights of the Child CRPD: Convention on the Rights of Persons with Disabilities CESCR: Convention on Economic, Social and Cultural Rights CMW: Convention on the Rights of Migrant Workers CPPED: Convention on the Protection of all Persons from Enforced Disappearance <?page no="381"?> 366 I nternatIonaler m enschenrechtsschutz und die beiden Menschenrechtspakte- - rechtliche Verbindlichkeit für die internationale Gemeinschaft genießen. Die anderen Abkommen sind rechtlich nur für die Staaten bindend, die sie unterzeichnet bzw. ratifiziert haben. Einige der Menschenrechtsabkommen haben zusätzliche Protokolle etabliert, die den Verpflichtungsgrad von Staaten zu den in den Konventionen genannten Rechten erhöhen: Der Zivilpakt, die Internationale Frauenrechtskonvention, die Anti-Folter-Konvention und die Kinderrechtskonvention. Mit den Protokollen zum Zivilpakt und zur Frauenrechtskonvention verpflichten sich Staaten, Individualbeschwerden gegen ihre Menschenrechtspraxis zuzulassen, das heißt Bürger oder Gruppen aus dem Staat können sich direkt an das entsprechende Überwachungsorgan wenden und dort Beschwerde einlegen. Das zweite Protokoll des Zivilpakts wiederum verpflichtet Unterzeichner zur Abschaffung der Todesstrafe. Das Protokoll zur Anti-Folter-Konvention sieht ein Besuchsrecht des Überwachungsorgans im Unterzeichnerstaat vor. Die beiden Protokolle zur Kinderrechtskonvention spezifizieren noch stärker die Rechte von Kindern in bewaffneten Konflikten bzw. etablieren ein Kommunikationsverfahren, das die Verbindung zwischen Kindern und Repräsentanten des Überwachungskomitees herstellt. Funktion der Protokolle zu den Menschenrechtspakten Protokolle, die zu den Menschenrechtsabkommen zusätzlich etabliert wurden, verpflichten die Vertragspartner stärker zur Einhaltung und Gewährung bestimmter Rechte. Dazu gehören in der Regel das Recht, als Individuum selbstständig Beschwerde bei dem zuständigen Vereinte Nationen-Organ einzureichen und das Recht von Repräsentanten des Organs, Tatsachenermittlungen in den Ländern durchzuführen. Merke Geht man davon aus, dass Staaten, denen Menschenrechte wichtig sind, auch einer stärkeren internationalen Überwachung zustimmen, sollte dann nicht auch zu verzeichnen sein können, dass etwa ebenso viele Staaten auch die zusätzlichen Protokolle unterzeichnen, mit denen sich Staaten mit einer stärkeren Überwachung einverstanden erklären? Das ist nicht der Fall. Das individuelle Beschwerdeverfahren des Zivilpakts haben nur noch 115 der 167 Staaten ratifiziert, die das Abkommen unterzeichnet haben. Im Fall der Anti-Folter-Konvention räumt nur noch die Hälfte der Staaten, die die Konvention unterschrieben haben, also 72 Staaten, Individuen das Beschwerderecht ein. Alle Abkommen sehen Überwachungsmechanismen vor. Diese unterteilen sich in die so genannten Charta-basierten und vertragsbasierten Verfahren. Die Charta-basierten Verfahren finden auf alle Staaten Anwendung <?page no="382"?> 367 I nternatIonaler m enschenrechtsschutz I nternatIonale e ntwIcKlunG des m enschenrechtsschutzes Einheit 13 allein auf der Basis ihrer Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen. Sie basieren auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Das zentrale Überwachungsorgan der Charta-basierten Verfahren ist seit 2006 der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen. Bis 2006 war dieses Überwachungsorgan die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen. Dem Menschenrechtsrat gehören 47 Staaten an, die von der Generalversammlung gewählt werden. Die Zahl der Mitgliedstaaten ergibt sich aufgrund eines regional verteilten Schlüssels. Im Rahmen des durch die Charta etablierten Universellen Periodischen Berichtsverfahrens müssen alle Staaten alle vier Jahre einen Staatenbericht vorlegen und sich den kritischen Fragen der Mitglieder des Menschenrechtsrates stellen. Jeder Staat kann, unabhängig vom Grad seiner Demokratie und der Einhaltung der Menschenrechte, in das Gremium gewählt werden. Die vertragsbasierten Verfahren gelten für diejenigen Staaten, die weitergehende Verpflichtungen durch ihre Unterzeichnung und Ratifikation des Zivil- und Sozialpakts und der Zusatzprotokolle eingegangen sind. Hier findet eine zusätzliche Überwachung durch spezielle Komitees statt. Dies sind beispielsweise das Menschenrechtskomitee für den Zivilpakt, und das Komitee zum Wirtschaftspakt für den Wirtschafts- und Sozialpakt. In diesen Gremien sitzen, im Unterschied zum Menschenrechtsrat, Experten für die jeweiligen Themen. Aufgrund der daraus folgenden größeren Unabhängigkeit von den Staaten gilt die Professionalität der vertragsbasierten Verfahren als höher (vgl. Einheit 6). Die Vertragsparteien des Internationalen Zivilpakts müssen zudem regelmäßig über die Menschenrechtslage in ihrem Land berichten, das erste Mal ein Jahr nach Inkrafttreten des Vertrags und im Anschluss auf Nachfrage des Komitees. In der letzten Dekade haben sich spannende Entwicklungen auf regionaler Ebene vollzogen, die die lange bestehenden europäischen Institutionen, wie die Europäische Menschenrechtskonvention und den zum Europarat gehörenden Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Europa Chartabasierte Verfahren Vertragsbasierte Verfahren ▶ gültig für alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen: basierend auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ▶ zentrales Überwachungsorgan: Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, in den Vertreter aus jedem Staat gewählt werden können ▶ universelles periodisches Berichtsverfahren fordert im 4-Jahreszyklus von jeder Nation einen Staatenbericht, der dem Menschenrechtsrat vorgelegt wird ▶ gültig durch eine Ratifizierung des Zivil- und Sozialpakts und der Zusatzprotokolle ▶ einzelne Überwachungsorgane: Komitees, z. B. Menschenrechtskomitee/ Komitee zum Wirtschaftspakt mit Experten für die jeweiligen Themen ▶ Vertragsparteien des Internationalen Zivilpakts legen Länderberichte vor Charta- und Vertragsbasierte Verfahren Tab. 13.2 <?page no="383"?> 368 I nternatIonaler m enschenrechtsschutz ergänzen. Diese verdeutlichen einerseits sowohl den Trend zur Verrechtlichung von Menschenrechten als auch den Trend zur Regionalisierung (vgl. Einheiten 2 und 14), können aber andererseits auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie-- ähnlich wie das System der Vereinten Nationen-- keine effektiven Schutzmechanismen etablieren. Es dominieren Berichtsverfahren und damit die freiwillige Informationsweitergabe durch die Staaten selbst. 1. In Afrika ist 2004 das Statut für die Schaffung des Afrikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Kraft getreten, 2006 hat er seine Arbeit aufgenommen. Er ist Teil der seit 1984 bestehenden Afrikanischen Charta für Menschenrechte. Die Afrikanische Charta ist insofern einmalig, als sie Kollektivrechte verankert und Pflichten gegenüber Gemeinschaften definiert. Als Überwachungsorgan sah sie bisher lediglich eine Menschenrechtskommission vor, der neu eingerichtete Gerichtshof jedoch entscheidet über Staaten- und Individualbeschwerden, die ihm von der Kommission vorgelegt werden, erstellt Rechtsgutachten und hat rechtsauslegende Kompetenzen. Individuen können das Gericht nur nach vorheriger Zustimmung des jeweiligen Staates direkt anrufen. 2. In der MENA-Region ist 2008 die Arabische Charta der Menschenrechte in Kraft getreten. Sie stellt erstmals verbindliche Menschenrechtsstandards für die 22 Mitgliedsstaaten der Arabischen Liga auf. Als Überwachungsmechanismus sieht die Charta ein Staatenberichtsverfahren ähnlich dem Charta-basierten Verfahren der Vereinten Nationen vor. 3. In Asien ist mit der Zwischenstaatlichen Menschenrechtskommission der ASEAN erstmalig ein regionaler Menschenrechtsmechanismus etabliert worden. Die Kommission hat bisher nur beratende Funktionen und wahrt weitgehend die Souveränität der Mitgliedstaaten. Sie besteht aus Regierungsvertretern der zehn Mitgliedstaaten. Sie prüft die Staatenberichte, die die Staaten im Rahmen des Charta-basierten Verfahrens der Vereinten Nationen vorlegen. Diese neuen Überwachungsmechanismen ergänzen die bereits seit langem bestehenden regionalen Mechanismen in Europa und Amerika. 4. Das europäische Menschenrechtsvertragssystem wurde durch die Europäische Menschenrechtscharta von 1950 etabliert. Mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg gilt es als das fortschrittlichste Schutzsystem, weil Mitgliedsstaaten ihren Bürgerinnen das individuelle Klagerecht einräumen müssen. Allerdings müssen sie erst alle Instanzen in ihrem jeweiligen Land ausgeschöpft haben. 5. Das amerikanische Menschenrechtssystem wird durch die Amerikanische Menschenrechtscharta von 1969 innerhalb der Organisation Amerikanischer Staaten etabliert. Sie sieht einen Gerichtshof als Überwachungsorregionale Entwicklungen <?page no="384"?> 369 I nternatIonaler m enschenrechtsschutz w elche f aKtoren beGünstIGen dIe e InhaltunG Von m enschenrechten ? Einheit 13 gan vor. Klageberechtigt sind allerdings nur die Menschenrechtskommission und Staaten selbst. Welche Faktoren begünstigen die Einhaltung von Menschenrechten? Offensichtlich gibt es starke Unterschiede zwischen Staaten, was den Schutz und die Gewährung von Menschenrechten anbelangt. Ziemlich plausibel ist die Annahme, dass Demokratien die besseren Menschenrechtsschutzpraktiken haben. Aber was wissen wir sonst noch über den Zusammenhang von staatlichen Charakteristika und Menschenrechten? Welche Faktoren beeinflussen in einer globalen Perspektive die Menschenrechtslage im Durchschnitt positiv, welche negativ? In den letzten Jahren hat es hierzu eine Reihe von statistischen Untersuchungen gegeben, die zum Teil Bekanntes quantifizieren, aber zum Teil auch überraschende neue Ergebnisse hervorgebracht haben: Reiche Staaten schützen die Menschenrechte ihrer Bevölkerung besser als arme. Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt ist der beste Prädiktor für die Menschenrechtslage. Anders ausgedrückt: Wenn das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt eines Staates hoch ist, dann ist es relativ sicher, dass die Menschenrechte in diesem Land geschützt sind. Das liegt vor allem daran, dass diese Länder meist besser entwickelt sind und bessere staatliche Strukturen haben. Aber Ausnahmen bestätigen die Regel: Singapur hat eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen weltweit, schränkt bestimmte Rechte seiner Bürger aber empfindlich ein, wie zum Beispiel das Versammlungsrecht. Staaten ohne interne bewaffnete Konflikte schützen die Menschenrechte ihrer Bevölkerung besser als Staaten mit internen bewaffneten Konflikten. Auch das ist relativ evident. Demokratien schützen die Rechte ihrer Bevölkerung besser als Nicht- Demokratien. Allerdings gibt es hier keinen linearen Zusammenhang und dieser Befund ist überraschend. Die Menschenrechtslage eines Landes bessert sich nicht im selben Maß wie sein Demokratisierungsgrad. Tatsächlich ist die Zahl der Menschenrechtsverletzungen sowohl in autoritären Staaten als auch in demokratischen Staaten geringer als in Staaten, die im Mittelfeld liegen bzw. sich gerade demokratisieren. Das liegt allerdings daran, dass autoritäre Staaten politisch stabil sind, obwohl sie keine Menschenrechte gewähren. Dieser Zusammenhang wird auch mit der Phrase Mehr Morde in der Mitte (Fein 1995) bezeichnet und ist in Abbildung 13.3 verdeutlicht: Bei den Staaten, die von Freedom House als „nicht frei“ oder „teilweise frei“ eingestuft waren, wiesen die meisten Staaten mittlere Werte beim Schutz der Menschenrechte auf. Eine Mehrheit der Staaten, die als „frei“ klassifiziert 13.3 Besserer Menschenrechtsschutz durch … … reichere Staaten … Staaten ohne bewaffnete Konflikte … demokratische Staaten <?page no="385"?> 370 I nternatIonaler m enschenrechtsschutz waren, wiesen sehr gute Werte beim Schutz der Menschenrechte auf. Wäre der Zusammenhang zwischen Demokratiegrad und Schutz der Menschenrechte linear, ergäbe sich ein Bild, das sehr viel binärer wäre: Für die Kategorie der teilweise freien Staaten müsste sich das Bild eher dem der freien Staaten annähern: Ein hoher Prozentsatz der Staaten müsste Werte ab 1 aufweisen. Für die Kategorie der nicht freien Staaten wäre es genau umkehrt: Die größten Werte würden ganz rechts zu finden sein, die kleinsten links. Die Ursache liegt in der politischen Stabilität, die sowohl in autoritären als auch demokratischen Staaten höher ist als in sich demokratisierenden. Diesen Zusammenhang kann man am Beispiel Syriens veranschaulichen. Unter autoritären aber stabilen Verhältnissen waren die Menschenrechte der Bevölkerung besser geschützt als im Zeitraum der militärischen Auseinandersetzung zwischen der Opposition und den Regierungstruppen. Diesen Zusammenhang zwischen dem Grad der Demokratisierung und Schutz von Menschenrechten haben neuere Studien noch genauer belegt: Der Demokratiegrad muss einen bestimmten, noch dazu relativ hohen Grenzwert überschreiten, um zu einem effektiven Schutz von Menschenrechten zu führen. Auf einem Index von 0 bis 10, bei dem 0 den schlechtesten Demokratiewert markiert und 10 den besten, würde dieser Grenzwert erst bei 8 erreicht. Nur oberhalb dieses Grenzwertes nehmen Menschenrechtsverletzungen im Vergleich zu den Werten unterhalb dieser Schwelle rapide ab (Merkel/ Croissant 2000; Davenport/ Armstrong II 2004; Bueno de Mesquita u. a. 2005). … stabile Staaten Abbildung 13.2 „Mehr Morde in der Mitte“-- Zusammenhang zwischen Demokratiegrad und Schutz des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit Abb. 13.2 <?page no="386"?> 371 I nternatIonaler m enschenrechtsschutz Einheit 13 I nternatIonale m enschenrechtsVerträGe Gibt es Verbindungen zwischen lokalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen, ist dies ebenfalls mit einer leicht verbesserten Menschenrechtslage assoziiert. Sich demokratisierende Staaten treiben die Entwicklung von internationalen Abkommen an (Moravcsik 2000; Simmons 2009). Die Anreize, internationale Menschenrechtsabkommen zu etablieren, sind für Regierungen sich demokratisierender Staaten oftmals höher als für autoritäre oder demokratische Staaten. Während für autoritäre Regierungen internationale Menschenrechtsabkommen wenig attraktiv sind, weil sie sich keiner internationaler Kontrolle unterwerfen wollen, reichen die innerstaatlichen Schutzmechanismen in demokratischen Staaten meist aus. Aus unterschiedlichen Gründen ist es deshalb unwahrscheinlich, dass diese beiden Staatengruppen die Kodifikation internationaler Abkommen vorantreiben. 1. Reiche Staaten schützen die Menschenrechte ihrer Bevölkerung besser als arme. 2. Staaten ohne interne bewaffnete Konflikte schützen die Menschenrechte ihrer Bevölkerung besser als Staaten mit internen bewaffneten Konflikten. 