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America Romana

Romanistisches Kolloquium XXVI

0718
2012
978-3-8233-7751-1
978-3-8233-6751-2
Gunter Narr Verlag 
Wolfgang Dahmen
Günter Holtus
Johannes Kramer
Michael Metzeltin
Wolfgang Schweickard
Otto Winkelmann

Die Beiträge zum XXVI. Romanistischen Kolloquium sind den sprachlichen Aspekten der America Romana gewidmet, also dem Miteinander von romanischen Sprachen in der Neuen welt, den Berührungen romanischer Sprachen mit anderen europäischen Sprachen wie Englisch oder Niederländisch in Amerika sowie den Kontakten zwischen europäischen und indigenen idiomen. Die vielsprachigen Hintergründe kreolischer Sprachen bilden ebenso ein typisches Arbeitsfeld der America Romana wie die Besonderheiten der überseeischen Entwicklungen gegenüber den europäischen Ursprüngen. Die Vielfältigkeit der Abhandlungen in diesem Band macht deutlich, dass das Konzept der America Romana eben nicht eine Kombination zwischen amerikanischer Frankophonie und Lateinamerikastudien ist, sondern die romanische Prägung der Neuen Welt in den Mittelpunkt stellt. Der Band schafft somit eine Grundlage und gibt zugleich zahlreiche Anstöße für weitere Forschungen auf diesem Gebiet.

Wolfgang Dahmen / Günter Holtus / Johannes Kramer / Michael Metzeltin / Wolfgang Schweickard / Otto Winkelmann (Hrsg.) America Romana Romanistisches Kolloquium XXVI America Romana Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 535 America Romana Romanistisches Kolloquium XXVI Wolfgang Dahmen / Günter Holtus / Johannes Kramer / Michael Metzeltin / Wolfgang Schweickard / Otto Winkelmann (Hrsg.) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2012 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck und Bindung: Hubert + Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0564-7959 ISBN 978-3-8233-6751-2 Inhalt Einleitung ………………………………………………………………... VII I. Das Spanische in der Neuen Welt Alf Monjour (Duisburg-Essen), „Recarga aquí el celular de tu país”. Amerikanismen in der spanischen Gesellschaft der Gegenwart ............. 3 Carolin Patzelt (Bochum), Die Bedeutung des Diccionario de Americanismos (ASALE 2010) für die hispanoamerikanische und panhispanische Lexikographie ………………………………................. 33 Julia Kuhn (Jena) & Isela Trujillo (Mexico DF), „El problema indio”: Die diskursive Konstruktion indigener und regionaler Identitäten in nationalen Printmedien Mexikos ……………………………………… 61 Alla Klimenkowa (Mainz), Bozal: Was hat der Maulkorb mit Basken und Afrikanern zu tun? ……………………………………………….. 83 Andre Klump (Trier), Sprache, Sprachgebrauch und Sprachpflege im Fokus digitaler Medien der Dominikanischen Republik ………............. 113 II. Das Französische in der Neuen Welt Karoline Henriette Heyder (Göttingen), „Les Québécois détruisent la beauté de la langue française! “ versus „Le français québécois est unique […]. C‘est une richesse à partager.“: Insécurité linguistique au Québec: Konzeptionelle Grundlagen, empirische Ergebnisse, Forschungsausblick ………………………………….................................. 129 Ursula Reutner (Passau), Das Englische im kanadischen Französisch. Tremblays Les belles-sœurs …………………………………………. 169 Maria Hegner (Saarbrücken), Neue Welt und Kulturkontakt: Lexikalische Aspekte der französischen Übersetzung (1688) von Richard Blomes The Present State of His Majesties Isles and Territories in America (1687) ……………………………………………………….. 193 VI III. Kreolische Sprachen in der Neuen Welt Annegret Bollée (Bamberg), Afrikanismen in den Frankokreolsprachen der Karibik …………………………………………………………….. 213 Eva Martha Eckkrammer (Mannheim), Divide et impera oder eine sprachpolitische Chance? Überlegungen zum Sprachausbau des Papiamentu/ o nach der Auflösung der Niederländischen Antillen …... 237 Johannes Kramer (Trier), 150 Papiamento-Etymologien ………….......... 257 IV. Sprachkontakte in der Neuen Welt Silke Jansen (Mainz), Mediale Ethnolekte in Spanien und Amerika: Die habla de negro und die Erforschung historischer Sprachkontakte …... 279 Christina Ossenkop (Münster), Die spanisch-portugiesische Sprachgrenze dies- und jenseits des Atlantiks. Vergleichende Betrachtung des Sprachkontakts im Grenzgebiet zwischen Uruguay und Brasilien sowie zwischen der spanischen Extremadura und den angrenzenden portugiesischen Regionen (Beira Baixa/ Alto Alentejo) …………………… 305 Werner Forner (Siegen), Sprachkontakt Genuesisch-Spanisch in Buenos Aires …………………………………………………………………… 321 Sandra Herling (Siegen), Französische Migranten in Chile - ein historischer Überblick …………………………………………….................... 353 Wolfgang Schweickard (Saarbrücken), Lehn- und Fachwortschatz in Luigi Castiglionis Viaggio negli Stati Uniti dell’America settentrionale ………………………………………………………… 373 Einleitung Vom 23. bis zum 25. Juni 2011 fand an der Universität Trier das XXVI. Romanistische Kolloquium statt, das diesmal unter dem Thema America Romana stand. Damit wurde der Versuch unternommen, einen relativ rezenten Aufgabenbereich der Romanistik, nämlich die Erforschung der sprachlichen Gegebenheiten, die die Weiterentwicklungen der Sprache des Alten Rom in der Neuen Welt hervorgebracht haben, zu beleuchten. In der traditionellen Romanistik war der Stellenwert der amerikanischen Studien recht gering: In den klassischen Einführungen wurden den amerikanischen Entwicklungen im Höchstfall zehn Seiten gewidmet, und jemand wie Heinrich Lausberg (1912-1992), der doch immerhin die methodische Weitsicht hatte, dem Strukturalismus Eingang in die historische Romanistik zu verschaffen, war gegenüber der America Romana geradezu blind, und er hat sie in seinem Panaroma der romanischen Idiome eigentlich gar nicht berücksichtigt. Seit den siebziger und verstärkt den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts öffnet sich die Romanistik zunehmend den Herausforderungen, die vom Spanischen, vom Portugiesischen, vom Französischen und von deren kreolischen Weiterentwicklungen in Amerika gestellt werden, aber noch bewegt man sich vor allem in einem einzelsprachlichen Schienennetz: Es geht um das Spanische in Mittel- und Südamerika, um das Portugiesische in Brasilien, um das Französische in Kanada, um die Kreolsprachen iberoromanischer und französischer Basis, aber die Spezifika, die darin bestehen, was die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede bei der Anpassung romanischer Sprachen an eine radikal andere, total „unromanische“ Umgebung und Lebenswelt sind, ist bislang kaum thematisiert worden. Auch in den verschiedenen Folgen des Romanistischen Kolloquiums wurde die America Romana bislang recht stiefmütterlich behandelt, wenn man vom 17. Kolloquium absieht, das 2001 in Wien stattfand und sich unter dem Titel Sprache, Geschichte und Identität ausdrücklich den spanischen und hispanoamerikanischen Perspektiven widmete; in den achtzehn Beiträgen des Sammelbandes, die mit einer Ausnahme spanisch abgefasst wurden, stand aber natürlich die Iberoromanistik im Mittelpunkt und die anderen Aspekte der Romanität in der Neuen Welt wurden verständlicherweise weitgehend ausgeblendet. VIII Einleitung Was soll unter America Romana verstanden werden? Aus den Titeln und den Gegenständen der Beiträge schält sich heraus, dass Fragen des Miteinanders von Sprachen im Zentrum des Interesses liegen, seien es nun die gegenseitigen Berührungen von romanischen Sprachen wie Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Italienisch usw., die erst unter den Bedingungen der Neuen Welt möglich wurden, seien es die Kontakte der einstigen romanischen Kolonialsprachen mit dem Englischen oder Niederländischen, seien es die Begegnungen einheimischer Idiome mit europäischen Sprachen, seien es die besonderen vielsprachigen Hintergrundbedingungen kreolischer Sprachen. Die Absetzung amerikanischer Erscheinungsformen von ihren europäischen Ausgangssprachen sowie die Normierung der neuen Gegebenheiten ist sicherlich ein weiterer Schwerpunkt. Ferner sind auch ein sprachlich definiertes Nationalbewusstsein der neu konstituierten amerikanischen Staatlichkeiten ein legitimes Thema für Forschungen im Zusammenhang mit der America Romana. Schließlich stellt sich die Frage: Bietet die America Romana nur eine Ausweitung des traditionellen Konzeptes der Romanistik auf ein neues Gebiet, oder erfährt der Gegenstandsbereich der Romanistik eine wesensmäßige Erweiterung? Diese Frage kann und soll hier nicht beantwortet werden, aber vielleicht liefern die in diesem Sammelband zusammengefassten Beiträge des Trierer Kolloquiums Bausteine für eine zukünftige Antwort. Die erste Gruppe von Beiträgen steht unter dem gemeinsamen Titel „Das Spanische in der neuen Welt“ [1-126]. Alf Monjour beleuchtet in seinem Aufsatz „«Recarga aquí el celular de tu país». Amerikanismen in der spanischen Gesellschaft der Gegenwart“ [3-32] den Rückfluss von Ausdrücken, die für das Spanische Mittel- und Südamerikas typisch sind, in die heutige Gesellschaft Spaniens. Es deutet sich eine durch Wanderungsbewegungen und durch mediale Einflüsse vorangetriebene interne Globalisation der Weltsprache Spanisch an, die zumindest im passiven Wortschatz der Sprecher dazu führt, dass eine Bereicherung durch ursprünglich fremde, aber disponible Einheiten erfolgt, die in den Rahmen der zentripetalen Tendenzen einzuordnen sind. Carolin Patzelt beleuchtet „Die Bedeutung des Diccionario de Americanismos (ASALE 2010) für die hispanoamerikanische und panhispanische Lexikographie“ [33-60]. Die Frage, welche zusätzlichen Informationen das Diccionario de Americanismos im Vergleich zu dem Amerikanismen ja auch in weitem Umfang verzeichnenden Diccionario de la lengua española der spanischen Akademie bietet, beantwortet die Autorin dahingehend, dass Einleitung IX das Diccionario de Americanismos deskriptiv und keineswegs normativ ausgerichtet ist, sich am aktiven Sprachgebrauch mit Registerangaben orientiert und eine wichtige Orientierungshilfe für die nationalen amerikanischen Akademien für die Erstellung eigener staatsbezogener Wörterbücher darstellt. Julia Kuhn und Isela Trujillo thematisieren „«El problema indio»: Die diskursive Konstruktion indigener und regionaler Identitäten in nationalen Printmedien Mexikos“ [61-81]. Im Rahmen der Diskursanalyse wird die Berichterstattung untersucht, die die linksorientierte Zeitung La Jornada sowie die rechtsgerichteten Zeitungen Reforma und El Universal über das Auftreten der Zapatistas im mexikanischen Parlament am 28. März 2001 lieferten. Es geht um die diskursive Repräsentation der indigenen Protagonisten, um die Nomination der Führungspersönlichkeiten, der Mitglieder des Ejército Zapatista de Liberación Nacional, der verschiedenen Ethnien und der Anhänger der zapatistischen Bewegung. Es stellt sich heraus, dass die diskursive Konstruktion einer hyperrealen Figur am subcomandante Marcos am deutlichsten wird, der je nach Position der Zeitung als seriöser politischer Führer oder als gefährlicher guerillero dargestellt wird. La Jornada repräsentiert die Zapatisten und die Indigenen differenziert, während El Universal und Reforma die indigenen Mexikaner als homogene Gruppe darstellen und die Zapatisten als aggressive Untergrundkämpfer erscheinen lassen. Alla Klimenkowa geht einem etymologisch-wortgeschichtlichen Problem nach: „Bozal: Was hat der Maulkorb mit Basken und Afrikanern zu tun? “ [83-111]. Eine -al-Ableitung von bozo ‚Lippen, Lippenflaum‘ < lat. *bucceus ‚zum Mund gehörig‘, nämlich bozal, bedeutete ursprünglich ‚Maulkorb‘ (seit dem 12./ 13. Jh.). Seit 1495 bedeutet bozal auch ‚unerfahren‘ (für heranwachsende Männer ist der bozo ‚Lippenflaum‘ typisch, „una persona bozal ist also eine junge Person, bei der noch der Gesichtsflaum zu sehen ist“ [87]). Als substantiviertes Einzelwort hieß bozal dann ‚Wesen ohne Erfahrung‘, und im Valencianischen nahm am Ende des 15. Jahrhunderts bozal die Bedeutung ‚kürzlich eingekaufter Sklave ohne Sprachkenntnisse‘ an (möglicherweise ein Antonym zu ladino); ‚sprachunkundig‘ heißt bozal in Charakteristiken, die auf Basken, Italiener, Engländer und andere Ausländer angewendet wurden. Im kolonialen Kontext nahm die Verwendung von bozal eine besondere Wendung: Frisch rekrutierte Sklaven wurden - zunächst wegen ihrer mangelnden Spanischkenntnis - bozales genannt, und dann wurde das Wort angereichert mit der mit diesen Personen verbundenen Stereotypen wie Grobheit, Rohheit, Primitivität, Hässlichkeit. Alla Klimenkowa legt am Beispiel bozal semantische X Einleitung Veränderungen dar, die sich als beispielgebend für allgemeine Mechanismen des Bedeutungswandels wie Metonymie und Metapher, Bedeutungsverengung, Verblassen alter Bedeutungen und Innovationen erweisen. Andre Klump widmet sich „Sprache, Sprachgebrauch und Sprachpflege im Fokus digitaler Medien der Dominikanischen Republik“ [113- 126]. Es geht darum, welche sprachspezifischen Themen heute in den digitalen Versionen von zwölf Zeitungen und Zeitschriften der Jahre 2007 bis 2011 behandelt werden. Es gibt allgemeine Artikel über das Spanische der Insel im Rahmen der hispanidad, es gibt Rubriken zum korrekten Sprachgebrauch, es gibt Einschätzungen über die Sprache als dominikanischer Identitätsträger, und natürlich wird auf normierende Instanzen wie die Academia Dominicana de la lengua und auf das Verhältnis zu panhispanischen Referenzwerken eingegangen. Die Rolle der Sprache für die Bildung und das Verhältnis zur Frankophonie des benachbarten Haiti wird ebenfalls angesprochen. In gewisser Weise sind die um Sprachidentität, Sprachpflege und Normorientierung kreisenden Artikel typisch für die Dominikanische Republik, denn beispielsweise in Mexiko stehen ganz andere Themen im Mittelpunkt des Interesses. Die zweite Gruppe von Beiträgen dreht sich um „Das Französische in der Neuen Welt“ [127-209]. Karoline Henriette Heyder widmet sich der Spracheinschätzung in Québec: „«Les Québécois détruisent la beauté de la langue française» versus «Le français québécois est unique [...]. C’est une richesse à partager»: Insécurité linguistique au Québec: Konzeptionelle Grundlagen, empirische Ergebnisse, Forschungsausblick“ [129-167]. Nach einem konzisen, geschickt auf die wichtigsten Punkte konzentrierten Überblick über die Geschichte des Französischen in der Provinz Québec und über die Spracheinstellungen in verschiedenen Etappen der Entwicklung stellt die Autorin Ergebnisse eine Online-Befragung vor, die sie zwischen Anfang Mai und Ende Oktober bei siebzehnbis zwanzigjährigen Jugendlichen (39,4% männlichen und 60,9% weiblichen Geschlechts) durchgeführt hat. Als Ergebnis schält sich heraus, dass es die in der Forschung immer wieder angeführte insécurité linguistique nur noch in Resten gibt: Die Jugendlichen emanzipieren sich weitgehend von der Norm Frankreichs und akzeptieren eine einheimische Norm, teils auf der Basis der Sprechweise von Montréal, teils nach dem Vorbild der Stadt Québec. Diese Haltung könnte ein Indiz für die Entwicklung des Französischen hin zu einer plurizentrischen Sprache sein, was man aber natürlich nur nach weiteren Untersuchungen an anderen sprachlichen Zentren wirklich sagen könnte. Interessanterweise ist die für Québec traditionell so typi- Einleitung XI sche Berührungsangst gegenüber dem Englischen bei den Jugendlichen im Abnehmen begriffen, weil das Englische natürlich für die Öffnung gegenüber der Welt essentiell ist, will man nicht in provinzieller Selbstbeschränkung versinken. Ursula Reutner behandelt „Das Englische im kanadischen Französisch. Tremblays Les belles-sœurs“ [169-192]. In der Atmosphäre des langsam erwachenden Selbstbewusstseins der Frankokanadier des Jahres 1964 schrieb Michel Tremblay (*25. 6. 1942) sein Theaterstück Les belles-sœurs, in dem Frauen aus dem Arbeitermilieu sich in ihren Dialogen der heimischen Alltagssprache, die damals joual genannt wurde, bedienen. Frau Reutner nutzt diese literarische Quelle, um ein Bild des Auftretens englischer Elemente im joual der sechziger Jahre zu vermitteln. In diesem Stück verwenden alle Personen Anglizismen, die angesichts ihrer Zuordnung zu den Begriffsbereichen Essen, Trinken oder Arbeitswelt zeigen, wie gut sie im Wortschatz verwurzelt sind; Personen, die als vulgär gezeichnet sind, verwenden mehr Anglizismen als diejenigen, deren Streben nach gutem Sprachgebrauch aufgezeigt wird. Die meisten der in Les bellessœurs verwendeten Anglizismen gehören freilich nicht der stigmatisierten Sprache der Unterschicht von Montréal an, sondern sie sind meist in kanadischen Wörterbüchern, häufig ohne schichtenspezifische Markierung, registriert, und sie kommen sogar in Frankreich vor, was zeigt, dass wir es in Kanada nur partiell mit einem Ausdruck des landestypischen Sprachkontakts zu tun haben. Maria Hegner beschäftigt sich mit einem bislang noch weitgehend unerforschten Gebiet, den frühen Übersetzungen von einer Volkssprache in die andere an Hand von Reiseberichten und landeskundlichen Beschreibungen: „Neue Welt und Kulturkontakt: Lexikalische Aspekte der französischen Übersetzung (1688) von Richard Blomes The Present State of His Majesties Isles and Territories in America (1687)“ [193-209]. Bei Ortsnamen zeigen sich in Lehnübersetzung, Teilübersetzung und integraler Übernahme die geläufigen Transfermöglichkeiten, wobei Indigenismen durchaus als Lokalkolorit des Textes eingesetzt werden. Die Kulturspezifik findet besonders in den Bemühungen um eine adäquate französische Wiedergabe englischer Administrativa. Da die Übersetzung von Reisetexten meist unter starkem zeitlichem Druck erfolgte, erklären sich die nicht wenigen Inkonsequenzen in den neuen Termini. „Kreolische Sprachen in der Neuen Welt“ [211-275] sind in der dritten Gruppe von Ausführungen zusammengefasst, wobei ein Aufsatz dem Frankokreolischen gilt und zwei Beiträge der iberoromanischen Kreolsprache Papiamento gewidmet sind. Annegret Bollée behandelt auf der XII Einleitung Basis des in Vorbereitung befindlichen Dictionnaire étymologique des créoles français d’Amérique „Afrikanismen in den Frankokreolsprachen der Karibik“ [213-236]. Nach einer Klarstellung, dass afrikanische Sprachen nicht, wie oft behauptet, eine wichtige Quelle für die Kreolsprachen darstellen, sondern dass nur etwa 300 Wörter mehr oder weniger sicher afrikanischen Etyma zuzuordnen sind, liefert die Autorin - sozusagen als Appetithappen auf das zukünftige etymologische Wörterbuch - eine Behandlung von einigen Elementen aus ausgewählten semantischen Feldern, genauer gesagt drei Wörter aus dem Umfeld „Trommeln, Musikinstrumente, Tänze“ und je sieben Wörter aus den Bereichen „Personenbezeichnungen“ und „Nahrungsmittel und deren Zubereitung“. Eine Analyse einiger Termini aus dem Vodou-Umkreis schließt den informativen Beitrag ab. Eva Martha Eckkrammer widmet sich neuen Entwicklungen auf den niederländischen Inseln der Karibik, auf denen Papiamento gesprochen wird: „Divide et impera oder eine sprachpolitische Chance? Überlegungen zum Sprachausbau des Papiamentu/ o nach der Auflösung der Niederländischen Antillen“ [237-255]. Die drei Inseln Aruba, Bonaire und Curaçao stehen seit 1634 unter niederländischem Einfluss. Im 20. Jahrhundert waren sie bis 1986, als Aruba für sich den status aparte errang, in der Verwaltungseinheit Niederländische Antillen zusammengefasst. Diese Einheit wurde angesichts der Unzufriedenheit der anderen Inseln mit der Präponderanz von Curaçao am 10. Oktober 2010 aufgelöst: Curaçao und die anglophone Insel Sint Maarten erhielten denselben status aparte wie Aruba, Bonaire und die kleinen englischsprachigen Inseln Saba und Sint Eustatius wurden „besondere Gemeinden“ der Niederlande. Mit den sprachlichen Auswirkungen dieser Neuorganisation besonders auf Bonaire beschäftigt sich der vorliegende Beitrag. Die „Europäisierung“ der Insel bedeutet, dass das dortige Papiamento unter den Schutz der Europäischen Charta zum Schutz der Regional- und Minderheitensprachen fällt, die ja für nicht zu Europa gehörende Staatsverbände wie etwa Aruba oder Curaçao nicht gilt, aber andererseits gelten die alten Bestimmungen der Niederländischen Antillen für das Papiamento nicht weiter. Es wird jetzt im Primärschulunterricht angewendet, aber im Sekundarschulunterricht gilt das Niederländische, das auch die Sprache der Abschlussprüfungen ist. Das erste Ziel ist die Anschlussfähigkeit ans niederländische Schulsystem. Auch für den Sprachgebrauch im amtlichen Verkehr gilt, salopp gesagt, Vorfahrt für das Niederländische: Andere Sprachen, also das Papiamento, können gebraucht werden, wenn es zielführender ist und die Interessen Dritter nicht schädigt; konkret entschei- Einleitung XIII den die Beamten darüber. Diese Regelung lässt an Luxemburg denken, wo das Luxemburgische zwar Nationalsprache ist, aber im Schulunterricht nur eine marginale Rolle neben den Hauptunterrichtssprachen Deutsch und Französisch einnimmt, wo es im amtlichen Verkehr nur „dans la mesure du possible“ eingesetzt wird und wo die einzige Sprache der Gesetzgebung das Französische ist. In einem zweiten Teil informiert Frau Eckkrammer über die Sprachenregelungen auf Curaçao, wo zunächst die alten Bestimmungen der Niederländischen Antillen weitergelten, und auf Aruba, wo das Papiamento auf den Primärunterricht und auf die Berufsschulen beschränkt bleibt, während die höheren Ebenen dem Niederländischen treu bleiben. Fazit: Die gesetzlichen Bedingungen sind auf den drei Inseln unterschiedlich, eine gemeinsame Sprachplanung fehlt, der Schulterschluss mit dem Niederländischen scheint wichtiger als der Aufbau von Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Gebieten. Das divide ist also vorgezeichnet, nur weiß man nicht, wer eigentlich der künftige Imperator sein soll - doch wohl nicht das Niederländische, dessen Sprecher bekanntlich bei jeder sich bietenden Gelegenheit sofort zum Englischen übergehen. Johannes Kramer stellt „150 Papiamento-Etymologien“ vor [257-275]. In der überwiegenden Zahl der Fälle bedarf die Klärung der Herkunft von Papiamento-Wörtern aus dem Iberoromanischen oder aus dem Niederländischen - anders als bei frankokreolischen Sprachen - keines besonderen Aufwandes, es bleiben aber natürlich durchaus Elemente, bei denen sich etymologische Probleme stellen. Nach eine Kurzskizze von regelmäßigen lautlichen Veränderungen, die bei der Übernahme portugiesischer und spanischer Elemente erfolgt sind, wird eine Liste von etwa 150 nicht selbstverständlichen Papiamento-Etymologien geboten. Die letzte Gruppe von fünf Aufsätzen dreht sich um „Kontakte zwischen romanischen Sprachen in der Neuen Welt“ [277-379]. „Mediale Ethnolekte in Spanien und Amerika: Die habla de negro und die Erforschung historischer Sprachkontakte“ ist das Thema von Silke Jansen [279-303]. Es stellt sich die Frage, ob man wirklich, wie es in der Forschungsgeschichte vielfach geschah, aus der Sprechweise der negros in literarischen Zeugnissen des 15. bis 18. Jahrhunderts Rückschlüsse auf die tatsächliche habla de negros ziehen kann. Vor dem Hintergrund des Unterschieds zwischen primärem Ethnolekt, also authentischer Redeweise von Angehörigen einer Ethnie, sekundärem Ethnolekt, der literarischen Nachahmung dieser Sprachform durch nicht der Ethnie angehörige Autoren, und tertiärem Ethnolekt, der Imitation zu ludischen Zwecken, führt Frau Jansen aus, dass die Zeugnisse aus der spanischen Literaturgeschichte der XIV Einleitung zweiten Gruppe zuzurechnen sind und so einerseits nur eine Teilmenge der Eigenschaften des Vorbilds aufweisen, andererseits aber über dieses hinausgehen. Die literarische habla de negro ist ein sprachideologisches Konstrukt, in dem überzeichnete Formen der ethnischen Figuren von der postulierten homogenen Standardsprache abgesetzt werden. Man kann folglich nur ein unscharfes und lückenhaftes Bild des im sekundären Ethnolekt unvollkommen gespiegelten primären Ethnolekts gewinnen, so dass man vor der Aufgabe steht, „aus einer Karikatur ein realistisches Konterfei einer Person zu entwerfen, die man selbst nie gesehen hat“ [302]. Christina Ossenkop behandelt „Die spanisch-portugiesische Sprachgrenze dies- und jenseits des Atlantiks. Vergleichende Betrachtung des Sprachkontakts im Grenzgebiet zwischen Uruguay und Brasilien sowie zwischen der spanischen Extremadura und den angrenzenden portugiesischen Regionen (Beira Baixa/ Alto Alentejo)“ [305-319]. Es wird aufgezeigt, dass ähnliche Voraussetzungen - Überlagerung einer portugiesischen Varietät durch das als Staatssprache auftretende Spanische einerseits in der Extremadura zwischen Cedillo und La Codosera, andererseits im brasilianische-urugayischen Grenzgebiet - keineswegs zu denselben Resultaten führen müssen: In Europa scheint es zu einer allmählichen Aufgabe des Portugiesischen durch die junge Generation zu kommen, in Amerika hingegen ist eine neue regionale Sprachform, ein dialecto mixto, im Entstehen. Werner Forner widmet sich dem „Sprachkontakt Genuesisch-Spanisch in Buenos Aires“ [321-351]. Der Sprachkontakt zwischen dem Spanischen und dem Italienischen der zahlreichen Neueinwanderer ist ein bekanntes Phänomen, das literarisch in der künstlichen Mischsprache cocoliche, benannt nach der Hauptfigur Cocoliccio einer Boulevard-Komödie aus dem Jahre 1890, und in der Kontaktsprache lunfardo ihren Niederschlag fand. Die massive und ihrer geographischen Herkunft nach vielfältige italienische Immigration zwischen 1853 und 1930 führte dazu, dass die der untersten sozialen Schicht angehörigen Einwanderer in Buenos Aires gezwungen waren, mit Einheimischen ebenfalls der untersten sozialen Schicht in einer Sprachform zu kommunizieren, von der sie meinten, sie sei spanisch, obwohl sie nur eine von Individuum zu Individuum unterschiedlich ausfallende interlingua war. Anders steht es mit den Ligurern, die sich südöstlich von Buenos Aires an der Mündung des Flusses Riachuelo in La Boca, einer wirtschaftlich blühenden Gemeinde, niederließen: Diese Xeneizes gehörten schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts zur Mittelklasse, und sie sprachen Genuesisch mit spanischen Beimi- Einleitung XV schungen. Anhand einiger Texte weist Werner Forner nach, dass die Sprache der Xeneizes im Gegensatz zum Cocoliche keine chaotische Sprachmischung war, sondern dass die bewusste funktionale Variation des Code-Switchings vorliegt: Was Spanisch ist, ist authentisches Spanisch, das Genuesische ist korrekt mit motivierten Entlehnungen aus dem Spanischen. Ein humoristischer Text aus dem Jahre 1862 könnte vielleicht als Ansatz zu einem Cocoliche mit genuesischer Note gedeutet werden, aber eine Tradition wurde hier nicht begründet, wahrscheinlich deswegen, weil die Genuesen in der Lage waren, das Ligurische und das Spanische nicht zu vermischen, sondern distinkt zu halten. Sandra Herling behandelt „Französische Migranten in Chile - ein historischer Überblick“ [353-371]. Einleitend berichtet sie über die Präsenz französischer Einwanderer in verschiedenen Ländern Südamerikas: In drei Migrationswellen (1800-1830; 1860-1878; 1880-1914) waren die Länder des Cono del Sur die Hauptziele, wobei Chile, das immerhin von verschiedenen Entdeckungsreisen im 18. Jahrhundert berührt wurde, die am wenigsten beliebte Richtung darstellte. Die vergleichweise wenigen französischen Immigranten des 19. Jahrhunderts ließen sich meist in den Städten nieder und gründeten oft selbständige Firmen, die durch eine verbreitete Endogamie untereinander verbunden waren. Auch im Bergbau und vor allem im Weinbau findet man Franzosen, und insgesamt gehörten sie eher der wohlhabenden Schicht an. Das Französische genoss in Chile unter den Gebildeten ein hohes Prestige, und das patriotische Gefühl der Auswanderer trug zum Spracherhalt bei. Heute gibt es nur 3043 französische Staatsbürger in Chile, die durch eine Kontinuität französischer Gesellschaften miteinander verbunden sind, aber die natürlich voll in die spanischsprachige Umgebung eingebunden sind. Die Widerspiegelung sprachlicher Fakten der Neuen Welt im alten Europa behandelt Wolfgang Schweickard, „Lehn- und Fachwortschatz in Luigi Castiglionis Viaggio negli Stati Uniti dell’America settentrionale“ [373- 379]. Vorgestellt werden aus diesem 1790 erschienenen Text neun Anglizismen, vier Wörter indigener Herkunft, acht Bezeichnungen indigener Ethnien Nordamerikas und vierzehn Elemente aus dem botanischen Wortschatz, die alle durch die Gemeinsamkeit verbunden sind, dass sie im Grande dizionario italiano dell’uso eine erheblich spätere Erstdatierung aufweisen oder gar nicht verzeichnet sind. Die Erfassung von nichtkanonischen Bereichen des Wortschatzes für Wörterbücher ist eben noch unterentwickelt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am 26. Romanistischen Kolloquium in Trier haben jedenfalls nach dem Eindruck der Veranstalter einer XVI Einleitung interessanten und auch kurzweiligen wissenschaftlichen Begegnung beigewohnt, und wir hoffen, dass die schriftliche Fassung ihr Lesepublikum ebenfalls in den Bann wird ziehen können. Unser herzlicher Dank gilt allen, die in Trier dabei waren, für die pünktliche Einlieferung ihrer Beiträge. In besonderer Weise danken wir Aline Willems (Trier), die während des Kolloquiums die Versorgung mit Speis’, Trank und technischem Equipment in ihren Händen hatte. Ihren letzten Schliff verdankt die redaktionelle Aufarbeitung der Beiträge für den Druck ohne jeden Zweifel ihrem Engagement und ihrem Einsatz. Grand merci! Muchas gracias! Muito obrigados! Mèsi byen! Masha danki! Die Herausgeber I. Das Spanische in der Neuen Welt „Recarga aquí el celular de tu país”. Amerikanismen in der spanischen Gesellschaft der Gegenwart Alf Monjour (Duisburg-Essen) 1. Anlässe Dem Spaziergänger in einer heutigen spanischen Großstadt werden kaum die in der urbanen Öffentlichkeit präsenten Texte verborgen bleiben, die in der einen oder anderen Form solches Sprachmaterial enthalten, welches dem amerikanischen Spanisch zuzuordnen ist. So heißt es - um an dieser Stelle nur einige Beispiele aus dem Straßenbild einer andalusischen Provinzhauptstadt wie Granada im Winter 2010 und Frühjahr 2011 zu zitieren - in einer in Zeitungsläden noch aushängenden Plakatwerbung von Movistar, die sich offenkundig an hispanoamerikanische Migranten wendet: „Recarga aquí el celular de tu país” (die dem unten noch näher zu analysierenden Sektor der Ethnowerbung zuzurechnende Kampagne ist bereits älteren Datums); beim Gang durch die ansonsten keinerlei Luxusbedürfnisse befriedigenden Supermärkte von Mercadona oder Covirán fällt in der Obst- und Gemüseabteilung die Selbstverständlichkeit auf, mit der neben Orangen, Tomaten und Kartoffeln auch yucas angeboten und entsprechend ausgeschildert werden, und in der örtlichen Gratiszeitung findet sich eine großformatige Lidl-Anzeige, in der unter dem Titel „¡Sabor Latino! ” auch die dem normalen andalusischen Kunden nicht mehr unbekannten Produkte wie dulce de leche oder mate angeboten werden (20 Minutos (Granada), 24.1.2011, S.2). Bei dem Rückflug von Granada nach Madrid sieht sich auch der spanische Fluggast dann einer Iberia- Werbung für einen neuen Linienflug von Madrid nach Córdoba (Argentinien) gegenüber, u.a. mit dem voseante-Slogan „Córdoba. Todo lo que querés. Todo el año. República Argentina” (Kampagne im Juni 2011). Offenkundig findet sich mithin in der Öffentlichkeit Spaniens hispanoamerikanisches Sprachmaterial, bei dem zu vermuten steht, dass es einen gewissen Grad von Bekanntheit besitzt, und um diese Art von sicherlich noch nicht in den Wortschatz des europäischen Spanisch integrierten, aber in der spanischen Öffentlichkeit auch nicht mehr gänzlich „fremden” lexikalischen Amerikanismen soll es bei den folgenden Überlegungen Alf Monjour (Duisburg-Essen) 4 gehen (die ebenfalls interessante Frage nach phonetischen oder morphosyntaktischen Besonderheiten des amerikanischen Spanischen kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden). 2. Fragen und Methoden Aus solchen emblematischen oder auch zufällig ausgewählten Beispielen ergeben sich Fragen nach dem Wie und dem Warum des lexikalischen Transfers Amerika - Spanien. Welche Art von Kontakt zwischen Varietäten liegt vor? Welche außersprachlichen, ökonomischen, kulturellen Faktoren bedingen in jedem einzelnen Fall den Transfer? Um solchen Fragen auch nur ein wenig nachgehen zu können, bedarf es zunächst eines kleinen Beispielkorpus von sicher oder möglicherweise von Hispanoamerika nach Spanien in jüngster Zeit „ausgewanderten” lexikalischen Einheiten; Ausgangspunkt bei der Suche nach solchen Einheiten war die schlichte Lektüre des jüngsten und hinsichtlich Materialfülle und Streuung über die verschiedenen Länder bis auf weiteres wohl konkurrenzlosen Amerikanismenwörterbuchs der Asociación de Academias de la Lengua Española (DA) und das anschließende Herausfiltern von hier verzeichnetem, aber auch in Spanien nicht gänzlich unbekanntem Material. Eine solche Vorgehensweise ist zwar zugegebenermaßen intuitiv - ein systematischerer Weg zu den in Spanien nicht unbekannten Hispanoamerikanismen der Gegenwart ist dem Verfasser vorliegender Überlegungen zur Zeit aber nicht bekannt. Die vorsichtige Formulierung des Untersuchungsgegenstandes („in Spanien nicht gänzlich unbekanntes Material”) erklärt sich aus der engen Spannbreite der diachronischen Fourchette, innerhalb derer sich die Untersuchung bewegt: Es interessieren hier keine historischen Amerikanismen, die im europäischen Spanischen und darüber hinaus in vielen Sprachen der Welt jahrhundertelang verwurzelt sind (Typ Tomate und Schokolade), sondern nur zeitgenössische Amerikanismen, also solche, die gerade in den letzten Jahren in der Gesellschaft Spaniens angekommen sind, sich erst im Frühstadium des allmählichen Bekanntwerdens befinden und mithin eine Beobachtung „in Echtzeit” ermöglichen. Der Terminus „Amerikanismus” wird hier also in jener privativen, engeren Bedeutung des Begriffs verwendet, wie er seit Vicente Salvá in der spanischen Lexikographie dem weiteren etymologischen Begriff des Amerikanismus Amerikanismen in der spanischen Gesellschaft der Gegenwart 5 als Bezeichnung - womöglich indigener Herkunft - für die Dinge Amerikas gegenübersteht. 1 Ein Problem stellt die Bestimmung des Grades der Lexikalisierung dar: Meines Wissens existieren keine statistisch fundierten Methoden der Messung des Bekanntheitsgrades bzw. Lexikalisierungsgrades im Fall von Entlehnungen bzw. Neologismen jeder Art. In einer slavistischen Untersuchung vergleichbaren Typs heißt es zu der „Prämisse, dass der Sprachgebrauch entlehnter Wörter des untersuchten Korpus vom Alter und von der regionalen Gegebenheit abhängig ist”, dass „noch keine Theorie, aus der die Arbeitshypothese abgeleitet werden kann, existiert” (Pirozhkov 2005, 73f.). 2 Alles andere als originell, aber natürlich zutreffend ist die auch in anderen einschlägigen Arbeiten formulierte „Hypothese”, derzufolge „von dem gehäuften Auftreten eines Wortes in der Alltagssprache auf seinen Bekanntheitsgrad bei der Mehrheit der Sprachbenutzer geschlossen werden kann. Durch die ständige Präsenz eines Wortes, besonders in den Medien, wird es von den Sprechern wahrgenommen und, wenn diese Phase länger anhält, als neu empfunden” (Wolf-Bleiß 2009, 91). Solcherart Indizien für das schrittweise Bekanntwerden eines Hispanoamerikanismus in Spanien sind in erster Linie - und hiernach wird im folgenden intensiv gesucht! sporadische, gelegentliche oder gar schon häufigere Belege in den spanischen Medien, direkt im Netz konsultiert oder über CREA und CORDE bezogen, wobei die Einstufung der Aussagekraft solcher Belege - bei manch einem könnte es sich um ein für die Evaluation der Wortverbreitung irrelevantes Hapax Legomenon, bei manch anderem 1 „Nuestro autor parece distinguir entre los vocablos que designan conceptos propios de la cultura americana, independientemente de que puedan ser conocidos o no fuera de América, y aquellos otros cuyo empleo se supone privativo de los habitantes del nuevo continente y que son desconocidos, por tanto, de los hablantes del español peninsular. Sólo estos últimos constituyen para Salvá los provincialismos americanos, esto es, las verdaderas variantes diatópicas -como diríamos hoy- del español de América” (Azorín Fernández 2008, 17); die privative Dimension liegt auch dem Amerikanismusbegriff des DA und den verschiedenen aufgezählten Unterkategorien zugrunde: „El Diccionario de americanismos es diferencial con respecto al español general” (DA, XXXI). 