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Die Französische Literatur im Zeichen von Kollaboration und Faschismus

Alphonse de Châteaubriant, Robert Brasillach und Jacques Chardonne

0912
2012
978-3-8233-7746-7
978-3-8233-6746-8
Gunter Narr Verlag 
Barbara Berzel

Mehr als sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind der "Verrat der Intellektuellen" (Julien Benda) und die Kollaboration in Frankreich sensible und hochaktuelle Themen. Vor diesem Hintergrund untersucht die Autorin ausgewählte, zu politisch signifikanten Zeitpunkten entstandene Werke französischer Kollaborationsschriftsteller auf faschistisches Gedankengut: Alphonse de Châteaubriants Reisebericht La Gerbe des Forces: Nouvelle Allemagne (1937), Robert Brasillachs autobiografische Erinnerungsbücher Notre avant-guerre (1941) und Journal d'un homme occupé (postum, 1955) sowie Jacques Chardonnes Essay Le Ciel de Nieflheim (1943). Darüber hinaus wird eruiert, ob diese Texte als "Schreiben" und "Handeln" im Sinne einer Befürwortung der nationalsozialistischen Ideologie und der Unterstützung eines europäischen Faschismus zu qualifizieren sind.

<?page no="0"?> edition lendemains 29 Barbara Berzel Die französische Literatur im Zeichen von Kollaboration und Faschismus Alphonse de Châteaubriant, Robert Brasillach und Jacques Chardonne <?page no="1"?> Die französische Literatur im Zeichen von Kollaboration und Faschismus <?page no="2"?> edition lendemains 29 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück), Hans Manfred Bock (Kassel) und Andreas Gelz (Freiburg) <?page no="3"?> Barbara Berzel Die französische Literatur im Zeichen von Kollaboration und Faschismus Alphonse de Châteaubriant, Robert Brasillach und Jacques Chardonne <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Cornelia Hellstern, München, unter Verwendung eines Briefes von Alphonse de Châteaubriant an Dr. Karl Epting (Nachlass und Bibliothek Karl Epting, Hänner © Wilhelm Epting, Stuttgart). Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. © 2012 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-6746-8 <?page no="5"?> Nicht müde werden Nicht müde werden sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten. Hilde Domin, Hier (1964) <?page no="7"?> 7 Inhalt Vorwort ............................................................................................... 11 1. Einleitung...................................................................................... 13 1.1 Kollaboration und Besatzung - heute ........................................13 1.2 Das Spektrum der schriftstellerischen Kollaboration...............28 1.3 „Figures d’écrivains fascistes“ .....................................................32 1.4 Le „‚ballet des crabes’“ .................................................................38 1.4.1 Henry de Montherlant..............................................................39 1.4.2 Abel Bonnard.............................................................................42 1.4.3 Pierre Drieu la Rochelle ...........................................................45 1.4.4 Marcel Jouhandeau ...................................................................49 1.4.5 Lucien Rebatet ...........................................................................53 1.4.6 Louis-Ferdinand Céline............................................................55 1.5 Autoren- und Textwahl ................................................................61 1.6 Faschismus und die Literatur des französischen Faschismus.64 1.7 Aufbau ............................................................................................73 2. Forschungsstand .......................................................................... 81 3. Alphonse de Châteaubriant La Gerbe des Forces: Nouvelle Allemagne (1937)..................... 93 3.1 Alphonse de Châteaubriant .........................................................93 3.2 Versuchte Rehabilitierung..........................................................109 3.3 La Gerbe des Forces: Nouvelle Allemagne......................................114 3.3.1 Aufbau..................................................................................... 115 3.3.2 Stil und Strategie .................................................................... 118 3.3.3 Zeitgenössische Rezeption.................................................... 121 3.3.4 Geballte Kraft: Ein französischer Dichter erlebt das neue Deutschland (1938): Geleit- und Vorwort............................. 127 3.4 Das Bild der Deutschen: Heldenhafte Germanen und romantische Dichter und Denker ..............................................130 3.5 Hitler - die „Kultfigur“...............................................................135 3.5.1 „L’âme ‚réaliste’ allemande“ ................................................ 143 3.6 Feindbilder ...................................................................................145 3.6.1 Bolschewismus ....................................................................... 145 3.6.2 Individualismus und Liberalismus ..................................... 152 <?page no="8"?> 8 3.6.3 Demokratie und Parlamentarismus .................................... 156 3.7 Der Nationalsozialismus ............................................................158 3.8 „Lohengrins Bauern“ ..................................................................167 3.9 Die nationalsozialistische Rassenideologie..............................169 3.10 Deutschland, das Kreuz und das Hakenkreuz........................172 3.11 Fazit Châteaubriant .....................................................................180 4. Robert Brasillach Notre avant-guerre (1941) & Journal d’un homme occupé (1955) ...................................... 183 4.1 Robert Brasillach..........................................................................183 4.2 Versuchte Rehabilitierung..........................................................198 4.3 Notre avant-guerre & Journal d’un homme occupé .......................205 4.3.1 Notre avant-guerre ................................................................... 206 4.3.1.1 Zur Werkgenese .......................................................... 206 4.3.1.2 Aufbau und Inhalt....................................................... 208 4.3.2 Journal d’un homme occupé...................................................... 209 4.3.2.1 Zur Werkgenese .......................................................... 209 4.3.2.2 Aufbau und Inhalt....................................................... 210 4.4 Politischer Hintergrund: Die Dritte Republik und die Volksfront ..............................................................................212 4.5 Vom „Präfaschismus“ der Action française zum Faschismus.218 4.6 Reisen zum Faschismus: Italien - Belgien - Spanien - NS-Deutschland...........................................................................223 4.6.1 Italien ....................................................................................... 223 4.6.2 Belgien ..................................................................................... 224 4.6.3 Spanien .................................................................................... 227 4.6.4 NS-Deutschland: Hundert Stunden bei Hitler................... 232 4.6.4.1 Der Nationalsozialismus ............................................ 233 4.6.4.2 Hitler, der „Poet“ ........................................................ 235 4.7 Genese einer Germanophilie......................................................240 4.7.1 Faszination .............................................................................. 240 4.7.2 Der „Münchner“ in „romantischer“ Kriegsgefangenschaft ............................................................ 241 4.7.3 Zu Gast in Weimar und Berlin ............................................. 243 4.7.4 Liaison mit dem deutschen Genius ..................................... 247 4.8 Faschismus - „Ce mal du siècle“...............................................252 4.8.1 Jugendkult............................................................................... 259 4.8.2 Je suis partout ........................................................................... 261 4.9 Feindbilder ...................................................................................265 4.9.1 „Die Juden“............................................................................. 265 4.9.2 Kommunismus ....................................................................... 269 <?page no="9"?> 9 4.9.2.1 Katyn versus… ............................................................ 271 4.9.2.2 … „la Sainte Russie“ ................................................... 276 4.9.3 Großbritannien und Amerika............................................... 278 4.10 Pétain und die Révolution nationale............................................279 4.11 Fazit Brasillach .............................................................................282 5. Jacques Chardonne Le Ciel de Nieflheim (1943) - „ein Büchlein, das schweigt, obwohl es spricht“ ............. 285 5.1 Jacques Chardonne......................................................................285 5.1.1 Von Barbezieux über Montoire nach Nieflheim ................ 288 5.1.2 Autour de Barbezieux: Chronique privée (1940) ...................... 289 5.1.3 L’Été à La Maurie (Dezember 1940) - Chronique privée de l’an 1940 (Februar 1941) .................................................... 291 5.1.4 Voir la figure (Juni und Oktober 1941) ................................. 294 5.1.5 Weimar (1941/ 1942) - Le Miroir des livres nouveaux 1941-1942 ................................................................................. 298 5.1.6 Le Ciel de Nieflheim (1943) - Attachements (1943)................. 299 5.1.7 Libération - Epuration: Détachements (1945/ 1969) ............... 304 5.2 Versuchte Rehabilitierung..........................................................308 5.3 Voyage au bout de la nuit? Deutschlandrundreise (1941) und die Weimarer Dichtertreffen im Herbst 1941 und 1942 .........313 5.4 Le Ciel de Nieflheim .......................................................................317 5.4.1 Aufbau, Inhalt und Stil.......................................................... 318 5.4.2 Das „Vorwort“........................................................................ 322 5.5 Feindbilder ...................................................................................323 5.5.1 „Der Russe“ / Russland........................................................ 324 5.5.2 Kommunismus ....................................................................... 325 5.5.3 Großbritannien und Amerika............................................... 327 5.5.3.1 Großbritannien................................................................. 327 5.5.3.2 Amerika............................................................................. 329 5.6 Deutschland und die Deutschen ...............................................332 5.7 Der Nationalsozialismus ............................................................340 5.8 „Ici, occupation correcte, douce, très douce“ ..........................351 5.9 Europa...........................................................................................356 5.10 Kritik an der Dritten Republik und der Demokratie ..............359 5.11 Antisemitismus? ..........................................................................362 5.12 Euthanasie ....................................................................................364 5.13 Fazit Chardonne ..........................................................................367 6. Schlussbetrachtungen............................................................... 371 <?page no="10"?> 10 7. La littérature française sous le signe de la collaboration et du fascisme - Alphonse de Châteaubriant, Robert Brasillach et Jacques Chardonne ............................... 383 8. Abkürzungsverzeichnis ........................................................... 391 9. Literaturverzeichnis .................................................................. 393 9.1 Primärliteratur ............................................................................393 9.1.1 Châteaubriant ......................................................................... 393 9.1.2 Brasillach ................................................................................. 394 9.1.3 Chardonne .............................................................................. 397 9.2 Sonstige Primärliteratur / Zeitgenössisches Schrifttum ........398 9.3 Sekundärliteratur ........................................................................408 9.4 Internetquellen.............................................................................435 9.5 Allgemeine Nachschlagewerke .................................................437 10. Namensregister .................................................................................441 <?page no="11"?> 11 Vorwort Die vorliegende Arbeit, in Paris begonnen und in Freiburg i. Br. vollendet, wurde im September 2011 von der Philologischen Fakultät der Albert- Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. als Dissertation angenommen. Einschlägige Sekundärliteratur wurde bis August 2011 berücksichtigt. An dieser Stelle möchte ich mich bei den zahlreichen Wegbegleitern, die zum Entstehen dieser Arbeit beigetragen haben, bedanken. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Frank-Rutger Hausmann für die Anregung zu diesem interdisziplinären Forschungsprojekt sowie für seine stetige, kenntnisreiche und sympathische Unterstützung. Herrn Prof. Dr. Wolfgang Asholt bin ich nicht nur für die Bereitschaft zur Übernahme des Zweitgutachtens, sondern auch für die Aufnahme der Untersuchung in die von ihm herausgegebene Reihe edition lendemains zu Dank verpflichtet. Für den fruchtbaren Gedankenaustausch sei dem interdisziplinären Promotionskolleg Geschichte und Erzählen der Freiburger Universität gedankt. Mein weiterer Dank richtet sich an Herrn Wilhelm Epting für die Genehmigung, zwei bis dato unveröffentlichte Briefe Alphonse de Châteaubriants an seinen Onkel Dr. Karl Epting zitieren und für die Umschlaggestaltung verwenden zu dürfen. Danken möchte ich den hilfsbereiten Mitarbeitern der Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., namentlich Herrn Dr. Marcus Schröter, Fachreferent für Geschichte, für die unkomplizierte und zügige Beschaffung benötigter Sekundärliteratur. Für die großzügige Förderung der Drucklegung dieser Arbeit möchte ich schließlich der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein meinen Dank aussprechen. Mein aufrichtiger Dank gebührt meiner Familie und meinen Freunden, ohne deren vielseitige, unermüdliche Unterstützung diese Dissertation nicht vorliegen würde. Für die gelungene Mischung aus Humor, Inspiration, kritischer Lektüre, Langmut, Motivation und technischer Versiertheit danke ich sehr herzlich meinen Eltern und Geschwistern sowie Simone Baum, Stephanie Baumann, Annette Gräber, Dorothea Groß, Benedikt Gursch, Cornelia Hellstern (nicht nur, aber insbesondere für die Umschlaggestaltung), Urte, Georg, Ute und Jürgen Mein, Manon Nguyen, Marcus Obrecht, Sandra Pfahler, Elsbeth Ranke-Hein, Henrike Sattler und Michael Schulz. In großer Dankbarkeit widme ich meinen Eltern diese Arbeit. Freiburg i. Br., im Sommer 2012 <?page no="13"?> 13 1. Einleitung 1.1 Kollaboration und Besatzung - heute Mesdames et Messieurs de l’Académie, L’illustre d’Alembert, dont vous m’avez fait l’honneur, et je vous en remercie, de m’appeler à occuper le fauteuil, parlait „l’égalité académique“. Il voulait dire que tous les académiciens, quelles que soient leur origine sociale, leurs convictions, leurs erreurs ou celles de leurs parents, sont égaux. Au nom de cette égalité, je vous demande d’accueillir avec moi l’ombre de quelqu’un qui avait plus de titres à prendre ma place, et à qui je dois d’être celui que je suis: Ramon Fernandez, mon père. Il s’est fourvoyé en politique, et j’ai toujours condamné, publiquement, sa conduite pendant l’Occupation. Collaborer avec les Allemands, non, c’était indigne d’un homme qui avait été l’ami de Proust, de Gide, de Saint-Exupéry, de Malraux, qui l’était encore de Paulhan et de Mauriac, malgré leurs divergences. […] [A]utant ses opinions politiques ont toujours été pour moi inacceptables, autant j’admire son œuvre. Et je vous ferai cet aveu: parmi les motifs qui m’ont poussé à souhaiter faire partie de votre Compagnie, le dernier n’a pas été de faire retentir sous la Coupole, à côté de celui de Richelieu, le nom de Ramon Fernandez. 1 Mit diesen feierlichen Worten, den in der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen (1789) verbürgten Gleichheitsgrundsatz aller Menschen beschwörend, eröffnete der fast achtzigjährige Schriftsteller Dominique Fernandez 2 im Dezember 2007 den Discours de réception anlässlich seiner Wahl 1 So der Beginn der Antrittsrede des neuen Akademiemitglieds Dominique Fernandez am 13. Dezember 2007. S. http: / / www.academie-francaise.fr/ immortels/ unter „Dominique Fernandez“ sowie den Rubriken „Discours et travaux académiques de Dominique Fernandez“ und „Discours de réception et réponse de M. Pierre-Jean Rémy, 13 décembre 2007“ (letzter Zugriff am 2. 8. 2011), Hervorhebung der Verfasserin (künftig gekennzeichnet mit den Initialen „BB“). Zu den „deux premiers paragraphes criants de vérité de ce discours“ vgl. die Kommentierung Pierre Assoulines (*1953), Schriftsteller (u.a. Lutetia, 2005), Literaturkritiker und langjähriger Chefredakteur von Lire unter dem Titel „Vertu de l’ego-histoire“ am 16. 12. 2007 in seinem Le Monde-Blog „La république des livres“. S. http: / / passouline.blog.lemonde.fr/ 2007/ 12/ 16/ vertude-lego-histoire/ (letzter Zugriff am 22. 4. 2012). Der Arbeit sei vorausgestellt, dass Anzahl und Umfang der Fußnoten der an dieser Stelle eingearbeiteten Forschungsliteratur geschuldet sind. Ferner finden sich hier Hintergrundserläuterungen, die für eine nicht bis ins Detail mit der Thematik vertraute Leserschaft als hilfreich erachtet werden. Der Fließtext ist jedoch ein unabhängig vom Anmerkungsapparat zu lesender eigenständiger Text. 2 Die schillernde Vaterfigur hatte Dominique Fernandez (*1929), Normalien, Italienisch- Professor, Literaturkritiker (u.a. L’Express, Le Nouvel Observateur), Essayist und Schriftsteller, bereits in L’école du sud und Porfirio et Constance (1991) beschäftigt. Fernandez’ Lebensthema, die Homosexualität, durchzieht „als Reflex eines privaten und <?page no="14"?> 14 in die Académie française. Das attentum parare gelang dem frisch gekürten Immortel auf unerwartete Weise, erwies er doch im Exordium, der bekanntermaßen prominentesten Stelle einer Rede, nicht seinem Vorgänger, dem Medizinprofessor und Résistant Jean Bernard (1907-2006) die Reverenz, sondern vielmehr seinem Vater. 3 Dies ist insofern signifikant, als Ramon Fernandez 4 (1894-1944) nicht nur brillanter Literaturkritiker der Zwischenkriegszeit und Verfasser namhafter Studien zu Molière (1929), Gide (1931), Balzac und Proust (1943) war, sondern, gleichsam das Negativ Jean Bernards, als überzeugter Faschist mit zu den virulentesten kollaborierenden Schriftstellern zählte. Ein Jahr später veröffentlichte Dominique Fernandez die über achthundert Seiten starke Biografie Ramon 5 (2008), in der er sich eines gesellschaftlichen Befreiungsprozesses“ leitmotivisch seine Werke (u.a. L’étoile rose, 1978; Signor Giovanni, 1981; Le rapt de Ganymède, 1989). Der Roman über einen neapolitanischen Kastraten (Porporino ou les Mystères de Naples, 1974) sowie der Bericht über Vita und Ermordung des italienischen Filmregisseurs Pier Paolo Pasolini (1922-1975) in Dans la main de l’ange (1982) wurden mit dem Prix Médicis respektive dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Flügge, Manfred: Die andere Liebe: Der Romancier und Essayist Dominique Fernandez. In: Ders.: Die Wiederkehr der Spieler: Tendenzen des französischen Romans nach Sartre. Marburg: Hitzeroth, 1992, S. 135-148, hier S. 138. 3 Zu den „partes orationis“ vgl. Ueding, Gert; Steinbrink, Bernd: Grundriß der Rhetorik: Geschichte - Technik - Methode. 4., aktualis. Aufl. Stuttgart; Weimar: Metzler, 2005, S. 259-277, insb. S. 259f. 4 Der von Marcel Proust (1871-1922) geschätzte Ramon Fernandez, in Paris geborener Sohn eines mexikanischen Diplomaten und einer französischen Modejournalistin, gehörte seit Beginn der zwanziger Jahre zum Literatenkreis von Jacques Rivières Nouvelle Revue Française (folgend abgekürzt mit NRF) und war u.a. mit François Mauriac, Roger Martin du Gard und Antoine de Saint-Exupéry befreundet. Auf den Roman Le Pari (1932, Prix Femina) folgte 1935 Les Violents, in dem sich die Distanzierung des Mitglieds des Comité de vigilance des intellectuels antifascistes vom ultralinken Spektrum und seine Annäherung an den „socialisme fasciste“ niederschlägt. 1937 schloss sich Fernandez Jacques Doriots faschistischem Parti Populaire Français an und schrieb fortan für die kollaborationistische Presse (u.a. für Je suis partout, L’Emancipation nationale, La Gerbe, Drieu la Rochelles NRF) oder pries Goebbels auf Radio Paris. Im August 1944, kurz vor der Befreiung von Paris und der ihn erwartenden Anklage, verstarb mit dem fünfzigjährigen Ramon Fernandez eine der Schlüsselfiguren der literarischen Kollaboration. Drei Monate nach Fernandez’ Tod wurde Haftbefehl gegen ihn erlassen. Mercier, Pascal: „Ramon Fernandez“. In: Juillard, Jacques; Winock, Michel (Hgg.): Dictionnaire des intellectuels français: Les personnes. Les lieux. Les moments. Nouv. éd. Paris: Editions du Seuil, 2009, S. 572-573. Zum Haftbefehl s. Fernandez, Dominique: Ramon. Paris: Editions Grasset & Fasquelle, 2008, S. 790. 5 Rezensionen u.a. von Altwegg, Jürg: „Mein Vater, der Faschist: Ein Achtzigjähriger schließt seinen Frieden mit Vichy“. In: FAZ, 14. 1. 2009, S. 29; Laux, Thomas: „Auf der rechten Seite stehen“. In: Dokumente 4-6 (2009), S. 115-116; exemplarisch für die französische Presse: Amette, Jacques-Pierre: „Mon père, cet écrivain collabo“. In: Le Point, N° 1895, 8. 1. 2009, S. 78-80; Lançon, Philippe: „Et Ramon a mal tourné“. In: Libération, Livres, 15. 1. 2009, S. II-III; Rérolle, Raphaëlle: „Le fantôme du père“. In: Le Monde des livres, 16. 1. 2009, S. 1 und 5. <?page no="15"?> 15 ausführlich dem widersprüchlichen Leben und Wirken seines vom Kommunismus zum Faschismus konvertierten Vaters widmet: „Si beau dans la mort, si blâmable dans l’action: est-ce possible? Où fut la vérité de cet homme qui est mon père? “ 6 Dominierte in der eingangs zitierten Laudatio die kategorische Verurteilung des Kollaborateurs Ramon Fernandez, erweist sich Ramon als zeitweilig psychologisierend-entkulpabilisierende 7 Spurensuche des in letzter Instanz pronominal mit dem Vater verschmelzenden Sohnes. Den väterlichen Tod interpretiert Dominique Fernandez als schuldbewusst intendierte, doch konsequente und würdevolle Selbstauslöschung: Sauver sa dignité: voilà l’obsession, en cet été 1944, de celui qui sait avoir perdu sa vie. […] Comment revenir au tragique? Me retirer, comme Alceste, dans un désert? Impossible, et d’ailleurs, non souhaitable. Reste une autre solution, plus radicale, et qui mettra une sourdine aux blâmes, aux anathèmes: le suicide. 8 Während die private Inthronisierung des Vaters durch den Sohn nahezu unbemerkt und ohne öffentliche Gemütserregung vonstattenging, schlugen die Wogen hoch, als das französische Kultusministerium im Januar 2011 gedachte, den zweifelsohne umstrittensten Romancier Frankreichs des vergangenen Jahrhunderts zu ehren: Den fünf Jahrzehnte zuvor verstorbenen Louis-Ferdinand Céline, „Rassist, Antisemit, Genie und nationaler 6 Fernandez, Dominique: Ramon, S. 14. 7 Vgl. Wertungen wie „RF“ habe in der „un-extremistischen“ La Gerbe publiziert, niemals jedoch in „l’infect Je suis partout“. Ebd.: S. 682. Vgl. diesbzgl. Alice Kaplans Rezension: „The question Dominique must contend with is this: how did his father veer from Proust to Doriot? [...] For Dominique, his father’s fascism and collaboration boils down to a series of reinforcing circumstances: repressed homosexuality, alcoholism, shame over not having fought in World War I and even the fact that his father’s first wife (Dominique’s mother), whom the son is too quick to dismiss as an asexual bluestocking and killjoy, wouldn’t let him dance the tango.“ Hinsichtlich der „Anekdoten“, die Dominique Fernandez zur Entlastung des Vaters anführe, verweist Kaplan auf die Schwierigkeit „to measure a family story against a literary reading, and a literary reading against an archive. For the historian, they’re not equal. For the son, they coexist, footnotes of the heart.“ Kaplan, Alice: „Ghostly Demarcations“. In: The Nation 290, 6, 15. 2. 2010, S. 29-32, Zitate der Reihe nach S. 31, 32. Ähnlicher Tenor bei Galster, welche Dominique Fernandez Beschönigung und versuchte Rehabilitierung vorwirft und die Selbstmordhypothese des Sohnes, die einhergeht mit der anmaßenden Verurteilung inkonsequenter „Wendeh[ä]ls[e]“, ablehnt. Galster, Ingrid: „Auf der Suche nach der Wahrheit: Frankreich während der Okkupation - neue Veröffentlichungen bringen nicht nur Licht in eine dunkle Zeit“. In: NZZ, 12. 12. 2009, S. 63. So auch Assouline, der Dominique Fernandez’ Parallelisierung der kollaborierenden Schriftsteller mit „les Sartre et consorts“, die nach Kriegsende den Stalinismus glorifiziert hätten, kritisiert, denn „l’URSS n’occupait pas la France quand ils chantaient ses louanges.“ Assouline, Pierre: „Le père perdu“. In: Le Magazine littéraire 482 (Jan. 2009), S. 28-29. Hierzu s. Fernandez, Dominique: Ramon, S. 663-666. 8 Ebd.: S. 789, Hervorhebung BB. <?page no="16"?> 16 Großschriftsteller“ 9 in Personalunion - ein Skandalon für den Präsidenten der Association des fils et filles de déportés juifs de France Serge Klarsfeld 10 : [I]l faut attendre des siècles pour que l’on célèbre en même temps les victimes et les bourreaux. […] La République doit maintenir ses valeurs: Frédéric Mitterrand [ministre de la Culture et de la Communication] doit renoncer à jeter des fleurs sur la mémoire de Céline, comme François Mitterrand a été obligé à ne plus déposer de gerbe sur la tombe de Pétain. 11 Als daraufhin der in Folge von den Célinisten als „ministre de la censure“ 12 kritisierte ministre de la Culture die bête noire aus dem Recueil des célébrations nationales strich, war die Polemik perfekt. An Céline, „[qui] se tient soigneusement à l’écart de la collaboration officielle“ 13 , so Henri Godard, emeritierter Professor der Universität Paris-IV-Sorbonne und Herausgeber des Céline’schen Œuvre in der Bibliothèque de la Pléiade, scheiden sich die Geister. Hatte Iris Radisch am 27. Januar 2011 in der ZEIT das „Monster Céline“ als „unverdaulich“ deklariert und argumentiert: „Die Eingemeindung des großen Autors unter Nichtbeachtung von seinen Nachtseiten ist unmöglich. Die unter Berücksichtigung seines Antisemitismus aber auch. Es gibt keinen genialen Mister Jekyll, der unabhängig vom rassistischen Mister Hyde agierte“ 14 , befand Jürg Altwegg in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung doch gerade: „Als Anerkennung seiner Bedeutung ist die Präsenz auf der Liste der nationalen Gedenktage, die keine Ehrenlegion für moralische Verdienste ist, kein Skandal.“ 15 Bereits 1985 hatte der Le Monde-Literatur- 9 Radisch, Iris: „Keine Ehrung für Rassisten: Das Monster Céline bleibt unverdaulich“. In: Die ZEIT, 27. 1. 2011, S. 46. Ausf. zu Céline s. Kp. 1.4.6 10 Der jüdische Historiker und Jurist Serge Klarsfeld (*1935), u.a. Verfasser von Vichy- Auschwitz: le rôle de Vichy dans la solution finale de la question juive en France (1983/ 85), und seine Frau Beate Klarsfeld (*1939) wurden durch ihren Einsatz bei der Verfolgung von NS-Kriegsverbrechern wie bspw. Klaus Barbie (1913-1991), dem ehemaligen deutschen Gestapo-Chef von Lyon, bekannt. 11 Der Schauspieler und Regisseur Frédéric Mitterrand (*1947), Neffe des von 1981 bis 1995 amtierenden sozialistischen Staatspräsidenten François Mitterrand (1916-1996), wurde 2009 zum Ministre de la Culture et de la Communication ernannt. S. „[Polémique autour de Céline] Le texte intégral de Serge Klarsfeld“, 20. 1. 2011, http: / / bibliobs. nouvelobs.com/ actualites/ 20110120.OBS6593/ polemique-autour-de-celine-le-texteintegral-de-serge-klarsfeld.html (letzter Zugriff am 12. 8. 2011). 12 Beuve-Méry, Alain; Wieder, Thomas: „Frédéric Mitterrand fait volte-face et écarte Céline des célébrations de 2011“. In: Le Monde, 23./ 24. 1. 2011, S. 21. 13 Zitat aus der von Godard ursprünglich für die Broschüre der Célébrations nationales verfassten Würdigung Célines, wiedergegeben unter der Überschrift „Exclure Louis- Ferdinand Céline? “ in der Rubrik „Débats“ in: Le Monde, 25. 1. 2011, S. 19. 14 Radisch, Iris: „Keine Ehrung für Rassisten“. Vgl. auch Kéchichian, Patrick: „Il faut s’opposer à la célébration d’un auteur antisémite“. In: Le Monde, 25. 1. 2011, S. 19. 15 Altwegg, Jürg: „Kein Gedenken für Céline“. In: FAZ, 25. 1. 2011, S. 32. Mit ähnlichen Argumenten verteidigte in Frankreich Godard in Reaktion auf die Streichung des „écrivain à deux faces“ von der Liste der Jubilare „[l]a création artistique [qui], quand elle est authentique, constitue par elle-même un ordre qui ne se confond pas avec les <?page no="17"?> 17 kritiker Bertrand Poirot-Delpech das durch den im positiven wie auch im negativen Sinne sprachgewaltigen 16 Schriftsteller verkörperte unlösbare Dilemma wie folgt auf den Punkt gebracht: „‚La cause est entendue: Céline est génial. La cause est entendue: Céline est abject (…) Depuis que Céline est mort, nous tournons fous dans ce débat entre esthétique et morale’“. 17 Dass diese Zwickmühle durch Umtaufen der ministerialen Broschüre in Recueil des commémorations nationales weniger verzwickt gewesen wäre, erscheint fragwürdig. 18 Vergleichsweise leise hingegen fielen im April 2012 die prophezeiten „cris d’orfraie“ aus, als der „écrivain collabo“ Pierre Drieu la Rochelle - seines Zeichens Faschist, Antisemit und „styliste hors pair“, der nach der französischen Niederlage im Herbst 1940 die Leitung der berühmten Literaturzeitschrift La Nouvelle Revue Française (NRF) übernommen hatte - „enfin toute sa place dans la Pléiade“ fand „à condition de ne pas ployer sous le poids du mythe romantique et vénéneux et […] de ne jamais dissocier son esthétique de son idéologie, ni de laisser l’une éclipser l’autre.“ 19 autres ordres de valeurs, notamment pas avec la morale.“ Dass der Künstler dem moralischen Imperativ enthoben sei, verneinte wiederum der ehemalige stellvertretende Chefredakteur von Le Monde des livres Patrick Kéchichian, „car il y a unité de la personne de l’homme et de l’écrivain. Refuser cette séparation, c’est d’ailleurs une manière de respecter l’écrivain, d’envisager sa parole comme intégralement responsable et son œuvre comme un ensemble cohérent.“ Vgl. „Exclure Louis-Ferdinand Céline? “ Weiterführend s. die Diskussion Godards und Kéchichians vom 19. 2. 2011 zum Thema „Céline et nous“ in der samstäglichen Radiosendung Répliques des Philosophen Alain Finkielkraut auf France Culture: „Répliques par Alain Finkielkraut: Céline et nous“, 19. 2. 2011, http: / / www.franceculture.com/ emission-repliques-celine-etnous-2011-02-19.html (letzter Zugriff am 2. 8. 2011). 16 Zu dem gegen Céline ebenso wie Ernst Jünger erhobenen Vorwurf der Gewaltverherrlichung und dem „Konzept der ‚gewaltsamen Sprache’ […] und ihre behauptete Nähe zur Gewaltsamkeit“, vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: „Zauberer Merlin beschimpft den Stabsoffizier. Louis-Ferdinand Céline und Ernst Jünger: Der Schriftsteller und die Körpererfahrungen im Ersten Weltkrieg“. In: FAZ, 13. 7. 2000, S. 56. 17 Beuve-Méry, Alain; Wieder, Thomas: „Frédéric Mitterrand fait volte-face et écarte Céline des célébrations de 2011“, Kursivierung im Text. 18 Die Umbenennung zieht der Historiker Jean-Noël Jeanneney, Mitglied des zwölfköpfigen Komitees, das alljährlich über die von einer Kommission des Kultusministeriums erbrachten Vorschläge berät, in Erwägung. 2009 hatte dieses Gremium den Vorschlag, Brasillach zu seinem hundertsten Geburtstag zu ehren, abgelehnt. S. Ebd. 19 Assouline, Pierre: „Drieu sur papier bible“, 20. 4. 2012, http: / / passouline.blog. lemonde.fr/ 2012/ 04/ 20/ drieu-sur-papier-bible/ (letzter Zugriff am 22. 4. 2012), Hervorhebung BB. Wie bereits dem Titel der 1.936 Seiten umfassenden Ausgabe zu entnehmen ist (Pierre Drieu la Rochelle: Romans, Récits, Nouvelles, Collection Bibliothèque de la Pléiade (N° 578), 2012), wurden die politischen Essays (u.a. Socialisme fasciste, 1934; Avec Doriot, 1937) nicht berücksichtigt. Vgl. weiterführend das Dossier von France Inter mit einem Interview des Herausgebers der Drieu’schen Pléiade-Edition Jean-François Louette: „Dossier: Drieu la Rochelle dans la Pléiade“, 10. 4. 2012, http: / / www.franceinter.fr/ dossier-drieu-la-rochelle-dans-la-pleiade (letzter Zugriff am 22. 4. 2012). Ausf. zu Drieu la Rochelle s. auch Kp. 1.4.3. <?page no="18"?> 18 Die „Fälle“ Ramon Fernandez, Louis-Ferdinand Céline und Pierre Drieu la Rochelle führen eindrücklich vor Augen, dass auch mehr als sechzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs der „Verrat der Intellektuellen“, so der deutsche Titel von Julien Bendas 20 (1867-1956) kulturkritischem Essay aus dem Jahre 1927, ein sensibles und hochaktuelles Thema ist. Noch immer wirft die Kollaboration ihren „Schatten“ auf Frankreich, der in dem zum „Co-Immortel“ beschworenen Ramon Fernandez eindrücklich Gestalt angenommen hat. Beredter Ausdruck hierfür ist die Kontroverse um die Foto-Ausstellung Les Parisiens sous l’Occupation, die von März bis Juli 2008 in der Bibliothèque historique de la ville de Paris (BHVP) zu sehen war. 21 270 bisher unveröffentlichte Farbfotografien aus den Jahren 1941 bis 1944, aufgenommen von dem französischen Fotojournalisten und Korrespondenten der Propagandazeitschrift Signal André Zucca 22 (1897-1973), zeigten ein mit der als „années noires“ apostrophierten Besatzung Frankreichs durch NS- Deutschland inkompatibles Bild, nämlich das eines trotz Okkupation verstörend schönen Paris in Farbe, das „auf eine geradezu unanständige Weise“ lebte 23 : „Überfüllte Pariser Caféterrassen im hellen Sonnenlicht, bunte 20 Der Essay La Trahison des clercs des jüdischen Philosophen, Schriftstellers und „dreyfusard“ erschien zwischen August und November 1927 in der NRF. Im Verlauf der Epuration (vgl. Kp. 1.2) zeigte sich Benda unversöhnlich: „‚J’admets qu’on exalte les œuvres de Béraud, Maurras, Brasillach (en tant qu’elles ne prêchent pas la trahison), cependant qu’on les fusille comme collaborateurs.’“ (Les Lettres françaises, 2. 10. 1947). Prochasson, Christophe: „Julien Benda“. In: Juillard, Jacques; Winock, Michel (Hgg.): Dictionnaire des intellectuels français, S. 158-159, hier S. 158f. Zu Benda s. auch Kp. 1.4.4. 21 Begleitend zur Ausstellung erschien ein Katalog, versehen mit einem Vorwort von Jean-Pierre Azéma: Baronnet, Jean: Les Parisiens sous l’Occupation: Photographies en couleurs d’André Zucca. Préface de Jean-Pierre Azéma. Paris: Gallimard, Paris Bibliothèques, 2008. 22 Zur Biografie des im Oktober 1944 kurzzeitig wegen Kollaboration verhafteten Zucca, den Azéma als „individualiste forcené“, „à sa manière un anar de droite, qui n’était pas alors germanophobe“ charakterisiert, vgl. Azéma, Jean-Pierre: Préface. In: Baronnet, Jean: Les Parisiens sous l’Occupation, S. 5-11, hier S. 7. Knapp und, wie es die Wahl der Überschrift ahnen lässt, wenig kritisch fällt Nicole Zuccas Kurzbiografie ihres Vaters aus. Zucca, Nicole: Biographie d’André Zucca (1897-1973), self-mademan et chasseur d’images. In: Ebd.: S. 174. 23 Ritte, Jürgen: „Die dunklen Jahre in Agfacolor: Eine Fotoausstellung über Paris unter deutscher Besatzung“. In: NZZ, 16. 4. 2008, S. 46. Zucca war der einzige französische Fotograf, dem die deutsche Besatzungsbehörde in Paris die neueste technische Errungenschaft, den Agfacolor-Film, der gute Lichtverhältnisse erforderte, zur Verfügung stellte. Strahlender Sonnenschein und die Wahl der Sujets vermitteln „den Anschein von Heiterkeit und ungebrochener Lebensfreude“ - Willms zufolge eine aufgrund der „irgendwie fatal nostalgisch und verklärend wirkenden Farbaufnahmen“ „gefälschte Normalität“, oder aber, so Ritte kritischer, „[e]ine ‚Normalität’, die lange Zeit nicht zum französischen Selbstbild als kämpfende Nation passen wollte, eine Normalität auch, die Zucca als bunte Kulisse vor jene andere Wirklichkeit <?page no="19"?> 19 Strassenszenen im Arbeiterviertel von Belleville, Badende am Seine-Ufer, hübsche junge Damen in eleganten Roben auf der Pferderennbahn von Longchamp - auch das war Paris in den Jahren unter deutscher Besatzung.“ 24 Diese einseitige Zurschaustellung der von der deutschen Propaganda bewusst kolportierten „Leichtigkeit des [Pariser] Seins“ 25 , einhergehend mit der als ungenügend monierten historisch-politischen Kommentierung durch Ausstellungskommentare und Bildlegenden, die den frappierend (farben-)frohen Eindruck zurechtgerückt hätten, löste eine lebhafte Polemik aus: Während Kritiker die „‚exposition light et glamour‘“ verurteilten, die Zucca in einen Robert Doisneau 26 der Besatzungszeit verwandle, lobten Befürworter dieses „‚témoignage précieux et inédit‘“. 27 Vielleicht war es zudem „[d]as banale Gesicht des Bösen“, das auf den Fotos dokumentierte Nebeneinander „ganz ‚normaler‘ - und realer - Täter (ein xbeliebiger Wehrmachtssoldat) neben ganz ‚normalen‘ Pariser Bürgern in schiebt, in der Hunger herrschte, in der Menschen verfolgt und deportiert wurden.“ Willms, Johannes: „Die unwirklichen Jahre: Farbphotographien von André Zucca zeigen Paris während der deutschen Besatzung“. In: SZ, 14. 4. 2008, S. 12; Ritte, Jürgen: „Die dunklen Jahre in Agfacolor“. 24 Ders.: „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins: Wirbel um eine Pariser Ausstellung zu den Jahren der Besatzung“. In: NZZ, 16. 5. 2008, S. 47. 25 So der unter Anspielung auf Milan Kunderas Roman aus dem Jahre 1984 gewählte Titel von Rittes obig zitiertem Artikel. 26 Zu dem Pariser Fotografen Robert Doisneau (1912-1994), den die (romantischen) Schwarz-Weiß-Aufnahmen seiner Heimatstadt (darunter die legendäre Aufnahme Le Baiser de l‘Hôtel de Ville aus dem Jahr 1950) berühmt machten, vgl. bspw. Stüben, Björn: „Ehrliche Milieustudien vom Paris der 50er: Vor 100 Jahren wurde der französische Fotograf Robert Doisneau geboren“, 14. 4. 2012, http: / / www.dradio.de/ dkultur/ sendungen/ kalenderblatt/ 1728065/ (letzter Zugriff am 3. 6. 2012). 27 Zit. in Guerrin, Michel: „La photo, la propagande et l’histoire“. In: Le Monde, 27./ 28. 4. 2008, S. 2, Kursivierung im Text. Guerrin betont in diesem Kontext die Komplexität und vielfältige Instrumentalisierbarkeit von Fotografien, schlussfolgernd: „[I]l est impossible de rester neutre ou passif devant des images qui ne le sont pas.“ Aufschlussreich sind Guerrins Hinweise auf eine bereits Anfang 2000 geplante Zucca-Ausstellung, die aufgrund von Divergenzen zwischen Nicole Zucca sowie Mitarbeiterinnen der BHVP und des Centre national de la recherche scientifique (CNRS) hinsichtlich der Gewichtung von Zuccas kollaborationistischem Engagement nicht realisiert wurde. Ders.: „Comment a échoué une exposition critique des photos de Paris occupé“. In: Le Monde, 25. 4. 2008, S. 24 sowie Ders.: „La photo, la propagande et l’histoire“. Nur ein Jahr nach der Ausstellung erschien im Sommer 2009 bei Découvertes Gallimard La vie culturelle dans la France occupée: Nicht nur den Einband ziert eine Farbfotografie des nicht als Signal-Fotograf ausgewiesenen Zucca, auch der Prégénérique mit dem Titel „Moments de vie culturelle dans Paris occupé: la vision d’André Zucca“ besteht aus fünf, davon vier doppelseitigen, kommentarlos abgedruckten Zucca-Aufnahmen, deren Interpretation dem Leser anheimgestellt bzw. zugetraut wird. Barrot, Olivier; Chirat, Raymond: La vie culturelle dans la France occupée. Paris: Gallimard (Découvertes Gallimard, Histoire; 548), 2009. Vgl. hierzu auch Kp. 2. <?page no="20"?> 20 einer ganz ‚normalen‘ Alltagssituation“, das die Gemüter erregte. 28 Doch schon Jean-Paul Sartre (1905-1980) hatte 1945 geschrieben: „Il faut d’abord nous débarrasser des images d’Epinal: non, les Allemands ne parcouraient pas les rues, l’arme au poing“. 29 Von der im Affekt avisierten Schließung der Ausstellung sah die Stadt Paris dennoch ab und händigte stattdessen den Besuchern ein vor fälschlichen Rückschlüssen „warnendes“ Informationsblatt (Avertissement) aus - „De ces images sont généralement bannis la souffrance, l’exclusion, le malheur. On n’y voit guère non plus les manifestations ou les traces de l’opposition à l’Occupation, de la répression des rafles de juifs.“ - , nicht ohne den dokumentarischen Stellenwert der Fotografien des „esthète germanophile“ zu betonen. 30 Augenfälligstes Resultat der hitzigen Debatten 28 So Rittes Hypothese angesichts des „Kuriosums“ des enormen Aufsehens um die Pariser Ausstellung, während doch nur kurz zuvor Jonathan Littells Schilderung der monströsen Lebensbeichte des fiktiven SS-Offiziers und multiplen Mörders Dr. Max Aue in Frankreich begeistert rezipiert worden war (Les Bienveillantes, 2006, Prix Goncourt und Grand Prix du Roman der Académie française). Diese Gegenüberstellung bedarf indes der Relativierung, handelt es sich doch bei Littells Werk um „Fiktion“, bei Zuccas Fotografien um, wenngleich nur eine, dafür aber direkt anschaubare „Realität“ mit Zeugnischarakter. Ritte, Jürgen: „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“. Zur deutschen Rezeption von Littells Roman vgl. bspw. die von der FAZ im Februar 2008 initiierte Diskussion via Internet Reading Room mit renommierten Vertretern aus den Geschichts- und Literaturwissenschaften, unter ihnen der Freiburger Romanistik-Professor Frank-Rutger Hausmann, ausgewiesener Kenner der Rolle (sowie der Akteure) der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933-1945 (2002), und Helmuth Kiesel, Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Heidelberg (u.a. Ernst Jünger: Die Biographie, 2007). Vgl. die Ankündigung: „Ein Holocaust- Roman, wie es ihn noch nie gegeben hat? Acht Experten eröffnen heute im F.A.Z. Reading Room im Internet die Diskussion um Jonathan Littells ‚Die Wohlgesinnten‘ - Wir stellen die Beteiligten vor“. In: FAZ, 4. 2. 2008, S. 40. S. auch „Frankfurter Allgemeine Lesesaal: Jonathan Littell ‚Die Wohlgesinnten’“, http: / / lesesaal.faz.net/ littell/ (letzter Zugriff am 14. 8. 2011). 29 Sartre, Jean-Paul: Paris sous l’Occupation. In: Ders.: Situations III: Lendemains de guerre. Paris: Gallimard, 1949, S. 15-42, hier S. 18. Wenngleich Sartre, so Azéma präzisierend, das eben aus diesem Grund schlechte Gewissen der Franzosen thematisierte, sei dies nicht „la tasse de thé d’un Zucca“ gewesen. Azéma, Jean-Pierre: Préface. In: Baronnet, Jean: Les Parisiens sous l’Occupation, S. 8. 30 So der Wortlaut des Anfang April als Reaktion auf die Kontroverse in mehrere Sprachen übersetzten, mir vorliegenden Avertissement der Mairie de Paris, wobei es sich um eine Zusammenfassung von Jean-Pierre Azémas Vorwort zum Ausstellungskatalog handelt. S. Mairie de Paris: Avertissement. [Paris: 2008], o.S., Hervorhebung BB. Zudem veranlasste der Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoë eine Reihe ausstellungsbegleitender Vorträge und Diskussionsveranstaltungen, u.a. mit den renommierten Historikern und ausgewiesenen Vichy- und Besatzungszeit-Spezialisten Jean-Pierre Azéma und Pascal Ory zu Themen wie La photographie est-elle un bon témoin de l’histoire? (31. 5. 2008) oder Vérité des images, vérité de l’occupation (9. 6. 2008). S. „Dispositif d’information des visiteurs de l’exposition ‚Des Parisiens sous l’Occupation’“, 25. 4. 2008, http: / / www.paris.fr/ accueil/ Portal.lut? portal_component= <?page no="21"?> 21 war jedoch neben der Entfernung der Ausstellungsplakate die Veränderung des Titels in Des Parisiens sous l’Occupation. An die Stelle des schockierend konkreten, fast spürbar deiktischen bestimmten Artikels, trat als „différance“ 31 im Sinne Jacques Derridas der indefinite, der qua Definition auf eine unbestimmte, diffuse, doch eingeschränkte Anzahl von Parisern unter der Besatzung hinwies: „Il s’agit là d’un témoignage saisissant d’une certaine vision de la vie quotidienne de certains Parisiens pendant les années noires, de l’Occupation à la Libération.“ 32 Der durch Zuccas Aufnahmen gerade nicht offensichtlich selektive Eindruck eines unrühmlichen, kollektiven Arrangements der Besetzten mit den Besatzern sollte auch durch die unübersehbare Modifizierung des Titels von „den“ Parisern abgewendet werden. Indes stellt sich die Frage der Relation: Ist es allein die unzulängliche wissenschaftliche Ausstellungskonzeption und -präsentation, die Ausdruck der bis heute währenden Weigerung ist, sich grundlegend mit allen Facetten der Besatzungszeit und der Kollaboration auseinanderzusetzen - oder nicht auch das Ausmaß der Empörung? 33 „[Q]uelle est la part de vérité renfermée par ces images? “ fragt ebenfalls die Germanistin und Philosophin Cécile Desprairies in ihrer jüngsten Neuerscheinung Sous l’œil de l’occupant: La France vue par l’Allemagne 1940-1944 (2010), in der sie Fotografien der NS-Propagandakompanien im besetzten Frankreich in Augenschein nimmt. Die Offenlegung ihrer Inszenierung führt zur bedeutsamen Präzisierung der Leitfrage: „La question n’est donc peut-être pas tant celle de la véracité que la façon dont ces photos nous 17&page_id=1&elected_official_directory_id=-1&document_id=52965 (letzter Zugriff am 2. 8. 2011). 31 So der Hinweis Kneißls, die zudem zu Recht bemerkte, dass mangels alternativer, wirkungsvoll konterkarierender Aufnahmen oder Dokumente die (kritische) Interpretation alleinig dem Betrachter überlassen und folglich „der Unterschied zwischen den beiden Lesarten der Ausstellung [...] letztlich doch nur ein rein grafischer [blieb].“ Kneißl, Daniela: Ausstellungs-Rezension zu Des Parisiens sous l’occupation 20.03.2008-01.07.2008, Bibliothèque historique de la ville de Paris. In: H-Soz-u-Kult, 14. 6. 2008, http: / / hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ rezensionen/ id=99&type= rezausstellungen (letzter Zugriff am 2. 8. 2011), Hervorhebung BB. 32 Der zum damaligen Zeitpunkt auf der Homepage der Stadt Paris einzusehende Text, dem dieses Zitat entstammt (http: / / www.paris.fr, letzter Zugriff am 28. 3. 2009), ist nicht mehr online, deswegen sei verwiesen auf dessen Wiedergabe unter „André Zucca: Les Parisiens sous l’occupation“, 5. 10. 2011, http: / / www.actuphoto.com/ 7683-andre-zucca-les-parisiens-sous-l-occupation.html (letzter Zugriff am 22. 4. 2012). 33 Ersteres ist das in eine rhetorische Frage gekleidete Fazit Guerrins (La photo, la propagande et l’histoire), Zweitgenanntes konkludiert Hanimann, demzufolge Frankreich „noch viel Zeit [brauche], um seiner Geschichte wirklich ins Gesicht zu sehen.“ Zuccas Bilder seien ein weiterer Beleg dafür, dass sich die Wirklichkeit „im weiten Zwischenraum zwischen Résistance und Vichy“ abgespielt habe. Hanimann, Joseph: „Die Sonne scheint auch in finsteren Jahren: Eine Pariser Ausstellung mit Fotografien aus der Besatzungszeit empört Frankreich“. In: FAZ, 25. 4. 2008, S. 37. Vgl. auch Kneißls bereits zitierte Ausstellungs-Rezension zu Des Parisiens sous l’occupation. <?page no="22"?> 22 parlent.“ 34 Plakative, „laute“ Schwarz-Weiß-Aufnahmen reihen sich in diesem „album riche, étonnant, détonnant“ 35 neben subtile, „leise“. Während die Kamera des deutschen Propagandafotografen die betont fröhlichen Gesichter miteinander scherzender, in Waffenbrüderschaft vereinter französischer Soldaten der Légion des volontaires français contre le bolchevisme (LVF) und von Wehrmachtssoldaten einfängt, fokussiert „l’œil de l’occupant“ andernorts folgende an eine Holztür angebrachte handschriftliche Bekanntmachung: „Das Schloss von Fontainebleau ist unter den Schutz der deutschen Ehre gestellt.“ - datierend vom 16. Juni 1940, d.h. zwei Tage nach dem deutschen Einmarsch in Paris, niedergeschrieben und unterzeichnet vom Direktor des Museums Charles Terrasse, ausgewiesener Kunsthistoriker sowie Verfasser von Biografien und Werkanalysen zu Albrecht Dürer (1935/ 36) und Holbein (1936). 36 Retrospektiv wirkt die Schlichtheit des Aushangs, die stilistische Eleganz und sprachliche Korrektheit umso bedrückender, als die Besatzungswirklichkeit diese sich auf den militärischen Ehrenkodex beziehende Ankündigung als Phrase ent- 34 So Desprairies (*1957) in der nicht nummerierten, vier Seiten umfassenden Einleitung, in der sie die doppelte Zielsetzung der Fotografien der Propagandakompanien (1941/ 42: 12-13.000 Mann) unter dem Kommando General Hasso von Wedels (Die Propagandatruppen der deutschen Wehrmacht, 1962) betont: Ermutigung der deutschen Truppen und Entmutigung der Besetzten. Desprairies, Cécile: „Introduction“. In: Dies.: Sous l’œil de l’occupant: La France vue par l’Allemagne 1940-1944. Paris: Armand Colin, 2010, o.S., Hervorhebung BB. Ausf. s. auch Barkhausen, Hans: Filmpropaganda für Deutschland im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Hildesheim u.a.: Olms Presse, 1982, insb. S. 192-243. 35 Vgl. die Besprechung von Cariguel, Olivier: „Cécile Desprairies Sous l’œil de l’occupant.“ (Rezension). In: Revue des deux mondes (janvier 2011), S. 186-187, hier S. 187. 36 „Soldat français, soldat allemand, même combat“, fotografiert im Mai 1942 in Metz von Hanns Hubmann; „Le message du château de Fontainebleau“, fotografiert am 8. 7. 1940 in Fontainebleau, wahrscheinlich von Heinz Fremke. Vgl. Desprairies, Cécile: Sous l’œil de l’occupant, der Reihe nach S. 94-95 und 48-49. Zur LVF s. auch Kp. 1.3. Sous l’œil de Vichy könnten komplementär zu Desprairies Album die Aufnahmen der propagandistisch inszenierten Relève, welche die Rückführung eines französischen Kriegsgefangenen im „freiwilligen“ Austausch gegen drei französische Facharbeiter für Deutschland vorsah, am Bahnhof von Compiègne genannt werden: Am 11. 8. 1942 kehrten die ersten aus der Kriegsgefangenschaft entlassenen Franzosen in ihre Heimat zurück, während als Gegenleistung ein Zug „freiwilliger“ französischer Arbeitskräfte zur Abfahrt nach Deutschland bereit stand. Um Lavals Verdienst an diesem Vorzeigeergebnis der erfolgreichen Kollaborationspolitik nicht zu schmälern, verbot die Vichy-Zensur die Veröffentlichung der Fotografien, auf welchen neben dem Regierungschef Vertreter der deutschen Besatzungsmacht zu sehen waren. Maréchal, Denis: Un autre regard sur le fonds photographique de Vichy, la Relève, au filtre de la propagande. In: Images de la France de Vichy 1940-1944: Images asservies et images rebelles. Textes de Denis Peschanski, Yves Durand, Dominique Veillon, Pascal Ory, Jean-Pierre Azéma, Robert Frank, Jacqueline Eichart, Denis Maréchal. Paris: La Documentation Française, 1988, S. 249-253. <?page no="23"?> 23 larvte. 37 Thront hierüber bewusst, quasi als Versinnbildlichung des Machtgefälles zwischen Sieger und Besiegtem, das - der NS-Bürokratie gemäß - maschinengeschriebene und von einem deutschen Major und Kommandanten abgezeichnete Zugangsverbot? Hinter dieser Tür, an diesem geschichtsträchtigen Ort, an dem Napoleon I. (1769-1821) am 6. April 1814 seine Abdankung erklären musste, hatte nunmehr auch die französische Kultur dem deutschen Besatzer das Feld zu räumen. „Schutz“ und „Ehre“ wurden dem usurpierten und in der Folge geplünderten Königsschloss keineswegs zuteil. Gleichsam als Negativ zu diesen propagandistischen Bildern sowie zu Zuccas positivem Paris der Nazizeit präsentiert Desprairies in Form eines weiteren Fotoalbums Schlüssel- und „Erinnerungsorte“ 38 der Kollaboration in der Capitale. In Ville lumière, années noires: les lieux du Paris de la Collaboration (2008) ist die dunkle Kehrseite der Lichterstadt auf 140 aus der Okkupationszeit datierenden, oftmals unveröffentlichten Aufnahmen insbesondere von Gebäuden - oder ihren Liegenschaftsplänen - zu sehen, hinter deren Fassaden mit dem deutschen Besatzer kollaboriert wurde: „La mémoire des pierres est âpre. Ici, pas de soleil. Plutôt la face cachée de la lune.“ 39 Aus dem Erstaunen, dass „in plaque-happy Paris“ 40 , der von Gedenktafeln geradezu übersäten Metropole, die düstere Vergangenheit der Kollaborationsorte zumeist verschwiegen wird, als hieße es den ehedem 37 Laut Unterlagen des Bundesarchiv-Militärarchivs Freiburg war die dem Militärbefehlshaber Frankreich unterstellte Kreiskommandantur 781 vom 25. 11. 1940 bis 10. 6. 1942 in Fontainebleau einquartiert. S. Tessin, Georg: Verbände und Truppen der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS im Zweiten Weltkrieg 1939-1945. Bd. 16. Verzeichnis der Friedensgarnisonen 1932-1939 und Stationierungen im Kriege 1939- 1945, bearb. von Christian Zweng. Teil 4: Besetzte Gebiete Nord, West, Süd. Osnabrück: Biblio Verlag, 1997, S. 59. 38 In Anlehnung an Pierre Noras Metapher der „lieux de mémoire“, der in dem sieben Bände umfassenden gleichnamigen Werk „‚eine in die Tiefe gehende Analyse der ‚Orte’ in allen Bedeutungen des Wortes’“ vornahm, „‚in denen sich das Gedächtnis der Nation Frankreich in besonderem Maße kondensiert, verkörpert oder kristallisiert hat.’“ Etienne François und Hagen Schulze übertrugen Noras Konzept auf Deutschland und edierten die Deutschen Erinnerungsorte in drei Bänden. François, Etienne; Schulze, Hagen: Einleitung. In: Dies. (Hgg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 1. Broschierte Sonderausgabe. München: C. H. Beck, 2003, S. 9-24, hier S. 15f. 39 S. Assouline, Pierre: Le sombre génie des lieux. In: Desprairies, Cécile: Ville lumière, années noires: les lieux du Paris de la Collaboration. Paris: Denoël, 2008, S. 15-20, hier S. 15. Alle Gebäude, deren Fotografien u.a. aus dem Bundesarchiv in Koblenz stammen, sind mit einem Hinweis auf ihr „Leben“ vor, während und nach der Besatzung versehen. Zu Konzeption und Quellen vgl. die einleitenden Bemerkungen der Verfasserin: Desprairies, Cécile: Introduction. In: Dies.: Ville lumière, années noires, S. 21-24, hier S. 22f. 40 Der Rezensent unterstreicht nicht nur Desprairies’ historisches, sondern auch therapeutisches Bemühen im Umgang mit den dunklen Jahren der Lichterstadt. Rosbottom, Ronald C.: „Cécile Desprairies Ville lumière, années noires“ (Rezension). In: French Review 83/ 2 (Dezember 2009), S. 431-432, hier S. 431. <?page no="24"?> 24 unheilvollen genius loci geheim zu halten, gingen Desprairies Publikationen hervor. 41 Wer weiß oder möchte heute noch daran erinnert werden, dass sich in dem 1941 von den Nationalsozialisten requirierten Hôtel particulier des jüdischen Gemäldehändlers Paul Rosenberg in der 21 rue La Boétie (8 e ) das Institut d’étude des questions juives (gegründet im Mai 1941, ab März 1943 mit dem Zusatz et ethno-raciales) befand, Sammelbecken antijüdischer Denunzierungsschreiben und Organisationsstätte der antisemitischen Propaganda-Ausstellung Le Juif et la France? 42 „Les façades haussmanniennes sont [...] des déclics de la mémoire. La pierre de taille agit comme une madeleine“, so Assoulines proustisch inspirierter Vergleich, doch „[q]ui a envie qu’on lui rappelle les mauvais souvenirs? Certainement pas les successeurs. Ni personne.“ 43 Verzeichnet und somit der Vergessenheit entrissen werden auch „Leerstellen“ wie das im Jahre 1993 abgerissene Hôtel d’Albe auf den Champs-Élysées, unter dessen Dach nicht nur die Deutsche Arbeitsfront residierte, sondern auch die Redaktion der antisemitischen Kollaborationszeitung Au Pilori, die den pathologischen Diatriben Célines ein Forum bot, und an dessen Standort nunmehr ein feudales Art Déco-Gebäude steht, in dem seit 2005 das glamouröse Luxuslabel Louis Vuitton logiert. 44 Es sind nicht nur die Bücher Desprairies’, die einen Eindruck davon vermitteln „pourquoi ce passé passe si mal“, so der Journalist des Nouvel Observateur Laurent Lemire angesichts der jüngsten Veröffentlichungen über die Kollaboration und Epuration unter Anspielung auf Eric Conans und Henry Roussos Studie Vichy, un passé qui ne passe pas (1994). 45 Wort- 41 Von Serge Klarsfeld in seinem Vorwort als Referenzwerk gelobt, stellt Desprairies folgende über 600 Seiten umfassende Veröffentlichung mit dem Titel Paris dans la Collaboration (2009) eine nach den Arrondissements geordnete Inventarisierung der von der deutschen Besatzungsmacht okkupierten bzw. requirierten Gebäude und Wohnungen dar, u.a. bebildert mit Fotografien der deutschen Propaganda sowie versehen mit zahlreichen Zitaten aus der deutschen und französischen Literatur. Desprairies, Cécile: Paris dans la Collaboration. Préface de Serge Klarsfeld. Paris: Editions du Seuil, 2009. Vgl. auch die Vorstellung beider Werke durch Galster, Ingrid: „Auf der Suche nach der Wahrheit“. Zu der für die französische Hauptstadt typischen Huldigung des „‚Génie du lieu’“ äußert sich Ritte im Rahmen der Rezension von Alain Dautriats Paris-Stadtführer (Sur les murs de Paris…: Guide des plaques commémoratives, 1999) via 1.347 Gedenktafeln als Wegmarken vornehmlich der französischen Republik. Ritte, Jürgen: „Sur les murs: Gedenktafeln als Pariser Stadtführer“. In: NZZ, 26. 11. 1999, S. 66. 42 Desprairies, Cécile: Ville lumière, années noires, S. 176f. S. auch Dies.: Paris dans la Collaboration, S. 258; Dies.: Sous l’œil de l’occupant, S. 102f. Besagte Ausstellung war von September 1941 bis Januar 1942 im Palais Berlitz zu sehen. 43 Assouline, Pierre: Le sombre génie des lieux, S. 15 und 20. 44 Vgl. den Liegenschaftsplan in Desprairies, Cécile: Ville lumière, années noires, S. 150. 45 Lemire, Laurent: „De la collaboration à l’épuration: Une France très occupée“. In: Le Nouvel Observateur, N° 2477, 26. 4. 2012, S. 116. Lemire (*1961) bezieht sich auf folgende Publikationen aus der Feder amerikanischer, deutscher und französischer Au- <?page no="25"?> 25 spielerisch pointiert fällt sein Resümee über das „okkupierte“ Frankreich aus: „On a cru vider son sac mais il reste toujours quelques secrets au fond. Pendant quatre ans, la France fut très occupée, en effet. A survivre d’abord, à croire en Pétain dans un premier temps, à résister peu à peu, à régler ses comptes ensuite et à s’en remettre très difficilement.“ 46 Das Interesse an der Okkupation und der Kollaboration führt weit über die französischen Landesgrenzen hinaus. Von April bis Juli 2009 zog eine unter Federführung des Institut Mémoires de l’édition contemporaine (IMEC) in Caen konzipierte und dem literarischen Leben Frankreichs zur Zeit der NS-Besatzung gewidmete Ausstellung mehr als 100.000 Besucher in die New York Public Library: Die unter Mitwirkung Robert O. Paxtons, Emeritus der Columbia University sowie renommierter Vichy- und Faschismus-Spezialist (Vichy France: Old guard and new order, 1940-1944, 1972), kuratierte Ausstellung hielt mit hunderten von Dokumenten und Exponaten der dreißiger bis fünfziger Jahre aus Archiven internationaler Leihgeber Rückschau auf das Verhalten und Wirken französischer Schriftsteller, Journalisten und Verleger im weiten Spektrum „[b]etween Collaboration and Resistance“. 47 toren: Alan Riding Et la fête continue: La vie culturelle à Paris sous l’Occupation (2012, engl. Original: And the show went on: cultural life in Nazi-occupied Paris, 2010), Jean- Pierre Azéma L’Occupation expliquée à mon fils (2012), August von Kageneck La France occupée (2012), Jean-Marc Berlière et Franck Liaigre Ainsi finissent les salauds: séquestrations et exécutions clandestines dans Paris libéré (2012). 46 Ebd. 47 Der vollständige Ausstellungstitel lautete Between Collaboration and Resistance, French Literary Life under Nazi Occupation, 1939-1945. Vgl. den mit rund 650 Dokumenten, darunter zahlreiche Fotografien und Faksimiles oftmals unveröffentlichter Privatkorrespondenzen und Tagebücher, reich bestückten französischsprachigen Ausstellungskatalog (446 Seiten): Paxton, Robert O.; Corpet, Olivier; Paulhan, Claire: Archives de la vie littéraire sous l’Occupation: À travers le désastre. Ce livre est réalisé à l’occasion de l’exposition présentée sous le titre Between Collaboration and Resistance, French Literary Life under Nazi Occupation, 1939-1945 à la New York Public Library (NYPL), d’avril à juillet 2009. Une première version de cette exposition a été présentée sous le titre A travers le désastre, la vie littéraire française sous l’Occupation, au Mémorial de Caen, du 13 novembre 2008 au 3 janvier 2009. Paris: Éditions Tallandier et les Éditions de l’IMEC, 2009. Claire Paulhan und Olivier Corpet stützen sich dabei auf ihre 2004 veröffentlichten Recherchen (Archives des années noires: artistes, écrivains et éditeurs). Die New Yorker-Ausstellung war jüngst unter dem (Buch-)Titel Archives de la vie littéraire sous l’Occupation im Hôtel de Ville de Paris (Mai bis Juli 2011) zu sehen, der Katalog erschien in unveränderter Neuauflage (2011). Die Publikation besagten Ausstellungskatalogs war am 17. 6. 2010 Anlass für France Culture, Robert O. Paxton (*1932) und Jean-Pierre Azéma (*1937), der kurz zuvor 1940, l’année noire: de la débandade au trauma (2010) veröffentlicht hatte, zu einer Diskussionsveranstaltung in Erinnerung an den 70. Jahrestag der Ankündigung des Waffenstillstandsersuchens durch Pétain (17. 6. 1940) einzuladen. S. „Tout arrive! par Arnaud Laporte: Jean-Pierre Azéma, Robert O. Paxton“, 17. 6. 2010, http: / / www.franceculture.com/ emissiontout-arrive-jean-pierre-azema-robert-o-paxton-2010-06-17.html (letzter Zugriff am 15. 8. 2011). Zur Kommentierung der New Yorker Ausstellung s. Galster, Ingrid: „Auf <?page no="26"?> 26 Auch und gerade „[a]u fond de l’abîme“, wie Paxton die Zeit zwischen der Niederlage Frankreichs bis zur Befreiung charakterisiert, spielten die französischen Intellektuellen als personae publicae eine bemerkenswerte, im Vergleich zu den Nachbarländern bedeutende Rolle: Seit jeher standen Literatur und Politik in Frankreich in besonders engem Konnex, nur hier wurde „‚die Literatur von der Nation als ihr repräsentativer Ausdruck empfunden‘.“ 48 Von ihnen, die im Jahrzehnt vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs leidenschaftlich über nationale und internationale Konflikte debattiert hatten, deren Kulminationspunkte die Auseinandersetzung mit dem Front populaire, der Spanische Bürgerkrieg, das Münchner Abkommen, die Konfrontation von Kommunismus und Faschismus oder das nationalsozialistische Deutschland waren, erwartete man Aufklärung über die Gründe der schmachvollen Niederlage und Perspektiven für die Gesundung Frankreichs. 49 Dies spiegeln die zur Schau gestellten Unterlagen wider, welche die Kuratoren als „‚archive existentielle‘“ qualifizieren, als „porteur d’une histoire personnelle et donc d’une émotion, d’une présence.“ 50 Auf vielfältige Weise führen diese Erinnerungsobjekte „la responsabilité des mots“ 51 vor Augen, denn, so die Gleichung François Mauriacs der Suche nach der Wahrheit“. S. auch Rothstein, Edward: „Sorrow, Pity, Celebration: France under the Nazis“. In: The New York Times, 25. 4. 2009, C1. Ausf., den Katalog insgesamt würdigende Rezension mit kritischem Hinweis auf die Vernachlässigung bedeutender Archive (z.B. das Arno Brekers) sowie die gänzliche Aussparung deutscher Forschungen bei der Gesamtkonzeption von Ausstellung und Katalog durch Hausmann, Frank-Rutger: Rezension zu Archives de la vie littéraire sous l‘Occupation: A travers le désastre. In: Informationsmittel (IFB) IFB 09-1/ 2, http: / / ifb.bsz-bw.de/ bsz307580105rez-1.pdf? id=2816 (letzter Zugriff am 15. 8. 2011). Vgl. die diesbzgl. mit Hausmann übereinstimmende Kritik durch Betz, der im Jahr 2001 im Rahmen einer Rezension aktueller deutscher und französischer Publikationen zur Kollaboration in Ansehung des Dictionnaire historique de la France sous l’Occupation (2000) von Jean-Paul und Michèle Cointet seine Verwunderung über das Desinteresse an deutschen Quellen kundtat und zudem mangelnde deutsche Sprachkenntnisse bei den französischen Historikern und Lexikon-Autoren vermutete. Betz, Albrecht: „Wie national war die Kollaboration? Auch die französische Vergangenheit will nicht vergehen“. In: NZZ, 19. 5. 2001, S. 93. 48 Ernst Robert Curtius, zit. in Jurt, Joseph: Schriftsteller und Politik im Frankreich der dreißiger Jahre. In: Brockmeier, Peter; Wetzel, Hermann H. (Hgg.): Französische Literatur in Einzeldarstellungen. Bd 3: Von Proust bis Robbe-Grillet. Stuttgart: Metzler, 1982, S. 133-216, hier S. 133. 49 Paxton, Robert O.: Au fond de l’abîme. In: Ders.; Corpet, Olivier; Paulhan, Claire: Archives de la vie littéraire sous l’Occupation, S. 6-17, hier S. 6. 50 Corpet, Olivier; Paulhan, Claire: L’Archive, la mémoire et l’histoire. In: Ebd.: S. 24-25, hier S. 24, Kursivierung im Text. 51 Ebd. Vgl. Assoulines positive Würdigung der Pariser Ausstellung, nach deren Besichtigung „[c]hacun repart avec ce qu’il veut emporter de ce voyage dans le temps, méditation sur la responsabilité des mots, ceux qui tuent et ceux qui sauvent.“ Assouline, Pierre: „‚Pas de salauds d’un côté, ni de héros de l’autre’“, 1. 6. 2011. S. <?page no="27"?> 27 (1885-1970), des einzigen Immortel, der sich in der literarischen Résistance engagierte 52 : „Ecrire, c’est agir. C’est parce que nos actes nous suivent, que nos écrits nous suivent.“ 53 Vor diesem Hintergrund gewinnt das Forschungsanliegen vorliegender Arbeit Kontur: Im Zentrum stehen ausgewählte Werke literarischer Kollaborateure, ihres Zeichens renommierte Schriftsteller der Zwischenkriegszeit, die zu unterschiedlichen, jeweils signifikanten Zeitpunkten in der Vorkriegszeit („avant-guerre“), im Verlauf des „Sitzkrieges“ („drôle de guerre“) - d.h. der nahezu kampflosen Phase an der deutsch-französischen Grenze zwischen Hitlers Überfall auf Polen am 1. September 1939 bis zum Beginn der deutschen Westoffensive am 10. Mai 1940 - und in der Endphase der Okkupation entstanden. 54 Ziel ist es, Alphonse de Châteaubriants Reisebericht La Gerbe des Forces: Nouvelle Allemagne (1937), Robert Brasillachs autobiografische Erinnerungsbücher Notre avant-guerre (1941) und Journal d’un homme occupé (postum, 1955) sowie Jacques Chardonnes Essay Le Ciel de Nieflheim (1943) auf faschistisches Gedankengut zu untersuchen und darüber hinaus zu eruieren, ob diese Texte als „Schreiben“ und „Handeln“ im Sinne einer Befürwortung der nationalsozialistischen Ideologie und der Unterstützung eines europäischen Faschismus zu qualifizieren sind. http: / / passouline.blog.lemonde.fr/ 2011/ 06/ 01/ pas-de-salauds-dun-cote-ni-de-herosde-lautre/ (letzter Zugriff am 22. 4. 2012). 52 Sapiro, Gisèle: La guerre des écrivains: 1940-1953. Paris: Fayard, 1999, S. 15. 53 Vgl. Mauriacs Artikel Autour d’un verdict (Le Figaro, 3. 1. 1945), zit. in Paxton, Robert O.; Corpet, Olivier; Paulhan, Claire: Archives de la vie littéraire sous l’Occupation, S. 403, Hervorhebung BB. 54 Der Arbeit zugrunde liegt ein „weiter“ Kollaborationsbegriff, verstanden als pro-nazistisches Engagement bereits vor der französischen Niederlage im Sommer 1940 und der offiziellen Kollaborationsankündigung durch Philippe Pétain (1856-1951) in seiner Radioansprache vom 30. 10. 1940. Zur Biografie Pétains, dem „Verteidiger“ und „Retter“ Verduns (1916), Marschall (1918), Generalinspekteur der Armee (1922-1931), Kriegsminister (1934), Botschafter in Spanien (1939) und Chef de l’Etat (ab 10. 7. 1940), der u.a. wegen Kollaboration und Hochverrat im August 1945 zum Tode verurteilt, von de Gaulle - im Unterschied zu Laval und Darnand - begnadigt und zu lebenslanger Haft (Île d’Yeu) verurteilt wurde, vgl. bspw. Pedroncini, Guy: Pétain, le soldat: 1856-1940. Paris: Perrin, 1998. Zum „Pétain-Kult“ s. Waechter, Matthias: Der Mythos des Gaullismus: Heldenkult, Geschichtspolitik und Ideologie: 1940-1958. Göttingen: Wallstein, 2006 (Moderne Zeit; 14), S. 37-42. Zu Pétain s. auch Kp. 4.10, zum Vichy- Regime vgl. die im Forschungsstand kondensierte Sekundärliteratur. <?page no="28"?> 28 1.2 Das Spektrum der schriftstellerischen Kollaboration Unter dem programmatischen Titel Littérature et propreté informierte der Verleger und Dichter der Résistance Pierre Seghers 55 (1906-1987) am 7. September 1944 in Le Parisien libéré über den wenige Tage zuvor getroffenen Beschluss des Comité National des Ecrivains (CNE) 56 : Die Mitglieder des während der années noires von der kommunistischen Widerstandsorganisation Front National gegründeten klandestinen Vereinigung des Front, später Comité National des Ecrivains, „‚[u]nis dans la victoire et la liberté comme nous le fûmes dans la douleur et l’oppression’“ 57 , forderten die Regierung zur Bestrafung der Schriftsteller auf, die sich während der deutschen Besatzung des Vaterlandsverrats schuldig gemacht hatten. Diesen Straftatbestand erfüllten dem CNE zufolge die Kollegen, welche der Gruppierung Collaboration angehört, Einladungen nach Hitler-Deutschland und Finanzierungen durch dieses angenommen sowie kraft ihrer Publikationen und ihres Einflussvermögens zur Unterstützung der NS-Propaganda beigetragen hatten 58 : [T]ous ceux-là doivent être jugés. Jugés sévèrement. Des écrivains français ont tenté, dès 1940, de transformer le désastre matériel de la France en une pourriture de l’esprit. A côté de la trahison militaire, ils instauraient le régime de la véritable trahison des clercs. L’éclat de leur nom, leur talent, leur prestige, ils le mettaient au service de l’occupant. […] 55 Seghers, der 1939 die Zeitschrift Poètes casqués 39, 40 ins Leben gerufen hatte, nach der Niederlage umbenannt in Poésie 40… (1940-1947), in der u.a. Aragon und Eluard schrieben, gründete nach dem Krieg die Editions Seghers, deren Reihe Poètes d’aujourd’hui das Verlagshaus berühmt machte. Auf Anregung Pierre Seghers und seines Freundes Pierre Emmanuel wurde 1983 in Paris die Maison de la Poésie gegründet. Mercier, Pascal: „Pierre Seghers“. In: Juillard, Jacques; Winock, Michel (Hgg.): Dictionnaire des intellectuels français, S. 1268-1269; weiterführend vgl. bspw. Seghers, Pierre: La poésie et la Résistance. In: La Littérature Française sous l’Occupation. Actes du Colloque de Reims (30 septembre - 1 er et 2 octobre 1981). Bd. 1. Reims: Presses Univ. de Reims, 1989, S. 137-142. 56 Vgl. Sapiro, Gisèle: La guerre des écrivains, insb. Kp. 7 „Le sens de la subversion: Le Comité National des Écrivains“, S. 467-562, und Kp. 8 „Le tribunal des lettres“, S. 563-626. Ausf. zu Formierung und Formen der insb. aus dem linkspazifistischen Milieu hervorgegangenen Résistance s. Babilas, Wolfgang: Der literarische Widerstand. In: Kohut, Karl (Hg.): Literatur der Résistance und Kollaboration in Frankreich: Geschichte und Wirkung II (1940-1950). Tübingen: Gunter Narr, 1982 (Schwerpunkte Romanistik; 19), S. 31-150. 57 Aus dem Manifeste des écrivains français, erschienen am 9. 9. 1944 in Les Lettres françaises, das insgesamt mehr als sechzig Intellektuelle unterzeichneten, so neben Pierre Seghers u.a. Albert Camus, Julien Benda, André Malraux und Jean-Paul Sartre. Zit. in Sirinelli, Jean-François: Intellectuels et passions françaises: manifestes et pétitions au XX e siècle. Paris: Fayard, 1990, S. 143ff., hier S. 144. 58 Ebd.: S. 145. <?page no="29"?> 29 Ces écrivains sont coupables. Le public doit connaître leurs noms. Ce n’est pas faire tort à la littérature française que de faciliter une opération de nettoyage. Les noms… Une commission en dressera la liste. 59 Die Anprangerung der „trahison des clercs“ erfolgte unter Rekurs auf Julien Benda, der schon 1927 in seiner berühmten gleichnamigen Schrift postuliert hatte, es sei nicht Aufgabe der Intellektuellen 60 „in die politische Arena hinabzusteigen“ 61 , was vor und während der Grande Guerre und abermals in den Krisenjahren vor Ausbruch und während des Zweiten Weltkriegs geschehen war. 62 Als ursächlich für diesen Verrat befand der Historiker Robert Aron (1898-1975) rückblickend „‚leur déception à l’égard d’un pays trop disloqué, trop incertain, pour satisfaire à leurs vœux de fraternité. Un traître est avant tout l’enfant d’un pays en désaccord.’“ 63 59 Vgl. Pierre Seghers Artikel Littérature et propreté (Le Parisien libéré, 7. 9. 1944), faksimiliert in Paxton, Robert O.; Corpet, Olivier; Paulhan, Claire: Archives de la vie littéraire sous l’Occupation, S. 401, Kursivierung im Text, Hervorhebung BB. 60 Zur „Geburt der Intellektuellen aus dem Geist der Dreyfus-Affäre“ und Intervention der Schriftsteller vgl. das gleichnamige Kapitel in Jurt, Joseph: Das literarische Feld: Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995, S. 209-225. Insg. zu dieser Thematik vgl. die Publikation von Winock, Michel: Das Jahrhundert der Intellektuellen. Aus dem Franz. von Judith Klein. 2., unveränd. Aufl. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH, 2007. Detailliert s. Charle, Christophe: Naissance des „intellectuels“: 1880-1900. Paris: Les Editions de Minuit, 1998. 61 Benda, Julien: Der Verrat der Intellektuellen (La trahison des clercs). Mit einem Vorwort von Jean Améry. Aus dem Franz. von Arthur Merin. Frankfurt a. M. u.a.: Ullstein, 1983, S. 114. Als „clerc“ definierte Benda diejenigen, „deren Amt die Verteidigung ewiger und interessefreier Werte wie der Vernunft und der Gerechtigkeit ist“. Der „clerc“ müsse „bereits von seiner Wesensbestimmung her nahezu alle patriotischen, politischen, religiösen und moralischen Behauptungen von sich weisen, die, insoweit sie der Verfolgung praktischer Ziele dienen, meist zwangsläufig die Wahrheit zurechtbiegen müssen.“ Vgl. Benda, Julien: Einleitung zur Neuausgabe 1946. In: Ebd.: S. 13-83, hier S. 13, 80. Zu Benda s. auch Kp. 1.1. 62 Zur wirtschaftlichen und politischen Krise in den dreißiger Jahren vgl. z.B. Jurt, Joseph: Historischer Überblick. In: Kohut, Karl (Hg.): Literatur der Résistance und Kollaboration in Frankreich: Geschichte und Wirkung I (1930-1939). Wiesbaden: Akademische Verlagsanstalt Athenaion; Tübingen: Narr, 1982 (Schwerpunkte Romanistik; 18), S. 26-39. S. auch Jurts repräsentativ für die Schriftstellergeneration der dreißiger Jahre vorgenommene Skizzierung des politischen Engagements von Louis Aragon (Mitglied der 1920 in Frankreich gegründeten Kommunistischen Partei), André Malraux und André Gide (Antifaschisten und Angehörige unterschiedlicher Generationen), Georges Bernanos (Emanzipation von der extremen Rechten) und Pierre Drieu la Rochelle (Vertreter des intellektuellen Faschismus) in Ders.: Schriftsteller und Politik im Frankreich der dreißiger Jahre. 63 Robert Aron, zit. in Betz, Albrecht: „Trahison“ des Clercs? In: Ders.; Martens, Stefan (Hgg.): Les intellectuels et l’Occupation, 1940-1944: Collaborer, partir, résister. Paris: Ed. Autrement, 2004 (Collection Mémoires; 106), S. 311-322, hier S. 311, Hervorhebung BB. <?page no="30"?> 30 Zum Zwecke der „Säuberung“ 64 des Schriftstellermilieus erfolgte umgehend die Publikation der Namen der „schuldigen“ Kollegen, deren moralische Verfehlung und Fallhöhe 65 als umso gravierender empfunden wurde, je größer ihr Ansehen und gewichtiger ihre Position im literarischen Feld 66 in den zwanziger und dreißiger Jahren gewesen war. Eine interne „schwarze Liste“ 67 , die der CNE am 4. September 1944 erstellte, verzeichnete zunächst zwölf Namen: Neben Robert Brasillach, Alphonse de Châteaubriant und Jacques Chardonne Louis-Ferdinand Céline, Pierre Drieu la Rochelle, Jean Giono, Marcel Jouhandeau, Charles Maurras, Henry de Montherlant, Paul Morand, Armand Petitjean, André Thérive. 68 Eines der Gründungsmitglieder wird 1946 aus Protest über diese Boykott-Listen den CNE verlassen: Jean Paulhan 69 (1884-1968), bis zur französischen Niederlage 1940 Direktor der NRF, Résistant der ersten Stunde und u.a. Mitbegründer der klandestinen Lettres françaises. Gegenüber dem zum Verräter deklarierten Jouhandeau erklärte Paulhan „‚que l’erreur, le risque de l’esprit, et voire l’aberration (au sens des théologiens) sont le premier droit 64 Ausf. s. Assouline, Pierre: L’épuration des intellectuels. Paris: Editions complexe, 1985 (1944-1945, La mémoire du siècle). 65 Der auf Batteux’ Traité de la poésie dramatique zurückgehende dramaturgische Begriff besagt, „der trag[ische] Fall eines Helden werde desto tiefer empfunden, je höher dessen sozialer Rang sei.“ S. „Fallhöhe“. In: Schweikle, Günther und Irmgard (Hgg.): Metzler Literatur Lexikon: Begriffe und Definitionen. 2., überarb. Aufl. Stuttgart: Metzler, 1990, S. 149. 66 S. hierzu Kp. 1.3. 67 Überblick zu den „listes noires“ des CNE in Sapiro, Gisèle: La guerre des écrivains, S. 571-581. Schon während des Krieges hatte die amerikanische Illustrierte Life am 24. 8. 1942 eine erste „Black List“ französischer Intellektueller veröffentlicht, darunter Jacques Chardonne, versehen mit einer expliziten Morddrohung: „THESE ARE SOME OF THE FRENCHMEN CONDEMMED BY THE UNDERGROUND FOR COLLABORATING WITH GERMANS: SOME TO BE ASSASSINATED, OTHERS TO BE TRIED WHEN FRANCE IS FREE”. Faksimile in Guitry, Sacha: Quatre ans d’occupations. Paris: Les Éditions de l’Élan, 1947, S. 409 und 411, Majuskeln im Text. 68 Lindner-Wirsching, Almut: Ehre und Verantwortung: Die Debatte um die „épuration des intellectuels“ im Zuge der Befreiung Frankreichs (1944/ 1945). In: Einfalt, Michael; Erzgräber, Ursula; Ette, Ottmar; Sick, Franziska (Hgg.): Intellektuelle Redlichkeit - Intégrité intellectuelle: Literatur-Geschichte-Kultur. Festschrift für Joseph Jurt. Heidelberg: Winter, 2005 (Studia Romanica; 125), S. 575-589, hier S. 576. 69 Jean Paulhan war ab 1920 Sekretär, dann Chefredakteur (1925) und von 1935 bis Juni 1940 Direktor der NRF. Der Gegner des Münchner Abkommens und erklärte Antifaschist schrieb für die Widerstandszeitschrift Résistance und gründete mit Jacques Decour (1910-1942), der am 30. 5. 1942 von den Deutschen erschossen wurde, Les Lettres françaises: Revue des Ecrivains français groupés au Comité national des Ecrivains. Im November 1946 verließ Paulhan den CNE, dessen „Säuberungs“- und Ächtungs- Politik gegenüber den Kollaborationsautoren er verurteilte. Ab 1953 leitete er mit Marcel Arland und Dominique Aury La Nouvelle NRF. Ausf. s. Badré, Frédéric: „Jean Paulhan“. In: Juillard, Jacques; Winock, Michel (Hgg.): Dictionnaire des intellectuels français, S. 1056-1057. <?page no="31"?> 31 de l’écrivain’.“ 70 Am 16. September 1944 publizierten Les Lettres françaises eine erste offizielle Liste von 94 „unwürdigen“ und deshalb „unerwünschten“ Autoren. Deren Zahl wuchs, nicht ohne Auseinandersetzung innerhalb des CNE über die Anklagepunkte und die Berechtigung einer „institutionalisierten Denunzierung von Berufsgenossen“, sukzessive auf 158 (21. Oktober 1944) und 160 Namen (4. November 1944) an. 71 Nur sechs Monate zuvor hatte Lucien Rebatet in seinem Artikel L’Académie de la dissidence ou la Trahison prosaïque dem als „mercenaire“ verunglimpften Général de Gaulle 72 (1890-1970), Symbolfigur des Widerstands und Chef der französischen Exilregierung (Comité Français de la Libération Nationale), scharf gekontert, der sich gerühmt habe, „la quasi-totalité de ‚l’intelligence française’“, darunter zahlreiche „hommes de lettres“, auf seiner Seite zu wissen. 73 Rebatet replizierte, indem er dieser vermeintlichen Intelligenzija, nämlich der ihm zufolge exemplarisch von Jules Romains, Paul Claudel, André Gide, Georges Duhamel, Georges Bernanos, François Mauriac, Jacques Maritain und den Brüdern Jean und Jérôme Tharaud - „[t]ous enjuivés“ - verkörperten „dissidence littéraire“, Namen illustrer Autoren und erwiesener Befürworter des „ordre européen“ gegenüberstellte, um spöttisch zu bilanzieren: „Non, le talent n’est pas un monopole de la ‚résistance’“: Nos adversaires les plus fanatiques ne sauraient nier le talent d’un Drieu la Rochelle, acquis entièrement à la révolution nationale-socialiste. Le prodigieux Céline, splendide pourfendeur d’Israël, peut effrayer sans doute les petits estomacs. Mais cinq cent mille admirateurs n’ont-ils pas consacré la verve géniale de ce visionnaire? Henry de Montherlant, s’il ne milite pas, n’a point mâché son opinion depuis l’été Quarante. Ce n’est pas précisément, lui non plus, une personnalité de second plan. Des écrivains d’âges, de dons et de goûts aussi divers qu’Henri Béraud, Abel Bonnard, Alphonse de Châteaubriant, Jacques Chardonne ont pris, eux aussi, parti. L’admirable et délicieux Marcel Aymé, le char- 70 Brief Paulhans vom 7. 9. 1944, zit. in Lindner-Wirsching, Almut: Ehre und Verantwortung, S. 576f., Hervorhebung BB. In den Sept lettres aux écrivains blancs verteidigte Paulhan die Auffassung: „Un écrivain, à mon sens, a parfaitement le droit de se tromper […]. Après tout, ce n’est ni un prêtre, ni un mage.“ Paulhan, Jean: D’un certain droit à l’erreur. In: Ders.: De la paille et du grain. 8 ème éd. Paris: Gallimard, 1948, S. 65-68, hier S. 67. 71 Lindner-Wirsching, Almut: Ehre und Verantwortung, S. 577f. Die Autorin widmet sich den Exponenten der Kontroverse: François Mauriac und Albert Camus. Zum „exkommunizierenden“ CNE s. Sapiro, Gisèle: La guerre des écrivains, S. 565ff. 72 Zu de Gaulle als „Prophet der Befreiung“ sowie dem „Mythos des Gaullismus“ s. Waechter, Matthias: Der Mythos des Gaullismus, S. 27ff. 73 Rebatet, Lucien: „L’Académie de la dissidence ou la Trahison prosaïque“. In: Je suis partout, 10. 3. 1944, S. 1 und 6, hier S. 1, Hervorhebung BB, folgend abgekürzt mit JSP. Die folgenden Zitate finden sich auf S. 1. Zu Sartres Entgegnung, der den von Rebatet angeführten Kollaborationsautoren Talentlosigkeit attestiert, s. [Sartre, Jean- Paul]: „La littérature, cette liberté! “ In: Les Lettres françaises 15 (April 1944), S. 5. Vgl. auch Sapiro, Gisèle: La guerre des écrivains, S. 687f. <?page no="32"?> 32 mant Pierre Mac Orlan, Jean Anouilh, La Varende, André Thérive, Marcel Jouhandeau, s’ils ‚ne font pas de politique’, ne répugnent pourtant point à publier leurs œuvres dans des journaux où on en fait beaucoup, et de la plus énergiquement antigaulliste. 74 Unter umgekehrten Vorzeichen, jedoch mit den gleichen Argumenten formulierte der Je suis partout-Journalist in nuce den Hauptanklagegrund des CNE, der gerade diesen angesehenen, von Rebatet namentlich geehrten und zu Anti-Gaullisten stilisierten Schriftstellern, Vaterlandsverrat vorwarf, er selbst inbegriffen: Si l’Europe est sauvée - et je suis de ceux qui croient qu’elle le sera - il faudra beaucoup de mansuétude et un amour de la littérature qu’on ne saurait demander à tous les chefs politiques pour oublier que des écrivains comblés d’honneurs, engendrés et nourris par notre civilisation ancestrale, ont trahi leur mission la plus naturelle en prenant haineusement parti contre les héroïques défenseurs de cette civilisation, qu’ils ont fourni des armes à ses mortels ennemis. 75 Doch Nachsicht und eine „reine“ Liebe der Literatur unter Abstraktion der von dieser vehikulierten politischen Botschaft - Gaben, die Rebatet nicht umsonst quasi als utopisch präsentiert -, hatten weder die Auseinandersetzung zwischen den opponierenden Schriftstellerlagern in den Jahren vor und während der Besatzung bestimmt, noch sollten sie es in der Folge tun. 1.3 „Figures d’écrivains fascistes“ Dem ideologischen Kampf zwischen den sich gegenseitig des Verrats bezichtigenden Schriftstellern, die für die Kollaboration und bzw. oder für Vichy oder die Résistance eintraten, widmet sich Gisèle Sapiro in ihrer soziologischen Studie La guerre des écrivains 1940-1953 (1999). Im Sinne eines Beitrags zur „histoire sociale et culturelle des ‚années noires‘“ 76 , untersucht Sapiro in Anknüpfung an Pierre Bourdieus Feldtheorie (Les règles de l’art: Genèse et structure du champ littéraire, 1992) das französische literarische Feld während der Okkupations- und Nachkriegsjahre 77 mit dem Ziel, „die 74 Rebatet, Lucien: „L’Académie de la dissidence ou la Trahison prosaïque“, S. 1, Hervorhebung BB. 75 Ebd.: S. 6, Hervorhebung BB. 76 Sapiro, Gisèle: La guerre des écrivains, S. 18. 77 Sapiros Analyse stützt sich auf ein Korpus von 185 Autoren und vier „Institutionen“ des literarischen Lebens: die Académie française („Le sens du devoir“, S. 249-315), die Académie Goncourt („Le sens du scandale“, S. 317-375), die NRF („Le sens de la distinction“, S. 377-466) sowie das Comité national des écrivains („Le sens de la subversion“, S. 467-562). Konzentrierter Überblick über die Besonderheiten des literarischen Feldes während der Besatzung in der Einleitung (S. 9-18), Darlegung der Untersuchungskriterien sowie eine Auflistung der berücksichtigten Schriftsteller im Anhang (S. 703-721). Alle Seitenangaben beziehen sich auf Sapiro, Gisèle: La guerre des écri- <?page no="33"?> 33 literarische Produktion zu erklären aus der Dynamik der Auseinandersetzung der Kräfte im Feld, die entweder die bestehenden literarischen Normen verteidigen oder sie in Frage zu stellen trachten“. 78 Basierend auf den im Rahmen ihrer empirischen Studie gewonnenen Erkenntnissen, wonach das jeweilige kollaborative oder widerständlerische Engagement der Schriftsteller in der bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückreichenden Sozialisierung gründet, richtet Sapiro in der Folge ihr Augenmerk auf die literarische Kollaboration. 79 Interessant in Hinblick auf die eingangs formulierte Fragestellung und im Sinne einer Perspektiverweiterung der nachfolgenden textzentrierten Arbeit, ist Sapiros Untersuchung „des formes d’adhésion des écrivains au fascisme, en relation avec leur ethos littéraire“ unter dem Primat soziologischer Prämissen. 80 Ihre Analyse der Figures d’écrivains fascistes (2003) beruht auf einem Korpus von vierundvierzig anerkannten Schriftstellern und Literaturkritikern, die zwischen 1934 und 1945 der radikalen Rechten angehörten und bzw. oder „mehr oder weniger“, so Sapiro verallgemeinernd, für den Faschismus Stellung bezogen. 81 Die Anziehungskraft des Faschisvains. Vgl. die prägnante Darstellung der Bourdieu’schen Feldtheorie sowie des literarischen Feldes während der Besatzungszeit in Heddrich, Gesine: Deutschland und Frankreich als Hetero- und Auto-Image während der Zeit der Occupation im Zweiten Weltkrieg am Beispiel der Schriftsteller Vercors (Jean Bruller) und Robert Brasillach. Frankfurt a. M. u.a.: Peter Lang, 1997 (Europäische Hochschulschriften; 219), S. 39-66. 78 Das gegenüber externen Instanzen relativ autonome literarische Feld ist Ort des ständigen Kampfes zwischen den Hierarchisierungsprinzipien der Heteronomie und Autonomie, zwischen einem dominanten und einem dominierten Pol. Die Feldstrukturen werden als „Produkt einer historischen Konfiguration“ verstanden. Detailliert s. Jurt, Joseph: Das literarische Feld, S. IX; vgl. dort insb. die Ausführungen zur „Theorie des literarischen Feldes“, S. 69-107, sowie zur Gefährdung der Autonomie des literarischen Feldes und der Prädominanz des politischen Feldes in den dreißiger Jahren, s. S. 255-282. 79 Sapiro, Gisèle: La collaboration littéraire. In: Betz, Albrecht; Martens, Stefan (Hgg.): Les intellectuels et l’Occupation, 1940-1944, S. 39-62. Vgl. auch Hausmann, Frank- Rutger: Die Herbstreisen französischer Schriftsteller zu den Weimarer Dichtertreffen 1941 im Kontext der nationalsozialistischen Kulturpolitik. In: Einfalt, Michael; Erzgräber, Ursula; Ette, Ottmar; Sick, Franziska (Hgg.): Intellektuelle Redlichkeit - Intégrité intellectuelle, S. 555-573, hier S. 568. 80 Das folgende Resümee bezieht sich auf Sapiro, Gisèle: Figures d’écrivains fascistes. In: Dobry, Michel (Hg.): Le mythe de l’allergie française au fascisme. Paris: Albin Michel, 2003, S. 195-236, hier S. 197f., Kursivierung im Text. 81 Ebd.: S. 198. Schwierig erweist sich Sapiros vager Faschismus-Begriff, der ihre Grenzziehung zwischen „eindeutigen“ und weniger klar zu definierenden Fällen schwer nachvollziehbar macht. Sie differenziert zwischen Autoren, die sich für den Faschismus engagiert oder mit diesem „mehr oder weniger“ stark sympathisiert haben, und Schriftstellern, die zwar nicht „wirklich“ als Faschisten definiert werden können, jedoch offen ihre Bewunderung für faschistische Regime gezeigt, eine rechtsextreme Bewegung unterstützt und „gewisse“ Prinzipien vertreten haben, die sie in Nähe des Faschismus rücken. Zudem ist von „der“ und „den“ faschistischen Doktrin/ en die <?page no="34"?> 34 mus auf eine gewisse Anzahl französischer Schriftsteller, „qui [...] accordent leur manière d’être fasciste avec leur manière d’être écrivain“, führt Sapiro auf die Koinzidenz dreier Faktoren zurück: auf die Veränderungen des politischen Feldes, die Politisierung, hernach Spaltung des literarischen Feldes in Pro- und Antifaschisten, und das soziale Umfeld der Autoren. 82 Ausgehend von dem Befund, dass der Faschismus Autoren anziehe, die an unterschiedlichen Polen des literarischen Feldes angesiedelt seien, das von den Gegensatzpaaren „Herrschende“ versus „Beherrschte“ (je nach Umfang „des Kapitals an Anerkennung und Notorietät“) sowie „Autonomie“ versus „Heteronomie“ („Notorietätskapital“ symbolischen oder „temporellen“ Typs 83 ) strukturiert werde, kristallisiert Sapiro vier idealtypische Schriftsteller-Gruppierungen heraus. Die „Notabeln“ und „Ästheten“ (dominanter Pol) sowie die „Polemiker“ bzw. Schriftsteller-Journalisten und „Avantgardisten“ (dominierter Pol) unterschieden sich sowohl hinsichtlich ihrer Vorstellung von Literatur, der spezifischen Art ihres politischen Engagements als auch ihrer sozialen Funktion voneinander 84 : Le pôle dominant sous le rapport de la notoriété temporelle regroupe des écrivains proches des gens du monde et du pouvoir - les ‚notables‘, où prévalent le ‚bon goût‘ et la respectabilité mondaine: l’art comme la politique doivent être subordonnées à la morale et à la préservation de l’ordre social. C’est de cette conception moralisatrice de la littérature et de la politique que se démarquent Rede. Damit ist bereits die im weiteren Verlauf zu erörternde Problematik einer Faschismus-Definition angedeutet. Die „Etikettierung“ der untersuchten Autoren als „faschistisch“ - so auch der Titel des Aufsatzes: Figures d’écrivains fascistes (2003) - könnte hinterfragt werden, da besagte Schriftsteller im Folgeaufsatz (La collaboration littéraire, 2004) einzig unter dem Prädikat „quatre figures idéales typiques de l’écrivain collaborateur“ auftauchen. Abgesehen von der Tatsache, dass sich letztgenannter Artikel auf die Untersuchung von 55 „hommes de lettres collaborateurs“ (zuvor: 44) stützt, stimmen die Autoren-Korpora beider Aufsätze so gut wie überein. Die Modifizierung der Terminologie scheint der thematischen Ausrichtung der Sammelbände, in denen die Artikel erschienen sind (Les intellectuels et l’Occupation, 1940-1944: Collaborer, partir, résister resp. Le mythe de l’allergie française au fascisme) geschuldet. Sapiro, Gisèle: La collaboration littéraire, S. 48, Hervorhebung BB, Liste der Autoren s. S. 63. Auf die Problematik der Gleichsetzung von kollaborativer mit faschistischer Literatur sowie von literarischem Kollaborateur mit Faschisten respektive literarischem Faschisten mit Kollaborateur hat hingewiesen Kohut, Karl: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Literatur der Résistance und Kollaboration in Frankreich: Geschichte und Wirkung I (1930-1939), S. 11-25, hier S. 18f. 82 Sapiro, Gisèle: Figures d’écrivains fascistes, S. 198. 83 Hierunter ist bspw. die Abhängigkeit bzw. Autonomie von Publikumserwartungen zu verstehen. Unter „temporelle“ Auszeichnungen fallen z.B. Literaturpreise, Akademie-Mitgliedschaften oder Verkaufserfolge. Zur Terminologie sowie für weiterführende Details der in diesem Passus angedeuteten Informationen, s. Sapiro, Gisèle: „Das französische literarische Feld: Struktur, Dynamik und Formen der Politisierung“. In: Berliner Journal für Soziologie 14. Jg., Heft 2 (2004), S. 157-171, hier S. 158ff. 84 Ebd.: S. 157 und 160, vgl. auch die Abbildung zur Illustrierung der Struktur des literarischen Feldes und Formen der Politisierung auf S. 164. <?page no="35"?> 35 les écrivains situés au pôle symboliquement dominant - les ‚esthètes‘ -, qui préconisent la dissociation de ces deux domaines afin de garantir l’autonomie du jugement esthétique. Au pôle dominé, caractérisé dans son ensemble, du fait de sa position, par une propension à politiser le discours critique, il faut également distinguer la logique de la polémique propre au pôle journalistique, qui tend à rattacher la littérature à l’actualité et aux enjeux de l’heure (c’est là qu’on trouve les ‚journalistes-polémistes‘), des stratégies contestataires des ‚avantgardes‘, souvent conduites à valoriser la dimension subversive de la littérature et à donner une portée politique à leur protestation, sans pour autant sacrifier l’autonomie du jugement esthétique. 85 Sapiros Ergebnissen zufolge dominieren die faschistischen Schriftsteller in der Gruppe der „Polemiker“ (19 bzw. 20), gefolgt von den Kategorien der „Notabeln“ (15) und der „Ästheten“ (9), wohingegen kein faschistischer Autor eindeutig dem Pol der Avantgarde zugerechnet werden konnte. 86 Fasst man schlagwortartig die weiteren Charakteristika zusammen, welche die „écrivains fascistes“ auszeichnen, die den vier bzw. drei Polen zugeordnet sind, ergibt sich folgendes Bild: Die ultra-konservativen bis reaktionären „Notabeln“ 87 , mehrheitlich vor 1880 geboren und als Kinder der Niederlage von 1870 im Geist der Revanche erzogen, sind Verfechter des sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts manifestierenden Nationalismus und als solche Mitglieder oder Sympathisanten der Action française: Diese 1899 vor dem Hintergrund eines entschiedenen Antidreyfusismus entstandene nationalistische, royalistische, antisemitische und deutschlandfeindliche Bewegung (seit 1905 in der Ligue de 85 Sapiro, Gisèle: Figures d’écrivains fascistes, S. 199f., Hervorhebung BB. 86 Ebd.: S. 200. Die Verfasserin konstatiert das Fehlen eines französischen Pendants zum italienischen Schriftsteller und Begründer des Futurismus Filippo Tommaso Marinetti (1876-1944). Eingehend begutachtet Sapiro den atypischen und schwer zu klassifizierenden Céline, der zwar aufgrund des Bruchs mit den herrschenden Literatur- Kodizes in seinen ersten beiden Romanen als avantgardistisch eingestuft werden könnte; beide Werke stellen jedoch keine faschistische Literatur dar. Céline zählt zur Generation der „Ästheten“, mit denen er die traumatisierende Erfahrung des Krieges und die Verachtung der Demokratie teilt. Berücksichtigt man Kriterien wie soziale Herkunft, Populismus, Pamphletismus und extremen Antisemitismus, so steht er den „Polemisten“ am nächsten. Andererseits kollaboriert er mit den deutschen Besatzern und ist Ehrenmitglied des Cercle Européen, was ihn in die Nähe der „Notabeln“ der Kollaboration rückt. Vgl. Ebd.: S. 231-234, hier S. 232. Zu Céline s. Kp. 1.4.6. 87 Ausf. s. Ebd.: S. 200-205; komprimierte Zusammenfassung in Dies.: „Das französische literarische Feld“, S. 160-164. Philippe Burrin prägte u.a. in Abgrenzung von der „droite musclée“ und der „gauche d’Abetz“ den Terminus „notables“ für liberale und konservative Intellektuelle, Verehrer Pétains und Gegner des Kommunismus, die sowohl schriftstellerisch als auch journalistisch tätig sind, Vorträge halten und der Kollaboration mit ihrem Namen und ihrer Bekanntheit dienen. Burrin, Philippe: La France à l’heure allemande: 1940-1944. Paris: Editions du Seuil, 1995, S. 403-416, hier S. 403; s. dort auch: „La gauche d’Abetz“, S. 391-402, „La droite musclée“, S. 417- 428. Zu Otto Abetz, dem deutschen Botschafter im besetzten Paris, s. Kp. 1.4.2. <?page no="36"?> 36 l’Action française organisiert) ist mit dem Namen ihres politischen Theoretikers Charles Maurras verbunden. 88 Unter den erklärten Gegnern von Individualismus, Kapitalismus, Fortschritt, Moderne und Demokratie, die ihre Sorge vor einer sozialistischen Revolution eint, befinden sich Mitglieder und Preisträger der Académie française und der Académie Goncourt. Zählten sie in den zwanziger Jahren zu den Kriegsbefürwortern, vertreten die zumeist institutionell legitimierten „Notabeln“ im folgenden Jahrzehnt einen rechten Neopazifismus. Diese Antirepublikaner formieren den traditionalistischen Flügel des Vichy- Regimes und plädieren für eine Rückkehr zur Ordnung unter autoritärer Führerschaft. Während der Besatzung füllen die Artikel der „Notabeln“ insbesondere die Seiten von Le Petit Parisien und La Gerbe, sie gehören den Ehrenkomitees der Gruppe Collaboration, „‚groupement des énergies françaises pour l’unité continentale’“ 89 , und der LVF 90 an oder zählen zu Jacques Doriots (1898-1945) Parti Populaire Français (PPF). 91 88 Vgl. bspw. die Artikel Jaques Prévotats über die Action française und Charles Maurras in Sirinelli, Jean-François (Hg.): Dictionnaire historique de la vie politique française au XX e siècle. 1 ère éd. Paris: Presses Univ. de France, 1995, S. 12-15 (Action française), S. 644-647 (Charles Maurras). Ausf. zu Maurras und zur Action française s. Kp. 4.5. 89 Ausf. zum Groupe Collaboration s. Unteutsch, Barbara: Vom Sohlbergkreis zur Gruppe Collaboration: Ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen anhand der Cahiers Franco-Allemands/ Deutsch-Französische Monatshefte, 1931- 1944. Münster: Kleinheinrich, 1990 (Münstersche Beiträge zur romanischen Philologie; 7), S. 199-216, hier S. 199. 90 Zur Unterstützung des „europäischen Kreuzzugs gegen den Bolschewismus“ wurde nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion (22. 6. 1941) auf Doriots Initiative und Abetz’ Intervention hin am 18. 7. 1941 die LVF gegründet, auf die das Vichy- Regime zwiespältig bis ablehnend reagierte. Die ca. 3.600 von Deutschland besoldeten und auf Hitler vereidigten Legionäre kämpften in deutscher Wehrmachtsuniform an der Ostfront. Ende 1944 wurde die französische Freiwilligenlegion in die Waffen- SS eingegliedert. Vgl. Ebd.: S. 193-198; s. auch Jäckel, Eberhard: Frankreich in Hitlers Europa: Die deutsche Frankreichpolitik im Zweiten Weltkrieg. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt, 1966 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; 14), S. 182f. 91 Sapiro, Gisèle: La collaboration littéraire, S. 49. Der vom Kommunismus zum Faschismus konvertierte Doriot gründete während der Hochphase der Streikbewegungen, die im Juni 1936 die Volksfrontregierung erschütterten, den nationalistischen und faschistischen PPF, der zwischen 1936/ 37 ca. 100.000 Mitglieder umfasste, darunter Drieu la Rochelle. Doriot ist die Inkarnation des typischen Kollaborationisten: „[P]eu de goût pour les débats doctrinaux, sens du Führer-prinzip (sic), esprit de parti, enfin la conviction de la résolution ultime des problèmes politiques par la violence.“ Der von Abetz unterstützte „Ultra“ lancierte nach Beginn des deutschen Russlandfeldzugs (22. 6. 1941) die LVF und kämpfte selbst an der Ostfront. Im Januar 1945 wurde der Gegenspieler Déats und dessen Rassemblement national populaire (RNP) in Sigmaringen Vorsitzender des Comité de la libération française, doch starb er kurz darauf bei einem Flugzeugangriff. Ory, Pascal: La France allemande (1933-1945): Paroles françaises. Paris: Gallimard, 1995, S. 32, Kursivierung im Text; zur ideologischen Kollaboration der Rivalen Déat und Doriot vgl. Jurt, Joseph: Historischer Überblick. In: Kohut, Karl (Hg.): Literatur der Résistance und Kollaboration in Frankreich: Ge- <?page no="37"?> 37 Von diesen Verächtern der literarischen und künstlerischen Moderne unterscheiden sich die zwischen 1880 und 1899 in der Dritten Republik geborenen „Ästheten“ 92 , zumeist Angehörige der wohlhabenden Pariser Bourgeoisie, die in den dreißiger Jahren und während der Besatzung das rechte Spektrum der NRF-Autoren repräsentieren. Im Gegensatz zu den aus dem Provinzbürgertum stammenden „Notabeln“ plädieren die zwischen Nationalismus und dem Wunsch nach europäischer Einigung oszillierenden ehemaligen Weltkriegskämpfer für die deutsch-französische Versöhnung; die Tadler von Liberalismus und Kapitalismus als Auswüchse einer individualistischen, materialistischen und deswegen als ehr- und tugendlos befundenen Gesellschaft distanzieren sich bald von der - als moralisierend desavouierten - moralischen Ordnung des Vichy-Regimes. Ihrem ästhetischen Politikverständnis entspricht vielmehr der Faschismus mit seinem Führer-, Körper- und Jugendkult und Antisemitismus, wobei die radikale Ausprägung des letzteren unveräußerliches Kennzeichen der „Polemiker“ 93 ist. Es ist der Typus des „Ästheten“, den die Deutsche Botschaft und das Deutsche Institut in Paris aufgrund seines symbolischen Kapitals bevorzugt, fördert und ins Deutsche Reich einlädt. 94 Zur Jahrhundertwende geboren wachsen die Schriftsteller, Literaturkritiker und Journalisten in der pazifistischen Atmosphäre der Nachkriegsjahre auf. Die in den dreißiger Jahren zunehmende faschistische Orientierung der jungen Je suis partout-Journalisten führt zum Bruch mit der germanophoben Action française. Der polemische Ton, eine vielfältig artikulierte Gewaltbereitschaft 95 sowie das Pamphlet als Gattung der Wahl sind Markenzeichen dieser sozial heterogenen Gruppe. Ehedem Befürworter eines französischen Faschismus, wandeln sich die Schriftsteller-Journalisten zu bedingungslosen Kollaborationisten 96 und Verfechtern eines Europa unter deutscher Führung. Obgleich sie sich insgesamt vom Moralismus der „Notabeln“ absetzen, tendieren sowohl die älteren, anerkannten Schriftsteller als auch die Normaliens oder Agrégés unter ihnen zum Pol der „Notabeln“. Dort, wo sich die Gruppen der „Polemiker“ und „Avantgardisten“ kreuschichte und Wirkung II (1940-1950), S. 15-29, insb. S. 27f. Ausf. zu Doriots Entwicklung vom „communiste national“ (S. 49ff.) zum „soldat de Hitler“ (S. 420ff.), s. Burrin, Philippe: La dérive fasciste: Doriot, Déat, Bergery; 1933-1945. Paris: Ed. du Seuil, 1986 (L’univers historique), insb. S. 160-186, 287-312, 420-446. Zu Déat s. Kp 4.7.4 92 Detailliert s. Sapiro, Gisèle: Figures d’écrivains fascistes, S. 205-220. 93 Detailliert s. Ebd.: S. 220-230. 94 Sapiro, Gisèle: La collaboration littéraire, S. 48f., 54f., hier S. 55. 95 Darunter subsumiert die Verfasserin u.a. Denunziationen oder einen extremen Rassismus. Dies.: Figures d’écrivains fascistes, S. 236. 96 Stanley Hoffmann differenzierte zwischen der Kollaboration mit Deutschland aus Staatsgründen und zum Schutz französischer Interessen sowie dem Kollaborationismus mit den Nationalsozialisten, d.h. dem Wunsch nach Imitation des NS-Regimes. Detailliert s. Hoffmann, Stanley: Essais sur la France: déclin ou renouveau? Paris: Editions du Seuil, 1974, insb. S. 41-58, hier S. 42. <?page no="38"?> 38 zen, nähert man sich am stärksten einer als „faschistisch“ zu qualifizierenden Literatur bzw. Kritik an, „subordonnant le jugement esthétique à un jugement politique et social et aux préceptes du racisme biologique.“ 97 Typenübergreifende Bedeutung habe indes das „héritage militaire“ für das profaschistische Engagement der Intellektuellen, das sich in extremis in Gestalt der Unterstützung der Miliz manifestierte. 98 1.4 Le „‚ballet des crabes’“ Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage Qu’est-ce qu’un collaborateur? (1945) befand Sartre: „Ce serait une erreur de confondre collaborateur et fasciste, bien que tout collaborateur dût accepter, par principe, l’idéologie des nazis.“ 99 Schwierig gestaltet sich die ideologische Einordnung der disparaten „Spezies“ der Kollaborationsschriftsteller, deren Verhältnis zu NS-Deutschland nicht frei von Ambivalenzen war. 100 Nichtsdestoweniger zählen viele Themen, welche die Schriftsteller der Kollaboration avant la lettre und während der Besatzung aufgreifen, zum faschistischen „Inventar“ der Vorkriegs- und Kriegsjahre, doch es stellt sich erneut die Frage, was einen Text zu einem faschistischen Bekenntnis macht. Der Sartre’sche Einwand verdeutlicht, dass die folgende Untersuchung zwingend zweigliedrig zu verfahren hat: Die Analyse des faschistischen „Diskurses“ - verstanden im Sinne von lat. discursus „‚Erörterung, Mitteilung’“ 101 über den Faschismus - geht einher mit der Begutachtung des Verhältnisses zum deutschen Nachbarn und späteren Besatzer sowie der Rezeption der nationalsozialistischen Ideologie. 97 Sapiro, Gisèle: Figures d’écrivains fascistes, S. 230. 98 Ebd.: S. 223. Jürgen Ritte betont indes, wie schwierig eine Klassifizierung ist und verweist auf das „relative“ Ergebnis der Sapiro’schen Kategorisierung, wenn er resümiert: „Der Kollaborateur war nicht unbedingt Antisemit, war nicht unbedingt Nazi, war nicht einmal unbedingt deutschfreundlich, geschweige denn des Deutschen kundig. Seine Haltung hat endogene, oftmals rein französische Ursachen wie Autoritarismus und Antirepublikanismus bei den ‚Alten’ […] oder simplen Karrierismus bei den ‚Jungen’, die sich über ‚revolutionären’ und antibourgeoisen Nonkonformismus im Zeichen des deutschen Besatzers ein ‚symbolisches Kapital’ als moderne ‚Intellektuelle’ anschaffen wollten.“ Ritte, Jürgen: „Aus den Tagen der Besatzung: Ein Pariser Kolloquium“. In: NZZ, 26. 3. 2002, S. 62, Hervorhebung BB. 99 Sartre, Jean Paul: Qu’est-ce qu’un collaborateur? In: Ders.: Situations III: Lendemains de guerre. Paris: Gallimard, 1949, S. 43-61, hier S. 44, Hervorhebung BB. 100 Kohut vertritt die These, gerade in der Literatur sei eine „distanzlose Identifikation“ mit der deutschen Besatzungsmacht eher ungewöhnlich gewesen. Kohut, Karl: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Literatur der Résistance und Kollaboration in Frankreich: Geschichte und Wirkung I (1930-1939), S. 19. 101 „Diskurs“. In: Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold. 24., durchges. und erw. Aufl. Berlin (u.a.): de Gruyter, 2002, S. 204. <?page no="39"?> 39 In Anschluss an die Skizzierung von Sapiros idealtypischen Figures d’écrivains fascistes sollen nun sowohl zur Illustrierung dieses „‚ballet des crabes‘“ 102 , so die Céline entlehnte Metapher, als auch zur sinnfälligen Verortung der gewählten Autoren-Trias Châteaubriant, Brasillach und Chardonne weitere bedeutende Vertreter aus dem breiten Spektrum der kollaborierenden Literaten mit ihren für die Fragestellung relevanten Werken präsentiert werden. Ziel der kaleidoskopischen Einblicke ist die Sensibilisierung für das komplexe und zugleich diffizile Unterfangen, literarische Texte als faschistisch zu „labelisieren“. Es handelt sich um eine repräsentative Auswahl aus dem von Rebatet aufgeführten Reigen von Autoren, die er in L’Académie de la dissidence ou la Trahison prosaïque zurecht als Erzähler unterschiedlichen Alters, verschiedenartiger Begabungen und vielfältigen Geschmacks charakterisiert: Der „Notabel“ Abel Bonnard, die „Ästheten“ Pierre Drieu la Rochelle, Marcel Jouhandeau, Henry de Montherlant, der „Polemiker“ Lucien Rebatet sowie der sich einer eindeutigen Kategorisierung entziehende Louis-Ferdinand Céline. 1.4.1 Henry de Montherlant Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, in dem der Kriegsfreiwillige Henry de Montherlant 103 (1895-1972) verwundet wird, finden u.a. Niederschlag in La Relève du matin (1920), Le songe (1920) und Chant funèbre pour les morts de Verdun (1924). Den Krieg, aus dessen Mythen Montherlant wie kaum ein anderer „une inspiration véritablement virile, neuve et belle“ 104 schöpft, 102 Mit diesen Worten bezeichnet Céline in einem Brief an André Brissaud (18. 5. 1947) die „Vichy-Clique“ in Sigmaringen. Zit. in Brissaud, André: Pétain à Sigmaringen (1944-1945). Paris: Librairie Académique Perrin, 1966, S. 426. Dieses Céline’sche Qualifikativ wählte die ebenfalls nach Sigmaringen geflohene Bewunderin der „Teutonen“ und bekennende „fasciste d’instinct“ Maud de Belleroche - ehemalige Geliebte des 1946 hingerichteten Nouveaux-Temps-Journalisten Jean Luchaire und Gattin des Kollaborationisten Georges Guilbaud (u.a. Tunis-Journal, L’Echo de la France) - als Titel ihres Erinnerungsbuches an die Pariser Besatzungszeit, das Sigmaringer „Exil“ sowie die Nachkriegsjahre. Belleroche, Maud de: Le ballet des crabes. Paris: Dualpha, 2002, S. 51. Vgl. auch die Erinnerungen der 86-jährigen Belleroche im Jahr 2008 an das „Genie“ Céline, der sie in seinem Roman Nord (1960) als Mlle de Chamarande, „une nageuse ultrasexy qui rend fous tous les hommes du Brenner’s“ (gemeint ist Brenner’s Parkhotel Kurhof in Baden-Baden), verewigte: Alliot, David; Dupuis, Jérôme: „Maud de Belleroche: L’ambassadrice“. In: Lire hors série: Céline, les derniers secrets 7 (2008), S. 31-33, hier S. 32. 103 Zu Montherlants in zwei Phasen verlaufendem Verhältnis zur deutschen Besatzungsmacht, i.e. „celle du pas en avant, 1941-1942; celle du pas en arrière, 1943-1944“, s. Garet, Jean-Louis: „Montherlant sous l’Occupation“. In: Vingtième siècle 31 (Juli- Sept. 1991), S. 65-73, hier S. 70. 104 Brasillach, Robert: „Causerie littéraire: Henry de Montherlant: ‚L’Equinoxe de Septembre’ (Grasset)“. In: L’Action française, 29. 12. 1938, S. 5. S. auch Saint Robert, Phi- <?page no="40"?> 40 betrachtet er als sportlichen Wettkampf, in dem das „fair play“ zu gelten habe: „La défaite doit être acceptée ‚sportivement’.“ 105 Die Eventualität eines künftigen deutsch-französischen Krieges vor Augen, formuliert er in der Allocution à des étudiants allemands (1929) die Maxime, qu’il faut traiter son ennemi comme s’il devait être un jour son ami, et son ami comme s’il devait être un jour son ennemi. […] Il est fort, l’homme qui garde les yeux sur l’état tout opposé à celui où il se trouve à présent, et le tient non seulement pour possible, mais pour bon également. Non seulement, vous le savez, les Grecs d’Homère proclament qu’en se battant, ils n’ont pas de haine. […]. Quand Achille tue Lycaon, il lui dit: ‚Alla philos! Meurs, ami! ’ S’il doit y avoir entre nous une nouvelle guerre, qu’elle soit sous cette épigraphe-là. 106 Ausgezeichnet mit dem Grand Prix de littérature de l’Académie française für den Roman Les Célibataires (1934), gelingt Montherlant nach dem international erfolgreichen Roman-Zyklus Jeunes filles (1936-1939), in dem seine Misogynie unverhüllt zum Ausdruck kommt, mit der Tragödie La Reine morte (1942) der Durchbruch als Dramenautor. Hatte sich der Autor in den auszugsweise ins Deutsche übersetzten essayistischen Abhandlungen unter dem Titel Service inutile (1935; Nutzloses Dienen, 1939) bereits kritisch über seine Landsleute geäußert, verurteilt er im folgenden Essayband Équinoxe de Septembre (1938) die französische „Midinettenmoral“; er bekennt sich als erbitterter Gegner des Münchner Abkommens, was den lippe de: „Montherlant: Les vertus de la guerre“. In: Le Magazine littéraire 378 (Juli- Aug. 1999), S. 56-57. 105 So Montherlant in seiner Rechtfertigungsschrift Mémoire. Montherlant, Henry de: Mémoire (Texte inédit). In: Ders.: L’Équinoxe de septembre suivi de Le Solstice de juin et de Mémoire (Texte inédit). Paris: Gallimard, 1976, S. 269-311, beide Zitate S. 280, Kursivierung im Text. 106 Dieser und sechs weitere Texte finden sich rubriziert unter dem Titel „Mors et vita“. S. Ders.: Allocution à des étudiants allemands. In: Montherlant, Henry de: Mors et Vita, Service inutile. 7 è éd. Paris: Gallimard, 1954, S. 13-181 (Mors et vita), S. 163-171 (Allocution), hier S. 169f., Kursivierung im Text. Diese Einstellung bekräftigt der Autor am 11. 1. 1938 in der Vorrede Le parapluie du Samouraï (publiziert in dem Essayband L’Equinoxe de Septembre) zu Otto Abetz’ Vortrag Franzosen und Deutsche vor der französischen Gruppe Rive Gauche, deren Übersetzung und z.T. kritische Kommentierung in den Deutsch-Französischen Monatsheften erscheint: „Selten noch ist das deutsch-französische Problem ritterlicher, aber auch fatalistischer behandelt worden […]. Er sieht die deutsch-französische Verständigung unter dem Gleichnis der zwei Samurais, welche sich vor einem tödlichen Duell freundschaftlich unter dem gleichen Regenschirm unterhalten. Ein Krieg zwischen Deutschland und Frankreich sei nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich, sobald die nationalen Interessen des einen oder anderen Landes ihn erfordern. Wir danken Henry de Montherlant, daß er eine These als F r e u n d aufgestellt hat, die meistens nur von F e i n d e n einer deutschfranzösischen Verständigung verteidigt wird.“ Bran, Fritz: „Unter dem Schirm des Samurai“. In: Deutsch-Französische Monatshefte 5. Jg. (1938), S. 49-54, hier S. 49, Sperrung im Text, folgend abgekürzt mit DFMh. <?page no="41"?> 41 kommunistischen Dichter Louis Aragon (1897-1982) anerkennend erklären lässt: „‚J’ai le plus grand respect des hommes qui représentent vraiment la France; et dans la littérature, je compte parmi eux Henry de Montherlant. On n’est pas plus français que lui. Jusqu’à la rage.’“ 107 Nur wenige Jahre später jedoch akzeptiert der Schriftsteller, der das Bild von Deutschland als Frankreichs Xanthippe 108 entworfen hatte, in Le solstice de juin (Sommer 1940) die französische Niederlage und Besatzung. Den Waffenstillstand und Sieg des Hakenkreuzes deklariert der „aristocrate de l’esprit“ in Analogie zum nationalsozialistischen Kult des Solstitiums zur zyklischen (Sommersonnen-)Wende nach der deutschen Niederlage von 1918 109 : „[A]ujourd’hui l’armistice a été signé. Le 24 juin. Pour le solstice d’été. La croix gammée, qui est la Roue solaire, triomphe en une des fêtes du Soleil.“ 110 Während der Besatzungszeit schreibt er u.a. für Drieu la Rochelles NRF, La Gerbe, Je suis partout, Aujourd’hui, Le Matin, Comoedia, Deutschland-Frankreich und spricht sich für ein Europa unter nationalsozialistischer Führung aus. Montherlant, vom CNE im Herbst 1946 mit einjährigem Publikationsverbot belegt, rechtfertigt in Mémoire (1948) sein Verhalten während der Besatzung mit dem Hinweis, er habe weder einer politischen Partei angehört, noch an den Weimarer Schriftstellerkongressen teilgenommen. Seine Artikel charakterisiert er als 107 Zit. in Sipriot, Pierre: Album Montherlant. Paris: Gallimard, 1979, S. 170. Vgl. Brasillachs missbilligende Rezension des „drôle de livre“, die er mit den Worten schließt: „On imaginerait mal un livre plus éloigné du réel et de l’humain, sur un sujet aussi réel et aussi humain. On hausse les épaules, et puis on se dit: c’est dommage.“ Brasillach, Robert: „Causerie littéraire: Henry de Montherlant: ‚L’Equinoxe de Septembre’ (Grasset)“. 108 „L’Allemagne a été mise auprès de la France comme Xanthippe fut mise auprès de Socrate: pour lui donner l’occasion de se surmonter.“ Montherlant, Henry de: „Que 1938 est bon (juillet 1938)“. In: Ders.: L’Équinoxe de Septembre. In: Ders.: Essais. Préface par Pierre Sipriot. Paris: Gallimard, 1963 (Bibliothèque de la Pléiade; 167), S. 767- 777, hier S. 767. 109 Nach dem Solstice de juin, der im November 1941 in der NRF erschien, ist die zeitgleich bei Grasset verlegte Essaysammlung benannt, darunter der von Pierre Seghers zitierte Artikel Les chenilles. Weiterführend zum Solstice de juin, der Förderung dieser Publikation durch die deutsche Propaganda sowie zu Montherlants Kontakten mit dem Deutschen Institut, insb. zu Karl Heinz Bremer, dem Übersetzer von Service inutile, s. Hausmann, Frank-Rutger: „Heinz Bremer et Henry de Montherlant“. In: Lendemains 100 (2000), S. 97-121, hier S. 105. Bremer lobt „Montherlants scharfe Stimme und seine persönlichkeitsbewußte Haltung des selbstsicheren Herrenmenschen inmitten einer abgestumpften Menschenmenge, die das leichte Leben wahllos hinnimmt“. S. Bremer, Karl Heinz: Montherlants Dienen (Geleitwort). In: Montherlant, Henry de: Nutzloses Dienen. Aus dem Französischen übertragen und eingeleitet von Karl Heinz Bremer in Zusammenarbeit mit Otto Diehl. Leipzig-Markkleeberg: Karl Rauch, 1939, S. 7-23, hier S. 10. 110 Montherlant, Henry de: Le Solstice de juin. Paris: Editions Grasset, 1941, S. 292. <?page no="42"?> 42 si peu marqués de ‚collaboration’ que, lorsque M. Fabre-Luce voulut […] me faire figurer dans une Anthologie d’écrivains de l’‚Europe nouvelle’, ouvrage à tendance nationale-socialiste, il ne trouva, pour m’y représenter, qu’un texte que j’avais confié à Aragon avant la guerre, qui le fit passer dans plusieurs journaux de la presse communiste! … (Que 1938 est bon, recueilli dans L’Équinoxe de septembre.) 111 1953 erscheinen Montherlants Textes sous une occupation (1940-1944), zwischen 1959 und 1982 wird ein Großteil seines Œuvre, darunter auch der Kollaborationstext avant la lettre Le Solstice de juin, in der Bibliothèque de la Pléiade ediert, die den Anspruch erhebt „des éditions de référence des plus grandes œuvres du patrimoine littéraire et philosophique français et étranger“ zu vereinen. 112 1960 wird der Romancier in die Académie française aufgenommen. Am 21. September 1972, Datum des Äquinoktiums, begeht Montherlant Selbstmord. 1.4.2 Abel Bonnard Abel Bonnard 113 (1883-1968), als Schriftsteller „‚le régal des délicats’“ 114 , zudem Journalist (Figaro, Gaulois, La Revue de Paris) und Weltreisender, wird 1932 in die Académie française gewählt (Ausschluss im Jahr 1944). Bereits 1905 hatte diese den Gedichtband Les Familiers und den Reisebericht En Chine: 1920-1921 (1924), ein Lob des französischen Kolonialismus und Plädoyer gegen eine Rassenvermischung, prämiert. 115 Denken und Werk Bonnards spiegeln einen Nationalismus Maurras’scher Prägung, Antisemi- 111 Ders.: Mémoire, S. 302, Kursivierung im Text, Hervorhebung BB. Zu den „False Itineraries“ der Mémoire s. Golsan, Richard J.: Henry de Montherlant: Itinerary of an Ambivalent Fascist. In: Ders.: (Hg).: Fascism, aesthetics, and culture. Hanover and London: University Press of New England, 1992, S. 143-163, insb. S. 144-154. 112 Vgl. die Präsentation auf der Homepage von Gallimard: http: / / www.gallimard.fr/ collections/ pleiade.htm (letzter Zugriff am 2. 8. 2011). Nach Herausgabe der Theaterstücke (1955), des ersten Bandes der Romane (1959) und der Essays (1963) endet die Pléiade-Edition 1982 mit dem zweiten Band von Montherlants Romanen. 113 Zu Bonnards Biografie s. Homassel, Jean-François: „Abel Bonnard“. In: Juillard, Jacques; Winock, Michel (Hgg.): Dictionnaire des intellectuels français, S. 195-196. Als manifest revisionistisch einzustufen sind die Publikationen Olivier Mathieus, Bewunderer Bonnards und Hitlers, der Anfang der neunziger Jahre in Belgien wegen Volksverhetzung angeklagt und zu achtzehn Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt wurde. Zu Mathieu vgl. die Ausführungen zu „La nouvelle progéniture de Robert Faurisson“ in Igounet, Valérie: Histoire du négationnisme en France, Paris: Éd. du Seuil, 2000, insb. S. 548-554. Léon Degrelle schrieb das Nachwort zu Mathieu, Olivier: Abel Bonnard: Une aventure inachevée. Postface de Léon Degrelle. Paris: Editions Avalon, 1988, S. 298-300. Zum Terminus „Revisionismus“ s. Kp. 4.2. 114 So Alfred Baudrillart in seiner Lobrede auf Abel Bonnard anlässlich dessen Wahl in die Académie française, zit. in Mièvre, J.: „L’évolution politique d’Abel Bonnard (jusqu’au printemps 1942)“. In: Revue d’histoire de la Deuxième Guerre Mondiale 108 (oct. 1977), S. 1-26, hier S. 6. 115 Ebd.: S. 4f. <?page no="43"?> 43 tismus und Antiparlamentarismus wider. Seine Kritik an den „schwächlichen“ Liberalen, Les Modérés (1936), die er kurz vor Konstituierung der Volksfrontregierung ins Visier nimmt, markiert Bonnards Distanzierung von der konservativen Rechten und bringt eine zunehmende Begeisterung für den Führerkult und Nationalsozialismus zum Ausdruck. Der Académicien, der für Valois’ Le Nouveau Siècle „d’orientation clairement fascisante“ 116 schreibt, die „Grünhemden“ des Bauernführers Dorgères, Doriots faschistischen PPF sowie den von der Action française inspirierten Cercle Fustel-de-Coulanges und Cercle Jacques-Bainville unterstützt, sorgt im Mai 1937 für Aufregung, als er nach einer Unterredung mit Hitler auf dem Obersalzberg öffentlich seine Bewunderung für das „soziale“ Wesen des Nationalsozialismus bekundet. 117 Unmittelbar nach der französischen Niederlage fordert er zur loyalen Kollaboration mit NS-Deutschland auf 118 , die er selbst in Form anglophober und pro-nazistischer Stellungnahmen in La Gerbe, Je suis partout und Drieu la Rochelles NRF betreibt. Im Mai 1941 besiegelt der „écrivain[]notable[]“ 119 in Je suis partout den Bruch mit den als „réactionnaires“ charakterisierten Gefolgsleuten Maurras’, von denen er verlangt, „qu’ils sortent d’un patriotisme de vanité pour passer à un patriotisme d’orgueil“, denn „[i]l ne s’agit plus de s’enfermer dans un fanatisme étroit et pur. Un monde se fait, et il faut en être.“ 120 Die emphatisch zu Pensées dans l’action (1941) stilisierte Sammlung von Artikeln aus den Monaten August bis Dezember 1940 erweist sich als Arsenal anglophober, antidemokratischer, antigaullistischer Äußerungen, verbunden mit dem Appell an eine loyale Kollaboration mit dem siegreichen Deutschland, dem Lobpreis der starken Rasse Frankreichs in Gestalt der Bauern, Handwerker und Arbeiter und der Verherrlichung Pétains. Besondere Bedeutung misst Bonnard der hymnisch als „la fleur d’une race“ besungenen französischen Jugend bei: 116 S. „Georges Valois“. In: Berstein, Gisèle et Serge: Dictionnaire historique de la France contemporaine. Tome I: 1870-1945. Bruxelles: Éditions Complexe, 1995 (Bibliothèque Complexe), S. 792-794, hier S. 793. Zu Valois’ Gleichung: „nationalisme + socialisme = fascisme“ und Le Faisceau s. auch Dioudonnat, Pierre-Marie: Je suis partout 1930-1944: Les maurrassiens devant la tentation fasciste. Paris: La table ronde, 1973, S. 412. 117 Das übersetzte Interview, das am 22. Mai in Le Journal erschienen war, findet sich in Domarus, Max (Hg.): Hitler: Reden und Proklamationen 1932-1945, kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen. Bd. 1: Triumph (1932-1938). Neustadt a. d. Aisch: Schmidt, 1962, S. 693-695. 118 Bonnard, Abel: En écoutant la voix anglaise. In: Ders.: Pensées dans l’action. Paris: Grasset, 1941, S. 7-24, hier S. 22. 119 Burrin, Philippe: La France à l’heure allemande, S. 410. 120 Bonnard, Abel: „Les Réactionnaires“. In: JSP, 26. 5. 1941, S. 1 und 4, hier S. 4. S. auch Mièvre, J.: „L’évolution politique d’Abel Bonnard (jusqu’au printemps 1942)“, S. 21. <?page no="44"?> 44 La mission de notre jeunesse peut se résumer en peu de mots: elle doit effacer du patriotisme français ce fonds de désespoir secret qui s’y cache depuis trop longtemps, elle doit marquer la fin d’une France négative. Elle remplacera les réactions par l’action, elle perdra le goût des impasses pour reprendre le goût des chemins […]. La mission des jeunes gens est d’aller chercher l’avenir. 121 Die „Moral“ der französischen Niederlage sei die Chance zur umfassenden Erneuerung, was er poetisch durch Vergleich mit Achilleus, der die Amazonenkönigin Penthesilea bezähmt und geliebt habe, zu untermauern meint: „Le véritable homme d’action est avec la réalité comme Achille avec l’Amazone, qui la dompte d’abord, pour l’épouser ensuite: il ne domine pas seulement cette réalité qui lui est offerte, il la satisfait aussi, il la maîtrise et il l’exauce“. 122 Seit Januar 1941 Mitglied des Conseil National de Vichy, geriert der wegen seiner Homosexualität als „‚Gestapette’“ und aufgrund seiner Unterstützung durch den deutschen Botschafter in Paris Otto Abetz 123 (1903- 1958) als „‚Abetz Bonnard’“ 124 Verhöhnte zum Prototyp des Ultra-Kollaborationisten: Der „‚académicien de choc’“ 125 ist u.a. Ehrenmitglied des Groupe collaboration sowie der LVF und präsidiert dem Ehrenkomitee der 121 Beide Zitate in Bonnard, Abel: Des jeunes gens, ou une jeunesse? In: Ders.: Pensées dans l’action, S. 105-125, hier S. 106 und 118f. 122 Ders.: Morale d’une défaite. In: Ebd.: S. 42-67, hier S. 51f. 123 Der Zeichenlehrer Otto Abetz war Leiter der Arbeitsgemeinschaft Karlsruher Jugendbünde und gründete 1930 gemeinsam mit Jean Luchaire (1901-1946), dem Herausgeber der Zeitschrift Notre Temps, den Sohlbergkreis, der „als ‚Zwischenstelle für deutsche und französische Jugendbestrebungen’ […] auf örtlicher Ebene Gelegenheit für die Aussprache über kulturelle und politische Probleme beider Nationen bieten [wollte].“ (Unteutsch, Barbara: Vom Sohlbergkreis zur Gruppe Collaboration, S. 57). Seit Oktober 1934 Frankreichreferent in der Dienststelle Ribbentrop, seit Mai 1937 NSDAP-Mitglied, war Abetz von August 1940 bis November 1942 sowie von November 1943 bis September 1944 deutscher Botschafter in Paris, anschließend in Sigmaringen (bis Dezember 1944). Nach seiner Verhaftung (Herbst 1945) wurde der ehemalige Botschafter im Jahr 1949 von einem französischen Militärtribunal zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt, im April 1954 begnadigt. Während seiner Haft verfasste er Pétain et les Allemands: Mémorandum d’Abetz sur les rapports Franco- Allemands (1948) sowie Das offene Problem: ein Rückblick auf zwei Jahrzehnte deutscher Frankreichpolitik (1951). S. „Otto Abetz“. In: Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871-1945. Hrsg. vom Auswärtigen Amt/ Historischer Dienst. Bd. 1: A-F. Bearb. von Johannes Hürter, Martin Kröger, Rolf Messerschmidt, Christiane Scheidemann. Paderborn u.a.: Schöningh, 2000, S. 2-3. Ausf. zu Abetz vgl. insb. die im Jahr 2002 mit dem Prix Eugène Colas der Académie française ausgezeichnete Dissertation von Lambauer, Barbara: Otto Abetz et les Français: ou l’envers de la Collaboration. Paris: Fayard, 2001. 124 Buisson, Patrick: 1940-1944: Années érotiques. Vichy ou les infortunes de la vertu. Paris: Albin Michel, 2008, die „Spitznamen“ finden sich der Reihe nach S. 272 und 269. 125 So Célines Charakterisierung, zit. in Burrin, Philippe: La France à l’heure allemande, S. 413. <?page no="45"?