3. Demokratische Staaten schützen die Rechte ihrer Bevölkerung besser als undemokratische. Allerdings existiert kein linearer Zusammenhang zwischen Demokratisierung und der Einhaltung von Menschenrechten: Auf einem Demokratie-Index von 0 bis 10 muss erst der Grenzwert von 8 überschritten werden, damit weitere Demokratisierungstendenzen gleichzeitig durch eine höhere Einhaltung von Menschenrechten charakterisiert werden. 4. Die Präsenz von Menschenrechtsorganisationen in einem Staat mit Verbindungen zu internationalen Menschenrechtsorganisationen ist mit einer leicht verbesserten Menschenrechtslage assoziiert. Merke Internationale Menschenrechtsverträge - Papiertiger oder effektive Beschränkung von Staatenverhalten? Bisher wurde festgestellt, dass sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, und mehr noch seit dem Ende des Ost-West-Konflikts, eine Art „stille Menschenrechtsrevolution“ vollzogen hat. Die am längsten etablierten Menschenrechtsabkommen, der Internationale Zivil- und der Wirtschafts- und Sozialpakt sind von mehr als 85 Prozent der Staaten unterzeichnet. Gleichzeitig bedingt diese hohe Zustimmung keine explizite stärkere Selbstverpflichtung von Staaten. Die effektivere Überwachung hinkt der hohen Anerkennung dieser Abkommen hinterher. Eine effektive Überwachung lehnt die große Mehrheit der Staaten ab. Dabei ist, wie bei den Überwachungsme- … Präsenz von Menschenrechtsorganisationen vor Ort 13.4 <?page no="387"?> 372 w as sInd InternatIonale b ezIehunGen ? chanismen auf globaler und regionaler Ebene zu registrieren, Überwachung noch eine Übertreibung: Die meisten Verfahren gleichen eher einer freiwilligen Selbstauskunft. Das Bild, dass wir es letztlich trotz aller Fortschritte doch eher mit zahnlosen Papiertigern als mit durchsetzungsstarken Überwachungsmechanismen zu tun haben, scheint sich durch die regelmäßigen Schreckensmeldungen über Menschenrechtsverletzungen weltweit noch zu bestätigen. Wir sind hilflose Zuschauer des Dramas um die politische Macht in Syrien. Der Krieg in Norduganda wurde uns zwar durch die Kony-Kampagne näher gebracht (vgl. Einheit 8), aber Kindersoldaten gibt es dort noch immer, ohne dass man dazu etwas von den Überwachungsmechanismen der Vereinten Nationen gehört hätte. Die Menschenrechtsorganisation Freedom House, die seit den 1970er Jahren den Stand der politischen und bürgerlichen Freiheiten weltweit misst, hält in ihrem jüngsten Jahresbericht die Fort- und Rückschritte in den Freiheitsgraden in 80 Staaten fest (vgl. Abbildung 13.3): Während zwischen 2002 und 2005 mehr Staaten Fortschritte bei der Gewährung bürgerlicher und politischer Freiheiten gemacht haben, hat sich diese Zahl seit 2005 gedreht. Mehr Staaten weisen Rückschritte auf als Fortschritte, wesentlich bedingt durch den „Kampf gegen den Terror“. Verschiedene Studien gehen deshalb seit Ende der 1990er Jahre dem Zusammenhang zwischen der Unterzeichnung bzw. Ratifikation von Menschenrechtsabkommen und der Verbesserung der Menschenrechtssituation nach. Sie interessieren sich besonders für die Frage, ob die Unterzeichnung der Menschenrechtsabkommen wirklich dazu führt, dass Staaten ihren Bür- Vor- und Rückschritte in Menschenrechten Abb. 13.3 <?page no="388"?> Unit 13 373 w as sInd InternatIonale b ezIehunGen ? Einheit 13 I nternatIonaler m enschenrechtsschutz und dIe t heorIen der Ib gerinnen mehr Rechte gewähren. Dabei ergibt sich ein zum Teil kontraintuitives Bild: 1. Es gibt keinen systematischen Zusammenhang zwischen der Zahl der Unterzeichnungen und der Verbesserung der Menschenrechtslage in Staaten. 2. Wo es einen Zusammenhang gibt, ist dieser tatsächlich negativ: Unterzeichnung scheint mit einer Verschlechterung der Menschenrechtspraxis einige Jahre später verbunden. So stellen die beiden amerikanischen Wissenschaftler Emily Hafner-Burton und Kyoteru Tsutsui fest: In no instance does state ratification of any of the six core UN human rights treaties predict the likelihood of government respect for human rights. Rather, state ratification of all six treaties has a negative effect on signatories’ behavior: treaty members are more likely to repress their citizens than non-ratifiers. (Hafner-Burton/ Tsutsui 2005: 1398) Sie bezeichnen dieses Phänomen als „Paradox der leeren Versprechung“ und sprechen von einer „radikalen Entkopplung“ zwischen rhetorischem Menschenrechtsschutz und tatsächlicher Praxis. Auch verschiedene andere Studien stützen dieses Ergebnis. 3. Etwas besser stehen im Durchschnitt Staaten da, in denen es eine große Zahl zivilgesellschaftlicher Akteure gibt. Die Ratifikation in Verbindung mit der Stärke der Zivilgesellschaft wirkt sich positiv auf die Menschenrechtslage aus. Das könnte daran liegen, dass zivilgesellschaftliche Akteure die Ratifikation ihrer Regierung auch tatsächlich nutzen, um Menschenrechte gegenüber der Regierung einzufordern. Internationaler Menschenrechtsschutz und die Theorien der Internationalen Beziehungen Liberale Theorie: Anreize für sich demokratisierende Staaten Beth Simmons (2009) entwickelt in ihrem Buch „Mobilizing for Human Rights: International Law in Domestic Politics“ eine liberale Theorie des Ratifikationsverhaltens von Staaten in Bezug auf Menschenrechte. Simmons argumentiert, dass sich Staaten vollkommen rational verhalten, wenn sie eine Entscheidung zur Unterzeichnung von Menschenrechtsverträgen fällen. Simmons nimmt an, dass Staaten sehr genau antizipieren, welche internationalen Abkommen auch eine Chance auf Ratifikation bzw. Annahme durch Volksvertretungen haben. Sie wählen deshalb sehr bewusst diejenigen Verträge aus, die ohne Probleme die Ratifikationshürden nehmen können und vermeiden solche Verträge, die sowieso scheitern würden. 13.5 13.5.1 <?page no="389"?> 374 I nternatIonaler m enschenrechtsschutz Das erklärt den Unterschied zwischen der großen Anerkennung der weniger verbindlichen Verträge und der geringen Anerkennung der stärker bindenden Verträge. Auf die Frage, ob die Unterzeichnung von Verträgen sich tatsächlich positiv auf die Menschenrechtslage auswirkt, hat Simmons eine klare Antwort: Ja, Menschenrechtsverträge haben positive Effekte auf die Einhaltung von Menschenrechten, aber nur für die Gruppe der sich demokratisierenden Staaten. Für die Gruppe der autoritären Staaten sind keine Effekte zu erwarten, da sie keine Motivation zur Durchsetzung von Menschenrechten haben. In Demokratien sind Menschenrechte durch nationale Institutionen besser geschützt als durch internationale, so dass hier keine Effekte zu erwarten sind. Sich demokratisierende Staaten und vor allem deren innerstaatliche Akteure haben starke Anreize, die internationalen Verfahren zu nutzen. Wo nationale Institutionen durch Demokratisierung noch im Fluss und veränderbar sind und nationale Interessengruppen um die konkrete Ausgestaltung dieser Institutionen ringen, können internationale Regelungen der Anker werden, nach dem Interessengruppen greifen, um Erwartungen auch für nationale Institutionen zu formulieren. Simmons zeigt über die einzelnen Menschenrechtskonventionen hinweg, dass internationale Menschenrechtsabkommen keine zahnlosen Papiertiger sind, sondern subtile Mechanismen in Gang setzen, die sich positiv auf die Menschenrechtslage auswirken. Konstruktivismus: Debatten über Menschenrechte ändern Verhalten Manche autoritäre Staaten, in denen es zu massiven und systematischen Menschenrechtsverletzungen kommt, weisen nach einigen Jahren eine substantiell verbesserte Menschenrechtslage auf, andere nicht. Wie lässt sich das erklären? Das Spiralmodell des Menschenrechtswandels stellt ein konstruktivistisches Erklärungsmodell dar (Risse u. a. 1999; Risse u. a. 2002). Es ist konstruktivistisch, weil es davon ausgeht, dass internationale Menschenrechtsverträge Standards angemessenen Verhaltens darstellen, also eine internationale Sozialstruktur, an denen sich Regierungen orientieren, selbst wenn diese Verträge keine starken Implementationsmechanismen aufweisen. Diese Sozialstruktur verknüpft die Identität eines jeden Staates mit der Einhaltung von grundlegenden Menschenrechtsstandards nach dem Motto: Ein guter Staat verletzt keine Menschenrechte. Folglich können Regierungen, die Menschenrechte missachten, durch sozialen Druck dazu gebracht werden, die Praxis zu verändern. Voraussetzung dafür ist, so das Spiralmodell, die Existenz transnationaler Menschenrechtsnetzwerke, die das Ver- 13.5.2 <?page no="390"?> 375 I nternatIonaler m enschenrechtsschutz Einheit 13 I nternatIonaler m enschenrechtsschutz und dIe t heorIen der Ib halten von Regierungen international brandmarken und die Regierung an den Pranger stellen (Liese 2006). Transnationale Menschenrechtsnetzwerke sind Netzwerke aus internationalen und nationalen Menschenrechtsorganisationen, Kirchen, Gewerkschaftsorganisationen sowie Teilen staatlicher Behörden, die durch Kampagnen, Veröffentlichungen und die Verbreitung von Wissen versuchen, Menschenrechte weltweit durchzusetzen. Neben Prozessen der politischen Mobilisierung betont das Modell Prozesse der Kommunikation, in denen es um den Geltungsanspruch von Menschenrechten geht. Das heißt, dass in einem öffentlichen Diskurs Einverständnis darüber geschaffen wird, welche Problemwahrnehmung als die intersubjektiv gültige anzusehen ist. Kernannahme: Spiralmodell Grundannahme: Menschenrechtsverträge konstituieren eine internationale Sozialstruktur, die Staaten und Regierungen angemessenes Verhalten vorgibt. 1. Mechanismus: Soziale Erwünschtheit und durch sie erzeugter sozialer und materieller Druck können die Regierungen zu einem bestimmten Handeln motivieren. 2. Integrierte Prozesse: Politische Mobilisierung und Kommunikation. 3. Akteure: Transnationale Menschenrechtswerke wirken auf Staaten und Regierungen ein. Das Modell geht davon aus, dass der Grad der Vernetzung zwischen nationalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen Einfluss darauf ausübt, ob Staaten repressiv bleiben oder nicht. Internationale Menschenrechtsnormen setzten soziale Maßstäbe für angemessenes Verhalten. Wenn es transnationalen Menschenrechtsnetzwerken gelingt, eine Regierung mit diesen Erwartungen zu konfrontieren und dadurch internationale und innenpolitische Akteure gegen das repressive Regime zu mobilisieren, dann wird eine Veränderung der Menschenrechtslage wahrscheinlich. Der Prozess lässt sich idealtypisch in fünf Phasen unterteilen: In der ersten Phase ist die Repression meist so stark, dass Regierungen sich keiner innerstaatlichen Kritik gegenüber sehen. Wenn sich ein transnationales Menschenrechtsnetzwerk bildet, das die Regierung mit dem Vorwurf der Menschenrechtsverletzung konfrontiert, dann wird die Phase des Leugnens erreicht. Hier erfolgt die erste Reaktion der Regierung: Sie leugnet, dass ihr Verhalten eine Menschenrechtsverletzung darstellt. Stattdessen wird das Handeln als Kampf gegen Separatismus oder als Staatsnotstand gerechtfertigt, bei dem keine Menschenrechte verletzt würden. Gelingt es an diesem Punkt, die Argumentation der Regierung auszuhebeln, beispielsweise indem gezeigt werden kann, dass Unschuldige Opfer von Menschenrechtsverletzungen werden, wird dadurch die Glaubwürdigkeit der Regierung in Frage <?page no="391"?> 376 I nternatIonaler m enschenrechtsschutz gestellt. Mobilisieren andere Staaten und internationale Organisationen, reagiert die Regierung in der Regel durch taktische Konzessionen: Sie lässt politische Gefangene frei oder lockert partiell die Repression. Dies ermöglicht nun erstmals einer innerstaatlichen Opposition, sich zu organisieren und ihrerseits Druck auf die Regierung auszuüben. Halten internationaler und innerstaatlicher Druck an, dann verengt sich der Handlungsspielraum der Regierung weiter. Sie hat dann oftmals nur noch die Optionen, entweder ernsthafte Menschenrechts-Reformen einzuführen, oder abzutreten. Damit ist die Phase der offiziellen Anerkennung der Norm erreicht. Menschenrechtsnormen erreichen einen präskriptiven Status, das heißt, sie leiten das Handeln der Regierung an. Die dauerhafte Etablierung von Menschenrechtsorganisationen und die Verankerung von Menschenrechtsschutz in der nationalen Gesetzgebung leiten in die Phase der Habitualisierung über, in der die Zahl der Menschenrechtsverletzungen dauerhaft niedriger ist. Habitualisierung findet in der internationalen Staatengemeinschaft als ein Prozess der Verinnerlichung und schließlich der Festigung spezifischer Normen statt. Staaten können sich durch ihre offizielle Anerkennung und eine dauerhafte Etablierung von Menschenrechten mit der Staatengemeinschaft identifizieren und sich in ihr integrieren. Aus der Perspektive des Konstruktivismus nehmen Staaten diesen Habitus jedoch nicht automatisch an. Sie werden viel mehr durch Druck über innerstaatliche Gruppen zu einem bestimmten Verhalten hin geführt, das spezifischen Normen und Erwartungen entspricht. Habitualisierung Im Fall Indonesiens war es Amnesty International, die in einem Bericht auf das Schicksal der indonesischen Gefangenen aufmerksam machte, ohne dass sie überhaupt genaue Informationen über die Zahl der Gefangenen hatte. Die indonesische Regierung leugnete dann zwar nicht, dass es die Gefangenen gebe, wohl aber, dass es sich bei den Gefangenen um politische Gefangene handelte. Damit gab sie zu, dass es tausende von Gefangenen gibt, die ohne Gerichtsverfahren inhaftiert waren. In der Folge mobilisierten andere Staaten und die internationale Gebergemeinschaft und erreichten schließlich bis 1979 die Freilassung der Gefangenen. Eine Ähnlichkeit zum Fall der Gefangenen auf Guantanamo USA ist offensichtlich. Erklärt das Modell den Fall ebenfalls? Kathryn Sikkink zeigt in ihrer Fallstudie zu den USA, dass die USA sehr wohl auf die Kritik von Amnesty International und anderen Menschenrechtsorganisationen reagiert haben. Die USA durchliefen das Spiralmodell bis zu der Phase der taktischen Konzessionen, in der sie beispielsweise Haftbedingungen verbesserten, einzelne Gefangene frei ließen und eine Militärgerichtsbarkeit einführten. <?page no="392"?> 377 I nternatIonaler m enschenrechtsschutz Einheit 13 ü bunGen Danach stoppte die Mobilisierung jedoch und die US-Administration führte keine weiteren Reformen durch. Die kritische Überprüfung des Spiralmodells zehn Jahre nach der Veröffentlichung des deutschen Buches hat dies zum Anlass genommen, zusätzliche Erklärungsfaktoren des Modells herauszuarbeiten (Risse u. a. 2012). So wird die Fähigkeit von Regierungen, Menschenrechtsverletzungen effektiv als „notwendiges Übel“ zu rechtfertigen, unterschätzt (Jetschke/ Liese 2012). Andrea Liese (2009) zeigt in ihrer Fallstudie zu den USA, wie die Bush-Administration mittels des Bezugs auf eine „existentielle Gefahr“ für die amerikanischen Bürger Folter rechtfertigt. Kathryn Sikkink (2012) führt als Erklärungsfaktor die Fähigkeit, Entscheidungen in kleinen, vom Zugriff einer Öffentlichkeit isolierten Entscheidungsgremien zu treffen, die Entscheidungen einer Rechenschaftspflicht unterwerfen, an. Dies erklärt, warum die Bush- und Obama-Administrationen zwar taktische Konzessionen machten-- wie die Erleichterung von Haftbedingungen und Anklagen vor Militärgerichten- -, aber nicht in die Phase der dauerhaft verbesserten Menschenrechtslage vorrückten. Anders als im Fall Indonesiens gab es im Fall der USA eben lange keine unbestreitbaren Beweise für die Folterpraxis. 