2 Bei der aktuellen Debatte um die Integration von Entlehnungen - vgl. etwa Winter 2005 oder Gévaudan 2007 - geht es in aller Regel um die formalen, semantischen etc. Auswirkungen der Integration und die daraus abzuleitenden Klassifizierungsansätze, nicht aber um die Frage nach dem „sprachdemographischen” Vordringen des ursprünglich fremden Materials, also - konkret formuliert - nach dem Anteil derjenigen Sprecher in der aufnehmenden Sprachgemeinschaft, die das fremde Material in den eigenen passiven oder gar aktiven Wortschatz integriert haben. Alf Monjour (Duisburg-Essen) 6 um ein in spanischen Medien belegtes, aber von lateinamerikanischen Autoren stammendes „Fremdwort” handeln - mangels objektivierbarer Parameter (siehe oben! ) letztlich dem Gespür des Beobachters obliegt. 3. Materialien 3.1. Migrationsdiskurs Ausgehend von der eingangs zitierten Verwendung des Amerikanismus celular in der Ethnowerbung stellt sich die Frage nach dem sprachlichkulturellen Gewicht der hispanoamerikanischen Migranten in Spanien. 3 In der soziologischen Forschung macht bereits das Wort von der „latinoamericanización de España” (Susanne Gratius, zit. in Otero Roth 2007, 3) die Runde. Im Übrigen ist das Spanische eine der wichtigsten Migrantensprachen weltweit: „Los países de habla española aportan, a nivel agregado, el 11% del stock de emigrantes existentes en el planeta” (Alonso/ Gutiérrez 2010, 11). „Los tiempos cambiaron y los papeles se invirtieron: los receptores de antes pasaron a ser inmigrantes a la península” (López Morales 2010, 228; dort Verweis auf weitere Sekundärliteratur! ). Angesichts der diversen Phänomene kulturellen Kontakts - „por un lado, la presencia de latinoamericanos ha generado ya una diversificación de la oferta cultural en España, que se advierte ya en ciertos hábitos de consumo (alimentación, restauración, modo de vestir, ocio) y en la aparición de medios de comunicación dirigidos a las distintas comunidades hispanas (prensa, radio, televisión) y de publicidad específica” (Otero Roth 2007, 5) - ist es eine Aufgabe der Sprachwissenschaft zu beobachten, inwieweit sich diese Kontakte auch sprachlich niederschlagen: „Corresponderá a los filólogos determinar la huella que la inmigración hispanoamericana termina por dejar en los usos lingüísticos peninsulares” (Otero Roth 2007, 6). Natürlich erweist es sich bereits bei dem im Titel dieser Überlegungen leitmotivisch genannten Beispielwort celular, das im DA als Amerikanis- 3 Laut der letzten Statistik des Instituto Nacional de Estadística vom 4.4.2011 bilden die Ecuatorianer, Kolumbianer und Bolivianer zur Zeit die viert-, fünft- und sechstgröße Ausländergruppe mit etwa 360.000, 270.000 bzw. 200.000 registrierten Bewohnern (vgl. „Avance del Padrón municipal a 1 de enero de 2011”, http: / / www.ine.es/ prensa/ np648.pdf; Stand: 23.06.2011); insgesamt stammt mehr als ein Drittel der in Spanien lebenden Ausländer aus spanischsprachigen Ländern, und wenn man von den Ausländern diejenigen abzieht, die nicht aus Gründen der Arbeitsmigration in Spanien leben, also Briten, Deutsche etc., steigt der Anteil der Hispanophonen auf 60% (vgl. Alonso/ Gutiérrez 2010, 10). Amerikanismen in der spanischen Gesellschaft der Gegenwart 7 mus geführt wird (DA, s.v.), als äußerst schwierig, das etwa mit Hilfe von CREA illustrierbare sporadische Vorkommen in der spanischen Presse vom Typ: Coincidiendo con la Navidad, Industria va a lanzar una nueva campaña informativa con 300.000 trípticos bajo el lema ‚¡Que no te dejen sin móvil! ’, que enseñan a bloquear el celular en caso de robo. 4 in jedem einzelnen Fall mit hispanoamerikanischem Einfluss (etwa in Gestalt der Rückführung auf einen lateinamerikanischen Journalisten oder eine Agenturmeldung amerikanischer Herkunft) in Verbindung zu bringen; schließlich ist gerade in der Frühzeit des Handybooms auch in Spanien selbst die Konkurrenz zwischen den Synonymen móvil und celular noch nicht entschieden: Ciento veinte ingenieros y técnicos finlandeses de Nokia han trabajado, durante dos años, en un único proyecto: conseguir una máquina con dimensiones muy reducidas que pueda hacer realidad el concepto de oficina móvil. [...] Su aspecto exterior es como un celular, algo más grueso. 5 , und die heute geolinguistische Aufteilung entwickelt sich erst allmählich. Andererseits scheint die Benutzung des Lexems in der einleitend zitierten Ethnowerbung („Recarga aquí el celular de tu país”) eindeutig für die Interpretation von celular durch die spanischen Werbetexter als im Umgang mit Migranten sinnvollem Amerikanismus zu sprechen. Umgekehrt benutzen auch Migranten selber in der spanischen Öffentlichkeit ihnen vertraute Lexeme, wie etwa die vom DA als Amerikanismus geführte Bezeichnung defensa „parachoques”, die in Internet- Verkaufsanzeigen auftauchen, 6 welche aufgrund außersprachlicher Merkmale (Selbstdefinition der Homepage bzw. Wohnort des Verkäufers) eindeutig in Spanien lokalisierbar sind - offenbar handelt es sich entweder bei den Verkäufern des betreffenden Autoersatzteils oder den potentiellen Kunden um in Spanien lebende Hispanoamerikaner. Gleiches dürfte auch für den in Alcoy (Vizcaya) ansässigen Schildkrötenzüchter und -händler gelten, der seine Kunden folgendermaßen und etwas ungelenk anredet: 4 El País, 22.12.2004: „La venta de teléfonos móviles crece más de un 25% este año”; CREA. 5 ABC Cultural, 17.05.1996; CREA. 6 Vgl. http: / / majadahonda.olx.es/ defensa-parachoques-paragolpes-delantero-focus- 2005-iid-30668680 [Stand: 23.06.2011]; http: / / anuncios.ebay.es/ motor/ parachoquesdefensa-renault-5-copa-antiguo/ 8155982 [Stand: 23.06.2011]. Alf Monjour (Duisburg-Essen) 8 Buen día, soy criador y vendedor a tiempo completo de las tortugas de la tierra 7 ; er verwendet mit buen día eine gemeinhin als Amerikanismus bekannte Anredeform (vgl. DA, s.v. día: „se usa como saludo durante la mañana”), die in der spanischen Presse etwa ansonsten typischerweise in antikisierenden Kontexten oder in solchen zum Einsatz gelangt, in denen es um die (fingierte) Imitation hispanoamerikanischer Realität geht: El soborno es una forma de vida para muchos mexicanos. Un policía de tráfico, por poner un ejemplo, cobra 20.000 pesetas al mes. Comprende a los infractores: - Oiga señor, se acaba de saltar el alto. - Ay, no lo vi. - Entienda, señor licenciado, que es una falta grave... (La multa serían 3.600 pesetas). - Seguro que comprende que llevo prisa... ¿De a cómo nos ponemos de acuerdo? -Lo dejamos a su consideración. Tenga (400 pesetas) y que pase un buen día 8 . Wie nicht anders zu erwarten, erweist sich das Gefälle im Sozialprestige als ein Hindernis für einen intensiveren sozialen wie sprachlichen Kontakt (vgl. etwa die auf den Bereich gastronomischer Terminologie beschränkte Zahl türkischer Entlehnungen im Deutschen). Immerhin wird der Hispanoamerikaner als Konsument wahrgenommen (vgl. zum Phänomen der Ethnowerbung, wie gesagt, die etwas ausführlicheren Überlegungen im weiteren Verlauf der Ausführungen), und auch die Teilnahme am Wirtschaftsleben in Form des technisch unkompliziert zugänglichen Internethandels führt zur sprachlichen Sichtbarwerdung der Migranten. 3.2. Mediendiskurs 3.2.1. Anglizismen In den Zeiten eines sich immer weiter globalisierenden Mediendiskurses scheint die Feststellung geradezu ein Gemeinplatz, derzufolge gemeinsam rezipierte Massenkommunikationsmittel die ideale Plattform für lexikalischen Transfer bilden. Die einfachste Bestätigung findet die genannte Feststellung in Gestalt der über den Mediendiskurs vermittelten Anglizismen (genauer genommen Angloamerikanismen, aber zur Vermeidung der Konfusion mit dem hier zugrundegelegten Amerikanismusbegriff, der sich auf Hispanoamerika bezieht, soll im folgenden lieber von Anglizismen die Rede sein); gemeint sind solche Anglizismen, die im hispanoamerikanischen Spanisch stärker verwurzelt sind als im europäischen und deshalb etwa vom DA als „americanismos” erfasst sind, aber 7 http: / / www.wiju.es/ compra-venta/ vizcaya_2.html [Stand: 23.06.2011]. 8 El Mundo, 3.12.1995: „México. Corrupción”; CREA. Amerikanismen in der spanischen Gesellschaft der Gegenwart 9 angesichts des globalisierten Mediendiskurses auch in Spanien zunehmend zum Einsatz gelangen und somit zumindest im passiven Wortschatz der Medienkonsumenten Fuß fassen. Ein erstes Beispiel für einen im hispanoamerikanischen Spanisch verwurzelten Anglizismus stellt bluyín dar (vgl. DA, s.vv. bluyín, blujín), für welches sich im CREA (bis Juni 2011) denn auch folgerichtig keine Belege aus Spanien finden. Die Frage ist, wie gelegentliche Verwendungen des Lexems in der spanischen Presse, etwa die Anspielung auf das Beinkleid des Präsidenten: El presidente de EEUU se defendió de las mofas al ancho ‘bluyín’ que lució al hacer el primer lanzamiento durante el juego de las estrellas del campeonato profesional de béisbol 9 , zu werten sind, als intertextuelle Beeinflussung durch das USamerikanische Englisch oder das hispanoamerikanische Spanisch. Die Tatsache jedenfalls, dass es sich bei dem Artikel um eine Agenturmeldung von EFE handelt, lässt beide Möglichkeiten offen... Stärker in Spanien verbreitet ist chequear, das vom DA (vgl. s.v.) für alle möglichen lateinamerikanischen Länder in der Bedeutung „cotejar, confrontar, revisar” verzeichnet wird und vor Jahrzehnten in der Tat noch als typisch hispanoamerikanischer Anglizismus gelten durfte: Para seguir una conversación en una de las ciudades panameñas terminales del canal hay que estar familiarizado con las palabras inglesas que en ella figuran: se habla de asistir a un party o a un picnic; se ,parquea’ el ,carro’; se ,chequea’ el comportamiento 10 . Erste europäisch-spanische Belege finden sich demzufolge in einem Roman, der im US-amerikanischen Kontext spielt: El segundo frente -al que gracias a Dios concedí mayor dedicación- consistió en chequear las direcciones de las dos centrales y cincuenta y ocho sucursales de correos en la ciudad. En la U.S. Postal Service (Head Quarters), que viene a ser el cerebro central del servicio de correos de todo el país, un amable funcionario extendió ante mí la larga lista de estaciones postales radicadas en Washington D.C. 11 , 9 La Provincia. Diario de Las Palmas, 23.7.2009; http: / / www.laprovincia.es/ seccio nes/ noticia.jsp? pRef=2009072300_26_245991__Cosas-de-la-vida-Obama-defiende-cri ticas-vestimenta [Stand: 23.06.2011]. 10 Agustín del Saz: Panamá y la zona del Canal, Barcelona 1944, Panamá; CORDE. 11 Juan José Benítez: Caballo de Troya 1, 1984; CREA. Alf Monjour (Duisburg-Essen) 10 und bis heute hat das Wort die „hispanoamerikanisierende” Konnotation nicht verloren, wie ein Beleg gerade in einem mit diesem Register spielenden Roman zeigt: Teresa iba a abrir la boca para decir imposible, lo he chequeado a fondo. 12 Andererseits hat chequear dann aber Ende der 80er/ Beginn der 90er Jahre auch in Spanien über den Journalismus Einzug gehalten und Verbreitung in Fach- und Gemeinsprache gefunden: Las medidas inmediatas adoptadas fueron: protección a los equipos visitantes y árbitros en alojamientos, desplazamientos y salida de la ciudad; crear áreas neutralizadas en torno a los recintos deportivos; vigilancia permanente de entrada y salida de espectadores; vigilancia de taquillas y colas; control de los accesos a recintos, estableciendo ‚filtros’ para chequear y evitar que se introduzcan objetos arrojadizos, y control en las gradas 13 , und gerade in der Bedeutung „einen Gesundheitscheck durchführen lassen” ist chequear heute in der spanischen Öffentlichkeit weit verbreitet: La ministra [= Carme Chacón] ha participado en una campaña de sensibilización sobre las cardopatías congénitas, con el objetivo de concienciar a la sociedad de la importancia de chequear regularmente el corazón como medida preventiva ante esta enfermedad 14 . Nur kurz eingegangen werden soll auf einen der weltweit am meisten verbreiteten Anglizismen, dessen spanische Vertreter computador/ computadora mehrheitlich und tendenziell in Hispanoamerika beheimatet sind (im CREA sind die mit „España” markierten Belege für computador(a) mit etwa 15% aller Belege für diese Lexeme - Konsultation am 27.4.2011 - deutlich unterrepräsentiert in Relation zum Gesamtanteil spanischen Materials am Korpus, der bekanntlich bei 50% liegt) und deshalb auch im Amerikanismenwörterbuch geführt werden (vgl. DA, s.vv. computador, computadora); die geringe Frequenz dieser Anglizismen in rein spanischen Texten sinkt von den 80er/ 90er Jahren bis zur Gegenwart, so dass die weiterhin prinzipiell mögliche Verwendung von computador/ computadora in Spanien 15 immer mehr nur noch in solchen Kontexten zu beobachten ist, in denen ein deutlicher Amerikabezug besteht: 12 Arturo Pérez-Reverte: La Reina del Sur, 2002; CREA. 13 ABC, 27.11.1987: „Incremento de medidas policiales en la lucha contra la violencia”; CREA. 14 Canarias7.es, 27.4.2011; http: / / www.canarias7.es/ articulo.cfm? id=208151 [Stand: 23.06.2011]. 15 „En España el término ‚ordenador’ está muy extendido para designar a ‚la máquina’ por excelencia de la Informática. Hay una minoría, en general universitaria, que usa Amerikanismen in der spanischen Gesellschaft der Gegenwart 11 Agrupados en su ‚ vitrina’ los usuarios libres (basta con inscribirse) bajan un agente que se queda en su computadora para analizar sus emails (de quienes los reciben, a quienes los envían y lo que dicen los encabezados de los mismos). Philip Cases, miembro del consejo de administración nos acaba de hacer una demostración del programa en su oficina de San Francisco 16 ; Un caso más reciente es el de ‚ Grand Theft Auto: Vice City’, un juego creado por la compañía Rockstar Games que ‚ exhorta a matar haitianos y cubanos’ y que podría ser demandado por abogados que representan a estas comunidades en la ciudad de Miami. Otro juego de computadora altamente criticado porque alienta el racismo es ‚ Ethnic Cleansing’, cuyo objetivo es matar a los ‚ subhumanos’, léase negros y latinos, y sus ‚ maestros’, los judíos 17 . Ob in solchen Fällen US-amerikanischer oder hispanoamerikanischer Einfluss vorliegt, ist angesichts der Struktur des Mediendiskurses schwer zu entscheiden; im Übrigen ist auch der Migrationsdiskurs an der Verbreitung von computador(a) in Spanien nicht gänzlich unbeteiligt: Der Verfasser dieser Zeilen wurde selber schon an der Handgepäckkontrolle in Madrid-Barajas vom (hispanoamerikanischen! ) Personal aufgefordert, seine computadora zu öffnen. 3.2.2. Nicht-Anglizismen Aber auch eindeutig nicht angloamerikanische Amerikanismen werden über den Mediendiskurs vermittelt: Financista etwa, im DA s.v. definiert als „persona, empresa o institución que financia un proyecto” bzw. „que habitualmente desarrolla una actividad financiera” bzw. „persona versada en cuestiones bancarias o bursátiles”, ist laut CREA zwar fast ausschließlich in Hispanoamerika belegt (75 von 76 Belegen; Konsultation am 21.6.2011), aber eine weitergehende Durchsicht der Medienlandschaft lässt das Auftauchen des Terminus auch in Spanien in typischen „Übergangszonen” zwischen hispanoamerikanischem und europäischem Mediendiskurs erkennen: erstens in übersetzten Agenturmeldungen: indistintamente los términos ‚computadora’ (o ‚computador’) y ‚ordenador’. Muchos menos somos los que sólo usamos el término ‚computadora’. Pero solamente en España se usa la palabra ‚ordenador’, que es absolutamente desconocida en América.” (Vaquero Sánchez 1997). 16 El País. Ciberpaís, 11.12.2003: „Desde el Pacífico - Francis Pisani”; CREA. 17 Diario Málaga-Costa del Sol, 22.01.2004; CREA. Alf Monjour (Duisburg-Essen) 12 El financista estadounidense Bernard Madoff se declaró culpable este jueves de haber conducido uno de los mayores fraudes financieros de la historia 18 , zweitens in Hispanoamerikarubriken der spanischen Presse, mit vermutlich z.T. hispanoamerikanischen Autoren: Las víctimas de las estafas del condenado Bernard Madoff acusaron este jueves a JP Morgan Chase por sus estrechas relaciones con el financista 19 , drittens in „innerspanischen” Artikeln mit Hispanoamerikabezug: Con frialdad y sangre fría, El llanero estudió el mercado español de la cocaína. [...] También actuaba como financista, encargado de asegurar las transacciones y de confirmar que nada enturbiaba la compraventa de la coca 20 . Auch wenn in einer metasprachlichen Zeitungsglosse der Autor, ein regional bekannter kanarischer Dichter und Intellektueller, zugibt, das Wort financista erst bei der Neruda-Lektüre in den Siebziger Jahren kennengelernt zu haben: En el libro que vengo comentando he leído frases como éstas que ofrezco en extracto: ‚Las manos de mi socio financista’, ‚Álvaro iba de acá para allá con un portafolio’, ‚fueron tan acuciosos que llamaron al director del hotel’. Lo de financista y acucioso era nuevo para mí 21 , so ist unabhängig von diesem hispanoamerikanischen Kontext schon in seltenen Fällen ein „rein spanisches” Vorkommen des Terminus zu verzeichnen: En Zaragoza aún recuerdan que Sáinz de Varanda se quitó de en medio al personaje, advirtiendo lealmente a Madrid de su calaña. El fallecido Pedro de Toledo ya ha dado su buen juego como financista de Filesa, y así está el pobre juez Barbero pasando las noches en claro dándole vueltas al vaso de la uija 22 . 18 El Economista, 12.3.2009; Herkunft: AFP; http: / / ecodiario.eleconomista.es/ interna cional/ noticias/ 1095150/ 03/ 09/ Financista-estadounidense-Madoff-se-declara-culpa ble-de-fraude-masivo.html [Stand: 23.06.2011]. 19 El Mundo América, 3.2.2011; http: / / www.elmundo.es/ america/ 2011/ 02/ 03/ econo mia/ 1296773430.html [Stand: 23.06.2011]. 20 El País, 3.3.2011: „Cae ‚El llanero’ representante de los ‚narcos’ colombianos en España”; http: / / www.elpais.com/ articulo/ espana/ Cae/ llanero/ representante/ na rcos/ colombianos/ Espana/ elpepuesp/ 20110303elpepunac_27/ Tes [Stand: 23.06. 2011]. 21 Acosta García, Carlos: „De profesión, mis ignorancias”, in: El Día (Tenerife), 28.2.2009; http: / / www.eldia.es/ 2009-02-28/ criterios/ 18-profesion-ignorancias.htm [Stand: 23.06.2011]. 22 El Mundo, 04/ 05/ 1994: Martín Prieto: „La noche de los muertos vivientes”; CREA. Amerikanismen in der spanischen Gesellschaft der Gegenwart 13 Zu den in Spanien sporadisch erscheinenden Amerikanismen zählt auch die im DA s.v. aufgelistete Telefon-Routineformel aló, die in den Frühzeiten der Telekommunikation auch in Spanien nicht unbekannt war, wie ein Beleg bei der des Amerikanismus unverdächtigen Kinderbuchautorin Liboria Casas Regueiro, besser bekannt unter dem Pseudonym Borita Casas, beweist: Desde luego, agarré el auricular con una ‚posse’ despreciativa que no la mejora la más exquisita actriz de alta comedia... - Aló, aló - dije luego, en pleno de fingimiento, para demostrar a Paquito que realmente no creía que era él, sino algún otro admirador de los muchos que tengo... - Soy tu primo Paco... - respondió el chico con bastante sensatez, poniendo en claro que no era ningún diplomático acostumbrado a grandes expresos europeos ni a Líneas Iberias... Por lo menos, es natural... 23 . Wenn heute dagegen in einer kanarischen Regionalzeitung von der werbewirksamen Kampagne eines für seine Mitbürger stets ansprechbaren Bürgermeisters berichtet wird: Aló, señor alcalde. Los representantes vecinales de Telde podrán llamar directamente sin coste alguno al concejal y a los trabajadores de Participación Ciudadana a través de un teléfono móvil corporativo 24 , dann handelt es sich sich wohl eher um eine intertextuelle Anspielung auf den hispanoamerikanischen Sprachgebrauch und näherhin auf die Inkarnation des Medienmissbrauchs durch den politischen Populismus in Gestalt von Hugo Chávez’ allsonntäglicher Talkshow „Aló Presidente”. Eine andere Form lexikalischer Intertextualität schlägt sich im allmählichen Bekannterwerden des Amerikanismus boludo (vgl. DA, s.v.) in Spanien nieder. Wenn ein alternativer Textilvertrieb in Barcelona T-Shirts mit Aufschriften u.a. vom Typ boludo anbietet und dafür in Barcelona mit entsprechenden Plakaten wirbt: ¿Sabes quien es el boludo que pega estos carteles? 25 , dann scheint hier mit der Sprachvarietätenkompetenz des Fernseh- und Filmkonsumenten gespielt zu werden, der Telenovelas oder nicht zuletzt das populärer werdende argentinische Kino kennt. 26 Der geradezu em- 23 Borita Casas: Antoñita la fantástica y Titerris, 1953; CORDE. 24 La Provincia. Diario de Las Palmas, 28.12.2007; http: / / www.laprovincia.es/ grancanaria/ 1649/ alo-senor-alcalde/ 122056.html [Stand: 23.06.2011]. 25 http: / / www.ponetelaremera.es/ news.htm [Stand: 23.06.2011]. 26 Auf derselben Website wird ein entsprechender Blogeintrag einer spanischkanadischen Künstlerin zitiert: „Vera Ciria, escritora independiente radicada en Barcelona, vió nuestros carteles y puso un post en su blog sobre ponetelaremera! : ‚ What Alf Monjour (Duisburg-Essen) 14 blematische Schibbolet-Charakter eben dieses Argentinismus motiviert auch den Gebrauch des Lexems in der Einleitung eines Interview-Artikels über einen argentinischen Fußballer in den Reihen des kanarischen Zweitligisten UD Las Palmas: ‚ ¡Será boludo! ’. A Siro Danino, jugador de la Unión Deportiva (1976), le sale el deje argentino al observar a su hijo Nicolás salir empapado de la piscina del chalé familiar. 27 Die Verständlichkeit des Hispanoamerikanismus auf Seiten des spanischen Lesers wird dabei wie selbstverständlich vorausgesetzt. Die allmähliche Entwicklung von der passiven Kenntnis eines Hispanoamerikanismus in Spanien hin zur ersten aktiven Verwendung lässt sich am Beispiel von pibe nachverfolgen, einem im DA s.v. mit zusätzlichen Registermarkierungen wie „popular y culto”, „espontáneo y además afectuoso” versehenen Lexem. Seit den Dreißiger Jahren in der argentinischen Presse belegt (vgl. CORDE), erscheint es 1970 erstmals in der spanischen Literatur bei Goytisolo, innerhalb der Wiedergabe fingierter hispanoamerikanischer Oralität : boy boy pinche gachupín quiobas con el totacho abusadísimo mi cuás ya chingaste hace ratón con tu lopevega ora te chingas gachupas ora te desflemo el cuaresmeño ora que no se te frunza el cutis aquí [...] a ver si te hago quesadilla manís y de huitlacoche pa que no digas carpeteame un cacho al coso ese y decime si no es propio un plato, [...], ponele la firma, qué manga de engrupidos, pibe, [...] 28 , um danach immer populärer als Übername für diverse hispanoamerikanische Sportler zu werden: Jorge Larraz, argentino de 51 años de edad y conocido como el pibe de oro, ex futbolista de la Unión Deportiva Las Palmas y del Real Zaragoza entre otros one finds walking along the streets of Barcelona! Since I’m very often surrounded by various people from Argentina, I’ve managed to catch on to their slang quite well. It’s even come to the point where I don’t feel the need for subtitles when watching an Argentinean film! So I was very delighted to find posters up around the city, brashly proclaiming various infamous frases from Argentina slang.’”; http: / / www.ponetelaremera.es/ news.htm [Stand: 23.06.2011]. 27 La Provincia. Diario de Las Palmas, 31.5.2010; http: / / www.laprovincia.es/ finsemana/ 2010/ 05/ 31/ planes/ citas-culturales/ siro-darino/ 5458.html [Stand: 23.06. 2011]. 28 Juan Goytisolo: Reivindicación del conde don Julián, 1970; CORDE. Amerikanismen in der spanischen Gesellschaft der Gegenwart 15 equipos, fue detenido por la brigada de la policía judicial de Las Palmas por supuesto tráfico de droga y objetos robados, 29 nicht zuletzt auch für Diego Armando Maradona. Aufschlussreich sind dann die in den letzten Jahren nachweisbaren pressesprachlichen Belege für den Gebrauch von pibe durch rein spanische Sprecher, etwa durch die spanisch-jordanische Sängerin und Schauspielerin Najwa Nimri Urruticoechea in einem Interview N. N. Sí, pero no fue por hacer el disco, no. Fue por... porque en ese momento me gustaba mucho un pibe y ya está, 30 oder auch in einem Bericht in der bereits mehrfach zitierten kanarischen Zeitung La Provincia über einen jungen kanarischen Flamencotänzer unter dem Titel „El pibe más flamenco de la Feria. Un bailarín canario de 17 años actúa en la Feria de Abril que se celebra este fin de semana en la plaza de la Música” 31 , ohne dass Grund zur Annahme bestünde, ein hispanoamerikanischer Journalist stehe hinter dem Artikel. 3.2.3. Zivilisatorische Internationalismen Einen Sonderfall der per Mediendiskurs vermittelten Nicht-Anglizismen schließlich stellen die mit hispanoamerikanischer Gesellschaft, Musik und Populärkultur verbundenen und zu Internationalismen aufsteigenden Termini dar, die - dank der globalen Medienkultur - in Spanien genauso und zur gleichen Zeit Verbreitung finden wie in den nichthispanophonen westlichen Gesellschaften. Diese - wie ich sie nennen möchte - modernen zivilisatorischen Internationalismen (die sich nur durch den Zeitpunkt ihrer globalen Wanderung von den älteren Vertretern ihres Typs wie chocolate oder tomate unterscheiden) werden selbst im Diccionario de americanismos, der eingangs zitierten differentialistischen und nicht etymologischen Amerikanismusdefinition des Wörterbuchs zum Trotz, noch als Amerikanismen geführt, wie zwei willkürlich ausgewählte Beispiele wie senderista „relativo al grupo terrorista Sendero Luminoso” oder salsoteca „discoteca donde se bailan preferentemente salsa y otros ritmos tropicales” (s.vv.) illustrieren. Dennoch finden beide Termini längst natürlich auch in spanischen Medien Verwendung: 29 El País, 1.12.1985; CREA. 30 El País, 30.5.2003; CREA. 31 La Provincia. Diario de Las Palmas, 29.4.2011; http: / / www.laprovincia.es/ laspalmas/ 2011/ 04/ 29/ pibe-flamenco-feria/ 368877.html [Stand: 23.06.2011]. Zu möglicherweise schon etymologischen Verbindungen von pibe mit dem kanarischen Spanisch vgl. Gómez Pablos 1999. Alf Monjour (Duisburg-Essen) 16 La violencia senderista ayuda a reflexionar sobre la tesis de lo ‚nuevo’ y ‚lo viejo’, cual si del ludismo inglés se tratase, 32 und salsotecas existieren nicht nur in Barcelona 33 oder in Fuenlabrada, 34 sondern auch, wie angemerkt sei, in der deutschen Universitätsstadt, in welcher der Verfasser der vorliegenden Zeilen lehrt. 35 3.3. Fachsprachendiskurs Sicherlich nicht unabhängig von den Medien, aber geprägt von der Zugehörigkeit zu einem fachsprachlichen Diskurs, erfolgt der Zufluss von solchen Amerikanismen, deren passive Kenntnis bzw. aktive Verwendung auf einen diatechnisch definierten Sprachbenutzerkreis beschränkt ist. Das Prinzip der Wanderungsbewegung ist klar: Die Sache wird in Amerika entwickelt oder erforscht, und die Wörter folgen dann der Sache bzw. ihrer Erforschung. Ein erstes Beispiel bezieht sich auf eine in Lateinamerika entwickelte Form der ökologischen Landwirtschaft (agroecológico „referido a agricultura, respetuosa con el medio ambiente”; DA) und ist erstmals Anfang der Neunziger Jahre in Perú belegt: Otra de las oportunidades que presenta nuestro país, además de la diversidad agroecológica y de recursos genéticos, es que ya se ha logrado la equidad en el reparto del recurso tierra 36 ; jedoch schon zehn Jahre später ist das Lexem mit der Übertragung der landwirtschaftlichen Methodik auf die andalusischen Verhältnisse auch in Spanien fachsprachlich dokumentiert: A partir de éste periodo, comienza a tomar cierta importancia la agricultura ecológica, entre un reducido grupo de científicos e investigadores vinculados a la administración, que ya lo ven como un tema de trabajo. El novedoso enfoque ‚agroecológico’, surgido en Latinoamérica, comienza a ser puesto en práctica en Andalucía por los movimientos de ocupación de tierras de Andalucía 37 . 32 El Mundo, 5.3.1994; CREA. 33 http: / / www.salserosbcn.es/ [Stand: 23.06.2011]. 34 http: / / www.pubyfiesta.com/ base.php? name=pubphotos&pub_id=001559&sbalbu m=0000065227&sbalbumname=INAUGURACION+SALSOTECA+LA+SUEGRA+24 -03-11 [Stand: 23.06.2011]. 35 Zur „Salsoteca Essen” vgl. http: / / www.salsoteca-essen.de/ [Stand: 23.06.2011]. 36 VV.AA.: Desarrollo de la vitivinicultura en el Perú, 1991, Perú; CREA. 37 VV.AA.: Evolución de la agricultura ecológica en España y sus perspectivas, Madrid 2002; CREA. Amerikanismen in der spanischen Gesellschaft der Gegenwart 17 Ähnlich verläuft die Wanderungsbewegung bei ebenfalls als Amerikanismen markierten ursprünglichen Fachwörtern wie sobrepoblado („poblado en exceso”; DA) oder teleaudiencia („audiencia que ve un programa por televisión”; DA); beide sind Anfang der Siebziger Jahre in Hispanoamerika erstbelegt (vgl. CORDE, s.vv.), erscheinen dann in den Neunziger Jahren in spanischen Medien in eindeutig amerikabezogenen Kontexten: P. -Los expertos sostienen, sin embargo, que la excesiva fragmentación de la tierra es antieconómica, un freno para el desarrollo de la agricultura. R. -Los latifundistas luchan a favor de esa solución. Seguro que a mi padre no le gustaría esa idea. ¿Qué es lo que quieren? ¿Que los campesinos sean expulsados de sus tierras? Para poder comer se lanzarían sobre las ciudades, que ya están sobrepobladas. México DF tendrá pronto 20 millones de habitantes, su aire está envenenado, ni siquiera existe el suficiente para respirar. 38 ; Después de dejar sin aliento a la teleaudiencia colombiana, de parar el tráfico y de reunir todas las noches ante la pantalla de televisión a amas de casa, niños, ejecutivos y empleados, ‚Café’ empieza a alcanzar grandes audiencias en el exterior, 39 um heutzutage schließlich auch, in einer gewissen Öffnung hin zur Gemeinsprachlichkeit, amerikaunabhängig in rein spanischem Umfeld Verwendung zu finden: El agua de los acuarios tropicales debe calentarse (la temperatura óptima varía según las especies), mientras que en los acuarios del Mediterráneo tiene que enfriarse (a unos 13 grados). Recuerde que cuanto mayor sea la temperatura del agua, menos oxígeno podrá contener, por lo que deberá asegurarse de que el acuario no esté sobrepoblado 40 ; Ya se ha decretado el éxito de las series de época y la aceptación recibida por parte de la teleaudiencia. 41 . Das Prinzip „Die Wörter folgen der Sache” erklärt natürlich auch die schwer einzuschätzende Zahl von Amerikanismen im zunächst einmal fachsprachlich begrenzten Bereich der gastronomischen Terminologie, 38 El Mundo, 10.1.1994: „Entrevista con Mateo Zapata, hijo del revolucionario mexicano Emiliano Zapata”; CREA. 39 La Vanguardia, 2.5.1995; CREA. 40 Eroski Consumer [Kundenplattform einer Supermarktkette], Juli 1999; http: / / revis ta.consumer.es/ web/ es/ 19990701/ practico/ consejo_del_mes/ 31158.php [Stand: 23. 06.2011]. 41 [Homepage der RTVE]: “14 de abril. La República - argumento”, 25.1.2011; http: / / 14-de-abril-la-republica.seriesynovelas.es/ 2011/ 01/ 25/ 14-de-abril-la-republi ca-argumento/ [Stand: 23.06.2011]. Alf Monjour (Duisburg-Essen) 18 der Bezeichnungen für Früchte etc.; schwer einzuschätzen ist vor allem der Grad der Bekanntheit der betreffenden Wörter - schließlich gibt es in jeder beliebigen westlichen Gesellschaft Spezialitätenläden und -restaurants, in denen Spezialitäten aus jeder beliebigen nicht-westlichen Gesellschaft angeboten werden, ohne dass deshalb von einer auch nur ansatzweisen Integration der betreffenden Lexeme ausgegangen werden kann. Als Kriterium für das Vordringen der Lexeme aus der Fachin die Gemeinsprache kann vielleicht das Eindringen der Früchte und ihrer Bezeichnungen in einheimische, hier also spanische Supermärkte gewertet werden. Als einziges Beispiel mag hier die eingangs zitierte yuca in den andalusischen Supermärkten der Ketten Covirán und Mercadona dienen; ursprünglich als Amerikanismus geführt (vgl. noch DA), taucht die Bezeichnung in Spanien zunächst in der Presse im Diskurs volkspädagogischer Ratgeberliteratur auf : Sin embargo, hay otras que, aunque ya se venden en España desde hace bastantes años, son casi un misterio para nosotros. Las consume principalmente la población inmigrante, y su importancia es tanta como decir que constituyen su principal base alimenticia. ¿De qué productos hablamos? Para empezar, la yuca o el plátano macho, que son los pilares fundamentales de la cocina sudamericana y africana. La yuca es un derivado de la patata, es decir, un tubérculo. Se trata de un alimento básico, comparable a los cereales. 42 , und auch in Feinschmeckerrezepten, etwa des Madrider Starkochs Juan Pablo Felipe, Chef von El Chaflán - mit dem Hinweis, die Frucht sei erhältlich „en tiendas especializadas” 43 . Das Vordringen in die alles andere als „spezialisierten” andalusischen Supermärkte belegt nunmehr, dass die yuca mittlerweile auf den Spuren der Tomate von Amerika nach Spanien und von der Fachin die Gemeinsprache gewandert zu sein scheint. Unter dem Kapitel „(Sport-) Fachsprache” lassen sich auch einige solcher Hispanoamerikanismen behandeln, die unter etymologischem Gesichtspunkt als Anglizismen einzustufen gewesen wären, aber noch stärker fachsprachlich geprägt sind als die oben zitierten Lexeme angloamerikanischer Herkunft. Es geht um Hispanoamerikanismen in solchen Sportarten, in denen Hispanoamerika Spanien überlegen ist (Boxen, Rugby) bzw. überlegen war (Basketball), womit die Wanderungsrichtung die hispanoamerikanische und nicht eine unmittelbar angloamerikanische 42 A tu salud. Suplemento Salud de La Razón digital, 13.-19.5.2004: „Alimentos exóticos, desconocidos”; CREA. 43 http: / / mujer.terra.es/ muj/ navidad/ cocina/ articulo/ menu-reyes-27866.htm [Stand: 23.06.2011]. Amerikanismen in der spanischen Gesellschaft der Gegenwart 19 „etimologia prossima” des nach Spanien eingewanderten Lexems bzw. einer spezifischen graphischen Form plausibel macht. Dies gilt z.B. für nocaut/ nocáut, jene graphisch adaptierten Formen, die im DA als Hispanoamerikanismen geführt werden und auch laut CREA ausschließlich in Hispanoamerika beheimatet sind. 44 Ein ganz anderes Bild dagegen bietet sich beim Blick in die heutige spanische Sportpresse: An einem beliebigen Beispieltag liefert die Suchmaschine von Marca nur eine Minderzahl von Belegen für die eigentlich spanische Form knockout, nämlich 10, 45 dagegen eine überwältigende Mehrheit von solchen für die vermeintlich hispanoamerikanische Form nocaut, nämlich 65. 46 Die Erklärung besteht offenbar darin, dass der Boxsport generell von US- und lateinamerikanischen Boxern (und Boxerinnen) beherrscht wird und sich so automatisch die hispanoamerikanische Graphie in Spanien verbreitet. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist etwa ein Artikel von Marca über den Kampf zwischen einer spanischen und einer uruguayischen Boxerin, in welchem eine uruguayische Zeitung zitiert und damit die hispanoamerikanische Graphie übernommen wird ‚Se rompió el encanto de Chris’, destaca El Observador. ‚Los primeros ‚rounds’ fueron favorables para Namús, pero luego la española revirtió la pelea, en el décimo le dio flor de paliza a la uruguaya y el referí evitó el ‚nocaut’ separando una y otra vez a las boxeadoras [...]’ 47 . Weniger weit vorgedrungen ist die hispanoamerikanische Bezeichnung für eine der populärsten Mannschaftssportarten auch in Spanien: básquetbol/ basquetbol (und entsprechende Kurzformen: básquet/ basquet) werden im DA s.vv. als Amerikanismen bezeichnet, während die Lehnübersetzung baloncesto laut Real Academia die „única forma usada en España” sei (DPD, s.v. básquetbol/ basquetbol). Nun ist eine solch säuberliche Trennung der Formen angesichts der Globalisierung nicht nur des Sports, sondern auch der über ihn berichtenden Medien unrealistisch, so dass die den Normdiskurs wesentlich mitbestimmende Fundación del Español Urgente einen praktischen Ratschlag zur Separierung nach unterschiedlichen Re- 44 Unter 111 Belegen für nocaut und 26 für nocáut finden sich keine aus Spanien, wohl dagegen s.v. knockout, nämlich 2 von 6 und s.v. knock-out, nämlich 5 von 19; Konsultation am 6.5.2011. 45 http: / / cgi.marca.com/ buscador/ archivo_marca.html? q=knockout+&b_avanzad a= [Stand: 06.05.2011]. 46 http: / / cgi.marca.com/ buscador/ archivo_marca.html? q=nocaut+&b_avanzada= [Stand: 06.05.2011]. 