> 45 Arno Breker-Retrospektive (Mai 1942). „Der scharfsinnige Plauderer und preziöse Stilist Bonnard, […] Männlichkeitsfanatiker und Antisemit“, nimmt sowohl 1941 als auch 1942 am Europäischen Schriftstellertreffen in Weimar teil. 126 Dezidiertes Anliegen des Erziehungsministers (seit April 1942) im Kabinett Pierre Laval (1883-1945) ist die „rassische Reinigung“ der französischen Universitäten, doch stößt die Einführung von Lehrstühlen für „Rassenfragen“ an der Sorbonne auf den Widerstand der Fakultäten und der Studierenden. Bonnard, der noch im Juli 1944 ein stärkeres Engagement Vichys an Seiten des Deutschen Reiches fordert (Déclaration commune sur la situation politique), gelingt kurz darauf die Flucht über Sigmaringen nach Franco-Spanien, das ihm Asyl gewährt. Anstelle der nach Kriegsende über den abwesenden Bonnard verhängten Todesstrafe tritt 1960 das Verdikt der symbolischen, da bereits verbüßten, zehnjährigen Verbannung. Am 31. Mai 1968 verstirbt Bonnard in Madrid. 1.4.3 Pierre Drieu la Rochelle „J’étais de la race nordique, maîtresse du monde. […] Une secrète mystique, au fond du goût de la puissance“ 127 lautet Pierre Drieu la Rochelles 128 (1893-1945) Selbstporträt aus dem Jahr 1921 (Etat civil). Der Patriot und europäische Internationalist (Mesure de France, 1922; Récit secret, postum, 1951), der in den zwanziger und dreißiger Jahren zwischen den ideologischen Polen oszilliert 129 , prophezeit „[l]es derniers jours“ einer Epoche der 126 S. Dufay, François: Die Herbstreise: Französische Schriftsteller im Oktober 1941 in Deutschland. Ein Bericht. Aus dem Franz. von Tobias Scheffel. Berlin: Siedler, 2001, S. 110. An dieser Stelle sei für ausf. Informationen zu den im weiteren Verlauf dieser Arbeit erwähnten französischen Weimar-Reisenden von Herbst 1941 auf Dufay verwiesen, der diese porträtiert. Vgl. auch Ernst Jüngers Charakterisierung Bonnards (Tagebucheintrag vom 1. 5. 1944): „Ich schätze immer wieder die Ordnung und Präzision seiner Gedanken, die voltairianische und zugleich katzenhafte Geistigkeit, die behende nach Menschen und Dingen greift, sie spielend wendet und auch verwundend ritzt.“ Jünger, Ernst: Das zweite Pariser Tagebuch. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 3: Tagebücher III, Strahlungen II. Stuttgart: Klett-Cotta, 1979, S. 9-294, hier S. 256f. Weiterführend zu Jünger, der zum Kommandostab des Militärbefehlshabers Frankreich (Juni 1941 bis August 1944) gehörte, s. insb. Kp. 5.7. 127 Drieu la Rochelle, Pierre: État civil. Paris: Gallimard, 1977, S. 167. 128 Zu Drieus Biografie s. „Pierre Drieu La Rochelle“. In: Berstein, Serge et Gisèle: Dictionnaire historique de la France contemporaine, S. 262-264. Weiterführend s. die Einleitung von Sartorius, Joachim: Die Hand auf nichts legen zu können. In: Drieu la Rochelle, Pierre: Geheimer Bericht und andere biographische Aufzeichnungen. Aus dem Franz. übersetzt und hrsg. von Joachim Sartorius. München: Matthes & Seitz, 1986, S. 7-42. Ausf. Darstellung, auf die im Folgenden Bezug genommen wird, bei Zimmermann, Margarete: Die Literatur des französischen Faschismus: Untersuchungen zum Werk Pierre Drieu la Rochelles 1917-1942. München: Wilhelm Fink Verlag, 1979 (Freiburger Schriften zur Romanischen Philologie; 37). 129 Böhm, Michael: „Mit Vollgas durch die großen Ideologien: Der französische Schriftsteller Pierre Drieu La Rochelle in neuen Editionen.“ In: FAZ, 21. 10. 2009, S. N4. Im <?page no="46"?> 46 Dekadenz - so der Titel der 1927 gemeinsam mit Emmanuel Berl edierten Zeitschrift - denn „[t]out est foutu. Tout? Tout un monde, toutes les vieilles civilisations - celles d’Europe en même temps que celles d’Asie.“ 130 Die Auseinandersetzung mit der als überkommen empfundenen bürgerlichen Gesellschaft ist in das fiktionale Werk des Kulturkritikers eingeschrieben (u.a. Rêveuse bourgeoisie, 1937; Gilles, 1939). In La Comédie de Charleroi (1934), einem Novellenband, der Züge antisemitischen Denkens offenbart, bringt der Verdun-Kämpfer zudem das nachhaltige Erlebnis der mystifizierten „Grande Guerre“ zum Ausdruck, welches er bereits in den Gedichtsammlungen Interrogation (1917) und Fond de Cantine (1920) reflektiert hatte. Vor dem Hintergrund von Hitlers „Machtergreifung“ im Januar 1933 und in Reaktion auf die blutige Niederschlagung des Aufstands vom 6. Februar 1934 in Paris bekennt sich der Berlin-Reisende (Januar 1934) zu einem Socialisme fasciste (1934): „Pour moi, le fascisme, c’était le socialisme. La seule chance restante du socialisme réformiste, étant exclue la méthode communiste, l’intrusion russe.“ 131 Der von der ästhetischen 132 Inszenierung des Nationalsozialismus beeindruckte Gast des Nürnberger Reichsparteitags (1935), ist von 1936 bis 1938 (sowie 1942) Mitglied in Doriots PPF 133 November 1944 hält Drieu Rückblick und konstatiert: „J’ai manqué devenir communiste vers 34, je suppose. De 26 à 35 je me rapproche du communisme. J’étudie un peu Marx, l’économie: je suis de fait socialiste depuis 28, 29.“ Drieu la Rochelle, Pierre: Journal, 1944-1945. In: Ders.: Récit secret suivi du Journal, 1944-1945, et d’Exorde. [Paris]: Gallimard, 1961, S. 45-86, hier S. 61. Zu Drieus Bruch mit der Linken (darunter prominent Louis Aragon) im Jahr 1925, vgl. seine Selbstauskünfte im Kapitel „Itinéraire“ in Ders.: Socialisme fasciste. 3 ème édition. Paris: Gallimard, 1934, S. 219-245. 130 Ders.: „Le Capitalisme, le Communisme et l’Esprit“. In: Les Derniers Jours: Cahier politique et littéraire rédigé par Pierre Drieu La Rochelle et Emmanuel Berl, N° 1, 1. 2. 1927, S. 1. Zu Berl (1892-1976), der u.a. die linksliberale Wochenzeitung Marianne (1932-1937) leitete, Pétains erste Reden im Juni 1940 redigierte und 1967 von der Académie française mit dem Grand Prix de Littérature ausgezeichnet wurde, s. Laguerre, Bernard: „Emmanuel Berl“. In: Juillard, Jacques; Winock, Michel (Hgg.): Dictionnaire des intellectuels français, S. 169-170. 131 So Drieu la Rochelle in den der Edition des „Récit secret“ beigefügten „Notes“. Ders.: Récit secret suivi du Journal, 1944-1945, et d’Exorde. [Paris]: Gallimard, 1961, S. 101- 104, hier S. 103. 132 S. Hofer, Hermann: Die faschistoide Literatur. In: Kohut, Karl (Hg.): Literatur der Résistance und Kollaboration in Frankreich: Geschichte und Wirkung I (1930-1939), S. 113-145, hier S. 123f. 133 Als Grund für seinen Parteiaustritt im Jahr 1938 führt Drieu an: „[F]asciste déterminé, je ne pouvais admettre à la longue qu’il [Doriot] ne le fût pas.“ Drieu La Rochelle, Pierre: Fragment de mémoires: 1940-1941. Précédé d’une étude sur „Le parti unique et P. Drieu La Rochelle“ par Robert O. Paxton. Paris: Gallimard, 1982, S. 69, s. auch S. 53. Gerade mit seiner faschistischen Gesinnung wird er im Herbst 1942 seinen Wiedereintritt erklären: „[J]e vais rentrer chez Doriot, pour marquer à la face des Allemands qui font ici une vaseuse politique démocratique ma préférence fasciste.“ Vgl. den Tagebucheintrag vom 28. 10. 1942 in Ders.: Journal: 1939-1945. Éd. établie, pré- <?page no="47"?> 47 (Doriot ou La vie d’un ouvrier français, 1936; Avec Doriot, 1937) und liefert in dessen Parteiorgan L’Emancipation nationale seine Definition des Faschismus: „[C]’est le mouvement politique qui va le plus franchement, le plus radicalement dans le sens de la grande révolution des mœurs, dans le sens de la restauration des corps dans sa santé, sa dignite, sa plénitude“. 134 Der autobiografisch geprägte zeitkritische Entwicklungsroman Gilles (1939/ 1942), dessen junger Protagonist Sinnerfüllung in der faschistischen Ideologie und im Kampf im Spanischen Bürgerkrieg an Francos Seite findet - ein Werk, mit dem sich der Autor selbst zwischen Céline, Montherlant und seinem Freund Malraux verortet 135 - kündigt den Kollaborateur an. Auf deutschen 136 Wunsch übernimmt mit Drieu la Rochelle im Herbst 1940 „[e]iner der Stars der Pariser rechtsintellektuellen Szene“ 137 , der laut NS- Propaganda schon früh verstanden habe, „‚dass der Wetterhahn Europas inmitten Deutschlands aufgestellt werden muß, um von allen Völkern des Kontinents gesehen zu werden’“ 138 , die Leitung der bedeutendsten französischen Literaturzeitschrift, „considérée comme une citadelle stratégique des Lettres“ 139 . Unter ihm wird die NRF, zu deren Autorenkreis er in den beiden vergangenen Jahrzehnten gezählt hat, zur „‚vitrine’ de la Collaboration“ 140 . Ehrenmitglied des Groupe Collaboration und Teilnehmer am Weimarer Schriftstellerkongress 141 (1941 und 1942), erneuert Drieu im Januar 1943 bilanzierend sein faschistisches und kollaboratives Glaubensbekenntnis: [J]e suis fasciste parce que j’ai mesuré le progrès de la décadence en Europe. J’ai vu dans le fascisme le seul moyen de contenir et de réduire cette décadence, et sentée et annotée par Julien Hervier. Paris: Gallimard, 1992 (Collection témoins), S. 300. 134 Ders.: „Le parti de la santé“. In: L’Emancipation nationale, 13. 8. 1937, S. 2. 135 Vgl. seine Selbstauskünfte von 1942 in Drieu la Rochelle, Pierre: Préface. In: Ders.: Gilles. Paris: Gallimard, 2003, S. 9-22, hier S. 18. 136 Otto Abetz, den der Schriftsteller 1934 in Deutschland als Leiter des Sohlbergkreises kennengelernt hatte und mit dem ihn, Drieu zufolge, „[une] espèce d’amitié“ verband, hatte Drieu für die NRF Gestaltungsfreiheit und Schutz zugesagt, zudem sollte diese einzig seiner Zensur unterliegen. Der Autor betonte rückblickend, Abetz habe ihn nicht zur Kollaboration gedrängt. Ders.: Fragment de mémoires, S. 37 und 43. 137 Betz, Albrecht: „Intellektuelle Kollaboration in Europa: Paul de Man, ein inakzeptabler Artikel und das Vorbild von Pierre Drieu La Rochelle.“ In: FAZ, 18. 7. 2007, S. N3. 138 Zit. in Hausmann, Frank-Rutger: „Er ist der Kunst über den Rhein nachgereist: Pierre Drieu La Rochelle auf Deutschland-Besuch im Jahr 1941“. In: FAZ, 29. 11. 2003, S. 38. 139 Hebey, Pierre: La NRF des années sombres: juin 1940-juin 1941: Des intellectuels à la dérive. Paris: Gallimard, 1992, S. 7. Im Dezember 1940 erscheint die erste NRF- Ausgabe (N° 322) unter Drieu la Rochelle. 140 Sapiro, Gisèle: La guerre des écrivains, S. 17. 141 Vgl. das Loblied des Direktors der NRF auf das starke „europäische Deutschland“: „J’aime trop la force […] pour ne pas la saluer là où elle est et tâcher d’en ramener sur les miens les avantages dont nous ne sûmes plus nous faire les initiateurs.“ Drieu La Rochelle, Pierre: „L’Allemagne européenne“. In: NRF 335 (Jan. 1942), S. 104-112. <?page no="48"?> 48 par ailleurs ne croyant plus guère dans les ressources politiques de l’Angleterre comme de la France, réprouvant l’intrusion d’empires étrangers à notre continent comme ceux des Etats-Unis et de la Russie, je n’ai vu d’autre recours que dans le génie de Hitler et de l’hitlérisme. 142 Der Sieg Hitler-Deutschlands und ein unter nationalsozialistischer Hegemonie geeintes Europa erscheinen ihm zu diesem Zeitpunkt jedoch immer unwahrscheinlicher. Faschist, aber in zunehmendem Maße vom „schwächlichen“ Faschismus enttäuscht 143 , befürwortet er im Juni 1944 den Durchbruch des Kommunismus: „Dans l’écroulement du fascisme, je rattache mes dernières pensées au communisme. Je souhaite son triomphe […]. Staline, c’est donc mieux qu’Hitler le triomphe de l’homme sur l’homme, du plus fort de l’homme contre le plus faible.“ 144 Auch aus Les chiens de paille (1944), dem letzten, die politischen Zeitgeschehnisse reflektierenden Roman aus der Feder des „socialiste européen, qui dénonce l’invasion et la destruction de l’Europe“ 145 , spricht Drieus Desillusionierung: „[P]our que l’Allemagne sauvât la France, il aurait fallu que la France voulût se sauver. Elle ne l’a pas voulu.“ 146 „[F]idèle à l’orgueil de la Collaboration“ verhängt er über sich das Todesurteil: „Oui, je suis un traître. Oui, j’ai été d’intelligence avec l’ennemi. J’ai apporté l’intelligence française à l’ennemi. […] Je réclame la mort.“ 147 142 Ders.: „Bilan“. In: NRF 347 (Jan. 1943), S. 103-111, hier S. 105. Nach seinem Rücktritt als directeur-gérant der NRF - die letzte Drieu’sche Edition der NRF und zugleich letzte Ausgabe während des Krieges stammt von Juni 1943 (N° 352) - publiziert er vorwiegend in der Révolution nationale. Vgl. Sartres sarkastische Diagnose: „Il [Drieu] est venu au nazisme par affinité élective: au fond de son cœur comme au fond du nazisme, il y a la haine de soi“. [Sartre, Jean-Paul]: „Drieu la Rochelle ou la haine de soi“. In: Les Lettres françaises 6 (April 1943), S. 3-4, hier S. 4. 143 Vgl. bspw. den Tagebucheintrag vom 27. 7. 1943: „Le fascisme démontre par sa faiblesse la faiblesse de l’Europe, la décadence de l’Europe.“ und „Oui, j’étais, je suis vraiment fasciste. […] J’ai cru à un rêve comme se doit un intellectuel et je reste fidèle à ce rêve.“ S. Drieu La Rochelle, Pierre: Journal: 1939-1945, S. 349f. 144 So der Tagebucheintrag vom 10. 6. 1944 in Ebd.: S. 386f. 145 Vgl. Ders.: Préface. In: Drieu La Rochelle, Pierre: Les chiens de paille. Paris: Gallimard, 1964, S. 9-11, hier S. 11. Zur Interpretation der letzten Romane Les chiens de paille und L’Homme à cheval s. Hofer, Hermann: Interpretation literarischer Texte der Kollaboration. In: Kohut, Karl (Hg.): Literatur der Résistance und Kollaboration in Frankreich: Texte und Interpretationen. Bd. 3. Tübingen: Gunter Narr, 1984 (Schwerpunkte Romanistik; 20), S. 139-178, hier S. 156-162. 146 So die Romanfigur des pro-nazistischen Faschisten Bardy in Drieu La Rochelle, Pierre: Les chiens de paille, S. 112. 147 Ders.: Exorde. In: Drieu La Rochelle, Pierre: Récit secret suivi du Journal, 1944-1945, et d’Exorde. [Paris]: Gallimard, 1961, S. 87-99, hier S. 99. Exkulpierenden Charakter hingegen haben Anmerkungen wie bspw.: „Je ne plaide pas coupable, je considère que j’ai agi comme pouvait et devait agir un intellectuel et un homme, un Français et un Européen.“; „Je n’ai jamais été germanophile, je l’ai hautement dit.“ Ebd.: Zitate der Reihe nach S. 90, 95. <?page no="49"?> 49 Nach mehreren gescheiterten Selbstmordversuchen nimmt sich Drieu la Rochelle am 15. März 1945 das Leben. „Pierre Drieu La Rochelle […] a-t-il sa place dans la Pléiade? “ Diese Frage stellt sich nach Erscheinen der Pléiade-Edition N° 578 im April 2012 nicht mehr. 148 1.4.4 Marcel Jouhandeau Zu den ersten Übersetzern des Französisch- und Lateinlehrers Marcel Jouhandeau 149 (1888-1979), der im Herbst 1920 mit Les Pincengrain in der NRF debütiert, zählt Walter Benjamin 150 (1892-1940). Die entlarvenden Schilderungen der Provinzgesellschaft seiner Heimatstadt Guéret alias Chaminadour (1934-1941) und seines turbulenten Ehelebens (u.a. Elise, 1933; Chroniques maritales, 1938; Nouvelles chroniques maritales, 1943; Scènes de la vie conjugale, 1948-1959) machen Jouhandeau berühmt. Die Homosexualität des Autors findet erstmals Niederschlag in Monsieur Godeau intime (1926), Jouhandeaus fiktionalem Alter Ego; auf die anonyme Publikation De l’abjection (1939) wird 1944 Jouhandeaus „persönliches“ Bekenntnis in Chronique d’une passion folgen. Scheinbar unvermutet publiziert dieser von André Gide und Jean Paulhan bewunderte Chronist, den Claude Mauriac als unvergleichlichen „moraliste au service de la vérité“ 151 charakterisiert, zwischen Oktober 1936 und Juli 1937 drei Artikel in der Action française, in denen er seinem Antisemitismus freien Lauf lässt: Comment je suis devenu antisémite, Le Péril juif und Procédé juif erscheinen kurz darauf unter dem Titel Le Péril juif (1937) bei den Editions Sorlot, die 1934 die französische Übersetzung von Hitlers Mein Kampf publiziert hatten. Auslöser der Schmähartikel, so Jouhandeau, ist der kurz zuvor in der NRF erschienene mehrteilige Beitrag La jeunesse d’un clerc (1936) des jüdischen Philosophen und Schriftstellers Julien Benda, den er als „petit clown sémite“ und „gnome étranger“ diffamiert. Angesichts der französischen „racaille juive“ und 148 Assouline, Pierre: „Drieu sur papier bible“. S. auch Kp. 1.1. 149 Zur Biografie Jouhandeaus, der von 1911 bis 1949 am katholischen Pensionat Saint- Jean de Passy in Paris unterrichtete, s. Villate, Laurent: „Marcel Jouhandeau“. In: Juillard, Jacques; Winock, Michel (Hgg.): Dictionnaire des intellectuels français, S. 763- 764. 150 Aus Jouhandeaus Erzählungsbänden Les Pincengrain (1924), Astaroth (1929), Prudence Hautechaume (1927) übersetzte Benjamin u.a. Mademoiselle Zéline/ Fräulein Zéline (1930), Le Marié du village/ Der Dorfbräutigam (1931), La Bergère Nanou/ Die Schäferin Nanou (1932). S. „Marcel Jouhandeau“. In: Bibliographie deutscher Übersetzungen aus dem Französischen 1700-1948. Bearb. von Hans Fromm. Bd. 3: F-K. Baden-Baden: Verl. f. Kunst u. Wissensch., 1951, S. 401-402. 151 Claude Mauriac (1914-1996), ältester Sohn von François Mauriac, sagte, für Jouhandeau hätte es keine Halbheiten gegeben, „dès ce monde ce ne peut être que le ciel ou l’Enfer.“ Mauriac, Claude: Introduction à une mystique de l’enfer: L’œuvre de Marcel Jouhandeau. Paris: Grasset, 1938, S. 17 und 174. <?page no="50"?> 50 einem erstmalig jüdischen Ministerpräsidenten an der Spitze einer jüdisch „infiltrierten“ Volksfrontregierung, empfindet der Autor mehr Affinität zum ehemaligen Erzfeind Deutschland und dessen Führer als zum Feind im Innern Frankreichs: [P]our ma part je me suis toujours senti instinctivement mille fois plus près par exemple de nos ex-ennemis allemands que de toute cette racaille juive prétendue française et bien que je n’éprouve aucune sympathie personnelle pour M. Hitler, M. Blum m’inspire une bien autrement profonde répugnance. Au moins je sais à quoi m’en tenir sur les sentiments du Führer à notre égard et le Führer est chez lui et maître chez lui, tandis que M. Blum, M. Benda et X. ne sont pas de chez moi et ils sont chez moi, et ce qui est le plus fort, M. Blum est maître chez moi ou en passe de le redevenir […]. 152 Im Interesse seines Landes, das Gefahr laufe zum „merdier“ 153 zu verkommen, sieht sich Jouhandeau berufen zum Warner vor der superlativisch dämonisierten „race la plus terrible, la plus âpre qui ait existé, d’une race de lion à cœur de chacal en proie à laquelle la France est tombée“ und der kommunistischen Invasion, „[i]nvention juive“. 154 Im Frühjahr 1939 scheint der Pamphletist seinen Antisemitismus abgelegt zu haben 155 , Le 152 Alle Zitate aus Jouhandeau, Marcel: Comment je suis devenu antisémite. In: Ders.: Le Péril juif. Paris: Fernand Sorlot, 1939, S. 5-14, hier S. 11f. Zu Benda vgl. Kp. 1.1. Während Paulhan in Reaktion auf diesen Artikel seinen Freund (vgl. Paulhans „Freundschaftserklärung“ vom 24. 2. 1936: „Je ne sais ce que je serais, sans ton amitié, sans cette flamme près de nous“) behutsam darauf hinweist, „que tous les hommes ont la même âme. C’est une découverte à côté de quoi le reste ne compte plus guère“ (Oktober 1936), bringt er am 18. 11. 1936 gegenüber André Suarès unverhüllt seine Besorgnis zum Ausdruck: „Marcel Jouhandeau se croit une mission. Son second article était d’un antisémitisme assez violent pour que nul journal n’ait osé le publier.“ Paulhan, Jean: Choix de lettres I: 1917-1936. La littérature est une fête. [Publ.] par Dominique Aury et Jean-Claude Zylberstein, revu et annoté par Bernard Leuilliot. Paris: Gallimard, 1986, Zitate der Reihe nach S. 364f. (Nr. 294), hier S. 365, S. 415ff. (Nr. 338) hier S. 415 und S. 422 (Nr. 345). 153 Da in Frankreich eine „‚bande d’aventuriers, de Juifs et de Russes’“ eingefallen sei, hatte Jouhandeau die entsprechende Umbenennung seiner Novellensammlung Le saladier für zutreffender gehalten. Zit. in Hebey, Pierre: La NRF des années sombres, insb. S. 350-360, hier S. 352, Kursivierung im Text. 154 Erstes Zitat s. Jouhandeau, Marcel: Procédé juif. In: Ders.: Le Péril juif, S. 23-31, hier S. 26. Zur Legitimation seines „heiligen“ Kampfes vgl. auch: „Je n’ai pas demandé cette mission, je la reçois. Elle m’est donnée.“ Ebd.: S. 27. Zweites Zitat s. Jouhandeau, Marcel: Le Péril juif. In: Ders.: Le Péril juif, S. 15-22, hier S. 21. 155 Am 3. Februar 1939 schreibt Jouhandeau Paulhan: „‚Pourquoi me parles-tu des Juifs? […] J’ai fait taire cette passion et c’est toi qui viens la ranimer. Promets-moi de ne plus me prendre pour Hitler.’“ Paulhan, Jean: Choix de lettres II: 1937-1945. Traité des jours sombres. [Publ.] par Dominique Aury et Jean-Claude Zylberstein, revu, augmenté et annoté par Bernard Leuilliot. Paris: Gallimard, 1992, S. 459f. (Nr. 59), Anm. 2. Dass Jouhandeaus Antisemitismus daraufhin nicht abebbte, belegt seine Korrespondenz mit Paulhan. Vgl. Hebey, Pierre: La NRF des années sombres, S. 356f. Rode sei exemplarisch für die Verharmlosung von Jouhandeaus Kollaboration und <?page no="51"?> 51 Péril juif verschwindet aus der Werkliste. 156 Doch scheint der Weg zur Kollaboration dadurch geebnet. Hitlers Sieg über Frankreich schockiert Jouhandeau nicht, vielmehr zeigt sich der Philanthrop („Ah! si je pouvais haïr! Mais non. L’homme est partout mon frère, plus que mon frère.“) vom höflichen Auftreten der attraktiven deutschen Besatzungssoldaten beeindruckt: „Je me demande si je rêve: la grandeur, la beauté ne manquent ni à leurs voix ni à leurs hymnes et la confusion qu’on en ressent n’est que plus profonde.“ 157 Von einer dreiwöchigen Deutschlandrundreise und dem anschließenden Dichtertreffen in Weimar im Herbst 1941 erstattet der nunmehr „Sehende“ begeistert Bericht: „Oui, je suis venu en Allemagne. J’ai voulu voir; j’ai vu un grand peuple à l’œuvre, tellement calme dans son labeur qu’on ignorerait qu’il est en guerre […] J’ai vu un peuple discipliné et quand on m’avait promis des esclaves, je vois des hommes libres.“ 158 Erst 1949 und zudem anonym veröffentlicht Jouhandeau mit Le voyage secret 159 ein verschlüsseltes, homoerotisch gefärbtes Reisejournal, in dessen Zentrum seine Leidenschaft für zwei deutsche Reisebegleiter, „X“ (= Gerhard Heller, literarischer Zensor in Paris) und „H“ (= der junge Dichter Hans Baumann), steht. 160 Antisemitismus zitiert: „A la Libération, que put-on lui reprocher? Un voyage ‚culturel’ en Allemagne […].“; „Jouhandeau aimait trop l’homme, les hommes, pour être l’ennemi d’aucun, de quelque teinte et poil qu’il fût.“ Rode, Henri: Un mois chez Marcel Jouhandeau. Paris: Le Cherche Midi, 1979, S. 244f. Um sich zu exkulpieren argumentierte Jouhandeau bspw., er sei kurz nach Publikation der Artikel in einen Juden verliebt gewesen (s. Chronique d’une passion), ergo: „[J]e n’étais pas antisémite, c’est l’évidence, je ne l’ai jamais été foncièrement.“ Vgl. Jouhandeau, Marcel: La vie comme une fête: Entretiens suivis d’éléments de biographie et de bibliographie par Jacques Ruffié. Paris: Pauvert, 1977, S. 106ff., hier S. 106. 156 Ruffié, Jacques: Du côté de chez Jouhandeau: Quelques jalons biographiques sur Jouhandeau et les siens. In: Sur Marcel Jouhandeau: analyses littéraires, témoignages, anecdotes. Actes du colloque centenaire Marcel Jouhandeau, Guéret, 15-16 octobre 1989. Limoges: Presses de l’Université de Limoges et du Limousin, 1992, S. 187-204, hier S. 200. 157 Jouhandeau, Marcel: Journal sous l’occupation suivi de La courbe de nos angoisses. Paris: Gallimard, 1980, S. 41 und 43. 158 Ders.: „Témoignage“. In: NRF 334 (Dez. 1941), S. 649-651, hier S. 649, Hervorhebung BB. In seinem Brief an André Dhôtel verurteilt Paulhan am 10. Januar 1942 den Artikel als „péniblement idiot“. Paulhan, Jean: Choix de lettres II: 1937-1945, S. 259f. (Nr. 216), hier S. 259. Zur Analyse des Artikels s. Hofer, Hermann: Interpretation literarischer Texte der Kollaboration, S. 148-151. 159 [Jouhandeau, Marcel]: Le voyage secret par l’auteur de L’abjection. Edition confidentielle. Paris: Impr. Grou-Radenez, 1949. Dieses in der Pariser Bibliothèque Nationale konsultierte Exemplar trägt die Widmung: „Pour la Bibliothèque Nationale je suis heureux de signer ce livre Marcel Jouhandeau, 17. nov. 55“. Anlässlich Jouhandeaus 100. Geburtstags publizierten die Editions Arléa im Jahr 1988 Le voyage secret. 160 Ausf. zu Gerhard Heller s. Kp. 4.7.3, Fn. 229, Kp. 5.1.6 sowie 5.3, zu Hans Baumann (1914-1988), Dichter des „neuen“ Deutschlands (Dietrich-Eckart-Preis, 1941) und Verfasser des berüchtigten NS-Marschliedes Es zittern die morschen Knochen, s. „Hans <?page no="52"?> 52 Ein Jahr nach Jouhandeaus Tod erscheint das retrospektiv entschärfte Journal sous l’occupation et La courbe de nos angoisses 161 (1980) über die Jahre 1939-1945. Der beflissene Tagebuchschreiber (Mémorial, 1948-1972; Journaliers, 1961-1982) rechtfertigt darin seine Kontakte zum Deutschen Reich und versucht, den Vorwurf des Antisemitismus als Beweggrund seiner Deutschlandreise zu entkräften: „Si l’on voyait dans mon voyage en Allemagne une suite à mes réflexions sur la question juive, on se tromperait lourdement.“ 162 Die Bezeichnung „Kollaborateur“ lehnt der Romancier als der Realität unangemessen ab; Jouhandeau, den eine lebenslange Freundschaft mit Ernst Jünger (1895-1998) verbinden wird, den er im besetzten Paris kennenlernt, wünscht vielmehr, aus seinem Körper eine brüderliche Brücke zwischen den beiden Nachbarländern zu machen. 163 Dank der Fürsprache seines Freundes Paulhan 164 übersteht Jouhandeau, der im Herbst 1944 auf der „schwarzen Liste“ des CNE steht und um sein Leben fürchtet (La courbe de nos angoisses), die Epuration unbeschadet. Ihm widmet er 1946 den Essai sur moi-même. In einem sich selbst vergewissern- Baumann“. In: Sarkowicz, Hans; Mentzer, Alf: Schriftsteller im Nationalsozialismus: ein Lexikon. Berlin: Insel-Verlag, 2011, S. 105-110. 161 Zur Kritik am vermeintlichen Original-Tagebuch, in dem die Kollaboration und Résistance fast gänzlich ausgespart bleiben, s. Hebey, Pierre: La NRF des années sombres, S. 357ff. Von Dufay stammt der Hinweis, dass es sich hierbei keineswegs um das authentische Tagebuch aus der Besatzungszeit handelt, sondern um die korrigierte, beschönigende Version der (in der Pariser Bibliothèque Jacques Doucet und in den Archives Jean Paulhan im IMEC konservierten Exemplare der) Souvenirs d’Allemagne (Carnet de voyage), worin Jouhandeau seine Germanophilie offen zeigte. S. Dufay, François: Die Herbstreise, S. 157-161. 162 Jouhandeau, Marcel: Journal sous l’occupation suivi de La courbe de nos angoisses, S. 84; s. auch S. 154, 180. Roussillat widerlegt Jouhandeaus Leugnung antisemitischer Motive für die Reise anhand der bereits erwähnten Souvenirs d’Allemagne, in denen der Autor bekannte: „‚Car ce n’est que ce que j’ai éprouvé en 1936 qui me conduit ce soir logiquement à Bonn: tout plutôt qu’une victoire juive, tout plutôt qu’une domination juive et c’est à quoi nous destinait une défaite allemande dans cette guerre qui est une guerre juive.’“ Zit. in Roussillat, Jacques: Marcel Jouhandeau: Le diable de Chaminadour. Nouvelle éd. revue et corrigée. Paris: Bartillat, 2002, S. 243. 163 S. Jouhandeau, Marcel: Journal sous l’occupation suivi de La courbe de nos angoisses, S. 84, 355, zu Ernst Jünger S. 165, 174, 347. Seine Reverenz erweist er Jünger, dem er engels- und sylphengleiche Züge zuschreibt, in Ders.: Reconnaissance à Ernst Jünger. In: Farbige Säume: Ernst Jünger zum 70. Geburtstag. Stuttgart: Klett, 1965, S. 38-40. Jünger wiederum erwähnt Jouhandeau (Eintrag vom 4. 1. 1979), der ihm wenige Monate vor seinem Tod den 26. Band der Journaliers mit der Widmung „‚Nunc dimittis: À Ernst avec mon amitié impérissable’“ übersendet, insbesondere in seinem Zweiten Pariser Tagebuch (19. 2. 1943 bis 13. 8. 1944). Jünger, Ernst: Siebzig verweht. Bd. 2. Stuttgart: Klett-Cotta, 1981, S. 437. Zu Jünger s. auch Kp. 1.4.2, Fn. 126, Kp. 1.4.6, Fn. 195, ausf. Kp. 5.7. 164 S. u.a. Paulhans Brief vom 10. 5. 1945 an Gide, den er für Jouhandeau „d’âme droite“ zu gewinnen sucht. Paulhan, Jean: Choix de lettres II: 1937-1945, S. 417f. (Nr. 368), hier S. 418. Zu Paulhans Einsatz für Chardonne s. auch Kp. 5.1.7. <?page no="53"?> 53 den Rückblick auf die Okkupation beteuert Jouhandeau 1965 in einer Hommage an Ernst Jünger seinen unverbrüchlichen Glauben an Deutschland und die deutsch-französische Versöhnung: „[J]amais […] je n’ai renoncé à croire en l’Allemagne éternelle, en l’Allemagne de Goethe, de Beethoven et de Hegel et d’espérer notre réconciliation. Si j’ai poussé jusqu’à l’imprudence cette attitude morale, je ne m’en repens pas.“ 165 Der Verfasser von mehr als 120 Werken stirbt am 7. April 1979. 1.4.5 Lucien Rebatet Der antibürgerlich, antidemokratisch und antiklerikal einstellte Maurras- Anhänger Lucien Rebatet 166 (1903-1972), alias François Vinneuil, gelangt als Musik-, Literatur- und Filmkritiker der Action Française (1929-1940) zu Renommee; 1932 stößt er zu Je suis partout. Ungeachtet seiner Begeisterung für Wagner und Mozart, zählt Rebatet zunächst zur „extrême droite la plus anti-allemande“ 167 , die Châteaubriants Hymne auf Hitler-Deutschland La Gerbe des Forces, „ce délire d’admiration“ und „cet agenouillement devant la force“, verurteilt. 168 Doch der Nationalist stellt sein schriftstellerisches Talent zunehmend in den Dienst einer „folie culturicide“ 169 und wandelt sich zum Faschisten, Bewunderer Hitlers und „Repräsentant[en] des jusqu’auboutisme collaborationniste“ 170 : Anfangs Befürworter von Pétains Révolution nationale, hält der Journalist (Radio-Vichy, Le Petit Parisien, Doriots Cri du Peuple) die Kollaboration des Vichy-Regimes mit NS-Deutschland bald für unzureichend, was zum endgültigen Zerwürfnis mit Maurras führt. Nicht nur Brasillach, sondern auch die Nationalsozialisten schätzen den bemerkenswerten Polemiker, „[t]oujours en colère contre les hommes, les choses, le temps, la nourriture, le théâtre, la politique, [qui] établit autour de lui un climat de catastrophe et de révolte auquel nul ne résiste“ 171 , und 165 Jouhandeau, Marcel: Reconnaissance à Ernst Jünger, S. 40. 166 Zu Rebatets Biografie vgl. Belot, Robert: „Lucien Rebatet“. In: Juillard, Jacques; Winock, Michel (Hgg.): Dictionnaire des intellectuels français, S. 1155-1157. Ausf. Darstellung inkl. einer biografischen Skizze bei Gantner, Bettina: Theorie und Praxis der Vermittlung faschistischer Werte: Untersuchungen zum Werk Lucien Rebatets. Herdecke: GCA-Verlag, 1999, S. 36-52. 167 Zu Rebatets Werdegang vgl. Dioudonnat, Pierre-Marie: Je suis partout 1930-1944, S. 67ff., hier S. 76, Kurzbiografie S. 452. 168 Rebatet, Lucien: „Alphonse de Châteaubriant ‚La Gerbe des Forces’“. In: JSP, 3. 9. 1937, S. 8. 169 Belot, Robert: „Lucien Rebatet“, S. 1155. 170 Reichel, Edward: Collaboration extrême - Lucien Rebatet, Les Décombres (1942). In: Sändig, Brigitte; Risterucci-Roudnicky, Danielle; Obergöker, Timo (Hgg.): Literarische Gegenbilder der Demokratie: Beiträge zum Franko-Romanisten-Kongreß in Freiburg/ Br. 2004. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2006, S. 101-108, hier S. 102, Kursivierung im Text. 171 Brasillach, Robert: Notre avant-guerre. Paris: Plon, 1941, S. 216. <?page no="54"?> 54 radikalen Antisemiten: Rebatet, der bereits am 15. April 1938 und 17. Februar 1939 für Je suis partout zwei Sonderausgaben ediert hat, die, so ihre jeweiligen Titel, Les juifs und Les juifs et la France diffamieren, hetzt in Les Tribus du cinéma et du théâtre (1941) gegen die „jüdische Invasion“ im französischen Kulturbereich und das, ihm zufolge, selbst zur Zeit der Besatzung „unverfrorene jüdische Schmarotzertum“: „La plupart ont pris leurs quartiers sur la Côte d’Azur. Tandis que les Parisiens se serrent le ventre, ces pirates festoient au soleil avec leur butin.“ 172 Gegen einen weiteren Feind zieht er in Le Bolchévisme contre la civilisation (1941) zu Felde. Ein Jahr später avanciert das autobiografische Pamphlet mit dem suggestiven Titel Les Décombres 173 (1942, Denoël) zum Bestseller der Besatzungszeit. Rebatets aggressive, auch dem Stil des „livre de guerre, de révolution, de règlements de comptes“ 174 eingeschriebenen Angriffe, zielen in verschiedene Richtungen: Über knapp 700 Seiten ergießt sich die antisemitische Diatribe und hasserfüllte Anklage der Dritten Republik, die der Verfasser für das gerechtfertigte französische Debakel verantwortlich macht, flankiert von der Abrechnung des von der „In-Action française“ Enttäuschten mit der reaktionären statt revolutionären Révolution nationale Pétains: Pendant que la jeune Europe enfantait dans de glorieuses douleurs un ordre mâle et sain, la France vichyssoise s’est montrée semblable à une vieille douairière, dans des affutiaux de l’autre siècle qui sentent le pipi de chat, offusquée par les cris et les ébats de la vie, et qui achève son existence loin de Paris, au fond d’une espèce de pension de famille calamiteuse, en alignant autour d’elle des bibelots puérils, poussiéreux, ébréchés, surannés, semblable à une vieille bigote qui se fait voler par des escrocs en soutane. 175 Die explizite Aufforderung zur Eliminierung der als „bêtes malfaisantes, impures, portant sur elles les germes de tous les fléaux“ geschmähten Juden im Namen Frankreichs und Einforderung von Rassengesetzen mit dem Ziel der „déjudaïsation“, gehen einher mit dem Wunsch des deutschen Endsieges im Interesse Europas: „Je souhaite la victoire de l’Allemagne parce que la guerre qu’elle fait est ma guerre, notre guerre. […] Non, la force des Aryens allemands brisée, ce ne serait plus pour l’Occident qu’une suite d’effrayants cauchemars.“ 176 Nur die Allianz mit Nazi-Deutschland, nur wenn sich Frankreich mit „ces ‚feldgrau’“ in Waffenbrüderschaft an 172 Rebatet, Lucien: Les Tribus du cinéma et du théâtre. Paris: Nouvelles éditions françaises, 1941, S. 94. 173 Die folgenden Ausführungen nehmen Bezug auf Hofer, Hermann: Interpretation literarischer Texte der Kollaboration, S. 154-155; s. auch Zimmermann, Margarete: Die Literatur des französischen Faschismus, S. 241-253. 174 So die Wiederauflage rechtfertigend Pauvert, Jean-Jacques: Note de l’éditeur. In: Rebatet, Lucien: Les Mémoires d’un fasciste: Les décombres 1938-1940. Tome 1. Paris: Editions Jean-Jacques Pauvert, 1976, S. I-V, hier S. III, Kursivierung im Text. 175 Rebatet, Lucien: Les Décombres. Paris: Denoël, 1942, S. 639. 176 Zitate der Reihe nach Ebd.: S. 566, 568, 605, Kursivierung im Text. <?page no="55"?> 55 der Ostfront vereine, könne die feindliche Trias Russland, Marxismus und Judentum besiegt werden. 177 Während Rebatet hier unzweideutig für einen französischen Faschismus plädiert, denn „[l]’espérance, pour moi, est fasciste“ 178 , und der Milice française unter Joseph Darnand (1897-1945) beitritt, lautet die Losung des Hitler-Bewunderers - „J’admire Hitler.“ - wenige Wochen vor der Befreiung des französischen Hexagons: „Fidélité au National-Socialisme“. 179 Kurz darauf flieht Rebatet mit der als „‚Je suis parti’“ 180 verspotteten Redaktionsequipe nach Sigmaringen. 1945 in Österreich verhaftet, wird er 1946 in Frankreich zum Tode, im Folgejahr zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt und 1952 amnestiert. Der Romancier (Les deux étendards, 1951; Les épis mûrs, 1954), Musikkritiker (Une histoire de la musique, 1969) und Journalist der rechten Wochenzeitung Rivarol 181 , bleibt seiner faschistischen Gesinnung bis zum Tod treu. Postum erscheinen 1976 Rebatets zwischen 1970- 1972 verfasste Mémoires d’un fasciste inklusive einer bereinigten und gekürzten Version von Les Décombres. 2006 erfährt die „épopée pamphlétaire exterminatrice“ 182 durch die Editions de l’homme libre eine Neuauflage. 1.4.6 Louis-Ferdinand Céline 1932 erlangt Louis-Ferdinand Destouches 183 (1894-1961) unter dem Künstlernamen Céline mit dem sprachlich revolutionären und formal innovativen Antikriegsroman Voyage au bout de la nuit (Prix Renaudot), den die 177 Ebd.: S. 605. 178 Ebd.: S. 652; vgl. auch den gleichnamigen Artikel aus dem Folgejahr: Rebatet, Lucien: „L’espérance est fasciste“. In: JSP, 10. 9. 1943, S. 1 und 8. 179 Ders.: „Fidélité au national-socialisme“. In: JSP, 28. 7. 1944, S. 1 und 3. 180 Zit. in „Je suis partout“. In: Berstein, Gisèle et Serge: Dictionnaire historique de la France contemporaine, S. 445-447, hier S. 447, Kursivierung im Text. 181 Weiterführend zu den Mitarbeitern Rivarols (Kollaborationisten wie Claude Jamet und André Thérive) und der politischen Orientierung (Antidemokratie, Antikommunismus, Antisemitismus, Rassismus) des im Januar 1951 gegründeten Hebdomadaire de l’opposition nationale et européenne, s. Verdès-Leroux, Jeannine: Refus et violences: politique et littérature à l’extrême droite des années trente aux retombées de la Libération. Paris: Gallimard, 1996, S. 443-455. Zu Rivarol als eine Art Je suis partout- Nachfahr s. Dioudonnat, Pierre-Marie: Je suis partout 1930-1944, S. 407. 182 Belot, Robert: „Lucien Rebatet“, S. 1156. 183 Als Referenz dient folgend die ausf. Monografie von Geyersbach, Ulf: Louis- Ferdinand Céline. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2008. 1907 schickten die Eltern Destouches ihren Sohn zum Erlernen der deutschen Sprache für ein Jahr nach Deutschland, anschließend nach England. Ebd.: S. 24f. Zur Vertiefung vgl. das jüngst anlässlich der Kontroverse veröffentlichte Céline-Dossier im Magazine Littéraire: Louis-Ferdinand Céline: Dossier coordonné par Maxime Rovere. In: Le Magazine Littéraire 505 (Feb. 2011), S. 48-87, zur Orientierung vgl. darin André Dervals Chronologie (S. 51-54) und Bibliografie (S. 83). Zu Célines Werken vgl. die Webseite von Pascal Fouché: http: / / www.biblioceline.fr/ home.html (letzter Zugriff am 23. 8. 2011). <?page no="56"?> 56 Linke begeistert rezipiert, schlagartig Berühmtheit. Diesem schonungslos zivilisationskritischen Werk eingeschrieben sind die Erfahrungen des Kriegsfreiwilligen und -versehrten des Ersten Weltkriegs, Plantagenaufsehers in Kamerun (1916/ 17) und Angestellten der Rockefeller-Stiftung für Tuberkulose-Aufklärung (1918), der nach einem Medizinstudium ab 1924 im Auftrag der Hygieneabteilung des Völkerbundes in Genf international tätig ist, anschließend als Arzt in der Pariser Banlieue (1928) und später für die Gesundheitsfürsorgestelle in Clichy praktiziert. Daran knüpft Céline in seinem Folge-Roman Mort à crédit (1936) an, auf den konservative Kreise angesichts der gesteigerten Drastik, Obszönität und Misanthropie im Gegensatz zur Linken ablehnend reagieren. Die vom enttäuschten Schriftsteller und Anarchisten daraufhin unternommene Reise in die Sowjetunion mündet ein in die antikommunistische Propagandaschrift Mea culpa (1936), ein Jahr später erklärt er dem Judentum den Krieg: Mit Bagatelles pour un massacre (1937), in Deutschland nach ideologischer Adaptation unter dem denunziatorischen Titel Die Judenverschwörung in Frankreich (1938) verlegt, gerät Céline zum rabiaten Pamphletisten und Verfasser „geifernder antisemitischer Hetztraktate“ 184 . Die Juden macht er für die Dekadenz des Westens verantwortlich, sie seien Wurzel allen Übels und Blums Volksfrontregierung der Gipfel der jüdischen Weltverschwörung, weshalb er befindet: „[J]e préférerais douze Hitler plutôt qu’un Blum omnipotent. Hitler encore je pourrais le comprendre, tandis que Blum est inutile, ça sera toujours le pire ennemi, la haine à mort, absolue.“ 185 Während Rebatet und „nous autres fascistes“ begeistert auf die antisemitische Schmähschrift reagieren - „nous avions dansé la pyrrhique en 1938 autour des Bagatelles“ -, so gesteht er auch: „[L]’Ecole des cadavres, un an plus tard, nous cassa bras 184 Hausmann, Frank-Rutger: „Zwischen Pest und Cholera: Diskreditiert der Antisemitismus das übrige Werk? Ulf Geyersbach legt eine neue Biographie Louis-Ferdinand Célines vor, der hier als notorischer Provokateur erscheint.“ In: FAZ, 27. 10. 2008, S. 34. Exemplarisch für die umfangreiche Forschungsliteratur zu Célines Pamphleten vgl. bspw. Scullion, Rosemarie: Style, Subversion, Modernity: Louis-Ferdinand Céline’s Anti-Semitic Pamphlets. In: Golsan, Richard J. (Hg.): Fascism, aesthetics, and culture, S. 179-197; zur Interpretation des Céline’schen „‚antisémitisme esthétique’ = ‚anarchisme de droite’”, s. Schmidt-Grassee, Thomas: Die Pamphlete Célines - Implikationen ihrer Einheit. In: Born, Joachim; Steinbach, Marion (Hgg.): Geistige Brandstifter und Kollaborateure: Schriftkultur und Faschismus in der Romania. Dresden u.a.: Dresden Univ. Press, 1998 (Dresden: Romania; 3), S. 229-243, hier S. 238; Halsberghe, Christophe: Céline et l’extermination: quelques remarques préliminaires à une (re)lecture des pamphlets. In: Engel, Vincent (Hg.): La littérature des camps: la quête d’une parole juste, entre silence et bavardage. Louvain-la-Neuve: Les Lettres Romanes, 1995 (Les lettres romanes: Hors série), S. 167-178. Zur Wiederauflage der „trois monuments du déshonneur français“, s. Bellosta, Marie-Christine: „Rééditer les pamphlets? “ In: Le Magazine littéraire hors-série: Louis-Ferdinand Céline 4 (2002), S. 70-76, hier S. 70. 185 Céline, Louis-Ferdinand: Bagatelles pour un massacre. Paris: Éditions Denoël, 1937, S. 193. <?page no="57"?> 57 et jambes.“ 186 Céline, der 1933 den „Hitlerwahn“ luzide erkannt und prophezeit hatte, es sei unmöglich, dem Faschismus zu widerstehen 187 , demonstriert dies selbst nur wenige Jahre später: L’Ecole des Cadavres (1938) rühmt er als „le seul texte à l’époque (journal ou livre) à la fois et en même temps: antisémite, raciste, collaborateur (avant le mot) jusqu’à l’alliance militaire immédiate, antianglais, antimaçon et présageant la catastrophe absolue en cas de conflit.“ 188 Nur das Bündnis mit Nazi-Deutschland könne, so der mittlerweile selbsternannte Freund Hitlers und aller Deutschen, das arische Europa schützen: Confédération des Etats Aryens d’Europe. Pouvoir exécutif: L’armée franco-allemande. Une alliance franco-allemande à la vie, à la mort. Alors! et seulement alors, ça sera enfin terminé la plaisanterie judaïque millénaire, l’inépuisable croisade humanitaire, démocratique, l’incessante, l’infatigable boucherie dite libératrice, humanisatrice, salvatrice, rédemptrice. Le Rhin, fosse commune. 189 Der Hass des Nihilisten auf Kommunisten und Juden bricht sich im dritten Pamphlet „in einem verselbständigten Sprachwirrwarr“ 190 Bahn: In Les beaux draps (1941) holt der Autor, der die französische Niederlage für gerechtfertigt hält, zu einem Rundumschlag gegen die schwächliche Révolution nationale aus und verkündet Frankreichs Tod: „Elle [la France] va crever d’à peu près tout, des juifs, des maçons, de l’Angleterre, de la défaite militaire, de bisbille celtique éperdue, des prétentions cacochymes […], et cœtera, et couetera... [sic]“. 191 186 Rebatet, Lucien: D’un Céline l’autre. In: L. F. Céline: Cahier dirigé par Dominique de Roux, Michel Beaujour et Michel Thélia. Réed. intégr. des Cahiers de l’Herne n° 3 (1963) et n° 5 (1965) augmentée d’une bibliographie mise à jour. Paris: L’Herne, 1972, S. 228-239, hier S. 231. Brasillachs Rezension fiel differenzierter aus: „Nous ne sommes pas d’accord avec lui sur tous les points, loin de là. Mais on vous le dit: ce livre énorme, ce livre magnifique, c’est le premier signal de ‚la révolte des indigènes’.“ Brasillach, Robert: „Causerie littéraire: Louis-Ferdinand Céline: ‚Bagatelles pour un massacre’“. In: L’Action française, 13. 1. 1938, S. 13. 187 „‚Sich gegen den Faschismus verteidigen? Sie machen wohl Spaß, Sie sind nicht im Krieg gewesen, Mademoiselle, das sieht man, wissen Sie, an derartigen Fragen.’“ So äußert sich Céline 1933 in einem Brief an die Schriftstellerin Henriette Valet, zit. in Randow, Gero von: „Spucken und bespuckt werden: Die misanthropischen Briefe Célines geben auch Auskunft darüber, wie der Franzose zum Antisemiten wurde“. In: Die ZEIT, 30. 12. 2009, S. 47. 188 Céline im Vorwort zur Neuauflage des Pamphlets. S. Céline, Louis-Ferdinand: [Préface]. In: Ders.: L’École des cadavres. Nouvelle édition avec une préface inédite et 14 photographies hors-texte. Paris: Les éditions Denoël, [1938], S. 11-13, hier S. 12, Kursivierung im Text. 189 Ders.: L’École des cadavres, S. 214. 190 Hofer, Hermann: Interpretation literarischer Texte der Kollaboration, S. 151. 191 Céline, Louis Ferdinand: Les beaux draps. 68 è édition. Paris: Nouvelles éditions françaises, 1941, S. 149. <?page no="58"?> 58 Im Paris der Nazizeit verkehrt der „collaborateur libre“ 192 mit Erzkollaborationisten, er korrespondiert mit der pro-nazistischen Presse 193 und tritt für Doriots PPF ein. Ungeachtet seines zwiespältigen 194 Verhältnisses zum Nachbarland pflegt er Kontakt zum Deutschen Institut, das Karl Epting 195 192 In Anlehnung an Loiseaux, der Célines „‚collaboration libre’“ aus dessen Bemerkung gegenüber Maurice-Ivan Sicard, dem Chefredakteur von L’Emancipation Nationale, ableitet: „Pour devenir collaborationniste, j’ai pas attendu que la Commandantur pavoise au Crillon.“ „Entretien avec Céline: Propos recueillis par Ivan-M. Sicard“. In: L’Emancipation Nationale, 21. 11. 1941, S. 1-3, hier S. 3; vgl. hierzu auch Loiseaux, Gérard: La littérature de la défaite et de la collaboration: d’après Phönix oder Asche? (Phénix ou cendres? ) de Bernhard Payr. 2 ème éd. Paris: Fayard, 1995 (Pour une histoire du XX e siècle), S. 297. 193 Zu Célines Kontakten in und mit „Nazi-Paris“ sowie seine an die einschlägigen kollaborationistischen, faschistischen und rassistischen Presseorgane (insb. Au pilori, Je suis partout, La Gerbe) gerichteten und in diesen publizierten Leserbriefe und Interviews, s. Geyersbach, Ulf: Louis-Ferdinand Céline, S. 97-109. S. auch Céline, Louis- Ferdinand: Lettres des années noires. Éd. présentée et établie par Philippe Alméras. Paris: Berg International, 1994 (Faits et Représentations). 194 Hausmann, Frank-Rutger: „Von Schreihälsen, Schriftstellern, Nazis und der Liebe: Zwischen Wutanfall und Popo-Phantasie: Auch als Briefeschreiber war Céline ein ebenso brutal-drastisches wie fürsorgliches Temperament“. In: SZ, 14. 12. 2007, S. 16. 195 Nach seiner Tätigkeit beim Internationalen Studentenwerk in Genf hatte Dr. (habil. ab 1943) Karl Epting, Germanist, Romanist und Historiker, von Januar 1934 bis August 1939 die Pariser Zweigstelle des Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) geleitet. Mit Kriegsausbruch und Rückkehr nach Berlin stand Epting ab September 1939 dem Frankreichreferat der Deutschen Informationsstelle vor (zeitgleich Eintritt in die NSDAP), in deren Auftrag er „unter dem Aliasnamen Matthias Schwabe die ominöse Reihe Frankreich gegen die Zivilisation heraus[gab], die mit Titeln wie Die Bedrohung Europas durch Frankreich; Frankreichs Universalismus, ein Feind des Volkstums […] oder Der Kreuzzug der französischen Kardinäle alle anti-französischen Klischees einer ressentimentgeladenen deutschen Propaganda bediente.“ Während der Besatzung war der enge Vertraute des Botschafters Otto Abetz - abgesehen von einer neunmonatigen Unterbrechung (10. Juni 1942 bis Ende Februar 1943) - Direktor des Deutschen Instituts in Paris, bis 1942 zudem Kulturreferent der Deutschen Botschaft. Ziel Eptings war es, die deutsch-französische Zusammenarbeit in Gestalt der bisherigen „relations franco-allemandes“ in „relations germano-françaises“ zu überführen. Im Oktober 1946 verhaftet und an Frankreich überstellt, wurde Epting im Februar 1949 von einem französischen Militärgericht freigesprochen und kehrte 1955 in den Schuldienst zurück (ab 1960 Oberstudiendirektor am Heilbronner Theodor-Heuss-Gymnasium). Die Zitate beziehen sich auf Hausmann, Frank-Rutger: Die deutsch-französische Kulturpolitik im Zweiten Weltkrieg: Der Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaften, das Deutsche Institut Paris und die Europäische Schriftsteller- Vereinigung. In: Oster, Patricia; Lüsebrink, Hans-Jürgen (Hgg.): Am Wendepunkt: Deutschland und Frankreich um 1945 - zur Dynamik eines „transnationalen“ kulturellen Feldes = Dynamiques d’un champ culturel „transnational“ - L’Allemagne et la France vers 1945. Bielefeld: Transcript, 2008 (Frankreich-Forum; 7), S. 133-152, hier S. 144, Kursivierung im Text. S. auch „Karl Epting“. In: Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871-1945, Bd. 1, 2000, S. 512-513. Epting, Förderer und Bewunderer des „sévère diagnosticien du présent et le sombre voyant de l’avenir“, erwähnt zahlreiche Zusammenkünfte mit Céline im Deutschen Institut <?page no="59"?> 59 (1905-1979), „eine[r] der wichtigsten deutsch-französischen Kulturvermittler der 30er Jahre“ 196 , von September 1940 bis August 1944 leitet. Während Célines Pamphlete die Vertreter der nationalsozialistischen Schrifttumspflege trotz der darin propagierten „richtigen rassischen Vorstellungen“ der Obszönitäten und des „wilde[n] Gassenfranzösisch[s]“ wegen nicht befriedigen, zieht der deutsche Botschafter Otto Abetz den vergleichsweise unklassischen „collabo“ 197 als Mitarbeiter des geplanten Commissariat général aux questions juives in Erwägung. 198 Der Antisemit ist anlässlich der Eröffnung des Institut d’études des questions juives (Mai 1941) zugegen; Zitate aus seinen Pamphleten „zieren“ die Ausstellung Le Juif et la France. Im Frühjahr 1942 reist der Mediziner mit einer französischen Ärztedelegation nach Deutschland und scheut sich nicht, den Nationalsozialismus öffentlich mit der Cholera zu vergleichen, für die er sich anstelle der Pest, d.h. ebenso wie in Berlin und Sigmaringen in den Jahren 1940-1944. Hierzu s. Epting, Karl: Il ne nous aimait pas. In: L. F. Céline: Cahier dirigé par Dominique de Roux, Michel Beaujour et Michel Thélia, S. 240-243, hier S. 242. Nach Erscheinen von Les beaux draps stimmt Epting einen Lobgesang auf „den Abtrünnigen, den Anti- Eudämonisten, den Anwalt der Zerschlagenen“ an. Ders.: Louis-Ferdinand Céline. In: Deutschland-Frankreich, 1. Jg., Nr. 2 (1942), S. 47-58, hier S. 58. Ein wenig schmeichelhaftes Porträt von „Merline“ alias Céline entwarf Ernst Jünger nach einer Begegnung im Deutschen Institut (Tagebucheintrag vom 7. 12. 1941): „Er spricht mit dem in sich gekehrten Blick der Manischen, der wie aus Höhlen hervorleuchtet. Er sieht nicht mehr nach rechts und links; man hat den Eindruck, daß er auf ein unbekanntes Ziel zuschreitet. […] Merkwürdig, wenn solche Geister von der Wissenschaft, etwa von der Biologie, sprechen. Sie wenden sie wie Menschen der Steinzeit an; es wird ihnen ein reines Mittel, andere zu töten, daraus.“ Jünger, Ernst: Das erste Pariser Tagebuch. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 2: Tagebücher II, Strahlungen I. Stuttgart: Klett-Cotta, 1979, S. 223-406, hier S. 280f. Zu Jünger s. Kp. 1.4.2, Fn. 126, ausf. Kp. 5.7. 196 Hausmann, Frank-Rutger: „Auch eine nationale Wissenschaft? Die deutsche Romanistik unter dem Nationalsozialismus“. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 22 (1998), S. 1-39 (1. Teil), S. 261-313 (2. Teil), hier S. 287. 197 So Geyerbachs Charakterisierung, da Céline seine Kontakte zur Besatzungsmacht zur Verfolgung persönlicher Interessen nutzte. Geyersbach, Ulf: Louis-Ferdinand Céline, S. 103. 198 Zur negativen Einschätzung Célines durch Dr. Bernhard Payr (1903-1945), ab 1936 Leiter des Zentrallektorats der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums, ab 1940 als Sonderbeauftragter des Amtes Rosenberg in Paris, ab 1943 Leiter des Amtes Schrifttumspflege („Bernhard Payr“. In: Klee, Ernst: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich: Wer war was vor und nach 1945. Überarb. Ausg. Frankfurt a. M.: Fischer, 2009 (Die Zeit des Nationalsozialismus), S. 409), s. Payr, Bernhard: Phönix oder Asche? Frankreichs geistiges Ringen nach dem Zusammenbruch. Dortmund: Volkschaft-Verlag, 1942, S. 136-137. Zu Payr s. u.a. Kp. 5.1.4, Fn. 50. Vgl. kontrastiv hierzu die Haltung der Deutschen Botschaft, dargestellt in Loiseaux, Gérard: La littérature de la défaite et de la collaboration, S. 563-568 (Annexe VI). Zu Célines polemisierendderbem Stil merkt Drieu la Rochelle pointiert an: „Céline s’est jeté à corps perdu dans le seul chemin qui s’offrait […]: cracher, seulement cracher, mais mettre au moins tout le Niagara dans cette salivation.“ Drieu la Rochelle, Pierre: Préface. In: Ders.: Gilles, S. 18. <?page no="60"?> 60 dem Bolschewismus, wegen der Möglichkeit der Immunisierung entschieden habe. 199 Nach der Landung der Alliierten in der Normandie flieht Céline, der wenige Monate zuvor Guignol’s Band I veröffentlicht hatte, dank der Hilfe seines „cher Ami“ 200 Epting nach Deutschland. Nach einem halbjährigen Aufenthalt in der Vichy-Kolonie in Sigmaringen (Oktober 1944 bis März 1945) führt ihn die Flucht weiter nach Dänemark, wo er inhaftiert wird. 1950 in Frankreich in absentia zu einjähriger Gefängnisstrafe verurteilt, im Folgejahr amnestiert, kehrt der Armenarzt im Sommer 1951 in die Heimat zurück. Sein rassistisches Denken ist ungebrochen: „Les juifs et leurs jérémiades m’emm… s’ils n’avaient pas fait déclarer la guerre par la France, ils n’auraient jamais connu Buchenwald et le reste… il leur suffisait de prendre au sérieux mes conseils et Bagatelles...“ 201 Bis zu seinem Tod im Jahr 1961 verfasst das autoproklamierte Genie (Entretiens avec le professeur Y, 1955) u.a. die Nachkriegs-Tetralogie Féerie pour une autre fois I-II (1952/ 1954), respektive Deutschlandtrilogie D’un château à l’autre (1957), Nord (1960), Rigodon (postum, 1969), in welcher der Autor seinem Weg von Paris über Deutschland nach Dänemark nachspürt. Sieben Monate nach Célines Tod erfüllt sich der Wunsch des Pléiadisierungs-Besessenen 202 , an dessen Händen zwar kein Blut klebte, so der Kommentar Kéchichians im Januar 2011, „[m]ais il y en avait plus que d’encre dans sa plume.“ 203 199 So Céline im Verlauf eines Diners, zu dem der NS-Ärztebund die französischen Kollegen ins Berliner Hotel Adlon eingeladen hatte. Hausmann, Frank-Rutger: „Zwischen Pest und Cholera“. 200 Vgl. Célines Brief aus dem seit 1942 vom Auswärtigen Amt requirierten Brenner’s Parkhotel Kurhof in Baden-Baden vom 7. Juli 1944. Hausmann, Frank-Rutger (Hg.): L.- F. Céline et Karl Epting. Édition établie par Arina Istratova. Bruxelles: Le Bulletin célinien, 2008, S. 66-71 (Nr. XIII), hier S. 66, weiterführend zum Kurhof S. 69, Fn. 69. Zu Célines dortigem Aufenthalt vgl. auch Ders.: „In der Küche wird zuviel Geschirr zerbrochen. Verfrühter Leichenschmaus am 20. Juli: Brenner’s Park Hotel zu Baden- Baden im Zweiten Weltkrieg“. In: FAZ, 16. 7. 2004, S. 42. 201 Brief an Roger Nimier vom 19. 7. 1957 in Céline, Louis-Ferdinand: Lettres à la N.R.F.: 1931-1961. Ed. établie, présentée et annotée par Pascal Fouché. Paris: Gallimard, 1991, S. 373 (Nr. 412), Kursivierung im Text. 202 Mit Schreiben vom 24. Oktober 1956 forderte Céline von seinem Verleger Gaston Gallimard: „‚La Pléiade et l’édition de poche pas dans vingt ans, quand je serai mort! non, tout de suite! cash! ’“ Zit. in Cerisier, Alban: Du point de vue de l’éditeur: la „Pléiade“ en ses murs. In: Gleize, Joëlle; Philippe Roussin (Hgg): La Bibliothèque de la Pléiade: Travail éditorial et valeur littéraire. Paris: Éditions des archives contemporaines, 2009, S. 21-46, hier S. 45. Voyage au bout de la nuit erschien 1962 in der Collection Bibliothèque de la Pléiade (N° 157), zuletzt wurde eine Auswahl von rund 4.000 Briefen von bzw. an Céline aus fünf Jahrzehnten veröffentlicht (Lettres: Choix de lettres de Céline et de quelques correspondants (1907-1961), Collection Bibliothèque de la Pléiade (N° 558), 2009). 203 Kéchichian, Patrick: „Il faut s’opposer à la célébration d’un auteur antisémite“. Vgl. in diesem Kontext den mehrdeutigen Titel von Leibovicis Psychographie Drieu la Rochelles Le sang et l’encre, inspiriert von Drieu la Rochelles mit diesen Worten über- <?page no="61"?> 61 Als faschistisch zu qualifizierende Wesensmerkmale sind den summarisch präsentierten Werken Henry de Montherlants, Abel Bonnards, Pierre Drieu la Rochelles, Marcel Jouhandeaus, Lucien Rebatets sowie Louis-Ferdinand Célines auf unterschiedliche Art und Weise eingeschrieben, doch was macht einen literarischen Text zu einem genuin „faschistischen“ Text? Von zentraler Bedeutung ist folglich die Frage: Welche Kriterien muss eine literarische Darstellung aufweisen, sodass diese als „faschistisch“ zu klassifizieren ist? Daran anknüpfend gilt es zu analysieren, wie Inhalte der faschistischen Ideologie in formal-ästhetischer Hinsicht vermittelt werden. Gerade der Ausnahmefall Céline verdeutlicht, dass der pathologische Antisemitismus seiner Hetzschriften ungeachtet seiner Monstrosität allein kein hinreichendes Kriterium ist, das erlauben würde, diese Pamphlete als faschistisch einzustufen. 204 1.5 Autoren- und Textwahl Übergeht Rebatet bei der zur Intensivierung der Kollegenschelte gedachten Lobpreisung der Kollaborationsautoren in L’Académie de la dissidence ou la Trahison prosaïque bewusst Robert Brasillach, der sich im August 1943 von Je suis partout getrennt hatte, während er selbst, wie bereits erwähnt, unverbrüchlich am „jusqu-auboutisme“ des kollaborationistischen Journals festhielt, zählen sowohl Alphonse de Châteaubriant als auch Jacques Chardonne zu den „Auserwählten“. Für die Konzentration vorliegender Untersuchung auf diese drei Schriftsteller, vertreten mit jeweils einem respektive zwei Werken, sprechen mehrere Gründe: Der Katholik und Prix Goncourt-Preisträger des Jahres 1911 Alphonse de Châteaubriant (1877-1951) ist willkommener Gast des Deutschen Reiches, das er in den Jahren 1935 und 1936 mehrere Monate lang bereist. Seine Hymne auf NS-Deutschland La Gerbe des Forces: Nouvelle Allemagne erscheint 1938 von der Reichsschrifttumskammer befördert in deutscher Übertragung unter dem Entschlossenheit signalisierenden Titel Geballte Kraft: Ein französischer Dichter erlebt das neue Deutschland - mithin ein Grund, weshalb der beflissene Freund Hitler-Deutschlands den „Führer“ auf dem Obersalzberg besuchen darf. Nur einen Monat nach der französischen Niederlage gibt Châteaubriant die politisch-literarische Wochenzeitschrift La Gerbe heraus, deren Titel den kontinuierlichen Einsatz des Kollaborateurs und Präsidenten der Gruppe Collaboration für das rechtsrheinische Nachbarland signalisiert. Dem Prozess und seinem Todesurteil schriebenen Kapitel in Le Jeune Européen. Leibovici, Solange: Le sang et l’encre: Pierre Drieu La Rochelle: Une psychobiographie. Amsterdam (u.a.): Rodopi, 1994 (Faux titre; 88), insb. S. 245-271. 204 S. Kohut, Karl: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Literatur der Résistance und Kollaboration in Frankreich: Geschichte und Wirkung I (1930-1939), S. 19. <?page no="62"?> 62 entzieht sich der bretonische Aristokrat durch die Flucht nach Deutschland und Österreich. Der über dreißig Jahre jüngere Absolvent der Ecole Normale Supérieure, Romancier, Literaturkritiker und Journalist Robert Brasillach (1909-1945), löst sich vom germanophoben Nationalismus seines geistigen Lehrmeisters Charles Maurras und der Action française und proklamiert einen französischen Faschismus. In Brasillachs autobiografischem Rückblick auf die Vorkriegsjahre (Notre avant-guerre, 1941) kommt die Begeisterung des Literaten für die jugendlichen Führer-Gestalten José Antonio Primo de Rivera und Léon Degrelle ebenso wie seine Faszination für die 1937 auf dem Nürnberger Reichsparteitag erlebte nationalsozialistische Ästhetik zum Ausdruck. Der Gegner des Münchner Abkommens gerät in deutsche Kriegsgefangenschaft, was ihn nicht davon abhält, sich kurz nach der Freilassung im Herbst 1941 nach Weimar und Berlin bitten zu lassen. Der Chefredakteur der größten faschistischen Pariser Wochenzeitung Je suis partout (mit Unterbrechungen von Juni 1937 bis August 1943), in der er explizit zur Judenvernichtung und Ermordung gegnerischer Politiker aufruft, wird im Februar 1945 hingerichtet. Mit der französischen Niederlage wandelt sich Jacques Boutelleau (1884-1968), Co-Direktor der Editions Stock, Delamain und Boutelleau, der sich unter dem Künstlernamen Jacques Chardonne als Romancier von Eheromanen profiliert und als NRF-Autor Bekanntheit erlangt hat, plötzlich zum unbedingten Vaterlandskritiker, ebenso subtilen wie resoluten Kollaborationsverfechter und Verteidiger der Integration Frankreichs in ein deutsches Europa. Die verklärten Reise-Eindrücke des zweimaligen Weimar-Pilgers (1941 und 1942), der auf dem Europäischen Schriftstellertreffen die französische Delegation anführt, fließen ein in die Huldigung der deutschen „divinités sociales“: So lautet der Titel des 1943 in Deutschland- Frankreich, der Vierteljahresschrift des Deutschen Instituts in Paris, veröffentlichten Artikels und Kondensats des Essays Le Ciel de Nieflheim. Die Inhaftierung seines Sohnes im KZ Sachsenhausen bei Oranienburg lässt Chardonne von der Publikation des Ciel de Nieflheim absehen, in dem er von den „engelsgleichen“ SS-Soldaten schwärmt. Nichtsdestoweniger veranlasst er einen Privatdruck, den er im Freundeskreis verteilt. Im Herbst 1944 wird Chardonne, der zu den vom CNE inkriminierten Autoren zählt, mehrere Wochen inhaftiert. Den historisch-biografischen Kurzresümees ist zu entnehmen, dass Châteaubriant, Brasillach und Chardonne bereits vor der französischen Niederlage im Juni 1940 schriftstellerisches Renommee erlangt hatten und sie zudem im literarischen Feld Frankreichs der mittdreißiger bis mittvierziger Jahre wichtige Machtpositionen im Journalismus bzw. im Verlagswe- <?page no="63"?> 63 sen innehatten. 205 Nach soziologischen Kriterien gehören sie jeweils einer andersartigen idealtypischen Schriftstellergruppierung an: Châteaubriant zählt zu den „Notabeln“, Chardonne zu den „Ästheten“ und Brasillach entwickelt sich von den „Ästheten“ hin zu den „Polemikern“. 206 Ungeachtet ihres geringen Altersunterschieds erleben Châteaubriant und Chardonne die Grande Guerre auf unterschiedliche Weise: Châteaubriant dient als Frontsoldat, wohingegen der vom Kriegseinsatz aus gesundheitlichen Gründen freigestellte Chardonne diese Jahre in der Schweiz verbringt. Der fast drei Jahrzehnte später geborene Brasillach wiederum, Vertreter der „Generation der Söhne“, wird bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs an die Front eingezogen. Die Konzentration auf jeweils ein bzw. im Falle Brasillachs ein zweiteiliges Werk ist eine bewusste Entscheidung für eine eingehende, komparatistisch orientierte Textanalyse und gegen eine das (gesamte) Œuvre eines einzigen Autors begutachtende, monofokale Studie, von denen bereits zahlreiche vorliegen. Aus dem gleichen Grund steht auch die schriftstellerische, nicht aber die journalistische Kollaboration im Vordergrund, die im Falle Châteaubriants und Brasillachs ausführlich in der Sekundärliteratur erörtert wurde. Die vier gewählten Texte entstanden zu unterschiedlichen, politisch signifikanten Zeitpunkten, die im Rahmen einer literatur-historischen Analyse der Werke als politische Stellungnahmen eine wichtige Bedeutung spielen: La Gerbe des Forces zur Zeit des „avant-guerre“, Notre avant-guerre während der „drôle de guerre“, das Journal d’un homme occupé in den Jahren der Okkupation sowie den ersten Monaten nach der Befreiung, Le Ciel de Nieflheim wiederum im Verlauf der vollständigen Besatzung Frankreichs. Keiner der gewählten Texte ist der Vergessenheit anheim gefallen, sondern sie sind vielmehr, wie die jüngsten Editionen durch rechtsorientierte Verlage 207 zeigen, weiterhin „aktuell“: 2005 publizieren die Editions de 205 S. Hofer, Hermann: Die Literatur der Kollaboration. In: Kohut, Karl (Hg.): Literatur der Résistance und Kollaboration in Frankreich: Geschichte und Wirkung II (1940- 1950). Wiesbaden: Akademische Verlagsanstalt Athenaion; Tübingen: Narr, 1982 (Schwerpunkte Romanistik; 19), S. 151-192, hier S. 151. 206 S. Sapiro, Gisèle: Figures d’écrivains fascistes, S. 201, 206, 226f. 207 Beweggrund für die Neuauflagen ist Flood zufolge, dass „usually […] the proprietors are personally linked to the extreme right.“ Er erwähnt u.a. die Editions Dualpha, deren Verleger Philippe Randa damit wirbt, „unangepasste“ Bücher zu edieren - „Vous aimez les livres non-conformistes? Alors, découvrez les éditions Dualpha“, http: / / www.dualpha.com/ site/ qui.shtml (letzter Zugriff am 2. 8. 2011); die Dependance Editions Déterna gab bspw. 1999 Alfred Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts: Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit (1930), 2008 Joseph Goebbels’ Michael: Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern (1929) oder 2007 Joachim von Ribbentrops Zwischen London und Moskau: Erinnerungen und letzte Aufzeichnungen (1953) in französischer Übersetzung heraus - ebenso wie Godefroy de Bouillon, „[who] carry heavy cargos of extreme right-wing material“. S. Flood, Christopher: „The poli- <?page no="64"?> 64 l’Homme libre Châteaubriants La Gerbe des Forces, drei Jahre zuvor war eine Neuauflage bei Déterna erschienen. 1998 bringt Godefroy de Bouillon Brasillachs Notre avant-guerre neu heraus. Erwähnenswert ist zudem die erste englische Übersetzung von Brasillachs Opus im Jahr 2002 unter dem Titel Before the war 208 (Edwin Mellen Press, New York). Chardonnes nie verlegter Essay Le Ciel de Nieflheim wurde erst- und letztmalig 1991 unter anonymer Herausgeberschaft in unbekannter Auflagenhöhe in Bukarest publiziert, versehen mit einem einleitenden Vorwort auf Französisch. Bis dato liegt für Le Ciel de Nieflheim keine eigenständige Untersuchung vor. Diese Lücke zu schließen ist Forschungsdesiderat. Hinsichtlich der Gattungen ist das Textkorpus augenscheinlich heterogen, doch fiel mit der Zentrierung auf Châteaubriants Reisebericht, Brasillachs autobiografische Erinnerungsbücher und Chardonnes Essay ungeachtet der ihnen eingeschriebenen Poetizität und Literarisierung 209 die Wahl bewusst auf tendenziell faktuale Texte, worunter der Modus eines Textes verstanden wird, „der reale oder wirkliche (der ‚Seinsweise’ nach überprüfbar ‚soseiende’ oder ‚daseiende’) Sachverhalte oder Geschichten mitteilt.“ 210 Diese haben im Vergleich zu den fiktionalen Werken der Schriftsteller bisher weniger Beachtung gefunden. Ferner wurden die genannten Autoren bislang weder einer vergleichenden Analyse unterzogen, noch liegen Einzelstudien zu den vier Texten in Hinblick auf die Eruierung faschistischer Wesensmerkmale und die Rezeption der nationalsozialistischen Ideologie vor, was zentrales Untersuchungsanliegen der vorliegenden interdisziplinären Arbeit ist. 1.6 Faschismus und die Literatur des französischen Faschismus Als der Sphäre der „Gefühle“ zugehörig, jedoch keineswegs als „logisches“ Konstrukt beschreibt 1943 der junge Dichter Jean Turlais (1922-1945) in der tics of counter-memory on the French extreme right“. In: Journal of European Studies, Vol. 35, No. 2 (june 2005), S. 221-236, hier S. 226. 208 John Fletcher lobt die exzellente Übersetzung des an der Queen’s University in Belfast lehrenden Romanisten Peter Tame. Flechter, John: „Robert Brasillach ‚NOTRE AVANT-GUERRE’: Before the War”. In: The Times literary supplement, 4. 7. 2003, S. 5. Weiterführend zu Tame s. Kp. 4.2. 209 Darunter versteht Hausmann „alles, was einen Text über die reine Informationsvermittlung und Pragmatik in einen Abstand von der Alltagswelt hinaushebt“. Hausmann, Frank-Rutger: Die Anfänge der italienischen Literatur aus der Praxis der Religion und des Rechts: vorgetragen am 10. 2. 2006. Heidelberg: Winter, 2006 (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften; 39), S. 15. 210 Zymner, Rüdiger; Fricke, Harald: Einübung in die Literaturwissenschaft: Parodieren geht über Studieren. 5., überarb. und erw. Aufl. Paderborn: Schöningh, 2007, S. 142. <?page no="65"?> 65 pro-vichystischen Literaturzeitschrift Les Cahiers français den Faschismus, der, so sein enthusiastischer Vergleich, vielfältig wie das Leben und verrückt wie das Jahrhundert sei: [N]ous croyons que le fascisme, étant de l’ordre des sentiments, n’a rien à faire avec la logique. Il est multiple comme la vie même, et fou comme notre siècle, auquel nous ne serions jamais consolés de ne point naître. 211 Er verwahrt sich gegen den Entwurf einer konzisen Definition des Faschismus, ein Unterfangen, das er triadisch abwertet als „une belle doctrine politique bien charpentée, bien cohérente et bien complète“ 212 . Den Faschismus löst er aus rationalen Beschreibungskategorien heraus: Ihm zufolge gehört der Faschismus einer „anderen Ebene“ an, ist er eine „Moral“ und „Ästhetik“ 213 . Während Turlais den Faschismus vage als „une certaine attitude de l’homme, une certaine manière de regarder les choses“ 214 beschreibt, versucht das Comité de vigilance des intellectuels antifascistes 215 , zu dessen Leitungsgremium der Schriftsteller und Mitgründer der Volksfront- Zeitung Vendredi (1935-1938) Jean Guéhenno (1890-1978) zählt, die Frage Qu’est-ce que le Fascisme? (1935) in einer eigens publizierten Broschüre möglichst genau zu beantworten. Beweggrund ist der als gefährlich eingestufte Mangel einer präzisen Definition des verführerischen Faschismus: [Q]ui profite de cette obscurité, de cette ambiguïté? L’exemple de l’Italie ou de l’Allemagne nous montre que la confusion des idées est la condition même du succès fasciste. Le fascisme se sert de toutes les jongleries verbales. 211 Turlais, Jean: „Introduction à l’histoire de la littérature ‚fasciste’“. In: Les Cahiers français 6 (mai 1943), S. 25-32, hier S. 32, Hervorhebung BB. Vgl. diesbzgl. die Ausführungen von Sapiro, Gisèle: Figures d’écrivains fascistes, S. 195-197. 212 Turlais, Jean: „Introduction à l’histoire de la littérature ‚fasciste’“, S. 25. 213 Ebd. Zum literarischen Faschismus als Ästhetisierung von Politik sowie der Politisierung von Literatur, s. Carroll, David: French literary fascism: nationalism, anti- Semitism, and the ideology of culture: Princeton, New Jersey: Princeton University Press, 1995, insb. S. 261. 214 Turlais, Jean: „Introduction à l’histoire de la littérature ‚fasciste’“, S. 25. Stattdessen entwirft er ein Konzept „faschistischer Literatur“, verstanden als Gestaltung faschistischer „Ideale“ und als deren Referenz-Autoren und -Themen er u.a. Gobineau („goût des individualités supérieures“), Péguy und Bernanos („l‘appel de la race et du sens de l’honneur national“), Montherlant („la virilité“), Maurras („la notion de l’Ordre“) aufführt. Ebd.: S. 32. 215 Das Kommunisten, Sozialisten ebenso wie Syndikalisten und Radikale im Kampf gegen den Faschismus vereinigende Comité de vigilance des intellectuels antifascistes (1934-1939) stellt „einen ‚Front populaire avant la lettre’ dar.“ Sick, Franziska: Literaturpolitik und politische Literatur: Zum Selbstverständnis der französischen Romanschriftsteller im Umkreis der Volksfront. Heidelberg: Winter, 1989 (Studia Romanica; 73), S. 160. <?page no="66"?> 66 Il n’y a pas une doctrine fasciste définie et cohérente. Il y a une démagogie fasciste qui varie selon les pays et pour chaque pays selon les classes et les circonstances. 216 Eindeutig hingegen bestimmt der Essayist und Vertreter der „Jeune Droite“ Thierry Maulnier (1909-1988) im Jahr 1938 die „raison d’être“ des Faschismus, die er zurückführt auf „la carence politique et sociale de la démocratie libérale en face de problèmes vitaux qu’elle est désormais inapte à résoudre.“ 217 Während diese exemplarischen Einschätzungen aus den dreißiger Jahren die Schwierigkeit erahnen lassen, den Faschismus bzw. die Faschismen zu bestimmen, herrscht rückblickend Einigkeit hinsichtlich dessen Entstehung: Der Faschismus 218 , der seine stärkste totalitäre Ausprägung als Na- 216 Comité de vigilance des intellectuels antifascistes: Qu’est-ce que le Fascisme? Le Fascisme et la France. Paris: Rivet-Alain-Langevin, 1935, S. 8 Typografie gemäß Originaltext, Hervorhebung BB. Als „caractères apparents“ der faschistischen Diktatur werden benannt: bewaffnete Banden, Unabhängigkeit von der (monarchischen oder republikanischen) Staatsform, allumfassende, permanente Diktatur in Form eines totalitären Staates, Nationalismus als Staatsdoktrin und Militarismus, Führerkult und Einheitspartei. Der faschistischen Ideologie werden u.a. zugeordnet Antiparlamentarismus, Bekämpfung der Arbeiterorganisationen, vermeintlicher Antikapitalismus sowie Pseudobzw. Antisozialismus. Vgl. Comité de vigilance des intellectuels antifascistes: Qu’est-ce que le Fascisme? , S. 10-16 und 28-33. 217 Maulnier, Thierry: „Le ‚péril‘ fasciste“. In: La Revue universelle 74, 15. 7. 1938, S. 242-246, hier S. 246. Thierry Maulnier (eigentlich Jacques Talagrand), Kommilitone Brasillachs an der Ecole Normale Supérieure, schrieb u.a. für die Action française, leitete die kapitalismus- und demokratiefeindliche Zeitschrift Combat und war 1937 Mitbegründer von L’Insurgé. Unter Abwendung von der Politik, jedoch seiner antikommunistischen Gesinnung weiterhin treu, setzte er nach Kriegsende die während der Besatzung begonnene Mitarbeit für den Figaro fort und gründete 1950 mit François Mauriac La Table ronde. 1964 wurde Maulnier in die Académie française gewählt. Loubet del Bayle, Jean-Louis: „Thierry Maulnier“. In: Juillard, Jacques; Winock, Michel (Hgg.): Dictionnaire des intellectuels français, S. 934-935. 218 Ziel vorliegender Arbeit ist es nicht, die in der Forschungsliteratur umfangreich dokumentierten Kontroversen um den Faschismusbegriff oder die essentiellen Besonderheiten nationaler Faschismen abzubilden. Zur Begriffsgeschichte sowie den politisch-sozialen Voraussetzungen, Formen und Theorien des Faschismus s. Schieder, Wolfgang: „Faschismus“. In: Kernig, Claus D. (Hg.): Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft: Eine vergleichende Enzyklopädie. Bd. 2: Diplomatie - Identität. Freiburg: Herder, 1968, Sp. 438-477. Kompakte Darstellung der Faschismustheorien in historischer, systematischer und kritischer Perspektive inkl. kommentierter Literaturhinweise bei Wippermann, der für eine „multikausale Faschismustheorie“ plädiert: Wippermann, Wolfgang: Faschismustheorien: Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute. 7., überarb. Aufl. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1997 (Erträge der Forschung; 17), S. 107ff. Wippermann betont die Unmöglichkeit einer den Faschismus erschöpfend erklärenden Theorie sowie dessen, jegliche Definition erschwerenden, „Doppelcharakter [...] als politische Theorie und als politischer Kampfbegriff“. S. Ders.: Faschismus: Eine Weltgeschichte vom 19. Jahrhundert bis heute. Darmstadt: Primus Verlag, 2009, S. 8. <?page no="67"?> 67 tionalsozialismus 219 in Deutschland erreichte, spiegelt die Krise der demokratischen Regierungssysteme im Europa der Zwischenkriegszeit. 220 Angesichts der Vielzahl der seit Anbeginn des Faschismus existierenden Faschismusdeutungen erweist sich die Erstellung einer - gar transnational - gültigen „‚faschistische[n] Matrix’“ auch post festum als nahezu unmöglich. 221 Die Determination der Ideologie des Faschismus scheint „ein aussichtsloses Unterfangen“, so Henning Hufnagel, da sich Definitionsversuche auf die Erstellung unterschiedlich detaillierter, gar diskrepanter „Merkmalslisten“ und Kataloge von Ideologemen beschränken, die final quasi kongruent seien. 222 Dieses zu Recht konstatierte Dilemma entbindet jedoch nicht von dem Bemühen um Präzisierung der Faschismus-Kriterien, die nachfolgender Analyse zugrunde liegen. Trotz kontroverser Diskussionen über die Angemessenheit eines allgemeinen Faschismusbegriffs 223 unternahm man unter Bezugnahme auf das von Ernst Nolte 224 in den sechziger Jahren entwickelte „‚faschistische Mi- 219 Der Neo-Faschist Maurice Bardèche qualifizierte den Nationalsozialismus lyrisch als „l’image forte du fascisme: pareil à un jeune dieu triomphant et terrible, mais venu des plaines étrangères où naissent les dieux inconnus.“ Bardèche, Maurice: Qu’est-ce que le Fascisme? Paris: Les Sept Couleurs, 1961, S. 26, Kursivierung im Text. Ausf. zu Bardèche s. Kp. 4.2. Die Singulariät des Nationalsozialismus und fundamentale Differenz zum Faschismus liegt darin begründet, dass letzterer „keinen rassistischen Antisemitismus kannte und folglich auch keinen durch ihn motivierten massenmörderischen Vernichtungskrieg führte.“ Vgl. die Skizzierung der Kontroversen um Faschismus, Nationalsozialismus und Totalitarismus inkl. Literaturüberblick bei Möller, Horst: Europa zwischen den Weltkriegen. München: Oldenbourg Verlag, 1998 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte; 21), S. 137-142, hier S. 138, Hervorhebung BB. Zum „Rassenantisemitismus, [der] für den Nationalsozialismus eben der irreduzible und singuläre Wesenskern war, wie er sich letztlich im Holocaust offenbarte“, vgl. auch Wirsching, Andreas: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918-1933/ 39. Berlin und Paris im Vergleich. München: Oldenbourg, 1999 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; 40), S. 517ff., hier S. 523, Hervorhebung BB. 220 Hennig, Eike: „Faschismus“. In: Holtmann, Everhard (Hg.): Politik-Lexikon. 3., völlig überarb. und erw. Aufl. München u.a.: Oldenbourg, 2000, S. 173-176, hier S. 173. Vgl. diesbzgl. das Kapitel „Die Geburt des Faschismus aus der Krise der Moderne“ in Schieder, Wolfgang: Faschistische Diktaturen: Studien zu Italien und Deutschland. Göttingen: Wallstein Verlag, 2008, S. 353-375, hier S. 375; s. dort auch den tabellarischen Überblick über die „[g]roße[n] faschistische[n] Bewegungen in Europa 1919- 1945“, S. 332f. 221 Ebd.: S. 13. 222 Hufnagel, Henning: „Michel Lacroix: De la beauté comme violence: L’esthétique du fascisme français, 1919-1939“ (Rezension). In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 118, 2 (2008), S. 187-192, hier S. 187. 223 Kritisch insb. Bracher, Karl Dietrich: Zeitgeschichtliche Kontroversen: Um Faschismus, Totalitarismus, Demokratie. 5., veränd. u. erw. Aufl. München: Piper, 1984, S. 13ff. 224 Der nicht unumstrittene Historiker Ernst Nolte (*1923) löste in den 80er Jahren den „Historiker-Streit“ aus mit der These (u.a. in Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945, <?page no="68"?> 68 nimum‘“, worunter er die „sechs Fundamentalmerkmale […] Antimarxismus, Antiliberalismus, Führerprinzip, Parteiarmee, tendenzieller Antikonservativismus, Totalitätsanspruch“ 225 fasste, den Versuch, einen „faschistischen Idealtypus“ zu kreieren. 226 Die knappste idealtypische Faschismus- Definition formulierte der britische Historiker Roger Griffin: „‚Faschismus ist eine Gattung politischer Ideologie, deren mythischer Kern in seinen verschiedenen Permutationen eine palingenetische Form von populistischem Ultranationalismus ist.’“ 227 Ausgehend von der Erkenntnis, dass es sich beim Faschismus um ein „generisches“, „epochenübergreifendes und zugleich globales Phänomen“ gehandelt habe, laut Paxton „die wichtigste politische Innovation des zwanzigsten Jahrhunderts: eine Volksbewegung gegen die Linke und gegen den liberalen Individualismus“ 228 , bestimmt Wippermann den „klassischen“ Faschismus wie folgt: Faschistisch im engeren beziehungsweise klassischen Sinne sind Parteien, die sich durch ihr Erscheinungsbild (uniformierte und bewaffnete und nach dem Führerprinzip aufgebaute Partei), ihren politischen Stil (Terror und Propaganda) 1987), „der nationalsozialistische Antisemitismus [sei] in seinem Selbstverständnis als Funktion eines genuinen Antibolschewismus zu begreifen […] und der Nationalsozialismus insgesamt als eine ideologisch ‚überschießende’ Reaktion auf die ‚ursprünglicheren’ bolschewistischen Untaten. Damit geriet er in den Verdacht, die „Einmaligkeit“ der NS-Verbrechen im Sinne einer „Notwehrreaktion“ relativieren zu wollen. S. Wirsching, Andreas: „Auf dem Weg zur Kollaborationsideologie: Antibolschewismus, Antisemitismus und Nationalsozialismus im Denken der französischen extremen Rechten 1936 bis 1939.“ In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 41 (1993), S. 31- 60, S. 55, Fn. 111, Hervorhebung BB. Ausf. s. „Historikerstreit“: Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. 3. Aufl. München u.a.: Piper, 1989. 225 Laut Nolte bedürfe es nicht der integralen Existenz aller Kriterien, jedoch müssten diese im Ansatz erkennbar sein. Nolte, Ernst: Die faschistischen Bewegungen: Die Krise des liberalen Systems und die Entwicklung der Faschismen. 8. Aufl. München: dtv, 1982 (dtv-Weltgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts; 4004), S. 315, Fn. 127. Konzentrierte, kritische Auseinandersetzung mit Noltes phänomenologischer Faschismustheorie (Zur Phänomenologie des Faschismus, 1962; Der Faschismus in seiner Epoche, 1963) durch Wirsching, Andreas: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? , S. 513- 525. 226 Hinweise zu den idealtypischen Definitionen durch Stanley Payne (A History of Fascism, 1914-1945, 1995), Roger Eatwell (Fascism: a History, 1995) und Roger Griffin (The nature of fascism, 1991; International fascism: theories, causes and the new consensus, 1998), Robert O. Paxtons Faschismusbestimmung in Form eines fünf-Stadien-Zyklus (The anatomy of fascism, 2004) sowie des vom italienischen Faschismus geprägten Realtypus durch Wolfgang Schieder (Faschistische Diktaturen: Studien zu Italien und Deutschland, 2008) und Wolfgang Wippermann (Europäischer Faschismus im Vergleich: 1922-1982, 1983) bei Wippermann, Wolfgang: Faschismus, S. 10f. 227 Zit. in Paxton, Robert O.: Anatomie des Faschismus. Aus dem Engl. von Dietmar Zimmer. München: Dt. Verl.-Anst., 2006, S. 38. 228 Ebd.: S. 37. <?page no="69"?> 69 und ihre Ideologie (Nationalismus, Rassismus, Antidemokratismus, Antikommunismus, Antisemitismus, Führerkult) von anderen rechten und linken Parteien sowohl unterscheiden wie ihnen gleichen, das heißt ‚weder rechts noch links’ sind. 229 In seiner Definition greift Wippermann die 1983 vom israelischen Historiker Zeev Sternhell für die Beschreibung der faschistischen Ideologie in Frankreich 230 gewählte, aber darüber hinaus gültige Losung Ni droite, ni gauche auf, womit dieser die Ambivalenz des Faschismus betonte: [L]essentiel du phénomène fasciste, en France comme ailleurs [, constitue] la conjonction à partir de la droite nationaliste, antilibérale et antibourgeoise, d’une part, et de la gauche socialiste et socialisante, d’autre part, d’éléments également décidés à briser la démocratie libérale. 231 Doch als weitaus fundamentaler erwies sich die Frage: „Existe-t-il un fascisme français? “ 232 Gab es einen Faschismus im Frankreich des entre-deuxguerres? Sternhells These, wonach die intellektuellen Ursprünge des Faschismus in Frankreich zu finden seien, sich dort gegen Ende des 19. Jahrhunderts „le véritable laboratoire idéologique du fascisme en tant que phénomène européen“ 233 befunden habe, spaltete 234 die Forschung. Dem 229 Wippermann, Wolfgang: Faschismus, S. 13, Kursivierung und Hervorhebung im Text. Im Sinne einer „‚Dreiecksdefinition’“ grenzt Wippermann den Faschismus vom Bonapartismus und Fundamentalismus ab, s. S. 13f. Vgl. bspw. auch Paxtons Kurzdefinition, auf deren zwangsläufig schnappschussartigen Charakter er selbst hinweist. Paxton, Robert O.: Anatomie des Faschismus, S. 319. 230 Im Kapitel „‚Weder rechts noch links’ - Bonapartismus und Faschismus in Frankreich“ spannt Wippermann den Bogen vom 19. bis zum beginnenden 21. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung von Bonapartismus, Dreyfus, Maurras, der ersten faschistischen Welle (Valois, Bucard, Dorgères, de la Rocque), Vichy (Pétain, Laval, Doriot, Déat), Poujade und Le Pen. S. Wippermann, Wolfgang: Faschismus, S. 16-33. Vgl. auch Paxtons prägnante Darstellung des Faschismus in Frankreich im Kapitel „Ein erfolgloser Faschismus: Frankreich, 1924-1940“, dessen Scheitern er u.a. auf die weniger stark ausgeprägte Weltwirtschaftskrise und das Fehlen einer innenpolitischen Blockadesituation ebenso wie einer einenden Führerfigur zurückführt. Paxton, Robert O.: Anatomie des Faschismus, S. 103-111, hier S. 107f. 231 Sternhell, Zeev: Préface de la nouvelle édition. In: Ders.: Ni droite, ni gauche: L’idéologie fasciste en France. Nouvelle édition refondue et augmentée. Bruxelles: Editions Complexe, 1987 (Historiques; 35), S. 9-28, hier S. 10. Vgl. auch Sternhell, Zeev; Sznajder, Mario; Asheri, Maia: Die Entstehung der faschistischen Ideologie: Von Sorel zu Mussolini. Aus dem Franz. von Cornelia Langendorf. 1. Aufl. Hamburg: Hamburger Edition, 1999. 232 So Milza und Berstein, die diese (rhetorische) Frage verneinen. Milza, Pierre; Berstein, Serge: Avant-propos. In: Dies. (Hgg.): Dictionnaire historique des fascismes et du nazisme. Avec la collaboration scientifique et technique de Catherine Burucoa- Bruandet, Anne Le Fur et Carole Giry-Gautier. Bruxelles: Éditions Complexe, 1992, S. 7-28, hier S. 25. 233 Sternhell, Zeev: Introduction. In: Ders.: La droite révolutionnaire 1885-1914: Les origines françaises du fascisme. Paris: Gallimard, 1997, S. IX-LXXXIII, hier S. X. S. auch Ders.: Le fascisme, ce ‚mal du siècle’… In: Dobry, Michel (Hg.): Le mythe de <?page no="70"?> 70 wurde die Diagnose einer „impuissance du fascisme à se concrétiser en France“ 235 , eine (rätselhafte) Faschismus-„Allergie“ der Dritten Republik entgegen gehalten und obgleich „de virtualités fascistes en France“ bestätigt wurden, lautete das abschließende Fazit: „[O]n est conduit à conclure à l’allergie française au fascisme, S. 361-406, hier S. 380. Zur Kritik an dieser These s. Burrin, Philippe: Le fascisme. In: Sirinelli, Jean-François (Hg.): Histoire des droites en France. Bd. 1: Politique. Paris: Gallimard, 1992, S. 603-652, s. insb. S. 610 und 617. 234 Im Rahmen dieser Untersuchung ist es nicht möglich, den Forscherstreit abzubilden. Zusammenfassend sei erwähnt, dass Sternhells (*1935) Kritik an der vorrangig mit dem Namen des „Doyen[s] der französischen Zeitgeschichte“ René Rémond (1918- 2007, Autor u.a. von La Droite en France de 1815 à nos jours, 1954, bzw. Les Droites en France, 1982) verbundenen und in Frankreich „‚herrschenden Lehre‘“, wonach die rechtsextremen Bewegungen im Zwischenkriegsfrankreich (u.a. Croix de feu, Jeunesses Patriotes, Le Faisceau) „gegenüber faschistischen Versuchungen immun geblieben“ seien (Wirsching), heftige Kritik und kontroverse Debatten auslöste. Zur Spaltung in Verfechter der „thèse immunitaire“, u.a. vertreten von Serge Berstein (La France des années trente allérgique au fascisme: À propos d’un livre de Zeev Sternhell, 1984), Jacques Juillard (Sur un fascisme imaginaire: À propos d’un livre de Zeev Sternhell, 1984), Michel Winock (Fascisme à la française ou fascisme introuvable? , 1983), modifiziert bei Pierre Milza (Fascisme français: passé et présent, 1987) und Philippe Burrin (La Dérive fasciste: Doriot, Déat, Bergery, 1933-1945, 1986; Fascisme, nazisme, autoritarisme, 2000) sowie Kritikern der französischen Faschismus-„Allergie“ (Robert Soucy French Fascism: The First Wave, 1924-1933, 1986; French Fascism: The Second Wave, 1933-1939, 1995; Michel Dobry Février 1934 et la découverte de l’allergie de la société française à la „Révolution fasciste“, 1989), s. Dobry, Michel: La thèse immunitaire face aux fascismes: Pour une critique de la logique classificatoire. In: Ders. (Hg.): Le mythe de l’allergie française au fascisme, S. 17-67, hier S. 19. Konzise Zusammenfassung der Polemik sowie der en gros berechtigt befundenen Kritik an Sternhells „fragwürdige[r] Universalisierung des Faschismus-Begriffs“ bei gleichzeitigem Monieren einer in Frankreich inexistenten vergleichen Faschismusforschung bei Wirsching, Andreas: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? , S. 506-525, hier S. 507f. Umfangreicher bibliografischer Essay zum Faschismus in Frankreich unter Berücksichtigung der Kontroverse bei Paxton, Robert O.: Anatomie des Faschismus, S. 358-362. Orlow spricht von einem „schillernde[n] Bild“, das der französische Faschismus in Form zahlreicher Ligen, Parteien und Intellektuellenzirkeln in der Zwischenkriegszeit bot. Dem „eindeutig“ faschistischen Lager ordnet er Le Faisceau, die Solidarité Française, den Francisme und den PPF zu, während er die Jeunesses Patriotes, den Croix de Feu bzw. dessen Nachfolgeorganisation Parti Social Français (PSF) als Zweifelsfälle einstuft. Orlow, Dietrich: Der Nationalsozialismus als Markenzeichen und Exportartikel: Das Dritte Reich und die Entwicklung des Faschismus in Holland und Frankreich 1933-1939. In: Büttner, Ursula u.a. (Hg.): Das Unrechtsregime: Internationale Forschung über den Nationalsozialismus. Bd.1: Ideologie - Herrschaftssystem - Wirkung in Europa. Hamburg: Hans Christians Verlag, 1986 (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte; 21), S. 427-468, hier S. 432. 235 „Fascisme français“. In: Berstein, Serge et Gisèle (Hgg.): Dictionnaire historique de la France contemporaine, S. 304-306, hier S. 305. <?page no="71"?> 71 l’inexistence d’une véritable idéologie fasciste et d’un courant fasciste organisé.“ 236 Vergleichsweise unstrittig ist die Bedeutung der faschistischen Literatur und ihre Schlüsselfunktion für den französischen Faschismus, den einerseits auszeichnete, dass ihm die Unterstützung einer „breite[n] Massenbasis“ fehlte, er andererseits maßgeblich von literarischen Intellektuellen getragen wurde. 237 Nicht unwesentlich ist zudem die Feststellung, dass in Frankreich „das faschistische Denken und die reiche Literatur, die es propagiert, von einem hohen Niveau [waren], das sie nirgendwo sonst erreichten.“ 238 Um dem historisch-politischen Bruch, den Frankreich durch die Niederlage und Besatzung erleidet, Rechnung zu tragen, erscheint eine terminologische Differenzierung hinsichtlich der Einordnung der zu untersuchenden Literatur angezeigt: In Anlehnung an Hofer wird folgend zwischen einer faschistoiden Literatur des avant-guerre sowie einer potentiell, so die Nuancierung gegenüber Hofers Definition, faschistischen Literatur der Kollaboration unterschieden. 239 Dies geschieht in Abgrenzung zu der von Jean Améry (1912-1978) im Jahr 1977 geäußerten Kritik am inflationären und „unheilvollen“ Gebrauch des diffusen „Unwortes“ faschistoid: Das Adjektiv sei, weil es „prinzipiell nicht dingfest gemacht werden kann, zu einer verbalen Ausflucht vor der Zumutung strenger Analyse“ geworden und habe final „durch Auszerrung seines ohnehin schon riesigen Umfangs den Inhalt schließlich völlig ein[gebüßt].“ 240 Wissend um die negative Konnotation des seit den siebziger Jahren verwendeten Begriffs faschistoid 236 Milza, Pierre; Berstein, Serge: Avant-propos. In: Dies. (Hgg.): Dictionnaire historique des fascismes et du nazisme, S. 28, Hervorhebung BB. Vgl. im Gegensatz dazu Soucy, der dem französischen Faschismus „eine klare Ideologie“ attestiert, die er als „hoch moralisch“ und „ausgesprochen ernsthaft“ qualifiziert. Soucy, Robert J.: Das Wesen des Faschismus in Frankreich. In: Internationaler Faschismus 1920-1945. Dt. Buchausgabe des Journal of Contemporary History, Heft 1, hrsg. von Walter Laqueur und George L. Mosse. München: Nymphenburger Verlagsbuchhandlung, 1966, S. 46-85, hier S. 84f. 237 Jurt, Joseph: Schriftsteller und Politik im Frankreich der dreißiger Jahre, S. 144. Zur Bedeutung der faschistischen Literatur s. Zimmermann, Margarete: Die Literatur des französischen Faschismus, S. 14; ebenso Hofer, der einen Schritt weiter geht und gerade mit der ausbleibenden politischen Konkretisierung der faschistoiden Bewegung den Einsatz faschistoider Schriftsteller für dieselbige begründet. Hofer, Hermann: Die faschistoide Literatur, S. 113. Zum Konnex von französischem Faschismus und Literatur vgl. die Ausführungen im Forschungsstand (Kp. 2). 238 Altwegg, Jürg: Die Republik des Geistes: Frankreichs Intellektuelle zwischen Revolution und Reaktion. München, Zürich: Piper, 1986, S. 29. 239 Hofer spricht von einer „eindeutig faschistischen“ Kollaborationsliteratur. Hofer, Hermann: Die faschistoide Literatur, S. 138 Fn 2. 240 Améry, Jean: Faschismus - Wort ohne Begriff? Versuch einer zeitgemäßen Definition. In: Ders.: Weiterleben - aber wie? Essays 1968-1978. Hrsg. u. mit e. Nachw. vers. von Gisela Lindemann. Stuttgart: Klett-Cotta, 1982, S. 228-247, hier S. 239. <?page no="72"?> 72 für „‚faschistische Züge’ zeigend“ 241 , den Améry aufgrund des inhärenten diskreditierenden Charakters ablehnt, dient der Terminus in vorliegender Arbeit der neutralen definitorischen Präzisierung: Als faschistoid werden französische Texte aus den Jahren 1933 bis 1940 qualifiziert, die den deutschen Nationalsozialismus positiv bewerteten, dadurch einer eurofaschistischen Politik den Weg ebneten und der Niederlage und Kollaboration mittel- oder unmittelbar Vorarbeit leisteten. 242 Das diese Werke aus den Vorkriegs- und Kriegsjahren kennzeichnende Inventar faschistoider respektive faschistischer Wesensmerkmale, die den „‚discours littéraire’“ gleichzeitig als „‚discours fasciste‘“ 243 offenbaren, umfasst unter Berücksichtigung der persönlichen Akzentuierungen durch die Schriftsteller Verherrlichung von Krieg und Gewalt, Antisemitismus, positive Einstellung zu Hitlerdeutschland, Antiparlamentarismus und Antidemokratie, Rassenungleichheit, Arbeit als Nationalwert, Glaube als Kult von Gott und Vaterland, Liebe zur heimatlichen Erde, Antikommunismus. 244 Fundamental wichtig bei der Interpretation ist ein an dieser Stelle noch einmal explizit zu betonender Aspekt: Châteaubriant, Brasillach und Chardonne sind Kollaborationsschriftsteller. Bei der Kollaboration handelt es sich „um zwei Seiten einer Medaille“ 245 , d.h. die Autoren resorbieren die nationalsozialistische Ideologie - dies aber auf verschiedene Art und Weise sowie unterschiedlich intensiv. In diesem Sinne vollzieht sich die Suche nach Kennzeichen eines faschistischen „Diskurses“ vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus, den Goebbels 1933 im Glauben an die Faschisierung Europas als mit dem Ursprungsfaschismus in Italien „gleichlaufende[s] Phänomen“ bezeichnete: Ich bin der festen Überzeugung, daß die politische Richtung, die wir heute in Italien mit dem Namen ‚Faschismus’ und die wir in Deutschland mit dem Namen ‚Nationalsozialismus’ zu belegen pflegen, nach und nach ganz Europa 241 Strauß, Gerhard: „Faschismus“. In: Deutsches Fremdwörterbuch. Begonnen von Hans Schulz, fortgeführt von Otto Basler. Bd. 5: Eau de Cologne - Futurismus. 2. Aufl., völlig neubearb. im Institut für Deutsche Sprache. Bearb. von Gerhard Strauß, Heidrun Kämper, Isolde Nortmeyer, Herbert Schmidt, Oda Vietze. Berlin; New York: de Gruyter, 2004, S. 713-721, hier S. 715. 242 Hofer, Hermann: Die faschistoide Literatur, S. 138 Fn 2. Brasillachs Notre avant-guerre nimmt insofern eine Zwischenstellung ein, als es zwar vor der Besatzung entstand, jedoch 1941 publiziert wurde und zudem unklar ist, in welchem Maße in diesem zeitlichen Intervall Modifikationen (und von wem) vorgenommen wurden. Hierzu s. Kp. 4.3.1.1. 243 Die Integration beider Diskurse im literarischen wie auch publizistischen Werk bezieht Zimmermann konkret auf Drieu la Rochelle, Brasillach und Rebatet. Zimmermann, Margarete: Die Literatur des französischen Faschismus, S. 14. 244 Hofer, Hermann: Die faschistoide Literatur, S. 118; ähnlich Zimmermann, Margarete: Die Literatur des französischen Faschismus, S. 14. 245 Vgl. die bereits zitierte IFB-Rezension von Hausmann, Frank-Rutger zu Archives de la vie littéraire sous l’Occupation: A travers le désastre. <?page no="73"?> 73 durchdringen wird, dass es ihr gegenüber keine Hemmung und kein Hindernis mehr geben kann und überhaupt vom Durchbruch dieses politischen Phänomens die Zukunft unseres Erdteils abhängig ist. 246 Nicht unwesentlich erscheint in diesem Kontext, was Schieder aus dem Vergleich der faschistischen Diktaturen in Italien und Deutschland deduziert: Dass „[n]icht das Totalitäre, sondern das Faschistische […] zum Kern des Verständnisses von Hitlers Gewaltregime in Deutschland“ 247 führe - womit sich, so die an dieser Stelle formulierte These, auch das Engagement der nach einer kompensatorischen Ideologie suchenden französischen Literaten für NS-Deutschland unter (un-)bewusster Ausblendung seines totalitären Charakters mit erklären ließe. 1.7 Aufbau Die mehrschichtige Fragestellung macht eine interdisziplinäre Vorgehensweise erforderlich. Unter Rekurs auf die von historisch-politischer und literaturwissenschaftlicher Seite genannten faschistischen Ideologeme werden die Werke im Rahmen einer am Vorgehen der historischen Diskursanalyse orientierten kontextuellen, makrosowie mikrostrukturellen Analyse auf sprachlich-literarische, rhetorische, stilistische sowie argumentative Elemente, Themen und Topoi eines faschistoiden bzw. faschistischen Diskurses untersucht. 248 Wenngleich nicht die integrale Präsenz der genannten Wesensmerkmale in den Texten für deren Einstufung als faschistoide respektive faschistische Literatur ausschlaggebend ist, so bedarf es der Kumulierung mehrerer Kriterien. Mit der Begutachtung des Nationalsozialismus ist die Betrachtung des Deutschen- und Deutschland-Bildes verbunden, das als Hetero-Image wiederum Rückschlüsse auf das französische Auto-Image zulässt. 249 246 Goebbels, Joseph: Der Faschismus und seine praktischen Ergebnisse. Berlin: Junker und Dünnhaupt: 1934 (Schriften der deutschen Hochschule für Politik, Heft 1), S. 9f. 247 Schieder, Wolfgang: Faschistische Diktaturen, S. 28, Hervorhebung BB, speziell zum Ursprungsfaschismus in Italien, S. 31ff.; zur Auseinanderentwicklung des autoritären faschistischen Regimes Mussolinis und des sich zum totalitären System fortentwickelnden faschistischen Hitler-Staates Ende der dreißiger Jahre, s. S. 377-396, hier S. 379. 248 Vgl. Landwehr, Achim: Historische Diskursanalyse. Frankfurt u.a.: Campus Verlag, 2008 (Historische Einführungen; 4), S. 105ff. 249 Nationenbezogene Selbst- und Fremdbilder bilden den Untersuchungsgegenstand der komparatistischen Imagologie: Diese ist im Interesse einer „Entideologisierung“ darum bemüht, „die jeweiligen Erscheinungsformen der images sowie ihr Zustandekommen und ihre Wirkung zu erfassen“ mit dem Ziel, „die Rolle, die solche literarischen images bei der Begegnung der einzelnen Kulturen spielen, zu erhellen.“ Dyserinck, Hugo: Komparatistik: Eine Einführung. 3. Aufl. Bonn: Bouvier, 1991 (Aachener Beitrage zur Komparatistik; 1), S. 130f., Kursivierung im Text. Konzis be- <?page no="74"?> 74 Die Arbeit gliedert sich in drei Teile, die Châteaubriants La Gerbe des Forces, Brasillachs Notre avant-guerre und Journal d’un homme occupé sowie Chardonnes Le Ciel de Nieflheim gewidmet sind. Die chronologische, sich an den Entstehungsdaten der Texte orientierende Strukturierung, die folglich bei Châteaubriant beginnt, anschließend auf Brasillach fokussiert und mit Chardonne abschließt, liegt im historisch-politischen 250 Kontext begründet. Eine Skizzierung der Biografie und ausgewählter Publikationen des Autors leitet jedes Kapitel ein, woran sich die exemplarische Präsentation einer um Rehabilitierung der drei Schriftsteller - und konkludent der zu untersuchenden Werke - bemühte Sekundärliteratur anschließt. Den jeweiligen Kapitelschwerpunkt bildet die Textanalyse in Hinblick auf die Rezeption des Hitler-Regimes und des Nationalsozialismus sowie auf faschistoide bzw. faschistische Wesensmerkmale. Alphonse de Châteaubriants La Gerbe des Forces: Nouvelle Allemagne ist, wie es der anspielungsreiche Titel vermuten lässt, eine Art Huldigungsschrift an das „neue“, nationalsozialistische Deutschland, das der Schriftsteller in den Jahren 1935 und 1936 bereist. Während Hitler im Frühjahr 1935 die verbotene allgemeine Wehrpflicht wiedereinführt, im September 1935 auf dem „Reichsparteitag der Freiheit“ die „Nürnberger (Rassen-) Gesetze“ verkündet und die Wehrmacht unter Verstoß gegen die Verträge von Versailles (1919) und Locarno (1925) im März 1936 in das entmilitarisierte Rheinland einmarschiert, schließt Frankreich am 2. Mai 1935 zum Schutz vor NS-Deutschland einen Beistandspakt mit der Sowjetunion. Einen Tag nach dem Einmarsch italienischer Truppen in Abessinien (3. Oktober 1935) unterzeichnen vierundsechzig französische, von ihren Gegnern als faschistisch 251 titulierte Intellektuelle, das Manifeste pour la stimmt Steinbach das Autoimage als „das Bild der eigenen Nation, des eigenen Volkes, welchem zumeist kontrastierend das Heteroimage, also das Bild einer Fremdgruppe entgegengestellt wird, wodurch Auto- und Heteroimage in einem wechselseitigen Abhängigkeits- und Einflußverhältnis stehen und gleichermaßen bedeutsam für das Zustandekommen des nationalen Selbstverständnisses sind.“ Steinbach, Marion: National-imagotype Mythen in der faschistischen Literatur Italiens. In: Born, Joachim; Steinbach, Marion (Hgg.): Geistige Brandstifter und Kollaborateure, S. 245- 269, hier S. 245, Fn. 4, Hervorhebung BB. 250 Die im Folgenden erwähnten Daten und Ereignisse beziehen sich auf Martens, Stefan: Vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende des Vichy-Regimes (1914-1944). In: Hinrichs, Ernst (Hg.): Kleine Geschichte Frankreichs. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2005 (Schriftenreihe; 538), S. 361-416, insb. S. 385-388; zum Nationalsozialismus und den Entwicklungen in NS-Deutschland vgl. bspw. Hildebrand, Klaus: Das Dritte Reich. 7., durchges. Aufl. München: Oldenbourg, 2009 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte; 17), Zeittafel der Jahre 1933-1945 im Anhang, s. S. 446-456. 251 So bezeichnete Europe die Befürworter, „déshonorés à jamais“, dieser „manifestation répugnante“ und druckte die ursprünglich in Le Temps erschienene Erklärung gefolgt von zwei Erwiderungen (Réponse aux intellectuels fascistes sowie Un manifeste d’intellectuels catholiques pour la justice et la paix) ab. S. „Trois manifestes”. In: Europe, 15. 11. 1935, S. 449-456, hier S. 449. <?page no="75"?> 75 défense de l’Occident, um gegen die Verurteilung des faschistischen Italiens und mögliche Sanktionen durch die Regierung Lavals sowie des Völkerbundes zu protestieren - unter ihnen Châteaubriant und Brasillach. 252 Als Reaktion auf den als faschistischen Putschversuch interpretierten Aufstand vom 6. Februar 1934 siegt am 3. Mai 1936 das Volksfrontbündnis: Erstmalig wird mit Léon Blum ein sozialistischer und jüdischer Politiker Ministerpräsident in Frankreich. Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, dass in diesem ersten, La Gerbe des Forces gewidmeten Untersuchungsteil, das vom bretonischen Reisenden widergespiegelte Bild Deutschlands und der Deutschen als Reaktion auf die französische Gegenwart großen Raum einnimmt. Eine weitere Besonderheit der Châteaubriant’schen Reiseeindrücke und mit ein Analyse-Schwerpunkt ist, dass der gläubige Katholik, im Unterschied zu Brasillach und Chardonne, den Nationalsozialismus als rettenden Glauben verklärt und Hitler mythisch überhöht. Gleichsam als „Negativ-Pendant“ und Bestandteil des faschistoiden Kataloges ist der Bolschewismus Châteaubriants zentrales Feindbild, ergänzt durch die Kritik des Autors an Individualismus, Liberalismus, Demokratie - damit verbunden die Französische Revolution - sowie flankiert von einem rassenideologischen Diskurs. Zwischen September 1939 und Mai 1940 verfasst der Frontoffizier Robert Brasillach den Memoirenband Notre avant-guerre. Da der Autor in deutsche Kriegsgefangenschaft 253 gerät, beauftragt er seinen Schwager Maurice Bardèche mit der Publikation, die 1941 erfolgt. Das als Fortsetzung gedachte, wörtlich auf die Okkupation verweisende Journal d’un homme occupé wiederum entsteht vorwiegend während der Besatzungsjahre, doch handelt es sich hierbei nicht, wie im Verlauf erörtert werden wird, um ein genuin Brasillach’sches Werk: Es beruht auf teilweise gekürzten Artikeln und Entwürfen des im Februar 1945 hingerichteten Romanciers, das Bardèche zusammenstellt und 1955 publiziert. Nach dem „Anschluss“ Österreichs (März 1938) und der Sanktionierung der Abtretung des Sudetengebietes an NS-Deutschland durch das 252 Weiterführend zu dem Manifest, u.a. Ausdruck eines rechten Neopazifismus, s. Sirinelli, Jean-François: Intellectuels et passions françaises, S. 92-100. 253 Ungefähr 1,8 Millionen französische Soldaten wurden infolge der Niederlage gefangen genommen, 1,6 Millionen wurden in Deutschland in Stalags (Stammlager) und Oflags (Offizierslager) interniert; ca. 90-95% der Kriegsgefangenen (Stalags) wurden zum Arbeitseinsatz im Reich herangezogen. Durand, Yves: Les prisonniers de guerre français: Main d’œuvre pour le Reich et monnaie d’échange avec Vichy. In: Carlier, Claude; Martens, Stefan (Hgg.): La France et l’Allemagne en guerre: septembre 1939novembre 1942. Actes du XXVème colloque franco-allemand organisé par l’Institut Historique Allemand de Paris en coopération avec l’Institut d’Histoire de Conflits Contemporains, Paris et le Comité de la République fédérale d’Allemagne du Comité International d’Histoire de la Deuxième Guerre Mondiale. Wiesbaden, 17 au 19 mars 1988. Paris, IHAP-IHCC, 1990, S. 491-507, hier S. 491. <?page no="76"?> 76 auch von Frankreich besiegelte Münchner Abkommen (30. September 1938) unterzeichnen das Deutsche Reich und das französische Nachbarland im Dezember 1938 eine Nichtangriffserklärung. Während Hitler-Deutschland im März 1939 die Rest-Tschechoslowakei besetzt, endet im Frühjahr 1939 nach fast dreijährigen Kämpfen der Spanische Bürgerkrieg mit der Einnahme Madrids durch Francos Truppen. Zwei Tage nach dem deutschen Überfall auf Polen (1. September 1939) 254 erklärt Frankreich, das seit Mai mit Polen durch einen geheimen Beistandspakt verbunden ist, dem Deutschen Reich den Krieg und macht mobil. Der monatelange „Sitzkrieg“ endet am 10. Mai 1940 mit der deutschen Westoffensive: Am 14. Juni 1940 marschieren deutsche Truppen in Paris ein, am 22. Juni wird der vom neu ernannten Regierungschef Pétain ersuchte Waffenstillstand mit NS- Deutschland in Compiègne unterzeichnet. 255 Brasillach hält in dem „packende[n]“, „von Leben und beschwingter Grazie“ erfüllten Erinnerungsbuch Rückschau auf seine Jugend, die Studienjahre sowie die ersten Berufserfahrungen als Literaturkritiker, Journalist und Romancier im „Paris vor der Sintflut“, so das Urteil des wohlwollenden Rezensenten der Deutsch-französischen Monatshefte. 256 Eine wichtige Rolle und deswegen Gegenstand der Betrachtung spielt die Prägung Brasillachs durch die germanophobe Action française, ebenso wie seine Tätigkeit für das faschistische Wochenblatt Je suis partout, zu dessen Chefredakteur er im Alter von 28 Jahren avanciert. Ein besonderes Augenmerk gilt den vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs unternommenen Reisen in die faschistischen Nachbarländer, vorrangig nach Franco-Spanien, Hitler- Deutschland und das Belgien Degrelles. Insbesondere das Journal d’un homme occupé ist aufschlussreich hinsichtlich der Genese der Brasillach’schen Germanophilie: Untersucht wird der Diskurs des ehemaligen deutschen Kriegsgefangenen über den „Feind“ und den Nationalsozialis- 254 Zu den Ereignissen zwischen September 1939 bis November 1942 s. Ebd. 255 Dem „schwarzen Jahr 1940“ widmet sich Jean-Pierre Azéma in seiner gleichnamigen Studie: In 34 Kapiteln analysiert er die Ereignisse ab den Feierlichkeiten anlässlich des 150. Jahrestages des Sturms auf die Bastille (14. 7. 1939) bis zu Pétains Weihnachtsansprache (1940), in welcher der Chef de l’Etat vor Verdrossenheit warnte und seine Landsleute zum unermüdlichen Einsatz für ein neues und gesundes Frankreich aufforderte. Am 25. 12. 1940 traf zudem der von Pétain beauftragte Darlan Hitler in der Nähe von Beauvais, demgegenüber er die Absetzung Lavals (13. 12. 1940) rechtfertigte und die französische Kollaborationsbereitschaft bekräftigte. Azéma, Jean- Pierre: 1940, l’année noire: Paris: Fayard, 2010, S. 433f. Vgl. auch die konzise, die Forschungsliteratur bis 1992 reflektierende Darstellung der Zeit zwischen „Sitzkrieg“ und „Säuberung“ sowie der Ausblick auf den Umgang der französischen Zeitgeschichtsforschung mit den années noires zu Beginn der neunziger Jahre von Martens, Stefan: „‚Drôle de Guerre’ - Occupation - Épuration: Frankreich im Zweiten Weltkrieg“. In: Neue politische Literatur 37 (1992), S. 185-213. 256 N.N.: „Robert Brasillach: Notre Avant-Guerre. Editions Plon, 1941“ (Rezension). In: DFMh 9. Jg., Heft 6/ 7 (1942), S. 227-228, hier S. 227. <?page no="77"?> 77 mus, ebenso wie über das Vichy-Regime und Pétain. Ist bei Châteaubriant der Bolschewismus das dominierende Feindbild, so kommen bei Brasillach die gegen Deutschland alliierten Staaten Amerika und Großbritannien hinzu. Des Weiteren sind der prononcierte Jugendkult und die Kritik an der „jüdisch durchsetzten“ Regierung des Front populaire für die Suche nach Anzeichen faschistischer Kriterien von Interesse. Zum Zeitpunkt der vollständigen Besetzung Frankreichs und der rücksichtslosen Ausbeutung für die deutsche Kriegswirtschaft veranlasst Chardonne den Druck seines pro-nazistischen Essays Le Ciel de Nieflheim, jedoch entgegen der ursprünglichen Planung des Autors ausschließlich als Privatdruck und in begrenzter Auflagenhöhe. Mit der Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrages wird das Hexagon geteilt: Die Nordhälfte mitsamt den wichtigsten Industriestädten untersteht der deutschen Besatzungsmacht, in der unbesetzten Südzone residiert das Kollaborationsregime unter Marschall Pétain in Vichy; zudem werden die beiden nördlichen Départements (Nord, Pas-de-Calais) dem deutschen Militärbefehlshaber in Nordfrankreich und Belgien zugewiesen, das Elsass und Lothringen (genauer die Départements Moselle, Haut-Rhin und Bas-Rhin) zwar nicht de jure, aber de facto von NS-Deutschland annektiert und der deutschen Zivilverwaltung der Gaue Baden und Saarpfalz unterstellt. 257 Auf Druck des Hitler-Regimes ernennt Pétain im April 1942 erneut Laval zum Ministerpräsidenten, der den Sieg Deutschlands wünscht, das gegen den von den Nationalsozialisten „als die gewaltigste Organisation der Unterwelt, des Verrats, der Verschwörung und des Verbrechens im Weltmaßstabe“ denunzierten „Weltbolschewismus“ kämpfe. 258 Nach Erlass der Judenstatute im Oktober 1940 und Juni 1941 setzen im Juli 1942 unter Mitwirkung der französischen Polizei Razzien und Deportationen der jüdischen Bevölkerung aus Frankreich ein („rafle du Vélodrome d’Hiver“, 16. - 17. Juli 1942). Auf die Landung der Alliierten in Nordafrika antwortet das Deutsche Reich am 11. November 1942 mit dem Einmarsch deutscher Truppen in die bisher freie Südzone, wobei Hitler weiterhin an der Aufrechterhaltung der „‚Fiktion einer französischen Regierung mit Pétain […] [a]ls eine Art Gespenst’“ gelegen ist. 259 Während die 257 S. Rousso, Henri: Vichy: Frankreich unter deutscher Besatzung 1940-1944. Aus dem Franz. von Matthias Grässlin. München: Beck, 2009 (Beck’sche Reihe; 1910), S. 42f. 258 Anti-Komintern (Hg.): Der Weltbolschewismus: Ein internationales Gemeinschaftswerk über die bolschewistische Wühlarbeit und die Umsturzversuche der Komintern in allen Ländern. Berlin: Nibelungen-Verlag GmbH, 1936, S. 7. In der mir vorliegenden Ausgabe ist ein „Verpflichtungsschein N° 5521*“ eingeklebt, demzufolge das Buch „als vertrauliches Dokument über die internationale Wühlarbeit des Bolschewismus“ erscheine, weshalb ein öffentlicher Vertrieb unterbleibe. 259 So Hitler im Dezember 1942, zit. in Jäckel, Eberhard: Frankreich in Hitlers Europa, S. 261. Für die Zeit zwischen der Besatzung der Südzone im November 1942 bis zur Befreiung Frankreichs im Herbst 1944 vgl. die Kolloquiumsakten von Martens, Ste- <?page no="78"?> 78 Wehrmacht Anfang 1943 in Stalingrad eine vernichtende Niederlage erleidet, gründet Vichy am 30. Januar 1943 mit der Milice française ein „parapolizeiliche[s] Freiwilligenkorps“ 260 zur radikalen Bekämpfung des Widerstands. Die zunehmende Verschärfung der deutschen Besatzungspolitik findet kurz darauf Niederschlag in dem als Reaktion auf die gescheiterte „freiwillige“ Relève vom Etat Français dekretierten Zwangsarbeitsdienst (Service du travail obligatoire, STO) für das Deutsche Reich. 261 Vom Londoner Exil aus gelingt de Gaulle der Zusammenschluss der Résistance-Gruppen; im August 1943 erkennen die Alliierten de Gaulles in Algier gegründetes Comité français de Libération nationale (CFLN) an. Chardonne teilt Châteaubriants Aversion gegen den Kommunismus und Russland, mit Brasillach verbindet ihn ferner die rigorose Kritik an Amerika, Großbritannien und der Dritten Republik. Ähnlich wie der bretonische Reisende in den Vorkriegsjahren richtet der Verlagsleiter von Stock seinen Blick auf den deutschen „Himmel“ - und darüber hinausgehend auf ein visioniertes deutsches Europa. Auf Einladung des Deutschen Reiches nimmt der gebürtige Charentaiser im Herbst 1941 an einer Deutschlandrundreise und dem Weimarer Dichtertreffen teil, ein Jahr später ist er erneut zu Gast in Weimar. Die Beschäftigung mit Chardonne setzt noch stärker, als dies bei Brasillach der Fall ist, die Inaugenscheinnahme seines Verhältnisses zur deutschen Besatzungsmacht in Paris, insbesondere zum Deutschen Institut, und zu den deutschen Kulturvertretern voraus, mit denen er entweder persönlich in Kontakt kam oder deren Werke er rezipierte und die Eingang in Le Ciel de Nieflheim fanden. Da für das Verständnis des Essays und zur Ermittlung faschistischen Gedankenguts eine Berücksichtigung sowohl der im Vorfeld als auch der mit retrospektivem Blick auf die Okkupationsjahre entstandenen Publikationen wichtig erscheint, finden diese ausführliche Berücksichtigung. Final gilt es zu eruiefan; Vaïsse, Maurice (Hgg.): Frankreich und Deutschland im Krieg (November 1942 - Herbst 1944): Okkupation, Kollaboration, Résistance. Akten des deutsch-französischen Kolloquiums, 22.-23. März 1999. Bonn: Bouvier, 2000 (Pariser Historische Studien; 55). 260 Jurt, Joseph: Historischer Überblick. In: Kohut, Karl (Hg.): Literatur der Résistance und Kollaboration in Frankreich: Geschichte und Wirkung II (1940-1950), S. 25. 261 Zur Zwangsrekrutierung von Franzosen zum „Reichseinsatz“, s. Zielinski, Bernd: Der „Reichseinsatz“ von Franzosen und die Entwicklung der Kollaborationspolitik. In: Martens, Stefan; Vaïsse, Maurice (Hgg.): Frankreich und Deutschland im Krieg (November 1942 - Herbst 1944), S. 379-396; vgl. auch die kondensierte Darstellung durch Veillon, Dominique: La vérité sur le STO. In: Bédarida, François (Hg.): Résistants et collaborateurs: les Français dans les années noires. Paris: L’Histoire/ Seuil, 1985, S. 105-109. <?page no="79"?> 79 ren, ob Chardonnes Nieflheim-Essay als Plädoyer für die euphemistisch als „Euthanasie“ getarnten Mordaktionen der Nationalisten zu verstehen ist. 262 Die gewonnenen Erkenntnisse münden zum Abschluss der jeweiligen Kapitel in kurze Resümees ein. Die Arbeit schließt mit einer vergleichenden Präsentation der Untersuchungsergebnisse sowie einer zentrierten Zusammenfassung der vorgelegten Studie auf Französisch. 262 Vgl. die 21. Frage: „Was war ‚Euthanasie’? “ In: Benz, Wolfgang: Die 101 wichtigsten Fragen: Das Dritte Reich. 2. Aufl. München: Beck, 2008 (Beck’sche Reihe; 1701), S. 33-35, hier S. 34. <?page no="81"?> 81 2. Forschungsstand Die Geschichts- und Politikwissenschaften haben sich intensiv mit der deutschen Besatzungspolitik im okkupierten Frankreich 1 , dem Vichy- Regime und der Kollaboration auseinandergesetzt 2 und dabei den franzö- 1 Vgl. die Referenzwerke von Jäckel, Eberhard: Frankreich in Hitlers Europa; Umbreit, Hans: Der Militärbefehlshaber in Frankreich 1940-1944. Boppard a. R.: Boldt, 1968 (Wehrwissenschaftliche Forschungen: Abteilung militärgeschichtliche Studien; 7); Frank, Robert: Deutsche Okkupation, Kollaboration und französische Gesellschaft 1940-1944. In: Röhr, Werner (Hg.): Okkupation und Kollaboration (1938-1945): Beiträge zu Konzepten und Praxis der Kollaboration in der deutschen Okkupationspolitik. Berlin u.a.: Hüthig, 1994 (Europa unterm Hakenkreuz; Erg.-Bd. 1), S. 87-100; Die faschistische Okkupationspolitik in Frankreich (1940-1944). Dokumentenauswahl und Einleitung von Ludwig Nestler, unter Mitarbeit von Friedel Schulz. Berlin: Dt. Verl. d. Wissenschaften, 1990 (Europa unterm Hakenkreuz. Die Okkupationspolitik des deutschen Faschismus 1938-1945); Eismann, Gaël; Martens, Stefan (Hgg): Occupation et répression militaire allemandes: La politique de „maintien de l’ordre“ en Europe occupée, 1939-1945. Paris: Ed. Autrement, 2007 (Collection Mémoires/ Histoire; 127), insb. S. 127-185; Meyer, Ahlrich: Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940-1944: Widerstandsbekämpfung und Judenverfolgung. Darmstadt: Wiss. Buchges., 2000. Zu Otto Abetz, dem deutschen Botschafter in Paris, s. die Dissertationen von Ray, Roland: Annäherung an Frankreich im Dienste Hitlers? Otto Abetz und die deutsche Frankreichpolitik 1930-1942. München: Oldenbourg, 2000 (Studien zur Zeitgeschichte; 59) wie auch von Lambauer, Barbara: Otto Abetz et les Français. 2 Grundlegend hierzu Paxton, Robert O.: La France de Vichy: 1940-1944. Préf. de Stanley Hoffmann. Nouv. éd., revue et mis à jour par l’auteur. Paris: Éd. du Seuil, 1997 (engl. Original: Vichy France: old guard and new order 1940-1944, 1972); Hoffmann, Stanley: Essais sur la France. Aus der Fülle der entsprechenden Sekundärliteratur sei eine Auswahl französischer Studien erwähnt wie bspw. Amouroux, Henri: La grande histoire des Français sous l’Occupation. 8 Bände. Paris: 1976-1988; Azéma, Jean- Pierre: La Collaboration (1940-1944). Paris: Presses universitaires de France, 1975; Ders.: De Munich à la libération: 1938-1944. Éd. revue et mise à jour. Paris: Éd. du Seuil, 1989; Ders.; Bédarida, François (Hgg.): La France des années noires. Tome 1: De la défaite à Vichy. Édition révue et mise à jour. Paris: Éd. du Seuil, 2000; Dies.: La France des années noires. Tome 2: De l’Occupation à la Libération. Edition révue et mise à jour. Paris: Éd. du Seuil, 2000; bei der jüngsten Publikation von Azéma handelt es sich um ein schmales Bändchen (122 Seiten) in Form von Fragen und Antworten: Azéma, Jean-Pierre: L’Occupation expliquée à mon petit-fils. Paris: Éd. du Seuil, 2012; Burrin, Philippe: La France à l’heure allemande; Ders.: Vichy: Die Anti-Republik. In: Nora, Pierre (Hg.): Erinnerungsorte Frankreichs. Mit einem Vorwort von Etienne François. München: C. H. Beck, 2005, S. 134-156; Ory, Pascal: Les collaborateurs: 1940- 1945. [Nouv. éd.]. Paris: Éd. du Seuil, 1980; Ders.: La France allemande; Rousso, Henry; Conan, Eric: Vichy, un passé qui ne passe pas. Paris: Fayard, 1994 (Pour une histoire du XX e siècle); Rousso, Henry: Vichy: Frankreich unter deutscher Besatzung 1940-1944 (frz. Original: Le régime de Vichy, 2007); Ders.: Frankreich und die „dunklen Jahre“: Das Regime von Vichy in Geschichte und Gegenwart. Göttingen: Wallstein-Verlag, 2010 (Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts; 8). <?page no="82"?> 82 sischen Intellektuellen 3 - an prominenter Stelle den Schriftstellern - angesichts des sie auszeichnenden politischen Engagements besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die ungebrochen intensive Beschäftigung mit dem Faschismus 4 dokumentiert eine beachtliche Forschungsliteratur. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das Interesse der Kultur- und Literaturwissenschaften an den Okkupationsjahren verstärkt, womit die nationalsozialistische Kulturpolitik 5 , das Kulturleben 6 sowie die kulturelle und 3 Eine umfassende und überdies stilistisch ansprechende Studie hat Michel Winock, Professor für Zeitgeschichte am Pariser Institut d’études politiques, im Jahr 1997 vorgelegt: Er untergliedert das Jahrhundert der Intellektuellen in drei Perioden, die er beispielhaft mit den Namen Maurice Barrès (Dreyfus-Affäre bis Erster Weltkrieg), André Gide (Zwischenkriegszeit) und Jean-Paul Sartre (Jahre nach der Befreiung) verbunden sieht. Winock, Michel: Das Jahrhundert der Intellektuellen (frz. Original: Le siècle des intellectuels, 1997). Vgl. auch das gelungene Nachschlage- und Standardwerk von Juillard, Jacques; Winock, Michel (Hgg.): Dictionnaire des intellectuels français; Sirinelli, Jean-François: Intellectuels et passions françaises; vgl. die unter der Kapitelüberschrift „Totalitarismus, Okkupation und Krise der Intelligenz“ gruppierten Beiträge in Einfalt, Michael; Erzgräber, Ursula; Ette, Ottmar; Sick, Franziska (Hgg.): Intellektuelle Redlichkeit - Intégrité intellectuelle, S. 543-623. 4 Aus Gründen der Praktikabilität sei an dieser Stelle auf die ausgewählten Literaturhinweise zum Faschismus im Einleitungskapitel verwiesen, des Weiteren auf die knapp 100 Titel umfassende, den Forschungsstand bis 1992 berücksichtigende Bibliografie von Burrin, Philippe: Le fascisme. In: Sirinelli, Jean-François (Hg.): Histoire des droites en France, S. 648-652; vgl. auch den bibliografischen Essay zum Faschismus bei Paxton, Robert O.: Anatomie des Faschismus, S. 322-370, speziell zu Frankreich s. S. 358-362 und 370. 5 Engel, Kathrin: Deutsche Kulturpolitik im besetzten Paris 1940-1944: Film und Theater. München: Oldenbourg, 2003 (Pariser Historische Studien; 63), Resümee des Forschungstandes s. S. 27-31; zum Deutschen Institut in Paris s. Michels, Eckard: Das Deutsche Institut in Paris 1940-1944: Ein Beitrag zu den deutsch-französischen Kulturbeziehungen und zur auswärtigen Kulturpolitik des Dritten Reiches. Stuttgart: Steiner, 1993 (Studien zur modernen Geschichte; 46); ebenso Hausmann, Frank- Rutger: „Auch im Krieg schweigen die Musen nicht“: Die deutschen wissenschaftlichen Institute im Zweiten Weltkrieg. 2., durchges. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; 169), S. 100-130; Thalmann, Rita: La mise au pas: Idéologie et stratégie sécuritaire dans la France occupée. Paris: Fayard, 1991, insb. S. 129-218; vgl. die Aufsätze zur „Kultur unter der Besatzung“ in dem knapp 1000 Seiten starken Tagungsbericht des unter Federführung des Deutschen Historischen Institut (DHI/ IHP) in Paris veranstalteten deutsch-französischen Kolloquiums (März 1999): Martens, Stefan; Vaïsse, Maurice (Hgg.): Frankreich und Deutschland im Krieg (November 1942 - Herbst 1944), S. 647- 725. 6 Corcy, Stéphanie: La vie culturelle sous l’occupation. Paris: Perrin, 2005; speziell der „Vichy-Kultur“ gewidmet ist die aus Tagungen des Institut d’histoire du temps présent (IHTP) hervorgegangene Aufsatzsammlung u.a. mit Beiträgen von Pascal Ory (La politique culturelle de Vichy: ruptures et continuités), Denis Peschanski (Une politique de la censure? ), Henry Rousso (Vichy: politique, idéologie et culture) in Rioux, Jean-Pierre (Hg.): La vie culturelle sous Vichy. Bruxelles: Editions Complexe, 1990. Zu dem paradox anmutenden Phänomen der kulturellen Blüte während der Besatzung Fran- <?page no="83"?> 83 literarische Kollaboration im besetzten Frankreich in den Fokus der Betrachtung getreten sind. Ferner ist in jüngster Zeit eine deutliche Zunahme der Bebilderung von Veröffentlichungen über die Jahre der nationalsozialistischen Besatzung Frankreichs mit Fotografien und Faksimiles von Briefen, Manuskripten oder offiziellen Dokumenten zu verzeichnen: Bisweilen im Stil von Fotoalben erweitern diese den Blick(winkel) und ermöglichen somit eine vereinte Sicht sowohl als Leser als auch als Betrachter auf die années noires und eröffnen Perspektiven für neue interdisziplinäre Forschungsansätze. Neben den einleitend präsentierten Werken von Robert O. Paxton, Olivier Corpet, Claire Paulhan (Archives de la vie littéraire sous l’Occupation: À travers le désastre, 2009) sowie von Cécile Desprairies (Ville lumière, années noires: les lieux du Paris de la Collaboration, 2008; Paris dans la Collaboration, 2009; Sous l’œil de l’occupant: La France vue par l’Allemagne 1940-1944, 2010), sei auf die Publikation Oliver Barrots, Fernsehjournalist, und Raymond Chirats, ehemaliger Leiter und Namensgeber der Bibliothek des kinematografischen Institut Lumière in Lyon hingewiesen: La vie culturelle dans la France occupée 7 (2009). Auf knapp 160 Seiten und mit 175 Fotografien und Faksimiles reich bestückt, gewährt das instruktive kleinformatige Büchlein (Découvertes Gallimard) einen kaleidoskopartigen Einblick in das Kulturleben im gesamten Hexagon während der deutschen Besatzung. Karen Fiss ihrerseits, Associate professor of visual studies and design am California college of the Arts in San Francisco, widmet sich - unter Anspielung auf Jean Renoirs Filmklassiker La grande illusion (1937) - in ihrer Untersuchung Grand illusion: the Third Reich, the Paris exposition, and the cultural seduction of France (2009) u.a. der französischen Rezeption der auf der Pariser Weltausstellung von 1937 präsentierten nationalsozialistischen Kultur und Politik in Gestalt des von Albert Speer (1905-1981) entworfenen monumentalen deutschen Pavillons. 8 Fiss betont die weitreichende Konsekreichs - „Au fond du tunnel des ‚années noires’, la culture est plus que jamais vitale.“ -, s. Ders.: Ambivalences culturelles (1940-1941). In: Azéma, Jean-Pierre; Bédarida, François (Hgg.): La France des années noires. Tome 1: De la défaite à Vichy, S. 547-563, hier S. 562; dass auch im Krieg die Musen nicht schwiegen (vgl. den Titel von Hausmanns bereits zitierter Studie) führt Burrin in den Kapiteln „Inter arma silent Musae“ und „Les muses enrôlées“ aus: Burrin, Philippe: La France à l’heure allemande, S. 329-345 und 346-361. 7 Vgl. weiterführend Hausmann, Frank-Rutger: Rezension zu La vie culturelle dans la France occupée. In: Informationsmittel (IFB) IFB 10-1, http: / / ifb.bsz-bw.de/ bsz313889651rez-1.pdf (letzter Zugriff am 15. 8. 2011). 8 Fiss, Karen: Grand illusion: the Third Reich, the Paris exposition, and the cultural seduction of France. Chicago and London: The University of Chicago Press, 2009, S. 3. Als Rahmenprogramm zur Weltausstellung (24. 5. - 24. 11. 1937), die mehr als 31 Millionen Besucher anzog, fanden die von Otto Abetz initiierten und vom Comité France- Allemagne organisierten Journées d’Etudes franco-allemandes (23. - 26. 6. 1937) statt. Ebd.: S. 3, 38ff. Bebildert mit Schwarz-Weiß-Fotografien aus deutschen, französischen und amerikanischen Archiven, untergliedert sich Fiss’ Publikation in folgende Kapi- <?page no="84"?> 84 quenz dieser erfolgreichen NS-Propaganda und argumentiert, „that this German victory over France, on French territory and with French cooperation, helped set the stage for the defeat and French-German collaboration once World War II began.