1. In welche Generationen lassen sich Menschenrechte unterscheiden? 2. Welchen Einfluss haben Menschenrechte auf negative und positive Freiheit? 3. Welcher Zusammenhang wird mit dem Begriff „Mehr Morde in der Mitte“ beschrieben? 4. Worin besteht der Unterschied zwischen den Charta- und vertragsbasierten Verfahren? 5. Was begünstigt die Einhaltung der MR-Abkommen? 6. Die Einheit erwähnt die Abschaffung des Sklavenhandels. Lässt sich das Spiralmodell auch auf den historischen Fall des Sklavenhandels anwenden? Warum war es im 19. Jahrhundert relativ einfach, den Sklavenhandel zu kontrollieren-- sobald Großbritannien sich entschlossen hatte, die Sklaverei abzuschaffen? 7. Im Februar 2015 veröffentlichte ein Senats-Komitee des US-Kongresses einen Bericht zur Folterpraxis der US-Behörden, vor allem des Central Intelligence Service (vgl. Senate Select Committee on Intelligence, www. intelligence.senate.gov/ study2014/ executive-summary.pdf, letzter Zugriff 15.04.2015). Danach entbrannte eine öffentliche Debatte über die Folter- Praxis. Was müsste laut Spiralmodell passieren, damit sich daraus eine Spirale entwickeln kann? Übungen <?page no="393"?> 378 I nternatIonaler m enschenrechtsschutz Bueno de Mesquita, Bruce u. a. (2005): Thinking Inside the Box: A Closer Look at Democracy and Human Rights. In: International Studies Quarterly 49, 439-457. 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Verwendete Literatur <?page no="394"?> 379 I nternatIonaler m enschenrechtsschutz Einheit 14 Regionalismus und regionale Integration Inhalt 14.1 Verlangt die Euro-Krise nach mehr regionaler Integration? 380 14.2 Die Ausbreitung von Regionalorganisationen seit 1945 in Zahlen 381 14.3 Regionalorganisationen im Überblick 382 14.4 Warum gibt es einen Trend zu Regionalisierung? 384 14.5 Regionale Integration als wachsende Interaktionen 387 14.6 Regionale Integration als Aufbau von Entscheidungsstrukturen 387 14.7 Wie stark integriert ist die EU? -- Und wie viele EUs gibt es? 393 14.8 Warum vertieft sich Integration und kann sie sich verselbstständigen? 398 14.9 Die Euro-Krise und die Theorien der Internationalen Beziehungen 403 Übungen 406 Verwendete Literatur 407 <?page no="395"?> 380 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon In diesem Kapitel wird ein Überblick über die globale Entwicklung von Regionalorganisationen vermittelt. Es werden Ursachen benannt für einen Trend in Richtung Regionalisierung und ein Instrumentarium vorgestellt, mit dem sich bestimmen lässt, ob eine Regionalorganisation mehr oder weniger integriert ist. Damit schließt das Kapitel an die Einheit zum Institutionalismus an und vertieft die Analyse von internationalen Institutionen um die in diesen ablaufenden Entscheidungsprozesse. Verlangt die Euro-Krise nach mehr regionaler Integration? Die Krise der Eurozone, die ausgehend von Irland 2007 eine Reihe weiterer Mitglieder der Währungsunion erfasst hat, brachte die Zukunft des europäischen Integrationsprozesses schlagartig auf die politische Agenda. Seither haben Regierungen in Europa heftig darüber gestritten, ob man Staatsschulden in Europa vergemeinschaften, eine Bankenunion schaffen oder die Möglichkeit des Austritts aus der Währungsunion ermöglichen sollte. Eine Vergemeinschaftung von Staatsschulden hat dabei weitreichende Konsequenzen: Mit einer Fiskal- und Haushaltsunion geben Regierungen weitreichende Kompetenzen an die EU ab, so wird beispielsweise ihre Autonomie bei der Festsetzung von Steuern oder bei Haushaltsausgaben eingeschränkt. Aber nicht nur das: Wirtschaftlich stärkere Länder haften in der Folge für die Rückzahlung von Schulden anderer Länder (http: / / www.ipg-journal.de/ rubriken/ europaeische-integration/ artikel/ loesungen-fuer-die-eurokrise/ , letzter Zugriff 15.04.2015). Das wäre ein historisch einmaliger Vorgang auf zwischenstaatlicher Ebene, der lediglich in Staatenbildungsprozessen eine Parallele findet. Aber nicht nur in Europa sind weitreichende Transfers von Entscheidungskompetenz auf eine Regionalorganisation zu beobachten. So war mit der Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (Economic Community of West African States: ECOWAS) 2011 und 2012 eine afrikanische Regionalorganisation prominent in den Medien vertreten, die seit 2002 mehrmals in afrikanischen Mitgliedstaaten militärische Interventionen durchgeführt hat, um rechtmäßig gewählten Regierungen zur Macht zu verhelfen oder Bürgerkriege zu befrieden. Zuletzt wurde ein Eingreifen in Mali diskutiert, in dem seit 2012 ein ethnisch-religiös motivierter Konflikt wütet, der zur Massenflucht der Bevölkerung Malis geführt hat. Für solche Fälle verfügt die Regionalorganisation über einen eigenen Interventionsmechanismus: Die sechzehn Mitglieder haben unter der regionalen Führung Nigerias eine gemeinsame Streitmacht eingerichtet, die für friedenserhaltende Maßnahmen eingesetzt werden kann. Die ECOWAS kann so-- auch gegen den Willen eines betroffenen Staates-- militärisch in Mitgliedstaaten eingreifen. Auch hier lässt sich also ein bisher nicht dagewese- Überblick 14.1 <?page no="396"?> 381 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon d Ie a usbreItunG Von r eGIonalorGanIsatIonen seIt 1945 In z ahlen Einheit 14 ner Transfer von Entscheidungskompetenzen auf eine Regionalorganisation beobachten. Diese beiden Beispiele verdeutlichen, dass Regionen bzw. Regionalorganisationen für nationalstaatliche Politik stark an Bedeutung gewinnen. Innerstaatliche Politik wird zumindest in Europa erheblich von der EU als Regionalorganisation beeinflusst. Regionalorganisationen gewinnen aber auch in der internationalen Politik an Bedeutung. Regionen institutionalisieren zunehmend kollektive Entscheidungsmechanismen und entwickeln eine eigene kollektive Handlungsfähigkeit in der internationalen Politik. Einige Wissenschaftler gehen deshalb sogar so weit, Regionalisierung als einen der wichtigsten Prozesse internationaler Politik in den letzten zehn Jahren zu beschreiben (Acharya 2012). Die Ausbreitung von Regionalorganisationen seit 1945 in Zahlen Abbildung 14.1 zeigt die Entwicklung der Zahl der Neugründungen von Regionalorganisationen zwischen 1945 und 2011. Da sich seit 1945 Phasen der Neugründung von Organisationen mit Stagnationsphasen abwechseln, spricht die Regionalismusforschung von sogenannten Regionalismuswellen. Es gibt drei solcher Wellen: Die erste trat zwischen 1957 und 1967 auf, die zweite ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre und die dritte ab dem neuen Millenium (Milner/ Kubota 2005; Sbragia 2008). 14.2 Kapitel 14: Abbildung 14.1 - - 0 10 20 30 40 50 60 70 80 1945 1948 1951 1954 1957 1960 1963 1966 1969 1972 1975 1978 1981 1984 1987 1990 1993 1996 1999 2002 2005 2008 2011 Anzahl Anzahl der Regionalorganisationen 1945-2011 Abb. 14.1 <?page no="397"?> 382 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon Regionalorganisationen im Überblick Regionale Zusammenschlüsse gibt es bereits lange. Darunter verstehen wir Zusammenschlüsse aus mindestens drei Staaten mit regional begrenzter Mitgliedschaft, die über eine institutionelle Struktur verfügen (Volgy u. a. 2008). Zweifelsohne ist die Europäische Union aktuell die bekannteste unter den Regionalorganisationen. Es gibt jedoch weltweit viele Varianten regionaler Organisationen, von denen die einflussreichsten hier kurz vorgestellt werden sollen. Die größten Regionalorganisationen bilden jene internationalen Institutionen, die regionale Versionen des Modells der Vereinten Nationen darstellen. Die älteste Regionalorganisation dieser Art ist die am 22. März 1945 gegründete Arabische Liga (AL) mit 21 Mitgliedstaaten der arabischen Halbinsel und Nordafrikas (MENA-Region) plus dem völkerrechtlich nicht anerkannten Staat Palästina. Die mit 54 Mitgliedern größte Regionalorganisation ist die Afrikanische Union (AU), die am 25. Mai 1963 als Organisation Afrikanischer Einheit (OAU) gegründet wurde und sich 2002 in einem konstitutiven Akt umbenannt hat. Mit Ausnahme Marokkos sind alle afrikanischen Staaten inklusive der Westsahara in ihr vertreten. In den beiden Amerikas existiert die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), in der alle Staaten Nord- und Lateinamerikas vertreten sind mit Ausnahme Französisch-Guayanas. Die Organisation hat somit 35 Mitglieder. Sie wurde am 30. April 1948 gegründet. In Eurasien existierte mit der 1922 gegründeten Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) bis zu ihrer offiziellen Auflösung am 21. Dezember 1992 eine Organisation, die auch als Regionalorganisation aufgefasst werden kann. Ihr gehörten unter der Führung Russlands 15 Mitgliedstaaten an. Ihre Nachfolgeorganisation ist die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), die am Tag der Auflösung der UdSSR ins Leben gerufen wurde. Der GUS gehören insgesamt 11 europäische und asiatische Staaten an.In Europa sollte ursprünglich der am 5. Mai 1949 gegründete Europarat die Rolle der politischen Repräsentation der europäischen Staaten übernehmen. Hatte er bei seiner Gründung noch 10 Mitgliedstaaten, so ist deren Zahl inzwischen auf 47 gestiegen. Allerdings konzentrierte er sich relativ schnell auf die regionale Zusammenarbeit im Bereich der Menschenrechte. An die Stelle einer zunächst westeuropäischen, später gesamteuropäischen Organisation trat relativ schnell die Europäische Gemeinschaft (EG) beziehungsweise die heutige Europäische Union (EU). 14.3 Regionalorganisationen in Europa <?page no="398"?> 383 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon r eGIonalorGanIsatIonen Im ü berblIcK Einheit 14 In der Charta der Vereinten Nationen genießen solche regionalen Abmachungen einen besonderen Status, der in Kapitel-VIII der Charta definiert ist. Im Fall eines Konfliktes zwischen zwei Staaten nämlich sollen sich derartige Regionalorganisationen um eine friedliche Lösung bemühen, noch bevor sich der Sicherheitsrat damit befasst. Der Ost-West-Konflikt und die zum Teil sehr große Zahl von Mitgliedern verhinderten jedoch, dass sich Regionalorganisationen dieses Typus zu effektiven regionalen Organisationen entwickelten. Ähnlich wie das System der Vereinten Nationen insgesamt waren sie durch Auseinandersetzungen zwischen ideologisch, politisch und wirtschaftlich sehr unterschiedlichen Mitgliedstaaten geprägt (vgl. Einheit 2). Im Windschatten dieser als regionale Sicherheitsorganisationen gedachten Foren gründeten sich aber unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg verschiedene Regionalorganisationen mit weniger Mitgliedern. Bei diesen stand zwar die Zusammenarbeit im wirtschaftlichen Bereich im Vordergrund, jedoch beinhalteten sie ebenso eine mehr oder weniger explizite Friedensagenda, sollte die wirtschaftliche Integration doch auch die Kooperation in anderen Bereichen fördern. Das beste Beispiel hierfür ist die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, 1951), bei der Frank- Mitglieder der Arabischen Liga Abb. 14.2 <?page no="399"?> 384 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon reich, Italien, Westdeutschland und die drei Benelux-Staaten im Bereich der für den Krieg wichtigen Kohle- und Stahlproduktion kooperierten und aus der die EU hervorging. Der Erfolg der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) lenkte die Idee des Regionalismus vor allem in eine wirtschaftliche Richtung. Mit der EWG war ein Prototyp einer überstaatlichen Regionalorganisation entstanden, deren Struktur in vielen anderen Regionen adaptiert wurde, auch wenn diesen Regionalorganisationen oftmals nicht die gleichen Kompetenzen übertragen wurden wie der EU. Ernst Haas, einer der bedeutendsten Integrationstheoretiker, rechtfertigte die Forschung über Regionalorganisationen 1970 damit, dass sie „ein lebendes Laboratorium zur Beobachtung der friedlichen Schaffung eines möglicherweise neuen Typus der menschlichen Gemeinschaft auf einem sehr hohen Organisationsniveau und der Beobachtung der Prozesse, die zu einem solchen Zustand führen, darstellen“ (Haas 1970: 608, eigene Übersetzung). Warum gibt es einen Trend zu Regionalisierung? Die wachsende Bedeutung von Regionalorganisationen ist das Ergebnis einer Vielzahl von globalen und innerstaatlichen Trends. Zum einen werden Regionalorganisationen als ein kritischer Bestandteil der politischen Ökonomie der Globalisierung betrachtet. Staaten profitieren in vielerlei Hinsicht von regionalen Abmachungen: Größere Märkte erlauben es Unternehmen, günstiger zu produzieren, indem sie von den sogenannten Skaleneffekten profitieren (economies of scale). Skaleneffekte werden auch Skalenerträge/ Skalenvorteile genannt: Sie beschreiben Kostenersparnisse, die sich für ein Unternehmen ergeben, das mit wachsender Betriebsgröße größere Mengen zu sinkenden Fixkosten produziert. Durch regionale Zusammenarbeit werden Barrieren nationaler Märkte abgebaut und Handelshemmnisse zum Vorteil der Unternehmen gesenkt: Diese können auf dem neu entstandenen und gewachsenen Absatzmarkt zu geringeren Kosten größere Mengen produzieren. Skaleneffekte Staaten verbessern potentiell ihre Verhandlungsposition innerhalb internationaler Foren wie der Welthandelsorganisation, wenn sie als Gruppe auftreten. Zudem werden Regionalorganisationen als Instrumente betrachtet, mit denen Regierungen die Effekte von Globalisierung in Form von Abwärtsspiralen bei Sozial- und Umweltstandards auffangen und staatliche Handlungsspielräume zurückgewinnen können (Schirm 2002). In Bezug auf die 14.4 <?page no="400"?