47 Marca, 21.3.2011; http: / / www.marca.com/ 2011/ 03/ 21/ mas_deportes/ otros_depo rtes/ 1300723209.html [Stand: 23.06.2011]. Alf Monjour (Duisburg-Essen) 20 zipientengewohnheiten erteilt: „[...] en opinión de la Fundéu, lo más apropiado es utilizar, especialmente en las noticias para España, la forma baloncesto mientras que en las informaciones dirigidas a los países de Hispanoamérica y los Estados Unidos conviene recurrir, por ser más comunes, a las voces básquetbol o basquetbol y a su forma abreviada básquet. Además, al hablar de los jugadores, podemos usar las palabras baloncestista y basquetbolista.” 48 Aber auch die Rücksicht auf die Gewohnheiten der Medienrezipienten kann letztlich das gelegentliche Vordringen des hispanoamerikanischen Lexems in die spanischen Medien nicht ganz verhindern: Wenn der Katalane Jordi Bertomeu, Geschäftsführer der Basketball-Euroleague, in einer Netzpublikation vom „básquetbol europeo” spricht: ‚Hoy en día, todo el básquetbol europeo está de acuerdo’, fueron las palabras del propio Director general de la Euroliga 49 , dann schwingt darin sicherlich das Vorbild des US-amerikanischen Basketballs mit, aber in einem Netzartikel über einen ehemaligen argentinischen Basketballer von Unicaja Málaga: El básquetbol en estas tierras está impregnado en todos los ámbitos: es casi imposible llegar a la adultez sin al menos haber compartido un partido de básquet con amigos en el colegio, club o barrio. 50 trägt die Verwendung der hispanoamerikanischen Bezeichnung zur Evozierung des hispanoamerikanischen Kontextes bei, ermöglicht durch die richtige Einschätzung des Terminus durch die fachsprachlich geschulte (Fach-) Leserschaft dieses Publikationstyps. 4. Ergebnisse Vor dem Hintergrund der diskutierten Belege scheint der lexikalische Einfluss des hispanoamerikanischen auf das europäische Spanisch vor allem mit den zwei - im Übrigen miteinander verknüpften - Kultursphä- 48 „«baloncesto», «básquetbol» y «básquet»”, 4.9.2007; http: / / www.fundeu.es/ reco mendaciones-B-baloncesto-basquetbol-y-basquet-230.html [Stand: 23.06.2011]. 49 „Jordi Bertomeu y la nueva forma de clasificar a la Euroliga”, 28.6.2009; http: / / www.deportesapuestas.es/ basquetbol/ jordi-bertomeu-nueva-forma-clasificar-euro liga.php [Stand: 23.03.2011]. 50 „El reto más apasionado de Pepe Sánchez”, 16.10.2010; http: / / www.eldesmarque malaga.es/ unicaja-reportajes/ 23476-el-penultimo-reto-de-pepe-sanchez [Stand: 23. 06.2011]. Amerikanismen in der spanischen Gesellschaft der Gegenwart 21 ren der Migration und der Medien in Verbindung zu stehen, über die es sich lohnt, noch einmal kurz nachzudenken. Der dritte der oben erwähnten Bereiche, der fachsprachliche Diskurs nämlich, entzieht sich der synthetisierenden Betrachtung angesichts der Tatsache, dass die sachlichfachliche Priorität, die dem jeweiligen Fachbereich in Hispanoamerika zukommt und welche den lexikalischen Transfer nach Spanien motiviert, nicht auf ein kohärentes Deutungsmuster zurückzuführen ist. Mit anderen Worten: Das Motiv für die Übernahme von agroecológico und dasjenige für die von yuca haben, abgesehen von der prinzipiellen Grundkonstellation, ursächlich nichts miteinander gemein. 4.1. Migrationsdiskurs Die Zugehörigkeit zur selben Sprachgemeinschaft ist - neben anderen Gründen wie dem bis zur Weltwirtschaftskrise boomenden Arbeitsmarkt in Spanien oder den administrativen Erleichterungen bis hin zur Möglichkeit der Einbürgerung (vgl. Otero Roth 2007, 3) - ein offenkundiges und wichtiges Motiv für die Arbeitsmigration aus Hispanoamerika nach Spanien: Al reducir los costes de acceso, la comunidad de lengua y cultura anima la decisión migratoria, pero, sobre todo, una vez decidido a emigrar, otorga al mercado que la posee un atractivo diferencial respecto a otros posibles destinos (Alonso/ Gutiérrez 2010, 9). Und natürlich ist die hispanophone Herkunft auch ein Faktor bei der Erklärung der im Vergleich zu anderen Migrantengruppen besseren sozialen Integration: El conocimiento del español como lengua materna se vinculaba a niveles más altos en algunos indicadores parciales de la integración, como una menor participación en el envío de remesas, una mayor movilidad residencial, una calidad superior en la vivienda y una más alta participación en asociaciones cívicas no específicamente de inmigrantes (Alonso/ Gutiérrez 2010, 26). Freilich zeigen Parameter wie der schulische Erfolg der Kinder, dass ein gelungener Zweitsprachenerwerb der Eltern höhere Aufstiegschancen bietet als der reine Muttersprachenbesitz: Una vez más se encuentra un resultado en el que [respecto al] logro de integración social los de lengua española están por debajo de quienes han aprendido bien el español (Alonso/ Gutiérrez 2010, 30). Ähnlich fällt die Analyse von Otero Roth (2007, 4) aus: Alf Monjour (Duisburg-Essen) 22 Aparentemente, los inmigrantes hispanoamericanos se integran más fácil o rápidamente que asiáticos, magrebíes, subsaharianos o europeos del este; pero tal vez menos (de otra forma, en todo caso) que los europeos comunitarios que trabajan, se jubilan o tienen una segunda residencia en España. Para afirmar algo así haría falta definir lo que entendemos por „integración” (quizá mediante indicadores tales como los resultados educativos, el nivel de ingresos o la fundación de negocios por parte de las distintas comunidades de extranjeros residentes) y emprender estudios longitudinales con proyección a medio o largo plazo. Mit anderen Worten: Die spanische Sprachkompetenz allein garantiert den hispanoamerikanischen Migranten noch keinen sozialen Aufstieg und erst recht kein höheres Sozialprestige. Zudem existieren deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Migrantengruppen; so scheinen die argentinischen Migranten ein signifikant höheres Sprach- und Sozialprestige als andere Gruppen zu besitzen: Por una parte, los particularismos idiomáticos y la manera de hablar de los argentinos están de moda, a tal punto que se han vuelto argumentos marketings. Por otra parte, actualmente muchos argentinos trabajan en el sector audiovisual español y contribuyen a la visibilidad de su grupo en este sector. Además, desde hace años, el cine y el teatro argentino participan de la vida cultural española y aún más desde la crisis de 2001. [...] Los españoles están, por lo tanto, en contacto con expresiones lingüísticas y culturales argentinas e informados de lo que ocurre en el país. Este conocimiento del ‚otro’ permite que la figura simbólica del inmigrante argentino se construya a partir de una alteridad identificable y, por consiguiente, poco amenazante (García 2006, 98). Unabhängig von nationalen Unterschieden bei der Fremdperzeption tendieren viele hispanoamerikanische Migrantengruppen jedoch zur Konstruktion einer neuen Eigenidentität durch Betonung der auch sprachlichen Anpassung an die spanische Mehrheitsgesellschaft: Muchos se enorgullecen de hablar con acento y vocabulario castellano, reivindican un contacto exclusivo con los españoles y expresan una clara voluntad de vivir en barrios con baja concentración de inmigrantes con el fin de diferenciarse de ellos (García 2006, 104); natürlich existieren aber auch die entgegengesetzten Reaktionen, in Gestalt der Konstruktion distinktiver oder gar defensiver Alterität. Eine auch linguistisch interessante soziale Wahrnehmung der Migranten durch die spanische Mehrheitsgesellschaft geschieht, wie bereits angedeutet, auf dem Feld der Werbung, wo die Migranten als spezieller Kundenkreis mit Hilfe bestimmter Identitätsmerkmale, u.a. auch sprachlicher Art, hervorgehoben und zur privilegierten Zielgruppe sogenannter Amerikanismen in der spanischen Gesellschaft der Gegenwart 23 Ethnowerbung („marketing étnico”) werden - mit Schwerpunkten in den Branchen Telekommunikation, Bankwesen, Nahrung und Genussmittel sowie im Bereich Internationale Entwicklungszusammenarbeit und Integration (vgl. Arroyo Almaraz/ Martín Nieto 2009). 51 Generell bedingt dabei der auch von den Betroffenen selber wahrgenommene geringere Sozialstatus der Migranten eine Beschränkung der Werbung auf niederpreisige Produkte und Dienstleistungen: Piensan que el hecho de que aparezca una persona con rasgos latinos podría rebajar el nivel de estatus de una marca. Por eso creen que, al menos actualmente, los latinos sólo aparecerán en marcas populares teniendo de momento vetados los anuncios de elite (Álvarez Ruiz/ Carcelén García et al. 2009, 53). Natürlich sind sich die hispanoamerikanischen Migranten selber dieser Funktionalisierung ihrer Identität bewusst: Una compañía grande que era de estas..., por ejemplo, Movistar,... de ‚llama a tu país’ o algo así. Y que eran personas latinas, que ponían en el anuncio. Yo no sé cuantificarlo, pero se les notaba claramente que eran latinos. (Selbstaussage eines/ einer Befragten in Álvarez Ruiz 2009, 22). Aber: aunque este recurso parece garantizar la notoriedad y la identificación de las campañas, es un tema que debe manejarse con delicadeza a la hora de desarrollar campañas publicitarias (Álvarez Ruiz 2009, 23), nicht zuletzt weil die Betroffenen die Pauschalisierung der Identitätsmerkmale als diskriminatorisch empfinden. 52 Gerade die auffällig insze- 51 Detaillierter zu den einzelnen Branchen, vgl. Álvarez Ruiz/ Carcelén García et al. 2009, 24-37; daneben existiert die „publicidad institucional”, mittels derer sich die öffentliche Verwaltung an das oder ein bestimmtes Migrantenkollektiv wendet; vgl. Martínez Pastor / Vizcaíno-Laorga 2008; Álvarez Ruiz/ Carcelén García et al. 2009, 37-42. 52 „Tratar por igual a todos no me gusta. Eso de ‚la gente latina’ no me gusta, porque somos latinos pero, dentro de eso, somos muy diferentes” (Selbstaussage eines/ einer Befragten in Álvarez Ruiz 2009, 27). Vgl. auch Martínez Pastor/ Vizcaíno-Laorga 2008: „Los grupos de discusión de adultos mostraron cómo la publicidad comercial (a diferencia de la institucional) utiliza estereotipos y discursos narrativos que causan rechazo por parte del inmigrante. Dicho rechazo responde a las propias características del inmigrante: mientras para los ciudadanos subsaharianos el camino físico realizado en el proceso migratorio (por tierra y por mar) representa uno de sus mayores dolores, el duelo del inmigrante ecuatoriano se centra en las expectativas de los familiares dejados en su país de procedencia.” Alf Monjour (Duisburg-Essen) 24 nierten sprachlichen Merkmale 53 gelten als Stereotype, die der als soziales Aufstiegsmerkmal gewerteten sprachlichen Integration in die spanische Mehrheitsgesellschaft widersprechen: Respecto al habla, a algunos inmigrantes no les agrada que los personajes latinos utilicen palabras o expresiones latinoamericanas, ya que los significados varían mucho de un país de América latina a otro. Aunque es un recurso utilizado por los publicitarios para que la audiencia puede identificar rápidamente a los personajes latinos, ellos dicen preferir a los caracteres latinos que utilizan el léxico español ya que, de hecho, manejan con soltura nuestros giros lingüísticos al poco tiempo de llegar (Álvarez Ruiz 2009, 32; weitgehend textidentisch mit Álvarez Ruiz/ Carcelén García et al. 2009, 54). Insgesamt scheint auch eine politisch korrekte, d.h. Gruppenstereotype vorsichtig dosierende Ethnowerbung kaum eine geeignete Plattform für die Verbreitung hispanoamerikanischer Lexeme in der spanischen Mehrheitsgesellschaft darzustellen, und so fällt die Bilanz einer Untersuchung der sprachlichen Besonderheiten der auf Hispanoamerikaner zielenden Ethnowerbung im Rahmen eines sozial- und medienwissenschaftlichen Forschungsprojektes auch eher negativ aus: Muy pocas veces es el texto el elemento responsable de transmitir el carácter latino de la campaña (Álvarez Ruiz/ Carcelén García et al. 2009, 24). Zielvorstellung und Wunsch vieler Migranten ist demgegenüber expressis verbis die Überwindung der differentialistischen Ethnowerbung zugunsten der sprachlichen und kulturellen Integration in eine panhispanische Gesellschaft: Un gran número de inmigrantes latinos expresa el deseo - incluso la convicción - de que la publicidad latina debería desaparecer y sus peculiaridades tendrían que diluirse para formar parte del carácter español, como culminación del proceso de integración (Álvarez Ruiz/ Carcelén García et al. 2009, 55). 4.2. Mediendiskurs Im Zusammenhang mit dem Mediendiskurs als Erklärungsfaktor für die Verbreitung von Amerikanismen ist natürlich in erster Linie an jene „Transkulturation” zu denken, die gemeinhin als Deutungsschema für einen von den USA über Lateinamerika auf Europa ausgehenden Prozess der kulturellen Kolonialisierung postuliert wird: 53 „Solo con ver el acento ya está, ya uno sabe que es latino” (Selbstaussage eines/ einer Befragten in Álvarez Ruiz 2009, 31). Amerikanismen in der spanischen Gesellschaft der Gegenwart 25 En el caso de España, J.Riquelme [...] ya advierte un incipiente proceso de transculturización, semejante al que se ha producido en la América hispana (Gómez Capuz 2001, 9), und in diesem Prozess wurde gerade das Kino gesehen als „punta de lanza de la transculturación de la vieja Europa y su incorporación a una aldea global norteamericanizada” (Gómez Capuz 2001, 10). Nun scheint das einstmals ideale Biotop für diese Transkulturation, das „español neutro” der 70er und 80er Jahre, also der in Zentralamerika oder den USA selber synchronisierten, mit Anglizismen durchsetzten, aber von hispanoamerikanischen Partikularismen „gesäuberten” und nach Spanien exportierten Hollwood-Filmversionen, heutzutage keine Rolle mehr als Einfallstor zu spielen, weder für Anglizismen noch für Hispanoamerikanismen (vgl. Gómez Capuz 2001, 13-16). Demgegenüber scheint das „español neutro” der in Buenos Aires synchronisierten US- Filme oder Serien eine größere Bedeutung zu besitzen: Es posible constituir un diccionario con el léxico frecuente en el español neutro cuya nota más saliente es acaso el carácter reducido de su vocabulario. En este plano la norma predominante es la culta madrileña [...]. Pero a veces encontramos una norma culta hispanoamericana, sobre todo mexicana: bistec (mexicana), junto a filete (madrileña) y no bife (argentina); aguacate (palta), cacahuete (maní), cajuela (baúl), coyote (zorro); venezolana: plagio junto a secuestro; apartamento (piso en España), departamento (en México y Argentina); balacera (tiroteo). Desde el punto de vista de los préstamos hay cierta presencia de calcos en los doblajes extranjeros: perros calientes (hotdogs), pluma (fountain pen), ejecutivo (executive), rascacielos (skycraepers), platillos voladores (flying saucers), estación de servicio (service station), concreto (concret ‚hormigón armado’), aparcar/ aparcamiento (park/ parking). En los argentinos, no todos estos aparecen. En cuanto a los crudos, en los doblajes no argentinos hay muy pocos: jersey, jeep, chofer, ticket. Y en los argentinos, casi ninguno (Petrella 1998, unpaginierte Netzversion). Im Übrigen wird dieses „español neutro” in Buenos Aires, wie in einem Artikel in La Nación aus dem Jahr 2005 nachzulesen ist, sogar in Kursen gelehrt, als berufsqualifizierende Maßnahme für zukünftige Synchronsprecher und Mitarbeiter in panhispanisch operierenden Call-Centern: Ni carro ni coche: automóvil. Tampoco nafta, ni gasolina: combustible. 54 54 La Nación, 28.8.2005: „Cursos de español neutro. El auge del idioma de las telenovelas. Locutores y telefonistas de call centers toman clases para comunicarse mejor con sus clientes latinos”; http: / / www.lanacion.com.ar/ nota.asp? nota_id=733463 [Stand: 23.06.2011]. Alf Monjour (Duisburg-Essen) 26 Über neue Formen des transnationalen Varietätenausgleichs innerhalb eines „español global” wissen auch alle diejenigen zu berichten, die, etwa in der Agencia EFE, mit der globalen Verbreitung von Nachrichten in spanischer Sprache - zum Teil dann auch wieder mehr oder weniger glücklich aus dem Englischen übersetzt und mit Anglizismen kontaminiert zu tun haben. En muchas ocasiones es complicado o imposible encontrar una palabra que entiendan todos los hispanohablantes y que contenga todos los matices que encierran cada una de las empleadas en distintos países; pero de lo que se trata es de encontrar una expresión que permita, a los medios de comunicación, informar a todos de una sola vez. El resultado no será una lengua natural, pero sí una lengua que nos permitirá cumplir nuestros objetivos: informar a un amplio mundo de hispanohablantes (Gómez Font 2006 = 2007, 9). Das Ziel sei, so Alberto Gómez Font, coordinador general der Fundación del Español Urgente (Fundéu BBVA) in Madrid, die Schaffung eines immer besser funktionierenden globalen Kommunikationsraumes in spanischer Sprache: La revolución que hemos vivido en las comunicaciones, especialmente en Internet y en la televisión, ha permitido que el mundo hispanohablante se acerque cada vez más. Poco a poco nuestros oídos se han ido acostumbrando a palabras y expresiones que hasta hace muy poco tiempo eran extrañas para nosotros. Así, para los medios de comunicación internacionales en español, cada vez hay menos palabras que «traducir» del español local al español internacional (Gómez Font 2006 = 2007, 13). Solche global verbreiteten spanischen „Internationalismen” können dann, wenn es sich um Amerikanismen handelt, auch nach Spanien vordringen, freilich - wie gesagt - langsam und allmählich: Difícil será que el lector atento no los encuentre ya por todas partes, aun en España, donde hace unos pocos años eran palabras o derivaciones morfológicas desconocidas o raras (López Morales 2003, 5 = 2004, 5/ 6). Eine wichtige Rolle bei der medialen Verbreitung sprachlicher Phänomene innerhalb wie außerhalb Hispanoamerikas kommt schließlich der telenovela zu. 55 55 Vgl. die mittlerweile fast unüberschaubare Literatur zur Gattung, wie z.B. die nur aus den letzten Jahren stammenden Monographien von Geißdörfer 2008, Barrón Dominguez 2009, Michael 2010 etc. Amerikanismen in der spanischen Gesellschaft der Gegenwart 27 La telenovela se fija en los usos de la lengua con los que el espectador se siente más identificado, o ante los cuales logre suscitar mayores reacciones (Cisneros Estupiñán/ Olave Arias/ Rojas García 2009, 11), wie es in einer diskursanalytischen Untersuchung der Wirkung einer kolumbianischen telenovela auf das jugendliche Fernsehpublikum des Landes heißt. Gleichzeitig gerät die telenovela in den Zeiten wachsender Nachfrage nach dem Produkt immer mehr zur europäisch-lateinamerikanischen Koproduktion: Las relaciones comerciales con las estaciones de televisión de Europa se intensifican. En España, Antena 3, Telecinco e inclusive la estatal Televisión Española (TVE) siguen apostando de forma decidida por este tipo de enlatados que históricamente les han dado unos resultados más que satisfactorios en la franja horaria de la mañana y la tarde. Mediante esta opción, se cubren las parrillas de programación con discursos dotados de homogeneidad idiomática, se ahorra en gastos de doblaje y se logra un posicionamiento en la población emigrada de América Latina, que encuentra en estos relatos una ventana para identificarse con su cultura, sus ídolos mediáticos, su lengua y sus tradiciones nacionales más profundas (Morales Morante 2010, 21). Die Vertextungsstrategien schwanken dabei zwischen den Extrempolen des „manejo de vocablos propios del castellano de México, Colombia, Venezuela o Argentina” zur stereotypischen Charakterisierung ebenso stereotypischer Charaktere einerseits und einer „marcada ‚desterritorialización’ idiomática” (Morales Morante 2010, 26) im Dienste der besseren Verkäuflichkeit auf den europäischen und asiatischen Märkten andererseits - und bei der Konkretisierung dieser Strategien werden sogenannte „asesores lingüísticos” (vgl. Gregorio Salvador in González 2006, 9/ 10) beratend tätig. Identitätsstiftend innerhalb einer hispanoamerikanischen Gesellschaft wirken z.B. der intertextuelle Rekurs auf personentypische Interjektionen (vgl. Cisneros Estupiñán/ Olave Arias/ Rojas García 2009, 14/ 15), Kolloquialismen, Disphemismen oder Modismen. Was innerhalb Hispanoamerikas zur Identitätsstiftung beiträgt, scheint außerhalb Hispanoamerikas eine der Hauptattraktionen für die Popularität des Genres und sogar der Sprache schlechthin in den Augen der Fremdsprachenlerner darzustellen. Von Gregorio Salvadors berühmter Untersuchung (1995) mit dem programmatischen Titel Un vehículo para la cohesión lingüística: el español hablado en los culebrones bis hin zu den Ausführungen des Sekretärs der Akademie des Nordamerikanischen Spanisch zu den „telenovelas ejemplares” (Covarrubias 2010) reicht das Lob der telenovelas als Beitrag zur Diffusion (bei Ausstrahlung in der Originalsprache), aber auch zur Kohä- Alf Monjour (Duisburg-Essen) 28 sion des Spanischen weltweit; Covarrubias zitiert eine Reihe von mit dem Thema befassten Beobachtern, so den venezolanischen Regisseur Giarrocco - la telenovela ha acercado mucho a los distintos países de habla hispana. Hoy, en cualquiera de nuestros países, es posible ‚reconocer’ la identidad de cada producto por las palabras usadas en el ‚habla popular’ y por las costumbres y modo de socializar. Creo que existe un mayor conocimiento de la diversidad cultural. Un idioma tan rico como el español se enriquece aun más con las ‚formas’ populares de cada país aunque sea un aporte pasivo - oder auch den mexikanischen Linguisten Raúl Ávila: observó que además de permitir a los televidentes conocer cómo se habla en otras latitudes, las telenovelas favorecen la unidad al limitar las divergencias. Dijo que la televisión trasnacional refuerza la unidad del español y que su masiva comunicación promueve la convergencia lingüística‚ y limita, consecuentemente, los usos divergentes’ (Covarrubias 2010). Die erwähnte „passive Kenntnis” des durch die Medien importierten lexikalischen Materials beschreibt treffend den bei der Analyse des hispanoamerikanischen Materials im Spanischen konstatierten „ersten Verbreitungsgrad” der neuen Lexeme. 5. Ausblicke Insgesamt sind die vorliegenden Überlegungen als kleiner Beitrag zu der großen Diskussion um den Poly- oder Monozentrismus des Spanischen bzw. das Vorherrschen zentrifugaler oder zentripetaler Tendenzen im Lexikon des Spanischen zu verstehen. Der Rückfluss der Amerikanismen nach Spanien ist dabei kaum anders zu deuten denn als Illustration der Zentripetalhypothese, wobei, wie gesagt, die telenovelas gemeinhin gewertet werden als „instrumento de unificación idiomática” (Pedro Luis Barcia, zit. in López Morales 2010, 414) oder schlicht als „Rache Montezumas”. 56 Humberto López Morales erzählt gerne die Anekdote von der älteren Dame aus der Sierra de Huelva, die bestimmte politische Maßnahmen der Regierung mit den Worten kommentiert: „eso es muy chévere, como dicen en las telenovelas” (2010, 433; zu diesem und anderen Beispielen, vgl. auch López Morales 2003, 6/ 7; 2004, 8). Bekannt sind, was 56 „Y en un giro original que refleja la proyección internacional de la telenovela, se ha atribuido al éxito del género ‚un ejemplo de imperialismo cultural invertido’ o ‚la venganza de Moctezuma’” (Covarrubias 2010). Amerikanismen in der spanischen Gesellschaft der Gegenwart 29 die Grundlage der Zentripetalhypothese anbelangt, natürlich die lexikalstatistischen Untersuchungen von Lope Blanch oder Ávila, denenzufolge der panhispanische Anteil im Wortschatz eines spanischen wie auch hispanoamerikanischen „hablante culto” ohnehin einen Umfang von 98 oder 99 Prozent erreicht (vgl. López Morales 2010, 432), was alle Befürchtungen bezüglich des lexikalischen Auseinanderdriftens der Varietäten als letztlich unbegründet und nurmehr als Reminiszenz an die Debatten des 19. Jahrhunderts erscheinen lässt (vgl. Salvador 2006, 11). Auch die hier präsentierten zugegebenermaßen marginalen Beobachtungen legen ähnliche Schlüsse nahe: Der Rückfluss von Amerikanismen in die heutige spanische Gesellschaft ist Ausdruck jener „globalización lingüística” (so, im Anschluss an Irene Lozano, López Morales 2010, 435), die dazu führt, dass der Wortschatz des Sprechers vielleicht (noch) nicht um aktiv disponible Einheiten bereichert wird, wohl aber um solches Material, das passiv erkannt und - möglicherweise noch mit der Konnotation fremder Herkunft versehen - für die Erweiterung des eigenen kulturellen Archivs genutzt wird. In diesem Sinne ist auch der Hinweis auf die celulares im andalusischen Zeitungsladen ein Beleg mehr für die interne Globalisierung der Weltsprache Spanisch. Literaturhinweise Alonso, José Antonio/ Gutiérrez, Rodolfo: Lengua y emigración: España y el español en las migraciones internacionales, Madrid: Instituto Complutense de Estudios Internacionales/ Universidad Complutense, 2010 (= Documentos de Trabajo. 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Dieses von den 22 spanischen Sprachakademien unter Leitung von Humberto López Morales erarbeitete Werk wird auf der Homepage der ASALE angepriesen als „(…) pionero en muchos aspectos, se presenta así como fruto granado de la política lingüística panhispánica.“ Eben einer solchen panhispanischen Sprachpolitik, die sich „al servicio de la unidad del español sin menoscabo de su rica y fecunda variedad“ (www.asale. org) befindet, hat sich allerdings auch die RAE, deren Steckenpferd seit ihrer Gründung 1713 immer die Lexikographie gewesen ist, mittlerweile verschrieben. Auf ihrer Webseite (www.rae.es) verkündet die RAE: „La norma del español no tiene un eje único, el de su realización española, sino que su carácter es policéntrico.“ und gibt als ihr Ziel aus: „[...], hacer compatible la unidad del idioma con el reconocimiento de sus variedades internas […].“, was natürlich auch eine zunehmende Aufnahme der amerikanischen Spanischvarietäten beinhaltet. Es stellt sich angesichts dieser Entwicklung also die Frage, worin genau denn nun der ‚Pioniercharakter’ des DA liegt. Die panhispanische Ausrichtung als solche kann es jedenfalls nicht sein, denn diese liegt, wie bereits angedeutet, mittlerweile auch dem DRAE zugrunde. López Morales selbst verweist daher auch eher darauf, dass das DA im Unterschied zum DRAE, dem ‚klassischen’ Akademie-Wörterbuch, dessen 23. Auflage derzeit in Arbeit ist, und dem Diccionario Panhispánico de Dudas (DPD), das über Problemfälle der spanischen Sprache orientieren soll, ein ‚diccionario de uso y no normativo’ sei. Dies impliziert z.B. „que nuestro diccionario tiene muchas malas pala- Carolin Patzelt (Bochum) 34 bras“ (López Morales zit. n. EFE 2010, o.S. 1 ) - worin aber liegt der konkrete Wert eines solchen Wörterbuchs? Hat die bislang vorhandene und zunehmend plurizentrisch ausgerichtete Lexikographie der RAE bzgl. des Umgangs mit Amerikanismen Lücken hinterlassen? Falls ja, inwiefern kann das DA diese systematisch schließen, d.h. ist es - wie in der Aussage López Morales anklingt - als systematische Ergänzung zum DRAE und DPD konzipiert? Oder wird eine künftige weitere Öffnung der RAE hin zu einer ‚norma panhispánica’ das DA mittelfristig überflüssig machen? 2. Zur Typologie der Amerikanismen in DRAE und DA 2.1. Entwicklung der Amerikanismen im DRAE Quantitativ ist im DRAE, vor allem seit Gründung der ASALE 1951, ein stetiger Anstieg der Amerikanismen zu erkennen. Allein eine Gegenüberstellung der Auflagen von 1992 und 2001 zeigt, dass sich die Zahl der aufgenommenen amerikanischen Wortbedeutungen (‚acepciones americanas’ 2 ) mehr als verdoppelt hat: Abb. 1: amerikanische Wortbedeutungen im DRAE http: / / buscon.rae.es/ drae1/ html/ drae/ img/ drae/ variacionacepcionesamericanas.jpg 1 Diese Aussage des Generalsekretärs der ASALE wurde in zahlreichen Berichterstattungen über das DA zitiert, u.a. in einem Artikel der Agencia EFE (vgl. Literaturhinweise). 2 Gleiches gilt im Übrigen auch für die ‚marcas americanas’. Die Bedeutung des Diccionario de Americanismos 35 Und auch qualitativ betrachtet ist eine zunehmende Ausdifferenzierung feststellbar - das betrifft zunächst einmal die verschiedenen Arten von Amerikanismen 3 , die überhaupt im DRAE aufgenommen werden. Bis zu Beginn des 19.Jh. waren die lexikographischen Inventare des amerikanischen Spanisch bekanntlich keine eigenständigen Wörterbücher, sondern Glossare, die dem europäischen Leser ihm unverständliche Wörter und Wendungen des amerikanischen Spanisch erklären sollten. Allgemeine Amerikanismen-Wörterbücher, die sich durch stärkere Deskriptivität auszeichneten, kamen erst im 20.Jh. auf. Folglich wurden als ‚Amerikanismen’ lange Zeit in erster Linie Indianismen und Exotika registriert, d.h. Bezeichnungen von typisch amerikanischen Realitäten, die in Europa nicht existierten. Haensch (1990, 1752f.) spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer ‚Überrepräsentierung’ des Exotischen. Das hat sich mittlerweile geändert, wenngleich auch heute noch Exotika im DRAE auffallend gut vertreten sind, wie etwa folgendes Lemma - das auch im DA auftaucht - verdeutlicht: DRAE 2001 DA 2010 canjura 1. f. Hond. Bejuco leñoso, de dos a tres metros de longitud, de flores blancas o blanco amarillentas que producen semillas pequeñas de color negro brillante y muy venenosas. 2. f. Hond. Veneno muy activo que se extrae de la semilla de esta planta. 1. Ho, Ni. Bejuco leñoso, de hasta 3 metros de altura, de flores blancas o blanco amarillentas. 2. Ho, Ni. Veneno muy activo que se extrae de la semilla de la canjura. 3. Ho. Semilla de la canjura, de color negro brillante. Canjura ist ein auf Honduras beschränkter Regionalismus 4 , der trotz geringer arealer Verbreitung im DRAE aufgenommen worden ist. Stellvertretend für zahlreiche weitere Regionalismen verdeutlicht er, dass die Selektion von Amerikanismen nicht (nur) vom Grad ihrer geographischen Expansion abhängig zu sein scheint, sondern eher von ihrem Inhalt und Funktion. Dabei spielen die Exotika nach wie vor eine zentrale Rolle - 3 Für eine ausführliche Definition des Terminus ‚Amerikanismus’ sowie der verschiedenen darunter zu fassenden Kategorien verweise ich auf Gútemberg Bohórquez (1984). 4 Im Gegensatz zu Amerikanismen sind Regionalismen auf ein oder wenige Länder Hispanoamerikas beschränkt. Für ausführlichere Definitionen vgl. Gútemberg Bohórquez (1984). Carolin Patzelt (Bochum) 36 offenbar noch stark in Einklang mit dem traditionellen Ziel, den Europäern das Verständnis kulturspezifischer oder missverständlicher Amerikanismen zu erklären. Einen weiteren Typ diatopischer Markierung, der auf Verständnissicherung seitens der Europäer angelegt zu sein scheint, bilden Fälle, bei denen unterschiedliche Bedeutungen eines Wortes in unterschiedlichen Ländern zu Verwirrung führen können: Der mexikanische Bus, ‚el camión’, z.B. ist in Spanien ein LKW, ‚banqueta’ ist in Mexiko der Bürgersteig, in Spanien dagegen der Schemel. Während in den genannten beiden Fällen offenbar funktionale Motive im Vordergrund stehen, finden mittlerweile auch zunehmend Amerikanismen Aufnahme im DRAE, bei denen es sich um Gebrauchsgegenstände des Alltags handelt. Das betrifft vor allem Regionalismen, die in einem einzelnen Land gebräuchlich sind, während die anderen spanischsprachigen Länder eine einheitliche Bezeichnung haben (z.B. arg. ‚piloto’ für den Regenmantel oder mex. ‚gripa’). In der aktuellen 22. Auflage werden darüber hinaus auch vermehrt Wörter des alltäglichen Lebens markiert, die einfach viele verschiedene Bezeichnungen in der spanischsprachigen Welt haben (Bsp.: ‚chuleta’, der Spickzettel): Argentina Chile España México Venezuela piloto (Arg.) impermeable impermeable impermeable impermeable mamón papaya papaya papaya lechoso (DomRep, Ven.) gripe gripe gripe gripa (Col. y Méx.) gripe colectivo (Arg., Bol., Ec., Par., Pe.) micro autobús camión (Méx.) bus (coloq.) vereda (Am.Mer.) vereda (Am.Mer.) acera banqueta (Méx.) acera machete (Arg.) torpedo chuleta acordeón (Cuba, El Salv., Hond., Méx.) chuleta Insgesamt ist also eine zunehmende Sensibilisierung auch für nichtfunktionale Unterschiede innerhalb des Lexikons hispanophoner Länder und deren Akzeptanz erkennbar. Darüber hinaus zeichnet sich, wie die folgende Übersicht aufzeigt, auch eine zunehmende Präzisierung diatopischer Markierung ab - besonders ab der Auflage von 1970, und zweifelsohne als Resultat der 1951 gegründeten ASALE, die in den 60er Jahren Die Bedeutung des Diccionario de Americanismos 37 ihre Comisión Permanente ins Leben rief, eine Kommission zur Koordination der Zusammenarbeit zwischen den Akademien: DRAE 1970 DRAE 1992 DRAE 2001 chomba Chile 5 . Prenda de vestir… Arg. y Chile. Prenda de vestir… Arg., Chile y Par. Prenda... balay Am. Cesta de mimbre. Cuba. Plato de madera… Am. Cesta de mimbre. Col. Cedazo formado por un aro de bejuco grueso... Cuba y St.Dom. Plato de madera. Am. Cesta de mimbre. Col. y Cuba. Cedazo formado por un aro de bejuco grueso… chumpipe Guat. pavo chumpipe. pavo chompipe. C.Rica y Nic. chumpipe El Salv., Guat., Hond.y Méx. pavo. Chompipe. Costa Rica, El Salv., Hond. y Méx. pavo camión Vehículo de 4 o más ruedas… 1. Carro de 4 o más ruedas. 2. Automóvil. 3. En algunas partes designa también el autobús. Vehículo de 4 o más ruedas… Méx. Autobús colectivo 5 Einträge, davon der 5.: Arg. y Bol. Vehículo más pequeño que el ómnibus... 7 Einträge, davon der 7.: Arg., Bol. y Perú. Autobús. Arg., Bol., Ec., Par. y Perú. autobús Die zunehmende diatopische Präzisierung äußert sich, wie dieser Vergleich der DRAE-Auflagen von 1970, 1992 und 2001 zeigt, auf verschiedene Art und Weise. Teilweise werden nur die angegebenen Länder erweitert: Chomba, das Polohemd, z.B. wird 1970 nur für Chile angegeben, 1992 auch für Argentinien und 2001 schon für Argentinien, Chile und Paraguay. Teilweise bringen neue Länder auch neue acepciones (Bedeutungen) mit sich: Balay, der Weidenkorb, hat seit 1992 nicht nur in Cuba eine zusätzliche Bedeutung, sondern auch noch eine kolumbianische. Auch länderspezifische Variationen werden zunehmend berücksichtigt: Chumpipe, der Truthahn, ist in Costa Rica und Nicaragua seit 1992 und mittlerweile 5 Kursivsetzung hier und in den folgenden Überblickstabellen C.P. Carolin Patzelt (Bochum) 38 (seit 2001) auch für weitere Länder als ‚chompipe’ dokumentiert, d.h. graphische Variationen innerhalb der amerikanischen Varietäten werden zunehmend dokumentiert. Besonders interessant sind auch die beiden letzten Beispiele: ‚Camión’ (Bus) illustriert das Aufkommen amerikanischer Wortbedeutungen, die diatopisch zunächst nicht konkret markiert werden: In der Edition von 1992 heißt es zur Verbreitung nur ‚en algunas partes’, erst in der aktuellen 22. Auflage findet sich die diatopische Markierung Méx. Am Beispiel ‚colectivo’ (Bus) lässt sich ebenfalls eine wichtige Entwicklung aufzeigen, nämlich die von der bloßen Umschreibung amerikanischer Wortbedeutungen (1970: „vehículo que…“) hin zu einer direkten Gegenüberstellung mit der europäischen Bezeichnung (autobús). Insgesamt lässt sich also eine permanent zunehmende Sensibilisierung für Amerikanismen im DRAE feststellen. 2.2. Lücken im DRAE, im Vergleich zum DA Die deutlich erkennbare - quantitative wie qualitative - Aufwertung der Amerikanismen im DRAE offenbart nichtsdestotrotz verschiedene Lücken, die sich bei näherer Betrachtung in drei große Klassen einteilen lassen: 1.) Alltagsgegenstände mit verschiedenen Bezeichnungen in der Hispanophonie. Zwar haben Beispiele wie ‚chuleta’ gezeigt, dass diatopische Varietäten innerhalb der Hispanophonie zunehmend stärker fokussiert werden, es ergeben sich hier jedoch (noch) vielfältige Lücken, wie exemplarisch an zwei Beispielen illustriert werden soll: Spanien Karibik Mexiko Kolumbien Venezuela Peru Chile Argentinien Uruguay autobús guagua Can., Ant. camión Méx. bus microbús micro colectivo Arg., Bol., Ec., Par, Perú bolígrafo bolígrafo pluma atómica Méx. bolígrafo lapicero Costa Rica, Guat., Hond. lápiz de pasta birome Arg., Par., Ur. Wie aus dieser Übersicht hervorgeht, ist die diatopische Markierung der spanischen Bezeichnungen für ‚Bus’ und ‚Kuli’ lückenhaft: Das in Chile Die Bedeutung des Diccionario de Americanismos 39 verwendete ‚micro’ für Bus kommt z.B. im DRAE ebenso wenig vor wie ‚lápiz de pasta’ für Kuli; dagegen sind das europäische autobús/ bolígrafo ebenso enthalten wie das karibische guagua, das mexikanische camión/ pluma atómica oder der in den Rio de la Plata-Staaten geläufige colectivo/ birome. 