“ 9 Hinsichtlich der kulturpropagandistischen Maßnahmen des deutschen Besatzers sind die Arbeiten von Gérard Loiseaux zu erwähnen, der sich in seiner Dissertation La littérature de la défaite et de la collaboration: d’après Phönix oder Asche? (Phénix ou cendres? ) de Bernhard Payr (1984) eingehend mit der nationalsozialistischen Bilanz der literarischen Kollaboration durch Bernhard Payr, Chef des Zentrallektorats der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums, ab 1940 auf Weisung des Amtes Rosenberg mit Sonderauftrag in Paris, befasst hat. Die Analysen von Loiseaux konzentrieren sich auf die Gleichschaltungspraxis der Propaganda-Abteilung Frankreich auf dem Gebiet der Literaturproduktion, die je nach Gesinnung der Schriftsteller den Maximen „[u]nterdrücken, verführen, verseuchen, fördern“ gehorchte. 10 Frank-Rutger Hausmann hat der Europäischen Schriftsteller-Vereinigung (ESV) als einem herausragenden Instrument der nationalsozialistischen Kulturpolitik zur intellektuellen Gleichschaltung im „neuen“ Europa mehrere Veröffentlichungen gewidmet, darunter die einschlägige Studie „Dichte, Dichter, tage nicht! “ Die Europäische Schriftsteller-Vereinigung in Weimar 1941-1948 (2004) 11 . Brasillach und Chardonne wohnten deren Grüntel: The Cultural Politics of Rapprochement, The Production of the German Pavilion at the 1937 Exposition, The Reception of Nazi Culture, Franco-German Relations in the Cinema, The Visual Pleasure of Mass Ornament, Epilogue: Vichy and the Legacy of the 1930s. Weiterführend zu den deutsch-französischen Studientagen vgl. die bereits erwähnten Dissertationen von Ray, Roland: Annäherung an Frankreich im Dienste Hitlers? , S. 183ff., sowie von Unteutsch, Barbara: Vom Sohlbergkreis zur Gruppe „Collaboration“, S. 136ff. 9 So die Rezensentin der City University of New York Intrator, Miriam: „Grand Illusion: The Third Reich, the Paris Exposition, and the Cultural Seduction of France. By Karen Fiss.“ (Rezension). In: French history 25, 1 (march 2011), S. 124-126, hier S. 125. 10 Loiseaux, Gérard: La vie culturelle française dans l’ „Europe Nouvelle“. In: Martens, Stefan; Vaïsse, Maurice (Hgg.): Frankreich und Deutschland im Krieg (November 1942 - Herbst 1944), S. 659-684, hier S. 683; Ders.: La littérature de la défaite et de la collaboration; ähnlich Ders.: Phénix ou Cendres? Un bilan allemand de la littérature de collaboration par Bernhard Payr, chef de l’Amt Schrifttum. In: La Littérature Française sous l’Occupation, Bd. 1, S. 337-347; s. auch Ders.: „La collaboration littéraire au service de l’Europe Nouvelle“. In: Lendemains 29 (1983), S. 9-42. Speziell zum Verlagswesen s. Fouché, Pascal: L’édition française sous l’Occupation: 1940-1944. Bd. 1. Paris: Bibliothèque de Littérature Française Contemporaine de l’Université Paris 7, 1987 (L’édition contemporaine; 3), Ders.: L’édition française sous l’Occupation: 1940- 1944. Bd. 2. Paris: Bibliothèque de Littérature Française Contemporaine de l’Université Paris 7, 1987 (L’édition contemporaine; 4). 11 Hausmann, Frank-Rutger: „Dichte, Dichter, tage nicht! “: Die Europäische Schriftsteller-Vereinigung in Weimar 1941-1948. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 2004 nebst CD-ROM mit Fotos und Faksimiles zeitgenössischer Dokumente; zur Übersicht über die bisherige Forschungsliteratur, s. S. 152; speziell zu den Deutschlandreisen <?page no="85"?> 85 dung im Rahmen der Weimarer Dichtertage im Herbst 1941 bei, Chardonne war auch im Folgejahr auf der Tagung in der Goethe- und Schiller- Stadt zugegen - dem „Höhepunkt der französisch-deutschen Kulturkollaboration im Zweiten Weltkrieg“. 12 Während sich François Dufay auf die Herbstreise der französischen Schriftsteller im Jahr 1941 konzentriert, wendet sich Edward Reichel deutschlandreisenden Franzosen der dreißiger Jahre zu, unter ihnen Brasillach und Châteaubriant. 13 Oliver Lubrich erweitert nicht nur in zeitlicher Hinsicht den „fremden Blick“ auf Deutschland durch Sammlung einer Vielzahl widersprüchlicher Reiseeindrücke internationaler Schriftsteller, deren Weg zwischen 1933 und 1945 nach Hitler- Deutschland führte, unter ihnen Max Frisch, Samuel Beckett, Virginia Woolf und Jacques Chardonne, vertreten mit dem Himmel von Nieflheim. 14 Der kulturellen und literarischen Kollaboration galt bei unterschiedlicher Akzentuierung das Augenmerk diverser Kolloquien respektive Sammelbände, die um die triadische Achse Okkupation, Kollaboration und Résistance angesiedelt sind. 15 Stellvertretend sei der auf ein interdisziplinäfranzösischer Schriftsteller in den Jahren 1941 und 1942, s. S. 143-168 und 179-186; des Weiteren: Ders.: Kollaborierende Intellektuelle in Weimar - Die ‚Europäische Schriftsteller-Vereinigung’ als ‚Anti-P.E.N.-Club’. In: Seemann, Hellmut Th. (Hg.): Europa in Weimar, Visionen eines Kontinents. Göttingen: Wallstein, 2008. (Jahrbuch/ Klassik- Stiftung Weimar; 2008), S. 399-422; Ders.: Die deutsch-französische Kulturpolitik im Zweiten Weltkrieg: Der Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaften, das Deutsche Institut Paris und die Europäische Schriftsteller-Vereinigung. 12 Ders.: Die Herbstreise französischer Schriftsteller zum Weimarer Dichtertreffen 1941 im Kontext der nationalsozialistischen Kulturpolitik, S. 572. 13 Dufay, François: Die Herbstreise (frz. Original: Le voyage d’automne: octobre 1941, des écrivains français en Allemagne. Paris: Plon, 2000), Grafik der Reiseroute auf der Innenseite der Buchdeckel; Reichel, Edward: „A Berlin! A Berlin! “ Deutschlandreisen französischer Schriftsteller. In: Bock, Hans Manfred; Meyer-Kalkus, Reinhart; Trebitsch, Michel (Hgg.): Entre Locarno et Vichy: Les relations culturelles francoallemandes dans les années 1930. Bd. 2. Paris: CNRS Editions, 1993 (De l’Allemagne), S. 661-674, zu Brasillach und Châteaubriant s. S. 667-669. Eine wichtige Perspektiverweiterung liefert Hans Manfred Bocks Darstellung des Blicks sowohl französischer als auch deutscher Reisender der Zwischenkriegszeit auf das jeweilige Nachbarland: Bock, Hans Manfred: Reisen zwischen Berlin und Paris in der Zwischenkriegszeit: Ein historisch-soziologischer Überblick. In: Asholt, Wolfgang; Leroy, Claude (Hgg.): Die Blicke des Anderen: Paris - Berlin - Moskau. Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2006 (Reisen Texte Metropolen; 2), S. 25-46. 14 Lubrich, Oliver: Reisen ins Reich 1933 bis 1945: Ausländische Autoren berichten aus Deutschland. München: btb, 2009, zu Chardonne s. S. 317-322. 15 Der Chronologie der Publikationsdaten gemäß sind zu nennen: La Littérature Française sous l’Occupation. Actes du Colloque de Reims (30 septembre - 1 er et 2 octobre 1981). Bd. 1. Reims: Presses Univ. de Reims, 1989; La Littérature Française sous l’Occupation. Actes du Colloque de Reims (30 septembre - 1 er et 2 octobre 1981). Bd. 2: Résumé des débats, allocutions d’usage, documents annexes. Reims: Presses Univ. de Reims, 1990. Sieß, Jürgen: (Hg.): Widerstand, Flucht, Kollaboration: Literarische Intelligenz und Politik in Frankreich. Frankfurt a. M. (u.a.): Campus-Verlag, <?page no="86"?> 86 res, deutsch-französisches Wissenschaftlergespräch am DHI in Paris (März 2002) zurückgehende Tagungsband Les intellectuels et l’Occupation, 1940- 1944: Collaborer, partir, résister 16 (2004) erwähnt, welcher den Blick auf Besatzer und Besetzte weitete; die Soziologin Gisèle Sapiro nimmt in ihrem Beitrag unter Rekurs auf die umfangreiche, auf Bourdieus Feldtheorie gestützte Studie zum ideologischen Krieg der französischen Schriftsteller in 1984. Sieß’ Publikation versteht sich als Anknüpfung an Ders. (Hg.): Vermittler: H. Mann, Benjamin, Groethuysen, Kojève, Szondi, Heidegger in Frankreich, Goldmann, Sieburg. Frankfurt a. M.: Syndikat, 1981 (Deutsch-französisches Jahrbuch; 1); Hirschfeld, Gerhard; Marsh, Patrick (Hgg.): Kollaboration in Frankreich: Politik, Wirtschaft und Kultur während der nationalsozialistischen Besatzung 1940-1944. Frankfurt a. M.: Fischer, 1991, hier insb. die Aufsätze zu Kunst, Kino, Theater und Literatur, S. 139-251; zwischen den Wegmarken Locarno und Vichy bewegte sich ein vom DAAD gemeinsam mit dem IHTP organisiertes pluridisziplinäres Kolloquium (1990), das den Blick auf die Anbahnung der kulturellen Kollaboration in der Zwischenkriegszeit durch Mittler-Institutionen, -Organisationen und -Persönlichkeiten der deutsch-französischen Kulturbeziehungen - verstanden „als mehrschichtige[r] (offizielle[r], offiziöse[r] und private[r]) Transaktions-Prozeß“ - richtete. S. Bock, Hans Manfred: Zwischen Locarno und Vichy: Die deutsch-französischen Kulturbeziehungen der dreißiger Jahre als Forschungsfeld. In: Ders.; Meyer-Kalkus, Reinhart; Trebitsch, Michel (Hgg.): Entre Locarno et Vichy: Les relations culturelles francoallemandes dans les années 1930, Bd. 1, 1993, S. 25-61, hier S. 30. Aus der Vielzahl der für die vorliegende Untersuchung interessanten, auf zwei Bände verteilten Beiträge, seien die Artikel hervorgehoben zu dem 1930 von Abetz und Luchaire gegründeten Sohlbergkreis (Rita Thalmann, S. 67-86), zur Pariser Zweigstelle des DAAD, die von 1934 bis 1939 Epting unterstand (Béatrice Pellissier, S. 273-285; Dieter Tiemann, S. 287-300), zu den Deutsch-Französischen Monatsheften der Jahre 1935-1939 (Michel Grunewald, S. 131-146) sowie zu bedeutenden universitären Kulturmittlern in Gestalt der deutschen Romanisten Ernst Robert Curtius, Leo Spitzer (Frank-Rutger-Hausmann, S. 343-362) resp. der französischen Germanisten Lichtenberger, d’Harcourt, Vermeil (Gilbert Merlio, S. 375-390). Zu deutschen Frankreich-Autoren (u.a. Ernst Robert Curtius, Victor Klemperer) und französischen Deutschland-Autoren (u.a. Henri Lichtenberger, André François-Poncet) als Mittlern zwischen beiden Nationen s. auch Bock, Hans Manfred: Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung: Mittler zwischen Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Tübingen: Narr, 2005 (edition lendemains; 2); Drost, Wolfgang (Hg.): Paris sous l’occupation - Paris unter deutscher Besatzung. Actes du 3 e colloque des Universités d’Orléans et de Siegen. Heidelberg: Winter, 1995 (Reihe Siegen; 124; Romanistische Abteilung). Keine substantiell neuen Erkenntnisse liefert die den Schriftstellern zur Zeit der Besatzung gewidmete Magazine littéraire-Ausgabe von Februar 2012: Les écrivains et l’Occupation: Dossier coordonné par Maxime Rovere. In: Le Magazine Littéraire 516 (Feb. 2012), S. 54-91. Das unter Mitarbeit von Claire Paulhan erstellte 37-seitige Dossier enthält bspw. Artikel über den kürzlich „pléiadisierten“ Drieu la Rochelle (Hélène Baty-Delalande, S. 64-65; zu Drieus NRF s. Olivier Cariguel, S.74- 75), Brasillach (David Alliot, S. 78; zur Epuration und Brasillachs Prozess s. Gisèle Sapiro, S. 86-87) oder Jouhandeau (Jacques Roussillat, S. 71), Auswahlbibliografie von Olivier Cariguel, S. 83. 16 Betz, Albrecht; Martens, Stefan (Hgg.): Les intellectuels et l’Occupation, 1940-1944: Collaborer, partir, résister. Paris: Ed. Autrement, 2004 (Collection Mémoires; 106). <?page no="87"?> 87 den Jahren 1940-1953 (La guerre des écrivains 1940-1953, 1999) speziell die Kollaborationsautoren ins Visier und klassifiziert diese, wie einleitend ausgeführt, nach biografischer und sozialer Prägung idealtypisch als „Notabeln“, „Ästheten“, „Polemiker“ und „Avantgardisten“. 17 Jüngst hat die Directrice de recherche am CNRS eine im Spannungsfeld soziologischer, literaturhistorischer und juristischer Fragestellungen angesiedelte, drei Jahrhunderte umfassende Untersuchung über La responsabilité de l’écrivain: Littérature, droit et morale en France (XIX e -XXI e siècle) 18 (2011) vorgelegt und darin Brasillachs Gerichtsprozess neu beleuchtet. Bezüglich der Schriftstellerkollaboration unter literaturwissenschaftlichen Aspekten ist an herausragender Stelle die von Karl Kohut edierte, in drei Bänden vorliegende Analyse der Literatur der Résistance und der Kollaboration zu erwähnen (1982-1984). Der Pioniercharakter der aus einem Duisburger Kolloquium von Februar 1978 hervorgegangenen Publikation liegt in der erstmalig systematischen und in dieser Form exemplarischen Darstellung der bis zu diesem Zeitpunkt vernachlässigten, da verdrängten Kollaborationsliteratur: Im ersten Band (1930-1939) konzentriert sich Hermann Hofer auf die faschistoide Literatur der Vorkriegszeit, im Folgeband (1940-1950) setzt er sich mit der Literatur der Kollaboration auseinander, die er abschließend in Einzelanalysen präsentiert, wobei allerdings La Gerbe des Forces und Le Ciel de Nieflheim keine Berücksichtigung finden. 19 Seither wurde der Konnex von Faschismus und Literatur respektive Ästhetik in Frankreich - abgesehen von autorzentrierten Betrachtungen - auch im Rahmen komparatistisch angelegter Überblicksarbeiten untersucht. Ausgehend von ihrem persönlichen, ersten Eindruck der „Banalität“ im Sinne von „unworthy of an intellectual’s interest“, welche die Lektüre von Texten französischer faschistischer Schriftsteller vermittle, beschäftigt sich Alice Kaplan mit Reproductions of banality: Fascism, Literature, and French Intellectual Life (1986). Unter Bezugnahme auf Hannah Arendts (1906-1975) Bericht Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil (1963) und Walter Benjamins im Jahr 1935 entstandene Abhandlung über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit sowie deren beider unterschiedliche Bedeutungszumessung dem hochkomplexen Terminus 17 Sapiro, Gisèle: La collaboration littéraire; Dies.: La guerre des écrivains 1940-1953; zur Perspektivierung von Kollaborationsautoren als „schreibende Faschisten“ s. Dies.: Figures d’écrivains fascistes; Dies.: „Das französische literarische Feld“. 18 Dies.: La responsabilité de l’écrivain: Littérature, droit et morale en France (XIX e -XXI e siècle). Paris: Seuil, 2011. 19 Hofer, Hermann: Die faschistoide Literatur; Ders.: Die Literatur der Kollaboration; Ders.: Interpretationen literarischer Texte der Kollaboration; s. auch Hausmann, Frank-Rutger: „Demokratie und Literatur: Das Beispiel der literarischen Kollaboration mit dem Nationalsozialismus“. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1/ 2 (2005), S. 109-128. <?page no="88"?> 88 „banal“ gegenüber, geht Kaplan auf Sorel, Marinetti, Drieu la Rochelle, Céline, Rebatet, Bardèche und Brasillach (Histoire du cinéma, 1935) ein. 20 „[T]hat the definition of a fascist aesthetic both coherent and widely applicable is not an easy task“, veranschaulichen die unter dem Titel Fascism, Aesthetics, and Culture (1992) versammelten Aufsätze über französische, deutsche, britische, italienische und spanische Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle. 21 Carroll wiederum rückt in French literary fascism: nationalism, anti-Semitism, and the ideology of culture (1995) die Väter des französischen literarischen Faschismus (Barrès, Maurras, Péguy) sowie seine Repräsentanten, zu denen er Drieu la Rochelle, Céline, Rebatet, Maulnier und Brasillach zählt, in den Fokus. Beschreibt er Brasillach als „Pfadfinder“, Ästheten, Polemiker und Demagogen in Personalunion und die Bedeutung des Faschismus als ästhetische Erfahrung, so steht in Anlehnung an Walter Benjamins Diktum von der Ästhetisierung der Politik als Signum des Faschismus 22 abschließend das Fazit, „that literary fascism represented an extreme aestheticization of politics and a politicization of literature and culture, nothing less than the totalization to the literary as the political.” 23 Demgegenüber nehmen die Beiträge zu Schriftkultur und Faschismus in der Romania (1998) eine sowohl temporäre, bis in die Gegenwart reichende, als auch gattungs- und Länder bzw. Kontinente übergreifende Perspektiverweiterung vor: In Augenschein genommen werden präfaschistische, faschistische sowie neofaschistische Manifestationen franko- und italophoner Geistige[r] Brandstifter und Kollaborateure, zu deren Kreis u.a. Brasillach, Céline und Drieu la Rochelle gehören. 24 Unter Akzentuierung der Relation Faschismus und Ästhetik gilt wiederum Mary Ann Frese Witts Augenmerk in der komparatistischen Zusammenschau The search for modern tragedy: aesthetic fascism in Italy and France (2001) dem dramatischen Werkschaffen „ästhetischer Faschisten“ - unterschieden von Vertretern einer „faschistischen Ästhetik“. Als Repräsentanten dieser Schriftsteller, deren Zugang zum Faschismus nicht über die Ideologie, sondern über die Ästhetik erfolgt sei, figurieren D’Annunzio, Pirandello, Montherlant, 20 Kaplan, Alice Yaeger: Reproductions of banality: Fascism, Literature, and French Intellectual Life. Minnesota: University of Minnesota Press, 1986 (Theory and History of Literature; 36), zu Faschismus und Banalität s. insb. S. 41-58. 21 Golsan, Richard J.: Introduction. In: Ders. (Hg.): Fascism, Aesthetics, and Culture, S. ix-xviii, hier S. xii. Abgesehen von Montherlant, Céline, Brasillach und Bardèche, die erneut als Verfasser der Histoire du cinéma vertreten sind, gilt das Interesse u.a. Emil Nolde, Gottfried Benn, Martin Heidegger, Ezra Pound oder Paul de Man. 22 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.: Illuminationen: Ausgewählte Schriften. Hg. von Siegfried Unseld. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1961, S. 148-184, hier S. 176. 23 Carroll, David: French literary fascism, S. 261. 24 Heddrich, Gesine: Robert Brasillach - Brandstifter oder Brandopfer? In: Steinbach, Marion; Born, Joachim (Hgg.): Geistige Brandstifter und Kollaborateure, S. 115-132. <?page no="89"?> 89 Maulnier, Drieu la Rochelle, Anouilh sowie Brasillach (Bérénice, 1940/ 44). 25 Wenngleich Witt bilanzierend festhält, dass „[m]odern tragedy, of course, is not necessarily ‚fascist’ as a genre”, lassen sie die aus der detaillierten vergleichenden Textanalyse gewonnenen Erkenntnisse schlussfolgern, „[that] it was one of the aesthetic forms most adaptable to the illusory and theatrical ideology of fascism.” 26 Unter die Losung Mussolinis „Qui dit fascisme dit avant tout beauté“ stellt Michel Lacroix 27 (2004) seine Untersuchung der Ästhetik des französischen Faschismus in den Jahren 1919-1939, deren konstitutiven Charakter er betont: „La base de ce fascisme était-elle idéologique? Non, […] elle était d’abord esthétique.“ 28 Dieses aus einer Dissertation hervorgegangene Buch ist um die Hauptachsen Führer, Masse und den bildhaft als „‚fascisme en culottes courtes‘“ titulierten faschistischen Jugendkult mit seiner „violence de la beauté“ aufgebaut, aus dem Brasillach wie kein anderer „l’obsession majeure de son œuvre et le cheval de Troie du fascisme dans ses propres textes“ gemacht habe. 29 Als wesentlichen Beweggrund der zweiteilig angelegten Betrachtungen von French writers and the politics of complicity: crises of democracy in the 1940s and 1990s (2006) nennt Golsan die quasi fehlende Berücksichtigung Montherlants, Châteaubriants und Gionos im Kontext jüngerer Studien zum französischen literarischen und kulturellen Faschismus. Ihre politische „Komplizenschaft“ mit dem Vichy-Regime und dem Nationalsozialismus führt er auf eine Vielzahl unterschiedlicher, jedoch apolitischer Beweggründe zurück, im Falle Châteaubriants auf dessen apokalyptischen und chiliastischen Mystizismus. 30 Ausgehend von der Untersuchungsprämisse, 25 Witt, Mary Ann Frese: The search for modern tragedy: aesthetic fascism in Italy and France. Ithaca, NY (u.a.): Cornell University Press, 2001, zum Untersuchungsanliegen vgl. insb. die Einleitung S. 1-18. 26 Ebd.: S. 238, zu Brasillach s. insb. S. 148-169. Angesichts der Dauer und Intensität von Brasillachs und Drieu la Rochelles Engagement für einen „politischen“ Faschismus problematisiert Golsan Witts Subsumierung der propagandistischen Stücke dieser Autoren (Bérénice; Le Chef) unter das Konzept eines nicht klar von faschistischer Ideologie differenzierten „ästhetischen Faschismus“. Golsan, Richard J.: „Mary Ann Frese Witt: The search for modern tragedy: Aesthetic Fascism in Italy and France“ (Rezension). In: Comparative Literature 55, 2 (spring 2003), S. 185-190, hier S. 189. 27 Lacroix, Michel: De la beauté comme violence: L’esthétique du fascisme français, 1919-1939. Montréal: Presses de l’Université de Montréal, 2004, S. 11, Kursivierung im Text. Zur Kritik an Lacroix’ Postulat einer ästhetischen Faschismus-Ideologie vgl. die erwähnte, differenzierte Besprechung von Hufnagel, Henning: „Michel Lacroix: De la beauté comme violence: L’esthétique du fascisme français, 1919-1939“ (Rezension). 28 So die Präsentation der Studie auf dem Buchrücken. 29 Lacroix’ Erörterungen stützen sich auf Comme le temps passe (1937) und Les Sept Couleurs (1939). Lacroix, Michel: De la beauté comme violence, insb. S. 221-234, hier S. 221 und 234. 30 Golsan, Richard J.: Introduction. In: Ders.: French writers and the politics of complicity: crises of democracy in the 1940s and 1990s. Baltimore: The Johns Hopkins Univer- <?page no="90"?> 90 es gelte jegliche Dämonisierung als auch Rechtfertigung zu vermeiden, postuliert Golsan nichtsdestoweniger, es sei unerlässlich, „to avoid an assumption of the absolute inseparability of the personal and political and of the intellectual and the aesthetic.” 31 Von historiografischen Betrachtungen der Kollaborationsautoren abgesehen - unter ihnen an erster Stelle Brasillach - liegt eine Vielzahl von Biografien, Monografien oder Aufsätzen zu spezifischen Texten bzw. Fragestellungen oder deren journalistischem Werk vor. 32 Deutlich reduzierter fällt die Sekundärliteratur zu Châteaubriant und Chardonne aus, die sich zumeist auf das fiktionale Œuvre konzentriert. Ein nicht unerheblicher Anteil der Veröffentlichungen entfällt auf eine um die Rehabilitierung Brasillachs, Châteaubriants und Chardonnes bemühte oder die ideologische Komponente ihrer Werke relativierende Sekundärliteratur vorwiegend französischer Provenienz, die bisweilen apologetische, gerade im Fall des exekutierten und „märtyrisierten“ Brasillachs, aber auch Châteaubriants, hagiografische Züge trägt. 33 Hierzu kontrapunktisch und stellvertretend für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Werk der zu analysierenden drei Autoren sind im Fall Brasillachs vornehmlich die Arbeiten von Gesine Heddrich, Hermann Hofer, Alice Kaplan, Luc Rasson sowie Margarete Zimmermann hervorzuheben. 34 sity Press, 2006, S. 1-20, hier S. 10f. Im zweiten Teil führt Golsan aus, wie die Erinnerung an Vichy, den Nationalsozialismus und den Holocaust in den 90er Jahren einen permanenten Bezugsrahmen für die Interpretation zeitgenössischer Krisen (u.a. Jugoslawischer Bürgerkrieg) bot, illustriert am Beispiel Alain Finkielkrauts, Régis Debrays sowie Stéphane Courtois’ und deren Komplizenschaft mit antidemokratischer Politik, s. S. 7ff. 31 Ebd.: S. 19. 32 Statt einer Auflistung sei auf die jeweils in den Fußnoten kondensierte Auswahlbibliografie zu Bonnard, Céline, Drieu la Rochelle, Jouhandeau, Montherlant und Rebatet in der Einleitung (Kp. 1.4) verwiesen. 33 Die Erörterung besagter unkritischer Sekundärliteratur erfolgt in den Kp. 3.2, 4.2, 5.2. Knapp und überzeugend resümiert Heddrich den Stand der Forschung zu Brasillach, wobei sie zwischen Publikationen differenziert, die den Autor zu rehabilitieren versuchen, eine unpolitische Werkanalyse vornehmen oder Brasillachs Faschismus teilweise relativieren. Heddrich, Gesine: Deutschland und Frankreich als Hetero- und Auto-Image, S. 28-33, insb. S. 30, Fn. 61. 34 Zimmermann, Margarete: Die Literatur des französischen Faschismus, insb. S. 232- 241; Dies.: „Littérature et fascisme: le destin posthume de Robert Brasillach“. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 2/ 3 (1981), S. 340-359; Dies.: „‚La nouvelle Allemagne’: NS-Deutschland in Robert Brasillachs Erinnerungsbuch Notre Avant-Guerre (1941)“. In: Französisch heute 1 (1983), S. 7-20; Dies.: NS-Deutschland als politische Antithese: Robert Brasillach und die antidemokratischen Intellektuellen. In: Sieß, Jürgen (Hg.): Widerstand, Flucht, Kollaboration: Literarische Intelligenz und Politik in Frankreich. Frankfurt a. M./ NY: Campus Verlag, 1984, S. 122-140; Dies.: Robert Brasillachs letzter Roman und das Ende der Okkupationszeit. In: Hirschfeld, Gerhard; Marsh, Patrick (Hgg.): Kollaboration in Frankreich, S. 236-251; Hofer, Hermann: Les tentations allemandes et l’esthétique fasciste dans les „Mé- <?page no="91"?> 91 Differenzierte Analysen zu Châteaubriant stammen aus der Feder Kay Chadwicks 35 , Senior Lecturer für Französisch an der Universität Liverpool, die gezielt Rehabilitierungsversuchen und Stilisierungen des bretonischen Autors zum Mystiker entgegentritt, weitere von dem in Texas lehrenden Französisch-Professor Richard J. Golsan 36 . Während Châteaubriant in der Dissertation von Barbara Unteutsch 37 (1990) vorrangig in seinen Funktionen als Präsident des Direktionsausschusses von Collaboration, Direktor von La Gerbe, Gründer der Vereinigung Les Gerbes françaises sowie Ehrenmitglied der LVF Erwähnung findet, rückt Michael Knoll 38 in seiner Magismoires“ de Brasillach à Rebatet. In: La Littérature Française sous l’Occupation, Bd. 1, S. 43-52; Ders.: Die faschistoide Literatur, insb. S. 126-130; Ders.: Die Literatur der Kollaboration, insb. S. 162-166; Ders.: Interpretationen literarischer Texte der Kollaboration, insb. S. 141-142 und 162-166; Kaplan, Alice Yaeger: Reproductions of banality; Dies.: The collaborator: the trial and execution of Robert Brasillach. Chicago and London: University of Chicago Press, 2000; Rasson, Luc: Littérature et fascisme: les romans de Robert Brasillach. Paris: Minard, 1991 (la thésothèque; 20); Ders.: „Autobiographie et fascisme: Notre Avant-Guerre de Robert Brasillach“. In: Michigan romance studies 6 (1986), S. 59-72; eine profunde Arbeit hat Heddrich vorgelegt, die in ihrer Dissertation Texte Vercors‘ und Brasillachs einer imagologischen, soziologischen und diskursanalytischen Untersuchung unterzieht und zu dem Schluss kommt, dass sich grundsätzlich „das Verhalten engagierter Intellektueller von rechts oder links kaum [unterscheide]“, die signifikanten Unterschiede zwischen den Intellektuellen jedoch mit den „jeweiligen Sozialisationsprozesse[n] und gesellschaftlichen Kontakte[n]“ zusammenhingen. Heddrich, Gesine: Deutschland und Frankreich als Hetero- und Auto-Image, S. 361. 35 U.a. Chadwick, Kay: „Reviewing the evidence: the proces posthume d’un visionnaire by Alphonse de Châteaubriant“. In: Modern & Contemporary France 36 (1989), S. 13- 22; Dies.: „Alphonse de Châteaubriant, Collaborator on Retrial: Un Non-lieu individuel d’une portée nationale“. In: French Historical Studies 18/ 3 (1994), S. 1057-1082; Dies.: A Broad Church: French Catholics and National-Socialist Germany. In: Atkin, Nicholas; Tallett, Frank (Hgg.): The right in France, 1789-1997. London, New York: Tauris Academic Studies, 1998 (International library of historical studies; 15), S. 215- 229; Dies.: Alphonse de Châteaubriant: Catholic collaborator. Oxford, Bern u.a.: Peter Lang, 2002 (Modern French Identities; 14). 36 U.a. Golsan, Richard J.: „Ideology, cultural politics and literary collaboration at La Gerbe“. In: Journal of European Studies 23 (1993), S. 27-47; Ders.: „Alphonse de Châteaubriant and the Politics of French Literary History”. In: Nottingham French Studies 41/ 2 (Autumn 2002), S. 61-73; Ders.: Alphonse de Châteaubriant: Apocalypse, Nazism, and Millenarianism. In: Ders.: French writers and the politics of complicity. Crises of Democracy in the 1940s and 1990s. Baltimore: The Johns Hopkins University Press, 2006, S. 53-76. 37 Unteutsch, Barbara: Vom Sohlbergkreis zur Gruppe „Collaboration“, insb. S. 194, 199-216. 38 Knoll, Michael: Der französische Faschismus: Alphonse de Châteaubriant und die Wochenzeitung „LA GERBE“ (1940-1944). Magisterarbeit. Universität Konstanz, 1998. Der Titel ist irreführend, da nur ca. ein Fünftel der Ausführungen auf Châteaubriants Tätigkeit als Direktor der politisch-kulturellen Wochenzeitung La Gerbe entfällt. <?page no="92"?> 92 terarbeit (1998) die Werkbiografie und Rezeption des Autors in den Vordergrund. 39 Pierre Assouline 40 ruft in seinem Artikel Ces livres que vous n’avez pas le droit de lire (1989) auch den Ciel de Nieflheim in Erinnerung und protestiert gegen dessen selektive und beschönigende Präsentation in den vom Freundeskreis des Romanciers veröffentlichten Cahiers Jacques Chardonne (1972 und 1974). Das Bild Chardonnes als Autor der NRF, der in Pierre Hebeys 41 Studie La NRF des années sombres: juin 1940-juin 1941: Des intellectuels à la dérive (1992) Erwähnung findet, wird durch den von Caroline Hoctan 42 im Jahr 1999 edierten, präsentierten und annotierten Briefwechsel Jacques Chardonne/ Jean Paulhan: Correspondance (1928-1968) vervollständigt. François Dufay 43 , der bereits in Le voyage d’automne (2000) Chardonnes Verhalten während der Besatzungsjahre in Augenschein genommen hatte, interessiert sich in dem programmatisch titulierten Buch Le soufre et le moisi: La droite littéraire après 1945: Chardonne, Morand et les Hussards (2006) auch für das Wirken des Charentaiser Schriftstellers nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: Dieser findet bei den Husaren, einem im rechten Spektrum angesiedelten und gegen Sartres „littérature engagée“ opponierenden Kreis junger Literaten, Unterstützung und Ansehen. 44 Herrscht folglich insgesamt kein Mangel an Sekundärliteratur, auf welcher die vorliegende Arbeit aufbauen kann, so fehlt es an konkreten, untendenziösen Untersuchungen von La Gerbe des Forces sowie des Journal d’un homme occupé; im Falle des Ciel de Nieflheim kann gar von einer bisher inexistenten Forschung gesprochen werden. Ferner liegt bis dato keine Studie vor, welche die gewählten Texte einer eingehenden und vergleichenden Analyse unter der gewählten Fragestellung unterzogen hätte. Dies ist Ziel der folgenden Erörterungen. 39 Vgl. auch Hofer, Hermann: Die faschistoide Literatur, insb. S. 131-133; Ders.: Die Literatur der Kollaboration, insb. S. 169-171. 40 Assouline, Pierre: „Ces livres que vous n’avez pas le droit de lire“. In: Lire 168 (septembre 1989), S. 47-59, insb. S. 55-57. 41 Hebey, Pierre: La NRF des années sombres, insb. S. 287-298. 42 Jacques Chardonne/ Jean Paulhan: Correspondance (1928-1968). Édition établie, présentée et annotée par Caroline Hoctan. Paris: Éditions Stock, 1999; vgl. hierin insb. das Vorwort von François Sureau (S. 11-17) sowie die Präsentation durch die Herausgeberin (S. 19-25). 43 Dufay, François: Le soufre et le moisi: La droite littéraire après 1945: Chardonne, Morand et les hussards. Paris: Perrin, 2006. 44 Zu der nach Roger Nimiers (1925-1962) Roman Le hussard bleu (1950) benannten „‚jeune droite littéraire’“, s. Dambre, Marc: Présentation. In: Ders. (Hg.): Les Hussards: Une génération littéraire. Actes du colloque international organisé par le Centre de recherches Etudes sur Nimier et les Hussards, Sorbonne Nouvelle, 9-11 octobre 1997. [Paris]: Presses de la Sorbonne Nouvelle, 2000, S. 7-9, hier S. 7. <?page no="93"?> 93 3. Alphonse de Châteaubriant La Gerbe des Forces: Nouvelle Allemagne (1937) 3.1 Alphonse de Châteaubriant Long, maigre et musclé, sanglé dans une culotte et un dolman de toile blanche, l’air d’un cavalier-poète, ainsi se présentait Alphonse de Châteaubriant dans l’été de 1907. Il y avait en lui du centaure, et même du cheval de race, et lorsqu’il se trouvait en confiance chez des amis, du poulain lâché en liberté. Le visage d’une puissante ossature, extraordinairement expressif, s’éclairait d’yeux où se mélangeaient à chaque instant les nuances complexes de la mer bretonne, tantôt caressante lorsque le soleil la réchauffe, tantôt dure et glacée. […] En lui rien de frelaté. Grandi loin des cénacles littéraires, il fleurait bon la vieille France, et la distinction de ses manières s’alliait à la plus grande simplicité. Une grande séduction se dégageait de lui et il eut le rare privilège d’inspirer des amitiés ferventes et dévouées. 1 Dieses Porträt ist Alphonse René Marie de Brédenbec de Châteaubriant (1877-1951) gewidmet, geboren 1877 in Rennes in einer katholischen Familie des Landadels, der, statt die Militärakademie in Saint Cyr zu absolvieren, „den Degen mit der Feder“ 2 vertauscht und ab 1905 Gedichte und erste Texte in regionalen (La Revue nantaise, La Revue de l’Anjou) und Pariser Zeitschriften (La Revue de Paris, La Revue des poètes) publiziert. 3 Châteaubriant, der aus Unzufriedenheit über die Entwicklung der katholischen Kirche 4 mit dieser als Jugendlicher gebrochen hat, steht wie die Mehrzahl 1 So das lobende Porträt eines anonymen Verfassers. N.N.: „Alphonse de Châteaubriant“. In: La Revue Universelle 14, 15. 8. 1923, S. 513-519, hier S. 513. 2 Dülks, J. H.: „Alphonse de Châteaubriant“. In: DFMh 3. Jg. (1936), S. 388-392, hier S. 388. 3 Zu Châteaubriants Biografie vgl. insbesondere die Monografie von Chadwick, auf die folgend Bezug genommen wird: Chadwick, Kay: Alphonse de Châteaubriant: Catholic Collaborator, S. 21ff.; auf S. 27 weist die Verfasserin darauf hin, dass er die Aufnahmeprüfung für St. Cyr nicht bestand. S. auch Thiesse, Anne-Marie: „Alphonse de Châteaubriant“. In: Juillard, Jacques; Winock, Michel (Hgg.): Dictionnaire des intellectuels français, S. 289-299; detaillierte Darstellung in der Biografie von Maugendre, Louis-Alphonse: Alphonse de Châteaubriant 1877-1951: Dossier littéraire et politique. Paris: André Bonne, 1977. Zur kritischen Beleuchtung von Maugendres Publikation s. Kp. 3.2. 4 Aufgrund dieses Bruchs weist Golsan auf die grundlegende Schwierigkeit der „Etikettierung“ Châteaubriants als Katholik hin. Das, was Golsan zufolge der Schriftsteller hauptsächlich aus seinem Glauben geschöpft zu haben scheint, „was less a Christian ethical and moral outlook than a belief in the imminent damnation of mankind and the coming of the Apocalypse, a taste for Manichaean struggles, and an incessant longing for a Messianic figure and a ‚saintly’ elite.“ Golsan, Richard J.: Alphonse de Châteaubriant: Apocalypse, Nazism, and Millenarianism, S. 73f. Detailliert hierzu s. <?page no="94"?> 94 der französischen Katholiken der Dritten Republik, die 1905 die Trennung von Staat und Kirche gesetzlich verankert, kritisch gegenüber, was der Wahlsieg des Front populaire im Mai 1936 noch verstärken sollte. 5 Trotz gedanklicher Nähe zu Maurice Barrès 6 (1862-1923) und Charles Maurras, den Haupttheoretikern des französischen Nationalismus 7 , engagiert er sich nicht politisch, sondern sucht nach spiritueller Erneuerung - auch außerhalb der als mittelmäßig und rigide empfundenen institutionellen katholischen Kirche. 8 Der Anti-Revolutionär und Anti-Republikaner ist weder Ultra-Nationalist, noch Monarchist, jedoch der Aristokratie verbunden. Heterodox, aber nicht häretisch eingestellt, Chadwick, Kay: Alphonse de Châteaubriant: Catholic Collaborator, S. 41ff. In den Tagebüchern wird Châteaubriant am 25. 12. 1948 seine Rückkehr zur kirchlichen Praxis festhalten: „J’ai été prendre rang à la sainte table, et j’ai reçu l’hostie. Il y avait cinquante-cinq ans que je ne m’étais approché du sacrement de l’Eucharistie.“ Châteaubriant, Alphonse de: Cahiers 1906-1951. Paris: Grasset, 1955, S. 324, Hervorhebung BB. 5 Konzentrierte Darstellung des Verhältnisses der französischen Katholiken zur Dritten Republik in Chadwick, Kay: Alphonse de Châteaubriant: Catholic Collaborator, S. 21- 25; speziell zur Haltung der katholischen Kirche zu der Kommunisten einschließenden Volksfront, vgl. bspw. Christophe, Paul: 1936, les catholiques et le front populaire. Paris: Les Ed. ouvrières, 1986. 6 Das Werk des lothringischen Journalisten und Schriftstellers Maurice Barrès (u.a. Verfasser der Trilogien Le Roman de l’énergie nationale: Les Déracinés, 1897, L’Appel au soldat, 1900, Leur figures, 1902 sowie Les Bastions de l’Est: Au service de l’Allemagne, 1905, Colette Baudoche, 1909, Le Génie du Rhin, 1921), seines Zeichens Nationalist, ideologischer Gegner Deutschlands, Anti-Dreyfusard und Immortel, spiegelt die widersprüchliche Entwicklung Barrès’ vom „individualisme anarchisant au nationalisme conservateur, en passant par les foucades de ce qu’on a pu appeler son ‚préfascisme’“ wider. Winock, Michel: „Maurice Barrès“. In: Juillard, Jacques; Winock, Michel (Hgg.): Dictionnaire des intellectuels français, S. 132-135, hier S. 134; vgl. auch Winocks Erörterungen zu der als „Ära Barrès“ überschriebenen Zeit ab der Dreyfus- Affäre bis zum Ersten Weltkrieg in Ders.: Das Jahrhundert der Intellektuellen, S. 15- 198. Weiterführend sei exemplarisch verwiesen auf die Studien von Curtius, Ernst Robert: Maurice Barrès und die geistigen Grundlagen des französischen Nationalismus. Bonn: Cohen, 1921, sowie von Sternhell, Zeev: Maurice Barrès et le nationalisme français. Paris: Colin, 1972 (Cahiers de la Fondation Nationale des Sciences Politiques; 182). Zu Barrès s. auch Kp. 3.8. 7 Während Barrès einen lyrischen und romantischen Nationalismus verherrlichte, „définissant une nation par le culte de la terre et des morts, intégrant tout le passé national et prônant un régime fort par l’‚appel au soldat’, seul capable à ses yeux de réveiller l’énergie nationale“, so definierte Maurras die französische Nation über ihre Traditionen, „[il] prône le retour au passé pré-révolutionnaire, un État de forme monarchique, et l’appui sur la hiérarchie catholique, facteur d’ordre social.“ „Nationalisme“. In: Berstein, Gisèle et Serge: Dictionnaire historique de la France contemporaine, S. 562-566, hier S. 563. Ausf. zu Maurras s. Kp. 4.5. 8 Chadwick, Kay: Alphonse de Châteaubriant: Catholic Collaborator, S. 37, 43; hierzu s. auch Dies.: A Broad Church: French Catholics and National-Socialist Germany, S. 219. <?page no="95"?> 95 Châteaubriant was repeatedly critical of the structures and systems of the traditional, institutional Roman Catholic Church, and disappointed with the sterile religion of his birth and education. He too, like many others, desired to see Christianity afresh, but personnally began to look outside rather than to the Church for spiritual regeneration. By the eve of the First World War, Châteaubriant had embarked on the dangerous pathway which would lead to his journey’s end across the Rhine. 9 Mit Romain Rolland 10 (1866-1944) verbindet Châteaubriant ungeachtet ihrer unterschiedlichen politischen Überzeugungen eine jahrzehntelange brüderliche Freundschaft. 11 Im Jahr 1909 zu Besuch bei Rolland in Schoenbrunn in der Schweiz, notiert der Gast in seinem Tagebuch: Passé ma soirée d’hier avec Rolland, qui est bien l’ami le plus délicieux qui soit. Près de lui les sentiments s’élèvent et l’âme s’ennoblit. Il me fait grand bien. Je ne le quitte jamais sans avoir pris plus solidement conscience de moi-même, sans éprouver le désir de l’effort désintéressé, de la générosité. Il m’aime. Nos sensibilités sont sœurs en dépit de la divergence de nos caractères. 12 Romain Rolland sieht in „Château“ seinen „petit frère breton“ 13 : 9 Dies.: Alphonse de Châteaubriant: Catholic Collaborator, S. 45f. 10 Romain Rolland, Normalien, Professor für Musikgeschichte, erlangte mit dem zehnbändigen Roman-Zyklus Jean-Christophe (1904-1912) internationales Renommee (Nobelpreis für Literatur, 1915). Während des Ersten Weltkriegs mahnte der Pazifist von der Schweiz aus zum Frieden (vgl. die Essaysammlung Au-dessus de la mêlée, 1915). Bernard, Birgit: „Romain Rolland“. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Begr. und hrsg. von Friedrich Wilhelm Bautz, fortgef. von Traugott Bautz. Bd. 8. 2., verb. Aufl. Nordhausen: Bautz, 1994, Sp. 619-621, folgend abgekürzt mit BBKL, Band- und Jahresangabe. Ausf. zu Rollands politischem Engagement und seiner Annäherung an die Sowjetunion, s. Fisher, David James: Romain Rolland and the politics of intellectual engagement. Berkeley u.a.: University of California Press, 1988. 11 Zu ihrer Freundschaft, die auch von Missverständnissen und einer zunehmenden Entfremdung geprägt war, vgl. ihren Briefwechsel: L’un et l’autre [I]: Alphonse de Châteaubriant et Romain Rolland. Choix de lettres 1906-1914. Préface de L.-A. Maugendre. Texte établi par Marie Romain Rolland et par Robert de Châteaubriant. Paris: Editions Albin Michel, 1983 (Cahiers Romain Rolland; 26); L’un et l’autre II: Romain Rolland et Alphonse de Châteaubriant. Choix de lettres 1914-1944. Préface et annotations de L.-A. Maugendre. Paris: Editions Albin Michel, 1996 (Cahiers Romain Rolland; 30). Vgl. auch die von Châteaubriants Lebensgefährtin Gabrielle Castelot unter dem Pseudonym Sorella herausgegebene Histoire d’une amitié: Nombreux textes inédits de Romain Rolland et Alphonse de Châteaubriant. Paris: Librairie Académique Perrin, 1962, zum Auseinanderleben der beiden Schriftsteller s. insb. die „Quatrième partie“, S. 229-256. Zu Castelots Pseudonym s. Maugendre, Louis-Alphonse: Préface. In: L’un et l’autre [I]: Alphonse de Châteaubriant et Romain Rolland, S. 9-15, hier S. 13. 12 Vgl. Châteaubriant, Alphonse de: Cahiers 1906-1941, S. 30, Hervorhebung BB. 13 So bspw. Rolland in seinem Brief vom 10. 6. 1912. L’un et l’autre [I]: Alphonse de Châteaubriant et Romain Rolland, S. 139f., hier S. 140. Die Briefe dieses Bandes sind nicht nummeriert. <?page no="96"?> 96 Je le connais et je le suis depuis trois ans. Il est un des plus beaux types et des plus rares de cette vieille aristocratie de province, riche en originaux, qui se terrent jalousement chez eux (...). Jusqu’à l’âge de vingt ans, il a vécu enfermé chez son père en Bretagne. Puis il est venu à Paris. Il a failli s’y noyer, ne sachant pas encore nager. Nous nous sommes rencontrés. J’ai reconnu en lui quelqu’un de ma famille morale. Depuis, il y a entre nous des rapports fraternels. [...]. Il est difficile de le connaître sans l’aimer, car chez lui le cœur vaut le talent. 14 Châteaubriant, der sich selbst als „‚chasseur des paysages’“ 15 bezeichnet, publiziert 1911 seinen ersten Roman Monsieur des Lourdines: histoire d’un gentilhomme campagnard (Prix Goncourt), der den Verfall einer Familie aus dem Landadel beschreibt und sich gegen die kapitalistische, liberale, moderne Gesellschaft richtet. 1939 wird der Völkische Beobachter lobend hervorheben, es gebe „kaum ein Werk innerhalb der französischen Literatur, das auf eine so vollkommene Weise die Bindung des menschlichen Schicksals an die umgebende Landschaft verdeutlicht.“ 16 Der wenige Jahre später zum Kriegsdienst eingezogene Châteaubriant lehnt den Krieg nicht grundsätzlich ab, da er in ihm auch die Möglichkeit einer grundlegenden Erneuerung sieht, wie er dies bereits am 4. Juni 1912 Rolland darlegte: „[L]a barbarie - souvenez-vous - [...] est le salut et le moyen de toute civilisation.“ 17 Der erklärte Pazifist Rolland hingegen ruft im September 1914 aus der Schweiz mit seinem Artikel Au-dessus de la mêlée (22./ 23. September 1914, Journal de Genève) zur europäischen Geschlossenheit und zum Ende des Krieges auf. 18 Châteaubriant seinerseits versteht den Krieg unter Bezugnahme auf das Alte Testament als „heiligen Krieg“: 14 Maugendre zitiert einleitend aus diesem Brief Rollands an Louise Cruppi vom 27. 7. 1911. S. Maugendre, Louis-Alphonse: Préface. In: L’un et l’autre [I]: Alphonse de Châteaubriant et Romain Rolland, S. 11, Kursivierung im Text, Hervorhebung BB. Beide qualifizierten ihre Freundschaft immer wieder als „Liebe“: Châteaubriant schrieb Rolland bereits am 1. 12. 1909: „[J]e vous aime autant, je crois, qu’on peut aimer un ami“. L’un et l’autre [I]: Alphonse de Châteaubriant et Romain Rolland, S. 36ff., hier S. 36. Rolland seinerseits bekannte Jahrzehnte später (Brief vom 30. 5. 1933): „Et tu sais que tu es l’homme que j’ai le plus aimé.“ Zit. in Sorella: Histoire d’une amitié, S. 273. 15 Zit. in Chadwick, Kay: Alphonse de Châteaubriant: Catholic Collaborator, S. 26, Fn. 12. 16 Hieronimi, Martin: „Schöpferische Kräfte Frankreichs: Der Dichter Alphonse de Châteaubriant“. In: Völkischer Beobachter, 22. 2. 1939, S. 5. Dülks hebt hervor, den Protagonisten ergreife „ein Wehen aus einer andern Welt“ und er finde „den Weg zu ‚Blut und Boden’, zu Vater und Heimat zurück.“ Dülks, J. H.: „Alphonse de Châteaubriant“, S. 389. 17 L’un et l’autre [I]: Alphonse de Châteaubriant et Romain Rolland, S. 137f., hier S. 138. 18 Rolland verstand Au-dessus de la mêlée als „un hommage à la jeunesse héroïque d’Europe, un réquisitoire contre les auteurs criminels de cette guerre et un appel à l’union des esprits européens.“ Rolland, Romain: Journal des années de guerre 1914- 1919. Notes et documents pour servir à l’histoire morale de l’Europe de ce temps. Bd. 1. Texte établi par Marie Romain Rolland. Paris: Editions Albin Michel, 1970 (Les chefs-d’œuvre de Romain Rolland), S. 56, hier auch Faksimile des Artikels. <?page no="97"?> 97 Il faut que nos vieilles nationalistes pourries soient retournées tout entières sous le soc des explosifs. La voilà la guerre, en effet, belle, grandiose, justicière. Et pour la première fois je comprends les raisons profondes de la Bible, mettant dans la bouche du prophète Samuel une invocation au ‚Seigneur, Dieu des armées‘. Ne doute pas un instant que cette guerre ne soit la plus divine, la plus voulue par Dieu de toutes celles qui ont sévi sur notre monde depuis les grandes invasions. 19 Gleichwohl ahnt Châteaubriant 1917, dass der Krieg nicht zur gewünschten allumfassenden Erneuerung führen wird: „Cette guerre, au lieu de tout rajeunir, aura tout usé! “ 20 Tatsächlich bringt der Ausgang der Grande Guerre nicht die von ihm erhofften Veränderungen: Wie die Mehrheit der Katholiken hält er den „gottlosen“ internationalen Bolschewismus für den größten Feind, der nicht besiegt wurde, weshalb er eine neue Auseinandersetzung prophezeit: L’avenir de l’Europe est bien sombre, mais, coûte que coûte, nous marchons vers une Europe une, de plus en plus une. Il y aura d’abord une nouvelle lutte entre les deux éléments, aristocratique et démocratique, autorité et prolétariat [...]. La guerre européenne, tout nous y ramènera, de cette situation sortira ou l’Europe, presqu’île de l’Asie, ou un bloc Européo-Africain. 21 Dieses aristokratische Prinzip sieht er in Deutschland verkörpert, das mit dem alles nivellierenden „demokratischen“ System des Bolschewismus kontrastiere. Statt sich zu vereinen, hätten sich die europäischen Länder gegenseitig zerrissen, aber die wahre internationale Weltlage verkannt und nicht begriffen, dass das Heil der Menschheit auf dem Spiel stand. Die Zerstörung des Schutzwalls, den seiner Meinung nach Deutschland verkörpert, verurteilt er explizit: „Le principe aristocratique et militaire, qu’elles auraient dû, en Allemagne, précieusement sauvegarder comme le dernier rempart de leur propre existence, voilà qu’elles le détruisent, stupidement.“ 22 Nur zwei Jahre später empfiehlt er Frankreich die Allianz mit Deutschland, um den Frieden und den Wohlstand zu sichern. 23 Châteaubriants bereits am Ende des Ersten Weltkriegs geäußerter Appell zur Zusammenarbeit mit Deutschland wird dereinst in das Plädoyer einmünden, 19 Brief vom 10. 7. 1915 an seine Schwester. Châteaubriant, Alphonse de: Lettres des années de guerre, 1914-1918. Paris: André Bonne, 1951, S. 81ff., hier S. 82f., Hervorhebung BB. Chadwick zufolge weist sein Verständnis des Ersten Weltkriegs als eines mittelalterlichen Kreuzzugs auf die spirituelle Überhöhung des Zweiten Weltkriegs voraus. S. Chadwick, Kay: Alphonse de Châteaubriant: Catholic Collaborator, S. 56. 20 Brief vom 25. 7. 1917 an seine Schwester. Châteaubriant, Alphonse de: Lettres des années de guerre, S. 182ff., hier S. 183. 21 Brief vom 28. 11. 1918 an seine Frau. Ebd.: S. 251ff., hier S. 252f., Kursivierung im Text. 22 Ebd.: S. 253f. 23 S. den Eintrag von Dezember 1920 in Saint-Nazaire. Châteaubriant, Alphonse de: Cahiers 1906-1951, S. 58f., hier S. 59. <?page no="98"?> 98 mit NS-Deutschland zu kollaborieren, in dem er das aristokratische Deutschland auferstanden sieht, denn „[u]nlike the integral nationalists, Châteaubriant was certainly no Germanophobe, but rather a committed Europeanist with a particular predilection for a Germany modelled on elitist lines, tendencies which made him a collaborator in waiting.” 24 Als Châteaubriant 1923 seinen zweiten Landschaftsroman La Brière (Grand Prix du Roman de l’Académie française), der von der Verteidigung der bäuerlich-patriarchalen Welt im Moor von La Brière gegen kapitalistische Übergriffe handelt, in Henri Massis’ 25 (1886-1970) nationalistisch orientierter Revue Universelle publiziert, führt dies beinahe zum Bruch der Freundschaft mit Rolland. 26 Fanden sich in den ersten, mit den höchsten Literaturpreisen ausgezeichneten Werken des Autors Anklänge an den von Maurice Barrès propagierten „culte de la terre et des morts“ 27 , bereitet 1933 La Réponse du Seigneur, „a hotchpotch where these same ‚rustic virtues’ are increasingly conflated with a bloated, misguided, and egomaniacal pseudo-religiosity“, Châteaubriants „Konvertierung“ zum Nationalsozialismus 24 Chadwick, Kay: Alphonse de Châteaubriant: Catholic Collaborator, S. 72, Hervorhebung BB. 25 Der Journalist und Schriftsteller Massis (u.a. Verfasser des Manifeste du parti de l’intelligence, 1919; Défense de l’Occident, 1927) war in den Jahren 1920-1944 Chefredakteur, später Direktor der von ihm gemeinsam mit Bainville gegründeten und Maurras verpflichteten Revue universelle. Mit Brasillach verfasste er Les cadets de l’Alcazar (1936). Während der Besatzung Frankreichs war er Mitglied des Conseil National von Vichy. 1960 wurde er in die Académie française gewählt. Slama, Alain-Gérard: „Henri Massis“. In: Juillard, Jacques; Winock, Michel (Hgg.): Dictionnaire des intellectuels français, S. 931-933. 26 Rolland konnte Châteaubriant nicht verzeihen, dass dieser versäumt hatte, ihn gegen Massis’ Anschuldigungen in Romain Rolland contre la France (1915) zu verteidigen, worin dieser Rollands Rückzug in die Schweiz und seinen Aufruf zum Kriegsende in Au-dessus de la mêlée angegriffen hatte. Als er von Châteaubriants Publikationsvorhaben in der Zeitschrift seines Erzfeindes erfuhr, schrieb er Châteaubriant zutiefst verletzt: „Mais - permets-moi de te parler franchement - rien ne m’a plus stupéfié que [...] depuis deux ans, tu t’es mis en rapports cordiaux, au sujet de La Brière, avec Massis. Massis, le plus violent de mes ennemis [...], le pamphlétaire fanatique et de mauvaise foi, qui en 1915 chercha à soulever contre moi les vengeances de l’opinion aveugle, et qui n’y échoua que par le maladroit excès de ses accusations. Tu oublies vite, mon ami. Mais moi, je n’oublie pas.“ (14. 11. 1922). Châteaubriant entschuldigte sich daraufhin (18. 11. 1922) mit der Erklärung, er hätte nie zuvor von Massis gehört und dessen Pamphlet nicht gelesen. Trotz Châteaubriants Beteuerung, er habe versucht, die Publikation durch Massis zu verhindern, wird Rolland diese Kränkung („le tort de lèse-amitié“) nicht vergessen: „En aucune occasion d’ailleurs, depuis la guerre, tu n’as marqué publiquement ta solidarité morale avec moi, ou ta désolidarité d’avec mes adversaires.“ (26. 1. 1924). In: L’un et l’autre II: Romain Rolland et Alphonse de Châteaubriant, Briefe der Reihe nach S. 261f. (Nr. 159), hier S. 261, S. 262ff. (Nr. 160), S. 281ff. (Nr. 172), hier S. 282. 27 Golsan spricht vom „cult of ‚la terre et la race française’“. Golsan, Richard J.: „Ideology, cultural politics and literary collaboration at La Gerbe“, S. 27. <?page no="99"?> 99 vor. 28 Im Konflikt um den Überfall des faschistischen Italiens auf Abessinien bezieht der Schriftsteller Position für den italienischen Nachbarn: Im Oktober 1935 unterzeichnet er Massis’ Manifeste pour la défense de l’Occident. In Begleitung seiner belgischen Lebensgefährtin Gabrielle Castelot 29 reist „[d]er Dichter französischer Landschaft“, der „das Experiment des östlichen Nachbarn mit eigenen Augen sehen“ will, 1935 und 1936 insgesamt vierzehn Monate lang durch NS-Deutschland: „Zuerst im Rheinland, denn in der Südwestmark kann [sic] er mit allen Bevölkerungsschichten zusammen und erlebte den Nationalsozialismus im täglichen Leben.“ 30 In Herrenwies 31 im Schwarzwald notiert der Bretone im Juli 1935, dass er angesichts des gegenwärtigen moralischen und politischen Chaos auf der Suche nach umfassender Erneuerung das verheißungsvolle Deutschland bereisen wolle, geleitet von dem Wunsch zu verstehen: En présence du cours suivi par les événements, de l’évolution subie par les hommes, du déplacement de toutes les lignes et de tous les plans de la vie, du bouleversement radical de toutes les valeurs de la morale et de la politique, j’ai décidé de parcourir l’Allemagne, poussé par un instinct autant que guidé par la raison. L’instinct me donne à pressentir qu’au milieu du désarroi de cette fin du monde, le peuple allemand, par tout ce qu’il porte en soi, est peut-être celui en qui se trouverait, si l’on faisait la moyenne de ses vertus et de ses forces, 28 Ders.: „Alphonse de Châteaubriant and the Politics of French Literary History“, S. 71. Ausf. Besprechung dieser drei Werke durch Maugendre, Louis-Alphonse: Alphonse de Châteaubriant, Kp. 1 und 2. 29 Die 1888 geborene Gabrielle Castelot (Todesdatum unbekannt), Dichterin (Flamme divine, 1922, Les trois roses, 1936, versehen mit einem Vorwort von Châteaubriant) und Dolmetscherin Châteaubriants auf ihren gemeinsamen Reisen durch NS-Deutschland, war sécretaire générale de la direction von La Gerbe, für die sie sowohl unter ihrem richtigen Namen als auch unter dem Nom de plume Guy Harveng Artikel verfasste. Allg. zu Castelots Biografie s. Maugendre, Louis-Alphonse: Alphonse de Châteaubriant, S. 173f., 194, 253, zu ihrem Pseudonym S. 231, Anm. 95. 30 So die Ankündigung eines Porträts von Châteaubriant in der Rubrik „Dichter- Besuche“. In: DFMh 3. Jg. (1936), S. 319. 31 Castelot fügt ihrer Publikation ein Foto des Häuschens in Herrenwies bei, ca. 20 km südlich von Baden-Baden, das über Jahre hinweg Châteaubriants Rückzugsort war, versehen mit einem handschriftlichen Vermerk des Romanciers von April 1944: „La petite maison en Allemagne qui m’a été prêtée par mes très excellents amis du Pays de Baden, et dans laquelle je suis venus [sic] au cours des années 1937-38-39. - puis 42-43-44.“ sowie am rechten Rand: „Herrenwies = le pré du Seigneur“, S. Sorella: Histoire d’une amitié, Fotografie zwischen den Seiten 64/ 65. Warum er das Jahr 1935 nicht erwähnt, ist unklar. Zum „chalet“ in Herrenwies s. auch Maugendre, Louis- Alphonse: Alphonse de Châteaubriant, S. 177. Dieses wurde dem Franc-Tireur zufolge im Frühjahr 1945 von französischen Truppen gesprengt. S. N.N.: „La Mort (par contumace) à Alphonse de Châteaubriant caché quelque part en France“. In: Le Franc- Tireur, 26. 10. 1948, S. 4. <?page no="100"?> 100 l’élément le moins inapte à être utilisé pour le salut des communautés d’Occident. 32 Seine Eindrücke fasst er kaleidoskopisch in dem ideologischen Reisebericht La Gerbe des Forces: Nouvelle Allemagne zusammen. Von Châteaubriants Plädoyer begeistert, lädt Hitler 33 den Dichter am 13. August 1937 nach Berchtesgaden ein, nur ein Jahr später erscheint die deutsche Übersetzung unter dem Titel Geballte Kraft: Ein französischer Dichter erlebt das neue Deutschland. In Les pas ont chanté (1938) beschreibt Châteaubriant rückblickend den Ersten Weltkrieg als zutiefst prägende Erfahrung. Aus mehr als zwanzigjähriger Distanz führt er darin seine „religiöse Erweckung“ auf die Kriegserlebnisse sowie auf die Lektüre des heiligen Paulus zurück. 34 Erstaunlicherweise erwähnt der Schriftsteller hier nicht die Theophanie, die ihm im Januar 1915 auf dem Weg an die Front in der Nähe von Sainte-Menehould zuteil geworden und „[l]e point de départ de la grande évolution spirituelle d’Alphonse de Châteaubriant“ gewesen sein soll. 35 32 S. Châteaubriant, Alphonse de: Cahiers 1906-1951, S. 156. 33 Hitler soll Châteaubriant mit den Worten gelobt haben: „‚Monsieur l’écrivain français, vous avez compris le national-socialisme mieux que 99% des Allemands qui votent pour moi! ’“ Zit. in „Alphonse de Châteaubriant“. In: Randa, Philippe: Dictionnaire commenté de la collaboration française. Paris: Picollec, 1997, S. 435-442, hier S. 440. Zum Treffen in Berchtesgaden s. Christophe, Paul: 1939-1940, les catholiques devant la guerre. Paris: Les Ed. ouvrières, 1989, S. 52. Vgl. auch Châteaubriants eigenen Hinweis auf seine Unterredung mit Hitler in der Ansprache An meine deutschen Leser in der deutschen Übertragung von La Gerbe des Forces. Die vorliegende Arbeit bezieht sich auf die erste Auflage der Übersetzung: Châteaubriant, Alphonse de: Geballte Kraft: Ein französischer Dichter erlebt das neue Deutschland. 1. Aufl. Karlsruhe: Verlag G. Braun, 1938, S. XI-XV, hier S. XIV, folgend abgekürzt mit GK und Seitenzahl. Zur deutschen Übersetzung s. auch Kp. 3.3.1. 34 Ders.: Les pas ont chanté. Paris: Grasset, 1938, u.a. S. 304ff. Inwiefern diese retrospektive Schilderung eher der Selbstdarstellung als den Tatsachen entspricht, lässt sich schwerlich belegen, doch ist es auffällig, dass Châteaubriant gerade die Bedeutung des „Heiden-Apostels“ Paulus betont, der in der Bibel exemplarisch die Bekehrung zum Christentum verkörpert: Nachdem sich der Pharisäer Saulus von Tarsus den Jüngern Jesu zuerst mit Gewalt widersetzt hatte, bejahte er nach einem Bekehrungserlebnis das Evangelium und wurde zu Paulus, dem Heidenapostel. Vgl. Heuermann, Hartmut: Religion und Ideologie: Die Verführung des Glaubens durch Macht. Frankfurt a. M.: Francke, 2005, S. 147ff. 35 So Gabrielle Castelot in Sorella: Histoire d’une amitié, S. 276ff., hier S. 276, Kursivierung im Text. Die Schilderung der Gotteserscheinung findet sich, Wortwahl, Umfang und Datumsangabe leicht variierend, erstmals in Ecrits de l’autre rive (1950), anschließend in Fragments d’une confession (1953) und L’Acte Intérieur (1992). Châteaubriant, Alphonse de: Ecrits de l’autre rive. Paris: André Bonne, 1950, S. 59ff.; Ders.: Fragments d’une confession. Paris: Desclée de Brouwer, 1953, S. 26ff.; Ders.: L’Acte Intérieur ou le sens intime du divin. Paris: Editions Latines, 1992, S. 37ff. Sein Schweigen erklärt Châteaubriant in Fragments d’une confession damit, dass er 25 Jahre benötigt <?page no="101"?> 101 Die französische Niederlage von 1940 empfindet er als Bestätigung seiner Vorstellungen, weshalb er sich um so engagierter für die Kollaboration mit NS-Deutschland einsetzt; in den Besatzungsjahren avanciert Châteaubriant zur Schlüsselfigur 36 der kulturellen und politischen Kollaboration: Der von Jean Paulhan als „nazi“ 37 klassifizierte neue NRF-Autor ist Direktor von La Gerbe, hebdomadaire de la volonté française, der ersten Wochenzeitung, die ab dem 11. Juli 1940 im besetzten Paris erscheint. Das kollaborationistische Organ, [i]ntellectually flabby and ideologically incoherent, […] embraced Georges Montandon’s racist eugenics, and Charles Maurras’s cultural anti-Semitism, Nazism’s New Europe and Vichy’s return to soil. In its editorials it praised Joan of Arc as a heroine of the new Europe and Hitler as a Christian saviour, and railed incessantly against Bolshevism. Toward the end of the war, La Gerbe published editorials and petitions denouncing the so-called terrorism of British and Allied bombing. 38 Tatkräftig unterstützt wird La Gerbe von den „plumes de la collaboration académicienne et celles de quelques grands noms de l’intelligentsia vichyste ou simplement attentiste“, unter ihnen Jacques Chardonne. 39 Châteaubriants schwülstig-endzeitlicher Stil, der schon unverkennbares Markenzeichen von La Gerbe des Forces gewesen war, verleiht auch dem „‚journal d’une revalorisation de la France‘“ 40 sein Gepräge: La Gerbe des forces l’a préparé à être, dès les premiers jours, le grand vaticinateur du monde en gestation, celui qui, nouveau converti du journalisme comme du nazisme, va écraser chaque semaine la première page de ‚son’ hebdomadaire d’un style apocalyptique, hérissé de majuscules et de points d’exclamations, encombré de références historiques et bibliques, tout en prophéties et habe, um die Botschaft Gottes zu verstehen; es stellt sich erneut die Frage nach der Glaubwürdigkeit dieser Selbstaussage. Ders.: Fragments d’une confession, S. 33. 36 Ausf. zu Châteaubriants zahlreichen Funktionen und Ämtern während der Besatzung s. Maugendre, Louis-Alphonse: Alphonse de Châteaubriant, S. 239ff.; folgend wird Bezug genommen auf Chadwick, Kay: Alphonse de Châteaubriant: Catholic Collaborator, S. 18f. 37 Brief Paulhans an Francis Ponge vom 20. 11. 1940 in Paulhan, Jean: Choix de lettres II: 1937-1945, S. 201f. (Nr. 161), hier S. 201. 38 Golsan, Richard J.: „Alphonse de Châteaubriant and the Politics of French Literary History”, S. 67. Ausf. zu La Gerbe, die bis zum 4. 8. 1944 in 214 Ausgaben erscheint, s. Golsan, Richard J.: „Ideology, cultural politics and literary collaboration at La Gerbe“; ebenso Maugendre, Louis-Alphonse: Alphonse de Châteaubriant, S. 239-330. 39 Milza, Pierre: Fascisme français: Passé et Présent. Paris: Flammarion, 1987, S. 260. Vgl. die Autoren-Auflistung bei Maugendre, Louis-Alphonse: Alphonse de Châteaubriant, S. 253f.; Golsan differenziert die La Gerbe-Romanciers in „‚hardline’ collaborators“ (z.B. Céline, Drieu la Rochelle, Montherlant, Giono), „cautious fellowtravellers“ (u.a. Colette, Anouilh) sowie Autoren, die zwar literarische Beiträge, aber keine politischen Stellungnahmen verfassten (z.B. Claudel, Aymé). S. Golsan, Richard J.: „Ideology, cultural politics and literary collaboration at La Gerbe“, S. 41ff. 40 Zit. in Maugendre, Louis-Alphonse: Alphonse de Châteaubriant, S. 257. <?page no="102"?> 102 objurgations alternées: ‚L’Éclair’, ‚Ordre de l’Heure’, ‚Révolution du présent’, ‚Tocsin sur la cité’ […]. 41 Rolland ist es, der im Februar 1941 den prononcierten Antisemitismus seines Freundes verurteilt: [T]u sais ce qui surtout m’éloigne, c’est l’antisémitisme brutal, injurieux, acharné, qui remplit les colonnes de tes échos [...] - Cette proscription sans nuances et sans justice me blesse au plus profond de mon esprit de vieux Français, de vieux chrétien, et jusqu’au cœur de ma vie, dans mon humanité. 42 Als Präsident des Direktionsausschusses der im September 1940 initiierten und im Februar 1941 vom deutschen Botschafter Otto Abetz genehmigten Gruppe Collaboration, deren Ziele schlagwortartig die triadische Formel „‚Rénovation Française - Réconciliation Franco-Allemande - Solidarité Européenne’“ 43 benennt, avanciert Châteaubriant „zu einem der mächtigsten Sprecher des deutschen Frankreich in literarischen, künstlerischen, wissenschaftlichen, juristischen, wissenschaftlichen und sozialen Bereichen.“ 44 Seinen tiefen Hass auf den Bolschewismus teilt er mit der LVF, deren Ehrenmitglied er ist, er unterstützt den Cercle de collaboration économique européenne, sympathisiert mit Joseph Darnands paramilitärischer Milice Française und zählt zu den Mitgliedern des Institut d’études des questions juives. Châteaubriant befürwortet sowohl die Relève, in deren Rahmen auch sein Sohn Guy nach Freilassung aus deutscher Kriegsgefangenschaft wieder nach Deutschland zurückkehrt, als auch nach deren Scheitern den vom „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“ Fritz Sauckel (1894-1946) diktierten STO. 45 Ebenso wie Brasillach unterzeichnet er das Manifeste des intellectuels français contre les crimes britanniques (9. März 1942), worin diese das „sauvage attentat britannique“ auf die Renault- Fabriken in Boulogne-Billancourt verurteilen. Auch noch kurz vor seiner Flucht aus Frankreich zählt er zu den Ultra-Kollaborationisten, welche nach Ermordung des Propagandaministers der Vichy-Regierung Philippe Henriot (28. Juni 1944) den Etat Français in der Déclaration commune sur la situation politique (5. Juli 1944) zu harten Sanktionen gegen innerfranzösi- 41 Ory, Pascal: Les collaborateurs, S. 74f., Hervorhebung BB. 42 Brief Rollands vom 17. 2. 1941. L’un et l’autre II: Romain Rolland et Alphonse de Châteaubriant, S. 402f. (Nr. 256), hier S. 402, Hervorhebung BB. 43 Zit. in Unteutsch, Barbara: Vom Sohlbergkreis zur Gruppe Collaboration, insb. S. 199- 216, hier S. 203. 44 Hofer, Herrmann: Die Literatur der Kollaboration, S. 171. 45 Maugendre, Louis-Alphonse: Alphonse de Châteaubriant, S. 277f. Maugendre betont, Guy de Châteaubriant habe in Deutschland „un rôle de résistant actif à l’Arbeitsfront de Hambourg“ gespielt. Ebd.: S. 322, Anm. 72. Vgl. auch den Artikel von Châteaubriant, Guy de: „La France des captifs“. In: La Gerbe, 7. 1. 1943, S. 1 und 3. Zum STO s. auch Kp. 1.7. <?page no="103"?> 103 sche Feinde und zu stärkerem Engagement an Seiten des nationalsozialistischen Deutschlands auffordern. 46 Das Mitglied des deutsch-französischen Übersetzungskomitees 47 ist oft und gern gesehener Gast in der 57, rue Saint-Dominique im 7. Pariser Arrondissement unweit des Hôtel des Invalides, wo das Deutsche Institut, „de facto die kulturpolitische Abteilung der Deutschen Botschaft in Paris, de jure ein Ableger der Deutschen Akademie in München“, unter Eptings Leitung im ehemaligen Gebäude der polnischen Botschaft residiert. 48 Dessen Frau Alice Epting-Kullmann (1898-1971) erinnert sich in ihren Pariser Begegnungen (1972) nicht ohne Verklärung an den im Deutschen Institut verehrten […] Edelmann Alphonse de Châteaubriant […]. Obwohl wir seinen politischen Ansichten, die ja nie eindeutig definiert, sondern fast immer hymnisch vorgetragen wurden, bei unserer eigenen Einstellung zum Nationalsozialismus nicht immer beipflichten konnten, achteten wir Châteaubriant für seine tiefe Überzeugung, dass die deutsch-französische Zusammenarbeit der einzig richtige Weg sei zur Erreichung eines dauernden Friedens in Europa. 49 La Gerbe des Forces steht nicht nur an exponierter Stelle auf der Gesamtliste des foerdernswerten Schrifttums bis 31. 12. 1942 50 der Propaganda-Abteilung Frankreich, Gruppe Schrifttum, „[c]ette œuvre prophétique“ findet auch Eingang in den unter Mitwirkung französischer Verlagshäuser erstellten „Promotion“-Katalog de luxe Le Miroir des livres nouveaux 1941-1942, dessen Ziel 46 Sirinelli, Jean-François: Intellectuels et passions françaises, S. 137f., 140, Fn. 1. Wiedergabe der Erklärung in Barthélemy, Victor: Du Communisme au Fascisme: l’histoire d’un engagement politique. Paris: Michel, 1978, S. 405-407. 47 S. Jurt, Joseph: Ein transnationales deutsch-französisches literarisches Feld nach 1945? In: Oster, Patricia; Lüsebrink, Hans-Jürgen (Hgg.): Am Wendepunkt: Deutschland und Frankreich um 1945, S. 189-230, hier S. 206. 48 Hausmann, Frank-Rutger: „Auch eine nationale Wissenschaft? “, S. 288ff., hier S. 289. 49 Epting-Kullmann, Alice: Pariser Begegnungen. Hänner über Säckingen: Privatdruck, 1972, S. 62f. Hausmann qualifiziert Epting-Kullmanns Darstellung als „apologetischverharmlosend“. Hausmann, Frank-Rutger: „Auch eine nationale Wissenschaft? “, S. 290, Fn. 266. 50 Unter der Rubrik „I. - Neues Deutschland“. Vgl. das Faksimile der „Gesamtliste“ bei Loiseaux, Gérard: La littérature de la défaite et de la collaboration, S. 551-556, hier S. 552 (Annexe II). Wenn Loiseaux diese insgesamt 189 Werke umfassende Aufstellung „anti-liste Otto“ nennt, so spielt er auf die drei nach dem deutschen Botschafter Otto Abetz benannten, u.a. im Deutschen Institut erstellten Zensurlisten unerwünschter französischer Literatur an: 1) Ende September 1940: Indizierung von 842 Autoren, 2) 8. 7. 1942, 3) 10. 5. 1943: Indizierung von 1.554 Schriftstellern, darunter 739 „jüdische Autoren“; vorausgegangen war am 27. 8. 1940 die „Liste Bernhard“ (in Anspielung auf Bernhard Payr, Leiter des Zentrallektorats im Amt Schrifttumspflege, ab 1940 mit Sonderauftrag des Amtes Rosenberg in Paris). Ausf. zur Literaturkontrolle im besetzten Frankreich s. Loiseaux, Gérard: „La collaboration littéraire au service de l’Europe Nouvelle“, hier S. 12ff., Faksimile der Liste Bernhard S. 33-36. Zu Payr vgl. u.a. die Ausführungen in Kp. 5.1.4, 5.1.5, 5.3. <?page no="104"?> 104 es ist, „de mettre à l’honneur de bons et importants livres, avant tout en province“. 51 Châteaubriant und Brasillach, die beide im Ehrenkomitee 52 der Exposition Arno Breker in der Orangerie (15. Mai - 31. Juli 1942) sitzen, zählen zu den elf auserwählten Schriftstellern, die während der Besatzung mit ausdrücklicher Genehmigung des Amtes Schrifftum auf Deutsch erscheinen. 53 Den desaströsen Zusammenbruch Frankreichs und die Okkupation Frankreichs hält Châteaubriant aufgrund der Vielzahl der Verfehlungen der französischen Politik für „verdient“. Im Januar 1942 notiert er: Le vrai drame de la France, ce n’est pas d’avoir été vaincue par les armes, ce n’est pas d’être occupée, c’est d’avoir mérité de l’être par trop d’oublis, de concessions, de compromissions de faiblesses, d’égocentrisme politique, d’ignorance, cette ignorance qui l’a complètement empêchée de savoir où en était le monde. 54 Christ zu sein und sich für den seiner Meinung nach heilbringenden Nationalsozialismus zu engagieren, bildet für ihn einen Kausalnexus, wie er am 10. Dezember 1942 in Raisons d’hier et d’aujourd’hui verkündet: „Et c’est parce que je suis chrétien, qu’ayant vu le péril qui menaçait l’humanité 51 So der Wortlaut des Tätigkeitsberichts vom 20. bis 27. 9. 1941 der Gruppe Schrifttum und die Charakterisierung von La Gerbe des Forces im Miroir. In Letzterem werden 102 Werke von 90 Schriftstellern angepriesen, darunter neben Adolf Hitler, Hermann Göring und Pétain aus taktischen Gründen auch bewusst unpolitische Literaten wie Rainer Maria Rilke oder Jacques Audiberti. Eine besondere Anerkennung wird ausgewählten Vertretern und „Galionsfiguren“ der literarischen Kollaboration zuteil: Châteaubriant, Brasillach sowie Chardonne, die mit La Gerbe des Forces, Notre avantguerre, Chronique privée de l’an 1940 und Voir la figure bereits auf der Gesamtliste des foerdernswerten Schrifttums vertreten sind, zählen zu den insgesamt acht Autoren, die mit ganzseitigen Fotos den aufwendigen Katalog zieren. S. Fouché, Pascal: L’édition française sous l’Occupation: 1940-1944, Bd. 1, S. 268, Kursivierung im Text, Faksimile des Miroir S. 389-406 (Annexe XVII), hier S. 396, Kursivierung im Text. Ausf. zum Miroir s. Loiseaux, Gérard: La littérature de la défaite et de la collaboration, S. 105-110. Vgl. auch Kp. 5.1.5. 52 Ebenso Chardonne. Vgl. die Übersicht über die Mitglieder des Ehrenkomitees im Ausstellungskatalog: Exposition Arno Breker à l’Orangerie 15 mai - 31 juillet 1942. Berlin: Holten, 1942, o.S. Zu Breker vgl. auch Kp. 4.1, 4.7.3 sowie 5.2. 53 Loiseaux, Gérard: Phénix ou Cendres? , S. 345. Kösel & Pustet verlegen Châteaubriants Herr von Lourdines: Die Geschichte eines Landedelmannes um 1840 (1942, übersetzt von Gräfin Gertrud von Helmstatt) und Die Moorinsel (1943, in der neuen Übersetzung von Emil Winkler). S. „Alphonse de Châteaubriant“. In: Bibliographie deutscher Übersetzungen aus dem Französischen 1700-1948. Bearb. von Hans Fromm. Bd. 2: C-E. Baden-Baden: Verl. f. Kunst u. Wissensch., 1950, S. 68. Châteaubriant wiederum verfasst das Vorwort zur französischen Übersetzung von Hans Falladas (1893- 1947) Unterhaltungsroman Altes Herz geht auf die Reise (Rowohlt, 1936)/ Vieux cœur en voyage (Sorlot, 1941, übersetzt von Edith Vincent). 54 S. Châteaubriant, Alphonse de: Cahiers 1906-1951, S. 200f., Hervorhebung BB. <?page no="105"?> 105 dans ses valeurs les plus essentielles, [...] je suis allé au nationalsocialisme“. 55 Während des Zweiten Weltkriegs weilt Châteaubriant regelmäßig in NS-Deutschland, mitunter zu Kur-Aufenthalten in Baden-Baden. Nicht nur über deren „revitalisierende Erfolge“ unterrichtet der positiv gestimmte Kurgast am 18. November 1943 Karl Epting: C’est très curieux, ces effets de la cure! cela me démolit complètement pour quelque chose comme trois semaines. Tout d’un coup, vous êtes rendu à la santé d’une façon parfaite. Dans quelques jours, l’epreuve [sic] pour moi sera close. Mais je suis loin de n’avoir fait ici que soigner mon corps. J’ai fait par ailleurs de bonnes besognes… Dimanche, j’étais à Karlsruhe. J’avais préparé avec soin une conférence pour 2000 ouvriers français. Malgré l’extrême fatigue pour moi en ce moment de ce voyage, je me suis rendu là bas. Fritz Bran 56 était venu de Berlin, plusieurs autres personnes, de Berlin et de Paris. Mais l’organisation préparatoire avait été insuffisante, et tous les ouvriers, sur lesquels je comptais, étaient absents! Nous avons préféré renvoyer notre effort à plus tard et remettre la séance à une date ultérieure. A part cela, mes impressions sont parfaites en ce qui concerne le moral de la population très supérieur à ce qu’il était en juin et juillet! Il est aujourd’hui tout simplement admirable. Le calme, l’energie [sic] et la force règnent dans les cœurs.. J’ai pris, comme toujours, ici, de nouvelles forces, dans la profonde solitude à l’esprit révélateur. Ce sera pour les employer bientôt. 57 Im August 1944 flieht Châteaubriant mit Gabrielle Castelot, seinem „poisson-pilote“ 58 , über Sigmaringen 59 zunächst in den Schwarzwald, und 55 Ders.: „Raisons d’hier et d’aujourd’hui“. In: La Gerbe, 10. 12. 1942, S. 1. Dass gerade diese gewichtige Begründung von Châteaubriants nationalsozialistischem Engagement mit seinem christlichen Glauben im Procès posthume d’un visionnaire fehlt (hier lautet das Zitat: „Et c’est parce qu’ayant vu le péril qui menaçait l’humanité dans ses valeurs les plus essentielles“), belegt die bewusst verharmlosende und verfälschende Darstellung Châteaubriants. Vgl. Châteaubriant, Alphonse de: Procès posthume d’un visionnaire. Paris: Nouvelles Editions Latines, 1987, S. 192. Vgl. diesbzgl. die Ausführungen zur Versuchten Rehabilitierung in Kp. 3.2. 56 Dr. Fritz Bran (1904-1994), Hauptschriftleiter der Deutsch-Französischen Monatshefte/ Cahiers franco-allemands, ab Juni 1940 Leiter des Frankreich-Komitees im Auswärtigen Amt. Ausf. s. Unteutsch, Barbara: Dr. Friedrich Bran - Mittler in Abetz’ Schatten. In: Bock, Hans Manfred; Meyer-Kalkus, Reinhart; Trebitsch, Michel (Hgg.): Entre Locarno et Vichy: les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930, Bd. 1, S. 87-105. Zu Bran vgl. auch Kp. 3.3.4, Fn. 152. 57 Auszug aus dem bis dato unveröffentlichten und mir freundlicherweise von Herrn Wilhelm Epting zur Verfügung gestellten Brief Châteaubriants an Karl Epting vom 18. 11. 1943 aus Baden-Baden. S. Briefnachlass Epting-Hänner Nr. 90/ 1-2, hier Nr. 90/ 2. 58 Saint-Loup [Augier, Marc]: Alphonse de Châteaubriant, entre Jésus et Hitler. In: Ders.: J’ai vu l’Allemagne. Suivi d’un portrait d’Alphonse de Châteaubriant et de <?page no="106"?> 106 im Frühjahr 1945 weiter nach Tirol. Dort wendet er sich dem Mystizismus zu und widmet sich spiritualistischen Fragen. 60 Diesbezüglich, aber insbesondere hinsichtlich der Persönlichkeit Châteaubriants aufschlussreich ist ein weiterer an Epting adressierter Brief, dem er am 9. August 1944 von Herrenwies, „de la petite maison dont j’ai la jouissance dans mon cher Schwarzwald“, schreibt. 61 Der, wie er beteuert, auch zu diesem Zeitpunkt keineswegs pessimistische, sondern einer höheren Vorsehung vertrauende Schriftsteller bittet seinen Freund, den er als „grand cultivé, [...] l’ami, et [...] protecteur de notre conservation culturelle“ 62 umschmeichelt, um Unterstützung. Zur Vollendung seines philosophischen Hauptwerkes 63 benödeux conférences données dans le cadre du groupe Collaboration. Châtillon-sur- Chalaronne: Le Flambeau, 1991, S. 47-83, hier S. 65. 59 Berühmt ist Célines karikierende Beschreibung des Romanciers auf dem Hohenzollernschloss in Sigmaringen als Wagners Walkürenritt pfeifenden und vor Abetz wütend Geschirr zerschmetternden Wahltiroler mit seiner „ample cape brune, souliers pour la chasse … oh mais! oh si! … le feutre tyrolien est nouveau! … la petite plume! “ S. Céline, Louis-Ferdinand: D’un château l’autre: Roman. In: Ders.: Romans II. Edition présentée, établie et annotée par Henri Godard. Paris: Gallimard, 1986 (Bibliothèque de la Pléiade; 252), S. 1-299, hier S. 229ff. Zur Schlussphase der Kollaboration in Sigmaringen, wohin man Pétain und Laval im September 1944 gegen ihren Willen gebracht hatte, die einherging mit Gründung der Commission gouvernementale française pour la défense des intérêts nationaux mit Fernand de Brinon als Präsidenten und des von Jacques Doriot im Januar 1945 auf der Insel Mainau gebildeten Comité de la Libération française, vgl. Jäckel, Eberhard: Frankreich in Hitlers Europa, S. 362ff. S. auch Moser, Arnulf: Das französische Befreiungskomitee auf der Insel Mainau und das Ende der deutsch-französischen Collaboration 1944/ 45. Sigmaringen: Jan Thorbecke Verlag, 1980 (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, 25). 60 Zu den verschiedenen Stationen ihrer Flucht s. Maugendre, Louis-Alphonse: Alphonse de Châteaubriant, S. 333ff. Robert de Châteaubriant, der Herausgeber der Cahiers, verschweigt, dass sein Vater aus Frankreich flüchtete, vielmehr heißt es nur: „En 1944, il est à Herrenwiess [sic] au moment où les armées alliées s’approchent de Paris.“ und „En avril 1945, Alphonse de Châteaubriant gagne le Tyrol autrichien.“ Dass die Flucht über Sigmaringen führte, wohin zahlreiche Ultra-Kollaborationisten flohen, ist ebenfalls nur indirekt dem Eintrag „Siegmaringen [sic], 3 octobre 1944“ zu entnehmen. Stattdessen werden in den Cahiers Châteaubriants „méditations religieuses“ betont. Vgl. Châteaubriant, Alphonse de: Cahiers 1906-1951, S. 152, 228f., Kursivierung im Text, Hervorhebung BB. 61 Dieses und die folgenden Zitate beziehen sich auf den nur bruchstückhaft von Maugendre zitierten Brief Châteaubriants an Epting vom 9. 8. 1944 (vgl. Maugendre, Louis-Alphonse: Alphonse de Châteaubriant, S. 305), den mir ebenfalls Herr Wilhelm Epting freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Briefnachlass Epting-Hänner, Nr. 91/ 1-4, hier Nr. 91/ 1. 62 Ebd.: Nr. 91/ 3. Während Châteaubriant am 18. 11. 1943 Epting noch als „Cher Monsieur Epting“ anspricht (Briefnachlass Epting-Hänner, Nr. 90/ 1), so nennt er ihn neun Monate später: „Mon cher Docteur et très excellent Ami“. Briefnachlass Epting- Hänner, Nr. 91/ 1. 63 Damit spielt er auf Itinerarium ad lumen divinum (postum, 1955) an, ein Werk, das er in seinen Tagebüchern als „mon testament religieux“ (April 1947) qualifizierte und betonte: „Toute ma vie serait manquée si je mourais avant d’avoir pu écrire ce que je <?page no="107"?> 107 tige er in Paris zurückgelassene Unterlagen und Bücher, die für ihn von existentieller Bedeutung seien und deren Vernichtung er angesichts der sich dort zuspitzenden Lage befürchte: Ici venu il y a quelques jours pour essayer de conduire hâtivement à son terme en quelques semaines un ouvrage que je porte avec moi depuis vingt cinq ans et qui philosophiquement représente tout l’effort de ma vie. J’ai accumulé en fait de notes pour cela de véritables richesses. Ces notes sont à Paris dans mes affaires, ainsi que tous les livres dont j’aurais besoin pour achever ce grand travail et pour continuer mon action, qui est une action d’exemple et d’influence. Je ne suis pas pessimiste, vous le savez, cher ami, je suis tout le contraire: ma foi est entière, elle n’a pas subi une déviation, je vis les yeux fixés sur la loi d’un destin supérieur, qui me répond de l’avenir! C’est comme cela! Mais je n’ai pas le droit d’ignorer qu’un terrible péril de guerre plane sur Paris et que bien des choses utiles et précises peuvent être détruites. Or, j’ai à sauver, pour pouvoir pratiquement continuer d’être ce que je suis, les livres parmi ceux qui sont mon instrument de travail, mes documents et papiers, et aussi quelques dessins parmi l’œuvre de valeur de mon père, qui fut l’émule d’Henri Regnault, le camarade d’atelier de Cézanne et l’un des premiers précurseurs de l’impressionisme. Quelques dessins, dis je [sic], d’ailleurs de petites dimensions, qui viendraient eclairer [sic] mes murs familiers à Herrenwies, et qui ainsi seraient avec sûreté sains et saufs. Ce serait pour l’ensemble quelques caisses à faire transporter à Strasbourg ou à Baden-Baden. 64 An eine Rückkehr nach Paris und Frankreich scheint er nicht zu denken, denn auch nach dem Zusammenbruch des Hitler-Regimes bleibt Deutschland für Châteaubriant das verheißene Land: „Il n’y a pas de jour que je ne sente le contact d’origine providentielle que j’ai avec ce pays“. 65 Vom „falschen“ Nationalsozialismus distanziert er sich jedoch bestimmt: L’Allemagne, capable de grandes actions militaires, était incapable de jouer le rôle politique que l’Europe attendait d’elle. Il y a dix ans, j’ai parlé de l’esprit du national-socialisme. Mais le nationalsocialisme qui fut appliqué a été la négation de celui que j’exposai dans mon livre. 66 voudrais expliquer dans mon Itinerarium.“ (15. 7. 1947). Châteaubriant, Alphonse de: Cahiers 1906-1951, S. 273 und 294, Kursivierung im Text. Vgl. Chadwicks Hinweis auf „this introspection and emphasis of the spiritual world reflecting his disillusion with the external political world.” Chadwick, Kay: „Reviewing the evidence“, S. 14. 64 Briefnachlass Epting-Hänner, Nr. 91/ 1-4, hier Nr. 91/ 1ff., Hervorhebung BB. Vgl. auch den Auszug aus dem handschriftlichen Originalbrief auf dem Einband dieser Arbeit. 65 Eintrag von Oktober 1946. Châteaubriant, Alphonse de: Cahiers 1906-1951, S. 304. 66 Eintrag vom 12. Februar 1945 in Untergrainau in Ebd.: S. 230, Hervorhebung BB. Sérant gehört zu denjenigen, die Châteaubriant genau mit diesem Argument entschuldigen, der Romancier habe seine Fehleinschätzung des Nationalsozialismus eingesehen. Sérant, Paul: Le romantisme fasciste: Etude sur l’œuvre politique de quelques écrivains français. Paris: Fasquelle, 1959, S. 12. <?page no="108"?> 108 Zunächst entrüstet, dann getragen von einer „indulgence générale“, nimmt er seine Verurteilung zum Tode in Abwesenheit (25. Oktober 1948) zur Kenntnis. 67 Denn, dass er eines Tages mit reinem Gewissen vor Gott als obersten Richter treten könne, unterstreicht er in seinem Dernier mot mit den Worten: „[C]e qu’on me reprochera le plus, mes égarements politiques, c’est ce que je me reproche le moins.“ 68 Umso mehr erstaunt Châteaubriants plötzlicher und radikaler Sinneswandel im Januar 1949, wenn er sich von seiner Unterstützung der LVF distanziert, die Kollaboration nunmehr als Ausbeutung Frankreichs verurteilt und vorgibt, unermüdlich gegen die deutsche Inkompetenz und Schwerfälligkeit angekämpft zu haben: Que de crapauds ai-je dû ainsi avaler à l’ambassade du Reich! Quelle lutte ne m’a-t-il pas fallu mener contre certains de ses diplomates totalement ignorants de ce qui faisait la France, contre leur incompétence tenace, contre leurs balourdises qui ne cessaient de gêner mon action! 69 Pour nous, la collaboration tenait dans la compréhension réciproque des deux peuples, leur compénétration mutuelle, l’étude de leurs deux cultures, leur entente économique, et non le pillage dont la France était victime de la part de l’Allemagne. 70 Vergessen scheint das gerade diesbezüglich hymnische Lob auf den ehrenhaften rechtsrheinischen Nachbarn und die strenge Vaterlandsschelte: Ah! certes, si cette Allemagne hitlérienne ressuscitée eût entretenu contre la France des sentiments hostiles et des projets de mort, je me serais détourné d’elle. Mais cette Allemagne-là honorait la France, mais cette Allemagne-là lui faisait une place dans le concert des peuples, mais cette Allemagne-là la conviait de tous ces chants à se joindre à elle dans cette œuvre unique. Elle offrait son salut à la France; et la France lui accordait à peine un regard! 67 S. Eintrag vom 7. 11. 1948. Châteaubriant, Alphonse de: Cahiers 1906-1951, S. 321. Ein Tag nach Verkündigung des Todesurteils durch das Tribunal de la Seine verurteilte der Franc-Tireur seinerseits, unter zynischer Anspielung auf Werk und Zeitung des Romanciers, „Herr[n] Alphonse von Chateaubriant“, der keinen Wert darauf lege, „à recevoir une gerbe de balles et préfère avoir fait fusiller les autres“. S. N.N.: „La Mort (par contumace) à Alphonse de Châteaubriant caché quelque part en France“, S. 4, Kursivierung im Text. 68 Sorella: Histoire d’une amitié, S. 300f. 69 Châteaubriant spielt hier mit großer Wahrscheinlichkeit auf seinen Kontrahenten Eitel-Friedrich Moellhausen (1913-1988) an, Wissenschaftlicher Hilfsarbeiter in der Deutschen Botschaft in Paris, dem die Leitung von La Gerbe oblag. Seinetwegen ließ Châteaubriant das Direktorenamt sechs Monate lang (bis Juni 1941) ruhen. Vgl. Maugendre, Louis-Alphonse: Alphonse de Châteaubriant, S. 250ff.; „Eitel-Friedrich Moellhausen“. In: Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871-1945. Hrsg. vom Auswärtigen Amt/ Historischer Dienst. Bd. 3: L-R. Bearb. von Gerhard Keiper und Martin Kröger. Paderborn u.a.: Schöningh, 2008, S. 273-274. 70 Châteaubriant, Alphonse de: Procès posthume d’un visionnaire, S. 23, Hervorhebung BB. <?page no="109"?> 109 Quel drame dans ce dédain! quel drame de l’aveuglement! 71 Châteaubriant, der zur Tarnung die Identität eines verstorbenen jüdischen Arztes namens Alfred Wolf aus Kitzbühel annimmt, stirbt dort am 2. Mai 1951. 72 3.2 Versuchte Rehabilitierung Châteaubriants jüngster Sohn Robert (1906-1992) wurde zum Exponenten einer Rehabilitierungsbewegung, deren Anliegen es war, Châteaubriants Engagement für NS-Deutschland zugunsten der spirituellen Entwicklung des Romanciers in den Hintergrund zu rücken und diesen als religiösen Denker und Mystiker darzustellen. 73 Teil dieser Strategie war die regelmäßige Neuauflage der preisgekrönten Romane Monsieur des Lourdines und La Brière in den fünfziger und sechziger Jahren durch den Verlag Grasset, zu dessen Mitarbeitern Robert de Châteaubriant zählte. 74 Dieser edierte ferner 71 Ders.: „Raisons d’hier et d’aujourd’hui“. 72 Saint-Loup berichtet, wie er 1956 gerührt vor Châteaubriants Grab in Kitzbühel stand, hoffend, dieser würde einst in Saint-Malo an der Seite François-René de Chateaubriands (1768-1848) seine letzte Ruhestätte finden, da er „avant tout un mystique préoccupé, comme l’autre Chateaubriand, par ‚le génie du christianisme‘“ gewesen sei. Saint-Loup [Augier, Marc]: Alphonse de Châteaubriant, entre Jésus et Hitler, S. 51, 82, Hervorhebung BB. Zu Saint-Loup s. auch Kp. 3.3.3. Zu Châteaubriants falscher Identität s. Chadwick, Kay: Alphonse de Châteaubriant: Catholic Collaborator, S. 241. 73 Dies unterstrichen die Publikationen von Manuskripten Châteaubriants, wie z.B. Lettre à la chrétienté mourante (1951), Fragments d’une confession (1953), Itinerarium ad lumen divinum (1955). Robert de Châteaubriant fungierte ebenfalls als Herausgeber von Des saisons et des jours 1906-1924 (1951), L’un et l’autre [I]: Alphonse de Châteaubriant et Romain Rolland: Choix de lettres 1906-1914 (1983, gemeinsam mit Marie Rolland) sowie des Procès posthume d’un visionnaire (1987). Die Bemühungen um Rehabilitierung und Stilisierung Châteaubriants zum Mystiker und Propheten brechen auch nach dem Tod des Sohnes nicht ab: Benoît Mancheron lobt in seinem Vorwort zu einer Kompilation „harmloser“ Zitate aus verschiedenen Werken des „comte Alphonse de Brédenbec de Châteaubriant [qui] est l’archétype guérandais du gentilhomme campagnard“ sowie aus dem Procès posthume d’un visionnaire Robert de Châteaubriants Herausgebertätigkeit. Dank des Sohnes würde der skeptische Leser von der „acuité prophétique de l’écrivain parvenu, dans l’exil des monts tyroliens, à la sagesse d’un preux chevalier des temps modernes“ endgültig überzeugt. S. Châteaubriant, Alphonse de: Chroniques de l’âme. Edition établie par Benoît Mancheron et Paul Gothal. Paris: Perrin & Perrin, 1999 (La petite bibliothèque; 3), S. 5, 10, Hervorhebung BB. Vgl. die unter der Überschrift „Exposing negationism: a reworked past“ unternommene Unterscheidung von fünf Rehabilitierungsphasen in Chadwick, Kay: Alphonse de Châteaubriant: Catholic Collaborator, S. 243-259. 74 Ebd.: S. 244; Robert de Châteaubriant arbeitete ab 1934 als Lektor für den Verlag Grasset, bevor er Bernard Grassets Privatsekretär und „homme de compagnie“ wur- <?page no="110"?> 110 die Lettres des années de guerre 1906-1914 (1952), die den Verfasser der Grande Guerre zuordnen und von dessen Aktivitäten während des Zweiten Weltkriegs ablenken, sowie seine Cahiers: 1906-1951 (1955), die laut Hofer „ein beklemmendes Zeugnis“ für die „verworrene, mystisch verbrämte Postkollaboration“ ablegen. 75 Gravierende Eingriffe und eine revisionistische Tendenz belegt Le procès posthume d’un visionnaire, den Robert de Châteaubriant 1987 unter dem Pseudonym Robert Canzillon 76 herausgab: Hierbei handelt es sich um eine eklektische Zusammenstellung von Auszügen aus diversen Schriften Châteaubriants sowie insbesondere bereinigten Passagen aus La Gerbe des Forces. 77 Er nennt den Procès posthume d’un visionnaire einen „cri d’alarme“, mit dem sich sein Vater angesichts des zunehmenden Zerfalls der moralischen Werte an die Seinen gewandt habe. 78 Der bretonische Autor erscheint darin „as a lucid political historian, able both to admit that National-Socialism was not after all the way forward for Europe, and to criticise the Germans for their actions during the Second World War.” 79 Eine ähnliche Intention „[to] sanitise[] his father’s life“ ist L’Acte intérieur ou le sens intime du divin (1992), einer Kompilation vornehmlich von Tagebucheinträgen, zu entnehmen, die es dem Leser de. Bothorel, Jean: Bernard Grasset: Vie et passions d’un éditeur. Paris: Ed. Grasset & Fasquelle, 1989, S. 330. 75 S. Hofer, Hermann: Die Literatur der Kollaboration, S. 169. Vgl. Knolls Hinweis auf die gezielt vorgenommenen Auslassungen in den Cahiers, was ein Vergleich mit dem (seinerseits jedoch augenscheinlich auch „ausgedünnten“) Briefwechsel zwischen Romain Rolland und Alphonse de Châteaubriant in den Jahren 1914 bis 1944 offenlegt. Knoll, Michael: Der französische Faschismus, S. 13f. 76 Unter diesem Decknamen, zu dem er sich in L’Acte Intérieur bekennt, hatte er noch zu Lebzeiten seines Vaters das Vorwort zu Ecrits de l’autre rive (1950) verfasst. Châteaubriant, Robert de: Avant-Propos. In: Châteaubriant, Alphonse de: L’Acte Intérieur ou le sens intime du divin, S. 7-9, hier S. 9. 77 Chadwick zeigt die beträchtlichen Veränderungen auf, die Robert de Châteaubriant am Originaltext von La Gerbe des Forces vornahm, aus dem er Hitler richtiggehend „löschte“ und den Kern des Kapitels L’Allemagne et le Crucifix, die religiöse Rechtfertigung des Rassismus, aussparte. S. Chadwick, Kay: „Reviewing the evidence“, S. 16. S. auch Dies.: Alphonse de Châteaubriant: Catholic Collaborator, S. 252-256. 78 Canzillon, Robert: Avant-Propos. In: Châteaubriant, Alphonse de: Procès posthume d’un visionnaire, S. 7-18, hier S. 13. Vor ihm hatte bereits Maugendre La Gerbe des Forces als „un cri d’alerte“ qualifiziert. S. Maugendre, Louis-Alphonse: Alphonse de Châteaubriant, S. 214. 79 Chadwick, Kay: „Reviewing the evidence“, S. 21. Chadwicks Befund untermauern Passagen, die vorgeben, Châteaubriant habe von Anfang an die Schwächen Hitler- Deutschlands durchschaut: „‚Hélas, Il n’y avait pas que la force! Il y avait toutes les incompréhensions qui allaient en faire des erreurs irrémédiables; [...] tous les fanatismes qui allaient fausser l’âme; toutes les explosions de violence qui allaient creuser un abîme’“. Canzillon, Robert: Avant-Propos. In: Châteaubriant, Alphonse de: Procès posthume d’un visionnaire, S. 17. S. auch: „Je le voyais clairement parce que j’étais habité d’un développement spirituel, d’essence religieuse“. Châteaubriant, Alphonse de: Procès posthume d’un visionnaire, S. 28f. <?page no="111"?> 111 erlauben solle, „de mieux percevoir la signification qu’Alphonse de Châteaubriant attache à la vie en fonction de ses incarnations infinies de l’idée divine“. 80 Die einzige Anspielung auf La Gerbe des Forces verfälscht die Tatsachen, wenn Robert de Châteaubriant einen Vermerk seines Vaters von November 1946 zitiert, dem zufolge Châteaubriants Hitler-Hymne der deutsch-französischen Annäherung so habe dienen wollen wie Romain Rollands Jean-Christophe-Zyklus (1904-1912) Jahrzehnte zuvor: La guerre de 1914 avait déclaré la faillite de Jean-Christophe et blessé au plus profond le cœur de Rolland qui avait gardé l’espoir que son livre servirait à rapprocher les deux peuples. N’ai-je pas eu le même espoir en 1936? 81 Châteaubriants Lebensgefährtin Gabrielle Castelot, Alice Epting-Kullmann zufolge „eine[] überaus kluge[] und sympathische[] Frau, die ihren Freund hoch verehrte und liebte“, gab 1962 unter dem suggestiven Künstlernamen Sorella u.a. unveröffentlichte Briefe aus der Korrespondenz Châteaubriants mit Romain Rolland heraus (Histoire d’une amitié). 82 Wunsch der Verfasserin ist es, ihren Lebensgefährten in die Nähe seines pazifistischen Freundes zu rücken, das gemeinsame Schicksal der Freunde als „[a]pôtres de leurs 80 Chadwick, Kay: Alphonse de Châteaubriant: Catholic Collaborator, S. 257; Châteaubriant, Robert de: Avant-propos. In: Châteaubriant, Alphonse de: L’Acte Intérieur ou le sens intime du divin, S. 9. 81 Châteaubriant, Alphonse de: L’Acte Intérieur ou le sens intime du divin, S. 227, Kursivierung im Text. Diese bewusst ausgewählte Passage ruft sicherlich nicht zufällig die von Paulhan im Kontext seiner Auseinandersetzung mit dem CNE um die Rechtmäßigkeit der Epuration gezogene Parallele zwischen Rolland und Châteaubriant, „le premier tirant sur théosophe, et le second sur l’hermétiste […], chérissant tous deux l’âme germanique“ und die kontrovers diskutierte Behauptung wach, Rolland habe 1914 mit Au-dessus de la mêlée ebenso wie Châteaubriant „dès 1936, - à plus grave raison dès 1939 - la cause de la France“ verraten. Paulhan, Jean: Romain Rolland, ou les raisons d’un faux. In: Ders.: De la paille et du grain, S. 135-147, Zitate der Reihe nach S. 137, 139, Kursivierung im Text. Darauf bezugnehmend unterschied Thérive zwischen dem Verrat an der „patrie charnelle“ (Rolland) und an der „patrie idéologique“ (Châteaubriant). Thérive, André: Essai sur les trahisons. Préface de Raymond Aron. Paris: Calmann-Lévy, 1951, S. 162ff. Zur Kritik an Paulhans „Sympathie“ für Châteaubriant s. Golsan, Richard J.: Alphonse de Châteaubriant: Apocalypse, Nazism, and Millenarianism, S. 54. 82 Epting-Kullmann, Alice: Pariser Begegnungen, S. 62. In ihr Werk fügt Castelot Passagen aus einem Erinnerungsbuch ein, an dem der desillusionierte Schriftsteller in seinem Tiroler „Exil“ geschrieben habe. Sorella: Histoire d’une amitié, z.B. S. 14f. Robert de Châteaubriant zufolge habe sein Vater dieses Buchvorhaben aus Sorge vor mangelndem Interesse aufgegeben, zudem habe er sich von Rollands Freunden wie ein „Pestkranker“ gemieden gefühlt. Diese Begründung passt zu Robert de Châteaubriants „Opferdiskurs“. Vgl. Robert de Chateaubriants entsprechende Anmerkungen („Alphonse de Châteaubriant: Notes concernant Romain Rolland écrites en exil à Kitzbühel“) in L’un et l’autre II: Romain Rolland et Alphonse de Châteaubriant, S. 435f. (Nr. 285). <?page no="112"?> 112 convictions différentes, mais semblables quant au fond“ aufzuzeigen, um zugleich das ungleich tragischere Los des unrechtmäßig Verurteilten zu betonen: La première guerre mondiale a fait de Rolland un exilé volontaire, mis au ban de presque toute l’opinion de son pays. La seconde guerre condamna Châteaubriant, l’obligea à vivre en exil. Sans nom, sans famille, plus dur fut le drame. Chacun d’eux tout le long de sa vie marcha suivant un itinéraire vers plus de clarté: Itinerarium ad lumen divinum. 83 Zugleich erinnert sie daran, dass Châteaubriant „dreyfusard“ sowie nie Mitglied einer Partei gewesen sei und ihn der Erste Weltkrieg zutiefst geprägt habe. 84 Von den politischen Ereignissen in die Abgeschiedenheit der Tiroler Berge „vertrieben“, sei er, „un pèlerin vers Dieu, [] un poète à la quête du Graal“, in seinem Glauben an Gott aufgegangen. 85 Castelot ist es wichtig, Châteaubriant als gläubigen Menschen darzustellen, der sich in Hitler-Deutschland getäuscht und schockiert auf die nationalsozialistischen Verbrechen reagiert habe: „Il avait cru en Allemagne. Il s’était trompé. Il avait été trompé.“ Wenige Zeilen später heißt es: „Il pleurait les crimes allemands. Lorsqu’il apprit à Kitzbühel, ce qu’il avait ignoré jusqu’alors, ce fut un effondrement.“ 86 Bei Castelot wird Châteaubriant einer „‚des justes qui paraissent injustes’.“ 87 Von dem bretonischen Priester und Lehrer an einer Pariser Privatschule Louis-Alphonse Maugendre (1922-1999) stammt die erste Châteaubriant- Biografie (Alphonse de Châteaubriant 1877-1951: dossier littéraire et politique, 1977), die wiederholt als wissenschaftlich dilettantisch und politisch parteiische, verharmlosende Studie mit hagiografischem Ton kritisiert wurde. 88 Bewusst stellt der Biograf beispielsweise Châteaubriants Anti-Bolsche- 83 Castelot verweist explizit auf Châteaubriants postum erschienenes Werk Itinerarium ad lumen divinum (1955). Sorella: Histoire d’une amité, S. 304, Typografie gemäß Textvorlage, Hervorhebung BB. 84 Ebd.: S. 75, 286. 85 Ebd.: S. 306. Sie zitiert Châteaubriant mit den Worten (2. 2. 1946): „[J]‘ai trouvé, avec la tranquillité du corps assurée, la paix de la pensée, le salut de l’éloignement de l’esprit humain et l’approfondissement de la vérité divine.“ Ebd.: S. 103. 86 Ebd.: S. 301f. 87 Zitat Châteaubriants, das ohne Datums- und Quellenangabe wiedergegeben wird. Ebd.: S. 296. 88 Vgl. u.a. Unteutsch, Barbara: Vom Sohlbergkreis bis zur Gruppe Collaboration, S. 16; Hofer, Hermann: Die faschistoide Literatur, S. 143. Chadwick, Kay: Alphonse de Châteaubriant: Catholic Collaborator, S. 245ff.; Chadwick unterzieht auch den 1981 gegründeten Club Alphonse de Châteaubriant und dessen Verbindung zur Association des amis de Robert Brasillach einer gründlichen Analyse, S. 247ff. Ausf. zu Maugendre und dessen Sympathie für Châteaubriants politische Einstellung s. Knoll, Michael: Der französische Faschismus, S. 16ff., 27. <?page no="113"?> 113 wismus in den Vordergrund, der, wie Zeev Sternhell 89 betont, seit dem Kalten Krieg der Rehabilitierung zahlreicher Kollaborateure diente; dem Engagement des Schriftstellers für den Nationalsozialismus ebenso wie dessen Rassismus schenkt er hingegen wenig Beachtung. Maugendres tendenziöse Haltung ist nicht nur seiner Bewunderung für Châteaubriants „inoubliables yeux bleus de Celte“ 90 zu entnehmen. Seine Intention offenbart sich auch, wenn er den französisch-schweizerischen Kulturphilosophen, Pazifisten und überzeugten Europäer Denis de Rougemont 91 (1906- 1985) als Gewährsmann zu Hilfe ruft, der im Falle Châteaubriants befunden habe, „‚[qu]’il ne s’agissait nullement d’une trahison, mais d’une méconnaissance fondamentale de la réalité hitlérienne, accompagnée de fantasmes romantiques‘.“ 92 In einem Interview mit Rivarol beantwortete Maugendre die Frage, was er persönlich vom politischen Engagement des Schriftstellers halte, mit einem Zitat aus Châteaubriants Testament: ‚[J]’ai agi avec la plus totale sincérité, en vue de ce que j’estimais être les intérêts de mon pays […]. Tout ce que l’on pourra prétendre ou insinuer pour mettre à ma charge des actions condamnées par le code de l’honneur, est le résultat flagrant de l’ignorance et de la crédulité des hommes politiques ou des passions personnelles.’ Voilà, je pense, la meilleure réponse. 93 Maugendre, der sein Werk als „le fruit d’un travail scrupuleux et dégagé de toute forme de parti pris“ 94 deklariert, trat zudem als Herausgeber des zweiten Bandes des Briefwechsels zwischen Châteaubriant und Rolland in Erscheinung (L’un et l’autre II: Alphonse de Châteaubriant et Romain Rolland. Choix de lettres 1914-1944, 1996), wobei auffälligerweise gerade der Zeitraum 1936-1944 mit wenigen Briefen dokumentiert ist, in denen darüber hinaus kaum Anspielungen auf das politische Geschehen zu finden sind. 95 89 Sternhell, Zeev: Préface de la nouvelle édition. In: Ders.: Ni droite, ni gauche, S. 23f. Ebenso: Chadwick, Kay: „Alphonse de Châteaubriant, Collaborator on Retrial“, S. 1076f. 90 Maugendre, Louis-Alphonse: Alphonse de Châteaubriant, S. 176. 91 Rougemont, der in den Jahren 1935/ 36 Französischlektor in Frankfurt a. M. war, berichtete in seinem 1938 erschienenen Journal d’Allemagne (Journal aus Deutschland 1935-1936, 1998) vom Alltag in Hitler-Deutschland und der Verführungskraft des nationalsozialistischen Kultes. Auszüge finden sich in Lubrich, Oliver: Reisen ins Reich 1933 bis 1945, S. 104-119. 92 Zit. in Maugendre, Louis-Alphonse: Alphonse de Châteaubriant, S. 167, Kursivierung im Text, Hervorhebung BB. 93 „Qui était Alphonse de Châteaubriant? un entretien avec L. A. Maugendre“. In: Rivarol, 31. 3. 1977, S. 10. Hier finden sich auch Auskünfte zu Maugendres Biografie. 94 Ebd., Hervorhebung BB. 95 Bereits für den ersten Band (L’un et l’autre [I]: Alphonse de Châteaubriant et Romain Rolland. Choix de lettres 1906-1914), den Robert de Châteaubriant gemeinsam mit Marie Romain Rolland zusammenstellte, verfasste Maugendre das Vorwort. Zur Kritik an der geringen Dokumentation der brisanten Vorkriegs- und Kriegsjahre vgl. Chadwick, Kay: Alphonse de Châteaubriant: Catholic Collaborator, S. 258f. <?page no="114"?> 114 Dafür stilisiert Maugendre Châteaubriant zum hilflosen Opfer einer Hetzjagd, auf den die Spürhunde der Epuration angesetzt gewesen seien. 96 Selbst in jüngeren Publikationen tauchen verharmlosende Charakterisierungen Châteaubriants und verfälschende Interpretationen von La Gerbe des Forces auf. So behauptet Franz W. Seidler in seinem Nachschlagewerk Die Kollaboration: 1939-1945 (1995), Châteaubriant hätte „[o]hne der Massensuggestion des nationalsozialistischen Zeremoniells zu erliegen, und ohne ideologisches Beiwerk [...] die Lebenswirklichkeit der kleinen Leute in Deutschland“ geschildert. 97 Die letzte Neuauflage von La Gerbe des Forces datiert von 2005; die von den Editions de l’homme libre herausgegebene Edition wird eingeführt von der 1937 in den Deutsch-Französischen Monatsheften erschienenen Lobeshymne aus der Feder André Castelots (1911-2004), seines Zeichens Sohn von Châteaubriants Lebensgefährtin, Privatsekretär des Autors und zuständig für die Kulturseite von La Gerbe, was Rückschlüsse auf die Intention des Verlegers zulässt. 98 3.3 La Gerbe des Forces: Nouvelle Allemagne Eine Liebe zu Deutschland führte den Franzosen und Schriftsteller A l p h o n s e d e C h â t e a u b r i a n t mit 60 Jahren nach Deutschland, um dieses Land gründlich kennenzulernen in sechs reichen Monaten der stillen Beobachtung aller Bevölkerungskreise und Schichten. Er sah an den Quellen das wahre Deutschland der Bauern und Arbeiter, der Wirtschafter und Gelehrten, er sah Werkende bei ihrer Arbeit und belauschte deren Rhythmus und es wuchs in ihm ein Bild von diesem wirklichen Deutschland von heute, das seine Landsleute so verkennen. Und offen sprach der Romancier in vielen Städten des französischen Westens, um zu klären und Brücken des Verstehens zu bauen. 99 96 „Mais contraint chaque jour, sous un faux nom, de mener une vie de banni recherché par tous les limiers de l’époque [...].“ Maugendre, Louis-Alphonse: Préface. In: L’un et l’autre II: Romain Rolland et Alphonse de Châteaubriant, S. 9-25, hier S. 24, Kursivierung im Text, Hervorhebung BB. 97 „Alphonse de Châteaubriant“. In: Seidler, Franz W.: Die Kollaboration: 1939-1945 München; Berlin: Herbig, 1995, S. 131-133, hier S. 131. 98 S. [Castelot, André]: Introduction. In: Châteaubriant, Alphonse de: La Gerbe des Forces: Nouvelle Allemagne. [Nouvelle éd.]. Paris: Editions de l’homme libre, 2005, S. 7-13. Zu André Castelot s. Maugendre, Louis-Alphonse: Alphonse de Châteaubriant, S. 174; ebenso Knoll, Michael: Der französische Faschismus, S. 101. S. auch Kp. 3.3.3. 99 Auszug aus „Der Alemanne“ vom 11. 2. 1937 zit. unter der Überschrift „Die Wahrheit suchen“. In: DFMh 4. Jg. (1937), S. 78, Sperrung im Text. <?page no="115"?> 115 3.3.1 Aufbau Mit der Wahl des Titels La Gerbe des Forces 100 für seinen Reisebericht und wenige Jahre später von La Gerbe für die Wochenzeitung, nunmehr unter zwar sichtbarem Verzicht des nichtsdestoweniger weiterhin mitschwingenden (energischen) Genitivattributs, positioniert sich Châteaubriant unmissverständlich: Zu den Synonymen von gerbe 101 , ahd. garba (ein Bund Ähren) zählt faisceau, lat. fascis, was das Sinnbild von Benito Mussolinis (1883-1945) faschistischer Bewegung in Gestalt eines Rutenbündels mit Beil evoziert. 102 Bei seinem Stammverleger Bernard Grasset 103 (1881-1955) erscheint 1937 Châteaubriants politischer Reisebericht; unter der Überschrift Nouvelle 100 Vorliegende Untersuchung basiert auf Châteaubriant, Alphonse de: La Gerbe des Forces: Nouvelle Allemagne. 16 ème édition. Paris: Grasset, 1937, folgend abgekürzt mit GdF und Seitenzahl. Die Wiedergabe orientiert sich am originalen Wortlaut Châteaubriants, der bisweilen Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache hatte. Alle künftig durch Fettdruck herausgestellten Hervorhebungen von Zitaten aus La Gerbe des Forces stammen von der Verfasserin und werden aus Gründen der Ökonomie und der Lesbarkeit nicht eigens markiert. 101 Vgl. „Faisceau“ und „Gerbe“ In: Dictionnaire culturel en langue française. Sous la direction d’Alain Rey. Tome II: Détonant-Légumineux. Paris: Dictionnaires Le Robert - Sejer, 2005, S. 887 (Faisceau) und 1338 (Gerbe). 102 Hierauf spielt explizit ein „Gerbe ou Faisceau? “ überschriebener und kurz nach Erscheinen von La Gerbe an Châteaubriant adressierter Brief an, den dieser nicht von ungefähr auf der Titelseite von La Gerbe platziert: „Je salue dans votre ‚Gerbe’ à la fois le symbole, le signal et le moyen de cette union. Elle n’est encore qu’un assemblage de tiges et d’épis. Peut-être lui faudra-t-il bientôt se changer en autre chose. En quelque chose de plus austère et de plus dur. En un faisceau.“ Albert, Charles: „Gerbe ou Faisceau? “ In: La Gerbe, 15. 8. 1940, S. 1, Hervorhebung BB. 103 Bernard Grasset hatte bereits Monsieur des Lourdines und La Brière herausgegeben. 1936 veröffentlichte er Hitlers Principes d’action, von denen er sich jedoch im vorangestellten Avertissement distanzierte: „‚[C]ette publication n’entraîne aucune adhésion, quelle qu’elle soit, de la part de l’éditeur français aux principes qui y sont exprimés.’” In den dreißiger Jahren erschienen bei Grasset zudem in mehreren Auflagen die antisemitischen Protocoles des sages de Sion; 1930 edierte er Friedrich Sieburgs Dieu est-il français, das er in der Neuauflage von 1939 als „‚[é]loge de la France par un nazi’“ rühmte. Gleichzeitig verlegte er aber auch Werke verbotener deutscher Autoren wie Siegfried Kracauer, Thomas Mann, Stefan Zweig, was die Schlussfolgerung nahe legt, dass Grassets „Interesse für deutsche Autoren […] teils auf Unverantwortlichkeit, teils auf kommerzieller Opportunität“ gründete. Boillat, Gabriel: Les éditions Bernard Grasset 1930-1939. In: Bock, Hans Manfred; Meyer-Kalkus, Reinhart; Trebitsch, Michel (Hgg.): Entre Locarno et Vichy: les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930, Bd. 2, S. 601-630, Zitate der Reihe nach S. 613, 609, 621, Kursivierung im Text. Gegenüber dem Direktor von La Gerbe wird Bernard Grasset am 31. 7. 1940 betonen: „‚Vous savez, mon cher Châteaubriant, que je suis un Français authentique, sans nul de ces alliages malsains que l’Allemagne condamne à juste titre.’“ Zudem erachtet er es als notwendig zu unterstreichen, dass seine Familie „judenfrei“ sei: „‚La chose est, peut-être, utile à préciser’.“ Zit. in Bothorel, Jean: Bernard Grasset, S. 338. <?page no="116"?> 116 Allemagne publizieren die Deutsch-Französischen Monatshefte Auszüge. 104 Ein Jahr später gibt der Karlsruher Braun-Verlag eine „[b]erechtigte Auswahl aus dem französischen Originalwerk“, angefertigt von „Fräulein Dr. Adolf“ 105 (GK, o.S.), unter dem Titel Geballte Kraft: Ein französischer Dichter erlebt das neue Deutschland heraus: Versehen mit einem Geleitwort von Hans Friedrich Blunck (1888-1961), Altpräsident der Reichsschrifttumskammer, sowie einer Ansprache Châteaubriants an die deutschen Leser. 106 Zuvor war ein sechsseitiger Vorabdruck im Jahrbuch der Stadt Freiburg Alemannenland: Ein Buch von Volkstum und Sendung und in der Europäischen Revue erschienen. 107 Drei Jahre vor der Besatzung Frankreichs antizipiert Châteaubriant die Kollaboration mit dem, so der französische Titel, „neuen“ und „kraftvollen“ Deutschland, dessen Lobpreis er anstimmt. Der Nationalsozialismus ist für den von der Dritten Republik und der Gottlosigkeit Frankreichs enttäuschten Schriftsteller Ersatzreligion, Hitler der neue Messias und er 104 Châteaubriant, Alphonse de: „Nouvelle Allemagne“. In: DFMh 4. Jg. (1937), S. 81-90. Die Deutsch-Französischen Monatshefte/ Cahiers Franco-Allemands (1934/ 35-1944), hervorgegangen aus den von Abetz herausgegebenen Sohlbergkreis-Heften, wurden in Frankreich über die Gruppe Collaboration und das Deutsche Institut vertrieben. Michels, Eckard: Das Deutsche Institut in Paris 1940-1944, S. 76f. Vgl. ausf. hierzu die Dissertation von Unteutsch, Barbara: Vom Sohlbergkreis zur Gruppe Collaboration. 105 So die bibliografischen Angaben. Hinter „Fräulein Dr. Adolf“ verbirgt sich Helene Adolf (1895-1998), eine österreichische Germanistin, die 1939 nach Amerika emigrierte und ab 1946 an der Pennsylvania State University lehrte. S. http: / / www.la.psu.edu/ CLA-Alumni/ centennial/ helen_adolf.shtml (letzter Zugriff am 11. 8. 2011). Geballte Kraft findet in der ihr zu Ehren erstellten Festschrift mit Publikationsverzeichnis trotz Berücksichtigung weiterer Übersetzungen keine Erwähnung. Pinto, Lucille B.: Publications of Helen Adolf. In: Dies.; Buehne, Sheema Z.; Hodge, James L. (Hgg.): Helen Adolf: Festschrift. New York: Frederick Ungar, 1968, S. 363-369. Die zweite, ebenfalls von 1938 datierende Auflage von Geballte Kraft führt zwei Übersetzerinnen an: Vor der diesmal als „Dr. Helene Adolf“ Bezeichneten steht der Name Gisela Bran-Brettschneiders, Ehefrau des bereits erwähnten Hauptschriftleiters der Deutsch-Französischen Monatshefte Dr. Fritz Bran. Unteutsch weist darauf hin, dass das Ehepaar Bran ab 1929 bzw. 1933 der NSDAP angehörte. S. Unteutsch, Barbara: Vom Sohlbergkreis zur Gruppe Collaboration, S. 154. In der besagten zweiten Auflage heißt das 7. Kapitel statt Lohengrin und die Bauern nur noch Die Bauern, das 16. Kapitel statt „Le Jour“ nunmehr Frankreich und Deutschland. Vgl. das Inhaltsverzeichnis in Châteaubriant, Alphonse de: Geballte Kraft: Ein französischer Dichter erlebt das neue Deutschland. 2. Aufl. Karlsruhe: Verlag G. Braun, 1938, o.S. 106 Ausf. hierzu s. Kp. 3.3.4. 107 Ders.: „Wie ich den Führer Adolf Hitler sehe“. In: Kerber, Franz (Hg.): Alemannenland: Ein Buch von Volkstum und Sendung. Stuttgart: Engelhorns Nachf., 1937 (Jahrbuch der Stadt Freiburg im Breisgau; 1), S. 164-170. Die Übersetzung besorgte Friedrich Greiner, Studienprofessor an der Universität Freiburg (Deutsch-französische Übersetzungsübungen, 1933). Ders.: „Im neuen Deutschland“. In: Europäische Revue 13. Jg. 1 (1937), S. 437-442, ohne Übersetzerangabe. <?page no="117"?> 117 selbst dessen ergebener Jünger bzw. Vasall 108 . Der „‚fellow traveller’“ 109 präsentiert die im Verlauf einer vierzehnmonatigen Reise 110 durch das nationalsozialistische Deutschland gewonnenen Eindrücke und Reflexionen in 21 Kapiteln unterschiedlicher Länge, die unabhängig nebeneinander stehen. 111 La Gerbe des Forces unterscheidet sich in Inhalt und Form grundlegend von Châteaubriants vorherigen fiktionalen Werken. Es handelt sich um einen propagandistischen, essayistischen 112 Reisebericht, in dem (pseudo)religiöse und politische Argumente vermengt werden, ein „geistigideologisch-politisch-weltanschauliche[r] Irrfahrtsbericht“ und eine Dithyrambe auf Hitler-Deutschland von fraglicher literarischer Qualität. 113 Kennzeichen dieses Exemplums einer „‚ideologischen Reiseliteratur’“ 114 ist die dialektische Verknüpfung des hymnischen Lobs auf den Nationalsozialismus mit der Kritik am gegenwärtigen Frankreich der Dritten Republik. Auffallend ist, dass sich Châteaubriant trotz bzw. vielmehr gerade wegen seines offensichtlichen Missionierungswillens für den Nationalsozialismus immer wieder bewusst zurücknimmt. Statt ausschließlich selbst für Hitler-Deutschland zu plädieren, verweist er zur Untermauerung seiner Argumentation einerseits auf diverse schriftliche französische und deutsche Quellen; andererseits zitiert er ausführlich aus (erfundenen oder tatsächlichen) Gesprächen, die er sowohl mit unbedeutenderen nationalsozialistischen Vertretern aus dem deutschen Volk als auch mit offiziellen Würdenträgern geführt habe, wodurch ein dichtes, intertextuelles Geflecht entsteht. Die dahinter stehende Intention ist offensichtlich: Die Wiedergabe der Meinungen anderer ermöglicht ihm eine Distanzierung gegenüber dem Gesagten und schützt ihn zugleich vor dem potentiellen Vorwurf der fran- 108 Sartres Vergleich des Verhältnisses des Kollaborateurs zum NS-Staat mit einem Lehnsverhältnis (Sartre, Jean-Paul: Qu’est-ce qu’un collaborateur? , S. 58) bestätigt Châteaubriant, wenn er schreibt: „Et j’ai la nostalgie du féod ... du lien de fidélité entre l’homme et l’homme ... seul lien social efficace et puissant! “ (GdF, S. 157). 109 So Zimmermann unter Anwendung des von Trotzki für den mit dem Kommunismus sympathisierenden bürgerlichen Intellektuellen geprägten Terminus auf profaschistische Intellektuelle. Zimmermann, Margarete: Die Literatur des französischen Faschismus, S. 188. 110 Zur Reisedauer äußert sich Châteaubriant in der Ansprache an die deutschen Leser, s. GK, S. XI. Zu den Stationen seiner Reise durch ganz Deutschland s. Maugendre, Louis-Alphonse: Alphonse de Châteaubriant, S. 194ff. 111 Die Kapitelüberschriften lauten in chronologischer Reihenfolge Forêt profonde, Lumière du Nord, Impasse, La foule et le rang, La main tendue, Dionysien et Apollinien, Hitler, Lohengrin et les paysans, La belle leçon de Bayreuth, Animus et Anima, Croire, La jeunesse, Riedrode, Leur organisations, L’Allemagne et le Crucifix, Sur la montagne, Le volcanisme, „Führerisme“ [sic], Les Ordensburgs [sic], Chevalier, Le „Jour“, Dernier mot. 112 Zum Essay vgl. die Ausführungen in Kp. 5.4.1. 113 So die Kritik Hofers und Zimmermanns. S. Hofer, Hermann: Die faschistoide Literatur, S. 131; Zimmermann, Margarete: Die Literatur des französischen Faschismus, S. 14. 114 Ebd.: 187f. <?page no="118"?> 118 zösischen Leserschaft, zugunsten des „Erbfeindes“ Verrat an seinem Land zu begehen. Die gezielte Auswahl der Beiträge ist indes auch als implizite Zustimmung zu diesen zu verstehen. 115 Châteaubriant präsentiert sich folglich weniger als explizit missionierender Prediger des Nationalsozialismus, sondern vielmehr als geschickter Taktiker und geschulter Rhetoriker, womit er subtiler das gleiche Ziel verfolgt: Frankreich für NS-Deutschland zu gewinnen. 3.3.2 Stil und Strategie Châteaubriants Botschaft ist für sein „Vaterland Frankreich“ (GK, S. XI) und präziser für das bedauernswerte französische Bürgertum bestimmt, das die weltgeschichtlichen Veränderungen nicht begreife und deswegen als personifizierte „[p]auvre âme surannée“ (GdF, S. 23f.) in der selbst verursachten Hölle schmore. Dieses Höllenszenario lässt nur eine Lösung zu: Rettung könne allein von einem göttlich beseelten „homme de génie“ (GdF, S. 24) kommen, womit er implizit auf den namentlich nicht erwähnten Hitler anspielt. Wissend um die Vorbehalte seiner Landsleute, welche diese in eine „impasse“, so die Überschrift des 3. Kapitels, manövriert haben, versucht er selbige, wohl durchdacht, zu entkräften, zuvörderst, dass Hitler kein Diktator sei und NS-Deutschland zu Recht den ungerechten Versailler Vertrag gebrochen habe, um Europa vor dem Einfall des Bolschewismus schützen zu können. Das Dritte Reich sei keineswegs mit dem Deutschen Kaiserreich zu vergleichen, und trotz der frankreichfeindlichen Passagen würde Mein Kampf keine Revanchegedanken nähren. 116 Die pronazistische Fürsprache des Romanciers gipfelt in der gravitätischen Gleichsetzung Deutschlands mit der verträumten, mit zahlreichen Insignien den Frieden versinnbildlichenden Frauengestalt der Pax 117 aus Ambrogio Lorenzettis Freskenzyklus (1337-40) im Sieneser Palazzo Pubblico: [C]e que je découvre en Allemagne, c’est […] une attitude me rappelant celle de cette femme de la fresque de Lorenzetti, à Sienne, cette rêveuse que l’on appelle la Paix, dont la tête est couronnée de laurier, dont la main tient un rameau d’olivier, dont le corps fécond, sous le nuage de sa tunique légère, annonce l’auguste gonflement des futures moissons humaines, et qui songe! (GdF, S. 25f., Kursivierung im Text) Symptomatisch für Châteaubriants selektive Wahrnehmung ist sein Schweigen darüber, dass diese zentrale Figur der Allegoria del buon governo 115 Hierzu auch Knoll, Michael: Der französische Faschismus, S. 69f. 116 Ebd.: S. 70f. 117 Im Unterschied zum französischen Originaltext ist der deutschen Übersetzung eine Abbildung von Lorenzettis Pax beigefügt (GK, zwischen den Seiten 8/ 9), was als propagandistische Maßnahme gewertet werden kann, auch visuell die „pazifistische“ Gesinnung NS-Deutschlands herauszustreichen. <?page no="119"?> 119 auf der abgelegten Rüstung ruht - „ein ambivalentes Motiv für die militärischen Machtmittel, die im Frieden zwar nicht benutzt werden, ihm aber als Basis dienen.“ 118 Pathos, ein sprachlich und inhaltlich redundanter sowie biblischliturgisch geprägter Stil sind unveräußerliche Kennzeichen von La Gerbe des Forces. Form und Inhalt bilden eine Einheit: In stilistischer Hinsicht spiegelt der Text die Stilisierung des Nationalsozialismus zum neuen Glauben bzw. zur neuen Religion wider. Zu Châteaubriants Strategie gehört, dass er angesichts der „Werbung“ für das nachbarliche Vorbild dennoch durch stetige Wiederholung des gemeinschaftsstiftenden „nous“ seine nationale Zugehörigkeit zu Frankreich betont, oftmals verbunden mit einer Anrufung Gottes, den er schmerzerfüllt um Erbarmen für seine Heimat bittet: „[Q]ue Dieu nous sauve la face! “ (GdF, S. 117), „Que Dieu et notre petite raison nous sauve de la morsure de cette dent et du poison que distillent ces effroyables gencives“ (GdF, S. 122). Theatralisch schildert er die Zerrissenheit zwischen Abneigung und Bewunderung für sein Vaterland, steht die Liebeserklärung des stolzen „Kultur-Rassisten“ für seine Heimat neben der dramatisierten Vision des selbstverschuldeten schrecklichen Endes Frankreichs: Ce que je défends pourtant, c’est Pierre de Ronsard, c’est Jean Racine, c’est Baudelaire... c’est tout ce qui est en vous, Madame, c’est le sang dont sont faites vos pensées, car je suis raciste pour la France, comme l’Allemagne nous demande de l’être. Et je vous aime, Madame, telle que vous êtes là... Et je suis épouvanté devant l’affreuse fin que vous êtes en train de filer sur la quenouille de verre! (GdF, S. 155f., Kursivierung im Text) Er, der „voyageur inspiré“ (GdF, S. 313) und Klarsichtige, wie es die viermalige, sich bis in die Gegenwart steigernde Wiederholung „Comme cela était tragiquement clair“, „Et comme cela était clair“, „Comme cela était clair... Comme cela est clair pour moi“ 119 (GdF, S. 337) darlegt, wendet sich einerseits Empathie heischend an den französischen Leser, dem er ausgiebig schildert, wie sehr er wegen „seines“ Frankreich leide: „Douleur qui ne concernait pas ma personne, mais concernait le sort que le destin semblait 118 Kaulbach, Hans-Martin: „Friede“. In: Fleckner, Uwe; Warnke, Martin; Ziegler, Hendrik (Hgg.): Handbuch der politischen Ikonographie. Bd. 1: Abdankung bis Huldigung. München: C. H. Beck, 2011, S. 381-387, hier S. 382. 119 Diese Passage findet sich im letzten Kapitel ebenso wie in Châteaubriant, Alphonse de: „Devant l’âme véhémente des foules de Nuremberg“. In: Le Jour, 26. 9. 1936, S. 2. Bis auf die feierliche Einleitung, dass er die folgenden Seiten in E. T. A. Hoffmanns Zimmer auf der Altenburg in Bamberg verfasste, entspricht das Schlusskapitel drei Artikeln, die Châteaubriant noch während seines Deutschlandaufenthalts in Le Jour (so auch die Kapitelüberschrift) veröffentlichte (s. auch GdF, S. 318). Die Titel der Folgeartikel lauten J’ai parlé avec le grand sapin que Wagner, le premier, écouta (27. 9. 1936) sowie Entre sa crainte de la Russie et sa haine de l’Allemagne la France va-t-elle rester longtemps immobile et paralysée? (30. 9. 1936). <?page no="120"?> 120 vouloir réserver à mon pays.“ (GdF, S. 318), „Mon cœur souffre. Et si j’osais dire pourquoi, la France, la chère France, toute l’incomparable douce France! “ (GdF, S. 322), „[M]on cœur gémissait au dedans à la pensée de l’immense confusion qui s’est installée dans l’esprit de la France.“ (GdF, S. 334). Andererseits mimt er den Ungehaltenen, wenn er die französische Verbohrtheit kritisiert; nicht das neue Deutschland wolle Frankreich vernichten, vielmehr sei Frankreich sich selbst der größte Feind: Et, de grâce, n’écœurez pas mon âme avec votre éternelle mentalité de factionnaire dans sa guérite; il y a une autre œuvre qui se fait là que celle d’une nation plaçant ses buts dans la destruction de la France! La destruction de la France n’est pas un but! Aujourd’hui la France a plus à craindre d’elle-même que de l’Allemagne! (GdF, S. 282) Doch Châteaubriant will seine Freunde und Brüder (GdF, S. 353) nicht nur vor Unheil warnen („Je vous le communique tel quel, simplement, à cette heure lourdement historique où la cloche française fait entendre son tocsin d’anxiété dans le brouillard.“, GdF, S. 339), sondern schlüpft auch in die Rolle des besorgten Franzosen, der stellvertretend für sein Land die französischen Einwände dem Nationalsozialismus gegenüber artikuliert, jedoch mit dem Ziel, sie um so wirkungsvoller entkräften zu können. 120 Aber genau diese Parteinahme für Hitler-Deutschland negiert er, wenn er behauptet, sein Auftrag bestehe darin, Zeugnis abzulegen: „Je suis ici témoin - et je viens déposer à la barre.“ (GdF, S. 157). Sich der Brisanz seines Plädoyers bewusst, das trotz gegenteiliger Beteuerung gerade keine schlichte Zeugenaussage ist, betont er unablässig, dass er reinen Gewissens sei und ihn allein die Liebe zu und Sorge um Frankreich zur Niederschrift seiner Gedanken veranlasst habe: Qu’est-ce qu’est l’Allemagne dans mon cœur de Français, dans mon cœur vide de toute convoitise, de tout intérêt, de tout préjugé, de toute parole donnée, de toute compromission acceptée, de tout plan concerté, de toute malice inavouable, de toute réserve mentale, comme de toute insincérité professionnelle, de mon cœur aussi froid, et j’ose dire aussi pur, que celui de la statue de pierre du chevalier de Bamberg, à l’ombre duquel j’écris ces lignes en ce moment? (GdF, S. 342) 121 Le lieu où j’ai écrit ce livre sur l’Allemagne […] est le cœur du profond amour qui m’anime pour mon pays. (GdF, S. 353) 120 Vgl. die zu diesem Zweck eingefügte Unterhaltung mit zwei Nationalsozialisten in Nürnberg: „‚Pourtant, la France considère le discours de votre chancelier comme contenant des menaces de guerre.’“ „‚Une fois de plus s’interpose entre nous un malentendu! ’“; „‚Mais votre formidable redressement militaire? ’“ „‚Ne l’interprétez donc pas comme une menace dirigée contre vous.’“ (GdF, S. 339f.). 121 Dieser Passus findet sich bereits in Châteaubriant, Alphonse de: „Entre sa crainte de la Russie et sa haine de l’Allemagne la France va-t-elle rester longtemps immobile et paralysée? “ In: Le Jour, 30. 9. 1936, S. 1-2. <?page no="121"?> 121 In der Vorrede zur deutschen Ausgabe pariert er den Vorwurf des Vaterlandsverrats 122 , der ihm nach Erscheinen von La Gerbe des Forces gemacht wurde, gerade mit dem Hinweis auf seine große Vaterlandsliebe: „Ich habe gedacht - und ich glaube mit Recht so gedacht zu haben -, dass es wirklich ein Dienst für mein Vaterland Frankreich ist, wenn ich daran arbeite, ihm das Deutschland des Hitlerschen Zeitalters besser verständlich zu machen“. (GK, S. XI). Höher jedoch als seine französische Identität gewichtet er, dass er ein Mensch vor Gott ist und sich der gegenwärtigen Erfordernisse bewusst ist: J’ai un cœur de Français et je le sens bien, mais j’ai aussi un cœur de ce temps-ci, et, avant d’être Français, je suis ce que je suis devant Dieu, un homme, et je m’attriste ou je me réjouis, selon l’esprit que me révèle l’œuvre de la main de l’homme. (GdF, S. 279) Auch die Authentizität seiner Erlebnisse und Gespräche betont Châteaubriant regelmäßig. Seine Erinnerungen will er ohne nachträgliche Überarbeitung „dans une traduction décousue“ wiedergeben (GdF, S. 167); oder er fügt in Klammern hinzu, dass er den deutschen Stil absichtlich beibehalte, damit der Leser sich besser in die deutsche Seele hineinversetzen könne: „(Je ne traduis pas dans le tour français, je laisse allemande la phrase allemande: cela aide le regard du lecteur à plonger dans les fonds de l’âme vraie.)“ (ebd.). Als objektiver Berichterstatter postuliert er völlige Zurückhaltung: „Et ce que je puis faire de mieux, est de résumer ici sans commentaires ce qu’ils me firent entendre.“ (GdF, S. 85). Die impressionistische Schilderung seiner Eindrücke begründet er mit dem Verweis auf die imminente Bedrohung Frankreichs: In gelehrter Anspielung auf den Mythos der Philomele, die ihre Leidensgeschichte in einen Teppich webte, bleibe auch ihm angesichts des unaufhaltsamen Herannahens der asiatischen Kanonen nur wenig Zeit „pour tisser ma toile et broder, insérer mon dessin dans la trame.“ (GdF, S. 167). 3.3.3 Zeitgenössische Rezeption Hitler-Deutschland reagierte ob so viel Verständigkeit und „Werbung“ für den Nationalsozialismus begeistert und sorgte für die Übersetzung des Deutschlandbuches, das, von höchster Stelle approbiert, 1938 zweimal aufgelegt wurde. 123 Man lobte Geballte Kraft für die vorurteilsfreie Parteinahme für das wahre Deutschland, das nicht das „Werk eines Gelehrten“ sei, sondern dem „gefühlsstarken Erleben eines Dichters und Suchers“ entspringe, der sich, inspiriert vom Deutschland-Bild der Romantik, nicht von der in Frankreich verbreiteten negativen Vaterlandskritik durch den 122 Vgl. Kp. 3.3.3. 123 „Alphonse de Châteaubriant“. In: Bibliographie deutscher Übersetzungen aus dem Französischen 1700-1948, Bd. 2, S. 68. <?page no="122"?