> 385 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon w arum GIbt es eInen t rend zu r eGIonalIsIerunG ? Einheit 14 EU wird jedoch auch argumentiert, dass sie selbst zur Liberalisierung und Globalisierung der Weltmärkte beiträgt, für die EU eine Schutzfunktion also nicht unbedingt gilt. Im Gegenteil: Die EU treibt Globalisierung an (Rosamond 1999). Globalisierung als Trend umfasst ein breites Spektrum internationaler Verflechtungsprozesse, die die Staatengemeinschaft einerseits in eine Beziehung des gegenseitigen Austauschs, aber auch in Abhängigkeit zueinander setzt. Gerade in wirtschaftlichen und sozialen Bereichen, sowie hinsichtlich ökologischer Fragen stellt Globalisierung die einzelnen Akteure deshalb immer wieder vor schwerwiegende Probleme. Globalisierung bedeutet vorrangig in einem ökonomischen Sinne eine Öffnung der Weltmärkte: Umweltstandards, soziale Sicherheit oder auch juristische Aspekte sind dabei vorerst nicht einbezogen - und können im internationalen Rahmen nicht umfassend gelöst werden. Regionalisierung kann an Problemfelder der Globalisierung anknüpfen und dazu beitragen, Abhängigkeiten von globaler Warenproduktion zu mindern, regionale Standards in sozialen und umweltpolitischen Fragen zu setzen und Marginalisierungstendenzen zu vermeiden. Dies gelingt insbesondere dadurch, dass Regionalisierung den Nationalstaaten einen größeren Handlungsspielraum zuweist, als es in globalem Rahmen möglich wäre. Grenzen der Globalisierung - Perspektiven der Regionalisierung Inzwischen gehen globale Institutionen, wie die Weltbank und die Vereinten Nationen, aber auch davon aus, dass die regionale Integration von bisher wenig in weltwirtschaftliche Strukturen integrierten Staaten zum Beispiel in Afrika ein wichtiges Instrument ist, ihre wirtschaftliche Entwicklung durch ihre Integration in Weltmärkte voranzutreiben. Internationale Organisationen wie die Handels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD) gehen zunehmend dazu über, statt direkter Entwicklungshilfe Hilfe zum Handeln (Aid for Trade) anzubieten. Zum anderen ist die wachsende Zahl von Regionalorganisationen auch das Ergebnis einer Demokratisierungswelle zu Beginn der 1990er Jahre, die einen regelrechten wirtschaftlichen Transnationalisierungsschub bewirkte und in vielen Regionalorganisationen Integrationsprojekte beschleunigte (Mansfield/ Milner 1999; Milner/ Kubota 2005). Darüber hinaus zeigten Bürgerkriege der 1990er Jahre, dass es eine Nachfrage nach regionalen Lösungen für regionale Probleme gibt. Die Demokratisierung vieler Staaten in Afrika und Osteuropa ging mit schweren ethno-nationalistischen und ethno-religiösen Konflikten einher, wie im ehemaligen Jugoslawien, Somalia und in Ruanda. Die Vereinten Nationen waren gezwungen, ihre Kompetenz bei der zwischenstaatlichen Konfliktlösung auf die Befriedung innerstaatlicher Konflikte, wie in Sierra Leone, Haiti und im Kosovo, auszuweiten. Dem- <?page no="401"?> 386 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon zufolge nahm die Zahl der friedenserhaltenden Missionen der Vereinten Nationen nach 1990 rapide zu (Heldt/ Wallensteen 2006). Die Überforderung der Weltorganisation führte zum Ausbau regionaler Sicherheitsarchitekturen in Afrika, aber auch in Europa, wo Regionalorganisationen mehr und mehr Verantwortung bei der aktiven Befriedung von innerstaatlichen Konflikten übernehmen. Die Förderung von Demokratie durch die Unterstützung von demokratischen Wahlen und durch Wahlbeobachtung, beziehungsweise ihre Wiederherstellung nach Putschen, wurde fest in der Agenda vieler Regionalorganisationen verankert und führte zu neuen institutionellen Regelungen (Pevehouse 2005). Der Bedeutungszuwachs von Regionalorganisationen ist also das Ergebnis von wirtschaftlichen, sicherheitspolitischen und politischen Faktoren. „Regionen entstehen durch politische Macht.“ (Katzenstein 2005) Für die Theorie des Neorealismus sind Regionen das Ergebnis der Interessen eines Hegemons, der sowohl Einfluss darauf hat, wo Regionalorganisationen entstehen, als auch, wie diese ausgestaltet sind. Die Existenz eines globalen oder regionalen Hegemons stellt deshalb eine notwendige Bedingung für die Gründung von Regionalorganisationen dar. In „A World of Regions“, einer der wegweisenden vergleichenden Studien über regionale Integration in Europa und Ostasien erklärt Peter Katzenstein, warum sich regionale Institutionalisierungsprozesse in den beiden Regionen vor allem im Bereich der Wirtschaft unterscheiden. Obwohl sowohl Europa als auch Ostasien durch einen „offenen Regionalismus“ mit geringen Außenhandelszöllen gekennzeichnet sind, sind sie intern ganz unterschiedlich organisiert: Im Falle des ostasiatischen Regionalismus gibt es keine regionalen Institutionen, die die wirtschaftliche Integration lenken. Diese vollzieht sich über die Herausbildung von Produktionsnetzwerken vor allem japanischer Firmen, die sich im gesamten asiatischpazifischen Raum gebildet haben. In Europa wird dagegen wirtschaftliche Integration durch die EU forciert, die ein formalisiertes Institutionengefüge etabliert hat. Katzensteins kausales Narrativ betont die Rolle der US-Hegemonie nach dem Zweiten Weltkrieg, die insgesamt zu einer Liberalisierung regionaler Wirtschaftsstrukturen beigetragen hat. Gleichzeitig betrachtet er diesen Einfluss als durch sogenannte Kernstaaten gefiltert. Diese bezeichnen die wichtigsten regionalen Allianzpartner (Deutschland und Japan), deren enge Anbindung es den USA einerseits ermöglichte, ihre liberalen Ideen in den jeweiligen Regionen zu verankern. Andererseits sorgte deren variierende innerstaatliche Struktur dafür, dass sich die tatsächliche Form des Regionalismus in Europa und Asien bemerkenswert unterscheidet. Katzenstein ist also kein reiner Realist, sondern kombiniert seine machtbasierte Analyse mit Ideen des analytischen Liberalismus. Analytischer Liberalismus: Warum entstehen Regionen und warum sind sie unterschiedlich organisiert? <?page no="402"?> 387 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon r eGIonale I nteGratIon als a ufbau Von e ntscheIdunGsstruKturen Einheit 14 Vom großen Bild der zahlenmäßigen Entwicklung von Regionalorganisationen seit 1945 kommen wir nun auf das kleinere Bild zurück. Bisher war ganz selbstverständlich vom Prozess der „Integration“ die Rede. Aber was ist damit eigentlich genau gemeint? Der folgende Abschnitt definiert regionale Integration und stellt ein Instrumentarium vor, das es erlaubt, die Integration von Regionalorganisationen anhand ihrer Entscheidungsprozesse zu untersuchen. Regionale Integration als wachsende Interaktionen Regionalisierung bezeichnet einen Prozess der regionalen Integration, das heißt, der Verdichtung von wirtschaftlichen, politischen und sozialen Interaktionszusammenhängen zwischen zwei und mehreren benachbarten Staaten, die sich je nach Fall ohne die Etablierung von Institutionen auf regionaler Ebene vollziehen kann oder aber mit deren Aufbau. Regionalisierung Integration kann man mit Joseph Nye (Nye 1968: 855) zunächst ganz allgemein wie folgt definieren: „Integration bezieht sich auf einen Prozess, in dem sich Einheiten von einem Zustand der totalen oder teilweisen Isolation hin zu einem Zustand der totalen oder teilweisen Vereinigung bewegen.“ Diese Definition beschreibt Veränderungen von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interaktionen und ist vor allem in den Wirtschaftswissenschaften populär, die sich traditionell für „reale“ Integrationsprozesse interessieren (De Lombaerde 2006). Folgen wir dieser Definition, wollen wir beispielsweise wissen, ob Staaten zum Zeitpunkt t 1 mehr miteinander handeln als zum Zeitpunkt t 0 . Außerdem wollen wir vor allem wissen, ob dieses Mehr an Handel auch in Relation zum Handel mit Staaten außerhalb der Region beobachtbar ist- - eine Dimension, die häufig vernachlässigt wird (Iapadre 2006). Oder uns interessiert zum Beispiel, ob Gesellschaften zum Zeitpunkt t 1 mehr über die Gesellschaft ihres Nachbarstaates wissen als zum Zeitpunkt t 0 . Die vergleichende Regionalisierungsforschung hat speziell dafür eine Reihe von Indikatoren entwickelt (Nye 1968; Lombaerde 2006). Regionale Integration als Aufbau von Entscheidungsstrukturen Aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive ist aber eine andere Definition für regionale Integration bedeutender. Leon Lindberg hat in einem vielbeachteten Aufsatz Integration wie folgt definiert (Lindberg 1970: 652): 14.5 14.6 <?page no="403"?> 388 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon Regionale Integration beschreibt den Aufbau von Institutionen der kollektiven Entscheidungsfindung, auf die Staaten Autorität zur Beschlussfassung übertragen oder in denen sie gemeinschaftlich im Rahmen zwischenstaatlicher Verhandlungen Entscheidungen treffen. Regionale Integration Lindberg sah es als das entscheidende Merkmal von regionaler Integration an, dass politische Macht oder Entscheidungskompetenz von einer nationalstaatlichen auf eine regionale Ebene verlagert wird. Bedeutend sind diese Prozesse deshalb, weil sie die Autonomie der staatlichen Entscheidung beschränken. Integration bezieht sich auf die dauerhafte Verlagerung von politischer Macht und Entscheidungen von nationalstaatlichen Akteuren zu regionalen Akteuren. Diese Verlagerung des politischen Entscheidungsprozesses kann sich grundsätzlich auf zwei Arten vollziehen: supranational oder intergouvernemental (Lake 2007: 220). Supranationale Integration: Staaten übertragen Autorität zur Beschlussfassung an Institutionen. Das heißt, sie delegieren einen Teil ihrer souveränen oder exklusiven Entscheidungskompetenz an einen anderen Akteur. Delegation heißt hierbei, dass in dem neu geschaffenen Organ nicht mehr Regierungsvertreter an einem Tisch sitzen, sondern spezifische Vertreter des supranationalen Zusammenschlusses. Ein Beispiel für supranationale Integration ist die Europäische Kommission. Intergouvernementale Integration: Eine Gruppe von Staaten übt Entscheidungskompetenzen für bestimmte Bereiche gemeinschaftlich aus, sie treffen quasi an einem Tisch Entscheidungen, die dann für sie verbindlich sind. Dies geschieht im Rahmen von Verhandlungen. Ein Beispiel dafür ist der Europäische Rat. Für die Abtretung von Autorität an unabhängige Agenten hat sich der Begriff der Delegation eingebürgert, für die gemeinsame Entscheidung im Rahmen kollektiver Entscheidungsgremien der Begriff des Poolings von Souveränität (vgl. Lake 2007; Lenz u.a. 2015). Definitionen von Integration Regionale Integration ist eine Form institutionalisierter Kooperation, bei der Entscheidungen auf Dauer in einem Kollektiv getroffen werden. Worin besteht der Unterschied zur Forschung und Analyse von internationalen Institutionen? Auf diese Frage hat Ernst Haas 1970 eine kurze und prägnante Antwort gegeben: Regionale Integration ist nicht nur begrenzter in der Mitgliedschaft, sondern befasst sich auch genauer mit der institutionellen Entwicklung dieser Institutionen. Es geht also um die Nahsicht auf Institutionen (Haas 1970: 611) unter der Fragestellung, ob durch ihre Entschei- <?page no="404"?> 389 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon r eGIonale I nteGratIon als a ufbau Von e ntscheIdunGsstruKturen Einheit 14 dungsstrukturen Staaten stärker integriert werden oder nicht und sich neue Formen des Regierens jenseits von Staaten herausbilden. Für die Analyse von Integrationsprozessen sind demnach die wichtigsten Fragen, wo jeweils politische Entscheidungen gefällt werden und wie sie gefällt werden. Welche Organe werden im kollektiven Entscheidungsprozess auf regionaler Ebene überhaupt tätig bzw. berücksichtigt und in welcher Form? Existieren sie in Form der supranationalen Delegation oder in Form des intergouvernementalen Poolings? Über welche Kompetenzen verfügen die regionalen Organe? Sind sie lediglich beratend tätig, oder entscheiden sie mit? Wie wird entschieden, im Konsensverfahren oder per Mehrheitsprinzip? Die Antworten auf diese Fragen können je nach Regionalorganisation ganz unterschiedlich ausfallen oder können über einzelne Kooperationsfelder hinweg variieren. Manche Staaten integrieren sehr wenige Kooperationsfelder, wobei regionale Organisationen in diesen Bereichen aber hohe Entscheidungskompetenzen haben. Ein Beispiel dafür ist die North Atlantic Treaty Organization (NATO), die durch eine gemeinsame Verteidigungsplanung und die Integration von Streitkräften einen sehr hohen Grad an Integration im Bereich der militärischen Kooperation erreicht hat. Andere wiederum verstehen sich als umfassendere Organisationen, geben der Regionalorganisation aber nur wenige Kompetenzen. Hierbei sagen die Kombination von Entscheidungsstrukturen und Kooperationsbereichen sowie ihre relative Gewichtung etwas darüber aus, wie hoch die nationale Entscheidungsautonomie ist. Allerdings haben sich auch nach mehr als vierzig Jahren der Integrationsforschung noch keine verbindlichen Standards etabliert, wie Integration genau gemessen werden soll und tatsächlich stellt die große Vielfalt an Organisationen immer noch eine erhebliche Herausforderung für die Messung von Integration dar. Integration Übertragung von Autorität Übertragung von Autorität zur Beschlussfassung Delegation Gemeinsame Entscheidungsfindung durch Verhandlung Pooling Typen der Integration Abb. 14.3 <?page no="405"?> 390 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon Das erklärt zum Teil auch, warum es eine Vielzahl von Begriffen gibt, um diese Sachverhalte genauer zu erfassen. Tanja Börzel spricht in diesem Zusammenhang von „Integrationsebene“ und „Integrationsumfang“ (Börzel 2005), Berthold Rittberger und Frank Schimmelfennig sprechen von „sektoraler“, „horizontaler“ und „vertikaler“ Integration (Rittberger/ Schimmelfennig 2005) und Leon Lindberg betrachtet „Eingriffstiefe“, „Eingriffsreichweite“ und „Entscheidungsgewicht“ (Lindberg 1970). Im Anschluss an neuere Arbeiten zum Design von internationalen Institutionen (Abbott/ Snidal 2001; Koremenos u. a. 2001), die bereits in Einheit 5 vorgestellt wurden, werden hier einige wenige Indikatoren herangezogen, die es erlauben, unterschiedliche Grade an Integration zu erfassen. Diese Indikatoren sind als Stellschrauben vorstellbar, an denen man drehen kann und bei denen jede Drehung den Grad der Integration verändert. ▶ Mandat der Regionalorganisation: Forum für den Austausch oder Entscheidungsgremium, das Mitgliedstaaten bindet, mit oder ohne Durchsetzungskompetenz ▶ Besetzung der Organe: Regierungsvertreter oder Experten, gewählt oder ernannt ▶ Einbindung der Organe im Entscheidungsprozess: beratend oder mitbestimmend ▶ Entscheidungsregeln: Mehrheits- oder Konsensprinzip Die Stellschrauben politischer Integration (Beispielindikatoren) Der Grad der Integration einer Regionalorganisation hängt sehr stark von deren Mandat ab. Manche Regionalorganisationen dienen lediglich als Forum für den Austausch der Mitgliedstaaten, andere erarbeiten Vorschläge und Regelungen oder sogar verbindliche Gesetze. Manche Regionalorganisationen überwachen die Regeleinhaltung der Mitgliedstaaten und entwickeln dafür Durchsetzungsmechanismen, andere sollen die Regeleinhaltung lediglich beobachten und fördern. Je weiter eine Regionalorganisation in Agenda Setting, Politikdurchführung und Implementation eingebunden ist, desto integrierter sind Organisation und damit auch ihre Mitgliedstaaten in den entsprechenden Politikfeldern. Der Grad der politischen Integration ist auch umso höher, je unabhängiger von Regierungen regionale Organe besetzt werden (d. h. je supranationaler, also weniger stark beeinflusst von nationalstaatlichen Organen sie sind). Prinzipiell können Regierungen Organe mit eigenen Repräsentanten oder Expertinnen besetzen, Vertreter beider Gruppen können ernannt oder gewählt, weisungsgebunden oder nicht weisungsgebunden sein. Je weniger „dicht“ Organe dabei an die jeweiligen Regierungen angebunden und von ihnen abhängig sind, desto unabhängiger sind sie. Sie können Positionen einnehmen, die sich substantiell von denen der Regierungen unterscheiden, <?page no="406"?