6 2.) Auch die Aufnahme von amerikanischen Kulturspezifika und nur in Amerika gebräuchlichen Lexemen ist im DRAE - ein Vergleich mit dem DA verdeutlicht dies - meist sehr lückenhaft: DRAE 2001 DA 2010 chipear coloq. Chile. Pagar al contado. Bo. Robar cosas de poco valor. Bo. Engañar, estafar a alguien. Ch. Pagar al contado. pop. PR. En carpintería, desbastar con azuela. engorilarse coloq. Chile. Emborracharse. Mx, Cu, Ve, Ec, Pe. Enojarse mucho. Bo, Ch. Emborracharse. Während bei ‚engorilarse’ der diatopische Zusatz Bo. fehlt, sind in beiden Beispielen, im Vergleich zum DA, jeweils nur Teilbedeutungen aufgeführt: Im ersten Beispiel fehlen die in Bolivien und Puerto Rico geläufigen Bedeutungen, im zweiten Beispiel die gleich in mehreren hispanoamerikanischen Ländern verbreitete Bedeutung von ‚engorilarse’ als ‚enojarse mucho’. 3.) Last but not least fehlt im DRAE auch häufig die Angabe spezifisch amerikanischer Bedeutungen bei allgemein-gebräuchlichen Lexemen: So taucht etwa das Verb ‚pararse’ in der Bedeutung des peninsularen ‚ponerse de pie’ („aufstehen“) gar nicht im DRAE auf, obwohl es so in ganz Lateinamerika verbreitet ist. Es stellt sich angesichts der beschriebenen Desiderata nun zum einen die Frage, inwiefern das DA die drei angesprochenen Bereiche systematisch aufzufüllen vermag, zum anderen aber auch, inwiefern es sich im DRAE um vorübergehende oder systematische, dauerhafte Lücken handelt. Letzterer Frage soll im Folgenden auf den Grund gegangen werden. 6 Darüber hinaus zeigt sich anhand dieser Beispiele eine nach wie vor sehr eurozentrische Ausrichtung des DRAE: Die jeweils in Spanien gebräuchlichen Begriffe sind diatopisch nicht markiert, d.h. sie werden als ‚Standard‘ betrachtet. Obwohl sich hier in den letzten beiden Auflagen des DRAE schon einiges getan hat, schreitet die diatopische Markierung der peninsularen Varietäten nur langsam voran. Im DRAE von 1992 finden sich gerade einmal 12 sog. españolismos, im DRAE von 2001 stellt Lebsanft (2007, 240) einen Anstieg auf gerade mal 39 fest. Carolin Patzelt (Bochum) 40 3. Selektion und Darstellung von Amerikanismen im DRAE und DA 3.1. Vermutlich vorübergehende Unterschiede Wenngleich Überlegungen zur Dauerhaftigkeit von Unterschieden natürlich spekulativ bleiben, so gibt es doch entsprechende Hinweise in der Konzeption der Wörterbücher. Auffällig bei spezifisch amerikanischem Vokabular ist z.B., dass im DRAE, im Vergleich zum DA, häufig nur ganz bestimmte Länder mit ihren regionalspezifischen, oft durchaus vielfältigen Bedeutungen aufgeführt sind. So etwa im folgenden Beispiel, das für ‚bolo’ zwar die mexikanischen, argentinischen und kubanischen Bedeutungen anführt, die im DA noch zusätzlich vorhandenen Markierungen zu Bolivien und Puerto Rico (fett gedruckt) jedoch komplett auslässt: DRAE 2001 DA 2010 bolo 1. adj. Am. Cen. y Méx. ebrio ( embriagado por la bebida). 2. adj. Cuba. Dicho de un ave, especialmente de un gallo o gallina: Que no tiene cola. 15. m. Arg. En los espectáculos, papel menor, de cortas o escasas intervenciones. 16. m. Cuba. Trozo de madera sin labrar, largo y grueso, preparado para ser aserrado. 17. m. Méx. Participación de un bautizo. 18. m. Méx. Monedas que el padrino de un bautizo regala a los chiquillos presentes. 19. m. coloq. Ven. bolívar. 1. EU: SO, Mx. Puñado de monedas de bajo precio (…). 2. Mx. Tarjeta de invitación (…). 3. Mx. Pequeño objeto de módico precio (…). 4. Mx, Ho, ES, Ni, Cu, RD. Gran cantidad de personas (…). 5. Mx, Bo. Dosis de medicina líquida (…). 6. Pe, Bo. Bola pequeña numerada que se usa en los sorteos. 7. Bo. Papel pequeño numerado que se usa para sortear (…). 8. PR. Número de lotería. 9. Ar. En teatro, televisión o cine, papel menor (…). 10. Pe, Bo. Pequeña bola hecha con hojas de coca (…). 11. Ve. Machete de doble filo (…). 12. Bo. Golosina (…). 13. Bo. Yogur congelado (…). 14. Cu. Trozo de madera (…). 15. PR. Píldora que se da a los reses (…). Da hier - wie auch in weiteren Fällen - nicht nur einzelne Bedeutungen einer bestimmten Nation ausgelassen wurden, sondern die betreffende Nation in der Regel im gesamten Eintrag fehlt, ist eine gewisse System- Die Bedeutung des Diccionario de Americanismos 41 haftigkeit unverkennbar. Allerdings ist sicherlich nicht von einem bewussten Verzicht auf z.B. bolivianische acepciones auszugehen, sondern es liegt die Vermutung nahe, dass aus den betreffenden nationalen Akademien einfach noch keine entsprechenden Informationen zur Verwendung des Lemmas im Land weitergegeben wurden. Dazu passt auch, dass Bolivien und vor allem Puerto Rico bezeichnenderweise zu denjenigen lateinamerikanischen Akademien gehören, die bislang verhältnismäßig wenig landestypische Regionalismen ins DRAE haben einfließen lassen. Die folgende Grafik vergleicht die Anzahl der im DRAE von 1992 und 2001 aufgenommenen marcas americanas nach Ländern: Abb.2: marcas americanas nach Ländern http: / / buscon.rae.es/ drae1/ html/ drae/ img/ drae/ marcasamericanaspaises. jpg Sobald die betreffenden Akademien also die regionalspezifischen Bedeutungen ‚nachreichen’, ist davon auszugehen, dass diese auch Eingang ins DRAE finden werden. Die betreffenden Lücken im DRAE werden also wahrscheinlich im Laufe der Zeit - abhängig von der Aktivität der nationalen Akademien - geschlossen werden. Gleiches gilt auch für Lemmata Carolin Patzelt (Bochum) 42 wie ‚canoa’ oder ‚concho’, die v.a. im DA über eine ganze Bandbreite von Bedeutungen verfügen: DRAE 2001 DA 2010 canoa 1. f. Embarcación de remo muy estrecha, ordinariamente de una pieza, sin quilla y sin diferencia de forma entre proa y popa. 2. f. Bote muy ligero que llevan algunos buques, generalmente para uso del capitán o comandante. 3. f. sombrero de canoa. 4. f. Am. Canal de madera u otra materia para conducir el agua. 5. f. Chile. Vaina grande y ancha de los coquitos de la palmera. 6. f. Chile y C. Rica. Canal del tejado, que generalmente es de cinc. 7. f. Chile, Col., Cuba, Hond. y Nic. Especie de artesa o cajón de forma oblonga que sirve para dar de comer a los animales y para otros usos. 8. f. Chile. Especie de cubierta de plástico que sirve para cubrir los tubos fluorescentes. 1. CR, Ve, Ch, Mx, Ho, Ni, Pa, Cu, PR, Co. rur. Recipiente similar a un cajón, más largo que ancho. 2. Cu, Mx, Ni. Cualquier tipo de canal. 3. Pe, Ch. Canal abierto que conduce agua (…). 4. Ho, ES: O, Ni. Tabla ahuecada de un tronco de madera (…). 5. Ch. Vaina leñosa (…). 6. Ch. Canal del tejado de cinc (…). 7. Ch. Cubierta de plástico (…). 8. Ch. Canal abierto (…). 9. CR. Conducto (…) que recoge y vierte el agua de lluvia (…). 10. CR. En la producción de panela, cajón de madera (…). 11. Cu, RD, PR, Ve, Bo, Ar, Ur. Zapato muy grande. 12. PR. Plato compuesto por un plátano (…). concho 1. adj. Ec. Del color de las heces de la chicha o de la cerveza. Una mula concha. 2. m. Am. Poso, sedimento, restos de la comida. 3. R. Dom. Coche de servicio público con ruta determinada que admite a muchos pasajeros. 4. m. R. Dom. taxi ( automóvil de alquiler). 1. Pa, Pe, Ch, Ec, Bo. pop. Sedimento de una bebida. 2. Pa, Ch. Restos de comida de un envase. 3. Co: C, O. En la elaboración de la chicha, líquido espeso (…). 4. CR: NO, Pa. Capa de alimento tostado (…). 5. Pe, Bo, Ch. Hijo último cuyos hermanos son bastante mayores que él. RD. Vehículo de transporte Die Bedeutung des Diccionario de Americanismos 43 público urbano de pasajeros. RD. Taxi, automóvil de alquiler. Auch hier deutet vieles darauf hin, dass die Information über einen existierenden Amerikanismus von einer bestimmten nationalen Sprachakademie kommt, die zunächst die in ihrem Land gebräuchlichen Bedeutungen angibt. So existieren für canoa gleich fünf amerikanische Einträge im DRAE, die bis auf eine gesamtamerikanische Bedeutung auffälligerweise allesamt aus Chile stammen. Es ist daher davon auszugehen, dass die chilenische Akademie das Lemma canoa mit seinen verschiedenen, aktuell in Chile gebräuchlichen Bedeutungen bereitgestellt hat, und weitere Bedeutungen aus weiteren spanischsprachigen Ländern im Laufe der Zeit ergänzt wurden bzw. immer noch werden. 7 Auch im Falle von concho existieren bislang nur die Wortbedeutungen aus der Dominikanischen Republik. Mit anderen Worten handelt es sich hier also um Lücken im DRAE, die schrittweise geschlossen werden dürften. Betroffen sein dürften von diesen ‚Lückenschließungen’ vor allem Alltagsbegriffe wie die oben genannten micro und lápiz de pasta aus Chile, aber auch umgangssprachliche Begriffe, die bekanntlich erst seit kurzem schrittweise Eingang ins DRAE finden. So befindet sich unter den im DRAE aktuell vorgenommenen Änderungen für die 23. Auflage u.a. der folgende Eintrag: campana. Ar. Ladrón que permanece fuera del lugar del robo para alertar a sus cómplices. Diesen Eintrag verzeichnet das DA mit den diatopischen Markierungen ‚Mx, ES, Ve, Ec, Pe, Bo: C, O, Py, Ar, Ur‘. Offenbar wurde das Lemma also von Vertretern der argentinischen Akademie ins DRAE eingebracht, obwohl es auch in vielen anderen Ländern geläufig ist. Es ist davon auszugehen, dass die diatopische Markierung im DRAE auch in solchen Fällen mittelfristig weiter spezifiziert wird. 3.2. Vermutlich dauerhafte Unterschiede Bleiben langfristig betrachtet also überhaupt noch Unterschiede zwischen DRAE und DA? Es ist davon auszugehen, dass ja, denn es gibt tatsächlich 7 Dabei tendiert das DRAE dazu, ähnliche Wortbedeutungen verschiedener Länder zusammenzufassen (Chile y Costa Rica: canal del tejado), während das DA hier separate Einträge aufweist (Chile: canal del tejado de cinc, Costa Rica: conducto que recoge y vierte el tejado). Dieser Unterschied hängt offenbar mit der in Kapitel 4 näher thematisierten, komplementären Ausrichtung beider Wörterbücher zusammen. Carolin Patzelt (Bochum) 44 Lücken bzw. Abweichungen im DRAE, die prinzipiell an die Ausrichtung des Wörterbuchs gekoppelt und kein vorübergehender ‚work in progress‘-Zustand zu sein scheinen. Grundsätzlich existieren viele Lemmata sowohl in Spanien als auch in Lateinamerika. Nur selten jedoch werden sie und ihre Bedeutungen, wie das Beispiel dormilona zeigt, von DRAE und DA in identischer Form aufgenommen: DRAE 2001 DA 2010 Termini mit unterschdl. Bedeutung in Spanien und Lateinamerika, Bsp.: dormilona coloq. muy inclinado a dormir Pájaro de unos 17 cm de longitud, de color ceniciento oscuro y cola larga que mantiene en continuo movimiento. Habita en la costa americana del Pacífico, desde Magallanes hasta el Perú. Arete, pendiente con un brillante o una perla. Butaca para dormir la siesta. Am. Cen., Cuba y R. Dom. sensitiva ( planta mimosácea). (seit 23.Ed.) Ven. Camisa de dormir de mujer. (seit 23.Ed.) Pe. Pendiente largo de pinza (…). Mx, Gu, Ho, ES, Ni, Pa, Cu, RD, Co. Planta de (…) Co: N, Ve. Camisa de dormir de mujer. Pa, RD. Broche pequeño con filigranas (…). Ur. juv. Actividad recreativa que consiste en pasar la noche junto a amigos y compañeros. Pa. Mujer que adormece a los hombres para robarles. delinc. Wie diese Gegenüberstellung zeigt, sind lediglich zwei Einträge in DRAE und DA identisch (fett gedruckt), und das auch erst als ganz aktuelle Änderung für die noch nicht erschienene 23. Auflage. 8 Dabei handelt es sich zum einen um spezifisch amerikanische Vegetation (Pflanzenarten), zum anderen um alltägliche Gebrauchsgegenstände (ein Nachthemd). Abgesehen von diesen (wenigen) Fällen beschränkt sich das DA tatsächlich, getreu seiner Konzeption, auf die Darstellung regionalspezifischer Soziolekte, z.B. Bedeutungen aus der Jugend- oder Gaunersprache. Auch international verbreitete kulturspezifische Amerikanismen (chocolate etc.) nimmt das DA nur mit umgangssprachlichen, regionalspezifischen Neu- 8 Wenngleich auch hier die diatopischen Markierungen im DA deutlich präziser sind. Die Bedeutung des Diccionario de Americanismos 45 Bedeutungen auf, so dass sich auch hier gegenüber dem DRAE letztlich komplett komplementäre Einträge ergeben: DRAE 2001 DA 2010 regionalismos de cosa, international verbreitet, Bsp.: chocolate Pasta hecha con cacao y azúcar molidos, a la que generalmente se añade canela o vainilla. Bebida que se hace de esta pasta desleída y cocida en agua o en leche. coloq. hachís. Mx. Ilegal. pop. Ec, Ch, Ur. Sangre. Bo. En el ejército, ejercicio físico de castigo que consiste en (…). Ebenso werden ausschließlich in Hispanoamerika geläufige Kulturspezifika, sofern sie (bereits) im DRAE aufgenommen sind, anders als im DA dargestellt: DRAE 2001 DA 2010 regionalismos de cosa, typisch in Hispanoamerika, Bsp.: caite Am. Centr. cacle (sandalia de cuero) Gu, Ho, ES, Ni. Calzado similar a una sandalia (…). CR. Zapato, en especial el viejo y desgastado. Pop. ES. Oreja de una persona. Neben im DRAE gar nicht vorhandenen Bedeutungen (CR, ES), wird caite hier diatopisch eher unspezifisch als ‚mittelamerikanisch’ eingeordnet und als ‚sandalia de cuero’ bezeichnet, während das DA nicht nur diatopisch spezifischer ist (Gu, Ho, ES, Ni), sondern auch die sachliche Vergleichbarkeit mit der europäischen Sandale relativiert (‚calzado similar a una sandalia’). Das stimmt mit der bereits zu ‚canoa’ gemachten Beobachtung überein, dass das DA feine sachliche Unterschiede zwischen Wortbedeutungen verschiedener Länder differenzierter aufführt; auch bei Lemmata wie dem bereits erwähnten concho fällt auf, dass ähnliche Bedeutungen (Essensreste, Satz im Glas etc.) im DRAE einfach unter einem unspezifisch als ‚Am.’ markierten Eintrag zusammengefasst werden, während das DA hier die einzelnen Bedeutungsnuancen spezifischen Ländern oder sogar Regionen zuordnet. Auch spanische Archaismen, die in Amerika in verschiedener Bedeutung überlebt haben, finden sowohl ins DRAE als auch ins DA Eingang, allerdings einmal mehr in überwiegend komplementärer Weise, wie das Beispiel ‚alberca’ zeigt: Carolin Patzelt (Bochum) 46 DRAE 2001 DA 2010 spanische Archaismen, die in Amerika überlebt haben Bsp.: alberca 1. f. Depósito artificial de agua, con muros de fábrica, para el riego. 2. f. poza ( balsa para empozar el cáñamo). 3. f. Méx. Piscina deportiva. Mx, Gu, Ho, Ni, Pa (rur), Bo. Estanque para la natación y otros deportes. Co. Pequeño depósito de agua que forma parte del lavadero de una casa. Bo. Salutación en la que las bandas folclóricas (…). Während das DRAE hier primär die traditionelle, archaische Bedeutung eines Lemmas wiedergibt, nimmt das DA vor allem soziolektale und regionale amerikanische Bedeutungen auf. Amerikanische Neuschöpfungen und Lehnwörter aus dem Englischen, die das US-Spanische verwendet, bilden die beiden einzigen Gruppen von Amerikanismen, die das DRAE nach wie vor systematisch ausschließt: DRAE 2001 DA 2010 amerikan. Neuschöpfungen Bsp.: sifrino % Referido a persona, lechuguina, de gustos sofisticados (…). Lehnwörter/ Lehnübersetzungen a. d. Englischen Bsp.: default % Ch, Ec. En economía, cese en el pago de los intereses y el capital de una deuda. Bereits auf den ersten Blick offenbaren diese Beispiele also, dass der Unterschied zwischen DRAE und DA offenbar nicht in der Vielfalt verschiedener Amerikanismen-Typen liegt, sondern vielmehr in der Art ihrer Darstellung. Und die wird, so wurde deutlich, systematisch unterschieden: Die komplette Auslassung englischer Calques und amerikanischer Neuschöpfungen ist sicherlich ebenso wenig ein Zufall wie die aufgezeigten Unterschiede in Selektion und Darstellung der in beiden Wörterbüchern vorhandenen Amerikanismen. Die Gründe für diese systematischen Unterschiede sind im Folgenden zu beleuchten. Die Bedeutung des Diccionario de Americanismos 47 4. Systematische Unterschiede in der Konzeption von DRAE und DA 4.1. Präskriptive vs. deskriptive Ausrichtung Den Anfang soll dabei der Umgang mit Anglizismen machen, da hier nicht nur Unterschiede in der Darstellung, sondern auch in der Aufnahme von Lemmata existieren. Dabei ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen semantischen Calques, wie sie speziell im US-Spanischen gehäuft vorkommen, und international üblichen Lehnwörtern. Erstere nämlich bleiben im DRAE strikt unberücksichtigt, wie es der traditionell puristisch-normativen Sprachpolitik der RAE entspricht. Als eines von vielen Beispielen sei hier ‚carpeta’ angeführt, das insgesamt betrachtet auch im DRAE schon sehr differenziert vertreten ist: DRAE 2001 DA 2010 carpeta 1. f. Útil de escritorio que consiste en una pieza rectangular, generalmente de cartón o plástico, que, doblada por la mitad [...], sirve para guardar o clasificar papeles, dibujos o documentos. 2. f. Cartera grande [...], que sirve para escribir sobre ella y para guardar dentro papeles. 3. f. Factura o relación detallada de los valores o efectos públicos o comerciales que se presentan al cobro, al canje o a la amortización. 4. f. Manta, cortina o paño que colgaba en las puertas de las tabernas. 5. f. Cubierta de badana o de tela que se ponía sobre las mesas y arcas para aseo y limpieza. 6. f. Arg., Col. y Ur. Tapete de adorno o protección que se coloca sobre algunos muebles (...). 7. f. Arg., Par. y Ur. Tapete verde, que cubre la mesa de juego. 1. Mx, Pa, Co, Ch, Py, Ar, Ur. Cubierta de tela o tejido que se pone de adorno (…). 2. Ch, Py, Ar, Ur. Tapete verde, que cubre la mesa de juego. 3. Ni, Ar. Mantel individual. 4. EU, Ch. Alfombra con que se cubre el piso de una habitación. 5. Ar, Ur. Habilidad o experiencia para desenvolverse en el trato con los demás o en ciertas situaciones. pop. 6. Cu. Mesa o escritorio del maestro. 7. Cu. En el vestibulo de un hotel, mostrador donde se atiende al cliente o a las visitas. 8. Ho. Mesa en donde se tiran los dados. rur. RD. Molestia. Carolin Patzelt (Bochum) 48 País % Casos ESPAÑA 69.64 195 CHILE 15.00 42 ARGENTINA 6.78 19 MÉXICO 3.92 11 VENEZUELA 1.07 3 BOLIVIA 0.71 2 ECUADOR 0.71 2 URUGUAY 0.71 2 COLOMBIA 0.35 1 Otros 1.07 3 País % Casos ESPAÑA 72.00 18 CHILE 12.00 3 EE. UU. 12.00 3 PANAMÁ 4.00 1 Quelle: http: / / corpus.rae.es/ creanet.html Camping Cricket 8. f. coloq. Arg. y Ur. Habilidad o experiencia en el trato con los demás. 9. f. Cuba. Oficina de recepción de un hotel. Während hier die spezifisch amerikanischen Bedeutungen von ‚carpeta’ überwiegend Eingang ins DRAE gefunden haben, bleibt das USspanische ‚alfombra’ außen vor - eine Praktik, die sich durch das gesamte DRAE zieht und offensichtlich System hat. Bei international verbreiteten Lehnwörtern dagegen ist in jüngerer Zeit eine zunehmende Toleranz der RAE feststellbar; so finden sich im DRAE mittlerweile Anglizismen wie noquear, réferi, caddie, catering, cricket oder camping. Dies führt natürlich zu der Frage: Macht eine zunehmende Tolerierung von Anglizismen im DRAE das DA mittelfristig überflüssig? - Dieser Eindruck trügt bei näherem Hinsehen, denn die vermehrte Aufnahme von international gebräuchlichen Anglizismen wie cricket oder camping darf nicht automatisch als Zugeständnis der RAE an die amerikanischen Akademien oder das amerikanische Spanisch gewertet werden. Ein Blick in die Datenbank CREA nämlich verrät, dass die betreffenden Anglizismen vor allem in einem Land dokumentiert wurden - in Spanien: Abb.3: Frequenz der Anglizismen camping und cricket in CREA Die Aufnahme von Anglizismen alleine bedeutet also noch kein Abrücken von der traditionell eurozentrierten Ausrichtung der RAE. Gleiches gilt auch für die Akzeptanz der englischen Originalgraphie, die bekannt- Die Bedeutung des Diccionario de Americanismos 49 lich im amerikanischen Spanisch eine weitaus höhere Akzeptanz und Verbreitung genießt als in Europa. Beispiele wie caddie oder camping legen auch hier zunächst eine trügerische Öffnung der RAE nahe. - Lebsanft (1998) hat die zunehmende Übernahme der Originalschreibweise bei englischen Lehnwörtern als Zugeständnis der RAE an ihre amerikanischen Schwesterakademien gewertet. Meiner Meinung nach ist dieses Procedere allerdings eher der Tatsache geschuldet, dass öffentliche Organe wie die Presse häufig die englische Originalschreibweise übernehmen, z.B.: Hombre distante y de pocas palabras, disciplinado y desde niño enamorado del golf. Afirma estar orgulloso de haber sido caddie durante ocho años y de haber empezado desde abajo. [La Prensa, España, 4.6.1990] Beispiele wie dieses - caddie - kommen in der von der RAE erstellten Datenbank CREA sehr zahlreich vor und stammen, lässt man sich in CREA die entsprechenden Quellen anzeigen, ausnahmslos aus der Presse. Die Entlehnungen sind also wohl v.a. durch die Presse in Originalschreibweise geläufig bzw. werden von Nutzern des DRAE auch entsprechend nachgeschlagen. Der Umgang mit der englischen Originalgraphie ist daher mitnichten als Abrücken der RAE von ihrem Eurozentrismus zu werten, sondern eher als gesteigertes Bewusstsein für den realen alltäglichen Sprachgebrauch. Das ist zwar auch ein entscheidender Wandel, wenn man bedenkt, dass die RAE immer wieder für ihre künstlichkonservative Sprachnorm kritisiert worden ist. Allerdings ändert das offenbar neue Bewusstsein für den realen Sprachgebrauch nichts an der nach wie vor deutlich präskriptiven Ausrichtung der RAE und ihrer Lexikographie und führt stattdessen zur Entwicklung entsprechender Normierungsstrategien: Auf die Aufnahme des reellen Sprachgebrauchs im DRAE folgt ein präskriptives ‚Zurechtrücken’ im DPD, wie die folgende Gegenüberstellung zeigt: DRAE 2001 DPD 2005 Caddie. (voz inglesa) Persona que lleva los palos a un jugador de golf. Cadi. Adaptación gráfica propuesta para la voz inglesa caddie o caddy. Su plural es cadis. Catering. (voz inglesa) Servicio de suministro de comidas y bebidas… Cáterin. Adaptación gráfica propuesta para la voz inglesa catering. Vor diesem Hintergrund ist auch das kategorische Auslassen semantischer Calques bzw. des nordamerikanischen Spanisch kein Zufall, son- Carolin Patzelt (Bochum) 50 dern Teil der präskriptiven Ausrichtung der von der RAE vorgegebenen Lexikographie: Anglizismen werden, wenn sie (in Am.) weit verbreitet sind - man möchte fast sagen ‚zähneknirschend’ - ins DRAE aufgenommen, wobei insbesondere das DPD dann in der Regel den Anglizismus und somit indirekt auch das amerikanische Spanisch tadelt: DRAE 2001 DPD 2005 DA 2010 Noquear. (del inglés to knock out). Dep. En el boxeo… Noquear. Adaptación del inglés to knock out. Knockear. (del inglés to knock out) réferi o referí. Am. árbitro. Réferi o referí. Adaptación gráfica de la voz inglesa referee que se usa con frecuencia en el español americano. […] Aunque se admite el uso del anglicismo adaptado, se recomienda usar con preferencia el equivalente español árbitro. Referee. EU, Mx, Ni, Cu, PR, Pe, Ar, Ur. árbitro Referí. Cu, Pe, Bo, Ar, Ur. Réferi. Mx, Ho, ES, Pa, Co, Ve, Bo. Dagegen führt das DA Anglizismen in ihrer Originalschreibweise an - ein bei Entlehnungen ins amerikanische Spanisch üblicher Vorgang - und wertet das amerikanische Spanisch damit in zweierlei Hinsicht auf: Zum einen wird die amerikanische Graphie englischer Lehnwörter akzeptiert, zum anderen werden die Anglizismen als solche auch wertfrei, d.h. rein deskriptiv aufgeführt. 9 Der deskriptive Charakter des DA äußert sich auch ganz deutlich im Umgang mit semantischen Calques, also ‚Lehnübersetzungen’ aus dem Englischen, wie am Beispiel récord nachvollzogen werden kann: DRAE 2001 DPD 2005 DA 2010 Récord. (del inglés record). Resultado máximo o mínimo en otras actividades. Récord. Voz tomada del inglés, „marca o mejor resultado en la práctica de un deporte“. […] Es calco rechazable del inglés el uso de récord con el sen- Récord. (del inglés record) EU, Mx, Ni, CR, Cu… Hoja de servicios que detalla una trayectoria profesional. 9 Durch diese deskriptive Darstellung wird auch die traditionelle Dichotomie ‚Spanien = spanische Graphie der Lehnwörter, Hispanoamerika = englische Originalgraphie‘ aufgebrochen. Das DA präsentiert zudem verschiedene graphische Varianten innerhalb Hispanoamerikas. Die Bedeutung des Diccionario de Americanismos 51 tido de „registro escrito o historial“, que se da en México, Centroamérica, Puerto Rico, Venezuela y el Ecuador. PR. Expediente de un delincuente. Während das DA gerade im peninsularen Spanisch nicht bekannte Bedeutungen, also Calques enthält - in diesem Beispiel die Bedeutung von récord als ‚Akte’ -, werden diese im DRAE überhaupt nicht aufgenommen - hier wird récord nur als ‚Rekord’ angegeben -, während sie im DPD zwar aufgenommen werden, aber als englische Calques dem amerikanischen Spanisch zugewiesen und als nicht akzeptabel getadelt werden. Dadurch wird das amerikanische Spanisch als vom Englischen korrumpiert abgewertet; das 1990 von Christian Schmitt geprägte Schlagwort des ‚Etikettenschwindels’ gilt letztlich bis heute, denn das amerikanische Spanisch wird zwar im DRAE berücksichtigt, im Gegensatz zum europäischen Spanisch allerdings nicht in deskriptiver, sondern in (negativ) präskriptiver Darstellung. Die spezifisch amerikanischen Bedeutungen eines panhispanisch verwendeten Lemmas werden also vermutlich nur dann im DRAE ergänzt werden, wenn sie keine Lehnübersetzungen aus dem Englischen oder anderen Kontaktsprachen des Spanischen darstellen. Das DA bildet hier einen wichtigen Gegenpol zum DRAE, denn in ihm geht es tatsächlich um die Dokumentation der diversidad des amerikanischen Spanisch, was gerade auch Lehnübersetzungen und andere natürliche Resultate von Sprachkontakt einschließt. So wird v.a. das US- Spanische aufgenommen - ein wichtiger Punkt, in Anbetracht der Tatsache, dass die USA mittlerweile das Land mit der zweithöchsten Anzahl an Spanischsprechern sind -, es ordnet die diatopischen Markierungen nach der Gebrauchsfrequenz in den einzelnen Ländern, es gibt diastratische und diaphasische Markierungen sowie graphische Variationen an, es nimmt Interjektionen und Kollokationen auf, z.B.: ¡calmantes! (Mx, Gu, ES, Ni) Ruhe! ¡balín! (Gu) Na und? ! ¡cojollo! (Cu, RD) Och ne! ¡fu! (Ec) Was du nicht sagst! ¡hueva! (Pa, Ur) So ein Mist! ¡lleva! (Ec) Das kann doch nicht sein! ¡quémala! (PR) Schlag ein! ¡tuy! (Ar: NO) Was für eine Hitze! ¡ujú! (Ni, Cu, RD, PR, Ve) Einverstanden! ¡zafa! (Pa, RD, Pe) Bleib mir bloß vom Leib (mit dem)! Carolin Patzelt (Bochum) 52 und gibt so den tatsächlichen Sprachgebrauch der hispanoamerikanischen Länder - deskriptiv, nicht präskriptiv, wie das DPD - wieder. Die Dichotomie ‚präskriptiv - deskriptiv’ unterscheidet also DRAE/ DPD und DA systematisch voneinander. 10 4.2. Passiver vs. aktiver Sprachgebrauch als Grundlage Die Dichotomie ‚präskriptiv vs. deskriptiv’ erklärt vor allem systematische Auslassungen, die das DRAE gegenüber dem DA aufweist. Zwei andere wichtige Unterschiede erklärt sie allerdings noch nicht: Zum einen wurde eine Tendenz des DRAE aufgezeigt, diatopische Markierungen länderübergreifend und häufig vergleichsweise unspezifisch zu setzen. Zum anderen fielen auch bereits Unterschiede in der inhaltlichen Präsentation der Lemmata auf, z.B. die im DRAE als panamerikanisch markierte Bedeutung von concho als ‚poso, sedimento, restos de la comida’, während das DA hier verschiedene (Teil-)Bedeutungen verschiedenen Ländern zuweist. Ein systematischer Vergleich von DRAE und DA hinsichtlich solcher Einträge offenbart eine Ausrichtung des DRAE, die gar nicht primär an diasystematischen Spezifizierungen interessiert scheint, wie am Beispiel des Lemmas papaya deutlich wird: DRAE 2001 DA 2010 Papaya. 1. fruto del papayo, generalmente de forma oblonga, hueco y que encierra las semillas en su concavidad. La parte mollar, semejante a la del melón, es amarilla y dulce, y de él se hace, cuando verde, una confitura muy estimada. Papaya. 1. CR, Pa, Cu: E, PR, Co, Pe, Bo, Ch. Papayo, fruto. 2. Gu, ES, CR, Cu: E, Co. Papayo, árbol. 3. Co: N. cola, trasero. euf; pop. 4. ES. Cabeza de persona. 5. Pe: SO. Cántaro de cerámica aparentemente cerrado para conservar fresca el agua. rur. 6. Bo: O. Bebida gaseosa de cualquier 10 Wobei ‚präskriptiv‘ nicht automatisch mit ‚eurozentrisch‘ gleichgesetzt werden darf. Die Orientierung des DRAE und DPD an der habla culta, dem ‚guten‘ Sprachgebrauch, setzt zur Zeit zwar noch das europäische Spanisch als ‚Standard‘, allerdings sind hier stete Veränderungen hin zu einer plurizentrischen Sprachkultur erkennbar. Die langsam aber stetig aufkommende Markierung von españolismos wurde bereits angesprochen. Das europäische Spanisch dient also zunehmend als Vergleichsgröße, nicht mehr als Vorbild für die amerikanischen Varietäten. Während die eurozentrische Ausrichtung also offenbar in Auflösung begriffen ist, ist der präskriptive Charakter ein fester und wohl dauerhafter Bestandteil der Konzeption von DRAE und vor allem DPD. Die Bedeutung des Diccionario de Americanismos 53 6. Bo: O. Bebida gaseosa de cualquier tipo. pop. 7. Bo.Sulfato de cocaína de forma más o menos esférica. drog. Einer längeren, enzyklopädieähnlichen Erläuterung im DRAE stehen hier viele kurze Einträge im DA gegenüber, die v.a. auch umgangssprachliche Bedeutungen auflisten (‚papaya’ = Hintern, Kopf). Diastratische und diaphasische Markierungen sind fast nur im DA vorhanden: Angaben wie ‚pop.’, ‚drog.’ oder ‚rur.’ sind hier sehr zahlreich, während sie im DRAE fehlen. Für den aktiven Sprachgebrauch der betreffenden Lemmata sind solche Informationen aber natürlich wichtig. Auch die Darstellung der Verbreitung in einzelnen Ländern ist im DA viel präziser, es wird sogar nach Regionen innerhalb eines Landes unterschieden (Pe: SO). Neben dem Umgang mit diatopischen Markierungen ist ein weiterer Unterschied zwischen DRAE und DA aufschlussreich: Das DRAE erläutert regionalismos de cosa, d.h. speziell den amerikanischen Lebensraum betreffendes Vokabular stärker auf sachlich-inhaltlicher Ebene: Lemma DRAE 2001 DA 2010 caburé Buho pequeño que habita en zonas boscosas del Paraguay y de la Argentina. Py, Ar, Ur. Ave rapaz nocturna… cacalichuche Árbol americano de las Apocináceas, de 8 metros de altura… Mx, Gu, Ho. Árbol de hasta 8 m de altura… calate Enfermedad tropical. Ho, ES. Enfermedad. Während typisch amerikanische Speisen, Pflanzen oder Tiere im DA neutral erläutert werden - ‚caburé’ = Vogel, ‚cacalichuche’ = Baum oder ‚calate’ = Krankheit -, gibt das DRAE hier stets noch eine geographische Einordnung - der ‚caburé’ kommt in den Wäldern Paraguays und Argentiniens vor, beim ‚cacalichuche’ handelt es sich um einen amerikanischen Baum, ‚calate’ ist eine tropische Krankheit -; manchmal erfolgt auch eine enzyklopädieähnliche Erläuterung (> papaya). Was lässt sich aus diesen Unterschieden schließen? - Im DRAE scheint es weniger um die Frage „Wo genau in Amerika und in welchem Register wird ein Wort verwendet? “ zu gehen, als darum, „Was bedeuten Amerikanismen, über die der (europäische) Leser stolpern könnte? “. Es geht also primär um die Förderung eines passiven Verständnisses verschiedener Spanischvarietäten, ein Anliegen, das auch für López Morales ein Grundbaustein zur Wahrung der sprachlichen unidad ist. Anlässlich der Carolin Patzelt (Bochum) 54 Bestrebungen, für öffentliche Kommunikation ein ,neutrales’, ‚internationales’ Spanisch zu etablieren, fordert López Morales (2006, 103), dass „una importante mayoría de hablantes ‚entienden’ el término neutralizador, aunque al hablar en su estilo espontáneo no suelan usarlos.“ Es geht also darum, dass die Sprecher einander verstehen sollen und dies für gewöhnlich auch tun. - Ein solches ‚entender’ wird vom DRAE gestützt. Zur Vorrangstellung einer ‚verständnisorientierten’ Sprachkompetenz passt auch, dass es sich bei den im DRAE aufgenommenen Amerikanismen vorwiegend um Substantive und Verben handelt, also um Wortarten, die das Verständnis eines Textes maßgeblich prägen. Hierbei scheint das DRAE auch wirklich gute Arbeit zu leisten, denn Lebsanft (2007, 242) stellt bei einer Probe aufs Exempel fest, dass sich ein hispanoamerikanischer Text wie García Márquez´ Cien años de soledad mit Hilfe des DRAE (2001) problemlos verstehen lässt - alle im untersuchten Romanausschnitt auffälligen Amerikanismen sind im DRAE enthalten. Kaum vorhanden dagegen sind Wortarten wie Interjektionen, die dafür das DA in hoher Frequenz enthält. Das DRAE stellt also das Verständnis des amerikanischen Spanisch sicher, das DA dagegen ist die erste von der RAE herausgebrachte Ressource für seinen aktiven Gebrauch. Ein zweiter grundlegender Unterschied in der Konzeption von DRAE und DA scheint also in der Orientierung am passiven (DRAE) vs. aktiven (DA) Sprachgebrauch zu liegen. 4.3. Diferencial vs. integral Die hispanoamerikanische Lexikographie hat bekanntlich keine sehr lange Tradition. Im Gegensatz zum amerikanischen Englisch, das bereits 1828 lexikographisch erfasst wurde, und zwar in Noah Websters American Dictionary of the English Language, blieb für Hispanoamerika das peninsulare Spanisch bis ins 20. Jh. hinein die unangefochtene Norm. Das hat sich mittlerweile geändert, die lexikographische Dokumentation des hispanoamerikanischen Spanisch ist in vollem Gange. Dabei muss eine entsprechend ausgebaute Lexikographie verschiedene Bereiche abdecken: die ‚habla culta’ ebenso wie den umgangssprachlichen Bereich, lexikalische Unterschiede zwischen nationalen hispanoamerikanischen Varietäten, den Grad der Verbreitung einzelner Regionalismen oder Panamerikanismen etc. Es soll daher abschließend danach gefragt werden, wie die ASALE diese Aufgaben bislang innerhalb ihrer panhispanischen Ausrichtung gelöst hat. Die Bedeutung des Diccionario de Americanismos 55 Das DRAE, so wurde deutlich, ergänzt die ‚habla culta’ zunehmend um umgangssprachliche Ausdrücke, öffnet sich dem realen Sprachgebrauch und entwickelt sich somit zu einem allgemein-spanischen Gebrauchswörterbuch. Durch die zunehmende Aufnahme des Lexikons hispanoamerikanischer Varietäten und einer letztlich auf der Gegenüberstellung Spanien vs. Hispanoamerika fussenden Darstellung rückt es in die Nähe der sog. diccionarios integrales, die ein internationales, panhispanisches Spanisch darstellen, statt ausgewählte Varietäten gegenüberstellen zu wollen, wie es Aufgabe der diccionarios diferenciales ist. Letztere sehen sich nicht nur permanent dem Vorwurf einer eurozentrischen Ausrichtung ausgesetzt (Vergleichsbasis ist hier nämlich immer das europäische Spanisch), sondern enthalten auch, wie u.a. Ávila (1998) feststellt, größtenteils auffälliges, peripheres Wortgut der hispanoamerikanischen Länder, das in der ‚habla culta’ bzw. den Massenmedien kaum Anwendung findet. Solche Wörterbücher werden daher für gewöhnlich dem Expertengebrauch zugeschrieben, denn: Los diccionarios diferenciales no sirven para hablar, pues no incluyen el léxico fundamental de la lengua. (Ávila 2004, 14) Allerdings stellt sich die Frage, inwiefern das DRAE hinsichtlich der Amerikanismen dem realen Sprachgebrauch dient. Dagegen sprechen die im vorherigen Kapitel herausgestellten, vergleichsweise spärlichen und unpräzisen diasystematischen Markierungen, sowie eine inhaltliche Konzeption der betreffenden Einträge, die eher auf Verständnis und passiven Sprachgebrauch ausgerichtet zu sein scheint. Zwar erscheint mir die Aussage Ávilas (2004, 14), dass „[el DRAE] termina por ser un diccionario nacional con la inclusión de algunos ismos americanos“ angesichts der aufgezeigten Entwicklung hinsichtlich der Amerikanismen im DRAE etwas zu negativ, aber zwei signifikante Probleme, die Ávila benennt, bleiben dennoch: Zum einen ist die Gleichstellung von hispanoamerikanischen Regionalismen wie méjicanismos oder argentinismos mit peninsularen Varietäten wie dem Asturischen oder dem Andalusischen fragwürdig und für Hispanoamerikaner nicht akzeptabel. Zum anderen trägt die punktuelle Aufnahme von Amerikanismen im DRAE und die Präsenz des europäischen Spanisch als mehr oder weniger explizite Vergleichsbasis auch nicht zu einer systematischen Dokumentation der hispanoamerikanischen Varietäten innerhalb eines panhispanischen Lexikons bei: Vieles wird im DRAE als ‚Am.’ markiert, obwohl es sich in den seltensten Fällen um Wörter handelt, die wirklich in ganz Hispanoamerika, nicht jedoch in Spanien verbreitet sind. Ebenso wenig wird die Positi- Carolin Patzelt (Bochum) 56 on eines bestimmten Lemmas innerhalb eines ‚español panhispánico’ deutlich, denn das DRAE unterscheidet nicht zwischen ‚echten’ Regionalismen, wie es z.B. piloto als argentinismo für das ansonsten panhispanische impermeable ist, und Ausdrücken, die in verschiedenen spanischsprachigen Ländern verbreitet sind. Die vordergründig gegebene Vergleichsbasis eines internationalen Spanisch erweist sich also als problematisch. Einen entsprechenden Gegenentwurf starteten in Deutschland Günther Haensch und Reinhold Werner mit ihren Wörterbüchern hispanoamerikanischer Varietäten (vgl. dazu u.a. Haensch 1991, 1994 und Werner 1996, 2002), die einen Vergleich jeweils nur einer nationalen hispanoamerikanischen Varietät mit dem europäischen Spanisch anstreben. Damit umgehen sie immerhin das Problem der undifferenziert verwendeten ‚-ismen’ und die umstrittene Frage, was regional und was panamerikanisch ist. Allerdings bleiben auch hier zwei traditionelle Problempunkte bestehen: 1.) Viele der für ein bestimmtes Land angeführten Regionalismen sind auch in anderen hispanoamerikanischen Ländern vertreten. 