> 122 „Juden Heine“ habe beeinflussen lassen: „D a s r e i n e , j u n g e , f r o m m e , t r ä u m e n d e , d i c h t e n d e u n d d e n k e n d e D e u t s c h l a n d e r s t e h t w i e d e r v o r u n s e r e n A u g e n . “ 124 Für das aus dem „Gefühl völkischer und europäischer Verantwortung“ geborene Buch zollte man dem Romancier Hochachtung, nicht ohne zu betonen, dass dieses „so tiefe[] Verständnis für Deutschland“ in Châteaubriants „rassischer Verwandtschaft“ und seinem „Anteil am nordischen Blutserbe“ gründe. 125 Man verurteilte Frankreich, das „in der unvoreingenommenen und im übrigen durchaus kritischen Darstellung Châteaubriants gleich die sooft und stets so fälschlich zitierte deutsche ‚Kulturpropaganda’ witterte[]. Kein anderer Vorwurf könnte unberechtigter und ungerechter sein als dieser.“ 126 Im Nachbarland rief Châteaubriants Plädoyer für das „neue“ Deutschland unterschiedlichste Reaktionen hervor. Zu den prominentesten Befürwortern zählt Marc Augier (1908-1990) alias Saint-Loup, der sich rückblickend unter dem aussagekräftigen Titel Alphonse de Châteaubriant, entre Jésus et Hitler (1975) an den dramatischen Tag erinnert, an dem ihn, „orphelin de la démocratie“, La Gerbe des Forces zum Nationalsozialismus bekehrt habe und zu seinem Evangelium geworden sei: Un jour, j’ouvris cette Gerbe des forces que je venais d’acheter. Quarante-huit heures plus tard, j’étais devenu national-socialiste (on dit, paraît-il, aujourd’hui nazi? ). Quelque chose en moi s’était évaporé comme ces brumes de rêve à la surface des étangs et que le premier soleil dissipe. J’avais subi une mutation, aussi importante pour ma conscience que le sont biologiquement celles qui marquent l’espèce humaine chaque dix ou vingt millions d’années. Je me retrouvai hitlérien! 127 124 So die Einschätzung von Dr. Spiegelberg: „Deutschland und Frankreich im Weltbild A. de Châteaubriants“. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 64 (1942), S. 89-118, hier S. 117f., Sperrung im Text. Zur Fülle der positiven Rezensionen der Übersetzung in der deutschen Presse vgl. die entspr. Übersicht bei Maugendre, Louis-Alphonse: Alphonse de Châteaubriant, S. 236f., Anm. 142. 125 Spiegelberg: „Deutschland und Frankreich im Weltbild A. de Châteaubriants“, S. 118. Als Beleg für Châteaubriants „arische“ Herkunft beruft sich Dr. Spiegelberg auf Châteaubriants Selbstaussagen in Les pas ont chanté: „Seine Mutter war blauäugig und blond [...], sein Vater hatte ebenfalls blaue Augen [...] und eine hohe Stirn [...]. Er selbst hat blaue Augen [...]. Als Kind hatte er blonde Haare [...].“ Ebd.: S. 118, Fn. 74. 126 Hieronimi, Martin: „Schöpferische Kräfte Frankreichs: Der Dichter Alphonse de Châteaubriant“. 127 Saint-Loup [Augier, Marc]: Alphonse de Châteaubriant, entre Jésus et Hitler, S. 47f., 50, Hervorhebung BB. Marc Augier, Gründungsmitglied von La Gerbe („gérant“), trat in die LVF ein und kämpfte an der Ostfront. Im November 1948 wurde er in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Ausf. s. Maugendre, Louis-Alphonse: Alphonse de Châteaubriant, S. 319, Anm. 35. <?page no="123"?> 123 Die konservativen katholischen und faschistischen Kreise lehnen La Gerbe des Forces ab. 128 Zu den prominentesten Kritikern zählt Robert Brasillach, der sich zwar als Bewunderer von Châteaubriants La Réponse du Seigneur zu erkennen gibt, ihn aber einen von der Lorelei behexten und unermesslich naiven „Jocrisse au Walhalla“ nennt, dessen Werk jeglicher Intelligenz entbehre. 129 Ähnlich äußert sich Lucien Rebatet: Châteaubriant habe sich am Honigwein aus Walhalla berauscht. 130 Der Nationalist, Monarchist und Gründer der deutschfeindlichen Action française Charles Maurras verurteilt den „lyrisme ahuri“ und warnt die Franzosen vor den schrecklichen Fehlern des talentierten Schriftstellers: „[N]ous sommes au pays de Jeanne d’Arc, on n’y aime pas ceux qui, nés du sol, se rendent indignes de leur noble origine.“ 131 Der französischen Linken, allen voran Romain Rolland, missfällt das Werk. Dies ist Châteaubriant bewusst, als er seinem Freund ein Exemplar mit folgender Widmung übersendet: Mon cher Romain, je n’ai pas voulu publier ce livre sans t’en offrir un exemplaire. Mais je n’en éprouve pas moins une très vive peine à mettre entre tes mains une pensée qui s’oppose à la tienne. En toute affection fraternelle par-delà le fatal et l’irréductible: Ton ami A. de Chateaubriand [sic]. 132 Rolland bestätigt in seinem Antwortbrief vom 2. August 1937, dass er Châteaubriants politische Sicht keineswegs teile; dessen ungeachtet versichert er ihm gleichzeitig seine Freundschaft: Je te remercie de tout cœur. J’avais déjà lu ton livre (dans l’exemplaire d’Arcos); et certes, mon jugement est bien différent du tien, sur tout ce que tu défends 128 Chadwick, Kay: Alphonse de Châteaubriant: Catholic Collaborator, S. 118, mit detaillierter Übersicht über die unterschiedlichen Reaktionen auf den Seiten 118-122. 129 Brasillach, Robert: „Causerie littéraire: Alphonse de Châteaubriant: La Gerbe des Forces (Grasset)/ H. de Montherlant: Le Démon du Bien (Grasset)“. In: L’Action française, 8. 7. 1937, S. 3. Diese negative Rezension relativiert Brasillachs eigene, nur wenige Monate später in der Revue universelle veröffentlichte Hitler-Eloge Cent heures chez Hitler, die allerdings nicht ins Deutsche übersetzt wird. Verbreitet ist die These, wonach Brasillachs Entrüstung die eigentliche Zustimmung des Normaliens kaschiere, der sich vom bretonischen Regionalautor übertölpelt fühlte. Hofer, Hermann: Die faschistoide Literatur, S. 132f. 130 Rebatet, Lucien: „Alphonse de Châteaubriant „La Gerbe des Forces“. In: JSP, 3. 9. 1937, S. 8; auch Porché kann die dionysische Trunkenheit Châteaubriants, der die französischen Eichen zugunsten der herzynischen verraten habe, nicht teilen. Porché, François: „A. de Châteaubriant: La Gerbe des Forces. Nouvelle Allemagne“. In: L’Epoque, 26. 7. 1937, S. 5. 131 Pellisson [Maurras, Charles]: „La Gerbe des Forces“. In: L’Action française, 4. 7. 1937, S. 1 und 3, hier S. 1. 132 Romain Rolland: Sa vie, Son œuvre 1866-1944. Archives de France - Hotel de Rohan. Paris: Archives de France, 1966, S. 62, Nr. 303, Kursivierung im Text, Hervorhebung BB. <?page no="124"?> 124 et tout ce que tu combats. Nos esprits ont pris rang dans les deux camps opposés. Mais mon affection pour toi n’en est nullement touchée. Je sais ta pureté de cœur et ta sincérité. 133 Auffallend ist die Schärfe und Hellsichtigkeit der Mehrzahl der Rezensionen „[d]ieses lyrische[n] Werk[es] der Anbetung der Gewalt“ 134 . Der zentrale Vorwurf lautet: Châteaubriant erwähnt die Enzyklika Mit brennender Sorge, mit der Papst Pius XI. (1857-1939) am 14. März 1937 explizit den „Mythus von Blut und Rasse“ 135 verurteilt und Kritik an der faschistischen Ideologie übt, mit keinem Wort. Dies lastet auch Pierre Loewel Châteaubriant an, der ein Liebesbekenntnis („Ce n’est plus de la sympathie, c’est de l’amour.“) verfasst habe, „sans y faire même d’un mot allusion aux persécutions racistes… C’est un tour de force! “ 136 Mit bitterer Ironie merkt der Philosoph Emmanuel Mounier (1905-1950), Begründer des Personalismus und Herausgeber der Zeitschrift Esprit, an, „M. de Châteaubriant […] n’a jamais entendu parler ni du 30 juin, ni de camps de concentration, ni d’un M. Himmel [sic], ni des S.S., ni des Juifs, ni du Sturmer [sic], ni de l’abbé Rossaint, et cet auteur pieux n’a pas eu le loisir, sans doute, de feuilleter l’Encyclique Mit Brennender sorge [sic]“, was angesichts der Tatsache, dass der Bretone den Rassismus beim Apostel Paulus begründet sehe, geradezu nebensächlich erscheine. 137 La Pie Borgne, Pseudonym von André Thérive (1891-1967), der 1942 zu den Weimar-Reisenden zählen wird, nennt den Romancier einen blinden und naiven Apologeten des Nationalsozialismus, der diesen für ein erneuertes und gereinigtes Christentum halte. Er betont die Gefährlichkeit dieses metaphysischen Gedichts, das unter dem Deckmantel der objektiven Zeugenschaft vorgebe, die Wahrheit über das Dritte 133 L’un et l’autre II: Romain Rolland et Alphonse de Châteaubriant, S. 388f. (Nr. 242), hier S. 388, Hervorhebung BB. Im Unterschied zu Rolland hält Châteaubriant aber nur wenige Zeit später fest, dass ihre diametral entgegengesetzte Beurteilung der weltpolitischen Ereignisse sie zunehmend voneinander entfremde: „La terre [...] a tremblé, le sol s’est fissuré, un gouffre s’est ouvert, et nous sommes désormais, lui et moi, à cette heure décisive, chacun d’un côté de ce gouffre. Nous sommes loin l’un de l’autre aujourd’hui! “ Châteaubriant, Alphonse de: Les pas ont chanté, S. 282, Hervorhebung BB. 134 So Faure-Biguet, Jacques-Napoléon: „Ein Bündel Verworrenheit: Zu Alphonse de Châteaubriants Hitlerhymnus“. In: Pariser Tageszeitung, 20. 8. 1937, S. 6. 135 Rundschreiben Seiner Heiligkeit Pius XI. durch Gottes Vorsehung Papst an die ehrwürdigen Brüder Erzbischöfe und Bischöfe Deutschlands und die anderen Oberhirten die in Frieden und Gemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhle leben: Über die Lage der katholischen Kirche im Deutschen Reich. Freiburg: Dilger, 1937, S. 8. 136 Loewel, Pierre: „La vie littéraire: La Gerbe des Forces par A. de Châteaubriant“. In: L’Ordre, 19. 7. 1937, S. 2. 137 Mounier, Emmanuel: „A. de Châteaubriant: La Gerbe des Forces“. In: Esprit 59 (1937), S. 687-688, hier S. 688, Kursivierung im Text. Weiterführend zu Mounier vgl. bspw. Roman, Joël: „Emmanuel Mounier“. In: Juillard, Jacques; Winock, Michel (Hgg.): Dictionnaire des intellectuels français, S. 987-990. <?page no="125"?> 125 Reich zu sagen. 138 Schonungslos sitzt Thérive über den „traître“ zu Gericht: „Le noble écrivain sait fort bien que si, Allemand, il avait écrit de sa patrie ce que, Français, il a écrit de la sienne, il serait depuis dix-huit mois dans un camp de concentration. C’est tout.“ 139 Robert d’Harcourt (1881-1965), Germanistik-Professor am Institut Catholique, warnt vor der gefährlichen, mit messianischer Tinte geschriebenen Kantate Châteaubriants und dessen Rassismus-Diskurs. Dieser verwechsle das romantische, gemütliche Deutschland mit dem brutalen NS-Staat: „L’Allemagne hitlérienne, tout entière d’ailleurs, baigne pour le lecteur de M. de Châteaubriant dans une fraîcheur d’Eden, une bienveillance universelle. Dieu veuille que l’auteur n’ait jamais à regretter d’avoir si joliment ironisé sur l’éternel petit Français qui ‚se méfie‘.“ 140 Châteaubriants Privatsekretär André Castelot lässt es sich nicht entgehen darauf hinzuweisen, dass Harcourt trotz aller Kritik La Gerbe des Forces „‚un bel éclair dans le ciel d’orage de notre époque’“ genannt hatte. 141 Er selbst lobt „cette étude de grande sincérité et de loyale compréhension“, die im Begriff sei „d’enfoncer coûte que coûte un coup de bélier dans l’opinion française.“ 142 Châteaubriant huldigt er als Ausnahmeerscheinung des Jahrhunderts, „[u]n homme qui ne doit sa grandeur qu’à son humilité, et son chant qu’à son enchantement.“ 143 138 La Pie Borgne [Thérive, André]: „Un héraut du III e Reich: Alphonse de Châteaubriant.“ In: Vendémiaire, 28. 7. 1937, S. 6. 139 So die unter dem Titel „Chère Allemagne! “ zusammengefasste Replik Thérives auf den Leserbrief Châteaubriants, der seiner Antwort vorausgestellt ist. S. [Thérive, André]: „Chère Allemagne! “ In: Vendémiaire, 9. 11. 1938, S. 1, Kursivierung im Text. Maugendre stellt die hitzige Debatte dar, die Thérive mit seinem einen Monat zuvor veröffentlichten Artikel Chère Allemagne! Choses vues et entendues (Vendémiaire, 5. 10. 1938, S. 1 und 3) auslöste, der im Anschluss an eine Deutschlandreise im September 1938 entstanden war: Darin hatte er Châteaubriant als Verräter tituliert, woraufhin Letzterer erwog, Thérive wegen Ehrverletzung zum Duell zu fordern. Maugendre, Louis-Alphonse: Alphonse de Châteaubriant, S. 212ff. 140 Harcourt, Robert d’: „L’Allemagne comme la voit M. de Châteaubriant.“ In: L’Epoque, 1. 9. 1937, S. 1-2, hier S. 2. Harcourt hatte 1936 in L’Evangile de la force: Le visage de la jeunesse du Troisième Reich den Totalitarismus des Dritten Reiches und die Gleichschaltung der deutschen Jugend denunziert. Merlio, Gilbert: Lichtenberger, d’Harcourt, Vermeil: trois germanistes français face au phénomène nazi. In: Bock, Hans Manfred; Meyer-Kalkus, Reinhart; Trebitsch, Michel (Hgg.): Entre Locarno et Vichy: les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930, Bd. 1, S. 375- 390, hier S. 378f. 141 Castelot, André: „A propos de ‚La Gerbe des Forces‘“. In: DFMh 4. Jg. (1937), S. 350- 354, hier S. 352. 142 Ebd.: S. 350. 143 Ebd.: S. 354. <?page no="126"?> 126 In die Riege der Begeisterten reiht sich nicht zuletzt der Rektor des Institut Catholique de Paris Kardinal Alfred Baudrillart 144 (1859-1942) ein, ehemals erbitterter Gegner des deutschen Kaiserreiches und des nationalsozialistischen Deutschlands, der zwar erst zu Beginn der deutschen Besatzung Châteaubriants Werk liest, dies aber mit verheerenden Folgen. Wenige Tage bevor Baudrillart den Schriftsteller persönlich empfängt, notiert er am 29. August 1940 in seinem Tagebuch: Si quelqu’un a été indigné par les mensonges de notre propagande pendant tant de mois, par les bobards ridicules répétés contre les Allemands, avec une naïveté et une inconscience coupables, si quelqu’un a fait lire La Gerbe des forces d’Alphonse de Châteaubriant et approuvé certaines tentatives d’intelligent rapprochement, c’est moi. 145 „Choisir, Vouloir, Obéir! “ 146 lautet die Devise, mit der sich Baudrillart am 21. November 1940 auf Inter-France und in La Gerbe an sein Land wendet, um dieses auf Pétain und die Kollaboration 147 mit NS-Deutschland einzuschwören. Wie der bretonische Romancier sah er das Zeitalter eines neuen Kreuzzugs gegen den Bolschewismus gekommen: „‚Le temps de la colère (tempus iracundiae) est enfin venu. Le monde chrétien et civilisé se dresse dans un élan formidable pour défendre et sauver notre antique civilisation chrétienne en péril de bolchevisation, c’est-à-dire de mort.’“ 148 144 Alfred Baudrillart wurde 1907 Rektor des Institut Catholique de Paris, 1918 Mitglied der Académie française und 1935 von Papst Pius XI. zum Kardinal ernannt. Neben Pierre Benoît, Abel Bonnard und Abel Hermant gehörte er zu den vier Immortels, die Ehrenmitglieder des Groupe Collaboration wurden; zudem war er, ebenso wie Châteaubriant, Mitglied des Ehrenkomitees der LVF. S. Unteutsch, Barbara: Vom Sohlbergkreis zur Gruppe Collaboration, S. 194, 199; zur Wandlung Baudrillarts und seiner Obsession durch den Bolschewismus vgl. Christophe, Paul: 1939-1940, les catholiques devant la guerre, S. 61-94. 145 Baudrillart, Alfred: Les carnets du Cardinal Baudrillart 11 avril 1939 - 19 mai 1941. Texte présenté, établi et annoté par Paul Christophe. Paris: Les Editions du Cerf, 1998, S. 592, 602. 146 Monseigneur Baudrillart: „Choisir, Vouloir, Obéir! “ In: La Gerbe, 21. 11. 1940, S. 1. Baudrillarts Rede spaltete die Gläubigen: Zu den Befürwortern zählte der Erzbischof von Paris, Kardinal Suhard, der jedoch monierte, dass Baudrillart nicht eindeutig die religiöse Kollaboration mit dem Nationalsozialismus ausgeschlossen hatte. Ausf. s. Christophe, Paul: 1939-1940, les catholiques devant la guerre, S. 82f. 147 Laut Christophe liefern die Tagebücher ein differenziertes Bild von Baudrillart, der weder ein bedingungsloser Anhänger der Kollaboration noch des Marschalls gewesen sei. Christophe, Paul: Avant-propos. In: Baudrillart, Alfred: Les carnets du Cardinal Baudrillart 11 avril 1939 - 19 mai 1941, S. 7-16, hier S. 11ff. 148 Zit. in Delperrié de Bayac, Jacques: Histoire de la milice: 1918-1945. Paris: Fayard, 1969, S. 99, Kursivierung im Text. <?page no="127"?> 127 3.3.4 Geballte Kraft: Ein französischer Dichter erlebt das neue Deutschland (1938): Geleit- und Vorwort Nur oberflächlich ist das Geleitwort (GK, S. V-X) des in der Weimarer Republik als Vertreter völkisch-nationaler Literatur bekannten Hans Friedrich Blunck 149 , der zu den „einflußreichsten Strippenzieher[n] im Kulturbetrieb des Dritten Reichs“ 150 zählte, an die deutsche Leserschaft gerichtet. Der eigentliche Adressat des ehemaligen Präsidenten der Reichsschrifttumskammer (November 1933 bis Oktober 1935) ist das „ach, so spröde[] Volke“ der Franzosen, dessen „Blindheit“ gegenüber dem „rauschende[n], brausende[n] junge[n] Reich“ er kritisiert (GK, S. V). In Einklang mit der nationalsozialistischen Propaganda betont er, dass Hitler-Deutschland keinen Krieg suche, vielmehr das gemeinsame Schicksal Europas die beiden Länder einen müsse, und dies obgleich „[d]er Franzose“, wortbrüchig, Deutschland den Versailler Vertrag diktiert habe (GK, S. VI). Umso positiver hebt er Châteaubriant als kluge Ausnahmeerscheinung im Land der verachteten Revolution von 1789 hervor: Er wird zum poeta vates, „der die Wahrheit über Deutschland mit dichtenden Worten zu künden wagt; ja, wir lieben die Zukunft Frankreichs in ihm.“ (ebd., s. auch GK, S. VIII). Zuvor „gebrach […] das Einfühlen in unseren gegenwärtigen ‚Traum zum Reich’.“ (GK, S. X). Châteaubriant ist es, der dem, so Bluncks hyperbolische Schwärmerei, selbstlosen deutschen Reich Gerechtigkeit habe widerfahren lassen: Wir Deutschen sind aus dem Aufbau unseres neuen Weltbilds gehalten, uns daran zu freuen, die Nachbarvölker in ihrem Eigenleben zu ehren, dafür aber auch für uns Ehre zu fordern. Wir haben bisher solche Freude nur von uns aus ‚gegeben’. Daß in diesem Buch, das vor uns liegt, uns Ehre wiedergegeben wurde, daß man unser neues Leben prüfte und ihm Liebe und Herzwärme entgegenbrachte, dafür danken wir dem Dichter zum andernmal. (GK, S. IX) Negative Deutschlandberichte herablassend scheltend, schließt Blunck pathetisch mit dem wiederholten Wunsch, das Nachbarland möge die Darstellung des gegenwärtigen Deutschlands, die er in die Nähe der bewunderten „große[n] Überlieferung der Frau von Staël“ - De l’Allemagne (1813) 151 - rückt, als Botschaft des Friedens verstehen: 149 Den in seinen Augen zu gemäßigten Blunck ließ Goebbels von Hanns Johst als Präsident der Reichsschrifttumskammer ablösen. Wenngleich nicht Parteidichter, zeichnete Hitler den regen Literaturproduzenten, Reichskultursenator, Präsident des Deutschen Auslandswerks etc. mit der Goethe-Medaille aus. Ausf. s. „Hans Friedrich Blunck“. In: Sarkowicz, Hans; Mentzer, Alf: Schriftsteller im Nationalsozialismus, S. 142-148. 150 Hausmann, Frank-Rutger: „Demokratie und Literatur: Das Beispiel der literarischen Kollaboration mit dem Nationalsozialismus“, S. 120. 151 Vgl. Klessmanns ansprechenden Artikel über Germaine de Staël (1766-1817), Tochter Jacques Neckers, Finanzminister unter Ludwigs XVI., Frau des schwedischen Bot- <?page no="128"?> 128 Möge man in Frankreich dies Buch lesen und es als Buch des Friedens werten, so wie wir es tun. Mögen, so denken wir mit Seufzen, auch andere Völker Dichter zu uns senden, die nicht nur zum Nörgeln kommen und mit viel Quark an den Schuhen heimkehren, sondern die Wandlung Deutschlands und den jungen Reichtum deutscher Seele verstehen und mit dichtendem Atem die Zeit schildern, die über dem Reich liegt. (GK, S. X) An Bluncks Geleitwort schließt Châteaubriants explizite Hinwendung „[a]n meine deutschen Leser“ an, worin er das Anliegen seines in der französischen Originalversion 353 Seiten umfassenden Reiseberichts kondensiert, der für die deutsche Ausgabe fast um die Hälfte auf 183 Seiten gekürzt, dafür um vier Abbildungen ergänzt wurde. 152 Châteaubriants opulent-pathetischer Stil zeichnet nicht nur die für seine Landsleute verfassten propagandistischen Eindrücke seiner „Besichtigungs- und Studienschafters in Paris, Lebensgefährtin Benjamin Constants, deren Deutschland-Impressionen Goethe 1830 lobte als „‚ein mächtiges Rüstzeug, das in die chinesische Mauer antiquierter Vorurteile, die uns von Frankreich trennte, sogleich eine breite Lücke durchbrach’“ und Heine spöttisch kritisierte: „‚Die gute Dame sah bei uns nur, was sie sehen wollte: ein nebelhaftes Geisterland, wo die Menschen ohne Leiber, ganz Tugend, über Schneegefilde wandeln und sich nur von Moral und Metaphysik unterhalten! ’“ Klessmann, Eckart: „Sie hat uns erklärt: Vor 200 Jahren schrieb Madame de Staël ihr Deutschland-Buch. Seitdem wissen die Franzosen, was sie von ihren Nachbarn zu halten haben“. In: Die ZEIT, 2. 6. 2010, S. 18. 152 Bei den (zwischen den genannten Seiten eingefügten) Abbildungen handelt es sich um ein dem Text vorangestelltes Halbporträt Châteaubriants, eine Fotografie von Châteaubriant in Oberbayern (GK, S. 48/ 49), Lorenzettis Der Frieden (GK, S. 8/ 9), das Gemälde Henri de la Tour d’Auvergne von Philippe de Champaigne (GK, S. 160/ 161). Aufschlussreich ist, welche Kapitel und Passagen nicht ins Deutsche übertragen wurden (u.a. Lumière du Nord, Dionysien et Apollinien, L’Allemagne et le crucifix, Sur la montagne), was Châteaubriant damit begründet, diese hätten nicht „dem Erfordernis des deutschen Geistes“ (GK, S. XIV) entsprochen. Präziser muss es jedoch heißen, dass die in diesen Textstellen dominierenden mystisch-religiösen Exkurse nicht in Einklang mit der nationalsozialistischen Ideologie standen und dementsprechend getilgt wurden. Darauf könnte Alice Epting-Kullmann anspielen, die schrieb, dass La Gerbe des Forces „manche Irrtümer und Fehldeutungen enthielt und selbst von deutscher Seite zu vielen Einwänden Anlaß gab.“ Epting-Kullmann: Pariser Begegnungen, S. 61. Vorgenommen wurden diese Streichungen von Châteaubriants „hervorragende[m] Freund Professor Dr. Friedrich Panzer“ (1870-1956), Spezialist für germanische Heldensagen, der sich mit seinen Lohengrinstudien (1894) habilitiert hatte und bis zur Emeritierung im Jahr 1936 Ordinarius der Germanischen Philologie an der Universität Heidelberg war, sowie von Dr. Fritz Bran, den Châteaubriant bewundernd „‚Zauberer Merlin’ unserer ‚Deutsch-Französischen Monatshefte’“ nennt (GK, S. XV). Es ist sicherlich keine Koinzidenz, dass Geballte Kraft im G. Braun Verlag erschien, dessen Gesellschafter (seit 1923) Brans Vater, der Verleger und Chemiker Dr. Friedrich Bran war. Vgl. Richter, Georg: Festschrift des Hauses G. Braun (vormals G.- Braunsche Hofbuchdruckerei und Verlag) GmbH Karlsruhe: 1813-1963. Karlsruhe: Braun, 1963, S. 44. Zu Fritz Bran s. Kp. 3.1, Fn. 105 , zu Friedrich Panzer s. Kienast, Richard: „Friedrich Panzer zum 80. Geburtstag“. In: Wirkendes Wort 1 (1950/ 51), S. 62-64. <?page no="129"?> 129 reise“ (GK, S. XV) aus, sondern schlägt sich auch in der Ansprache der deutschen Leser nieder. Die Publikation der Übersetzung nennt er ein „glückliches Ereignis“. Im Gegensatz zur „brennende[n] Sorge“ der katholischen Kirche angesichts der Ereignisse in Nazi-Deutschland, verweist Châteaubriant als Motivation seiner Reise vielmehr auf seinen „brennenden Wunsch“, er habe seinem Vaterland einen „Dienst“ erweisen und diesem „das Deutschland des Hitlerschen Zeitalters“ näher bringen wollen (GK, S. XI). 153 Auf seiner Wallfahrt durch Deutschland findet er im Nationalsozialismus eine allumfassende, erneuernde, an die Stelle der institutionalisierten Religion tretende Ersatzreligion: 154 „Herz“, „Geist“ und „Seele“ sind zentrale Kategorien seines Deutschland-Diskurses. Die erneuerte deutsche Seele ist für ihn das Ergebnis der Vermählung des „germanischen Geistes“ mit dem der „Notwendigkeit“ (GK, S. XII). Deutschland wird zum auserwählten Land, da es verstanden hat, in „seinem wirkenden Herzen die Vision höchster Willensmächte der Z u k u n f t zu lesen“ (GK, S. XIII, Sperrung im Text). Châteaubriant erweist sich als französischer Anwalt im Dienste des Dritten Reiches, wenn er auf den Kern der nationalsozialistischen Ideologie zu sprechen kommt: Für ihn selbst und den französischen Leser sei es schwierig und zugleich wichtig zu verstehen, dass der Ursprung der „deutschen Revolution“ in der „Rassengemeinschaft“ und deren „Anlage“ begründet liegt; dies habe auch er selbst erst, so seine Authentifizierungsstrategie, in persönlichen Gesprächen mit dem Reichspropagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945) und Alfred Ernst Rosenberg (1893-1946), dem „Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“, begriffen (GK, S. XIIf.). 155 153 Auf die Vernachlässigung des päpstlichen Rundschreibens Mit brennender Sorge wurde bereits hingewiesen. Vgl. die ähnliche Bezeichnung des Reisegrundes als „brennende[] Notwendigkeit“ (GK, S. 1) bzw. „une ardente nécessité“ (GdF, S. 7). 154 S. auch Chadwick, Kay: Alphonse de Châteaubriant: Catholic Collaborator, S. 146. 155 Diese traf er am 1. November 1936 in Berlin. Maugendre, Louis-Alphonse: Alphonse de Châteaubriant, S. 195. Zu Goebbels, Hitlers unbedingtem Gefolgsmann, dem ab dem 14. März 1933 das neugeschaffene Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda unterstand, den Hitler nach dem 20. Juli 1944 zum Reichsbevollmächtigten für den totalen Kriegseinsatz ernannte und der am 1. Mai 1945 im Führerhauptquartier Selbstmord beging, s. Fraenkel, Heinrich: „Paul Joseph Goebbels“. In: Neue Deutsche Biographie. Hrsg. von der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 6. Berlin: Duncker & Humblot, 1964, S. 500-503, folgend abgekürzt mit NDB, Band- und Jahresangabe. Alfred Ernst Rosenberg, bis Ende 1937 Hauptschriftleiter des Völkischen Beobachters, ab 1933 Reichsleiter der NSDAP, ab November 1941 Reichsminister für die besetzten Ostgebiete, wurde vom Nürnberger Kriegsverbrechertribunal zum Tode verurteilt und 1946 hingerichtet. Unter Rückbezug auf Houston S. Chamberlains Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts (1899) propagierte Rosenberg in Der Mythus des 20. Jahrhunderts (1930) „als ‚neuen Glauben’ <?page no="130"?> 130 Nazi-Deutschland dient als Kontrastfolie für das als defizitär empfundene Frankreich: Châteaubriant zufolge verkörpert Hitler-Deutschland ehemals traditionell französische Werte wie Nation, „Würde“, „Freiheit“ und den „Wille[n] zur Reinheit“ fern der „wirren Illusionen des liberalen Dilettantismus“ (GK, S. XIII). Deutschland wird zum (biblischen) Retter hypostasiert: von seiner Reinheit hänge das Schicksal der abendländischen Welt ab. Um die Wichtigkeit der deutschen Bestimmung zu unterstreichen, zitiert Châteaubriant an ihn gerichtete Worte eines „große[n] Franzosen“, ohne diesen beim Namen zu nennen, der stellvertretend für die Mehrheit der Franzosen zwar die Gefahr, die in einem zu starken deutschen Selbstgefühl verborgen liegt, sehe, zugleich aber auf Deutschland vertraue und ihm für seine gefährliche, aber erhabene Mission zum Wohle der Gemeinschaft Gottes Segen gewünscht habe (GK, S. XIV). Die Klimax seiner prodeutschen Argumentation ist der Verweis auf das persönliche Gespräch mit Hitler in Berchtesgaden, welches die bereits in La Gerbe des Forces geschilderten positiven Eindrücke „hundertfach bekräftigt“ habe (ebd.). Abschließend benennt der Autor als zentrales Anliegen seines Berichts dessen Funktion als Sittenspiegel 156 : Er solle seinen Landsleuten als „Anregung für ihre gegenwärtigen Probleme“ (ebd.) dienen, deren Lösung er im nationalsozialistischen Ideal verwirklicht sieht. 3.4 Das Bild der Deutschen: Heldenhafte Germanen und romantische Dichter und Denker Châteaubriants erklärtes Ziel ist es, die Kritik an NS-Deutschland zu widerlegen und statt dessen das wahre Deutschland zu präsentieren, das einer Bilderbuch-Idylle gleicht, die vom Mittelalter bis zur Gegenwart von Ausnahmemenschen bevölkert wurde. 157 Châteaubriant bezeichnet die Deutschen vorwiegend als herzliche „Germanen“ 158 - „Cela vous étonne-t-il den ‚Mythus des Blutes’, der seine ‚Höchstwerte’ aus dem - u.a. im bäuerlichen Brauchtum und in den germanischen Sagen erhaltenen - ‚Germanenerbe’ […] entnehmen sollte.“ Ausf. s. Bollmus, Reinhard: „Alfred Ernst Rosenberg“. In: NDB, Bd. 22, 2005, S. 59-61. 156 Dieses Bemühen teilt Châteaubriant, wie von Blunck explizit erwähnt, mit Madame de Staël (De l’Allemagne). Auch der Verweis des Romanciers auf die um 98 n. Chr. entstandene Taciteische Germania (GdF, S. 176) ist dahingehend zu verstehen, da man vermutet, der römische Autor habe seinen dekadenten Zeitgenossen das idealisierte Germanien als positives Gegenbeispiel gegenüberstellen wollen. Fuhrmann, Manfred: Nachwort. In: Tacitus Germania. Übers., Erl. u. Nachw. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam, 1977, S. 59-77, hier S. 67. 157 Zur kritiklosen Präsentation NS-Deutschlands als „Bilderbuch-Deutschland“ vgl. Zimmermann, Margarete: Die Literatur des französischen Faschismus, S. 194ff. 158 Das Wort „Germanen“ ist in all seinen Abwandlungen zu finden, vgl. bspw. GdF, S. 7, 14, 28, 31, 38, 58, 99, 100, 176, 192, 237, 284, 289, 324, 328, 341. <?page no="131"?> 131 d’entendre le mot de grand cœur 159 associé au nom Germain, comme lui convenant congénitalement? “ 160 (GdF, S. 40) -, die er als mythische Helden überhöht. Die jungen Mädchen gleichen den „prestigieuses héroïnes des vieux Niebelungen“ (GdF, S. 13), in den jungen deutschen Männern sieht er Siegfried, den Drachentöter aus der Nibelungensage, den Gralsritter Lohengrin und dessen Vater, den Gralskönig Parsifal, auferstanden. 161 Die 159 Leicht spöttelnd weist Hildegart (auch Hilde) Hess (1911-1965), Wissenschaftliche Hilfsarbeiterin an der Deutschen Botschaft in Paris und Referentin für Schrifttumsfragen (1940/ 41), in ihrer Dissertation u.a. auf das „Herz“- und „Seelen“-lastige Deutschen-Bild des Schriftstellers hin: „Besonders A. de C h â t e a u b r i a n t , der mit seiner schwärmerischen Darstellung des nationalsozialistischen Deutschland von 1937 (‚La Gerbe des Force’ [sic]) dem romantisch-idealistischen Vorstellungsbild stark verpflichtet bleibt, spricht ständig von ‚coeur’ und ‚âme’ im Zusammenhang mit dem deutschen Menschen, auch dem der politischen Gegenwart. Der Zauber, den Deutschland als Heimat des Gemütes und des Überschwanges auf manche Franzosen ausübt, beruht allerdings manchmal auch nur auf einer vagen ‚Stimmung’, oder sagen wir gleich: einer Stimmungsduselei, die an der Oberfläche der Erscheinungen hängen bleibt, sich mit schlagwortartigen Vorstellungen begnügt; jener Atmosphäre von ‚Gemütlichkeit’, Poesie und romantischem Drum und Dran, in der sich der Franzose, gewöhnt an eine rationalere Welt, ganz gern einmal badet. Den Hintergrund dazu bilden literarische Erinnerungen an das Deutschland der E.T.A. Hoffmann, Arnim, Tieck, Heine, der Werther und Faust, der Grimms Märchen, Wagnerschen Rheintöchter, Lorelei und Heinzelmännchen usw.“ Hess, Hilde: Das literarische Deutschlandbild Frankreichs zwischen zwei Kriegen 1914-1940. Diss. phil. München 1941, veröffentlicht 1958, S. 123f., Sperrung und Unterstreichung im Text. S. auch „Hildegart Hess“. In: Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871-1945. Hrsg. vom Auswärtigen Amt/ Historischer Dienst. Bd. 2: G-K. Bearb. von Gerhard Keiper und Martin Kröger. Paderborn u.a.: Schöningh, 2005, S. 293-294. Zu Hess s. auch Kp. 3.5, Fn. 171. 160 Daran schließt der Dichter eine knapp zweiseitige, auf Stereotypen basierende Auflistung deutsch-französischer Gegensätzlichkeiten an, wie z.B. „Le Français s’effraie de l’Allemand et de son ‚éternel devenir’, l’Allemand se décourage du Français et son ‚éternel devenu’“ (GdF, S. 41), schlussfolgernd, „dass diese Gegensätze meist nur die beiden notwendigen Antriebe ein und derselben Sache sind; die beiden Griffe eines wertvollen Meißner Porzellans oder die beiden perlengeschmückten Ohren am mächtigen Haupt eines Buddha…“ (GK, S. 21f.). 161 Die Inkarnation Siegfrieds ist für Châteaubriant ein Hitler-Verehrer, der zur Selbstopferung bereit ist (GdF, S. 63); Siegfried und Parsifal sind Helden der „âme Germanique“ (GdF, S. 328); einen Soldaten nennt dessen Statur und Aussehens wegen „un de ces grands Siegfrieds aux yeux clairs“ (GdF, S. 339); weiße Boote auf dem Rhein ähneln Schwänen, weshalb sie nach dem Schwanenritter „Lohengrin“ benannt sind (GdF, S. 27); im Festspielhaus in Bayreuth wird „Lohengrin“ aufgeführt, wobei Châteaubriant die „armature éblouissante du fils de Parsifal“ bewundert (GdF, S. 79); die Absicht der Feinde Deutschlands sei es „[de] tuer les Lohengrin, les Parsifal, crucifier ce qui paraît trop pur“ (GdF, S. 140); die jungen deutschen Mädchen warten auf ihren „Lohengrin“ (GdF, S. 184); Lohengrin und Parsifal verkörpern die Reinheit der germanischen Seele (GdF, S. 284). Bereits im Juni 1935 hatte Châteaubriant den Himmel über dem Schwarzwald mit dem blauen Mantel Lohengrins verglichen. Châteaubriant, Alphonse de: Cahiers 1906-1951, S. 154ff., hier S. 154f. <?page no="132"?> 132 jungen, blonden Anhänger Hitlers vergleicht er mit Zeus’ Götterboten Merkur („jeunes mercures blonds“, GdF, S. 189). Wenn Châteaubriant klischeehaft vom musikalischen und musikliebenden, aber zugleich „kriegerischen“ Deutschen spricht, nimmt er Bezug auf die Zwei-Deutschland-Theorie, die im Verlauf des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/ 71 entstanden war. 162 Demzufolge kontrastiert die Vorstellung vom „guten“, idealistisch-romantischen Deutschland, die auf Madame de Staël 163 zurückgeht, mit der vom „bösen“ preußisch-militaristischen Deutschland: Sans doute, il existe un élément allemand. Cet élément allemand, c’est la musique, d’abord; puis, c’est un certain type blond. C’est aussi la chair et le poil des légions de Germanie; c’est la certaine danse cambrée, guerrière, quelquefois rigide et presque luthérienne, souriante aussi, du pas de l’oie. C’est ce qui vit, ce qui parle, ce qui tourne, se retourne, tourbillonne dans ces âmes couleur de bleu et d’or; c’est cette Unsere Volkswerdung, dans l’anneau tout d’argent de son sens si particulier, lequel unit le contenu du mot peuple et celui du mot avenir. (GdF, S. 30f., Kursivierung im Text) Die anaphorischen Satzanfänge („c’est“) verleihen dieser Passage einen schnellen, gleichmäßigen Rhythmus, der dem gleichförmigen Marsch der Soldaten zu entsprechen scheint. Das deutsche „Element“ setzt sich aus zahlreichen Facetten zusammen. Charakteristisch ist die Musik, der Typus des blonden (und blauäugigen) Deutschen, in dem die germanischen Soldaten fortleben, der einem Kriegstanz ähnelnde Stechschritt, der zwar lutherisch-steif, aber zugleich positiv („souriante“) konnotiert ist. Die Dynamik der nationalsozialistischen „Volkswerdung“, die in den personifizierten (in optischer Entsprechung zum typischen Aussehen der Deutschen) blau-goldenen deutschen Seelen vor sich geht, spiegelt sich in der 162 Dieser „mythe des deux Allemagnes“ geht zurück auf den Philosophen Elme-Marie Caro (1826-1887), der im Dezember 1870 schrieb: „‚Il y a deux Allemagnes: l’une idéaliste et rêveuse, l’autre pratique à l’excès sur la scène du monde, utilitaire à outrance, âpre à la curée.’“ Zit. in Jurt, Joseph: Le couple franco-allemand: Naissance et histoire d’une métaphore. In: Götze, Karl Heinz; Vanoosthuyse, Michel (Hgg.): France-Allemagne. Passions croisées. Actes du colloque international du 22-24 mars 2001 à Aix en Provence. Lyon: Institut d’Etudes Germaniques, 2001, S. 50-60, hier S. 54, Anm. 15. 163 Bollenbeck betont, dass Madame de Staëls Deutschlandbuch die französische Vorstellung von den Deutschen als „bons sauvages“, Denker, Dichter, Musiker und Träumer bis in die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts prägte. Bollenbeck, Georg: Selbstbilder, Fremdbilder, Feindbilder: „Kultur“ und „civilisation“. In: Götze, Karl Heinz; Vanoosthuyse, Michel (Hgg.): France-Allemagne. Passions croisées, S. 19-34, hier S. 29. Über die musische Ader der Deutschen heißt es bei Madame de Staël: „Les habitants des villes et des campagnes, les soldats et les laboureurs, savent presque tous la musique; il m’est arrivé d’entrer dans de pauvres maisons noircies par la fumée de tabac, et d’entendre tout à coup non-seulement la maîtresse, mais le maître du logis, improviser sur le clavecin, comme les Italiens improvisent en vers.“ Staël, [Germaine] de: De l’Allemagne. Nouvelle édition. Paris: Charpentier, 1839, S. 20. <?page no="133"?> 133 durch den dreimaligen Gleichklang intensivierten Klimax „vit“, „parle“, „tourne“, „retourne“, „tourbillonne“ - dem entspricht in der deutschen Übersetzung die Alliteration „wirkt, redet, wogt und wirbelt“ (GK, S. 13) - wider. Die Deutschen, denen Châteaubriant auf seiner Reise begegnet, entsprechen ausschließlich diesem Stereotyp. Die Jugend, die im Geiste des Nationalsozialismus erzogen wird, ist blond (GdF, S. 82), der Heidelberger Universitätsprofessor Friedrich P. 164 ist „un pur germanique aux yeux bleus“ (GdF, S. 99, 109), der Reichsorganisationsleiter der NSDAP Dr. Robert Ley 165 (1890-1945) zieht die Kraft seiner Worte „de son cœur blond et brûlant“ (GdF, S. 166). Angesichts der blonden, tugendhaften deutschen Jugend, deren strahlende Seele er mit einem leuchtend blauen, von Gott geschaffenen Vergissmeinnicht vergleicht, stockt dem Dichter vor Bewunderung der Atem. Der Blick in die (blauen) Kinderaugen motiviere die Nationalsozialisten zum Kampf: L’enfant allemand est certainement une des grâces de la nature. Son visage blond, la pervenche de son regard, sont une demeure que l’ironie n’habitera jamais. Voyez ses mouvements naïfs, sa démarche candide, expression tout entière d’une petite âme lumineuse qui laisse voir en elle, sans le savoir, le myosotis au bleu pur que l’esprit divin qui le créa a caché sous son herbe... Le myosotis allemand... et l’enfant allemand: ‚Si vous voulez savoir pour qui nous combattons, me disait, un matin de juin, le S.A. d’Essen, regardez les yeux de la jeunesse allemande, les yeux des enfants d’Allemagne...‘“ (GdF, S. 171) Zwei kleine Mädchen, die er vor einer Dorfkirche in Franken erblickt, rufen in ihm zugleich die deutsche Romantik, Schumanns Lieder und das Genie Goethes wach. Dem ergriffenen Betrachter verschlägt es die Sprache: „Je n’ai rien à ajouter. Il n’y a pas d’explication… Ne demandez pas d’explication.“ (GdF, S. 172). Voller Entzücken beschreibt Châteaubriant das borstige oder seidige Haar der blonden Hitlerjugend, die direkt aus Tacitus’ Germania 166 (ca. 98 n. Chr.) entstiegen zu sein scheint: 164 Dass sich hinter der Abkürzung Professor Dr. Friedrich Panzer verbirgt, gibt Châteaubriant in An meine deutschen Leser (GK, S. XV) zu erkennen, worauf künftig nicht mehr explizit verwiesen wird. Zu Panzer s. auch Kp. 3.3.4, Fn. 152. 165 Robert Ley, u.a. Verfasser von Wir alle helfen dem Fuehrer: Deutschland braucht jeden Deutschen (1937) und Soldaten der Arbeit (1938), war Leiter der Deutschen Arbeitsfront (DAF; Mai 1933) und Gründer der NS-Freizeitorganisation Kraft durch Freude (KdF; November 1933). Ab 1934 errichtete die DAF Schulungsstätten für den Führernachwuchs der NSDAP, die „Ordensburgen“. Ausf. Schulz, Ulrich: „Robert Ley“. In: NDB, Bd. 14, 1985, S. 424-425. 166 Tacitus selbst beschrieb die Germanen wie folgt: „Daher ist auch die äußere Erscheinung trotz der großen Zahl von Menschen bei allen dieselbe: wild blickende blaue Augen, rötliches Haar und große Gestalten, die allerdings nur zum Angriff taugen.“ Tacitus Germania, S. 5. <?page no="134"?> 134 Un grand grouillement de chemises brunes, du mouvement, des jambes nues, des têtes nues, des cheveux d’un blond clair, hérissés ou soyeux, et qui semblent, antiques autant que frais et jeunes, prendre leur couleur originelle dans quelque page de Tacite.“ (GdF, S. 175f.) Ebenso begeistert ist er von den deutschen Mädchen des Reichsarbeitsdienstes, was sich im andachtsvoll pausierenden Erzähltempo und im Pars pro toto der „[t]resses blondes… tresses blondes, enroulées en diadème…“ (GdF, S. 183) niederschlägt, die alle Goethes „belle Gretchen“ (GdF, S. 93) zu ähneln scheinen. Liebe und Beseeltheit zeichne „cette race allemande“ aus (GdF, S. 184). Die schwärmerische Beschreibung eines blonden Junkers der Ordensburg Vogelsang in der Eifel, in dem er die deutsche Landschaft verkörpert sieht - „Je regardais près de moi, le jeune fragment d’Allemagne, le morceau de paysage allemand que formaient sa tête blonde et ses yeux bleus...“ (GdF, S. 287) - zeugt von Châteaubriants Verblendung: Hitlers erklärtes Ziel war es doch, dass in den Ordensburgen, den Erziehungsstätten der NSDAP „zur ‚wissenschaftlich-weltanschaulichen Schulung und körperlich-charakterlichen Erziehung’ des Führernachwuchses der Partei“ 167 ‚ ‚eine Jugend heranwachse[], vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. Jugend muß das alles sein. Schmerzen muß sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muß erst wieder aus ihren Augen blitzen. Stark und schön will ich meine Jugend. […] Ich will keine intellektuelle Erziehung. Mit Wissen verderbe ich mir die Jugend. […] Aber Beherrschung müssen sie lernen. Sie sollen mir in den schwierigsten Proben die Todesfurcht besiegen lernen. Das ist die Stufe der heroischen Jugend. Aus ihr wächst die Stufe des Freien, des Menschen, der Maß und Mitte der Welt ist, des schaffenden Menschen, des Gottmenschen. In meinen Ordensburgen wird der schöne, sich selbst gebietende Gottmensch als kultisches Bild stehen und die Jugend auf die kommende Stufe der männlichen Reife vorbereiten.’ 168 Das „neue“ Deutschland, das Châteaubriant in seinem Bericht hymnisch lobt, stützt sich auf eine „alte“, Madame de Staël geschuldete Klischeevorstellung Deutschlands als dem Land der Dichter und Denker. 169 Dieses 167 Am 24. 4. 1936 übergab Ley die „Ordensburgen“ Krössinsee (Pommern), Vogelsang (Eifel) und Sonthofen (Allgäu) Hitler. S. „Ordensburg“. In: Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus. 2. Aufl. Berlin, New York: de Gruyter, 2007, S. 449-450, hier S. 449. 168 Zit. in Faschismus: Renzo Vespignani. Hrsg. von der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst und dem Kunstamt Kreuzberg, Berlin. Berlin (West): Elefanten Press, 1976, S. 65. Es sind auch die blonden Augenbrauen, die Châteaubriant am Kommandanten der Ordensburg auffallen (GdF, S. 296). 169 Exemplarisch sei erwähnt, dass Châteaubriant die Musik und Wirkungsstätte Wagners in Bayreuth (GdF, S. 79) bewundert, er der Musik Bachs (GdF, S. 85) und Mo- <?page no="135"?> 135 Land ist das der reinen, singenden Deutschen, die wie Lohengrin auf seinem Schwan zu Tausenden auf Booten zum Fest des Gautags nach Koblenz pilgern: Le Rhin... Une impression brûlante de soleil de Pentecôte... D’immenses bateaux blancs comme des cygnes, et qui s’appellent Lohengrin, sur lesquels mille pèlerins chantent, leurs yeux renvoyant aux rives l’éclat du soleil. L’Allemagne passe, en foule, sous la massive protection d’espèces de grands soldats noirs aux jambes écartés, l’arme aux poings. Un velouté d’âme dans l’air... Quelque chose d’héroïque et de suprêmement jeune, s’efforçant d’essuyer une vieille poussière... une vieille tache de sang... une vieille faute... Coblence... la foule abondante. (GdF, S. 27, Kursivierung im Text) Das zuvor evozierte Weiß der Wallfahrer und die Atmosphäre „[s]eelenvolle[r] Weichheit“ (GK, S. 11) kontrastiert mit den imposanten, schwarz bekleideten, bewaffneten, jugendlich-heroischen Soldaten, die ihr Bemühen vereine, alte Fehler vergessen zu machen. Damit spielt Châteaubriant auf die kriegerischen deutsch-französischen Auseinandersetzungen an, die nun endgültig der Vergangenheit angehören, wie er durch die dreimalige Wiederholung des Attributs „vieille“ betont. 3.5 Hitler - die „Kultfigur“ 170 Hitler, dans l’ordre de la littérature, m’appartient un peu: je ne crains pas de dire qu’il est de ceux dont, lors de la dernière guerre, j’avais prévu l’inéluctable apparition. 171 zarts (GdF, S. 169) lauscht, er von Schumanns Liedern spricht und Goethe bewundert (GdF, S. 172) oder auf den Spuren E. T. A. Hoffmanns (GdF, S. 316ff.) wandelt. 170 Allg. zum NS- und Hitler-Kult s. Vondung, Klaus: Magie und Manipulation: Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1971. 171 So Châteaubriant in seinem Vorwort zu einem Hitler glorifizierenden, von Hildegart Hess (s. Kp. 3.4, Fn. 159) zusammengestellten Album mit Fotografien von Heinrich Hoffmann (1885-1957), Hitlers „‚Leibfotografen’ und sogenannten ‚Reichsbildberichterstatter’“ (Schmölders, Claudia: Hitlers Gesicht, S. 11). Châteaubriant, Alphonse de: Préface. In: Un Homme parmi les Autres...: Un chef et son peuple. Texte et composition de H. Hess. Préface d’Alphonse de Chateaubriant [sic]. [Paris]: Editions Trois Epis, s.d., S. 3-9, hier S. 3. In den Worten des vor Begeisterung trunkenen Autors, der - „[p]orté sur les ailes d’un délire verbal et mental“ - sich rühmt, das Kommen des gottgleichen Führers vorhergesehen zu haben, sieht Amouroux exemplarisch „un certain type de collaborationnisme de passion“ ausgedrückt. S. Amouroux, Henri: Les beaux jours des collabos: juin 1941-juin 1942. Paris: Laffont, 1978 (La grande histoire des Français sous l’Occupation; 3), S. 213f., Hervorhebung BB. Für den heutigen Betrachter schwer erträglich ist dieses vermeintliche „document authentique“, so Châteaubriant, das es dem besetzten Frankreich ermöglichen solle, „de se faire une représentation juste de cette personnalité d’une valeur et d’une importance si exceptionnelles.“ Hitler wird u.a. als kinderliebender und naturverbundener Schöngeist in- <?page no="136"?> 136 Großen Raum nimmt die Beschreibung Hitlers ein, denn „[p]our bien comprendre l’Allemagne actuelle, qui est en partie l’œuvre d’Hitler, il faut d’abord comprendre et définir Hitler.“ 172 (GdF, S. 65). Er ist der Beweggrund seiner Reise: „Oui…, c’est certainement ce qui hâte mes pas pour mon retour en Allemagne: la question, le problème Hitler…“ (GdF, S. 70). Die quasi religiöse und hymnische Verehrung Hitlers ist ein Spezifikum Châteaubriants, die auch Brasillach irritierte: ‚Châteaubriant ist ein freundlicher und milder alter Ehrenmann, der aber eine merkwürdige Berufung zu haben scheint. Wenn er von Hitler spricht, gerät er leicht in einen Trancezustand. Er sieht in ihm einen Palladin [sic], der von der Vorsehung erkoren ist, um die Menschheit vor dem Bösen zu retten. Er glaubt, die Zeiten der Apokalypse zu erleben. Er ist sehr wachen Geistes, und wenn er schreibt oder spricht, ist seine Sprache die eines Auserwählten. Es ist, als käme er aus einer höheren Sphäre, aus der er zu den Menschen auf der Erde spricht.‘ 173 Um besagtes „problème Hitler“ ad absurdum zu führen und das tradierte Negativbild von Deutschland als Aggressor zu widerlegen, geht Châteaubriant strategisch vor: Er lässt zunächst respektable Vertreter der Opposition zu Wort kommen, um anschließend deren Argumente wirkungsvoll zu entkräften. Einer ihrer Stellvertreter ist beispielsweise der von ihm geschätzte Katholik Dr. Hermann D., „le plus doux, le plus lumineusement religieux des êtres“ (GdF, S. 17), der den Nationalsozialismus wegen seiner „‚[a]tmosphère surchauffée... Accaparement de la jeunesse... Déification d’un homme... de toute une race! ...‘“ (GdF, S. 17f.) verurteilt; ihm zufolge szeniert. Mehr als unwahrscheinlich ist, dass die letzten Fotos (Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens in Compiègne; Hitlers und Pétains „Händedruck in Montoire“) die französischen Leser für Hitler-Deutschland gewinnen konnten. Neben Zitaten von Châteaubriant werden die „admirables photographies“ geziert von Hitler und den Nationalsozialismus verherrlichenden Auszügen bspw. aus Louis Bertrands Hitler (1936), Philippe Barrès’ Sous la vague hitlérienne (1933), Célines Ecole des cadavres (1938) oder Denis de Rougements Journal de l’Allemagne (1938). Vgl. Châteaubriant, Alphonse de: Préface. In: Un Homme parmi les Autres..., Zitate der Reihe nach S. 3, 5. Zur Entstehung des Albums und dem Wunsch von „M lle D r . Hildegart Hess“, „l’HOMME, ‚de[n] Mensch[en]’ Adolf Hitler“ zu präsentieren, „[qui] malgré sa miraculeuse puissance, malgré son extraordinaire attraction sur les âmes de son peuple, malgré sa vertigineuse et éclatante ascension au plus haut pouvoir […] est toujours resté naturel, spontané, cordial, simple, presque modeste, il est resté un homme parmi les autres…“, vgl. Hess’ Beitrag in der anlässlich von Hitlers 54. Geburtstag am 20. April 1943 edierten Sonderausgabe von Notre Combat: Hebdomadaire politique, littéraire, satirique: Hess, Hildegart: „Un chef et son Peuple, un homme parmi les autres“. In: Notre Combat: L’Europe juge Adolf Hitler. Numéro spécial, N° 42, 24 avril 1943, S. 19-21, Zitate der Reihe nach S. 19, 22, Majuskeln und Kursivierung im Text. 172 Dieses Zitat ist als Motto dem besagten Fotoalbum zu Ehren Hitlers vorangestellt. Un Homme parmi les Autres...: Un chef et son peuple. Texte et composition de H. Hess. Préface d’Alphonse de Chateaubriant [sic]. [Paris]: Editions Trois Epis, s.d., o.S. 173 Zit. in Epting-Kullmann, Alice: Pariser Begegnungen, 1972, S. 61f., Hervorhebung BB. <?page no="137"?> 137 sei die Seele im Rassismus genauso verloren wie im Kommunismus und Europa nicht mehr Christi würdig (GdF, S. 18f.). Châteaubriant hält dagegen, dass ihn seine Intuition angesichts dieser Katastrophe, die sich über dem gottlosen Europa zusammenbraue, zu Hitler geführt habe, in dem er „une certaine lumière véritable et véridique“ (GdF, S. 20) sieht, ein Licht, das den Weg aus dem Chaos weise, gleich einer Pflanze, die Kellermauern durchbricht und ihren Weg ans Tageslicht findet. Das gesamte fünfte Kapitel mit dem Titel „La main tendue“ (GdF, S. 45- 53), eine Hand, die Hitler laut Châteaubriant Frankreich als Zeichen der Versöhnung entgegenstreckt, ist ein Lobgesang auf Hitler; zugleich dient es dazu, frankreichfeindliche Passagen aus Mein Kampf 174 , „la Bible de l’Allemagne“ (GdF, S. 48), zu verharmlosen. Um zu unterstreichen, dass Hitler heute hehre Absichten hege, zitiert Châteaubriant u.a. Auszüge aus Hitlers Gespräch mit dem Journalisten Fernand de Brinon 175 (1885-1947), in dessen Verlauf Hitler bekräftigt habe, dass NS-Deutschland keine Ansprüche auf Elsass-Lothringen erhebe (GdF, S. 45f.) und den Krieg ablehne: „‚La guerre? Mais elle ne réglerait rien.’“ (GdF, S. 46). Dank seiner Einsicht und seines agilen Geistes („l’évolution d’un esprit toujours en mouvement“, GdF, S. 49) sei Hitler heute von der deutsch-französischen Verständigung 174 Hitler habe Mein Kampf 1923/ 24 im Gefängnis voller Hass auf die französischen Besatzer des Ruhrgebiets geschrieben („avec tout son cœur d’Allemand ulcéré“). Doch sei der Führer heute ein ganz anderer Mann. Vgl. GdF, S. 47f. Ein weitaus gewichtigerer Grund für Hitlers Hass auf Frankreich war indes, dass er dieses für Deutschlands gefährlichsten Feind hielt, weil nur bei den Franzosen „eine tatsächliche Identität nationaler und jüdischer Interessen“ vorläge und er in den Franzosen den „militärischen Arm der Juden“ sah, deren beider Interesse die Vernichtung Deutschlands sei. Vgl. Zehnpfennig, Barbara: Hitlers Mein Kampf: Eine Interpretation. 3. Aufl. München: Wilhelm Fink Verlag, 2006, S. 263f. 175 Im Auftrag des Ministerpräsidenten Edouard Daladier traf Fernand de Brinon Hitler im September 1933 zweimal, am 19. November 1933 war er der erste französische Journalist (L’Information), dem der neue Reichskanzler ein Interview gewährte, aus dem Châteaubriant zitiert. Ein Auszug des Interviews findet sich bei Domarus, Max (Hg.): Hitler: Reden und Proklamationen 1932-1945, Bd. 1, S. 332-334; dort heißt die entsprechende Stelle: „Soll ich wahnwitzig sein? Der Krieg? Er würde keine Regelung bringen, sondern nur die Weltlage verschlimmern.“ Ebd.: S. 333. Während der Besatzung wurde der Mitbegründer des Comité France-Allemagne Schirmherr der Gruppe Collaboration und auf Ersuchen der Deutschen zum Botschafter Vichys beim Deutschen Reich ernannt. Präsident der LVF und den ultra-kollaborationistischen Milieus nahestehend, kritisierte Brinon öffentlich den Attentismus der Regierung Lavals (Déclaration commune sur la situation politique, 5. 7. 1944), kurz darauf gehörte er in Sigmaringen zur fünfköpfigen Commission gouvernementale. Brinon wurde im April 1947 hingerichtet. „Fernand de Brinon“. In: Rousso, Henry: La collaboration: Les noms, les thèmes, les lieux. Paris: MA Editions, 1987, S. 45-46. Zu Brinons Unterredungen mit Hitler s. Unteutsch, Barbara: Vom Sohlbergkreis zur Gruppe Collaboration, S. 285f., Fn. 68 und 69. Ausf. s. Franz, Corinna: Fernand de Brinon und die deutsch-französischen Beziehungen 1918-1945. Bonn: Bouvier, 2000 (Pariser Historische Studien; 54). S. auch Kp. 4.9.2.1. <?page no="138"?> 138 überzeugt. 176 Pathetisch-kitschig klingen Châteaubriants Worte, wenn er aus Hitler den demutsvollen Kriegsveteranen mit Sinn für Ästhetik macht, den der Gedanke an die Versöhnung der Nachbarländer beseele: Parfois, il rêvait d’aller seul lancer dans les eaux du Rhin une couronne de laurier tressée à la gloire des soldats allemands et français morts pour leur patrie, et parfois il imaginait, car il a le goût de l’architecture, quelque monument grandiose dédié aux morts des nations réconciliés. (GdF, S. 49f.) Zur Bekräftigung und Legitimation verweist Châteaubriant auf zwei ausgewiesene französische Deutschlandkenner und Mitglieder „des wohl effizientesten elitär-kooptativen Verbindungsnetzes zwischen beiden Nationen“: des Deutsch-Französischen Studienkomitees. 177 In seiner jüngsten Publikation L’Allemagne nouvelle (1936) bestätige der Germanistikprofessor an der Sorbonne Henri Lichtenberger 178 (1864-1941) Hitlers ehrliche Absichten (GdF, S. 50). Ausführlich zitiert er aus Régis de Vibrayes 179 1935… Paix avec l’Allemagne (1934), worin dieser der französischen Regierung mangelnde Bereitschaft zur Versöhnung mit Deutschland vorwirft und den massiven „‚anti-germanisme’“ kritisiert (GdF, S. 52, Kursivierung im Text). 176 Interessant ist der Hinweis Hildebrands, es sei selbst bis zum heutigen Tage schwierig, Hitlers tatsächliche Intentionen gegenüber Frankreich vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs einzuschätzen, d.h. zu entscheiden, „ob es sich bei Hitlers Friedensversicherungen und Ententebemühungen gegenüber Frankreich in den dreißiger Jahren allein um taktische Äußerungen im Zuge einer ‚Strategie grandioser Selbstverharmlosung’ handelte und er im Grunde unbeirrt den Prinzipien der in ‚Mein Kampf’ entworfenen Frankreichpolitik folgte, oder ob der Diktator zumindest teilweise nicht doch einen - wie auch immer gearteten und zu welchen Zielen bestimmten - Ausgleich mit Frankreich tatsächlich suchte.“ Hildebrand, Klaus: „Die Frankreichpolitik Hitlers bis 1936.“ In: Francia 5 (1977), S. 591-625, hier S. 595. 177 Bock, Hans Manfred: Berlin-Paris, Paris-Berlin: Zur Topographie zivilgesellschaftlicher Begegnung in der Locarno-Ära. In: Ders.; Mieck, Ilja (Hgg.): Berlin-Paris (1900- 1933): Begegnungsorte, Wahrnehmungsmuster, Infrastrukturprobleme im Vergleich. Bern: Peter Lang, 2005 (Convergences; 12), S. 15-68, hier S. 50. 178 Verhalten fiel die Kritik des Ehrenmitglieds Henri Lichtenberger, „Gründer und spiritus rector“ des im Dezember 1930 eröffneten Institut d’études germaniques und einer der „namhafte[n] Begründer der französischen Hochschul-Germanistik“ (Ebd.: S. 51) am Nationalsozialismus in L’Allemagne nouvelle aus. Trotz eines Aufrufs zur Vorsicht glaubte er, „que ‚l’Allemagne éternelle subsiste sous la chemise brune du hitlérisme’“. Zit. in Merlio, Gilbert: Lichtenberger, d’Harcourt, Vermeil: trois germanistes français face au phénomène nazi, S. 378; zur zwiespältigen Haltung Lichtenbergers gegenüber NS-Deutschland und Hitler s. auch Hofer, Hermann: Die faschistoide Literatur, S. 116. 179 Comte Régis de Vibraye war Beisitzer des Comité France-Allemagne. Unteutsch, Barbara: Vom Sohlbergkreis zur Gruppe Collaboration, S. 132. <?page no="139"?> 139 Gegen die allgemein geäußerte Kritik, Hitler sehe nicht wie ein Genie 180 aus, wendet Châteaubriant ein, wichtiger sei Hitlers nationales und rassisches Genie, wodurch er sein Volk verkörpere. Diese Tatsache rechtfertigt Châteaubriant zufolge auch, dass sich Hitler mit Christus verglichen haben soll: „‚Je suis en vous et vous êtes en moi‘, lui arriva-t-il de dire, a-t-on prétendu“ (GdF, S. 66, Kursivierung im Text) kann als Paraphrasierung von Jesu Trostworten an die Jünger - „Ich bin in meinem Vater, ihr seid in mir, und ich bin ich euch.“ (Joh 14, 20) - verstanden werden. 181 In einem Atemzug (und Satz) zeigt der Autor Hitlers Stärken in Zeiten des Elends auf, denen er durch semantische Dopplung („unifiés“/ „liés“; „lié“/ „et un“) und unter Heranziehung eines Naturvergleichs Nachdruck verleiht, um dann in Abwandlung einer Doxologie 182 Hitler und das Volk in eins zu setzen: [C]’est là une chose bien splendide et bien forte que nous puissions être unifiés et liés indissolublement, comme le paysage du bord du lac est lié et un avec son reflet, et donc comme Hitler, vivant dans le cœur de son peuple, est lié à son peuple et un avec son peuple. (GdF, S. 67) Châteaubriants Führer-Hymne krönt das einem „blason du corps“ ähnelnde detaillierte Porträt Hitlers als jugendlich-kräftigen, aristokratisch-dynamischen Adonis, dessen Äußeres in Form „eines grotesk anmutenden panthéisme hitlérien“ als malerisches Abbild der ihn umgebenden Idylle gepriesen wird. 183 Der „Proto“-Arier Hitler ist rein und aufrecht wie eine Orgelpfeife und zugleich bewundernswert feminin-zart: Ses yeux sont du bleu profond des eaux de son lac de Königsee, quand le lac, tout autour de Sankt Bartholoma, reflète les puissantes cassures striées de nuages de son Tyrol. Il est exaltant de se trouver près de lui quand il parle! Sa souplesse et son jeu dans l’obéissance à toutes les impulsions des mouvements de sa pensée sont là l’expression plastiquement objectivitée de son génie. Son 180 Das Wort „Genie“ fällt auf dieser Seite (GdF, S. 66) insgesamt neunmal. Es ist bezeichnend, dass diese (zu) lyrische Lobeshymne auf Hitler nicht in die deutsche Übersetzung übernommen wurde. 181 Alle im weiteren Verlauf der vorliegenden Untersuchung zitierten Bibelstellen erfolgen nach Die Bibel: Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung. Freiburg, Basel, Wien: Herder, 1980. 182 Châteaubriants Worte erinnern an die Schlussworte des Hochgebets: Durch ihn und mit ihm und in ihm/ ist Dir, Gott, allmächtiger Vater… 183 Clamor, Annette: Dekadenz als Kampfbegriff: Der französische Hitler-Kult als literarische Abrechnung mit der III. Republik. In: Sändig, Brigitte; Risterucci-Roudnicky, Danielle; Obergöker, Timo (Hgg.): Literarische Gegenbilder der Demokratie, S. 87-99, hier S. 98, Fn. 37, Kursivierung im Text. Chadwick zieht hier eine Parallele zu Châteaubriants Beschreibung der Verschmelzung der Protagonisten in Monsieur de Lourdines und La Brière mit dem Boden: „In much the same way as Châteaubriant earlier emphasised Timothée des Lourdines et Aoustin’s fusion with their soil, Hitler’s eyes suggest his unity with his ‚soil‘”. Chadwick, Kay: Alphonse de Châteaubriant: Catholic Collaborator, S. 139. <?page no="140"?> 140 corps vibre, sans s’évader une seconde du galbe de sa tenue; son mouvement de tête est juvénile, sa nuque est chaude. Ce dos là [sic] n’a pas été cabossé par les sales passions de la politique: il est plein et pur comme un tuyau d’orgue. Et la main fine est vive, alerte, souple, intelligente, féminine. Oui, sans doute, il y a, il reste de la femme dans cet homme-là! Heureusement! (GdF, S. 68, Kursivierung im Text) 184 Mit dem Kult um Hitlers Augen, die „leuchten bergseetief und klar“, greift Châteaubriant einen Topos des nationalsozialistischen Führerlobs auf. 185 Zudem leitet er, inspiriert von der Physiognomik, die seit der Jahrhundertwende zunehmend im Zeichen der Rassenkunde stand 186 - der NS- Politiker Richard Walther Darré definierte den Nationalsozialismus als „‚angewandte Rassenkunde’“ 187 - aus Hitlers Physiognomie (Schläfen, Nase, Abstand der Nasenflügel von den Ohren) die durch Epitheta betonten positiven Charaktereigenschaften wie „un haut idéalisme“, „une très remarquable acuité d’intuition“, „une puissance léonine“ und „une im- 184 In dieser nicht nur in orthografischer, sondern auch in geografischer Hinsicht fehlerhaften Passage, vertut sich Châteaubriant, wenn er den in der Nähe von Hitlers Residenz, dem „Berghof“ auf dem Obersalzberg im Berchtesgadener Land, gelegenen Königssee mit der Wallfahrtskirche Sankt Bartholomä nach Tirol verlegt. Clamor vermutet darin eine Hommage an den Geburtsort Hitlers. Clamor, Annette: Dekadenz als Kampfbegriff, S. 98. 185 So z.B. Gerhard Schumann in seinem Gedicht Begegnung mit dem Führer, in dem er Hitler entsprechend der von den Nationalsozialisten instrumentalisierten christlichen Ikonografie als „zärtlich[e]“ und kinderliebende Vaterfigur darstellt, ergänzt durch den soldatisch-kämpferischen Topos vom „unerbittlich[en]“ Führer. Bühner, Karl Hans (Hg.): Dem Führer: Gedichte für Adolf Hitler. 4. Aufl. Stuttgart: Georg Truckenmüller, 1942, S. 10. Zum „‚Vater Hitler’“ vgl. das gleichnamige Kapitel der Dissertation von Atze, Marcel: Unser Hitler: Der Hitler-Mythos im Spiegel der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Göttingen: Wallstein-Verlag, 2003, S. 174-219, hier S. 186. Speziell der Hitler-Ikonografie in Malerei und Grafik des Nationalsozialismus gewidmet ist die Dissertation von Ronge, Tobias: Das Bild des Herrschers in Malerei und Grafik des Nationalsozialismus: Eine Untersuchung zur Ikonografie von Führer- und Funktionärsbildern im Dritten Reich. Berlin: LitVerlag Dr. W. Hopf, 2010 (Kunstgeschichte; 89), vgl. darin insb. die Erläuterungen zur Darstellung des Führers als „Erlöser und Lichtgestalt“ (S. 77ff.), „Künstler und Baumeister“ (S. 86ff.) sowie als „Zeremonienmeister und Hohepriester“ (S. 96ff.). Zur Fetischisierung der Augen und Hände Hitlers durch den von ihm geschätzten Houston Stewart Chamberlain (1855- 1927), Schwiegersohn Richard Wagners (1813-1883) und Verfasser der von Gobineaus Rassenlehre beeinflussten Grundlagen des 19. Jahrhunderts (1899), s. Schmölders, Claudia: Hitlers Gesicht: Eine physiognomische Biographie. München: Beck, 2000, S. 59, 110. 186 Zur Physiognomik als „Parawissenschaft, die zwischen 1918 und 1945 die körperliche Wahrnehmungslehre in Deutschland“ dominierte (s. Willy Hellpachs Deutsche Physiognomik: Grundlegung einer Naturgeschichte der Nationalgesichter, 1942) und deren Ursprünge (s. Johann Caspar Lavaters Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und der Menschenliebe, 1775-1778), vgl. Ebd.: S. 9, 23. 187 S. „Rassenkunde“. In: Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus, S. 512-514, hier S. 513. Zu Darré s. Kp. 3.8. <?page no="141"?> 141 mense bonté“ ab (GdF, S. 69). Hitlers „Güte“ als seine herausragendste Eigenschaft hebt er durch dreimalige Wiederholung des Adjektivs „bon“ hervor und dadurch, dass er diesen als Kinderfreund und verletzlichen Menschen darstellt: „Regardez-le au milieu des enfants, regardez-le penché sur la tombe de ceux qu’il aimait; il est immensément bon, et, je le repète: bon“ (ebd., Kursivierung im Text). Nicht von ungefähr wird dieser Satz wenige Jahre später eine Fotografie in dem von Châteaubriant mitgestalteten „Führer-Album“ Un Homme parmi les Autres ...: Un chef et son peuple zieren, das einen lächelnden Hitler zeigt, der einen Blumenstrauß aus Kinderhänden entgegennimmt. 188 Aus diesen Gründen werde dieser einsame Denker und vermeintliche Diktator von seinem Volk geliebt (GdF, S. 68). Diese exklusive Konzentration auf Hitlers Äußeres und dessen Ausstrahlung rückt Châteaubriant in die Nähe zahlreicher deutscher Hitler-„Fans“, die sich, wie der französische Botschafter im Berlin der dreißiger Jahre André François-Poncet (1887-1978) konstatierte, „ébranlés, entraînés, comme le batelier par le chant de la Lorelei“, von der Inszenierung des Führers verführen ließen. 189 Die Motivation für Hitlers Handeln sieht Châteaubriant begründet in den den tapferen Frontkämpfer - so die von der NS-Propaganda nach 1933 popularisierte „heroisierende Selbstdarstellung“ 190 - traumatisierenden Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, die den Dichter auch selbst geprägt haben, und in der deutschen Niederlage von 1918. Pathetisch ruft er die Götter an, sie möchten die verfeindeten Nationen ruhen lassen, wobei er die romantischen Bilder von Frankreich als dem Land der Weinberge und Deutschland als Land der Wälder evoziert. An seine Leserschaft richtet er den Appell, Hitler zuzuhören: Du charnier qui s’est formé dans l’entonnoir sanglant de l’obus inventé par ces hommes de fer, s’est levé un homme... Grands Dieux, laissez pour un soir la France et l’Allemagne reposer un instant, l’une sur son oreiller de vignobles, l’autre sur son grand lit de forêts, et écoutons l’homme qui s’est levé de ce charnier, le front dans les mains, en silence. (GdF, S. 70) 188 Un Homme parmi les Autres..., o.S. Das bereits erwähnte Album schließt (Einband) mit einer Fotografie Hitlers, der erneut lächelnd die Hände eines kleinen blonden Mädchens im Trachtenkleid hält. 189 François-Poncet, 1943 von den Nationalsozialisten verhaftet und interniert, war nach dem Krieg von 1949 bis 1955 französischer Botschafter in Bonn. François-Poncet, André: Souvenirs d’une ambassade à Berlin: Septembre 1931-Octobre 1938. Paris: Flammarion, 1946, S. 113. 190 Thomas Weber widerspricht in Hitlers erster Krieg (2011) der These, der Erste Weltkrieg sei Hitlers „Schlüsselerlebnis“ gewesen, und demontiert die Legende vom heroischen Frontsoldaten. Vgl. die Rezension von Ullrich, Volker: „Der Gefreite: War Hitler im Ersten Weltkrieg der tapfere Frontsoldat, als der er sich später darstellte? Der Historiker Thomas Weber sorgt jetzt für neue Diskussionen.“ In: Die ZEIT, 10. 3. 2011, S. 55. <?page no="142"?> 142 Hitler ist nicht nur der Sohn der Grande Guerre, „debout au milieu des morts“ (GdF, S. 72), sondern auch der biblische „fils de l’homme“, dem das Gesetz des Lebens offenbart wurde („révélation“, GdF, S. 74). Der Nationalsozialismus sei hervorgegangen aus der Konfrontation des Lebens mit dem Tod, was er durch die chiastische Verbindung „la mort et la vie. La vie et la mort“ (GdF, S. 73) unterstreicht. Die suggestive Frage, „[w]elche Kraft war es nun, die den damaligen Musketier und Gefreiten Adolf Hitler, der schwer verwundet in Pasewalk eingeliefert wurde, zu dem größten Deutschen aller Zeiten gemacht hat? Welche Kraft ist das gewesen? “ 191 beantwortet Châteaubriant präzise: „[S]ich selbst zum wiederholten Mal zum visionären Exegeten Hitler‘scher Introspektionen stilisierend, [lässt er] seine Leser sogar am fiktiven ‚Konversionserlebnis’ des Diktators teilhaben“. 192 In diesem Moment sei Hitler zu einem (erwählten) Sehenden geworden: Il a fait, dans les limites du peuple allemand, ce qu’il est conseillé à tous les hommes de faire par un certain précepte souverain. Ce précepte demande à chaque homme de se sacrifier pour tous, de renoncer à soi-même pour tous [...]. [I]l a vu une loi, comme un homme voit quand il voit, il a vu cette loi s’inscrire au-dessus de la fosse, il a vu cette étoile se refléter dans le sang. Et ce jour-là, il ne fut ni Allemand, ni Français, il fut un homme qui voit. Et ce qu’il a vu, il l’a si bien transporté dans le sang spirituel de ses frères germains, que sa parole, quand il leur dit maintenent [sic] ‚mon peuple‘ trouve en ce sang même le cri qui lui répond. (GdF, S. 75, Kursivierung im Text) Wenn Châteaubriant betont, Hitler habe „gesehen“, dass die Welt eines neuen Menschen bedurfte - „un nouvel homme, la nouvelle créature“ (ebd., Kursivierung im Text) -, dessen oberstes Gebot die freudvolle Selbstaufopferung 193 zugunsten einer größeren Sache sein musste, so paraphrasiert er Hitler, der im Nationalsozialismus mehr als eine politische Bewegung und Religion sah, nämlich den „‚WILLE[N] ZUR NEUEN MENSCHEN- SCHÖPFUNG’“ 194 . Der Kritik aus dem Ausland, die Hitler einen Propheten 191 So Robert Ley in seinem „Glaubenskenntnis“ auf den Führer, in dem er aber gerade hervorhebt, dass Hitlers Weg „kein Wunder […] und keine kultische Angelegenheit“ gewesen sei, sondern „aus tiefem Willen und deutschem Mannestum“ geschehen sei. Ley, Robert: „Ich glaube an den Menschen Adolf Hitler! “ In: Freiheit und Persönlichkeit: Reden und Vorträge anläßlich der Tagung der Gau- und Kreisschulungsleiter der NSDAP auf der Ordensburg Krössinsee (Pomm.) vom 16. bis 24. Oktober 1938. Hrsg. vom Hauptschulungsamt der NSDAP, München. München, 1938, S. 11-22, hier S. 12. 192 Clamor, Annette: Dekadenz als Kampfbegriff, S. 95. Knoll sieht darin eine Parallele zu Châteaubriants „religiöser Erweckung“ im Ersten Weltkrieg. Knoll, Michael: Der französische Faschismus, S. 77. 193 Den Wesenskern des Christentums sieht er im Nationalsozialismus verkörpert: „le sacrifice de soi-même“ (GdF, S. 245); „celui qui sacrifie tout de lui“ (GdF, S. 249). 194 Zit. in Ach, Manfred; Pentrop, Clemens: Hitlers „Religion“: Pseudoreligiöse Elemente im nationalsozialistischen Sprachgebrauch. Hrsg. im Auftrag der Arbeitsgemein- <?page no="143"?> 143 nennt, der seinem Volk den Nationalsozialismus wie eine Religion aufoktroyiere 195 (GdF, S. 189f.), hält er ein Zitat Hitlers entgegen, der sich als Führer, d.h. als Beauftragter der Deutschen versteht (GdF, S. 191). Châteaubriant sieht in Hitler einen Gläubigen, der unter göttlichem Schutz steht: Während Hitler mit der einen Hand sein Volk grüßt, halte er mit der anderen ununterbrochen die Hand Gottes, der ihn schütze ebenso wie einst Daniel, den er aus der Löwengrube rettete (GdF, S. 136). 3.5.1 „L’âme ‚réaliste’ allemande“ Châteaubriant zieht eine Parallele zwischen dem faschistischen Menschenbild, wie es der Nationalsozialismus postuliert, der das Individuum der Gemeinschaft unterordnet, und der mittelalterlichen Auseinandersetzung zwischen Nominalisten und Realisten, dem Universalienstreit. 196 Dieser Debatte misst der Autor große Bedeutung zu: Châteaubriant zufolge habe der Ausgang des Konflikts, den er mit dem Kampf des Engels gegen Jakob vergleicht, über Jahrhunderte hinweg über das Schicksal der westlichen Gesellschaft und die Zukunft der Christenheit entschieden (GdF, S. 128f.). Zur Illustration seiner Auslegung des Universalienstreits stellt er dem Franziskaner und Naturphilosophen Roger Bacon (um 1220 - nach 1292) den franziskanischen Kirchenlehrer Bonaventura (Johannes Fidanza, 1221- 1274) sowie den bedeutenden Mystiker und Kreuzzugsprediger Bernhard von Clairvaux (1090-1153) gegenüber: Bacon habe das Vorrecht des Individuums postuliert: „[I]l voulait se fonder sur la dignité de l’individu, super dignitatem individui. Le monde, soutenait-il, a été fait pour des individus et non pour l’homme universel“ (GdF, S. 130, Kursivierung im Text). Dies schaft für Religions- und Weltanschauungsfragen. 5. Aufl. München: Irmin-Edition 3, 1996, S. 4, Majuskeln im Text. Diesen neuen Menschen verkörpert laut Châteaubriant Hitler selbst: „Hitler est un homme nouveau“ (GdF, S. 112). 195 Daran ließ Hitler in Mein Kampf keinen Zweifel: „‚Der durchschlagendste Erfolg einer weltanschaulichen Revolution wird immer nur dann erfochten werden, wenn die neue Weltanschauung möglichst allen Menschen gelehrt und, wenn notwendig, später aufgezwungen wird.’“ Zit. in Alexander, Edgar: Der Mythus Hitler. Unveränd. Nachdr. [d. Ausg.] Zürich, 1937. München: Kraus Repr., 1980, S. 223f., Kursivierung im Text. 196 Im sog. Universalienstreit um die Realität und Existenz der Universalien (Allgemeinbegriffe) standen sich die Positionen des Nominalismus und Realismus gegenüber: Der Nominalismus lehnt den platonischen Universalienrealismus ab mit der Begründung, dass Universalbegriffe „nicht in der extramentalen Wirklichkeit, sondern ausschließlich im Verstand [existieren]. Der Platonismus vertritt die Existenz des Allgemeinen in der Wirklichkeit und die Vorgängigkeit des Allgemeinen vor dem Einzelnen, das am Allgemeinen partizipiert (universale ante rem).“ Diese Ansicht variiert der Aristotelismus, demzufolge das Allgemeine dem Einzelnen inhärent sei (universale in re). Wendel, Saskia: „Nominalismus“. In: Franz, Albert; Baum, Wolfgang; Kreutzer, Karsten (Hgg.): Lexikon philosophischer Grundbegriffe der Theologie. Freiburg u.a.: Herder, 2003, S. 296-297, hier S. 296, Kursivierung im Text, Hervorhebung BB. <?page no="144"?> 144 negierten „[l]es Jean de Fidanza, les Saint Bernard [qui] ne raisonnaient pas au nom de l’univers, simple catégorie humaine, mais au nom de l’infini, comme on le prétendait, mais selon une méthode intérieure prenant son soutien dans la Réalité divine même.“ (ebd.). Für alle Übel, an denen die gegenwärtige Gesellschaft kranke, macht Châteaubriant den Nominalismus verantwortlich. Dazu zählen nicht nur ihr „scepticisme et son matérialisme individualiste“, sondern in letzter Konsequenz auch der Bolschewismus, denn dieser sei „l’acceptation par la société même de cet état où l’a conduite la pratique de l’individualisme, et de l’adhésion totale de l’esprit à la méthode objective.“ (GdF, S. 132f.). Er plädiert für eine mittelalterliche Gesellschaft, gestützt auf den christlichen Menschen als Fundament, der durch Roger Bacons Einfluss „passa de l’âme à l’esprit et à la chair“ (GdF, S. 134). Diese stetige Degeneration sieht er im Menschen der Renaissance vollendet, der den größtmöglichen Kontrast zum Christen bilde und der über die Jahrhunderte hinweg bis in die Gegenwart hinein noch tiefer gesunken sei, was er durch die wiederholte Benennung der Phasen seines Niedergangs bis zum endgültigen Sturz und Verfall zu Asche verdeutlicht: Entre ces deux hommes, le Chrétien et l’homme de la Renaissance, se mesure un abîme: le premier prenait toute sa force en Dieu; le second chercha toute sa force en l’homme. Aujourd’hui, cet homme, cet individu de la Renaissance, de diminution en diminution, de suppression en suppression, de chute en chute, ne présente plus au bout de son évolution, qu’une cendre, impersonnelle, sans identité et sans substance. (GdF, S. 134f.) Damit ist Châteaubriant am Ziel seiner Argumentation angelangt, die darauf abhebt, das christliche Wesen des Nationalsozialismus zu demonstrieren: Nur der Nationalsozialismus, der die Individuen zum Verzicht auf sich selbst verpflichte, könne die Menschheit aus der Hölle und vor der Sintflut retten (GdF, S. 133ff.). In Hitler sieht er die Verkörperung der „Ame ‚Réaliste‘ allemande, - laquelle veut réagir contre le nominalisme et la décadence cartésienne - dont le dernier terme est le Marxisme.“ (GdF, S. 136f., Kursivierung im Text). Verblendet vom religiösen Schein des Nationalsozialismus, instrumentalisiert Châteaubriant die unzulänglich ausgelegten mittelalterlichen Quellen für seine Beweisführung: Châteaubriant’s exploitation of the nominalist-realist debate in his presentation of Hitler’s Germany stands a weighty evidence of his allocation of Christian values and principles to National Socialism. It therefore also reveals a highly questionable logic and thought process in terms of his understanding of the true nature of Christian thought, showing that his grounding in Catholic doctrine did not enable him to see through the bogus religiosity of National Socialism. Furthermore, his reading of the medieval sources is inadequate. Men such as Aquinas and Bacon emerge as flat, one-sided thinkers - the intellectual and the scientist, respectively - men whose rich, multi-faced thought is barely referenced, so keen is Châteaubriant to attack in them what he personally cannot <?page no="145"?> 145 accept. […] His supreme confidence in his own intellectual and spiritual ‚superiority’, sometime thinly veiled by a false modesty, betray an arrogance beyond measure. 197 3.6 Feindbilder 3.6.1 Bolschewismus Übereinstimmend mit dem Nationalsozialismus, aber auch einer Vielzahl französischer Katholiken 198 , sieht Châteaubriant im Bolschewismus den größten Feind nicht nur Frankreichs, sondern Europas, der die Propagierung des NS-Modells rechtfertige: In der roh materialistischen marxistischen Weltanschauung, die an Stelle des Qualitätsbegriffes den rein stofflichen Quantitätsbegriff setzte; welche den Wert der schöpferischen Persönlichkeit verneinte und die M a s s e aufrief; welche die völkische und politische Lüge sich zum Grundsatz machte, erblickt der Nationalsozialismus seinen Todfeind [...]. Diese Weltanschauung zu überwinden und sie zu vernichten, ihre Hauptvertreter aber nach jeder Richtung hin unschädlich zu machen, ist mit das wichtigste Ziel der NSDAP. 199 Mit der Charakterisierung der „feindlichen“ Ideologie „als etwas Fremdes, Asiatisch-Barbarisches“ - die unter den Bezeichnungen „canons d’Asie“ (GdF, S. 167), „l’Asie“ (GdF, S. 230), „‚idéologie asiatique de destruction et de bouleversement de toutes les valeurs acquises’“ (GdF, S. 254), „abîme“ (GdF, S. 199), „Staline“ (GdF, S. 156), „Ivan le terrible“ (GdF, S. 141, 347), „Méphistophélès moscovite“ (GdF, S. 165), „Gengis-Khan“ (GdF, S. 257) figuriert und „Sivâ“-Rufe im Ural (GdF, S. 138) versinnbildlichen - ist die Überzeugung verbunden, der Bolschewismus „sei der Todfeind und präsumtive Zerstörer der westlichen, europäisch-christlichen Zivilisation.“ 200 197 Chadwick, Kay: Alphonse de Châteaubriant: Catholic Collaborator, S. 141f. Vgl. auch Mouniers Kritik, der Châteaubriant vorwirft, „[d’]expose[r] avec délire la doctrine naziste du primat de la collectivité sur la personne: il croit ainsi défendre le primat de l’universel sur le particulier, de la communion et du renoncement sur l’égoïsme, du réalisme sur le nominalisme. La confusion de la personne et de l’individu s’étale à chaque page“. Mounier, Emmanuel: „A. de Châteaubriant: La Gerbe des Forces“, S. 688. 198 Zu dem schlagwortartig mit „Hitler, plutôt que le bolchevisme? “ benannten Komplex, vgl. u.a. das gleichnamige 4. Kapitel in Christophe, Paul: 1939-1940, les catholiques devant la guerre, S. 43-60. Die Kritik am Bolschewismus ist mit Leitthema in Châteaubriants Lettres des années de guerre, 1914-1918. 199 Rosenberg, Alfred (Hg.): Das Parteiprogramm: Wesen, Grundsätze und Ziele der NSDAP. München: Zentralverlag der NSDAP Franz Eher Nachf., 1942, S. 12, Sperrung im Text. 200 Wirsching, Andreas: „Auf dem Weg zur Kollaborationsideologie“, S. 41. Wirsching fügt jedoch hinzu, dass die französische extreme Rechte den anti-bolschewistischen Kampf mit der Opposition gegen Liberalismus und Parlamentarismus verknüpfte, <?page no="146"?> 146 Die insbesondere im Kapitel Le volcanisme konzentrierte Warnung vor der bolschewistischen Gefahr durchzieht als roter Faden den gesamten Text und gleicht einem Aufruf zur „Gesta Dei per Germanos“, womit Châteaubriant seiner Zeit und der Gründung der LVF vorauseilt, deren Mission der Kreuzzug gegen den Bolschewismus ist. 201 Den Bruch des Versailler Vertrages 202 durch Hitler-Deutschland rechtfertigt er mit dem Argument, dass es sich nur so gegen die Bedrohung, welche die „politique de Moscou“ (GdF, S. 53) für Europa darstelle, verteidigen könne. Diese habe bereits von Frankreich Besitz ergriffen und instrumentalisiere es, indem sie insinuiere, Deutschland sei Frankreichs Feind, was Châteaubriant entrüstet verneint. Aufgrund seiner geografischen Lage sei das friedliebende Deutschland stärker der Bedrohung durch Russland ausgeliefert als Frankreich oder England: L’Allemagne actuelle n’a aucun projet contre la France. Cet esprit de proie que nous lui prêtons n’est pas le sien: elle veut des œuvres de paix. Mais hélas, une fois de plus, nous ne nous trouvons pas au même point qu’elle pour juger du jeu et de son jeu: elle occupe le centre de l’Europe. La France et l’Angleterre sont dans l’Océan... (ebd.) Wiederholt bedient sich Châteaubriant einer plastischen Schwarz-Weiß- Malerei, um Gut (NS-Deutschland) und Böse (das bolschewistische Russland) zu kontrastieren: Hitler-Deutschland wird in einer Klimax zum alleinigen („seule“) Retter des schwachen Frankreichs hypostasiert („Nous manquons d’héroïsme.“, GdF, S. 114), das exemplarisch das französische Bürgertum verkörpere. Dieses vergleicht er in anschaulichen Tierbildern mit einem in höchster Gefahr schwebenden Bienenschwarm und mit Stopfgänsen, die vom schlimmsten Feind („les pires ennemis“, „monstre“, GdF, S. 113f.) verschlungen zu werden drohen: Nous allons nous blottir, tel un essaim d’abeilles désorienté, sur le bord de la gueule du monstre, par la seule peur de la seule force au monde et de la seule dernière puissance qui soit notre seul espoir! (ebd.) La bourgeoisie française, en ce jour: exactement le troupeau d’oies que l’on garde pour le foie-gras de la table des dirigeants moscovites. (GdF, S. 115) was bedeutete, „daß der Bolschewismus nicht ausschließlich als fremdes, antizivilisatorisches Phänomen betrachtet wurde, sondern auch als mehr oder minder logisches Resultat der Dekadenz der westlichen Zivilisation.“ Ebd. S. 42. 201 Zynisch hatte sich Thérive über Châteaubriants Kreuzzuggebaren lustig gemacht: „‚Gesta Dei per Germanos’, la formule pourrait servir de devise [...] à deux chapitres: Animus et Anima, le Volcanisme, où je prie le lecteur de se reporter s’il ne craint la migraine.“, Thérive, André: „La Gerbe des Forces“. In: Le Temps, 16. 9. 1937, S. 3, Kursivierung im Text, Hervorhebung BB. 202 Mit der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht und der Außerkraftsetzung der Begrenzung der Heeresstärke hatte Hitler am 16. März 1935 die wesentlichen militärischen Auflagen des Versailler Vertrages verletzt. S. Franz, Corinna: Fernand de Brinon und die deutsch-französischen Beziehungen 1918-1945, S. 135. <?page no="147"?> 147 Châteaubriant stilisiert sich zum Sehenden, der die Gefahr der bolschewistischen Bedrohung, einer zu bekämpfenden (biblischen) Plage 203 („fléau“, GdF, S. 117), erkennt: „Si vous voyiez ce que je vois, vous seriez épouvantés de ce que vous ne voyez pas... l’ombre du redoutable index de Staline sur le petit front français.“ (GdF, S. 114f.). Wie es der Irrealis der Gegenwart zum Ausdruck bringt, erfüllen die in der Tradition Voltaires 204 erzogenen räsonierenden und deswegen blinden Franzosen diese Bedingung allerdings nicht, worin er eine tödliche Schwäche sieht: En bref, il raisonne et ne voit pas. Il enchaîne des propositions, sans se représenter le réel de ce dont il parle. Il voit ce qu’il voit, sans se douter qu’il ne voit pas ce qui est à voir. Il voit sa logique, qui est une logique de mots. Tel est un de nos défauts mortels. Ce ne serait rien si nous le connaissions, mais nous ne le connaissons pas... (GdF, S. 119, Kursivierung im Text) 203 Vgl. in diesem Kontext die Diffamierung der „Pariser Kommunistenkundgebung im Prinzenpark“ durch die NS-Propaganda als Belege für die „Weltpest Kommunismus in Westeuropa“. S. Illustrierter Beobachter 11. Jg., Folge 42, 15. 10. 1936, S. 1685. 204 In dem nicht nur die antiken Begriffe Animus und Anima, sondern auch C. G. Jungs (1875-1961) Syzygie evozierenden gleichnamigen 10. Kapitel (GdF, S. 111-162; Geist und Seele, GK, S. 61-82) kontrastiert Châteaubriant das deutsche und französische Wesen. Er kritisiert das zu stark der Logik verhaftete, weder fühlende noch sehende Frankreich, das der Aufklärer und Kirchenkritiker Voltaire (1694-1778) verkörpere: „Etes-vous donc si fier que cela du sourire de Voltaire? En Allemagne il n’y a pas de sourire de Voltaire.“ (GdF, S. 119). Zugleich fasst er diesen Gegensatz in Naturbilder, wenn er das deutsche Genie und seine Seele in der sich vom Schwarzwald durch die Unendlichkeit bis hin zum Schwarzen Meer schlängelnden Donau repräsentiert sieht im Gegensatz zur geradlinigen Rhône, der ruhigen Loire und der tändelnden Seine, die er wiederum mit den rationalistischen Philosophen René Descartes, Blaise Pascal und dem „klassischen“ Tragödienautor Jean Racine vergleicht (GdF, S. 126f.). Dies erinnert an den von Victor Hugo in der Conclusion seines Reiseberichts Le Rhin benannten Dualismus von Deutschland und Frankreich, in denen er die für Europa und die Zivilisation zentralen Länder sieht: „La France et l’Allemagne sont essentiellement l’Europe. L’Allemagne est le cœur; la France est la tête. L’Allemagne et la France sont essentiellement la civilisation. L’Allemagne sent, la France pense. Le sentiment et la pensée c’est tout l’homme civilisé.“ Hugo, Victor: Le Rhin. Bd. 2. Paris: Rouff, 1841, S. 49 (Conclusion). Vgl. auch die entsprechende Interpretation des pro-nationalsozialistischen Rezensenten Spiegelberg: „Deutschland und Frankreich im Weltbild A. de Châteaubriants“, S. 117. Als Pendant von deutscher Seite ist in diesem Kontext die Publikation des Berliner Romanisten Eduard Wechssler (1869-1949) Esprit und Geist: Versuch einer Wesenskunde des Deutschen und des Franzosen (1927) erwähnenswert, ein „Monumentalfresko der nationalkulturellen Wesensmerkmale ‚der Deutschen’ und ‚der Franzosen’“ ebenso wie die Kritik des Dresdner Romanistik-Professors Victor Klemperer (1881-1960), der vor diesem Zeugnis „‚faschistische[r] Methode auf wissenschaftlichem Gebiet’“ warnte. Bock, Hans Manfred: Das Eigene, das Fremde und das Ganz-Andere: Zur Stellung Victor Klemperers in der kulturkundlichen Frankreich-Diskussion der Weimarer Republik. In: Ders.: Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung, S. 123-144, Zitate der Reihe nach S. 131, 133. <?page no="148"?> 148 Zur Unterstreichung seiner Argumentation aktualisiert der Autor „ein[en] stehende[n] Topos des militanten Antikommunismus“ 205 : Detailliert führt er die Anzahl bolschewistischer Mordopfer auf, wobei er sich auf die Autorität der „entente internationale de Genève“ vom 6. August 1936 beruft (GdF, S. 115) mit dem Ziel, Frankreich in die Nähe der „race magnifique“ 206 der Deutschen zu rücken und maximale Distanz zu den „inquiétants Slaves“ herzustellen (GdF, S. 120). Hitler, der für eine Revolution mit globalem Ausmaß stehe („Cette révolution est […] universelle, dans le sens où elle fut, entre le Rhin et l’Oder, l’expression allemande d’une Nécessité universelle.“, GdF, S. 140), widersetze sich dem Bolschewismus, der die bürgerliche Gesellschaft vernichte. Er warnt vor Moskau, das sich „allen Ernstes bemüht, die Katholiken zu gewinnen“ (GK, S. 69), und prangert unter Verwendung religiösen Vokabulars („christianisme“, „évangélique“, „sème“, „pope“, „autel“, „communion“) dessen scheinheilige Maskerade und Verleumdung der, so Châteaubriant distanzierend, „sogenannten“ faschistischen 207 Regierungen Italiens und Deutschlands an, die es zu Werken des Widersacher Gottes - „les deux empires du ‚Prince de ce monde’“ (vgl. Joh 12, 31) - dämonisiere (GdF, S. 141f.). Sich vordergründig mit seinem Land solidarisierend („nous“), das noch immer in seinem alten Groll auf Deutschland gefangen sei, den Iwan der Schreckliche, die Inkarnation des russischen Grauens, weiter anheize, rückt er um so bestimmter von seinen Landsleuten ab („vous“), denen er Rigidität vorwirft: Nous sommes toujours intoxiqués par nos rancunes du passé [...] et pendant que le maître de l’heure, Yvan-le-Terrible, encourage cette rancune [...], vous vous endormez dans les cristallisations sociales du non-être comme ces poissons et ces reptiles des couches du tellurien, que l’on retrouve dans les assises refroidies du globe. (GdF, S. 141) Dass die ehemals stattliche und gewitzte Marianne 208 regrediert sei, illustriert er, indem er sie mit dem winzig kleinen Rotkäppchen vergleicht, das der russische Wolf 209 in Gestalt der Großmutter zu zerdrücken drohe: 205 Wirsching, Andreas: „Auf dem Weg zur Kollaborationsideologie“, S. 41. 206 Vgl. den Anklang an Michelet, der Deutschland als ein Land und eine Rasse verstand: „L’Angleterre est un empire, l’Allemagne un pays, une race; la France est une personne.“ Michelet, Jules: Histoire de France. Tome 2. 2 ème édition. Paris: Hachette, 1835, S. 126. 207 Nachdem der Schriftsteller an dieser Stelle erstmalig den Terminus „fasciste“ verwendet und eindeutig seinen Dissens mit dieser Zuschreibung markiert, benutzt er ihn ein weiteres Mal indirekt, wenn er auf die französische Presse verweist, die seiner Meinung nach den Nationalsozialismus diffamiere: „Je songeai à tous les Français penchés à ce moment sur leur journal, et qui se nourrissent de formules contre les ‚crimes du fascisme assassin‘.“ (GdF, S. 307). 208 Die Figur der Marianne allegorisiert seit der Französischen Revolution die Freiheit der französischen Nation. Jurt, Joseph: Le couple franco-allemand, S. 52. <?page no="149"?> 149 La grande Marianne au beau bonnet phrygien, un bonnet qu’elle semblait avoir chipé, la belle, sur la tête du berger Pâris, est devenue toute, toute petite... devenue toute petite... est devenue exactement le petit chaperon rouge... aujourd’hui couchée à côté d’une fausse grand’mère, animal à grandes dents et à faux bonnet de nuit, aux oreilles hautes comme les monts Ourals, et qui la presse entre ses pattes velues. (GdF, S. 155) Der nach positiver Vereinheitlichung strebende Nationalsozialismus bilde den Gegenpart zum unterjochenden Bolschewismus, der gemäß superlativischer 210 Zuschreibung, die Inkarnation allen Übels sei: Le N.S., égalisation vers le haut, le bolchévisme vers le bas, par la dépersonnalisation civique. La dépersonnalisation n’est grandissante que si elle est consentie et religieuse, autrement elle constitue la plus odieuse des violences autant que le plus dément des abandons. 211 (GdF, S. 256) Châteaubriant verweist auf die Berliner Antikomintern-Ausstellung 212 , auf der die weltweite Ausbreitung des Bolschewismus als zerstörerisches Feuer 213 dargestellt wurde, das nur ein einziger Mann zu ersticken vermocht habe: „Cet homme, c’est HITLER.“ (GdF, S. 254, Majuskeln im Text). Durch die wiederholte Bezeichnung als „un seul homme“, der heroisch zum Kampf auf Leben und Tod bereit gewesen sei, stilisiert Châteaubriant, im Einklang mit der Parteipropaganda 214 , Hitler zum auserkorenen Erlöser vom Bolschewismus, in dem dieser „‚cette idéologie asiatique de destruction et de bouleversement de toutes les valeurs acquises’“ erkannt habe 209 Vgl. den erneuten Vergleich des Bolschewismus mit einem „loup affamé“ (GdF, S. 260). 210 Vgl. auch „Le bolchévisme a ses racines dans les fonds les plus troubles de la primitivité la plus obscure.“ (GdF, S. 257); „[Il] est l’esprit de domination des instincts les plus violents“ (GdF, S. 260). 211 Dieser Absatz ebenso wie die Anprangerung des Bolschewismus als „l’impérium ‚négatif’“ wird im Juni 1941 eine aus verschiedenen Zitaten zusammengestellte, den Bolschewismus denunzierende Seite in La Gerbe zieren. N.N.: „Pour l’ordre européen“. In: La Gerbe, 26. 6. 1941, S. 10. 212 Zur Illustrierung der gegen die Kommunistische Internationale (Komintern, gegründet 1919) gerichteten Propaganda vgl. das Handbuch der Anti-Komintern (Hg.): Der Weltbolschewismus: Ein internationales Gemeinschaftswerk über die bolschewistische Wühlarbeit und die Umsturzversuche der Komintern in allen Ländern. Der am 25. 11. 1936 zwischen Japan und dem Deutschen Reich geschlossene Anti-Kominternpakt verschärfte die antikommunistische Propaganda. Vgl. die propagandistische Inszenierung der „Unterzeichnung des deutsch-japanischen Vertrages gegen die bolschewistische Weltpest“ u.a. mit Fotografien von Heinrich Hoffmann in Illustrierter Beobachter 11. Jg., Folge 49, 3. 12. 1936, S. 2018. 213 Die mitschwingende Assoziation vom Feuer der Hölle (u.a. Mt 18, 9) ist sicherlich nicht zufällig. 214 Zu der von Goebbels forcierten Inszenierung „Hitlers als ‚Führer’, ‚Erneuerer’, ‚Erwecker’ und ‚Erlöser’“, s. Ranke, Winfried: „Propaganda“. In: Enzyklopädie des Nationalsozialismus. Hrsg. von Wolfgang Benz, Hermann Graml und Hermann Weiß. 5., akt. und erw. Aufl. München: dtv, 2007, S. 27-45, hier S. 35. <?page no="150"?> 150 (ebd.). Zerstörung (i.e. „destruction“, „détruire“, „destructeur“) lautet das beharrlich zur Abwertung des Bolschewismus verwendete Schlagwort des Romanciers. Zwischen dem russischen „Là-bas“ und dem deutschen „Ici“ (GdF, S. 255f.) klaffe eine unüberbrückbare Kluft. Während trotz der weltweiten Erniedrigung des Individuums dieses in den Tiefen der deutschen „âme de la race“ 215 (GdF, S. 256) seine Freiheit gefunden habe, sei die proletarische russische Gesellschaft Inkarnation alles Negativen: „[L]’individu est complètement absorbé, dépersonnalisé, déshumanisé; une société édifiée, comme à la main, du dehors, sur une interprétation du marxisme par des esprits d’origine israélite 216 , chinoise, lettonne, tartare.“ (GdF, S. 255). Der Anklang an die von Hitler in Mein Kampf 217 diffamierte „jüdisch-bolschewistische Verschwörung“ ist deutlich, der Satz schwerlich nicht als antisemitische 218 Äußerung des Autors zu interpretieren. Vielmehr ist diese ein Vorgeschmack auf Châteaubriants La Gerbe-Artikel im Dienste des Kreuzzugs gegen die „guerre judéo-bolchevique“ 219 , die er in apokalyptischen Bildern als Ungeheuer evoziert: „Nous sommes, avec ce bolchevisme intégral, devant une crise humaine sans précédent, dont les Staline, les plouto- 215 Vgl. auch GdF, S. 171. Hier klingt der von den Nationalsozialisten gebrauchte nebulöse Ausdruck der „Rassenseele“ an, der „eine den Rassen zugesprochene Psyche, etwas Überindividuelles [bezeichnete], das durch Vererbung auf den einzelnen übergehen, ihn prägen und in ihm Ausdruck finden soll.“ Rosenberg bediente sich des Begriffs, um „tiefsinnig-unverständliche Begründungszusammenhänge für nationalsozialistisches Handeln“ zu evozieren; der Nationalsozialismus wurde zum „Erwecker der ‚Rassenseele’“ stilisiert. S. „Rassenseele“. In: Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus, S. 522-524, hier S. 522ff. 216 Der Dictionnaire culturel en langue française weist das Adjektiv „israélite“ als Synonym von „juif“ aus; als Substantiv tritt es im 19. Jahrhundert neben die abwertend empfundene Bezeichnung „juif“. „Israélite“. In: Dictionnaire culturel en langue française, Tome II, S. 2129. 217 In Mein Kampf heißt es u.a.: „‚Die jüdische Lehre des Marxismus lehnt das aristokratische Prinzip der Natur ab und setzt an Stelle des ewigen Vorrechtes der Kraft und Stärke die Masse der Zahl und ihr totes Gewicht. Sie leugnet so im Menschen den Wert der Person.‘“ Zit. in Gumbrecht, Hans Ulrich: 1926: Ein Jahr am Rand der Zeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 2003, S. 305, Hervorhebung BB. 218 Obgleich Wirsching auf diese Textstelle verweist, hebt er die ansonsten mangelnde „antisemitische Schuldzuweisung“ in Châteaubriants Lob des Nationalsozialismus hervor. Wirsching, Andreas: „Auf dem Weg zur Kollaborationsideologie“, S. 57 sowie Fn. 120. Nicht überzeugen will Knolls Einschätzung, dieser Satz klinge zu sehr „nach ideologischer Kraftmeierei, zu wenig nach authentischem Châteaubriant.“ Auch schließt sein Vergleich mit einer als ungleich aggressiver qualifizierten antisemitischen Literatur à la Céline im Umkehrschluss mitnichten den antisemitischen Gehalt der Châteaubriant’schen Feststellung aus. Knoll, Michael: Der französische Faschismus, S. 79. 219 Châteaubriant, Alphonse de: „Le salut de tous“. In: La Gerbe, 17. 7. 1941, S. 1. <?page no="151"?> 151 crates et les Juifs de tout le tour du globe sont les organes aveugles et assouplis“. 220 Die Gleichsetzung des Bolschewismus mit allem Übel spricht aus der bizarr anmutenden Analogie zwischen Cäsar und Hitler: So wie nur der Imperator im alten Rom dem Bolschewismus habe Einhalt gebieten können, so gelinge dies jetzt nur Hitler, der im Unterschied zu seinem römischen Vorgänger jedoch noch Größeres zu vollbringen habe, da er die ganze Welt retten müsse (GdF, S. 258). 221 Wenn der Dichter eine Verbindung herstellt zwischen der Auflösung des religiösen Geistes und unter Anspielung auf Ijob 26, 6 vom Sturz der Menschheit in den „Abgrund“ (GK, S. 126), d.h. in die Hölle des „athéisme moscoutaire“ (GdF, S. 259) spricht - interpretiert als nichts anderes als „eine Überspitzung des französischen Jakobinergeistes im nihilistischen Sinn“ (GK, S. 127) -, greift er die Botschaft der Enzyklika Divini Redemptoris vom 19. März 1937 auf, in der Pius XI. warnte vor dem „bolschewistischen und atheistischen Kommunismus, der die Welt so furchtbar bedroht und darauf ausgeht, die soziale Ordnung umzustürzen und die Fundamente der christlichen Kultur zu untergraben.“ 222 Châteaubriants anti-bolschewistischer Diskurs gipfelt in der Verdammung des Bolschewismus als Feind Gottes, „l’esprit, l’impérium ‚négatif‘ des temps“ (GdF, S. 259, Kursivierung im Text). 223 Nicht nur einem destruktiven (Höllen-)Feuer, sondern auch einem brodelnden Vulkan gleiche der Bolschewismus, der unter seinem glühenden Lavastrom alles begrabe (GdF, S. 261), worin der fundamentale Unterschied zum Nationalsozialismus liege: „[L]’un détruit tout ce qui peut être détruit et l’autre sauve tout ce qui peut être sauvé.“ (GdF, S. 263). Zur Bekräftigung zitiert er die Zöglinge der Ordensburgen und ihr in Antithese („Chrétiens“ vs. „Athées“, „détruire“ vs. „construire“, „perdre“ vs. 220 Ders.: „Le monstre et son mensonge“. In: La Gerbe, 10. 2. 1944, S. 1. Châteaubriants Botschaft symbolisiert die den Leitartikel „schmückende“ Abbildung von Albrecht Dürers Holzschnitt Michaels Kampf mit dem Drachen aus dem Zyklus Apokalypse (1498). 221 Die identische Formulierung („Il a sévi à Rome du temps de Marius, où, sans l’intervention de César ...“) findet Jahre später Eingang in den bereits zitierten La Gerbe- Leitartikel Le salut de tous. 222 Rundschreiben unseres Heiligen Vaters Pius XI. durch Gottes Vorsehung Papst an die ehrwürdigen Brüder Patriarchen, Primaten, Erzbischöfe, Bischöfe und die anderen Oberhirten, die in Frieden und Gemeinschaft mit dem Aostolischen [sic] Stuhle leben: Über den atheistischen Kommunismus. Authentische dt. Übertr. Berlin: Buchverl. Germania, 1937, S. 3. Bereits in der Enzyklika Quadragesimo anno (1931) hatte der Papst den unmenschlichen Kommunismus verurteilt. Christophe, Paul: 1939- 1940, les catholiques devant la guerre, S. 44f. 223 Vgl. die identische Formulierung in Châteaubriant, Alphonse de: La psychologie et le drame des temps présents. Conférence donnée le 27 janvier 1943 au Cercle Européen: Sceaux, impr. de Charaire, 1943, S. 11. <?page no="152"?> 152 „vivre“) zum „gottlosen“ Bolschewismus aufgebautes repetitives Credo vom „christlichen“ Nationalsozialismus: ‚Nous voulons pour notre peuple la discipline et l’honneur. Nous sommes en Allemagne des Chrétiens; les Bolchévistes sont des Athées. Les Bolchévistes veulent détruire le monde; nous, nous voulons construire notre pays. Le Bolchévisme veut perdre les pays nationaux; nous, nous voulons que notre pays vive; mais nous ne voulons pas que ce soit aux dépens des autres.‘ (GdF, S. 290) Die finale Naturgewalt, die der Visionär zur Dämonisierung des Bolschewismus evoziert, ist die einer (Sint-)Flut 224 , vor der nur NS-Deutschland das blinde Frankreich schützen könne: „Elle ne voit pas le flot qui monte, elle ne voit même pas ce qui serait sa défense, le môle qui contiendrait cette marée destructrice.“ (GdF, S. 322). Die eventuelle Entscheidung Frankreichs für Moskau käme einer endzeitlichen Naturkatastrophe gleich („cataclysme“, GdF, S. 336). 3.6.2 Individualismus und Liberalismus Das Gegenbild zum französischen Individualismus sieht Châteaubriant in den 120.000 Menschen verkörpert, die sich zur Feier des Gautages unter der Sonne von Koblenz versammelt haben. Die uniformierten Soldaten und die disziplinierte deutsche Gesellschaft verkörpern exemplarisch das nationalsozialistische Gleichheitsprinzip, wie es die insistierenden Wiederholungen „Tous les mêmes“, „tous les mêmes“, „tous rangs“, „tous âges“, „toutes professions“ (GdF, S. 29f.) betonen: Angesichts des Befunds „il n’est plus ni haut ni bas“ (GdF, S. 30) könne sich der französische Individualismus nur beschämt „verkriechen“ (GK, S. 12). Ziel der Nationalsozialisten sei „le perfectionnement indéfini de leur humanité germanique“ (GdF, S. 61) durch die Unterordnung individueller Bedürfnisse unter das Gemeinwohl. Diese Schlussfolgerung zieht der Dichter aus einer (unter Rückgriff auf den Nietzsche’schen Antagonismus) Dionysien et Apollinien (GdF, S. 55-60) überschriebenen Unterhaltung, die er und ein französischer Freund mit zwei Deutschen in einem verrauchten Bierkeller mit tief hängender Decke, so die heimelige nationalstereotypische Lokalisierung, über das deutsche und französische Wesen geführt haben; die Rahmung soll augenscheinlich suggerieren: „Das Volk, nicht die Eliten raisonnieren; Freundschaft, nicht Diplomatie lenkt das Gespräch; Wahrheit, nicht Staatsraison diktiert das Denken.“ 225 Doch bereits die un- 224 Ähnlich: „pour inonder de ses torrents de lave ce qui reste de l’homme.“ (GdF, S. 261); „le débordement bolchévique“ (GdF, S. 344). 225 Zur Demaskierung „diese[s] ganze[n] Zaubers“ als „genau kalkulierte Demagogie“ s. Fricke, Dietmar: „Die Literatur der Résistance und Kollaboration im Französischunterricht: Ein fachdidaktischer Beitrag zu einem vernachlässigten Kapitel deutschfranzösischer Vergangenheitsbewältigung (II)“. In: Die Neueren Sprachen 82: 5/ 6 (1983), S. 425-458, hier S. 440f. <?page no="153"?> 153 gleich höheren Redeanteile der nationalsozialistischen Gesprächspartner demonstrieren die „manipulative Lesesteuerung“. 226 Wenn von deutscher Seite postuliert wird „‚Gemmeinnutz 227 geht vor Eigennutz‘ … ‚La collectivité vient avant l’individu…’ Voilà ce que nous méditons nuit et jour! “ (GdF, S. 57, Kursivierung im Text), was als dionysischer Grundtrieb präsentiert wird, findet eine wirkungsmächtige nationalsozialistische Losung von der „Volksgemeinschaft als ‚Sozialgemeinschaft’“ Eingang in den Text, verstanden als eine aus Blutsgemeinschaft, Schicksalsgemeinschaft, nationalsozialistischer Glaubensgemeinschaft hervorgegangene Lebensgemeinschaft, in der Klassen, Parteien, Standesgegensätze und individuelle Interessen zugunsten des gemeinsamen Nutzens aller Volksgenossen aufgehoben sein sollen. 228 Diese „Blutsgemeinschaft“ veranschaulicht drastisch die „Krötenparabel“ 229 , wenn aus der Sektion des „animalcule“ - „‚C’était beau comme une musique parfaite. Et la plus grande leçon était là contenue! ’“ - abgeleitet wird, die Deutschen seien keine vereinzelten Blutkörperchen, sondern: „‚Nous sommes du sang.’“ (GdF, S. 60). Aus dem von der Zivilisation „verseuchten“ und jahrhundertelang von Individualismus und Sensualismus „verunreinigten“ „misérable Européen“ wolle Hitler den besten Menschen formen (GdF, S. 76). Dieses Anliegen der in biblischer Terminologie als „résurrection“ markierten Erneuerung seines Volkes verfolge der Führer auch mit dem Haus der deutschen 226 Ebd.: S. 441. 227 Die fehlerhafte Orthografie bleibt trotz beigefügter Korrekturliste der Errata (o.S.) erhalten. 228 S. „Volksgemeinschaft“. In: Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus, S. 654-659, hier S. 654 und 658, Kursivierung im Text. Das Kapitel Leurs organisations (GdF, S. 189-214) ist den Organisationen im Interesse der NS-Volksgemeinschaft wie Kraft durch Freude, Deutsche Arbeitsfront, Winterhilfswerk gewidmet. Knapper Überblick über die ideengeschichtlichen Ursprünge der Volksgemeinschaft bis zur nationalsozialistischen Instrumentalisierung als „schlagkräftige Propagandaformel im Kampf gegen die Weimarer Republik und die politische Linke“ bei Thamer, Hans-Ulrich: Nation als Volksgemeinschaft: Völkische Vorstellungen, Nationalsozialismus und Gemeinschaftsideologie. In: Gauger, Jörg-Dieter; Weigelt, Klaus (Hgg.): Soziales Denken in Deutschland zwischen Tradition und Innovation. Bonn: Bouvier, 1990, S. 112-128, hier S. 113. Zum Konnex „Volksgemeinschaft und Verbrechen“ vgl. die jüngst u.a. von Hans-Ulrich Thamer kuratierte Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin: Hitler und die Deutschen: Volksgemeinschaft und Verbrechen. Eine Ausstellung der Stiftung Deutsches Historisches Museum, Berlin, 15. Oktober 2010 bis 6. Februar 2011. Hg. von Hans-Ulrich Thamer und Simone Erpel für die Stiftung Deutsches Historisches Museum. Dresden: Sandstein Verlag, 2010. 229 Nach Fricke präludiert „[d]er Blutkreislauf als Harmoniegemälde […] erschreckend den Faschismus; die plakative Tierliebe verdeckt den Menschenhaß; die ‚scène scientifico-barbare’ gibt eine Vorahnung von Holocaust.“ Fricke, Dietmar: „Die Literatur der Résistance und Kollaboration im Französischunterricht“, S. 441. <?page no="154"?> 154 Erziehung in der Gauhauptstadt Bayreuth: „[D]étruire, déraciner, l’intellectualisme, le libéralisme, l’individualisme, et procéder par l’éducation des enfants“ (GdF, S. 80). Durch Evokation des Bildes vom Reinwaschen spielt Châteaubriant explizit auf die Sündenvergebung an: „lavé“, „laver“, „nettoyer“, „pureté des sources“ stehen „souillures“, „contaminations“, „contaminé“ , „déformations“ gegenüber (GdF, S. 76f.). Diese Assoziation bestätigt die Erwähnung des Jordan, wodurch Hitler zunächst implizit, folgend explizit 230 mit Johannes dem Täufer (u.a. Mk 1, 4-5) und der Nationalsozialismus mit dem christlichen Glauben verglichen wird, der einen neuen gereinigten und befreiten Menschen hervorgebracht habe: C’est à la France à ne pas ignorer ce qu’il a voulu et accompli. Quatre ans, pour refaire moralement cet homme, pour lui rendre l’ordre et la joie, pour libérer jusque dans ses sources son souffle intérieur, pour le nettoyer dans son être, le faire descendre nu dans le Jourdain, quatre ans pour le laver de son sang et le transporter là où il n’y a plus de conflit, hors de la lutte des classes. Car telle était la solution, l’unique solution. (GdF, S. 76f.) Im Gegensatz zum nationalsozialistischen Deutschland könne die „Volks- oder Rassenseele“ 231 den Einzelnen in Ländern, die ein zu stark ausgeprägter Individualismus kennzeichne (in der deutschen Übersetzung abwertend übertragen mit „ausgeprägter persönlicher Eigenwilligkeit“), nicht in gleicher Weise „mit ihrem gemeinsamen Atem beleben.“ (GK, S. 88). Übereinstimmend mit der NS-Ideologie qualifiziert der Romancier die deutschen Jugendlichen, die im hessischen Erbhofdorf 232 Riedrode ihren Reichsarbeitsdienst ableisten - „‚Ausdruck der nationalsozialistischen Sehnsucht nach wahrer Gemeinschaft eines ganzen Volkes’“ 233 -, als exemplarische Gemeinschaft, die ihre „âme collective“ und der „rythme communautaire, élan de camaraderie éprouvé en commun“ eine und die andere Ernten einbringe als „la vaine petite coquetterie individualiste et des vaines petites manières vidées de tout pouvoir.“ (GdF, S. 184). 234 Auf übergeordneter Ebene habe der Verfall der Völker mit dem sich in den Städten ausbreitenden bürgerlichen Liberalismus begonnen, der sich 230 „Ainsi, le chef, ou le baptiste, doit laver aujourd’hui à coups de grandes nappes d’eau le front de l’ancienne société, afin de purifier ce front et d’anéantir toutes les pensées trompeuses et dangereuses.“ (GdF, S. 137f.). 231 S. auch GdF, S. 256; vgl. die Erläuterungen zur „Rassenseele“ in Kp. 3.6.1. 232 Zum Erbhof s. Kp. 3.8. 233 Zum halbjährigen Reichsarbeitsdienst waren gemäß Reichsarbeitsdienstgesetz vom 26. 6. 1935 sowohl weibliche als auch männliche Jugendliche im Alter von 18 bis 25 Jahren verpflichtet. S. „Reichsarbeitsdienst (Arbeitsdienst, RAD)“. In: Schmitz- Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus, S. 532-533, hier S. 533. 234 Ausdruck des französischen Individualismus sei auch, dass „der Franzose“ in der Auseinandersetzung zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus nicht Position beziehen wolle: „Et puis, le Français n’est-il pas raisonnable, individualiste, attaché à sa liberté? “ (GdF, S. 322). <?page no="155"?> 155 wie ein Krebsgeschwür und vergifteter Keim („cancer“, „ce germe empoisonné“, GdF, S. 101) ausgebreitet habe. Frankreich und Großbritannien verkörpern die hohle „idée libertaire“ 235 (GdF, S. 117). Hinter sich gelassen hingegen habe der Nationalsozialismus den Liberalismus der Weimarer Republik, das erklärte Feindbild, das „auf eine umfassende Ablehnung der Moderne mitsamt der parlamentarischen Demokratie, der kapitalistischen Wirtschaft, der bürgerlich-individualistischen Gesellschaftsordnung und dem aufgeklärt-intellektuellen Rationalismus“ 236 verwies (GdF, S. 190). Zur Unterstreichung der negativen Auswirkungen, die der Liberalismus im 19. Jahrhundert mit sich gebracht habe, zitiert Châteaubriant Hermann Althaus 237 (1899-1969), Amtsleiter im Hauptamt für Volkswohlfahrt der Reichsleitung der NSDAP, demzufolge der Wirtschaftsliberalismus an die Stelle des Gemeinschaftslebens unzählige, sich alsbald bekämpfende Partikularinteressen gesetzt habe (GdF, S. 193). Ausführlich stellt Châteaubriant die Meinung des Kommandanten der Ordensburg Krössinsee zum Liberalismus dar (GdF, S. 300f.). Neben dem materialistischen Monismus verurteilt dieser den Deismus Voltaires, worin er den Ursprung des zu einem „fléau 238 dévastateur“ (GdF, S. 300) dämonisierten Liberalismus sieht. Die Zerstörung der religiösen Gesellschaftsordnung im 16. Jahrhundert sowie der Aristokratie zweihundert Jahre später nennt der Kommandant das Werk des Liberalismus, den er denunziert als „‚la plus grande de toutes les dictatures, parce qu’elle obéit à la matière.’“ (ebd.). Ein eklatanter Widerspruch bestehe zwischen der Äußerung des vom Kommandanten abfällig als „‚[l]e Juif Rathenau’“ titulierten jüdischen Reichsaußenministers Walther Rathenau 239 (1867-1922), der die Wirtschaft 235 Hier hakt Thérive ein, der Châteaubriants diffuse Wortwahl und Propagierung der NS-Ideologie verurteilt: „Libéral, libertaire, c’est tout un pour le noble écrivain; mais on avouera que des assertions de ce genre ressemblent exactement aux libelles de ce qu’il faut bien appeler la propagande ennemie.“ Thérive, André: „La Gerbe des Forces“. 236 Arning, Holger: Die Macht des Heils und das Unheil der Macht: Diskurse von Katholizismus und Nationalsozialismus im Jahr 1934 - eine exemplarische Zeitschriftenanalyse. Paderborn u.a.: Schöningh, 2008 (Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft; 28), S. 416. 237 Von Althaus stammt Nationalsozialistische Volkswohlfahrt: Wesen, Aufgaben und Aufbau (1935); er war Herausgeber des Handwörterbuchs der Wohlfahrtspflege (1937- 1939) sowie von Le service social et la communauté: Articles fournis pour la Troisième Conférence Internationale du Service Social réunie à Londres en 1936 (1936), eine Publikation, die Châteaubriant gekannt haben könnte. 238 Auf das Bild der Plage rekurriert Châteaubriant erneut, wenn er die französische Logik als Pest bezeichnet (GdF, S. 119). 239 Der zur Wirtschaftselite des wilhelminischen Kaiserreichs zählende Rathenau (1904 Mitglied, 1912 Vorsitzender des Aufsichtsrats, 1915 Präsident der von seinem Vater gegründeten AEG), war 1920 Wirtschaftssachverständiger für Reparationsfragen und Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei, 1921 Wiederaufbauminister. In seiner sechsmonatigen Amtszeit als Außenminister schloss Rathenau u.a. den Rapallo- <?page no="156"?> 156 zu seinem Schicksal erklärt habe, und dem Nationalsozialismus, für den das Volk über allem stehe (GdF, S. 300f.). Gerade hierin liege die Gefahr verborgen: Der Liberalismus mache den Menschen zum „individu indépendant“, woran dieser schließlich zugrunde gehe (GdF, S. 301). Ist diese antisemitische Äußerung auch als Meinung Châteaubriants auszulegen? Angesichts dessen, dass der Dichter bewusst auswählte, wen und mit welchen Worten er zitierte, er zudem nicht widerspricht oder sich distanziert, kann diese Aneignung nicht ausgeschlossen werden. 240 3.6.3 Demokratie und Parlamentarismus ‚La démocratie issue de la Révolution n’a été finalement que jacobine et elle a fait de nous des Jacobins’, note tristement Châteaubriant dans l’un de ses carnets. 241 Châteaubriants Kritik an der Französischen Revolution, verstanden als Beginn eines Dekadenzprozesses, der „in der laizistischen liberalen Republik seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht hatte“ 242 , geht einher mit der Verurteilung des Parlamentarismus, den nicht nur der Nationalsozialismus als „tausendköpfig[], unfähig[], volkszersetzend[] und dabei unverantwortlich[]“ brandmarkte. 243 Dem Dichter zufolge hat die moderne Demokratie zum größten Unheil geführt, was er durch eine Fülle von negativen Zuschreibungen zum Ausdruck bringt, um diese letztlich auf die Gottlosigkeit der französischen Gesellschaft zurückzuführen: La démocratique politique moderne a apporté sur le tapis vert de la discussion toutes ses convoitises et ses hypocrisies, tout ce qu’il y a de moins élégant, tout ce qui est au suprême degré insatiable appétit et rancune intraitable. […] Particulièrement en France, l’éducation du peuple a été faite, non point pour élever et surélever des hommes, mais afin de confectionner des électeurs et aussi des champions de toute thèse ennemie de l’Idée de Dieu. (GdF, S. 21f.) Vertrag mit Sowjetrussland (16. 4. 1922); zwei Monate später wurde er in Berlin von nationalistischen Angehörigen des paramilitärischen Wehrverbands „Organisation Consul“ erschossen. Ausf. s. Sabrow, Martin: „Walther Rathenau“. In: NDB, Bd. 21, 2003, S. 174-176. Zu Rathenaus Ermordung s. auch Kp. 5.11. 240 Anders Knoll, der erneut argumentiert, dass Châteaubriant „nur“ übermittle: „Diese Rückzugsmöglichkeit muß bei der Interpretation in Rechnung gestellt werden. Eine antisemitische Haltung möchte ich Châteaubriant wegen dieses Satzes nicht unterstellen.“ Knoll, Michael: Der französische Faschismus, S. 79. Im Januar 1949 wird sich Châteaubriant gegen den Vorwurf, Juden verraten zu haben, verteidigen: „Tout d’abord, je n’ai jamais dénoncé à qui ce soit aucun Juif ni aucun franc-maçon, mais n’ai fait que passer mon temps à essayer de les sauver.“ Châteaubriant, Alphonse de: Procès posthume d’un visionnaire, S. 24, Hervorhebung BB. 241 Ders.: L’Acte Intérieur ou le sens intime du divin, S. 97. 242 Wirsching, Andreas: „Auf dem Weg zur Kollaborationsideologie“, S. 42. 243 Rosenberg, Alfred (Hg.): Das Parteiprogramm, S. 26. Nach Hitler manifestierte sich im Parlamentarismus der „Geist der liberalen Demokratie“, die er für den „‚Vorläufer des Marxismus‘“ hielt. Zehnpfennig, Barbara: Hitlers Mein Kampf, S. 76. <?page no="157"?> 157 So ist es nur kohärent, wenn er im September 1940 das Ende der Dritten Republik, die einem Sündenpfuhl gleiche, begrüßen wird: „Cette France de buvette parlementaire et de congrès politiques, de boîtes de nuit et de bistrots-rois, de complaisances et d’hypocrisies, de marchandages et de tripotages [...] nous la regardons mourir sans l’ombre d’un regret.“ 244 Als Gewährsmann ruft der Romancier den Historiker und ehemaligen Direktor der Pariser Ecole Normale Supérieure Numa Denis Fustel de Coulanges (1830-1889) zu Hilfe und zitiert dessen in einem einzigen Satz und einer Klimax kondensierte, in fünf Konditionalsätze untergliederte und sich über eineinhalb Seiten ergießende Verurteilung der klassischen Demokratie aus dem Jahre 1889. Diese bezeichnete er in hyperbolischen Worten als Krankheit, gefährliche Seuche und Tyrannei: ‚Si l’on se représente tout un peuple s’occupant de politique, et, depuis le premier jusqu’au dernier, depuis le plus éclairé jusqu’au plus ignorant, depuis le plus intéressé au maintien de l’état actuel jusqu’au plus intéressé à son renversement, possédé de la manie de discuter sur les affaires publiques et de mettre la main au gouvernement; […] si l’on calcule tout cela, on ne peut manquer de se dire que cette sorte de maladie est la plus funeste et la plus dangereuse épidémie qui puisse s’abattre sur un peuple, […] et qu’en un mot il n’y eut jamais de despotisme au monde qui pût faire autant de mal.’ (GdF, S. 22f., Kursivierung im Text) 245 Dies findet Bekräftigung durch den geschätzten „cher professeur“ 246 , der das neu erblühte, von der Demokratie „bereinigte“ Deutschland, welches das mittelalterliche Treueband wiederbelebt habe, den abqualifizierten Demokratien gegenüberstellt: ‚[L]’Allemagne, entourée de tous les bourdonnements parlementaires des nations, mais purifiée chez elle, devient verte et donne une immense fleur! … une immense fleur! … et savez-vous pourquoi? … parce qu’à la place des stériles consignes jacobines du fonctionnarisme, Hitler a renoué entre les hommes le lien de fidélité! ’ (GdF, S. 99) Einen expliziten Angriff auf die Volksfrontregierung führt Châteaubriant aus, wenn er die regierenden Politiker als frevlerisch kritisiert und ihnen vorwirft, sie hätten die Dekadenz Frankreichs zu verantworten: „Nous ne voulons plus de l’abaissement de la France. Nous voulons voir à la tête de son gouvernement des hommes qui soient de grands donneurs d’exemples, et non d’impies et faux civilisés.“ (GdF, S. 114). Die aufwieglerische und todbringende Demokratie („les hommes de la démocratie démagogique 244 Châteaubriant, Alphonse de: „La France est morte... Vive la France! “ In: La Gerbe, 5. 9. 1940, S. 1. 245 Diese berühmte Passage zitiert auch Maurras u.a. in Devant l’Allemagne éternelle zur Unterstützung seines antidemokratischen Diskurses. Maurras, Charles: Devant l’Allemagne éternelle: Gaulois, Germains, Latins. Chronique d’une résistance. Paris: Ed. „A l’Etoile“, 1937, S. 192f. 246 Gemeint ist Professor Friedrich Panzer. Zu Panzer vgl. auch Kp. 3.3.4, Fn. 152. <?page no="158"?> 158 ont tué les forces merveilleuses de l’Unanimité“, GdF, S. 158) stellt er dem „integren“ Nationalsozialismus gegenüber. Potentielle Einwände wehrt er vorwegnehmend ab: „L’esprit du Parti National-Socialiste? Il n’a rien de démagogique.“ (GdF, S. 159). Um zu vermeiden, ausschließlich als Opponent wahrgenommen zu werden, beschwört Châteaubriant durch die kontinuierliche Verwendung des Personal- und Possessivpronomens „nous“/ „notre“ ein Verbundenheitsgefühl mit seinen Landsleuten herauf („notre parlementarisme“, „nous regardons“, „notre lorgnette“, „nous ne comprenons pas“, „nous croyons comprendre“, „Nous interprétons“, „notre idéologie républicaine“, „nous appelons“, GdF, S. 266); dergestalt ordnet er sich in die Reihe der französischen Parlamentarier ein, welche die Vorgänge in NS- Deutschland mit Skepsis verfolgen, da sie kurzsichtig, so der ironische Verweis auf die Lorgnetten, in ihrer republikanischen Vorstellungswelt gefangen seien. Dieses taktische Vorgehen ist indes von kurzer Dauer. Angesichts der imposanten Ordensburg Krössinsee 247 in Pommern, in welcher er das lebendige Wirken des Nationalsozialismus intensiv habe spüren können, habe die Bürde des Parlamentarismus noch stärker auf ihm gelastet: „Oui, je traîne derrière moi, comme une ombre sous sa lune [...], la noire et longue guenille de mon parlementarisme ignorant, la guenille de l’incompréhension des foules parlementaires.“ (GdF, S. 306). Final steht die Verurteilung „der demokratischen Tücke“ Frankreichs, die „aus dem künstlich und lügenhaft eingeimpften Völkerhaß eine der wesentlichen Triebfedern der Politik“ gemacht habe (GK, S. 160). 3.7 Der Nationalsozialismus Der Nationalsozialismus figuriert unter ausschließlich positiven, zumeist religiös konnotierten Bezeichnungen, so als „Revolution“, „Glaube“, „Religion“, „Idee“, „Neuanfang“, „Sendung“ oder „Bestimmung“. Die Meinung eines Nationalsozialisten „R“ paraphrasierend, wobei er bewusst im Sinne einer Authentifizierung des Gesagten ausgewählte Termini auf Deutsch zitiert, bringt der Dichter seine fundamentale Überzeugung vom „christlichen“ Charakter der NS-Ideologie zum Ausdruck: Der Nationalsozialismus sei kein philosophisches Konstrukt, sondern vielmehr aus der deutschen Seele, dem „‚Wesens-Charakter’ et de l’histoire de l’âme allemande elle-même“ (GdF, S. 63) hervorgegangen. Jeglichen Rationalismus abwehrend, hebt er diesen auf die gleiche, „erhabene“ Stufe wie das Christentum: „[L]es choses suprêmes, comme le Christianisme, ne sont pas des 247 Dass die Besichtigung von Ordensburgen im Interesse der NS-Propaganda geschah, belegt auch Drieu la Rochelles Besuch der Ordensburg Krössinsee im Jahr 1936. Vgl. den Eintrag „Dichter-Besuche“. In: DFMh 3. Jg. (1936), S. 319. <?page no="159"?> 159 conceptions intellectuelles, mais de voie intérieure… (Unterbewusst)… Ainsi tous les peuples doivent trouver leur ‚voie intérieure’.“ (ebd., Kursivierung im Text). Den vonseiten führender französischer Katholiken erhobenen Vorwurf des Hitler’schen Antichristentums pariert er, indem er - in Umkehrung der Anklage - die „religiöse Seele“ Deutschlands herausstellt und die Religionslosigkeit, Synonym von „Voltairianisme“, der laizistischen Dritten Republik denunziert: „[C]e qui fait la force de l’Allemagne hitlérienne, c’est son âme religieuse, et ce qui produit le marasme de la France, c’est le dessèchement religieux qui sévit dans son peuple et chez les dirigeants de son peuple“ (GdF, S. 122). Sein eigenes, tagtägliches Erleben des Nachbarlandes belege, dass der Nationalsozialismus zu Unrecht der Entchristlichung bezichtigt werde („On accuse le National-socialisme de déchristianiser l’Allemagne.“, GdF, S. 226). Sichtbarer Beweis für die Unhaltbarkeit dieser Anschuldigung 248 sei, dass Kruzifixe den öffentlichen Raum schmücken und die Beamten des Reiches weiterhin die Kirchensteuer 249 einziehen; die mehrfache Betonung des Faktums, „[o]n n’enlève pas les crucifix“ mündet ein in den Vorwurf des gegenteiligen Verhaltens im zutiefst antiklerikalen Frankreich: „On n’enlève pas. C’est là le caractère allemand, que nous ne comprenons pas très bien, nous qui appartenons à un pays dévoré par l’anti-cléricalisme, et où l’on enlève! ...“ 250 (GdF, S. 227). Bewusst oder unwissend führt Châteaubriant hier den Leser in die Irre: Mit keiner Silbe erwähnt er den Protest des Oldenburger Landes im Jahr 1936 gegen das im Zeichen des „Hakenkreuzes“ erlassene Verbot des „Christenkreuzes“ in öffentlichen Gebäuden. 251 248 Des Weiteren argumentiert er, dass ihm Vertreter des Gaus von Bayreuth den Reliquienschrein in der Wallfahrtskirche von Vierzehnheiligen gezeigt haben, „[p]arfaitement respectueux du caractère sacré de l’endroit“ (GdF, S. 228), was er als Zeichen der Offenheit und Toleranz des Nationalsozialismus wertet („liberté d’esprit“, „absence totale de scepticisme“, „inexistence [...] de tout sentiment de raillerie“, GdF, S. 229). Ebenso hindere einen jungen Nationalsozialisten nichts daran, eine Kette mit einem Kreuz zu tragen (GdF, S. 230). 249 Die Nichtigkeit dieser Aussage belegt die Tatsache, dass selbst Hitler „bis zu seinem ‚Untergang’ Katholik [blieb] und […] brav Kirchensteuer [zahlte].“ Hausmann, Frank-Rutger: „Der Führer zahlt Kirchensteuer. Und dann und wann eine Vorsehung: Die religiöse Einstellung führender Nationalsozialisten“. In: FAZ, 12. 7. 2005, S. 42. 250 Kurz nach der französischen Niederlage wird sich Châteaubriant über den Tod „d’un certain état de choses, inspiré de l’esprit laïc“ freuen, denn „on ne met pas Dieu à la porte des maisons et des carrefours, des écoles et des assemblées civiques, quitte, aux heures graves, à l’aller tirer du fond des sanctuaires.“ Châteaubriant, Alphonse de: „La France est morte... Vive la France! “ 251 Unter dem Stichwort Christenkreuz oder Hakenkreuz? und dem Appell „Deutsche Katholiken, merkt auf! “ wurde bereits 1931 vor dem „nationalsozialistischen Irrglauben[]“ gewarnt: „Ein Kreuz ist dieses Zeichen, aber nicht das gerade, aufrechte, emporreißende Kreuz des Erlösers, nein, ein krummes, ein um sich selbst laufendes, <?page no="160"?> 160 Ungeachtet dessen bezeichnet er den Nationalsozialismus als eine göttliche Revolution 252 („Et cette révolution, c’est Dieu qui la fait.“, GdF, S. 159), der ein neues Zeitalter eingeläutet habe, was er durch das Bild einer pantheistisch belebten, neu erstrahlenden Natur illustriert: „Je dirais presque qu’une lumière inattendue éclaire les chemins, venue mystérieusement de tout le brillant et de tout l’éclat dont l’âme renouvelée illumine les regards.“ (GdF, S. 160). Nicht nur optisch gleichen die in Anspielung auf die SA- und SS- Uniformen braun oder schwarz uniformierten Nationalsozialisten auferstandenen Mönchsrittern, deren Legitimation sich ableite aus den „vieilles vérités éternelles“ (ebd.). 253 Die glaubenstreuen Nationalsozialisten erscheinen als Werk Gottes, ihnen sei es gelungen, das Leid und die Niederlage des Ersten Weltkriegs zu bewältigen. Die Bedeutung dieses Sieges, den er in letzter Konsequenz zum triumphalen Sieg der Menschheit stilisiert, akzentuiert er durch fünfmalige Wiederholung von „victoire“ sowie durch pathetische Evokation des Gleichnisses vom verlorenen und wiedergefundenen Schaf (Lk, 15, 1-7), das er mit dem neuen Deutschland gleichsetzt: Les nationaux-socialistes allemands sont l’apparition humaine d’un recommencement de l’œuvre de Dieu. Ce qu’ils sont, ces hommes de foi, qui dominèrent la souffrance et la défaite? Un exemple humain et une victoire humaine; et aussi, je l’affirme, un immense désir de voir les autres nations se réjouir avec eux de cette victoire, qui est la victoire de tous. um sich selbst rasendes Kreuz, das Zeichen politischer und religiöser Schwärmerei, das Hakenkreuz.“ Gerdemann, Wilhelm; Winfried, Heinrich: Christenkreuz oder Hakenkreuz? Tatsachen und Bilder aus der nationalsozialistischen Geistesbewegung. Köln: Katholische Tat-Verlag, 1931, S. 3f. Am 4. 11. 1936 hatte der Oldenburgische Minister der Kirchen und Schulen Julius Pauly verfügt, „‚daß künftig in Gebäuden des Staates, der Gemeinden und Gemeindeverbände kirchliche und andere religiöse Zeichen […] nicht mehr angebracht werden dürfen. Die bereits vorhandenen sind zu entfernen’.“ Proteste im Oldenburger Münsterland führten am 26. 11. 1936 zur Rücknahme des Erlasses durch Gauleiter Carl Röver. Vgl. Kuropka, Joachim: „Das Volk steht auf“. Zur Geschichte, Einordnung und Bewertung des Kreuzkampfes in Oldenburg im Jahr 1936. In: Ders. (Hg.): Zur Sache - Das Kreuz! Untersuchungen zur Geschichte des Konflikts um Kreuz und Lutherbild in den Schulen Oldenburgs, zur Wirkungsgeschichte eines Massenprotests und zum Problem nationalsozialistischer Herrschaft in einer agrarisch-katholischen Region. Vechta: Vechtaer Druckerei und Verl., 1986, S. 11-55, hier S. 13. 252 Am 9. 7. 1933 notierte Victor Klemperer in seinem berühmten Buch über die Sprache des Dritten Reiches, Lingua Tertii Imperii/ LTI (1947), „daß an die Stelle der ‚nationalen Erhebung’ die ‚nationalsozialistische Revolution’ gerückt“ sei. Klemperer, Victor: LTI: Notizbuch eines Philologen. 19. Aufl. Leipzig: Reclam, 2001 (Reclam-Bibliothek; 125), S. 45. Zu Klemperer s. auch Kp. 3.6.1, Fn. 204. 253 In Pétain wird Châteaubriant einen „vieux moine militaire“ und den Retter Frankreichs sehen. Châteaubriant, Alphonse de: „Le maréchal m’a dit.