> 391 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon r eGIonale I nteGratIon als a ufbau Von e ntscheIdunGsstruKturen Einheit 14 Regierungen aber unter Umständen trotzdem binden. Das gibt diesen Organisationen einen erheblichen Einfluss. Sehen wir uns diese Unterschiede für einige Regionalorganisationen anhand ihrer Verträge an: In der EU werden die Mitglieder der Kommission nach Kompetenz ausgewählt und es wird explizit festgehalten, dass sie unabhängig sein sollen. Im Südamerikanischen Gemeinschaftsmarkt MERCO- SUR ist das entsprechende Organ, die Gemeinschaftsmarktgruppe, dagegen mit Regierungsvertretern aus verschiedenen Ministerien besetzt, über deren Unabhängigkeit das Dokument kein Wort verliert. Und in der ASEAN wiederum gibt es keine Kommission, sondern diese Aufgaben nimmt ein klassisches Generalsekretariat wahr. Der Generalsekretär wird von den Mitgliedstaaten nach alphabetischer Reihenfolge der Staaten ernannt. Allerding spielt auch hier das Kriterium der Integrität, der Eignung, der Professionalität und der Geschlechtergleichheit eine wichtige Rolle. Organisation Regelung Wortlaut EU Art. 9 D (3), Vertrag von Lissabon Die Mitglieder der Kommission werden aufgrund ihrer allgemeinen Befähigung und ihres Einsatzes für Europa unter Persönlichkeiten ausgewählt, die volle Gewähr für ihre Unabhängigkeit bieten. Die Kommission übt ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit aus. Die Mitglieder der Kommission dürfen unbeschadet des Artikels 9E Absatz 2 Weisungen von einer Regierung, einem Organ, einer Einrichtung oder jeder anderen Stelle weder einholen noch entgegennehmen. Sie enthalten sich jeder Handlung, die mit ihrem Amt oder der Erfüllung ihrer Aufgaben unvereinbar ist. MERCOSUR Art. 14 Vertrag von Asunción 1991 Die Gemeinschaftsmarktgruppe besteht aus vier Mitgliedern und vier Ersatzmitgliedern für jedes Land, die die folgenden öffentlichen Organe repräsentieren: ▶ Außenministerien ▶ Wirtschaftsministerium oder sein Äquivalent (…) ▶ Zentralbank ASEAN Art. 11, 1 ASEAN Charter 2007 Der Generalsekretär der ASEAN wird durch den ASEAN Gipfel für eine nicht-verlängerbare Amtszeit von fünf Jahren ernannt und aus Bürgern der ASEAN Mitgliedstaaten in alphabetischer Reihenfolge ausgewählt, unter Berücksichtigung ihrer Integrität, Eignung und beruflichen Erfahrung, sowie der Geschlechtergleichheit. Regelungen zur Besetzung von exekutiven Organen in Regionalorganisationen Tab. 14.1 <?page no="407"?> 392 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon Der Grad der politischen Integration wird aber auch durch die Einbindung supranationaler Organe in den Entscheidungsprozess höher, wobei dies auf vielfältige Weise geschehen kann. Beispielsweise treten im Gesetzgebungsprozess der EU zwei Organe, die aufgrund ihrer Besetzung mit unabhängigen bzw. gewählten Mitgliedern supranationalen Charakter haben, nämlich die Kommission und das Parlament, zu den Regierungsvertretern im Rat hinzu. Die EU unterscheidet sich hier in bedeutender Weise von anderen Regionalorganisationen: Die Kommission hat nicht nur eine Sekretariatsfunktion für die Organisation, vergleichbar mit Generalsekretären in anderen Organisationen, sondern sie besitzt in fast allen Bereichen das alleinige Vorschlagsrecht für EU-Gesetzesvorlagen (vgl. Tab. 14.2). Eine bedeutende Ausnahme ist das Auswärtige Handeln der EU. Hier wird der Kommission keine Rolle zugewiesen, Gesetzgebungsakte werden kategorisch ausgeschlossen. Und die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen beruht beispielsweise auf der wechselseitigen Anerkennung von gerichtlichen Entscheidungen, Organisation Regelung Wortlaut EU Art. 9D (1), Vertrag von Lissabon Die Kommission fördert die allgemeinen Interessen der Union und ergreift geeignete Initiativen zu diesem Zweck. Sie sorgt für die Anwendung der Verträge sowie der von den Organen kraft der Verträge erlassenen Maßnahmen. Sie überwacht die Anwendung des Unionsrechts unter der Kontrolle des Gerichtshofs der Europäischen Union. Sie führt den Haushaltsplan aus und verwaltet die Programme. Sie übt nach Maßgabe der Verträge Koordinierungs-, Exekutiv- und Verwaltungsfunktionen aus. Art. 9D (2), Vertrag von Lissabon Soweit in den Verträgen nichts anderes festgelegt ist, darf ein Gesetzgebungsakt der Union nur auf Vorschlag der Kommission erlassen werden. Art. 10C (27a), Vertrag von Lissabon Für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gelten besondere Bestimmungen und Verfahren. Sie wird vom Europäischen Rat und vom Rat einstimmig festgelegt und durchgeführt, soweit in den Verträgen nichts anderes vorgesehen ist. Der Erlass von Gesetzgebungsakten ist ausgeschlossen. ASEAN Art. 11, 2 ASEAN Charter 2007 „Der Generalsekretär soll: […] den Fortschritt in der Implementation von Vereinbarungen und Entscheidungen der ASEAN erleichtern und diesen beobachten, und einen jährlichen Bericht über die Arbeit der ASEAN an den ASEAN Gipfel weiterleiten.“ Regelungen zu den Aufgaben von einzelnen Organen von Regionalorganisationen Tab. 14.2 <?page no="408"?> 393 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon w Ie starK InteGrIert Ist dIe eu? - u nd wIe VIele eu s GIbt es ? Einheit 14 für die das Europäisches Parlament und der Europäische Rat Mindestvorschriften festlegen können. In diesen beiden Bereichen ist die Einbindung der Kommission als supranationaler Behörde also sehr viel geringer. Eine weitere Form der Einbindung besteht durch die Supranationalisierung der Organe, in denen normalerweise die Regierungsvertreter sitzen, in der Regel der Rat. Sowohl in der EU als auch in der ASEAN sitzen der EU-Kommissionspräsident bzw. der Generalsekretär am Verhandlungstisch mit den Regierungsvertretern. Staaten sind nicht mehr „unter sich“, die Teilnahme des Generalsekretärs eröffnet die Möglichkeit, das Gemeinschaftsinteresse der Organisation in den Verhandlungen einzubringen. Auch die gleichberechtigte Beteiligung des Europäischen Parlaments in den meisten Gesetzgebungsverfahren stellt eine solche Supranationalisierung dar. Ein weiterer Faktor, mit dem sich der Grad regionaler Integration bewerten lässt, ist der Übergang von einer Konsens-Entscheidungsregel zur Mehrheitsentscheidung. Das integrative Moment besteht darin, dass Mitgliedstaaten keine Verhinderungs- und Vetomacht mehr haben. Die Konsensregel gilt einerseits als demokratische Regel, weil sie insbesondere kleinen Staaten, die wenig materielle Macht haben, gleiche Entscheidungsmacht wie großen Staaten gibt (Acharya/ Johnston 2007). Andererseits gilt sie als konservative Entscheidungsregel, weil folglich Entscheidungen für Veränderungen die explizite Zustimmung aller Staaten benötigen. Hierbei kann ein einziges Veto verhindern, dass die Institution neue Aufgaben übernimmt. In dem Moment, wo Mehrheitsentscheidungen eingeführt werden, nehmen Staaten in Kauf, dass Entscheidungen gegen ihren Willen fallen, sie aber verpflichtet sind, diese Entscheidungen umzusetzen. Wie stark integriert ist die EU? - Und wie viele EUs gibt es? Im folgenden Abschnitt wird die EU als Regionalorganisationen exemplarisch vorgestellt und damit ein Anwendungsfall für die gerade diskutierten Indikatoren aufgezeigt. Das hier vorgestellte Analyseinstrumentarium erlaubt es, die Integration der EU im Zeitverlauf darzustellen und die konkreten Integrationsschritte zu identifizieren. Durch die detailliertere Beschreibung der unterschiedlichen Politikfelder wird deutlich, warum es für Nicht-Experten so schwierig ist, die EU zu klassifizieren: Es gibt nicht nur eine EU, sondern viele! Der Integrationsgrad unterscheidet sich je Politikfeld. 14.7 <?page no="409"?> 394 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon Verträge der EU Die Integration der europäischen Staaten ist in den zentralen Verträgen der EU geregelt. Die Verträge werden auch europäische „Verfassungsverträge“ genannt. Einschließlich des Vertrags von Lissabon von 2009 gibt es insgesamt acht dieser konstitutionellen Vertragswerke: Jahreszahl in Klammern: Zeitpunkt des Inkrafttretens ▶ Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) (1952) ▶ Römische Verträge (1958) ▶ Vertrag über die Europäischen Gemeinschaften (1967) ▶ Einheitliche Europäische Akte (1987) ▶ Vertrag über die Europäische Union (Maastricht Vertrag) (1993) ▶ Vertrag von Amsterdam (1999) ▶ Vertrag von Nizza (2003) ▶ Vertrag von Lissabon (2009) Merke Die heutige EU ist 1951 mit der Gründung der EGKS zwischen Deutschland, Frankreich, Italien und den drei Benelux-Staaten entstanden. Die EGKS schuf einen gemeinsamen Markt für die kohle- und stahlerzeugende Industrie, der von einer supranationalen Behörde kontrolliert wurde (vgl. Einheit 2). 1957 beschlossen die sechs Mitglieder der EGKS, ihre Zusammenarbeit auf weitere Kooperationsfelder auszudehnen. Die Römischen Verträge (1957) schufen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) mit dem Ziel der Verwirklichung eines Gemeinschaftsmarktes innerhalb von zwölf Jahren. Innerhalb des Marktes sollte der Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitelverkehr frei sein. Diese Ziele sollten über eine gemeinsame Handels- und Landwirtschaftspolitik und die Annäherung der Steuer- und Wirtschaftspolitiken erreicht werden. Als eines der bedeutendsten Prinzipien, die die EWG implementierte, gilt das Nichtdiskriminierungsverbot aufgrund der Nationalität (Pelkmans 2007: 21). Als wichtigste Organe sah die EWG eine parlamentarische Versammlung vor, einen Rat, eine Kommission und einen Gerichtshof. Die Mitglieder gründeten 1957 auch die Europäische Atomgemeinschaft (EurAtom), die u. a. Forschungsprogramme zur friedlichen Nutzung der Kernenergie koordiniert. Der EWG insgesamt wurden Kompetenzen übertragen, die der Umsetzung des Gemeinschaftsmarktes dienen sollten, vor allem legte sie Zölle und Quoten fest. Für den Fall, dass Mitgliedstaaten absehbar ihren Markt nicht liberalisierten, konnte sie Maßnahmen zur Umsetzung empfehlen, aber auch nicht mehr. Die EU wurde autorisiert, EU-Kompetenzen mit dem Konsens der Mitgliedstaaten auszuweiten, ohne dass dies der Vertragsrevision bedurfte-- allerdings nur insofern sie der Implemtentation des Gemein- <?page no="410"?> 395 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon w Ie starK InteGrIert Ist dIe eu? - u nd wIe VIele eu s GIbt es ? Einheit 14 schaftsmarktes dienten, also in eng gesteckten Bahnen. Die Implementation folgte drei Prinzipien: der Selbstverpflichtung auf das Gemeinschaftsinteresse seitens der Mitgliedstaaten, der Rolle der Kommission als Überwachungsinstanz bzw. Hüterin der Verträge und der gerichtlichen Überprüfung durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Der Kommission wurde das alleinige Vorschlagsrecht für Initiativen im Wirtschaftsbereich zugestanden, aber alle Vorlagen mussten den Rat passieren, der in der Regel Konsens entschied. Damit blieb die Kontrolle bei den nationalstaatlichen Regierungen. Die „Gesetzgebung“ der EWG bestand und besteht hierbei im Wesentlichen aus zwei Instrumenten: Der Verordnung, die eine direkte Wirkung für Wirtschaftsakteure hat und nationale Gesetze ersetzt, und Richtlinien, die allgemeine Ziele und Politiken formulieren, die Art von deren Umsetzung aber den Regierungen überlassen. Der größere Anteil an Gemeinschaftsgesetzgebung besteht aus Richtlinien (Pelkmans 2007: 24-25). Das heißt, dass den Regierungen immer noch viel Spielraum bei der Umsetzung der Gemeinschaftspolitik blieb und bleibt. 1965 wurden die Kommission und der Rat der drei Gemeinschaften (EGKS, EWG und EurAtom) im sogenannten Fusionsvertrag vereinigt. Auf einer institutionellen Ebene wurde damit insofern ein Integrationsschritt vollzogen, als die separaten institutionellen Strukturen vereinheitlicht wurden. Statt drei Kommissionen und Ministerräten gab es nun nur noch eine Kommission und einen Ministerrat, auch wenn die Gemeinschaften ihre vertragliche Eigenständigkeit behielten. Mit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) von 1986 unternahmen die Mitgliedstaaten die erste große Vertragsrevision seit den Römischen Verträgen (Wessels 2008: 85). Als wichtigste Neuerung wurde die Vollendung des gemeinsamen Binnenmarkt beschlossen: Um die zügige Implementation zu gewährleisten, führten die Mitgliedstaaten im Ministerrat (qualifizierte) Mehrheitsentscheidungen für eine Reihe von Bereichen ein, vor allem Die ersten Etappen der europäischen Integration 1951 EGKS gemeinsamer Markt für kohle- und stahlerzeugende Industrie 1957 EWG Gemeinschaftsmarkt Etablierung der 3 Organe: Parlament/ Kommission/ Gerichtshof 1957 Eur Atom Kontrolle der friedlichen Nutzung von Kernenergie 1965 Fusionsvertrag Integrationsprozess auf institutioneller Ebene: alle drei Gemeinschaften verfügen über einen gemeinsamen Rat, eine gemeinsame Kommission, eine gemeinsame Verwaltung und einen gemeinsamen Haushalt, behalten aber ihre vertragliche Eigenständigkeit (wird später die erste Säule) 1986 EEA gemeinsamer Binnenmarkt mit vier Freiheiten von Kapital, Waren, Personen und Dienstleistungen Die ersten Etappen der europäischen Integration Tab. 14.3 <?page no="411"?