2.) Die Vergleichsbasis bei allen von Haensch/ Werner erstellten Wörterbüchern ist nach wie vor das europäische Spanisch und somit ein eurozentrischer Blickwinkel. Hier wiederum kommt das DA ins Spiel, denn zum einen fällt hier erstmals die Vergleichsbasis Spanien weg, zum anderen wird eine länderübergreifende Sammlung von Regionalismen bzw. in Teilen Hispanoamerikas geläufiger Ausdrücke vorgelegt, die die diatopische Verbreitung innerhalb Hispanoamerikas durch umfassende diasystematische Markierungen dokumentiert und somit einen wichtigen Beitrag zum Problem der ‚-ismen’ leistet. Bevor nun allerdings der Eindruck entsteht, das DA sei die Lösung aller bisheriger Probleme und die hispanoamerikanische Lexikographie seit seinem Erscheinen vollkommen, muss auch auf Restriktionen des DA hingewiesen werden. Vor allem trifft wohl der Vorwurf Ávilas (2004) ans DRAE, „no sirve para hablar“, auch auf das DA zu, denn die hier dokumentierten Lexeme sind fast ausschließlich - und das macht die im Vergleich zum DRAE oft systematisch komplementären Einträge aus - markierte, periphere Wörter, die im europäischen Spanisch nicht vorkommen bzw. auch innerhalb Hispanoamerikas meist nur in geographisch oder soziolektal restriktiver Verbreitung üblich sind. Durch die Loslösung vom europäischen Spanisch als Vorbild oder zumindest omnipräsente Vergleichsgröße hat das DA eine wichtige Voraussetzung zur differenzierteren lexikographischen Dokumentation der hispanoamerikanischen Varietäten geschaffen: Sie werden nicht mehr als ‚desviaciones diasistemáticas Die Bedeutung des Diccionario de Americanismos 57 del estándar peninsular’ (Oesterreicher 2006, 3081) klassifiziert. Somit ist der Weg bereitet für eine Dokumentation hispanoamerikanischer Standards, die ihrerseits wiederum Diasysteme ausbilden. 11 Genau hier allerdings ergibt sich ein Problem: Dadurch, dass ‚alltägliches’, unmarkiertes Vokabular der hispanoamerikanischen Länder im DA nicht dokumentiert wird, bleibt weitgehend unklar, auf welchen (Regional-)Standard sich diasystematische Markierungen denn nun beziehen. Genau dies ist allerdings durch flächendeckende Wörterbücher wie das DRAE oder das DA auch nicht zu leisten, sondern eine wichtige Aufgabe, die den in vielen hispanoamerikanischen Ländern bereits in Arbeit befindlichen nationalen Wörterbüchern zufällt. Diese neuen diccionarios integrales können nämlich sowohl das unmarkierte Alltagsbzw. Standardvokabular als auch das diasystematisch markierte, spezifischere Vokabular eines Landes dokumentieren. Auch wichtige lexikalisch-semantische Zusammenhänge innerhalb nationaler Varietäten werden durch das DA ebenso wenig deutlich wie durch alle anderen bisher vorhandenen Amerikanismen- Wörterbücher: Ávila (2004, 14) verweist in diesem Zusammenhang exemplarisch auf die Bedeutung von peineta, die in Chile einem im Vergleich zu peine kleinen Kamm entspricht, während das Verhältnis in Mexiko genau umgekehrt ist; dort ist ein peineta größer als ein peine. Hier können und müssen ebenfalls die nationalen Wörterbücher ansetzen. 5. Fazit: Das DA als systematische Ergänzung der hispanoamerikanischen Lexikographie Die Ausführungen haben gezeigt, dass das DA zum einen einen systematischen Platz in der panhispanischen, zum anderen auch einen wichtigen Platz in der hispanoamerikanischen Lexikographie einnimmt. Sein eigentlicher Wert dabei offenbart sich erst, so wurde deutlich, in Bezug zu den anderen lexikographischen Werken der ASALE: Zum einen ergänzt das DA diese durch eine deskriptive, nicht-normative Ausrichtung und die Orientierung am aktiven Sprachgebrauch, der auch Register wie Umgangs- und Jugendsprache einschließt. Quasi als Folge dieser Ausrichtung fördert die Existenz des DA auch die Arbeit sowohl der ASALE als auch der nationalen spanischen Sprachakademien. Als deskriptiv angelegtes Werk orientiert es über vorhandenes Vokabular der amerikani- 11 Für eine tatsächlich plurizentrische Ausrichtung ist die „Etablierung eines neuen Zentrums neben einem (…) bisher allein normgebenden und sprachpolitisch handelnden Zentrum“ (Bierbach 2000, 145) bekanntlich ein wesentlicher Eckpfeiler. Carolin Patzelt (Bochum) 58 schen Länder. In welcher Form dies geschieht, verdeutlicht die folgende Übersicht: nat. WB Abb.4: Die Position des DA (2010) in der Lexikographie der ASALE Das DA stellt zum einen eine wichtige Hilfe für das normative DPD dar, diejenigen Amerikanismen herauszufiltern, die Aufnahme in eine panhispanische Sprachkultur finden sollen. Zum anderen ist es mit seinen diasystematischen Hinweisen auch wichtige Orientierungshilfe für die nationalen amerikanischen Akademien bei der Erstellung eigener nationaler WB. Die im DA vorhandenen diasystematischen Hinweise, gepaart mit Bewertungen eines Wortes auf panhispanischer Ebene durch das DPD, bieten wiederum den nationalen Akademien Orientierung für das Erstellen regionaler WB, eine wichtige Aufgabe, die in vielen lateinamerikanischen Ländern derzeit anläuft. Dabei führt die Erfassung nationaler Standards und Varietätenräume wiederum auch zu einer Präzisierung des DA, denn momentan ist noch weitgehend unklar, auf welchen Regionalstandard sich die diastratischen und diaphasischen Markierungen im DA beziehen, und die Annahme eines panamerikanischen Standards ist wie bereits erwähnt problematisch, weil es kaum Wörter gibt, die in ganz Hispanoamerika, jedoch nicht in Spanien verbreitet sind (papas/ patatas). Literaturhinweise ASALE - Asociación de Academias de la Lengua Española (ASALE) - http: / / www.asale.org/ ASALE/ asale.html [04.01.2012] Die Bedeutung des Diccionario de Americanismos 59 Ávila, Raúl: „Españolismos y mexicanismos: hacia un diccionario internacional de la lengua española”, in: Nueva Revista de Filología Hispánica, El Colegio de México, XLVI, Núm. 2, 1998, 395-406. 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Die Einwohner von Chiapas benötigen soziale Reformen, fordern Land für Bauern, eine Verbesserung der Situation der Indigenen, demokratische Strukturen. Die Anhänger des EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional) sind bereit, dafür zu kämpfen. Die Aktivitäten der Zapatistas unter der Führung von Subcomandante Marcos und Comandanta Esther erregen weltweit Aufmerksamkeit. Doch die Durchsetzung ihrer Forderungen läßt auf sich warten. So beschließen 2001 die Aktivisten eine aufsehenerregende Aktion: einen Marsch von Chiapas nach Mexico DF und ins dortige Parlament, wo sie gehört werden und Druck machen wollen, dass die bereits 1996 beschlossenen Verträge von San Andrés, die einen wesentlichen Fortschritt bedeuten würden, endlich umgesetzt werden. Unsere Analyse zeigt, wie die mexikanische Presse auf das Auftreten der Zapatistas im mexikanischen Parlament, dem Congreso de la Unión, am 28.3.2001, reagiert, und wie sie dieses in den Printmedien des Folgetages diskursiv repräsentiert. Dabei liegen der Untersuchung die in drei nationalen Zeitungen (La Jornada, Reforma und El Universal am 29.3.2001) erschienenen Texte als Corpus zu Grunde. 1.1. Zur Methode Den theoretisch-konzeptionellen Rahmen dieser Untersuchung bildet die Diskursanalyse, wobei in Hinblick auf die mediale Identitätskonstruktion 1 Übersetzung (ÜS): ‚Wir bitten Sie, die Unannehmlichkeiten zu entschuldigen, aber dies ist eine Revolution.‘ Julia Kuhn (Jena) & Isela Trujillo (Mexico DF) 62 Arbeiten aus den Cultural Studies (Dyer 1998, Fiske 1996) herangezogen werden. Die linguistische Basis bildet die Systemisch-Funktionale Linguistik (Halliday 1994) und daran anknüpfend die kritische Diskursanalyse CDA nach Fairclough (2003) und van Leeuwen (2005). Diskurs und diskursive Praxis werden dabei als sozial konstitutiv wie sozial konsituiert verstanden (vgl. Fairclough/ Wodak 1997: 264f., Chouliaraki/ Fairclough 1999, Fairclough 1995a: 18) und als multimodale Phänomene gesehen, bei denen sich verbale und semiotische Realisationsmodi gleichberechtigt ergänzen. Vor diesem Hintergrund wird die diskursive Identitätskonstruktion der medialen Figur(en) der beteiligten Akteure betrachtet. 2 Es koexistieren verschiedene Identitätskonzepte: Identität wird einerseits als statisches, unveränderliches und homogenes Konzept verstanden (vgl. u.a. Reisigl 2003: 31-48), andererseits als prozedurales Phänomen gesehen, das Veränderungen unterliegt und durch diskursive Leistung konstituiert wird (Schmidt 2000: 113ff., Chouliaraki/ Fairclough 1999: 96ff.). Schmidt (2000: 115) stellt Identität dementsprechend als „kommunikatives Konstrukt“ dar. Rezente Mediengesellschaften produzieren semiotischdiskursiv „Images“ und verfolgen damit kalkuliert die Strategie, „folgenreichen Aufmerksamkeit“ (Schmidt 2000: 235) für Personen, wie hier die Anhänger der EZLN, aber auch für Produkte oder Organisationen zu erregen (vgl. u.a. Hellmann 2005, Hellmann 2003, Fairclough 2002: 163f., Chouliaraki / Fairclough 1999: 96, Schmidt 2000: 235f.). 1.2. Mittel zur diskursiven Repräsentation von Identität - Die Nomination Die Mittel, die zur diskursiven Repräsentation medialer Identitätskonstrukte im Hinblick auf Figuren herangezogen werden können, sind vielfältig und können sich auf die Bezugseinheit (die mediale Figur oder Marke) aber auch darüber hinaus auf persönliche Beziehungen der Person sowie deren Handlungen beziehen. Ein Mittel zur diskursiven Konstruktion der Bezugseinheit ist die Nomination, die mit Reisigl (2003) als spezielle Form von Referenz verstanden werden kann, bei der über Art 2 Mediale Identitätskonstrukte beruhen grundsätzlich auf Texten, da sie jedoch Bezugpunkte in der aussersprachlichen Wirklichkeit haben können, sind sie an sich hyperreal (cf. J John Fiske (1996: 2, 68ff.: hyperreal figure). Auch wenn diese hyperrealen Entitäten Spuren der aussermedialen Existenz in sich tragen, sind sie doch eigenständig. Fairclough stellt sogar eine Verschiebung zu Signifikationen ohne Referenz fest: „there is no real object only the constitution of an object in discourse.“ Norman Fairclough (1995a: 139). Indigene und regionale Identitäten in nationalen Printmedien Mexikos 63 und Weise der sprachlichen Bezugnahme auf Außersprachliches eine bestimmte Einstellung, Haltung bzw. bewertende Perspektive der Sprachverwender gegenüber der Person bzw. Entität, auf die sie referieren, kundgegeben wird. Nominationen umfassen bestimmte Einstellungen, die der jeweils verwendete Nominationsausdruck denotativ oder konnotativ 3 umfasst (vgl. Reisigl 2003 mit Girnth 1993) 4 . Kritischdiskursanalytische Zugänge unterscheiden für die Nomination sozialer Akteure (van Leeuwen 1996, Reisigl 2003, Reisigl/ Wodak 2001) Eigennamen (Comandanta Esther) vs. Klassifikation, nämlich der Bezeichnung der Entität über ein als essentiell geltendes Merkmal, das etwa das Äußere eines Menschen, seine inneren Überzeugungen, seine gesellschaftliche Stellung, seine Funktion o.ä. betreffen kann (wie una indígena de escasa estatura). 5 Ein anderer Bereich, aus dem Nominationen entstammen können, ist der Bereich der diskursiven Darstellung oder Konstruktion zwischenmenschlicher Beziehungen, etwa im familiären Rahmen, die Isotopie der Gleichheit oder Differenz (vgl. Reisigl 2003; van Leeuwen 1996). Bei der diskursiven Repräsentation des Handelns spielen die Activation vs. Passivation sozialer Akteure (vgl. van Leeuwen 1996) eine Rolle, sowie die indirekte Repräsentation von diskursivem Handeln etwa in Zitatform (vgl. Fairclough 2003, van Leeuwen 2005). So wird Subcomandante Marcos als líder guerrillero und jefe de las tropas dargestellt. Nicht außer Acht gelassen werden darf die Frage nach dem wer diese Äußerung tut, da dies Aufschluss über die Perspektivierung gibt. 3 Grundlegendes Konzept der (Bedeutungs-)Konstitution ist die Konnotation (Van Leeuwen 2005: 29-43), die mit Roland Barthes als mit Werten aufgeladene, sozial und kulturell bedingte Bedeutung verstanden wird: „Given the first layer of meaning, a second layer of meaning can, as it were, be superimposed, the connotation. It comes about either through the culturally shared associations, which cling to the represented people, places and things, or through specific 'connotators', specific aspects of the way in which they are represented, for example, specific photographic techniques.“ (Van Leeuwen 2005: 38) 4 Zu Kritisch-diskursanalytischen Zugängen zur Nomination sozialer AkteurInnen vgl. van Leeuwen 1996, Reisigl 2003, Wetschanow 2003, Reisigl/ Wodak 2001. 5 Auf die starke Verwobenheit von Nomination und Prädikation weisen bereits Reisigl 2003, van Leeuwen 1996, Halliday 1994 hin. Julia Kuhn (Jena) & Isela Trujillo (Mexico DF) 64 2. Analyse zu Tendenzen in der diskursiven Repräsentation der indigenen Akteure im printmedialen Diskurs Mexikos Die vorliegende Studie untersucht nun, wie bereits einleitend erwähnt, die diskursive Repräsentation der mexikanischen Presse des 29. März 2001 auf die Ereignisse im Kongress der Union am 28.3.2001. Dieser Untersuchung zu Grunde liegen drei landesweit erscheinende Zeitungen: La Jornada 6 , die als linksgerichtete Zeitung eingestuft wird, sowie Reforma 7 und El Universal 8 , die als eher rechtsgerichtete Zeitungen gelten. Es soll gezeigt werden, welche Nominationen für Führungspersönlichkeiten und Mitglieder des EZLN, für verschiedene Volksgruppen des Landes und schließlich für die Anhänger der zapatistischen Bewegung verwendet wurden. Die Ergebnisse für die Untersuchung dieser drei Kategorien werden wie folgt graphisch in nachstehenden Tabellen dargestellt: In der ersten Spalte befinden sich die Nominationen, die in der jeweiligen Zeitung gefunden wurden. In der Spalte F wird die Anzahl der Vorkommen einer Nomination dargelegt. In der vorletzten Spalte zeigen wir mit den folgenden Abkürzungen auf, wer Gebrauch von den jeweiligen Nominationen macht: P steht für Journalisten ‚periodistas‘, AP steht für Analysten ‚analistas del periódico‘, R steht für die Redaktion bzw. den Verlag und COA steht für ein Meinungszitat, das von den sozialen Akteuren geäußert worden sein soll, die entweder der indigen Bewegung angehören oder Regierungsmitglieder bzw. Personen des öffentlichen Lebens in Mexiko sind. In der letzten Spalte werden die Positionierung des Zitats und die Häufigkeit der verwendeten Bezeichnung vermerkt. 9 6 Mitte-links orientierte Tageszeitung, der weitgehende Unabhängigkeit nachgesagt wird. Cf.: www.jornada.unam.mx. 7 Reforma ist eine Tageszeitung mit einer Auflage von ca. 155000 Exemplaren. Cf. www.reforma.com. 8 El Universal zählt mit ca. 180000 Exemplaren zu den auflagenstärksten Tageszeitungen in Mexiko, cf. www.eluniversal.com.mx. 9 “Jor 1(15)” verweist z. B. auf den ersten Artikel der Zeitung Jornada und die 15 malige Verwendung im jeweiligen Artikel. Indigene und regionale Identitäten in nationalen Printmedien Mexikos 65 2.1 Übersicht über die im Corpus enthaltenen Nominationen gegliedert nach Zeitungen und den drei Untersuchungkategorien 2.1.1. Kategorie 1: Nominationen für Repräsentanten des EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional ‚Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung‘): LA JORNADA Nomination F Verwendungskontext Quelle/ Frequenz “zapatista(s)” 102 P, AP, R Jor 1 (15), 2 (2), 3(8), 4 (5), 5(7), 6(3), 7 (2), 8(7), 9(5), 10(5), 11 (5), 12 (1), 13(6), 14 (5), 15(6), 16(4), 17(6), 18 (6), 19 (4) “comandante (s)” 59 P, AP, R, COA Jor 1 (5), 2 (7), 3 (1), 4 (7), 5(3), 6 (1), 8 (6), 9 (8), 10 (8), 11 (4), 13 (2), 14 (1), 15 (1), 16 (2), 19 (3) “subcomandante” 27 P, AP, R Jor 1 (4), 4 (4), 5 (3), 8 (3), 9(3), 10(4), 13 (1), 14 (1), 15 (1), 17 (1), 18 (1), 19 (1) “jefe militar en rebeldía” 1 AP Jor 4 (1) “estratega militar” 1 P Jor 15 (1) “comandanta” 3 P, AP, COA Jor 1 (6), 2 (1), 4 (1), 5 (3), 6 (1), 8 (3), 9 (3), 11 (3), 14 (1), 15 (1) “comandancia” 20 P Jor 1 (1), 2(2), 3(2), 8(4), 9(1), 10(3), 11 (2), 12 (1), 17 (1), 19 (1) “insurgente(s)” 10 P, AP Jor 1(2), 4(4), 5(1), 8(2), 9(1) “rebelde(s)” 4 P Jor 2(1), 6 (1), 8 (1), 15 (1) “grupo rebelde” 4 P Jor 1(3), 12 (1) “comandancia rebelde” 2 P Jor 14(1), 15(1) “rebeldes chiapanecos” 1 P Jor 6 (1) “insurgentes chiapanecos” 1 AP Jor 4 (1) Julia Kuhn (Jena) & Isela Trujillo (Mexico DF) 66 “figuras menudas con pasamontañas” 1 R Jor 5 (1) “bases zapatistas” 1 P Jor 8 (1) Tabelle/ Tabla 1.a: Nominationen für Akteure des EZLN in La Jornada. REFORMA Nomination F Verwendungskontext Quelle/ Frequenz “zapatista(s)” 104 R, P, AP, COA Ref 1 (5), 2 (1), 3(4), 4(8), 5(2), 6(1), 7(1), 8(5), 9(2), 10(6), 11(4), 12(15), 13(4), 14(3), 15(4), 16(3), 17(15), 18(1), 19(5), 20(11), 21(4) “comandante (s)” 41 P, AP, COA Ref 1(4), 3(3), 4(7), 5(1), 8(3), 10(2), 11(1), 12(6), 15(1), 17(1), 18(2), 19(3), 20(6), 21(1) “comandanta (s)” 15 P, AP Ref 4(3), 7(1), 17(3), 20(5), 21(3) “subcomandante” 26 P, AP, COA Ref 1(1), 2(1), 4(3), 8(2), 9(1), 11(1), 12(3), 14(1), 15(2), 17(5), 20(5), 21(1) “comandancia” 6 P, AP Ref 13(1), 14(1), 15(1), 17(1), 19(1), 21(1) “insurgente(s)” 3 P, AP, COA Ref 4(1), 8(1), 17(1) “rebelde(s)” 3 P Ref 4(2), 15(1) “grupo rebelde” 1 P Ref 13 (1) “jefe militar de un ejército rebelde” 2 COA Ref 1(1), 4(1) “líder rebelde” 1 P Ref 9 (1) “jefe militar del EZLN” 1 R Ref 1 (1) “dirigente zapatista” 4 R, AP Ref 1 (1), 8(1), 20(2) “jefes guerrilleros” 1 R Ref 1(1) “guerrillera” 2 R Ref 1 (2) “líder guerrillero” 1 P Ref 2 (1) “jefe de las tropas” 1 AP Ref 17(1) Indigene und regionale Identitäten in nationalen Printmedien Mexikos 67 “guerrilla” 1 R Ref 1 (1) “grupo armado” 1 P Ref 11 (1) “huestes” 1 AP Ref 17 (1) “encapuchada” 1 R Ref 1 (1) Tabelle/ Tabla 1.b: Nominationen für Akteure des EZLN in Reforma. EL UNIVERSAL Nomination F Verwendungskontext Quelle/ Frequenz “zapatista(s)” 104 P, AP, COA, R Uni 1(11), 2(7), 3(4), 4(10), 5(3), 6(2), 7(7), 8(1), 9(7), 10(6), 11(7), 12(5), 13(6), 14(8), 15(6), 16(4), 17(1), 18(9) “comandante(s)” 32 P, AP, COA, R Uni 1(10), 4(5), 7(1), 8(1), 10(1), 11(2), 13(3), 14(6), 15(1), 16(1), 18(1) “comandanta” 8 P, AP Uni 2(1), 11(2), 14(3), 16(2) “subcomandante” 17 P, AP, COA, R Uni 1(1), 4(4), 6(1), 7(2), 9(1), 11(1), 12(1), 14(3), 15(1), 16(1), 18(1) “jefe militar de un ejército rebelde” 1 COA Uni 14(1) “jefe militar del EZLN” 2 P Uni 2(1), 12(1) “jefes zapatistas” 2 P Uni 4(2) “rebelde(s)” 6 P, AP Uni 1(1), 9(1), 11(1), 13(3) “jefe rebelde” 2 P Uni 1(1), 11(1) “insurgente” 4 P, AP Uni 4(2), 14(2) “fuerza armada rebelde” 1 AP Uni 13 (1) “indígenas rebeldes” 1 P Uni 4(1) “indígenas chiapanecos” 1 AP Uni 12(1) “comandantes rebeldes” 1 P Uni 4(1) “grupo rebelde” 1 P Uni 11(1) “rebeldes chiapanecos” 1 AP Uni 13 (1) “líder rebelde” 1 AP Uni 13(1) “guerrilla” 5 AP Uni 12(5) “EZLN típica marxista” 5 AP Uni 12(5) Julia Kuhn (Jena) & Isela Trujillo (Mexico DF) 68 “EZLN indigenista” 1 AP Uni 12(1) “insurrección india” 2 AP Uni 12(2) “grupo guerrillero” 1 AP Uni 18(1) “encapuchados” 1 P Uni 2(1), Uni 14(1) Tabelle/ Tabla 1.c: Nominationen für Akteure des EZLN in El Universal. 2.1.2 Kategorie 2: Indigene Bevölkerungsgruppen: Nomiationen für verschiedene ethnische Gruppen und Anhänger der zapatistischen Bewegung LA JORNADA Nomination F Verwendungskontext Quelle/ Frequenz “indígena(s)” 125 P, AP, R, COA Jor 1(8), 2(14), 3(15), 5(5), 6(2), 7(6), 8(11), 9(16), 10(9), 11(4), 12(1), 13(4), 14(1), 15(2), 16(1), 17(1), 18(19), 19(6) “pueblos indígenas” 16 P, COA Jor 2(2), 3(3), 8(1), 11(1), 18(9) “comunidades indígenas” 1 COA Jor 3(1) “mujer(es) indígena(s)” 5 COA, P Jor 1(3), 3(2) “raza indígena” 1 COA Jor 18(1) “indígenas mexicanos” 1 COA Jor 19(1) “nuestros hermanos indígenas” 1 COA Jor 18(1) “nuestros hermanos” (referido a indígenas) 3 COA Jor 3(1), 18(2) “10 millones de indígenas de 56 etnias” 1 COA Jor 3(1) “indios” 8 COA, P Jor 2(3), 3(2), 10(2), 16(1) “pueblos indios” 8 COA, P Jor 1(1), 2(1), 3(1), 5(1), 9(3), 10(1) “indios mexicanos” 1 AP Jor 9(1) “nuestros pueblos” (referido a indígenas) 9 COA Jor 1(2),2(2),3(1),5(1),11(1), 18(2) “grupos étnicos del país” 1 COA Jor 2(1) “mestizos” 2 COA, P Jor 10(1), 18(1) Indigene und regionale Identitäten in nationalen Printmedien Mexikos 69 “criollo” 1 COA Jor 18(1) “tamaulipeco” 1 AP Jor 4(1) “chiapaneco” 4 AP, COA, P Jor 4(1), 9(1), 16(1), 18(1) “mixe de Oaxaca” 1 AP Jor 9 (1) “nahua de Jalisco” 1 AP Jor 9(1) “tzotzil” 2 R, AP Jor 5(1), 9(1) “tzeltal” 2 AP Jor 9(2) “tojolabal” 2 AP, P Jor 9(1), 18(1) “gobernadores tepehuanes” 1 P Jor 10(1) “mazateco” 1 P Jor 18(1) “maya” 1 P Jor 18 (1) Tabelle/ Tabla 2.a: Indigene Bevölkerungsgruppen: Nominationen für verschiedene ethnische Gruppen in La Jornada. REFORMA Nominación / Nomination F Contexto de uso / Verwendungskontext Ubicación de la cita / Quelle “indígena(s)” 73 P, AP, R, COA Ref 1(7), 2(2), 3(1), 4(3), 5(5), 6(8), 8(5), 10(6), 11(5), 12(11), 14(4), 15(6), 16(1), 17(5), 19(3), 20(3), 21(4) “pueblos indígenas” 6 AP, COA Ref 17(2), 18(1), 20(3) “comunidades indígenas” 2 AP, COA Ref 6(1), 20(1) “grupos indígenas” 1 COA Ref 1(1) “millones de indígenas” 1 COA Ref 4(1) “mujer indígena” 3 P, COA Ref 14(1), 15(1), 21(1) “una indígena de escasa estatura” 1 AP Ref 20(1) “indios” 5 R, AP, P Ref 1(1), 5(2), 10(1), 12(1) “pueblos indios” 4 COA, AP, P Ref 6(1), 15(1), 17(1), 21(1) “grupos indios” 1 P Ref 11(1) “nuestros pueblos” (referido a indígenas) 3 COA Ref 1(1), 4(2) “etnias” 3 R, AP Ref 5(2), 1(1) Julia Kuhn (Jena) & Isela Trujillo (Mexico DF) 70 “mestizos” 2 AP Ref 5(2) “criollo(s)” 2 AP Ref 20(2) “mixe” 2 AP Ref 5(1), 17(1) “nahua” 1 AP Ref 5(1) “tzeltal” 1 AP Ref 5(1) “maya” 1 AP Ref 5(1) “otomí” 1 AP Ref 5(1) “chontal” 1 AP Ref 5(1) “zapoteco” 1 AP Ref 5(1) “chihuahuense” 1 P Ref 10(1) Tabelle/ Tabla 2.b: Indigene Bevölkerungsgruppen: Nominationen für verschiedene ethnische Gruppen in Reforma. EL UNIVERSAL Nominación / Nomination F Contexto de uso / Verwendungskontext Ubicación de la cita / Quelle “indígena(s)” 102 P, AP, COA, R Uni 1(17), 2(2), 3(12), 4(7), 5(4), 6(1), 7(4), 8(1), 9(4), 10(3), 11(1), 12(11), 13(3), 14(12), 15(3), 16(3), 17(5), 18(9) “pueblos indígenas” 7 COA, AP, P Uni 1(1), 3(1), 6(1), 8(1), 11(1), 18(2) “comunidades indígenas” 1 AP Uni 14(1) “grupos indígenas” 1 P Uni 1(1) “10 millones de indígenas” 1 COA Uni 7(1) “mujeres indígenas” 2 P Uni 1(1) “mujer india” 1 AP Uni 16(1) “indios” 6 AP, P Uni 4(1), 12(1), 13(1), 16(3) “indios mexicanos” 1 P Uni 1(1) “indígenas mexicanos” 1 COA Uni 5(1) “puñado de indígenas” 2 AP Uni 13(2) “pueblos indios” 10 P, AP, R, COA Uni 1(2), 3(3), 6(1), 14(1), 15(2), 16(1) “india” 1 AP Uni 16(1) “nuestros pueblos” (referido a indígenas) 1 COA Uni 14(1) Indigene und regionale Identitäten in nationalen Printmedien Mexikos 71 “etnias” 2 R Uni 15(2) “problema indio” 1 AP Uni 12(1) “indigenismo” 2 AP Uni 12 (2) Tabelle/ Tabla 2.c: Indigene Bevölkerungsgruppen: Nominationen für verschiedene ethnische Gruppen in El Universal. 2.1.3 Kategorie 3: Nominationen für Anhänger der Zapatistenbewegung LA JORNADA Nomination F Verwendungskontext Quelle/ Frequenz “gentío de seguidores” 1 P Jor 10(1) “multitud” 1 P Jor 8(1) “parlamento callejero” 1 P Jor 10(1) “muchachas de la sociedad civil” 1 P Jor 10(1) “señora de sombrilla” 1 P Jor 10(1) “punketo de la banda” 1 P Jor 10(1) “estudiante de sexto de la Prepa” 1 P Jor 10(1) “una galería alternativa que congregó a cerca de 3 mil personas” 1 P Jor 10(1) Tabelle/ Tabla 3.a: Anhänger der Zapatistenbewegung: Nominationen in La Jornada. REFORMA Nomination F Verwendungskontext Quelle/ Frequenz “multitud” 1 P Ref 8(1) “seguidores” 2 P Ref 8(1) Tabelle/ Tabla 3.b: Anhänger der Zapatistenbewegung: Nominationen in Reforma. EL UNIVERSAL Nomination F Verwendungskontext Quelle “multitud” 3 P Uni 4(3) Julia Kuhn (Jena) & Isela Trujillo (Mexico DF) 72 [“asomaban como conejos miles de v de la victoria”] 10 1 P Uni 4(1) [“se levantaron miles de v de la victoria”] 1 P Uni 4(1) “territorio de los X3 vagos y otras bandas callejeras” 1 P Uni 4(1) “hombres y mujeres” 1 P Uni 4(1) “plaga de mercaderes de souvenirs zapatistas” 1 P Uni 4(1) “y hubo montones de esos puestos que banalizan con su longaniza aceitosa...” 1 P Uni 4(1) “vinieron prácticamente todos los locos arrastrando todos sus temas...” 1 P Uni 4(1) “vendedores de literatura comunista de la guerra fría” 1 P Uni 4(1) “Izquierdistas de discurso radical” 1 P Uni 4(1) Tabelle/ Tabla 3.c: Anhänger der Zapatistenbewegung: Nominationen in El Universal. 2.2. Kommentar zu den verwendeten Nominationen 2.2.1. Kommentar zu den Nominationen für Repräsentanten des EZLN In der ersten Kategorie, die die Nomination der Anhänger des EZLN umfasst, finden in allen drei Zeitungen zumeist neutrale Nominationen Verwendung, wie etwa zapatistas ‚Zapatisten‘, comandante(s) ‚Führer‘, comandancia ‚Führung‘, insurgente(s) ‚Aufständische‘, rebelde(s) ‚Rebellen‘ 11 , grupo rebelde ‚Gruppe von Rebellen‘ (Tabellen 1.a, 1.b und 1.c). Die Verwendung neutraler Formen ist wenig aussagekräftig. Interessanter sind markierte Nominationen, die unterschiedliche mentale Repräsentationen beim Leser hervorrufen, die in der Folge kommentiert werden sollen. 10 Die Klammern [] werden gesetzt, da es sich hier nicht direkt um eine Nomination handelt. 11 Rebelde(s) wird hier als neutral gewertet, da diese Bezeichnung von den Akteuren der indigenen Bewegung zur Bezeichnung ihrer selbst gewählt wurde. Indigene und regionale Identitäten in nationalen Printmedien Mexikos 73 Greifen wir beispielsweise Nominationen zur Identitätskonstruktion von subcomandante Marcos heraus, so zeigt sich, dass diese mit einem hohen Maß an informativem Gewicht ausgestattet sind, während andere Persönlichkeiten, die eine Rolle in der indigenen Bewegung spielen, seltener (wie Comandanta Esther) oder gar nicht erwähnt werden, wie etwa die Vertreter zahlreicher Volksgruppen. Auch diese Nicht-Erwähnung kann beabsichtigt sein und eine Marginalisierung der diskursiven Repräsentation bewirken. Für Marcos wird in allen drei Zeitungen am häufigsten die Nomination subcomandante (Marcos) verwendet. Auch Esther wird zumeist mit der Nomination comandanta Esther benannt. Für Marcos steht weiters die Nomination Jefe militar de un ejército en rebeldía ‚militärischer Führer eines Heeres im Aufruhr‘ (Ref, 1(4); Uni, 1(4)). La Jornada bringt die Nomination jefe militar en rebeldía ‚militärischer Führer im Aufruhr‘ und estratega militar del EZLN ‚militärischer Stratege des EZLN‘, während Reforma und El Universal die Nomination jefe militar del EZLN ‚militärischer Chef des EZLN‘ Ref, 1(2), Uni 2(1), 12(1) verwenden und hier übereinstimmen. Reforma bringt Nominationen, die nur in dieser Tageszeitung gefunden werden, wie líder guerrillero ‚Guerillaführer‘ und jefe de las tropas ‚Truppenchef‘ für Marcos. Während die Nominationen der Zeitung El Universal, etwa jefe rebelde ‚Chef von Rebellen‘ oder líder rebelde ‚rebellischer Führer‘ (Tabellen 1.a, 1.b und 1.c) sind. In der Zeitung Reforma lässt sich eine Tendenz zur Konstruktion von hyperreal figures der Zapatistas erkennen, die kriegerisch und destabilisierend ist, wie etwa (Tabelle 1.b): guerrillera ‚Guerillakämpferin‘, guerrilla ‚Guerilla‘, líder guerrillero ‚Führer der Guerilla‘, jefes guerrilleros ‚Chefs der Guerilla‘, grupo armado ‚bewaffnete Gruppierung‘, huestes ‚Anhänger‘. Der wiederholte Gebrauch der mit guerrilla assoziierten Nominationen soll ein Bild der Zapatisten konstruieren, das verbunden ist mit Bürgerkrieg, Chaos, Gefahr oder Bedrohung. Ein Beispiel hierfür ist das nachstehende, in dem die Charakterisierung der Kommandantin Esther, deren Nomination auf guerrillera reduziert wird und alle anderen Eigenschaften ausgeblendet werden. La guerrillera informó además que se había ordenado al jefe militar del EZLN. (Ref, 1(2)) Unterschiedliche diskursive Repräsentationen macht auch das Beispiel der Nominationen jefe militar en rebeldía (Jor, 4) im Vergleich zu jefe militar de un ejército rebelde (Ref, 1(4); Uni, 1(4)) deutlich. In La Jornada fehlt das Element ejército, während dieses in den Zeitungen Reforma und El Univer- Julia Kuhn (Jena) & Isela Trujillo (Mexico DF) 74 sal zur Identitätskonstruktion einzelner sozialer Akteure Anwendung findet. Die Auslassung von ejército seitens der Zeitung La Jornada schwächt die Repräsentation der kriegerischen Charakterisierung der EZLN. La Jornada zeichnet so ein friedlicheres Bild der Bewegung als Reforma und El Universal. Bei der diskursiven Konstruktion der hyperrealen Figur des geheimnisumwobenen subcommandante Marcos, wird in Reforma auf seine (angebliche) ethnische Provenienz angespielt und er wird mittels der Nomination criollo (Ref, 20(2)) als Nachfahre spanischer Einwanderer repräsentiert. Während die Herkunft bei Marcos zur Identitätskonstruktion herangezogen wird, fehlt dieser Aspekt bei der diskursiven Konstruktion der hyperrealen Figur der comandanta Esther weitgehend, der Umstand, dass sie indigen ist, wird allerdings bei Nominationen wie una indígena de escasa estatura ‚eine Indigene von kleiner Statur‘ (Ref 20(1)) deutlich. 12 Marcos wird als Person repräsentiert, die nicht zur indigenen Gemeinschaft gehört. Dieser Umstand fällt besonders auf vor dem Hintergrund, dass Höherstellung des Fremden gegenüber der eigenen Kultur bei Indigenen beklagenswerterweise ein weitverbreitetes Phänomen ist. In Hinblick auf die Anhänger des ENLZ erfolgt in La Jornada eine Emotionalisierung im Bereich der Nominationen, wo Anhänger des Zapatismo mit Nominationen bezeichnet werden, die bildhaft die Symbole des Zapatismo repräsentieren, wie beispielsweise Tücher, Schals oder Trachten 13 der indigenen Bevölkerung (Tabelle 1.a). Metonymisch die Nominationen, die die Anhänger des EZLN, sowohl Publikum als auch Redner, die am 28.3.2001 im Kongress der Union anwesend waren, über ihre typischen Hüte und charakteristischen Kleidungsstücke bezeichnen: “Huaraches, sombreros, cachuchas, pasamontañas, paliacates, no era ni el público ni los 12 Durch die Nomination “una indígena de escasa estatura” (Ref, 20) mittels derer Esther in der Tageszeitung Reforma bezeichnet wird, bleibt deren Zugehörigkeit zur zapatistischen Bewegung unerwähnt, sie wird als einzelne Person, als unscheinbare, indigene Frau dargestellt, eine Beschreibung, die für so viele Mexikanerinnen zutreffen könnte. Die Beschreibung der äußeren Erscheinung findet sich einerseits nur für Esther und bei keinem der anderen beschriebenen Akteure und sie charakterisiert Esther als geradezu gegensätzlich zu Stärke und Macht. 13 Neben diesen Nominationen gehen andere in eine ähnliche Richtung: so die Beschreibung der Kommandantin Esther im Hinblick auf ihr rotes Halstuch und traditionelle Kleidung in “de pasamontaña, paliacate rojo al cuello y huipil blanco”, Jor, 1(1). Ähnlich auch die Beschreibung Esthers mit typischem weißem Schal und feuerrotem Halstuch: „Cubierta con el blanco chal tzotzil sobre el huipil rojo encendido [...] Esther entreabrió.“ (Jor, 9[1]) und die Darstellung der Anhänger des EZLN als einfach gekleidet «[con] la ropa humilde que portan siempre. » (Jor, 10[1]) Indigene und regionale Identitäten in nationalen Printmedien Mexikos 75 oradores de costumbre” Jor 15(1). Während in La Jornada das folkloristische (und allenfalls das ärmliche) Element in der Kleidung der Indigenen und der Zapatistas betont wird, fokussieren Reforma und El Universal in den verwendeten Nominationen auf ein ganz anderes Detail, nämlich die Tatsache, dass die Akteure mit vermummten Gesichtern aufgetreten sind. Dies zeigt etwa die Nomination encapuchada für eine Akteurin in Ref 1 (1) und encapuchados in Uni 2(1) und in Uni 14(1). Reforma legt somit das Augenmerk auf das obskure, bedrohliche Element, während La Jornada das Traditionsbewusstsein und die Armut der Indigenen über den Umweg der Kleidung betont. 14 2.2.2. Kommentar zu Nominationen für indigene Bevölkerungsgruppen / Nomiationen für verschiedene ethnische Gruppen und Anhänger der zapatistischen Bewegung In der zweiten Kategorie, die die Bezeichnung der ethnischen Minderheiten in Mexiko umfasst, ist der rekurrenteste Ausdruck indígena. Indígena wird von den drei Zeitungen in allen Kategorien verwendet; daneben wird die indigene Bevölkerung mit Nominationen wie pueblos indígenas ‚indigene Völker‘, comunidades indígenas ‚indigene Gemeinschaften‘, grupos indígenas ‚indigene Gruppen‘, mujer indígena ‚indigene Frau‘, etc. (Tabellen 2.a, 2.b und 2.c) bezeichnet. Die Verwendung der Form indio ist weniger häufig und zeigt unterschiedliche Konnotationen, die nur durch den Kontext erschlossen werden können. 15 Wenn indio in Verbindung mit einem Adjektiv erscheint, ist es neutral. Als Beispiele seien genannt: pueblos indios ‚Indio Völker‘, territorios indios ‚Indio Gebiete‘, grupos indios ‚Indio Gruppen‘ (Tabellen 2.a, 2.b und 2.c). Wird der Ausdruck allerdings isoliert gebraucht, sind Konnotationen möglich. Einerseits kann der Begriff durch Indigene selbst zur eigenen Identitätskonstruktion herangezogen werden, autodefinitorisch sein und Stolz auf die eigene Tradition ausdrücken, andererseits kann indio von nicht-Indigenen verwendet werden und pejorativ konnotiert sein oder kolonialistisch folklorisierend gebraucht werden. Siehe im folgenden Beispiel die erste Konnotation: 14 Der Verzicht auf jegliche emotionale Charakterisierung der Symbole der indigenen Bewegung in Reforma und El Universal, wird nicht nur in der Beschränkung auf die Nomination encapuchad/ a/ o/ s (‚Vermummte‘) deutlich, sondern zeigt sich auch in anderen Kontexten: [...] dijo la dirigente zapatista, quien subió encapuchada a la tribuna. (Ref, 1[1]) - ¡Qué sesión la de ayer! : zapatistas encapuchados en tribuna. (Uni, 2[1]). 15 Für eine genauere Untersuchung des kolonialen Ursprungs der Termini indígena oder indio, siehe Bonfil 1972. Julia Kuhn (Jena) & Isela Trujillo (Mexico DF) 76 Juan Chávez planteó: “Somos los indios que somos, somos pueblos, somos indios. Queremos seguir siendo los indios que somos; queremos seguir siendo los pueblos que somos; queremos seguir hablando la lengua que nos hablamos. (Jor, 2) Die zweite Konnotation zeigt das folgende Beispiel: [...] las florituras típicas de la retórica que, por una razón que no entiendo, son las que invariablemente se usan cada vez que se les habla a los indios y que suenan un poco a traducción de poesía prehispánica. (Uni, 16) Als Nomination wird indio (isoliert stehend) in der Zeitung La Jornada gänzlich vermieden. Die Zeitungen Reforma und El Universal heben sich hingegen durch eine häufige Verwendung von indio hervor, wobei kolonialistische Konnotationen nicht selten sind, wie obiges Beispiel zeigt. Die Zeitung El Universal verwendet sogar die feminine Form, eine Gebrauchsform, die im mexikanischen Kontext und in Bezug auf die indigene Frau für gewöhnlich vorurteilsbehaftet und pejorativ ist: [...] una india que lamentaba que durante siglos le hayan arrebatado su dignidad. (Uni, 16) Das indigene Element wird nicht nur zur Bezeichnung von Individuen herangezogen. Auch Gruppen, wie die der Anhänger der zapatistischen Bewegung, werden mit Nominationen bezeichnet, die den Zusammenhang zum Indigenen zeigen, wie zum Beispiel puñado de indígenas ‚eine Hand voll Indigener‘ (Uni, 13(2)). Durch puñado wird die Anhängerschaft als kleine, vernachlässigbare Personengruppe indigener Provenienz dargestellt und die Realität negiert, dass es sich bei den Zapatisten und deren Anhängern um einen beachtlichen Teil der mexikanischen Bevölkerung handelt. Die erwähnte Nomination trägt zur Darstellung der Zapatisten als unwichtig für das nationale Leben bei. Die ethnische Provenienz der Anhänger wird auch in Nominationen instrumentalisiert, die in den Zeitungen La Jornada und Reforma verwendet werden, wenn etwa sprachliche und kulturelle Besonderheiten angeführt werden, wie die folgenden Beispiele zeigen: tzotzil, tojolabal, tzeltal, mixe de Oaxaca, zapoteco, nahua de Jalisco, 10 millones de indígenas de 56 etnias, etc. (Tabelle 2.a und 2.b). Diese präzise Bezeichnung entspricht den Wünschen der indigenen Bewegung Mexikos, die sich für den Gebrauch der spezifischen Provenienzbezeichnungen und differenzierte Behandlung der indigenen Gruppen und Kulturen eingesetzt hat (Sandoval, 1996). Im Gegensatz dazu wird in der Tageszeitung El Universal kein Nachweis über eine Nomination mit Bezug auf ethnische oder linguistische Indigene und regionale Identitäten in nationalen Printmedien Mexikos 77 Diversifizität und Spezifität gefunden. El Universal verfolgt vielmehr das Ziel, ein homogenes und undifferenziertes Bild der Indigenen zu vermitteln und klammert ethnisch und linguistisch korrekte Bezeichnungen aus, die die einzelnen Minderheiten und deren Kulturen, Traditionen und Sprachen respektieren. 