“ In: La Gerbe, 28. 11. 1940, S. 1-2, hier S. 1. <?page no="161"?> 161 Dans le clair regard de ce triomphe, parle quelque chose qui, dans son ingénuité, fait penser à la parole pur du Berger de Palestine: ‚Réjouissez-vous avec moi, car ma brebis était perdue et je l’ai retrouvée.’... ‚Réjouissez-vous avec nous, car nous représentons à cette heure une victoire humaine... Donc, votre victoire.’ (GdF, S. 161) Doch nicht nur die Bibel wird zur Legitimation dieses „Glaubens“ herangezogen, sondern auch die Institutio Oratoria (95 n. Chr.) des römischen Rhetoriklehrers Quintilian: „En fait, Hitler n’a proposé ni plus ni moins à son peuple, que de faire l’expérience de la parole de Quintilien: ‚Croyons, nous connaîtrons bientôt la route de la vertu et du bonheur.’ (Quint. Inst. I, 12, C. II).” (ebd.). Croire 254 (GdF, S. 163-170) lautet das unzweideutige Losungswort, das der beindruckte Romancier mit Impressionen von einer Weihefeier auf Burg Stahleck bei Bacharach am Rhein, „eines der Schlösser der Jugend“ (GK, S. 83), assoziiert. Unter dem Vorwand, der Leser möge „la vie magnifique dans ce désordre“ (GdF, S. 167) fühlen, zitiert Châteaubriant fragmentarisch aus dem Vortrag Robert Leys, der den Glauben als die Kraft bezeichnet habe, der es gelungen sei, das deutsche Volk seinem Elend zu entreißen. Durch die triadischen Strukturen und die zahlreichen Wiederholungen aus dem Wortfeld „Glauben“ wird diese stakkatohaftekstatische Rede zum nationalsozialistischen Glaubensbekenntnis 255 , das sich unverkennbar in das Gedächtnis des beeindruckten französischen Zuhörers eingeprägt hat: [C]’est à l’homme à avoir foi que le bonheur est à sa portée, et à mettre sa volonté en accord avec cette foi. Cette foi... oui... croire... croire... croire! ... Ich glaube... Ich glaube... Ich glaube! ... Croire en Dieu... Croire en soi... Croire au peuple... Je crois... Je crois... Je crois en Dieu! ... 254 Auszüge des deutschen Kapitels Glauben aus dem „sinnvolle[n] Buch“ aus der Feder „des französischen Kameraden Alphonse de Châteaubriant“ finden sich unwesentlich gekürzt unter dem Titel Châteaubriant äußert sich in einer von Leys „Kameraden“ zusammengestellten „Sammlung [von] Erinnerungen über den Menschen Robert Ley“. Kiehl, Walter: Châteaubriant äußert sich. In: Ders.: Mann an der Fahne: Kameraden erzählen von Dr. Ley. Aufgeschrieben von Walter Kiehl. 5. Aufl. München: Zentralverl. der NSDAP, Frz. Eher Nachf., 1940, S. 271-275, hier S. 272. 255 Ähnlich frenetisch empfand Saint-Loup 1941 Leys Vortrag im Leipziger Rathaus: „Je ne dirai pas qu’il parle. Non, il tempête, se bat contre des ennemis invisibles. Il frappe la table, sort un mouchoir de sa poche, s’éponge. Il s’apaise un instant, et sa voix rauque, heurtée, repart, monte le long des fanions gammés jusqu’à la haute voûte de ce petit Parlement.“ Saint-Loup [Augier, Marc]: J’ai vu l’Allemagne. In: Ders.: J’ai vu l’Allemagne. Suivi d’un portrait d’Alphonse de Châteaubriant et de deux conférences données dans le cadre du groupe Collaboration, S. 9-43, hier S. 17f., Hervorhebung BB. <?page no="162"?> 162 Oui! Je ne croyais plus en Dieu... et c’est Hitler qui m’a fait de nouveau croire en Lui. (GdF, S. 168f., Kursivierung im Text) 256 Vorrangiges Anliegen Châteaubriants ist die Herausstellung der christlichen Motivation und Mission Hitlers, so die Suggestion, als legitimen „Stellvertreter“ Gottes. Dieser habe in seinem jüngsten Gespräch mit Ley betont: „‚Dieu n’a pas créé le monde pour en faire un enfer: (c’était encore le sujet de notre conversation ce matin avec Hitler); mais pour que le monde soit heureux’“ (GdF, S. 168). Sichtlich ergriffen wiederholt Châteaubriant diese Wendung formelhaft, um abschließend seine Konsternation angesichts des französischen titanischen Hasses auf Gott umso wirkungsvoller herauszustellen (GdF, S. 169f.). Dass es sich beim Nationalsozialismus um eine Revolution handle, deren wichtigstes Ziel die Erneuerung, die fünfmal repetierte „régénération“ (GdF, S. 292-295) des deutschen Volkes in kultureller, moralischer und sozialer Hinsicht sei, betont der Kommandant „P. E.“ der Ordensburg Krössinsee: Er stellt diese der Französischen Revolution gegenüber, letztere des Imperialismus bezichtigend. Zugleich spricht er den Nationalsozialismus von der französischen Unterstellung von Großmachtbestrebungen frei, was Châteaubriant für wahr erachtet und somit das totalitäre Wesen des Nationalsozialismus verkennt, sollte doch „in der nationalsozialistischen Revolution verbrennen die ganze jüdische-asiatische Welt, die ganze mittelalterliche etruskische Welt, das moderne Gesicht des Judentums, des Liberalismus und Marxismus“. 257 Vielmehr kritisiert 258 auch er seine „gottlosen“, auf die Errungenschaft der Französischen Revolution stolzen Landsleute (GdF, S. 170). Gegen den aus Sicht des republikanischen Frankreichs vorgebrachten Einwand, der Nationalsozialismus sei eine Diktatur, 256 Vgl. die Anklänge an Leys Treuegelöbnis auf den Führer u.a. vom 10. 2. 1937: „‚Adolf Hitler! / Dir sind wir allein verbunden! Wir wollen in dieser Stunde das Gelöbnis erneuern: / Wir glauben auf dieser Erde allein an Adolf Hitler./ Wir glauben, daß der Nationalsozialismus der allein seligmachende Glaube für unser Volk ist. [...]/ Wir glauben, daß dieser Herrgott uns Adolf Hitler gesandt hat, damit Deutschland für alle Ewigkeit ein Fundament werde.‘“ Zit. in Faschismus: Renzo Vespignani, S. 85, Hervorhebung BB. Zu Ley s. auch Kp. 3.4. 257 Schmidt, Friedrich: Nur die Generation gewinnt das Reich und den Sieg, die bereit ist, den Tod zu lieben um des Lebens willen. In: Freiheit und Persönlichkeit: Reden und Vorträge anläßlich der Tagung der Gau- und Kreisschulungsleiter der NSDAP auf der Ordensburg Krössinsee (Pomm.) vom 16. bis 24. Oktober 1938, S. 111-121, hier S. 121. 258 Die „deutsche Revolution“ wird Châteaubriant am 27. Januar 1943 preisen mit den Worten: „La Révolution Française, malgré tout ce qu’elle a pu apporter, sans doute, a nié la valeur des images traditionnelles qui étaient la source de la force agissante du peuple français. Nulle révolution ne fut plus fondamentale que la Révolution allemande, et nulle révolution n’a apporté autant d’avenir en s’appuyant sur autant de passé.“ Châteaubriant, Alphonse de: La psychologie et le drame des temps présents, S. 13, Kursivierung im Text, Hervorhebung BB. <?page no="163"?> 163 kontert er - mit Verkehrung der Kritik ins Gegenteil - mit der Behauptung, der Nationalsozialismus sei im Unterschied zu Frankreich eine positive Diktatur der Verantwortlichen bzw. eine Demokratie 259 : „Le National- Socialisme est une démocratie, contrôlée et dirigée par une aristocratie tirée de son sein et qui se renouvelle constamment. Le mot dictature ne convient donc pas“ (GdF, S. 267). Zur Untermauerung führt er Auszüge aus Hitlers Äußerungen über das Führerprinzip aus dem Reichsschulungsbrief 260 an, die er auf die Formel bringt: Mit Hitler als Führer des deutschen Volkes regiere dieses sich selbst (GdF, S. 342). Dies versinnbildliche der Bamberger Reiter 261 , die frühgotische steinerne Skulptur eines jugendlichen Reiters mit Krone (um 1235) im Ostchor des Doms in Bamberg. 262 Laut Aussage seines 259 Vgl. auch die Parole „Le N.S., égalisation vers le haut“ (GdF, S. 256), mit der er schlagwortartig und in Absetzung vom Bolschewismus das vermeintliche Ziel der nationalsozialistischen Ideologie zusammenfasst. 260 Châteaubriant bezieht sich auf Hitler, Adolf: „Parteitag und Organisation der politischen Führung“. In: Der Reichsschulungsbrief: Sonderheft: Reichsparteitag. 9. Folge, September 1936, S. 323-326. Doch bereits in Mein Kampf hatte Hitler das aristokratische Führungsprinzip vertreten: „Eine Weltanschauung, die sich bestrebt, unter Ablehnung des demokratischen Massengedankens, dem besten Volk, also den höchsten Menschen, diese Erde zu geben, muß logischerweise auch innerhalb dieses Volkes wieder dem gleichen aristokratischen Prinzip gehorchen und den besten Köpfen die Führung und den höchsten Einfluß im betreffenden Volk sichern.“ Zit. in Kühnl, Reinhard: Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten. 7., durchges. und erw. Aufl. Köln: PapyRossa, 2000, S. 104 (Nr. 62), Hervorhebung BB. 261 Quasi als Pendant zum Bamberger Reiter sieht Châteaubriant in Henri de la Tour d’Auvergne (1611-1675), Vicomte de Turenne, Marschall von Frankreich, dessen Porträt er in der Münchner Pinakothek bewundernd und zugleich nachdenklich betrachtet (vgl. die Abbildung in GK zwischen den Seiten 160/ 161), die Größe und Stärke einer vergangenen französischen „Rasse“ verkörpert: „[C]’était l’homme d’une race, et qui puisait dans sa race sa force.“ (GdF, S. 320). Aus dem Blick seines deutschen Begleiters liest er Respekt für die durch den berühmten Heerführer verkörperte gewaltige Kraft ab: „‚[C]’était là une force authentique, la force d’un homme, la force d’un siècle, la force d’un peuple, et toute l’horrible force aussi qui fit sauter notre tour de Heidelberg! …’“ (GdF, S. 321). Dieser Blick in die glorreiche Vergangenheit lasse ihn um so schmerzlicher die Dekadenz Frankreichs spüren, wie er es im Zwiegespräch mit dem Porträtierten zum Ausdruck bringt: Statt des vom flämischen Maler Philippe de Champaigne (1602-1674) verewigten Heroen würden Breughels Kreaturen über die französischen Geschicke bestimmen: „Je sais par toi une fois de plus, ici même, ce que fut la France... Et maintenant, monsieur le Maréchal, adieu! ... Les aveugles et les fous de Breughel ont hérité votre bâton de commandement! “ (GdF, S. 321). 262 Weiterführend zum Bamberger Reiter, der in der Weimarer Republik und in NS- Deutschland „als ideale Verkörperung des staufischen Rittertums und als Sinnbild des deutschen Herrschers nordischer Rasse“ galt, s. Ronge, Tobias: Das Bild des Herrschers in Malerei und Grafik des Nationalsozialismus, S. 135. Zur nationalsozialistischen Instrumentalisierung des Bamberger Reiters in Literatur und Fotografie, vgl. insb. Ullrich, Wolfgang: Der Bamberger Reiter und Uta von Naumburg. In: Fran- <?page no="164"?> 164 Begleiters, „mon ami M…, ce charmant et solide esprit“ (GdF, S. 323), veranschauliche die Tatsache, dass der königliche Reiter die Zügel hat fallen lassen, die geistige Führung Deutschlands durch Hitler, und kontrastiere mit dem Standbild des Condottiere Bartolomeo Colleoni (1400-1475), der das despotisch regierte deutsche Kaiserreich symbolisiere: „Je vais vous dire: le cheval du Colleone et le Colleone, c’était l’Empire allemand, et le Bamberger-Reiter et son cheval, c’est notre Hitler et la nouvelle Allemagne.“ (GdF, S. 327). 263 Der Blick des Bamberger Reiters ist nach Osten, in Richtung der russischen Gefahr, aber nicht mehr nach Frankreich gewandt (GdF, S. 328), womit er implizit die heroische Steinfigur zum positiven Gegenbild der ehemals kämpferisch nach Westen blickenden Germania erhebt, die in Folge der französischen Niederlage von 1871 als Allegorie des kriegerischen Deutschland entstanden war. 264 Die angebliche Richtigkeit dieser Interpretation wird durch Verweis auf die Autorität eines renommierten, indes unbenannten Weimarer Professors postuliert. Châteaubriant akzeptiert diese Auslegung und somit die Analogie zwischen dem Bamberger Reiter, dem „‚hohen Sinnbild wahren Führertums’“ 265 , und Hitler, wenn er ihn in die Ahnengalerie der germanischen Helden Siegfried und Parzival einordnet und ihm seine künftige Führerschaft prophezeit: çois, Etienne; Schulze, Hagen (Hgg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, S. 322-334, hier S. 325. 263 Das bronzene Reiterdenkmal des Söldnerführers Bartolomeo Colleoni (1496, gegossen von Alessandro Leopardi) auf dem Campo SS. Giovanni e Paolo in Venedig stammt von dem Florentinischen Bildhauer Andrea del Verrocchio (~1435-1488). Covi, Dario A.: Andrea del Verrocchio: Life and work. Florenz: Olschki, 2005 (Arte e archeologia; 27), S. 151ff., vgl. die Abb. im Anhang (Tavole) Nr. 144-150, o.S. Zur Kontrastierung des Deutschen Kaiserreichs mit NS-Deutschland s. auch GdF, S. 43f. 264 Jurt, Joseph: Le couple franco-allemand, S. 52. Vgl. bspw. Lorenz Clasens Gemälde Germania auf der Wacht am Rhein (1860), die „in Brustpanzer und Kettenhemd mit der Devise ‚Das deutsche Schwert beschützt den deutschen Rhein‘ zur Offensive gegen Frankreich herausforderte“, abgebildet in Plessen, Marie-Louise von (Hg.): Marianne und Germania 1789-1889: Frankreich und Deutschland, Zwei Welten - Eine Revue. Eine Ausstellung der Berliner Festspiele GmbH im Rahmen der „46. Berliner Festwochen 1996“ als Beitrag zur Städtepartnerschaft Paris-Berlin im Martin-Gropius-Bau vom 15. September 1996 bis 5. Januar 1997. Berlin: Argon, [1996], S. 39, s. auch S. 61 Abb. 46. 265 So Hans Timotheus Kroeber in seiner Hymne auf den Reiter-Führer, zit. in Ullrich, Wolfgang: Der Bamberger Reiter und Uta von Naumburg, S. 324. Vgl. auch Stefan Georges (1868-1933) Gedicht Bamberg (1907), dessen erste Strophe lautet: „Du Fremdester brichst doch als echter spross/ Zur guten kehr aus deines volkes flanke./ Zeigt dieser dom dich nicht: herab vom ross/ Streitbar und stolz als königlicher Franke! “ George, Stefan: Der Siebente Ring. 2. Ausg. Berlin: Bondi, 1909, S. 205 Groß- und Kleinschreibung entsprechen dem Original. Wenn es heißt, der Reiter vereine weibliche und männliche Qualitäten, so evoziert dies unweigerlich Châteaubriants vorherige Beschreibung Hitlers. S. GdF, S. 68. <?page no="165"?> 165 Un banc était là, nous nous assîmes. Il n’y avait toujours personne dans l’église. Le Chevalier fixait toujours son objectif mystérieux. Siegfried, Parsifal. Evidemment, c’était là un frère de ces héros de l’âme Germanique, un fils de cette même âme, et que cette âme avait enfanté pour qu’il devînt un jour, à quelque heure inévitable de l’histoire, son soutien et son guide. (GdF, S. 328f.) Dass der Nationalsozialismus ein Glaubensbekenntnis zu Hitler sei, verdeutlicht er durch Vergleich mit einem germanischen Dom, den der Baumeister Hitler in den deutschen Seelen aufgebaut habe: „Hitler n’est pas un conquérant, il est un édificateur d’esprits, un constructeur de volontés. C’est à l’intérieur des âmes que son national-socialisme semble avoir construit sa cathédrale germanique“ (GdF, S. 345). 266 Extremstes Beispiel für das Fehlen jeglicher kritischen Distanznahme und zugleich Beleg für die erfolgreiche Indoktrination durch die NS-Propaganda ist die vom Schriftsteller unreflektiert bzw. unkommentiert angeführte Aussage des Kommandanten von Krössinsee, der Nationalsozialismus habe sich mit der Errichtung von Konzentrationslagern 267 „begnügt“ und „Rücksicht“ gegenüber seinen deutschen Gegnern - signifikanterweise auf das Pars pro Toto „widerspenstigen“ deutschen Blutes reduziert - walten lassen: „‚Le N.S. s’est contenté d’instituer des camps de concentration. Mais on s’est efforcé de ménager autant qu’il était possible le sang allemand qui s’opposait à ce que nous voulions instituer.’“ (GdF, S. 295). Mag eine explizite Stellungnahme von Seiten des Autors fehlen, so ist auch dieses Faktum und die entsprechende Einbettung der Passage eine ausdrückliche Stellungnahme. 268 Im anschließenden Erzählerkommentar dominiert 266 Dieser wohlwollende Kommentar zählte zu den ausgewählten Reaktionen französischer Schriftsteller auf den Nürnberger Reichsparteitag von 1936, zitiert in den Deutsch-Französischen Monatsheften. Vgl. die Rubrik „Après le Congrès de Nuremberg“. In: DFMh 3. Jg. (1936), S. 401. 267 Im Frühjahr 1933 begann, gestützt auf die Reichstagsbrandverordnung (28. 2. 1933), die Internierung politischer Gegner in Konzentrationslagern in Deutschland. Ausf. zu den ersten Konzentrationslagern der Nationalsozialisten s. Drobisch, Klaus; Wieland, Günther: System der NS-Konzentrationslager: 1933-1939. Berlin: Akad.-Verl., 1993, S. 11-182 (1933-1934), S. 185-248 (1934-1936), S. 251-342 (1936-1939). 268 Kontrastiv hierzu sei auf Alexanders Denunzierung der nationalsozialistischen Barbarei verwiesen: „[D]em neuen deutschen ‚Gott’ Hitler werden nicht nur Geist und Seele des deutschen Volkes zum Opfer dargebracht, sondern auch das Fleisch und Blut ungezählter deutscher Menschen wird in den braunen Konzentrationslagern durch den Henkersdienst der schwarz uniformierten Priesterschaft des neudeutschen Hasses dem Moloch des nationalsozialistischen Machtwahns geopfert.“ Alexander, Edgar: Der Mythus Hitler, S. 248. Erst über 10 Jahre später verurteilte Châteaubriant „les exemples d’inhumanité relevés dans les camps allemands“, nicht jedoch ohne zu betonen, dass ähnliche Verbrechen zuvor in Spanien und Russland begangen worden seien: „Le pharisaïsme politique et les illusions des nationalismes n’ont voulu voir là que des crimes allemands et l’on a rejeté sur l’Allemagne ce qui était le prodrome en Allemagne, après l’avoir été en Russie, en Espagne et ailleurs encore, de la désorganisation mentale de l’homme moderne.“ (Eintrag vom 13. 11. 1948). Châteaubriant, <?page no="166"?> 166 die Erinnerung an die besondere Atmosphäre, das heimelige Halbdunkel, in dem dieses „private“ Gespräch (in Anwesenheit von auf Uniformen reduzierten Zuhörern) stattgefunden habe, sowie die nachgerade verstörend poetische Beschreibung des gewaltigen Naturpanoramas: Je vois encore la pièce demi claire, demi sombre, dans laquelle nous parlions... Un ou deux uniformes noirs, immobiles, écoutaient. Par la fenêtre, brillaient les grands lacs lointains, ça et là survolés de goélands remontés de la Baltique, et au delà, s’obscurcissaient les immobilités profondes des grandes forêts vertes. (GdF, S. 295f.) 269 Gravierend zu gewichten ist, dass der Romancier wenige Zeilen später die Aussagen des Kommandanten, der entsprechend Châteaubriants Gleichsetzung der Nationalsozialisten mit Kreuzrittern die Reinkarnation eines tapferen Ritters des Deutschen Ordens zu sein scheint, als „pensées sérieuses de quelque rude chevalier de l’Ordre Teutonique“ lobt, welche dieser durch ihn, „un des derniers Templiers de France“ (GdF, S. 296), an die unerbittlichen französischen „Seelen“ seinesgleichen gerichtet habe. Viermal leitet das sein Gegenüber bezeichnende Personalpronomen „il“ anaphorisch die Folgeabsätze ein und unterstreicht die Bedeutsamkeit, die Châteaubriant den Worten des Kommandanten beimisst. Diese imponieren ihm, was im Stocken des Erzählflusses, den verkürzten Sätzen und der wiederkehrenden Wertung der vernommenen Botschaft als einfach und tiefgründig Ausdruck findet: Il était là, devant moi, dans son uniforme brun, sa bure soutachée de nickel, avec sa forte tête colorée et réfléchie, laissant voir une espèce de pointe de lumière entre le pli de ses deux forts sourcils blonds, rapprochés par son effort de pensée et son désir parfaitement manifesté de prononcer des paroles qui, par mon intermédiaire, fussent un message à la France, un message aux esprits de sa trempe, aux âmes de fer qui sont en France. ‚Un message...’ Oui, un message, fort et simple. Les idées étaient simples. Simples, mais profondes. Bien plus profondes que si elles eussent été subtiles. La subtilité a rarement ses racines dans la profondeur. (GdF, S. 296) Nicht zuletzt die Qualifizierung des Gegenübers als „mon chevalier allemand“ (GdF, S. 297) dokumentiert die „Inbesitznahme“ Châteaubriants durch den die NS-Ideologie beschönigenden Diskurs des Kommandanten. Alphonse de: Cahiers 1906-1951, S. 322, Hervorhebung BB. Damit bedient sich Châteaubriant einer Strategie „later used by many revisionists and even Holocaust deniers of challenging the uniqueness of the Holocaust by merging it with other crimes and claiming universal culpability for it.“ Golsan, Richard J.: Alphonse de Châteaubriant: Apocalypse, Nazism, and Millenarianism, S. 66, Kursivierung im Text. 269 Vgl. die ähnliche Wortwahl am Ende des Kapitels Les Ordensburgs: „Les grands lacs, au pied des forêts, brillaient sous la lune“ (GdF, S. 311). <?page no="167"?> 167 3.8 „Lohengrins Bauern“ ‚‚Blut’ ist das Bekenntnis zum Volkstum und seiner Rasse, ‚Boden’ das Bekenntnis zur Bodenständigkeit des Volkes, zu seiner Wurzelechtheit! Blut und Boden ist daher der knappste Ausdruck des weltanschaulichen Gegensatzes zum Liberalismus und der Ideen von 1789’. 270 Im dem sinnfällig Lohengrin et les paysans überschriebenen Kapitel (GdF, S. 89-109) findet das nationalsozialistische Schlagwort von „Blut und Boden“, das „die mythisch überhöhte Verbundenheit der Blutsgemeinschaft des Volkes, insbesondere der Bauern, mit dem besiedelten Territorium“ 271 propagierte, Eingang in den Text. Das in Bayreuth zelebrierte Reichserntedankfest 272 bietet dem „‚Aristokrat[en] des Geistes, der um die Tradition des Bodens und des Bäuerlichen 270 Walther Darré Landvolk in Not und seine Rettung durch Adolf Hitler, zit. in Vries de Heekelingen, H. de (Hg.): Die nationalsozialistische Weltanschauung: Ein Wegweiser durch die nationalsozialistische Literatur. 500 markante Zitate. Berlin-Charlottenburg: Pan-Verlagsgesellschaft, 1932 (Allgemeine Zentralstelle zur Erforschung politischer Bewegungen Yvorne, Schweiz), S. 81, Nr. 362. 271 S. „Blut und Boden“. In: Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus, S. 110-112, hier S. 110, Kursivierung im Text. Durch die programmatischen Schriften Das Bauerntum als Lebensquell der nordischen Rasse (1929) sowie Neuadel aus Blut und Boden (1930) von Richard Walther Darré (1895-1953), dem späteren Leiter des Rasse- und Siedlungs-Hauptamtes der SS (1931) und Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft (1933-1942), wurde der Mythos von Blut und Boden zum Schlüsselwort der NS-Ideologie. Ebd.: S. 111. Zur Biografie Darrés s. Haushofer, Heinz: „Richard Walter Oscar Darré“. In: NDB, Bd. 3, 1957, S. 517. Bramwell betont, dass die „tief in der deutschen Ideologie des 19. und 20. Jahrhunderts“ verankerte „Blut- und Boden“-Ideologie nur in NS-Deutschland politische Realität wurde, weitet aber den Blick nach Frankreich aus und verweist auf Maurice Barrès, der Ende des 19. Jahrhunderts „den französischen Bauern auf seiner Scholle als die Seele des wahren Frankreich und Gegengewicht zur verdorbenen Kapitale Paris“ feierte. Bramwell, Anna: „Blut und Boden“. In: François, Etienne; Schulze, Hagen (Hgg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 3. Broschierte Sonderausgabe. München: Beck, 2003, S. 380-391, hier S. 382. Zu Barrès’, Darrés „Blut-und-Boden-Ideologie“ antizipierendes „La Terre et les Morts-Konzept“, vgl. die Dissertation von Bendrath, Wiebke: Ich, Region, Nation: Maurice Barrès im französischen Identitätsdiskurs seiner Zeit und seine Rezeption in Deutschland. Tübingen: Niemeyer, 2003 (Mimesis; 41), insb. S. 111-139, hier S. 129, Kursivierung im Text. Zu Barrès s. Kp. 3.1. 272 Hitler hatte das Erntedankfest zu einem der nationalsozialistischen Feiertage (u.a. Geburtstag des „Führers“, Tag der „Machtergreifung“, Sommer- und Wintersonnenwende), erklärt, der vom Propagandaministerium inszeniert wurde. Die Huldigung der Landbevölkerung war Ausdruck der „Blut und Boden“-Ideologie. Jensen, Uffa: „Erntedanktag“. In: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, S. 497. Zur Verdeutlichung der massiven Fotopropaganda anlässlich des auf dem Bückeberg zelebrierten Reichserntedankfests vgl. die Sonderbeilage des Illustrierten Beobachters (11. Jg., Folge 41, 8. 10. 1936, S. 1-4), neben dem Völkischen Beobachter „‚Kampfblatt’“ für die NS- Ideologie. Heider, Angelika: „Illustrierter Beobachter“. In: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, S. 575. <?page no="168"?> 168 weiß’“ 273 , Anlass für ein hymnisches Lob der Bauern: Mit Bewunderung erfüllt ihn die hier propagandistisch zur Schau gestellte deutsche „naturnahe“ Seele, „[l]’âme allemande ‚toute proche de la nature‘, l’âme allemande nourrie de nature“ (GdF, S. 90), die er als seiner bretonischen Seele verwandt empfindet. Bewegt nennt er jeden Deutschen, inklusive des Waldarbeiters, einen „poète de la fleur“ (GdF, S. 91), um anschließend merklich pathetischer dem „lieben“ französischen, zum rauen Poeten stilisierten Bauern und der französischen Erde zu huldigen: J’écris ceci pour le cher paysan français [....], celui que je connais tant, l’homme dont la main, lorsque je la lui prends, sent la pomme et la glaise; qui, maître de son sillon, l’aime d’un amour immortel, pour la bonté de son fruit, et aussi sa beauté, l’aime pour tout le travail qu’une pareille terre lui commande, et rude poète de son labour, rude poète de sa ferme et de ses bâtiments, grand connaisseur d’une terre incomparable, aime son champ fertile, et aime ses oignons, qui tient à poignée dans ses mains, en les contemplant avec tendresse. (GdF, S. 91f.) Elfmal fällt das Schlüsselwort „terre“ (GdF, S. 91-93). Die Erde bestimme das - mimetisch angepasst - „braune“ und „grüne“ Leben und Denken des Bauern, sie sei ihm, so die Klimax, heilig: „[L]a terre est son livre inouï, sa bible brune.“ (GdF, S. 92). Überraschend lässt Châteaubriant erstmals Frankreich aus dem Messen beider Länder siegreich hervorgehen und deklariert seine superlativisch zum Schlaraffenland stilisierte Heimat - „le plus beau, le plus riche, le plus abondant des royaumes de Cérès“ (GdF, S. 93) - Deutschland, dem Land des Waldes, überlegen. 274 Diesen Eindruck der scheinbaren Superiorität Frankreichs will jedoch offenbar die an Stereotypen („Zwetschenkuchen“, „belle Gretchen“, ebd.) reiche Beschreibung der idyllischen Einkehr bei einem Bauern oberhalb des Isartals und der Exkurs über den Erbhof (GdF, insb. S. 104-107), einer zentralen Kategorie der „Blut und Boden“-Ideologie, widerlegen. In diesem Licht besehen, scheint das Lob Frankreichs Teil der strategischen Selbstdarstellung Châteaubriants als belehrbarer Gesprächspartner zu sein. Den wirtschaftlichen Rationalismus und Liberalismus erklärt Châteaubriants Weggefährte Professor Friedrich P. verantwortlich für die Auflösung der Verbundenheit des Menschen mit der Erde (GdF, S. 100). Dieser Entfremdung soll in Rückbesinnung auf das Mittelalter die Einführung des Erbhofs, eines unteilbaren, nicht belastbaren, auf einen arischen Anerben übergehenden land- oder forstwirtschaftlichen Besitzes, Einhalt gebieten und damit „‚das Bauerntum 273 So der bereits zitierte Auszug aus „Der Alemanne“ vom 11. 2. 1937. S. „Die Wahrheit suchen“. In: DFMh 4. Jg. (1937), S. 78. 274 Châteaubriant schließt sich somit nicht der nationalsozialistischen „Waldideologie“ an, derzufolge aus den deutschen Urwäldern „gesundes Volkstum entstanden [sei], eine höherwertige Rasse, während der entwaldete Boden Frankreichs dessen Urbanisierung ermöglicht und unübersehbar eine Dekadenz der Moral“ und der Kultur zur Folge gehabt habe. Lehmann, Albrecht: Der deutsche Wald. In: François, Etienne; Schulze, Hagen (Hgg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, S. 187-200, hier S. 192. <?page no="169"?> 169 als Blutquelle des deutschen Volkes erhalten.’“ 275 Hitlers Verdienst sei es, begriffen zu haben, dass NS-Deutschland zunächst ein fruchtbarer Acker habe werden müssen; dafür habe es des zum „précieux homme de la vérité“ erhobenen Menschen des Bodens bedurft (GdF, S. 101). Diesen repräsentiere der gallische Bauer mit seiner Holzaxt (GdF, S. 102), den es zu retten gelte, was als göttliche Mission apostrophiert wird: „Sauver cet homme, c’est sauver la lumière des cieux.“ (GdF, S. 103). Schmerzlich nennt Châteaubriant die Einsicht, dass das solchermaßen von Liebe zur Heimat beseelte positive Deutschlandbild seines Freundes vom rationalen Frankreich abgelehnt werde. Sein Bedauern darüber, dass keine französischen Bauern von den Erläuterungen zum Erbhof, der die „‚Wiedergeburt des deutschen Bauerntums’“ 276 , „‚cette renaissance allemande’“ (GdF, S. 109) verheiße, haben profitieren können, belegt im Rückblick die Bedeutung, die er dem Exkurs über diesen Kernpunkt der nationalsozialistischen „Blut und Boden“-Ideologie beimisst: Pourquoi tous les paysans français, qui savent si tranquillement, discutant de leurs affaires, parler sans le savoir des choses de Dieu, n’étaient-ils pas présents avec nous, sous le tilleul de la cour de cette Waldhaus? … tandis que nous écoutions dans le silence du soir les hautes phrases de l’herbager, aîné de sa famille, et maître d’un Erbhof. (GdF, S. 108, Kursivierung im Text) So ist es nicht verwunderlich, dass Châteaubriant final erneut das Deutschland der Wälder, „de la grande forêt enchantée“ (GdF, S. 109), Frankreich gegenüber als überlegen empfindet. 3.9 Die nationalsozialistische Rassenideologie Châteaubriant berichtet von einem Gespräch mit Lehrern des Bayreuther Hauses der deutschen Erziehung, „‚Verwaltungszentrale und weltanschaulich-politisches Schulungszentrum’“ des Nationalsozialistischen Lehrerbundes 277 , das dazu bestimmt war, „für alle Zukunft Kindern und Kindeskindern den nachhaltigen, mahnenden Eindruck des großen deutschen Erlebens“ 278 zu vermitteln. Die „Erziehung im Großdeutschen Reich“ verfolgte ein doppeltes Ziel: „1. die Erziehung zum rassisch gesunden und 275 Wortlaut des unter Federführung des Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft Darré am 29. 9. 1933 erlassenen „Reichserbhofgesetzes“, zit. in „Erbhof“. In: Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus, S. 197-198, hier S. 198. 276 Darré, zit. in Ebd.: S. 197. 277 Zit. in Kraas, Andreas: Lehrerlager 1932-1945: Politische Funktion und pädagogische Gestaltung. Bad Heilbrunn/ Obb.: Klinkhardt, 2004 (Klinkhardt Forschung), S. 246. 278 Friedmann, Heinrich: Vorwort. In: Ders.; Lochmüller, Benedikt: Das Haus der deutschen Erziehung: Zum Gedenken an die Grundsteinlegung in Bayreuth am 24. Scheiding 1933. Bayreuth: NS-Kulturverl., 1933 (Der junge Staat; 5), S. 4. <?page no="170"?> 170 tüchtigen Einzelmenschen, 2. die Erziehung zum einsatzbereiten Gemeinschaftsmitglied.“ Unentbehrlich hierfür galt der „erbgesunde und rassisch wohlgebildete Körper als der lebensspendende Träger von Seele und Geist“. 279 Demgemäß lehnen Châteaubriants Gesprächspartner Rousseaus Auffassung des Kindes als unbeschriebenes Blatt ab und erklären den Menschen in Einklang mit der Rassenlehre des Nationalsozialismus durch seine „Erbmasse“ (GK, S. 45) determiniert. Um den besten Menschen („meilleur homme“, GdF, S. 88) herauszubilden, müsse die beste Erbanlage („l’hérédité la meilleure“, GdF, S. 87) durch gute Erziehung, die nicht ohne einen heroischen Kampf auskomme, zur vollen Entfaltung gebracht werden. Die elfmalige Wiederholung von „combat“/ „combattre“ in seinen unterschiedlichen Ableitungen unterstreicht die herausragende Bedeutung des sozialdarwinistischen Kampfes, der zum Schicksalskampf stilisiert wird, um in Erfüllung des Bibelwortes, die Erde nicht zu einer vallis lacrimarum, einem „trostlose[n] Tal“ (Ps 84, 7) verkommen zu lassen. Der Kampf wird göttlich legitimiert und die ihm inhärente Selbstaufopferung verklärt: ‚Seul, le Peuple qui, dans sa jeunesse, a combattu le combat du Destin restera debout pour tous les temps. Voyez-vous, les lamentations ne peuvent que nuire aux grandeurs de l’Ame; la terre n’est pas une vallée de larmes, la terre et la vie veulent être aimées. Elles sont données par Dieu. Ainsi nous voulons combattre pour celui qui nous a créés, combattre par la vertu de notre sacrifice, et par la force de la joie qu’il à [sic] mise en nous. L’avenir, c’est-à-dire la vie pour tous, sera à ceux qui sauront être prêts pour le sacrifice.’ (GdF, S. 88f.) Folgerichtig mündet das Gespräch ein in den Verweis auf das Grabmal des Helden in der Weihehalle, das den Kampf und den Tod für das Vaterland verherrlicht (GdF, S. 89) und augenfällig die nationalsozialistische Maxime versinnbildlicht: „Nur die Generation gewinnt das Reich und den Sieg, die bereit ist, den Tod zu lieben um des Lebens willen.“ 280 In völliger Fehleinschätzung des nationalsozialistischen Rassemythos und ohne jegliche kritische Distanznahme betont der Dichter in Form von Aphorismen das „pazifistische“ Wesen des Rassegedankens, hinter dem doch das klar benannte Ziel stand, „‚die Volksgesundheit, Rassereinheit 279 Benze, Rudolf: Erziehung im Großdeutschen Reich: Eine Überschau über ihre Ziele, Wege und Einrichtungen. 3., erw. Aufl. Frankfurt a. Main: Diesterweg, 1943, S. 6. 280 So der Titel des bereits zitierten Vortrags Friedrich Schmidts, stv. Gauleiter und Leiter des Hauptschulungsamts der NSDAP, gehalten im Rahmen einer Tagung der Gau- und Reichsschulungsleiter der NSDAP auf der Ordensburg Krössinsee im Herbst 1938. Die Erziehung der Jugend galt der Stärkung „hohe[r] Charakterwerte“ wie „Wahrhaftigkeit und Treue, Freiheitsdrang und Ehrliebe, Mannesmut und Frauenwürde, Wehrwille und Opfersinn, Diesseitsfreudigkeit und Lebenswert“. Ebd., S. 8, Hervorhebung BB. <?page no="171"?> 171 und Artewigkeit des deutschen Volkes’“ zu erhalten, verbunden mit der „‚Ablehnung des jüdischen und diesem im Wert gleichwertigen oder gar minderwertigen sogenannten ‚farbigen’ Blutes’“. 281 Vielmehr stellt er das gemeinschaftsstiftende Bedürfnis der Deutschen nach Verwurzelung in Blut und Boden heraus, woran er den Wunsch knüpft, Frankreich möge sich von der als tödlich stigmatisierten Gesinnung der Gleichheit lösen, es Deutschland gleichtun und die Moral seiner (signifikanterweise pluralischen) Rassen und das Gesetz seines Bodens finden: Le principe de la race n’est pas un principe élevé contre l’étranger, mais une volonté d’enracinement dans le sang et le sol, source de la plus grande communauté solidaire, et par là le gage de la prospérité future de chacun. * ** L’esprit égalitaire, qui est en nous ce qui tremble à l’énoncé du mot race, est un esprit paralyseur de vie qui nous pénètre en ce temps comme le sel remplit la mer. Il faudrait des rudes paludiers pour extirper cet élément de mort. * ** L’arbre est un concept, le chêne est une race; ce qui est, c’est le chêne. * ** La France a ses races et son sol, qu’elle trouve elle aussi la morale de ses races et la loi de son sol. (GdF, S. 148f., Typografie gemäß Textvorlage) Es ist die Eiche - die beabsichtigt oder unbeabsichtigt das Nationalsymbol der deutschen Eiche assoziieren lässt - , die Rasse, die allem übergeordnet ist. Châteaubriant preist die im Boden verwurzelte, durch das menschlichübermenschliche Fronterlebnis im Ersten Weltkrieg hervorgegangene nationalsozialistische Rassen-, „‚Bluts-, Volks- und Schicksalsgemeinschaft’“, „la communauté enracinée dans le sang et le sol“ (GdF, S. 191), die „Unterpfand künftigen Wohlstandes jedes einzelnen“ (GK, S. 103) sei und einen Neuanfang verheiße, was er in das Bild eines jungen, knospenden Triebes transponiert. Pathetisch verschmelzen (auch grammatikalisch) Blut, Gedanken und Schicksal der Soldaten (Plural) zur Einheit (Singular) der „‚Front-Gemeinschaft’“ 282 : Cette idée nouvelle de la communauté est un renouveau, une branche verte poussée sur le vieux tronc millénairement crevassé de l’arbre de la pensée humaine, elle est née de l’épreuve humaine et surhumaine de la guerre, laquelle fit sentir à certains hommes d’une même nation, combien ils étaient un, combien leurs sangs étaient un sang, leurs pensées, une pensée, leurs destins, un destin. (GdF, S. 191) 281 S. „Rassegedanke“. In: Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus, S. 497-498, hier S. 498. 282 S. „Gemeinschaft“. In: Ebd.: S. 261. <?page no="172"?> 172 Den Kommandanten von Krössinsee zitiert Châteaubriant mit den Worten, der deutsche Boden sei nicht nur tatsächliche, sondern auch geistige Nahrungsquelle der Deutschen und vermittle somit die Vorstellung von „Heimat“, die im Unterschied zum französischen Verständnis von „patrie“ im Sinne von „Vaterland“, Blut und Boden umfasse, die Essenz aller Dinge. Diesen Anspruch auf Allumfassenheit findet das stilistische Pendant in der sechsmaligen Wiederholung des Indefinitpronomens „tout“: ‚Patrie! ... Non pas Vaterland... Vaterland, comme vous dites toujours, n’est pas le vrai mot. Le vrai mot est Heimat, c’est-à-dire tout le sol, tout le sang, tout l’air où l’on est né: c’est plus que la patrie, c’est tout le fond, toute la substance, tout le goût des choses. Heimat: Sang et Sol.‘ (GdF, S. 301f., Kursivierung im Text) Diese Dualität wird ausgeweitet zu den globalen Kategorien von „Race et Espace“ (GdF, S. 302, Kursivierung im Text). Entgegen des mit dem unterschwellig mitschwingenden NS-Terminus „Lebensraum“ 283 assoziierten imperialistischen Anspruchs der Nationalsozialisten auf Raum und Herrschaft, dient der Exkurs über das unterschiedliche „Raum“-Verständnis der Deutschen (= Volumen) und Franzosen (= Fläche) der Beruhigung: Frankreich soll die Sorge vor einem territorialen und geistigen Übergriff des Deutschen Reiches genommen werden. Kontrastiv dem nationalsozialistischen Feindbild vom expansiven Liberalismus gegenübergestellt, wolle der „friedliebende“ Nationalsozialismus sein Volk nicht durch Kriege, sondern durch die „Betreuung von Blut und Boden“ erhalten (GK, S. 151). Mit dem interpolierten Kurzkommentar scheint Châteaubriant das Vernommene insgesamt zu bejahen. Er erklärt den Nationalsozialismus zum supranationalen „espoir de salut humain“ (GdF, S. 304), wohingegen er mit einer in Klammern gesetzten Bemerkung das französische Misstrauen gegenüber Deutschland kritisiert: „(Ils veulent être grands pour être grands, et non ‚pour nous tomber dessus’. Mais notre esprit a perdu les concepts qui nous permettraient de comprendre ce que c’est que ‚la Grandeur qui te veut.’)“ (GdF, S. 305, Kursivierung im Text). 3.10 Deutschland, das Kreuz und das Hakenkreuz In L’Allemagne et le crucifix (GdF, S. 215-234) ist Châteaubriant nicht nur bemüht, seine Leserschaft vom christlichen Wesen des Nationalsozialismus zu überzeugen, die von katholischer Seite gegen ihn erhobenen Vorwürfe zu entkräften und ihn als Opfer einer weltweiten Verschwörung („immense conjuration mondiale“, GdF, S. 220) darzustellen; der Autor liefert zudem eine religiöse Rechtfertigung des (nationalsozialistischen) Rassis- 283 Ausf. s. „Lebensraum“. In: Ebd.: S. 375-380. <?page no="173"?> 173 mus. 284 Zu diesem Zweck berichtet er von einer Diskussion, die er und seine beiden Freunde, ein Mediziner holländischer Herkunft und Nationalsozialist mit den Initialen Dr. H.v.T, sowie ein Einsiedler aus dem Schwarzwald, „homme religieux à la manière de Platon“ (GdF, S. 215), mit drei Benediktinermönchen geführt haben. Die Verteidiger des Nationalsozialismus betonen, Hitler habe sich für die freiheitliche Religionsausübung im NS-Staat eingesetzt und zitieren diesen wiederholt, so auch mit den Worten: „‚Je n’ai jamais combattu et ne combattrai jamais Rome…’“ (GdF, S. 217). Ferner habe Hitler in der Potsdamer Erklärung die katholische und evangelische Kirche zu tragenden Pfeilern des NS-Staates erklärt, denn „‚[l]e gouvernement se tient audessus des confessions; mais il est impossible que l’âme allemande soit contre Dieu, et contre le christianisme! ...‘“ (GdF, S. 221). Legitimierend verweisen sie auf das in Punkt 24 des NSDAP-Programms festgeschriebene parteipolitische Bekenntnis eines realiter der Beschwichtigung dienenden, diffusen „positiven Christentums“, das sie allerdings nur in Auszügen wörtlich anführen („‚Nous exigeons la liberté de toutes les opinions religieuses dans l’Etat pour autant qu’elles ne mettent pas l’existence de celuici en danger ou qu’elles n’offensent pas le sentiment morale et les mœurs de la race germanique…’“, GdF, S. 217), womit dessen aggressiver Gehalt bewusst ausgespart bleibt. 285 „Sie [die Partei] bekämpft den jüdischmaterialistischen Geist i n und a u ß e r uns und ist überzeugt, daß eine dauernde Genesung unseres Volkes nur erfolgen kann von i n n e n heraus auf der Grundlage: Gemeinnutz vor Eigennutz.“ 286 Kritische Einwände vonseiten der Mönche, die religionsbzw. kirchenfeindliche Erklärungen nationalsozialistischer Autoritäten anführen, werden wirkungsvoll widerlegt. Die Äußerung Alfred Rosenbergs, es sei Ziel der Nationalsozialisten, sich gänzlich vom Einfluss der Kirche zu befreien, 284 Vgl. auch Chadwick, Kay: „Reviewing the evidence“, S. 16. Bezeichnenderweise finden dieses und das folgende Kapitel Sur la montagne keinen Eingang in die deutsche Übersetzung. 285 Dass Châteaubriant einen selektiven „christlichen“ Diskurs des NS-Regimes präsentiert, belegen u.a. Erklärungen wie die Proklamation Hitlers auf dem Nürnberger Reichsparteitag von 1936: „‚Die christliche Religion hat wohl einmal in den Zeiten der Völkerwanderung eine große Rolle gespielt. Bei uns ist heute das christliche Zeitalter durch das nationalsozialistische abgelöst. Ein christliches Zeitalter konnte nur eine christliche Kunst besitzen, ein nationalsozialistisches Zeitalter nur eine nationalsozialistische.’“ Zit. in Ebd.: S. 16. 286 Rosenberg, Alfred (Hg.): Das Parteiprogramm, S. 18, Kursivierung und Sperrung im Text, Hervorhebung BB. Das nicht näher definierte Bekenntnis zum „positiven Christentum“ diente nur der Tarnung. Vgl. Richter, Jana: „Positives Christentum“. In: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, S. 711. Alexander denunzierte das „positive Christentum“ „a l s d e [ n ] g e s c h i c k t e s t e [ n ] T a r n u n g s v e r s u c h , d e n d i e G e s c h i c h t e d e r G o t t l o s e n b e w e g u n g ü b e r h a u p t k e n n t . “ Alexander, Edgar: Der Mythus Hitler, S. 244, Sperrung im Text. <?page no="174"?> 174 wird in Einklang mit dem „religionspolitischen Kurswechsel“ 287 der NSDAP mit dem Argument entkräftet, Der Mythus des 20. Jahrhunderts sei Rosenbergs Privatwerk: „‚Il me semble, mon Père, que vous reproduisez là assez bien la pensée de Rosenberg... Mais Rosenberg n’a nullement reçu du Chancelier mission d’imposer un dogme à l’Allemagne religieuse...’“ (GdF, S. 218). Auch hätten die Benediktiner manches missverstanden („‚Mon Révérend Père, permettez! ... Votre citation n’est pas tout à fait exacte.’“, GdF, S. 219), denn wenngleich der Nationalsozialismus die Selbstdarstellung des Christentums als „‚une doctrine de souffrance et d’humilité’“ ablehne 288 , wolle er doch „‚le Christ héroïque’“ (ebd.), d.h. die „Umprägung des Christentums ins ‚Heroische’“. 289 Dass Châteaubriant dieser fundamentalen Verfälschung des Wesenskerns des christlichen Glaubens durch den Nationalsozialismus nicht widersprochen habe, wirft ihm Henri du Passage (1874-1963), Jesuitenpater und ehemaliger Direktor der katholischen Zeitschrift Etudes, vor: On est stupéfait de voir M. de Châteaubriant ébranlé, sinon convaincu, plus que les Pères Bénédictins sans doute, par des propos de cette qualité. N’a-t-il pas compris qu’ils allaient, comme tous les dires de la philosophie naziste, à établir la suprématie d’une religion d’État, dont les idoles sont la terre et le sang, et, sous couleur d’exalter ‚le Christ héroïque’, à répudier le Christ historique tenu pour représentant d’une race étrangère inférieure, à récuser aussi toutes les vertus du sacrifice, de l’humilité, de la souffrance dont le christianisme authentique ne saurait être dépouillé? 290 Deutschland wird pathetisch zum einzig wahrhaft christlichen Land stilisiert („‚le seul pays resté vraiment chrétien de la terre! ’“, GdF, S. 221) und Hitler zum Retter aus der Kirchenkrise („‚crise’“, „‚troubles’“, „‚conflits’“, GdF, 221f.), dem nicht nur die heroische Aufgabe gelungen sei, die abschätzig als „‚trente sectes’“ (GdF, S. 222) titulierten evangelischen Landeskirchen zusammenzuführen, so die Betonung durch fünfmaligen Rekurs auf das Wortfeld „‚unir’“. Obendrein habe er mit dem Heiligen Stuhl das Reichskonkordat (20. Juli 1933) unterzeichnet, womit das Deutsche Reich 287 Nowak, Kurt: „Kirchen und Religion“. In: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, S. 204-222, hier S. 206. 288 Damit steht der Nationalsozialismus in fundamentalem Kontrast zum christlichen Glauben: „Durch Kreuz und Leid zur Herrlichkeit! “ S. Gerdemann, Wilhelm; Winfried, Heinrich: Christenkreuz oder Hakenkreuz? , S. 63. 289 Nowak, Kurt: „Kirchen und Religion“, S. 210. Zur „mythisch-politische[n] Religion“ des Nationalsozialismus, welche die „schwächliche Erlösungslehre vom gekreuzigten Jesus“ durch die „mannhafte Gottgläubigkeit“ ersetzen wollte, s. Grabner-Haider, Anton; Strasser, Peter: Hitlers mythische Religion: Theologische Denklinien und NS- Ideologie. Wien u.a.: Böhlau, 2007, S. 145-176, hier S. 152. 290 Passage, Henri du: „La Gerbe des Forces“. In: Etudes 232 (1937), S. 564-566, hier S. 565, Hervorhebung BB; vgl. auch Chadwick, Kay: Alphonse de Châteaubriant: Catholic Collaborator, S. 145. <?page no="175"?> 175 gemäß Artikel 1 „die Freiheit des Bekenntnisses und der öffentlichen Ausübung der katholischen Religion“ gewährleistete und in Artikel 33 beteuerte: Sollte sich in Zukunft wegen der Auslegung oder Anwendung einer Bestimmung dieses Konkordats irgend eine [sic] Meinungsverschiedenheit ergeben, so werden der Heilige Stuhl und das Deutsche Reich in gemeinsamen Einvernehmen eine freundschaftliche Lösung herbeiführen. 291 Den Vorwurf, katholische Jugendliche seien zum Eintritt in die Hitlerjugend gezwungen worden, womit der Mönch auf das Gesetz über die Hitlerjugend vom 1. Dezember 1936 anspielt, das „die Hitlerjugend zur Staatsjugend für die gesamte deutsche Jugend erklärt[e]“ 292 , deutet „le solitaire“ positiv um: Dies bedeute keine „Entchristlichung“, vielmehr habe der Reichsjugendführer der NSDAP Baldur von Schirach 293 (1907-1974) gerade nur gläubige Jungen in die Hitlerjugend aufgenommen (GdF, S. 222f.). Châteaubriant ist daran gelegen, die Unterlegenheit der Benediktiner- Mönche in der Diskussion zu betonen, was er durch zahlreiche Hinweise auf deren Verunsicherung ausdrückende körpersprachliche Reaktionen illustriert: „Les lèvres du religieux remuèrent un instant, indécises.“ (GdF, S. 220); „Il y eut un silence. Les jeunes Pères relevaient nerveusement leurs manches sur leurs poignets, réfléchissaient fixement, douloureusement perplexes.“ (GdF, S. 223). 294 291 Das bayerische Konkordat vom 29. März 1924 und das Reichskonkordat vom 20. Juli 1933. München: Huber, [ca. 1933], S. 65. Kurz nachdem die 28 evangelischen Landeskirchen per Reichsgesetz zur „Deutschen Evangelischen Kirche“ zusammengefasst worden waren (14. 7. 1933), unterzeichneten der päpstliche Nuntius Eugen Kardinal Pacelli sowie Vizekanzler Franz von Papen in Rom das Reichskonkordat, welches das grundlegende Problem in sich barg, „daß es einen Vertrag mit einem diktatorischen Staat gegen ihn darstellte.“ Nowak, Kurt: „Kirchen und Religion“, S. 208f., hier S. 209, Kursivierung im Text. Ausf. s. Brechenmacher, Thomas (Hg.): Das Reichskonkordat 1933: Forschungsstand, Kontroversen, Dokumente. Paderborn u.a.: Schöningh, 2007 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte: Reihe B: Forschungen; 109). 292 Dieses Freiwilligkeitsprinzip hob die „Jugenddienstverordnung“ am 25. 3. 1939 mit der Zwangsmitgliedschaft in der HJ auf. S. „Hitlerjugend (HJ)“. In: Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus, S. 309-311, hier S. 310, Kursivierung im Text. 293 In seiner Funktion als Reichsjugendführer der NSDAP (ab 1931) unterstand dem ehemaligen Führer des NS-Studentenbundes Baldur von Schirach die Hitlerjugend, nach seiner Berufung zum Jugendführer des Deutschen Reiches (ab 1933) die gesamte Jugendarbeit (Ausschaltung aller Jugendorganisationen). Als Reichsstatthalter und Gauleiter von Wien (1940 bis Kriegsende) war Schirach für die Deportation der jüdischen Bewohner Wiens verantwortlich. 1946 verurteilte ihn der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg zu 20 Jahren Haft. Schilde, Kurt: „Hitler-Jugend (HJ)“. In: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, S. 563-566, hier S. 563, zu Schirachs Biografie s. Ebd.: S. 967; vgl. auch Schörken, Rolf: „Jugend“. In: Ebd., S. 223-241, hier S. 232. 294 Robert d’Harcourt empörte die Reaktion „[s]ingulièrement débile et timide“, die Châteaubriant den Benediktinern angesichts der vorgebrachten Monstrositäten an- <?page no="176"?> 176 Der letzte Einwand der Mönche, nämlich „‚la question de la stérilisation et celle du racisme’“ (GdF, S. 230), gipfelt in der emphatischen Rechtfertigung beider Anklagepunkte: Die im Interesse der nationalsozialistischen „Erbgesundheitspflege“ im „‚Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses’“ vom 14. Juli 1933 verankerte eugenische Maßnahme der (Zwangs-)Sterilisation 295 und der vom NS-Regime praktizierte Rassismus werden exkulpiert als notwendige Mittel zur Bekämpfung allen Übels, dem die Kirche nicht vermocht habe Einhalt zu gebieten. Unverzüglich erfolgt gedeihen ließ. Harcourt, Robert d’: „L’Allemagne comme la voit M. de Châteaubriant“, S. 2. 295 § 1 1(1) besagte: „‚Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden. (2) Erbkrank im Sinne diese Gesetzes ist, wer an einer der folgenden Krankheiten leidet: 1. angeborenem Schwachsinn, 2. Schizophrenie, 3. zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, 4. erblicher Fallsucht, 5. erblichem Veitstanz (Huntingtonscher Chorea), 6. erblicher Blindheit, 7. erblicher Taubheit, 8. schwerer erblicher körperlicher Missbildung. (3) Ferner kann unfruchtbar gemacht werden, wer an schwerem Alkoholismus leidet.’“ Vgl. die Erläuterung zu „erbkrank, Erbkranker, Erbkrankheit“. In: Schmitz- Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus, S. 199-201, hier S. 200. Vgl. auch die Einträge zur „Eugenik“, den „Maßnahmen zur langfristigen Verbesserung des Erbanlagenbestands des deutschen Volkes durch Förderung der Fortpflanzung sog. Erbgesunder und Verhinderung der Fortpflanzung sog. Erbkranker“ (Ebd.: S. 212- 213, hier S. 212, Kursivierung im Text) resp. den von den Nationalsozialisten verdeutschten Begriffen „Erbpflege, Erb- und Rassenpflege“ (Ebd.: S. 203). Trotz des (insgesamt geringen) Widerstands gegen die Zwangssterilisierung zumeist von katholischer Seite, unterzeichnete der Heilige Stuhl wenige Tage nach Erlass des „rassenhygienischen“ Gesetzes zur „Verhütung“ des - laut Reichsärzteführer Wagner - „‚lebensuntüchtige[n] und unwerte[n] Leben[s]’“ (14. 7. 1933) das Reichskonkordat mit Hitler-Deutschland (20. 7. 1933). Zit. in Vasold, Manfred: „Medizin“. In: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, S. 259-276, hier S. 265f. Dies, obgleich Papst Piux XI. in der Enzyklika Casti conubii (31. 12. 1930) erklärt hatte, „[d]ie weltliche Obrigkeit dürfe, ‚wo keine Schuld und damit keine Ursache für körperliche Bestrafung’ vorliege, ‚die Unversehrtheit des Leibes weder aus eugenischen noch aus irgendwelchen anderen Gründen direkt verletzen oder antasten’.“ Zit. in der Dissertation von Böhr, Karl: Die Unfruchtbarmachung nach geltendem und künftigem Recht. Köln 1933, S. 38. Ausf. zur Sterilisierung (bis 1945: 200.000-350.000) als „Ersatz-‚Euthanasie’“ s. Klee, Ernst: „Euthanasie“ im NS-Staat: Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Frankfurt a. M.: Fischer, 1983, S. 29-38, 48ff., 85f., hier S. 29 und 86. Der Nationalsozialismus „übertraf“ das u.a. vom Tübinger Professor und Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie Dr. Robert Gaupp im Jahr 1925 formulierte „Wunschziel“: „Aber wenn wir auch nur an hundert oder tausend oder später zehntausend Stätten bewirken könnten, daß Krankhaftes sich nicht weitervererbt, daß den ungeborenen Geschlechtern der Fluch schlechter Erbanlagen erspart bleibe, so hätten wir als Ärzte Gutes und für unser Volk Wertvolles geleistet.“ Gaupp, Robert Eugen: Die Unfruchtbarmachung geistig und sittlich Kranker und Minderwertiger. Erweitertes Referat, erstattet auf der Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie am 2. September 1925 in Kassel. Berlin: Springer, 1925, S. 43. <?page no="177"?> 177 die Ablenkung in Form der Umlenkung der Aufmerksamkeit auf die „wahre“ Gefahr: ‚Ah, mon Père! Mon Père! ... Racisme! Stérilisation! ... Ce ne sont pas là des principes contre vos principes! Ce sont des moyens de défense contre des maux que vos principes n’ont pas pu réduire! Unissons-nous devant le fait mondial qui domine toute la situation des peuples! Ne nous attardons pas! ... déjà l’Asie s’apprête... nous laissera-t-elle le temps de tergiverser, de voir, de peser, de conclure? ’ (GdF, S. 230f.) 296 Dies dient Châteaubriant als Vorlage zur Exemplifizierung seiner ureigenen Überzeugung von der Berechtigung des nationalsozialistischen Rassismus. Zur Bestätigung seiner Ansicht, „que le N.S. est loin de ‚pratiquer’ l’égoïsme racial dont on parle“ (GdF, S. 231), verweist er auf den Apostel Paulus 297 , demzufolge es das Ziel des Christentums sei, dass jeder Mensch Christus in sich selbst verwirkliche: „[E]t c’est cette recherche du Christ infus en chaque homme de chaque race et de toute couleur, qui constitue la catholicité, ou universalité.“ (ebd., Kursivierung im Text). Unter Berufung auf Jesus („‚Quand vous vous réunirez à plusieurs pour me prier, je serai au milieu de vous.’“, GdF, S. 232), d.h. Paraphrasierung Matthäus’ („Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“, Mt 18, 20), behauptet Châteaubriant, dass diese große Aufgabe, so seine eigenwillige Bibelexegese 298 , in einer rassisch reinen Gruppe am besten gelinge: [S]i le groupement est pur, si les hommes sont semblables, l’esprit sera identique et l’association pour Dieu puissamment unanime. La race deviendra ainsi, par son homogénéité même, le plus haut marchepied de la prière. Si le groupement n’est pas pur, par conséquent, si les individus sont dissemblables par la nature de leur esprit, l’intérêt de leur cœur, la forme de leur croyance, chaque homme deviendra individuel et la grande force de la prière sera perdue. (GdF, S. 232) Als Beleg dieser These führt er die Glasfenster in der Kathedrale Notre- Dame in Chartres an, auf denen die Apostel zu sehen sind: Einer der vie- 296 Maugendre appelliert an das Verständnis des Lesers für diese „Maßnahme“, wenn er nach Zitieren besagter brisanter Textstelle eine Parallele zu Fritz Langs Film über einen psychopathischen Kindermörder zieht: Ob nicht M. Mörder unter uns (1931), so die rhetorische Frage, den Wunsch des „Volkes“ nach Tötung des „Vampirs von Düsseldorf“ (unter diesem Namen wurde der 1931 hingerichtete Serienmörder Peter Kürten bekannt, der Lang u.a. zu seinem Film inspirierte) „comme malade et parasite“ ausdrücke. Maugendre, Louis-Alphonse: Alphonse de Châteaubriant, S. 232, Anm. 106. 297 Zu der kontroversen Figur des Apostel Paulus sowie dem christlichen Antijudaismus vgl. Heuermann, Hartmut: Religion und Ideologie, S. 147ff. 298 Stringente Kritik an Châteaubriants manipulierender religiöser Rechtfertigung des Rassismus durch Chadwick, Kay: Alphonse de Châteaubriant: Catholic Collaborator, S. 142ff. <?page no="178"?> 178 len Fehldeutungen 299 des Dichters zufolge tragen diese auf ihren Schultern Propheten des Alten Testaments, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Hautfarbe jeweils eine andere Rasse repräsentieren. Daraus leitet er ab, dass sich heute wie damals, eine Zeitangabe, die er mit Nachdruck wiederholt, die Rassen nicht vermischen dürfen. Dies bestätige augenfällig die Rassentheorien von Graf Joseph Arthur de Gobineau 300 (1816-1882), dem er seine Reverenz erweist: Le symbole, naturellement, vaut aujourd’hui ce qu’il a valu hier. Aujourd’hui comme hier, les races juxtaposées, serties les unes près des autres dans leur cadre immuable, ne se mélangent pas, ne doivent pas se mélanger. Par la leçon de la verrière, c’est le non-mélange qui est fondamental. Je ferai même remarquer qu’ici, avec la science intuitive du vieux liturgiste du moyen âge, se retrouve l’intuition scientifique de l’original et puissant érudit et philosophe français, le comte de Gobineau. (GdF, S. 233) Schon 1918 hatte Châteaubriant in Anschluss an die Lektüre von Gobineaus Essai sur l’inégalité des races humaines (1853-55), in dem dieser die Überlegenheit der „arischen“ Rasse propagierte, die Menschen in zwei Gruppen unterteilt: „[J]e dis qu’il y a de braves gens, ce qui n’est pas grand-chose […], et je dis aussi qu’il y a des âmes d’élite, des âmes fortes, des âmes lumineuses, des âmes de maîtres, ceux que Gobineau appelait 299 Chadwick merkt an, dass in Wirklichkeit die vier Propheten des Alten Testaments die vier Evangelisten auf ihren Schultern tragen: Ezechiel/ Johannes, Daniel/ Markus, Jeremia/ Lukas, Jesaja/ Matthäus. Die Autorin schließt hieraus auf Châteaubriants höhere Wertschätzung des Alten Testaments. Chadwick, Kay: Alphonse de Châteaubriant: Catholic Collaborator, S. 143, Fn. 44. Colette und Jean-Paul Derembles Interpretation der „Erzählung“ besagter Lanzettfenster, die sich unterhalb der Rosette im südlichen Querschiff (L’Apocalypse von Pierre Mauclerc, 1221-1230) befinden, entlarvt Châteaubriants rassistischen Diskurs: „[L]es lancettes ont une manière spectaculaire de figurer l’union des deux Testaments, que la révélation de l’Apocalypse montre réconciliés: saint Luc enserre de ses genoux les épaules de Jérémie, au visage bruni par la corrosion.“ Sie verweisen auf das Gleichnis von den Zwergen auf Schultern von Riesen und zitieren Bernhard von Chartres (gestorben ~ 1130), den Scholastiker und Vertreter des Realismus im Universalienstreit, der geschrieben hatte: „‚Nous sommes comparables à des nains juchés sur des épaules de géants: nous voyons plus de choses qu’ils n’en ont vu et nous voyons plus loin qu’eux.’ Ainsi, les évangélistes portés par les prophètes de l’Ancien Testament peuvent reconnaître le mystère du Christ que ces derniers on annoncé de manière voilée, mystère accompli dans l’Incarnation que figure la Vierge au milieu d’eux.“ Deremble, Colette et Jean-Paul: Vitraux de Chartres. Paris: Editions Zodiaque, 2003, S. 232ff., Hervorhebung BB, Abb. S. 233 und 235. 300 Wenige Seiten weiter erwähnt der Dichter erneut Gobineau, der bereits 1917 hellsichtig vor den Russen gewarnt habe (GdF, S. 253). Rolland hingegen lehnte Gobineaus rassenideologische Theorie ab: „Je n’accepte aucune théorie sur la genèse et l’évolution des races humaines qu’à titre d’hypothèse“. Brief Rollands vom 17. 12. 1920 in L’un et l’autre II: Romain Rolland et Alphonse de Châteaubriant, S. 178f. (Nr. 111), hier S. 178. <?page no="179"?> 179 ‚des fils de roi‘.“ 301 Dies gepaart mit seinem Bedauern darüber, „que le mélange incessant des races et des cartes a fini par créer dans l’ensemble de l’humanité une sorte d’égalité ethnique“ 302 , lässt ihn knapp zwei Jahrzehnte später gegen die „Rassenmischung“, wie sie der Nationalsozialismus ächtete und ahndete 303 , Position beziehen. Das Bibelwort „Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen“ (Mt 19, 6) verkehrt er unter Berufung auf Berlin zu „Ce que Dieu a désuni/ Ne doit pas être réuni.“ (GdF, S. 233, Kursivierung im Text): „Châteaubriant no longer simply paraphrases the Bible, but now corrupts its words to suit his purpose, in this instance to construct a religious vindication for his ideas on race.“ 304 Ein Verstoß gegen die von Gott gewollte Rassentrennung („chaque race sur cette terre est une idée de Dieu“) würde zu Konflikten führen, wie es die Klimax „un foyer de dissenssions [sic], un mélange grimaçant, un combat d’éléments“ veranschaulicht (GdF, S. 234). Am Schluss steht das unverbrüchliche Bekenntnis des Schriftstellers zum rassisch und vorgeblich christlich legitimierten Nationalsozialismus: Elle a donc parfaitement raison, l’Allemagne, lorsqu’elle se fonde sur l’esprit de sa race pour attendre, en cette heure de convulsion, du Christianisme qu’elle porte en elle, une expression qui soit la plus conforme à son génie, et la mieux adaptée à elle-même, c’est-à-dire aux nécessités profondes de sa vie, qui, naturellement, est seule de son espèce. (ebd.) Schlussfolgernd lässt sich mit Chadwick resümieren, dass Châteaubriants Rassismus-Diskurs ihn entlarvt „as a diehard racist disguised as a patriot and a Christian. Moreover, his reading of National-Socialist Germany as the incarnation of his desired New Christendom confirms that he has a deficient understanding of the true nature of both National Socialism and Christianity.“ 305 301 Brief an seine Schwester vom 8. Juli 1918. S. Châteaubriant, Alphonse de: Lettres des années de guerre 1914-1918, S. 233ff., hier S. 234. Mit Schreiben vom 10. Mai 1916 hatte Châteaubriant seinen Bruder u.a. um Übersendung von Gobineaus Rassentheorie gebeten, die er gegenüber seiner Frau am 8. März 1917 als Offenbarung pries. Ebd.: S. 137, 170. 302 Châteaubriant am 10. 3. 1915 in einem Brief an Mme Louise Cruppi. Ebd.: S. 51f., hier S. 52. 303 Exemplarisch für die NS-Rassengesetze sei auf das „‚Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre’“ vom 15. 9. 1935 hingewiesen. „Blutschutzgesetz“. In: Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus, S. 121. 304 Chadwick, Kay: Alphonse de Châteaubriant: Catholic Collaborator, S. 143. 305 Ebd.: S. 146, Hervorhebung BB. <?page no="180"?> 180 3.11 Fazit Châteaubriant La Gerbe des Forces ist der Bericht eines von der laizistischen Dritten Republik enttäuschten Dichters, glühenden Parteigängers der „Nouvelle Allemagne“ und bekennenden Hitler-„Jüngers“. Châteaubriants Kritik an der aus dem „Geist“ von 1789 geborenen Demokratie mitsamt ihren „Auswüchsen“ des Individualismus, Liberalismus, Materialismus, sein persönlicher Kreuzzug gegen den ausschließlich unter der Bezeichnung Bolschewismus figurierenden Kommunismus machen das Buch zu einem „profaschistischen Reisebericht[]“. 306 Bei Châteaubriant kann nicht mehr von „ideologische[r] Konvergenz mit dem Nationalsozialismus“ 307 gesprochen werden, vielmehr von Kongruenz, wenn er „angesichts des von ihm denunzierten geistig-moralisch-religiösen Bankrottes Frankreichs Hitler als den Überwinder und Retter feiert“. 308 Pathos und ein religiös-biblischer Duktus sind unveräußerliche Stilmerkmale des Reise-Essays. Sowohl die Stationen der Pilgerfahrt des Bretonen, der „offenen Zugang zur Naziführungsgarnitur“ 309 hatte, durch das mit Nationalstereotypen gepflasterte „verheißene“ Land - darunter Koblenz (Gautag), Berlin (Treffen mit Goebbels und Rosenberg), Offenburg und Freiburg (Châteaubriant hält Ansprachen vor der Hitler-Jugend), Wagners Bayreuth 310 (Aufführung von Lohengrin; Reichserntedankfest; Haus der deutschen Erziehung), Nürnberg (Reichsparteitag), Bamberg(er Dom), die Ordensburgen Krössinsee, Vogelsang, Sonthofen -, als auch die ausgewählten Beschreibungen von Unterhaltungen mit gleichsam nationalsozialistischen „Wiedergängern“ aus Madame de Staëls berühmten Deutschlandbuch, machen La Gerbe des Forces respektive Geballte Kraft zu einer „geballten“ Gesamtausgabe des Illustrierten Beobachters 311 der Jahre 1935 und 1936. Seinerseits bestückt mit eingän- 306 Reichel, Edward: „A Berlin! A Berlin! “ Deutschlandreisen französischer Schriftsteller, S. 669. 307 Wirsching, Andreas: „Auf dem Weg zur Kollaborationsideologie“, S. 55, Fn. 111. 308 Hofer, Hermann: Die Literatur der Kollaboration, S. 170. 309 La Gerbe des Forces wird Châteaubriant bis zu Hitler nach Berchtesgaden bringen. S. GK, S. XIV und Reichel, Edward: „A Berlin! A Berlin! “ Deutschlandreisen französischer Schriftsteller, S. 668. 310 Wie Bock richtig bemerkt, ist für Châteaubriant im Unterschied zum Gros der französischen Deutschland-Reisenden der Zwischenkriegszeit nicht Berlin von zentralem Interesse, an dessen Stelle jedoch im Umkehrschluss nicht Bayreuth tritt. Der (gelenkte) Blick des Besuchers richtet sich auf alle Städte resp. Stätten, die Hochburgen der Zelebrierung des nationalsozialistischen Kultes waren. S. Bock, Hans Manfred: Reisen zwischen Berlin und Paris in der Zwischenkriegszeit, S. 40, insb. Fn. 30. 311 Vgl. in Auswahl die im Illustrierten Beobachter inszenierten Themen: BDM: 11. Jg., Folge 23, 4. 6. 1936; der „Parteitag der Ehre“, Reichsarbeitsdienst: 11. Jg., Folge 38, 17. 9. 1936; Erntedankfest auf dem Bückeberg: 11. Jg., Folge 41, 8. 10. 1936; Eröffnung des Winterhilfswerks 1936/ 37: 11. Jg., Folge 42, 15. 10. 1936; Ordensburg Vogelsang, „Die große antibolschewistische Schau in der Hauptstadt der Bewegung“: 11. Jg., <?page no="181"?> 181 gigen Sprach-„Bildern“, aufgenommen aus französischer Perspektive, indes mit der gleichen propagandistischen Intention: französische Leser zum Nationalsozialismus zu bekehren. Unumwunden entlarvte Brasillach die Hoffnung als Irrglauben, welche der vom institutionalisierten Katholizismus enttäuschte Dichter in den Nationalsozialismus setzte: „Il espère encore trouver un compromis entre la croix et la croix gammée, mais la religion pour laquelle il est fait, n’en doutons pas, c’est ‚l’incarnation de l’homme allemand’, c’est ‚la connaissance allemande de Dieu’, c’est la religion de Mme Ludendorff.“ 312 Diese Unvereinbarkeit, das „Aufeinanderprallen“ zweier „Welten“, „[d]as Böse und das Gute, das Dunkle und das Lichte, das Kreuz und das Hakenkreuz“ 313 , verkannte Châteaubriant. Bereits Jahre vor der Niederlage Frankreichs machte „‚le Burgrave […] le don de sa personne à l’Allemagne nazie’“ 314 und schwor seine Landsleute im symbolischen Dernier Mot im Interesse einer allumfassend erneuernden Wiedergeburt auf die Kollaboration mit dem rechtsrheinischen Nachbarn ein: Dieser werde von dem zum Bamberger Reiter stilisierten Hitler, der an die Stelle des „preußischen“ Condottiere Bartolomeo Colleoni bzw. der gefürchteten Germania getreten sei, weise geführt. Aus diesem Grunde schrak er nicht vor einer Schocktherapie für seine geliebte „Patrie“ (GdF, S. 353) zurück. Fachbzw. bibelkundig beschwor er apokalyptische Bilder der quietschend sich schließenden Schicksalspforte herauf, prophezeite gigantische Invasionen des nebulös angedeuteten bolschewistischen Todfeindes und einen finalen Kampf um den gesamten Planeten, dem nur ein deutsch-französisches Bündnis gewachsen sei: „[L]e Rhin n’est pas une frontière pour laquelle on se bat, mais une ligne stratégique sur laquelle on se rassemble.“ 315 (GdF, S. 353, Kursivierung im Text). Folge 48, 26. 11. 1936; Reichsbauerntag zu Goslar, „Die Unterzeichnung des deutschjapanischen Vertrages gegen die bolschewistische Weltpest“: 11. Jg., Folge 49, 3. 12. 1936; „Baldur v. Schirach, Jugendführer des Deutschen Reiches“: 11. Jg., Folge 50, 10. 12. 1936. 312 Brasillach, Robert: „Causerie littéraire: Alphonse de Châteaubriant: La Gerbe des Forces (Grasset)/ H. de Montherlant: Le Démon du Bien (Grasset)“. 313 Ley, Robert: „Ich glaube an den Menschen Adolf Hitler! “, S. 20. 314 So die Charakterisierung Châteaubriants durch Lucien Combelle (1913-1995), ehemaliger Sekretär André Gides, Freund Pierre Drieu la Rochelles, „journaliste collaborationniste“ und Chefredakteur der Révolution nationale, in Abwandlung von Pétains Diktum (s. Kp. 4.10), zit. in Golsan, Richard J.: „Alphonse de Châteaubriant and the Politics of French Literary History“, S. 66. Zu Combelle, der im Dezember 1944 zu fünfzehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde, s. Assouline, Pierre: L’épuration des intellectuels, S. 42. 315 Nach seiner Flucht aus Frankreich wird Châteaubriant ausdrücklich erklären, dass ihn dieser aus Liebe zu seinem Vaterland geäußerte Satz noch immer mit Stolz erfülle. Gleichzeitig führt er rückblickend das Scheitern dieser Vision auf die innereuropäischen Rivalitäten zurück und spricht vom Selbstmord Europas: „L’histoire de l’Europe est l’histoire d’un suicide. Staline a raison: ‚Il ne sera pas nécessaire d’attaquer l’Europe, elle se détruira elle-même.‘“ Zit. in Sorella: Histoire d’une amitié, S. 303f. <?page no="182"?> 182 La Gerbe des Forces ist weit entfernt davon, als Plädoyer für einen genuin französischen Faschismus verstanden zu werden, war doch der nach religiöser Erneuerung Suchende zu sehr von seinem Glauben an die nationalsozialistische Ideologie und an eine „Resakralisierung“ Frankreichs eingenommen. Im Unterschied zu „‚christlichen Faschisten‘“, d.h. Vertretern eines „‚verirrte[n]’ Katholizismus“, die vermeinten, in einem „europäischen Faschismus“ „ein[] Substitut für das verlorengegangene organische und hierarisch geordnete Weltbild“ 316 entdeckt zu haben, gibt sich der mystizistische Schriftsteller vielmehr als „christlicher Nationalsozialist“ zu verstehen. Die Konzeption des Reiseberichts als Konglomerat einer bewusst zusammengestellten Auswahl nationalsozialistischer Stellungnahmen lässt schwerlich eine andere Deutung zu, als dass Châteaubriant auch den spezifischen, nationalsozialistischen Rassismus befürwortete, den er, wie es seine Auslegung der Fenster in der Kathedrale von Chartres offenbart, ganz persönlich religiös „unterfütterte“. Wie Chadwick kommentiert, legt dies den Schluss nahe: „Châteaubriant promulgated racism and supported National Socialism because he was a Christian and not because he upheld some form of fascist ideal.” 317 Dieser resignative Befund lässt sich in Zusammenhang bringen mit der kurz nach Unterzeichnung des Waffenstillstands in Compiègne am 11. November 1918 geäußerten Kritik des Frontsoldaten (Brief an seine Frau vom 28. 11. 1918) an der mangelnden europäischen Kollaborationsbereitschaft: „[A]u lieu de partir d’une idée d’entraide mutuelle et de collaboration qui s’impose dans l’état de désemparement où sont plongés aujourd’hui tous les peuples de l’Europe, les gouvernements alliés ne font guère que s’inspirer de leurs sentiments d’envie, de crainte, de rancune et de haine. Toute cette démence étant l’œuvre des faux nationalismes, des faux nationalismes impénitents.“ Châteaubriant, Alphonse de: Lettres des années de guerre 1914- 1918, S. 251ff., hier S. 253, Hervorhebung BB. 316 Wirsching, Andreas: „Auf dem Weg zur Kollaborationsideologie“, S. 44f. 317 Chadwick, Kay: A Broad Church: French Catholics and National-Socialist Germany, S. 220. <?page no="183"?> 183 4. Robert Brasillach Notre avant-guerre (1941) & Journal d’un homme occupé (1955) 4.1 Robert Brasillach Les hommes de lettres sont des espèces de ratés, qui écrivent parce qu’il [sic] n’agissent point. Mais parfois apparaît sur l’horizon une heure qui donne tout pouvoir au mot. Parfois, de ce que l’on écrit, peuvent surgir la mort, la guerre, la révolution. Comment résisterait-on à pareille ivresse? 1 Der aus Perpignan gebürtige Robert Brasillach 2 (1909-1945), Normalien und Jung-Maurrassianer, beginnt seine schriftstellerische und journalistische Tätigkeit 1930 bei der Revue française, ab 1931 (bis 1939) ist er Literaturkritiker der Action française (La causerie littéraire). In diesem Jahr erscheint sein Essay Présence de Virgile, es folgen Le Voleur d’étincelles (1932), der erste von insgesamt acht Romanen, Enfant de la nuit (1934), Portraits (1935) sowie die Histoire du cinéma (1935), die er gemeinsam mit seinem künftigen Schwager Maurice Bardèche 3 (1909-1998), einem Schulkameraden am Pariser Gymnasium Louis le Grand, herausgibt. Die Februarunruhen von 1934 begründen Brasillachs politisches Engagement. Ebenso wie Châteaubriant zählt er im Herbst 1935 zu den französischen Intellektuellen, die den - zu „‚justifiables entreprises de la jeune Italie‘“ deklarierten - italienischen Überfall auf Abessinien - verhöhnt als Land, in dem „‚un amalgame de tribus incultes‘“ lebe - verteidigen und das vom maurrassistischen Katholiken und Chefredakteur der Revue Universelle Massis redigierte Manifeste pour la défense de l’Occident unterschreiben. 4 Aufenthalte in Spanien (1934, 1938, 1939), Belgien (1936), Italien und Deutschland (1937) wecken Brasillachs „faschistische“ Begeisterung und Sehnsucht nach einem französischen Faschismus, der Frankreich vor dem Untergang, für den er die verhasste Dritte Republik und insbesondere die 1 Brasillach, Robert: „La dictature des pions“. In: JSP, 24. 9. 1937, S. 7. 2 Zu Brasillachs Lebenslauf vgl. u.a. die von Bardèche erstellte „Chronologie de la vie de Robert Brasillach“. In: Brasillach, Robert: Romans [Le voleur d’étincelles, L’enfant de la nuit, Le marchand d’oiseaux, Les captifs, inédits]. Œuvres complètes de Robert Brasillach. Première édition annotée par Maurice Bardèche. Bd. 1. Paris: Au Club de l’Honnête Homme, 1963, S. IX-XII. Im Folgenden werden die von Bardèche zwischen 1963 bis 1966 in der zwölfbändigen Gesamtausgabe veröffentlichten Texte Brasillachs zitiert mit dem Werktitel, der Angabe Œuvres complètes, Bandnummer sowie Jahreszahl. Zu Brasillachs Biografie sei exemplarisch verwiesen auf Laguerre, Bernard: „Robert Brasillach“. In: Juillard, Jacques; Winock, Michel (Hgg.): Dictionnaire des intellectuels français, S. 213-214. 3 Zu Bardèche s. Kp. 4.2. 4 Zit. in Sirinelli, Jean-François: Intellectuels et passions françaises, S. 93. <?page no="184"?> 184 Volksfrontkoalition von Kommunisten, Sozialisten und Radikalen unter Léon Blum, „[l]a dictature de la médiocrité, de l’arbitraire et du mensonge“ 5 , verantwortlich macht, retten und eine kraftvolle Regeneration bewirken könne. Seine Reiseeindrücke schlagen sich in diversen Publikationen nieder. Mit Massis verfasst er wenige Monate nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs im Juli 1936 eine Hymne auf Les cadets de l’Alcazar, die sie zu Heroen im Kampf um Toledo gegen die republikanischen Regierungstruppen überhöhen; die überarbeitete Version erscheint drei Jahre später unter dem Titel Le Siège de l’Alcazar. In Léon Degrelle et l’avenir de „Rex“ (1937) huldigt der Schriftsteller dem Anführer des faschistischen Rexismus, dessen jugendliche Verve „de jeune barbare“ 6 er bewundert. „[Q]uand aurons-nous en France un mouvement de gamins? “ fragt er mit Bedauern. 7 1937 ist ein in mehrfacher Hinsicht bedeutendes Jahr: Im Juni wird Brasillach Chefredakteur der pro-faschistischen und antisemitischen Wochenzeitung Je suis partout: Le grand hebdomadaire de la vie mondiale, deren erklärtes Feindbild die Volksfrontregierung ist. 8 Mit dem Wechsel von „la sermonneuse Action française au fulminant Je suis partout, Brasillach abandonne l’analyse littéraire pour l’exécution de l’auteur, les clameurs germanophiles, les appels au meurtre et à la délation.“ 9 Es sind insbesondere die spanischen Falangisten und belgischen Rexisten, weniger Mussolini oder Hitler, welche die Je suis partout-Equipe faszinieren. 10 5 So der Titel eines von mehreren Artikeln, in denen die Je suis partout-Equipe im Herbst 1937 mit der Volksfront nach 15-monatiger Regierungszeit abrechnete. N.N.: „La dictature de la médiocrité, de l’arbitraire et du mensonge“. In: JSP, 24. 9. 1937, S. 3. 6 Brasillach, Robert: Léon Degrelle et l’Avenir de „Rex“. In: Œuvres complètes, Bd. 5, 1964, S. 5-63, hier S. 63, Kursivierung im Text. 7 Ders.: „Lettre à une Provinciale: Visite à Léon Degrelle“. In: JSP, 20. 6. 1936, S. 1-2, hier S. 2. 8 Ausf. zu der Wochenzeitung Je suis partout, die vom 29. 11. 1930 bis 16. 8. 1944 (mit einer Unterbrechung vom 7. 6. 1940 bis 7. 2. 1941) in 677 Ausgaben erscheint, s. Dioudonnat, Pierre-Marie: Les 700 rédacteurs de Je suis partout 1930-1944. Dictionnaire des écrivains et journalistes qui ont collaboré au „Grand hebdomadaire de la vie mondiale“ devenu le principale organe du fascisme. Paris: Sedopols, 1993 (Documents d’histoire de la presse), hier S. 7; vgl. auch Ders.: Je suis partout 1930-1944. Detailliert zu Je suis partout s. Kp. 4.8.2. 9 Lecarme, Jacques: Brasillach et Drieu critiques des romanciers de leur temps: des critiques de droite? In: Douzou, Catherine; Renard, Paul (Hgg.): Ecritures romanesques de droite au XX e siècle: Questions d’esthétique et de poétique. Dijon: Editions universitaires de Dijon, 2002, S. 45-63, hier S. 50. 10 „Je suis partout“. In: Berstein, Gisèle et Serge: Dictionnaire historique de la France contemporaine, S. 445-447, hier S. 446. Dioudonnat betont, dass Je suis partout zu keinem Zeitpunkt in den Jahren 1936 bis 1938 „ouvertement“ eine pro-deutsche oder germanophile Position vertreten habe. Dioudonnat, Jean-Marie: Je suis partout 1930- 1944, S. 153. <?page no="185"?> 185 Im September fährt Brasillach erstmals nach Deutschland und wohnt dem Nürnberger Reichsparteitag bei. Zutiefst beeindruckt von der nationalsozialistischen Ästhetik schildert er seine Impressionen in einem Cent heures chez Hitler überschriebenen Artikel, der am 1. Oktober 1937 in der Revue universelle erscheint. In dem im selben Jahr publizierten episodenhaften Roman Comme le temps passe, einer Art Prolog 11 zu dem Jahre später verfassten Erinnerungsbuch Notre avant-guerre, versteht der Autor „[m]it einer ungewöhnlichen Feinfühligkeit der Sprache und der Psychologie […] das Spiel der Jugend, das Fest der Liebe und die lange Zeit der Trennung seiner beiden Romanpersonen zu schildern“. 12 Begeistert vom „esprit fasciste“ 13 bereist Brasillach im Juli 1938 in Begleitung seines Je suis partout- Kollegen Pierre-Antoine Cousteau (1906-1958) - „un grand voyageur, un journaliste-né, et le meilleur des compagnons“ 14 - und Bardèche das vom Bürgerkrieg erschütterte Spanien. Zwei weitere Aufenthalte folgen im Mai und Juli 1939. In ihrer Histoire de la guerre d’Espagne (1939) ergreifen Bardèche und Brasillach Partei für General Franco und dessen „cruzada“ in der Überzeugung, dass „la révolution dirigée par le général Franco a barré la route à un danger beaucoup plus grave que le danger du ‚fascisme inter- 11 Bardèche zufolge beschreibt Brasillach in Comme le temps passe den Lebensabschnitt vor Beginn der Schulzeit auf Louis le Grand. Bardèche, Maurice: Notice. In: Brasillach, Robert: Comme le temps passe. In: Œuvres complètes, Bd. 2, 1963, S. 13-327, Notice S. 5-12, hier S. 8. Bardèches allen Werken in der Gesamtausgabe vorangestellte Anmerkungen („Notice“) werden im Literaturverzeichnis nicht eigens aufgelistet. 12 So die positive Besprechung des anonymen Rezensenten der Deutsch-Französischen Monatshefte. N.N.: „Robert Brasillach Comme le Temps passe“ (Rezension). In: DFMh 5. Jg. (1938), S. 137-138. Bereits ein Jahr später erschien die deutsche Übersetzung (von Gertrud Grote) unter dem Titel Ein Leben lang: Roman in 6 Episoden im Münchner Beck-Verlag. S. „Robert Brasillach“. In: Bibliographie deutscher Übersetzungen aus dem Französischen 1700-1948. Bearb. von Hans Fromm. Bd. 1: A-B. Baden-Baden: Verl. f. Kunst u. Wissensch., 1950, S. 342. 13 Vgl. exemplarisch die Artikelfolge von Brasillach, Robert: „Lettre à une Provinciale: Introduction à l’esprit fasciste“. In: JSP, 24. 6. 1938, S. 3; Ders.: „Introduction à l’esprit fasciste: II. - Comment se forment les mythes“. In: JSP, 1. 7. 1938, S. 3; Ders.: „Introduction à l’esprit fasciste: III. - Un type humain nouveau“. In: JSP, 8. 7. 1938, S. 3. 14 Brasillach in einem Brief an Jacques Brousse am 13. 3. 1940. Ders.: Correspondance inédite. In: Œuvres complètes, Bd. 10, 1965, S. 443-612, Brief S. 543ff., hier S. 544; zwischen den Seiten 544/ 545 befindet sich eine Fotografie der drei Freunde auf ihrer Spanien-Reise im Jahr 1938. Cousteau, der zu den wichtigsten Redakteuren von Je suis partout zählte, vertrat im Verlauf der Auseinandersetzungen innerhalb der Je suis partout-Equipe „la ligne jusqu’au boutiste“; nach Brasillachs Weggang wurde er im Herbst 1943 „directeur politique“. Mitglied der Miliz und Sympathisant von Doriots PPF, wurde der Journalist auf seiner Flucht in Österreich verhaftet und nach Frankreich überstellt. Zum Tode verurteilt, begnadigt und 1954 freigelassen, blieb Cousteau bis zu seinem Tod seiner rechten Gesinnung treu. Vgl. Dioudonnat, Pierre- Marie: Les 700 rédacteurs de Je suis partout 1930-1944, S. 31. <?page no="186"?> 186 national‘: elle a barré la route au communisme international.“ 15 Sein Sieg lässt sie auf ein Ende der Dritten Republik und die Ablösung des Parlamentarismus durch den Faschismus hoffen: [L]a révolte du général Franco a été aussi utile à la France qu’à l’Espagne. Une victoire du Frente popular aurait précipité de ce côté des Pyrénées la soviétisation du pays, et l’aurait livré aux pires convoitises étrangères. C’est cela qu’il ne faut pas oublier, même si d’un danger évité naissait un jour un autre danger (à nous d’y parer): le Front populaire français a été battu en Espagne. (HGE, S. 438, Kursivierung im Text) Die im Verlauf des Nürnberger Reichsparteitags sowie des Spanischen Bürgerkriegs gewonnenen Eindrücke finden ebenfalls Eingang in dem zwischen Mai 1938 und April 1939 verfassten „roman du franc-parler politique“ 16 : Les Sept Couleurs (1939). In dem in sieben Teile bzw. Gattungen (Récit, Lettres, Journal, Réflexions, Dialogue, Documents, Discours) untergliederten „roman expérimental“ 17 entwirft der Romancier am Beispiel der Protagonisten Catherine, Patrice und François ein Bild der französischen Jugend der dreißiger Jahre im Zeichen des Faschismus. Als Hitler wenige Monate nach dem Anschluss Österreichs im März 1938 die Abtretung des Sudetengebiets an das Reich fordert und mit dem Einmarsch der Wehrmacht in die Tschechoslowakei droht, antwortet Frankreich mit der Mobilmachung, und Brasillach wird nach Saverne eingezogen. Das Münchner Abkommen 18 , mit dem am 30. September 1938 die Angliederung des Sudetengebiets an das Deutsche Reich besiegelt wird, spaltet Frankreich. Während Sozialisten und Kommunisten die Regierung Daladier des Verrats an der Tschechoslowakei bezichtigen, begrüßen sowohl Anhänger der pazifistischen sozialistischen Linken als auch der nationalistischen Rechten das Abkommen, darunter der „munichois“ Brasil- 15 Brasillach, Robert; Bardèche, Maurice: Histoire de la guerre d’Espagne. Paris: Plon, 1939, S. 437, folgend abgekürzt mit HGE. 16 Die unterschiedliche Präsentation des Faschismus in Les Sept Couleurs im Vergleich zu Notre avant-guerre, den beiden Texten, die Rasson zufolge „un véritable diptyque fasciste“ bilden, erklärt dieser mit dem Sturz der Dritten Republik und der Gründung des Etat Français, was in Brasillach, zumindest anfänglich, die Hoffnung auf Etablierung eines faschistischen Regimes in Frankreich weckte. Ausf., auch zu Bardèches Bagatellisierung des faschistischen Gehalts dieses Romans, der Namensgeber seines Verlages ist, s. Rasson, Luc: Littérature et fascisme, S. 112, 137f. 17 Griffiths, R.: Brasillach et la révolution fasciste. In: Harris, G. T., P. M. Wetherill (Hgg.): Littérature et révolutions en France. Amsterdam: Rodopoi, 1991 (Faux titre; 52), S. 195-225, hier S. 199. Griffiths’ Untersuchung der „faschistischen Revolution“ stützt sich insb. auf Les Sept Couleurs, Notre avant-guerre und Les Captifs. 18 Vgl. hierzu bspw. den anläßlich des 60. Jahrestages des Münchner Abkommens veröffentlichten Kolloquiumsband sowie speziell den Beitrag von Taubert, Fritz: „Munichois“ et „Anti-Munichois“ en France. In: Ders. (Hg.): Mythos München, Le Mythe de Munich, The Myth of Munich. München: Oldenbourg Verlag, 2002 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum; 98), S. 255-277. <?page no="187"?> 187 lach sowie Je suis partout. Das Journal, dessen Einstellung gegenüber NS- Deutschland einer „politique en zigzag“ 19 ähnelt, positioniert sich zu diesem Zeitpunkt unmissverständlich und titelt: „Ils veulent ‚leur’ guerre! “ (2. September 1938), „Le véritable patriotisme c’est de s’opposer au suicide de la France“ (30. September 1938), „En prison, le parti de la guerre! “ (1. Oktober 1938). Ein Jahr später kann Je suis partout trotz des erneuten Appells „A bas la guerre! Vive la France! “ (1. September 1939) den Krieg nicht verhindern und Brasillach wird an die Maginot-Linie versetzt; die Aufforderung zum Kampf „contre le germanisme tout entier, dénoncé ici sans relâche depuis huit ans, dont Hitler n’est que la dernière et épouvantable création“, währt nicht lange. 20 Während der „drôle de guerre“ 21 verfasst Brasillach das autobiografische Erinnerungsbuch Notre avant-guerre, eine politisch-kulturelle Betrachtung der zurückliegenden zwei Jahrzehnte, „[d]e plus, M. Brasillach a écrit, en même temps que ses souvenirs personnels, l’histoire de sa génération“. 22 Dieses „nostalgische[], aber auch kritische[] Porträt der Jahre 1924- 1939 aus der Sicht eines profaschistischen Intellektuellen“ ist „ein Schlüsseltext für das Verständnis der Zwischenkriegszeit“. 23 Nach der französischen Niederlage gerät er im Juni 1940 in deutsche Gefangenschaft, zu- 19 Zur zwiespältigen Haltung der Redakteure gegenüber dem faszinierend wie auch beunruhigend empfundenen deutschen Nachbarn, s. Chebel d’Appollonia, Ariane: „Je suis partout“. In: Juillard, Jacques; Winock, Michel (Hgg.): Dictionnaire des intellectuels français, S. 755-757, hier S. 756. 20 [Je suis partout]: „Pour la dignité française“. In: JSP, 8. 9. 1939, S. 1-2, hier S. 2. 21 „Drôle de guerre“ oder Sitzkrieg bezeichnet die fast kampflose Phase an der deutschfranzösischen Grenze zwischen Hitlers Überfall auf Polen (1. 9. 1939) bis zum Beginn des Westfeldzuges am 10. 5. 1940. Nachdem Frankreich und Großbritannien am 3. 9. 1939 dem Deutschen Reich den Krieg erklärt hatten, mobilisierte Frankreich seine Truppen zwar an der deutschen Westfront, nahm aber aufgrund der defensiven Militärdoktrin des französischen Generalstabes und aus Furcht vor der materiellen Überlegenheit der Wehrmacht eine abwartende Haltung ein. Mit dem deutschen Angriff auf die Benelux-Staaten begann am 10. Mai die Westoffensive (bis 22. 6. 1940, Datum der Unterzeichnung des Waffenstillstands in Compiègne). Jurt, Joseph: Historischer Überblick. In: Kohut, Karl (Hg.): Literatur der Résistance und Kollaboration in Frankreich: Geschichte und Wirkung II (1940-1950), S. 15f.; Martens, Stefan: Vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende des Vichy-Regimes (1914-1944), S. 401ff. 22 Vgl. die Rezension von Lemoine, Fernand: „Notre avant-guerre par Robert Brasillach (Plon)“. In: NRF 330 (Aug. 1941), S. 252-254, hier S. 252. 23 Zimmermann, Margarete: „‚La nouvelle Allemagne’: NS-Deutschland in Robert Brasillachs Erinnerungsbuch Notre Avant-Guerre (1941)“, S. 9. Ähnlich äußert sich Dufay, François: Die Herbstreise, S. 129. Demgegenüber steht jedoch die Kritik von Senarclens, der Notre avant-guerre beschreibt als „une longue flânerie qui ne débouche sur rien, sinon dans le dernier chapitre, sur le pressentiment d’un avenir angoissant.“ Senarclens, Pierre de: Brasillach: le fascisme et l’Allemagne. Essai d’interprétation. In: Dreyfus, François Georges (Hg.): Les relations franco-allemandes 1933-1939. Strasbourg 7.-10. 10. 1975. Colloques internationaux du CNRS No. 563. Paris: CNRS, 1976, S. 179-208, hier S. 183. <?page no="188"?> 188 nächst in Neuf-Brisach, später in Warburg und Soest. Noch als Kriegsgefangener spricht sich Brasillach aus dem Oflag VI A für die „collaboration dans la dignité“ aus und fordert den Tod für die Regierungsmitglieder, die Frankreich in den Krieg getrieben haben: [L]e paysan français, le bourgeois français, l’ouvrier français, tombés entre la Loire et le Rhin, au cours de l’année 1940, étaient beaucoup plus innocents, on l’avouera, que ceux qui les ont envoyés à la tuerie. Et pourtant, ils sont morts. Le minimum qu’on puisse réclamer pour ceux qui les ont assassinés sans rien faire pour les défendre, c’est le même sort. 24 Unvollendet bleibt der in deutscher Kriegsgefangenschaft begonnene autobiografische Roman Les captifs (1940/ 41, postum, 1963), in dessen Zentrum Gilbert Caillé steht, „un Julien Sorel fasciste du 6 février à 1941“. 25 Auf Gesuch des Vichy-Regimes wird Brasillach im März 1941 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und in das Commissariat général du cinéma berufen, das er nach kurzer Zeit verlässt, um ab dem 25. April wieder die Chefredaktion von Je suis partout zu übernehmen. Für die nunmehr Le grand hebdomadaire politique et littéraire untertitelte Zeitung verfasst der ehemalige Kriegsgefangene die Chronique des prisonniers. Mit seiner Rückkehr löst er sich augenfällig von der Maurras’schen Germanophobie und besiegelt den Bruch mit seinem Lehrmeister, dessen Parole lautete: „‚Ni fascisme, ni communisme: Le Roi’“. 26 Maurras wiederum verurteilt die Je suis partout-Redaktion als „‚clan des Ja’“. 27 In den Besatzungsjahren entwickelt sich die Zeitschrift, die ihre Vorkriegsauflage 28 mehr als verfünffacht, unter Brasillachs Ägide zum „Kampfblatt des jungen französischen Fa- 24 Beide Zitate in Brasillach, Robert: „Vive la France! “ In: JSP, 21. 3. 1941, S. 1, Kursivierung im Text, Hervorhebung BB. Der Artikel ist überschrieben mit den Worten: „Le cri ardent d’un prisonnier“. 25 Brasillach in einem Brief an seine Mutter am 27. 1. 1941. Ders.: Correspondance inédite. In: Œuvres complètes, Bd. 10, 1965, S. 575f., hier S. 576. Hinsichtlich der Entstehung des Romanfragments spricht Bardèche vage von einem „tournant de la sensibilité de Brasillach“, der, traumatisiert von der Kriegsgefangenschaft, zu neuen Ufern („les terres inconnues de la maturité“) aufgebrochen sei. Den Romanentwurf bezeichnet er nebulös als „un voyage de découverte, lequel comporte [...] les horizons des orages inconnus qui se préparent et surtout la douceur du désir et d’une secrète et profonde sensualité.“ Vgl. Bardèche, Maurice: Notice. In: Brasillach, Robert: Les captifs, inédit. In: Œuvres complètes, Bd. 1, 1963, S. 485-659, Notice S. 481-483, hier S. 482f., Kursivierung im Text. Ausf. zu Les Captifs s. Tame, Peter D.: The ideological hero in the novels of Robert Brasillach, Roger Vailland and André Malraux. New York u.a.: Lang, 1986 (Ars interpretandi; 6), S. 125-178. 26 Zit. in Reichel, Edward: Collaboration extrême - Lucien Rebatet, Les Décombres (1942), S. 105f. 27 Paxton, Robert O.; Corpet, Olivier; Paulhan, Claire: Archives de la vie littéraire sous l’Occupation, S. 168, Kursivierung im Text. 28 1939 belief sich die Auflage auf 46.000 Exemplare im Vergleich zu 250.000 im Jahr 1942. Chebel d’Appollonia, Ariane: „Je suis partout“, S. 756. <?page no="189"?> 189 schismus“ 29 und zu einer der einflussreichsten Stimmen der Pariser Kollaboration: „Ce sont les années 1941-1944 qui le figent dans son image d’organe du collaborationnisme irréductible, pro-nazi jusqu’à la provocation.“ 30 Das Vivat 31 des „Dissidenten“ 32 der Action française auf Pétain und dessen Révolution nationale ist von kurzer Dauer. Um so entschiedener spricht sich der „‚polémiste violent’“ 33 in seinen Leitartikeln, deren herausragende Kennzeichen ein virulenter Antirepublikanismus, Antisemitismus, Antikommunismus sowie die Denunzierung der politischen Gegner sind 34 , für Frankreichs Eingliederung in ein faschistisches, deutsch dominiertes Europa aus: „Pour s’accorder avec le monde nouveau, il faut une France nouvelle. Pour s’accorder avec l’Europe fasciste, il faut une France fasciste.“ 35 Nur sechs Monate nach der Rückkehr aus deutscher Gefangenschaft nimmt der Autor auf Einladung der Pariser Propagandastaffel im Oktober 1941 mit sechs weiteren französischen Romanciers am europäischen Schriftstellerkongress in Weimar teil. Während Jacques Chardonne, Ramon Fernandez und Marcel Jouhandeau bereits im Vorfeld der Dichtertage mit ausländischen Kollegen an einer dreiwöchigen Deutschland-Rundreise 36 teilgenommen haben, wird das Schriftstellerquartett Robert Brasillach, Abel Bonnard, Drieu la Rochelle und André Fraigneau (1905-1989) anschließend weiter nach Berlin geleitet. Dort stehen ein Treffen mit französi- 29 Zimmermann, Margarete: Die französische Literatur des Faschismus, S. 247; vgl. auch Amouroux’ Charakterisierung: „Rédigé par la meilleure équipe journalistique française du moment, rassemblant des talents contradictoires mais indiscutables, Je Suis Partout, de lecture facile encore aujourd’hui, est avant tout un organe de combat.“ Amouroux, Henri: Les beaux jours des collabos: juin 1941-juin 1942, S. 475, Hervorhebung BB. 30 Dioudonnat, Pierre-Marie: Les 700 rédacteurs de Je suis partout 1930-1944, S. 7. 31 Brasillach, Robert: „Vive le Maréchal! “ In: JSP, 11. 4. 1941, S. 1. Alain Laubreaux kündigt diesen ersten Beitrag Brasillachs nach Rückkehr aus neunmonatiger Kriegsgefangenschaft als „son premier article d’un ‚revenant’“ an und weist darauf hin, dass Brasillach ab dem 25. 4. 1941 wieder als Chefredakteur für Je suis partout tätig sein werde. S. Ebd. 32 Vgl. Sérant, Paul: Les dissidents de l’Action Française. Paris: Copernic, 1978, zu Brasillach S. 169-209. 33 So der Vorwurf der Anklage im Verlauf des Prozesses gegen Brasillach. Isorni, Jacques: Le procès de Robert Brasillach (19 janvier 1945). Paris: Flammarion, 1946, S. 57. 34 S. „Nationalistes, antisémites, antimaçons, antirépublicains, nous l’étions avant la guerre. Nous le restons aujourd’hui.“ Brasillach, Robert: „Nous, nous continuons“. In: JSP, 2. 6. 1941, S. 1-2, hier S. 2. 35 Ders.: „L’itinéraire de Rouen à Dieppe“. In: JSP, 11. 9. 1942, S. 1; vgl. auch Zimmermann, Margarete: Robert Brasillachs letzter Roman und das Ende der Okkupationszeit, S. 238; zu Brasillachs Europa-Vision s. Heddrich, Gesine: Deutschland und Frankreich als Hetero- und Auto-Image, S. 231. 36 Ausf. zur Propaganda-Reise der französischen Dreiergruppe, s. Kp. 5.3. <?page no="190"?> 190 schen Kriegsgefangenen und Arbeitern, eine Führung durch die Reichskanzlei, ein Besuch des Staatsrechtlers Carl Schmitt (1888-1985) sowie des Bildhauers Arno Breker 37 (1900-1991) in seinem Staatsatelier in Jäckelsbruch auf dem Programm. 38 Am nachhaltigsten beeindruckt den Schriftsteller auf seiner Reise die „Jugendlichkeit“ Nazi-Deutschlands: ‚Elle [L’Allemagne] n’oublie pas son passé, mais elle fait mieux: elle le ressuscite, elle le rajeunit. On ne trouve pas de cimetière en Allemagne. Les nécropoles y sont d’immenses parcs, des jardins toujours fleuris où l’on rencontre des fantômes qui vous rappellent qu’ils ont été jeunes et qu’ils veulent que le peuple allemand reste jeune et toujours tourné vers l’avenir.’ 39 Diese Jugend sieht er exemplarisch verkörpert durch Arno Breker: [C]e qui m’émerveille chez ce garçon, dont la sculpture vise précisément à la puissance et au monumental, c’est qu’il soit si jeune de fait et de caractère, si peu ‚pontife’, si proche de la liberté et de la vitalité de l’adolescence. […] [I]l est au centre même d’une aventure de jeunesse et il en fait partie tout naturellement. 40 Auf die Brasillach im Verlauf des gegen ihn angestrengten Hochverratsprozesses im Januar 1945 gestellte Frage nach der „Schicklichkeit“ dieser Reise „pour aller donner l’accolade aux intellectuels allemands“ zu einem Zeitpunkt, da Deportationen im Deutschen Reich an der Tagesordnung waren, antwortet der Angeklagte: 37 Breker lebte und arbeitete ab 1927 bis zu seiner Rückkehr nach Berlin im Jahr 1934 in Paris und pflegte in dieser Zeit u.a. Kontakt mit Aristide Maillol (1861-1944), Charles Despiau (1874-1946) sowie Jean Cocteau (1889-1963). 1970 erschien die französische Version seiner Memoiren (Paris, Hitler et moi), zwei Jahre später eine modifizierte erweiterte deutsche Ausgabe (Im Strahlungsfeld der Ereignisse), u.a. ergänzt um die Paris-Jahre sowie versehen mit anderen Fotografien. In seiner Funktion als offizieller Begleiter Fernand de Brinons an die Ostfront führt Brasillachs Weg am 21. 6. 1943 erneut über Jäckelsbruch. Über diesen Besuch gibt Brekers Gästebuch Auskunft, das in Auszügen seinem deutschen Erinnerungsbuch beigefügt ist, in dem sich der französische Schriftsteller mit einem Gedicht verewigt: „Petit poème en vers de mirliton - Le jardin est rempli de roses,/ Voici le Solstice d’Eté: / Que pourrait-il nous apporter/ Que cette maison ne propose: / La paix, le calme, la beauté,/ Et l’Heure où le bonheur repose…“ Breker, Arno: Im Strahlungsfeld der Ereignisse: Leben und Wirken eines Künstlers; Porträts, Begegnungen, Schicksale. Preußisch Oldendorf: Verlag K. W. Schütz, 1972, S. 395; vgl. auch die Aufnahme Brasillachs und Otto Abetz’, der mit zur Besuchergruppe zählte, in Brekers Garten zwischen den Seiten 320/ 321. Zu Breker s. auch Kp. 5.2, 5.6. 38 Zur französischen Vierergruppe s. Hausmann, Frank-Rutger: „Dichte, Dichter, tage nicht! “, S. 149, 160f. 39 Zit. in N.N.: „L’Allemagne vue par des écrivains français“. In: Paris Soir, 7. 11. 1941, S. 1 und 3, hier S. 3, Hervorhebung BB. 40 Brasillach, Robert: „L’Allemagne telle qu’on la voit: L’Art et les artistes du III e Reich“. In: Le Petit Parisien, 7. 11. 1941, S. 2, Hervorhebung BB. <?page no="191"?> 191 ‚Monsieur le Président, je crois qu’en 1941 l’occupation allemande était certainement beaucoup plus douce qu’elle l’a été par la suite. Et, au moment où se tint le Congrès de Weimar, il n’y avait certainement pas, dans l’opinion publique, la connaissance des horreurs que nous avons pu déplorer en 1943 et 1944 en particulier.’ 41 Im Folgejahr ist er u.a. neben Alphonse de Châteaubriant und Jacques Chardonne Mitglied des Ehrenkomitees der vom Deutschen Institut organisierten und von renommierten Vertretern des Vichy-Regimes gewürdigten Gesamtschau von Brekers Skulpturen, die von Mai bis Juli 1942 in der Orangerie in den Tuilerien zu sehen ist. 42 Während der Okkupation ist der Schriftsteller regelmäßig im Deutschen Institut, dem Ort der „collaboration intellectuelle“ 43 anzutreffen, dessen Direktor ihn „so sehr Schüler einer literarisch großen Zeit“ nennt „daß er zur Feder greifen muß, wenn irgendwo um geistige Entscheidungen gekämpft wird.“ 44 Er ist Mitglied im Verwaltungsrat der deutschen Buch- 41 Isorni, Jacques: Le procès de Robert Brasillach (19 janvier 1945), S. 79f. 1942 war Brasillach nicht zu den Weimarer Dichtertagen gefahren. S. Hausmann, Frank- Rutger: „Dichte, Dichter, tage nicht! “, S. 180. 42 Zu der offiziell von den Vichy-Ministern Abel Bonnard, Staatssekretär für Erziehung und Jugend, und Jacques Benoist-Méchin, Staatssekretär für deutsch-französische Beziehungen, eröffneten Ausstellung kam auch der Ministerpräsident Pierre Laval; Pétain gratulierte Breker schriftlich. S. Breker, Arno: Paris, Hitler et moi. Paris: Arno Breker et Presses de la Cité, 1970, S. 146ff. sowie die zwischen den Seiten 144/ 145 eingefügten Fotos prominenter Ausstellungsbesucher, darunter Aristide Maillol und Jean Cocteau. Vgl. die Ansprachen der Minister: Bonnard, Abel: „Heroische Kultur“. In: DFMh 9. Jg., Heft 6/ 7 (1942), S. 183-186; Benoist-Méchin, Jacques: „Kunst und Staat“. In: Ebd.: S. 190-193. Zu Benoist-Méchin s. auch Kp. 5.11. S. auch Hausmann, Frank-Rutger: „Auch im Krieg schweigen die Musen nicht“, S. 32f., 126. Abbildungen der ausgestellten Skulpturen Brekers (Der Zehnkämpfer, Die Siegerin, Kameraden etc.), des deutschen Bildhauers, „der den Ausdruck extremer Gewaltsamkeit und Leidenschaft wieder in die plastische Form zu bringen wagt“, finden sich in dem nur wenige Seiten umfassenden Ausstellungskatalog. S. Linfert, Carl: Die Sprache des Bildhauers. In: Exposition Arno Breker à l’Orangerie 15 mai - 31 juillet 1942, o.S.; vgl. auch Wilson, Sarah: Kollaboration in den schönen Künsten 1940-1944. In: Hirschfeld, Gerhard; Marsh, Patrick (Hgg.): Kollaboration in Frankreich, S. 139-160, insb. S. 153- 157. 43 Brasillach hofft, dass in Friedenszeiten ein „Institut français“ in Deutschland die gleiche Kulturarbeit verrichten möge wie das Deutsche Institut in Paris. Brasillach, Robert: „Entretien avec le directeur de l’Institut allemand: Principes d’une connaissance réciproque“. In: JSP, 25. 10. 1941, S. 8. 44 Epting, Karl: Frankreich im Widerspruch. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt, 1943, S. 80. Alice Epting-Kullmann berichtet, Brasillach, den sie „zu den bedeutendsten Schriftstellern der jungen Generation“ zählt, habe noch am 12. 8. 1944, wenige Tage vor Schließung des Instituts, am dortigen „Herrenabend mit französischen Schriftstellern“ teilgenommen. Epting-Kullmann, Alice: Zwischen Paris und Fluorn: Erinnerungen aus den Jahren 1944-1945. Burg Stettenfels bei Heilbronn a.N.: Hünenburg-Verlag, 1958, S. 35. Vgl. auch die Fotografien, die Brasillach im Frühjahr 1942 zu Gast im Deutschen Institut zeigen in Paxton, Robert O.; Corpet, Olivier; Paulhan, <?page no="192"?> 192 handlung Rive Gauche, die Eptings Institut untersteht und „das alleinige Monopol zum Vertrieb deutscher Bücher in Frankreich und zum Export französischer nach Deutschland [besitzt].“ 45 Das 1941 veröffentlichte Erinnerungsbuch Notre avant-guerre zählt die Propagandaabteilung zum „foerdernswerten Schrifttum“; dieses figuriert zudem im Miroir des livres nouveaux 1941-1942. 46 Brasillach stellt sein journalistisches Schreiben zunehmend „in den Dienst eines Kreuzzugs der Feder - mit dem Ziel, durch die Propagierung der Hitlerschen ‚Mission’ […] der erhofften rénovation sociale, jener Geburt des neuen Frankreich medial wirkungsvoll Vorschub zu leisten.“ 47 Unter der programmatischen Schlagzeile Pour que la France vive… La France et l’Allemagne veulent l’Unité de notre pays et l’Unité de l’Occident, il faut que nous en voulions, nous, les conditions begrüßt Brasillach zwei Tage nach der Besetzung der freien Zone am 11. November 1942 durch deutsche Truppen „cette mesure, que le développement de l’attaque américaine sur notre Empire rendait rigoureusement nécessaire.“ 48 Wenngleich er dieses Datum pathetisch als „plus mortelle et plus lourde“ als das Inkrafttreten des Waffenstillstands am 25. Juni 1940 bezeichnet und beteuert, in diesen tragischen Tagen von einer „atroce douleur“ erfüllt zu sein, weist er den Gaullisten, der „pseudo-Révolution nationale“ und den als „vieille vérole américaine“ stigmatisierten USA die Schuld zu und fordert „que le pays soit nettoyé, du haut en bas.“ Die Besatzung der Südzone, die zum Einfallstor für britische und jüdische Intrigen geworden sei, berge die Hoffnung nicht nur auf die Einheit Frankreichs, sondern ganz Europas. An der Ge- Claire: Archives de la vie littéraire sous l’Occupation, S. 143, 155. Im Prozess zu seinem Verhältnis zu Eptings Institut befragt, spricht er nüchtern von einer im Interesse seines Landes erfüllten „Pflicht“: „Je crois qu’on pouvait avoir avec l’Institut Allemand les rapports qu’on a avec un pays qui, certes, est un pays occupant, mais il est là: il faut malheureusement avoir des rapports avec lui, et il faut savoir ce qu’est l’Allemagne, il faut comprendre l’Allemagne pour pouvoir discuter avec elle, pour pouvoir reconnaître sa force, et pour pouvoir s’opposer, si besoin est, à sa force.“ Isorni, Jacques: Le procès de Robert Brasillach (19 janvier 1945), S. 86f., Hervorhebung BB. 45 Auch Châteaubriant zählte zum Verwaltungsrat der im Quartier Latin an der Place de la Sorbonne gelegenen Buchhandlung. Michels, Eckard: Das Deutsche Institut in Paris 1940-1944, S. 77-79, hier S. 79. 46 Vgl. Punkt V „Allgemein geschichtliches Schrifttum“ der Gesamtliste des förderungswerten Schrifttums bis 31. Dezember 1942 der Propaganda-Abteilung Frankreich, Gruppe Schrifttum in Loiseaux, Gérard: La littérature de la défaite et de la collaboration, S. 556. Allg. zum Miroir des livres s. Kp. 3.1 sowie 5.1.5. Faksimile des Miroir bei Fouché, Pascal: L’édition française sous l’Occupation: 1940-1944, Bd. 1, S. 394, 403 (hier Fotografie Brasillachs). 47 Clamor, Annette: Dekadenz als Kampfbegriff, S. 91, Kursivierung im Text. 48 Brasillach, Robert: „La France et l’Allemagne veulent l’Unité de notre pays et l’Unité de l’Occident, il faut que nous en voulions, nous, les conditions“. In: JSP, 13. 11. 1942, S. 1, Hervorhebung BB. Die folgenden Zitate beziehen sich auf diesen Artikel. <?page no="193"?> 193 staltung dieser Einheit lässt er keinen Zweifel: „Dans l’Europe fasciste, que soude en ce moment l’agression américaine, il n’y a pas de place que pour une France fasciste.“ 49 Gemeinsam mit dem Chefredakteur der auflagenstärksten Pariser Tageszeitung Le Petit Parisien Claude Jeantet (1902-1982) begleitet der Je suis partout-Chefredakteur im Juni 1943 Fernand de Brinon 50 , den Botschafter Vichys beim Deutschen Reich und Präsidenten der LVF, zur Inspektion der Freiwilligenbataillone an die Ostfront. Im Verlauf dieser Reise besichtigt er die 1942/ 1943 von der Wehrmacht in der Nähe von Smolensk in Katyn entdeckten Massengräber: Auf Befehl Josef W. Stalins (1879-1953) waren dort im Frühjahr 1940 16.000 polnische Militärs in sowjetischer Kriegsgefangenschaft ermordet worden. 51 In dem Mémorandum écrit par Robert Brasillach pour la préparation de son procès (postum) betont der Kollaborateur, die Fahrt nach Katyn sei nicht im Rahmen des von der deutschen Propaganda initiierten „Hinrichtungstourismus“ 52 , sondern auf eigenen Wunsch erfolgt: „Nous voulions voir Katyn, nous l’avons vu, et nous avons dit ce que nous avons vu.“ 53 Bereits im Vorfeld seiner Reise verfasst Brasillach unter zynischer Anspielung auf Célines antisemitisches Pamphlet Bagatelles pour un massacre (1937) seine Bagatelles sur un massacre, in denen er Position für NS-Deutschland bezieht, das er zum Garanten der Genfer Konventionen verklärt: 49 Ders.: „Mon pays me fait mal…“. In: JSP, 20. 11. 1942, S. 1. 50 Zu Brinon s. Kp. 3.5. 51 Hausmann, Frank-Rutger: „Nur Krähen krächzen über den Gräbern. Bestellte Zeugen: Was Kollaborateure der Deutschen über Katyn berichtet haben.“ In: FAZ, 9. 2. 2004, S. 40. Ausf. zu Katyn s. Kp. 4.9.2.1. Im Frühjahr 1940 ermordeten Sonderkommandos des NKWD (Sowjetisches Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) mehr als 25.000 polnische Staatsangehörige, unter ihnen vorrangig Offiziere, aber auch Intellektuelle, Geistliche, Führungskräfte, welche die stalinistische Sowjetunion im Rahmen der Besetzung Ostpolens gefangen genommen hatte. Vgl. die aktuelle Untersuchung von Zaslavsky, Victor: Klassensäuberung: Das Massaker von Katyn. Bonn: Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, 2008 (Schriftenreihe; 726), S. 9, 15. 52 Weiterführend zu den von Goebbels veranlassten Reisen in- und ausländischer Ärzte, Militärs, Schriftsteller und Journalisten „an den Tatort“ des von „Kremljuden“ begangenen Massakers, s. Hausmann, Frank-Rutger: „Nur Krähen krächzen über den Gräbern“. 53 Brasillach, Robert: Mémorandum écrit par Robert Brasillach pour la préparation de son procès. In: Œuvres complètes, Bd. 5, 1964, S. 615-645, hier S. 642, folgend abgekürzt mit MPP. Das von Brasillach zur Vorbereitung auf seinen Prozess angefertigte Manuskript Mémorandum kann nur einschränkend als Quelle herangezogen werden, da Bardèche dieses aus Brasillachs Nachlass erstellte. Bardèche, Maurice: Notice: In: Ebd, S. 613-614, hier S. 614. Die Résistance-Zeitung Front National verurteilte Brasillach als „[h]itlérien cent pour cent“, der als einer von wenigen Franzosen nach Katyn gereist war, „vaste et macabre mise en scène de Goebbels contre les Soviets“. N.N.: „Brasillach serviteur volontaire du nazisme est jugé aujourd’hui“. In: Front National, 19. 1. 1945, S. 1. <?page no="194"?> 194 [A]u printemps de 1940, les Soviets, en paix avec l’univers entier, possesseurs d’un morceau de Pologne, font tuer d’un coup de revolver dans la nuque des milliers d’officiers polonais. A la même heure, d’autres officiers polonais sont libérés sous condition par le Reich, vainqueur de la Pologne, ou sont gardés en captivité selon les lois de la guerre. Prisonniers, ce qui n’est pas drôle, mais vivants. Mais en relations avec les leurs. Ennemis de l’Allemagne, mais traités en soldats. 54 Im Falle eines russischen Sieges prophezeit er dem über die deutsche Besatzung „wehklagenden“ Frankreich eine Wiederholung Katyns im eigenen Land. Brasillachs letzter Artikel in seiner Eigenschaft als Chefredakteur von Je suis partout erscheint am 27. August 1943 (La L.V.F. a deux ans). Sowohl die Rückschläge NS-Deutschlands als auch die Absetzung und Verhaftung Mussolinis im Juli 1943 ebenso wie persönliche Differenzen mit dem Direktor Charles Lesca 55 (1887-1948) hinsichtlich der von Je suis partout zu vertretenden politischen Linie führen zur Trennung von dem zunehmend stärker pro-nazistisch orientierten Journal, das eine „collaboration jusqu’auboutiste“ vertritt: Die Leitung übernehmen die „Ultras“ wie Cousteau, Lesca und Rebatet, die Doriots PPF, die LVF ebenso wie die Miliz unterstützen. 56 Ab diesem Zeitpunkt publiziert Brasillach in der Chronique de Paris, L’Echo de la France sowie in der politisch-literarischen Wochenzeitung Révolution nationale, in der er sich im September 1943 zu einem „collaborationnisme du cœur“ bekennt. 57 Den Geist der Revolution des 20. Jahrhunderts hält er für unvergänglich, weshalb er 1944 sein (Glaubens-)Bekenntnis aus Notre avant-guerre wiederholt: „Au début de la Confession d’un enfant du siècle, Musset a dépeint cette jeunesse romantique hantée du souvenir des grandes chevauchées impériales. Notre mal du siècle, qu’on le veuille ou non, c’est le fascisme.“ 58 Dort erscheint zwischen März und Juni 1944 Brasillachs letzter, hochpolitischer Roman als Feuilleton: Six heures à perdre schildert den sechsstündigen Paris-Aufenthalt des aus deutscher Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Franzosen Robert B. im Winter 54 Brasillach, Robert: „Bagatelles sur un massacre“. In: JSP, 30. 4. 1943, S. 1. Brasillachs Bericht über die Eindrücke von Katyn (J’ai vu les fosses de Katyn) erscheint am 9. 7. 1943 in Je suis partout und findet in gekürzter Form Eingang im Journal d’un homme occupé unter dem Titel Sur les routes de Russie. Vgl. Kp. 4.9.2.1. 55 Zu dem in Argentinien geborenen Charles Lesca, während der drôle de guerre vorübergehend Chefredakteur, später Direktor von Je suis partout, der im Mai 1947 von einem französischen Gericht in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde, s. Dioudonnat, Jean-Marie: Les 700 rédacteurs de Je suis partout 1930-1944, S. 58. 56 Chebel d’Appollonia, Ariane: „Je suis partout“, S. 757. Vgl. Brasillachs Begründung seines Bruchs mit Je suis partout im Mémorandum: MPP, S. 634, 637ff. 57 Brasillach, Robert: „Naissance d’un sentiment“. In: Révolution nationale, 4. 9. 1943, S. 1. 58 Ders.: „Ce qui reste acquis“. In: Révolution nationale, 5. 2. 1944, S. 1. <?page no="195"?> 195 1943/ 44. 59 Mit dieser „verniedlichende[n] Rückbesinnung auf Gefangenenglück in einem deutschen Lager“ in Westfalen bekennt sich der Romancier zur Besatzung. 60 Die Landung der Alliierten in der Normandie nennt er den Einbruch der Apokalypse über Frankreich. Es ist die Zerstörung französischer Städte und Dörfer, „[l]e plus gigantesque attentat contre la beauté du monde“, die Brasillach im Juli 1944 erbittert; im scharfen Kontrast dazu steht die implizit suggerierte „friedliche“ Okkupation: [L]es bombes des Américains, parfois en deux heures, rayaient de la carte, et demain de la mémoire, les rues de Lisieux, les trésors de Caen, les petites villes ravissantes et fraîches de Vire, de Saint-Lô, de Carentan, tant de villages dont les noms seuls étaient synonymes de tranquillité et de paix. 61 Nach der Befreiung der französischen Hauptstadt im August 1944 taucht der Schriftsteller zunächst in Paris unter, stellt sich aber im September den Behörden, als er von der Verhaftung seiner Mutter erfährt. Während der Inhaftierung in Noisy-le-Sec und anschließend in Fresnes verfasst Brasillach diverse Texte, Briefe (Lettres écrites en prison, postum, 1952) und Gedichte (Poèmes de Fresnes, postum, 1946), darunter sein politisches Vermächtnis: Lettre à un soldat de la classe 60 (postum, 1946). In Form eines aus Tagebuch-Einträgen zusammengefügten Briefes 62 an seinen Neffen bringt der von der Richtigkeit seines Handelns überzeugte „Absender“ („Je me sens le cœur pur, même si j’ai erré en quelques matières.“, LS, S. 18f.), der die Rechtmäßigkeit der in Kürze über ihn richtenden Justiz leugnet („C’est la Justice après tout qui a condamné Socrate et le Christ“, LS, S. 17), seinen Glauben an den Faschismus und seine Hoffnung auf die deutsch-französische Versöhnung zum Ausdruck: J’écris ces lignes parce que j’en suis convaincu encore aujourd’hui. Parce que je pense que la tâche manquée par la génération de 1918, puis par celle de 1940, il faudra bien la reprendre un jour, et que cette tâche demeure celle de la réconciliation franco-allemande, c’est-à-dire la tâche de la paix. Parce que je pense tou- 59 Erst 1953 erscheint die Buchausgabe bei Plon. Ausf. zu dem stilistisch heterogenen, romanhaften Traktat, dem die „politische Desillusionierung“ des Verfassers eingeschrieben ist, s. Zimmermann, Margarete: Robert Brasillachs letzter Roman und das Ende der Okkupationszeit, S. 241. 60 Hofer, Hermann: Die Literatur der Kollaboration, S. 165. 61 Brasillach, Robert: „Devant l’Apocalypse“ (La Chronique de Paris, Juli 1944). In: Ders.: La Chronique de Paris. In: Œuvres complètes, Bd. 12, 1966, S. 714-716, hier S. 715. 62 Die Gattung thematisiert Brasillach in den ersten Sätzen: „Est-ce une lettre que j’ai commencé ici, ou des notes sans grande suite? Il me semble que c’est une lettre, puisqu’à chaque ligne que j’écrivais, je voyais le visage d’un petit garçon de quatre ans, qui est né lorsque les troupes allemandes débarquèrent en Norvège, prélude de la grande offensive de 1940.“ Ders.: Lettre à un soldat de la classe soixante suivie de Les frères ennemis, dialogue tragique. Paris: Les Sept Couleurs, 1950, S. 11-59, hier S. 11. Lettre à un soldat de la classe soixante wird folgend abgekürzt mit LS. <?page no="196"?> 196 jours avec amitié à ceux des Allemands que j’ai connus, et qui en sont convaincus, et singulièrement à mon ami Karl Heinz Bremer, tombé en mai 1942 sur le front de l’Est. Parce que je crois que cela peut se faire sans reniement de nousmêmes, ni de nos morts, ni du mal injuste que nous nous sommes fait mutuellement. Et il faudra bien en arriver là. Est-ce vrai, cher garçon de la classe 1960? (LS, S. 32f.) Ebenso bestimmt, wie er am Antisemitismus festhält („Je suis antisémite, je sais par l’histoire l’horreur de la dictature juive“, LS, S. 26), rechtfertigt er den Kollaborationismus („[S]ans le mince rideau de collaborationnistes dressé entre l’occupant et un pays vite sourdement révolté, il n’y aurait pas eu de vie possible“, LS, S. 41) und verurteilt die Epuration durch „[d]es écrivains déshonorés“ und „une presse d’hystériques“ (LS, S. 56). Ungeachtet Brasillachs Beteuerung, Frankreich nie verraten zu haben (LS, S. 19), ist er in den Augen der Anklage der Intellektuelle, der sich des Vaterlandsverrats schuldig gemacht hat: ‚Elle [la République] ne vous fera pas le procès de vos erreurs tragiques, de vos intolérances mortelles, de vos opinions subversives, mais elle fera, dans le cadre de l’article 75 du Code Pénal, et toutes preuves rassemblées, à vous, le clerc qui avez trahi, le procès de votre trahison.’ 63 Der „intelligence avec l’ennemi“ für schuldig befunden, wird Brasillach am 19. Januar 1945 zum Tode durch Erschießen verurteilt und am 6. Februar 1945 hingerichtet, nachdem Général de Gaulle das Gnadengesuch 64 bedeutender französischer Intellektueller, unter ihnen Jean Paulhan, Paul Valéry (1871-1945) und François Mauriac, abgelehnt hatte mit der Begründung: „[D]ans les lettres comme en tout, le talent est un titre de responsabilité.“ 65 Während Simone de Beauvoir (1908-1986) ihre Unterschrift verweigerte („Il y a des mots aussi meurtriers qu’une chambre à gaz.’“ 66 ), hatte Albert Camus (1913-1960) nach langem Zögern unterschrieben. Nicht aus Sympathie für Brasillach, wie er in seinem Antwortbrief an Marcel Aymé am 27. Janu- 63 Isorni, Jacques: Le procès de Robert Brasillach (19 janvier 1945), S. 137. 64 Wiedergabe der Petition in Ebd.: S. 220, Brasillachs Remerciement aux intellectuels vom 3. 2. 1945, S. 218-219. Laut einer im Frühjahr 1945 durchgeführten Umfrage befürworteten 52% der Befragten das Todesurteil, 12% sprachen sich dagegen aus. Sirinelli, Jean-François: Intellectuels et passions françaises, S. 154. 65 Gaulle, Charles de: Mémoires de guerre: Le salut 1944-1946. Paris: Plon, 1959, S. 115. Als wahrscheinlichen Grund, weshalb de Gaulle Brasillachs Begnadigung ablehnte, nennt Carroll dessen Artikel Pas de pitié pour les assassins de la patrie, in dem der Journalist zur Ermordung von Kommunisten und Gaullisten aufgefordert hatte: „Qu’attend-on pour fusiller les chefs communistes déjà emprisonnés? Et ces grands bourgeois qui découpent, le soir, des tickets de métro en forme d’insignes gaullistes, sous la lampe? “ (Brasillach, Robert: „Pas de pitié pour les assassins de la patrie“. In: JSP, 25. 10. 1941, S. 1). Carroll, David: French literary fascism, S. 123. Zum Prozess vgl. Kaplan, Alice: The Collaborator: the trial and the execution of Robert Brasillach. 66 Zit. in Sapiro, Gisèle: La responsabilité de l’écrivain, S. 7. <?page no="197"?> 197 ar 1945 präzisierte, sondern weil er meinte, mit einer Enthaltung Mitverantwortung für die Todesstrafe zu tragen, die er ablehnte: J’ai toujours eu horreur de la condamnation à mort et j’ai jugé, qu’en tant qu’individu du moins, je ne pouvais y participer, même par abstention. C’est tout, et c’est un scrupule dont je suppose qu’il ferait bien rire les amis de Brasillach. […] Ce n’est pas pour lui que je joins ma signature aux vôtres. Ce n’est pas pour l’écrivain que je tiens pour rien, ni pour l’individu que je méprise de toutes mes forces. Si j’avais même été tenté de m’y intéresser, le souvenir de deux ou trois amis, mutilés et abattus par les amis de Brasillach pendant que son journal les encourageait, m’en empêcherait. Vous dites qu’il entre du hasard dans les opinions politiques et je n’en sais rien. Mais je sais qu’il n’y a pas de hasard à choisir ce qui vous déshonore. 67 In Anspielung auf den kurz vor dem Sturz Robespierres am 7. Thermidor 1794 guillotinierten Dichter und antijakobinisch gesinnten Aufklärer André Chénier 68 (1762-1794) nimmt Brasillach das Pseudonym Robert Chénier 69 an. Nach Verkündigung des Todesurteils arbeitet er einen Essay über den „poète assassiné“ aus (Chénier, postum, 1947), „qui avait eu le tort, au milieu des erreurs de fait ou d’idéologie, de voir clair dans ce qui se tramait au nom de la Liberté.“ 70 Damit begründet er vorauseilend den eigenen Märtyrermythos. 71 Zu den postum publizierten Werken zählt u.a. der im Oktober 1944 in der Haft verfasste „dialogue tragique“ zwischen Eteokles und Polyneikes: Les frères ennemis 72 (1950) aus dem Atridenmythos verkörpern die tödlichen Auseinandersetzungen zwischen Kollaboration (Eteokles) und Résistance (Polyneikes). Brasillachs Bestreben um die Rechtfertigung der Kollaboration findet eindrücklich Ausdruck, wenn er zynisch 67 Camus, Albert: Textes épars (1945-1948). In: Ders.: Œuvres complètes. Bd. 2: 1944- 1948. Éd. publ. sous la dir. de Jacqueline Lévi-Valensi u.a. Paris: Gallimard, 2006 (Bibliothèque de la Pléiade; 183), S. 733-768, Brief S. 733-734, hier S. 733. 68 Zu Vita und Opuscula Chéniers s. Beaumarchais, Jean-Pierre de: „André Chénier“. In: Ders.; Conty, Daniel; Rey, Alain (Hgg.): Dictionnaire des écrivains de langue française. Bd. 1: A-L. Paris: Larousse, 2001, S. 349-356. 69 Unter diesem Verfassernamen erschien im September 1945 bei den Editions de Minuit et demi unter dem Titel Barreaux eine erste klandestine Ausgabe von dreizehn Gedichten, die Brasillach vor seiner Verurteilung zum Tode geschrieben hatte. 70 Brasillach, Robert: Chénier. In: Œuvres complètes, Bd. 9, 1965, S. 147-168, hier S. 167f. 71 Krauss betont, dass allen im Gefängnis entstandenen Werken eine doppelte Zielsetzung eingeschrieben ist: „[D]ie Rechtfertigung seines Verhaltens während der Okkupationszeit und die Selbststilisierung zum Opferlamm, das - Sokrates, André Chénier, ja sogar Christus vergleichbar - an widrigen Umständen scheitert.“ Krauss, Henning: „Collaboration als Voraussetzung der Résistance - Zu Brasillachs Geschichtsklitterung in Les frères ennemis. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 15 (1991), S. 386-401, hier S. 388, insb. Fn. 8. 72 Brasillach, Robert: Lettre à un soldat de la classe soixante suivie de Les frères ennemis, dialogue tragique. Paris: Les Sept Couleurs, 1950, S. 63-89. Les frères ennemis wird folgend abgekürzt mit FE. <?page no="198"?> 198 dem Vertreter des Widerstands, dem als „chef de l’armée d’invasion“ abgewerteten Polyneikes und Kontrahenten des „positiven“ „chef de la patrie“ (FE, S. 67) Eteokles, die Titel von Montherlants und Rebatets Kollaborationsbestsellern in den Mund legt und Polyneikes’ Rede somit desavouiert: [J]e ne suis pas sûr, Etéocle, que tu aies saisi ce qui nous a séparés, si profondément, lorsque dans l’écroulement du solstice d’été, il y a déjà si longtemps, les décombres de la patrie se sont amoncelés sur les routes de la fuite et de la défaite. Ce n’est pas seulement un oui et un non, une acceptation et un refus, qui ont fait notre différence. C’est quelque chose de plus grave et de plus tragique. (FE, S. 74) 73 Kurz vor seiner Hinrichtung entsteht das Gedicht Aux morts de février, in dem Brasillach explizit eine Parallele zwischen seinem Schicksal und dem der Toten vom 6. Februar 1934 74 zieht und fragt: „Sur onze ans de retard, serai-je donc des vôtres? “ 75 Die Diskussion der Frage Fallait-il fusiller Brasillach? 76 hat bis heute nicht an Aktualität verloren. 4.2 Versuchte Rehabilitierung Si certains excès de la plume peuvent nous offusquer, ils sont peu de choses dans une œuvre qui ajoute à notre littérature une perle rare, tout irisée de doux reflets. 77 Charakteristikum aller um Brasillachs Rehabilitierung bemühten Publikationen ist die Verharmlosung: Der Faschismus Brasillachs wird als ein diffuses, romantisches, ästhetisches, quasi apolitisches und folglich ungefährliches Phänomen präsentiert, oder aber der schriftstellerisch begabte Normalien wird hervorgehoben und der unerbittliche Polemiker abgespalten bzw. unter „Quarantäne“ gestellt. 78 73 Die zitierte Textstelle wertet Krauss in einer detaillierten und kritischen Interpretation des Werkes als „ein seltenes Beispiel literarischer Perfidie“ und weist in diesem Kontext u.a. auf Brasillach Je suis partout-Artikel Solstices de juin (27. 6. 1942) sowie Solstice d’hiver (24. 12. 1942) hin. Krauss, Henning: „Collaboration als Voraussetzung der Résistance“, hier S. 394f. Zu Montherlant und Rebatet s. Kp. 1.4.1 und 1.4.5. 74 Vgl. Kp. 4.4 und 4.8. 75 Brasillach, Robert: Poèmes de Fresnes. In: Œuvres complètes, Bd. 9, 1965, S. 63-110, hier S. 109. 76 Vgl. den gleichnamigen Artikel von Winock, Michel: „Faillait-il fusiller Braillach? “ In: L’Histoire 179 (Juli-Aug. 1994), S. 62-68. 77 Guitard-Auviste, Ginette: „Le romantisme de la jeunesse chez Robert Brasillach“. In: Cahiers des Amis de Robert Brasillach 14 (1969), S. 9-19, hier S. 18, folgend abgekürzt mit CARB. 78 Zur apologetischen Sekundärliteratur, die „une vision édulcorée du fascisme“ präsentiert, u.a. vermittels einer beschönigenden, religiös und erotisch konnotierten bzw. <?page no="199"?> 199 In dieser Hinsicht federführend war Brasillachs Schwager Maurice Bardèche 79 , der sich selbst als faschistischen 80 Schriftsteller bezeichnete und sich nach Brasillachs Hinrichtung die Rehabilitierung des „‚poète sacrifié’“ 81 zur Lebensaufgabe machte: „Avec Maurice Bardèche, les collaboraästhetisierenden Terminologie wie „tentation“/ „séduction“, „rêve“/ „mirage“/ „romantisme“ (Tarmo Kunnas Drieu La Rochelle, Céline, Brasillach et la tentation fasciste, 1972; Peter D. Tame La Mystique du Fascisme dans l’œuvre de Robert Brasillach, 1986, Pascal Louvrier Brasillach: L’illusion fasciste, 1989; vgl. auch Pierre Pellissier Brasillach... Le Maudit, 1989 etc.), vgl. Zimmermann, Margarete: „Littérature et fascisme: le destin posthume de Robert Brasillach“, S. 345ff., 353. In ihrem Aufsatz unterzieht Zimmermann diese bis 1981 erschienene unkritische sowie um Rehabilitierung bemühte Literatur einer detaillierten Analyse. Vgl. auch Rasson, Luc: Littérature et fascisme, S. 236. Hingewiesen wurde bereits auf Heddrichs konzise und komprimierte Darstellung apologetischer, hagiografischer sowie trivialisierender und relativierender Sekundärliteratur zu Brasillachs Opuscula und Vita: Heddrich, Gesine: Deutschland und Frankreich als Hetero- und Auto-Image, S. 30ff. 79 Der Schul- und Studienfreund (Louis le Grand, Ecole Normale Supérieure) ebenso wie Co-Autor (Histoire du cinéma, 1935, Histoire de la guerre d’Espagne, 1939) heiratete 1936 Brasillachs Schwester Suzanne (1910-2005). Sein Bruder Henri Bardèche leitete die Buchhandlung Rive Gauche, zu deren Verwaltungsrat auch Brasillach zählte. Die Exekution seines Schwagers begründete Bardèches politisches Engagement: Der Literaturwissenschaftler wandelte sich zum führenden Kopf und Theoretiker des französischen Neofaschismus. In Lettre à François Mauriac (1947) verteidigte er die Kollaboration, die Legitimität des Vichy-Regimes und verurteilte die Epuration. Wegen des Angriffs des internationalen Militärtribunals in Nürnberg und den in Nuremberg ou la terre promise (1948, gefolgt von Nuremberg II ou les faux-monnayeurs, 1950) vertretenen revisionistischen Thesen, wurde Bardèche (verteidigt von Isorni) der Verherrlichung von Kriegsverbrechen für schuldig befunden, sein pro-nazistisches Buch verboten, er selbst zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt, im Juni 1954 zwei Wochen inhaftiert, schließlich amnestiert. Gegen das erklärte Feindbild Amerika polemisierte er in seiner rassistischen Zeitschrift Défense de l’Occident (1952-1982). S. „Maurice Bardèche“. In: Milza, Pierre; Berstein, Serge: Dictionnaire historique des fascismes et du nazisme, S. 104-106. Ausf. zu „Maurice Bardèche, l’initiateur du négationnisme“, s. das gleichnamige Kapitel von Igounet, Valérie: Histoire du négationnisme en France, S. 37-60. Zu Bardèches Prozess vgl. Hewitt, Nicholas: L’affaire „Nuremberg ou la terre promise“, et la censure politique sous la IV e République. In: Ory, Pascal (Hg.): La Censure en France à l’ère démocratique (1848-...). Bruxelles: Editions Complexe, 1997, S. 293-304. 80 Bardèche, Maurice: Qu’est-ce que le fascisme? , S. 9. Bardèches Plädoyer galt insbesondere Mussolinis Republik von Salò (1943-1945), ihm zufolge die authentischste Inkarnation des Faschismus; er selbst nahm für sich in Anspruch, einen gemäßigten, reinen Faschismus zu vertreten. Vgl. „Maurice Bardèche“. In: Milza, Pierre; Berstein, Serge: Dictionnaire historique des fascismes et du nazisme, S. 105. 81 So Zimmermann, Margarete: „Littérature et fascisme: le destin posthume de Robert Brasillach“, S. 342. Bis dato wird am 6. Februar (Tag der Exekution) eine Messe in St. Séverin (Paris) verlesen, mittlerweile gemeinsam für seine Schwester Suzanne und Maurice Bardèche, und zu einem Grabbesuch eingeladen. S. Heddrich, Gesine: Deutschland und Frankreich als Hetero- und Auto-Image, S. 32. Vgl. bspw. auch die Ankündigung eines „rassemblement sur les tombes de Robert Brasillach et de Maurice Bardèche“ am 7. 