> 396 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon diejenigen, die mit der Vollendung des Binnenmarktes verbunden waren. Außerdem erhielt das Europäische Parlament mehr Befugnisse im Gesetzgebungsprozess. Als bedeutendes Prinzip zur Umsetzung des gemeinsamen Binnenmarktes wurde- - nach einem Gerichtsurteil des EuGH 1979- - das Prinzip der wechselseitigen Anerkennung (mutual recognition) von Produkten eingeführt. Damit wurde der Wandel von einer Institution, die überwiegend mit detaillierten Gesetzen zur Regelung des Gemeinschaftsmarktes arbeitete, hin zu einer Institution vollzogen, die sich auf Regelungen für das richtige Funktionieren des Marktes beschränkt. Die EEA leitete insofern die Transformation der EU zu einem regulativen Staat ein (Majone 1994). Da dies aufgrund des vereinfachten Verfahrens einen Souveränitätsverlust der Mitgliedstaaten bedeutete, wurden mit der EEA zwei institutionelle Neuerungen eingeführt: Zum einen wurde der 1974 als Organ außerhalb der EWG geschaffene Europäische Rat erstmals explizit in der EEA erwähnt und ihm die Kompetenz der inhaltlichen Weiterentwicklung der EG verliehen. Zum anderen erhielt das europäische Parlament für den Binnenmarkt größere Beteiligungsrechte im Gesetzgebungsverfahren. Insgesamt wurde das Gesetzgebungsverfahren hier einerseits supranationalisiert: Durch die Änderung der Abstimmungsregel im Rat vom Konsenszum Mehrheitsbeschluss in mehreren Bereichen und durch die Einbeziehung eines weiteren supranationalen Akteurs des Parlaments in den Entscheidungsprozess. Gleichzeitig wurde diese Form der Supranationalisierung durch das Ausbalancieren der Institutionen untereinander relativiert: Das Parlament stellt einen zusätzlichen Akteur im Gesetzgebungsprozess dar, der ein Gegengewicht zu den erweiterten Kompetenzen der Kommission darstellt. Und zweitens stellt der Europäische Rat intergouvernementales Gegengewicht zu dieser Supranationalisierungstendenz dar, da er wiederum nur mit Staats- und Regierungschefs besetzt ist. Der Maastricht-Vertrag (1993) gründete die EU. Sie stellte eine Dachstruktur dar für die bisherigen Bereiche, die als Säulen abgebildet wurden. Mit der Koordinierung der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten und der Einführung einer gemeinsamen Währung erfolgte ein wesentlicher Integrationsschritt im Bereich des Binnenmarktes. Mit der so genannten Drei-Säulen-Struktur schuf der Vertrag ein sinnfälliges Bild für die unterschiedliche Organisation der Kooperation in den einzelnen Bereichen der Zusammenarbeit. ▶ Die erste Säule beinhaltete die Kooperation im Bereich des Binnenmarktes und weiterer vertraglich vereinbarter Kooperationsfelder. ▶ Die zweite Säule beschrieb die Kooperation im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. <?page no="412"?> 397 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon w Ie starK InteGrIert Ist dIe eu? - u nd wIe VIele eu s GIbt es ? Einheit 14 ▶ In der dritten Säule war die Zusammenarbeit der Polizei- und Justizbehörden in Strafsachen organisiert, insbesondere die Kriminalitätsbekämpfung, Menschenhandel, Verbrechen gegen Kinder und illegaler Drogen- und Waffenhandel. Im Vergleich zum Binnenmarkt ist die Rolle der EU-Kommission in der zweiten und dritten Säule nach dem EU-Vertrag stark beschränkt, nämlich auf die Definition von Prinzipien und allgemeinen Richtlinien für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die Entscheidung über gemeinsame Strategien, die Annahme von gemeinsamen Aktionen und Positionen sowie die Stärkung der außenpolitischen Zusammenarbeit (Art. 12 EUV). In diesem Bereich wurde die Kooperation strikt intergouvernemental organisiert (vgl. Tab. 14.1). Am Entscheidungsprozess beteiligt sind nur der Rat und der Europäische Rat (Art. 13 EUV), für Entscheidungen ist ein Konsens notwendig. Bindende Wirkung hat eine Entscheidung auch nur für diejenigen Staaten, die sich für sie ausgesprochen haben (Art. 23 EUV). Die Kommission hingegen kann nur auf Anfrage des Rats den Mitgliedstaaten Empfehlungen unterbreiten, sie ist aber nicht formal in den Entscheidungsprozess eingebunden. Das Parlament sollte vom Europäischen Rat konsultiert werden. Ein ähnliches Bild zeigt sich im Bereich der Kooperation von Polizei- und Justizbehörden. Auch hier ist in erster Linie eine stärkere Kooperation vorgesehen, und zwar zwischen den nationalen Polizeikräften, Zollbehörden und anderen nationalstaatlichen Institutionen. Integration in diesem Bereich fand vor allem über die Stärkung der Koordinationsfunktion von Europol statt. Auch hier ist ein starker intergouvernmentaler Einschlag erkennbar: Die nationalstaatliche Kompetenz bleibt erhalten, Europol kann lediglich Informationen sammeln und die Mitwirkung nationaler Behörden anfragen. Die Säulenstruktur wurde durch den Vertrag von Lissabon (2009) wieder aufgelöst und durch so genannte Integrationsräume ersetzt: 1. der Raum der Vier Wirtschaftsfreiheiten für den Binnenmarkt als Neuformulierung der ehemaligen ersten Säule, 2. der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, für die Zusammenarbeit in Polizei- und Strafjustizsachen, der der ehemaligen dritten Säule entspricht, 3. die ehemalige zweite Säule entfällt, um den intergouvernementalen Charakter der EU-Außenpolitik zu unterstreichen. Dieser wird im Lissabon-Vertrag im Abschnitt über das Auswärtige Handeln der EU und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) im Besonderen behandelt. <?page no="413"?> 398 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon Die Integration der EU im Zeitverlauf zeigt, dass sich die Integration nach den Kooperationsfeldern stark unterscheidet. Am weitesten fortgeschritten ist die Integration im Bereich der Wirtschaft. Am wenigsten fortgeschritten ist sie im Bereich der Außenpolitik. Wir beobachten also eine differentielle Integration über Sektoren hinweg innerhalb der EU. Merke Warum vertieft sich Integration und kann sie sich verselbstständigen? Die öffentliche Debatte um die EU dreht sich häufig darum, ob sie sich verselbstständigt hat und eine Politik gegenüber den nationalstaatlichen Regierungen verfolgt, die von diesen nicht mehr oder nur unzureichend kontrolliert werden kann. Insbesondere der EU-Kommission wird dabei häufig vorgeworfen, sie regiere technokratisch und EU-Bürger-fern. Die Disziplin der Internationalen Beziehungen im Allgemeinen und die EU-Forschung im Besonderen greift diese Kritik insofern auf, als sie fragt, ob und unter welchen Bedingungen sich der EU-Integrationsprozess verselbstständigt. Innerhalb der Integrationsforschung- - insbesondere zur EU- - haben sich zwei dominante Erklärungsansätze herausgebildet. Die supranationale Integrationstheorie geht davon aus, dass sich politische Integration vertieft als Ergebnis eines eigendynamischen Prozesses, der wesentlich von supranationalen Akteuren innerhalb von Regionalorganisationen angetrieben wird. Das Bild der Integrationsmotoren, die entweder in Gestalt der Kommission oder des Gerichtshofes auftreten, ist eine schöne Metapher für diesen Prozess. Die intergouvernementale Integrationstheorie geht dagegen davon aus, dass Integration - auch der europäische Integrationsprozess - sich nicht verselbstständigt und dass die nationalstaatlichen Regierungen als Herren des Verfahrens auftreten. Theorien regionaler Integration Institutionalismus: Supranationalismus Supranationale Integrationstheorien gehen davon aus, dass regionale Integration eine Reaktion auf eine Nachfrage nach einer Problemlösung innerhalb eines bestimmten Politikfeldes ist. Sie unterscheiden sich damit nicht grundlegend von den Annahmen des Institutionalismus. Der Unterschied ist, dass Integrationstheorien eine Nahsicht auf die Prozesse innerhalb von Institutionen bieten. 14.8 14.8.1 <?page no="414"?> 399 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon w arum VertIeft sIch I nteGratIon und Kann sIe sIch VerselbstständIGen ? Einheit 14 David Mitrany, einer der wichtigsten Theoretiker des Funktionalismus, geht dabei davon aus, dass die sektorale Ausdifferenzierung und der Ruf nach problemadäquaten Lösungen einen rationalisierenden Effekt auf politische Organisation haben. Sie schaffen eine Nachfrage nach technischen Experten („Technokraten“). Diese Gruppe ist besonders kooperationsfördernd, da sie in erster Linie an effektiver Problemlösung interessiert und-- anders als politische Repräsentanten-- nicht durch die Sorge um politische Machtverteilung bestimmt ist. Er vertritt die Auffassung, dass gelingende Kooperation die unbedingte Trennung von politischer Interessenvertretung und technischer Expertise erfordere (Mitrany 1976: 108). Eine Variante des Funktionalismus ist die 1958 erstmals vorgestellte neofunktionalistische Theorie (Haas 2004 [1958]). Auch sie geht davon aus, dass der Prozess der Integration ein eigendynamischer Prozess ist. Im Unterschied zu Mitrany aber sieht der Neofunktionalismus in der Verbindung zwischen funktionaler und politischer Integration die entscheidende Dynamik. Die Verbindung entsteht durch die Sozialisation politischer Eliten, die durch die enge Zusammenarbeit bei der Lösung transnationaler Probleme resultiert. Funktionale Integration in einzelnen Sektoren hat Effekte auf Kooperation in anderen Sektoren, sie schwappt sozusagen über. Dieser Effekt wird auch als Spill-Over bezeichnet. Unterschieden werden drei Arten von Spill- Over: 1) funktionaler Spill-Over 2) institutioneller Spill-Over 3) politischer Spill-Over Der funktionale Spill-Over beschreibt das Überschwappen von kleinteiliger sektoraler Kooperation auf andere Sektoren. Der Sachzusammenhang von Politikbereichen führt zu einer Nachfrage nach weiteren Integrationsschritten, wenn Gewinne aus der Integration eines Sektors suboptimal bleiben und wenn nicht auch andere Sektoren integriert werden (Rittberger/ Schimmelfennig 2005: 34 f.): Auf Regelungen zum Abbau von tarifären Handelshemmnissen etwa folgen notwendigerweise Regelungen zum Abbau nichttarifärer Handelshemmnisse, wie Regelungen zur Niederlassungsfreiheit von Unternehmen oder die Anerkennung von Abschlüssen. Das in solchen-- relativ unpolitischen-- Bereichen entstandene Vertrauen in Kooperationspartner hat positive Effekte auf andere Bereiche, in denen Kooperation leichter fällt. Der politische Spill-Over entsteht in Reaktion auf einen zwischenstaatlich ausgehandelten Integrationsschritt, wenn sich transnationale Akteure bilden, die den Prozess vorantreiben, weil sie zum eigenen Nutzen ein starkes Interesse an regionaler Integration entwickeln und sich entsprechend organisieren. Integration ist also im Wesentlichen ein von poli- <?page no="415"?> 400 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon tischen Forderungen von Interessengruppen angetriebener Prozess, in dem nationalstaatliche Regierungen von ihren eigenen Gesellschaften zu mehr Integrationsschritten gedrängt werden, weil sich neue, den Nationalstaat transzendierende Loyalitäten und Identifikationen herausbilden. Institutioneller Spill-Over entsteht durch die Aktivitäten supranationaler Institutionen, die auf der Basis von Informationen Regierungen aufzeigen, wo zusätzliche Kooperationsgewinne erzielt werden können, beispielsweise indem sie Verbindungen zwischen Politikbereichen herstellen, negative Externalitäten identifizieren, transnationale Koalitionsbildung unterstützen und Verhandlungen unterstützen. Dies passiert unter der Bedingung, dass supranationale Institutionen über einen Informationsvorsprung gegenüber Regierungen verfügen, die sie zur Förderung der Integration nutzen. Diese Funktion nennt Haas die Steigerung des Gemeinschaftsinteresses (upgrading of common interests) und den „eigentlichen Beitrag zur Kunst der politischen Integration“ (Haas 1961: 368 f.). Neue supranationale Integrationstheorien widmen sich stärker den einzelnen Organen der EU als Integrationsmotoren für einen sich vertiefenden Integrationsprozess (Pollack 2003), wie den EU-Gerichtshof oder das EU- Parlament. Alec Stone Sweet und Wayne Sandholtz (Sandholtz/ Stone Sweet 2004; Stone Sweet 2004) verweisen auf drei Faktoren bzw. Mechanismen, die den europäischen Integrationsprozess zu einem potentiellen „Selbstläufer“ machen, wobei sie tiefere Integration als einen Übergang von intergouvernementaler hin zu supranationaler Integration definieren. Der erste Faktor ist die wachsende Interdependenz durch transnationale Austauschprozesse. Sie schaffen eine Nachfrage nach regionalen Regelungen, weil die Kosten nationaler Regelungen prohibitiv hoch sind oder eben bestimmte Probleme von nationalen Regierungen alleine nicht zu lösen sind. Diese Nachfrage ist umso größer, je stärker die transnationalen Akteure vom Austausch profitieren. Sie führt dazu, dass Regierungen auf regionaler Ebene entsprechend integrieren. Der zweite Faktor besteht in der Ausschöpfung der Handlungskompetenz durch Kommission und Gerichtshof als relativ unabhängige Organe bzw. Organe mit hoher Autorität (Gerichtshof). Sie nutzen ihre Kompetenzen und Informationen, um den Anwendungsbereich supranationaler Regelungen sukzessive auszudehnen. Der dritte Faktor besteht im Mechanismus der Verregelung. Selbst wenn Regierungen vertragliche Regelungen aushandeln, die ihren Präferenzen und ihrem Machtpotential entsprechen, haben sie niemals volle Kontrolle über diese Regelungen. Diese entwickeln sich-- im Gegenteil- - weiter oder in eine Richtung, die von Regierungen nicht vorhersehbar ist. Das beste Beispiel ist der EU-Gerichtshof: Er hat in zwei wegweisenden Urteilen erstens die Direktwirkung des EU-Rechts auf Bürgerinnen (Urteil zum Fall van Gend en Loos v. 1963) und zweitens den Vor- <?page no="416"?> 401 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon w arum VertIeft sIch I nteGratIon und Kann sIe sIch VerselbstständIGen ? Einheit 14 rang des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht (Urteil zum Fall Costa vs. ENEL- 1964) festgestellt. Im ersten Fall stellte der Gerichtshof fest, dass Bürger sich innerstaatlich direkt auf das Gemeinschaftsrecht der EU berufen können, selbst wenn ihre nationale Regierung dieses Recht noch nicht in einzelstaatliches Recht umgesetzt hat. Die Bedeutung des Urteils wird allgemein darin gesehen, dass damit EU-Recht über das Individuum vor nationalstaatlichen Gerichten eingeklagt und Druck auf Regierungen ausgeübt werden kann, das Recht zu implementieren. Das zweite Urteil zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts etablierte die Regel, dass dieses im Konfliktfall mit einer nationalen Regelung Vorrang genießt, selbst wenn die nationale Regel länger bestanden hat. Damit wurde EU-Recht höher bewertet als nationales Recht (Wessels 2008: 260-261). Für supranationale Integrationstheorien zeigen diese beiden Fälle, dass regionale Organe ihre Kompetenzen nutzen können, um eine Ausweitung von Regelungen zu erreichen, die von Regierungen nicht kontrolliert werden können. Durch einen permanenten Aushandlungsprozess, in dem Regeln beständig neu interpretiert und weiterentwickelt werden, bildet sich ein zunehmend dichteres und stabileres Regelgeflecht heraus (Rittberger/ Schimmelfennig 2005: 36-37). Allen drei Ansätzen ist gemeinsam, dass sie eine Faszination für regionale Integration jenseits des Nationalstaats teilen. Sie stehen supranationaler Integration deshalb auch tendenziell positiv gegenüber. Regeln Es kommt zur Anpassung von Regeln Transnationale gesell. EU-Mitglieder harmonisieren nationale Regelungen oder scha en sie ab Spill-over : Weitere nationale Handelsbarrieren werden abgearbeitet Einheitlichkeit von Regelungen Regelungen/ Or Die supranationale Logik greift: Handlungsrahmen von Akteuren, scha t neue Regelungen Akteursinteressen Institutionalisierung ganisationen Verselbstständigung des Integrationsprozesses durch Interdependenz, Ausschöpfung der Handlungskompetenz und Verregelung Abb. 14.4 <?page no="417"?