2.2.3. Kommentar zu Nominationen für Anhänger der Zapatistenbewegung Es fällt auf, dass die Tageszeitung Reforma die Anhänger der zapatistischen Bewegung kaum erwähnt und damit deren Existenz so gut wie nicht thematisiert (Tabelle 3.b). Dieses Nicht-Erwähnen kann verschiedene Absichten verfolgen, wie etwa die Darstellung der Bewegung als unwichtig und unbedeutend. Hier unterscheidet sich Reforma von den Zeitungen La Jornada und El Universal, die sehr wohl die Anhängerschaft konstruieren, wenn auch auf unterschiedliche Weise. 16 Eine neutrale Nomination, die alle drei zur Bezeichnung der Anhängerschaft verwenden, ist multitud ‚Menge‘ (Tabellen 3.a, 3.b und 3.c). In La Jornada finden sich neben der neutralen Nomination una galería alternativa que congregó a cerca de 3 mil personas ‚eine alternative Gruppierung, die ca. 3000 Personen umfasst‘ (Tabelle 3.a) auch Nominationen wie gentío de seguidores ‚Gedränge von Anhängern‘ und parlamento callejero ‚Straßenparlament‘. Wobei gentío ‚Gedränge‘ eine unorganisierte Menge bezeichnet, parlamento callejero hingegen eine Gruppe von Menschen bezeichnet, die sich zwar außerhalb des Kongresses der Union versammelten, denen jedoch dennoch eine Stimme in einem demokratischen System zukommt. Die in den Straßen versammelten Anhänger werden nicht immer als (homogene) Gruppe beschrieben, mitunter werden Individuen herausgegriffen und benannt, wodurch die Anhängerschaft aus der Anonymität der Masse heraustritt und ein individuelles Gesicht erhält. So finden sich Nominationen wie: estudiante de la Prepa, señora con sombrilla ‘eine Dame mit Sonnenschirm’, punketo de la banda ‘ein Punk aus der Band’, muchacha de la sociedad civil ‚ein Mädchen der bürgerlichen Gesellschaft‘ (Tabelle 3.a). Diese in La Jornada für Individuen verwendeten Nominationen konstruieren Images von alltäglichen wie auch von aus der Gesellschaft ausgeschlossenen Personen, die gemeinsam versuchen, alternative politische Vorstellungen umzusetzen. Mitunter sind diese Nominationen auch ironisch: So konstruiert die Nomination muchachas de la sociedad civil weibliche Anhängerinnen der zapatistischen Bewegung als mädchenhafte Verehrerin- 16 Auch wenn beide Tageszeitungen das Bild vermitteln, dass es sich um einen wenig homogenen Bereich handelt, ist das Resultat ihrer Konstruktion verschieden Julia Kuhn (Jena) & Isela Trujillo (Mexico DF) 78 nen der Person des subcomandante Marcos, die durch die Ausstrahlung des subcomandante bezaubert sind und von politischen Inhalten wenig Ahnung haben. El Universal verwendet Nominationen wie hombres y mujeres, ([asomaban] como conejos miles [de v de la victoria]) (Tabelle 3.c). die Neuträlität der Nomination ‘hombres y mujeres’ wird durch den Vergleich mit den miles conejos, ‚1000 Kaninchen‘ ins Lächerliche gezogen und Zweifel an der Ernsthaftigkeit der dargestellten Anhänger wird impliziert. Doch es wird nicht nur die Seriosität und autonome Denkfähigkeit der Zapatistas in Frage gestellt, manche Nominationen diffamieren direkt, indem sie in El Universal die Gruppierung als vagos ‚Faulpelze‘ Uni 4(1), bandas callejeras ‚Straßenbanden‘ und locos ‚Verrückte‘ Uni 4(1) bezeichnen (Tabelle 3.c). Des Weiteren wird darauf hingewiesen, dass sich unter den 1000en von Anhängern der Zapatista-Bewegung auch Händler befinden, die Souvenirs u.ä. feilbieten. Diese werden als Plage o.ä. diskursiv konstruiert: plaga de mercaderes de souvenirs zapatistas ‚Plage der Händler zapatistischer Souvenirs‘, vendedores de literatura comunista de la guerra fría ‚Verkäufer von kommunistischer Literatur aus dem kalten Krieg‘, izquierdistas de discurso radical ‚radikale Linke‘ (Tabelle 3.c) und tragen durch Assoziationen mit Radikalismus, Kaltem Krieg und Kommunismus zu einer politisierten und radikalisierten diskursiven Konstruktion der die Zapatistas begleitenden Personen bei. 3. Schlussfolgerungen Wie gezeigt wurde, werden im medialen Diskurs hyperreale Figuren über Texte konstruiert, und dies kann über Nominationen (Bezeichnungen von Akteuren, die von deren Namen differieren) geschehen. Die Analyse dieser Nominationen ermöglicht es, Strategien bewusster manipulativer diskursiver Repräsentation offenzulegen, was von besonderem Interesse ist, da die Präsenz und Verwendung von Nominationen im Mediendiskurs die Realitätsrezeption des Lesers beeinflusst. In der vorliegenden Studie analysierten wir drei nationale Tageszeitungen der mexikanischen Presse: La Jornada, Reforma und El Universal in Hinblick auf die diskursiv-mediale Reaktion auf den 28. März 2001, an dem indigene Mexikaner unterschiedlicher Provenienz erstmalig ihre Beteiligung am Kongress der Union erzwangen. Bei dieser Analyse konnten wir Folgendes feststellen: Indigene und regionale Identitäten in nationalen Printmedien Mexikos 79 In Hinblick auf die verwendeten Nominationen bedienen sich die drei Zeitungen teils identer, teils unterschiedlicher Formen. Diese können neutral oder markiert sein und lassen Rückschlüsse auf die intendierte diskursive Repräsentation der Akteure zu. Besonders deutlich wird die unterschiedliche diskursive Konstruktion einer hyperrealen Figur am Beispiel von Subcomandante Marcos, der einerseits als seriöser politischer Führer, andererseits als gefährlicher guerrillero repräsentiert wird, während andere Führungspersönlichkeiten der EZLN wenig oder gar nicht erwähnt werden. La Jornada spielt bei der Nomination der Zapatisten mit traditionellen Symbolen der indigenen Kulturen und appelliert so an die Emotionen der Leser. La Jornada vermeidet zudem im Gegensatz zu den beiden anderen Zeitungen bei der diskursiven Darstellung der EZLN Assoziationen mit Kriegerischem. Die Tageszeitung Reforma hingegen konstruiert die Zapatisten diskursiv kaum und wenn, dann als kämpferisch, subversiv und bedrohlich. El Universal bringt zwar neutrale Nominationen für die entfernt Beteiligten an der indigenen Bewegung, konstruiert jedoch für die Zapatistas selbst negative images. Zudem wird die indigene Bevölkerung undifferenziert und homogen repräsentiert, was mit Gleichgültigkeit gegenüber der sprachlichen und kulturellen Vielfalt der indígenas gleichzusetzen ist. Zur Nomination indigener Mexikaner werden im printmedialen Diskurs die Nominationen indígena und indio verwendet. Während ersteres neutral ist, kann indio abwertend konnotiert sein. La Jornada distanziert sich von dieser Verwendung der Nomination indio. Bei den Zeitungen Reforma und El Universal hingegen findet die Nomination indio grundsätzlich Verwendung. Dies reflektiert die Einstellung der Zeitschrift zur indigenen Bevölkerung. So repräsentiert La Jornada die Indigenen und den EZLN differenziert, während El Universal und Reforma die indigenen Mexikaner als homogene Gruppe darstellen und Zapatisten als agressive, subversive Kämpfer konstruieren. 4. Bibliographie Alemann, Ulrich. 2002. Methodik der Politikwissenschaft. Stuttgart: Kohlhammer. Álvarez Fabela, M. (2000). Acteal de los Mártires: Infamia para no olvidar. México: Plaza y Valdés. Julia Kuhn (Jena) & Isela Trujillo (Mexico DF) 80 Aubry et al (2003). Los Acuerdos de San Andrés. México: Gobierno del Estado de Chiapas. Bellinghausen, H. (2008). Acteal: Crimen de Estado. México: La Jornada Ediciones. Bonfil Batalla, G. (1972). “El concepto de indio en América: una categoría de la situación colonial” en Anales de Antropología 9: 105-124. México: UNAM. Cerceña, A (2001). “La marcha de la dignidad indígena.” In: El zapatismo y los derechos de los pueblos indígenas. 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DCECH, DLE, DHLE, DUE, AWB) definieren das Wort (in unterschiedlichen graphischen Varianten bosal, boçal, bozal) u. a. als Bezeichnung für gerade aus Afrika verschleppte Sklaven. Dass diese Interpretation das Ergebnis einer späteren Verengung der Wortbedeutung ist und wie es dazu im Laufe der Entwicklungsgeschichte von bozal gekommen ist, verdeutlicht die vorliegende semasiologische Fallstudie durch die Analyse der Beispiele aus zeitgenössischen Quellen. Die ausgewerteten Archivregister des Verwaltungsrates in Valencia zu den verschleppten Sklaven, Prozessakten der Inquisition in Lissabon, zeitgenössische Reiseberichte, sowie literarische Texte und Nachschlagewerke helfen, einzelne Schritte des Bedeutungswandels nachzuverfolgen. Eine nähere Analyse der einzelnen Verwendungsweisen von bozal zeigt, dass semantische Veränderungen vor allem unter kognitiven Gesichtspunkten zu deuten sind. Neue Verwendungen entstanden auf Basis der wahrgenommenen Kontiguität oder Similarität der Bezugsobjekte bzw. Konzepte und wurden durch kognitive Verfahren der Metonymie und der Metapher versprachlicht. Es lässt sich feststellen, dass die diachrone Veränderung der pragmatischen Funktion des Ausdrucks bozal für Personenbezeichnung axiologischer Natur ist und sich von einer allgemeinen Bezeichnung hin zu einer wertenden und weiter zu einer Beschimpfung entwickelte. Das Fallbeispiel ermöglicht es, die Wirkung kultureller Einstellungen und Stereotypen auf die Entwicklung der Wort- Alla Klimenkowa (Mainz) 84 semantik bereits im 15. und 16. Jahrhundert zu beobachten. Der Bedeutungswandel stand mit den sich verändernden kulturellen und historischen Bedingungen des kommunikativen Kontextes in Beziehung. Es ist hervorzuheben, dass die diskutierten Verfahren der lexikalischen Anreicherung sowohl auf der Iberischen Halbinsel als auch in der Karibik durch Sprach- und Kulturkontakt ausgelöst wurden. 2. Die Etymologie des Wortes bozo und seine Verwendungsweisen Im 15. Jahrhundert nutzten Sprecher des Kastilischen den Ausdruck bozal sowohl für die Bezeichnung des Maulkorbs als auch für die Bezeichnung von Personen. Die polyseme Verwendung des Wortes zeigt sich zuerst unspektakulär, da es seinen Ursprung in den ebenso polysemen Lexemen hatte. Bereits vlat. *bocca, das auf lat. b cca ‚Backe, Wange‘ zurückgeht, wies eine metonymische Verschiebung der Referenz auf ‚Mund‘ sowie auch auf ‚Lippe‘ (cf. REW, s.v. bucca) auf. Die Bedeutungsveränderung basierte auf einer unmittelbaren räumlichen Beziehung der Konzepte WANGE, MUND und LIPPE im Frame „MENSCHLICHER KÖRPER“ (cf. Blank 1997, 239). Das kastilische bozo sowie auch sein Äquivalent buço im Portugiesischen und boç im Katalanischen und Valencianischen gehen auf vlat. *bocca bzw. die Derivate des lat. b cca, *b cc um, -us oder *b cc u ‚gehörend zum Mund‘ (cf. DCECH, DCLlC, DCVB), zurück. Die polyseme Komplexität, die bereits im vlat. *bocca angelegt war, spiegelte sich in der Mehrdeutigkeit von bozo wider, die auf der gleichen Beziehung der räumlichen Nähe bzw. auf den Teil-Ganzes-Relationen beruht. Sprecher des Kastilischen, des Galicischen, des Valencianischen und des Portugiesischen kannten das Wort im Sinne von ‚Gesichtsbzw. Lippenflaum‘, ‚Lippen allgemein‘, ‚Oberlippe‘ oder ‚Gesichtspartie um den Mund‘ (cf. u. a. DCLlC, DCVB für Katalanisch und Valencianisch; NDLP, DLP für das Portugiesische). Im Sprecherbewusstsein wurden also diese Gesichtsteile als zusammengehörig wahrgenommen, was metonymische Übertragungen ermöglichte. Die ältesten Belege von bozo im Kastilischen führt das DCECH von Corominas auf das 13. Jahrhundert (Libro de Alexandre, 1201-1250) zurück. Zumindest seit Nebrijas Eintrag „boço de la barua“ (VEL, s.v. boço) listen einschlägige Wörterbücher (cf. Alfabeto von Rosal, DA, DHLE, DCECH, DLE) diese Bedeutung als die zentrale im Kastilischen auf. 1 1 Diese Tendenz bestätigt auch die Datensammlung des modernen Sprachgebrauchs CREA. Bozal: Was hat der Maulkorb mit Basken und Afrikanern zu tun? 85 Im Gebrauch der Sprecher des Valencianischen und des Katalanischen war die Verwendung von boç im Sinne von ‚Lippenflaum‘ etc. eher sekundär. Das Wort diente vor allem als Bezeichnung des Maulkorbs für verschiedene Tierarten, wie Reittiere, Rinder und Hunde: Boç - entrelligat de corretges, de corda o de filferro, que posen enrevoltant la boca dels cans perquè no mosseguin o de les bísties cavallines perquè no mengin. (DCVB, s.v.) Im Kastilischen existierte eine ähnliche Verwendungsweise von bozo, jedoch, mit Ausnahme einiger regionaler Abweichungen, vorwiegend im Sinne von ‚Riemen‘ oder ‚Halfter‘ in Bezug auf Reittiere (cf. DA, DHLE, DLE, s.v.). Im Unterschied zum Valencianischen und Katalanischen, in welchen das polyseme boç sowohl die Bedeutung ‚Lippenflaum‘ als auch die Bedeutung ‚Maulkorb‘ hatte, griffen die Sprecher des Kastilischen auf das Verfahren der Wortbildung zurück, um das Konzept MAULKORB sprachlich zu realisieren. Das Suffix -al, welches auf lat. - lis zurückgeht, ermöglichte seit dem 12.-13. Jahrhundert neben der Ableitung von Adjektiven der Zugehörigkeit, wie mineral, terrenal, etc., auch die Derivation von Substantiven mit derselben Bedeutung, wie portal, catedral, pañal, etc. (cf. Pharies 2002, 57) oder mit der Bedeutung der Anwendung („aplicación“ cf. DUE, s.v. -al), wie bozal, memorial. Der Bedeutungskern von bozal im Sinne von ‚Maulkorb‘ in Bezug auf alle in Frage kommenden Tiere fokussierte auf die Funktion des Gerätes, das Maul (bozo) zu verschließen und damit das Tier von bestimmten Handlungen, sei es Beißen, Saugen oder Fressen, abzuhalten. Durch die neue Ableitung bozal markierten Sprecher des Kastilischen einen sachlichen Unterschied zu bozo im Sinne von ‚Halfter für Reittiere‘, sowie auch zu dem verwandten Ausdruck embozo 2 bzw. rebozo, der die Bedeutung ‚Gegenstand zur äußerlichen Bedeckung des unteren Gesichtsteils der Menschen‘ hatte. Diese Differenzierung war beispielsweise im Valencianischen nicht notwendig, da der polyseme Ausdruck emboç 3 die Verwendungsweisen sowohl in Bezug auf Tiere als auch auf Menschen abdeckte. 4 2 Cf. DA, s.v. emboço, emboçar: “La cosa con que uno se cubre y encubre el rostro. Como la falda de la capa, una banda, ù otro qualquier velo ò mascarilla para tapar la cara [...]. Embozar v. a. Encubrir el rostro, no del todo, sino por la parte inferior hasta casi los ojos: y porque lo principal que se tapa y encubre es la barba y boca donde está el bozo, por esta razón se dice Embozar.” 3 Cf. DCVB, s.v. emboç: “I. || 1. La porció de manta, de capa o d'altra peça d'abric, que es destina a cobrir la boca i la cara; cast. embozo. [...] II. || 1. Morral que es posa a la Alla Klimenkowa (Mainz) 86 3. Die Verwendung von bozal als ‚Maulkorb‘ auf der Iberischen Halbinsel, in Hispanoamerika und in der Karibik Das im heutigen Valencianischen, Katalanischen, Galicischen und Portugiesischen vorhandene boçal bzw. bozal im Sinne von ‚Maulkorb‘, welches teilweise einige semantische Besonderheiten aufweist, ist auf das kastilische bozal zurückzuführen. Die Gemeinsamkeiten im Gebrauch finden sich insbesondere in den Grenzgebieten zum spanischen Sprachraum. So hat boçal in der portugiesischen Provinz Alentejo, die an die spanische Extremadura grenzt, die Bedeutung ‚Fressbremse‘, welche die Tiere vom Fressen des Saatgutes abhält (cf. NDLP, s.v.). In Südbrasilien entwickelte sich eine spezifische Verwendung von buçal als Zaumzeug der Pferde (cf. Aurélio, s.v.). Auf die Wirkung des Sprachkontaktes deutet auch die Präsenz dieser Verwendung im haitianischen Kreyòl hin. Die Franzosen übernahmen das spanische Wort in der Karibik, wohin die Spanier es offensichtlich während der Kolonisierung brachten. Die Sprecher des Kreyòl verfügen nicht nur über das Substantiv bosal mit der Bedeutung ‚Maulkorb für Reittiere‘ (cf. Lexicréole (2001, 40): „muselière pour dompter ânes, mulets, chevaux“) bzw. ‚Zaum‘ (cf. HCEFD: „bride“, s.v. bosal), sondern auch über das abgeleitete Verb bosale. Auffallend ist, dass bosale die gleiche Bedeutung ‚ein Pferd abrichten, zähmen‘ (cf. HCEFD: „dompter (un cheval)“)‚ wie das spanische bozalear hat. Die Ähnlichkeit der Bedeutung geht in beiden Fällen auf das gleiche Ableitungsverfahren vom Nomen zum Verb zurück. Die Verwendung ‚Maulkorb‘ gelangte aus dem Spanischen bzw. Portugiesischen auch auf die Niederländischen Antillen. Im Papiamentu findet man bosá und bosal mit der Bedeutung „muilkorf, muilband“ (cf. DPU; DPH), sowie auch bosal mit der Bedeutung „halster“, das insbesondere für die Insel Aruba typisch ist (cf. DPH; GWPN, s.v.). Belege aus der spanischsprachigen Karibik sowie aus Süd- und Mittelamerika zeigen, dass sich bozal in den neuen Territorien als besonders erfolgreich erwies. Sowohl hier als auch in Spanien verdrängte der Ausboca dels gossos i d'altres animals (cabres, cavalls, muls, etc.) per evitar que mosseguin o que mengin; cast. bozal.” 4 In der Mundart von Rioja weist das Wort bozo eine ähnliche polyseme Entwicklung auf und wird als ‘Halfter’, ‘Maulkorb‘ und ‚Mundbedeckung‘ embozo verwendet (cf. TLHR, s.v.). Bozal: Was hat der Maulkorb mit Basken und Afrikanern zu tun? 87 druck allmählich die konkurrierende Verwendung von bozo mit der Bedeutung ‚Halfter‘, 5 wie die folgenden Beispiele veranschaulichen: Bozal. Con ese nombre se conoce en varias partes de América lo mismo que los españoles llaman bozo, esto es, el cabestro que se anuda al hocico de las caballerías para conducirlas con facilidad. (DBPCR 1893, s.v.; Costa-Rica) Bozal. Llamase así el cabestro o ronzal que se echa a los caballos sobre la boca, y que haciendo un nudo en el barboquejo, forma un cabezon con solo un cabo o rienda. (Diccionario de equitación 1854, 44; Spanien). 4. Die Verwendung von bozal in Bezug auf Menschen und Tiere Die folgenden Abschnitte sind der Personenbezeichnung bozal gewidmet, da gerade diese Verwendungsweise des Wortes einen interessanten semantischen Wandel, insbesondere im kolonialen Kontext, erlebte. Diese Bedeutung von bozal war bereits im 15. Jahrhundert neben der Verwendung im Sinne von ‚Maulkorb‘ auf der Iberischen Halbinsel bekannt. Man findet bei Nebrija (1495) den Ausdruck „siervo bozal“ (VEL, s.v.) in Bezug auf einen noch neuen, also in der Haushaltshilfe unerfahrenen Diener, „cosa nueva en servicio“. Bei der Erklärung dieser Verwendungsweise von bozal geht Corominas von der Überlegung aus: „que aun tiene bozo“, „inexperto, bobalicón“ (cf. DCECH, s.v. bozal). Das Beispiel ist nicht das einzige vom Ende des 15. Jahrhunderts, das die Verwendung von bozal zur Versprachlichung des Konzeptes UNERFAHREN darstellt. Es handelt sich hier um eine metonymische Verwendung, deren Entwicklung sich in kleinen Schritten vollzog. Ausgehend vom Alltagswissen, dass bozo in der Bedeutung ‚Lippenflaum‘, ‚erster Bart‘ typisch für junge Leute ist, leiteten Sprecher davon das Adjektiv bozal ab, um Personen mit diesem charakteristischen Merkmal zu bezeichnen: una persona bozal ist also eine junge Person, bei der noch der Gesichtsflaum zu sehen ist. Diese Ableitung entstand mithilfe des Suffixes -al, das Adjektive der Zugehörigkeit bilden konnte. Auf Basis 5 Bei der Erweiterung der Bedeutung auf ‚Halfter für Reittiere‘ auf Kosten des Lexems bozo handelt es sich laut Blanks Terminologie (cf. Blank 1997, 207-208) um eine „kohyponymische Übertragung“, da sowohl der Halfter als auch der Maulkorb dem Oberbegriff „TIERAUSRÜSTUNG“ zugeordnet sind. Diese Übertragung erfolgte wahrscheinlich aus einem „nicht genauen Referieren“ der Sprecher auf Grund der funktionalen Gemeinsamkeit der Referenten: man verwendete beide Geräte für das gleiche Körperteil, das Maul des Tieres. Alla Klimenkowa (Mainz) 88 des stereotypen Wissens über junge Personen assoziierten Sprecher das Konzept JUNG mit einem weiteren salienten Attribut einer jungen Person, der Unerfahrenheit. Die kognitive Semantik erklärt die metonymische Übertragung von bozal auf unerfahrene Menschen dadurch, dass beide Merkmale gleichzeitig im selben Wissenskontext bzw. Frame (cf. Koch 1999, 146 ff.) auftreten: wer jung ist, ist typischerweise geistig und fachlich unreif. Die Bedeutung des im engeren Sinn benutzten Adjektivs wurde also infolge des Bedeutungswandels erweitert (cf. Blank 1997, 265). Dass sich die Sprecher der Zusammengehörigkeit der beiden Konzepte bewusst waren, erkennt man z. B. an dem spanischen Sprichwort „Tiénese la leche en los labios. Traése la leche en los labios” aus dem Vocabulario de refranes y frases proverbiales, 1627 von Correas (cf. CORDE, s.v. bozal). Der Autor interpretiert diese Wendung als “Para dezir ke un mozuelo es bozal i nuevo en las kosas, i sin esperienzia.“ Kollokationen wie „gente muy bozal para la guerra“, „cortesano bozal“, „muchacha bozal in Madrid“ und „bozal en caminos“, welche die Sprecher in den nachfolgend zitierten Beispielen verwenden, beziehen sich auf nicht ausgebildete, unerfahrene Personen in den verschiedensten Bereichen, wie z. B. Krieg, Umgangsformen, städtisches Leben oder geographische Orientierung, etc.: [...] lo que no se puede hacer desde España, á causa de venir la gente que de allá viene muy bozal para la guerra de los indios, é no hecha á los mantenimientos ni temple desta tierra ni trabajos de ella [...] (Carta del Licenciado Pedro de la Gasca al Consejo de Indias, 1548, in: CORDE) está en gran congruencia, que pues el bozal y nuevo cortesano se informa de los que se han criado en corte de la manera y estilos [...] (Pineda: Diálogos familiares de la agricultura cristiana, 1589, in: CORDE) Anda, vete, muchacha, que eres tonta,/ o bozal en Madrid, que tanto monta. (Quiñones, Entremeses, in: DHLE) Era Catalina [gallega] muy bozal en caminos, como quien no había salido de su lugar en su vida, sino, sólo por leña al monte. (Castillo Solórzano: La niña de los embustes, 1692, in: CORDE). Der Ausdruck „un piloto bozal“ im Triunfo do inverno von Gil Vicente (um 1529, 290) spottet über die im 16. Jahrhundert in Portugal verbreitete Praxis, die Leitung der Schiffe bei transatlantischen Fahrten den Adligen nicht auf Grund ihrer Erfahrung auf See, sondern auf Grund ihrer Titel und der aristokratischen Hierarchie anzuvertrauen: „offício de tanto perigo/ dar-se a quem n-o sabe nada.“ Bozal: Was hat der Maulkorb mit Basken und Afrikanern zu tun? 89 Die Anwendung des Ausdrucks in verschiedenen Redesituationen spricht für eine schnelle Lexikalisierung der neuen, metonymischen Verwendungsweise. Da die Sprecher häufig gebrauchte syntaktische Fügungen mit bozal aufgrund des Kontextes eindeutig interpretieren konnten, wurden diese oft elliptisch zum Einzelwort reduziert. Es handelte sich bei diesem Schritt lediglich um einen Bezeichnungswandel (cf. Blank 1997, 281), der aber mit dem Wortartwechsel vom Adjektiv zum Substantiv bozal, genauer gesagt einer Konversion (cf. Blank 1997, 108) einherging. Für die Sprecher ergab sich damit eine Homonymie zwischen der nominalen wörtlichen Verwendung von bozal im Sinne von ‚Maulkorb‘ und der nominalen metonymischen Verwendung im Sinne von ‚unerfahren/ jung‘. Beide Verwendungsweisen sollten laut Belegen zumindest am Ende des 15. Jahrhunderts zeitgleich verwendet werden (cf. DCECH, s.v. bozo). Interessant ist, dass nach der Etablierung der Verwendungsweise von bozal als Personenbezeichnung den Sprechern die Möglichkeit zur Verfügung stand, die Bezeichnung auch auf Tiere mit den gleichen Merkmalen (jung, unerfahren) zu übertragen, und dies sowohl adjektivisch als auch nominal. Diese Bedeutungsübertragung erfolgte nahezu zeitgleich, da die ersten schriftlichen Belege in Bezug auf Menschen auf die Jahre 1494 und 1495 und in Bezug auf Tiere auf das Jahr 1527 zurückgehen. Selbst Nebrijas Eintrag „cosa nueva en servicio“ von 1495 (VEL, s.v. bozal) lässt eine weitergehende, nicht nur auf Menschen beschränkte Interpretation zu. Es ist davon auszugehen, dass die entstandene Homonymie keine Verständnisprobleme für die Sprecher verursachte und sie sich des semantischen Unterschieds bewusst waren. Wie die nachfolgenden Beispiele zeigen, hießen Tiere bozales, nicht weil sie einen Maulkorb trugen, sondern weil sie noch jung und unerfahren bzw. nicht abgerichtet oder nicht gezähmt waren. In Ordenanças de Seuilla ( 2 1632, fol. 226v/ [ 1 1527]) tritt das Wort im folgenden Kontext auf: [...] ningún corredor de bestias menores, no vse de tratar, ni auenir yeguas de prado, ni potros, ni mulos, ni mulas, boçales; saluo que llamen a qualquier corredor de las bestias mayores, para que lo pueda assi ygualar, y auenir [...] 6 6 Zu beachten ist, dass städtische Regelungen und Anordnungen häufig als Handschriften existierten, die erst später zusammengefasst und in einem Sammelband herausgegeben wurden. Möglicherweise entstand auch das erwähnte Dokument früher. Wie der Narratio-Teil der zitierten Urkunde zeigt, handelte es sich um die Verlängerung der bereits existierenden Regelung („el qual ordenamiento fue fecho Alla Klimenkowa (Mainz) 90 Mit Bezug auf die erwähnte Quelle fasst das DHLE (s.v. boçal) die Bedeutung des Ausdrucks als „Tratándose de caballerías, cerril o sin domar“ zusammen. Die gleiche Definition wiederholen DHMLE, DLE, DUE, sowie auch einige Autoren, wie z. B. John Lipski (2005, 5). Das Zitat ist jedoch präzisionsbedürftig, da es sich um eine Anordnung für Kleinviehhändler handelte, obwohl die erwähnten Tiere (Stuten, Fohlen, Maultiere) zur Kategorie des Großviehs gehören. Um eindeutig zu verstehen, welcher Art von Tieren diese Bezeichnung zugewiesen wurde, ist ein Blick auf andere Quellen notwendig. Im nordöstlichen Portugal (Trás-os- Montes nordwestlich von Galicien) hießen wenige Monate alte Maultiere buçal bzw. buçala, und im Westen des Landes hatten Welpen die Bezeichnung buço (cf. NDLP, s.v.). In einem portugiesischen Beleg von 1617 bezieht sich der Ausdruck „Elefantes boçaes; n-o ensinados para a guerra” (cf. DLP, s.v. boçal) auf noch nicht angelernte Tiere. Im 19. Jahrhundert nannte man noch nicht gezähmte Fohlen, die im Freien oder in der Wildnis aufwuchsen, bozales: Se aplica algunas veces á los potros cerriles cuando están en las dehesas y á los que habitan en las selvas y florestas sin enseñanza ni cultura. (Diccionario de equitación 1854, 44) Das allgemeine Bild, das die dargestellten Belege vermitteln, spricht dafür, dass das Merkmal WILD eher sekundär für die Bezeichnung war. Es handelte sich vermutlich nicht um generell wilde (salvaje, cerril), sondern um bis zu einer bestimmten Zeit (z. B. weil sie noch zu jung waren) frei und ungezwungen aufwachsende Tiere, denen noch die Erziehung fehlte. 7 Wahrscheinlich aus dieser Perspektive muss man auch den Auszug aus den Ordenanzas interpretieren: Kaufleute, die mit Kleinvieh handelten, durften keine Geschäfte mit Tieren betreiben, die nicht zu dieser Kaantiguamente“ fol. 225v.) von Juan Alfonso, „Alcalde de corredores“. Der gleiche Name erscheint unter derselben Amtsbezeichnung auch in einem Dokument aus dem Jahr 1402: „Pregón que se dió en el tiempo del Corregidor Juan Alonso, año de MCCCCII“ (fol. 224v). Die Übereinstimmung von Namen und Amtsbezeichnung machen es nicht unwahrscheinlich, dass es sich um die gleiche Person handelt. Wenn die uns interessierende Regelung in der Tat auf den Anfang des 15. Jahrhunderts zurück zu datieren ist, könnte man vom früheren Gebrauch von bozal ausgehen. Die konsultierten Dokumentensammlungen der Stadtverwaltung von Gran Canaria (1531), Córdoba (1425) und Carmona (ca. 1525-1535) brachten keine weiteren Erkenntnisse, da sie den Ausdruck bozal nicht enthalten. 7 Bevor ihnen die Zügel angelegt wurden, gewöhnte man junge Tiere zuerst an einen Halfter im Verfahren, das beispielweise in Costa Rica bozalear (cf. DBPCR, s.v.) und in Brasilien buçalar (cf. Aurélio, s.v.) heißt. Bozal: Was hat der Maulkorb mit Basken und Afrikanern zu tun? 91 tegorie gehörten, obwohl sie noch jung bzw. klein waren. Die Ähnlichkeit der Merkmale, das junge Alter und fehlende Erziehung bzw. Ausbildung, auf Grund deren bozal als Bezeichnung sowohl für Tiere als auch für Personen verwendet wurde, lässt sich deutlich im letzten Beispiel erkennen. Der zeitgleiche Gebrauch von bozal für beide, Menschen und Tiere, eröffnete die Möglichkeit für weitere metonymische Erweiterungen des Ausdrucks, indem Sprecher auch andere Implikationen auf Basis ihres Wissens über beide Gruppen von Referenten nutzten. 5. Sprachliche Kompetenz als Schlüsselkategorie Ende des 15. Jahrhunderts findet man eine weitere Verwendungsweise von bozal im valencianischen Sprachraum. Diese Bezeichnung bekamen Sklaven, die das Spanische nicht beherrschten und deren Sprachen auf der Iberischen Halbinsel ebenso nicht bekannt waren. Die frühesten schriftlichen Belege dieser Verwendung liefert eine Reihe von Dokumenten unter dem Titel Presentaciones y confesiones de cautivos aus den Büchern des Verwaltungsrates (Baylía General) des Königreichs Valencia. Es handelt sich dabei um Geständnisse der Sklaven vor dem Stadtrat über die Umstände ihrer Versklavung. Die Verordnungen des Königreichs Valencia verlangten einen Nachweis von den Sklavenhändlern, dass sie ihre Sklaven ‚im gerechten Krieg‘ („de bona guerra“) und damit auf eine legitime Art und Weise erworben hatten. Zu diesem Zweck befragten die Mitglieder des Verwaltungsrates alle neu angekommenen Sklaven und verlangten von ihnen einen Eid nach deren Brauch („segnons su secta“ ARV, B.G. 194, fol. 98). Gefragt wurden die Sklaven nach ihrem Namen, Alter, Herkunft, Familienstand, Beruf, ob sie frei oder in Gefangenschaft sind, und wie sie gefangen wurden. Die Analyse der Berichte soll zur Aufklärung beitragen, auf Grund welcher Charakteristika die befragten Personen die Bezeichnung bozal erhielten. Auf dem valencianischen Markt, der auf eine lange Geschichte im Sklavenhandel zurückblickt, waren als bosales/ boçales vorwiegend westafrikanische Sklaven aus dem Volksstamm der Wolof (Jalof, Galoff), in geringerem Maße Sklaven aus dem Volksstamm der Mandinga, sowie auch die sogenannten weißen Sklaven 8 wie Guanchen und in einzelnen Fällen 8 Unter den so genannten „esclavos blancos“ verstand man zum Ende des 15. bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts vor allem weiße oder hellhäutige Berber Nordafrikas wie Libyer, Numider, Getulier, ebenso wie Guanchen von den Kanaren, von der Ibe- Alla Klimenkowa (Mainz) 92 Berber registriert. Die erste schriftliche Erwähnung dieser Bezeichnung aus dem Jahr 1494 lässt sich im Zusammenhang mit einer der großen Lieferungen von Wolof-Sklaven belegen. Da es sich in diesem Fall weder um die erste Gruppenlieferung noch um die erste Registrierung von westafrikanischen Sklaven generell in Valencia handelt, ist anzunehmen, dass bozal als Kennzeichnung von Sklaven bereits früher bekannt war. 9 Die Berichte des Verwaltungsrates zeugen davon, dass die Rasse bzw. Hautfarbe und das Herkunftsland keine entscheidende Rolle spielten, um jemandem die Bezeichnung bozal zuzuweisen. Ebenso irrelevant war die Tatsache, wann und ob die Sklaven direkt aus einem afrikanischen Sklavendepot verschifft oder aus Portugal bzw. Kastilien gebracht wurden. Die Tatsache, den christlichen Glauben angenommen zu haben, schloss ebenso nicht aus, dass die Person bozal war. [...] una cativa blancha de terra de Canaria de edad de vi anys appellada Ysabel crestiana [...] no juro com fos menor ne meys fonch interrogada com fos chicha e molt bosal e nos poguessen de aquella exhegir confessions algunes. (ARV B.G. 194, fol. 120, 1494) Die analysierten Archivdokumente zeigen jedoch, dass sich nicht alle in Valencia eingetroffenen Sklaven auf dem gleichen kulturellen Niveau befanden und nicht alle als bozales bezeichnet wurden. Während das Befragungsverfahren von einigen, wie im letztgenannten Fall, keine Ergebnisse brachte, beherrschten andere eine romanische Sprache auf einem ausreichenden Niveau, um Fragen zu ihrem Hintergrund, z. B. über die Umstände ihrer Versklavung, Taufe und Dienst, ausführlich beantworten zu können. Als Beispiel hier das Zitat aus einem Befragungsprotokoll aus dem Jahr 1494 (ARV B.G. 194 fol. 24-25): […] Francisco negre [natural de Jaloff]/ Fonch interroguat si es crestian e dix que si e que en Lisbona lo fon crestian Frayre Johan del qual era catiu./ Fonch interroguat com es estat pres e vengut a la present ciutat e dix que ell confessant en reps ab molts fon pres per lo rey de Galoff e ponat a la/ ciutat de Lisboa e alli fon venut a frare Johan lo qual lo feu crestian e (api) es lo dit Frare Johan lo vene al dit Rodrigo Dias lo qual lo ha ponet per mar a la present ciutat […] rischen Halbinsel stammende Mudejaren und Morisken, und in geringem Maße Europäer (cf. Romero 1994, 44-45). 9 So beziehen sich Cortés (1972, 127), Verlinden (1977, 355-356) und Lipski (2005, 15) auf das Jahr 1489, in dem, ebenso wie im Jahre 1494, der gleiche florentinische Sklavenhändler Sesaro de Barchi eine Gruppe von Wolof-Sklaven nach Valencia brachte. Bozal: Was hat der Maulkorb mit Basken und Afrikanern zu tun? 93 Dieses und ähnliche Beispiele deuten auf die Präsenz von Sklaven hin, die offensichtlich ladinos waren, obwohl der Begriff in keinem der Dokumente zu lesen ist. Sie hatten eine ausreichend lange Zeit in europäischer Gesellschaft verbracht, um eine romanische Volkssprache zu erlernen, waren Christen, leisteten den Eid auf das Evangelium und standen damit in einem klaren Kontrast zu unerfahrenen Afrikanern und Guanchen, die als bozales die gestellten Fragen nicht beantworten und keinen Eid nach eigenem Brauch ablegen konnten („no sabes lo jurament per etre boçal“ B.G. 194, fol. 80). Es lässt sich also annehmen, dass das Konzept BOZAL im Sprecherbewusstsein als Gegenteil zum Konzept LADINO wahrgenommen wurde. Um diese Verwendungsweise von bozal besser nachzuvollziehen und die möglichen Bedeutungsveränderungen herauszufinden, ist es notwendig einen Blick darauf zu werfen, wen genau die Spanier am Ende des 15. bis ins 16. Jahrhundert unter ladino verstanden. Auch am Beispiel des Ausdrucks ladino lässt sich eine Reihe von kleinschrittigen metonymischen Übertragungen beobachten. Als ladinos bezeichneten Sprecher die Ausländer, vor allem Mauren, die über gute Kenntnisse des Spanischen („nuestra lengua“, „lengua castellana/ española“ cf. TLC, Rosal, DA, ss.vv.; Alvar 2000, 26-27) verfügten. Außerdem gehörten folgende Aspekte infolge metonymischer Erweiterung zu den Attributen von ladinos: eine allgemeine Fähigkeit, gut und deutlich zu sprechen (cf. „ladino llaman en España a el que habla claro y distintamente pronunciando las palabras muy cortadas y distintas“ Diego de Guadix: Recopilación, 1593, zit. nach: Alvar 2000, 24), die Kenntnis der spanischen Kultur (cf. “Ladino, el que entiende nuestra lengua y costumbres, o está en las cosas de nuestra Patria” Rosal, s.v.), sowie auch gute Manieren und gute Auffassungsgabe (cf. “nació llamar hoy en día ladino al hombre que tiene entendimiento y discurso, avisado, astuto y cortesano” TLC, s.v. ladino). In vielen Aspekten, wie der Erfahrung mit der europäischen Kultur, der Lebensform oder dem bereits erlernten handwerklichen Wissen, waren ladinos, oft Mauren oder Berber, den bozal-Sklaven überlegen. Man beurteilte letztere allgemein als wenig „intelligent“ („no sabes lo jurament per etre boçal“ B.G. 194, fol. 80; „no tinges prou intelligencia“ B.G. 194, fol. Alla Klimenkowa (Mainz) 94 10v). 