2. 2009 unter der Rubrik „Agenda“ in Rivarol, 6. 2. 2009, S. 2. <?page no="200"?> 200 teurs avaient trouvé leur avocat, les nostalgiques de Vichy leur apôtre, les fascistes leur nouveau prophète, les révisionnistes 82 leur pionnier, et Robert Brasillach sa réincarnation.“ 83 In dem als Hommage an Brasillachs Roman Les Sept Couleurs benannten Verlag 84 publizierte Bardèche Brasillachs bisher unveröffentlichte Werke; im Club de l’honnête homme verlegte er zwischen 1963 und 1966 dessen Gesamtwerk 85 mit dem Ziel „‚de réparer une injusti- S. http: / / web.me.com/ rivarol/ Archives/ 2009_files/ 2891-maquette.pdf (letzter Zugriff am 17. 8. 2011). 82 Unter „Revisionismus“ ist die „Verharmlosung oder Leugnung des Holocaust und Relativierung aller NS-Verbrechen nach 1945 vor allem in Frankreich, den USA, Kanada, England und Deutschland zu verstehen.“ Zu den „ersten international bekannten Holocaust-Leugner[n]“ zählt neben Bardèche Paul Rassinier (Le mensonge d’Ulysse, 1950; in Bardèches Verlag Les Sept Couleurs erschien Rassiniers Le véritable procès Eichmann ou les vainqueurs incorrigibles, 1962). Munzert, Maria: „Revisionismus/ Leugnung des Holocaust“. In: Fischer, Torben; Lorenz, Matthias (Hgg.): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland: Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Bielefeld: transcript, 2007, S. 87-91, hier S. 87. In ihrer Dissertation plädiert Mayer dafür, den Terminus „Revisionismus“ in Anführungsstriche zu setzen zur Abgrenzung von Holocaust-Leugnern, die für sich selbst die Bezeichnung „Revisionisten“ reklamieren. Mayer, Elke: Verfälschte Vergangenheit: Zur Entstehung der Holocaust-Leugnung in der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung rechtsextremer Publizistik von 1945 bis 1970. Frankfurt a. M. u.a.: Lang, 2003 (Europäische Hochschulschriften: 3; Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; 972), S. 18. Zur Vermeidung von Ambiguitäten ist im französischen Wissenschaftskontext die von Henry Rousso eingeführte Bezeichnung „négationnisme“ geläufig. Vgl. bspw. Rousso, Henry: Les racines du négationnisme en France. In: Cités 36 (2008), S. 51-62; diesbzgl. s. auch Igounet, Valérie: Histoire du négationnisme en France, S. 14ff. In vorliegender Arbeit wird der Begriff Revisionismus verwendet und ebenso wie das typische NS-Vokabular (Bolschewismus, Drittes Reich, Euthanasie etc.) einzig aus Gründen der Lesbarkeit nicht in Anführungsstriche gesetzt. 83 Laval, Michel: Brasillach ou la trahison du clerc. Paris: Hachette, 1992, S. 327. 84 Diesen hatte Bardèche zur Publikation von Nuremberg ou la terre promise gegründet, 1949 verlegte er Brasillachs Poèmes de Fresnes. Bardèche, Maurice: Souvenirs. Paris: Buchet-Chastel, 1993, S. 227f. 85 Vgl. Zimmermanns Ausführungen zu der mit zahlreichen Dokumenten, Fotografien sowie insbesondere wohlwollenden Kommentaren (Notice) versehenen zwölfbändigen Luxusedition in Zimmermann, Margarete: „Littérature et fascisme: le destin posthume de Robert Brasillach“, S. 343. Zu Bardèches (un)kritischem Anmerkungsapparat s. auch Hofer, Hermann: Die Literatur der Kollaboration, S. 153. Bellosta weist darauf hin, dass in der von Bardèche annotierten Edition bezeichnenderweise Brasillachs gravierendste Je suis partout-Artikel aus den Jahren 1937-1940 fehlen. Bellosta, Marie-Christine: „Robert Brasillach“. In: Beaumarchais, Jean-Pierre de; Conty, Daniel; Rey, Alain (Hgg.): Dictionnaire des littératures de langue française. Bd. 1: A-F. Paris: Bordas 1984, S. 320-321, hier S. 321. In der aktuellen Ausgabe des Dictionnaire (2001) ist Brasillach kein Eintrag mehr gewidmet. Zur „bereinigten“ Gesamtausgabe vgl. auch den spöttischen Kommentar Nourissiers: „Ah, les éditeurs de ses ‚œuvres complètes’ (n’est-ce pas, Maurice Bardèche? ) avaient été sages en gommant ici, omettant là, afin que fût présentable à jamais le seul martyr littéraire de la collaboration! “ Nou- <?page no="201"?> 201 ce’“ und „‚de rendre aux lettres françaises un de leurs joyaux’“. 86 Aufschlussreich ist Bardèches Charakterisierung seines Schwagers, dessen faschistisches Engagement er zur notwendigen Pflicht herunterspielt und gleichzeitig das „Glück“ und das „Leben“ als die Brasillachs Denken bestimmende Parameter bezeichnet: Faut-il croire que le fascisme fut surtout pour Brasillach un spectacle? Jusqu’aux approches de la guerre, on pourrait le croire en effet. C’est la guerre qui donna à ce décor du siècle des proportions tragiques. Mais avant cette guerre, et peutêtre encore au-delà de la guerre, ce qui paraissait essentiel à Brasillach c’était le problème du bonheur et celui de la vie. C’est cela qui reste, au fond, le sujet essentiel de sa méditation, ou plutôt ce qu’il sent, ce qui l’intéresse, ce qu’il est fait pour exprimer. L’engagement politique chez Brasillach, je me demande s’il ne fut pas ressenti surtout comme un devoir. 87 Tatkräftig unterstützt wurde Bardèche einerseits durch Brasillachs Anwalt Jacques Isorni 88 (1911-1995), andererseits durch die 1948 in Lausanne gegründete Association des Amis de Robert Brasillach (AARB), zu deren Förderern Jean Anouilh, Marcel Aymé oder auch Karl Epting zählten. 89 Diese publizierte zwischen 1950 bis zuletzt 2004 die Cahiers des Amis de Robert Brasillach und verlieh den Prix Robert Brasillach an Verfasser wohlwollender Arbeiten über Brasillach bzw. sein Œuvre. Vorgeblich apolitisch und vom hehren Wunsch geleitet, „[l]a valeur intellectuelle, l’élévation morale, la pureté de cette œuvre, ses hautes qualités littéraires“ 90 zu würdigen, verfolgte der Verein jedoch ein unverkennbar politisch motiviertes Ziel: Brasillach vom Verdacht der Komplizenschaft mit dem Nationalsozialismus zu rissier, François: „Robert Brasillach, un si ‚gentil’ facho“. In: Le Point, N° 1516, 5. 10. 2001, S. 114-116, hier S. 115. 86 Zit. in Favre, Pierre: „Brasillach, une œuvre, une présence“. In: CARB 9 (1963), S. 3-5, hier S. 4. 87 Bardèche, Maurice: Notice. In: Brasillach, Robert: Les Sept Couleurs. In: Œuvres complètes, Bd. 2, 1963, S. 337-545, Notice S. 331-335, hier S. 335, Kursivierung im Text, Hervorhebung BB. 88 Zur Brandmarkung der Exekution Brasillachs als Justizirrtum durch Isorni, der später v.a. als einer der Verteidiger Philippe Pétains bekannt wurde (Souffrance et mort du Maréchal Pétain, 1951; Pétain a sauvé la France, 1964; Un faux prophète: Ch. de Gaulle, 1965), s. Isorni, Jacques: Le procès de Robert Brasillach (19 janvier 1945). 89 Vgl. die Namensliste der „Unterstützer“ der mittlerweile in Genf ansässigen Association auf deren aktueller Homepage unter dem Punkt „Soutien“: http: / / www.brasillach.ch/ (letzter Zugriff am 15. 7. 2012). Speziell zu Epting vgl. den in den CARB erschienenen Nachruf des Châteaubriant-Biografen Maugendre, Louis-Alphonse: „In memoriam: Dr. Karl Epting (1905-1979)“. In: CARB 25 (1980), S. 77-83; sowie Ders.: „In memoriam: Dr. Karl Epting (1905-1979), suite et fin“. In: CARB 26 (1981), S. 78-91. 90 So der damalige Präsident der AARB Favre, Pierre: „Brasillach est vivant“. In: CARB 1 (1950), S. 3-6, hier S. 5. <?page no="202"?> 202 exkulpieren. 91 Die mehrheitlich selektive Wahrnehmung und Präsentation Brasillachs durch die Cahiers als Opfer und Märtyrer, als „[c]e ‚Grec’ qui va stoïquement mourir dans une lumière chrétienne“, als „vaincu victorieux“, gehen einher mit einem huldigenden Ton. 92 Dieser gipfelt in den zum zwanzigsten Todestag Brasillachs publizierten Hommages: „[M]erci pour ta mort exemplaire, merci même pour tes erreurs, merci d’être toujours parmi nous vingt ans après, Comme le temps passe…“ 93 Dramatisch stilisieren sich die Anhänger Brasillachs zu Geächteten und Nachfahren Antigones: Nous formons une église qui ne peut prier que dans les catacombes. Cette église souterraine à laquelle nous sommes condamnés convient à ceux dont la mort a été un acte officiel […]. Et je ne crois pas qu’il y ait pour nous autre chose à faire actuellement que d’entretenir un souvenir, et, comme Antigone, de porter l’eau et la poussière symboliques sur le corps qu’il nous est interdit d’honorer. 94 Alice Epting-Kullmann lobte den Freundeskreis, der das Andenken des von ihr seiner „seltenen Reife“ wegen verehrten jungen Autors wahre. Unbegreiflich war ihr, „dass de Gaulle einen so großen Dichter und Schriftsteller erschießen lassen konnte, weil er sich ein paar Jahre früher als er selbst für die deutsch-französische Verständigung eingesetzt hatte.“ 95 Paul Sérants Titel Le Romantisme fasciste (1959) ist Programm: Ausgehend von der Prämisse: „[I]l était difficile d’être ‚fasciste’ sans être romantique en quelque manière“, untersucht der Verfasser die nicht-literarischen Werke u.a. von Châteaubriant und Brasillach und widmet sich ihrer Suche 91 Rasson spricht im Zusammenhang mit dem Brasillach’schen Freundeskreis von „encensement de la personne de l’écrivain“ und „un projet de disculpation“. Rasson, Luc: Littérature et fascisme, S. 17. Dass die politische Dimension im Fall Brasillachs nie ausgeblendet werden könne, unterstreicht Zimmermann, Margarete: „Littérature et fascisme: le destin posthume de Robert Brasillach“, S. 344f. Die politisch rechte Orientierung der AARB zeigen Artikel wie Brasillach, un fasciste libéral! , ein Plädoyer für einen „fascisme à la française, à la Brasillach“ in den westlichen Gesellschaften. Launay, Jacques de: „Brasillach, un fasciste libéral! Essai d’explication historique“. In: CARB 20 (1975), S. 33-39, hier S. 39. 92 Beide Zitate stammen von der Chardonne-Biografin Guitard-Auviste, Ginette: „Bonsoir, les choses d’ici-bas! “ In: Hommages à Robert Brasillach. CARB 11-12 (1965), S. 187-195, hier S. 187, 195. 93 Lachowski, Jean: „Hommage d’un plus jeune à son aîné“. In: Ebd.: S. 220-224, hier S. 224, Kursivierung im Text. 94 Bardèche, Maurice: „Préface“. In: Ebd.: S. 7-21, hier S. 8f., Hervorhebung BB. 95 Epting-Kullmann, Alice: Pariser Begegnungen, S. 57f. Mit diesem Argument gliedert sich Epting-Kullmann in die Reihe ehemaliger Kollaborateure ein, welche in dem von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle unterzeichneten Elysée-Vertrag (22. 1. 1963) die Fortsetzung der Kollaboration zwischen Okkupanten und Okkupierten sahen. Hofer, Hermann: Die Literatur der Kollaboration, S. 153. <?page no="203"?> 203 nach einer Poetisierung der politischen und sozialen Ordnung. 96 Brasillachs Antisemitismus sei (lediglich) der negative Aspekt des faschistischen Rassismus; dessen positive Seite bestünde aber in einer Art „mystique de la vie collective, une volonté de régénérer la communauté nationale par la pratique des vertus viriles.“ 97 Auch William R. Tuckers erste Sätze in The Fascist Ego: A Political Biography of Robert Brasillach (1975) lassen aufhorchen, wonach Brasillach „was never a ‚political actor’ in the restrictive sense of the turn“, vielmehr hätten ihn die politischen Ereignisse in ihren Strudel gerissen. 98 Mit Betonung der mystischen Komponente von Brasillachs Faschismus stellt der Brasillach-Preisträger (1980) und aktuelle Vizepräsident 99 des Brasillach’schen Freundeskreises Peter D. Tame in seiner mit einem Vorwort von Maurice Bardèche 100 versehenen Dissertation La Mystique du Fascisme dans l’œuvre de Robert Brasillach (1986) die apolitische Seite von Brasillachs Faschismus-Faszination in den Vordergrund. 101 Ebenso wie Tames Erklärung, Brasillachs Faschismus „n’était que le génie de l’époque dans laquelle il vivait“ nur als hochgradige Banalisierung bezeichnet werden kann, so ist seine These, „Brasillachs ‚Opfergang’ sei demjenigen Jesu übergeordnet“, ohne Frage als „geschmacklose Entgleisung“ einzustufen. 102 „Ni accusation ni réhabilitation“ prätendiert Anne Brassié, conseillère 96 Sérant, Paul: Le Romantisme fasciste, S. 10. Sérant (*1922) hatte bei der Sammlung von Unterschriften für Brasillachs Gnadengesuch geholfen. Bardèche, Maurice: Souvenirs, S. 191. 97 Sérant, Paul: Le Romantisme fasciste, S. 84. 98 Tucker, William R.: The Fascist Ego: A Political Biography of Robert Brasillach. Berkeley u.a.: University of California Press, 1975, S. 1. 99 Vgl. den entsprechenden Hinweis auf der Homepage des an der Queen’s University in Belfast im Bereich der French Studies lehrenden Dr. Peter D. Tame (*1945), der Brasillachs Notre avant-guerre ins Englische übersetzte (Before the war, 2002). S. http: / / www.qub.ac.uk/ schools/ SchoolofLanguagesLiteraturesandPerformingArts/ SubjectAreas/ FrenchStudies/ StaffProfiles/ DrPeterTame/ (letzter Zugriff am 17. 8. 2011). 100 Als „conditions d’objectivité“ deklariert Bardèche den Umstand, dass Tame Brite und Angehöriger der Nachkriegsgeneration ist. Der Autor empfinde keinerlei Sympathie für Brasillachs politische Ansichten, sondern habe nur versucht, zu verstehen. Bardèche, Maurice: Préface. In: Tame, Peter D.: La mystique du fascisme dans l’œuvre de Robert Brasillach. Paris: Nouvelles éditions latines, 1986, S. 7-15, hier S. 7. Ähnlich argumentiert Tame selbst, wenn er den Verdacht etwaiger Sympathie als unbeabsichtigt und mit dem Argument eines dem Verstehensprozess inhärenten Phänomens zurückweist. Tame, Peter D.: La mystique du fascisme dans l’œuvre de Robert Brasillach, S. 34f. 101 Ebd.: S. 17. Zudem zieht Tame eine Parallele zwischen Alfred Rosenbergs „romantischem“ Mythos-Verständnis und Brasillachs „esprit fasciste“, um Brasillach als „romantischen“ Wallfahrer zu präsentieren, der 1937 zur Geburtsstätte der Romantik pilgerte. Ebd.: S. 229f. 102 Krauss, Henning: „Collaboration als Voraussetzung der Résistance“, S. 388; s. hierzu Tame, Peter D.: La mystique du fascisme dans l’œuvre de Robert Brasillach, S. 436. <?page no="204"?> 204 besagter Association, in Robert Brasillach ou encore un instant de bonheur (1987), und doch schildert sie ausführlich dessen letzte, tragische Tage in seiner Zelle in Fresnes, „[qui] devient le jardin de Gethsémani.“ 103 Antisemitische Äußerungen des Autors hingegen werden zu harmlosen Provokationen herabgespielt, die absichtlich missinterpretiert worden seien. 104 In ihrem Vorwort zur Neuauflage (1995) von Les Sept Couleurs rückt sie den Roman in die Nähe von Notre avant-guerre, lobt die „très exacte photographie de ces années“ und deklariert bestimmt und übereinstimmend mit Bardèche: „Roman du fascisme direz-vous alors, les uns avec délices, les autres avec horreur! Et bien non, l’essentiel est ailleurs.“ 105 Eine ähnliche Strategie verfolgen die Brasillach-Preisträgerinnen der Jahre 1979 und 1984 Marie-Luce Monferran Parker und Cécile Dugas (Etude de trois œuvres de Robert Brasillach: Les Sept Couleurs, Notre avant-guerre, Lettre à un soldat de la classe, 1977). 106 Während Monferran-Parker in Robert Brasillach: maître de l’évasion (1988) Brasillachs herausragende schriftstellerische Begabung lobt und eingesteht, gerade die widersprüchliche Dualität seiner Persönlichkeit sei anziehend, die ihn zu Werken „emplis de noblesse“, aber auch zu „des mots lourds de xénophobie et d’antisémitisme“ inspiriert habe 107 , stützt sich Cécile Dugas (Robert Brasillach: Conférence, 1985) auf Isorni: Der Kollaborateur sei nie Mitglied einer Partei gewesen und habe, so der rechtfertigende Hinweis auf Pétains „Schild“-These, dem besiegten Frankreich noch mehr Leiden und Entbehrungen ersparen wollen. 108 Argumentativ vage und beschönigend konstatiert sie: „Rien de plus Zur Kritik an Tames Exkulpationsstrategie vgl. auch Rasson, Luc: Littérature et fascisme, S. 17f. 103 Brassié, Anne: Robert Brasillach ou encore un instant de bonheur. Paris: Laffont, 1987 (Biographies sans masque), S. 1, 362f. Brassié (*1949) zitiert Brasillachs kurz vor seiner Hinrichtung verfasstes Gedicht Gethsémani. Auch dem Titel ihrer Studie, in deren Anhang sie Brasillachs Mémorandum abdruckt (S. 373-393), liegt ein Brasillach’sches Gedicht (Encore un instant de bonheur) zugrunde. S. Brasillach, Robert: Poèmes 1944. In: Œuvres complètes, Bd. 9, 1965, S. 15-61, hier S. 31. Dass Brassié zu den „conseillers“ der AARB zählt, ist z.B. dem Hinweis auf dem Einband von CARB 46/ 47 (2001/ 2002) zu entnehmen. 104 Vgl. diesbzgl. die Kritik von Rasson, Luc: Littérature et fascisme, S. 21. 105 Brassié, Anne: Préface. In: Brasillach, Robert: Les Sept Couleurs. Paris: Godefroy de Bouillon, 1995, S. 5-7, hier S. 6. In den Anmerkungen zu Les Sept Couleurs hatte Bardèche postuliert, „que le roman de Brasillach qui semble le plus chargé de politique est fort peu politique en réalité.“ Bardèche, Maurice: Notice. In: Brasillach, Robert: Les Sept Couleurs. In: Œuvres complètes, Bd. 2, 1963, S. 335. 106 Auskunft über ihre Prämierung gibt CARB 30 (1985), S. 59f. 107 Monferran Parker, Marie-Luce: Robert Brasillach: maître de l’évasion. Paris: La pensée universelle, 1988, S. 210, sowie Dies.: „Les deux visages de Robert Brasillach“. In: CARB 40 (1995), S. 92-94, hier S. 94. 108 Dugas, Cécile: Robert Brasillach. Conférence le 30 mars 1985. [Thiers]: Cercle Culturel Promethée, 1985, S. 36f. Vgl. Pétains Erklärung an seine Landsleute vom 20. 8. 1944: „‚Loyalement, mais sans compromis, je n’ai eu qu’un but: vous protéger du pire […] <?page no="205"?> 205 éloigné, en effet, de la mentalité d’un militant ou d’un ‚intellectuel’ fasciste (telle, du moins, qu’on a coutume de se l’imaginer) que l’esprit de Robert Brasillach, tout de non-conformisme, d’ironie légère et de liberté.“ 109 Die vorgestellten Arbeiten decken ein breites Spektrum einer gefälligen, mystifizierenden, um Rehabilitierung bemühten, teilweise revisionistisch gefärbten Sekundärliteratur ab. Von ihnen setzt sich die Mehrzahl kritischer Analysen ab, die eine Trennung des Schriftstellers Brasillach vom faschistischen Intellektuellen und seine postume Glorifizierung 110 ablehnen, insbesondere da dieser selbst never made the claim that his literary activities should be separated from or used to counterbalance his politics. Rather, he defended both the literary and political positions he had taken as being those of someone completely loyal to France and working at all times in what he claimed were France’s best interests: a true nationalist, a ‚patriotic’ French fascist. 111 4.3 Notre avant-guerre & Journal d’un homme occupé D’un ouvrage à l’autre, sans que Brasillach ait modifié sa manière, on pressent un changement de ton. Notre avant-guerre est un livre heureux et disponible; le Journal d’un homme occupé, un livre déchiré et qu’obsède la conscience du péril. Quelque chose, dirait-on, s’est brisé, et l’on soupçonnait déjà dans Six heures à perdre ce passage du monde de l’innocence éblouie au monde de la stupeur inquiète. Brasillach a l’air de se rendre compte que l’univers des adultes, avec sa bêtise et sa cruauté, reconquiert l’univers de l’enfance où il s’était réfugié. Du matin profond à l’aube sinistre du 6 février 1945; de la nuit vagabonde et secourable du Paris des étudiants à la nuit solitaire et maudite des condamnés à Si je ne pouvais plus être votre épée, j’ai voulu rester votre bouclier.’“ Zit. in Paxton, Robert O.: La France de Vichy: 1940-1944, S. 412. Neben Brassié zählt Dugas zu den „conseillers“ der AARB. Vgl. den entsprechenden Hinweis auf dem Einband von CARB 46/ 47 (2001/ 2002). 109 Dugas, Cécile: „L’œuvre de Robert Brasillach: Une leçon de liberté“. In: CARB 24 (1979), S. 78-80, hier S. 78. 110 Als Beweggrund ihrer Publikation benennen bspw. Baldran und Bochurberg ihre Wut auf die einseitige Präsentation Brasillachs als Opfer der Epuration bei gleichzeitigem Verschweigen seiner tatsächlichen Rolle während der Besatzung in den Neuauflagen seiner Romane bei Plon in den 80er Jahren. Der Dichter dürfe nicht den Faschisten vergessen lassen: „Robert Brasillach fut un écrivain, nul ne saurait le nier. Un poète, peut-être. Un fasciste, assurément./ Poète et fasciste./ Fasciste et poète./ Le poète doit-il faire oublier le fasciste? / Les deux mots confondus ne sont-ils pas aussi indécents que le cri de la Phalange: ‚Viva la Muerte’? “ Baldran, Jacqueline; Bochurberg, Claude: Brasillach ou la célébration du mépris. Paris: A. J. Presse, 1988, S. 11, 52, Hervorhebung BB. 111 Carroll, David: French literary fascism, S. 102. <?page no="206"?> 206 mort […]: entre ces deux extrêmes une vie et une œuvre indiquent leurs points de repère. 112 Die Besonderheit der nachfolgender Analyse zugrundeliegenden Werke liegt darin begründet, dass es sich bei Notre avant-guerre, aber insbesondere dem Journal d’un homme occupé um Mosaike aus im Vorfeld publizierten Artikeln, Werken oder unveröffentlichten Manuskripten (Journal d’un homme occupé) handelt, die Brasillach mehr oder weniger stark modifiziert und neu komponiert, worauf Bardèche in den den Texten vorausgeschalteten Anmerkungen in der Gesamtausgabe hinweist. 113 Problematisch hinsichtlich einer „richtigen“, „authentischen“ Interpretation Brasillachs erweist sich zudem der Umstand, dass sich die im Vergleich zu den Vorläufertexten in den Erstausgaben von Notre avant-guerre (1941) und dem erst postum von Bardèche kreierten Journal d’un homme occupé (1955) manifestierenden Modifikationen nicht ausschließlich von Brasillach stammen. Erschwerend kommt des Weiteren hinzu, dass Bardèche an beiden „chroniques“ 114 , die er 1964 in den Œuvres complètes de Robert Brasillach neu auflegt, ebenfalls Veränderungen im Vergleich zu den ursprünglichen Editionen von 1941 und 1955 vornimmt, die, wie sich zeigen wird, im Kontext seiner Rehabilitierungsbemühungen anzusiedeln sind. 4.3.1 Notre avant-guerre 4.3.1.1 Zur Werkgenese Den Datumsangaben des Vor- und Nachworts zufolge erstellt der als Leutnant der französischen Armee an der Maginot-Linie stationierte Brasillach seinen autobiografischen Rückblick Notre avant-guerre während des Sitzkrieges zwischen dem 13. September 1939 und dem 6. Februar (NAG, S. 347) bzw. Mai 1940 (NAG, S. 353). Dabei „recycelt“ er den am 1. Oktober 1937 in der Revue universelle erschienenen Artikel Cent heures chez Hitler, Auszüge aus Les cadets de l’Alcazar (1936), Léon Degrelle et l’Avenir de „Rex“ (1937) und Les Sept Couleurs (1939). Diese Textelemente finden Eingang in das zentrale Faschismus-Kapitel, das Brasillach in Anspielung auf Alfred de Mussets (1810-1857) Analyse seines mal du siècle in dem autobiografischen Roman La confession d’un enfant du siècle (1836) hundert Jahre später „Ce mal du siècle, le fascisme“ nennt. Im Frühjahr 1940 erhält der Autor 112 Vandromme, Pol: „Littérature d’aujourd’hui“. In: CARB 19 (1974), S. 84-88, hier S. 85, Hervorhebung BB. 113 Bardèche, Maurice: Notice. In: Brasillach, Robert: Notre avant-guerre. In: Œuvres complètes, Bd. 6, 1964, S. 12-341, Notice S. 3-11; Ders.: Notice. In: Brasillach, Robert: Journal d’un homme occupé. In: Œuvres complètes, Bd. 6, 1964, S. 349-604, Notice S. 345-348. 114 Unter dieser Gattungszuweisung vereint der 6. Band der Œuvres complètes beide Texte. S. auch Zimmermann, Margarete: „‚La nouvelle Allemagne’: NS-Deutschland in Robert Brasillachs Erinnerungsbuch Notre Avant-Guerre (1941)“, S. 10. <?page no="207"?> 207 die korrigierten Druckfahnen von den Editions Plon zurück, die er überarbeitet und im Juni dem Verlag übergibt. 115 Da Brasillach in deutsche Kriegsgefangenschaft gerät, wird Bardèche an seiner Stelle die zum Jahreswechsel 1940/ 41 von Plon erstellte Version ausgehändigt, an der er mit Brasillachs Einverständnis wenige, aber insbesondere am Originaltext von Cent heures chez Hitler entscheidende Veränderungen ausgeführt habe. Kurz vor Brasillachs Freilassung im März 1941 erscheint die angesichts der deutschen Zensur präventiv korrigierte Chronik im besetzten Paris, an der bis dahin auch ein Korrektor des Verlagshauses ohne Bardèches Wissen „quelques coups de pouce“ und Streichungen vorgenommen habe. 116 Diese Veränderungen nimmt Bardèche in der Neuauflage im 6. Band der Œuvres complètes von 1964 zurück. Es ist kaum verwunderlich, dass in der solchermaßen „restituierten“ und als Original von Mai 1940 deklarierten Version sowohl Brasillachs Maurassismus als auch sein Misstrauen gegenüber dem Nationalsozialismus stärker ausgeprägt erscheinen, was Brasillachs Kollaboration mit den deutschen Besatzern „verständlicher“, und, so der dahinterstehende Wunsch, somit entschuldbar macht: Pour la première fois, c’est donc le texte de Notre avant-guerre, tel que Robert Brasillach l’avait signé en ‚bon à tirer’ au mois de mai 1940, que le lecteur aura sous les yeux. Cette restitution ravive dans certains chapitres du livre des nuances de pensée qui ne sont pas indifférentes. Robert Brasillach apparaît en quelques endroits plus maurrassien qu’on ne l’aurait cru, il conserve notamment une vive défiance à l’égard du nationalisme allemand ‚agressif’, ‚vorace’, dit-il en plusieurs lieux. Cette mise au point de sa pensée, altérée jusqu’à présent par des suppressions dont certaines me paraissent aujourd’hui singulièrement pusillanimes, permet de mieux comprendre l’attitude de Robert Brasillach à l’égard de la collaboration. 117 115 Alle Interpreten werden mit dem „Dilemma“ konfrontiert, dass die einzigen Angaben zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte der beiden Texte ausschließlich von Bardèche stammen. Zur Überarbeitung des Manuskripts von Notre avant-guerre nach Februar 1940 s. Bardèche, Maurice: Notice. In: Brasillach, Robert: Notre avantguerre. In: Œuvres complètes, Bd. 6, 1964, S. 8f. 116 Ebd.: S. 8. Ganz anders lautet die Herausgeber-Anmerkung in der 1941 bei Plon erschienenen Erstausgabe von Notre avant-guerre, aus der in der Einleitung bereits zitiert wurde und auf der die folgende Textanalyse beruht (folgend abgekürzt mit NAG): „Ce livre a été écrit aux armées de septembre 1939 à mai 1940. Nous en publions le texte tel qu’il devait paraître à ce moment là. L’auteur est actuellement prisonnier de guerre. Les mois écoulés ont mis tant de distance entre ce printemps de 1940 et le début de 1941 que ce livre est déjà un véritable document. (Les Éditeurs.)“ (NAG, S. II, Hervorhebung BB). Alle künftig durch Fettdruck herausgestellten Hervorhebungen von Zitaten aus Notre avant-guerre stammen von der Verfasserin und werden aus Gründen der Ökonomie und Lesbarkeit nicht eigens markiert. 117 Bardèche, Maurice: Notice. In: Brasillach, Robert: Notre avant-guerre. In: Œuvres complètes, Bd. 6, 1964, S. 8f., Hervorhebung BB. <?page no="208"?> 208 4.3.1.2 Aufbau und Inhalt On n’a pas coutume d’écrire ses mémoires à trente ans. Aussi bien ne sont-ce pas des mémoires que je commence, dans ce cantonnement de la Ligne, où, tout à l’heure, ne veilleront plus aux carrefours que les deux lampes bleues de la guerre. (NAG, S. I, Kursivierung 118 im Text) In einer Art Vorwort, das Brasillach auf den 13. September 1939 im elsässischen Ingwiller 119 datiert, präzisiert er, dass 25 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs nunmehr die Epoche des avant-guerre zu Ende gegangen sei. Vor diesem Hintergrund möchte er Ereignisse der Vorkriegs-Zeit festhalten, die ihn und seine Gemeinschaft von Freunden, welche bei Ausbruch dieses neuen, Zweiten Weltkriegs wie er dreißig Jahre alt sind, geprägt haben: Dies erklärt sowohl den Titel Notre avant-guerre als auch, dass auf das „je“ ab dem dritten Satz die pronominale Kategorie „nous“ (NAG, S. I) folgt. Das „nous“ ist mehrfach besetzt: „Le nous, en effet, correspond à la fois au petit groupe d’amis qui formera le noyau éditorial de Je suis partout, à la génération de ‚jeunes’ adeptes du plein air et à la nation française dans son ensemble“ - nicht zuletzt dient es als „héros collectif d’un roman d’apprentissage au fascisme“. 120 Die Gattungsfrage 121 thematisiert Brasillach selbst: Weder handle es sich um eine Autobiografie 122 , noch um Memoiren oder um Bekenntnisse. Notre avant-guerre sei ein Buch („livre“, NAG, S. I), in dem er Bilder („images“, ebd.) von Freunden, denen sein Werk gewidmet ist („A mes amis“, NAG, o.S.), versammelt habe, und das als Roman, als „une suite d’éducations sentimentales et intellectuelles“ (NAG, S. I) gelesen werden könne. Exemplarisch 118 Auf die Kursivierung des Vorworts wird folgend nicht mehr explizit hingewiesen. 119 In Notre avant-guerre abgekürzt mit „I“ (NAG, S. II); vollständige Ortsangabe in Brasillachs Brief vom 28. 8. 1939 an seine Schwester und Maurice Bardèche. S. Brasillach, Robert: Correspondance inédite, S. 511f., hier S. 511. 120 Lacroix, Michel: De la beauté comme violence, S. 311, Kursivierung im Text. 121 Unter Berufung auf Philippe Lejeunes Le pacte autobiographique (1975) legt Rasson dar, dass Notre avant-guerre die Kriterien einer Autobiografie nicht erfülle, worauf bereits das Possessivpronomen „notre“ im Titel hindeute. Da der Text eine Mischung aus Autobiografie, Memoiren und Roman sei, spricht Rasson von „une autobiographie problématique“ und einem „récit quasi autobiographique“. Rasson, Luc: Littérature et fascisme, S. 139f. Ähnlich betont Senarclens, in Notre avant-guerre gebe es kaum eine Unterscheidung zwischen fiktionalem Universum und autobiografischen Erinnerungen, da Brasillach Passagen aus seinen Romanen fast unverändert in Notre avantguerre einfließen lasse. Senarclens, Pierre de: Brasillach: le fascisme et l’Allemagne, S. 181. 122 So Brasillach am 12. 2. 1940 in einem an Jacques Brousse adressierten Brief aus der Gefangenschaft: „Ce n’est pas une autobiographie en ce sens que j’y parle peu de moi, beaucoup plus de mes amis. Ce n’est pas une histoire de notre jeunesse, parce que je n’ai pas de goût pour les idées générales. Il y en a un peu pourtant.“ Brasillach, Robert: Correspondance inédite. In: Œuvres complètes, Bd. 10, 1965, S. 535ff., hier S. 536, Kursivierung im Text. <?page no="209"?> 209 für diese seine „Vorkriegsgeneration am Ende der Nachkriegszeit“ 123 , deren Zusammengehörigkeitsgefühl durch die betont häufige Verwendung der Pronomina „nous“ und „notre“ (ebd.) markiert wird, beschreibt er „le souvenir d’un temps particulier“ (NAG, S. II), nämlich die Zeit ihrer Jugend, die er possessiv, angedeutet durch die Dopplung des Personal- und Possessivpronomens, als „notre avant-guerre à nous“ (ebd.) ausdrückt. 124 In Anlehnung an das Strukturprinzip von Les Sept Couleurs untergliedert der Autor Notre avant-guerre in sieben chronologisch geordnete Kapitel: „Le matin profond“ (NAG, S. 1-50) ist den Jahren auf dem Pariser Gymnasium Louis le Grand und der Begegnung mit Maurras und der Action Française gewidmet, „La douceur de vivre“ (NAG, S. 51-98) und „La fin de l’après-guerre“ (NAG, S. 99-128) der Freiheit der Studienzeit an der Ecole Normale Supérieure und Brasillachs ersten Publikationen. „Les révolutions manquées“ (NAG, S. 129-179) thematisieren den Aufstand vom 6. Februar 1934 und Brasillachs erste Spanienreise. In „J’avais des camarades“ (NAG, S. 180-233) bildet die Idealisierung des Kameradschaftsgeistes der Je suis partout-Equipe den Gegenpol zu deren Polemik gegen die Front populaire- Regierung. Die Kapitelanordnung erfolgt auch nach strategischen Gesichtspunkten: Als wirkungsvoller Kontrapunkt zur vorhergegangenen Republik-Schelte steht in „Ce mal du siècle, le fascisme“ (NAG, S. 234-283) „die Apotheose einer ‚Internationale’ des Faschismus“ 125 im Vordergrund. Notre avant-guerre schließt mit „Orages de septembre“ (NAG, S. 284-346): Die Gewitter-Metapher deutet die stürmische Zeit an vom Münchner Abkommen (September 1938) über den Urlaub in Franco-Spanien im Sommer 1939 bis hin zum Überfall des Deutschen Reiches auf Polen sowie der französischen Kriegserklärung an Hitler-Deutschland am 3. September 1939. 4.3.2 Journal d’un homme occupé 4.3.2.1 Zur Werkgenese Brasillach hatte eine Fortsetzung seines „livre de souvenirs“ Notre avantguerre unter dem Titel Journal d’un homme occupé über die Zeit von Mai 1940 bis zum Beginn des Prozesses im Januar 1945 geplant, in dessen Zentrum die Okkupationsjahre stehen sollten, wie es das Epitheton im Titel andeutet. 126 Da er dieses Buchvorhaben jedoch nicht mehr zu Lebzeiten vollenden 123 Hofer, Hermann: Die faschistoide Literatur, S. 128. 124 Vgl. die sprachliche Analyse von Zimmermann, Margarete: Die Literatur des französischen Faschismus, S. 54. 125 Dies.: „‚La nouvelle Allemagne’: NS-Deutschland in Robert Brasillachs Erinnerungsbuch Notre Avant-Guerre (1941)“, S. 14. 126 Die folgende Textanalyse beruht auf der Erstausgabe von Brasillach, Robert: Journal d’un homme occupé. Paris: Les Sept Couleurs, 1955, folgend abgekürzt mit JHO. Alle künftig durch Fettdruck herausgestellten Hervorhebungen von Zitaten aus dem Journal d’un homme occupé stammen von der Verfasserin und werden aus Gründen der <?page no="210"?> 210 konnte, ergänzte Bardèche, Brasillachs Instructions aux sujet de mes livres 127 folgend, dessen Manuskripte durch zahlreiche Dokumente. Dazu zählen persönliche Notizen des Schwagers, Auszüge aus seinen zwischen 1940 und 1944 erschienenen Je suis partout- und Révolution nationale-Artikeln, Passagen aus Six heures à perdre (1944) sowie aus dem Romanentwurf Les captifs (1940/ 41). Zehn Jahre nach Brasillachs Hinrichtung erschien im Dezember 1955 bei Les Sept Couleurs die erste Auflage dieses solchermaßen postum komponierten Besatzungs-Tagebuchs. Bardèche ließ 1964 eine nicht unerheblich modifizierte Neuauflage folgen. Unter dem Titel Une génération dans l’orage gab Plon 1968 Notre avant-guerre und das Journal d’un homme occupé in einer Ausgabe heraus, diesmal im Unterschied zu Bardèches Zuordnung (Chroniques) als Mémoires qualifiziert, wobei der Schluss des Journal d’un homme occupé deutlich gekürzt wurde. 4.3.2.2 Aufbau und Inhalt Das Journal d’un homme occupé besteht aus drei Teilen, von denen Bardèche zufolge Brasillach den ersten und letzten Part redigierte; diese wiederum untergliedern sich in jeweils zwei bis vier Kapitel. Die Première Partie (JHO, S. 9-150) mit den Kapiteln Journal de la défaite, Après l’armistice und Oflag VI A setzt sich aus Artikeln zusammen, die unter den Titeln, die auch als Kapitelunterüberschriften dienen, im Juni und Juli 1943 in Je suis partout erschienen waren: La dernière semaine de Paris, Le dernier train vers l’est, Grand tourisme et manœuvre en spirale, Les captifs de l’armistice, Révolution nationale et Captivité romantique. Bei Camps de Westphalie handelt es sich um einen überarbeiteten Auszug aus dem Manuskript Les Captifs sowie um Passagen aus der Chronique des prisonniers, die Brasillach 1941 in Je suis partout schrieb; in La Cité des captifs und La porte ouverte fließen im Wesentlichen Passagen aus Six heures à perdre (1944/ 1953) ein; die Réflexions d’un prisonnier basieren auf einem handschriftlichen Manuskript Brasillachs. Die Troisième partie (JHO, S. 259-350) besteht aus den Rubriken L’été du destin und Sous les verroux de la Libération und beruht auf dem gleichnamigen Text, den Brasillach wäh- Ökonomie und Lesbarkeit nicht eigens markiert. Das Zitat bezieht sich auf das vorangestellte anonyme Avertissement (S. 7-8, hier S. 7, Kursivierung im Text); auch in den Anmerkungen zur Neuauflage von 1964 gibt sich Bardèche nicht „offiziell“ als Herausgeber des Textes von 1955 zu erkennen, was aber mitunter aus der Veröffentlichung des Textes in seinem Verlag Les Sept Couleurs zu entnehmen war. 127 Diese Instructions zitiert er in den Anmerkungen zum Journal d’un homme occupé. S. Bardèche, Maurice: Notice. In: Brasillach, Robert: Journal d’un homme occupé. In: Œuvres complètes, Bd. 6, 1964, S. 345. Alle folgenden Informationen zur Entstehung und Komposition des Journal d’un homme occupé beziehen sich auf diese Notice, die Bardèche der neu edierten Ausgabe des Journal d’un homme occupé im Jahr 1964 vorausstellt. Vgl. auch Brasillachs im Gefängnis entworfenen Plan manuscrit du Journal d’un homme occupé, von dem sich Bardèche jedoch bewusst löste. Ebd.: S. 619-620 (Appendice IV). <?page no="211"?> 211 rend der Haft in Fresnes verfasst hatte. Die Deuxième partie (JHO, S. 151- 258) stellt das eigentliche Tagebuch der Besatzungszeit dar. Nach eigenem Ermessen kreierte Bardèche diesen inexistenten Teil vorwiegend aus Artikeln bzw. aus Artikelextrakten, die Brasillach während der deutschen Okkupation in Je suis partout und Révolution nationale veröffentlicht hatte. Mit der Qualifizierung als „document“, „témoignage“, „‚journal’ non falsifié, non arrangé pour notre temps“, „photographie“ (JHO, S. 153, Kursivierung im Text; vgl. auch JHO, S. 8) streicht der Herausgeber den dokumentarischen Charakter des aus Fragmenten montierten Textes heraus und betont, dass trotz Brasillachs Fehleinschätzung des Krieges diese Passagen aus Authentizitätsgründen unverändert wiedergegeben werden. Somit ergebe sich „une sorte de calendrier des réactions et des réflexions de l’auteur devant les principaux événements de la guerre [pour] donner ainsi une image exacte de son évolution“. 128 Dieser als Fahrtenbuch durch die vierjährige Besatzungszeit konzipierte zweite Teil führt in vier Kapiteln durch die unterschiedlichen Phasen der Okkupation: „[L]’Année de Montoire, la Deuxième Guerre mondiale (à partir de l’ouverture du front russe), Images de l’Europe en guerre (c’était le voyage que Robert Brasillach fit avec l’ambassadeur Fernand de Brinon sur le front de l’Est) et le Tournant de la guerre.“ 129 Diese zentrale Partie des Journal d’un homme occupé arbeitet Bardèche 1964 beträchtlich um. 130 Im Avertissement (JHO, S. 7-8) zu dem literarisch wenig anspruchsvollen 131 , tagebuchähnlichen Erinnerungsbuch verbürgt sich der Herausgeber für die Echtheit („de ‚choses vues’“, „‚J’étais là, voici ce que j’ai vu, voici ce que j’ai pensé.’“, JHO, S. 7, Kursivierung im Text 132 ) des Journal d’un homme occupé. Es handle sich um keine Apologie, sondern um eine „Zeugenaus- 128 Bardèche, Maurice: Notice. In: Brasillach, Robert: Journal d’un homme occupé. In: Œuvres complètes, Bd. 6, 1964, S. 346, Hervorhebung BB. 129 Ebd., Kursivierung im Text. 130 In der Neuauflage „eliminiert“ Bardèche Brasillachs kompromittierende politische Artikel in der Deuxième partie, „monté à coups de ciseaux“, die seiner Meinung nach ohnehin nur eine „reconstitution arbitaire“ gewesen sei, was er mit dem vordergründig pragmatischen Argument rechtfertigt, der Leser finde in einem Folgeband der Gesamtausgabe alle politischen Artikel Brasillachs gesammelt vor. Allerdings reduziert sich damit nicht nur das Textvolumen beträchtlich (101 Seiten/ 1955 im Vergleich zu 58 Seiten/ 1964), sondern insbesondere der brisante Gehalt dieses Mittelstücks. Dieses habe nunmehr einen deutlich ausgeprägten „‚caractère anecdotique’“, was, so der diese Maßnahme legitimierende Bardèche, Brasillachs ursprünglichem Wunsch entspreche. Artikel hingegen, in denen bspw. Brasillachs Anti-Bolschewismus deutlich hervortritt (insbesondere J’ai vu les fosses de Katyn), werden im Vergleich zur Erstausgabe nunmehr ungekürzt wiedergegeben. Ebd.: S. 346, Hervorhebung BB. 131 So der Einwand Tames, der aber den großen Wert als Zeitzeugnis hervorhebt. Tame, Peter D.: La mystique du fascisme dans l’œuvre de Robert Brasillach, S. 292. 132 Auf die Kursivierung des Avertissement wird folgend nicht mehr explizit hingewiesen. <?page no="212"?> 212 sage“, „une déposition, non un plaidoyer ou une explication“, in welchem man kein künstliches Bedauern, „ces hésitations post-fabriquées, ni aucun de ces double-fonds avec lesquels on procède au truquage d’une âme ou d’une vie“ (ebd.) finden würde. 133 Legitimierend stellt er Brasillach in die Reihe „Tausender von Menschen“, welche die Kollaboration und ein faschistisches Europa für die einzige Rettung vor dem Bolschewismus gehalten und dafür mit ihrem Leben bezahlt haben. In logischer Konsequenz akzentuiert er den überpersönlichen Wert von Notre avant-guerre und des Journal d’un homme occupé als Bücher, welche die tragischen Erfahrungen „de toute une partie de cette génération labourée et hachée par la guerre étrangère et par la guerre civile“ schildern und spricht ihnen den Status eines „‚livre de raison’“ (JHO, S. 8) von überzeitlichem Wert zu. Das mit der Publikation des „erbastelten“ Journal d’un homme occupé verfolgte Ziel ist evident, die abschließende Frage erweist sich als rein rhetorisch: „Mais n’était-ce pas notre devoir d’offrir ce témoignage aux lecteurs qui se reconnaîtront en lui? “ (ebd.). 4.4 Politischer Hintergrund: Die Dritte Republik und die Volksfront J’avais vingt-sept ans au Front populaire. Ma foi, nous ne nous sommes pas toujours ennuyés. (NAG, S. 191) 133 Die Kritik bewegte sich zwischen eben diesen Polen und lobte entweder die Authentizität des Journal d’un homme occupé oder verurteilte dessen apologetischen Charakter. Vgl. hierzu die Kompilation von vorwiegend positiven Rezensionen unter der aussagekräftigen Überschrift: „Le dernier Brasillach: Journal d’un homme occupé: La chronique vraie d’un temps proche et lointain“. In: CARB 6 (1956), S. 70-81. Empört kritisiert Robert Kemp (Nouvelles littéraires): „‚C’est grouillant d’idées fausses et orgueilleuses, de raisonnements enfantins. Plein d’aveuglement. Toutes les prophéties sont démenties, ou à peu près. Le retour en France du prisonnier, qui semble n’avoir pas connu ou senti les souffrances de ses camarades, est présenté comme une divine surprise, un escamotage des raisons véritables. Et cela est plein de haine, d’illusions impossibles, d’obstinations... Le pathétique commence au moment où le suspect, confiné dans une mansarde, devient un homme traqué. Alors le récit devient émouvant. La pitié désirée commence enfin à palpiter... Le silence eût été meilleur. Qui a voulu cette publication? D’autres aveugles? ’“ Ebd.: S. 70-71, hier S. 71, Kursivierung im Text, Hervorhebung BB. Dem gegenüber steht die Wertschätzung Stephen Hecquets (Bulletin de Paris) für den begabten und harmlosen Jugendlichen Brasillach: „‚A travers la tourmente, tandis que la civilisation bascule, un jeune homme bien né, bien élevé, supérieurement doué, s’efforce de retenir les valeurs, hors lesquelles il lui semble que la vie ne peut qu’être illusion ou comédie. […] Est-ce à dire que ses titres suffiraient à faire du Journal d’un Homme occupé un livre important? Non, sans doute, si, à la gentillesse du récit, à la douceur et à la vérité des évocations ne venait s’ajouter, cette fois, un élément neuf et dramatique: la guerre, la Révolution nationale, la Libération, l’épuration, bref la confrontation de l’homme et de l’Histoire.’“ Ebd.: S. 80-81, Kursivierung im Text, Hervorhebung BB. <?page no="213"?> 213 Brasillachs scharfe Kritik an der parlamentarischen Demokratie 134 insbesondere in Gestalt der Volksfrontregierung durchzieht als roter Faden seine journalistischen und literarischen Publikationen. Der „pouillerie démocratique“ 135 stellt er als „politische Antithese“ 136 das Modell des NS- Staates gegenüber und leitet daraus sein Plädoyer für einen französischen Faschismus ab: „[N]ous savons par expérience qu’en France la démocratie c’est la catastrophe, et c’est pourquoi nous sommes fascistes.“ 137 Speziell die Zeit ab Ende 1933 dramatisiert er zum Auftakt des Unheils, als über Frankreich „un étrange crépuscule d’assassinats“ (NAG, S. 147) hereingebrochen und der „après-guerre“ einem neuen „avant-guerre“ gewichen sei. 138 Polit- und Finanzskandale seien im parlamentarischen Regime an der Tagesordnung gewesen, doch die brisante Stavisky-Affäre 139 habe die Dritte Republik in ihre schwerste innenpolitische Krise gestürzt, wie es das anaphorische Trikolon unterstreicht: „[N]ous n’avions pas encore pu connaître un drame assez vaste, assez riche, assez mystérieux, pour secouer tout un pays.“ (NAG, S. 148). Unter Verwendung einschlägiger Stereotypen der extremen Rechten tituliert Brasillach den jüdischrussischen Geschäftsmann und naturalisierten Franzosen Serge Alexandre Stavisky (1886-1934) despektierlich als „escroc juif d’Odessa“ (ebd.). Als sich nach dessen mysteriösem Tod am 8. Januar 1934 - „Suicide? On le dit. Assassinat? C’était plus probable.“ (ebd.) - herausstellt, dass der mehrfach 134 Der wachsende Antiparlamentarismus hing mit der ausgeprägten Instabilität der Regierungen zusammen (zwischen Januar 1931 bis zur Wahl Blums im Sommer 1936 lösten sich 15 Regierungschefs ab), denen es allen nicht gelang, der Wirtschaftskrise Herr zu werden, bzw. die diese noch verstärkten. Jurt, Joseph: Historischer Überblick. In: Kohut, Karl (Hg.): Literatur der Résistance und Kollaboration in Frankreich: Geschichte und Wirkung I (1930-1939), S. 28. Übersicht über die französischen Regierungen der Krisenjahre 1931-1940 in Grüner, Stefan; Wirsching, Andreas: Frankreich: Daten, Fakten, Dokumente. Tübingen; Basel: Francke, 2003, S. 68-72, insb. S. 70. Vgl. Brasillachs vielfältige Angriffe auf die Demokratie: Er kritisiert sie als Dummheit (NAG, S. 284), nennt deren Anführer kriegstreibende Apostel (NAG, S. 305); die französische Armee sei vom „abaissement démocratique“ kontaminiert (JHO, S. 59); er verurteilt das pervertierte und vorgeblich religiöse Demokratieverständnis (JHO, S. 185), was einmündet in die Verdammung der parlamentarischen Demokratie, die das Resultat des seit der Französischen Revolution währenden Wahnsinns sei (JHO, S. 245). 135 Brasillach, Robert: „Ce qui reste acquis“. 136 In Anspielung auf den bereits zitierten Aufsatz von Zimmermann, Margarete: NS- Deutschland als politische Antithese: Robert Brasillach und die antidemokratischen Intellektuellen. 137 Brasillach, Robert: „La guerre et la paix“. In: JSP, 19. 3. 1943, S. 1. 138 Dies wiederholt Brasillach mehrfach im Kapitel La fin de l’après-guerre, vgl. z.B. NAG, S. 99, 102, 105, 106, 113. 139 Zur Stavisky-Affäre als „Kristallisationspunkt für die Krise des parlamentarischen Systems“, vgl. das Resümee bei Zimmermann, Margarete: Die Literatur des französischen Faschismus, S. 180f., hier S. 181; s. auch „Affaire Stavisky“. In: Berstein, Gisèle et Serge: Dictionnaire historique de la France contemporaine, S. 739-740. <?page no="214"?> 214 wegen Veruntreuung angeklagte Stavisky von geheimnisvoller richterlicher Nachsicht profitiert hat und zudem führende radikalsozialistische Regierungsmitglieder in dubiose Finanztransaktionen involviert sind 140 , löst dies einen polemischen Feldzug der rechten Presse gegen die Regierung aus. Während die Action française unmissverständlich titelt: „A bas les ministres et les députés vendus! Tous ce soir devant la chambre! “ (11. Januar), „Contre la dictature des voleurs. Tous, ce soir, devant la Chambre! “ (22. Januar), bahnt sich die Wut der Bevölkerung in Protestmärschen ihren Weg: [T]out Paris l’avait [Stavisky] reçu. Et pourtant, subitement personne ne l’avait connu, c’était un misérable sans relations. Tant de mensonges, tant de piètres hypocrisies révoltaient la ville. Dès le début de janvier, la fièvre monta, on arracha les grilles d’arbres boulevard Saint-Germain, on conspua les parlementaires et les gardes mobiles. Ainsi se préparait-on à l’émeute, - ou à la révolution. (NAG, S. 148) Nach dem Rücktritt der Regierung unter Vorsitz des kompromittierten Radikalsozialisten Camille Chautemps (1885-1963) am 27. Januar 1934, den die Action française als „chef d’une bande de voleurs et d’assassins“ 141 denunziert und unvermindert fordert „A bas les voleurs! “ (4. Februar), „A bas le régime abject! “ (5. Februar), kumulieren die Proteste am 6. Februar 1934. An der harmlos als „promenade platonique“ (NAG, S. 149) präsentierten Demonstration auf den Champs-Elysées und vor dem Parlament auf der Place de la Concorde nehmen Vertreter der rechtsextremen Ligen, ehemalige Frontkämpfer und Kommunisten teil. 142 Fast entschuldigend erklärt Brasillach, dass er an diesem Abend von Berufs wegen in der 140 Darin sah die rechte Opposition den Beweis für die Korruption der Radikalsozialisten und das Unvermögen der parlamentarischen Demokratie. S. Zimmermann, Margarete: „‚La nouvelle Allemagne’: NS-Deutschland in Robert Brasillachs Erinnerungsbuch Notre Avant-Guerre (1941)“, S. 8; vgl. in diesem Kontext auch Brasillachs Vergleich der bestechlichen Dritten Republik mit einer syphiliskranken Prostituierten, die ihren Freiern gute Dienste geleistet habe: „En finira-t-on avec les relents de pourriture parfumée qu’exhale encore la vieille putain agonisante, la garce vérolée, fleurant le patchouli et la perte blanche, la République toujours debout sur son trottoir? Elle est toujours là, la mal blanchie, elle est toujours là, la craquelée, la lézardée, sur le pas de sa porte, entourée de ses michés et de ses petits jeunots, aussi acharnés que les vieux. Elle les a tant servis, elle leur a tant rapporté de billets dans ses jarretelles: comment auraient-ils le cœur de l’abandonner, malgré les blennorragies et les chancres. Ils en sont pourris jusqu’à l’os.“ Brasillach, Robert: „La conspiration antifasciste au service du Juif“. In: JSP, 7. 2. 1942, S. 1, Hervorhebung BB. 141 Daudet, Léon: „Camille Chautemps chef d’une bande de voleurs et d’assassins“. In: L’Action française, 10. 1. 1934, S. 1. 142 Ausf. Darstellung durch Berstein, Serge: Le 6 février 1934. Paris: Gallimard, 1975 (Collection Archives), zu den unterschiedlichen teilnehmenden Gruppierungen, die Berstein in vier Kategorien einteilt und ausführlich darstellt, s. S. 47ff., zur Stavisky- Affäre s. S. 89ff., Resümee s. S. 247-251; vgl. auch Zimmermann, Margarete: Die Literatur des französischen Faschismus, S. 180ff. S. auch Kp. 4.8. <?page no="215"?> 215 Comédie des Champs-Elysées gewesen sei. Doch an Brasillachs Zuschauerrolle ändert sich auch mit Verlassen des Theaters nichts: Konfrontiert mit dem realen „spectacle singulier“ (ebd.) sind es erneut primär die visuellen Eindrücke, die er aus distanzierter Warte beschreibt. 143 In der blutigen Straßenschlacht zwischen Demonstranten und der Polizei, in deren Folge die des Mordes 144 bezichtigte Regierung Edouard Daladiers (1884-1970) zurücktritt, entlädt sich „ein heftiger Antiparlamentarismus, eine tiefe Unzufriedenheit mit jener Partei, die bis dahin die Physiognomie der Dritten Republik geprägt hatte und nun in die Stavisky-Affäre verwickelt war: den Radikalsozialisten.“ 145 Im Vergleich zur ausführlichen Schilderung der Februarkrise, konstatiert Brasillach nüchtern und knapp, dass der anschließende unerbittliche Feldzug von Je suis partout nicht den Sieg der Volksfront im Mai 1936 habe verhindern können: „Les élections furent ce que l’on sait.“ (NAG, S. 213). Brasillachs Aversion gegen Léon Blum 146 (1872-1950) ist zunächst der verharmlosenden Formulierung zu entnehmen, Blum sei auf der Beerdi- 143 Für Griffiths ist diese Passage exemplarisch für den wahren Charakter Brasillachs, der außenstehender Betrachter ist, „l’homme d’inaction qui se veut homme d’action.“ Griffiths, R.: Brasillach et la révolution fasciste, S. 197. 144 Vgl. die Schlagzeilen der Action française vom 7. 2. 1934: „Après les voleurs, les assassins“; „Paris couvert de sang: Pour étouffer la révolte des honnêtes gens la garde mobile tire sur la foule: 50 morts - Des milliers de blessés“. 145 Zimmermann, Margarete: Robert Brasillachs letzter Roman und das Ende der Okkupationszeit, S. 237. 146 Nach dem Sieg der Volksfront im Mai 1936 wurde mit Léon Blum, Sohn jüdischer Eltern, Normalien, Jurist sowie Gründungsmitglied des Parti Socialiste Français, erstmals ein jüdischer und sozialistischer Politiker zum Ministerpräsidenten gewählt. Während seiner Regierungszeit (mit Unterbrechungen von Juni 1936 bis April 1938), in der er zur Zielscheibe antisemitischer Angriffe wurde, setzte er Reformen wie die Erhöhung der Kaufkraft, die 40-Stunden-Woche, den bezahlten Urlaub und die Verstaatlichung der Waffenindustrie durch. Seine Finanzpolitik scheiterte jedoch am Widerstand der Konservativen im Senat. Nachdem Blum zu Beginn des Spanischen Bürgerkriegs die republikanische Regierung im Kampf gegen die Faschisten unterstützt hatte, schwenkte er auf Druck Londons um und initiierte ein Nichteinmischungsabkommen zwischen Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland, an das sich Hitler und Mussolini nicht hielten. Entgegen seiner persönlichen Überzeugung schloss er sich der Mehrheit der Parlamentarier an und stimmte dem Münchner Abkommen zu. Dieser Verrat sowohl an der Tschechoslowakei (Bruch des Defensivvertrages von 1925) als auch am antifaschistischen Ideal des Front populaire bedeutete das Ende der linken Allianz. Am 10. 7. 1940 zählte Blum zu den sechsunddreißig sozialistischen Parlamentariern, die Pétain ihre Unterstützung verweigerten. Zwei Monate später wurde er vom Vichy-Regime verhaftet und gemeinsam mit führenden Politikern der Dritten Republik im Prozess von Riom (Februar bis April 1942) angeklagt, Frankreich während seiner Regierungszeit geschwächt zu haben. Für ihn und die „hommes traîtres à la Révolution nationale“ forderte Brasillach den Tod: „C’est sans remords, mais pleins au contraire d’une immense espérance, que nous vouons ces derniers au camp de concentration, sinon au poteau“. (Brasillach, Robert: <?page no="216"?> 216 gung Jacques Bainvilles 147 (1879-1936) am 13. Februar 1936 ein wenig geschlagen worden („se fit un peu battre“, NAG, S. 177). Während jeglicher Hinweis auf die „Angreifer“, nämlich Anhänger des Wehrverbandes der Action Française (Camelots du Roi) fehlt, distanziert er sich von der Bezeichnung „Attentat“, indem er den Terminus in Anführungszeichen setzt. Vielmehr klassifiziert er diesen Vorfall als „prétexte“, mit dem die Regierung Blum die Auflösung der faschistischen Ligen, darunter die Liga der Action française, legitimiert habe (NAG, S. 178). Der abschätzig als „ce Blum“ (JHO, S. 243) diskreditierte Politiker ist die Inkarnation zweier Feindbilder, nämlich des Sozialisten und Juden, was er mit der Benennung „les Juifs du socialisme“ (NAG, S. 178) zum Ausdruck bringt. Ihn nennt er den Auslöser eines neuen Antisemitismus, den er beschönigend zu den „réactions [...] parfois assez vives“ (NAG, S. 188f.) zählt und als seit der Dreyfus-Affäre fast inexistentes Phänomen bemäntelt. Um seiner Argumentation Nachdruck zu verleihen, der Hass auf Blum beruhe auf gewichtigen, rationalen Gründen, differenziert er zwischen einem französischen („legitimen“) und einem rassisch begründeten Antisemitismus: „Le Français est antisémite d’instinct, bien entendu, mais il n’aime pas avoir l’air de persécuter des innocents pour de vagues histoires de peau.“ (NAG, S. 189). Mittels einer Vielzahl diskreditierender Zuschreibungen verspottet er den ehemaligen Ministerpräsidenten als „Jammerlappen“, der unzählige Fehlentscheidungen getroffen habe: Premier Ministre depuis juin, M. Blum se lamentait, pleurait deux fois par mois à la radio, d’une voix languissante, promettait l’apaisement, des satisfactions à tous. On publiait, on republiait ses fausses prophéties, ses erreurs innombrables, on rappelait ses livres de jeunesse, son esthétisme obscène et fatigué. (NAG, S. 181) Von der Regierungszeit des Front populaire entwirft er in Superlativen das Bild einer schädlichen („nuisible[]“, „nocif“, NAG, S. 180f.) und zugleich tragikomischen Epoche, die er unter Bezugnahme auf das gleichnamige „Il faut cesser de jouer avec le destin de la France“. In: JSP, 20. 12. 1941, S. 1). Mit dem mitangeklagten ehemaligen Regierungschef Edouard Daladier wird Blum im Frühjahr 1943 nach Deutschland in die Konzentrationslager Buchenwald und Dachau deportiert. Sadoun, Marc: „Léon Blum“. In: Sirinelli, Jean-François (Hg.): Dictionnaire historique de la vie politique au XX è siècle, S. 101-106; vgl. die ausf. Biografie von Berstein, Serge: Léon Blum. Paris: Fayard, 2006. Zu Blum s. auch Kp. 4.9.1. 147 Der germanophobe Journalist (L’Action française) und Gegner der Locarno-Politik Stresemanns und Briands, Direktor der Revue universelle und Schriftsteller (Histoire des deux peuples, 1915; Les Dictateurs, 1935) wurde nur wenige Monate vor seinem Tod (9. 2. 1936) in die Académie française gewählt. Slama, Alain-Gérard: „Jacques Bainville“. In: Juillard, Jacques; Winock, Michel (Hgg.): Dictionnaire des intellectuels français, S. 123-124. <?page no="217"?> 217 Werk seines Je suis partout-Kollegen Alain Laubreaux 148 (1899-1968) als „‚terreur rose’“ (NAG, S. 179, 180) bezeichnet, von der Frankreich noch immer gezeichnet sei: Quinze ou vingt mois, à partir de mai 1936, comptent à coup sûr parmi les époques les plus folles qu’ait vécues la France. Les plus nuisibles, sans doute, et nous n’avons pas fini, à l’intérieur comme à l’extérieur, d’en supporter les conséquences; mais aussi les plus burlesques. Jamais encore la sottise, le pédantisme, l’enflure, la prétention, la médiocrité triomphante, ne furent plus superbes. (NAG, S. 180) Der Unzulänglichkeit der Volksfrontregierung - „C’était Ubu au pouvoir.“ 149 - schreibt er nicht nur die Unterminierung der Arbeitsmoral und den Staatsruin zu, vielmehr sei sie Ursache für das Entstehen des Faschismus (NAG, S. 184). Angesichts der für Brasillach sichtbaren und bestechenden „‚Bilder-Flu(ch)t[]’“ 150 des Nationalsozialismus, inkarniert die heimatliche Volksfront das politische Negativkorrelat: „Et la France, que faisaitelle? Elle vivait sous le régime du Front populaire, tantôt à direction socialiste, tantôt à direction radicale, sous la menace perpétuelle du chantage communiste.“ (NAG, S. 278). Die Mobilisierung der französischen Armee im September 1938 verstärkt seine Aversionen und liefert ihm noch mehr Gründe dafür, „de détester ceux qui ont fait d’un peuple comme le nôtre ce qu’il était en train de devenir.“ (NAG, S. 290). Mit den „maîtres d’hier“ (JHO, S. 242), die Brasillach zufolge in Frankreich unsäglichen Schaden angerichtet haben, geht der Autor auch noch im April 1943 hart ins Gericht, denn „le Front populaire reste l’ennemi numéro un de la France.“ (JHO, S. 243). 151 Er sei die Wurzel allen Übels und verantwortlich für die französische Niederlage. Brasillach verurteilt Amerika, welches die Volksfront zu seinem „enfant chéri“ erklärt habe, und attackiert den amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt (1882-1945), der Laval und Pétain aufgrund ihrer Opposition zur Volksfront verachtet habe. Des Vaterlandsverrats bezichtigt er all diejenigen, die eine Rückkehr des Front 148 Unter dem Titel La terreur rose publizierte Alain Laubreaux, seit Herbst 1936 Theaterkritiker von Je suis partout, im Jahr 1939 eine bissige Satire auf den Front populaire. Entgegen seiner Beteuerung, er und seine Kollegen würden Paris nicht verlassen (Je suis partout vom 16. 8. 1944), flüchtete der Journalist (u.a. Cri du Peuple, Le Petit Parisien) zunächst nach Deutschland, später nach Spanien. Im Mai 1947 wurde er in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Vgl. Dioudonnat, Pierre-Marie: Les 700 rédacteurs de Je suis partout (1933-1944), S. 54-55. 149 Brasillach, Robert: „Causerie littéraire: Alain Laubreaux La Terreur rose (Denoël)/ Jean Guéhenno Journal d’une Révolution (Grasset)“. In: L’Action française, 11. 3. 1939, S. 5. 150 Clamor, Annette: Dekadenz als Kampfbegriff, S. 89. 151 Bei dieser stark gekürzten Version von Et voici le Front populaire fehlen die gehässigsten Angriffe auf Léon Blum wie „la gueule de Blum“ oder „la tripaille républicaine d’un Herriot unie à la sanie juive d’un Blum“. Vgl. Brasillach, Robert: „Et voici le Front populaire“. In: JSP, 2. 4. 1943, S. 1. <?page no="218"?> 218 populaire wünschen, habe doch dieser schon lange vor Frankreichs Niederlage im Sommer 1940 das Debakel besiegelt: Ceux qui, de quelque côté qu’ils soient, veulent nous ramener, fût-ce en apparence, à l’époque du plus grand mal français, à l’origine de nos désastres, à l’infâmie sanglante et basse de ces mois où s’est consommée d’avance la défaite de la patrie, ceux-là sont des traîtres au premier chef [...]. (JHO, S. 243) 4.5 Vom „Präfaschismus“ der Action française zum Faschismus Seine Sympathie für die nationalistische und neoroyalistische Bewegung der Action française, die 1899 vor dem Hintergrund der Dreyfus-Affäre unter Federführung des Journalisten, Schriftstellers und Politikers Charles Maurras 152 (1868-1952) entstand, datiert Brasillach auf die Schulzeit am 152 Der Anti-Dreyfusist, Antisemit, Monarchist, entschiedene Gegner Deutschlands sowie der Versöhnungspolitik Aristide Briands betonte die „Superiorität des französisch-mittelmeerischen Wesens [...] gegenüber dem anarchisch-individualistischen, haltlos prometheischen, auf Reformation und ‚Romantisme’ gegründeten Germanismus“ (Becker). Als einer der bedeutendsten Vertreter eines konterrevolutionären integralen Nationalismus postulierte Maurras, nur eine Rückkehr zum traditionellen Nationalismus und die Ablehnung der Anti-France - verkörpert durch die „‚[q]uatre états confédéres: Juifs, protestants, franc-maçons, métèques’“ (Nolte) - könne dem Niedergang Frankreichs Einhalt gebieten und seinen Wiederaufschwung bewirken. Maurras avancierte zum Wortführer der 1899 von Maurice Pujo und Henri Vaugeois (Union pour l’Action morale) initiierten Gruppierung der nationalistischen Action française; im März 1908 gründete er die gleichnamige Tageszeitung: Das Organe du nationalisme intégral stand unter der Devise des Duc d’Orléans: „Tout ce qui est national est nôtre.“ (vgl. das Titelblatt). Unter seiner und Léon Daudets (bis 1917) Herausgeberschaft markierte die Action Française in den kommenden zwei Jahrzehnten „den Punkt der äußersten Rechten in Frankreich“ und wurde zum „heftigste[n], lauteste[n], aggressivste[n] aller politischen Presseorgane des Landes.“ (Nolte). 1926 indizierte Rom die Action française (Aufhebung der Verurteilung 1939), die sich daraufhin zum „‚antiklerikalste[n] Blatt Frankreichs’“ (Nolte) entwickelte. 1936 löste die Volksfrontregierung die Bewegung auf, nicht jedoch die Zeitung. Aufgrund seines literarischen Prestiges, insbesondere in konservativen Kreisen, wurde Maurras, trotz seiner Verurteilung zu einer achtmonatigen Gefängnisstrafe, in die Académie française (1938- 1945) gewählt. Als militanter Kritiker der linksbeherrschten französischen Republik der 30er Jahre befürwortete er ungeachtet seiner erklärten Gegnerschaft gegenüber Hitler-Deutschland den Waffenstillstand und unterstützte uneingeschränkt Marschall Pétain, der für ihn das wahre Frankreich und die Hoffnung auf die notwendige Révolution nationale verkörperte (La seule France: chronique des jours d’épreuve, 1941). Von den Kollaborateuren, unter ihnen sein ehemaliger Zögling Brasillach, distanzierte er sich. Der 1945 zunächst zum Tode, dann zu lebenslanger Haft Verurteilte, der das Urteil als Racheakt Dreyfus’ anprangerte, wurde 1952 begnadigt und verstarb kurz darauf. Die Angaben beziehen sich auf Becker, Winfried: „Charles Maurras“. In: BBKL, Bd. 5, 1993, Sp. 1063-1071, hier Sp. 1063f., und Nolte, Ernst: Der Faschismus in seiner Epoche: die Action française; der italienische Faschismus; der Nationalsozia- <?page no="219"?> 219 Pariser Gymnasium Louis le Grand: Hier im Quartier Latin habe die Action française „triumphale“ Erfolge gefeiert (NAG, S. 29) und ihm, dem bis dato Unpolitischen, eine neue, ausschließlich positiv konnotierte Welt eröffnet: „Subitement un monde s’offrait, celui de la raison, celui de la précision, celui de la vérité.“ (NAG, S. 27f.). Der hohe politische und intellektuelle Stellenwert, welchen die Action française für Brasillach und seine Freunde einnimmt, bleibt von deren Indizierung durch Papst Pius XI. 153 im Dezember 1926 unberührt: „Si quelques-uns cessèrent de lire le journal, au moins avec régularité, l’influence de la doctrine ne fut pas ébranlée.“ (NAG, S. 28). In ihr haben sie sich wiedergefunden im Unterschied zu den als bürgerlich-altmodisch abgelehnten rechten Parteien und der ihrer Meinung nach dem italienischen Vorbild des Faschismus nicht gerecht werdenden französischen „imitation falote“ (NAG, S. 29) unter Georges Valois 154 (1878- 1945). Die Schlüsselworte, welche die Anziehungskraft der Maurras’schen Bewegung erklären, lauten Jugend, Nationalismus sowie ein gewisser „Präfaschismus“ 155 : lismus. 8. Aufl. München: Piper, 1990, insb. S. 61-190, die Zitate befinden sich der Reihe nach S. 105, 106, 116. Zu den „ersten Schritte[n] der Action française“ sowie der „‚göttliche[n] Überraschung’ von Charles Maurras“ aufgrund der Ernennung Pétains zum Chef de l’Etat, vgl. die gleichnamigen Kapitel in Winock, Michel: Das Jahrhundert der Intellektuellen, S. 91-101 und S. 446-456. Als umfangreiche Standardwerke zur Action française sind zu erwähnen: Weber, Eugen: Action française: Royalism and reaction in twentieth-century France. Stanford, California: Stanford University Press, 1962; Nguyen, Victor: Aux origines de l’Action française: Intelligence et politique vers 1900. Paris: Fayard, 1991. 153 Der Bordelaiser Erzbischof Kardinal Andrieu benannte den schwerwiegenden Kritikpunkt: „‚Katholiken aus Berechnung und nicht aus Überzeugung, bedienen sich die Leiter der Action française der Kirche (oder hoffen mindestens, sich ihrer zu bedienen), aber sie dienen ihr nicht, da sie die göttliche Lehre zurückweisen, die zu verbreiten der Kirche Auftrag ist.’“ Ende 1926 verkündete Rom: „‚Es ist den Katholiken nicht erlaubt, sich aktiv der Schule derjenigen anzuschließen, die die Parteiinteressen vor die Religion stellen und diese jener dienen lassen.’“ Zit. in Nolte, Ernst: Der Faschismus in seiner Epoche, S. 115f. 154 Unter Orientierung am italienischen „Vorbild“ begründete das ehemalige Mitglied der Action française (bis 1925) mit Le Faisceau (1925-1928) die erste faschistische Partei Frankreichs (ca. 30.000 Anhänger). In den Folgejahren wandte sich Valois vom Faschismus ab und engagierte sich für eine „République syndicaliste“. Der Résistant wurde verhaftet, deportiert und starb 1945 im KZ Bergen-Belsen. „Georges Valois“. In: Berstein, Serge et Gisèle: Dictionnaire historique de la France contemporaine, S. 792-794, hier S. 793. 155 Gegen eine Einstufung der Action française als faschistisch (so Noltes These in Der Faschismus in seiner Epoche) sprechen laut Jurt der „rationalistisch-doktrinäre Charakter“ (vs. „faschistische[r] Antiintellektualismus“), der Anti-Etatismus (vs. „Stato totalitario“) sowie das Streben nach der Erb-Monarchie (vs. „‚Souveränität der Masse’“). Zudem unterschied sich der Maurras’sche Antisemitismus durch sein antiliberales Gepräge vom biologisch-rassistischen Antisemitismus des Nationalsozialismus. Jurt, Joseph: Historischer Überblick. In: Kohut, Karl (Hg.): Literatur der Résis- <?page no="220"?> 220 [N]ous ne pouvions rien trouver qui représentât mieux que l’A.F. la jeunesse du nationalisme, une sorte de ‚pré-fascisme’ déjà dans l’air, l’union d’une doctrine sociale forte et de l’intelligence nationale, et même les communistes le savaient, et la précision de l’idée fasciste ou national-socialiste a toujours été depuis notre grande recherche. (NAG, S. 30, Kursivierung im Text) Mit Stolz berichtet Brasillach, dass ihm, einem „garçon de vingt-deux ans un feuilleton littéraire aussi important“ (NAG, S. 90), nämlich das der Action française, 1931 übertragen wurde. Maurras, den er als „homme magnifique, ce prince de la vie“ (NAG, S. 204) verehrt, zeichnet jedoch „eine mörderische Feder“ 156 aus: Am 22. September 1935 fordert er auf dem Titelblatt der Action française unter der Schlagzeile „Assassins! Appel nominal des parlementaires maçons qui veulent la guerre. - Comme en 1792! Citoyens, souvenez-vous en! “ ein Erschießungskommando für die 140 französischen Parlamentarier, die nach der Invasion des faschistischen Italiens in Abessinien für eine Verschärfung der in Genf beschlossenen Sanktionen gegen den Aggressor gestimmt hatten. Ihm, „le plus grand penseur de son temps“ (NAG, S. 205), der deswegen in der Amtszeit von Léon Blum 157 zu einer achtmonatigen Gefängnisstrafe 158 (Oktober 1936 bis tance und Kollaboration in Frankreich: Geschichte und Wirkung I (1930-1939), S. 29, Kursivierung im Text; vgl. auch Nolte, Ernst: Der Faschismus in seiner Epoche, insb. S. 61-190. Obgleich die Action française nicht „spezifisch“ faschistisch sei, unterstreicht Winock ihre Bedeutung hinsichtlich der Herausbildung von Faschisten: „[E]lle constitue depuis longtemps une école de pensée extrémiste qui, par le mépris des institutions libérales et des traditions républicaines, l’exaltation du ‚coup de force‘ et des pouvoirs autoritaires, et peut-être plus encore par l’apprentissage d’un certain style, fait d’invective, d’outrance, de calomnie, d’attaques ad hominem, a largement contribué à former des ‚têtes fascistes’. Ce sont les maurrassiens de la nouvelle génération qui, derrière leur aîné Pierre Gaxotte, animent Je suis partout: Robert Brasillach, Maurice Bardèche, Pierre-Antoine Cousteau, Lucien Rebatet, Georges Blond, Alain Laubreaux...“ Winock, Michel: Nationalisme, antisémitisme et fascisme en France. Paris: Editions du Seuil, 1990, S. 256, Kursivierung im Text, Hervorhebung BB. Ähnlich Schieder, der die Action française zwar keine „kulturelle und politische Bewegung faschistischer Art“ nennt, indes betont, dass der von ihr vertretene integrale Nationalismus, Antiparlamentarismus, Antidemokratismus und Traditionalismus „einen äußerst wichtigen Beitrag zur Schaffung des psychologischen, kulturellen und politischen Milieus leisteten, aus dem ein guter Teil des französischen F[aschismus] entstand.“ Schieder, Wolfgang: „Faschismus“, Sp. 450. Zur Action française als „Vorform einer faschistischen Bewegung“ vgl. auch die Dissertation von Zobel, Andreas: Frankreichs extreme Rechte vor dem Ersten Weltkrieg unter besonderer Berücksichtigung der „Action Française“: Ein empirischer Beitrag zur Bestimmung des Begriffs Präfaschismus. Freie Universität Berlin, 1982, S. 136. 156 Vgl. das Kapitel „An der äthiopischen Front“ in Winock, Michel: Das Jahrhundert der Intellektuellen, S. 331-340, hier S. 333. 157 Unerwähnt bleibt Maurras’ Morddrohung gegen Blum: „Il ne sera pas maître d’envoyer le peuple français à l’abattoir. S’il le fait, il sera le premier abattu.“; „[L]e jour de l’agression et de l’invasion, il restera toujours en France quelques bons couteaux de cuisine et M. Léon Blum en sera le ressortissant numéro un.“ Maurras, <?page no="221"?> 221 Juli 1937) verurteilt wird, macht Brasillach seine Aufwartung im Gefängnis La Santé. Er selbst zählt zu den Unterzeichnern des pro-faschistischen Manifests „für die Verteidigung des Westens“: „Nous l’avions signé les premiers.“ (NAG, S. 165). Die Phase des „entre-deux-alertes“ (NAG, S. 306), d.h. die Zeit von September 1938 bis September 1939, charakterisiert Brasillach als die Hochphase der Bewegung der Action française: Mit Einmarsch der deutschen Truppen in die Tschechoslowakei habe die deutschfeindliche Action française unter der dreimalig betonten klarsichtigen Führerschaft Maurras’, „avec [qui] revenaient la raison, la clarté, l’espérance“ (ebd.), mit allen Mitteln versucht, einen Krieg mit dem Erzfeind zu verhindern, um somit „la besogne la plus sacrée“ (NAG, S. 307) zu erfüllen: Frankreichs materielles Wohl sicherzustellen und der französischen Jugend den Krieg zu ersparen. Unermüdliche Appelle für den Frieden, flankiert von aggressiven Morddrohungen gegen die der Kriegshetze bezichtigte Regierung, prangen auf den Titelseiten der Action Française „ultra-munichois[e]“ 159 : A bas la guerre! (27. 9. 1938) Non! Pas la guerre! (28. 9. 1938) Pas de guerre! Non! Non! S’ils s’obstinent, ces cannibales,/ A faire de nous des héros,/ Il faut que nos premières balles/ Soient pour Mandel, Blum et Reynaud (29. 9. 1938) La paix! La paix! La paix! Paul Reynaud, garde des Sceaux de la République, a fait saisir hier le numéro de l’ACTION FRANÇAISE dont la manchette le visait. Quand le saisira-t-on lui-même afin de l’obliger à répondre, devant des juges français, de ses manœuvres criminelles pour déchaîner sur notre pays la banqueroute et la guerre? (30. 9. 1938) In dieser brisanten Zeit wächst die Bewunderung und Zuneigung des Jung-Maurassianers für den „petit Provençal sec et gris“ stetig: Der Romancier verleiht ihm übernatürliche Kräfte, wenn er ihm zuschreibt, „le Charles: „La politique“. In: L’Action française, 14. 5. 1936, S. 1. Zu Blum s. Kp. 4.4 und 4.9.1. 158 Dadurch verstärkte sich Maurras’ „Märtyrer-Image“ und Prestige bei der äußersten rechten Intelligenzija. Vgl. Ory, Pascal; Sirinelli, Jean-François: Les intellectuels en France de l’affaire Dreyfus à nos jours. 2 ème édition mise à jour, 2 ème tirage. Paris: Armand Colin, 1999 (Collection U, Histoire contemporaine), S. 105. Betonung der nationalen, nicht der faschistischen Beweggründe von Maurras’ pro-italienischer Stellungnahme bei Nolte, Ernst: Der Faschismus in seiner Epoche, S. 118. 159 Ausf. zur Befürwortung des Münchner Abkommens durch die Action française trotz ihrer Germanophobie, s. Ory, Pascal; Sirinelli, Jean-François: Les intellectuels en France de l’affaire Dreyfus à nos jours, S. 116f.; zum Verrat an der Tschechoslowakei und Polen durch Maurras, der „mit der ganzen französischen Rechten aus Hass gegen den inneren Feind eine Politik der Feigheit und der Niederlage“ machte, s. Nolte, Ernst: Der Faschismus in seiner Epoche, S. 119. <?page no="222"?> 222 poids de tant d’angoisses et de tant d’efforts“ zu tragen, und wenn er seine Sorge um Frankreich erneut als „sacrée et mystérieuse“ (NAG, S. 307) charakterisiert. Liebe habe den väterlich besorgten Vater Maurras („quelque chose de paternel“, ebd.) mit seinen jugendlichen Anhängern verbunden (NAG, S. 308). Für Brasillach ist Maurras die unumstrittene, allwissende Autorität, die unfehlbar weitsichtig, wie er dies durch die Kombination des Lokal- und Temporaladverbs ausdrückt, den Hitler-Stalin-Pakt vorhergesehen habe: Si je n’avais pas été maurrassien à cette date, je pense que je le serais devenu. Partout, toujours, Maurras avait eu raison. Le plus extraordinaire, l’accord des nationaux-socialistes allemands et des bolcheviks russes, il ne s’était pas passé de mois, depuis les débuts de l’hitlérisme, qu’il ne l’eût annoncé. (NAG, S. 307f.) Mit Maurras’ Wahl in die Académie française (1938) und Aufhebung der Verurteilung der Action française durch den Vatikan (1939) sei dem „provenzalischen Lehrmeister[]“ 160 Gerechtigkeit widerfahren (NAG, S. 308). In den resümierenden Schlussbemerkungen zu Notre avant-guerre setzt Brasillach Maurras ein Denkmal, wenn er ihn als gerechten und leidenschaftlichen Patrioten bezeichnet, der die Leitfigur seiner Generation gewesen sei: „Les vivants et les morts de notre avant-guerre, c’est lui qui les domine: nous aurons eu la chance de l’approcher, de rencontrer dans notre jeunesse ce regard aux yeux gris, cette pensée juste et dure, et cette brûlante passion pour son pays et pour la jeunesse de son pays.“ (NAG, S. 352, Kursivierung im Text). Dass es der Action française in den dreißiger Jahren jedoch nicht gelungen war, „die ihren Idealen verpflichtete Jugend in ihrem nationalen Überlebenswillen zu stärken“ 161 , macht diese Jugend für das nationalsozialistische „Vorbild an Energie, das Beispiel einer Nation, die sich wieder aufgerichtet hat“ 162 , empfänglich. Diesen Bruch macht der „Dissident“ Brasillach unmissverständlich deutlich, wenn er 1942 der Action française vorwirft, sie meide die okkupierte Nordzone und das besetzte Belgien wie „des zones pestiférées, c’est le pays des innommables“ (JHO, S. 204). 163 So mündet die in zwei vorangestellten Parallelismen formulierte Anerkennung und Würdigung der früheren Vorbilder des avant-guerre in eine Restriktion („Mais“) und den Verweis auf die veränderten gegenwärtigen Ver- 160 Winock, Michel: Das Jahrhundert der Intellektuellen, S. 261. 161 Hofer, Hermann: Die Literatur der Kollaboration, S. 166. Zu der großen Anzahl der „Ex“ der Action française, die einer Drehscheibe gleich die Maurras’schen Intellektuellen in die unterschiedlichsten Richtungen neu verteilte, s. Ory, Pascal; Sirinelli, Jean- François: Les intellectuels en France de l’affaire Dreyfus à nos jours, S. 82. 162 Winock, Michel: Das Jahrhundert der Intellektuellen, S. 415. 163 Mit der Besatzung hatte Maurras den Sitz der Action française in die freie Zone zunächst nach Limoges, später nach Lyon verlegt. Dioudonnat, Pierre-Marie: Je suis partout 1930-1944, S. 343. <?page no="223"?> 223 hältnisse ein: Das deutschlandfeindliche 164 Programm der Action française verurteilt Brasillach als verleumderisch: ... Rien ne nous empêchera jamais de rendre aux vieux maîtres de notre jeunesse l’hommage qui leur est dû. Rien ne nous empêchera de garder une reconnaissance éternelle aux lutteurs vaincus de la paix en 1939, dont le combat magnifique contre la guerre est l’honneur de l’esprit humain. Mais le présent reste le présent, avec ses devoirs, avec ses vérités ou ses erreurs. Et il nous faut bien dire qu’entre la devise de L’Action Française: ‚La France, la France seule...’ et l’exclamation vulgaire de mes voisins de cinéma: ‚On nous casse les pieds avec tout ça...’ 165 , je ne vois pas de grande différence. Ce sera la première fois que le mouvement monarchiste aura rencontré ainsi la pure démagogie. (JHO, S. 205) Im Sommer 1943 greift er Maurras’ rückwärtsgewandt-hadernden Politikstil offen an: „([C]ar Maurras n’a rien fait que conjuguer ‚on aurait dû’ pendant quarante ans). Le ‚on aurait dû’ n’est pas de la politique.“ (JHO, S. 249). Erst im Gefängnis qualifiziert Brasillach seinen „vieux maître“, den eine ehrlose Justiz zu Unrecht der Komplizenschaft mit dem Deutschen Reich bezichtige, als einen der letzten bedeutenden Franzosen (JHO, S. 347). 4.6 Reisen zum Faschismus: Italien - Belgien - Spanien - NS-Deutschland Den Wunsch nach einem französischen Faschismus, geboren aus dem Ungenügen am republikanischen Frankreich im Zeichen der Volksfront, konkretisieren Reisen in die faschistischen Nachbarstaaten Italien, NS-Deutschland sowie in Degrelles Belgien und Francos Spanien. Ihr „Modell“ vor Augen, artikuliert Brasillach sein Faschismus-Verständnis. 166 4.6.1 Italien Die Begegnung mit Italien als der Geburtsstätte des Faschismus weckt Brasillachs Interesse: Für den jungen Journalisten verkörpert der italienische Nachbar das Land der Maler, das er als wichtigsten Bezugspunkt schätzt. Die große Ausstellung italienischer Kunst im Petit Palais (Juni 1935) nennt er „un incomparable présent“ (NAG, S. 163). Italiens „Ansprüche“ auf Abessinien wertet er als legitim, die vom Völkerbund verhängten 164 Die erklärte Gegnerschaft der Action française dem Freimaurertum gegenüber teilt er jedoch bis zuletzt. S. JHO, S. 317. 165 So habe der Kommentar eines französischen Kinozuschauers in der Provence gelautet, als vor der Filmvorführung Bilder der deutschen Armee in Russland gezeigt worden waren. S. JHO, S. 204. 166 Zimmermann, Margarete: „‚La nouvelle Allemagne’: NS-Deutschland in Robert Brasillachs Erinnerungsbuch Notre Avant-Guerre (1941)“, S. 9. <?page no="224"?> 224 Sanktionen hingegen hält er für verbrecherisch (NAG, S. 165, 190). Die singende italienische Jugend des italienischen Faschismus ist es, die sich in das Gedächtnis des Reisenden im Jahr 1937 eingeschrieben hat: Et ils chantent. Ils chantent des chansons d’enfant, qui ne signifient rien, comme dans tous les pays du monde. Ils chantent aussi, ensemble, d’une voix psalmodiée, des chants fascistes. Des avant-guardistes de quinze ans, des fascistes de vingt-cinq conduisent ces troupeaux riants, et leur apprennent l’hymne d’un pays qui a choisi pour mot de passe le mot de ‚jeunesse’. Mais aussi les chansons qu’on chuchote malicieusement dans le dos de l’étranger (surtout si on le soupçonne d’être Anglais ou Français), sur les ‚vingt-cinq nations qui ont pris des sanctions contre l’Italie.’ (NAG, S. 207) 167 Die Begegnung mit dem italienischen Ursprungsfaschismus hat jedoch nur „Präludiums-Charakter“ 168 , während der spanische und deutsche „esprit fasciste“ Brasillach in den Bann ziehen. Nach der Absetzung Mussolinis (24./ 25. Juli 1943) würdigt der Schriftsteller den „étonnant homme de génie, un grand condottiere de la taille des Médicis de Florence“ (JHO, S. 247), dem das Verdienst zukomme, die nationalistischen Revolutionen in Portugal, Deutschland und Spanien inspiriert zu haben. Im Journal d’un homme occupé ist nichts davon zu spüren, dass diese Zäsur Brasillachs Zuversicht in den deutschen „Endsieg“ erschüttern wird. 4.6.2 Belgien Nach einem ersten Aufenthalt in Belgien an Ostern 1935 (NAG, S. 155) führt eine Journalistenreise im folgenden Jahr Brasillach erneut in das belgische Nachbarland (NAG, S. 238ff.). Den Erfolg der bisher unbekannten Partei Léon Degrelles 169 (1906-1994) „Rex“ im Jahr 1936 führt er auf die 167 Die Passage übernimmt der Autor aus seinem Artikel „Venise an XV: Choses vues par Robert Brasillach“. In: JSP, 13. 8. 1937, S. 5. 168 Zimmermann, Margarete: Die Literatur des französischen Faschismus, S. 235. 169 Aus der von Léon Degrelle Anfang der 30er Jahre gegründeten antidemokratischen, ursprünglich kirchlichen Christ-Königsbewegung mit einer Anhängerschaft von 200.000 wallonischen Katholiken ging der nationalistische und faschistische Rexismus hervor. Nach ihrem bedeutenden Wahlerfolg im Jahr 1936 erlitten die Rexisten infolge ihrer zunehmenden Faschisierung 1938 erhebliche Stimmeinbußen. Nach der deutschen Besatzung Belgiens avancierte Degrelle zu einem der führenden Kollaborateure. Als Soldat der im Sommer 1941 gegründeten Légion Wallonie (vgl. Degrelle Die verlorene Legion, 1952) kämpfte er an der Ostfront; auf sein Drängen hin wurde diese in die Waffen-SS inkorporiert (ab Juni 1943: 5. SS Freiwillige Sturmbrigade „Wallonien“, ab September 1944: 28. SS-Freiwilligengrenadierdivision „Wallonien“). Nach dem Zusammenbruch NS-Deutschlands flüchtete der SS-Obersturmbannführer Degrelle über Norwegen nach Spanien. In Belgien in Abwesenheit zum Tode verurteilt, starb Degrelle 1994 im spanischen Exil. S. „Léon Degrelle“. In: Milza, Pierre; Berstein, Serge (Hgg.): Dictionnaire historique des fascismes et du nazisme, S. 201-204; Dresen, Willi: „Rexisten“. In: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, S. 764f. De Wever, Bruno: Military collaboration in Belgium. In: Benz, Wolfgang; Houwink ten <?page no="225"?> 225 kommunistische Bedrohung („Rex contre Moscou“) und das verführerische und gerechte Parteiprogramm zurück (NAG, S. 245): „[C]’était l’Action française, mais jeune, dynamique, emportant tout comme un torrent.“ 170 Belgien fungiert als positive Kontrastfolie gegenüber Frankreich: Während es Degrelle gelingt, einundzwanzig rexistische Abgeordnete in das Brüsseler Parlament zu entsenden (NAG, S. 239), habe Paris mit dem Einzug von zweiundsiebzig Kommunisten in das Parlament ganz im Zeichen der kommunistischen Revolution gestanden (NAG, S. 178). Bewunderung spricht aus Brasillachs Worten für den nur wenige Jahre älteren, dynamischen und abenteuerlustigen Anführer 171 der Rexisten, der seinerseits die Jugend ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt - für Brasillach das Spektakulärste und Anziehendste im faschistischen Kosmos (NAG, S. 236). Die als unveräußerliches Kennzeichen des „Rex“ empfundene Jugendlichkeit findet Niederschlag in einer redundanten Charakterisierung als jungen Mann: „un jeune homme vigoureux“ (NAG, S. 238); „C’est un garçon au visage plein et souriant, qui n’a même pas l’air d’avoir son âge.“ (NAG, S. 239); „ce garçon impétueux et perpétuellement en ébullition“ (NAG, S. 240); „le petit garçon“, „ce garçon si sensible à tout ce qui l’entoure et qui le soutient“ (NAG, S. 242); „un jeune homme mis en présence de son destin“ (NAG, S. 244); „ce jeune homme invisible“, „la jeunesse du chef“ (NAG, S. 245); „le jeune meneur“ (NAG, S. 246). Brasillachs schwärmerischem Porträt des Führers und Verführers („un meneur d’hommes“, „les séducteurs“, NAG, S. 239) ist zu entnehmen, wie sehr Degrelles (maskuline) Ausstrahlung und Animalität („rayonnement Cate, Johannes; Otto, Gerhard (Hgg.): Die Bürokratie der Okkupation: Strukturen der Herrschaft und Verwaltung im besetzten Europa. Berlin: Metropol, 1998 (Nationalsozialistische Besatzungspolitik in Europa 1939-1945; 4), S. 153-171, insb. S. 160, 166f. 170 Bardèche, Maurice: Notice. In: Brasillach, Robert: Léon Degrelle et l’Avenir de „Rex“. In: Œuvres complètes, Bd. 5, 1964, S. 1-4, hier S. 3. 171 Vgl. Littells Beschreibung Degrelles als „stattliche[n] jugendliche[n] Unruhestifter mit verschwommenen faschistischen Ideen an der Spitze einer Volksbewegung katholischen Ursprungs, die sich den Sturz der politischen Klasse Belgiens zum Ziel gesetzt hatte.“ Littell, Jonathan: Das Trockene und das Feuchte: Ein kurzer Einfall in faschistisches Gelände. Mit einem Nachwort von Klaus Theweleit. Berlin: Berlin- Verlag, 2009, S. 10, Hervorhebung BB. Die FAZ publizierte das Nachwort Theweleits, Verfasser der 1977/ 1978 unter dem Titel Männerphantasien berühmt gewordenen kulturkritischen Studie zu den deutschen Freikorps. Darin hatte er den Versuch unternommen, „den Faschismus, den Nationalsozialismus, nicht als Ausgeburt einer fürchterlichen ‚Ideologie’ zu beschreiben, sondern, ausgehend vom Mann-Frau- Verhältnis in der europäischen Geschichte, als eine gewalttätige Art und Weise, ‚die Realität’ herauszustellen: […] der faschistische Staat als Realitätsproduktion des Körpers des soldatischen Mannes.“ S. Theweleit, Klaus: „Der belgische Hitler-Sohn und der deutsche Überleib: Léon Degrelle, Führer der belgischen Rexisten, Soldat der Wehrmacht und der Waffen-SS, war ein faschistischer Mann par excellence: frauenfeindlich, aggressiv und körperlich gepanzert.“ In: FAZ, 25. 4. 2008, S. 40. <?page no="226"?> 226 physique“, „une certaine animalité“), der „Sex“bzw. „Rex-Appeal“ 172 (ebd.) dieses ersten faschistischen Idols, ihn, den passiv 173 Betrachtenden, in den Bann zieht. Degrelles rasantes 174 Temperament und seine Abenteuerlust machen ihn für Brasillach zur herausragenden Inkarnation dieser Zeit (NAG, S. 240). In seine Erinnerung haben sich dessen „mots magiques“ und oratorisches (Ver-)Führungstalent eingeschrieben. Sie rücken Degrelle in die Nähe der großen faschistischen „Poeten“ Mussolini, Hitler und Codreanu (NAG, S. 244). Was jene Führergeneration als Kriegsveteranen eine, trenne sie zugleich von Degrelle wie auch von dem Anführer der faschistischen Falange José Antonio Primo de Rivera 175 (1903-1936). Gerade darin liegen für den jungen Schriftsteller der Charme und die Überlegenheit dieser „freien“ „Nachgeborenen“ und der neuen Vorkriegsgeneration begründet: [J]e dois dire qu’un point particulier me séduit singulièrement dans ce mouvement et dans la personne de Léon Degrelle. Il ne me semble pas qu’on l’ait jamais mis en valeur, comme il convient. Parmi les animateurs d’hommes qui ont paru en Europe après la guerre, le dernier venu est aussi le plus jeune. Avec Mussolini, avec Hitler, avec Salazar, avec Kemal, avec 172 Bardèche zufolge habe Degrelles Mischung aus Lebenslust und Unerbittlichkeit Brasillach fasziniert: „Cette joie de vivre, ce bel animal humain, et aussi cette conscience brutale qui n’accepte pas de se courber et de se taire, voilà peut-être au fond ce que Brasillach a aimé le plus profondément en Degrelle, ce qu’il salue lorsqu’il admire ‚sa confiance de jeune barbare’.“ Bardèche, Maurice: Notice. In: Brasillach, Robert: Léon Degrelle et l’Avenir de „Rex“. In: Œuvres complètes, Bd. 5, 1964, S. 3. 173 In dieser Passage finden sich gehäuft Verben, die Brasillachs inaktive Zuschauerrolle unterstreichen: „Je me souviens d’avoir vu“, „Je le regarde“, „j’écoute“, „je contemplais“ (NAG, S. 239). Senarclens stellt die Hypothese auf, Brasillachs Haltung gegenüber allen faschistischen An- und Verführern sei „feminin“. Senarclens, Pierre de: Brasillach, le fascisme et l’Allemagne, S. 194f. 174 Die für den Faschismus typische aktivistische Dynamik findet Ausdruck in der hohen Geschwindigkeit, mit der Degrelle durch die Nacht fährt. S. NAG, S. 245. 175 Der Advokat José Antonio Primo de Rivera, Sohn des 1930 im Pariser Exil verstorbenen spanischen Diktators (1923 bis 1930) Miguel Primo de Rivera (1870-1930), gründete 1933 gemeinsam mit Freunden die sozialrevolutionäre, autoritäre und antiparlamentarische Falange Española, deren Ziel die nationale Einheit und die Lösung der sozialen Probleme Spaniens war; 1934 vereinte sie sich mit nationalsyndikalistischen Gruppierungen zur Falange Española de las Juntas de Ofensiva Nacional Sindicalista (J.O.N.S.). Nachdem die linke Volksfrontregierung im Februar 1936 die Wahlen gewonnen hatte, verbot sie die erstarkende Falange und verhaftete deren Anführer, unter ihnen José Antonio Primo de Rivera. Der „Abwesende“ („El Ausente“), der aus dem Gefängnis die Falange weiter anführte, wurde der Mitwirkung an der Militärrevolte gegen die Zweite Republik angeklagt, von einem Volkstribunal verurteilt und am 20. 11. 1936 erschossen. Vgl. die Dissertation von Meuser, Norman: Nation, Staat und Politik bei José Antonio Primo de Rivera. Universität Mainz 1993, S. 13ff., zum politischen Denken Primo de Riveras und seinem Verhältnis zum Faschismus und Nationalsozialismus s. S. 183ff. S. auch Sommermann, Karl-Peter: Staatsziele und Staatszielbestimmungen. Tübingen: Mohr Siebeck, 1997 (Jus publicum; 25), S. 154ff. <?page no="227"?> 227 Staline, on a vu monter au pouvoir la génération qui a fait la guerre ou qui, tout au moins, en a contemplé d’un œil d’homme les leçons directes. Léon Degrelle, puisque le fondateur de la Phalange espagnole, José Antonio Primo de Rivera, qui avait trente ans lui aussi, vient d’être fusillé, Léon Degrelle est le premier chef-né des chefs qui n’ont pas fait la guerre, qui étaient encore dans l’enfance lorsqu’elle éclata, et qui, s’ils ont décidé de ne pas en oublier les leçons, ne comprennent peut-être un peu plus tard de l’énorme importance que peut comporter un tel rapprochement: huit ans au roulement de tambour de 1914, douze ans aux cloches de l’armistice, ce n’est pas la même chose que vingt ans les tranchées. J’entends bien qu’une certaine expérience manquera aux générations nouvelles, mais qui sait si elles n’auront pas, en contrepoids, un certain don de liberté? 176 Die Rückschläge, die Degrelle ab 1938 erleidet, führt Brasillach auf die Angst der Wähler vor einem „fascisme dévorateur“ zurück und schließt mit dem Bedauern, Degrelle könne nur eine „décevante et brève aventure humaine“ gewesen sein (NAG, S. 306). 4.6.3 Spanien Lange vor Brasillachs Begegnung mit dem Deutschen Reich und dem Nationalsozialismus steht sein Interesse für Spanien, wohin er im Verlauf sowie kurz nach Ende des Spanischen Bürgerkriegs reist. 177 Die Neugier für dieses Land „qui jouerait un certain rôle, plus tard, dans notre vie à tous et notre amitié“ (NAG, S. 46), führt der Schriftsteller auf seine Begegnung mit dem zwanzigjährigen Katalanen Jaumet Miravitlles im Jahre 1926 zurück, der nach einem missglückten Attentat aus Spanien geflohen und dort in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war: „Condamné à mort à vingt ans, n’était-ce pas magnifique? “ (ebd.) lautet sein staunend-bewundernder Kommentar. Jaumets abenteuerliche Vergangenheit fesselt den jungen Brasillach und evoziert einen verführerischen „romantisme de la révolte et de la conspiration“ (NAG, S. 47). Dieses Treffen hat gleichsam initiatorischen Charakter, da es nicht nur Brasillachs Hispanophilie weckt; ab diesem Zeitpunkt üben Jugend, Revolte und Romantik eine unwiderstehliche Anziehung auf ihn aus. Zudem fühlt sich Brasillach mit Spanien als dem Land seiner Vorfahren verbunden: „L’Espagne, depuis toujours, était 176 Brasillach, Robert: Léon Degrelle et l’Avenir de „Rex“. In: Œuvres complètes, Bd. 5, 1964, S. 62, Kursivierung im Text, Hervorhebung BB. 177 Aus der gemeinsamen Spanien-Reise mit den Je suis partout-Kollegen Pierre Gaxotte, André Nicolas, Pierre-Antoine Cousteau und Maurice Bardèche im Juli 1938 (zur Beschreibung der Reiseroute s. NAG, S. 249f.; vgl. auch die Ankündigung auf dem Titelblatt der Je suis partout-Sonderausgabe vom 15. 7. 1938 mit der Überschrift: A la gloire de l’Espagne: Deux ans de guerre et de grandeur) geht die mit Bardèche verfasste Histoire de la guerre d’Espagne hervor, die im Juni 1939 erscheint. Die nächsten Reisen erfolgten im Mai 1939 (NAG, S. 310ff.) und im Juli 1939 (NAG, S. 324ff.). <?page no="228"?> 228 le pays de notre cœur, et six générations d’hommes, après tout, me séparent seulement de mes ancêtres espagnols.“ (NAG, S. 153). 178 Den Spanischen Bürgerkrieg 179 (18. Juli 1936 - 1. April 1939), in dessen Verlauf sich Anhänger der verfeindeten Ideologien Faschismus und Kommunismus blutige Kämpfe lieferten, vergleicht er mit einem Kreuzzug („combat spirituel“, „croisade véritable“, NAG S. 237) von supranationalem Ausmaß. Die exemplarische Bedeutung des Spanischen Bürgerkriegs als „[u]ne sorte de répétition générale. La nuée avant l’orage“ 180 bzw. einer Miniaturausgabe des sich anbahnenden Weltkrieges, akzentuiert er durch dreimalige Wiederholung des Attributs „propre“ sowie durch die Aufzählung von Repräsentanten aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten 178 So Brasillach in Erinnerung an seinen ersten Spanienurlaub im Jahr 1934. Footitt weist darauf hin, dass Brasillachs Mutter Katalanin war und Brasillach seine ersten literarischen Gehversuche während seiner Gymnasialzeit in Sens in der Zeitschrift Le coq catalan (ab 1924) machte. Footitt, Hilary Ann: „Robert Brasillach and the Spanish Civil War“. In: European Studies Review 6 (1976), S. 123-137, hier S. 124. 179 Der Militärputsch (17. 7. 1936) nationalistischer Offiziere unter General Francisco Franco (1892-1975) in Spanisch-Marokko gegen die linke republikanische Frente popular-Regierung in Spanien griff auf das spanische Mutterland über und weitete sich zum Bürgerkrieg aus. In ihrem Kampf gegen die Zweite Republik (1931-1936/ 39) wurden die Rebellen neben der faschistischen Falange von karlistischen Monarchisten und katholisch-rechtsrepublikanischen Konservativen unterstützt. Die Wahrnehmung des Krieges als Kampf zwischen Antifaschisten und Antikommunisten führte zu dessen Internationalisierung. Um u.a. den Faschismus in Europa zu stärken, unterstützten Hitler und Mussolini die nationalistisch-faschistischen Putschisten materiell und personell (u.a. mit der deutschen Luftwaffeneinheit Legion Condor, die am 26. 4. 1937 das baskische Guernica zerstörte) und verhalfen Franco zum Sieg (1. 4. 1939). Demgegenüber schwächte die von Frankreich und England resolvierte, jedoch inkonsequente Nichteinmischungspolitik und das verhängte Waffenembargo die Volksfront-Regierung entscheidend. Unterstützt wurden die Regierungstruppen durch Russland (Material und Militärberater) sowie durch die fünf Internationalen Brigaden mit ihren 35.000 Freiwilligen aus aller Welt. S. Sommer, Matthias: „Spanischer Bürgerkrieg“. In: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, S. 808; vgl. das Kapitel „Spanien 1918-1945“ in Parker, R. A. C.: Das Zwanzigste Jahrhundert I: Europa 1918-1945. Frankfurt a.M.: Fischer, 1967 (Fischer Weltgeschichte; 9), S. 194-215, insb. S. 206ff.; zum Spanischen Bürgerkrieg als „‚Krieg der Poeten’“ (Schieder, Wolfgang; Dipper, Christof: Einleitung. In: Dies. (Hgg.): Der Spanische Bürgerkrieg in der internationalen Politik (1936-1939): 13 Aufsätze. München: Nymphenburger Verlagshandlung, 1976 (Nymphenburger Texte zur Wissenschaft; 13), S. 7-49, hier S. 8), s. Kramer, Roswitha: Literatur im Dienst der Politik: das antifaschistische Engagement der französischen Schriftsteller im spanischen Bürgerkrieg. In: Kohut, Karl (Hg.): Literatur der Résistance und Kollaboration in Frankreich: Geschichte und Wirkung I (1930- 1939), S. 70-98, insb. S. 71f. 180 Laval, Michel: Brasillach ou la trahison du clerc, S. 66. Häufig wird der Spanische Bürgerkrieg als „erste[s] Stadium des Zweiten Weltkriegs“ bezeichnet, der „ein Krieg der Ideologien gewesen sei und daß diese Ideologien zuerst in Spanien Macht erlangt hätten“. S. Parker, R. A. C.: Das Zwanzigste Jahrhundert I, S. 215. <?page no="229"?> 229 ganz Europas, die als überzeugte Faschisten oder Antifaschisten Anteil am Kriegsverlauf nahmen: Par toute la planète, des hommes ressentaient comme leur propre guerre, comme leurs propres victoires et leurs propres défaites, le siège de Tolède, le siège d’Oviedo, la bataille de Téruel, Guadalajara, Madrid et Valence. Le coolie chinois, le manœuvre de Belleville, le voyou perdu dans les brouillards de Londres, le chercheur d’or pauvre et déçu, le maître des pâturages hongrois ou argentins, pouvaient tressaillir d’angoisse ou de plaisir devant quelque nom mal orthographié, dans quelque journal inconnu. (ebd.) Der spanische „Bruderkrieg[]“ faszinierte und spaltete das französische Nachbarland, „[d]enn einer Vielzahl von ideologischen, politischen und sozialen Problemen, die sich im spanischen Bürgerkrieg manifestierten, wurde in Frankreich paradigmatische Bedeutung auch für die Entwicklung im eigenen Land zugemessen.“ 181 So tituliert der profranquistische 182 Brasillach Georges Bernanos 183 (1888-1948) wegen dessen Parteinahme für das republikanische Spanien despektierlich als „vieux lion intoxiqué“ und 181 Kramer, Roswitha: Literatur im Dienst der Politik, S. 74. 182 Weitere Profranquisten unter den französischen Autoren waren u.a. Paul Claudel, Charles Maurras, Maurice Bardèche, Henri Massis und Drieu la Rochelle. Georges Bernanos und François Mauriac, die anfänglich die spanischen Nationalisten unterstützt hatten, wechselten angesichts der franquistischen Kriegsverbrechen die Seiten. Ebd.: S. 75f. 183 Der für sein Journal d’un curé de campagne (1936) mit dem Grand Prix du Roman de l’Académie française ausgezeichnete katholische Schriftsteller aus lothringischer Familie Georges Bernanos begeisterte sich in seiner Jugend für die Action française und zählte zu ihrer militanten Kerntruppe, den Camelots du Roi. Mit Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs trat Bernanos, der seit 1934 auf den Balearen und ab Sommer 1938 (bis 1945) in Südamerika lebte, als Polemist in Erscheinung: Während Bernanos zunächst dem Aufstand der Generäle positiv gegenüberstand, brandmarkte er in Les grands cimetières sous la lune (1938) die im Namen der Kirche begangenen franquistischen Verbrechen; hellsichtig warnte er darin auch vor dem Nationalsozialismus und richtete sich in einem imaginierten Dialog an Hitler: „‚Cher Monsieur Hitler […], l’espèce d’héroïsme que vous forgez dans vos forges est de bon acier, nous ne le nions pas. Mais c’est un héroïsme sans honneur parce qu’il est sans justice.’“ (Zit. in Jurt, Joseph: Bernanos, l’Allemagne et le nazisme. In: Bock, Hans Manfred; Meyer- Kalkus, Reinhart; Trebitsch, Michel (Hgg.): Entre Locarno et Vichy: les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930, Bd. 2, S. 701-714, hier S. 709). Der Abschluss des Münchner Abkommens führte zum endgültigen Bruch mit Maurras. Von Brasilien aus wandte sich der erbitterte Gegner des Waffenstillstands in seinen Artikeln gegen den Faschismus. Allg. vgl. Valette, Bernard: „Georges Bernanos“. In: Beaumarchais, Jean-Pierre de; Conty, Daniel; Rey, Alain (Hgg.): Dictionnaire des écrivains de langue française, Bd. 1, 2001, S. 190-198; weiterführend s. Jurt, Joseph: Bernanos: Exil et engagement 1940-1945. In: Milner, Max (Hg.): Exil, errance et marginalité dans l’œuvre de Georges Bernanos. Paris: Presses Sorbonne Nouvelle, 2004, S. 41-56. Vgl. auch das Kapitel „Die großen Friedhöfe unter dem Mond“ in Winock, Michel: Das Jahrhundert der Intellektuellen, S. 375-385. <?page no="230"?> 230 zählt ihn zu den „catholiques égarés“ 184 (NAG, S. 247). Er selbst verfolgt mit Begeisterung die als schön qualifizierten Kriegsereignisse: Im Zentrum steht der von der Weltöffentlichkeit leidenschaftlich mitverfolgte Kampf um die von republikanischen Truppen belagerte Toledaner Festung Alcazar 185 (NAG, S. 248), deren Ruinen Brasillach im Juli 1938 besichtigt (NAG, S. 254ff.), und der mythisch überhöhte Sieg des franquistischen Spaniens. Die mit dem Krieg im Namen der nationalen Revolution einhergehenden sozialpolitischen Veränderungen (NAG, S. 251f.), wie den Auxilio Social, empfindet Brasillach als beispielhaft. Sie haben Spanien einen inneren Frieden beschert, weshalb er trotz der Omnipräsenz des tödlichen Krieges aufgrund seiner positiven Zielsetzung bilanziert: „[L]a guerre est toujours là, présente, la guerre unie à la Révolution nécessaire.“ (NAG, S. 252). Die Vereinigung karlistischer Monarchisten und faschistischer Falangisten 186 durch Franco erscheint ihm der ideale Weg: 184 Vgl. auch die Charakterisierung Bernanos’, „qui devait ensuite s’enfoncer dans un univers obscur et fuligineux, où se perdrait cet anarchiste chrétien.“ (NAG, S. 123). 185 In Les cadets de l’Alcazar (Oktober 1936) schildern Massis und Brasillach den „heldenhaften“ Widerstand der Kadetten der Militärakademie von Alcazar unter Anführung des Militärkommandanten Oberst José Moscardó Ituarte gegen die republikanischen Truppen im August und September 1936 (vgl. NAG, S. 253ff.). Von zentraler Bedeutung ist Moscardo, der sich trotz Drohung der „Roten“, seinen Sohn umzubringen, nicht zur Aufgabe zwingen ließ, woraufhin sein Sohn erschossen wurde. Den furchtlosen Kampf der Kadetten, denen nach über zweimonatiger Belagerung Francos Truppen zu Hilfe eilten, die Toledo befreiten, deklarieren die Verfasser als Sieg des katholischen Westens über den „Bolschewismus“ und glorifizieren die Kadetten als faschistisches Pendant der Kronstädter Matrosen, die 1921 gegen die „bolschewistische“ Herrschaft rebelliert hatten. Brasillach, Robert; Massis, Henri: Les cadets de l’Alcazar. Paris: Plon, 1936. In: The view from the right: support for the nationalist I. Nedeln: Kraus Reprint, 1975 (Seeds of conflict. Series 3. The spanish civil war, 1936- 1939), S. 1-92, hier S. 92. 1939 erschien die überarbeitete Neuauflage unter dem veränderten Titel Le siège de l’Alcazar. Die Modifizierung begründen Brasillach und Massis mit dem Argument, die Kadetten der Militärschule seien während des heroischen Widerstands in Urlaub gewesen. Diese Edition ist mit einem Vorwort Moscardos versehen, der den beiden Autoren dankt für ihre Anteilnahme am spanischen Kreuzzug gegen den schlimmsten Feind der gesamten Zivilisation überhaupt, Moskau. Brasillach, Robert; Massis, Henri: Le Siège de l’Alcazar. In: Œuvres complètes, Bd. 5, 1964, S. 65-124. Zur faschistischen Mythisierung in Les cadets de l’Alcazar s. Soucy, Richard: Brasillach and Drieu on the Spanish Civil War and Fascism. In: Costa, Luis; Critchfield, Richard (Hgg.): German and international perspectives on the spanish civil war: the aesthetics of partisanship. Columbia: Camden-House, 1992, S. 310- 321, insb. S. 313. Allg. zum Mythos Alcazars s. Pichler, Georg: Der Alcázar von Toledo - die Schaffung eines Mythos: Franquistische Ursprünge und Adaptationen im nationalsozialistischen Deutschland (1937-1941). In: Bannasch, Bettina; Holm, Christiane (Hgg.): Erinnern und Erzählen: Der Spanische Bürgerkrieg in der deutschen und spanischen Literatur und in den Bildmedien. Tübingen: Narr, 2005, S. 161-176. 186 Im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte die Falange unter Führung Francisco Francos, der Primo de Rivera als Helden instrumentalisierte und zum Märtyrer verklärte. Im <?page no="231"?> 231 Le double idéal de la ‚Sainte Tradition’, comme chantent les carlistes, et de ‚l’aube’ nouvelle, du ‚printemps’ qui vient rire sur l’Espagne, comme chante la Phalange, il est visible à chaque pas que nous faisons sur cette terre admirable de l’exaltation et de la foi. Nous le retrouvons dans les inscriptions des murailles, dans les portraits qui ornent les rues - José Antonio, Franco - dans toutes les mesures prises par le chef. (NAG, S. 263) 187 Wenn Brasillach bekennt, kein anderes Volk bewege ihn so sehr wie das spanische, so ist dieser unbedingten, indes generalisierenden Äußerung doch insbesondere seine Sympathie für die Falangisten zu entnehmen, die in seinen Augen beispielhaft unter Einsatz ihres Lebens („les jeunes gens des Phalanges se sont fait tuer“, ebd.) 188 am Aufbau des Faschismus arbeiten. Für ihn selbst und seine faschistischen Gesinnungsgenossen symbolisiert Spanien die Hoffnung auf eine nationale Erneuerung 189 , auch in Frankreich: [I]l me faut bien dire qu’aucun peuple ne pourra sans doute jamais me toucher aussi profondément que ce peuple. Certes, il y a encore beaucoup à faire. Mais lorsque seront revenus Au pas allègre de la paix, les drapeaux victorieux que célèbre la chanson 190 de José Antonio, la tâche sera déjà commencée, qui n’est pas seulement une tâche guerrière, mais une œuvre April 1937 dekretierte Franco die Vereinigung der Falange mit den Karlisten zum Movimiento Nacional de la Falange Española Tradicionalista y de la J.O.N.S., das er zur ausschließlichen Staatspartei erklärte. S. Sommermann, Karl-Peter: Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 155. 187 In diesem Zusammenhang verweist Footitt auf Brasillachs limitiertes Verständnis der Philosophie und Ideologie von Karlisten und Falangisten: „If indeed Brasillach linked the Carlists and the Falange it was because they shared in his eyes that element of the Civil War which he considered of primary importance - not a doctrine so much as a certain style of life“. Auch hier waren es „[y]outh, joy and a type of communityfeeling committed to a faith [that] made the Falange and the Carlists equally attractive to him: ‚Ils sont jeunes, ils sont candides, la guerre les amuse, ils croient qu’ils vont prendre Madrid.’“ Footitt, Hilary Ann: „Robert Brasillach and the Spanish Civil War“, S. 133, Hervorhebung BB. Das angeführte Zitat findet sich in der Histoire de la guerre d’Espagne. S. HGE, S. 227. 188 Vgl. hierzu Punkt 26 Revolución nacional der Norma Programática de la Falange von November 1934, wo es heißt: „La vida es milicia y ha de vivirse con espíritu acendrado de servicio y de sacrificio.“ Cisneros, Agustín Del Río; Conde Gargollo, Enrique (Hgg.): Obras completas de José Antonio Primo de Rivera. Madrid, „Diana“, Artes Gráficas, 1942, S. 465-472, hier S. 472, Hervorhebung BB. Diese „charte de l’Etat nouveau“ führen Brasillach und Bardèche in französischer Übersetzung in ihrer Histoire de la guerre d’Espagne an. S. HGE, S. 349-351. 189 Vgl. auch Punkt 25: „Nuestro Movimiento incorpora el sentido católico [...] a la reconstrucción nacional.“ In: Ebd.: S. 471, Hervorhebung BB. 190 Brasillachs Begeisterung für die Falange und ihren ermordeten Anführer ist auch seinen leitmotivisch wiederkehrenden Verweisen auf deren kämpferische Hymne Cara al Sol zu entnehmen, in der das Emblem der Falange, das von einem Joch zusammengehaltene Pfeilbündel, als „Rosenbund“ besungen wird. Vgl. den vollständigen <?page no="232"?> 232 de construction. Les hommes de notre temps auront trouvé en Espagne le lieu de toutes les audaces, de toutes les grandeurs, et de toutes les espérances. (ebd., Typografie und Kursivierung gemäß Textvorlage) 191 Als Brasillach im Sommer 1939 kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nach Spanien zurückkehrt, stimmt er neuerlich, in gedoppelten Superlativen, eine Lobeshymne auf Spanien an: „A travers les chemins, sous le ciel superbe, nous avons vu renaître et vivre une des terres les plus exaltantes et les plus belles qui aient jamais été.“ (NAG, S. 336). Zugleich ist diese Urlaubsreise gleichbedeutend mit dem Ende des avant-guerre. Während sich Brasillach daran erinnert, wie er und seine Freunde damals voll jugendlicher Ausgelassenheit auf ihrer Fahrt durch das schöne und nunmehr „friedliche“ Spanien die Hymne der Falange Cara al Sol gesungen haben (NAG, S. 338), so wird die Hispanophilie in den Jahren der deutschen Besatzung Frankreichs einer neu erwachten Germanophilie weichen, deren Loblied er nicht weniger enthusiastisch anstimmt. 4.6.4 NS-Deutschland: Hundert Stunden bei Hitler Brasillachs Bericht über den Nürnberger Reichsparteitag erscheint am 1. Oktober 1937 in der Revue universelle. 192 Entsprechend der für den Journalisten augenfälligsten Eigenschaften des Nationalsozialismus untergliedert sich der Cent heures chez Hitler überschriebene Artikel in die Abschnitte „Les cérémonies“, „La Jeunesse“, „Doutes et nuances“, „Hitler“ und „Une religion nouvelle“. In überarbeiteter Form integriert der Autor diesen Beitrag sowohl in Les Sept Couleurs (verfasst zwischen Mai 1938 und April 1939, erschienen im Oktober 1939 bei Plon) als auch, erneut partiell revidiert, in Notre avant-guerre im Kapitel Ce mal du siècle, le fascisme (NAG, S. 264-278). Die deutschfreundlichen Modifikationen, nämlich die Zurücknahme des ironischen Tons, die Abschwächung der Kritik am NS-Regime und an Hitler, erklärt Bardèche mit der Eröffnung der Westoffensive, dem „coup de tonnere du 10 mai [qui] change tout.“ 193 Zugleich betont er, man Liedtext in Histoire de la guerre d’Espagne (HGE, S. 225) sowie in Auszügen in „L’Absent“ (JSP, 4. 12. 1942, S. 1). 191 Interessant ist die Modifizierung des Tempus dieser bereits in der Histoire de la guerre d’Espagne erwähnten Passage von der Vergangenheit - „Aujourd’hui que sont revenus“; „la tâche est déjà commencée, qui n’était pas seulement“ (HGE, S. 581, Hervorhebung BB) - zum Präsens und Futur II in Notre avant-guerre, was Ausdruck des zuversichtlichen Hoffens des Autors ist. 192 Vgl. Brasillach, Robert: „Cent heures chez Hitler“. In: La Revue Universelle 71, 1. 10. 1937, S. 55-74, folgend abgekürzt mit CH. 193 Bardèche, Maurice: Notice. In: Brasillach, Robert: Notre avant-guerre. In: Œuvres complètes, Bd. 6, 1964, S. 10, Kursivierung im Text. Vgl. Ders.: Variantes du chapitre „Ce mal du siècle, le fascisme“ de „Notre avant-guerre“. In: Ebd.: S. 607-615. Griffiths hinterfragt das Ausmaß der der deutschen Zensur geschuldeten Veränderungen in Notre avant-guerre: „Est-ce seulement une question de la censure, cependant? On se le <?page no="233"?> 233 könne aus diesen Abwandlungen nicht auf eine Weiterentwicklung im Sinne einer Intensivierung von Brasillachs Faschismus schließen: „[J]e ne crois pas qu’on doive chercher une évolution du ‚fascisme’ de Brasillach dans les variantes qu’on peut relever entre ces deux états du même texte, puisque la rédaction de 1937 a paru bonne à l’auteur jusqu’au 10 mai 1940.“ 194 Diese Begründung will nur teilweise überzeugen, waren doch bereits in Les Sept Couleurs die „paragraphes les plus désobligeants à l’égard des nazis“ verschwunden. 195 Folgt man Bardèches Argumentation, so dokumentieren die Etappen der Textgenese aber gerade die Kontinuität des Brasillach’schen faschistischen Denkens zwischen 1937 bis 1941, denn „[d]as politische Bekenntnis von 1937 bleibt als ideologisches Kernstück im Text von 1941: Es war nicht zu erschüttern und durch nichts in Frage zu stellen; sein noch in deutscher Kriegsgefangenschaft erteiltes ‚Gut zum Druck’ belegt es mit letzter Deutlichkeit! “ 196 4.6.4.1 Der Nationalsozialismus Mit den Worten, dass es sich beim Nationalismus, der in Deutschland Siegeszug halte, im Vergleich zum spanischen um einen „nationalisme d’une essence assez différente“ (NAG, S. 264) handle, beginnt Brasillach den Bericht über seine Deutschlandreise und Teilnahme am Nürnberger Reichsdemande. Il y a, parmi ces changements, des ajouts qui ne seraient pas dûs à une censure négative, et qui sembleraient être significatifs d’un changement d’attitude chez l’auteur. Il est tout à fait possible que, sous l’Occupation, les idées de Brasillach à l’égard de l’Allemagne aient évolué. Cela se voit obscurément, aussi, dans les articles contemporains dans Je suis partout.“ Griffiths, R.: Brasillach et la révolution fasciste, S. 206, Hervorhebung BB, zu den unterschiedlichen Darstellungen NS-Deutschlands in Les Sept Couleurs und Notre avant guerre s. insb. 207ff. 194 Bardèche, Maurice: Notice. In: Brasillach, Robert: Notre avant-guerre. In: Œuvres complètes, Bd. 6, 1964, S. 11. Zwei diametral entgegengesetzte Positionen stehen hinter den Interpretationsansätzen von Zimmermann und Tame: Während Zimmermann die schwerwiegende Bedeutung der nach Beginn der Westoffensive vorgenommenen Korrekturen hinsichtlich Brasillachs politischer Verantwortung unterstreicht (Zimmermann, Margarete: „‚La nouvelle Allemagne’: NS-Deutschland in Robert Brasillachs Erinnerungsbuch Notre Avant-Guerre (1941)“, S. 20), stellt Tame Brasillachs kritische Sicht auf den Nationalsozialismus in Cent heures chez Hitler im Vergleich zu Notre avant-guerre heraus. Tame, Peter D.: La mystique du fascisme dans l’œuvre de Robert Brasillach, S. 227ff. 195 Rasson, Luc: Littérature et fascisme, S. 17. Rasson wiederum betont, wie schwierig es angesichts der Texteingriffe vonseiten Bardèches und des Verlages Plon ist, aus den Unterschieden der Deutschland-Passage in Ce mal du siècle, le fascisme im Vergleich zu Cent heures chez Hitler und Les Sept Couleurs aussagekräftige Rückschlüsse auf Brasillachs politische Haltung zu ziehen; andererseits merkt er an, der Autor habe sich selbst nie von dieser Version seiner Berichts distanziert. Ebd.: S. 150. 196 S. Hofer, Hermann: Die faschistoide Literatur, S. 128, Hervorhebung BB. Vgl. auch Ders.: Les tentations allemandes et l’esthétique fasciste dans les „Mémoires“ de Brasillach à Rebatet, S. 44. <?page no="234"?> 234 parteitag im September 1937. Bezeichnend ist seine Wortwahl, wenn er schreibt, er und seine Begleiter hätten das neue Deutschland „de tous nos yeux“ (ebd.) betrachtet. Nicht primär Erkenntnisse gewinnt der Reisende, sondern vielfältige Eindrücke in Gestalt von „des impressions vives, variées, contradictoires même“ und „des images“ schreiben sich dem Besucher des „pays étrange“ (NAG, S. 265) ins Gedächtnis ein, die „angesichts eines überalterten und dekadenten Frankreichs Initialzündung und Basis seiner Äußerungen über Faschismus und Nationalsozialismus“ 197 bilden. Unter Rekurs auf traditionelle Kollektivsymbole 198 schwärmt Brasillach von den pittoresken, in lieblicher Landschaft eingebetteten bayerischen Städtchen, die das romantische Deutschlandbild Madame de Staëls wachrufen (NAG, S. 265f.). Gleichzeitig frappiert ihn der Kontrast mit den dort inszenierten „fêtes énormes“ (NAG, S. 265), deren Fahnenmeer das mittelalterliche Dekor Bambergs und Nürnbergs überschwemmt. Diese symbiotische Verschmelzung des Alten mit dem Neuen beeindruckt ihn nachhaltig: „[C]’est l’ancienne Allemagne du Saint-Empire qui se marie avec le III e Reich.“ (ebd.). Auffallend ist das religiöse Vokabular, das der Romancier zu Beschreibung seiner Impressionen von der „semaine sainte du Reichsparteitag“ (NAG, S. 266, Kursivierung im Text) wählt: Der ins Sakrale 199 überhöhte Nationalsozialismus ist der „nouveau culte“, dessen „rites sacrés“ das neue Deutschland zelebriert (ebd.) und in dessen Zentrum „l’office hitlérien“ steht (NAG, S. 267). Auf Hitlers Schultern ruht diese neue Religion (NAG, S. 274). Das Arbeitskorps präsentiert sich zur „messe du travail“ (NAG, S. 268). Der „Licht-dom [sic], la cathédrale de lumière“ weist auf die Kultstätte, „le lieu sacré du mystère national“ hin (NAG, S. 269, Kursivierung im Text). Die Atmosphäre während der Fahnenparade beschreibt er als magisch und übernatürlich. Die außergewöhnliche Stille verdichtet sich zu [u]n silence surnaturel et minéral, comme celui d’un spectacle pour astronomes, dans une autre planète. Sous la voûte rayée de bleu jusqu’aux nuages, les larges coulées rouges sont maintenant apaisées. Je ne crois pas avoir vu de ma vie spectacle plus prodigieux. (ebd.) Durch „die Stilisierung des Politischen ins Sakral-Magische“ wird das Politische irrationalisiert und der literarische Text somit zu einem subtilen 197 Zur Interpretation von Brasillachs Berichterstattung über den Nürnberger Reichsparteitag unter imagologischer Fragestellung vgl. Heddrich, Gesine: Robert Brasillach - Brandstifter oder Brandopfer? , S. 120. 198 Ausf. hierzu s. Dies.: Deutschland und Frankreich als Hetero- und Auto-Image, S. 93f. Vgl. auch die Kritik am „bric-à-brac pseudoromantique“ des „touriste[] professionnel[] du fascisme“ durch Hofer, Hermann: Les tentations allemandes et l’esthétique fasciste dans les „Mémoires“ de Brasillach à Rebatet, S. 44f. 199 Vgl. auch Zimmermann, Margarete: „‚La nouvelle Allemagne’: NS-Deutschland in Robert Brasillachs Erinnerungsbuch Notre Avant-Guerre (1941)“, S. 17. <?page no="235"?> 235 Instrument politischer Propaganda. 200 Trotz seiner Begeisterung für das neue Deutschland ist dieses „pays surprenant“ nichtsdestoweniger ein fremdes Land, was er superlativisch mit „qui me semblait plus loin que le plus lointain Orient“ (NAG, S. 270) zum Ausdruck bringt. 201 Der Nationalsozialismus sei eine Bewegung der bzw. für die Jugend 202 (ebd.), die der Kameradschaftsgeist zusammenschweiße, was Brasillach als „la force la plus redoutable de l’Allemagne“ ausmacht (NAG, S. 272). Ebenso empfindet er den Gesang 203 als konstitutives Kennzeichen des Dritten Reiches, denn „la gravité, la virilité, le dur et puissant amour de la patrie, le dévouement total, tout cela exprimé dans cette langue des sons et du chœur qui est la vraie langue maternelle de l’Allemand.“ (NAG, S. 271). Nach dem offiziellen Abendessen mit dem Reichsführer der SS Heinrich Himmler (1900-1945) und Reichspropagandaminister Joseph Goebbels (NAG, S. 272f.) gerät Brasillach ins Grübeln: Wenngleich Frankreich NS- Deutschland nicht nachahmen müsse - er räumt sogar ein, es gebe Dinge „que nous avons le droit de ne pas aimer“ (NAG, S. 273) -, so bedauert er offensichtlich und nur vermeintlich rhetorisch fragend, dass es Frankreich und seiner Jugend an großen Gefühlen fehle, wofür er die Demokratie verantwortlich macht (ebd.). Zugleich legitimiert er seine Kritik, indem er betont, nicht zu den naiven 204 französischen Deutschlandreisenden zu zählen, die der Hitlerismus in seinen Bann gezogen habe; vielmehr seien seine Gefühle „à l’égard du phénomène d’outre Rhin“ vielschichtig, woraus er schlussfolgert: „[C]’est que justement il y a beaucoup à dire.“ (NAG, S. 274). 4.6.4.2 Hitler, der „Poet“ [P]oète allemand, cet Hitler qui invente des nuits de Walpurgis et des fêtes de mai, qui mêle dans ses chansons le romantisme cyclopéen et le romantisme du myosotis, la forêt, le Venusberg, les jeunes filles aux myrtilles fiancées à un lieutenant des sections d’assaut, les camarades tombés à Munich devant la Felderenhalle [sic] […]. (NAG, S. 244) 200 Dies.: NS-Deutschland als politische Antithese, S. 133. 201 In seiner Schilderung von 1937 überraschte NS-Deutschland Brasillach nicht nur, sondern verärgerte und schockierte ihn; gestrichen wurde die Bemerkung, dass man sich vor den nationalsozialistischen Inszenierungen in Acht nehmen müsse. S. CH, S. 60f. 202 Im Unterschied zu Châteaubriant spricht Brasillach ausschließlich von der männlichen Jugend. 203 Vgl. das siebenmalige Rekurrieren auf das Wortfeld „chant“ auf den Seiten 269-271 in NAG. 204 Brasillach spielt hiermit mit großer Wahrscheinlichkeit auf Alphonse de Châteaubriant an, dessen Hitler-Eloge er scharf kritisiert hatte („une naïveté incommensurable“, „une naïveté proprement scandaleuse“). S. Brasillach, Robert: „Causerie littéraire: Alphonse de Châteaubriant La Gerbe des Forces (Grasset)/ H. de Montherlant Le Démon du Bien (Grasset)“. In: L’Action française, 8. 7. 1937, S. 3. <?page no="236"?> 236 Die charismatische Wirkung, welche der Nationalsozialismus auf Brasillach ausübt, hängt wesentlich mit der kultischen Verehrung und Mystifizierung des Führers durch das NS-Regime zusammen. Hitler 205 hinterlässt bei dem französischen Besucher vielschichtige Eindrücke (NAG, S. 274), die diesem eindeutige Schlussfolgerungen erschweren. Im Unterschied zu der von Goebbels gelobten „Wunderleistung oratorischer Rhetorik“ im Wahlkampf von 1933 206 wirke Hitler jetzt ruhiger, jedoch überrasche Ausländer die Hitler-Euphorie der Deutschen, wie er einschränkend hinzufügt (ebd.). Angesichts Brasillachs bisheriger Zurückhaltung dem „maître de soixante-dix millions d’hommes“ (NAG, S. 275) gegenüber, erstaunt sein detailliert-einfühlsames 207 Porträt, das er von Hitler zeichnet, nachdem er diesen persönlich kennengelernt hat. Offensichtlich verblüfft Hitler den französischen Gast: Er wirkt auf Brasillach müde, traurig, sein Blick abwesend. Am ansonsten blässlichen Führer beeindrucken ihn die tiefblauen, traurig-rätselhaften Augen 208 (NAG, S. 276), womit Brasillach, wie bereits 205 Zu Brasillachs Hitler-Porträt und zur Entwicklung des Romanciers vom faschistoiden zum faschistischen Autor vgl. die prägnante Darstellung bei Hofer, Hermann: Die faschistoide Literatur, S. 126-130. 206 Mit diesen Worten kommentierte Goebbels Hitlers „weitaus beste“ Wahlkampf-Rede in Hamburg, woraufhin „[d]ie Massen rasen.“ Vgl. den Eintrag vom 4. 3. 1933 in Goebbels, Joseph: Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei: Eine historische Darstellung in Tagebuchblättern (vom 1. Januar 1932 bis zum 1. Mai 1933). München: Zentralverlag der NSDAP, 1942, S. 273f. 207 Dem Eindruck, Brasillach habe seine kritische Haltung gegenüber Hitler revidiert, versucht Pellissier in seiner Untersuchung mit dem bezeichnenden Titel Brasillach... Le Maudit (1989), die 1990 mit dem Prix Robert Brasillach prämiert wurde (s. CARB 36 (1991), S. 72), entgegenzutreten. Zu diesem Zweck zitiert er aus einem Brief Brasillachs an José Lupin aus dem Jahr 1933, in welchem der Autor das Massaker der Nazis an den Juden abgelehnt und er sich über die Inszenierung der Hitler’schen Auftritte als Messen belustigt habe. Zudem verweist er auf die explizite Warnung vor dem deutschen Diktator in Bainvilles Les dictateurs (1935): Bei diesem Kapitel handle es sich unverkennbar um einen Brasillach’schen Text, den dieser für seinen Auftraggeber verfasst habe, der wiederum kaum Veränderungen an der Vorlage vorgenommen habe. Darin wird Mein Kampf als „singulièrement pauvre et singulièrement primaire“ voller „puérilités ridicules“ kritisiert, Hitler gleiche einem Hampelmann, sei aber der gefährlichste Feind Frankreichs (Bainville, Jacques: Les dictateurs. Paris: Les Éditions Denoël et Steele, 1935, S. 278, 292f.). Pellissier, Pierre: Brasillach... Le Maudit. Paris: Denoël, 1989, S. 116f. und 168f. 208 Green vergleicht Brasillachs Fokussierung auf Hitlers traurige Augen mit der für Stummfilme charakteristischen Großaufnahme und zieht eine Parallele zwischen Brasillachs filmischer Beschreibung NS-Deutschlands und Leni Riefenstahls (1902- 2003) Parteitagsfilm Triumph des Willens (1935). Diesen Film, den die beiden Verfasser in ihrer Histoire du cinéma (1935) „monotone et parfois magnifique“ nennen (s. Brasillach, Robert; Bardèche, Maurice: Histoire du cinéma. In: Œuvres complètes, Bd. 10, 1965, S. 11-433, hier S. 397), hatte Brasillach mit großer Wahrscheinlichkeit vor seiner Teilnahme am Nürnberger Reichsparteitag 1937 gesehen, weshalb Green eine Beeinflussung des Besuchers durch Riefenstahl vermutet: „His journalistic account of the 1937 Nuremberg congress presents a succession of visual images similar to those in <?page no="237"?> 237 Châteaubriant vor ihm, einen Topos der Hitler-Panegyrik aktiviert. 209 Dies bringt er in einem salbungsvollen Stil 210 , den eine Redundanz an Epitheta ornantia und Suggestivfragen kennzeichnen, zum Ausdruck. In und durch diesen „Augen-Blick“ 211 fühlt Brasillach mit Hitler, auf dessen Schultern die Verantwortung für Deutschland laste: Pourtant, il faut regarder ses yeux. Dans ce visage, eux seuls comptent. Ce sont des yeux d’un autre monde, des yeux étranges, d’un bleu profond et noir où l’on distingue à peine la prunelle. Comment deviner ce qui se passe en eux? Qu’y at-il d’autre qu’un rêve prodigieux, un amour sans limites pour le Deutschland, la terre allemande, celle qui est réelle et celle qui est à construire encore? Qu’avons-nous de commun avec ces yeux? Et surtout, la première impression, la plus étonnante, subsiste: ces yeux sont graves. Une angoisse presque insurmontable, une anxiété inouïe y demeurent. Nous y devinons en un éclair, les difficultés présentes, la guerre possible, la crise économique, la crise religieuse, tous les soucis du chef responsable. Nous sentons fortement, physiquement, quelle épreuve terrible c’est de conduire une nation, et de conduire l’Allemagne vers son destin dévorant. (NAG, S. 275, Kursivierung im Text) Im nächsten Atemzug vergleicht er den von seinem Volk vergötterten Mann mit dem in die Ferne schweifenden Blick, der nichts mehr mit dem mediokren „triste fonctionnaire végétarien, sans rayonnement“ (CH, S. 71) von 1937 gemeinsam hat, mit einem Todesengel, der vom Himmel hinabgestiegen sei und seine ältesten Gefährten am 30. Juni 1934 „par devoir“ getötet habe (NAG, S. 275). „[I]n nicht zu überbietender Geschichtsverdrehung, die mit einer Apologie des politischen Mordes einhergeht“ 212 , legitithe film, from the picturesque view of ancient German architecture to the sea of undulating Nazi banners. Even Hitler himself is not analyzed as a political leader or the exponent of an ideology; Brasillach focuses his description on Hitler’s eyes, whose mysterious sadness is reminiscent of an expressive close-up from the silent films Brasillach knew so well. In his memoirs, Brasillach describes Hitler, like his favorite filmmakers, as ‚a poet,’ and this indeed seems to have been the place occupied by Hitler in Brasillach’s system of thought.” Green, Mary Jean: Fascists on Film: The Brasillach and Bardèche Histoire du cinèma [sic]. In: Golsan, Richard J. (Hg.): Fascism, Aesthetics, and Culture, S. 164-178, hier S. 166f. 209 Vgl. hierzu die Ausführungen zur Physiognomik in Kp. 3.5. 210 Zu dem Brasillachs nationalsozialistisches Deutschland-Image auszeichnenden bildträchtigen „‚style imaginé’“ s. Heddrich, Gesine: Deutschland und Frankreich als Hetero- und Autoimage, S. 167. 