> 402 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon Analytischer Liberalismus: Intergouvernementale Integration Den Annahmen der supranationalen Integrationstheorie diametral entgegengesetzt sind die der intergouvernementalen Integration. Andrew Moravcsik, dessen liberaler Intergouvernementalismus bereits in Einheit 5 vorgestellt wurde, ist ihr wichtigster Vertreter. Diese Integrationstheorie geht davon aus, dass tiefere regionale Integration als eine Serie politischer Wahlhandlungen von Regierungen zu erklären ist. Supranationale Integrationsmotoren und einen entgleitenden Integrationsprozess gibt es demnach nicht, sondern fortschreitende Integration ist das Ergebnis der Entscheidungen von Regierungen für eine solche Integration. Moravcsik geht dabei davon aus, dass auch der Integrationsprozess durch den in Einheit 5 beschriebenen sequentiellen Ablauf von Verhandlungen beschrieben und hinreichend erklärt werden kann. Verhandlungen über regionale Integration, wie sie in den Vertragsverhandlungen der EU deutlich werden, verlaufen entlang von drei Schritten: ▶ die Präferenzbildung auf nationalstaatlicher Ebene, bei der sich die jeweils mächtigste gesellschaftliche Gruppe durchsetzt; ▶ Verhandlungsprozesse auf nationalstaatlicher Ebene, bei der die Position eines Staates bzw. seine relative Macht zum Tragen kommt, und ▶ die Wahl einer Institution mit mehr oder weniger starker Überwachungs- und Sanktionskompetenz, wobei die Wahl dieser Institution durch die Schwere des Kooperationsproblems beeinflusst wird. 14.8.2 Verhandlungsphasen Nationale Präferenzbildung Zwischenstaatliche Aushandlung Institutionelle Wahl Alternative unabhängige Variablen zur Erklärung jeder Phase Was ist die Quelle nationaler Präferenzen? Bei gegebenen zugrundeliegenden nationalen Präferenzen: Was erklärt die Effizienz und die Verteilungsergebnisse zwischenstaatlicher Aushandlungsprozesse? Bei gegebener inhaltlicher Zustimmung: Was erklärt den Transfer von Souveränität? ↓ glaubwürdigere Verpflichtung ↓ ↓ ↓ Beobachtbare Ergebnisse auf jeder Ebene zugrundeliegende nationale Präferenzen → inhaltliche Zustimmung → Wahlhandlung, entweder Souveränität an internationale Institutionen zu poolen oder zu delegieren Regionale Integration als Serie rationaler Wahlhandlungen Abb. 14.5 <?page no="418"?> 403 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon d Ie e uro -K rIse und dIe t heorIen der InternatIonalen b ezIehunGen Einheit 14 Das ist im Wesentlichen der Ablauf der drei Analysenebenen, wie sie in Einheit 7 vorgestellt wurden mit dem Unterschied, dass im dritten Schritt nicht die Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit von Staatenpaaren steht, sondern die Bildung internationaler Institutionen mit mehr oder weniger stark ausgeprägten Überwachungsfunktionen. Hier schöpft Moravcsik wiederum aus den Bedingungen für Institutionenbildung, wie sie in Einheit 5 vorgestellt wurden. Sowohl die Ausweitung der Kooperationsfelder der EU als auch die Vertiefung durch die Übertragung umfangreicherer Kompetenzen im Wirtschaftsbereich erklärt Moravcsik als Serie von Wahlhandlungen, bei der sich Regierungen ganz bewusst für ein bestimmtes institutionelles Design entschieden haben. Stärkere Delegation ist eine Antwort auf die Stärke des Kooperationsproblems und der Notwendigkeit, die Glaubwürdigkeit des Kooperationsversprechens zu erhöhen. Zu jedem Verhandlungszeitpunkt haben Regierungen Kontrolle über den Integrationsfortschritt. Die wegweisenden Gerichtsurteile des Europäischen Gerichtshofs zur Direktwirkung und zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts, die in supranationalen Theorien einen zentralen Mechanismus darstellen, erklärt Moravcsik dadurch, dass diese letztlich im Einklang mit den Präferenzen der Regierungen waren. Viel Delegation in Form des Mehrheitswahlrechts und Kompetenzübertragung an unabhängige Instanzen geht in der EU einher mit der Beschränkung dieser Kompetenzen auf klar definierte Bereiche, sobald es um die Etablierung neuer Bereiche oder Politiken geht, findet sich die Konsensbestimmung (Moravcsik 1998: 156). Kehren wir von der Nahsicht der institutionellen Entwicklung der EU zum Schluss noch einmal zurück zu aktuellen Herausforderungen für regionale Integration in der EU. Wie erklären Theorien der Internationalen Beziehungen die Krise der Union im Zuge der Finanzkrise, die bis 2015 die europäische Öffentlichkeit beschäftigt hat? Die Euro-Krise und die Theorien der internationalen Beziehungen Neo-Gramscianismus: Der Kampf um die soziale Bestimmung der EU Andreas Bieler (2006) wählt für die Erklärung des europäischen Integrationsprozesses einen marxistischen Ansatz. Kern seines Ansatzes ist, dass es im europäischen Integrationsprozess um einen Klassenkampf um die soziale Bestimmung der EU geht. An den bisher diskutierten Erklärungen für EU-Integration kritisiert Bieler, dass sie 14.9 14.9.1 <?page no="419"?> 404 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon ▶ mit ihrer Nahsicht auf Institutionen den größeren Kontext, in dem Integration stattfinde, nämlich die Globalisierung, vernachlässigten; ▶ den Staat oder in ihm organisierte Gruppen als wichtigsten Akteur betrachten, und die Rolle von supranationalen Institutionen, transnationalen Akteuren und die unabhängige Rolle von Ideen vernachlässigten, wobei er alle drei in einem neo-gramscianischen Sinne versteht. Das heißt, es geht um soziale, klassenspezifische Interessen, internationale Institutionen und Kapitalismus als Weltordnungsmodell. EU-Integration erklärt er aus der expansiven Natur eines transnationalisierten Kapitals, das letztlich in Form der EU-Kommission und anderer supranationaler Akteure, allen voran der Europäischen Zentralbank, eine eigene Klasse hervorgebracht habe, deren Bestimmung es sei, innerhalb der EU den kapitalistischen Produktionsprozess möglichst reibungslos zu gestalten. Die EU-Institutionen stellten also nicht eine neue Form eines supranationalen Staates dar, der unabhängig vom Markt agiere, sondern beide, von dieser Managementklasse dominierte EU-Institutionen und der Markt seien zwei Seiten einer Medaille. EU-Integration ist demnach zunächst einmal ein Ergebnis des Globalisierungsprozesses. Im Zug der Globalisierung hätten sich Produktionsprozesse transnationalisiert, die Bedeutung transnationaler Unternehmen (TNU) und eines transnationalisierten Kapitals sei gewachsen und hätten zu einer Deregulierung nationaler Finanzmärkte und der steigenden Bedeutung von off-shore-Märkten geführt. Auf einer ideologischen Ebene ist Globalisierung verknüpft mit einem Wandel von einer nachfrageorientierten Politik (Keynesianismus) hin zu einem wirtschaftspolitischen Neoliberalismus, der die Notwendigkeit einer Vollbeschäftigungspolitik zu Gunsten von Preisstabilität und niedriger Inflation aufgegeben habe. Innerhalb dieses Kontextes bildet die EU insofern ein Extrem ab, als supranationale Organisationen ganz im Dienste des Kapitals stehen. Vor allem die Währungsunion verschärft die Ausbeutung der Arbeiterklasse. Die EZB hat als zentrale Aufgabe die Preisstabilität zu sichern. Damit sichert sie in erster Linie die Profitabilität des Kapitals. Dieses-- bzw. die gesellschaftlichen Gruppen, die das Kapital repräsentieren-- müssen nicht selbst in einem gesellschaftlichen Kampf ihre Interessen durchsetzen, sondern diese Funktion ist an eine vorgeblich apolitische Institution delegiert, die mit diesen Interessen nicht mehr assoziiert wird (es aber nach wie vor ist). Regierungen ist durch die Währungsunion die Möglichkeit genommen, ihre Währung abzuwerten. Staaten mit einer niedrigeren Produktivität sind jetzt nur wettbewerbsfähig, wenn sie im Produktionsprozess den Mehrwert erzeugen. Dies kann aber nur durch eine Erhöhung der Arbeitszeiten bei gleichzeitig sinkenden Löhnen passieren, das heißt nur dadurch, dass sich die Arbeiten- <?page no="420"?> 405 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon d Ie e uro -K rIse und dIe t heorIen der InternatIonalen b ezIehunGen Einheit 14 den stärker ausbeuten lassen. Marxistische Ansätze versuchen hier zu zeigen, dass es tatsächlich die Arbeiterklasse ist, die die Kosten der EU-Integration trägt. Die Klassenanalyse zeigt letztlich die wahre Natur des Integrationsprojektes als einen Prozess, der zur Ausbeutung der ärmeren Staaten durch die Reichen führt. Konstruktivismus: Ist die Euro-Krise ein Indikator für mangelnde europäische Identität? Thomas Risse (2014) geht der Frage nach, ob es zulässig ist, von der Euro- Krise und der langen Debatte um die Vergemeinschaftung von Schulden auf einen niedrigen Grad der europäischen Identitätsbildung zu schließen. Er konfrontiert die weit verbreitete Auffassung, dass es für eine weitreichende Verteilungspolitik, wie sie im Rahmen der Fiskalunion diskutiert wurde und wird, Europa immer noch an einem „Demos“, also einem starken Sinn für eine europäische Gemeinschaft und Loyalität zum europäischen Gemeinwesen fehlt. Die konstruktivistische Theorie würde vorhersagen, dass den Bürgern die europäische Identität so wichtig ist, dass sie dafür auch bereit sind, hohe Kosten in Kauf zu nehmen. Risse argumentiert, dass die europäische Identität sehr viel stärker ausgeprägt ist als in der öffentlichen Debatte erkennbar wird. Zentral für seine Argumentation sind zwei Merkmale von Europäisierung: erstens die individuelle Identifikation mit einer europäischen Identität und zweitens die Herstellung einer europäischen Öffentlichkeit, in der ein kommunikativer Austausch über Europa stattfindet und indirekt über das Gemeinwohl verhandelt wird. Hier kann man also wiederkehrende Elemente aus Einheit 8 zu Identität und zur Rolle von Deliberation in konstruktivistischen Analysen erkennen. Risse argumentiert auf Basis von Eurobarometer-Daten, dass die Bürgerinnen der EU zwei Identitäten herausgebildet hätten, eine nationalstaatliche und eine europäische. Trotz nationaler Unterschiede-- die Bürger Großbritanniens identifizieren sich in der Regel sehr viel weniger mit der EU als die Bürger Deutschlands-- identifiziert sich eine Mehrheit der befragten Bürgerinnen mit der EU. Zwar hat die Identifikation mit Europa während der Euro-Krise kurzzeitig abgenommen, sei aber danach wieder auf dem Vorkrisenwert angelangt. Eurobarometer-Daten zeigten auch, dass es Unterstützung für redistributive Politiken unter EU-Bürgern gibt, diese aber nicht bedingungslos sei: Finanzielle Hilfen an EU-Staaten seien an Maßnahmen zur Verbesserung der Haushaltsdisziplin geknüpft. EU-Bürgerinnen seien also bereit, einen Preis für ihre Identität zu zahlen. Weiter argumentiert er, dass sich im Zuge der Euro-Krise eine europäische Öffentlichkeit herausgebildet habe, die tatsächlich gemeinschaftsför- 14.9.2 <?page no="421"?> 406 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon dernd sei. In den letzten Jahren habe eine Europäisierung nationaler Medien stattgefunden. Darunter versteht er die höhere Sichtbarkeit von europäischen und EU-Themen, -Politiken und -Akteuren in verschiedenen nationalen Öffentlichkeiten, die Präsenz anderer europäischen Akteure wie Politker in den verschiedenen nationalen und themenspezifischen Öffentlichkeiten und die Ähnlichkeit von Rahmungen und politischen Forderungen über Grenzen hinweg, die eine transnationale Kommunikation und Verständigung erleichtern. Aber führt diese transnationale Öffentlichkeit tatsächlich zu mehr Verständigung? Oder führt sie zur Verfestigung von Stereotypen, also auf Vorurteilen basierenden Urteilsmustern, die von einer großen Zahl von Menschen geteilt wird, wie dem „faulen Griechen“ und dem „deutschen Nazi“? Risse zufolge gibt es dazu noch keine verlässlichen Ergebnisse. Einige Studien zeigen, dass dies der Fall ist, andere, dass die dominante Rahmung eher ökonomischer Art ist, entlang einer Gläubiger-Schuldner-Konfliktlinie verläuft oder sogar entlang einer französisch-deutschen vs. alle anderen EU- Staaten-Linie verläuft. Für Konstruktivisten sind also formale Institutionen und Verfahren nur ein Merkmal von Regionalismus, ebenso bedeutend ist die sich herausbildende regionale Identität. Sie kann regionale Integration verstärken, sie behindern und manchmal auch weitgehend ersetzen, wie im Falle Südostasiens (siehe auch Acharya 2001). 1. Was versteht man unter regionaler Integration? Und was versteht man unter Regionalisierung? 2. Sollte Ihrer Meinung nach die Vorgabe des Vertrags von Lissabon, die EU-Kommission zu verkleinern, umgesetzt werden? Begründen Sie Ihre Meinung und versuchen Sie dann mit dem Konzept der Integration zu erklären, warum sich die Regierungen mit der Vorgabe so schwer tun. 3. Finden Sie durch eine Internetrecherche heraus, welche Verpflichtungen Staaten mit dem Fiskalpakt der EU eingehen. Welche Kompetenzen hat die EU in Gestalt des Rats und der Kommission? Einen sinnvollen Einstieg bietet die Seite Fiskalpakt/ -vertrag der EU der Bundeszentrale für Politische Bildung (http: / / www.bpb.de/ nachschlagen/ lexika/ 176 980/ fiskalpakt-vertrag-der-eu, letzter Zugriff 15.04.2015). Den Vertrag finden Sie ebenfalls im Internet. Stellen Sie auf der Basis der vorgestellten Theorien Vermutungen darüber an, warum der Fiskalpakt als separater völkerrechtlicher Vertrag geschlossen wurde. Übungen <?page no="422"?> 407 r eGIonalIsmus und reGIonale I nteGratIon Einheit 14 V erwendete l Iteratur Abbott, Kenneth W.; Snidal, Duncan (2001): Why States Act Through Formal International Organizations. In: Diehl, Paul F. (Hrsg.): The Politics of Global Governance, London/ Boulder, 9-37. Acharya, Amitav (2001): Constructing a Security Community in Southeast Asia. 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Demokratisierungswellen 14-17, 88 f., 101, 109 Denationalisierungstendenzen 328 Der Derian, James 260 Derrida, Jacques 266 deutsche Einigungskriege, drei 16 Dilemmaspiel siehe auch: Spieltheorie 167 Diskurs 245, 266 Drei-Säulen-Struktur (EU) 396 Dritte Welt 82, 275 E Einheitliche Europäische Akte (EEA) 395 Enloe, Cynthia 277 Erkenntnisfortschritt 124, 126 Erklärung 124 f., 128 f. Erster Weltkrieg 18 f., 28-33, 36, 38, 41, 43, 47, 49 f., 55 ff., 67, 74, 125, 148 EU-Gerichtshof 400 Eurokrise 380 Europäische Atomgemeinschaft (EurAtom) 394 Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 67, 383 europäische Integration 66 ff., 380, 398, 403 f. Europäische Union (EU) 96, 107 f., 117, 151 f., 176, 340, 384 ff., 391-394, 396, 398, 400, 403 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 384 Europol 397 Externalitäten 213, 216 ff. Sachregister <?page no="425"?