10 Die Tatsache, dass den Sklaven die Erfahrung in der Praxis des Schwörens und im Verhalten gegenüber den Verwaltungsinstanzen fehlte, zeugte aus der europäischen Weltsicht von ihrem niedrigen Kulturstand. Kulturelle Unerfahrenheit war jedoch nicht der einzige Faktor, der den Unterschied zwischen ladinos und bozales bestimmte. Aus ihrem Alltagswissen heraus hielten Sprecher das Attribut SPRACHUNKUNDIG als typisch für unerfahrene, ortsfremde Personen bzw. Sklaven. Dass das Merkmal des fehlenden Sprachwissens in der Tat in den Vordergrund der Verwendung von bozal trat, illustrieren zahlreiche zeitgenössische Belege. Der Bedeutungswandel ließ sich anscheinend durch die Neigung der Sprecher motivieren, die Sprachfähigkeit als Schlüsselreferenz auf die Person selbst zu betrachten und diesen Aspekt als wichtig zu fokussieren. Freie Kommentare der Schreiber, die selten in den analysierten Verwaltungsdokumenten aus Valencia zu lesen waren, weisen sehr deutlich auf die fehlende sprachliche Kompetenz der Afrikaner und Guanchen hin. Zu ihnen gehören z. B. „ni menys fonch interroguat com no sabes perlar“ (B.G. 194, fol. 42v, 1494), „no y ha ques persona qui la entengues“ (B.G. 194, fol. 236; 1495), „no sabes reppondre a mes interrogaçons“ (B.G. 152 fol. 1; 1502). Eine deutliche Fokussierung auf den Aspekt der sprachlichen Unverständlichkeit zeigt sich auch im folgenden Zitat aus einem der gerichtlichen Dokumente der Inquisition von Lissabon aus dem Jahr 1566: [...] Pedro homem preto Jalofo de naç-o, cativo do doctor Pedro de Palacios fisiquo, morador desta çidade, ao qual fezer-o pergumta se era christ-o baptizado; diese que s era christ-o e o baptizar-o Arguim….e diese lhe naõ jnsinaraõ docryna allgu- n a sabe, somente se b zeo….y tudo ysto dise lynguoajem que se tendia mal, por ser ajnda boçal e que a sua terra se chamava Jalofo. (ATT - Inquisición de Lisboa, processo n 10.949, in: MMA 2004, 589) Aus den beiden letztgenannten Belegen von bozal kann man zwei Bedeutungsnuancen entnehmen, die auch für die Verwendung von ladino typisch waren (cf. Alvar 2000, 28): einerseits die Fähigkeit, castellano zu sprechen, und andererseits, die Fähigkeit, sich deutlich und normativ korrekt zu äußern. Die beiden Nuancen kommen bei der Zuweisung der Bezeichnung bozal nicht nur bei den Sklaven ins Spiel, sondern auch bei der Dorfbevölkerung mit ihrer starken lokalen Mundart und den Ein- 10 Intelligencia ist nicht als Begriff des modernen Kategoriensystems zur Bewertung kognitiver Fähigkeiten zu interpretieren. Es lässt sich nicht nur als ‚Fähigkeit etwas zu verstehen‘, entendimiento, sondern auch als ‚Geschicklichkeit‘ und ‚praktische, einschließlich kulturelle Erfahrung‘ deuten (cf. DA, s.v.). Bozal: Was hat der Maulkorb mit Basken und Afrikanern zu tun? 95 wohnern des Baskenlandes auf Grund ihres Unwissens des Kastilischen bzw. dessen fehlerhaften Gebrauchs: como estos fuesen Vascongados, no sabían la habla castellana, sino su cerrado Vascuence o Vizcaino; a la cual gente es muy comun preguntar lo primero: De donde sois? Y como eran bozales se lo preguntaban los Castellanos en Vascuence... (Rosal, s.v.) Su lenguaje era de Vizcaíno bozal, repitiendo la burro, el Mogiganga, Salamanca buen Ciudad, y otros términos semejantes. (Isla: Descripción de la máscara, 1878, in: CORDE) Noch Anfang des 20. Jahrhunderts hießen die Bewohner der Gemeinde Pedreguer nordwestlich von Alicante bozales, u. a. weil ihre Sprache dialektale Eigenschaften einer der katalanischen Varietäten (mallorquin) bewahrte: Boçal. Malnom que es dóna als habitants de Pedreguer (Marquesat de Dénia), perquè són molt senzills, mancats de cultura i amb reminiscències mallorquines en llur llenguatge, per tal com són descendents de pobladors mallorquins. (DCVB, s.v.) Italiener und Engländer bekamen aufgrund ihrer schlechten Kenntnisse der spanischen Sprache die gleiche Titulierung in Argentinien: Era un gringo tan bozal,/ Que nada se le entendía./ ¡Quién sabe de ánde sería! / Tal vez no juera cristiano,/ Pues lo único que decía/ Es que era papolitano. (Hernández 1872, vv. 847-852) Laut Pichardo (DPC, s. v. bozal) nannte man Ausländer, die das Spanische schlecht bzw. nicht beherrschten, auch auf Kuba bozales: Igualmente se llama Bozal al Colono Asiatico y a cualquier Extrangero que no sabe o estropea nuestro idioma. In allen diesen Beispielen kommt die für metonymische Adjektive häufige Tendenz in Richtung einer wertenden Markierung der Bedeutung zum Vorschein (cf. Blank 1997, 265). Dass sich die Bedeutung ‚sprachunkundig‘ fest in der Sprechergemeinschaft einspielte, verdeutlicht eine häufige Verwendung von bozal als rhetorisches Mittel zum Ausdruck der kommunikativen Schwierigkeiten. So spottet der entremés Los vocablos von Quiñones de Benavente über eine übertriebene sprachliche Eleganz der einfachen Personen, die sich um eine korrekte Sprache („hablar bien y al uso“) bemühten. Eine junge Dame bezeichnet ihre Freundin als bozal, da diese eine einfache Sprache Alla Klimenkowa (Mainz) 96 bevorzugt und die extravagante poetische Ausdrucksweise nicht verstehen kann: ¡Oh, qué bozal que estás, doña Quiteria! , que a lo antiguo que hilas, ¿es posible que nunca has de salir de tus mantillas? (Quiñones de Benavente um 1642, 6) Auf die bekannte Sprachunfähigkeit der gerade aus Afrika angekommenen Sklaven geht das auf den Niederländischen Antillen verbreitete Sprichwort „si bo forsa busá, busá ta papia latin een kat in het nauw maaks rare sprongen“ (GWPN, s.v. bosa) zurück, welches mit ‘eine verzweifelte Situation führt zu verzweifelten Taten‘ wiedergeben werden kann. 11 Der expressive Charakter dieser Aussage basiert auf dem Vergleich mit dem hoffnungslos sprachinkompetenten busá („recent uit Afrika ingevoerde negerslaaf“, cf. GWPN, s.v.): ‚in der Not spricht auch ein Schwarzer Latein‘. 6. Zur Erklärung des Bedeutungswandels von bozal Die Entwicklung der Personenbezeichnung bozal wies bereits am Anfang eine axiologische Ausrichtung auf. Die Bedeutung der allgemeinen Eigenschaft ‚jung‘ wandelte sich zur Bedeutung einer wertenden Charakteristik im Sinne von ‚unerfahren‘. Durch die Fokussierung auf die sprachliche Inkompetenz und damit metonymisch auf mangelnde intellektuelle Fähigkeiten im Allgemeinen entwickelte bozal eine pejorative Konnotation. Die sprachliche Unverständlichkeit wirkte sich unvermeidlich auf die Wahrnehmung der kulturellen und geistigen Reife der betroffenen Person aus. Hinter diesen Bedeutungsveränderungen sind stereotype Beurteilungen über Referenten deutlich zu sehen. Die übliche Unterstellung vieler negativer Eigenschaften (Rückständigkeit, Grobheit, Mangel an Bildung und Kultur) den Sklaven, Dorfbewohnern oder Basken aus den entfernten Gebirgsregionen führte zur Entwicklung einer „konversationellen Implikatur“ (nach Grice). Jemand ist insofern bozal, als ihm die nötige Ausbildung und Erziehung fehlen, um den gesellschaftlichen Modellen und Normen zu entsprechen. Mit der Verwendung von bozal 11 Dieses Sprichwort kann man wörtlich folgendermaßen übersetzen: ‚Wenn du einen gerade aus Afrika angekommenen Sklaven zwingst, spricht der Sklave Latein - eine in die Enge getriebene Katze macht ungewöhnliche Sprünge‘. Ich danke Frau Prof. Dr. Eckkrammer, die mich auf diese Wendung aufmerksam gemacht hat. Bozal: Was hat der Maulkorb mit Basken und Afrikanern zu tun? 97 brachte man also eine insgesamt negative Wertung der intellektuellen Entwicklung einer Person zum Ausdruck. Eine enge Assoziation der Bezeichnung mit Dorfbewohnern und Sklaven trug dazu bei, dass die Verwendung als Schimpfwort gängig wurde. Sie stand für den höchsten Grad der Stupidität und Ignoranz, und ist in Vergleichen oft als metaphorisches Mittel zu sehen: sin más conversación que la de un negro bozal que cura el caballo (Velázquez de Velasco: La Lena, 1602, in: DHLE), aun a los negros bozales/ manifiestas tu camino (Sánchez de Badajoz: Recopilación, 1544, 111), El tal oficial, si es bueno, suele ser imaginativo, diligente [...] El que no es tal es falso e de rudo ingenio, boçal y nada vivo para hazer bien su oficio [...] (Sahagún: Historia general, 1576-1577, in: CORDE). Assoziative Verbindungen zwischen den einzelnen Verwendungsweisen von bozal vermittelten dem Ausdruck einen hohen Grad an Informativität und expressiver Wirkung. Durch Versprachlichung verschiedener kognitiv verbundener Aspekte mit ein und demselben Wort konnten die Sprecher den Ausdruck ökonomisch benutzen, um effizient zu kommunizieren (Blank 1997, 371). Die Polysemie verursachte den Rezipienten möglicherweise keine Verständnisprobleme, denn dank dem klar abgegrenzten Referentenspektrum führten die einzelnen Bedeutungen in der Redesituation nicht zu Ambiguität. Die Expressivität des Ausdrucks lässt sich z. B. daran erkennen, dass er den Sprechern immer eine Möglichkeit zur graduellen Wertung einer Person und ihrer Kompetenz zur Verfügung stellte. Die Berichte des Verwaltungsrates in Valencia definierten die vorgestellten Sklaven nicht nur als bosales, sondern sehr oft als molt bosal. Im Tratado de esclavitud von Padre Sandoval (1627) finden sich die Steigerungen: bosalissima (242), los omnino ‚ganz und gar; völlig‘ bozales (408), los negros etiam ‚sogar, auch, noch‘ bozales (484), los mas bozales (499). Pichardo (1875, 102) spricht über die Möglichkeit, die Bezeichnungen mui bozal oder bozalón zuzuweisen, wobei das Suffix -on eine abwertende Nuancierung dieser hervorstechenden Charakteristik einer Person noch deutlicher zum Ausdruck bringt (cf. Pharies 2002, 430). Stephens (DLARET, s.v.) weist ebenso auf die Verstärkungsform bozalón hin, die im karibischen Sprachraum (Cuba, Puerto Rico, Westkolumbien) für sehr schlecht spanisch sprechende Sklaven sowohl zur Kolonialzeit als auch im 20. Jahrhundert üblich war. Den Ausdruck medio bozal verwendete man in Argentinien in Bezug auf Italiener und Engländer, die das Spanische nicht beherrschten Alla Klimenkowa (Mainz) 98 (cf. LHA, s.v.). Wie aus den Gebrauchskontexten dieser Steigerungsformen zu erschließen ist, beziehen sie sich sowohl auf sprachliche Inkompetenz von Personen, als auch auf ihre kulturelle bzw. praktische Unerfahrenheit. Es muss nun geklärt werden, auf welcher kognitiven Grundlage der Bedeutungswandel von bozal zustande kam, der zu einer komplexen Verwendung mit mehreren inbegriffenen Aspekten führte. Die verstärkte Fokussierung auf den Aspekt der fehlenden Sprachkompetenz in der Verwendung von bozal könnte man als eine metonymische Verschiebung der Referenz auf ein Attribut interpretieren, das dem prototypischen Konzept von bozal anhaftete. Wie es die bereits analysierten Beispiele zeigen‚ bezog sich der Ausdruck bozal auf die Unerfahrenheit der Referenten in unterschiedlichen Gebieten. Durch die Hervorhebung des sprachlichen Aspektes rückten die Sprecher den intellektuellen Bereich deutlicher in den Vordergrund. Das Alltagswissen ermöglichte darüber hinaus andere Implikationen des Ausdrucks, da prägnante Eigenschaften, wie Unerfahrenheit, Rohheit, Grobheit, Primitivität z. B. im Fall von Sklaven und einfachen Dorfbewohnern häufig gemeinsam vorkamen. Folglich bildete aus der kognitiven Sicht eine zeitliche Übereinstimmung dieser Konzepte die Grundlage für metonymische Verschiebungen der Bedeutung und damit für einen effizienten Gebrauch des Ausdrucks, der viele Aspekte zusammenfasste. Die Definitionen von bozal in zeitgenössischen Nachschlagwerken weisen jedoch eine Unstimmigkeit mit dieser Schlussfolgerung aus. Die Sprecher des Kastilischen assoziierten die verhinderte Sprechweise bzw. Sprachfähigkeit einer Person mit der physischen Verhinderung durch einen Maulkorb. So finden sich im etymologischen Wörterbuch Francisco Rosals (1601) zwei Verwendungsweisen von bozal: als das Maul verschließendes Werkzeug, sowie auch als unverständlich sprechende Person. Beide Verwendungsweisen stellt der Autor in einer konzeptuellen Verbindung zueinander dar: „Prision de la boca para las Bestias, y de aqui bozál el que no habla bien“ (cf. Rosal, s.v. bozal). Das Referieren auf das Konzept MAULKORB erkennt man auch in der englischen Übersetzung des spanischen bozal im zweisprachigen Wörterbuch von John Minsheu (1599), ebenso wie in seinem H gem n eis tas gl ssas (1617): Boçal, a mussler, a muzzle, one that assayeth and trieth to speake a toong, yet cannot (Minsheu 1599, 46) Bozal: Was hat der Maulkorb mit Basken und Afrikanern zu tun? 99 Boçal, gal. museliere; lat. fiscilla; angl. a monzell, quasi mouth seale, to seale vp the mouth (Minsheu 1617, s.v.) Die gleiche Denkrichtung greift der Historiker George Scelle (1906, 222) auf, indem er dem französischen Publikum am Anfang des 20. Jahrhunderts das spanische bozal als Bezeichnung der afrikanischen Sklaven als muselé, d. h. mit einem Maulkorb versehen, erklärt: Encore l’on ne permettait point de vendre aux Indes toutes sortes de nègres. On appelait „bozals“ ou „muselés“ les nègres récemment importés d’Afrique en Espagne, ou directement d’Afrique en Amérique. Bei der Interpretation der Verwendungsweise von bozal in Verbindung mit dem Konzept MAULKORB liegt möglicherweise ein volksetymologischer Einfluss vor. Die Homonymie des Ausdrucks spielte dabei eine auslösende Rolle, so dass Sprecher von der Zusammengehörigkeit der formal identischen Wörter und der dahinterstehenden Konzepte ausgingen. Bei der Fokussierung des Aspektes der Sprachlosigkeit trat das Konzept BOZAL ‚Maulkorb‘ im Sprecherbewusstsein offensichtlich besonders salient in den Vordergrund, da der etymologische Zusammenhang mit der metonymischen Verwendung im Sinne von ‚unerfahren‘ weniger durchsichtig schien. Unter dem Einfluss der Kontiguitätsbeziehung zwischen dem Konzept MAULKORB und dem Konzept TIER setzten Sprecher eine Kontiguitätsrelation zwischen dem Konzept MAULKORB und dem Konzept MENSCH, insbesondere in Bezug auf die prototypischen sprachinkompetenten Referenten wie Sklaven und Dorfbevölkerung, voraus. Dabei erfolgte eine volksetymologische Umdeutung des Ausdrucks: Der Sprachunkundige kann sich deswegen nicht verständlich äußern, weil sein Mund durch einen Maulkorb verhindert ist. Die sprachliche Realisierung dieser Vorstellung erwies sich infolge der Homonymie und Homographie des Ausdrucks als nicht notwendig, aber die Kontiguitätsrelation zum Konzept MAULKORB blieb offensichtlich bei der Verwendung von bozal im Sprecherbewusstsein präsent. Andererseits könnte man sich die Verbindung zwischen dem Konzept SPRACHUNKUNDIG und dem Konzept MAULKORB auch als Metapher vorstellen. Die Sprecher wussten, dass eine sprachunkundige Person nicht fließend sprechen kann bzw. schweigt. Dieses Wissen nutzten sie, um den Vergleich mit beschränkten Mundbewegungen der Tiere aufzubauen, denen ein Maulkorb angelegt wurde. Auch in diesem Fall dürfte der Faktor des Referenten eine entscheidende Rolle spielen. Sklaven und einfache Leute wurden oft Tieren gleichgestellt, was auf der Idee der schweren physischen Arbeit, welche beide ausführten, den ihnen unter- Alla Klimenkowa (Mainz) 100 stellten beschränkten geistigen Kapazitäten und der Notwendigkeit einer Kontrolle basiert. Bei der Berücksichtigung dieser Vorstellungen ist die assoziative Basis des metaphorischen Vergleichs leicht nachvollziehbar. In Blanks Terminologie (cf. Blank 1997, 190) bot das Konzept MAULKORB eine metaphorische Brücke zwischen dem bildspendenden Frame „TIE- RE“ und dem bildempfangenden Frame „MENSCHEN“, da es sich in beiden Fällen um eingeschränkte Mundbewegungen handelte. Die Ursache für die verworrene Sprechweise eines Sklaven, eines ungebildeten Dorfbewohners oder eines Basken stellte man metaphorisch als Ergebnis des Maulkorbtragens heraus, da sie den Mund anders nicht bewegen konnten: no le puedo entender a este hombre, *lleva un bozal. Die Fügung llevar un bozal ‚einen Maulkorb tragen‘, die typischerweise in Verbindung mit Tieren verwendet wurde, bekam damit eine neue Bedeutung hablar ininteligible ‚unverständlich, anders sprechen‘. Obwohl die Lexikalisierung dieses Schrittes des Bedeutungswandels schriftlich nicht nachgewiesen ist, bleibt diese Annahme nicht unbegründet, wenn man idiomatische Wendungen vieler Sprachen in Betracht zieht, in denen das Konzept MAULKORB metaphorisch eine Verhinderung der sprachlichen Handlung repräsentiert: dt. jmdm. einen Maulkorb anlegen - ‚jmdn. an der freien Meinungsäußerung hindern‘ (Duden, s.v.) engl. to muzzle - ‘to prevent sb from expressing their opinions in public as they want to’ (OALD, s.v.) sp. si es el gobierno que los adultos elegimos el que permite que Telemisa y agencias publicitarias, sin bozal que las detenga, manipulen a todos (CREA) fr. museler (presse, opposition) - ‚mundtot machen‘ (LGSF, s.v.) pt. mordaça - ‚Maulkorb; Einschränkung der Meinungsfreiheit‘ (LTP, s.v.). Im Unterschied zu unserem Fall von bozal besteht jedoch die Besonderheit dieser Wendungen darin, dass hier tatsächlich die Idee der zwanghaften, physischen Verschließung des Mundes, wie bei den Tieren, aufgegriffen wurde. Geht man von der metaphorischen Grundlage der Beziehung zwischen der Unkenntnis einer anderen als der eigenen Sprache und der Verschließung des Mundes durch einen Maulkorb aus, ist das Ergebnis der Verwendung von bozal in Bezug auf sprachlose Personen möglicherweise als eine Ellipse zu deuten, denn es handelte sich ja nicht um einen direkten Vergleich zwischen einer Person und dem Maulkorb. Wenn man Bozal: Was hat der Maulkorb mit Basken und Afrikanern zu tun? 101 jedoch das Konzept MAULKORB als eine verallgemeinerte Vorstellung der eingeschränkten Mundbewegungen in den Vordergrund rückt, lässt sich die Phrase ‚un esclavo bozal‘ als elliptische Form vom metaphorischen ‚un esclavo que lleva un bozal’ interpretieren. Zahlreiche Belege zeugen davon, dass bozal wenigstens seit dem schriftlich bekannten Beleg aus dem Jahr 1494 in Verbindung mit der Unkenntnis einer romanischen Sprache bzw. einer unklaren Sprechweise gebracht wurde. Der etymologische Zusammenhang schien aber bereits den Zeitgenossen schwer erschließbar zu sein. Covarrubias (1611, TLC, s.v. bozal) leitet z. B. diese Verwendungsweise direkt von boca, boza ‚Mund‘ ab: Bozal. Boçal. El negro que no sabe otra lengua que la suya; y la lengua o lenguaje se llama labio, y los labios bezos; de boca, boza, y de allí bozal. [...] Y díjose bozal a buca, o bozo, por esa mesma razón, tomando el instrumento de la habla por el mesmo lenguaje. Die Interpretation einer metonymischen Verschiebung der Referenz von MUND auf die Bezeichnung für Sprache und Sprecher bleibt jedoch wegen der fehlenden Belege nur eine Vermutung. 7. Bedeutungsentwicklung im kolonialen Kontext Obwohl unterschiedliche Personengruppen wie Sklaven, Dorfbevölkerung, Einwohner des Baskenlandes oder allgemein Personen mit mangelhaften Sprach- und Fachkenntnissen auf der Iberischen Halbinsel zur Kategorie der bozales gehörten, fielen meistens die ersten zwei Gruppen ins Blickfeld. Dabei wurden nicht nur ihre sprachliche Inkompetenz, sondern immer mehr andere prägnante Eigenschaften, wie Grobheit, Rohheit, Primitivität hervorgehoben, die man typischerweise mit diesen Personen assoziierte. Diese Tendenz im Gebrauch des Wortes verdeutlicht der Kommentar aus dem DA (s.v. bozal): Bozal. El inculto, y que está por desbastar y pulir. Es epitheto que ordinariamente se da a los Negros, en especial quando están recien venidos de sus tierras: y se aplica también a los rústicos. Es lo contrario de Ladino. Während der Kolonisierung der Neuen Welt nahm die Entwicklung der Verwendung von bozal eine besondere Wendung. Sowohl auf den Antillen als auch auf dem hispanoamerikanischen Festland wurden westafrikanische Sklaven, neben der indigenen Bevölkerung, zu der dominierenden und mit der Zeit vielleicht einzigen Gruppe, welcher man die Alla Klimenkowa (Mainz) 102 Titulierung bozal zuwies. So fanden die Vertreter des portugiesischen Jesuitenordens in Brasilien (Relaç-o anual, 1600-1603, 374-375) kein anderes Volk so dumm und ungehobelt wie die índios brasís: Outra coisa que muita difilculta a convers-o e cultivaç-o desta gente é a muita boçalidade e pouca capacidade que de sua natureza tem, que n-o sabemos outra mais boçal no mundo. Dieses Zitat ist in der Hinsicht exemplarisch, dass es eines der wenigen Beispiele des wortbildenden Potenzials von bozal darstellt. Sprecher rückten die expressive Wirkung des Ausdrucks in den Vordergrund. Im negativen Sinn auffallend waren vor allem gerade vom afrikanischen Kontinent verschleppte Sklaven, die keinerlei oder sehr geringe Erfahrungen mit Europäern, ihren Sprachen und Kulturen hatten. Die Bezeichnung bozal wies man vorwiegend dieser Gruppe der Sklaven zu, so dass eine praktisch synonyme semantische Verknüpfung ausgelöst wurde. Dies erklärt, warum viele Autoren und zahlreiche Nachschlagewerke gerade diese Verwendungsweise von bozal angeben. Die Verschiebung der Referenz auf die Attribute ‚primitiv‘, ‚wild‘, ‚brutal‘ kann man vor dem Hintergrund nachvollziehen, dass man Sklaven typischerweise auf das Niveau von Tieren herabstufte. In legislativen Dokumenten finden Sklaven oft neben Lasttieren Erwähnung, denn beide galten als Ware. Es ist nicht verwunderlich, dass das Begriffsfeld um das Wort ‚Sklave‘ viele Ausdrücke aus der Tierwelt enthält. So geht die ursprüngliche Bedeutung von mulato im Sinne ‚Mischling‘ auf mulo, das durch eine Kreuzung gezüchtete Lasttier, zurück. Die abwertende Bezeichnung cabra, die Mestizen im gesamten Lateinamerika bekamen, hat ihre Wurzeln ebenso in der Assoziation von Menschen mit Tieren. Pardo, belegt bereits im 12. Jahrhundert in Portugal, bezieht sich auf die Farbe des Tierfells und gehört ebenso zu der Reihe von pejorativen Bezeichnungen aus der Tierwelt. Der metaphorischen Assoziation zwischen Tieren und Menschen lagen jedoch nicht nur soziokulturelle Faktoren, sondern auch kognitive Mechanismen zugrunde. Eine grundlegende Rolle in diesem Prozess schreibt Allan (2008, 144) einer subjektiven, konventionalisierten Sichtweise zu, laut welcher bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen der Tiere mit denen der Menschen gleichgestellt wurden. Auf Basis des stereotypen Wissens bzw. „perception of common aspects“ in der Terminologie von Grady (1997, 222, zit. in: Allan 2008, 144-145) hielt man die Eigenschaften wie ‚wild‘ und ‚brutal‘ nicht nur für das Verhalten unerfahrener Tiere, bozales, sondern auch von Personen mit der gleichen Titulierung für charakteristisch. Bozal: Was hat der Maulkorb mit Basken und Afrikanern zu tun? 103 Als pejorativer Ausdruck erscheint bozal oft zusammen mit den Tiernamen oder typischen Attributen der Tiere, die man im beleidigenden Sinn auch in Bezug auf Menschen verwendete. Bei Góngora (Romance, 1614, in: CORDE) tritt bozal als Steigerungsform mit einer sogar stärker abwertenden Bedeutung als negro auf, die eine völlige Herabstufung der Person impliziert: „más que negro, bozal,/ pues ha tanto que no sabe/ sino gemir o callar.“ Das Stereotyp, nur die europäischen Sprachen als einzig richtige zu betrachten, trug dazu bei, den Mangel an diesen Sprachkenntnissen generell mit fehlendem Sprachvermögen bei den Sklaven gleichzusetzten. Auffallend ist, dass als Beschimpfungen für Sklaven die Tiere gewählt wurden, für welche man in der Tat einen Maulkorb nutzte. Padre Sandoval (1627, 236) gibt hier eine gute Zusammenfassung: „su nonbre apenas es otro, que perro, vozal, cavallo y otros innumerables baldones.“ Cheval gehörte, nach den Beobachtungen von Moreau de Saint-Méry (1797, 35), zu einem der pejorativen Spitznamen aus der Tierwelt, die für neu angekommene Sklaven im kolonialen Haïti geläufig waren. Die Jesuitenbrüder in Brasilien beabsichtigten, die indigene Bevölkerung, die in ihrer Vorstellung vergleichbar mit Wildtieren, „feras bravas“, war, zu besänftigen und zu zähmen, „abrandar e domesticar“ (Relaç-o anual 1600-1603, 375). Mit der Zuweisung dieser abwertenden Namen geht die Deutung einher, dass man damit ausdrücken wollte, dass Sklaven die gleiche Behandlung wie brutale, nicht kontrollierbare Tiere verdienten und eine physische Kontrolle, einen ‚bozal‘ brauchten. In diesem Kontext tritt die im Nachhinein etablierte konzeptuelle Verbindung zwischen SKLAVE und MAULKORB noch deutlicher in den Vordergrund. Der karibische Raum, dessen Lebenswelt durch den Sklavenhandel stark geprägt wurde, bietet ein exzeptionelles Beispiel im Gebrauch verschiedener Verwendungsweisen von bozal, da einige von ihnen den Kreolsprechern bis heute vertraut sind. Das folgende Zitat zum Eintrag bosal aus dem für Guadeloupe geltenden DECG (1984, 58) ermöglicht, eine generell gültige Vorstellung über die Entwicklungen des Wortes im heutigen Sprachgebrauch zu gewinnen: „‘Jòdi-la sé mo-lasa ka siyifié „lèd“, „nwè“, „raouch“, „kapon‘“ (Heutzutage verwendet man diese Wörter im Sinne von ‚hässlich‘, ‚schwarz‘, ‚wild‘, ‚ängstlich‘). Die Versprachlichung dieser Attribute mittels eines Ausdrucks spricht dafür, dass bozal seine semantische Effizienz in der ökonomischen Rede noch bewahrte. Auch seine kommunikative Funktion, eine Person auf Grundlage ihrer negativen Charakteristika zu bezeichnen, ist erhalten geblieben. Das Spektrum der Referenten hat sich jedoch geändert, da es im Diskurs- Alla Klimenkowa (Mainz) 104 kontext nicht mehr notwendig ist, einen Sklaven oder eine schwarze Person auszusondern. Als kopräsent wahrgenommene Attribute wie unerfahren, hässlich, wild, brutal, ungehobelt‚ unzivilisiert werden nicht den Sklaven, sondern generell den Menschen unterstellt, die bestimmten sozialen Kriterien nicht entsprechen. Die Spezifik des soziokulturellen und politischen Kontextes schlug sich in semantischen Neuerungen nieder. Im haitianischen Kreyòl verwendet man bozal im Sinne von ‚unerfahren‘ im Bereich der für Haîti typischen Voudou-Religion, um einen Anfänger in der Voudou-Praxis, ousi bosal (cf. HCEFD, s.v.) zu bezeichnen. Vor allem kommt der Aspekt der Wildheit in der Verwendungsweise von bozal zum Vorschein. Die von Valdman (HCEFD, s.v. bosal) aufgeführten Belege aus dem Kreyòl beziehen sich auf mangelnde Manieren einer Person: “Lè ou gen yon moun bosal konsa ou pa mache non sosyete avè“, sowie auch auf das ungehobelte, aggressive Benehmen im Spiel und Sport: „M pap jwe boul ak misye, li bosal twòp“; „Abit-la di l ap rete match-la si jwè-yo vle fè bosal“. 12 Beeindruckend ist die Vielfalt der zu bosal synonymen Ausdrücke, wie bozanbo, zanbo, zoulou, kongo, golwa, soubarou, etc. (cf. DCF, s.v.), die sich auf verschiedene menschliche Attribute beziehen. Dabei ist es möglich, u. a. den Aspekt des physisch Äußeren (hässlich, schwarz), den Aspekt des Charakters (wild, brutal, ungesellig) und den Aspekt des sozialen Verhaltens (ungehobelt, unerfahren) zu unterscheiden. Dass bosal als Personenbezeichnung im Vokabular verankert bleibt, verdankt der Ausdruck möglicherweise seiner expressiven Funktion, welche bereits für die im kolonialen Kontext prototypisch gewordene Verwendung in Bezug auf afrikanische Sklaven charakteristisch war. Der auf Guadeloupe belegten Bedeutung ‚hässlich‘ (cf. DCF, s.v. bosal) liegt eine Fokussierung auf stark ausgeprägte afrikanische Gesichtszüge zugrunde, die möglicherweise aus der negativen Assoziation mit dem afrikanischen Hintergrund resultiert. 8. Zusammenfassung Das spanische Lexem bozal blickt auf eine interessante und wechselhafte Entwicklungsgeschichte zurück. Mit Ausnahme der Verwendung im Sinne von ‚Maulkorb‘, sowie auch Nebrijas allgemeiner Definition „cosa 12 1. „Wenn du es mit einem Menschen zu tun hast, der ‚bosal‘ ist, zeigst du dich nicht gern mit ihm in Gesellschaft.“ 2. „Ich werde mit diesem Herrn nicht Boule spielen, er ist zu ‚bosal‘. 3. „Der Schiedsrichter wird das Spiel anhalten, wenn die Spieler ‚bosal‘ sind.“ Für die Übersetzung der Beispiele danke ich Frau Prof. Dr. Jansen. Bozal: Was hat der Maulkorb mit Basken und Afrikanern zu tun? 105 nueva en servicio“ und einigen seltenen Beispielen der Bezeichnung für Tiere, kommt bozal typischerweise als Personenbezeichnung im Textzusammenhang vor. Das semantische Potenzial des Wortes in der Realisierung unterschiedlicher Arten sprachlicher Handlungen: Benennen/ Differenzieren, Urteilen (im intellektuellen Bereich) bzw. Bewerten (als Warenpreis) und Beschimpfen (neben den Tiernamen, wie caballo, perro) lässt seine Funktion als eines der Schlüsselwörter in historischen und kulturellen Bedingungen des Sklavenhandels auf der Iberischen Halbinsel und in der Neuen Welt nachvollziehen. Beide Verwendungsweisen von bozal, als ‚Maulkorb‘ und als Personenbezeichnung, gelangten ins Vokabular der anderen auf der Iberischen Halbinsel gesprochenen Sprachen (Portugiesisch, Galicisch, Katalanisch und Valencianisch) sowie auch ins Französische und französisch-basierte Kreols, ins Englische, Papiamentu und Holländische infolge des intensiven Sprach- und Kulturkontakts, insbesondere während der Kolonialzeit. Eine kognitive Grundlage des semantischen Wandels von bozal als Personenbezeichnung bildete die Kontiguitätsbeziehung zwischen den typischen bzw. als solche unterstellten Eigenschaften des Referenten, also einer unerfahrenen Person bzw. eines Sklaven (durch eine spätere Verengung des Referentenspektrums). Sprecher gingen von der konzeptuellen Verbindung dieser Eigenschaften infolge ihrer zeitlichen Übereinstimmung oder Kopräsenz aus. Laut Blanks Klassifikation von Metonymien, die auf der Funktion der Konzepte in einem Frame beruht (Blank 1997, 252), lassen sich metonymische Übertragungen in unserem Fall als Beziehung zwischen kopräsenten Attributen einer Person oder als „Versprachlichung typischer Attribute“ (cf. Blank 1997, 256) aufzeigen. Neue Verwendungsweisen zeichneten sich durch fließende Übergänge aus, da der Bedeutungswandel aus dem „Prinzip der kleinen Schritte“ (cf. Fritz 2005, 36ff) zustande kam. Die Entwicklungsschritte im Gebrauch von bozal sind unter Berücksichtigung seiner Entstehung aus dem ebenfalls polysemen Lexem bozo folgendermaßen zusammenzufassen: (1) Maulkorb, Riemenwerk; Halfter (in Bezug auf Reittiere, Rinder, Hunde) (Iberische Halbinsel, Hispanoamerika) (2) junge Personen (3) Personen, die durch ihre allgemeine Unerfahrenheit oder Inkompetenz in einem gewissen Gebiet auffallen (4) unerfahrene bzw. junge Tiere, die noch frei und ungezwungen aufwachsen (Iberische Halbinsel) Alla Klimenkowa (Mainz) 106 (5) Personen, die das Kastilische nicht beherrschen bzw. undeutlich sprechen (in Opposition zu ladino). Angewendet wird der Ausdruck auf die folgenden Personengruppen: afrikanische Sklaven, insbesondere gerade aus Afrika gebrachte Schwarze (Iberische Halbinsel, Hispanoamerika), - Dorfbevölkerung mit einer starken lokalen Mundart, - Basken (Iberische Halbinsel) und Ausländer (Hispanoamerika) (6) Personen, denen ein kultureller Rückstand und Dummheit unterstellt werden (7) grobe, ungehobelte, unzivilisierte Personen, wie - Sklaven (Iberische Halbinsel, Hispanoamerika) und allgemeine Personen (Antillen heutzutage). Aus pragmatischer Sicht ermöglichte die konzeptuelle Kontiguität einen effizienten Gebrauch des Ausdrucks, sowie auch eine besondere Expressivität in Redesituationen zu erreichen. Dies lässt sich in unterschiedlichen Kommunikationsformen und thematischen Zusammenhängen von Verwaltungsdokumenten, Geschäftsverträgen, literarischen Werken und Reiseberichten beobachten. Dabei ist die axiologische Entwicklung von bozal als eine pejorative Personenbezeichnung deutlich zu sehen. Die durch Ignoranz und Fremdenangst entstandenen Stereotype und Vorurteile trugen zur Erzeugung von Zusammenhängen und Implikaturen in Bezug auf Menschen mit einem anderen historischen und kulturellen Hintergrund bei. So brachten die Sprecher beide Bedeutungen von bozal als ‚Maulkorb‘ und als Personenbezeichnung in Bezug auf Sklaven in eine konzeptuelle Verbindung. Semantische Veränderungen im Laufe der Entwicklungsgeschichte von bozal lassen sich als beispielgebend für die Wirkung der allgemeinen Verfahren des Bedeutungswandels wie Metonymie und Metapher, Bedeutungsverengung, Innovation und Verblassen der Bedeutung bewerten. Sie weisen außerdem auf eine besondere Rolle des geographischen, soziokulturellen und sprachlichen Raums hin. So fand eine deutliche Spezifizierung der Bedeutung von bozal im kolonialen Kontext, zuerst in Bezug auf nicht weiße Personen (negros, indios) und danach auf frisch aus Afrika eingetroffene Sklaven statt. Heutzutage ist die metonymische Verwendung von bozal in Bezug auf Menschen im Spanischen völlig verblasst. Sprecher assoziieren diesen Begriff lediglich mit afrikanischen Sklaven in der Kolonialzeit, was aus der kognitiven Sicht durch eine starke Verankerung der Bezeichnung mit dem Konzept SKLAVE zu erklären ist. Da diese assoziative Grundlage infolge des veränderten historischen und kulturellen Kontextes keine Anwendung fand, verschwand der Aus- Bozal: Was hat der Maulkorb mit Basken und Afrikanern zu tun? 107 druck als Personenbezeichnung aus dem modernen Sprachgebrauch. 13 In den französisch-basierten Kreols der Karibik bleiben jedoch die Aspekte ‚unzivilisiert‘, ‚ungehobelt‘ immer noch mittels des Ausdrucks bozal versprachlicht, der sich nicht mehr auf Sklaven beschränkt, sondern allgemein gebraucht wird. Die Verwendung im Sinne von ‚Maulkorb‘ benutzt man vor allem im Zusammenhang mit Hunden und Pferden oder auch metaphorisch, um die Einschränkung der Meinungsfreiheit auszudrücken. In der heutigen Bedeutung von bozal erkennt man also das Ergebnis einer langen Selektion aus dem reichen semantischen Potenzial des Ausdrucks, welche die jeweilige Sprechergemeinschaft mittels einer differenzierten Anwendung von Verfahren lexikalischer Innovation erreichte. Abkürzungen fol. Folie [eines handschriftlich verfassten Dokumentes] lat. Latein vlat. Vulgärlatein zit. zitiert Typographische Konventionen kursiv Wortformen ‚…‘ Wortbedeutungen K APITÄLCHEN Konzepte „GROSSBUCHSTABEN“ Wissensbestände, Frames 13 Die Teilaspekte wie ‚jung‘, ‚unerfahren‘, ‚unzivilisiert‘, ‚wild‘, die das Konzept BOZAL zusammenfasste, wurden einzeln sowohl auf Basis der Metonymie als auch mit Hilfe der Wortbildung, der Entlehnung oder der Metapher neu versprachlicht. Um das Konzept JUNG sprachlich zu realisieren, stehen z. B. die Ausdrücke barbilampiño, imberbe (Metonymie auf der Grundlage der zeitlichen Kontiguität) oder verde (Metapher auf der Grundlage des Vergleichs zwischen unreifen Früchten und jungen Personen) zur Verfügung. Zum Ausdruck des Konzeptes UNERFAHREN benutzen Sprecher des Spanischen u. a. das aus dem Italienischen entlehnte bisoño (cf. DEU, s.v.). Alla Klimenkowa (Mainz) 108 Literaturhinweise Nachschlagewerke: Aurélio = Buarque de Holanda Ferreira, Aurélio: Novo dicionário Aurélio da língua portuguesa, Curitiba: Positivo, 3 2004. AWB = Friederici, Georg: Amerikanistisches Wörterbuch, Hamburg: Cram/ De Gruyter, 1947. CORDE = Real Academia Española: Banco de datos (CORDE) [en línea]. Corpus diacrónico del español, http: / / www.rae.es [Stand: 30.05.2011]. CREA = Real Academia Española: Banco de datos (CREA) [en línea]. Corpus de Referencia del Español Actual, http: / / www.rae.es [Stand: 30.05.2011]. 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Von einer dominikanischen Normproblematik oder gar einem sprachlichen Unterlegenheitsgefühl der dominikanischen Bevölkerung ist sicherlich hierzulande in Europa nichts bekannt. Schließlich konzentrierte sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem dominikanischen Spanisch in den letzten Jahrzehnten vorrangig auf dessen sprachstrukturelle und variationsspezifische Besonderheiten. So wurden in der linguistischen Bibliographie von Humberto López Morales aus dem Jahre 1994 im Kapitel „República Dominicana“ 41 Studien dem Bereich der Phonologie, 46 der Morphosyntax und 110 der Lexikologie zugeordnet. Ihnen standen 33 Allgemeine Studien und 32 Schriften zur Soziolinguistik gegenüber, die in erster Instanz die Sprache, nur selten den konkreten Sprachgebrauch im Blick hatten. In den letzten 10 Jahren sind hin und wieder Arbeiten zum frühen dominikanischen Spanisch erschienen, die die historische Herausbildung und den Status Santo Domingos als erste spanischsprachige Stadt in Hispanoamerika beleuchteten. 