211 Clamor, Annette: Dekadenz als Kampfbegriff, S. 98, Kursivierung im Text. In diesem Kontext macht Clamor auf die „profanierende Instrumentalisierung des ursprünglich christlich geprägten Motivs vom Mit-Leiden, der Sym-Pathie“ aufmerksam. Zudem weist sie auf die fast identischen Formulierungen im „Augen-Zeugen-Bericht“ der beiden Hitler-Gäste Brasillach und Cousteau hin. Hierzu s. S. 97, dort auch Fn. 35, Kursivierung im Text. 212 Zimmermann, Margarete: „‚La nouvelle Allemagne’: NS-Deutschland in Robert Brasillachs Erinnerungsbuch Notre Avant-Guerre (1941)“, S. 17. <?page no="238"?> 238 miert er den nicht explizit genannten „Röhm-Putsch“ 213 und glorifiziert dessen Vollstrecker: Hitler habe einem mysteriösem Befehl („devoir“, „commandait“, „est appelé“) Folge geleistet, für den er zu höchsten Opfern bereit gewesen sei und sein wird, wie es das vollendete, perfektive „a sacrifié“ und zukunftsbezogene „sacrifierait“ zum Ausdruck bringt (NAG, S. 276). Nicht rational nachvollziehbare politische Argumente machen Hitler zu einem außergewöhnlichen Staatsmann, sondern seine göttliche Berufung 214 : Car cet homme a sacrifié à ce qu’il jugeait son devoir, et sa paix personnelle, et l’amitié, et il sacrifierait tout, le bonheur humain, le sien et celui de son peuple par-dessus le marché, si le mystérieux devoir auquel il obéit le lui commandait. On ne juge pas Hitler comme un chef d’État ordinaire. Il est aussi un réformateur, il est appelé à une mission qu’il croit divine, et ses yeux nous disent qu’il en supporte le poids terrible. (ebd.) Besonders in Zusammenhang mit der showtechnisch inszenierten Fahnenweihe, in der er das nationalsozialistische Äquivalent der Eucharistie sieht, betont Brasillach die religiöse Dimension als konstitutives Element des Hitlerismus: „Qui ne voit pas dans la consécration des drapeaux l’analogue de la consécration du pain, une sorte de sacrement allemand, risque fort de ne rien comprendre à l’hitlérisme.“ (NAG, S. 276f.). Gleichwohl verhindert Brasillachs unverkennbare Begeisterung für den „schönen Schein“ des Faschismus, der ihm einen „ästhetischen Orgasmus“ 215 bereitet, doch nicht eine latente Skepsis: Denn gerade angesichts der pompösen, sich romantischer, aber auch östlicher Insignien bedienenden Inszenierung des Nationalsozialismus, die er erneut rhetorisch wirkungsvoll in einem anaphorischen Dreischritt benennt („Devant ces décors graves et délicieux du romantisme ancien, devant cette floraison immense des drapeaux, 213 Mit der Ermordung seines frühen Mitstreiters und „Duzfreund[es]“, dem Stabschef der SA Ernst Röhm (1887-1934) zusammen mit weiteren 85 SA-Führern und Regime- Kritikern durch die SS (30. 6. - 2. 7. 1934), eliminierte Hitler „seinen letzten innerparteilichen Widersacher“. Nebelin, Manfred: „‚Röhm-Putsch’“. In: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, S. 767-769, hier S. 768f. Diese Passage belegt die 1940 erfolgte Verharmlosung und Bereinigung der Originalfassung von 1937: Dort bezeichnete Brasillach den Mord als solchen („tuer“ statt „supprimer par devoir“) und nannte Röhm beim Namen („C’est à Roehm que je pense aujourd’hui.“). Um Hitlers Erbarmungslosigkeit zu unterstreichen, charakterisierte er Röhm superlativisch als einen der teuersten Gefährten („des plus chers“) und nannte Hitler „l’ami de Roehm“. S. CH, S. 71. 214 Dementsprechend hebt Brasillach, der der NS-Propaganda Glauben schenkt, hervor, Hitler habe Gott für den deutschen Sieg über Frankreich gedankt: „Le chef de l’Allemagne […] remerciait Dieu et ordonnait que l’on pavoisât dans le Reich pendant dix jours et que l’on sonnât les cloches pendant sept jours.“ (JHO, S. 72). 215 Hofer, Hermann: Die faschistoide Literatur, S. 118. Zum ästhetischen Rauscherlebnis französischer NS-Touristen vgl. die Ausführungen von Clamor, Annette: Dekadenz als Kampfbegriff. <?page no="239"?> 239 devant ces croix venues d’Orient“), reagiert er zunächst beunruhigt („inquiets“), um dieses Gefühl noch im selben Absatz zu einem Erstaunen („s’étonner“) abzumildern (NAG, S. 277). 216 Trotz aller kritischen Einwände schließt Brasillach mit einem Lob für die Erziehung der deutschen Jugend und dem Appell an Frankreich: Dieses solle nicht den Nationalsozialismus, den er zwar als „politique nouvelle“ identifiziert, aber gemäß seinem vorrangig ästhetischen Faschismusverständnis sich nachbessernd zur „poésie“ 217 überhöht, in Gänze imitieren, denn „tout, certes, n’est pas pour nous, et on n’a pas besoin d’insister pour le dire.“ (ebd.). Indessen solle es sich ein Beispiel am Einschwören der Jugend auf den (NS-)Glauben, auf Opferbereitschaft und Ehre nehmen: [T]out Français revient de l’Allemagne d’aujourd’hui persuadé que son pays, que sa jeunesse, pourraient faire au moins aussi bien que nos voisins, si nous restaurions d’abord certaines vertus universelles. Et cela c’est une leçon valable pour tous. (NAG, S. 277f.) In dem Fazit, das Hitlers Gast nach „hundert Stunden“ stichwortartig formuliert, dominiert eine Wertschätzung für die nationalsozialistische Ästhetik sowie die Einschätzung des Nationalsozialismus als Religion: „[B]eaux spectacles, belle jeunesse, vie plus facile qu’on ne dit, mais avant tout mythologie surprenante d’une nouvelle religion.“ (NAG, S. 278). Rückblickend wird er im Journal d’un homme occupé seine Empfänglichkeit für das „Schöne“ und Monumentale bekennen („- j’avoue être, pour ma part, extrêmement sensible à la beauté et à la puissance des fêtes nationalistes -“, JHO, S. 179), was die „Ästhetisierung der faschistischen Ideologie und ihrer äußeren Manifestation“ ebenso wie das Aussparen von Themen, „die sei- 216 Auch Zimmermann zieht eine Parallele zu Leni Riefenstahls Propagandafilm Triumph des Willens, der eine visuelle Entsprechung zu Brasillachs ausführlichen Beschreibungen des religiös-magischen Ambientes des Reichsparteitages sei. Zimmermann, Margarete: Die Literatur des Faschismus, S. 238. Zu Brasillachs Vorbehalten vgl. die Modifikation dieser Passage im Unterschied zum Artikel von 1937: Statt „inquiets“ hieß es „effrayés“, und Brasillach bezeichnete sich als „obsédé par cette puissance d’illusion“ (CH, S. 72, Hervorhebung BB). 217 Brasillachs scheinbar gänzlich apolitische Wahrnehmung des Nationalsozialismus stellen seine Verteidiger heraus, so auch Pellissier: „D’ailleurs, a-t-il jeté un regard politique sur cette Allemagne qu’il découvre? Il l’a vue en poète, c’est évident, sensible à un certain romantisme. Il ne s’est pas senti concerné, ou intéressé, par le message politique; il est si peu doctrinaire de nature.“ Pellissier, Pierre: Brasillach... Le Maudit, S. 202. Vgl. auch die Erklärung der Siegeszüge der europäischen Nationalismen als Resultat von Kreativität, Bilder- und Poesie-„Gewalt“: „Nous aurons compris surtout que le succès du nationalisme en ces années venait de son pouvoir de proposer des images à la foule et d’être d’abord, bonne ou mauvaise, une poésie.“ (NAG, S. 246, Kursivierung im Text). <?page no="240"?> 240 nem Ästhetisierungsanspruch nicht entsprechen“, erklärt. 218 Doch gerade diese von ihm herausgestellten Aspekte sind es, die sein Befremden, akzentuiert durch die gedoppelten Adverbien, erklären: „[C]e pays, si voisin de nous [...] est d’abord, au sens plein du mot, et prodigieusement, et profondément, un pays étrange“ (NAG, S. 278, Kursivierung im Text). 219 Brasillach zufolge ist die Ästhetik conditio sine qua non effizienter politischer Bewegungen und beispielhaft im Nationalsozialismus verwirklicht, der ihm als augenfälliges Gegenbeispiel zur Dritten Republik erscheint: „La Troisième République française était un régime mort parce qu’elle était un régime anti-esthétique“. 220 Damit verbunden ist der Aufruf an Frankreich, sich ein Beispiel an den „auferstandenen“ faschistischen Völkern zu nehmen, um unter Rückbesinnung auf die eigenen Ursprünge die immanente „poésie nationale et socialiste“ 221 zu finden. Brasillach gleicht einem „Auslandsfotografen“, der in Großaufnahmen die faszinierende pompöse faschistische Ästhetik einfängt und dadurch ein klischeehaft verzerrtes und „politisch entschärfte[s] Bild des deutschen Nationalsozialismus“ anbietet. 222 Wenngleich hieraus kein Plädoyer für die dahinter stehende nationalsozialistische Ideologie abgeleitet werden kann, so lenkt Brasillach unter Einsatz selektiver Schärfe die Aufmerksamkeit seiner Leser bewusst auf ästhetische Highlights, die für ihn die Attraktivität des Nationalsozialismus, aber auch der Faschismen der Nachbarländer ausmachen. 4.7 Genese einer Germanophilie 4.7.1 Faszination Sein erstes Interesse für „l’Allemagne nouvelle“ datiert der Romancier auf die Zeit kurz vor dem Verlassen der Ecole Normale Supérieure (NAG, S. 123), noch bevor das nebulöse Jahr 1933 „brouillée“, „pâle“ und „fardée, avec cet aspect fantomal“ (NAG, S. 129) begonnen habe. Das wichtigste und insgeheim erwartete Jahr, das Ende des après-guerre und der Beginn eines neuen 218 Heddrich, Gesine: Brandstifter oder Brandopfer? , S. 130. Aus diesem Grund charakterisiert Hofer Notre avant-guerre als ein „Buch der ästhetischen Verblendung“. Hofer, Hermann: Die Literatur der Kollaboration, S. 162. 219 Auffallend ist, dass sich der autoproklamierte Faschist Bardèche ähnlich distanzierender Formulierungen bedient, um die extreme Andersartigkeit des Nationalsozialismus zu betonen: Er spricht von „l’étrangeté du national-socialisme“, „il est si loin de nous“ und „venu des plaines étrangères où naissent les dieux inconnus.“ Bardèche, Maurice: Qu’est-ce que le Fascisme, S. 25f. 220 Brasillach, Robert: „La poésie du national-socialisme“. In: Notre Combat: L’Europe juge Adolf Hitler. Numéro spécial, N° 42, 24 avril 1943, S. 6-7, hier S. 6, Hervorhebung BB. 221 Ebd. 222 Hofer, Hermann: Die faschistoide Literatur, S. 118f., hier S. 119. <?page no="241"?> 241 avant-guerre. Nicht an inhaltliche Botschaften des imposanten Wahlkampfs der NSDAP erinnert sich Brasillach rückblickend, sondern an das akustische dämonische Spektakel dieses neuen Kultes (NAG, S. 131). In einer Folge rhetorischer Fragen spiegelt sich eine unverblümte Bewunderung für Deutschland wider, das er die personifizierte, omnipräsente Begleiterin Frankreichs nennt. Nicht mit rationalen Gründen erklärt er „deren“ Anziehungskraft auf Frankreich; vielmehr spezifiziert er diesen „Reiz“ unzweideutig als körperliche Attraktivität: Avions-nous jamais cessé de songer à l’Allemagne? Y a-t-il un Français vivant à qui l’Allemagne ait cessé de paraître, fût-ce une seule année, comme une compagne toujours présente? Avant la Grande Guerre, après elle, existe-t-il un pays qui ait autant fait partie, non pas de notre vie intellectuelle, de nos curiosités, de nos raisonnement [sic], mais de notre existence charnelle elle-même? Qui ait fait en sorte que le destin, le malheur, le bonheur, aient, à un moment donné, un visage allemand? (NAG, S. 131f.) Dies ist der Auftakt zu einer Lobeshymne, die Brasillach in kosmische Dimensionen ausweitet: Deutschland sei ein gigantischer Planet, der mehr als jedes andere Gestirn Frankreichs Geschicke beeinflusst habe. Plötzlich („soudain“) habe sich das nationalsozialistische Deutschland, so die Suggestion, „avec un rayonnement d’incendie“ 223 im Himmelszentrum platziert (NAG, S. 132). Brasillach hebt fast exklusiv die sinnliche (visuelle und auditive) Inszenierung des Nationalsozialismus hervor, so das Glockengeläut (NAG, S. 131f.) oder die von Scheinwerfern und Fackeln erhellten und mit Gesängen von Millionen von Anhängern rhythmisch untermalten Walpurgnisnächte (NAG, S. 236). 4.7.2 Der „Münchner“ in „romantischer“ Kriegsgefangenschaft Über das erste „Orage[] de septembre“, die konfliktgeladenen Wochen bis zum Abschluss des Münchner Abkommens, schreibt der im Rahmen des „Kriegsgefahrzustand de 1938“ (NAG, S. 290, Kursivierung im Text) einberufene „Münchner“ 224 ohne Beschönigung, Hitler, „le maître de l’Europe“, habe dem Reich das Sudetenland gewaltsam einverleiben wollen: „L’Allemagne voulait l’annexion pure et simple.“ (NAG, S. 286). Während er den Bruch des Münchner Abkommens ein fatales Datum nennt (NAG, S. 305), schildert er das zweite „Gewitter“, den deutschen Überfall auf Polen, der das Ende des avant-guerre besiegelt und den Zweiten Weltkrieg auslöst, erstaunlich neutral. Die Schlusssätze von Notre avant-guerre lauten 223 Vgl. das ähnliche Bild vom „flamboiement national qui s’allumait un peu partout dans l’Europe d’alors.“ (NAG, S. 246). 224 Vgl. „Je suis partout, que j’avais dû laisser, fit un numéro flamboyant de rage et d’ardeur, rassemblant tous les arguments pour la paix.“ (NAG, S. 298, Kursivierung im Text). <?page no="242"?> 242 schlicht: „Quelques heures plus tard, la Pologne était envahie, la mobilisation générale décrétée. Notre avant-guerre était finie.“ (NAG, S. 346). Daran schließen sich die fast ausschließlich positiven Erinnerungen Brasillachs an die Zeit in deutscher Kriegsgefangenschaft an, deren Auftakt die als „captivité romantique“ 225 charakterisierte Zeit in Neuf-Brisach (JHO, S. 107, 109) bildet. Das Bild vom singenden Deutschen, das bereits im Bericht über den Nürnberger Reichsparteitag auftauchte, greift der Schriftsteller drei Jahre später wieder auf, wenn er sich vom schönen Gesang der deutschen Soldaten, einem perfekt abgestimmten Chor, beeindruckt zeigt: Des Allemands, dans ces premiers jours, je n’ai rien à dire. On n’en voyait pour ainsi dire jamais. Simplement, deux ou trois fois par jour, une petite troupe traversait la ville de part en part. En rangs, au pas cadencé, ils chantaient. Pour beaucoup de Français, c’était un étonnement de découvrir les beaux chants graves de l’armée allemande, leur lenteur, la perfection de ces chœurs d’hommes. (JHO, S. 102) Selbst die französischen Soldaten, die von der nicht als solche benannten Zwangsarbeit in Deutschland zurückkehrten, seien „contents, ils avaient été bien traités, bien nourris.“ (JHO, S. 103). In diesem Kontext wiederholt Brasillach leicht modifiziert seine Feststellung aus dem Jahr 1937 226 , Deutschland sei für viele Franzosen noch immer „un étrange pays mystérieux, plus lointain que la Chine, plus inconnu“, woran er den bedeutenden, der französischen Niederlage Rechnung tragenden Relativsatz anschließt, „que, bon gré, mal gré, il faudra bien apprendre, justement à connaître.“ (ebd.). Auf die Zeit der romantischen Gefangenschaft in Neuf-Brisach folgt eine zugleich als merkwürdig und schön befundene Reise („Quel étrange voyage“, „le beau voyage“, „la bizarre croisière“, JHO, S. 109f.), führt doch die idyllische Rheinfahrt „à travers les donjons romantiques“ (JHO, S. 109) zu den Kriegsgefangenenlagern im Deutschen Reich: nach Sandbostel (JHO, S. 112ff.), Warburg (JHO, S. 115ff.) und Soest (JHO, S. 127ff.). Nicht als Freiheitsentzug, sondern vielmehr als Entdeckungsreise stuft Brasillach seine Zeit in deutscher Gefangenschaft ein: „Ai-je conservé un si mauvais souvenir de cette excursion baroque? “ (JHO, S. 114) lautet deswegen die rhetorische Frage, und folgerichtig bewahrt er aus Nostalgie und zur Erinnerung an diese Zeit einen Heidekrautzweig auf (JHO, S. 115). Die Gefangenenunterkunft im Lager von Warburg beschreibt der Schriftsteller aner- 225 Brasillach vergleicht im weiteren Verlauf mehrfach die französischen Lager bzw. Gefängnisse mit den deutschen, wobei die französischen in der Bewertung unterliegen. Über das Lager von Noisy-le-Sec, in dem Brasillach nach seiner Verhaftung im Herbst 1944 inhaftiert ist, schreibt er: „[L]e confort y fût nettement moindre que dans les baraques de Warburg ou surtout les bloc de Soest.“, „[J]’aimais mieux la cuisine des prisonniers en Allemagne.“ (JHO, S. 307f.); vgl. auch die Betonung der den französischen Kriegsgefangenen zugestandenen Freiheit (JHO, S. 88, 102). 226 Vgl. „Je ne sais pas ce qu’était l’Allemagne de naguère. C’est aujourd’hui un grand pays étrange, plus loin de nous que l’Inde et que la Chine.“ (CH, S. 73). <?page no="243"?> 243 kennend als „un lieu qui, ma foi, n’était pas désagréable“ (JHO, S. 116), indes übertroffen von dem als „noch“ angenehmer empfundenen Offizierslager (Oflag) VI A in Soest (JHO, S. 127). Die abnorme, da vom tödlichen Kriegsalltag abstrahierende lyrische Beschreibung des in eine bukolische Landschaft eingebetteten Oflags aus der Feder eines seiner Freiheit beraubten Franzosen überrascht den Leser. Unvergesslich nennt Brasillach diese Eindrücke: Pas de baraques, des blocs de caserne qui ressemblent passablement aux blocs que l’on peut voir aux portes de Paris. La campagne au loin à perte de vue, qui brille sur une petite ville d’où montent, entre les feuillages, deux clochers purs et charmants. Un grand espace entre les barbelés, couvert de gravier rouge, où les prisonniers tournent en rond pour tremper leur ennui. Et les miradors où veillent les sentinelles. Ce sera le décor de ma vie. (ebd.) Das Lagerleben mit seinem vielfältigen Kultur-, Unterrichts- und Freizeitprogramm ist für Brasillach die Erfüllung schlechthin und gleicht einer zweiten unbeschwerten Jugend: „Et la jeunesse retrouvée, permet, précisément, d’oublier le temps qui passe, et l’absence, et l’exil.“ (JHO, S. 129). Angesichts dieser „Lagerromantik und Robinsons Inselerfahrungen“ 227 - „L’aventure du captif, c’est l’aventure de Robinson. Seul, abandonné, il conquiert peu à peu son univers de bricoleur, et peu à peu, aussi, il finit par découvrir Vendredi et par lier amitié avec lui.“ (JHO, S. 141) - erstaunt es kaum, wenn er wenige Monate später, diesmal als „freier“, offiziell geladener Gast NS-Deutschlands, die „herzliche“ Behandlung („avec beaucoup de cœur“, „avec tant de cœur“, JHO, S. 178f.) der französischen Kriegsgefangenen vonseiten des „Siegers“ herausstellt. Inkompatibel mit dieser perfekten Idylle und deshalb gänzlich ausgeblendet ist das entbehrungsreiche Leben des Gros der zum „Reichseinsatz“ zwangsrekrutierten Kriegsgefangenen. 4.7.3 Zu Gast in Weimar und Berlin Im Herbst 1941 zählt Brasillach zu der Delegation französischer Schriftsteller, die zum europäischen Dichtertreffen nach Weimar reisen. Seine Kollegen untergliedert er klar in zwei Gruppierungen: Nous sommes ici sept Français, d’âges et de goûts différents en apparence, et formons la délégation étrangère la plus nombreuse. Les uns, comme André Fraigneau, comme Marcel Jouhandeau, Jacques Chardonne, ne se sont à peu près jamais occupés de politique. D’autres comme Drieu la Rochelle, ou Ramon Fernandez, ont été mêlés à nos luttes nationales. (JHO, S. 172) 228 227 Heddrich, Gesine: Brandstifter oder Brandopfer? , S. 122. 228 Dieser im Journal d’un homme occupé integrierte Bericht entspricht dem in Anschluss an die Reise in Je suis partout publizierten Artikel De la cité de Goethe au nouvel axe de Berlin (8. 11. 1941); in Le Petit Parisien veröffentlichte er J’ai parlé aux ouvriers français <?page no="244"?> 244 Diese Teilnahme kommt einem eindeutigen Bekenntnis zum Faschismus gleich: Wer hier mitmachte, billigte den Faschismus in seiner jeweiligen nationalen Variante als Staatsdoktrin, er akzeptierte die Gleichschaltung der Kultur, die die Verfemung und Vertreibung jüdischer Kollegen sowie die Indoktrinierung der verbliebenen Schriftsteller zur Folge hatte. Er bekannte sich zu einer einseitig politisierten Rolle des Schriftstellers. Die ausländischen Schriftsteller kamen freiwillig, freiwilliger als die deutschen. Sie ließen sich willig für politische Zwecke instrumentalisieren und gaben sich dafür her, als Propagandisten der deutschen Europapolitik in ihren Ländern aufzutreten. 229 Wie viele der geladenen ausländischen Autoren spart der französische Gast nicht mit Lob ob dieser Veranstaltung und zeigt sich angetan von Weimar, einer Stadt, die für ihn, wie schon Nürnberg und Bamberg im Jahr 1937, „l’ancienne Allemagne“ repräsentiert und deren „charme merveilleux“ er ebenso schätzt wie das Nürnberger „Puppenstubenidyll“ 230 (JHO, S. 171). Verblüffend ist die Präsentation des Propagandaministers Joseph Goebbels, der sich höchstpersönlich „ses petits carrés de ‚brot’ ou de ‚butter’“ zurechtgeschnitten habe, was der des Deutschen nur rudimentär kundige Dichter („les quatre mots allemands que je possède“) offensichtlich angetan für erwähnenswert erachtet (JHO, S. 172). Besondere Aufmerksamkeit schenkt Brasillach Hans Carossa 231 (1878-1956), dem Ver- (4. 11. 1941), L’Allemagne telle qu’on la voit: Le congrès de Weimar (5. 11. 1941), L’Allemagne telle qu’on la voit: L’Art et les artistes du III e Reich (7. 11. 1941). Zum Weimarer Dichtertreffen vgl. auch die Ausführungen in Kp. 4.1 sowie 5.3. 229 Hausmann, Frank-Rutger: Kollaborierende Intellektuelle in Weimar - Die ‚Europäische Schriftsteller-Vereinigung’ als ‚Anti-P.E.N.-Club’, S. 406. Gerhard Heller hingegen, ehemaliger Sonderführer bei der Pariser Propagandastaffel und in dieser Funktion verantwortlich für die Überwachung der französischen Literatur, betont rückblickend, dass mit der Einladung der französischen Schriftsteller ein anderes Ziel verbunden gewesen sei: „Dès le début de l’Occupation, la consigne officielle était de freiner l’expansion de la culture française. Or, l’ambassade d’Allemagne avec Abetz, l’Institut allemand avec Epting, et moi-même à la Propaganda-Staffel, nous avions un point de vue tout différent: nous voulions favoriser le développement culturel français et multiplier les rencontres avec la culture allemande et les autres cultures de l’Europe.“ Heller, Gerhard: Un allemand à Paris 1940-1944. Avec le concours de Jean Grand. Paris: Editions du Seuil, 1981, S. 68, Hervorhebung BB. Zur Kritik an Hellers beschönigender Darstellung s. Hausmann, Frank-Rutger: „Dichte, Dichter, tage nicht! “, S. 152ff. Zu Heller s. Kp. 5.1.6 sowie 5.3. 230 Heddrich, Gesine: Deutschland und Frankreich als Hetero- und Auto-Image, S. 92. 231 Der Arzt und international angesehene Schriftsteller Hans Carossa (1938 ausgezeichnet mit dem Frankfurter Goethe-Preis, 1939 von Mussolinis Italien mit dem Premio San Remo) war trotz bzw. wegen seiner skeptischen Einstellung dem Nationalsozialismus gegenüber zum Präsidenten der ESV (1941-1943) ernannt worden (S. Hausmann, Frank-Rutger: „Dichte, Dichter, tage nicht! “, S. 11, 57). Carossas Bücher, so Goebbels‘ Intention, sollten „Leser binden, die durch die Emigration herausragender Autoren verunsichert worden waren, und gerade weil er [Carossa] Deutschland nicht verlassen hatte, konnte er im Ausland als Repräsentant einer ‚liberalen’ deutschen Kultur- <?page no="245"?> 245 fasser von Der Arzt Gion (1931) und des Rumänischen Tagebuchs (1924): Dem „humaniste allemand“ 232 hatte Je suis partout 1938 ein Porträt gewidmet. Das verführerische Wesen des künftigen Präsidenten der im Verlauf dieses Weimarer Dichtertreffens gegründeten ESV 233 erschließt sich ihm, ähnlich wie zuvor im Falle Hitlers, über die Augen: „C’est un homme séduisant de force et de douceur tranquille, avec de beaux yeux pacifiques, qui respire l’amour des vertus simples et de la forêt.“ (JHO, S. 173). Lobende Worte findet er für die schlichte und zugleich als gewichtig empfundene Ansprache Jacques Chardonnes, in der dieser nicht die deutsch-französischen Kriege verschwiegen, aber den Blick in eine friedliche Zukunft gewandt habe: [A]vec un tact et une discrétion admirables, Jacques Chardonne, simplement, gravement, parla de notre pays, de la sympathie que lui avaient vouée les grands esprits autrefois, évoqua les luttes qui nous ont opposés, au cours des siècles, à l’Allemagne, souhaita leur fin. Il ne parla que quelques minutes, dans le silence complet. Lorsqu’il eut terminé, John Knittel 234 se dressa et prononça un seul mot: - Frankreich. (JHO, S. 173f.) politik dienen.“ 1944 zählten Hitler und Goebbels Carossa zu den wenigen „‚unersetzlichen’“ deutschen Schriftstellern. „Hans Carossa“. In: Sarkowicz, Hans; Mentzer, Alf: Schriftsteller im Nationalsozialismus, S. 190-195, hier S. 191, 193. In dem 1943/ 44 für den amerikanischen Geheimdienst angefertigten Geheimreport klassifiziert der 1938 in die USA emigrierte Schriftsteller Carl Zuckmayer (1896-1977) Carossa in die „positive“ Gruppe derjenigen deutschen und österreichischen Kulturschaffenden, die er zur Zeit des NS-Regimes als „[v]om Nazi-Einfluss unberührt, widerstrebend, zuverlässig“ empfindet. Carossa nennt er einen „Einzelgänger von unbedingter Integrität und Noblesse. Wenn der schmutzige Nazinebel weicht, wird auf seinem Bild kein Fleck oder Hauch zurück bleiben.“ Zuckmayer, Carl: Geheimreport. Hrsg. von Gunther Nickel und Johanna Schrön. München: dtv, 2004, S. 15, 23. Zu Carossas nachträglicher Rechtfertigung seiner Tätigkeit (u.a. in Ungleiche Welten, 1951) s. Hausmann, Frank-Rutger: Kollaborierende Intellektuelle in Weimar - Die ‚Europäische Schriftsteller-Vereinigung’ als ‚Anti-P.E.N.-Club’, S. 408f. Zu letztgenannter Thematik vgl. auch die Dissertation von Deußen, Christiane: Erinnerung als Rechtfertigung: Autobiographien nach 1945: Gottfried Benn - Hans Carossa - Arnolt Bronnen. Tübingen: Stauffenburg-Verl., 1987 (Stauffenburg-Colloquium; 6), zu Carossa s. S. 83-140. Zu Carossa als Präsidenten der ESV s. Kp. 5.3. 232 Leguèbe, Jacques: „Un humaniste allemand: Hans Carossa“. In: JSP, 5. 8. 1938, S. 8. Leguèbe hatte Carossas Rumänisches Tagebuch (1924) über das Ostfronterlebnis (Herbst/ Winter 1916) des Bataillonsarztes Carossa übersetzt (Journal de guerre: Roumanie, 1938). Le Docteur Gion (übersetzt von Alexandre Vialatte) war ein Jahr zuvor erschienen. 233 Vgl. diesbzgl. die Ausführungen in Kp. 5.2 und 5.3. 234 Schweizer Schriftsteller (1891, Indien - 1970, Schweiz), den Brasillach beschreibt als „[g]éant blond qui incarne la joie de vivre et la puissance créatrice, il connaît l’univers entier, parle l’hindoustani aussi couramment que l’allemand, l’anglais ou le français.“ (JHO, S. 173). Namentlich erwähnt der Romancier zudem den Präsidenten der Wiener Kulturvereinigung Bruno Brehm (1892-1974) und den Mitherausgeber der Zeit- <?page no="246"?> 246 Brasillach, der sich geehrt fühlt, im Hotel Erbprinz zu logieren „où ont couché Bach, et Schiller, et Liszt, et Napoléon, et dix autres“ (JHO, S. 175), ist beeindruckt von der Stadt Goethes, Schillers und Nietzsches. Gemeinsam mit Karl Heinz Bremer 235 (1911-1942), Eptings Stellvertreter am Deutschen Institut in Paris, den der Romancier als „le seul ami allemand que j’ai eu“ (JHO, S. 234) schätzt und zudem, da dieser an der Ecole Normale Supérieure Deutsch-Lektor gewesen war, als „mon presque camarade“ (JHO, S. 175) bezeichnet, besucht er die Gräber der vom Deutschen Reich für propagandistische Zwecke instrumentalisierten Dichter Goethe und Schiller. Dieser Ort erfüllt ihn mit Ehrfurcht. Der für visuelle und atmosphärische Eindrücke empfängliche Schriftsteller vergleicht die letzte Ruhestätte der „Weimarer Klassiker“ mit einem romantischen Park, der in ihm das geheimnisvolle Deutschlandbild Nervals wachruft: „Une paix merveilleuse monte de cette terre, dans les couleurs sombres et dorées de l’automne. Voici encore une fois l’Allemagne de Nerval, avec ses mythes et ses magies.“ (ebd.). Mit der kulturträchtigen Kleinstadt Weimar kontrastiert die dynamische Metropole Berlin, wohin Eptings Mitarbeiter, Karl Heinz Bremer sowie Georg Rabuse 236 (1910-1976), das Schriftstellerquartett (neben Robert schrift Das Innere Reich Paul Alverdes (1897-1979). Unklar hingegen ist, um wen es sich bei Wilhelm Stöpfer handelt. 235 Karl Heinz Bremer hatte nach einem Studium der Geschichts- und Staatswissenschaften sowie der Romanischen Philologie, das er mit einer Dissertation über Napoleon III. und den französischen Sozialismus abschloss, von 1936-1938 als Lektor an der Sorbonne und der Ecole Normale Supérieure unterrichtet. Sein Verhältnis zu Frankreich war zeitlebens zwiespältig: Der ausgewiesene Kenner der französischen Gegenwartsliteratur und Übersetzer von Autoren wie Henry de Montherlant (Service inutile, 1935/ Nutzloses Dienen, 1938) schätzte die französische Kultur, war aber zugleich überzeugter Nationalsozialist und Antisemit sowie Verfasser von Untersuchungen zum französischen Nationalismus (Der französische Nationalismus: Eine Studie über seinen geistigen Strukturwandel von der französischen Revolution bis auf unsere Tage, 1939; Nationalismus und Chauvinismus in Frankreich, 1940). Nach der französischen Niederlage engagierte sich Bremer intensiv für die Kollaboration in der Kulturpolitik. Am Deutschen Institut in Paris (ab Oktober 1940) leitete er das deutsch-französische Übersetzungskomitee, zu dessen Mitgliedern Alphonse de Châteaubriant zählte, und war u.a. Chefredakteur der Zeitschrift Deutschland-Frankreich (1942-1944), für die Brasillach regelmäßig Artikel verfasste. Darin erschien auch Brasillachs Nachruf auf Bremer, der 1942 an der Ostfront gefallen war („La parole du cœur“. In: Deutschland- Frankreich 2. Jg., Nr. 6 (1943), S. 100-104); vgl. auch Hausmann, Frank-Rutger: „Heinz Bremer et Henry de Montherlant“, S. 97ff.; des Weiteren Epting, Karl: „Karl Heinz Bremer zum Gedächtnis“. In: Deutschland-Frankreich 1. Jg., Nr. 3 (1943), S. 1-4. 236 Rabuse, 1938/ 39 Lektor in Poitiers, seit Juli 1940 bei der Deutschen Botschaft in Paris, ab April 1941 am Deutschen Institut (Sonderbeauftragter für die Deutsch-Französischen Monatshefte, Schriftleiter der Cahiers de l’Institut Allemand) trat bis zu seiner Einberufung als Dolmetscher an die italienische Front (1943) die Nachfolge des 1942 an der Ostfront gefallenen Bremer an. Ab 1965 war Rabuse Romanistik-Ordinarius an der Wiener Universität. Zu Rabuse s. Hausmann, Frank-Rutger: „Auch im Krieg <?page no="247"?> 247 Brasillach, Abel Bonnard, Drieu la Rochelle, André Fraigneau) geleiten. Die deutsche Hauptstadt pulsiert im Zeichen ihrer architektonischen Neugestaltung. In der nach außen hin „zu kühl“ wirkenden, doch durch ihre „splendide“ Innengestaltung Brasillach überzeugenden Staatskanzlei, sind es die Skulpturen 237 Arno Brekers, die den französischen Betrachter faszinieren. Zu Besuch im Atelier des „‚sculpteur officiel’ du Reich“ in Jäckelsbruch, bewundert Brasillach die Arbeiten Brekers, der sieben Jahre in Frankreich gelebt hat und Schüler „de nos maîtres“ gewesen sei (JHO, S. 177). Den studentisch, natürlich anmutenden Breker empfindet er als die Inkarnation der Jugendlichkeit und Vitalität des Dritten Reiches („débordante de vitalité créatrice“, „la vitalité qu’elle incarne“, „la vitalité du passé“, JHO, S. 179). Im Rahmen dieser „paradoxen“ Reise erinnert sich Brasillach auch an seine nur wenige Monate zurückliegende Kriegsgefangenschaft in Deutschland; das Schicksal der französischen Kriegsgefangenen, um die er sich sorge, habe er im Gespräch mit den zuständigen, „herzlich“ engagierten Vertretern des Regimes thematisiert (JHO, S. 178f.). Mit dem Appell an Frankreich, sich am jugendlichen Deutschland ein Beispiel zu nehmen, und mit einer Apotheose der Jugend beschließt Brasillach seine Eindrücke vom deutschen Gastland. Spuren von Krieg 238 und Leid sucht man in seiner Eloge vergebens. 4.7.4 Liaison mit dem deutschen Genius Im Sommer 1941 betont Brasillach, NS-Deutschland kämpfe für das Wohl ganz Europas (JHO, S. 190) und forciert im Herbst sein Plädoyer speziell für die von Moskau und London torpedierte deutsch-französische Versöhnung. Nur diese könne den Untergang Frankreichs, der „première née des nations de l’Occident“ (JHO, S. 194), verhindern. 239 Am 27. Dezember 1941 lässt er die militärischen Siege Deutschlands Revue passieren, wobei er insbesondere die Erfolge über die russische Armee preist und Deutschland zum unumstrittenen Sieger 240 auf dem Kontinent erklärt: schweigen die Musen nicht“, S. 124, Fn. 68. Zu Rabuses Lebenslauf s. Unteutsch, Barbara: Vom Sohlbergkreis zur Groupe Collaboration, S. 228f., Anm. 14. 237 Vgl. die Aufnahme der Breker’schen Skulpturen im Innenhof der Reichskanzlei im Reisealbum Dichterfahrt durch deutsches Land. Hausmann, Frank-Rutger: „Dichte, Dichter, tage nicht! “, CD-ROM (s. „Reisealbum“, S. 60). 238 Die von der Royal Air Force in Berlin angerichteten Schäden spielt er als „totalement invisibles“ (JHO, S. 176) herab. 239 Brasillachs in Notre avant-guerre und dem Journal d’un homme occupé artikulierte Vorstellungen von Frankreichs Rolle in einem „entbolschewisierten“ Europa bleiben verhältnismäßig vage, sieht man von der Tatsache ab, dass für ihn nur ein faschistisches und mit Deutschland versöhntes sowie partnerschaftlich verbundenes Frankreich eine Zukunftsperspektive habe. 240 Vgl. die kartografische Übersicht über die propagandistisch herausgestellten Resultate der nationalsozialistischen Eroberungs- und Expansionspolitik inkl. Berücksichti- <?page no="248"?> 248 Elle occupe entièrement l’Ukraine, encercle Léningrad, tient sous son feu Moscou et le bassin du Donetz. L’hiver est arrivé qui a arrêté les opérations, mais il faudrait être d’une mauvaise foi et d’une sottise insignes pour ne pas savoir mesurer l’immensité du territoire conquis et le poids dont il peut être pour l’Allemagne dans les luttes futures. L’Allemagne est victorieuse sur le continent. (JHO, S. 196) Noch gewichtiger als den deutschen „Kreuzzug“ gegen den Bolschewismus befindet Brasillach am 20. Juni 1942 Deutschlands Berufung zum Retter der europäischen Zivilisation. In Form von vier Parallelismen hebt er hervor, Deutschland sei die aktive, dynamische Nation, die, so die Klimax, „gütig“ selbst Großbritannien vor dem Bolschewismus beschütze (vgl. auch JHO, S. 190): [E]lle a pris les armes pour défendre l’ensemble de la civilisation européenne. Elle a pris les armes pour défendre contre le bolchevisme toutes les nuances de cet ensemble et toutes les grandes patries qui ont apporté à l’humanité leur contribution et leur élan. Elle a pris les armes pour la civilisation française comme pour la germanique, et l’italienne, et l’espagnole, - et on osera même dire, sans crainte de choquer nos gaullistes, qu’elle a pris les armes pour la civilisation anglaise... (JHO, S. 203, Kursivierung im Text). Noch im Mai 1943 betont Brasillach, dass Deutschland, der Schutzwall gegen Russland, das einzige Land sei, das der marxistischen Revolution Einhalt gebieten könne. Obgleich er erstmals die Eventualität einer deutschen Niederlage ausspricht, streicht er nichtsdestoweniger die Bedeutung der deutsch-französischen Allianz als Friedensgaranten für Europa heraus. „[S]ans sa force, rien n’est donc possible“ (JHO, S. 246), lautet sein unerschütterliches Urteil. Differenzierter fällt Brasillachs Einschätzung der Lage am 14. August 1943 nach der Absetzung und Verhaftung Mussolinis aus. Zwar hält er das deutsch-französische Bündnis noch immer für fundamental wichtig, allerdings nicht mehr um jeden Preis. An seiner Bolschewismus-Gegnerschaft habe sich nichts geändert, genauso wenig wie an seiner Germanophilie. Doch, so der entscheidende Unterschied, fühle er sich in dieser gefährlichen Zeit stärker Frankreich als dem Nationalsozialismus gung des erst zwei Monate zuvor begonnenen Ostfeldzuges gegen die Sowjetunion auf dem Plakat der Reichspropagandaleitung Das neue Europa im Werden: Stand am 1. September 1941 nach 2 Jahren. S. Plessen, Marie-Louise (Hg.): Idee Europa: Entwürfe zum „Ewigen Frieden“. Ordnungen und Utopien für die Gestaltung Europas von der pax romana zur Europäischen Union. Eine Ausstellung als historische Topographie. Katalogbuch zur gleichnamigen Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, Berlin, zur Neueröffnung der Ausstellungshalle von I. M. Pei, 25. Mai bis 25. August 2003. Berlin: Henschel, 2003, S. 280, Abb. VII/ 98. <?page no="249"?> 249 verbunden, weshalb er einer blinden Allianz mit NS-Deutschland ein (scheinbar 241 ) klares „Nein“ erteilt: [Q]uel devrait être maintenant le devoir d’un gouvernement? Préparer, quoi qu’il arrive, une future entente franco-allemande. Préparer, s’il en est besoin, le syndicat des vaincus, dans la pire hypothèse. Mais ne pas se laisser entraîner dans la catastrophe avant d’avoir tout essayé. Soyons logiques avec nous-mêmes: en 38, nous criions que nous n’allions pas monter sur le vaisseau qui sombre des Tchèques, en 39, Déat se moquait de ceux qui voulaient mourir pour Dantzig 242 [sic]. Faudrait-il aujourd’hui mourir, nous, pour que Dantzig reste allemand? Je réponds non. Je suis contre le Bolchevisme parce que c’est la mort totale. Pour le reste, je suis germanophile et Français, Français plus que national socialiste, pour le dire. En cas de danger, c’est à sa nation qu’il faut se rattacher. Elle seule ne trompe point. Car si l’Allemagne se redresse comme elle en est capable, tant mieux pour elle et pour nous. (JHO, S. 248, Kursivierung im Text) Gewichtig ist Brasillachs finale Einschränkung, mit der er sich durch Ablehnung jeglicher „dénationalisation“ vom Deutschen Reich distanziert: „Mais il faut savoir agir, et en politique ne jamais dire jamais.“ (ebd., Kursivierung im Text). Kurz darauf, im September 1943, bilanziert Brasillach nüchtern: „Après l’écroulement de l’Italie, il devient clair que l’Allemagne ne peut plus gagner la guerre.“ (JHO, S. 249). Doch hält er auch jetzt die Versöhnung des besiegten Frankreichs mit seinem Bezwinger für unabdingbar im Interesse 241 Zu diesem ambivalenten Textausschnitt, bei dem es sich laut Herausgeberangabe um den Auszug aus einem Brief Brasillachs an Lucien Rebatet kurz vor dem Zerwürfnis mit Je suis partout handle (JHO, S. 249, Fn. 1), s. auch Kp. 4.8.2. 242 Marcel Déat (1894-1955), Normalien, Neosozialist, Pazifist, Mitglied des Comité de vigilance des intellectuels antifascistes und „munichois“, wandte sich im Mai 1939 mit seinem Artikel Mourir pour Dantzig? , dessen Überschrift alsbald zur Losung wurde, gegen den Kriegseintritt Frankreichs im Falle eines deutschen Überfalls auf Polen und plädierte für einen Kompromiss mit Deutschland: „Il ne s’agit pas du tout de fléchir devant les fantaisies conquérantes de M. Hitler, mais je le dis tout net: flanquer la guerre en Europe à cause de Dantzig, c’est y aller un peu fort, et les paysans français n’ont aucune envie de ‚mourir pour les Poldèves’.“ (Déat, Marcel: „Mourir pour Dantzig? “ In: L’Œuvre, 4. 5. 1939, S. 1 und 4, hier S. 4). Nach der französischen Niederlage wurde Déat zum Partisan eines französischen Faschismus. Seit Juli 1940 politischer Direktor der in der Folgezeit anti-maréchalistischen Zeitschrift L’Œuvre, näherte sich Déat Laval an. 1941 gründete er mit Abetz’ Unterstützung das mit Doriots PPF rivalisierende faschistische RNP, ein Jahr später den Front révolutionnaire national. Auf Drängen der Deutschen wurde der schonungsloseste Kritiker des Vichy- Regimes und einer der führenden Kollaborationisten im März 1944 Arbeitsminister. Nach seiner Flucht nach Sigmaringen tauchte Déat, der es „in subtil-perverser Weise [verstand,] Nationalsozialismus und Kollaboration mit nationalen französischen Traditionen zu verbinden“, in Italien unter. 1945 in absentia zum Tode verurteilt, starb Déat 1954. Hofer, Hermann: Die Literatur der Kollaboration, S. 181; s. auch „Marcel Déat“. In: Berstein, Serge et Gisèle: Dictionnaire historique de la France contemporaine, S. 224-227; ausf. zu Déat s. Burrin, Philippe: La dérive fasciste: Doriot, Déat, Bergery; 1933-1945, insb. S. 246-277, 385-419. <?page no="250"?> 250 eines künftigen Friedens: Nachdrücklich bestätigt er in Form einer dreimaligen Affirmation („Oui“) die schicksalshaft enge Verbundenheit Deutschlands und Frankreichs und plädiert ungeachtet seiner vorherigen Positionierung als Patriot für die völlige Hingabe an den deutschen Besatzer: „Oui, le collaborationnisme de raison s’accompagne, aujourd’hui, chez les meilleurs, d’un collaborationnisme de cœur.“ (JHO, S. 252). 243 Diese vergleichsweise dezente Feststellung übertrifft Brasillach mit dem Bekenntnis von Anfang 244 1944, als er über die Entstehung seiner Germanophilie Auskunft gibt. Seine „Beziehung“ zu Deutschland - dem „‚Fräulein von Nürnberg’“ 245 - vergleicht er mit einem Liebesverhältnis 246 , was er generalisierend als in summa bereitwilliges sexuelles Arrangement auf Frankreich überträgt: [J]e dirai que je n’étais pas germanophile avant la guerre, ni même au début de la politique de ‚collaboration’. Je cherchais simplement l’intérêt de la raison. 243 Dieser Auszug stammt aus Brasillachs erstem, nach Verlassen der Je suis partout- Redaktion in Combelles Révolution nationale publizierten Artikel Naissance d’un sentiment (4. 9. 1943). 244 Das Journal d’un homme occupé datiert diese Passage auf Januar 1944, tatsächlich erschien der „Urspungstext“ am 19. 2. 1944 unter dem Titel Lettre à quelques jeunes gens in der Révolution nationale. 245 In Anknüpfung an Modiano (*1945), der sich in seinem Debütroman La Place de l’étoile (1968) auf Brasillachs Beischlafmetapher bezieht. Vgl. Modiano, Patrick: Place de l’Étoile: Roman. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Elisabeth Edl. München: Hanser, 2010, S. 26. Im Zentrum von Modianos „mythomanischem“ Roman, der mit über vierzigjähriger Verzögerung 2010 unter Beibehaltung des französischen Titels (allerdings ohne den bestimmten Artikel) auf Deutsch erschien, steht der französische Jude und Kollaborateur Raphaël Schlemilovitch, dessen Wege im Paris der Okkupation auch die der Kollaborationsschriftsteller, unter ihnen Brasillach, kreuzen. Zu Modianos Erstlingssowie Folgewerken ebenso wie dem Paris der Kollaborateure, vgl. das ausf. und ansprechende Nachwort der Übersetzerin Elisabeth Edl: Im düsteren Licht der Erinnerung. In: Ebd.: S. 163-190. 246 Sartre war es, der in diesem Kontext auf „de curieuses métaphores qui présentent les relations de la France et de l’Allemagne sous l’aspect d’une union sexuelle où la France joue le rôle de la femme“ in den Publikationen von Drieu la Rochelle, Brasillach und Châteaubriant hinwies und darin den Ausdruck homosexueller Phantasien sah: „Et très certainement la liaison féodale du collaborateur à son maître, a un aspect sexuel. Pour autant qu’on puisse concevoir l’état d’esprit de la collaboration, on y devine comme un climat de féminité. Le collaborateur parle au nom de la force, mais il n’est pas la force: il est la ruse, l’astuce qui s’appuie sur la force, il est même le charme et la séduction puisqu’il prétend jouer de l’attrait que la culture française exerce, d’après lui, sur les Allemands. Il me paraît qu’il y a là un curieux mélange de masochisme et d’homosexualité.“ Sartre, Jean-Paul: Qu’est-ce qu’un collaborateur? , S. 58. An Sartre anknüpfend interpretiert Senarclens Brasillachs Imaginierung einer körperlichen Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich als Bestätigung seiner Hypothese, wonach die Begeisterung für den Faschismus und Idolisierung der Führerfiguren, die ursächlich mit dem Verlust des Vaters zusammenhänge, Brasillach das Ausleben homosexueller Phantasmen erlaubt habe. Senarclens, Pierre de: Brasillach, le fascisme et l’Allemagne, S. 208. <?page no="251"?> 251 Maintenant les choses ont changé. J’ai contracté, me semble-t-il une liaison avec le génie allemand, je ne l’oublierai jamais. Qu’on le veuille ou non, nous aurons cohabité ensemble. Les Français de quelque réflexion durant ces années, auront plus ou moins couché avec l’Allemagne, non sans querelles, et le souvenir leur en restera doux. (JHO, S. 254) 247 Dieser Befund kommt nicht unvermutet, zeigt doch Notre avant-guerre wie Brasillach „dès 1937, dans cette liaison de type charnel et pulsionnel avec le nazisme, fait déjà le lit où il va, en effet, coucher avec l’Allemagne.“ 248 An die Stelle der ursprünglichen Vorliebe für Italien und insbesondere für Spanien ist seine Begeisterung für NS-Deutschland getreten. Deshalb schockieren ihn die Zerstörungen deutscher Städte als „des malheurs plus fraternels“ im Vergleich zum Unheil, das Spanien oder Italien ereilt (ebd.). Angesichts dieser vielschichtigen Affinität zum deutschen Nachbarn ist es konsequent, wenn Brasillach die letzten Tage im besetzten Paris als außergewöhnlich schön empfindet und sie trotz aller unheilvollen Vorzeichen („orage“, „catastrophe“, „la mort, l’émeute, les bombes, la ville rasée“) hyperbolisch in den zartesten, harmonischsten Farben („étonnante douceur, comme dans les plus belles toiles de Tintoret“) ausmalt: „[I]l faisait un ciel merveilleux, les femmes étaient adorables, et on s’arrêtait, parfois, devant les paysages les plus magiques, la Seine, le Louvre, Notre-Dame, en se demandant ce que tout cela deviendrait demain.“ (JHO, S. 273). Als Brasillach nach der Befreiung von Paris in seinem Versteck von den monströsen Verbrechen Hitler-Deutschlands sowie den Folterungen durch die französische Gestapo erfährt, verweist er relativierend auf die 1931 von der französischen Polizei in Französisch-Indochina begangenen Gräuelta- 247 In Lettre à un soldat de la classe soixante rechtfertigt sich Brasillach für dieses anzügliche Bild vom Beischlaf, das bereits zum Zeitpunkt der Veröffentlichung für Furore gesorgt hatte. Entschuldigend bezieht er sich auf Charles de Gaulle als Gesinnungsgenossen im Bemühen um die deutsch-französische Versöhnung. Seinen Anklägern hätte er entgegenhalten können „que c’est là précisément une phrase de rupture amoureuse, et ce que l’on écrit quand tout est fini, et qu’il reste le regret et la courtoisie. [...] D’autres reprendront, peut-être sous d’autres formes, cette réconciliation qui a été le songe de tant d’esprits dissemblables, et je me dis que même le général de Gaulle écrivait en 1934, donc après Hitler, qu’on se prenait ‚à rêver aux grandes choses que les deux peuples pourraient faire ensemble’.“ (LS, S. 30f., Hervorhebung BB). Als Brasillach für diese Äußerung in seinem Prozess zur Rechenschaft gezogen wurde, verteidigte ihn Isorni mit der Erklärung, es handle sich um „la paraphrase voulue et presque ironique (car c’était tout de même assez audacieux d’écrire cela sous l’occupation […])“ des Renan’schen Bekenntnisses: „L’Allemagne avait été ma maîtresse; j’avais la conscience de lui devoir ce qu’il y a de meilleur en moi.“ (Renan, Ernest: La Réforme intellectuelle et morale. Textes présentés par Henri Mazel. Bruxelles: Editions Complexe, 1990 (Historiques-Politiques; 59), S. VI). Isorni, Jacques: Le procès de Robert Brasillach (19 janvier 1945), S. 193. 248 Serroy, Jean: Leur avant-guerre: Raymond Aron et Robert Brasillach dans l’Allemagne des années 30. In: Littérature et politique: France/ Allemagne. Université Stendhal-Grenoble 3, 1999 (Recherches & Travaux, 56), S. 115-130, hier S. 129. <?page no="252"?> 252 ten. Frappierend ist die Wortwahl, mittels derer er bewusst „les atrocités allemandes“ und „les atrocités policières françaises“ auf eine Ebene stellt (JHO, S. 294f.). Wenngleich er gesteht, dass das Massaker an den Bewohnern von Oradour-sur-Glane 249 im Limousin durch SS-Soldaten „de très réelles abominations“ gewesen seien, so zieht er auch hier abmildernd eine Parallele zu den von der französischen Kolonialmacht in Indochina begangenen Verbrechen mit dem Ziel, die Ungeheuerlichkeit dieser Massenmorde abzuschwächen: „[I]ls [„ce genre de crimes“] n’étaient malheureusement le monopole d’aucun peuple.“ (JHO, S. 295). Doch Brasillach geht noch einen Schritt weiter: Revisionistischen 250 Argumentationen vorauseilend, verharmlost er die NS-Verbrechen, wenn er die im Rahmen der Befreiung der französischen Hauptstadt verübten Morde und Racheakte mit dem gleichen Epitheton („crimes abominables“, ebd.) belegt wie den Massenmord von Oradour-sur-Glane. 4.8 Faschismus - „Ce mal du siècle“ In Brasillachs Faschismus-Verständnis nehmen „jeunesse“, „esprit“ 251 und „joie“ eine herausragende Stellung ein. Dem Faschismus nähert er sich zunächst über kritische Zuschreibungen: Valois’ Faisceau (1925) stuft er als blassen Abglanz des italienischen Vorbilds herab, von dem er den Präfaschismus der Action française positiv absetzt (NAG, S. 29f.). In der Folge adaptiert er den Blickwinkel der nach Frankreich strömenden jüdischen und sozialistischen Emigranten, die den internationalen Faschismus als ein Monster und Schreckgespenst beschrieben und die weiße Internationale für alles Übel verantwortlich gemacht haben. 1933 habe schließlich die von diesen gebrandmarkte „‚doctrine maudite’“ das alte Land der großen Revolution erobert (NAG, S. 132f.). Die Konfrontation von Antifaschismus und Faschismus ist für Brasillach mehr als eine politische Auseinanderset- 249 Am 10. 6. 1944 hatte eine Kompanie der SS-Panzerdivision „Das Reich“ 642 Dorfbewohner von Oradour-sur-Glane auf grausame Weise umgebracht: Die Männer wurden erschossen, die Frauen und Kinder in der Kirche eingesperrt und verbrannt. Zur Brisanz des Prozesses vor dem französischen Militärgericht (1953) trug bei, dass an dem Massaker zwölf in die SS inkorporierte Elsässer beteiligt gewesen waren. Auerbach, Hellmuth: „Oradour-sur-Glane“. In: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, S. 685; vgl. die als Reaktion auf das Massaker in Oradour-sur-Glane edierte zweiseitige Sonderausgabe der Lettres françaises: N.N.: „Sur les ruines de la morale: Oradoursur-Glane“. Les Lettres françaises, Numéro spécial, 1. 8. 1944, o.S. Zur Zwangsrekrutierung von Elsässern und Lothringern in die Waffen-SS s. Barral, Pierre: La Tragédie des „malgré-nous“. In: Bédarida, François (Hg.): Résistants et collaborateurs: les Français dans les années noires. Paris: L’Histoire/ Seuil, 1985, S. 120-125. 250 Vgl. diesbzgl. die Ausführungen in Kp. 4.2. 251 Auf Brasillachs „Introduction à l’esprit fasciste“ überschriebene Artikelserie in Je suis partout (24. 6. 1938, 1. 7. 1938, 8. 7. 1938) wurde in der Einleitung bereits hingewiesen. <?page no="253"?> 253 zung, nämlich eine Glaubensfrage, ein Religionskrieg, der sich wie ein unaufhaltsames Feuer in Europa ausgebreitet und die bisherige Weltordnung, „cet univers de papier et de nuages“, wie ein Kartenhaus zum Einsturz gebracht habe (NAG, S. 133). Die universelle Tragweite und Dynamik, die er dem Faschismus zuspricht, verdeutlicht die Gleichsetzung des Faschismus mit der Realität, dessen Überhöhung in kosmische Dimensionen (Sonne/ Planet) sowie eine ausschließlich positive Attribuierung: Elle [la réalité] n’avait rien d’aimable, certes, mais elle était la réalité, et voilà tout. Elle surgissait, comme le gros globe allongé du soleil qui jaillit de la mer, brusque et furieux. Et tout était oublié des brumes de l’aube, et devant l’astre naissant, il fallait bien admettre que beaucoup de peuples, beaucoup d’hommes à travers la planète, le reconnaissaient comme lumineux et brûlant, et ne voulaient plus entendre parler de ce qui avait précédé. (ebd.) Ähnlich wie die deutschen Zeitungen, die nach den blutigen 252 Unruhen vom 6. Februar 1934 verkündeten „L’aube du fascisme se lève sur la France“, so idealisiert auch Brasillach die „instinctive et magnifique révolte“ (NAG, S. 151) zur Geburtsstunde des Nationalsozialismus in Frankreich (NAG, S. 152) bzw. des „esprit préfasciste“, den man in den Ligen 253 , in Doriots PPF oder auch bei den Parteilosen vorgefunden habe (NAG, S. 278). Wenngleich Brasillach „die ‚verpaßte Gelegenheit’ eines Staatsstreiches“ 254 und einer nationalen Revolution 255 (NAG, S. 152, 177, 179) bedauert, so bedeutet der 6. Februar 1934 den Beginn einer neuen Zeitrechnung: den Auftakt zur faschistischen Ära. 256 Dieses Datum wird 252 Wenn er dieses Datum zu „une nuit de sacrifice“ (NAG, S. 151f.) überhöht und von der Reinheit der Toten spricht („ces morts qui ont été purs“, NAG, S. 152), so erinnert dies unweigerlich an Hitlers im Namen der „Nationalen Revolution“ verübten Putschversuch vom 8./ 9. 5. 1923 in München und die Mythifizierung der Gefallenen vor der Feldherrnhalle. Vgl. Selig, Wolfram: „Hitlerputsch“. In: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, S. 567. 253 Abgesehen vom Francisme verkörperten die rechtsextremen Ligen weniger „den modernen Faschismus als vielmehr das Aufflackern einer alten bonapartistischen Strömung, die für eine Stärkung der Exekutive eintrat, ohne aber den totalitären Staat und die Einheitspartei zu fordern.“ Jurt, Joseph: Historischer Überblick. In: Kohut, Karl (Hg.): Literatur der Résistance und Kollaboration in Frankreich: Geschichte und Wirkung I (1930-1939), S. 29f. 254 Zimmermann, Margarete: Robert Brasillachs letzter Roman und das Ende der Okkupationszeit, S. 237. 255 In Les Captifs notiert der Protagonist Gilbert über die Ereignisse vom 6. 2. 1934 in seinem Tagebuch: „‚6 février 1934 - An I de la Révolution nationale’“. Brasillach, Robert: Les captifs, inédit. In: Œuvres complètes, Bd. 1, 1963, S. 115. Dementsprechend ist das Nachwort zu Notre avant-guerre bewusst auf den „6 février 1940 (An VII.)“ (NAG, S. 347) datiert. 256 Wiewohl diese Ereignisse keinen „faschistischen ‚Marsch auf Paris’“ darstellten, so sprach die Linke von einem faschistischen Putschversuch, woraufhin die im Antifaschismus geeinten Sozialisten und Kommunisten zusammenrückten. Jurt, Joseph: Historischer Überblick. In: Kohut, Karl (Hg.): Literatur der Résistance und Kollabora- <?page no="254"?> 254 a crucial date in French Fascist mythology. It marks the beginning of an awareness of a certain solidarity among the Fascist groups and the start of a state of virtual civil war between Left and Right in France that continued throughout the 1930s, and that was largely responsible for the ideological rifts in the nation while it was occupied by the Germans from 1940 to 1944. 257 Während in diesen brisanten Jahren („années meurtrières et fuligineuses“, NAG, S. 161) der Nationalsozialismus in Deutschland erstarkte, illustriert durch das Bild einer zunehmenden Zahl brennender Fackeln auf den Reichsparteitagen, hätten die national gesinnten Franzosen ihre Hoffnungen in die faschistischen Ligen gesetzt. 258 Das Ziel insbesondere der jungen Volontaires nationaux innerhalb des Croix de feu sei die Gründung eines französischen Faschismus gewesen, doch hätten diese nicht auf die Unterstützung durch das Großbürgertum zählen können. Auch die in den Parti Social Français gesetzten Hoffnungen, den der Oberst La Roque nach Verbot des Croix de feu gegründet hatte, seien enttäuscht worden, was er unberührt konstatiert. Lakonisch merkt er vielmehr an, Frankreich sei daraufhin zu seinen unmoralischen Vergnügungen zurückgekehrt (NAG, S. 162). Die Entstehung des „esprit fasciste“ ist unweigerlich mit der als desaströs empfundenen Regierungszeit der Volksfront verbunden. Diese sei unfähig gewesen, erforderliche und zudem gerechte 259 Reformen durchzuführen. Zugleich zeigt er Verständnis für die exponentielle Zunahme der Streiks 260 im Jahr 1936, die in einer positiven Stimmung der Freude, Freiheit und Hoffnung stattgefunden haben. Die unvermeidliche und notwendige Geburt des Faschismus bringt er in einer dreifachen, das Tempus variierenden (Präsens, Passé Simple, Perfekt) Reihung zum Ausdruck: tion in Frankreich: Geschichte und Wirkung I (1930-1939), S. 32; ebenso Milza und Berstein: „Le 6 février 1934 n’a dont [sic] rien d’un putsch fasciste destiné à substituer à la République moribonde un régime musclé, encadré par les ligues et inspiré du modèle en vigueur de l’autre côté des Alpes“. S. „Six février 1934“. In: Milza, Pierre; Berstein, Serge: Dictionnaire historique des fascismes et du nazisme, S. 621-622. 257 Tame, Peter D.: The ideological hero in the novels of Robert Brasillach, Roger Vailland and André Malraux, S. 136, Hervorhebung BB. 258 Brasillach erwähnt abgesehen von der Action française, der er eine Sonderstellung einräumt, die rechtsextremen Bewegungen Jeunesses patriotes (Pierre Taittinger), Solidarité française (François Coty) und Francisme (Marcel Bucard), deren Mitglieder er verallgemeinernd als „de braves gens“ (NAG, S. 161) bezeichnet. Die paramilitärisch organisierte Massenorganisation der Ligue des Croix de Feu des Oberst La Roque, die aus dem usprünglichen Zusammenschluss ehemaliger Frontkämpfer hervorging, bezeichnet er als die wichtigste Vereinigung. S. NAG, S. 161f. 259 Diesen Aspekt unterstreicht Brasillach mehrfach: „Les triomphes de 1936 révélaient des injustices abominables [...], faisaient espérer des réformes nécessaires et justes. [...] Toutes les grèves [...] n’étaient pas injustifiées.“ (NAG, S. 184). 260 Die Anzahl der Streiks belief sich auf 16.907, ein ungebrochener Rekord in der französischen Geschichte von 1830 bis 1999. Vgl. die Streikübersicht bei Grüner, Stefan; Wirsching, Andreas: Frankreich: Daten, Fakten, Dokumente, S. 128-130, hier S. 129. <?page no="255"?> 255 Le fameux ‚souffle de mai 36’, nous ne l’avons pas toujours senti passer avec hostilité. Hélas! les réformes annoncées se faisaient bientôt dans une atmosphère de gabegie, d’excès, de démagogie et de bassesse, inimaginable. C’est ainsi que naît l’esprit fasciste. On le vit naître. Nous l’avons vu naître. (NAG, S. 184) In dieser „[d]rôle d’époque“, die Brasillach zufolge ein bizarres Miteinander von Faschisten und Kommunisten auszeichnet, sei die Atmosphäre „assez fasciste [....], anti-libérale, à la fois nationale et sociale“ gewesen (NAG, S. 185f.). Der Autor betont zurückblickend, dieser „esprit fasciste“ sei keineswegs ein politisches oder wirtschaftliches Dogma gewesen - „Le fascisme n’était pas pour nous, cependant, une doctrine politique, il n’était pas d’avantage une doctrine économique.“ (NAG, S. 283) - , als vielmehr ein Gefühl unbeschwerter Jugendlichkeit und Freiheit in Pfadfindermanier: Sportliche Aktivitäten, per Anhalter fahren, Zelten in freier Natur: „De graves personnes, pleines de leur droit, de ce-qui-est-à-moi-est-à-moi, protestèrent contre l’auto-stop […]. Ils n’avaient évidemment pas l’esprit fasciste.“ (NAG, S. 193, Kursivierung im Text). 261 Angesichts der nationalen Bewegungen im Ausland sei auch der französische Nationalismus sich seiner selbst stärker bewusst geworden, und es sei „un esprit préparatoire à ce qu’on pourrait nommer le ‚fascisme’ français“ entstanden, den er als Abenteuer bezeichnet, in das sich ein Teil der französischen Jugend am Vorabend des Zweiten Weltkriegs gestürzt habe (NAG, S. 234). Von Italien ausgehend, dem ersten Land mit einer nationalsozialistischen Doktrin, habe sich innerhalb der letzten zwanzig Jahre ein neuer Menschentyp entwickelt: der „uomo fascista“ (NAG, S. 235, Kursivierung im Text). Zur Illustration der globalen Dimension dieser Nationalbewegungen führt Brasillach alle Länder an, in denen diese „révolution“ wie ein Feuer („brûla“, „feu“, „flamme“) um sich gegriffen, die Welt entflammt 262 und zusammengeschweißt habe: „L’univers flambait, l’univers chantait et se rassemblait, l’univers travaillait.“ (NAG, S. 236f.). Auffällig ist Brasillachs mehrfach artikulierte Unentschlossenheit hinsichtlich der eigenen „faschistischen“ Zugehörigkeit: „Ainsi [...] se formait ce que nos adversaires appelaient le fascisme et que nous avions fini par nommer ainsi.“ (NAG, S. 282). Die Zuschreibung erfolgt abermals von außen über die Widersacher, die generalisierende Aneignung erst im Fol- 261 Zum schwer fassbaren Faschismus-Verständnis Brasillachs, „néanmoins révélateur d’une manière de penser, laquelle associe pêle-mêle fascisme, jeunesse, sport et plein air, en même temps qu’elle trace une nette opposition entre fascistes et conservateurs“, s. Lacroix, Michel: De la beauté comme violence, S. 155f. Vgl. die Anklänge an Turlais’ Definition, wonach der Faschismus alogisch, vielfältig, verrückt und insbesondere „de l’ordre des sentiments“ sei. Turlais, Jean: „Introduction à l’histoire de la littérature ‚fasciste’“, S. 32, Hervorhebung BB. Zu Turlais s. Kp. 1.6. 262 Vgl. auch die Bezeichnung als „flamboiement national qui s’allumait un peu partout dans l’Europe d’alors.“ (NAG, S. 246). <?page no="256"?> 256 geschritt. Bereits im nächsten Satz spricht er jedoch von „unserem Faschismus“ als ein die Jugend weltweit vereinendes Phänomen: Sie habe den Wunsch nach einer reinen Nation und Rasse geteilt und das Gemeinschaftsgefühl, den „pulsations d’un vaste cœur“ (ebd.) vergleichbar, geschätzt. 263 Hingegen habe sie nicht an die Versprechungen des Liberalismus, an die Gleichheit der Menschen und den Willen des Volkes geglaubt, dafür aber an die Einheit der Nation: „Une nation est une, exactement comme est une l’équipe sportive.“ (ebd., Kursivierung im Text). Die Apotheose der Jugend und der Kameradschaftskult sind konstitutive Elemente von Brasillachs „pfadfinderhaft-unbekümmerte[m]“ und „nostalgische[m] Faschismuskonzept“, dessen Schlüsselwort „Freude“ lautet: 264 Car l’extravagance des adversaires du fascisme se trouve avant tout dans cette méconnaissance totale de la joie fasciste. Joie qu’on peut critiquer, joie qu’on peut même déclarer abominable et infernale, si cela vous chante, mais joie. Le jeune fasciste, appuyé sur sa race et sur sa nation, fier de son corps vigoureux, de son esprit lucide, méprisant des biens épais de ce monde, le jeune fasciste dans son camp, au milieu des camarades de la paix qui peuvent être les camarades de la guerre, le jeune fasciste qui chante, qui marche, qui travaille, qui rêve, il est tout d’abord un être joyeux. [...] Je ne sais pas si, comme l’a dit Mussolini, ‚le vingtième siècle sera le siècle du fascisme,’ mais je sais que rien n’empêchera la joie fasciste d’avoir été, et d’avoir tendu les esprits par le sentiment et par la raison. 265 (NAG, S. 282f., Kursivierung im Text) Die dreimalig wiederholte Freude stellt der Autor als unumstößliches Gut („mais joie“) ihren Gegnern, dem abschätzig-pauschalierten „vous“ gegenüber. Daran schließt sich in einem ebenfalls triadischen Folgeschritt eine detaillierte Bestimmung des attributiv als „être joyeux“ charakterisierten Typus des „jeune fasciste“ an. Hier fallen die Schlagworte, die für Brasillachs Faschismusverständnis zentral sind: Rasse, Nation, Männlichkeit, Scharfsinn, Antibürgerlichkeit und Kameradschaftsgeist in Friedens- und Kriegszeiten. In Form eines viergliedrigen Relativsatzes skizziert er final das verklärte Idealbild des „‚uomo fascista’[,] den „Aktivismus (‚marcher’, ‚travailler’), die ästhetische Überhöhung (‚chanter’) und die Möglichkeit eines realitätsüberwindenden Entwurfs (‚rêver’)“ 266 auszeichnen. Nach der ausführlichen Beschreibung der faschistischen Freude, deren allumfassen- 263 Vgl. die Wiederverwertung der gering modifizierten Passage im Journal d’un homme occupé (JHO, S. 210f.). 264 Hofer, Hermann: Die Literatur der Kollaboration, S. 155. Zu Brasillachs eklektischem Faschismus-Konstrukt passt sein Bemühen, den Offizieren faschistische Lieder beizubringen, sich einen faschistischen Stabsunteroffizier als Beifahrer zu wählen, sich aber andererseits von Faschisten zu distanzieren, die seiner Meinung nach den „plus redoutables cellules“ (NAG, S. 294) angehörten. 265 Diese Passage zitiert Brasillach am Ende seines Artikels „Pour un fascisme français“. In: JSP, 6. 11. 1942, S. 1. 266 Zimmermann, Margarete: Die Literatur des französischen Faschismus, S. 236. <?page no="257"?> 257 des Ausmaß die Dopplung „par le sentiment et par la raison“ andeutet, folgt die Abgrenzung des „esprit fasciste“ in Form einer triadischen Negation („Le fascisme n’était pas“, „il n’était pas“, „Il n’était pas“) gegen Konformismus, Bürgerlichkeit und Vorurteile, um ihn final als Inkarnation von Freundschaft zu glorifizieren: Mais le fascisme, c’est un esprit. C’est un esprit anticonformiste d’abord, antibourgeois, et l’irrespect y avait sa part. C’est nn [sic] esprit opposé aux préjugés, à ceux de la classe comme à tout autre. C’est l’esprit même de l’amitié, dont nous aurions voulu qu’il s’élevât jusqu’à l’amitié nationale. (NAG, S. 283) Aus dem auf wenige Seiten verdichteten Nachwort 267 (NAG, S. 347-353) zu Notre avant-guerre spricht Brasillachs Nostalgie angesichts des Endes seiner Jugend (respektive der Jugend der „génération de la relève“, NAG, S. 352) und der Epoche der Vorkriegszeit. Zugleich handelt es sich um eine Huldigung des „esprit fasciste“. Die seiner Generation kostbaren Güter der „fantaisie, l’ironie, la bohème, l’insouciance du lendemain“ (NAG, S. 349) stehen der bürgerlichen Lebenssphäre diametral gegenüber und machen das Spezifikum von Brasillachs Faschismusverständnis als antibourgeoise Geisteshaltung aus. 268 Das omnipräsente Gefühl der Bedrohung, in dem seine Generation des zweifachen avant-guerre aufgewachsen sei, habe sie zusammengeschmiedet und vor einer Verbürgerlichung bewahrt: Ce monde menacé où ils sont nés, à la veille de l’autre guerre, ce monde menacé où ils ont vécu, à la veille de la nouvelle, ne les a pas incités aux vertus bourgeoises. C’est sans doute la ligne essentielle, celle qui a pu unir, parfois, au hasard d’une rencontre, les tenants d’opinions différentes. C’est ce que nous appelions entre nous l’esprit fasciste. Car nous ne voulions pas être les gladiateurs de la bourgeoisie et du conservatisme, et nous aimions la liberté de notre vie. (ebd.) Dem Romancier erscheint der Faschismus im Angesicht des verhassten neuen Krieges wie ein Wunschbild: Sein Charme lag für ihn in der pompösen Inszenierung und dem ausgeprägten Jugendkult begründet: „Mais il semble loin, aujourd’hui, le temps où rayonnait pour nous, hier encore, le fascisme immense et rouge, avec les chants, les défilés, la conquête du pouvoir, José Antonio, la jeunesse virile, la nation. Quand tout cela reviendrait-il? “ (NAG, S. 352). An dieses „Bild“ knüpft Brasillach nach der französischen Niederlage an, wenn er sich als „[a]moureux d’un fascisme français à construire, plein[] du rêve d’une jeunesse chantante et forte“ (JHO, S. 16) beschreibt. Diese Äußerung Brasillachs bestätigt Bardèche zufolge das „romantische“ Faschismusverständnis seines Schwagers: Cette conception poétique et émotive du fascisme, Paul Sérant n’a pas tort de la définir comme un ‚romantisme fasciste’. Elle a été, j’en suis convaincu, un enthousiasme de fraternité ressenti par beaucoup à cette époque: un sang nou- 267 Auf die Kursivierung des Nachworts wird folgend nicht mehr explizit hingewiesen. 268 Hofer, Hermann: Die Literatur der Kollaboration, S. 155. <?page no="258"?> 258 veau qui réveillait de très anciennes croisades. Et j’avoue que je ne suis pas spécialement indigné qu’on refuse parfois à Brasillach le titre de ‚penseur politique’: il ne l’eût assurément pas brigué. C’est la sensibilité et un certain instinct de la grandeur et de la force qui l’ont attiré vers le fascisme. 269 Wenngleich sich dieser rechtfertigende Kommentar als unbefriedigend erweist, so ist er insofern kohärent, da selbst das (von Bardèche) erstellte „Tagebuch“ der Okkupationszeit keinen grundlegend differenzierteren Eindruck vermittelt, der das romantisierte, nostalgische Faschismusgefühl im Sinne der apolitischen Kategorien von „esprit“ und „image“ des avantguerre relativieren würde. Im Juni 1941 plädiert Brasillach entschieden dafür, dass der Krieg auch für Frankreich einen Sinn haben muss, welchen er im Kampf gegen den Kommunismus und im Engagement für einen französischen Nationalsozialismus verwirklicht sieht (JHO, S. 181). Auch in den Besatzungsjahren qualifiziert er den Faschismus als „esprit“: Dem Wesen nach ein „esprit d’équipe“, der politischen Zielsetzung zufolge ein „esprit social et national“, den es an die französischen Bedürfnisse anzupassen gelte (JHO, S. 182). Auch im Juli 1941 ist der Falangismus José Antonio Primo de Riveras das Vorbild: „Seul un fascisme français peut collaborer avec le monde nouveau, et ce fascisme n’est ni marxiste ni conservateur. Seul l’esprit des cinq flèches nouées peut faire lever sur la France l’aube dont parle la chanson de la Phalange.“ (JHO, S. 183). Sein Faschismus-Bekenntnis erneuert Brasillach im Frühjahr 1942: „Il n’y aura pas de France s’il n’y a pas de France fasciste“, respektive „Nous attendons, nous voulons construire le fascisme français.“ (JHO, S. 198). Nunmehr führt Brasillach nur das faschistische Dekor und Ambiente mit Fahnen, Scheinwerfern, Gesängen und Jugendlagern auf und verherrlicht das Märtyrertum (JHO, S. 199). Dies kann als Bestätigung der These interpretiert werden, dass [m]ore than anything else, it was the aesthetic experience of fascism, the supposedly unmediated sense of community that fascism produced, that interested and attracted Brasillach. This did not make his writings in any way less political; on the contrary, it moved his literary fascism closer and closer to National Socialism and its own aesthetics of politics. 270 Selbst nach der Landung der Alliierten und Besetzung der freien Zone hält Brasillach im Dezember 1942 am französischen Faschismus fest und proklamiert, dass er diesen, unabhängig von der Entwicklung des Weltgeschehens, nie aufgeben werde (JHO, S. 212). 269 Bardèche, Maurice: Notice. In: Brasillach, Robert: Lettre à un soldat de la classe soixante. In: Œuvres complètes, Bd. 5, 1964, S. 589-609, Notice S. 585-587, hier S. 587, Hervorhebung BB. 270 Carroll, David: French literary fascism, S. 117, Hervorhebung BB. <?page no="259"?> 259 4.8.1 Jugendkult Il n’est dans la vie qu’une jeunesse, et l’on passe le reste de ses jours à la regretter, et rien au monde n’est plus merveilleux et plus émouvant. 271 In Brasillachs „persönliche[r] Mythologie“ stellt die Jugend „eine Art Goldenes Zeitalter“ 272 dar: Die Jugendlichen der faschistischen Staaten bzw. die jugendlichen Faschistenführer verkörpern für ihn exemplarisch die Hoffnung auf einen Neuanfang. Léon Degrelle ist „un jeune homme vigoureux“ (NAG, S. 238), der nur wenige Jahre ältere „jeune fondateur de la Phalange“ (NAG, S. 248) José Antonio Primo de Rivera seinerseits inkarniert für den jungen Schriftsteller „everything he apparently most wanted to be: perennially young, energetic, successful, the leader of an elite corps of friends, individualistic - a kind of schoolboy hero able to shock and inspire.” 273 Die Exekution des 33-jährigen Falangisten-Anführers durch die „Roten“ trägt wesentlich zu Brasillachs kultischer Verehrung des „garçon héroïque” und „[p]rince de la jeunesse, prince du sacrifice, prince de la lucidité“ bei, den er als „fantôme pur” apostrophiert. 274 Ebenso ist es die außergewöhnliche Jugendlichkeit des „garçon“ Arno Breker „[qui] a l’air d’une sorte d’étudiant“ (JHO, S. 177f.), die Brasillach an ihm als Stellvertreter des „jungen“, neuen Deutschlands schätzt: „Un pays est jeune quand ses ‚officiels’ savent rester jeunes, être jeunes eux-mêmes, tout court.“ (JHO, S. 178). Er lobt die französischen Jugendlichen, die sich am Vorabend des Krieges in das faschistische Abenteuer stürzen (NAG, S. 234), doch besonders angetan ist er von der „belle jeunesse“ des Deutschen Reiches (NAG, S. 278), an die sich der Nationalsozialismus primär richte: C’est à elle que tout s’adresse ici […]. On avait oublié, en vérité, qu’il existait des Allemands de plus de vingt-cinq ans, - et que c’était même eux qui avaient fait le national-socialisme. Mais ils peuvent l’avoir créé, désormais le mouvement n’est plus pour eux, il est pour la jeunesse.“ (NAG, S. 270) Große Bewunderung spricht aus seiner detaillierten Beschreibung der spartanisch lebenden Jugendlichen in einem Arbeits- und Zeltlager der Hitlerjugend (NAG, S. 271f.). Der unerwartete Anblick der unter Birken sitzen- 271 Brasillach, Robert: Les Sept Couleurs: Roman. Paris: Plon, 1941, S. 136f. 272 Zimmermann, Margarete: „‚La nouvelle Allemagne’: NS-Deutschland in Robert Brasillachs Erinnerungsbuch Notre Avant-Guerre (1941)“, S. 19. 273 Footitt, Hilary Ann: „Robert Brasillach and the Spanish Civil War“, S. 131. 274 Brasillach, Robert: „L’Absent“. In: JSP, 4. 12. 1942, S. 1, Hervorhebung BB. Bardèche betont die Bedeutung, welche der Ermordung Primo de Riveras als faschistischer Märtyrer- und Projektionsfigur zukam: „Pour que José-Antonio fût cette figure illustre que nous montre le rêve fasciste, il fallait sans doute qu’il n’entrât jamais, lui aussi, dans la Terre Promise, où commencent les partages, les règlements, les arbitrages et les mécontentements.“ Bardèche, Maurice: Qu’est-ce que c’est le fascisme, S. 71, Kursivierung im Text. <?page no="260"?> 260 den und singenden Jugendlichen überrascht ihn, doch qualifiziert er den Gesang als männlich, als Ausdruck der völligen Hingabe der Jugendlichen an das Vaterland und zugleich als die wahre „Muttersprache“: „Ce mot, làbas, n’évoque certes aucune mignardise mais la gravité, la virilité, le dur et puissant amour de la patrie, le dévouement total, tout cela exprimé dans cette langue des sons et du chœur qui est la vraie langue maternelle de l’Allemand.“ (NAG, S. 271). Dementsprechend zeichne sich ihr Tagesablauf durch ein „programme fort militaire et assez strict“ aus (ebd.). Die Hitlerjugend, die alle sozialen Klassen vereine, empfindet Brasillach als mikrokosmische Abbildung des auf Kameradschaft und Geschlossenheit basierenden Dritten Reiches, worin dessen Novität und Stärke liege: „Là est la nouveauté incontestable du III e Reich, qui fait la force la plus redoutable de l’Allemagne.“ (NAG, S. 272). Brasillach, we bereits vor ihm Châteaubriant 275 , betont explizit, dass die Unterkünfte mit Kreuzen geschmückt seien, „(je dis bien: une croix, et non pas une croix gammée)“, wie er in Parenthese hinzufügt (ebd.). Ihn frappiert die Disziplin der Hitlerjugend, ohne diese aus Sicht Frankreichs militarisierte Kindheit (ebd.) als übertrieben zu empfinden. Nachdenklich gestimmt äußert er die Hoffnung, auch Frankreich möge es gelingen, seiner Jugend wieder „les grands sentiments“ beizubringen (NAG, S. 273). Hitler-Deutschland ist es in Brasillachs Augen beispielhaft gelungen, neben der gezielten Förderung der Jugend den „esprit éternel de la jeunesse créatrice“ (JHO, S. 180) zu bewahren, der sich auf vielfältige Weise dokumentiere, wie er dies in einer zehngliedrigen anaphorischen Eloge darlegt: Quelle que soit la façon dont on la juge, l’Allemagne moderne, voilà des années que nous le répétons, aura donné à notre temps un enseignement de jeunesse. Non seulement par ses stades, par ses chantiers, par ses groupements, par cette gloire constante de l’adolescence [...], mais encore plus par l’esprit qui l’anime. Par la jeunesse physique et réelle de tant de ses dirigeants à l’intérieur du parti [...]. Par la hardiesse de tant de ses conceptions. Par la volonté qu’elle a de continuer son passé et de s’incarner dans les nouvelles formes. Par l’absence de ‚pose’, par la simplicité de ceux qui ont le pouvoir de créer et qui n’en sont point accablés, qui, au contraire, acceptent ce poids avec allégresse, comme on accepte précisément dans l’adolescence tous les fardeaux et tous les avenirs. (JHO, S. 179f.) Folgerichtig wendet sich Brasillach in der Todeszelle an seinen Neffen und „cher garçon“ (LS, S. 11), zuversichtlich hoffend, „daß die nächste Revolu- 275 Vgl. GdF, S. 227. Zudem erfüllt ihn eine ähnliche Ehrfurcht wie seinen bretonischen Schriftstellerkollegen angesichts des Grabmals des Helden in der Weihehalle im Bayreuther Haus der deutschen Erziehung (vgl. GdF, S. 89), als er das Denkmal zu Erinnerung an die „enfants du parti“ sieht, die im Kampf gegen den Marxismus ihr Leben für das Vaterland verloren haben. S. NAG, S. 272, erneut JHO, S. 194. <?page no="261"?> 261 tion die einer von jeglicher Ideologie befreiten Jugend sein werde“. 276 Die Verherrlichung der Jugend ist wesentliche Konstante seines Faschismus- Diskurses „[r]eposant pour l’essentiel sur l’idéologème ‚le fascisme est jeunesse’.“ 277 Un camp de jeunesse dans la nuit, l’impression de faire corps avec sa nation tout entière, l’inscription à la suite des héros et des saints du passé, une fête totalitaire, ce sont là des éléments de la poésie fasciste, c’est ce qui aura fait la folie et la sagesse de notre âge, c’est, j’en suis sûr, ce que la jeunesse, dans vingt ans, oublieuse des tares et des erreurs, regardera avec une sombre envie et une nostalgie inguérissable. (LS, S. 38f., Hervorhebung BB) 4.8.2 Je suis partout [C]e journal que nous aimions, ce journal de nos espérances, de nos colères, de nos gaietés [...]. (JHO, S. 21) Brasillachs Tätigkeit für Je suis partout erstreckt sich über mehr als ein Jahrzehnt: Er schreibt bereits für die ersten Ausgaben der 1930 gegründeten „[r]evue d’obédience Action française“ 278 , bevor er im Juni 1937 die Nachfolge von Pierre Gaxotte 279 (1895-1982) als Chefredakteur antritt (NAG, S. 214). Dieses Amt hat er mit Unterbrechungen bis Sommer 1943 inne. Das wirkungsvolle „‚instrument de propagande nationale et de rénovation sociale’“ 280 , das sich im Verlauf des Krieges zum aggressivsten Sprachrohr des extremen französischen Faschismus 281 entwickelt und „eine[] Politik 276 Reichel, Edward: Nationalismus - Hedonismus - Faschismus: Der Mythos Jugend in der französischen Politik und Literatur von 1890 bis 1945. In: Koebner, Thomas; Janz, Rolf-Peter; Trommler, Frank (Hgg.): „Mit uns zieht die neue Zeit“: Der Mythos Jugend. 1. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985, S. 150-173, hier S. 170, Hervorhebung BB. 277 Lacroix, Michel: De la beauté comme violence, S. 190, Hervorhebung BB, s. auch S. 155f. Lacroix zufolge habe die Jugend in Brasillachs Romanen (deutlich vor den journalistischen Arbeiten) sukzessive größeren Raum eingenommen, weshalb er die These aufstellt, „que c’est par la jeunesse que Brasillach est venu au fascisme.“ Ebd.: S. 222. 278 „Je suis partout“. In: Milza, Pierre; Berstein, Serge: Dictionnaire historique des fascismes et du nazisme, S. 400-401, hier S. 400. 279 Der Normalien, Journalist, Historiker und ehemalige Sekretär Charles Maurras’ hatte Brasillach anfänglich eine gegen die Intellektuellen des Front populaire gerichtete Chronik („Lettre à une provinciale“) in Je suis partout anvertraut. Gaxotte wurde 1953 in die Académie française gewählt. Ausf. s. Dioudonnat, Pierre-Marie: Les 700 rédacteurs de Je suis partout 1933-1944, S. 44f.; s. auch Ders.: Je suis partout 1930-1944, S. 118. 280 So der Abonnenten-Werbetext, zit. in Zimmermann, Margarete: „‚La nouvelle Allemagne’: NS-Deutschland in Robert Brasillachs Erinnerungsbuch Notre Avant-Guerre (1941)“, S. 13. 281 Überraschend ist Milza und Bersteins Charakterisierung des von Je suis partout vertretenen Faschismus „[qui] resta malgré tout, davantage un fascisme de sensibilité, un emportement romantique, qu’un fascisme doctrinaire.“ „Je suis partout“. In: Mil- <?page no="262"?> 262 nationaler Revanche gegen die Verlierer von 1940, gegen die Volksfront, gegen das Judentum“ vertritt, bedarf aufgrund dieses „Über-Faschismus“ weder einer ideologischen, noch angesichts der beträchtlichen Auflagensteigerung während der Besatzung einer finanziellen Förderung durch das Deutsche Reich. 282 Wenn Brasillach die Wochenzeitung als „excellent organe de combat et d’information, unique en son genre en France“ (NAG, S. 213) preist, die 1936 über mehrere Monate hinweg eine erbarmungslose Pressekampagne gegen die Volksfront führt, so fällt ein zentrales Stichwort, dessen er sich wiederholt zur Charakterisierung der Zeitung bedient: „violence“. Je suis partout zeichnet sich durch eine zunehmende Aggressivität („violence [...] accrue“, NAG, S. 214) aus, die ihre extremste Zuspitzung in der Person Lucien Rebatets findet, „le plus violent d’entre nous“ (NAG, S. 215). Dieses „nous“ verbindet ein unverwechselbarer Kameradschaftsgeist („la vraie camaraderie“, „cette camaraderie unique“, NAG, S. 221f., „l’esprit de camaraderie“, NAG, S. 214) und schweißt die Je suis partout-Journalisten 283 zu einer Bande und „Gang“ zusammen. Darunter befinden sich zahlreiche junge Anhänger der Action française, neben Brasillach u.a. Lucien Rebatet, Claude Jeantet und Thierry Maulnier. Dass die Freude das Redaktionsteam geeint habe (ebd.), deutet voraus auf den „esprit fasciste“, dessen unveräußerliches Kennzeichen gemäß Brasillach eben diese „joie“ ist (NAG, S. 282). Die Gegner, die Je suis partout zum offiziellen Organ des internationalen Faschismus erklären, bezichtigt er der Verleumdung, doch negiert er diese Attribuierung gleichwohl nicht, sondern lenkt die Aufmerksamkeit im berichtigenden Nebensatz bewusst in eine verklärende apolitische Richtung um: „Mais nous savions que nous étions surtout le journal de notre amitié et de notre amour de la vie.“ (NAG, S. 214). Dies hindert ihn aber nicht daran, Charles Lesca als einen unverbesserlichen Faschisten (NAG, S. 215) zu charakterisieren, auf die Vortragsreihe von Je suis partout über den Faschismus zu verweisen (NAG, S. 225) oder Corneilles Tragödie Sertorius „en chemises noires fascistes“ zu inszenieren (NAG, S. 227). Ihre auswärtigen Veranstaltungen bezeichnet er als bescheidene Ausgabe des „parteitag, à la manière de Nuremberg“, die eine ähnlich ekstatische Stimmung ausgezeichnet habe (NAG, S. 220, Kursivierung im Text). za, Pierre; Berstein, Serge: Dictionnaire historique des fascismes et du nazisme, S. 401, Hervorhebung BB. 282 Hofer, Hermann: Die Literatur der Kollaboration, S. 182. 283 Diese stellten Laval zufolge trotz heterogener politischer Hintergründe („[i]ssus du moule de la ‚Jeune droite non conformiste’, dissidents de l’Action française ou transfuges de l’extrême gauche“) eine soziologisch und ideologisch homogene Gruppe dar. Laval, Michel: Brasillach ou la trahison du clerc, S. 55; für detaillierte Informationen vgl. die 700 Journalisten umfassende Darstellung von Dioudonnat, Pierre-Marie: Les 700 rédacteurs de Je suis partout (1933-1944). <?page no="263"?> 263 Obzwar Je suis partout keiner Partei 284 direkt untersteht, zählen einige Mitarbeiter zu Doriots faschistischem PPF, mit dem auch Brasillach sympathisiert: „Tous nous avions beaucoup de sympathie pour le mouvement.“ (NAG, S. 281). Klar benannt hingegen sind die Feindbilder, unter ihnen die Kommunisten in Gestalt der „presse moscoutaire“ (NAG, S. 311), die sich laut Brasillach als „Kriegstreiber“ gebärden, als Hitler die Abtretung des Sudentengebiets von der Tschechoslowakei fordert; Je suis partout hingegen habe voller Rage für den Frieden gekämpft (NAG, S. 298f.), doch trotz antibellizistischer Parolen die französische Kriegserklärung an Deutschland und somit das Ende des avant-guerre im darauffolgenden Jahr nicht verhindern können (NAG, S. 346). Der jüdische Innenminister Georges Mandel 285 (1885-1944), seines Zeichens erklärter Gegner der Faschisten, zählt zu den unerbittlichsten Kontrahenten von Je suis partout: Nous avions jadis attaqué Mandel, nous avions même demandé pour lui la Haute-Cour, dans notre premier numéro de l’année 1939, pour diffusion de fausses nouvelles bellicistes. Il ne nous l’avait pas pardonné. La France, affolée par la défaite imminente, réclamait des responsables et de l’énergie. Le soupçon, la psychose de l’espionnage sévissaient. Des communistes aux bellicistes de 284 Auf dieses Paradoxon weist Dioudonnat hin: „Un journal, qui se refuse à être l’organe d’un parti, même s’il véhicule une idéologie aux formulations progressivement plus explicites et contraignantes, même lorsqu’à l’instar de J.s.p., sa politique se radicalise à l’extrême, reste un carrefour, un lieu de rassemblement; il réunit des personnalités qui appartiennent à des milieux différents, voire opposés.“ Ebd.: S. 8, Kursivierung im Text. 285 Georges Mandel, alias Louis Rothschild, ehemaliger Kabinettschef Georges Clemenceaus, war Kritiker der Versöhnungspolitik Briands und Poincarés mit Deutschland, frühzeitiger Warner vor Hitler und Gegner der Wiederaufrüstung Deutschlands. Der Post-Minister (November 1934 bis Juni 1936), später Kolonialminister in der Regierung Daladier (April 1938 bis Mai 1940), lehnte das Münchner Abkommen ab. Als Innenminister (ab Mai 1940) unter Paul Reynaud (1878-1966) bekämpfte er die Defätisten, die pronazistische extreme Rechte ebenso wie die Verfechter des Waffenstillstands, Weygand und Pétain. Nach Reynauds Rücktritt (16. 6. 1940) zählte er zu den Parlamentariern, die am 20. Juni nach Marokko aufbrachen, um von dort den Kampf gegen Hitler-Deutschland fortzusetzen. Sie wurden verhaftet, des Landesverrats beschuldigt und verurteilt. Mandel wurde im November 1942 an die Deutschen übergeben und nach Oranienburg und Buchenwald deportiert. Nach dem Mord am Kollaborationisten Philippe Henriot wurde er der Miliz ausgeliefert, die ihn am 7. Juli 1944 im Wald von Fontainebleau ermordete. Ausf. s. Vavasseur-Desperriers, Jean: „Georges Mandel“. In: Sirinelli, Jean-François (Hg.): Dictionnaire historique de la vie politique française au XX e siècle, S. 733-735. Im Mémorandum wird Brasillach schreiben, er habe gewünscht, dass sich der „Kriegstreiber“ Mandel vor Gericht zu verantworten habe, aber er verurteile Mandels Exekution. S. MPP, S. 626. Vgl. die Je suis partout-Ausgabe vom 6. 1. 1939, auf deren Titelseite sich Bezichtigungen finden wie: „Qui veut ‚régénérer’ la France par la guerre? MANDEL/ Qui doit être chassé du gouvernement français? MANDEL/ Qui doit être traduit en Haute-Cour? MANDEL“, Majuskeln im Text. <?page no="264"?> 264 droite, une campagne s’était plusieurs fois amorcée contre nous, en juillet, en janvier. (JHO, S. 17) Zu Mandels ersten Opfern stilisiert Brasillach die faschistischen Je suis partout-Freunde, die er in dreifacher anaphorischer Reihung als ungefährliche Einzelgänger präsentiert: „Les premiers désignés étaient nos amis, sans soutien parlementaire, sans alliées, sans argent, mais connus pour leur idéologie ‚fasciste’.“ (JHO, S. 17). Wegen des Verdachts, einen „‚complot contre la sûreté intérieure et extérieure de l’État’“ (JHO, S. 19) geschmiedet zu haben, werden Charles Lesca und der Theaterkritiker Alain Laubreaux auf Veranlassung Mandels im Juni 1940 verhaftet. 286 Empört über diese infame Verleumdung weist Brasillach darauf hin, wie er damals selbst von der Front nach Paris zurückbeordert und nach einem dreitägigen Verhör, über dessen Absurdität er sich lustig macht, wieder freigelassen wurde (JHO, S. 23ff.). Der Kriegsverlauf und die davon unberührt unbeirrt pronazistische, zunehmend ultra-kollaborationistische Haltung von Je suis partout führt zum Zerwürfnis des Chefredakteurs, der für sich reklamiert, „Français plus que national socialiste“ (JHO, S. 248) zu sein, mit dem Eigentümer Lesca. 287 286 Wegen defätistischer politischer und pro-nazistischer Propaganda hatte Mandel am 5. 6. 1940 Lesca, Hauptaktionär von Je suis partout, gemeinsam mit zahlreichen seiner Mitarbeiter (zu Laubreaux s. Kp. 4.4) verhaften und „wegen Gefährdung der äußeren und inneren Sicherheit des Staates und Verstoßes gegen das Kriegsrecht und die Zensurgesetze“ im Lager von Gurs internieren lassen. Auf Pétains Intervention hin wurde Lesca entlassen (28. 6.) und das Verfahren gegen ihn und die vier Mitangeklagten eingestellt (6. 8.). In seiner antisemitischen Hetzschrift Quand Israël se venge (1941) stellt sich Lesca als Opfer hasserfüllter und rachsüchtiger jüdischer Politiker dar, welche die Verantwortung für Frankreichs Ruin trügen. Nicht nur für Mandel fordert er den Tod. S. Hofer, Hermann: Interpretationen literarischer Texte der Kollaboration, S. 152f. 287 Eine Fußnote weist im Text darauf hin, man habe Brasillach des Defätismus bezichtigt und dieser seinerseits „le bourrage de crâne“ abgelehnt (JHO, S. 249, Fn. 1). Zum Grund für die Spaltung der Je suis partout-Redaktion in zwei opponierende Lager schreibt Dioudonnat: „L’un, favorable aux ‚ultras‘ de la collaboration, au P.P.F. de Jacques Doriot puis à la Milice de Joseph Darnand, entend demeurer fidèle jusqu’au bout de l’idéologie fasciste et à l’Allemagne dans sa chute. Il accuse volontiers l’autre de tiédeur. Celui-ci, avec Brasillach, est resté plus proche du nationalisme traditionnel, plus maréchaliste. Il refuse la politique du pire et se méfie des extrémistes; les lendemains étant moins sûrs que jamais, il ne veut ni se montrer systématiquement hostile à Pierre Laval et au gouvernement de Vichy, quels que soient ses griefs contre lui [...], ni continuer à prédire imperturbablement une victoire allemande de jour en jour moins vraisemblable.“ Dioudonnat, Pierre-Marie: Je suis partout 1930-1944, S. 366, Hervorhebung BB. Ein Vergleich legt nahe, dass sich Dioudonnat auf Brasillachs Selbstauskünfte (Mémorandum) stützt: MPP, S. 634, 638ff.; vgl. auch Sapiro, Gisèle: La responsabilité de l’écrivain, S. 587. Brasillachs wahre Beweggründe bleiben indes sehr unklar, heißt es doch einerseits im vollständigen Brief an Rebatet, den Bardèche in der Correspondance wiedergibt, „Je ne veux pas être plus allemand que les Allemands“, andererseits: „En bref, j’ai confiance dans la Wehr- <?page no="265"?> 265 Gegenüber Rebatet, der sich in der Folge mit Brasillachs Nachfolger Cousteau der Miliz verschreibt, erklärt Brasillach in seinem Schreiben vom 14. August 1943, er verwehre sich gegen ein Verkommen ihrer Zeitung zum „organe à devise ‚le fascisme, le fascisme seul’“ (JHO, S. 249). Der letzte Artikel aus Brasillachs Feder datiert vom 27. August 1943, versehen mit dem Notabene, er habe sich aufgrund einer Reise an die Ostfront von Je suis partout absentiert; vage schließt er: „Divers travaux m’empêcheraient maintenant encore d’y donner les soins constants qu’il réclame. Je cesse mes fonctions de rédacteur en chef. Pierre-A. Cousteau s’occupera du journal.“ 288 4.9 Feindbilder 4.9.1 „Die Juden“ Auffallend verhalten ist Brasillachs Antisemitismus, der die Virulenz der Je suis partout-Artikel ausmachte, in Notre avant-guerre und dem Journal d’un homme occupé ausgeprägt: Hier überwiegen ironisch-abfällige Bemerkungen wie die, die zentraleuropäischen Ghettos hätten ihre Juden im Pariser Marais mitsamt ihrem Dreck ausgeschüttet (NAG, S. 84). Die Beschreibung jüdischer Emigranten, denen er 1933 in Lyon begegnet, ist gespickt mit Stereotypen und gipfelt darin, dass er deren Exil als angenehme und sorgenfreie Zeit verhöhnt: Pas trop terrifiés d’ailleurs, toujours en relations avec des parents riches de Francfort ou de Berlin: des prévoyants de l’avenir, qui se garaient avant des coups trop durs, mais dont l’exil - qui était alors sans souffrance et sans véritable persécution - était déjà orchestré en lamentations énormes par toute la presse des deux continents. (NAG, S. 129) Während er sich amüsiert daran erinnert, wie ihm ein emigrierter jüdischer Bankierssohn das Horst-Wessel-Lied vorgesungen habe (NAG, S. 130), spricht er zynisch von der Flüchtlingsflut von Juden und Sozialisten, die das neue Deutschland Frankreich beschert habe und die nunmehr dort eine Klagemauer errichten würden (NAG, S. 132). Der jüdische Sozialist und Präsident des Conseil Léon Blum ist das erklärte Feindbild nicht nur Brasillachs, sondern der extremen französischen Rechten, was sich in dem macht et dans le patriotisme d’Adolf.“ Vgl. den Brief Brasillachs an Rebatet vom 14. 8. 1943 in Brasillach, Robert: Correspondance inédite. In: Œuvres complètes, Bd. 10, 1965, S. 584ff., hier S. 585. 288 Diese knappe Begründung findet sich in einem kaum merklich platzierten „P.S.“ am Ende seines Artikels. Ders.: „La L.V.F. a deux ans“. In: JSP, 27. 8. 1943, S. 1 und 2, hier S. 2. <?page no="266"?> 266 Slogan „‚Plutôt Hitler que Blum’“ 289 widerspiegelt. Durch die Kommentierung, Blum „se fit un peu battre par quelques inconnus“ auf der Beerdigung Bainvilles, bagatellisiert er diesen Vorfall und verspottet Blum sarkastisch als „le pauvre Juif“ (NAG, S. 177). Ihm schiebt er die Schuld zu, dem seit der Dreyfus-Affäre fast gänzlich verblassten Antisemitismus neuen Auftrieb gegeben zu haben, denn „[l]e Français est antisémite d’instinct, bien entendu, mais il n’aime pas avoir l’air de persécuter des innocents pour de vagues histoires de peau. M. Blum lui apprit que l’antisémitisme était tout autre chose.“ (NAG, S. 189). 290 Dass der Nationalist und entschiedene Antisemit Xavier Vallat 291 (1891-1972) am 6. Juni 1936 in der Deputiertenkammer kritisiert hatte, mit Blum werde das galloromanische Frankreich erstmals von einem Juden regiert - dem man stellvertretend die jüdische „incapacité historique de diriger un Etat“ 292 vorwarf - und damit einen hitzigen Schlagabtausch mit den jüdischen Regierungsmitgliedern auslöste, entschärft Brasillach als ironische Bemerkung. 293 Seine Intention ist es vielmehr, den Eindruck zu erwecken, Frankreich sei hilflos dem jüdischen Einfluss ausgeliefert gewesen, was er durch Auflistung zahlreicher 289 Azéma, Jean-Pierre: La France de Daladier. In: Ders.; Bédarida, François: La France des années noires, Tome 1, S. 15-39, hier S. 20. Vgl. den Überblick über die antisemitische Diffamierung Blums in den 30er Jahren insb. durch die rechtsnationale Presse (Gringoire, Je suis partout, Candide, L’Action française) inkl. der Wiedergabe zahlreicher Karikaturen durch Arndt, Regine: Léon Blum - ein jüdischer Franzose: Zur Bedeutung von bildhaften Vorstellungen für die antisemitische Propaganda in Frankreich während der 30er Jahre. Dissertation Universität Hannover, 1996. 290 Als Gründe für die zweite antisemitische Welle nach der Dreyfus-Affäre führt Winock neben Blums Regierungsantritt, Politik- und Finanzskandale à la Stavisky, die Arbeitslosigkeit sowie die zunehmende Emigration deutscher und mitteleuropäischer Juden nach Frankreich auf. Vgl. das in Anspielung auf Maurras’ Morddrohung gegenüber Blum „Die Rechte und das Küchenmesser“ überschriebene Kapitel in Winock, Michel: Das Jahrhundert der Intellektuellen, S. 410-421, hier S. 419. 291 Xavier Vallat, ehemaliges Faisceau- und Croix de Feu-Mitglied, später Deputierter des Parti républicain national et social, wurde von Pétain ins Ministère des Anciens combattants berufen. 1941/ 1942 stand der Generaldelegierte für Judenfragen dem Commissariat général aux questions juives vor. „Xavier Vallat“. In: Berstein, Gisèle et Serge: Dictionnaire historique de la France contemporaine, S. 789-790. 292 Vgl. den Buchtitel von Viguier, Laurent: Les juifs à travers Léon Blum: leur incapacité historique de diriger un état; la marque juive dans le christianisme. Paris: Baudinière, 1938. 293 Als „un moment essentiel de l’histoire de la République“ qualifiziert Birnbaum Vallats Rede vor der Chambre des députés, der befand: „‚[P]our gouverner cette nation paysanne qu’est la France, il vaut mieux avoir quelqu’un dont les origines, si modestes soient-elles, se perdent dans les entrailles de notre sol, qu’un talmudiste subtil.’“ Dieser zunehmende „antisémitisme politique“ fand kurze Zeit später (legalen) Ausdruck im „Staatsantisemitismus“ Vichys. Birnbaum, Pierre: Un mythe politique: „La république juive“: de Léon Blum à Pierre Mendès France. Paris: Fayard, 1988 (Nouvelles études historiques), Zitate der Reihe nach S. 327f., 332f. <?page no="267"?> 267 antisemitischer Vorurteile, die er als historische Wahrheit und Fakten präsentiert, zu untermauern versucht: Le cinéma fermait pratiquement ses portes aux aryens. La radio avait l’accent yiddisch. Les plus paisibles commençaient à regarder de travers les cheveux crépus, les nez courbes, qui abondaient singulièrement. Tout cela n’est pas de la polémique, c’est de l’histoire. (ebd.) Die unter Federführung Lucien Rebatets 294 erstellten antisemitischen Je suis partout-Sonderhefte vom 15. April 1938 und 17. Februar 1939 rechtfertigt er als den Versuch eines „statut des Juifs raisonnable“ (ebd.); gleichzeitig bewundert er den bemerkenswerten Polemiker (NAG, S. 215), der seine Zuhörerschaft sogar zu Pogromen habe aufstacheln können (NAG, S. 220). Wenngleich Brasillach dies nicht explizit befürwortet, kann mitnichten von Distanzierung die Rede sein. Vielmehr geht er noch einen Schritt weiter, wenn er Célines antisemitisches Pamphlet Bagatelles pour un massacre als „un livre torrentiel, d’une férocité joyeuse, excessif bien entendu, mais d’une verve grandiose“ (NAG, S. 190) lobt. Der 1938 im Elsass stationierte Brasillach gesteht zwar zu, dass die alten jüdischen Gemeinschaften und Franzosen in der Vergangenheit gut miteinander ausgekommen seien, nichtsdestoweniger missbilligt er, dass Elsass und Teile Lothringens zu „terres d’invasion préférées du peuple élu“ geworden seien (NAG, S. 296). Allein die jüdische Kriegshetze 295 („l’excitation belliciste juive“, ebd.) macht er für die Zerstörung jüdischer Geschäfte verantwortlich. Dass ein jüdischer Ladenbesitzer infolgedessen verstorben sei, kommuniziert er emotionslos als Faktum. Er hingegen stellt sich mit makaberer Ironie als von Jehova Verfolgten dar, weil er, Chefredakteur des antisemitischen Blattes Je suis partout, in einem jüdischen Dorf bei einem gewissen „Monsieur Blum“ untergebracht worden sei, er den jüdischen Gottesdienst für den jüdischen Feldgeistlichen organisiert habe und zudem bei der Vorbereitung von Jom Kippur behilflich gewesen sei (NAG, S. 296f.). Dessen Sorge, die jüdische Kapelle könnte entweiht worden sein, tut Brasillach amüsiert ab, da dort, so der Autor despektierlich, „une abominable odeur sucrée et parfumée, intermédiaire entre celle de l’urine et celle du papier d’Arménie“ geherrscht habe, der alle „Goys“ und „Arier“ in die Flucht geschlagen hätte (NAG, S. 297). Ebenso belustigt erinnert er sich an den besorgten „ami M. le rabbin“, dem zwei junge Elsässer nach Abschluss des Münchner Abkommens mit dem Tode gedroht hätten, was er maliziös kommentiert: „On essayait de le consoler en lui jurant que ce n’était pas pour aujourd’hui, et que le pogrom n’était d’ailleurs pas une solution parfaite.“ (NAG, S. 301). Gleichermaßen unberührt und nüchtern 294 Zu Rebatet s. Kp. 1.4.5. 295 Darauf führt Tame Brasillachs Antisemitismus zurück, der kein „antisémite doctrinaire“ gewesen sei. Tame, Peter D.: La mystique du fascisme dans l’œuvre de Robert Brasillach, S. 280f. <?page no="268"?> 268 berichtet er von der avisierten Räumung des Gefangenenlagers in Neuf- Brisach, wo stattdessen ein Konzentrationslager für Juden habe entstehen sollen (JHO, S. 105). Mit Fortschreiten des Krieges wird das von der „juiverie internationale“ durchsetzte Amerika, die letzte „Bastion“ der Juden, zur Zielscheibe seiner Angriffe (JHO, S. 184, 196). Im Vergleich hierzu erscheint Brasillachs Erzählung von einem jüdischen Mitgefangenen in Noisy-le-Sec, den man fälschlicherweise für einen deutschen Offizier gehalten habe, denn „[m]alheureusement, il n’a aucun papier“ (JHO, S. 309), geradezu empathisch. Resümierend ist der mäßige Niederschlag antisemitischer Äußerungen festzuhalten, was im Falle des Journal d’un homme occupé kaum überrascht: Dieses hat wenig mit einem authentischen Brasillach’schen Tagebuch der Okkupationsjahre gemein, da Bardèche bei der Zusammenstellung der Artikel selektierte und zensierte. 296 Geflissentlich übergangen werden hochgradig antisemitische Kommentare, so auch seine unmissverständliche Aufforderung vom 25. September 1942: „[I]l faut se séparer des Juifs en bloc et ne pas garder de petits, l’humanité est ici d’accord avec la sagesse“. 297 Dies ungeachtet und unberührt von der Tatsache, dass mit der 296 Keinen Eingang fanden bspw.: „Il faut régler le problème juif, parce que le Juif est l’étranger, qu’il est l’ennemi, qu’il nous a poussés à la guerre, et qu’il est juste qu’il paie.“ (Brasillach, Robert: „Nous, nous continuons“. In: JSP, 2. 6. 1941, S. 1-2, hier S. 1); „L’armée française a été vaincue. Et terriblement vaincue. Elle l’a été [...] parce que, sur de mauvais coucous à moteurs juifs, à roues juives, à ailes juives, il n’y avait que l’homme qui était Français et qu’il se faisait casser la figure.“ (Ders.: „Il y a un an... Le Chef“. In: JSP, 23. 6. 1941, S. 1); „[Le Juif] est à la base de cette conspiration antifasciste dont nous parlons.“ (Ders.: „La conjuration antifasciste au service du Juif“. In: JSP, 7. 2. 1942, S. 1). 297 Ders.: „Les sept Internationales contre la patrie“. In: JSP, 25. 9. 1942, S. 1. Suzanne Bardèche verteidigt ihren Bruder gegen den ihm ob dieser Äußerung gemachten Vorwurf des Antisemitismus mit dem Argument, man missinterpretiere Brasillach aus der heutigen Warte: „[C]’est le mot d’humanité qui compte, et non pas l’expression qu’on met en relief aujourd’hui: ‚ne pas garder de petits’. Von den Vernichtungslagern habe er nichts gewusst: „[L]’usage habituel des mots de ‚déportation’, et de ‚camps de morts’ déforme, pour les lecteurs d’aujourd’hui, les intentions de ceux qui regardaient alors le transfert des familles juives apatrides comme une mesure préparant la constitution d’une zone de peuplement juif à l’est de l’Europe.“ Bardèche, Suzanne: „Les enfants juifs, Brasillach et Mgr. Salièges“. In: CARB 44/ 45 (1999/ 2000), S. 318-319, hier S. 318f. Suzanne Bardèche argumentiert mit Brasillach, der sich in Lettre à un soldat de la classe soixante zwar als Antisemit bezeichnet, aber gleichzeitig sein Unwissen hinsichtlich des Genozids betont hatte. Dies relativiert indes die vorangestellte Rechtfertigung, dass lange vorher die Briten im Burenkrieg Konzentrationslager erfunden hatten: „Je suis antisémite, je sais par l’histoire l’horreur de la dictature juive, mais qu’on ait si souvent séparé les familles, jeté dehors les enfants, organisé des déportations qui n’auraient pu être légitimes que si elles n’avaient pas eu pour but, à nous caché, la mort pure et simple, me paraît, et m’a toujours paru inadmissible. Ce n’est pas ainsi qu’on réglera le problème juif.“ (LS, S. 26f., Hervorhebung BB). Dass diese tatsächliche oder vorgeschützte Ahnungslosigkeit Brasil- <?page no="269"?> 269 Razzia im Vélodrome d’Hiver in Paris (Rafle du Vel‘ d’Hiv) am 16. Juli 1942 die Massendeportationen in Frankreich begonnen hatten. 4.9.2 Kommunismus Brasillachs Kritik am Kommunismus und der „racaille marxiste“ (NAG, S. 184) artikuliert sich vorzüglich im Zusammenhang mit dem Spanischen Bürgerkrieg und präludiert seinem antikommunistischen Feldzug während des Zweiten Weltkriegs. Der Schriftsteller hebt hervor, dass die Kommunisten bei Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs Blum zur Unterstützung der republikanischen Regierung gegen die Rebellen aufgefordert haben, die sie selbst mit Waffen und der Entsendung von internationalen Freiwilligen unterstützten. 298 Der Appell „‚Blum à l’action! ’“ habe der doppelten Zielsetzung nach Befriedigung ihrer Kriegsgelüste und dem Wunsch nach innenpolitischer Schwächung gedient (NAG, S. 181, 247). In diesem Zusammenhang verweist Brasillach auf das antifaschistische Engagement französischer Intellektueller, was der „Association des Ecrivains Artistes Révolutionnaires (A.E.A.R)“ 299 neuen Zulauf beschert habe (NAG, S. 181). Bewusst führt er die Causa André Gide (1869-1951) an: Gide, vor seiner Russlandreise „[n]aïvement communiste“, sei „dégoûté de M. Staline“ zurückgekehrt, habe seiner Desillusionierung in dem Reisebericht Retour de l’U.R.S.S. (1936) Ausdruck verliehen und damit den Bruch mit seinen Weggefährten provoziert (NAG, S. 182). 300 Auch bedauert er die Unterstützung der „Roten“ durch den talentierten André Malraux 301 (1901-1976): „[I]l faisait du lach keineswegs von seiner Verantwortung entbinde, betont Carroll: „One cannot, however, constantly denounce the Jews and praise Goebbels for his ‚humane solution to the Jewish problem’ and not accept some responsibility for the injustices and criminal actions taken against Jews by the Nazi occupiers with whom he collaborated and the Vichy government he criticized for not going far enough in its own anti- Semitic legislation and practices.“ Carroll, David: French literary fascism, S. 112. 298 Deren Entsendung erfolgte im Wesentlichen über den Pariser Sitz der Komintern. S. Kramer, Roswitha: Literatur im Dienst der Politik, S. 72 299 Zur Konstituierung der A.E.A.R. (März 1932) als Zentrum der antifaschistischen Einheitsfront der Schriftsteller und Künstler, zu deren wichtigsten Weggenossen neben Gide, Malraux und Rolland Louis Aragon und Paul Nizan (ihres Zeichens Mitglieder der Kommunistischen Partei) zählten, vgl. Kohut, Karl: Die antifaschistische Einheitsfront der Schriftsteller und Künstler. In: Ders. (Hg.): Literatur der Résistance und Kollaboration in Frankreich: Geschichte und Wirkung I (1930-1939), S. 40-69. 300 Zu Gides Bruch mit der Einheitsfront s. Ebd. S. 56f. Zu Gide s. auch Kp. 5.1.4 sowie 5.5.1. 301 André Malraux gilt als der bedeutendste Repräsentant des antifaschistisch engagierten Schriftstellers, der nicht nur in Vorträgen (u.a. USA, 1937) und mit Propagandakampagnen die spanische Republik verteidigte, sondern auch aktiv: Mit seiner Flugzeugstaffel Escadrille España bzw. Malraux gelang es ihm, den Vormarsch der aufständischen Truppen auf Madrid monatelang aufzuhalten, was in seinen Roman <?page no="270"?> 270 recrutement officiel pour l’Espagne rouge, et il fut même lieutenant-colonel commandant l’escadrille España. Devant sa gloire, les autres boutefeux au coin du feu pâlissaient.“ (NAG, S. 183, Kursivierung im Text). Die in Frankreich verbreitete Sympathie für „la Russie, la mère sainte“ versucht er ad absurdum zu führen, indem er die Kreation eines Kinderschuhmodells „Bolschewik“ verspottet, mit der die Schuhhändler versucht hätten, die öffentliche Meinung zu hofieren, und kontrastiv die Moskauer Prozesse evoziert, im Rahmen derer sich Stalin seiner unliebsamen Gegner entledigte: „[L]es procès des trotskystes-et-droitiers […], leurs aveux spontanés, leurs réquisitoires, parurent horribles à tous.“ (NAG, S. 191). Den des Komplotts gegen die Republik bezichtigten und verhafteten Cagoulards 302 stellt Brasillach die kommunistischen Zellen mit ihren Waffenlagern und Komplottplänen gegenüber, gegen die der Front populaire indessen nichts unternommen habe (NAG, S. 280). Nach der französischen Niederlage steigert sich Brasillachs Hass auf den Kommunismus, alias die 1938 als Kriegstreiber verurteilten „moscoutaires“ (NAG, S. 298) bzw. „[l]a presse moscoutaire“ (NAG, S. 311). Russland geriert nunmehr zur „force redoutable“ (JHO, S. 38) und der als Bolschewismus gebrandmarkte Kommunismus inkarniert „la mort totale“ (JHO, S. 248). Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion (22. Juni 1941) verurteilt Brasillach mit den Parolen „Moscou seul est coupable“ und „Moscou seul veut la perte de la France“ (JHO, S. 189f.) die Mordanschläge auf Laval und Déat. In diesem Zusammenhang aktualisiert Brasillach das Feindbild der jüdisch-bolschewistischen Verschwörung, wenn er dem von Moskau unterstützten London (JHO, S. 193) vorwirft, das eigene Land, Frankreich, Deutschland und Italien den „bandes mongoles fanatisées par l’alcool révolutionnaire et judaïque“ ausliefern zu wollen (JHO, S. 190) und „le marxisme juif“ (JHO, S. 226), „la contagion juive et marxiste“ (JHO, S. 237) sowie „les poisons marxistes et juifs“ (JHO, S. 244) brandmarkt. Die „gigantischen“ Erfolge der deutschen Armee an der Ostfront, die Brasillach unter Anspielung auf Leni Riefenstahls NS-Propagandafilm als Triumph des L’Espoir (1937) Eingang fand. Kramer, Roswitha: Literatur im Dienst der Politik, S. 76ff. 302 Das von Eugène Deloncle als Reaktion auf das erste Volksfrontkabinett (Juni 1936) gegründete terroristische Comité Secret d’Action Révolutionnaire (CSAR) wurde als Cagoule bekannt. Seine Mitglieder rekrutierten sich v.a. aus den rechtsextremen Ligen und der Action française mit guten Kontakten zu Wirtschaft und Militär. Erklärtes Ziel der von Mussolini mitfinanzierten Cagoulards, deren Anzahl sich auf 2.000-10.000 Mitglieder belief, war die Bekämpfung des Kommunismus und seiner Anhänger, die Provokation eines Bürgerkriegs sowie der Sturz der Republik durch einen Militärputsch. 1937 verübte die Cagoule mehrere Attentate und inszenierte eine kommunistische Verschwörung, welche der Innenminister Marx Dormoy aufdeckte. Vgl.: Borne, Dominique: „Cagoule“. In: Sirinelli, Jean-François (Hg.): Dictionnaire historique de la vie politique au XX è siècle, S. 122-124. <?page no="271"?> 271 (deutschen) Willens (1935) preist, bestärken seine Hoffnung auf den Zusammenbruch Russlands und das Ende des „impérialisme bolchevik“ (JHO, S. 193). Russland dämonisiert er zum gefährlichen, unmenschlichen Land („la barbarie soviétique“, JHO, S. 190), über das nur das militärisch und organisatorisch überlegene Deutsche Reich siegen könne und werde: Revoyez en pensée ces étendues que vous a découvertes l’écran, ces routes boueuses et défoncées, les ponts qui sautent et s’écroulent, les hautes fumées des explosions, le sol miné, le ciel en feu. A travers ces paysages démoniaques, imaginez une armée qui avance sans arrêt, qui vit, qui a besoin de ces longues colonnes de camions sur les chemins impossibles, besoin de ces ponts, besoin de ces aliments, et qui, sur cette terre inhumaine, a tout cela. Miracle? Non pas. Organisation. Et volonté. (JHO, S. 192) 4.9.2.1 Katyn versus… Brasillachs Bericht über das Massaker von Katyn 303 , über das die NS- Medien die Weltöffentlichkeit am 13. April 1943 informiert hatten 304 , bildet den Kern seiner antirussischen Polemik im Sinne der NS-Propaganda. Unter der Überschrift Sur les routes de Russie (JHO, S. 217-223) finden sich Auszüge aus dem umfangreichen Artikel J’ai vu les fosses de Katyn 305 , den der Journalist am 9. Juli 1943 in Je suis partout veröffentlicht hatte. Im Juni 1943 begleiten die von der Propagandastaffel ausgewählten 306 Journalisten Brasillach und Claude Jeantet den französischen Botschafter 303 Der polnische Regisseur Andrzej Wajda (*1926), dessen Vater in Katyn ermordet wurde, drehte 2007 den Film Katyn (Oscar-Nominierung), der unter dem deutschen Titel Das Massaker von Katyn im September 2009 in die deutschen Kinos kam. Vgl. bspw. die Film-Besprechung von Chauffour, Célia: „Andrzej Wajda, un film pour mémoire“. In: Le Monde, 15. 9. 2007, S. 3. 304 Zaslavsky, Victor: Klassensäuberung, S. 63. 305 Bewusst gibt Bardèche den vollständigen Artikel (JSP, 9. 7. 1943, S. 1 und 8) in der Neufassung des Journal d’un homme occupé wieder. S. Brasillach, Robert: Journal d’un homme occupé. In: Œuvres complètes, Bd. 6, 1964, S. 491-499. Vgl. auch Brasillachs bereits erwähnten Artikel Bagatelles sur un massacre (JSP, 30. 4. 1943). Erwiesenermaßen falsch ist Louvriers Behauptung, Brasillachs Bericht über „ce ‚voyage au bout de l’enfer’“ sei nie in Je suis partout publiziert worden, weshalb man seinem Autor auch nicht vorwerfen könne, er habe ihn im Interesse NS-Deutschlands geschrieben. Genau das Gegenteil scheint der Fall. Louvrier, Pascal: Brasillach: L’illusion fasciste. Paris: Perrein, 1989, S. 187. Louvriers Publikation wurde 1990 mit dem Prix Robert Brasillach ausgezeichnet, s. N.N.: „Le 17 e Prix Robert Brasillach à deux écrivains français“. In: CARB 36 (1991), S. 72. 306 So die Angabe von Brinon, Fernand de: Mémoires. Paris: La Page Internationale, 1949, S. 168; zu den Stationen und Brinons Treffen im Verlauf der Hinbzw. Rückreise über Berlin (Otto Abetz), Warschau, Wien (Baldur von Schirach), Salzburg (Ribbentrop), München und abschließend erneut Berlin, s. S. 168-173. Brinons „compagnons de voyage très agréables“ (S. 172) begleiteten ihn auf der gesamten Reise, die am 8. Juni in Paris begann (S. 168) und am 30. Juni endete (MPP, S. 643), wohnten aber offensichtlich nicht den Gesprächen bei. <?page no="272"?> 272 und Präsidenten der LVF Fernand de Brinon nach Russland zur Truppeninspektion an die Ostfront, wo dieser als erster französischer Minister „allait apporter un salut officiel aux vaillants garçons qui ont pu, si longtemps, se juger les enfants perdus de la collaboration.“ 307 Diese ehrt der Journalist als „l’avant-garde hasardée d’un combat qui est le combat de tous.“ 308 Der „Abstecher“ nach Katyn in Nähe der westrussischen Stadt Smolensk 309 , welche die Wehrmacht im Juli 1941 erobert hatte (JHO, S. 236), sei auf eigenen Wunsch erfolgt: Jeantet et moi sommes les seuls journalistes français à avoir vu Katyn. Cette visite ne faisait pas partie du voyage primitif, il ne s’agit donc pas d’une pression, et il a fallu que nous demandions à y être conduits. L’Europe entière parlait de Katyn. […] Nous voulions voir Katyn, nous l’avons vu, et nous avons dit ce que nous avons vu. (MPP, S. 641f.) Einleitend steht die Authentizitätsbeteuerung: Durch siebenmalige Wiederholung des Personalpronomens „je“ und Variation des Verbs „sehen“ („J’ai vu“, „Cette perception directe […], je l’ai eue“, „J’ai contemplé le paysage, respiré l’odeur abominable“, „j’ai marché“, „j’ai regardé“, „Je n’ai rien à dire que je n’aie vu.“, JHO, S. 217) sowie mehrfache Beteuerung der Existenz der Leichen („Il est là“, „Ils sont là“, JHO, S. 219f.) verbürgt er sich dem Leser gegenüber für die Richtigkeit der Schilderung. Dass er von Grauenvollem berichten wird, deuten zunächst die Signalworte „odeur abominable“, „tant de cadavres“ und „les grandes fosses“ (JHO, S. 217) an. Überraschend wirkt die anschließende ausschließlich positive Beschreibung der grünen und „charmant“ hügeligen Umgebung von Smolensk, die indes abrupt abbricht - „C’est pourtant là.“ (ebd.) -, um die Brutalität des 307 Brasillach, Robert: „Sur le front de l’Est avec la Légion française“. In: JSP, 30. 7. 1943, S. 1 und 8. 308 Ebd.: S. 8. 309 Zu Beginn der deutschen Besatzung (bis September 1943) diente Smolensk der Einsatzgruppe B als Hauptquartier; in Sadki, einem Vorort von Smolensk, richtete die Wehrmacht ein Ghetto für Juden ein. „Smolensk“. In: Jäckel, Eberhard; Longerich, Peter; Schoeps, Julius H.: Enzyklopädie des Holocaust: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Bd. 3: S-Z. Berlin: Argon, 1993, S. 1329-1330. Der Name Smolensk ist auch in der Gegenwart mit einem tragischen Unglück verbunden: Am 10. 4. 2010 stürzte die Regierungsmaschine des polnischen Präsidenten Lech Kaczynski (1949-2010) beim Anflug auf Smolensk ab. Alle 96 Insassen, darunter das Präsidentenpaar Kaczynski und hochrangige Regierungsvertreter, kamen ums Leben. Anlass der Reise war eine Gedenkfeier für die vor siebzig Jahren in Katyn vom sowjetischen Geheimdienst zu Tausenden ermordeten polnischen Offiziere und Intellektuelle gewesen. Erzbischof Jozef Michalik, Vorsitzender der Polnischen Bischofskonferenz, betonte die „‚große Symbolik’“ der Katastrophe: „Bei Katyn habe Polen nun zwei Eliten verloren, die von 1940 und die gegenwärtige.“ Vgl. u.a. „Smolensk: Lech Kaczynski bei Absturz getötet“, 10. 4. 2010, http: / / www.faz.net/ artikel/ C31325/ smolensk-lech-kaczynski-bei-absturz-getoetet-30047065.html (letzter Zugriff am 18. 8. 2011). <?page no="273"?> 273 in dieser (Schein-)Idylle begangenen Verbrechens umso wirkungsvoller herauszustellen. Nur zufällig, auf „banale“ Weise (ebd.) sei das Massaker an Tausenden, methodisch exekutierten polnischen kriegsgefangenen Offizieren durch den „bourreau soviétique“ vor drei Jahren entdeckt worden (JHO, S. 221f.). Stellvertretend für die Menschheit hätten die Deutschen, so die durch fünfmalige Wiederholung des Indefinitpronomens „on“ suggerierte übergeordnete, transnationale Ebene, dieses Verbrechen aufgedeckt: On a poussé plus avant les recherches. On est tombé sur une fosse énorme, qui renfermait des milliers de corps, entassés tête-bêche. On en a identifié deux ou trois mille. Puis, petit à petit, on a découvert d’autres fosses. Pour nous, malgré l’interruption, on a ouvert un des emplacements funèbres cette nuit. (JHO, S. 218) Ihr Fahrer, ein „tapferer“ Nationalsozialist („Ce n’est pas une petite fille“), habe sie vor dem grauenvollen Verwesungsgeruch gewarnt; mit unübertroffenem Zynismus wünscht Brasillach, dieser Gestank möge sich mit den Weihrauchschwaden der mit dem Bolschevismus liebäugelnden Erzbischöfe vermischen (ebd.). Für die ausländischen Besucher wird eines der Massengräber geöffnet. 310 Auf das Sehen des Grauens folgt die in Korrelation zur Brutalität des Verbrechens drastische und plastische Beschreibung des Gestanks, der den Betrachtern entgegenschlägt. Nahezu greifbar ist diese „Sache“ („cette chose“), das Unbeschreibliche („innommable“), das Brasillach zu beschreiben sucht. Der Gestank faulenden Fleisches oder, sich korrigierend, einer Unmenge verdorbenen Fisches, der die Besucher angreift („attaque“), einhüllt, ihnen unauslöschlich anhaftet („indélébile“) und sie mit in das Grab zieht: Odeur massive, odeur noire et âcre, inoubliable odeur de charnier. Quelque chose de vivant comme une bête, longuement pourri dans cette terre qui n’abîme pas trop les cadavres. Ils sont là, pressés et compacts, et d’eux monte cette chose qu’on pourrait cerner, qu’on pourrait tenir dans ses mains, tant elle est lourde. Le vent parfois la jette à nos visages, et on a envie de s’essuyer, comme si elle était gluante, fétide et molle. Mais ce n’est qu’une odeur. La viande pourrie, le gibier grouillant de vermine, le suint des étables longuement fermées, la vomissure, les vieilles gangrènes purulentes, la fermentation des graines semblent se mêler tour à tour dans un atroce composé amer. Peut-être est-ce le poisson avancé que cela nous rappelle le plus. Mais un banc énorme de poissons, pourri dans l’âcreté marine, avec des relents d’abcès crevés, de sanies 310 Im Unterschied zu Brinon, der festhält, dass russische Kriegsgefangene diese Arbeit übernehmen müssen („Le travail est effectué par des prisonniers russes“), spricht Brasillach generalisierend von „les hommes affairés à cette besogne“ (JHO, S. 219) und „les fossoyeurs russes“ (JHO, S. 221). Äußerst knapp widmet sich Brinon der Öffnung des Massengrabs mit seiner „puanteur abominable“, doch betont auch er die Unwahrscheinlichkeit jeglicher propagandistischer Inszenierung vonseiten NS- Deutschlands: „[T]oute mise en scène est à mon avis exclue et sans vraisemblance.“ Brinon, Fernand de: Mémoires, S. 170. <?page no="274"?> 274 purulentes, de plaies vertes où coulent des toxines. Oui, vraiment, c’est l’odeur qui nous attaque, qui nous enveloppe, et nous y descendons comme nous descendrions dans la fosse elle-même, baignés dans l’horrible suintement, et toute la journée, nous traînerons avec nous, sur nos vêtements, à nos chaussures, cet innommable souvenir gras, indélébile et puant. (JHO, S. 218f.) Mit Haken „aufgespießt“ werden die „malheureux cadavres polonais“ (JHO, S. 219) den Franzosen präsentiert. Beinahe solenn assoziiert Brasillach mit den ausgemergelten Körpern die skelettösen Skulpturen Ligier Richiers 311 (~1500-1567): „Et nous voyons alors se dresser, debout, comme un décharné de Ligier Richer [sic], un fantôme aux dents découvertes, sec et muet, qui nous apporte sa bouffée de pourriture.“ (ebd.). Doch der bestialische Gestank der Leichen wie auch ihr entmenschlichtes Aussehen lassen den französischen Betrachter, nunmehr schonungslos, den ihm zu Füßen geworfenen Kadaver mit einem vertrockneten, gewaltigen Hering 312 vergleichen: „Il est là, ce hareng sec et monstrueux, arraché à la gélatine des autres corps. Ses côtes saillent comme des arêtes sous le vêtement. Nous nous penchons sur lui, nous regardons.“ (JHO, S. 220). In den Taschen des Toten habe man polnisches Geld, offizielle Papiere sowie eine russische Zeitung datierend von April 1940 313 gefunden. Verbürgt durch die eigene 311 Brasillach spielt auf Ligiers unter den Namen Le Squelette, Le Transi oder Le Décharné bekannte Skulptur des Monument de cœur de René de Chalon in der Kirche Saint- Étienne in Bar-le-Duc an, die 2002 umfassend restauriert wurde. Vgl. die Abbildung in Cournault, Charles: Ligier Richier: Statuaire lorrain du XVI e siècle. Paris u.a.: Librairie de l’Art, 1887 (Les artistes célèbres), S. 21. 312 Vgl. die Ähnlichkeit der Eindrücke des polnischen Schriftstellers und Journalisten Mackiewicz, der im Frühjahr 1943 auf Einladung Berlins vier Tage lang der Exhumierung von Leichen in Katyn beiwohnte: „Vor mir die aufgedeckte Grube, und da unten in Schichten, eng gepackt wie Sardinen in einer Büchse - Leichname, Uniformen, Mäntel - polnische Uniformen, lederne Offiziersgürtel, Knöpfe, Stiefel, krauses Haar an den Schädeln, da und dort ein verzerrt aufgerissener Mund.“ Mackiewicz, Josef: Katyń - ungesühntes Verbrechen. 2. Aufl. Frankfurt a. M.: Possev-Verlag, V. Gorachek K.G., 1983 (1949), S. 113, Hervorhebung BB. 313 Die von deutscher Seite im April 1943 berufene „internationale Ärztekommission mit Spezialisten aus zwölf Ländern, die fast alle mit Deutschland verbündet oder von den Deutschen besetzt waren“, kam nach einmonatiger Untersuchung vor Ort „zu dem einhelligen Ergebnis, dass die polnischen Offiziere im Frühjahr 1940 erschossen worden waren. Der Zeitpunkt implizierte eine klare Schuldzuweisung an die Sowjets.“ Um nicht die NS-Propaganda zu unterstützen, veröffentlichte die zeitgleich tätige „‚Technische Kommission des Polnischen Roten Kreuzes’“, die zu dem gleichen Ergebnis kam, ihr Gutachten nicht. Die nach Ende der deutschen Besatzung der Gegend von Katyn eingerichtete sowjetische „‚Sonderkommission zur Feststellung und Untersuchung der Umstände, die zur Erschießung von kriegsgefangenen polnischen Offizieren durch faschistische deutsche Invasoren im Wald von Katyn führten‘“, befand - wie im Namen der Kommission angelegt - NS-Deutschland für schuldig, da die Exekutionen mit deutscher Munition durchgeführt worden waren. Stalins Ziel war die Vertuschung des Massakers von Katyn und Schuldzuweisung an Hitler- Deutschland. S. Zaslavsky, Victor: Klassensäuberung, S. 65ff., Zitate der Reihe nach <?page no="275"?> 275 Augenzeugenschaft schließt er in Form einer rhetorischen Frage mögliche Einwände aus, es könne sich bei dem vorgefundenen Tatort und den Exhumierungen um eine geschickt inszenierte Propagandaaktion der Nationalsozialisten handeln: Nous raisonnons avec froideur, si la froideur est possible ici. Que ces corps soient des corps de Polonais, cela n’est pas douteux. Aucune supercherie n’est possible, de ce côté-là. Peut-on nous avoir monté, pour la propagande, une immense et atroce mascarade? Mais on a fouillé pour nous ces cadavres, qu’il est vraiment impossible d’avoir ‚préparé’ à l’avance: les vêtements sont collés au corps, il faut le couteau pour les détacher. (JHO, S. 220f.) Der stumme Zeuge („témoin d’un crime“) klage laut den bolschewistischen Massenmörder an, über den gerichtet werde, so Brasillachs mitschwingendes Endzeitszenario: „[I]l parle par toute son immobilité comme au jugement dernier.“ (JHO, S. 221). Seine mit der Beschreibung des Massakers von Katyn verfolgte Intention ist unmissverständlich: Frankreich vor den Sowjets, die nicht einmal vor Morden an ihren Landsleuten zurückschrecken (JHO, S. 222f.), zu warnen und es auf eine Allianz mit dem Dritten Reich einzuschwören: [C]e charnier épouvantable donne la mesure de ce qui pourrait nous attendre tous. Ces officiers antibolcheviks ne sont point seuls. A côté d’eux, des dizaines de milliers de Russes, peut-être des révolutionnaires, peut-être même les aidesbourreaux, dorment pêle-mêle. Si la barrière de l’Occident venait à crever, les abbés rouges dormiraient à côté des riches gaullistes aussi bien que des collaborationnistes tièdes ou convaincus. Et l’odeur de Katyn monterait alors de Fontainebleau ou de la Loire. (JHO, S. 223) Damit geht der Journalist mit der NS-Propaganda konform, für welche „die in Katyn entdeckten Gräber eine Goldgrube“ waren; wirkungsvoll instrumentalisierte sie die Fotografien des Grauens zur Abschreckung vor den Bolschewiken. 314 Der zu monströsen Verbrechen fähige Gegner ist klar benannt. Der deutsche Vernichtungsfeldzug in der Sowjetunion hingegen wird mit keiner Silbe erwähnt, ebenso wenig wie die in Smolensk stationierte „mobile Tötungseinheit[]“ in Gestalt der Einsatzgruppe B 315 , die bis zum Frühjahr 1943 systematisch rund 142.359 316 „Feinde“ ermordete. S. 65, Hervorhebung BB, 66, 67. Erst Jahrzehnte später, im Herbst 1990, räumte Michail Gorbatschow (*1931), der letzte Generalsekretär der KpdSU, offiziell die Verantwortung der Sowjetunion am Massaker von Katyn ein und entschuldigte sich bei Polen. Ebd.: S. 107. 314 Mackiewicz, Josef: Katyń - ungesühntes Verbrechen, S. 89f. Während das NS-Regime „aus ganz Europa Leute herbei[schleppte], um ihnen die Katyngräber zu zeigen“, einschließlich amerikanischer, britischer und polnischer Kriegsgefangener, verkündete Moskau, „‚[d]ie polnischen Offiziere [seien] von Hitlers Verbrecherbanden im August und September 1941 ermordet worden.’“ Ebd.: S. 102, 104. 315 Von den vier für den Russlandfeldzug aufgestellten Einsatzgruppen A-D befehligte Arthur Nebe, SS-Brigadeführer und Generalleutnant der Polizei, die 655 Mann um- <?page no="276"?> 276 4.9.2.2 … „la Sainte Russie“ „Je veux simplement rapporter mes images, les unes atroces, comme celle de Katyn, les autres héroïques ou plaisantes, mais mêlées.“ (JHO, S. 228). Mit diesen Worten skizziert Brasillach die folgenden Russland- Impressionen: In Sainte Russie (JHO, S. 225-237), einem Zusammenschnitt aus Sur les routes de Russie (JSP, 16. 7. 1943), A l’est vers une aube possible (JSP, 23. 7. 1943) sowie La nuit de Smolensk (Révolution nationale, 2. 10. 1943), dominieren Bilder einer „terre mystérieuse“ (JHO, S. 225) und eines „peuple étrange“ (JHO, S. 232). Russland macht auf den französischen Besucher einen widersprüchlichen Eindruck („tout ce qui nous envahissait de contradictoire et de mêlé“, „tout cela nous a emplis de tant de sentiments différents“, ebd.). Obgleich die russische Gegenwart hart und schwierig sei, evoziere das Land zugleich die Erinnerung an das bezaubernde, romantische Russland des vergangenen Jahrhunderts sowie an das brutale, kriminelle, jüdisch-marxistische Russland: „C’est tout cela que l’on rencontre subitement, lorsqu’on arrive là-bas.“ (JHO, S. 226). Die Russen empfindet er übereinstimmend mit einem Wehrmachts-Offizier als „un peuple ‚plein d’extrémités’“ (JHO, S. 233; s. auch S. 232, 236), wie er betont wiederholt, das zur grausamsten Barbarei wie auch zu den höchsten Tugenden fähig sei, welche er superlativisch als „des plus hautes vertus guerrières“ und „l’organisation la plus surprenante“ lobt (JHO, S. 236). Während er den Sowjets 317 vorwirft, dass sie die Bauernschaft haben verkommen lassen (JHO, S. 228), stilisiert Brasillach die deutschen Soldaten zu einer Art Technischem Hilfswerk im Dienste des russischen Wiederaufbaus: „[E]in äußerst freundlicher karitativer Hilfstrupp […], der der russischen Bevölkerung Kultur vermittelt, vornehmlich Theater, Religion, Technik und Fortschrittsdenken.“ 318 Stringent deklariert er die deutsche Besatzung als legitime koloniale „Hilfsmaßnahme“: fassende Einsatzgruppe B. Bis zum Rückzug der Wehrmacht von russischem Territorium im Frühjahr 1943 „hatten die Einsatzgruppen 1,25 Millionen Juden und Hunderttausende anderer sowjetischer Staatsangehöriger einschließlich Kriegsgefangener ermordet.