> 410 s achreGIster F Feminismus 276 Feministische Theorien 276 Finnemore, Martha 247 first mover advantage situation 351 framing 250 Französische Union 70 Freedom House 369, 372 Freiheit von 363 Freiheit zu 363 Fukuyama, Francis 92, 207, 221 G Gefangenendilemma siehe auch: Spieltheorie 164 Gender 276 Generationen von Menschenrechten 363 Gewinne, absolute 214 Gewinne, relative 142 globale Managerklasse 198 Global Environmental Facility (GEF) 344 globale Trends 13, 17, 39 f., 62 f., 101 f., 384 Große Debatten in den IB 131 H Haas, Ernst B. 400 Habitualisierung 234 f., 376 Harding, Sandra 277 hegemoniale Stabilität 163 Hegemonie 4, 7, 18, 26 ff., 30, 59, 66, 71, 73, 101 f., 116, 146 f., 163, 189, 192 f., 195 f., 260, 326 f. high politics 140 Hobbes’sche Welt 233 horizontale Schichtung 187 Hyde-Price, Adrian 151 I Idealismus 149 Ideeller Liberalismus 218 Ideen 238 Ikenberry, John 208, 326 Imperialismus 13, 21 f., 80, 84, 181, 196, 274 Imperium 146 Industrielle Revolution 17 institutionalisierte Ungleichheit 184 Institutionalismus 155-159, 163 f., 166, 169, 171 institutionelles Design 175 f., 403 Institutionen 143, 161, 404 Integration 222, 311, 392 Interdependenz 4, 43, 73, 157-161, 163, 171, 204, 216, 227, 245, 247, 274, 318, 326, 348, 400 f. Intergouvernementale Integration 402 Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) 332 Internationale Atomenergieagentur (IAEA) 293 internationale Frauenrechtskonvention 361 internationale Ordnung 146, 221 internationale Politik 115 internationale Staatengemeinschaft 17, 117, 336, 376, 385 internationales Verhandlungskomitee (INC) 342 Intersubjektivität 228 Iranische Revolution 78, 89 israelisch-palästinensischer Konflikt 30, 74 f., 77, 95, 123 J Jugoslawien-Krieg 105 K Kampf der Geschlechter siehe auch: Spieltheorie 164 Kantianische Welt 233 Kant, Immanuel 204 Kapitalismus 130, 180-183, 187, 193, 404 kapitalistisches Produktionssystem 187, 197 Katzenstein, Peter J. 209, 234 kausale Zusammenhänge 248 Keohane, Robert O. 129, 157 Kernspaltung 287 f. Klassengesellschaft 186 Klassenkämpfe 185 Klimaschutzpolitik 156, 167 f., 339, 342, 344 f., 348, 351 Klimaschutzrahmenkonvention der Vereinten Nationen (United Nations Framework Convention on Climate Change UNFCCC) 341 Klimawandel 156, 159, 332 f., 335, 337-341, 345, 350, 352 f. Klimawirksamkeit, Konzept der 335 kollektive Sicherheit 36, 300 Kollektivgutproblematik 170 Kolonialisierung 13, 17 ff., 21 Afrika 21 f. Asien 23 f. Lateinamerika 7, 15 Kolonialismus, Ursachen 24 Kommerzieller Liberalismus 219 Kommodifizierung 183 Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 86 Konferenz von Jalta 54 Konferenz von Potsdam 54 <?page no="426"?> 411 s achreGIster Einheit 14 Sachregister Konferenz von Teheran 54 Konstruktivismus 225-253 Kony 2012 250 kritische Theorien 186 Kuba-Krise 65 kulturelle Hegemonie 182, 193, 268 L Leadership Long Cycle Modell (LLC-Modell) 325 Liberaler Internationalismus 138, 205 Liberalismus 205-223 Locke, John 205, 233 Logik der Angemessenheit 241 Logik des Konsequentialismus 241 low politics 140 M Maastricht-Vertrag 394 Machiavelli, Niccolò 137 Macht 137 Machtgleichgewicht 145 f., 322 Machttransitionen 320, 325 Marschflugkörper 290 Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen 367 Menschenrechtsverträge 362 MERCOSUR 391 Minimalkonsens 360 Mischung von Motiven/ mixed motives 161 Missile Technology Control Regime (MTCR) 295 Mitrany, David 399 Moravcsik, Andrew 213 Morgenthau, Hans Joachim 138 multinationale Politik 121 Multipolares System 147 Multipolarität 146 N nachhaltige Entwicklung 340 Nahost-Konflikt 74 f., 83 Nationalstaat 12-17, 21, 28, 40, 63, 102, 116 f., 119, 328, 385, 388, 400 f., 405 NATO 63 f., 66, 91, 96, 107 f., 389 Neo-Gramscianismus 189, 403 neoklassischer Realismus 148 Neorealismus 139-152 Nicht-Nuklearwaffenmächte (NNWS) 292 Nichtregierungsorganisation (NGO) 242, 339 nichtstaatlicher Akteur 123, 226 Nichtverbreitungspolitik, nukleare 87, 283, 286 f., 291, 294 f., 297 Nichtverbreitungsvertrag 292, 299-302 Normen 238, 240, 359 nuclear bargain 294 Nuclear Suppliers Group 301 nukleares Feilschen 294 Nuklearwaffe 288 Nuklearwaffenmächte (NWS) 292 Nutzenmaximierung 212 Nye, Joseph 129 O Okzidentalismus 275 Ost-West-Konflikt 60-64, 71, 73, 75, 78, 83, 92, 98 f., 103, 109, 130, 136 P Partizipationsrechte 363 Pax Americana 195 Pax Britannica 7, 195 Perestroika-Politik 92 Peripherie 189 ff. Physikalischer Reduktionismus 353 Plausibilitätsstruktur 250 Positionalisten, defensive 147 Positionalisten, offensive 147 Positivismus 260 f. Postkoloniale Theorie 130 Postkolonialismus 274 Postmoderne 261 Post-Ost-West-Konflikt-Ära 92 Post-Positivismus 261 Poststrukturalismus 123, 248, 257-279 poststrukturalistischer Feminismus 278 prisoner’s dilemma 164 Produktionsverhältnisse 182 Produktivkräfte 182 Proliferation 288 Protokolle 366 R Rahmung, diagnostische 250 Rahmung, motivationale 250 Rahmung, prognostische 250 Rapkin, David 325 Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) 65 rationales Interesse 158 Rationalität 141 Realismus 135-150 Rechtsgrundsatz der Direktwirkung 400 Reflexion 245 Regimetheorie 158 Regionalisierung 94, 112, 381, 384 f., 387 <?page no="427"?> 412 s achreGIster Regionalismuswellen 381 Regionalorganisationen 382 Republikanischer Liberalismus 220 Responsability to Protect (R2P) 106 Reziprozität in einer kleinen Gruppe 351 Risse, Thomas 405 Römische Verträge 394 Ruggie, John Gerard 272 Russische Revolution 41 Rüstungskontrolle 45, 286, 295 Rüstungswettlauf 43 S Said, Edward W. 275 Schatten der Zukunft 171 Schurkenstaaten 111 Schwellenländer 102, 112, 308 ff., 338, 340 Selbsthilfestrategien 141 Semi-Peripherie 190 f. Shapiro, Michael J. 260 Sicherheitsdilemma 144 Sicherheitsstreben 144 Signifikant 263 Signifikat 263 Signifikation 229 Sikkink, Kathryn 376 Sklaverei 360 small group reciprocity situation 351 Smith, Adam 205 Smith, Roger K. 294 Solidaritätsrechte 363 Souveränität von Staaten 117, 146 soziale Klasse 183 soziale Konstruktion 246 soziale Praktiken 240 Sozialisation 244 soziologisch-historische Methodik 187 Spieltheorie 164-169 Spiel von Zeichen 266 Spill-Over 399 Spiralmodell des Menschenrechtswandels 374 START-Vertrag 286, 295 Stellvertreterkriege 73 Strategie der aneinander geketteten Strafgefangenen 148 Strategie des Schwarzen-Peter-Zuschiebens 148 Strukturalismus 262 Struktureller Realismus 139 supranationale Integrationstheorie 400 supranationale Politik 121 T Terror, Krieg gegen den 208 Theorie 123 Theorienverdrängung 126 f., 129 ff. Thompson, William R. 325 Thukydides 137 Tickner, Ann 277 Tit-for-Tat-Strategie 172 Transaktionskosten 173 transgouvernementale Politik 121 transnationale Politik 121 transnationaler Intergouvernementalismus 158 Treffen der Parteien (Meeting of the Parties MOP) 342 Treibhauseffekt 332 Trittbrettfahrerproblem 170 Truman-Doktrin 65 U Überleben 140 Unilateralismus 209 unipolares Moment 92 universelle periodische Berichtsverfahren 367 V Vasallen 198 Vereinte Nationen 55, 58 f., 69, 74, 83, 85 f., 98 f., 105 ff., 110 f., 117 f., 131, 150, 286, 301, 319, 339 f., 360, 385 Verfassungsbewegung (19. Jh.) 15 ff. Versailler Verträge 31-36, 38 f., 43-46, 49, 54, 66 Verträge des Westfälischen Friedens 1648 7 Vertragsbasierte Verfahren 367 Vertrag von Lissabon 394 Völkerbund 33 Völkerrecht 117 Volkssouveränität 14 Vorreiter-Situation 351 W Wallerstein, Immanuel 182 Walt, Stephen 150 Waltz, Kenneth N. 139 Weber, Cynthia 278 Weber, Max 137 Weltklimakonferenz 338 Weltsystemtheorie 189 Weltwirtschaftskrise 39 Wendt, Alexander 229 Wiener Kongress 6-11, 15, 20, 33, 54, 66 Win-Set 211 <?page no="428"?> 413 s achreGIster Einheit 14 Sachregister Wissenschaftsverständnis 129 kritisch 128, 188 positivistisch 126-129 post-positivistisch 127 ff. World Meteorological Organization (WMO) 339 WTO 100 Z Zangger-Komitee 294 Zehfuss, Maja 271 Zentrum 190 f. Zwei-Ebenen-Spiele 210 Zweiter Weltkrieg 32, 45, 47, 49 f., 54, 59 ff., 66, 68, 92, 125, 138, 148, 298, 302 <?page no="430"?> 415 Einheit 14 Nachweise Nachweise der Abbildungen, Tabellen und Tafeln Bei Abbildungen und Tabellen ohne nähere Angabe handelt es sich um eigene Darstellungen. Abbildungen Abb. 1.3 und 1.4 | Eigene Darstellung, angelehnt an Rudolf/ Oswalt 2010: 158. Abb. 1.5 | Quelle: Gerd Schultze-Rhonhof : 1939 - Der Krieg der viele Väter hatte. München 5 2006. Abb. 2.1 | Eigene Darstellung, basierend auf United Nations 2015. Abb. 2.3 | Nach O’Loughlin u. a. 1998: 556. Abb. 2.4 | Nach O’Loughlin u. a. 1998: 556. Abb. 2.5 | Eigene Darstellung, nach Daten von Norris und Kristensen 2010: 81 f. Abb. 2.6 | Nach World Trade Organization 2015: Understanding the WTO - Members and Observers, http: / / www.wto.org/ english/ thewto_e/ whatis_e/ tif_e/ org6_e.htm (letzter Zugriff 03. 12. 2015). Abb. 2.7 | Nach: International Monetary Fund (2015) IMF Data Mapper, www.imf.org/ external/ datamapper/ index.php (letzter Zugriff 03. 12. 2015). Abb. 2.8 | Nach: Bratton/ Van der Walle 1997: 197. Abb. 2.9 | Quelle: Uppsala Conflict Data Program (Date of retrieval: 16. 02. 02) UCDP Conflict Encyclopedia: www.ucdp.uu.se/ database, Uppsala University (letzter Zugriff 17. 02. 2016). Abb. 4.1 | Eigene Darstellung, nach Herz 1950. Abb. 6.1 | Quelle: Wikipedia: Industrial Workers of the World, https: / / upload.wikimedia.org/ wikipedia/ commons/ b/ b9/ Anti-capitalism_color.gif (letzter Zugriff 12. 02. 2016). Gemeinfrei Abb. 6.2 | Eigene Darstellung, nach Wallerstein 1974. Abb. 6.3 | Eigene Darstellung, basierend auf Cox 1983. Abb. 8.3 | Eigene Darstellung, nach Giddens 1988: 290. Abb. 10.1 | Quelle: https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: World_nuclear_weapons.png (letzter Zugriff 17. 02. 2016). Gemeinfrei. Abb. 10.2 | Quelle: https: / / upload.wikimedia.org/ wikipedia/ commons/ e/ e0/ Nagasakibomb.jpg (letzter Zugriff 12. 02. 2016). Gemeinfrei. Abb. 10.3 | Quelle: https: / / commons.wikimedia. org/ w/ index.php? curid=8 540 436 (letzter Zugriff 17. 02. 2016). User: Stefan-Xpderivative work: Wondigoma (talk) - Kernspaltung.png, CC BY-SA 3.0. Abb. 10.4 | Quelle: Schilling, Walter (2005): Die Eindämmung der Proliferation nuklearer Waffen. Europäische Sicherheit 54 (2005). Abb. 11.1 | Quelle: http: / / www.theguardian.com/ business/ 2011/ jan/ 07/ britain-business-slowlane (letzter Zugriff 17. 02. 2016). Abb. 11.2-11.5 | Quelle: BBC / Bertelsmann Transformationsindex, www.bti-project.de/ laendergutachten/ aso/ chn/ 2012/ (letzter Zugriff 16. 02. 2016) Abb. 12.1 | Kohlendioxid-Ausstoß im Jahr 2007 in Tonnen je Einwohner. Quelle: Globus Infografik, © picture alliance/ dpa. Abb. 12.2 | Quelle: Ministry of the Environment of Japan, www.snm.co.jp/ recruit/ lecture/ biomass_03.html (letzter Zugriff 03. 12. 2015). Eigene Übersetzung. Abb. 13.1 | Eigene Darstellung nach Angaben der United Nations Treaty Collection, Chapter IV: Human Rights, http: / / treaties.un.org/ Pages/ Treaties.aspx? id=4&subid=A&lang=en (letzter Zugriff 05. 05. 2015). Abb. 13.2 | Eigene Darstellung, basierend auf Fein 1995: 177. Abb. 13.3 | Quelle: Freedom House 2012: 30. Abb. 14.1 | Quelle: Comparative Regional Organizations Project (Jetschke 2011). Abb. 14.2 | Quelle: http: / / upload.wikimedia.org/ wikipedia/ commons/ b/ bd/ Arabische_Liga.png (letzter Zugriff 16. 02. 2016). GNU Free Documentation License. Abb. 14.3 | Eigene Darstellung, nach Lindberg 1970. Abb. 14.5 | Eigene Darstellung, nach Moravcsik 1998: 24. <?page no="431"?> 416 n achweIse der a bbIldunGen , t abellen und t afeln Tabellen Tab. 1.1 | Eigene Darstellung, basierend auf Kinder/ Hilgemann 2003: 317. Tab. 1.10 | Eigene Darstellung, nach Bracher 1991: 428. Tab. 2.3 | Eigene Darstellung, nach Young/ Kent 2013: 35-36. Tab. 2.5 | Eigene Darstellung, nach Young/ Kent 2013: 35-36. Tab. 2.6 | Eigene Darstellung, nach Young/ Kent 2013: 35-36. Tab. 2.7 | Eigene Darstellung, nach Young/ Kent 2013: 35-36. Tab. 2.10 | Eigene Darstellung, basierend auf Dallinger/ Golz 2005: 407-409. Tab. 2.11 | Eigene Darstellung, basierend auf Dallinger 2005. Tab. 7.1 | Eigene Darstellung, nach Moravcsik 1997. Tab. 7.2 | Eigene Darstellung, nach Moravcsik 1997. Tab. 8.1 | Eigene Darstellung, nach Kersting 1999. Tab. 8.3 | Eigene Darstellung, nach Jasper und Poulsen 1995: 495. Tab. 10.2 | Quelle: http: / / www.atomwaffena-z.info/ heute/ die-atomwaffenfreie-welt/ atomwaffenfreie-zonen.html (letzter Zugriff 16. 02. 2016). Tab. 11.2 | Eigene Zusammenstellung nach Zahlen des IWF, http: / / www.imf.org/ external/ np/ sec/ pr/ 2010/ pdfs/ pr10 418_table.pdf (letzter Zugriff 16. 02. 2016). Tab. 11.4 | Quelle: Eigene Darstellung, nach Tammen/ Kugler 2006. Tab. 11.5 | Quelle: Deudney/ Ikenberry 1999: 181. Tab. 12.1 | Quelle: https: / / www.greenpeace.de/ themen/ klimawandel/ welche-treibhausgase-verursachen-die-erderwarmung (letzter Zugriff 16. 02. 2016). Tab. 12.2 | Quelle: Oberthür/ Ott 2000: 64-114, eigene Ergänzungen. Tab. 12.4 | Quelle: Hof et al. 2012: 48. Tafeln Tafeln I-VI, VIII | Putzger Historischer Weltatlas, 104. Auflage, 2. Druck 2012. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Cornelsen Schulverlage, Berlin. Tafel VII | Quelle: wikipedia commons, https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Kolonialismus#/ media/ File: Kolonien-Afrikas.svg (letzter Zugriff 17.11.2016) <?page no="432"?> Tafelteil <?page no="433"?> 418 Tafel I <?page no="434"?> 419 <?page no="435"?> 420 Tafel II <?page no="436"?> 421 <?page no="437"?> Tafel III 422 <?page no="438"?> 423 <?page no="439"?> 424 Tafel IV <?page no="440"?> 425 <?page no="441"?> 426 Tafel V <?page no="442"?> 427 <?page no="443"?> 428 Tafel VI <?page no="444"?> 429 <?page no="445"?> 430 Tafel VII Strategien der Kolonialmächte in Afrika <?page no="446"?> 431 Tafel VIII <?page no="447"?> ISBN 978-3-8233-6744-4 www.bachelor-wissen.de www.narr.de Als Einführung für Bachelor-Studierende der Politikwissenschaft oder Nachschlagewerk für höhere Semester stellt der Band zentrale Konzepte und Theorien vor und verbindet sie systematisch mit den wichtigsten Phänomenen der Internationalen Beziehungen. Der erste Teil vermittelt die Geschichte der internationalen Beziehungen und ihre globalen Trends vom Wiener Kongress bis zur Arabellion. Der zweite Teil befasst sich mit den wichtigsten Theorien der Internationalen Beziehungen und erläutert ihre Grundannahmen und Erklärungsansprüche. Im dritten Teil schließlich werden die wichtigsten aktuellen Forschungsfelder vorgestellt und zentrale Probleme aus Sicht der Theorien der Internationalen Beziehungen erläutert. Umfangreiches Zusatzmaterial im Internet ergänzt die Darstellung und bietet Möglichkeiten zur Vertiefung. Jetschke Internationale Beziehungen Internationale Beziehungen Anja Jetschke Eine Einführung