“ „Einsatzgruppen“. In: Jäckel, Eberhard; Longerich, Peter; Schoeps, Julius H.: Enzyklopädie des Holocaust, Bd. 1: A-G, 1993, S. 393-400, Zitate S. 393, 399. 316 So die eigenen Angaben der Einsatzgruppe B. Vgl. die Tabelle in Gerlach, Christian: Die Einsatzgruppe B 1941/ 1942. In: Klein, Peter (Hg.): Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion 1941/ 42: Die Tätigkeits- und Lageberichte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD. Berlin: Edition Hentrich, 1997 (Publikationen der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz; 6), S. 52-70, hier S. 62. 317 Während im Journal d’un homme occupé von 1955 quasi „neutral“ von „[l]e régime instauré par les Soviets“ die Rede ist, heißt es in der Version der Gesamtausgabe von 1964 „le régime de vigueur“. Brasillach, Robert: Journal d’un homme occupé. In: Œuvres complètes, Bd. 6, 1964, S. 503, Hervorhebung BB. 318 Heddrich, Gesine: Robert Brasillach - Brandstifter oder Brandopfer? , S. 122. <?page no="277"?> 277 Ces villages sans lumière, ces villages où l’usage de l’eau doit poser des problèmes parfois insurmontables, je les ai vus en été: que doivent-ils être en hiver? Là, presque toute [sic] de suite, l’armée allemande s’est livrée à une besogne écrasante. Elle a refait les voies, nettoyé, amélioré l’adduction d’eau. Dans le Gouvernement général, de la même façon, elle a fait disparaître, nous disent les légionnaires, les tas de fumier qui se dressaient dans les rues des grandes villes, et reconstruit les routes. Et ce qui me frappe tout de suite, c’est l’aspect colonial de cette occupation, un peu semblable à ce que nous avons fait au Maroc, c’est-àdire le double aspect de la pacification militaire et de la reconstruction. (JHO, S. 229) Vom russischen Elend hebe sich die Stadt Smolensk ab, der der Nebel „un aspect lointain et merveilleux“ verliehen habe (JHO, S. 234f.). Trotz der Inbrandsetzung und Bombardierung durch die Russen (JHO, S. 236) habe Smolensk seinen früheren Glanz bewahrt. Brasillach gerät ins Schwärmen: „A Smolensk, on a soudain l’impression de toucher un peu de la vieille Russie des cités, provinciale certes, mais bourgeoise, riche d’un passé d’incendies et de trésors.“ (JHO, S. 235). 319 Die Komplexität der Eindrücke, die er auf seiner Reise durch das rätselhafte Land gewonnen hat, darunter das freundliche, ländliche Bilderbuch-Russland fern jeglicher „contagion juive et marxiste“, mündet ein in den Ausruf: „Quelle tentation intellectuelle que la Russie! “ (JHO, S. 237). Brasillachs abschließendes Urteil überrascht zunächst: Obgleich er dreimal insistiert, der Westen müsse sich gegen das inakzeptable Sowjetregime zur Wehr setzen („doit refuser“, „doit rejeter“, „nous devons contenir le plus loin possible de nos frontières“, ebd.), keimt in ihm, dem Betrachter der hübschen, nächtlichen Smolensker Szenerie, die Hoffnung auf einen kommenden Frieden. Doch ebenso unmissverständlich ist seine beharrliche Kundgabe, wer zu keinen Zugeständnissen hinsichtlich der „ententes nécessaires“ (ebd.) bereit sein werde. 319 In diesem Kontext sei auf die Instrumentalisierung der lyrischen Russlandimpressionen Brasillachs zwecks politischer Generalabsolution des Autors hingewiesen: „‚Robert Brasillach n’était pas fait pour la politique. Mais il a voulu, comme tant d’autres, être de son temps, puis agir sur son temps, sans se rendre compte que ses écrits politiques, qui lui ont coûté la vie, étaient d’une insignifiance totale en regard de ses romans et de ses poèmes. Lorsqu’il va en Russie occupée, pendant la guerre, à quoi pense-t-il tout d’abord? Au marxisme, à Staline, aux kolkhoses, à l’armée rouge? Non. […] Brasillach, avant toute autre chose, poursuivait dans une Russie qu’il voulait sainte les rêves de sa jeunesse. Il étreignait des ombres et saluait des créatures imaginaires, la fraîche fille de Tolstoï mêlée aux fantômes fiévreux de Dostoïevsky.’“ Rezension des Jounal d’un homme occupé von Kléber Haedens, zit. in „Le dernier Brasillach: Journal d’un homme occupé: La chronique vraie d’un temps proche et lointain“. In: CARB 6 (1956), S. 77-79, hier S. 78, Kursivierung im Text, Hervorhebung BB. <?page no="278"?> 278 4.9.3 Großbritannien und Amerika Im Journal d’un homme occupé baut Brasillach Amerika und Großbritannien als Feindbilder auf. 320 Ihnen wirft er in einer dreigliedrigen Klimax vor, Frankreich mit ins Verderben gerissen zu haben: „[C]’est sous le couvert de l’Amérique plus encore que de l’Angleterre qu’on nous a entraînés aux sottises criminelles, aux folies et aux catastrophes.“ (JHO, S. 195). Brasillachs Verachtung zentriert sich auf die Person des amerikanischen Präsidenten Roosevelt, den er als Kriegstreiber an den Pranger stellt, der am 3. September 1939 die ihm naiv vertrauende französische Regierung, ebenso wie Polen, ins Unglück gestürzt habe. Zweimal betont er, jeder wisse - „Et chacun sait que“ (JHO, S. 184) -, dass Roosevelt allein aus wahlkampftaktischen Erwägungen seine Unterstützung zugesichert, Frankreich aber im Stich gelassen habe (ebd.). Das Verdikt lautet: Täuschung. In einem Atemzug denunziert er Briten und Juden, die über das Radio Todeslisten ihrer Gegner verkünden, aber selbst die Verantwortung für das weltweite Wüten des verbrecherischen Bolschewismus trügen: „Mais l’incroyable démence anglaise consiste précisément à avoir déchaîné sur le monde le crime bolchevik, à s’allier à lui, à ne faire qu’un avec lui.“ (JHO, S. 190). 321 Als selbstmörderischen Wahnsinn bezeichnet er das Agieren der britischen Politiker, die bereit seien, das gemeinsame europäische Kulturerbe, das er durch Racine, Shakespeare, Dante und Goethe exemplarisch verkörpert sieht, an jüdische Mongolen auszuliefern: „Là est l’impardonnable délire de l’Angleterre.“ (ebd.). Am 27. Dezember 1941 stellt er den siegreichen deutschen Eroberungsfeldzügen auf dem gesamten Kontinent die nichtigen Zugewinne Großbritanniens in Äthiopien und Syrien gegenüber: „Devant elle, qu’a réussi l’Angleterre? “ beantwortet er mit einem vernichtenden: „Elle n’a rien réussi contre l’Allemagne.“ (JHO, S. 196f.). Als letzte Peripetie bezeichnet er den kurz zuvor erfolgten Kriegseintritt der Vereinigten Staaten, um lakonisch zu konstatieren, „[que] les plus belles unités de la flotte anglo-américaine ont été coulées“ (JHO, S. 197). Proportional zu den militärischen Erfolgen der Deutschen nehmen Brasillachs Attacken auf die Alliierten an Schärfe zu. Im März 1942 verhöhnt er die britischen Verluste als „effacement prodigieux de l’Angleterre“ und prognostiziert „l’évaporation, de tout contingent de Sa Gracieuse Majesté“ (JHO, S. 198). Zwei Monate nach Beginn der deutschen Sommeroffensive (28. Juni 1942) stellt er dem siegreichen Vorstoß der Wehrmacht in den Kaukasus einschließlich der Gipfelerstürmung des Elbrus, den Brasillach symbolisch zum Berg des Prometheus erhöht, die spektakuläre Niederlage („échec retentissant“, JHO, S. 203) der 320 Vgl. auch Heddrich, Gesine: Deutschland und Frankreich als Hetero- und Autoimage, S. 227. 321 S. auch den Eintrag vom 25. 10. 1941: „Londres, appuyé par Moscou“ (JHO, S. 193). <?page no="279"?> 279 Briten in Dieppe 322 gegenüber; stolz auf die Flut, mit welcher die Wehrmacht die Hänge des Kaukasus überschwemme, belächelt er die verlustreiche Landung Amerikas auf einem „caillou du Pacifique“ 323 (ebd.). Hämisch und voller Genugtuung fügt er hinzu, der deutsche Westwall trotze Churchills „Drachen“ und „Knallfröschen“ (JHO, S. 204). Nach der vernichtenden Niederlage und Kapitulation der Wehrmacht in Stalingrad (31. Januar/ 2. Februar 1943) weicht Brasillachs triumphierender Hohn der sarkastischen Anklage. Er verurteilt die amerikanischen Bombardierungen Frankreichs (9. April 1943, JHO, S. 241f.), wenige Monate später unterstreicht er die Monstrosität der Luftangriffe 324 , indem er das Massaker von Katyn im Vergleich dazu eine „plaisanterie“ nennt (14. August 1943, JHO, S. 249). 4.10 Pétain und die Révolution nationale „[S]on premier article de ‚revenant’“ 325 , den der aus deutscher Kriegsgefangenschaft entlassene Brasillach am 11. April 1941 in Je suis partout veröffentlicht und der zugleich den Auftakt des eigentlichen „Tagebuchs“ der Besatzungszeit bildet, ist ein Loyalitätsbekenntnis zu Pétain und zur Révolution nationale 326 . Auf das Vive la France! (21. März 1941) aus deutscher Gefangenschaft folgt Vive le Maréchal! Brasillach erinnert sich an die „voix brouillée“ des Chef de l’Etat, der am 17. Juni 1940 über das Radio an seine Landsleute appelliert hatte, die Kämpfe einzustellen. 327 Diese Stimme stili- 322 Brasillach spielt auf den gescheiterten Angriff von 6.000 britischen und kanadischen Soldaten auf die von Deutschen besetzte Hafenstadt Dieppe (Operation Jubilee vom 18./ 19. 8. 1942) an, bei dem zwei Drittel der alliierten Soldaten starben. Ulrich, Bernd: „Dieppe 1942“. In: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, S. 477. Vgl. Brasillachs abermaligen Verweis auf den „coup manqué de Dieppe“ am 13. 8. 1943 (JHO, S. 247f.). 323 Brasillach meint aller Wahrscheinlichkeit nach die Landung der Amerikaner auf Guadalcanal (7. 8. 1942). 324 Wortwörtlich heißt es „Katyn est une plaisanterie à côté des bombardements…“ (JHO, S. 249). Unklar bleibt allerdings, wessen Bombardierungen (Frankreichs oder Deutschlands) Brasillach meint. Katyn fungiert für Brasillach als „Richtmaß“ des Grauens, das er zu potenzieren versucht, wenn er den Anblick der LVF-Verwundeten an der Ostfront als „une vision plus triste, à mon sens, que toutes les fosses de Katyn“ beschreibt. Brasillach, Robert: „Sur le front de l’Est avec la Légion française“. In: JSP, 30. 7. 1943, S. 1. 325 So die Ankündigung Alain Laubreaux’ auf der Titelseite der Je suis partout-Ausgabe vom 11. 4. 1941. 326 Zu Vichys Révolution nationale, „[qui] se situe manifestement plus près du conservatisme que du fascisme“ und die „une hérésie des doctrines libérales et progressistes de la III e République“ sei, vgl. bspw. die konzentrierte Darstellung in Paxton, Robert O.: La France de Vichy, S. 185-286, Zitate der Reihe nach S. 283, 285. 327 S. Ebd.: S. 50f. <?page no="280"?> 280 siert er zur tröstlichen Hoffnungsträgerin, indem er sie in Anspielung auf Pétains Erklärung - „‚Je fais à la France le don de ma personne pour atténuer son malheur... C’est le cœur serré que je vous dis aujourd’hui qu’il faut cesser le combat.‘“ (JHO, S. 57, Kursivierung im Text) - ein „Geschenk“ nennt: „[C]ette voix seule était un réconfort, un espoir, - et un don.“ (JHO, S. 158). Die bewegende Stimme des Marschalls sage die Wahrheit und weise den Weg (ebd.). Elf Monate nach der vernichtenden französischen Niederlage habe das Vichy-Regime Frankreich in ruhigere und hoffnungsvollere Gewässer, „une mer un peu libre, un peu ouverte“, geleitet und arbeite am „relèvement“ 328 Frankreichs (JHO, S. 160). Mit hyperbolischen Worten lobt er Pétains Ansprache anlässlich des Jahrestages des Waffenstillstandsersuchens als eine der schönsten Reden des Marschalls, die eine unerschütterliche Hoffnung ausgestrahlt habe. Beinahe überhöht Brasillach den Sieger von Verdun zum heilsgeschichtlichen Retter 329 und verabsolutiert seine eigene politische Sichtweise im generalisierenden Indefinitpronomen, wenn er viermal betont, wie sehr „man“ sich angesichts der katastrophalen Lage Frankreichs Pétain seit Jahren herbeigesehnt habe, der schließlich sein Land mit dem Ersuchen um Waffenstillstand erlöst habe: ... On l’attendait depuis des années. On l’attendait plus précisément encore, depuis le début de cette guerre dont on savait qu’il ne l’avait pas voulue, et qu’il la jugeait en outre mal dirigée. On l’attendait depuis que, le 20 mars, journée catastrophique entre toutes pour la patrie, Paul Reynaud avait pris le pouvoir [...]. On l’attendait depuis que Paris était évacuée, depuis que Paris était pris. Son premier acte fut l’acte que prévoyaient, depuis le 14 mai, tous ceux qui n’étaient ni fous ni aveugles, l’acte sauveur de l’essentiel: le maréchal Pétain, vainqueur de Verdun, le 17 juin 1940, faisait demander l’armistice au commandement allemand. (JHO, S. 161f.) 330 328 Vgl. Pétains rekurrente Betonung des „relèvement“ in seinen Ansprachen, so bspw. am 25. 5. 1941, als er die Familie zur „‚meilleure garantie du relèvement de la France’“ erklärt. Zit. in Boninchi, Marc: Ordre moral et protection de la famille sous le régime de Vichy. In: Durand, Bernard (Hg.): Le droit sous Vichy. Frankfurt a. M.: Klostermann, 2006 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte; 213), S. 333-358, hier S. 343. 329 Dieser Eindruck tritt im ungekürzten Artikel Il y a un an... Le chef noch pronocierter hervor, wenn er von den „coupables qui attendent leur châtiment“ spricht, denen er den außergewöhnlichen Anführer, „héros et saint de la sauvegarde française“ gegenüberstellt, der „par une divination singulière“ Frankreich vor dem Tod gerettet („sauver“, „sauvegarder“) und „le miracle français“ vollbracht habe. Brasillach, Robert: „Il y a un an… Le Chef.“ In: JSP, 23. 6. 1941, S. 1, Hervorhebung BB. Vgl. auch die Anklänge an Brasillachs Führer-Porträt und Hitlers „mission [...] divine“ (NAG, S. 276). 330 Auch im März 1942 ist Brasillachs Lob für Pétain ob dieses weisen Entschlusses ungebrochen: „Le maréchal Pétain mériterait notre gratitude éternelle rien que pour l’avoir compris, et proclamé, le 25 juin 1940.“ (JHO, S. 197f.). <?page no="281"?> 281 Am 6. Dezember 1941 bezeichnet der Autor Pétains Unterredung 331 mit Reichsmarschall Hermann Göring (1893-1946) in Saint-Florentin anerkennend als eine Etappe auf einem schwierigen Weg, den es zu beschreiten gelte, um die Heimkehr der französischen Kriegsgefangenen zu ermöglichen (JHO, S. 195). So wie aus diesen Artikelextrakten hervorgeht, dass Brasillach „an eine im Sinne des Vichy-Regimes definierte Révolution nationale und an die zukünftige Rolle Frankreichs in Europa glaubt“ 332 , spiegeln diese ab Ende 1942 eine zunehmende Enttäuschung und final die Abkehr des Journalisten von Vichy wider: „Mon pays me fait mal...“ 333 (JHO, S. 209), lautet das bittere Resümee am 20. November 1942 kurz nach der Landung der Alliierten in Nordafrika (7./ 8. November 1942) und der Besetzung der freien Zone (11. November 1942) durch die Wehrmacht. Unverhohlen desavouiert Brasillach die Misserfolge des Vichy-Regimes: Pendant deux ans et demi, nous nous sommes interdits de discuter les principes de cette Révolution nationale qu’on nous proposait et les hommes qui en avaient la plus haute responsabilité. Croit-on que le voile ne soit pas déchiré pour cela? ... (JHO, S. 210) Der Ton des Journalisten verschärft sich, wenn er wenig später die Révolution nationale als „immense Farce“ entlarvt, die unverzeihliche Fehler begangen habe, und er einen französischen Faschismus für die einzige Rettung hält (JHO, S. 211f.). Entschieden stuft er die französische Niederlage von 1940 als weniger gravierendes Unglück ein als die aktuelle Katastrophe: „Le vent rude qui se levait au lendemain de la défaite, nous avions cru qu’il emporterait bientôt hors des chemins creux et des rues les brouillards de jadis et les traînées de nuages bas. Tout reste à faire. Le bilan de cette année, c’est le désastre.“ (JHO, S. 213). Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, wenn er sich im Juli 1943 zu den Faschisten „voller Illusionen“ zählt und zudem die Kriegsgefangenschaft vorschützt als Argument, weshalb man anfänglich an die Révolution nationale geglaubt habe (JHO, S. 99). Brasillachs Einstellung ist widersprüchlich: Wenngleich er die nationale Revolution als „une incertaine et bizarre aventure“ (JHO, S. 107) abqualifiziert, bekräftigt er im Januar 1944, trotz gelegentlicher persönlicher Dissense, sein Vertrauen in das Vichy-Regime 334 : 331 De facto hatte Göring auf Pétains und Darlans Forderungen ablehnend reagiert und erwidert, „‚das erwecke den Anschein, als ob nicht Frankreich, sondern Deutschland besiegt worden sei’.“ Krautkrämer, Elmar: „Hervé Couteau-Bégarie, Claude Huan: Darlan“ (Rezension). In: Militärgeschichtliche Mitteilungen 46 (2/ 1989), S. 203-205, hier S. 204. 332 Heddrich, Gesine: Deutschland und Frankreich als Hetero- und Auto-Image, S. 190, Kursivierung im Text. 333 So der Titel des entsprechenden Je suis partout-Artikels vom 20. 11. 1942. 334 In Noisy-le-Sec verurteilt er seinerseits die Kollaborationisten, die nach der Befreiung von Paris vorgäben, nie an Pétain geglaubt zu haben. S. JHO, S. 317. <?page no="282"?> 282 Tout ne me plaît pas dans ce qu’il entreprend, dans ce qu’il laisse faire. Mais il défend par fonction nos intérêts dans l’aventure, et même si nous différons parfois d’avis sur les moyens, c’est lui seul qui a la possibilité de faire aboutir ce qu’il entreprend. Alors, je ne crois pas aux autres obédiences. […] C’est pourquoi la couronne de la France reste notre seule bouée. Je n’essaierai jamais de la faire emporter par les vagues. (JHO, S. 255) 4.11 Fazit Brasillach Die Frage, warum der „romancier de la tendresse“ 335 „plötzlich“ Faschist wurde, beantwortet Marcel Aymé (1902-1967) ausweichend, ist doch der Verweis auf Brasillachs trägen Charakter, auf seinen Fatalismus und das inhumane Wesen der politischen Parteien genauso unbefriedigend wie Célines Erkenntnis der autodestruktiven Neigung des Menschen: [...] Bardèche nous dit qu’il était, de nature, assez indolent et qu’il avait tendance à accepter avec fatalisme ce que la vie lui apportait. Ce sont là d’excellentes dispositions pour comprendre que depuis cinquante ans tous les partis politiques, aussi bien communiste que fasciste ou monarchiste ou radical, sont contre l’homme, contre tous ses intérêts, contre sa vie. [...] Brasillach s’y est-il trouvé trop tranquille et sa quiétude, son bonheur lui ont-ils paru suspects? Céline disait que les hommes sont fascinés par ce qui les détruit. Brasillach, sensible à la poésie des choses familières, au murmure des tendresses confidentielles, et qui se méfiait volontiers des excès de littérature, s’embarque tout à coup dans un bateau politique. 336 Bardèche seinerseits entpolitisiert 337 Brasillachs Faschismusverständnis und orakelt von einem „fasciste qui n’est pas fasciste et qui n’est pas non plus national-socialiste“. 338 Die Analyse der beiden Erinnerungsbücher liefert ein differenzierteres Bild. In Notre avant-guerre schildert Brasillach seine Entwicklung hin zum Faschismus, der für ihn die jugendlich-dynamische (Kompensations-)Ideologie der Wahl angesichts der ihm verhassten, der Korruption bezichtigten jüdisch-sozialistischen Dritten Republik ist. Primär sind es die auf seinen Reisen in die faschistischen Nachbarländer gewonnenen Bilder und die mitreißende Dynamik der, im Falle José Antonio Primo de Riveras und Léon Degrelles, jungenhaft-heroischen Anführer, die 335 Aymé, Marcel: Brasillach romancier. In: Brasillach, Robert: Romans. In: Œuvres complètes, Bd. 1, 1963, S. XV-XIX, hier S. XIX. 336 Ebd.: S. XVIII. 337 „Le fascisme n’était pour lui qu’une certaine attitude. Il représentait pour lui le courage, la loyauté, l’union avec le peuple et l’union de tout le peuple, la santé. Il n’en connaissait pas les doctrines.“ Bardèche, Maurice: „6 février 1945, l’assassinat d’un poète: Une autre image de Brasillach“. In: CARB 31 (1986), S. 78-83, hier S. 82, Hervorhebung BB. 338 Ders.: „Une biographie américaine de Robert Brasillach“. In: CARB 22 (1977), S. 63-71, hier S. 64. <?page no="283"?> 283 seine Begeisterung entfachen und sich in einer, Walter Benjamins einleitend zitiertes Diktum bestätigend, „Aesthetisierung der Politik als Signum des faschistischen Diskurses“ 339 niederschlagen. Das Plädoyer des Journalisten und Schriftstellers für einen französischen Faschismus inspiriert sich ab diesem Zeitpunkt an den faschistischen Vorbildern (und Poesien), die sich in sein Gedächtnis eingeprägt haben. Das durch die deutschfeindliche Action française geprägte intellektuelle und politische Umfeld Brasillachs erklärt die im Unterschied zum Rexismus, Falangismus und folgend Franquismus vergleichsweise verhaltene Annäherung an den Nationalsozialismus. Ebenso, wie sich mit der französischen Niederlage und der deutschen Besatzung Brasillachs Verhalten gegenüber dem Deutschen Reich verändert und der einstige „munichois“ zum bedingungslosen Kollaborationisten und Propagandisten eines deutsch dominierten faschistischen Europas wird, radikalisiert sich der faschistische Diskurs im Journal d’un homme occupé. Das Deutschlandbild von 1937, das von der Imposanz des Nürnberger Reichsparteitages geprägt war, komplementiert 1940/ 1941 die verklärte Kriegsgefangenschaftsidylle im „romantischen“ Nachbarland sowie das einnehmende europäische Dichtertreffen am Symbolort der deutschen Klassik, in Weimar, wo der französische Gast „‚les charmes de l’Allemagne de la musique et de la poésie’“ 340 wiederfindet. Doch Brasillachs Faschismus ist eben gerade nicht nur „amitié et poésie, auto-stop et camping“ 341 , sondern dezidiert politischer Natur. Während die zunächst enthusiastische Unterstützung Pétains und der Révolution nationale des deutschen Kriegsgefangenen bald der Desillusionierung weicht, forciert sich der Wunsch des neuerlichen Je suis partout-Chefredakteurs nach einem faschistischen, dank eines „räsonablen“ Antisemitismus 342 „judenfreien“ Frankreichs 343 in einem „braunen“ Europa; die 339 Jurt, Joseph: „Literatur der Résistance und der Kollaboration: Ein Kolloquium in Reims.“ In: NZZ, 6. 11. 1981, S. 41-42, hier S. 41. 340 Zit. in N.N.: „L’Allemagne vue par des écrivains français“. In: Paris Soir, 7. 11. 1941, hier S. 3. 341 Winock, Michel: „Fallait-il fusiller Brasillach? “, S. 65f. Stellvertretend für die Verfechter der gegenteiligen Position sei Vandromme erwähnt: „Robert Brasillach ne fut pas un fasciste cynique, mais un poète plein d’illusions. Sa politique a été celle que pouvait concevoir un scout prolongé, amoureux de la stature intemporelle de la jeunesse: un camp, avec des tentes, des feux de bois, des garçons au torse nu et les sentiers de la promenade.“ Vandromme, Pol: La droite buissonnière. Paris: Les Sept Couleurs, 1960, S. 53, Hervorhebung BB. 342 Brasillach, Robert: „La question juive“. In: JSP, 15. 4. 1938, S. 1. 343 Heddrich betont, es sei ein Faktum, „daß Brasillach die grundlegende Weltanschauung und Gesellschaftsorganisation der Nationalsozialisten aufgegriffen, eingefordert und als Zukunftsmodell für Frankreich lediglich geringfügig an französische nationale Bedürfnisse angeglichen hat.“ Heddrich, Gesine: Deutschland und Frankreich als Hetero- und Auto-Image, S. 190. <?page no="284"?> 284 deutsch-französische Versöhnung erachtet der „germanophile de cœur“ 344 hierfür als conditio sine qua non. Nur der siegreiche nationalsozialistische Kreuzzug gegen den Kommunismus, dessen tödliches Potential er durch die ausführliche Schilderung des Massakers von Katyn nachdrücklich vor Augen führt, könne Frankreich und Europa retten. Großbritannien und Amerika ihrerseits werden als gemeinsame Feinde Hitler-Deutschlands und Frankreichs gebrandmarkt sowie als Helfershelfer Moskaus desavouiert. Im Hass auf die „sept Internationales contre la patrie“ artikulieren sich Brasillachs faschistisch ambitionierte[] Antihaltungen: Kommunisten, Sozialisten, Juden, Katholiken, Protestanten, Freimaurer und die Finanzwelt ergeben Antikommunismus, Antimarxismus, Antidemokratie, Antisemitismus, Antibourgeoisie, Antikapitalismus sowie Antirepublikanismus und Antiparlamentarismus. 345 Diese finden sich unterschiedlich intensiv ausgeprägt in Notre avant-guerre - von Sternell 1987 qualifiziert als „l’une des œuvres les plus proches de l’idéologie nazie jamais imprimées en France“ 346 - und dem Journal d’un homme occupé wieder. Beide Texte belegen, dass der Faschismus das spezifisch Brasillach’sche „mal du siècle“ (NAG, S. 234ff.) gewesen ist. 344 Brasillach, Robert: „Le ‚fait nation’“ (L’Echo de la France, 17. 5. 1944). In: Ders.: Articles de „l’Echo de la France“. In: Œuvres complètes, Bd. 12, 1966, S. 648-677, Artikel S. 653-655, hier S. 654. 345 Heddrich bezieht sich auf den bereits zitierten Artikel Brasillachs Les sept Internationales contre la patrie (JSP, 25. 9. 1942). Heddrich, Gesine: Robert Brasillach - Brandstifter oder Brandopfer? , S. 118. 346 Sternhell, Zeev: Préface de la nouvelle édition. In: Ders.: Ni droite, ni gauche, S. 21. <?page no="285"?> 285 5. Jacques Chardonne Le Ciel de Nieflheim (1943) - „ein Büchlein, das schweigt, obwohl es spricht“ 1 5.1 Jacques Chardonne ‚Il y a en moi des personnalités très superposées. Il faut toujours penser à cela quand vous essayez de me comprendre.‘ 2 In Barbezieux unweit von Cognac wächst Georges-Jean-Jacques Boutelleau (1884-1968) alias Jacques Chardonne als Sohn eines Charentaiser Vaters und einer amerikanischen Mutter auf, deren Familien im Cognac-Handel respektive in der Porzellanmanufaktur (Haviland) zu Wohlstand gelangt waren. 3 Der in bürgerlich-konservativer Tradition 4 erzogene Jugendliche ist „‚dreyfusard’ sans savoir pourquoi; homme de gauche il me semble“ 5 und sympathisiert schon früh mit dem Sozialisten und Pazifisten Jean Jaurès 6 (1859-1914), der für die Verständigung mit dem Deutschen Reich plädiert. 7 Nach einem kurzen Aufenthalt an der Ecole libre des sciences 1 Epting, Karl: „Bücher zur französischen Lage“. In: Deutschland-Frankreich 2. Jg., Nr. 8 (1944), S. 109-116, hier S. 116. 2 Chardonne am 19. 1. 1951 gegenüber seiner Biografin Ginette Guitard-Auviste (*1923). Guitard-Auviste, Ginette: Jacques Chardonne ou l’incandescence sous le givre. Nouvelle édition revue. Paris: Albin Michel, 2000, S. 11. Über die Mehrzahl ihrer Quellen gibt die Verfasserin nur vage Auskunft: „Les nombreuses citations que j’ai retenues l’ont été de préférence dans les lettres inaccessibles au public.“ Ebd.: S. 12, Fn. 1. 3 Ausf. zu Chardonnes Herkunft und Kindheit s. Ebd.: S. 15ff. 4 Ebd.: S. 163. 5 Chardonne, Jacques: Propos comme ça. Paris: Grasset, 1966, S. 50, Hervorhebung BB. 6 Jaurès, Absolvent der Ecole Normale Supérieure, Philosophie-Professor in Toulouse (1883-85), seit 1893 sozialistischer Abgeordneter der Nationalversammlung (Vizepräsident ab 1902), engagierte sich 1898 für die Rehabilitierung Alfred Dreyfus‘ (1859- 1935), des wegen angeblicher Spionage für das Deutsche Kaiserreich degradierten und zu lebenslanger Verbannung (Teufelsinsel Cayenne) verurteilten Hauptmanns jüdischen Glaubens. Im Jahr 1904 gründete Jaurès L’Humanité, ein Jahr später führte er die Section Française de l’Internationale Ouvrière (SFIO) an. Im Juli 1914 wurde der Verfasser von La Guerre franco-allemande 1870-1871 (1908), der 1912 „dem Krieg den Krieg“ erklärt hatte, ermordet. S. Rioux, Jean-Pierre: „Jean Jaurès“. In: Juillard, Jacques; Winock, Michel (Hgg.): Dictionnaire des intellectuels français, S. 752-753. 7 Gegenüber Paulhan erwähnt Chardonne rückblickend (Brief vom 6. 2. 1947), er habe sich schon als Kind für Jaurès interessiert, diesen 1910 persönlich kennengelernt und bis zu dessen Tod regelmäßig gesehen: „On l’appelait ‚l’Allemand’ et il a été le premier traître assassiné dans cette guerre de trente ans. Il disait en 1905 que la France allait à la guerre, et il disait pourquoi, et pendant dix ans, il a prophétisé des sombres choses qui n’ont pas manqué d’arriver. Ces idées m’ont marqué à jamais”. <?page no="286"?> 286 politiques in Paris und Studium bei dem Historiker Albert Sorel 8 (1842- 1906), wechselt Chardonne zur Rechtswissenschaft. Um 1905 verbringt er zwei Jahre in Deutschland. 9 Vom Kriegssanitätsdienst freigestellt, zieht Chardonne, der Rekonvaleszenz eines Asthmaleidens 10 wegen, 1915 nach Chardonne-sur-Vevey in die Nähe des Genfer Sees, wo er sich bis zum Kriegsende dem Schreiben widmet. Rückblickend wird er festhalten: „Près de Vevey, sur la montagne, le village de Chardonne domine le lac Léman. J’y suis retourné pour revoir mon berceau. Si je suis un écrivain, c’est là qu’il est né.“ 11 Mit Rückkehr nach Frankreich im Jahr 1919 nimmt er den Namen seiner vorübergehenden Wahlheimat als nom de plume an. 12 Jacques Chardonne/ Jean Paulhan: Correspondance, S. 129ff. (Nr. 130), hier S. 129, Hervorhebung BB. Vgl. auch: „Jaurès fut l’objet de mes seules amours en politique.“ Chardonne, Jacques: Détachements. Paris: Editions Albin Michel, 1969, S. 181, folgend abgekürzt mit DM. Zur Verurteilung des französischen Revanchebedürfnisses, das Chardonne mit Jaurès teilte, s. auch Brenner, Jacques: Le flâneur indiscret. Paris: Juillard, 1995, S. 21f. 8 Der Professor für Diplomatiegeschichte an der nach der Niederlage von 1870 gegründeten Ecole libre des sciences politiques verfasste zahlreiche historische Werke, darunter die Histoire diplomatique de la guerre franco-allemande (1875) ebenso wie eine Studie über Madame de Staël (1890). Weiterführend zu Sorel, der 1894 in die Académie française gewählt wurde (Nachfolger von Hippolyte Taine), s. „Albert Sorel“, http: / / www.academie-francaise.fr/ immortels/ base/ academiciens/ fiche.asp? param= 478 (letzter Zugriff am 18. 8. 2011). Zu Chardonnes Studium bei Sorel vgl. den Hinweis in der vorliegender Untersuchung zugrundeliegenden Ausgabe des Ciel de Nieflheim: Chardonne, Jacques: Le Ciel de Nieflheim. Bucarest, 1991 [1943], S. 79, folgend abgekürzt mit CdN. Alle künftig durch Fettdruck herausgestellten Hervorhebungen von Zitaten aus dem Ciel de Nieflheim stammen von der Verfasserin und werden aus Gründen der Ökonomie und der Lesbarkeit nicht eigens markiert. 9 Die Angaben zu Chardonnes Deutschlandaufenthalten sind ebenso vielfältig wie widersprüchlich und reichen von Sommerschulferien in Bonn und Köln im Jahre 1898 sowie kurz darauf in München (Guitard-Auviste, Ginette: Jacques Chardonne ou l’incandescence sous le givre, S. 43, 45; s. auch Chardonne, Jacques: Lettres de l’adolescence. In: Cahiers Jacques Chardonne 8 (1984), S. 3-6, folgend abgekürzt mit CJC) bis zu zwei Jahren in Bonn und München um 1905 (Ders.: Voir la figure. Paris: Grasset, 1941, S. 13, folgend abgekürzt mit VF) bzw. einem Jahr in Köln (CdN, S. 17). Gisèle Fauconnier, eine Freundin Chardonnes aus Kindheitstagen in Barbezieux, erwähnt zudem eine deutsche Gouvernante Chardonnes. Fauconnier, Geneviève: Évocations. Paris: Librairie Stock, 1960, S. 163. 10 Vgl. die Anmerkung zu Chardonnes Brief vom 13. 5. 1937 in Jacques Chardonne/ Jean Paulhan: Correspondance, S. 92f. (Nr. 79), hier S. 92, Fn. 2. Guitard-Auviste spricht von Tuberkulose und einer „rechute pulmonaire“, die ihn erstmals 1907 nach Chardonne-sur-Vevey führte. S. Guitard-Auviste, Ginette: L’incandescence sous le givre, S. 50f. 11 Vgl. auch: „De ces années j’ai gardé le souvenir d’un temps de délices.“ Chardonne, Jacques: L’amour c’est beaucoup plus que l’amour suivi de Croquis d’un paysage changeant par Philippe Jaccottet. Paris: Albin Michel, 1992, S. 11f. 12 S. u.a. Jaccard, Pierre: Trois Contemporains: Mauriac, Chardonne, Montherlant. Lausanne: Editions La Concorde, 1945, S. 27-49, hier S. 28. <?page no="287"?> 287 Gemeinsam mit dem Freund aus Kindheitstagen, Maurice Delamain (1883-1974), übernimmt Chardonne 1921 die Leitung der Editions Stocks, die ab diesem Zeitpunkt Stock, Delamain, Boutelleau et Cie, ab 1925 Librairie Stock, Delamain et Boutelleau heißen. 13 Unter seinem Künstlernamen publiziert der Autor im selben Jahr seinen in der Schweiz entstandenen ersten 14 Roman L’Epithalame, der mit dem Prix Femina ausgezeichnet und für den Prix Goncourt nominiert wird. In den dreißiger Jahren avanciert Chardonne zum „romancier du couple“ 15 und „chantre du bonheur conjugal“ 16 : Eva ou le Journal interrompu (1930, im Jahr 1932 in deutscher Übersetzung Eva oder das unterbrochene Tagebuch), Claire (1931), ausgezeichnet mit dem Grand Prix de l’Académie française (1932), Les destinées sentimentales 17 (1934-36) oder 13 Chardonne war bereits 1910 Sekretär und Kommanditist des Verlegers Pierre-Victor Stock gewesen. Der Jurist und Grafologe Maurice Delamain zeichnete sich für die Verwaltung verantwortlich. Er war der Bruder von Chardonnes Schwager, dem Botaniker und „écrivain ornithologue“ Jacques Delamain (1874-1953), dessen Werke sie verlegten (u.a. Pourquoi les oiseaux chantent, 1928). Ausf. Darstellung der Verlagsgeschichte von Bartillat, Christian de: Stock 1708-1981: Trois siècles d’invention suivi de Une approche historique par Alain de Gourcuff et Marc Prigent. Paris: C. de Bartillat, 1981, S. 115, zu „Delamain et Boutelleau: deux tempéraments complémentaires“, s. S. 122ff. Vgl. auch Chardonnes Porträt Jacques Delamains in Chardonne, Jacques: Le bonheur de Barbezieux. Œuvres complètes. Bd. 6. Paris: Albin Michel, 1956, S. 89-159, hier S. 154ff. Die Gesellschafter sind offiziell bis zum Verkauf der Editions Stock an Hachette im Jahr 1961 gemeinsam für die Verlagsgeschäfte verantwortlich; realiter steht Chardonne jedoch nach Ende des Krieges nur noch als (unauffälliger) technischer Berater zur Verfügung. S. Dufay, François: Le soufre et le moisi, S. 22. Vgl. Bartillats limpide, auffallend neutrale Begründung für Chardonnes Ausscheiden: „Chardonne ne parvenait sans doute plus à concilier un travail d’édition de plus en plus envahissant, en même temps qu’une œuvre d’écrivain, exigeant la distance et la tranquillité“. Bartillat, Christian de: Stock 1708-1981, S. 129. 14 Chardonne hatte bereits 1905 einen kurzen Roman (Catherine) geschrieben, der allerdings erst 1964 veröffentlicht wurde. 15 Dambre, Marc: „Jacques Chardonne“. In: Juillard, Jacques; Winock, Michel (Hgg.): Dictionnaire des intellectuels français, S. 297-298, hier S. 297. Dieser Charakterisierung widerspricht Sureau, demzufolge Chardonne „est moins le romancier du couple que celui des destins enfermés, parallèles, et le poète en prose d’une réclusion“. Sureau, François: Préface. In: Jacques Chardonne/ Jean Paulhan: Correspondance, S. 11-17, hier S. 17, Kursivierung im Text. 16 So Chardonnes Stiefsohn André Bay (*1916), Sohn von Chardonnes zweiter Ehefrau Camille Belguise (1894-1980), seines Zeichens Schriftsteller, Übersetzer und langjähriger directeur littéraire bei Stock und Hachette. Bay, André: „Jacques Chardonne: du bonheur conjugal“. In: Le Magazine littéraire 389 (Juli/ Aug. 2000), S. 62-64, hier S. 62. Vgl. auch Chardonnes Betonung dieser thematischen Exklusivität: „Quand j’écrivais mon premier roman, je ne me doutais pas que tous mes livres, dans la suite, auraient à peu près le même sujet. Aujourd’hui, je sais que je ne pourrais décrire un personnage d’homme s’il n’est en contact avec une femme dans le mariage. Là seulement, il me paraît vivant.“ Chardonne, Jacques: L’amour c’est beaucoup plus que l’amour, S. 39, Hervorhebung BB. 17 2001 verfilmt von Olivier Assayas mit u.a. Emmanuelle Béart und Isabelle Huppert. <?page no="288"?> 288 Romanesques (1937). 18 Neben seinen Beziehungsromanen verfasst der in der Tradition der französischen Moralisten 19 stehende Prosaist auch essayistische Werke 20 wie L’amour du prochain 21 (1932), L’amour c’est beaucoup plus que l’amour (1937) sowie den Beginn seiner Autobiografie in Le bonheur de Barbezieux 22 (1938), in denen er der Nostalgie für seine idealisierte Heimat mit ihrer unwiderruflich der Vergangenheit angehörigen idyllischen Gesellschaft Ausdruck verleiht. 5.1.1 Von Barbezieux über Montoire nach Nieflheim 23 Un jour radieux, doucement, silencieusement, sans un battement de cloche ou de tambour, sans une parole aux soldats déjà massés à l’est, la guerre est venue dans Paris tout frémissant de fébriles voitures [...]. Je n’ai vu chez personne l’émotion écrasante que j’attendais. On se disait peut-être que les peuples ne 18 Zu Chardonnes Werken vgl. bspw. Beaumarchais, Marie-Alice de; Wotling-Haddad, Karen: „Jacques Chardonne“. In: Beaumarchais, Jean-Pierre de; Rey, Alain; Couty, Daniel (Hgg.): Dictionnaire des écrivains de langue française, Bd. 1, 2001, S. 325-326. 19 Jaccard sieht in Chardonne einen Nachfahren der südwestfranzösischen Moralisten wie Montaigne, Montesquieu und Maine de Biran. S. Jaccard, Pierre: Trois Contemporains, S. 30f. Simon nennt Chardonne „un moraliste qui s’accomplit dans un styliste“. Simon, Pierre-Henri: „Lettres de Jacques Chardonne“. In: Le Monde, 14. 2. 1970, S. 1 (Supplément). 20 Diese werden unter der „Gattungs“-Bezeichnung „Mélanges“ subsumiert, ebenso wie Chardonnes Chroniken. Vgl. die entsprechende Angabe in Chardonnes Publikationsliste, die bspw. der Chronique privée (Stock, 1940) oder Voir la figure (Grasset, 1941) vorangestellt ist (o.S.). 21 Zum fünfteiligen Vorabdruck dieses Lobgesangs auf das paradiesische Barbezieux 1932 in der NRF als von Paulhan intendiertes Gegengewicht zu den parallel darin publizierten Auszügen aus Gides Journal (NRF 226-229/ 1932) und dessen Sympathiebekundungen für Russland, s. Cornick, Martyn: Jacques Chardonne et La Nouvelle Revue Française 1920-1940. In: Chaudier, Stéphane; Douzou, Catherine (Hgg.): „Les destinées sentimentales“ et „Vivre à Madère“ de Jacques Chardonne. Lille: Société Roman, 2008, (Roman 20-50; No. 45: Dossier critique), S. 9-23, S. 9, 13ff. Zu Gide vgl. auch Kp. 4.9.2, 5.1.4 und 5.5.1. 22 Von Dufay gelobt als „kurze[s] Meisterwerk“, eine „gänzlich unmanierierte[] Beschreibung einer Kindheit in der Charente“. Dufay, François: Die Herbstreise, S. 52. Cornwick macht auf das antimoderne Gepräge aufmerksam, welche die Anfang 1938 in der NRF vorab publizierten nostalgischen Erinnerungen an eine vergangene Welt zur Zeit des Niedergangs des Front populaire der Zeitschrift verleihen: „À lire ces trois numéros de la revue, on peut comprendre combien un conservateur comme Chardonne a dû amèrement subir la faillite du Front populaire. Les réformes radicales de celui-ci auraient-elles balayé pour rien l’ancien mode de société, les bons vieux temps? “ Cornick, Martyn: Jacques Chardonne et La Nouvelle Revue Française 1920- 1940, S. 17. 23 In Anlehnung an Raymond Arons zeitgenössische ausführliche Auseinandersetzung mit Chardonne unter der Überschrift „De Barbezieux à Montoire, ou l’itinéraire de Jacques Chardonne“. Vgl. Aron, Raymond: Au service de l’ennemi, I. In: Ders.: Chroniques de guerre: La France libre 1940-1945. Paris: Gallimard, 1990, S. 521-533, insb. S. 522-527. <?page no="289"?> 289 supporteraient pas la guerre; même annoncée elle n’était pas certaine; ou bien l’on pressentait qu’elle ne se déroulerait pas comme d’autres guerres. 24 Von der einstig heilen Welt um Barbezieux wendet sich der Dichter der aktuellen Realität zu, dem Ende des avant-guerre. 1938 ist der zuvor politisch nicht ambitionierte Autor entschiedener „munichois“: „Le Français qui n’a pas approuvé les accords de Munich, avec toutes leurs conséquences [...] est un Français disqualifié sur le chapitre du jugement.“ (VF, S. 54f.). Nur ein Jahr später befürwortet der plötzliche Patriot jedoch die französische Kriegserklärung 25 an das Deutsche Reich, um sich alsbald zum glühenden Anhänger der deutsch-französischen Versöhnung sowie später der Kollaboration zu wandeln. Chardonnes Entwicklung überrascht, denn [r]ien, en apparence, ne prédestinait Jacques Chardonne à la besogne qu’il fait aujourd’hui. Le romancier de L’Épithalame, d’Éva et des Destinées sentimentales, semblait voué à la peinture de vies sans éclat, à l’analyse de sentiments intimes, souvent communs et bourgeois, mais comme transfigurés par la patience minutieuse et tendre de l’observateur. Pourquoi soudain cette ruée vers la place publique? Pourquoi cette prise de position éclatante en faveur de l’Europe allemande? 26 5.1.2 Autour de Barbezieux: Chronique privée (1940) In einem Brief vom 25. Oktober 1938 kündigt Chardonne dem Direktor der NRF Jean Paulhan 27 an: „Je pense publier en juillet ou novembre 1939 un livre qui aura pour titre: Autour de Barbezieux (journal d’un mois d’automne). C’est un faux journal puisque les réflexions sont choisies et assez réflé- 24 Chardonne, Jacques: Autour de Barbezieux: Chronique privée. Paris: Editions Stock, Delamain et Boutelleau, 1940, S. 213, Hervorhebung BB, folgend abgekürzt mit CP. 25 Zu Chardonnes wechselhaften politischen Standpunkten s. Hebey, Pierre: La NRF des années sombres, S. 289f. Hebey zitiert aus einem Brief Chardonnes (18. 10. 1939) an seinen Charentaiser Freund, den Schriftsteller Henri Fauconnier (1879-1973; Prix Goncourt für Malaisie, 1930), worin Chardonne selbigem erklärte, die Deutschen seien „une communauté de sauvages (elle l’est depuis Guillaume, mais je ne le voyais pas). Et comme elle est très forte, il faut l’exterminer.’“ Ebd.: S. 289, Kursivierung im Text, Hervorhebung BB. 26 Aron, Raymond: Au service de l’ennemi, I, S. 522f., Kursivierung im Text. Ähnlich Etiemble: „Comment? l’auteur de L’Epithalame, de Claire, hitlérien? Un garçon si sentimental, si tendre! “ Etiemble, René: Jacques Chardonne, hitlérien. In: Ders.: Hygiène des lettres. Bd. 2: Littérature dégagée 1942-1953. Paris: Gallimard, 1955, S. 179-185, hier S. 179, Kursivierung im Text. 27 Zu Paulhan vgl. Kp. 1.2 und 1.4.4. Trotz diametral entgegengesetzter politischer Überzeugungen und Persönlichkeiten der beiden Schriftsteller erstreckte sich der Briefwechsel zwischen Chardonne und Paulhan mit Unterbrechungen über vierzig Jahre. <?page no="290"?> 290 chies, mais il s’agit bien de choses du jour.“ 28 Seine Eindrücke und Reflexionen von bzw. über die Zeit zwischen Juli 1938 und Dezember 1939 werden schließlich Anfang 1940 bei Stock erscheinen: Autour de Barbezieux: Chronique privée; im Februar 1939 war bereits das der Verteidigung des liberalen Kapitalismus gewidmete Kapitel in der NRF unter dem Titel Politique publiziert worden: „Notre pays doit sa richesse au capitalisme libéral. Grâce à lui, en trois générations, le bien-être du manœuvre s’est accru plus qu’en vingt siècles. Il permet de satisfaire la variété des goûts et admet une sorte de liberté très chère aux Français“. 29 Chardonne, der seine Unabhängigkeit von jeglicher politischen Partei betont, fühlt sich durch den Kriegsausbruch in seinem Konservatismus 30 bestätigt und plädiert für seiner Meinung nach vom Untergang bedrohte traditionelle Werte: Diese sieht er exemplarisch in der „douce Charente“ (CP, S. 235) und im Barbezieux seiner Kindheit, dem Richtmaß seiner gesellschaftspolitischen Beurteilungen, verkörpert: Si je dis parfois mon sentiment sur la politique et même l’économie politique, c’est que j’ai enfin une idée sur ces questions. Je n’ai pas emprunté cette idée à des livres, ni à aucun parti. Je la dois aux choses qui sont miennes, et, plus spécialement, à ma province. [...] Autour de Barbezieux, il m’a paru que la société était insurpassable. Tout ce qui est contraire à la haute civilisation charentaise m’est ennemi. C’est ma règle en politique. Je suis devenu conservateur, position isolée, et même agressive aujourd’hui, mais dans laquelle j’ai foi. Il me semble que la guerre lui donne beaucoup de sens. (CP, S. 10f., Kursivierung im Text) Mit dieser vor der französischen Niederlage entstandenen ersten „Chronik“ begründet Chardonne in Hinsicht auf Struktur - einer losen Aneinanderreihung kursorischer sowie stärker reflektierender Passagen - und Stil das Gestaltungsprinzip seiner Publikationen in der Besatzungszeit: Die Chronique privée präsentiert sich als ein Konglomerat persönlicher sowie, untermauert durch Heranziehen von Vertretern aus Politik und Literatur, 28 Jacques Chardonne/ Jean Paulhan: Correspondance, S. 98 (Nr. 89), Kursivierung im Text, Hervorhebung BB. 29 Chardonne, Jacques: „Politique“. In: NRF 305 (Feb. 1939), S. 193-211, hier S. 194f. S. auch Hoctan, Caroline: Présentation, S. 21, Fn. 1. Einen ähnlichen Tenor hat der im September 1939 folgende zweite Auszug aus der Chronique privée: Chardonne, Jacques: „Doléances“. In: NRF 312 (Sept. 1939), S. 430-437. 30 „Dans ma jeunesse, je n’aimais pas les gens de droite, pleins de mérite dans le privé et qui conduisaient sagement leurs affaires; au delà, petites cervelles. Ils proclamaient Dreyfus coupable, sans rien entendre, ils n’avaient en tête que principe d’autorité, esprit de revanche, grandeur militaire […] Maintenant, la distinction gauche et droite ne veut rien dire. C’est au mot conservateur que je trouve un grand sens. Le conservateur est un homme sans préjugés, sans ivresse, qui ne se laisse pas engloutir par le futur, mais que portent en avant son acquis et une constante élaboration des forces vives du passé dont il n’est pas séparable.“ (CP, S. 96ff.). <?page no="291"?> 291 dozierender Stellungnahmen zu diversen Themen 31 , die in pointierterer Form auch in seinen folgenden Werken auftauchen werden. Einzig die Ablehnung 32 des nationalsozialistischen Deutschland wird fehlen: Deux Europes, complètement étrangères l’une à l’autre, vont-elles subsister longtemps de chaque côté d’une ligne Maginot? Le despotisme, avec son programme de régression humaine, sa morale bestiale, sa religion horrible, tel qu’il a surgi des masses asiatiques et de l’Allemagne mongole, n’est pas conciliable avec l’esprit libéral, sa haute raison et son respect de l’homme. (CP, S. 237f.) 1939 bleibt Chardonne Frankreich und dem Franzosen, „qui, le premier, a donné un style à l’amour et à la guerre“ treu und huldigt dem „génie français“ (CP, S. 125f.): „On n’en finirait pas d’opposer le Chardonne de 1939 au Chardonne de 1940 et 1941.“ 33 5.1.3 L’Été à La Maurie (Dezember 1940) - Chronique privée de l’an 1940 (Februar 1941) Von einer Ablehnung des totalitären Nachbarn, der mittlerweile sein Heimatland besiegt, die Nordhälfte Frankreichs besetzt, zudem Elsass und Lothringen dem Deutschen Reich angegliedert und den Reichsgauen Baden und Saarpfalz unterstellt hatte, ist wenige Monate später nichts mehr zu spüren. Aus La Maurie bei Cognac, wohin sich der Romancier im Juni 1940 zurückzieht 34 , äußert sich Chardonne gegenüber Paulhan am 6. Juli 1940 erleichtert über das Verhalten der deutschen Invasoren und zugleich hoffnungsvoll ob des „purgatorischen“ Effekts des zu erwartenden Leides: „Ici, occupation correcte, douce, très douce. Mais j’espère que nous souffrirons. J’accepte tout du fond du cœur. Je sens le bienfait de l’‚épreuve‘, la 31 Vgl. die Kritik des Front populaire („Ce gouvernement n’a rien donné au peuple que des mots. Mais il a su très bien détruire de petits patrimoines, de petites entreprises“, CP, S. 102), des Parlamentarismus („Le régime parlementaire ne vaut rien, mais il est un remède à de plus grands maux.“, CP, S. 223) und des kriminellen Russlands („[L]a vieille Russie, pays des assassinats, de la délation, de l’esclavage, où le peuple vit pauvrement sur le territoire le plus riche du monde“, CP, S. 128). 32 S. auch: „Si les Allemands s’y [en France] installaient avec leur familles voraces et pullulantes, la France deviendrait aussitôt un pays pauvre et triste.“ (CP, S. 164f.); „[I]l existe des êtres nés sous notre ciel, des voisins qui nous sont étrangers. Ils n’ont pas la même chair que nous.“ (CP, S. 224); „Les camps de concentration allemands [...] ont montré l’extrême de la déchéance humaine. En comparaison la sanguinaire révolution française prend un air de santé.“ (CP, S. 234). 33 Aron, Raymond: Au service de l’ennemi, I, S. 523. 34 Mit diesem Hinweis eröffnet Chardonne seine Erzählung: „J’ai passé l’été chez les paysans de La Maurie, en Charente.“ Chardonne, Jacques: „L’Été à la Maurie“. In: NRF 322 (Dez. 1940), S. 7-16, hier S. 7. <?page no="292"?> 292 toute-puissance de l’événement.“ 35 Chardonnes Lobeshymne auf Pétain, die einhergeht mit der Verurteilung des republikanischen Frankreich, der „France folle“ 36 , sowie den von ihm ausgemachten Verantwortlichen der Niederlage, lässt nicht lange auf sich warten: „Pétain seul est grand. Je le trouve sublime. [...] Je vomis les juifs, Benda, et les Anglais - et la Révolution française.“ Im gleichen Schreiben von November 1940 kündigt er Paulhan seine zweite Chronik (Chronique privée de l’an 1940) mit den Worten an: „Je ne vous donnerai pas mon prochain livre, qui vous fera frémir (il paraît en janvier), mais il peut vous convertir, vous persuader qu’il ne s’agit pas d’Hitler (que j’estime beaucoup par ailleurs) mais de providence. Les signes sont évidents.“ 37 Im Dezember 1940 bildet der Vorabdruck der skandalösesten Erzählung der Chronique privée de l’an 1940 den Auftakt zur ersten Ausgabe der von den deutschen Machthabern wieder genehmigten NRF, nunmehr unter der Ägide Drieu la Rochelles 38 : In L’Eté à La Maurie stimmt Chardonne ein Loblied 39 auf die Höflichkeit der „verheißungsvollen“ deutschen Besatzer in der Charente an. 40 Paulhan reagiert ob dieser gleichnishaften Rechtferti- 35 Jacques Chardonne/ Jean Paulhan: Correspondance, S. 114f. (Nr. 115), hier S. 114, Hervorhebung BB. Vgl. die entsprechende Formulierung im Ciel de Nieflheim: „L’occupation fut douce“ (CdN, S. 134); ausf. hierzu s. Kp. 5.8. Über Chardonnes Entwicklung im Sommer 1940 „en écrivain du ressentiment, en folliculaire vipérin, au patriotisme négatif“, s. Sureau, François: Préface, S. 15. 36 Vgl. Chardonnes Brief an Paulhan vom 12. 7. 1940 in Jacques Chardonne/ Jean Paulhan: Correspondance, S. 115 (Nr. 116). 37 Ebd.: S. 116f. (Nr. 118), Hervorhebung BB. 38 Im Juni 1940 erschien die letzte Ausgabe der NRF (321) unter Paulhan; ihn zu verlieren bedauert Chardonne als einzigen Nebeneffekt der französischen Niederlage. S. Chardonnes Brief an Paulhan vom 2. 11. 1940 in Jacques Chardonne/ Jean Paulhan: Correspondance, S. 116 (Nr. 117). Ausf. zur NRF unter Drieus Leitung ab Dezember 1940 als „flagship of intellectual and literary collaboration“ (Kidd, William: „French Literature and World War II: Vercors and Chardonne“. In: Forum for modern language studies 23, 1 (jan. 1987), S. 38-47, hier S. 39), vgl. die Studie von Hebey, Pierre: La NRF des années sombres, zu Chardonne s. insb. S. 287-298. Nach L’Eté à La Maurie wird Chardonne die NRF als Tribüne für ähnliche Beiträge nutzen: „Les vocations tardives“ (NRF 324, Feb. 1941), „Voir la figure“ (NRF 328, Juni 1941), „Dialogue“ (NRF 346, Dez. 1942). 39 Als fatal wird Chardonne rückblickend sein idyllisches Tableau der von lammfrommen deutschen Soldaten besetzten Charente („où je décrivais les Allemands comme des agneaux“) gegenüber Nimier (5. 11. 1952) bezeichnen. S. Jacques Chardonne/ Roger Nimier: Correspondance 1950-1962. Choix présenté, établi et annoté par Marc Dambre. Paris: Gallimard, 1984, S. 82ff. (Nr. 69), hier S. 83. 40 Im Zentrum stehen zwei Anekdoten: die versöhnliche Geste des Winzers und Veteranen des Ersten Weltkriegs Eugène Briand, der einem Wehrmachtsoffizier, der ebenfalls in Verdun gekämpft hat, ein Glas Cognac seines Urgroßvaters, Soldat unter Napoléon, mit den Worten anbietet: „J’aimerais mieux vous avoir invités. Mais je ne peux rien changer à ce qui est. Appréciez mon cognac; je vous l’offre de bon cœur.“ Der Landwirt André Renaud seinerseits bedankt sich beim deutschen Hauptmann <?page no="293"?> 293 gung der deutsch-französischen Kollaboration coram publico und Chardonnes „main tendue à l’occupant“ 41 empört: „Le Chardonne m’a paru abject de faiblesse et de lèche.“; François Mauriac seinerseits kündigt Drieu und „seiner“ NRF die Mitarbeit auf. 42 Die kurz darauf verlegte Chronique privée de l’an 1940 43 präsentiert sich als Arsenal der wichtigsten Thesen der entschiedensten Kollaborationsverfechter: Verurteilung der französischen Kriegserklärung an das Deutsche Reich als „trahison de l’intelligence“ (CP 1940, S. 114), Lob des Waffenstillstands, Rechtfertigung der französischen Niederlage als Ergebnis der schändlichen Dritten Republik, Kritik am französischen vorurteilsbehafteten und hasserfüllten Deutschlandbild, am Revanchismus und am ungerechtfertigten Versailler Vertrag, Anerkennung der Überlegenheit NS-Deutschlands sowie ein Hymnus auf die unverhoffte Toleranz des deutschen Siegers: „Les Allemands ont fait la guerre avec le moins de dommage possible, ils nous ont ménagés; ces conquérants d’un nouveau style n’ont pas abusé de leur pouvoir absolu“ (CP 1940, S. 210). Chardonnes didaktischer Rat lautet: „Quand on est vaincu par la force, il ne faut pas dénigrer cette force, ni se plaindre. C’est au vainqueur à se Schumm für das vorbildliche Verhalten von dessen auf seinem Anwesen einquartierten Einheit: „‚Je suis persuadé que la correction dont il a été fait preuve est une des meilleures propagandes pour la compréhension mutuelle entre nos deux pays.‘“ Chardonne, Jacques: „L’Eté à la Maurie“, hier S. 12, 16. S. hierzu auch Cornick, Martyn: Jacques Chardonne et La Nouvelle Revue française 1920-1940, S. 20ff. 41 Lucien Scheler zufolge, Freund und Kollege Vercors’ (1902-1991), dränge sich aus der Retrospektive dieser zutreffendere Titel für L’Été à la Maurie auf. Loiseaux seinerseits verweist darauf, dass Vercors Novelle Le silence de la mer (1941) als Parodie auf L’Ete à la Maurie gelesen werden könne. Zit. in Kidd, William: „French Literature and World War II“, S. 39f. 42 Trotz Paulhans Indignation, die er am 16. 12. 1940 gegenüber Jouhandeau bekundet, und Missbilligung des pro-nazistischen Engagements Chardonnes, wird er weiterhin Kontakt mit diesem pflegen. Paulhan, Jean: Choix de lettres II: 1937-1945, S. 209 (Nr. 169). Hoctan betont jedoch nachdrücklich, dass es Paulhan war, dem Chardonne das Manuskript dieses Textes im Juni 1940 übersandt hatte mit der Erlaubnis, Änderungen vorzunehmen (Briefe vom 9. 6. 1940 und 6. 7. 1940). Hoctan, Caroline: Présentation, S. 21, s. auch Jacques Chardonne/ Jean Paulhan: Correspondance, S. 113ff. (Nr. 114 und 115). Zu Mauriac s. Guitard-Auviste, Ginette: Jacques Chardonne ou l’incandescence sous le givre, S. 210. 43 Chardonne, Jacques: Chronique privée de l’an 1940. 9 è éd. Paris: Editions Stock, Delamain et Boutelleau, 1941, nachfolgend abgekürzt mit CP 1940. Auch fast zwei Jahrzehnte später (Brief an Pierre de Boisdeffre, 18. 7. 1958) wird Chardonne nur den ungünstigen Zeitpunkt, nicht aber die Aussage seiner Chronique privée de l’an 1940 bedauern: „‚L’erreur, ce fut de publier quelques pages en des temps où il ne fallait pas écrire (du moins publier). Je m’en suis repenti. Le repentir se borne à ce manque de tact. Il ne porte pas (trois fois hélas! ) sur le jugement’.“ Zit. in Guitard-Auviste, Ginette: Jacques Chardonne ou l’incandescence sous le givre, S. 215. Es ist bezeichnend, dass er Voir la figure, Le Ciel de Nieflheim und seine Weimarer Reden mit keiner Silbe erwähnt. Hierzu s. Hebey, Pierre: La NRF des années sombres, S. 296. <?page no="294"?> 294 poser des questions sur la justice.“ (CP 1940, S. 92). 44 Dann könne Frankreich, wie es die Weisen Châteaubriant und Drieu la Rochelle, „ces deux apôtres du bon sens“ (CP 1940, S. 214), prophezeien, seinen Platz in dem im Zeichen des Nationalsozialismus geeinten Europa finden. 45 5.1.4 Voir la figure (Juni und Oktober 1941) Am 12. April 1941 repliziert André Gide im Figaro mit dem Artikel Chardonne 1940 auf dessen Chronique privée de l’an 1940, die er als „instructif exemple [...] d’une indisposition de l’intelligence“ verhöhnt. 46 Die selbstgefällige, gar emphatische Akzeptanz der französischen Niederlage seines (vormals geschätzten) Kollegen verurteilt er aufs Schärfste: Et devions-nous voir un esprit aussi remarquable, fatalement et déplorablement, se défaire, le voir accepter si complaisamment sa défaite? Qu’est-ce donc, tout de même, qui s’est passé, qui nous force de penser aujourd’hui, imitant le titre du roman de lui que je citais: Chardonne, c’est beaucoup moins que Chardonne? 47 Daraufhin ergreift der Nobelpreisträger Roger Martin du Gard (1881-1958) für den vollendeten Künstler Chardonne und „ce sensible ouvrage“ Partei. Gide indes diskreditiert er als Wendehals, Pamphletisten und Narziss: M. Chardonne écrit des romans où il se raconte et des essais où il se romance à peine moins, mais il sait sortir de lui, se dépasser, atteindre même à une vue métaphysique, et sa dernière sortie, si l’on doit dire, fait du bruit. Pour avoir exprimé en un style, comme à l’ordinaire délicieux, quelques réalités un peu 44 Vgl. Dufays Kritik an diesem „Buch gespickt mit demütigenden Aphorismen à la Pétain.“ Dufay, François: Die Herbstreise, S. 51. 45 Eben diese Punkte der Kollaborationsfo(e)rderung greift der an der Universität von Chicago französische Sprache und Literatur lehrende René Etiemble (1909-2002) im Jahr 1942 auf, der Chardonne zynisch als „[b]on disciple de Goebbels“ bezeichnet: „[I]ls ne comprennent pas, ces cochons de Franzosen, que la liberté doit rester une chose de l’âme, et que la France enfin apparaît dans son ‚aurore‘. Comptez sur Chardonne, braves petits agents de la Gestapo, pour expliquer à ces salauds de Français quelle ignominie c’est que de résister à vos ordres.“; „Comptez sur Chardonne, braves petits tortionnaires de Dachau et d’ailleurs, comptez sur lui et sur tous les apôtres du ‚bon sens‘, ceux qu’il approuve: Drieu la Rochelle et M. de Châteaubriant.“ Etiemble, René: Jacques Chardonne, hitlérien, S. 183, Kursivierung im Text. 46 Gides Artikel, der im Figaro mit dem Vermerk erschien, dass der Verfasser der NRF seine Mitarbeit aufkündige, fügt Chardonne als Anhang Voir la figure bei ebenso wie die Replik Martin du Gards, welche La dépêche de Toulouse am 29. 4. 1941 veröffentlichte. Gide, André: „Chardonne 1940“. In: VF, S. 109-115, hier S. 109, Hervorhebung BB. 47 Ebd.: S. 114. Gide spielt auf L’amour c’est beaucoup plus que l’amour (erstmals 1937 bei Stock) an, eine Art „Liebes-Anthologie“ beruhend auf Chardonnes Werken. Guitard- Auviste zitiert aus Gides „Kündigungs-Telegramm“ an Drieu und wirft dem „alten“ Gide vor, vom sicheren Tunis aus Lektionen erteilt zu haben. Guitard-Auviste, Ginette: Jacques Chardonne ou l’incandescence sous le givre, S. 211f. <?page no="295"?> 295 rudes et des espérances nobles et sereines, encore que prématurées, il réveille en sursaut des émigrés, et provoque le calomnieux talent qui dormait avec eux. M. André Gide s’est levé. […] En 1933, M. Gide trouvait Hitler admirable; à quelque temps de là il ne pensait qu’à travailler ‚de toute son âme‘ au succès du communisme […]. Ce protestant errant découvre aujourd’hui sa ‚constance‘. Il s’oppose à Monsieur Chardonne qui, pour lui, serait flottant. Il y avait longtemps que nous n’avions ri. 48 Chardonne setzt den Reigen fort, indem er seinen Kritikern, allen voran Gide, im Juni 1941 zunächst mit dem kurzen Artikel Voir la figure 49 in der NRF kontert, welcher ihm nachfolgend als Inspiration und Einstieg für einen hundertseitigen Essay dient, den er seinem befreundeten Schriftstellerkollegen André Thérive widmet. Mit diesem von Grasset im Oktober 1941 edierten Werk unter dem appellativen Titel „Den Dingen ins Gesicht sehen“ 50 intensiviert Chardonne unter dem Patronat Ernest Renans 51 (1823- 1892) seine vorigen „Zuneigungsbekundungen“ dem gewandelten 52 deut- 48 Martin du Gard, Maurice: „La méprise de M. Gide“. In: VF, S. 117-123, die Zitate finden sich der Reihe nach S. 122, 117ff., Hervorhebung BB. 49 Chardonne, Jacques: „Voir la figure“. In: NRF 328 (Juni 1941), S. 852-854. 50 So die Übersetzung Dr. Bernhard Payrs, des für die Literaturüberwachung zuständigen Leiters des Zentrallektorats der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums in Berlin (Verfasser von Das Amt Schrifttumspflege: Seine Entwicklungsgeschichte und seine Organisation, 1941), ab 1940 mit Sonderauftrag des Amtes Rosenberg in Paris. In Phönix und Asche? (1942), einer umfangreichen Bilanz der französischen Literatur der Niederlage und der Kollaboration, widmet sich Payr, der 1927 mit einer 56-seitigen Arbeit über E. T. A. Hoffmann und Théophile Gautier: Ein geisteswissenschaftlicher Beitrag zur vergleichenden Literaturgeschichte in Leipzig promoviert worden war, dem Œuvre der bedeutendsten kollaborationswilligen französischen Autoren - unter ihnen der „liebenswürdige[] Schöngeist und ‚homme de lettres‘“ Chardonne mit seinen „mitunter recht reizvollen Tagebuchaufzeichnungen der ‚Chronique privée de l’an 1940‘“. Voir la figure schätzt Payr als „wichtigste Erscheinung über Deutschland“. Dieser Titel impliziere, „daß durch das unvoreingenommene Anschauen der Dinge zugleich die Gestalt des Kommenden wahrgenommen werden müsse“, nämlich die Führung Europas durch NS-Deutschland. Payr, Bernhard: Phönix oder Asche? , S. 358ff., Kursivierung im Text. Zu Phönix oder Asche? s. auch Hausmann, Frank-Rutger: „Dichte, Dichter, tage nicht! “, S. 150-152, zu Payr s. S. 38. 51 Zahlreich sind die Verweise auf Renan (u.a. VF, S. 9, 15f., 32f., 44f., 50, 67), auf den sich Chardonne ganz wesentlich auch im Ciel de Nieflheim stützt, sowie auf eine Vielzahl weiterer „ancêtres de notre pensée“, so Drieu la Rochelle in seiner Parteinahme für „[n]otre ami“ Chardonne, dessen Reflexionen über das gegenwärtige Frankreich er für ihre „délicatesse pénétrante“ lobt, nicht ohne das von Chardonne zitierte Postulat Victor Hugos von Frankreich und Deutschland als den Pfeilern des neuen Europas zu relativieren und vor Russland zu warnen. Drieu La Rochelle, Pierre: „Chardonne“. In: NRF 334 (Dez. 1941), S. 737-741. Zur Vita Renans s. Kp. 5.4.2, Fn. 164. 52 „Cette Allemagne, dont Renan parlait ainsi en 1871, c’est la même qui nous a vaincus encore, et pour les mêmes raisons. Pourtant elle est toute différente.“ (VF, S. 16, Hervorhebung BB). Voir la nouvelle figure NS-Deutschlands lautet Chardonnes Aufforderung an seine Landsleute: „Aux Français d’aujourd’hui, dont beaucoup sont <?page no="296"?> 296 schen Nachbarn gegenüber, gepaart mit einer, kontrastiv zur Überhöhung Pétains 53 , forcierten Vaterlandsschelte 54 , und argumentiert mit der NS- Propaganda für ein Europa unter deutscher Führung 55 . Die versöhnliche Geste des französischen Winzers und Kriegsversehrten von Verdun, der einem Offizier der deutschen Besatzungsmacht ein Glas Cognac anbot und damit „le fatal enchaînement des désastres“ (VF, S. 11) unterbrach, ist für ihn Schlüsselerlebnis und Grund einer nunmehr ostentativ bekundeten Germanophilie, die er mit einer wahrhaften Bekehrung vergleicht: „Ce jour-là, un vieux monde d’idées et de certitudes s’est défait en moi d’un seul coup, parce qu’un autre univers m’apparut. J’ai compris alors ce brusque et total retournement de l’esprit que l’on nomme ‚conversion’.“ (VF, S. 11f., Hervorhebung BB). Ursächlich für diese seine „Erleuchtung“ ist die Entzauberung des bürgerlich-liberalen „Seifenblasen“-Idylls Barbezieux, die einhergeht mit der Verachtung der auf die Französische Revolution zurückgehenden französischen Demokratie und dem Wunsch nach starker Führerschaft: ‚Je suis un ‚converti’. Ce mystère de la ‚conversion’ qui ma toujours intrigué, je le connais maintenant. [...] Le converti adhère moins à telle vérité nouvelle qu’il n'expulse violemment un monde de pensée ancien. Plutôt négatif. J’ai vu mon erreur: J’avais construit un monde que j’appelais Barbezieux. Une certaine société bourgeoise, intègre, libérale, forte, ascétique, artisanale et artistique. Je ne l’ai pas inventé. Il existait, mais si exténué qu’il était presque chiméd’anciens soldats de 1914, il est demandé un effort de l’esprit, de liberté d’esprit, qui n’est pas très différent. Ils doivent apprendre à voir une nouvelle Figure, à reconnaître la beauté sous des formes inaccoutumés, à penser contre la pente de leur être et d’une vieille éducation souvent fautive.“ (VF, S. 78, Hervorhebung BB). 53 „On doit au maréchal Pétain la notion d’un bon gouvernement. Ce qui est défectueux encore n’est pas de sa faute.“ (VF, S. 36); „La France n’aurait plus d’existence, à la lettre, si elle ne s’était incarnée dans le maréchal Pétain.“ (VF, S. 54). 54 „Le Français était radical socialiste, mais nullement socialiste. [...] Il ignorait la transformation sociale accomplie en Allemagne - cécité propre au Français, mensonge organisé qui est la honte de l’esprit, et dont je demande pardon pour moi-même.“ (VF, S. 27); „Préjugés à l’égard de l’Allemand, déchets de l’antique révolution, telle est la mixture qui entête une catégorie de Français. Ces hommes libres n’ont aucune liberté de jugement; ils ont une sclérose intellectuelle.“ (VF, S. 46, Hervorhebung BB); „J’ignore si la France est indispensable au monde, mais le Français m’est indispensable. Il a besoin d’être retrempé.“ (VF, S. 88). 55 „Nous sommes à la merci de l’Allemagne. Elle dominera l’Europe. Mais le vainqueur épargnera le territoire des nations appelées à former l’Europe si elles consentent aux conditions de cette unité.“; „Seule l’Allemagne peut organiser le continent, et elle nous procure l’occasion d’une réfection interne qui était nécessaire et qu’il nous appartient de réussir.“ (VF, S. 42f.); „Je crois que l’Europe organisée par l’Allemagne atteindra très vite à une grande prospérité.“ (VF, S. 60). Diese Chardonne’schen Glaubensbekundungen zugunsten des Nationalsozialismus lassen Aron pointiert resümieren: „Il n’était pas besoin d’un Chardonne pour traduire les textes fournis par Goebbels.“ Aron, Raymond: Au service de l’ennemi, I, S. 526, Hervorhebung BB. <?page no="297"?> 297 rique. Je disais: cela seul existe, c’est la France; vous me parlez d’une France en décomposition, je ne la connais pas. Brusquement je l’ai vue. J’ai vu le monde politique et ses ressorts, les trusts, les radicaux, toutes les niaises folies. J’ai vu qu’ils étaient tout, et que mon univers était une bulle de savon. J’ai pris en détestation cette France, et j’ai compris d’où elle venait. De la Révolution Française ne venaient plus que de la boue et des bêtises. Tout est faux dans cette voie. Tout notre vocabulaire est vicié. Je trouve Pétain sublime.‘ 56 Die NS-Propaganda in Gestalt von Karl Heinz Bremer preist die Chronique privée de l’an 1940 und Voir la figure als „deutsch-französische[s] und europäische[s] Ereignis von großer geistiger und politischer Tragweite“ und als „mutiges Werk“, das wegen seines „geschichtlichen Dauerwert[es]“ sowohl Madame de Staëls De l’Allemagne als auch Châteaubriants La Gerbe des forces übertreffe. 57 Beide Texte werden auf der Gesamtliste des foerdernswerten Schrifttums bis 31. 12. 1942 der Propaganda-Abteilung Frankreich, Gruppe Schrifttum figurieren. 58 Die Résistance hingegen verdammt Chardonnes Bekenntnis zu Hitler-Deutschland einmütig und denunziert seine „weibische Hingabe“ an den Besatzer als verabscheuungswürdige „sexuelle“ Unterwerfung: On raconte que telle championne de course à pied s’est vue, dans un effort trop violent, changée en homme. Pour donner voix à la femelle qui se cachait en Chardonne, il a fallu un choc aussi, rien moins qu’une défaite de la France, soldats et réfugiés pêle-mêle sur les routes, la croix gammée sur nos édifices, nos paroles mêmes annexées par l’ennemi, et nos torturés, et nos fusillés. Sur quoi, l’occasion étant trop belle, Chardonne s’est converti à l’hitlérisme. Il faut voir dans quelle allègre extase il entre pour célébrer la beauté des jeunes vainqueurs. Il s’est donné, comme femme après une gifle, avec des roucoulements dans la gorge. Chronique privée de l’an 1940 retrace l’idylle. 56 Dieses Bekenntnis zitiert Marcel Arland (1899-1986) aus einem Brief, den Chardonne ihm Ende 1940 sandte. Zugleich betont er das wechselhafte Gemüt des Literaten und schreibt ihm „[u]ne instabilité foncière, un inépuisable besoin de changement“ als unveräußerlichen Charakterzug zu. Arland, Marcel: Ce fut ainsi. Paris: Gallimard, 1979, S. 208ff., Kursivierung im Text, Hervorhebung BB. Auch während der Besatzung setzte Arland seine Mitarbeit für die NRF fort; ab 1953 leitete er, zunächst gemeinsam mit Paulhan, nach dessen Tod im Jahr 1968 (Aufnahme in die Académie française) alleine La Nouvelle NRF (bis 1977). Mercier, Pascal: „Marcel Arland“. In: Juillard, Jacques; Winock, Michel (Hgg.): Dictionnaire des intellectuels français, S. 97-98. 57 Bremer, Karl Heinz: „Jacques Chardonne“. In: Deutschland-Frankreich 1. Jg., Nr. 1 (1942), S. 139-142, hier S. 141f., Hervorhebung BB. Payr kritisiert die „sehr heftige und gehässige Kritik, die der scharfsinnige, aber übelwollende und stets unberechenbare Gide“ veröffentlicht habe. Payr, Bernhard: Phönix oder Asche? , S. 359. Epting lobt beide Texte als Appell an „ein mutiges corps à corps mit dem deutschen Leben“. Epting, Karl: Frankreich im Widerspruch, S. 143. 58 Unter der Rubrik „IV. - Neueinstellung Frankreichs“. Vgl. das Faksimile der „Gesamtliste“ bei Loiseaux, Gérard: La littérature de la défaite et de la collaboration, S. 551-556, hier S. 555 (Annexe II). <?page no="298"?> 298 Voir la Figure entend nous prouver que le coup de foudre doit conduire au mariage de raison. 59 5.1.5 Weimar (1941/ 1942) - Le Miroir des livres nouveaux 1941-1942 Während der Besatzung schreibt Chardonne, „cet écrivain si profondément, sensiblement et même […] si susceptiblement français“ 60 , neben der NRF für Châteaubriants La Gerbe, die Deutsch-Französischen Monatshefte und für Deutschland-Frankreich, die Vierteljahresschrift des Deutschen Instituts, mit dem er während der Okkupation auf vielfältige Weise verbunden ist 61 : Der Schriftsteller aus Barbezieux ist regelmäßiger Gast im Hôtel de Sagan 62 und zählt, wie die Schriftstellerkollegen Robert Brasillach und Alphonse de Châteaubriant, zum Ehrenkomitee der Breker-Retrospektive in der Orangerie (Mai bis Juli 1942). 63 Nachdem Chardonne bereits im Spätherbst 1941 im 59 Im Gegensatz zu Chardonne lehnt der anonyme Verfasser jegliche Beschönigung und insbesondere die Verharmlosung der Hitler’schen Worte und Taten ab: „Parce que nous ne pouvons oublier Mein Kampf, nous ne pourrons oublier Chardonne.“ N.N.: „Jacques Chardonne et ‚Mein Kampf’“. In: Les Lettres françaises 11 (Nov. 1943), S. 2, Kursivierung im Text. Hebey bezeichnet Voir la figure als „le plus malheureux [opuscule] qu’un grand écrivain ait écrit durant les années noires. Étonnant hymne au vainqueur d’un homme éperdu d’admiration, impatient de participer à une grande œuvre, stupéfait devant l’aveuglement de ses concitoyens si peu pressés de saisir la chance inespérée que leur offre l’Histoire.“ Hebey, Pierre: La NRF des années sombres, S. 293, Hervorhebung BB. Zugleich fehlt es nicht an Verteidigern, welche die Brisanz von Voir la figure herunterspielen und das Fatum für Chardonnes „Traum-Werk“ verantwortlich machen: „Ce petit ouvrage, qui se voulait réaliste, était l’œuvre d’un rêveur. Chardonne avait eu la malchance de rencontrer quelques Allemands bien polis et ignorait tout des réalités du national-socialisme.“ Brenner, Jacques: „Jacques Chardonne: un écrivain sans accessoires“. In CJC 9 (1985), S. 9-11, hier S. 9f., Hervorhebung BB. 60 So die huldigende Präsentierung durch La Gerbe einleitend zum Bericht des Schriftstellers über „un grand voyage de consultation, d’interrogation et de contrôle“ im Nachbarland im Herbst 1941: Chardonne, Jacques: „Voir l’Allemagne“. In: La Gerbe, 13. 11. 1941, S. 1. 61 Als Co-Direktor der Editions Stock, Delamain et Boutelleau war Chardonne im Oktober 1940 mit Epting in Kontakt getreten, der ihm die Publikation englischer Autoren genehmigte, was Chardonne positiv für ihn einnahm, wie er rückblickend Henri Fauconnier berichtete (Brief vom 18. 7. 1944): „‚Avec ces gens-là, on pouvait s’entendre.’“ Zit. in Guitard-Auviste, Ginette: Jacques Chardonne ou l’incandescence sous le givre, S. 207. 62 Vgl. bspw. Chardonnes Bericht über seine Einladung zu einem Konzert im Hôtel Sagan in der Rue Saint-Dominique, wo das Deutsche Institut seit Juli 1941 residiert, anlässlich dessen er „mit vielen erlesenen, lauteren und tapferen Vertretern des geistigen Frankreich der Gegenwart zusammentrat“, so u.a. mit Jean-Louis Vaudoyer und Alfred Fabre-Luce. Payr, Bernhard: Phönix oder Asche? , S. 361; auf den Seiten 366-372 findet sich die Übersetzung der entsprechenden Passage aus Voir la Figure (VF, S. 40ff.). 63 S. auch Kp. 4.1. <?page no="299"?> 299 Anschluss an eine dreiwöchige Deutschlandrundreise am europäischen Schriftstellerkongress in Weimar teilgenommen hat, entzieht er sich auch im Folgejahr keineswegs der kompromittierenden Propagandaaktion und reist erneut zu den Weimarer Dichtertagen. 64 Zeitgleich finden sich die Editions Stock unter den vierzehn französischen Verlagshäusern, die mit dem Miroir des livres nouveaux 1941-1942, einem aufwendigen Werbekatalog für kollaborationistische französische Literatur bzw. ins Französische übersetzte deutsche Propagandawerke, „une lune de miel publique“ mit der NS-Propaganda feiern. 65 5.1.6 Le Ciel de Nieflheim (1943) - Attachements (1943) Die im Dritten Reich gewonnenen Eindrücke 66 finden Eingang im Ciel de Nieflheim (1943), einem „livre à la gloire du nazisme“ 67 , in dem Chardonne, ungeachtet der vollständigen Besetzung 68 und Ausbeutung Frankreichs, der systematischen Geiselerschießungen und Judendeportationen für eine Neuordnung Europas unter starker deutscher Führung plädiert. Die Deportation seines Sohnes Gérard Boutelleau 69 (1911-1962) ins KZ Sachsenhausen im März 1943 lässt ihn indes von der Publikation des im Mai 1943 vollendeten Textes - so die Datumsangabe am Ende des Ciel de Nieflheim (CdN, S. 157) - Abstand nehmen. 70 Chardonne erklärt dies am 24. Mai 1943 64 Ausf. s. Kp. 5.3. 65 Loiseaux, Gérard: La littérature de la défaite et de la collaboration, S. 105. Zum Miroir s. auch Kp. 3.1. 66 Der anonyme Herausgeber des Ciel de Nieflheim spricht von „un exercice de style, une suite d’impressions sur l’époque, formées pour partie au cours de deux voyages en Allemagne.“ Vgl. N.N.: Avant-Propos. In: Chardonne, Jacques: Le Ciel de Nieflheim. Bucarest, 1991, S. 5-10, hier S. 5. 67 Assouline, Pierre: „Ces livres que vous n’avez pas le droit de lire“, insb. S. 55-57, hier S. 55. 68 Zu den Ereignissen seit dem Einmarsch der Wehrmacht in die unbesetzte Südzone am 11. 11. 1942 vgl., wie bereits erwähnt, die Beiträge in Martens, Stefan; Vaïsse, Maurice (Hgg.): Frankreich und Deutschland im Krieg (November 1942 - Herbst 1944). 69 Gérard Boutelleau, ehemals Korrespondent des Figaro in London, wurde am 4. 3. 1943 in Tunis, wo er mit seiner britischen Frau bei André Gide lebte, u.a. wegen anglo-amerikanischer Spionage verhaftet. Nach seiner Befreiung engagierte er sich weiterhin in der Résistance und wurde nach der Landung der Alliierten abermals inhaftiert, doch ihm gelang die Flucht. 1944 wurde Boutelleau Chefredakteur von Carrefour, anschließend arbeitete er als Übersetzer, Schriftsteller und Verleger (Editions Stock). Zu Gérard Boutelleau vgl. Hoctan, Caroline: Présentation, S. 22, Fn. 2; weiter informieren: Guitard-Auviste, Ginette: Jacques Chardonne ou l’incandescence sous le givre, S. 221ff.; Chardonne, Jacques: Propos comme ça, S. 53; Hausmann, Frank- Rutger: „Dichte, Dichter, tage nicht! “, S. 182ff. 70 Dies verschweigt Epting, demzufolge Chardonne „die Zeit nicht gekommen schien, vor den Spaltungen und Hassausbrüchen der Gegenwart in der Öffentlichkeit das Herz sprechen zu lassen.“ Epting, Karl: „Bücher zur französischen Lage“, S. 116. Du- <?page no="300"?> 300 in einem Schreiben an den für die Überwachung der französischen Literatur zuständigen Offizier, Sonderführer Gerhard Heller 71 (1909-1982): Wissend „que ce livre soit insupportable aujourd’hui, donc inutile et même nuisible“ 72 , verzichtet er auf ostentative Sympathiebekundungen zugunsten der Häscher seines Sohnes. Mit seinen politischen Überzeugungen bricht er jedoch keineswegs: ‚Mes idées, vous les trouverez dans les épreuves de mon livre: Le ciel de Nieflheim que vous allez recevoir, et je souhaite que le plus grand nombre de fay verweist hingegen auf die Intervention Hellers, der Chardonne „in extremis“ von der Publikation des Ciel de Nieflheim abhielt, die einem „point de non-retour“ bedeutet hätte. S. Dufay, François: Le soufre et le moisi, S. 94. 71 Nach einem Studium der Germanistik, Romanistik, Geschichte und Philosophie in Berlin und Heidelberg mit Auslandsaufenthalten in Pisa (1933/ 34) und Toulouse (1934/ 35) arbeitete Gerhard Heller, seit Februar 1934 NSDAP-Parteimitglied, als Journalist und Übersetzer für den Berliner Rundfunk (ab 1935). Seit Herbst 1940 Sonderführer Z beim Militärbefehlshaber in Frankreich, leitete Heller die Gruppe Schrifttum der Pariser Propaganda-Staffel, ab Juli 1942 war er der deutschen Botschaft (Wissenschaftlicher Hilfsarbeiter und Referent für Schrifttumsfragen) unterstellt. Nach dem Krieg setzten sich u.a. Paulhan und Mauriac für Heller ein. 1980 zeichnete die Académie française den Verleger (Stahlberg-Verlag) und Übersetzer (u.a. Pierre Drieu la Rochelle, Julien Green, Patrick Modiano) mit dem Prix du Rayonnement de la langue et de la littérature françaises aus. Allg. s. „Gerhard Heller“. In: Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871-1945, Bd. 2, 2005, S. 252-253; zu Hellers „geschönten Erinnerungen“ in seiner Autobiografie Un Allemand à Paris 1940-1944 (Seuil, 1981)/ In einem besetzten Land: NS-Kulturpolitik in Frankreich; Erinnerungen 1940- 1944 (Kiepenheuer & Witsch, 1982), s. Hausmann, Frank-Rutger: „Dichte, Dichter, tage nicht! “, S. 153, s. auch S. 114, Fn. 23, S. 143ff.; gleicher Tenor im Kp. „Gerhard Heller, un ‚Européen rayonnant’“ bei Loiseaux, Gérard: La littérature de la défaite et de la collaboration, S. 504-519; zu den „contre-vérités, silences et impostures“ des Heller’schen Selbstporträts in Un Allemand à Paris, das Loiseaux als „livre pervers“ bezeichnet, s. Ders.: „La collaboration littéraire au service de l’Europe Nouvelle“, S. 26ff., hier S. 27f. Vgl. des Weiteren Flügge, Manfred: Contrôle Allemand et production littéraire (à propos du lieutenant Heller). In: La Littérature Française sous l’Occupation, Bd. 1, S. 243-251; zur ambivalenten Figur Hellers sowie dem „Nachkriegsmythos“ des insgeheimen Regime-Gegners s. Ders.: Der Zensor als Protektor oder: Die Widersprüche des „Leutnant Heller“. Fast ein Roman aus dem Paris der Besatzungszeit. In: Flügge, Manfred: „Paris ist schwer“: Deutsche Lebensläufe in Frankreich. Berlin: Das Arsenal, 1992, S. 175-197. Weitaus positiver beurteilt Kohut die Rolle Hellers: Die Kontinuität der deutsch-französischen Literaturbeziehungen sei Verdienst sowohl der Opfer als auch der frankophilen Mitläufer des Dritten Reiches: „[D]en Exilanten vor dem Krieg, während und nach dem Krieg von Männern wie Heller, deren Typus Vercors im deutschen Offizier in ‚Le silence de la mer’ festgehalten hat.“ Kohut, Karl: Literatur der Résistance und Kollaboration in Frankreich: ein Extremfall der literarischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich. In: Jordan, Lothar; Kortländer, Bernd; Fritz, Nies (Hgg.): Interferenzen. Deutschland und Frankreich. Literatur-Wissenschaft-Sprache (Veröffentlichungen des Heinrich-Heine-Instituts Düsseldorf). Düsseldorf: Droste-Verlag, 1983, S. 111-120, hier S. 119. 72 Chardonne an Paul Géraldy am 6. 8. 1943, zit. in Guitard-Auviste, Ginette: Jacques Chardonne ou l’incandescence sous le givre, S. 226. <?page no="301"?> 301 personnalités allemandes en prennent connaissance. Je crois que ce livre aurait eu une action profonde en France. Mais à cet acte, je me refuserai désormais. Et à tout autre analogue. L’article que j’ai donné pour la revue Deutschland- Frankreich ne doit pas paraître. Mes opinions n’ont pas changé, mais cette publication serait une indignité de ma part à l’égard de ma famille. Je me retire également de l’association des écrivains européens. Je me retire de tout. Je ne puis répondre que par le silence. Je garderai le silence...’ 73 Dennoch veranlasst Chardonne noch vor der Freilassung 74 seines Sohnes, die ihm dank der Interventionen Eptings, Hellers und der Deutschen Botschaft im Juli gelingt, einen Privatdruck des Ciel de Nieflheim: „Edité par l‘auteur“ und gedruckt im Juni 1943 bei der Imprimerie de Lagny Emmanuel Grevin et fils, verteilt er die broschierten Fahnen in seinem Freundeskreis. 75 73 Zit. in Ebd.: S. 222, Kursivierung im Text, Hervorhebung BB. Ähnlich äußert sich Chardonne in seinem Brief an Marcel Arland am 26. Mai 1943: „‚Il est bien entendu que mes opinions ne peuvent varier avec les événements. Mais, comme je viens de l’écrire à Heller, mes actes et mes manifestations seront autres. Je me retire de tout et ne publierai plus rien sur le sujet de l’Allemagne. La première, et même la seule raison que j’ai donnée, est le traitement inique que l’on fait subir à Gérard depuis deux mois. Il est dans le pire de camp de concentration en Allemagne, et cela sans raison, je le sais...’.“ Zit. in Arland, Marcel: Ce fut ainsi, S. 210f., Hervorhebung BB. Nur wenige Jahre später verharmlost Chardonne jedoch in einem Brief an Paulhan (17. 1. 1949) die Internierung seines Sohnes und hebt dessen damalige korrekte Behandlung löblich hervor: „Gérard est resté 6 mois à Oranienburg; un gendre Delamain, quatre ans. J’ai vu des camarades de Gérard, notamment le capitaine Martin. Ce n’était pas rose. Mais ils sont revenus, je dois dire avec fort bonne mine.“; „Soins médicaux vraiment maternels. Propreté extrême. En tout, en fait de tortures, durant six mois, il a reçu une gifle après une grosse impertinence de sa part.“ Jacques Chardonne/ Jean Paulhan: Correspondance, S. 166ff. (Nr. 171), hier S. 167f., Hervorhebung BB. 74 Ausf. Darstellung der in die Freilassung Involvierten, darunter der Präsident (Hans Carossa) und der Generalsekretär (Carl Rothe) der ESV, sowie Relativierung von Hellers diesbzgl. zu positiver Selbstdarstellung bei Hausmann, Frank-Rutger: „Dichte, Dichter, tage nicht! “, S. 183f. Vgl. Heller, Gerhard: Un Allemand à Paris, S. 87f., 208f. In seinem Dankesbrief an Epting von Juli 1943 betont Chardonne, wie wichtig es für ihn ist, dass sein Sohn „sans ressentiment“ zurückgekehrt sei. Seine Verhaftung bezeichnet er als „une erreur, fort excusable dans le tohu-bohu. Je tiens à vous le dire pour qu’il ne reste aucune ombre de ce côté.“ Epting seinerseits führte eine Interventions-Liste zugunsten Verhafteter, auf der Chardonnes Sohn zunächst unter „a) Befreite Persönlichkeiten“, infolge der zweiten Inhaftierung unter „b) Interventionen ohne unmittelbare Befreiung“ figuriert. Beide Dokumente, Chardonnes handschriftlicher Brief sowie Eptings maschinengeschriebene Liste, finden sich faksimiliert in Paxton, Robert O.; Corpet, Olivier; Paulhan, Claire: Archives de la vie littéraire sous l’Occupation: à travers le désastre, S. 157, Hervorhebung BB, S. 160 Unterstreichung im Original. 75 So die Angaben auf dem Titelblatt sowie der letzten Seite der eingesehenen zeitgenössischen Edition der Universitäts- und Landesbibliothek Münster. Chardonne, Jacques: Le Ciel de Nieflheim. [S.l.]: J. Chardonne, impr. 1943, o.S. Hierbei handelt es sich um die einzige Original-Ausgabe im Bestand einer deutschen Bibliothek. Die Pariser Bibliothèque Nationale verfügt ebenfalls über ein nur eingeschränkt zugängiges <?page no="302"?> 302 Dem Direktor des Deutschen Instituts widmet er ein Exemplar mit den Worten: „A monsieur Karl Epting ce libre et sincère Témoignage d’un Français. [Le Ciel de Nieflheim] en bien sympathique hommage Jacques Chardonne“. 76 Nicht auszuschließen ist, dass die Druckfahnen „par tout un chacun“ gelesen wurden „grâce à des photocopies qui valsèrent dans tous les coins…“ 77 Zudem wird noch vor Jahresende ein vierzehnseitiges Kondensat des Ciel de Nieflheim unter dem Titel Les divinités sociales in Deutschland-Frankreich erscheinen. 78 Ebenfalls im Juni 1943 publiziert Chardonne bei den Editions Stock eine stark bereinigte Kompilation 79 von Chronique privée, Chronique privée de l’an 1940 sowie Voir la figure unter dem Titel Atta- Exemplar (Réserve des livres rares). Die zeitgenössische Ausgabe umfasst 206 Seiten (bzw. 199 Seiten Text), die Edition aus dem Jahr 1991 hingegen nur 157 Seiten (abzüglich des Vorworts des anonymen Herausgebers insg. 144 Seiten Text). Dies hängt mit einem unterschiedlichen Satzspiegel zusammen, ansonsten unterscheiden sich die Ausgaben nicht voneinander, abgesehen von vereinzelten Abweichungen insb. hinsichtlich der Groß- und Kleinschreibung oder der Textgliederung durch Absätze. 76 Vgl. das entsprechende Faksimile in Paxton, Robert O.; Corpet, Olivier; Paulhan, Claire: Archives de la vie littéraire sous l’Occupation: à travers le désastre, S. 157. Während Paxton im Begleittext zum ogn. Faksimile von 25 Abzügen spricht, zitiert Guitard-Auviste aus einem Brief Chardonnes vom 26. 6. 1943, demzufolge er 100 Exemplare für ausgesuchte Adressaten - „‚qui peuvent le lire sans souffrances inutiles’“ - habe vervielfältigen lassen. Guitard-Auviste, Ginette: Jacques Chardonne ou l’incandescence sous le givre, S. 226. Dieser Angabe schließt sich der anonyme Editor des Ciel de Nieflheim an. Vgl. N.N.: Avant-Propos. In: Chardonne, Jacques: Le Ciel de Nieflheim, S. 5. 77 So der imaginierte Vorwurf Bernard Fauconniers, den er seinem Vater und Freund Chardonnes Henri Fauconnier in Barbezieux: Sur les pas de ses écrivains: Geneviève et Henri Fauconnier, Jacques Chardonne… in den Mund legt. In Form einer „habile et surprenante mise en scène“ erweckt der Verfasser u.a. seinen Vater, seine Tante und Chardonne zum Leben und gestaltet ein fiktives Gespräch der drei Freunde, die sich im Barbezieux ihrer Kindheit wiedertreffen, „‚pour faire le point sur leur destinée, cent ans après. […] Bénéficiant des moindres détails de leur existence, je m’amuserais à les faire découvrir sur leur joies et leurs déboires sans aucun scrupule.’“ Fauconnier, Bernard: Barbezieux: Sur les pas de ses écrivains: Geneviève et Henri Fauconnier, Jacques Chardonne… Paris: Le Croît vif, 2009 (Collection Témoignages), S. 105, das kursivierte Zitat findet sich auf dem Buchrücken. 78 Chardonne, Jacques: „Les divinités sociales“. In: Deutschland-Frankreich 1. Jg., Nr. 4 (1943), S. 32-45. Trotz mangelnder Belege liegt die Vermutung nahe, dass Chardonne sein gegenüber Heller diesbezüglich geäußertes Publikationsverbot (vgl. den obig zitierten Brief vom 24. 5. 1943) zurückgenommen hat und die Veröffentlichung dieser Passagen, die gegenüber dem Ciel de Nieflheim nur minimale sprachliche Modifikationen aufweisen, keineswegs gegen seinen Willen geschah. 79 „Cette volonté d’effacer un texte ancien, jugé défectueux, pour écrire à la place un meilleur texte, rapproche Attachements d’un palimpseste.“ Ausf. zum Diptychon Attachements-Détachements s. Dantal, Didier: „Attachements et Détachements“. In: CJC 17 (1994), S. 25-28, hier S. 26. Laut Hoctan bilden die zwar antagonistischen, aber zusammengehörigen Texte Attachements (1943) und Détachements (1945/ 1969) eine fragmentarische Biografie. Hoctan, Caroline: Présentation, S. 23. <?page no="303"?> 303 chements: Edition collective, revue et définitive. Chardonne betätigt sich überdies als Übersetzer des Soziologen und Kulturphilosophen Ernst Wilhelm Eschmann (1904-1987), dessen Gespräch im Garten (1938) und Erdachte Briefe (1941) im Jahr 1943 veröffentlicht werden. 80 Als Verleger ist er aktiv in die Publikationsvorhaben des Deutschen Instituts involviert, darunter prominent die von den Editions Stock edierte zweisprachige Anthologie de la poésie allemande des origines à nos jours (1943). Chardonne und Delamain zufolge sollte diese Gedichtsammlung inmitten des Krieges ein „témoignage de la communion qui subsiste sans interruption entre les élites spirituelles“ darstellen. 81 80 Eschmann, Ernst Wilhelm: Entretien dans un jardin suivi de Lettres imaginaires. Traduit de l’Allemand par Jacques Chardonne et André Boucher. Préf. de Marcel Arland. Paris: Stock, 1943. Eine Auswahl von Eschmanns Erdachte[n] Briefe[n] publiziert die NRF im Juni 1943. Eschmann, E[rnst]. W[ilhelm].: „Lettres imaginaires“. In: NRF 352 (Juni 1943), S. 668-678. Zu Eschmann s. auch Kp. 5.6, Fn. 192. 81 S. [Chardonne, Jacques; Delamain, Maurice]: Avertissement. In: Anthologie de la poésie allemande des origines à nos jours. Textes, traductions, notices par René Lasne et Georg Rabuse. Edition bilingue. Préface de Karl Epting. Tome 1. 4 è édition. Paris: Editions Stock, Delamain et Boutelleau, 1943, S. VIII. Zu Rabuse und dem Schriftsteller René Lasne s. Hausmann, Frank-Rutger: „Vom Strudel der Ereignisse verschlungen“: Deutsche Romanistik im „Dritten Reich“. Frankfurt a. Main: Klostermann, 2000 (Analecta Romanica; 61), S. 577f. Zu Rabuse s. auch Kp. 4.7.3. Rousseaux verurteilt diese willentliche Unterstützung der NS-Propaganda und prophezeit den Verlagsleitern strafrechtliche Konsequenzen: Die Lyrik-Anthologie, in der linke und jüdische Dichter fehlten, „sera, au jour de la justice, la pièce à conviction qui décidera de la condamnation de la librairie Stock. MM. Delamain et Boutelleau doivent songer qu’à l’autre guerre on a arrêté et condamné, pour intelligence avec l’ennemi, de mauvais Français qui n’en avaient pas fait plus qu’eux.’“ Zit. in Aron, Raymond: Au service de l’ennemi, II. In: Ders.: Chroniques de guerre, S. 534-545, hier S. 534 bzw. S. 683, Fn. 43. Vgl. die ausf. Darstellung von Hausmann, Frank-Rutger: Französisch-deutsche und deutsch-französische Gedichtanthologien (1943-1945) und ihre Rezeption in Frankreich und in Deutschland. Mit einem Anhang ungedruckter Briefe. In: Böhm, Roswitha; Bung, Stephanie; Grewe, Andrea (Hgg.): Observatoire de l’extrême contemporain: Studien zur französischsprachigen Gegenwartsliteratur. Tübingen: Gunter Narr, 2009 (edition lendemains; 12), S. 191-212. Mehr als ein Jahrzehnt nach Ende des Zweiten Weltkriegs wird Chardonne das Verfemen von Dichtern wie Heinrich Heine durch die Nationalsozialisten auf die mangelnde Anerkennung Heines als Dichter zurückführen; vom Verbot des jüdischen Autors Heine, den Epting unter die Dichter „délibérément écartés“ subsumiert (Epting, Karl: Préface. In: Anthologie de la poésie allemande des origines à nos jours, Tome 1, S. IX-XV, hier S. XIV, Kursivierung im Text), ist keine Rede. Beck, Béatrix: „Un déjeuner empoisonné“. In: Les temps modernes 13 (Juli 1957 - Juni 1958), S. 1517-1520, hier S. 1518. Zur Entkulpabilisierung Chardonnes als Verleger der Anthologie verweist Brenner seinerseits auf mehrere französische Résistance-Autoren, die der Verwendung ihrer Übersetzungen deutscher Gedichte zustimmten, obwohl ihnen die Eliminierung des Dichters der Lorelei nicht habe entgehen können. Brenner, Jacques: Le flâneur indiscret, S. 25. Den „incomparable trésor“ der Anthologie lobt Brasillach, Robert: „Traduction des poètes“. In: Révolution nationale, 26. 2. 1944, S. 3. <?page no="304"?> 304 5.1.7 Libération - Epuration: Détachements (1945/ 1969) Nach der abermaligen Festnahme seines Sohnes im Juni 1944 wendet sich Chardonne erneut hilfesuchend an Abetz, Epting und Heller, letzterem seine unverbrüchliche Treue gegenüber Deutschland versichernd: „Meine Einstellung und Gefühle, die ich vertreten habe, werden sich niemals ändern, und ich werde alle Konsequenzen auf mich nehmen.“ 82 Im September 1944 wird Chardonne, der auf der „liste noire“ der vom CNE verbotenen Autoren steht 83 , verhaftet, mehrere Wochen im Gefängnis von Cognac inhaftiert und nach seiner Freilassung unter Hausarrest gestellt. 84 Diese Erfahrungen finden Eingang in Détachements 85 (Juni 1945), einem Essay, der, wie von Chardonne verfügt, erst postum erscheint und den er selbst als „une mise au point, rétrospective, un éclaircissement qui m’était nécessaire pour moi-même avant d’aller plus loin ou ailleurs, une espèce de préface au silence; un adieu! “ 86 bezeichnet. Im Zentrum dieser „réflexion musclée sur son époque“ 87 steht die Verurteilung der Epuration 88 82 Zit. und übersetzt von Hausmann, Frank-Rutger: „Dichte, Dichter, tage nicht! “, S. 186, Fn. 132, Hervorhebung BB. 83 Dufay, François: Le soufre et le moisi, S. 20. Vgl. die Liste des écrivains indésirables dressée par le Comité National des écrivains sowie die Charte du Comité National des Ecrivains in Assouline, Pierre: L’épuration des intellectuels, S. 161ff. 84 Guitard-Auviste, Ginette: Jacques Chardonne ou l’incandescence sous le givre, S. 229. 85 Auszüge aus Détachements übernimmt Chardonne jedoch in Chimériques (1948) sowie in Propos comme ça (1966). 1962 lässt er zudem fünfzig Exemplare von Détachements als „édition très confidentielle et limitée“ für seinen Freundeskreis drucken; die offizielle Version erscheint anlässlich des ersten Jahrestages seines Todes 1969 bei Albin Michel. Pierre-Henri Simon, Rezensent der Détachements, bedauert diese postume Publikation („[J]’aurais voulu qu’on ne remuât plus ces cendres heureusement refroidies.“) und kritisiert Chardonnes politische Fehlurteile: „Or Chardonne s’est trompé en se croyant une tête politique. Lui, si prudent, si intelligemment modeste quand il parle de l’amour, de la morale, du bonheur [...], il montre, dès qu’il raisonne sur les affaires publiques, ce qu’on attend le moins de lui: la présomption dédaigneuse, la généralisation hâtive, le scepticisme facile“. Simon, Pierre-Henri: „‚Détachements’, de Jacques Chardonne“. In: Le Monde des livres, 17. 5. 1969, S. 1. Ganz anders reagiert Ernst Jünger, der am 2. 10. 1979 über dieses „ambivalent[e] oder sogar mehrdeutig[e]“ Wort - „Fleckenreinigung, Losbindung, Absonderung“ - sinniert und Chardonne bedauert als „einer von denen, die für, von und wegen uns Deutschen gelitten haben“. Jünger, Ernst: Sämtliche Werke. Bd. 5: Tagebücher V, Strahlungen IV. Stuttgart: Klett-Cotta, 1982, S. 524ff., hier S. 525. Vgl. auch Dantals Lob dieses „chef-d’œuvre d’ironie unique dans son œuvre.“ Dantal, Didier: „Attachements et Détachements“, S. 27. 86 Brief Chardonnes vom 28. 5. 1945 an Marcel Arland in Chardonne, Jacques: Ce que je voulais vous dire aujourd’hui. Paris: Grasset, 1969, S. 28f. Gegenüber Nimier qualifiziert er Détachements als „un livre sur le drame de la bonne conscience.“ (31. 10. 1961). Jacques Chardonne/ Roger Nimier: Correspondance, S. 295ff. (Nr. 267), hier S. 296. 87 Martin-Chauffier, Gilles: „Détachements“. In: CJC 8 (1984), S. 69-71, hier S. 70. 88 „Nous devions payer, paraît-il, pour les persécutions allemandes; compensation étrange dont je ne vois pas les rapports, ni l’efficacité.“ (DM, S. 24); „Aujourd’hui, des <?page no="305"?> 305 („C’était un holocauste.“, DM, S. 13) sowie die Rechtfertigung seiner (rettenden) Kollaboration verbunden mit der zynischen Kritik an der (verhängnisvollen) Résistance 89 . Die Affinität zu Hitler-Deutschland wird durch die rückwirkende Abspaltung des ungeahnt verbrecherischen Deutschen - und diesbezüglich nicht „einzigartigen“ Nationalsozialismus, wie er mildernd hinzufügt - vom guten Deutschen relativiert 90 : C’était une faute, je le confesse. Je négligeais dans mes études les excès horribles de ce peuple, dont lui-même n’a pas conscience ou qu’il croit pouvoir justifier, comme le font d’autres peuples qui ont aussi leurs appétits et leur barbarie clandestine ou trop visible; et lorsque je croyais atteindre la vérité par des observations nombreuses et directes, elle m’échappait sur une autre face des choses. On ne fera jamais coïncider les vertus d’une grande partie du peuple allemand, le sentiment certain de ce peuple pour la France à cette époque, la tenue de ses troupes régulières, avec sa police et quelques principes sauvages [...]. La vérité n’a aucun sens sur ce plan des choses humaines, et ma faute était de la chercher là où elle n’est jamais. Peut-être l’avais-je pressenti en m’abstenant de publier ce que j’écrivais. 91 (DM, S. 61f., Hervorhebung BB) Français respirent dans leur pays délivré de l’Allemand un air infesté d’injustice et de crimes, plus étouffant que la poigne étrangère.“ (DM, S. 193). Zu den Todesopfern im Rahmen der Epuration s. z.B. Buton, Philippe: L’Etat restauré. In: Azéma, Jean-Pierre; Bédarida, François (Hgg.): La France des années noires, Tome 2, S. 453-482, S. 475ff. 89 „Pour ma part [...], j’ai essayé d’adoucir cette oppression, non sans risque parfois, et justement à l’endroit de certains qui nous bannissent aujourd’hui.“ (DM, S. 54); „Je lui [le juge] représentai que ses amis [des maquisards] […] avaient provoqué la mort de plus de cent mille Français, victimes des représailles d’un occupant coléreux qui supportait mal les taquineries, tandis que les gens auxquels on reprochait trop de rapports avec les Allemands s’en étaient généralement servi pour protéger leurs compatriotes. Pour ma part, je pouvais lui offrir une belle liste d’ingrats dont j’avais sauvé la vie, parfois à deux reprises, principalement dans la catégorie précieuse des écrivains de la Résistance“ (DM, S. 73). 90 „C’est un problème que les qualités habituelles à ce peuple, sa bonté et sa gentillesse naïve, et les raffinements de l’odieux dans ses camps de représailles et autres administrations officielles. La raison d’Etat rend l’Allemagne barbare.“ (DM, S. 117); „J’envie ceux qui peuvent se faire des Allemands une idée simple, et qui confondent tout ce peuple avec sa maladie et des images de l’infamie où il a touché le plus bas de l’avilissement humain. Ils ont la chance d’ignorer que ce peuple est doué aussi des qualités les plus rares, et que l’on trouve chez lui, en grand nombre, de bons cœurs, un dévouement incroyable, et la piété, et la noblesse.“ (DM, S. 135). 91 Damit spielt er auf die zum „weisen“ Entschluss stilisierte Entscheidung an, den Ciel de Nieflheim nicht veröffentlicht zu haben, was jedoch nicht das Resultat seiner Vor- und Umsicht war, sondern das der Internierung seines Sohnes im KZ Sachsenhausen. Verblüffend ist das Ungleichgewicht zwischen väterlicher Liebe und dem nahezu übermenschlichen Gerechtigkeitsempfinden dem deutschen Nachbarn gegenüber: „La cruauté des Allemands à l’égard de mon fils dans le camp satanique d’Oranienbourg et ailleurs ne m’a pas empêché de leur rendre justice sur d’autres points et je ne les confonds pas tous avec les bourreaux. La cruauté des Français, bien qu’elle me fût épargnée jusqu’ici, m’est plus sensible.“ (DM, S. 65). <?page no="306"?> 306 Im September 1945 wird ein Ermittlungsverfahren gegen Chardonne eingeleitet, dessen Einstellung im Juni 1946 er insbesondere dem Schicksal seines deportierten Sohnes sowie der Fürsprache prominenter Schriftsteller wie François Mauriac und Jean Paulhan 92 und nicht zuletzt der selektiven Lektüre seines Œuvre 93 durch die Justiz zu verdanken hat. Auch in der Nachkriegszeit widmet sich der zurückgezogen in La Frette-sur-Seine im Val d’Oise lebende Chardonne dem Schreiben. 94 An seiner brisanten Affinität zu NS-Deutschland hält der begeisterte Rezipient von Bardèches revisionistischer Schrift Nuremberg ou la Terre promise (1948) fest: Il touche aux points qui me sont le plus sensibles aujourd’hui, qui me donnent envie de mourir, de fuir ce globe, peuplé de dieux, où l’homme n’est rien; je veux dire ces mythes qui nous gouvernent et abusent de notre pauvre esprit; entre autres ce mythe de la ‚monstrueuse Allemagne’, de ses ‚atrocités’ qui existent, comme les nôtres, mais telles qu’on nous les présente, pas telles que nous finissons par les voir, même moi, qui ai des moyens, des renseignements de première main pour rectifier l’hallucination. 95 François Mauriac gegenüber erklärt Chardonne am 7. September 1953, dass er die politischen Publikationen nicht in seine gesammelten Werke aufzu- 92 Vgl. die Déclaration de Jean Paulhan vom 5. 12. 1945 zugunsten des „naiven“ Chardonne („‚ses erreurs mêmes sont nobles’“, Annexe II, o.S.) sowie Paulhans Protestbriefe an den CNE vom 15. 5. 1947 (S. 131ff., Nr. 132), 15. 6. 1947 (S. 134ff., Nr. 135), 6. 7. 1947 (S. 137ff., Nr. 137). Dies, obgleich Chardonne Paulhan am 24. 7. 1943 überheblich zurechtgewiesen und sich jegliche Kritik Paulhans an seiner Einstellung gegenüber NS-Deutschland verbeten hatte („De vous, je n’accepterai de leçons que sur la ponctuation.“, S. 124f., Nr. 126, hier S. 125), woraufhin der Briefwechsel bis Herbst 1946 ruhte. Alle Angaben beziehen sich auf Jacques Chardonne/ Jean Paulhan: Correspondance. Zudem hatte Paulhan bereits im Januar 1943 gegenüber Paul Éluard erklärt, „qu’il ne serait pas exact d’appeler mon ami - Jacques Chardonne.“ Paulhan, Jean: Choix de lettres II: 1937-1945, S. 300 (Nr. 258). Auszüge aus Chardonnes Rechtfertigungsschreiben an das Versailler Gericht finden sich in Dufay, François: Die Herbstreise, S. 145f. 93 Vgl. auch: „J’avais subi l’examen de plusieurs juges, et mes écrits paraissent bénins; du moins ceux que j’avais publiés.“ (DM, S. 80, Hervorhebung BB). 94 Chimériques (1948), Vivre à Madère (1953), Lettres à Roger Nimier (1954), Matinales (1956), Le ciel dans la fenêtre (1959), Femmes (1961), Catherine (1964), Demi-Jour (1964), Propos comme ça (1966); postum: Ce que je voulais vous dire aujourd’hui (1969), Détachements (1969) sowie die bereits zitierten Briefwechsel mit Jean Paulhan und Roger Nimier. 95 So Chardonne in seinem Brief an Paulhan vom 12. 12. 1948, den er nachdrücklich für diese Lektüre zu erwärmen versucht (S. 158ff. (Nr. 162), hier S. 159, Hervorhebung BB). Auf Paulhans Nachfrage hin (Februar 1949, S. 170f. (Nr. 174), hier S. 171) übersendet Chardonne ihm sein eigenes Exemplar, das er mit beipflichtenden Anmerkungen versehen hat. Paulhan ist entsetzt (März 1949) und überführt Bardèche der Lüge: „À première lecture, choqué (au sens fort) par le Bardèche. Quelle fureur! À gâter les meilleures causes.”; „[L]es faits sont faux, les mots sont faux...” S. 175f. (Nr. 179). Alle Angaben beziehen sich auf Jacques Chardonne/ Jean Paulhan: Correspondance. Ausf. zu Bardèche s. insb. Kp. 4.2. <?page no="307"?> 307 nehmen gedenke, er aber trotz aller Einsicht in seine Fehler leidenschaftlich am Wunsch der deutsch-französischen Versöhnung festhalte, ebenso wie seine Abscheu Asiens 96 ungebrochen sei: J’exclus de mes ‚œuvres complètes’ les ‚écrits politiques’ 97 comme vous dites. Je me souviens mal de ces écrits (je n’en ai pas un exemplaire) et je ne désire pas les relire. Je connais mes erreurs et mes fautes. Mais je tiens ferme sur certains points. Il y a des idées qui font partie de notre chair, des idées-passions, très entraînantes, et dont vous connaissez bien la nature. Je reste fidèle à celle qui m’a hanté toute ma vie (j’étais le même, tout bouillant, en 1914 et en 1939); comment la renier aujourd’hui, devant cette Asie béante à nos portes, pullulante, formidablement armée, et pleine de ruse. Ce n’est plus le Rhin de Barrès. 98 Chardonne stirbt am 29. Mai 1968 im Alter von 84 Jahren. 96 Von Béatrice Beck stammt der Bericht von Chardonnes Ausfälligkeiten während eines gemeinsamen Essens im Sommer 1957, zu dem sie Jacques Brenner von den Cahiers des Saisons eingeladen hatte und auf dessen Bitte hin sie anschließend ein Porträt des Schriftstellers verfasst hatte. Im Verlauf dieses „déjeuner empoisonné“ habe Chardonne u.a. die Résistance für absurd erklärt, antisemitische Bemerkungen fallen lassen und sich zynisch über die asiatische „Besatzung“ seines Wohnortes geäußert: „‚Occupation, occupation.... Nous avons toujours été occupés et nous le serons toujours. Ainsi, moi, dans ma banlieue, je suis occupé par les Chinois. Tout le monde, absolument tout le monde est chinois, et surtout mon blanchisseur. C’est très drôle.’“ Zit. in Beck, Béatrix: „Un déjeuner empoisonné“, S. 1518. Sureaus resümierende Charakterisierung Chardonnes klingt wie eine ironische Replik auf den „okkupierten“ Schriftsteller: „Chardonne restera occupé toute sa vie, l’esprit envahi par les brumes de cette époque, jugeant de presque tout à l’aune de 1940“. Sureau, François: Préface, S. 17, Kursivierung im Text. 97 Dies bedauert der dem rechten Spektrum zuzuordnende Jean Mabire (1927-2006), Journalist und Autor (u.a. Drieu parmi nous, 1976, sowie Verfasser einer Vielzahl nostalgisch-verklärender Darstellungen der SS wie bspw. La Division Charlemagne, 1974; Les jeunes fauves du Führer: la division SS Hitlerjugend dans la bataille de Normandie, 1976), der den Ciel de Nieflheim als Chardonnes bestes Werk aus den Jahren der Besatzung qualifiziert („le mieux construit et le mieux écrit“) und den Ausschluss des Essays aus dem Gesamtwerk als das Ergebnis „[d’]un souci de regrettable conformisme et de bien inutile prudence“ bezeichnet. Mabire, Jean: Rêve d’Europe: Douze écrivains français face à l’Allemagne nationale-socialiste. Vol. 1. [Lyon: ] Irminsul Editions, 2000, S. 116f. Neben Chardonne (S. 95-125) widmet sich Mabire in diesem ersten Band Edouard Dujardin (S. 9-34), Châteaubriant (S. 35-64) und Abel Bonnard (S. 65- 93) mit dem erklärten Ziel, in einer auf drei Bände ausgelegten „preisgünstigen“ Edition zwölf repräsentative Vertreter eines „‚extrême-européisme‘“ (unter ihnen Brasillach, Céline, Drieu la Rochelle und Rebatet) der Vergessenheit zu entreißen und einem „public jeune, donc peu fortuné“ zugängig zu machen. Ebd.: S. 5f. Erschienen ist allerdings nur der erste Band. Weiterführend zu dieser Thematik vgl. die anschließenden Ausführungen in Kp. 5.2. 98 [Chardonne, Jacques]: „Lettre de Jacques Chardonne à François Mauriac“. Bloc-notes par François Mauriac. In: La table ronde 70 (oct. 1953), S. 113-114, hier S. 113, Hervorhebung BB. <?page no="308"?> 308 5.2 Versuchte Rehabilitierung Die erste Chardonne-Biografie stammt von Ginette Guitard-Auviste, die in La vie de Jacques Chardonne et son art (1953) ein besänftigendes Bild von dessen Leben „assez peu mouvementée“ 99 zeichnet. Die Bedeutung Chardonnes als einer der beiden Direktoren des Verlagshauses Stock, Delamain et Boutelleau in den Besatzungsjahren wird verharmlost, wenn sie im Rahmen einer Generalabsolution die französischen Verleger von jeder pronationalsozialistischen Einstellung freispricht und dabei übersieht, dass gerade die Editions Stock zu den von der NS-Propaganda mit dem Miroir des livres beworbenen und sich selbst profilierenden Verlagshäusern zählten. 100 Den Ciel de Nieflheim erwähnt sie nicht. Dafür betont die Verfasserin, dass Chardonne weder Faschist noch Rassist gewesen sei, und hebt seine Wertschätzung für die Deutschen Jünger’scher Prägung hervor. 101 Chardonnes Teilnahme an den Weimarer Dichtertreffen legitimiert sie, indem sie auf eine (namenlos bleibende) Mehrzahl von NS-Opponenten unter den ausländischen („presque tous“) und deutschen („beaucoup“) Schriftstellern verweist. 102 Die tatsächliche Intention der von der NS- Propaganda initiierten ESV, die in erster Linie der Gleichschaltung der europäischen Literatur diente, schätzt sie wenige Jahre nach deren Auflösung fundamental fehl ein: „Le but de cette association a échappé à ceux qui en France ne songeaient qu’à discréditer leurs confrères. Chardonne s’est tenu sur ce sujet au principe qui lui est cher: Never explain, never complain.“ 103 Chardonnes Verhaftung im Herbst 1944 verurteilt sie als unbegründet. 104 99 So der Rezensent von Guitard-Auvistes Monografie, über die er zudem sagt: „Il n’y manque rien.“ Tournier, Jacques: „Ginette Guitard-Auviste: La vie de Jacques Chardonne et son art.“ (Rezension). In: La table ronde 69 (sept. 1953), S. 128. 100 Guitard-Auvistes Behauptung, die Editions Stock, Delamain et Boutelleau hätten nach der französischen Niederlage keinen Kontakt mehr mit der deutschen „Verwaltung“ gehabt, ist unzutreffend. Wenn die Autorin postuliert, die von Stock während der Besatzung verlegten Werke seien „des ouvrages strictement littéraires“ gewesen, so übersieht sie ganz offensichtlich Chardonnes dort edierte und im Miroir des livres angepriesene Chronique privée de l’an 1940 (1941) ebenso wie die nicht unpolitische zweisprachige Lyrik-Anthologie (1943). Guitard-Auviste, Ginette: La vie de Jacques Chardonne, S. 198. Unbesehene Übernahme von Guitard-Auvistes These in Bartillat, Christian de: Stock 1708-1981, S. 128. 101 Guitard-Auviste, Ginette: La vie de Jacques Chardonne, S. 199. 102 Ebd.: S. 201. 103 Ebd., Kursivierung im Text. Gänzlich anders fällt ihr Urteil über das Weimarer Schriftstellertreffen von Oktober 1942 in ihrer zweiten Chardonne-Biografie (1984) aus. Doch auch diesmal, obzwar unter umgekehrten Vorzeichen argumentierend, lässt sie das Ansehen Chardonnes unangetastet: „Les services du Dr Goebbels ont bien fait les choses, à nouveau, pour anesthésier tout sens critique.“ Guitard-Auviste, Ginette: Jacques Chardonne ou l’incandescence sous le givre, S. 217. Zur ESV vgl. <?page no="309"?> 309 Das drei Jahrzehnte später von Guitard-Auviste für sich in Anspruch genommene Postulat, demzufolge „[l]e biographe n’est ni un procureur, ni un avocat“ 105 , trifft auf Jacques Chardonne ou l’incandescence sous le givre (1984) kaum zu, gilt doch das Augenmerk ihres nunmehrigen Interesses dem verständnisvollen Erklären von Chardonnes kollaborationistischem Engagement, das sie prägnant auf die beschwichtigende Formel bringt: „Contre l’Allemand si puissant, c’est folie; pour, c’est infamie. Avec, c’est la politique du moindre mal.“ 106 Nicht Chardonnes politischer Überzeugung sei seine pro-nazistische „Konversion“ geschuldet, sondern der maliziösraffinierten NS-Propaganda in Gestalt diverser „Verführungsengel“ wie Karl Epting, Karl Heinz Bremer und allen voran der deutsche literarische Zensor in Paris, Gerhard Heller: [I]l est pris dans un engrenage de séduction. Très habilement l’occupant a mis, aux endroits cruciaux, des hommes qui connaissent parfaitement la France, sa langue, sa littérature, ses artistes quels qu’ils soient, et spécialement le ‚lieutenant’ Gerhard Heller, l’ange tentateur. 107 Die politische Brisanz des Ciel de Nieflheim gesteht Guitard-Auviste zwar ein, rühmt aber davon abstrahierend Chardonnes unvergleichlichen Stil und sublime Poesie: A côté de divagations de cette nature, emmêlées à elles magiquement à la façon chardonnienne, on rencontre, dans cet ouvrage, quelques-unes des pages Hausmann, Frank-Rutger: „Dichte, Dichter, tage nicht! “, S. 355; weiterführend s. Kp. 5.3. 104 „En face du nom de Chardonne n’est spécifié aucun motif; simplement un point d’interrogation. Un mandat d’arrêt de fantaisie, émanant d’un gentilhomme du voisinage, ami de famille, suffit à le faire emprisonner.“ Guitard-Auviste, Ginette: La vie de Jacques Chardonne, S. 201. 105 Dies.: Jacques Chardonne ou l’incandescence sous le givre, S. 11, Hervorhebung BB. Ihre Biografie wurde 1984 von der Académie française mit dem mit 15.000 Francs dotierten Prix de la Critique ausgezeichnet. Vgl. http: / / www.academie-francaise.fr/ role/ index.html unter den Rubriken „Prix et concours“, „Recherche sur les prix littéraires“, „Ginette Guitard-Auviste, 1984“ (letzter Zugriff am 3. 8. 2011). 106 Guitard-Auviste, Ginette: Jacques Chardonne ou l’incandescence sous le givre, S. 206, Kursivierung im Text. 107 Ebd.: S. 207, Hervorhebung BB, zu „tous ces ‚bons Allemands’ […] qu’on avait semés sur la route des écrivains“, S. 213. Auch grammatikalisch (Aktiv-Passiv) dokumentiert sich die Parteinahme der Autorin. Heller, dem „homme de grande culture et de cœur chaleureux“ wirft sie vor, die französischen Schriftsteller in die Falle gelockt zu haben. Die Diskrepanz zwischen Hellers „ambiguer“ Darstellung zuungunsten Chardonnes in seiner Autobiografie und den ihr gegenüber gemachten „wahren“ Angaben, führt sie auf Hellers Erkrankung zurück. S. 208ff. Zu Chardonnes und auch Jouhandeaus Stilisierung zum Opfer des machiavellistischen Leutnants Heller s. auch Hebey, Pierre: La NRF des années sombres, S. 82. <?page no="310"?> 310 les plus poétiques de Chardonne, sur le Morvan et la Sarthe, les plus subtiles sur les femmes et sur le roman français, les plus prophétiques parfois. 108 Ihr (enigmatisches) Schlusswort gilt dem „magicien du verbe, emportant ses secrets. ‚J’ai cru aux mots, non aux idées.’ Mais il vient une heure où les mots, eux aussi, trahissent.“ 109 Während Pol Vandromme in inhaltlicher Anlehnung an Chardonnes Liebesabhandlung L’amour c’est beaucoup plus que l’amour in Jacques Chardonne: C’est beaucoup plus que Chardonne (1962) dessen politische Texte in der Betrachtung ausklammert und nur in Klammern erwähnt: „(l’Allemagne et l’Europe ont été les seules naïvetés de son intelligence)“ 110 , ist es eben der „politische“ Autor, der kurz darauf für Bruno Rothmund Anlass einer emotional gefärbten Beschäftigung mit Chardonnes Werk ist. In seiner Dissertation Jacques Chardonne: ein Klassiker in der Moderne (1966) wertet Rothmund das Bemühen um Rechtfertigung - insbesondere merklich im Spätwerk des Charentaiser Romanciers - als Zeichen von Lauterkeit und empfindet es als „bitteres Unrecht“, dass „Chardonnes Sympathie für die deutsche Besatzungsmacht“ mit zum Vergessen auch seines brillanten Frühwerks in Deutschland beigetragen habe. 111 „‚Seul, en Allemagne, silence complète. [...] C’est assez piquant quand on sait quel fut mon rôle en France pendant l’occupation; j’ai conservé à l’égard de l’Allemagne un esprit de justice, qui m’a exposé plus tard à de grands ennuis.’“ 112 Diese als berechtigt empfundene Klage Chardonnes und „[d]ie belastende Schuld, die man beim Lesen dieser Worte unwillkürlich in sich spürt, und die das Gewissen beunruhigt“, motivieren den Verfasser zur Wiedergutmachung, denn schon in Frankreich hätte der Romancier wegen seiner, so Rothmund zunächst simplifizierend, „positive[n] Einstellung gegenüber den Deutschen während der Besatzungszeit“, nunmehr dramatisierend, „sühnen“ müssen. 113 Jacques Brenner lobt die exzellente Qualität der in den Attachements zusammengestellten Chroniken, macht darauf aufmerksam, dass die Versail- 108 Guitard-Auviste, Ginette: Jacques Chardonne ou l’incandescence sous le givre, S. 224. 109 Ebd.: S. 339f. 110 Vandromme, Pol: Jacques Chardonne: C’est beaucoup plus que Chardonne. Avec un texte inédit de Jacques Chardonne. Lyon, Paris: Emmanuel Vitte, 1962, S. 140. Ein Blick in den Katalog der Bibliothèque Nationale offenbart die „Vorliebe“ Vandrommes (1927-2009) für „[l]es romanciers de droite“ (Ders.: „Les romanciers de droite“. In: Le Magazine littéraire 83 (Dez. 1973), S. 14-16) wie bspw. Robert Brasillach, l’homme et l’œuvre (1956), Pierre Drieu La Rochelle (1958), Aymé (1960), Louis-Ferdinand Céline (1963), Rebatet (1968), s. auch Le Loup au cou de chien: Degrelle au service d’Hitler (1978). Zur Kritik an Vandromme vgl. Zimmermann, Margarete: Die Literatur des französischen Faschismus, S. 243f. 111 Rothmund, Bruno: Jacques Chardonne: ein Klassiker in der Moderne. Tübingen, 1966, S. 4, Hervorhebung BB. 112 Rothmund (*1929) zitiert aus einem an ihn adressierten Brief Chardonnes. Ebd.: S. 5. 113 Ebd., Zitate der Reihe nach S. 6, 12, Hervorhebung BB. <?page no="311"?> 311 ler Staatsanwaltschaft dem Autor nach der Befreiung Frankreichs nichts zur Last legen konnte und befindet Détachements als Ausdruck der Distanznahme zu einer „époque détestable“. 114 Den Ciel de Nieflheim beschreibt er als Buch der Erinnerungen an und Träumereien über Deutschland, ein „livre plein d’illusions“, das als taktische Gefälligkeitsbekundung deklariert wird: „Oui, il avait cru qu’il fallait plaire aux vainqueurs pour les rendre inoffensifs.“ 115 Mit zu den prominentesten Fürsprechern zählt der NS-Bildhauer Arno Breker, der in Chardonne ausschließlich ein literarisches Interesse am deutschen Nachbarn ausgemacht haben will und entrüstet die Ankläger, die seinen Freund des Verrats bezichtigen, kritisiert: Chardonne fut toujours ouvert à l’esprit allemand. Ce qui l’intéressait surtout chez ce peuple inquiétant et souvent incompréhensible, c’était la portée et l’ampleur de son génie littéraire qui lui était familier depuis l’Edda et les Nibelungen jusqu’à nos jours. Tous les aspects politiques parallèles lui restaient étrangers. Il leur témoignait la plus grande indifférence. Pendant l’Occupation, il fit confiance aux Allemands, et considéra comme un acte de courage celui de voir, derrière le soldat qui entrait à Paris, le partenaire de demain. On imputa par la suite cette attitude fondamentale, foncièrement humaine, sensible également dans son œuvre, à une trahison politique. 116 In seinem Nachruf auf den „pessimiste absolu“ führt François Mauriac Deutschland als eine der Konstanten des Chardonne’schen Universums auf, nicht ohne dessen Kollaboration zu entschärfen, denn „Jacques Char- 114 Brenner, Jacques: Chardonne: l’œuvre. In: Jacques Chardonne. Paris: Bibliothèque nationale, 1984, S. 16. Brenners unverhohlene Bewunderung für den vierzig Jahre älteren Autor, mit dem ihn „une solide amitié“ verbunden habe, spricht aus Sätzen wie: „Dès qu’il commença de parler, je fus séduit par le personnage.“ Brenner, Jacques: Le flâneur indiscret, S. 15f. Brenner ist es, der Becks bereits erwähnter wenig schmeichelhafter Porträtierung Chardonnes widerspricht: „‚Non, chère amie, Chardonne n’a jamais été un salaud.’“ S. Beck, Béatrix: „Un déjeuner empoisonné“, S. 1519. 115 Brenner, Jacques: Le flâneur indiscret, S. 22f. 116 Breker, Arno: Paris, Hitler et moi, S. 250, Hervorhebung BB. So Breker in seinen Memoiren, in denen er sich ausführlich seinen Freundschaften mit französischen Schriftstellern und Künstlern während der Besatzung und nach dem Zweiten Weltkrieg widmet, darunter Chardonne. Diesen zählt er auch nach dem Krieg, neben Paul Morand, Serge Lifar und Roger Peyrefitte, zum „vieux cercle“ seiner französischen Künstlerfreunde, s. S. 294. Vgl. insb. die Kapitel „La guerre et l’occupation“, S. 81ff. und „Ecrivains et artistes de France, mes amis“, S. 207ff. Ein undatiertes Foto von Chardonne zu Besuch in Jäckelsbruch findet sich in Ders.: Im Strahlungsfeld der Ereignisse, zwischen den Seiten 320/ 321, s. auch S. 267f. Zu Breker s. auch Kp. 5.6. <?page no="312"?> 312 donne ‚collaborateur‘ ne l’a été pour aucune raison basse ou suspecte. Et puis ce n’est pas sa véritable histoire.“ 117 Die Association des Amis de Jacques Chardonne hat sich, wie es der Name impliziert, dem Ziel verschrieben, das positive Andenken des geschätzten Stilisten zu wahren, weshalb die Mehrzahl der Beiträge in den Cahiers 118 der prosaischen Produktion des Autors aus Barbezieux gewidmet ist. Auf der anderen Seite steht „le sempiternel débat, mille fois refait de l’écrivain et du politique“ verbunden mit dem Bemühen, Chardonnes pro-nazistisches Engagement abzumildern, die im Rahmen der Epuration gegen ihn erhobenen Anschuldigungen als unbegründet darzustellen und final die Frage „Chardonne est-il coupable d’avoir été français? “ mit einem entschiedenen Nein zu beantworten. 119 Die Conclusio lautet: Trennung des (naiven) Schriftstellers vom politisch engagierten Intellektuellen, der zudem früher Anarchist 120 gewesen sei: [P]lus de quarante ans après les tristes règlements de comptes de la Libération il serait peut-être temps de comprendre que les jugements littéraires doivent rester indépendants des jugements politiques, que l’attitude adoptée par un écrivain à un moment donné ne discrédite pas forcément les chefs d’œuvre qu’il a pu écrire. [...] Que Chardonne se soit souvent trompé en politique, c’est l’évidence - bien qu’il ait été persuadé du contraire avec une naïveté assez touchante - et l’on peut même se demander s’il vaut vraiment la peine de s’attacher à cette dimension de son œuvre, à coup sur la plus décevante. 121 Dennoch bzw. gerade deswegen werden bereits im zweiten und dritten Cahier (1972/ 1974) Auszüge des Ciel de Nieflheim publiziert, bei denen es sich um eine „vision idéalisée de l‘Allemagne nouvelle, vision d’esthète, vision d’intellectuel qui ne fut heureusement pas oubliée“ 122 handle. Wenig verwunderlich ist die Fokussierung auf unverfängliche, lyrische, aber wie Mathieu Galey betont, zugleich hellsichtige Passagen: On y trouve des pages qui comptent parmi les plus belles qu’il ait écrites. Elles méritaient donc d’être connues, d’autant que le caprice des événements donne 117 Mauriac, François: Bloc-notes 1968-1970. Tome V. Paris: Editions du Seuil, 1993, S. 84, Hervorhebung BB. 118 Die insgesamt 19 Cahiers erscheinen in den Jahren 1971 bis 1998. 119 S. Hesse, Jérôme: „L’anarchiste et l’engagement politique“. In: CJC 8 (1984), S. 59-61, hier S. 60. Zur Kritik an Chardonnes Verhaftung : „En septembre 44, en pleines vendanges, on vient le cueillir comme un vulgaire cépage [...]. Chardonne découvre qu’on ne lui reproche en fait qu’une certaine tiédeur. Aucun texte n’est à mettre à son passif, on soupçonne simplement sa haine de l’allemand de n’être pas aussi viscérale qu’il conviendrait.“ S. Martin-Chauffier, Gilles: „Détachements“, S. 69f. 120 So Roussel, Eric: „Attachements-Détachements“. In: CJC 8 (1984), S. 80-82, hier S. 81. S. auch Hesse, der dies bereits im Titel seines obig zitierten Beitrags (L’anarchiste et l’engagement politique) zum Ausdruck bringt. 121 Roussel, Eric: „Attachements-Détachements“, S. 80, Hervorhebung BB. 122 Hesse, Jérôme: „L’anarchiste et l’engagement politique“, S. 60, Hervorhebung BB. <?page no="313"?> 313 aujourd’hui à certaines d’entre elles un extraordinaire caractère d’actualité, comme si elles venaient tout juste d’être composées... 123 Zu Chardonnes Entlastung verweist Galey auf dessen an Madame de Staëls anknüpfendes idyllisches Deutschland- und naives Deutschen-Bild und reiht ihn in die Schar der Millionen von Franzosen ein, die an den deutschen (End-)Sieg geglaubt und nichts von den NS-Greueln gewusst hätten. 124 5.3 Voyage au bout de la nuit? Deutschlandrundreise (1941) und die Weimarer Dichtertreffen im Herbst 1941 und 1942 125 Chardonne qui n’était pas, Dieu merci, un écrivain engagé comme Drieu, ni un normalien comme Brasillach, ne se crut pas obligé de transformer sa curiosité en destin et ce voyage en Allemagne ne devient pas un voyage au bout de la nuit. Il sut quitter son compartiment avec discrétion […]. 126 Im Ciel de Nieflheim fließen wesentlich die Eindrücke ein, die Chardonne auf der Deutschlandrundreise (5. - 23. Oktober 1941), dem anschließenden europäischen Schriftstellertreffen in Weimar (23. - 26. Oktober 1941) sowie anlässlich der letzten Weimarer Dichtertage im Spätherbst 1942 gewann. Neben Chardonne nahmen Ramon Fernandez und Marcel Jouhandeau in Begleitung (und unter Aufsicht) Leutnant Hellers 127 sowie zwölf weitere 123 Galey, Mathieu: „Sous ‚le ciel de Nieflheim’“. In: CJC 2 (1972), S. 31-48, hier S. 31f., Hervorhebung BB. Vgl. Assoulines Kritik an dieser selektiven Präsentation eines verharmlosten Ciel de Nieflheim durch den „cénacle d’apôtres“, dessen Ziel es sei „de dissiper la méchante tache sur la blanche tunique de l’écrivain“. Assouline, Pierre: „Ces livres que vous n’avez pas le droit de lire“, hier S. 56. Die Association des Amis de Jacques Chardonne replizierte: „Nul besoin de ‚blanchir‘ Chardonne. Notre seule intention était d’offrir à ses amis, dans nos Cahiers, quelques pages qu’ils n’auraient pu trouver dans le commerce. Leur beauté et leur force parfois prémonitoire méritent qu’elles soient sauvées de l’oubli.“ N.N.: „Informations“. In: CJC 13 (1990), S. 68-70, hier S. 70. 124 Galey, Mathieu: „Sous ‚le ciel de Nieflheim’“, S. 31. 125 Vgl. die entsprechenden bibliografischen Angaben im Forschungsstand. Exemplarisch sei auf Dufays Herbstreise: Französische Schriftsteller im Oktober 1941 in Deutschland verwiesen, der den Deutschland-Besuchern Chardonne und Jouhandeau besondere Aufmerksamkeit schenkt. Im Buchdeckel illustriert eine Grafik die Reiseroute. 126 Frank, Bernard: „Chronique privée“. In: CJC 9 (1985), S. 17-18, hier S. 18, Hervorhebung BB. 127 In seinen Memoiren, in denen den [R]encontres européenes de Weimar ein nostalgisches Kapitel gewidmet ist, betont Gerhard Heller, die Teilnahme von Autoren wie Chardonne und Jouhandeau sei seinem Insistieren zu verdanken gewesen. Heller, Gerhard: Un Allemand à Paris 1940-1944, S. 83-95, hier S. 83; vgl. die namentliche Erwähnung der insg. neun offiziellen Reisebegleiter in Hausmann, Frank-Rutger: „Dichte, Dichter, tage nicht! “, S. 114f. <?page no="314"?> 314 ausländische Schriftsteller an dieser Propagandareise - „[d]e Bonn à Francfort, de Francfort à Heidelberg, de Heidelberg à Fribourg, de Fribourg à Landau, de Landau à Munich, de Munich à Vienne, de Vienne à Berlin, et de Berlin à Weimar“ - teil. 128 Das Schriftstellerquartett Abel Bonnard, Robert Brasillach, Drieu la Rochelle und André Fraigneau fuhr direkt nach Weimar und anschließend weiter nach Berlin. 129 An der mit der Einladung zur Pilgerreise durch das Nazi-Reich und zum europäischen Schriftstellertreffen nach Weimar verfolgten propagandistischen Intention lässt Joseph Goebbels keinen Zweifel. Am 23. Oktober 1941 notiert der Reichspropagandaminister in seinem Tagebuch: Ich empfange eine Delegation ausländischer Autoren, zum Teil von bedeutendem Namen und Rang. […] Ich halte ihnen eine kurze Ansprache über die geistige und organisatorische Neuordnung Europas, die von ihnen sehr beifällig aufgenommen wird. Sie haben eine Reise durch das Reich gemacht und kehren voll der tiefsten Eindrücke nach einem noch bevorstehenden Besuch auf der Weimarer Buchwoche in ihre Heimat zurück. Solche Reisen ausländischer Prominenten wirken sich immer sehr segensreich aus. Die beste Propaganda ist doch die eigene Inaugenscheinnahme. 130 Chardonne ist es, der die Abordnung der französischen Schriftsteller anführt und am 24. Oktober 1941 „‚[d]ie vielleicht unvergesslichste Rede der Weimarer Schriftstellertage 1941’“ hält. 131 Zudem ist er maßgeblich an der offiziellen Gründung der ESV im Laufe der Weimarer Zusammenkunft von 1941 beteiligt, auf der Hans Carossa 132 zum Präsidenten und Carl Rothe 133 128 Fernandez, Ramon: „A travers l’Allemagne“. In: La Gerbe, 6. 11. 1941, S. 1 und 8, hier S. 1. Zur Idee der Deutschlandrundreise, deren Programm und genauen Verlauf s. Hausmann, Frank-Rutger: „Dichte, Dichter, tage nicht! “, S. 107-132 sowie das Faksimile eines der 76 Seiten umfassenden, jedem Teilnehmer zur Erinnerung überreichten Reisealbums auf der beiliegenden CD-ROM; zu den Namen der insg. 15 ausländischen und fünf inländischen Schriftstellern s. S. 113f. 129 Vgl. Kp. 4.7.3. 130 Der Empfang fand am selben Tag statt. Goebbels, Joseph: Die Tagebücher. Teil 2, Band 2 (Oktober - Dezember 1941). Bearb. von Elke Fröhlich. München: Saur, 1996, S. 163, Hervorhebung BB. Vgl. die Verurteilung der Weimar-Reisenden als Strohmänner des mephistophelischen Goebbels, die Vaterlandsverrat begangen und zur Ermordung der französi