1 Indes blieben Fragen zur institutionellen Sprachpflege bislang nahezu ausgeblendet. Im Rahmen dieses Beitrags soll daher der Blick auf das dominikanische Spanisch in eine andere Richtung gelenkt werden. Im Vordergrund steht nunmehr die Frage, welche sprachspezifischen Themen heute in den digitalen Medien der Dominikanischen Republik behandelt werden. Um 1 Vgl. Klump (2002). Andre Klump (Trier) 114 was geht es also, wenn in der dominikanischen Öffentlichkeit das Thema Sprache zum Gegenstand erhoben wird? Zur Beantwortung dieser Frage wurden zahlreiche Presseartikel aus den nachstehend aufgeführten digital verfügbaren Quellen ausgewertet: 2 Ausgewertete digitale Tageszeitungen und Zeitschriften der Dominikanischen Republik http: / / www2.listindiario.com/ http: / / www.elnacional.com.do/ http: / / www.hoy.com.do/ http: / / www.elcaribe.com.do/ site/ http: / / www.periodicoelfaro.com.do/ http: / / www.diariolibre.com/ http: / / www.eljaya.com/ http: / / www.diariodigital.com.do/ http: / / www.clavedigital.com.do/ http: / / www.lainformación.com.do/ http: / / www.gacetajudicial.com.do http: / / www.buenalectura.wordpress.com/ Die meisten dieser Artikel stammen aus dem Zeitraum 2007-2011, nur wenige aus den Jahren zuvor. Als Grundlage für die nun folgenden Ausführungen dienen insgesamt über 80 metasprachliche Artikel. 2. Sprachbezogene Themenvielfalt in den digitalen Tageszeitungen 2.1. Das dominikanische Spanisch: Allgemeine Artikel Unter der Rubrik „estudios generales“ könnte man zunächst die wenigen Artikel einstufen, die das dominikanische Spanisch im Hinblick auf seine Sprachgeschichte und Sprachstruktur charakterisieren: Als „Vater“ der hispanoamerikanischen Sprachwissenschaft dominikanischer Prägung gilt zweifellos Pedro Henríquez Ureña (1884-1946). 3 Von ihm stammen so wichtige Impulse wie die Anti-Andalucismo-These, die Abgrenzung der tierras altas von den tierras bajas wie auch die diatopische Gliederung des amerikanischen Spanisch nach indianischem Substrateinfluss in fünf Zonen (1921). In einer der führenden und bis heute 2 Als Suchbegriffe fungierten hierbei: lengua, lengua dominicana, lingüística, lenguaje, gramática, política lingüística, Academia de la lengua, diccionario, habla, idioma. 3 Seine Studie „El español en Santo Domingo“ ( 1 1940/ 2 1975) gilt bis heute als das herausragendste Werk der dominikanischen Sprachwissenschaft. Sprache, Sprachgebrauch und Sprachpflege in dominikanischen Medien 115 am längsten publizierenden dominikanischen Tageszeitung, Listín Diario, fand sich sein Aufsatz „La cuna de la lengua española en América“ abgedruckt, in der Ureña u.a. auf die kastilische Prägung („sabor“) des dominikanischen Spanisch auf den Ebenen der Syntax und des Wortschatzes, auf die andalusische Färbung in der Lautung, auf archaische Züge des dominikanischen Spanisch, das historische Konzept des „campo de aclimatación“ nach Cuervo sowie Einflüsse anderer Sprachen einging (08.02.2010). In dem Artikel „Lengua dominicana: diversidad lingüística“ erhellte Mayra Brito Holguín (16.11.2009, El jaya) das spanische (v.a.) andalusische Erbe, abweichende Besonderheiten vom hispanoamerikanischen Spanisch, varietätenspezifische Faktoren und die Architektur der Sprache. Im Hinblick auf die dominikanische Umgangssprache beleuchtete Fernando Quiroz in seinem Artikel „Lenguaje de calle cambia forma de hablar en el país“ (Listín Diario, 12.09.2010) aktuelle Neosemantismen (hierro, tabla für Feuerwaffen), idiomatische Wendungen mit z.T. normabweichenden Lautungen („Tú no ere de na“) sowie Wortneuschöpfungen (juguero ‚Saftverkäufer’), die gegenwärtig in der Sprache der Politik, der Werbung, im familiären Sprachgebrauch, im Reggae und Merengue dokumentiert sind. 2.2. Aspekte des dominikanischen Spanisch in sprachbezogenen Rubriken Wer kennt nicht in Deutschland die Sprachkolumne des Autors Bastian Sick, die seit Mai 2003 regelmäßig bei Spiegel Online erscheint? In den dominikanischen Medien gibt es gleich mehrere dieser Rubriken, in denen Zweifelsfälle der Grammatik, der Rechtschreibung und der Zeichensetzung sowie von den Autoren als unschön und ungeschickt empfundene Ausdrucksweisen behandelt werden: Sprachbezogene Rubriken in (digitalen) dominikanischen Medien Nuestro Idioma, Periodismo y comunicación. Rafael González Tirado. (El Siglo, 1993-2001) Eñe-Voces del Español. María José Rincón. (Diario libre) Nuestro idioma. Fabio J. Guzmán Ariza. (Gaceta judicial) De palabra en palabra. Roberto Guzmán. (Clave digital) Als Begründer dieser Tradition gilt zweifelsohne der Journalist und Sprachwissenschaftler Rafael González Tirado, der von 1993-2001 in der Zeitung El Siglo wöchentlich Beiträge zum Thema Nuestro Idioma, Andre Klump (Trier) 116 Periodismo y comunicación publizierte. Eine Auswahl seiner Texte erschien im Jahre 2008 in einer von der Banco de Reservas und der Academia Dominicana de la Lengua geförderten Druckfassung unter dem Titel „Palabras para compartir“. Ein ebenso breites, nahezu alle Ebenen der Sprache erfassendes Spektrum verfolgen in jüngerer Zeit die Philologin und Literaturkritikerin María José Rincón mit ihrer Rubrik Eñe-Voces del Español in der Zeitung diariolibre.com sowie der Rechtsanwalt und Schriftsteller Fabio J. Guzmán Ariza mit der Reihe Nuestro idioma, die anfangs in der gacetajudicial.com.do erschien und nach 6 Beiträgen auf der Homepage der dominikanischen Sprachakademie fortgeführt wurde. Zu erwähnen ist überdies die vom Rechtsanwalt und Linguisten Roberto E. Guzmán geleitete Rubrik De Palabra en Palabra in der Online-Zeitung clavedigital. com.do, in der Etymologien, Bedeutungsstrukturen und Gebrauchsweisen diverser Einzelwörter behandelt wurden. 4 Die hier genannten vier Kolumnisten wurden von der Sprachakademie in den letzten Jahren zu Mitgliedern ernannt - ob wie im Falle González Tirados zum „Miembro de Número por Antigüedad“ oder in den drei anderen Fällen zu „Miembros Correpondientes Nacionales“; auch sind ihre vollständigen Rubriken auf der Hompage der Akademie verfügbar. 5 Allen Kolumnisten gemeinsam ist auch die mehr oder weniger dogmatische und normative Herangehensweise bzw. die Tendenz, bestimmte normabweichende Sprachphänomene als Zeichen des Sprachverfalls zu deuten. Hiermit verbunden ist die strikte Einteilung des Sprachgebrauchs in „richtig“ oder „falsch“: Que no se me mal interprete y se piense que soy un purista reaccionario del español. [...] Escribo esta columna - quizás hacerlo sea una quijotada - para crear (¿provocar? ) conciencia de que debemos evitar esos males, de que nuestra habla, nuestra cultura y nuestro país sí valen la pena. (Guzmán, Fabio J., Gaceta Judicial, 16.10.2007) 2.3. Das español dominicano als Identitätsträger Im Jahre 2009 erschien das Werk „La identidad lingüística de los dominicanos“, in dem der Autor, der dominikanische Sprachwissen- 4 Eine Zusammenstellung der einzelnen Beiträge liegt mittlerweile auch in gedruckter Form vor, vgl. Guzmán (2011). 5 http: / / www.academia.org.do/ Sprache, Sprachgebrauch und Sprachpflege in dominikanischen Medien 117 schaftler Orlando Alba, unter anderem der Frage nachging, ob es eine hispanoamerikanische Varietät typisch dominikanischer Prägung gibt. Immer wieder sind in den letzten Jahren in Bezug auf die dominikanische Sprechergemeinschaft die Wendungen „identidad lingüística“, „inferioridad lingüística“, „pesimismo lingüístico dominicano“ und „inseguridad lingüística“ aufgekommen. ¿Qué piensan los dominicanos acerca de su lengua? [...] Perciben el español que hablan y escriben como el más inferior de los dialectos que forman parte del mundo hispánico. [...] (Caba Ramos, Domingo: „El complejo de inferioridad de los dominicanos“, diario55.com, 23.07.2010) Die feierlichen Vorstellungen von Orlando Albas Werken - ob „La identidad lingüística de los dominicanos“ (2009) oder „Como hablamos los dominicanos“ (2004) - wurden daher von Seiten der Journalisten jeweils genutzt, um die solidarisch-identitätsstiftende Funktion des dominikanischen Spanisch sowie auch dessen Stellenwert innerhalb der Hispanophonie herauszustellen: Ni peor que los colombianos o chilenos, ni mejor que los argentinos o salvadoreños. Los dominicanos hablan como hablan. (Campo, Ivan, El Caribe, 31.05.2004) Más conservador que innovador, el dominicano habla un español que permite diferenciarlo de los demás, por lo que le confieren una fisonomía propia. (Hoy, 03.07.2004) Eine eigene Sprachvarietät und -tradition geht mit einem eigenen Vokabular einher. „Nuestras palabras“ - so die Kolumnistin María José Rincón (Diario Libre, 07.06.2010) - „hablan de nosotros, de nuestra vida.“; „La Patria“ - so der Wörterbuchschreiber Orlando Inoa - „se sustenta en sus propias palabras“. Kaum eine andere hispanomerikanische Varietät verfügt derzeit über so viele lexikographische Werke wie das dominikanische Spanisch: Wörterbücher zum dominikanischen Wortschatz Patín Maceo, Manuel Antonio: Dominicanismos, Ciudad Trujillo: Librería Dominicana, 1 1940/ 2 1947. Deive, Carlos Esteban: Diccionario de dominicanismos, Santo Domingo: Politecnia, 1 1977/ 2 2002. Uribe, Max: Diccionario de dominicanismos y americanismos, Santo Domingo: La Trinitaria, 2008. Andre Klump (Trier) 118 Gómez Marín, Lucy: Dominicanismos: diccionario para entender al dominicano ; una recopilación de palabras, frases y expresiones que definen la idiosincrasia del dominicano, Santo Domingo: Autor, 2009. Inoa, Orlando: Diccionario de dominicanismos. Santo Domingo: Letra Gráfica, 2010. Neben der eben erwähnten Rubrik „De Palabra en Palabra“ von Roberto Guzmán wurden überdies immer wieder im Netz die typischen Dominikanismen präsentiert, die Einlass in das Akademiewörterbuch gefunden haben. Waren es in der Ausgabe von 1992 noch 190, stieg diese Zahl für die Ausgabe 2001 auf 286 Einzelwörter an (Rincón, María José, Diario Libre, 15.03.2010). Das im Jahr 2010 erschienene Amerikanismenwörterbuch hätte nach Angaben der Academia Dominicana de la Lengua ganze 10.000 Dominikanismen aufnehmen können (Iván Pérez Carrión/ Clave digital, 09.05.2010). Doch finden sich Dominikanismen keineswegs ausschließlich auf der lexikalischen Ebene. So erfasste die im letzten Jahr erschienene panhispanische Akademiegrammatik auch lautliche und syntaktische Besonderheiten, die in der Zeitung Hoy vom 09.12.2009 als „neologismos dominicanos“ beschrieben wurden: Hay neologismos dominicanos en la gramática Las especificidades caribeñas incluyen la pronunciación de „amor“ como „amol“, que se explica como una tendencia a la relajación de la „r“, y la anteposición del sujeto al verbo en preguntas como „¿Qué Luis quiere? “ Neologismos como los dominicanos „medalaganario“ o „medalaganariamente“, construidos a partir de „me da la gana“, también integran la Gramática. (Hoy, 09.12.2009) 2.4. Die Rolle der Academia Dominicana de la Lengua Die dominikanische Sprachakademie wurde am 12. Oktober 1927 gegründet und hat ihren Sitz in der Hauptstadt Santo Domingo. Als staatliche Institution ist sie dem „estudio de nuestra lengua y el cultivo de las letras“ 6 verpflichtet. Im Jahre 2007 stellten einzelne Autoren öffentlich und schonungslos das Verdienst und die damalige Rolle der ADL in Frage. Zunächst erschien von Federico Jovine Bermúdez in der Zeitschrift Hoy vom 16.04.2007 der Artikel „Dei academiae liberanos domine“, in dem die zu starke Fokussierung auf Spanien getadelt wurde: 6 Vgl.: http: / / www.academia.org.do/ Sprache, Sprachgebrauch und Sprachpflege in dominikanischen Medien 119 Desde su fundación en 1927 la Academia Dominicana de la Lengua ha sido refugio de un intelectual que en ocasiones se preocupaba más por escuchar los ecos del español de España perdido en el rescoldo de nuestras palabras, que en identificar los tambores que latiéndoles entre las venas dotaban de sentido, de ritmos y de sueños al dominicano que aún cree que los árboles centenarios e inmensos como las Ceibas, son los depositarios del sueño de nuestros viejos dioses, y que los indios que pueblan los caminos en las noches al clarear el día escapan por los ojos de agua y los ríos a esconderse en el vientre de la tierra. (Jovine Bermúdez, Federico, Hoy, 16.04.2007) Mario Bonetti kritisierte in seinem Beitrag „La deserción de la Academia Dominicana de la Lengua“ insbesondere, dass der Schutz vor fremdsprachlichem Einfluss nicht mehr im Vordergrund des akademischen Interesses steht: Yo temo que la Academia Dominicana de la Lengua ha desertado del cumplimiento de su principal cometido que le da razón de existencia y que presumiblemente justificó su creación en el 1927 y ello es a) defender el Español de su latente y real alteración impropia, vale decir, de su vulneración por influencias o ataques deformadores de su propiedad de lengua castellana, y b) albergar en su seno a la crema de los trabajadores, perfeccionadores y embellecedores del idioma. (Bonetti, Mario, Hoy, 23.04.2007) Fabio J. Guzmán Ariza schrieb zum Auftakt seiner Rubrik „Nuestro Idioma“ in der Gaceta judicial am 16.10.07, dass die von ihm beschworene Krise des dominikanischen Spanisch nicht einmal von den entscheidenden Instanzen - so auch nicht von der Akademie - wahrgenommen bzw. bekämpft wird: El idioma español está en crisis en la República Dominicana. Para comprobarlo no hay que ser ni filólogo ni sociólogo; basta con pasear por las calles de cualquier ciudad y leer los letreros de los negocios, u oír una conversación entre jóvenes profesionales en una oficina, u hojear las páginas de cualquier periódico - especialmente las deportivas -, o simplemente ir a comer a un restaurante de clase alta en Santo Domingo. [...] Nadie parece importarle, ni aun a aquellas personas e instituciones que presuntamente deben ocuparse de ella: las escuelas, los profesionales y la Academia. (Guzmán, Fabio J., Gaceta Judicial, 16.10.2007) In der dominikanischen Presse wurden in den letzten Jahren immer wieder die Aktivitäten der Sprachakademie vorgestellt, so u.a. [el] I Congreso del Español Dominicano (Diario Libre, 23.10.2007), die regelmäßig stattfindende „Tertulia lingüística“, die Vorstellung eines didaktischen Wörterbuchs (Diario Libre, 04.09.2009), die Eröffnung des sog. Archivo de Voces, für das offizielle Reden dominikanischer Akademiemitglieder, Intellektu- Andre Klump (Trier) 120 eller und Schriftsteller aufgezeichnet werden sollen (El Caribe, 17.11.2009) sowie diverse Workshops, die zur Verbesserung des Sprachgebrauchs bzw. zur „actualización lingüística“ beitragen sollen (El Día, 17.06.2009, El Nacional, 18.06.2009). Für den aktuellen Präsidenten der ADL, den Schriftsteller Bruno Rosario Candelier, wird die sprachliche Richtschnur heute am ehesten von den guten Autoren („los buenos autores“) bestimmt, insbesondere aber von denjenigen Sprechern, die der Beherrschung und dem „correcto, preciso y elegante uso“ ihrer Muttersprache eine hohe Aufmerksamkeit widmen (Tellerías, Alexéi, Listín Diario, 22.06.2009). 2.5. Nationale und panhispanische Referenzwerke In ihrem im Jahre 2000 erschienenen Beitrag zum aktuellen Sprachgebrauch in den dominikanischen Medien forderte die Redakteurin der Tageszeitung Listín Diario, Nexy de León, vehement „la elaboración de un manual periodístico dominicano.“ 7 Eine vergleichbare Tradition der journalistischen Stilbücher wie in Spanien, wo alle großen Verlage wie El País, El Mundo, ABC oder auch die Nachrichtenagentur Agencia Efe ein eigenes Libro bzw. Manual de estilo besitzen, vermochte sich in der Dominikanischen Republik jedoch bis heute nicht zu entwickeln. Woran orientieren sich also die dominikanischen Journalisten bzw. alle diejenigen, die den öffentlichen Sprachgebrauch prägen und sich beruflich mit Sprache auseinandersetzen? Wiederholt wurde in der dominikanischen Presse der letzten Jahre auf den richtungsweisenden Charakter einzelner nationaler Sprachratgeber hingewiesen. Dazu gehören insbesondere die aus der Sprachrubrik der Zeitung El Siglo hervorgegangene Aufsatzsammlung Palabras para compartir (2009) von Rafael González Tirado sowie der vom Linguisten Ramón Constanza erstellte Ratgeber Aspectos no tan evidentes del español (2009). 8 Auch das vom Instituto Técnico de Las Américas im Jahre 2010 herausgegebene Libro de Estilo para Ciberperiodistas, das zur sprachkorrekten Redaktion von Onlineartikeln beitragen soll, wie auch die von Xiomarita Pérez veröffentlichten sprachlichen Fauxpas in dominikanischen Tageszeitungen unter dem Titel „Gazapos con humor“ (2008) wurden in verschiedenen Online-Zeitschriften vorgestellt. 7 de León (2000: 77). 8 Vgl. hierzu auch die Artikel „Para escritores que no escriben tan bien“ (Hoy, 19.12.2009) und „Quién corregirá a Ramón Constanza? “ (Hoy, 28.12.2009). Sprache, Sprachgebrauch und Sprachpflege in dominikanischen Medien 121 Zum Zwecke der Orientierung an der panhispanischen Norm wurden überdies die diversen in den letzten Jahren von der Real Academia Española und der Asociación de Academias de la Lengua Española veröffentlichten Referenzwerke (Diccionario de la lengua española 22 2001, Diccionario panhispánico de dudas 2005, Diccionario de Americanismos 2010, Nueva gramática de la lengua española 2010, Ortografía de la lengua española 1999) in der Rubrik Nuestro idioma von Fabio J. Guzmán Ariza als „Obras de consulta para escribir bien el español“ angepriesen. 9 Als akademisches Sprachrohr erwies sich hierbei insbesondere María José Rincón, ebenso wie Guzmán Kolumnistin und zugleich Akademiemitglied. Sie ließ kaum eine Gelegenheit aus, den modellhaften Charakter der aktuellen Akademiewörterbücher bzw. der Grammatik zu betonen. Cuando nos referimos al diccionario, los hispanohablantes aludimos, casi por antonomasia, al Diccionario de la lengua española de la Real Academia. (Rincón, María José, Diario Libre, 15.03.2010) No tendremos que esperar mucho para disfrutar del Diccionario Académico de Americanismos que nos ha propuesto la Asociación de Academias de la Lengua Española. En marzo de este año tendremos en las manos la inmensa riqueza del caudal léxico que América ha creado para el español. (Rincón, María José, Diario Libre, 22.02.2010) Mucho mayor será nuestra aportación al Diccionario Académico de Americanismos que nos promete para este año la Asociación de Academias de la Lengua Española. Pero eso es harina de otro costal o bacalao de otro tonel. (Rincón, María José, Diario Libre, 15.03.2010) ¡Bienvenida! Por fin tenemos en nuestras manos la Nueva Gramática de la Lengua Española. Su publicación es un gran acontecimiento para todos los hablantes de español. Acontecimiento muy esperado puesto que la anterior databa de 1931. Los años de espera nos han traído una obra panhispánica que recoge la norma lingüística común que rige a todos los hispanohablantes. (Rincón, Maria José, Diario libre, 15.02.2010) 2.6. Sprache und Bildung Angesichts der vielbeschworenen Krise des dominikanischen Bildungssystems wurde wiederholt in den Zeitungsbeiträgen eine Bildungsreform 9 www.gacetajudicial.com.do/ nuestro-idioma/ . Andre Klump (Trier) 122 gefordert, die den schulischen Sprachuntericht auf eine solidere Basis stellt und stärker curricular verankert: La crisis de la educación dominicana se vincula estrechamente con la crisis de la enseñanza de la lengua. Cualquier modernización de la educación dominicana debe privilegiar la enseñanza de la lengua. (Mateo, Andrés L., Clave digital, 24.12.2009) El texto aludido no coloca la lengua española como asignatura central hecho que constituye un retraso en el proceso de enseñanza y la comprensión de la lecto-escritura. (Candelier, Bruno Rosario, El Nacional, 26.11.2010) Für große Aufregung sorgte sodann gegen Ende des Jahres 2010 die einheitliche Einführung einer neuen Basislektüre in Form eines „libro integral“, das alle Primarfächer gleichermaßen abdeckt. Der Direktor der dominikanischen Sprachakademie, Bruno Rosario Candelier, kritisierte sogleich, dass der Sprachunterricht nunmehr kein zentrales Fach mehr darstelle und eine Verzögerung des Lernprozesses zur Folge habe (El Nacional, 26.11.2010). Die anschließende Declaración de la Academia Dominicana de la Lengua, in der die neue Unterrichtsmethode als Verstoß gegen Artikel 29 der dominikanischen Verfassung gewertet und das Recht der Dominikaner auf spanischen Sprachunterricht von der ersten Bildungsstufe an eingefordert wurde, blieb weitgehend ungehört: DECLARACIÓN DE LA ACADEMIA DOMINICANA DE LA LENGUA Esa insólita medida se ha puesto en práctica violando la Constitución de la República, que establece en su artículo 29 que el „idioma oficial de la República Dominicana es el español“, y que obliga al Estado a promover la enseñanza para todos los dominicanos de su lengua y de su cultura. La Academia Dominicana de la Lengua en estos tristísimos momentos de la cultura nacional, rechaza la imposición del Ministerio de Educación, y proclama el derecho que tienen todos los dominicanos a conocer la enseñanza formal de la lengua española desde los niveles inicial y básico. (http: / / buenalectura. word press.com, 03.12.2010) In den letzten Jahren wurden von mehreren Institutionen, insbesondere aber von der Sprachakademie, zahlreiche Workshops, Lehrgänge, Tagungen etc. mit dem Ziel der Verbesserung der Sprachkompetenz der dominikanischen Bevölkerung („La Competencia Nacional en Lengua Española“) angeboten. Es sei an dieser Stelle noch die Zeitung Listín Diario erwähnt, die mit ihrem nationalen Projekt Plan LEA „la lectura y el aprendizaje significativo a través del uso del periódico“ anzuregen versucht. (http: / / www.listin.com.do/ plan-lea) Sprache, Sprachgebrauch und Sprachpflege in dominikanischen Medien 123 2.7. Sprache und Geschlecht Spätestens seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts diskutiert man in der Dominikanischen Republik über die Notwendigkeit der morphologischen Anpassung einer Berufs- und Funktionsbezeichnung an das biologische Geschlecht. 10 Befürworter, wie z.B. Melania E. Rondón, prangerten jüngst den über die Sprache zum Ausdruck kommenden Sexismus in der Gesellschaft an: No hay razón para englobar a la mujer en un concepto general que alude solo al hombre. (Rondón, Melania E., Hoy, 19.07.2008) Da die diesbezüglichen Zeitungsartikel im ausgewerteten Korpus vorrangig von Linguisten - und damit zumeist von Mitgliedern der dominikanischen Sprachakademie - verfasst wurden, wurde in den meisten vorliegenden Beiträgen entschieden dem Vorwurf des sprachlichen Sexismus widersprochen und das sprachstrukturelle Prinzip des generischen Maskulinums verteidigt: Cuando queremos nombrar a la persona que denota capacidad de ejercer la acción que expresa el verbo, se añade a este la terminación -nte. Así, al que preside, se le llama presidente y nunca presidenta. (Molina Morillo, Rafael, El Día, 25.03.2010) El sexismo no está en la lengua, del mismo modo que la fiebre no está en la sábana. (Rincón, María José, Diario Libre, 08.03.2010) 2.8. Das Kreol- und Standardfranzösische in Haiti Die Nachbarschaft zu Haiti auf der Insel Hispaniola könnte die Vermutung nahelegen, dass das Kreolfranzösische der Haitianer - das ja zugleich die Sprache vieler Immigranten in der Dominikanischen Republik darstellt - ebenfalls im Fokus der Presse stehen könnte. Doch das Gegenteil war der Fall: Nur selten fanden das Kreolfranzösische wie auch das Standardfranzösische Erwähnung. So sind etwa laut einem Artikel vom 02.02.2010 (Ureña, Yulissa, Clave digital) in der Dominikanischen Republik trotz diverser Initiativen von Seiten einzelner Lehrer und Sprachlehrinstitutionen nur sehr wenige Dominikaner bereit, die Sprache des Nachbarn, also das haitianische Kreol, zu lernen. 10 Vgl. u.a. González Tirado (1999), Martínez (2000) oder Núñez Cedeño (2000). Andre Klump (Trier) 124 Im Colegio Dominicano de Periodistas (CDP) wurden laut El Día vom 11.01.2010 speziell für Journalisten und Interessierte kreolfranzösische Sprachkurse angeboten „con el objetivo de que haya mayor entendimiento entre los nacionales dominicanos y haitianos“. Schließlich handele es sich beim Kreolfranzösischen um „un idioma de más fácil aprendizaje y que en menos de cuatro meses se puede aprender hablar, leer y escribir“. In einem Artikel vom 16.03.2010 (Leyba, Nicanor, El Caribe) zum 40. Jahrestag der Gründung der internationalen Organisation der Francophonie wurden die Feierlichkeiten in der Dominikanischen Republik gewürdigt, etwa die semana cultural haitiana und die Konferenz zum französischen und kreolfranzösischen Einfluss auf das dominikanische Spanisch an der Universidad Tecnológica de Santiago. An anderer Stelle wurden am 16.07.2010 (López, Tony, El Jaya) bestimmte „Galicismos y palabras transparentes“ aus unterschiedlichen Bereichen aufgelistet, die als Basis für den Spracherwerbsprozess des Französischen dienen können. 2.9. Das Spanische in der Welt Die sprachbezogenen Beiträge in den dominikanischen Online-Zeitungen hatten keineswegs ausschließlich die dominikanische Varietät im Blick. So fanden sich im Korpus hin und wieder Darstellungen zum Gebrauch des Spanischen im Internet (Contreras, Marivell, Hoy, 12.06.2010), zur Metaphorik in der Sportsprache (Veloz Maggiolo, Marco, Listín Diario, 24.09.2008), zu aktuellen Aspekten der spanischen Jugendsprache (Diógenes Céspedes, Hoy, 05.02.2007) oder auch zur Bezeichnungsproblematik des eigenen Idioms in der spanischsprachigen Welt (Pichardo, Rafael Luciano, „Una duda: ¿Español o Castellano? “, Listín Diario, 27.03.2010). Eine weniger global als vielmehr hispanoamerikanisch ausgerichtete Perspektive verfolgte Pedro García Albela mit seinem Artikel zur englisch-spanischen Mischsprache „Espanglish“ (Listín Diario, 14.08.2009). Hin und wieder wurden überdies sprachspezifische Themen Spaniens beleuchtet, so z.B. die mit der sprachlichen Autonomie verbundenen Gefahren für die Amts- und Nationalsprache Spanisch (Protesta, Elevan, Listín Diario, 30.07.2008). 3. Schlussbetrachtung Ziel des vorliegenden Beitrags war es, den in den öffentlichen Medien der Dominikanischen Republik geführten gegenwärtigen Sprachdiskurs zu Sprache, Sprachgebrauch und Sprachpflege in dominikanischen Medien 125 illustrieren. Die meisten der hierfür ausgewerteten Zeitungsartikel standen im Zeichen der Sprachidentität, Sprachpflege und der Normorientierung. Eine nahezu zeitgleich durchgeführte Stichprobe zur Pressesprache Mexikos sollte wiederum zeigen, dass dort ganz andere Aspekte, zu allererst der Status der indigenen Sprachen, dann das kurz zuvor erschienene Wörterbuch der Mexikanismen und schließlich der angloamerikanischspanische Sprachkontakt als sprachbezogene Themen vorherrschen. Insofern erscheint es sinnvoll, die varietätenspezifischen Sprachthemen mehrer oder gar aller spanischsprachigen Länder im Rahmen eines hieran anschließenden Projektes in synchroner und kontrastiver Perspektive zu beleuchten. Literaturhinweise Alba, Orlando: Como hablamos los dominicanos. Un enfoque sociolingüístico. Santo Domingo: Grupo León Jiménez, 2004. Alba, Orlando: La identidad lingüística de los dominicanos, Santo Domingo: La Trinitaria, 2009. Constanza, Ramón: Aspectos no tan evidentes del español. Un guía para escribir mejor, Santo Domingo: Argos, 2009. González Tirado, Rafael: La problemática del lenguaje sexista en la República Dominicana. Femínia de bien, Santo Domingo: Gerardo Pochet, 1999. González Tirado: Palabras para compartir I. Santo Domingo: Somos Artes Gráficas, 2008. Guzmán, Roberto E.: De palabra en palabra, Santo Domingo: Guzmán, 2011. Henríquez Ureña, Pedro: „Observaciones sobre el español en América“, Revista de Filología Española 8, 1921, 357-390. Henríquez Ureña, Pedro: El español en Santo Domingo, Santo Domingo: Taller, 1 1940/ 2 1975. Instituto Tecnológico de Las Américas: El libro de Estilo para Ciberperiodistas, Santiago: ITLA, 2010. Klump, Andre: Historische Aspekte der spanischen Sprache in Santo Domingo (16. und 17. Jh.), Frankfurt am Main [u.a.]: Lang, 2002. de León, Nexcy: „El uso de la lengua en los medios de comunicación“, in: Pérez Guerra (Hg.), 2000, 65-77. López Morales, Humberto: Las Antillas, Madrid: Arco Libros, 1994. Martínez, Lusitiana: „Lenguaje, conocimiento y género“, in: Pérez Guerra (Hg.), 2000, 91-106. Núñez Cedeño, Rafael: „Hacia una gramática no sexista: cambios en la concordancia de género“, in: Pérez Guerra (Hg.), 2000, 141-161. Pérez, Xiomarita: Gazapos con humor, Santo Domingo: Búho, 2008. Andre Klump (Trier) 126 Pérez Guerra, Irene (Hg.): Estado actual de los estudios lingüísticos y filológicos en la República Dominicana. Santo Domingo: Patronato de la Ciudad Colonial de Santo Domingo, 2000. II. Das Französische in der Neuen Welt „Les Québécois détruisent la beauté de la langue française! “ versus „Le français québécois est unique […]. C‘est une richesse à partager.“: Insécurité linguistique au Québec: Konzeptionelle Grundlagen, empirische Ergebnisse, Forschungsausblick Karoline Henriette Heyder (Göttingen) 1. Einleitung Lange herrschte in der romanistischen Forschung die Meinung vor, das Sprachverhalten und die Spracheinstellungen der Québécois seien durch eine insécurité linguistique geprägt (vgl. etwa Oakes 2007, 64; Remysen 2004, 96 ff.). In jüngerer Zeit allerdings finden sich laut einer Reihe von Wissenschaftlern (vgl. u.a. Reinke/ Klare 2002, 37) Anzeichen dafür, dass die sprachliche Unsicherheit der Bewohner Québecs abnimmt oder gar verschwindet. Andererseits argumentieren viele, für das Sprachverhalten und die Spracheinstellungen der Québécois sei zumindest teilweise weiterhin eine sprachliche Unsicherheit kennzeichnend (vgl. u.a. Reinke/ Klare 2002, 37 f.). Der vorliegende Artikel dokumentiert eine empirische Untersuchung, die von Mai bis Oktober 2011 bei Jugendlichen in Québec durchgeführt wurde. Mit ihr war das Ziel verbunden, zu prüfen, ob für die jeunes québécois eine insécurité linguistique kennzeichnend ist oder ob sich in Québec Anzeichen für eine Entwicklung des Französischen zu einer „plurizentrischen Sprache“ (Pöll 2005; Lüdi 1992) finden lassen. Im Folgenden wird zunächst ein kurzer Überblick zum Französischen in Québec gegeben und es wird der Forschungsstand bezüglich der Spracheinstellungen der Québécois aufgezeigt. Dabei werden sowohl die historische Entwicklung als auch der aktuelle Stand der Forschung thematisiert. Anschließend wird die genannte, 2011 bei Jugendlichen in Québec durchgeführte Online-Befragung dokumentiert und ausgewertet. Im Einzelnen werden die konzeptionellen Grundlagen, die Methode, die Stichprobe und die Forschungshypothesen präsentiert sowie ausgewählte Karoline Henriette Heyder (Göttingen) 130 Ergebnisse vorgestellt und diskutiert. Der Beitrag schließt mit einem Fazit und einem Forschungsausblick. 2. Französisch in Québec Französisch wird auf dem Gebiet der heutigen kanadischen Provinz Québec seit dessen Entdeckung und Besiedlung durch Frankreich im 16. Jahrhundert gesprochen (vgl. Pöll 1998, 61). Waren es im 16. Jahrhundert zunächst v.a. französische Fischer und Pelzhändler, die zum Arbeiten in der Region verweilten, so wurde die 1608 gegründete französische Kolonie Québec im 17. Jahrhundert langfristig durch Franzosen besiedelt (vgl. Pöll 1998, 61). Bei den Kolonisten handelte es sich um Militärs, Verwaltungsbeamte, Adlige und Kleriker genauso wie um Angehörige eher niedriger sozialer Schichten wie Bauern und Arbeiter (Corbeil 2009, 107; Oakes 2007, 66). Die Mehrheit der Siedler stammte aus Nordwest- und Westfrankreich (Normandie, Poitou-Charante, Maine) sowie der Île-de- France (Conrick 2002, 238; Reinke/ Klare 2002, 29; vgl. Corbeil 2009, 107; Oakes 2007, 66). Linguistisch gesehen hatte dies zur Folge, dass in Québec zunächst insbesondere die patois bzw. Varietäten des Französischen aus eben den Regionen, aus denen die Siedler stammten, verwendet wurden. Da es sich bei den Kolonisten häufig um Personen aus dem Gebiet der lede-France oder aber gebildete, alphabetisierte Schichten aus anderen Teilen Frankreichs handelte, wird heute davon ausgegangen, dass die Mehrheit von ihnen bereits bei ihrer Ankunft in Québec das damalige Standardfranzösische Frankreichs beherrschte und die übrigen Siedler, die z.T. ausschließlich patois sprachen oder nur über geringe Kenntnisse des français standard verfügten, schnell dazu übergingen, eben diese Varietät zu sprechen (vgl. Corbeil 2009, 107; Pöll 1998, 73). Dies soll dazu geführt haben, dass in Québec schon im 18./ 19. Jahrhundert eine sprachliche Uniformität vorherrschte (vgl. Reutner 2009, 81), wie sie in Frankreich zu dieser Zeit noch nicht existierte (vgl. Oakes 2007, 66). Fest steht jedenfalls, dass die verschiedenen von den Siedlern gesprochenen patois und regionalen Varietäten des Französischen Einfluss auf die Entwicklung der französischen Sprache in Québec hatten (vgl. Corbeil 2009, 107 f.; Pöll 1998, 74). Häufig ist jedoch nicht mehr en détail nachweisbar, ob es sich etwa bei einem bestimmten Lexem um einen Archaismus oder einen Dialektismus handelt, weil zum einen nicht bekannt ist, ob der betreffende Ausdruck auch im Französischen verwendet wurde (vgl. Pöll 1998, 78) Insécurité linguistique au Québec 131 und zum anderen die patois häufig nicht verschriftlicht wurden und somit Quellen hierfür fehlen. Durch den Kontakt zur autochthonen Bevölkerung auf dem Gebiet Québecs kam es zudem zu einer Beeinflussung des Französischen in Québec durch indigene Sprachen (vgl. Corbeil 2009, 108, 113; Pöll 1998, 77 f.). So geht u.a. das Wort „ouaouaron“, das so viel bedeutet wie „grenouille géante de l’Amérique du Nord“ (Pöll 1998, 78; vgl. Corbeil 2009, 113), auf eine solche sprachliche Beeinflussung zurück und der Name „Québec“ ist auf die algonkische Bezeichnung „kebec“ für „Verengung“ zurückzuführen (Pöll 1998, 78; vgl. Corbeil 2009, 113). Im 17. und 18. Jahrhundert gab es immer wieder Konflikte und z.T. kriegerische Auseinandersetzungen zwischen England und Frankreich, die teils direkt in der Kolonie, teils in Europa ausgetragen wurden (vgl. Reinke/ Klare 2002, 29; Pöll 1998, 62). In der sog. Bataille de la plaine d’Abraham 1759, durch die Niederlage Montréals (1760) sowie durch den Traité de Paris 1763 fiel die französische Kolonie an die Engländer (Reinke/ Klare 2002, 29; vgl. Conrick 2002, 238 f.; Pöll 1998, 62). Zu dieser Zeit lebten in Québec rund 70.000 Menschen (vgl. Pöll 1998, 62). Als die Kolonie an die Engländer übergeben wurde, zogen viele Siedler, insbesondere jedoch bis dahin in Québec tätig gewesene, französische Verwaltungsbeamte und Militärs nach Frankreich zurück (Corbeil 2009, 108; vgl. Wolf 2009, 25 f.; vgl. Pöll 1998, 62). Zudem kam es in Folge des Vertrags von Paris zu einer relativen Isolation der Kolonie von ihrem ursprünglichen Mutterland (vgl. Corbeil 2009, 108; Oakes 2007, 67; Reinke/ Klare 2002, 30). 1 Einzige offizielle Sprache in Québec war nun das Englische (Conrick 2002, 239). Dennoch stieg die Zahl der Frankophonen bedingt durch eine hohe Geburtenrate und trotz eines hohen Assimilationsdrucks seitens der Anglophonen in Québec rasant (vgl. Pöll 1998, 63). Die höheren gesellschaftlichen Positionen jedoch wurden unter der Herrschaft Englands von Anglophonen besetzt (vgl. Pöll 1998, 63). Die Isolation von Frankreich machte sich nicht zuletzt sprachlich spürbar. So entwickelte sich die französische Sprache in der Folgezeit in 1 Wolf (2009, 26 f.) ist der Auffassung, es habe keineswegs eine vollkommene Isolation gegeben, sondern diese sei v.a. auf den politischen und den wirtschaftlichen Austausch beschränkt gewesen, während etwa der „Nachrichten- und Gedankenaustausch“ weiter bestanden habe. Dennoch dürfte aus Sicht der Verfasserin dieses Beitrags auch diese relative Isolation zwischen der ehemaligen Kolonie und dem Mutterland Auswirkungen auf die sprachliche Situation in Québec gehabt haben, zumal an dem beschriebenen „Nachrichten- und Gedankenaustausch“ nur kleine Teile der Bevölkerung Teil gehabt haben werden. Karoline Henriette Heyder (Göttingen) 132 Québec unabhängig von derjenigen in Frankreich weiter. Hieraus resultierte einerseits, dass bestimmte sprachliche Charakteristika, die für das Französische Frankreichs nicht mehr typisch waren, in Québec weiter verwendet wurden. Aus Sicht der Sprecher aus dem Mutterland waren sie somit veraltet. Noch heute erklärt sich hierdurch eine hohe Anzahl von Archaismen des français québécois 2 im Vergleich zum Standardfranzösischen Frankreichs etwa im Bereich der Lexik - ein Beispiel hierfür sind die Verwendung des Verbs „oeuvrer“ anstelle von „travailler“ - aber auch im Bereich der Aussprache, wo die in Frankreich bereits im 13. Jahrhundert nicht mehr übliche Aussprache der Auslautkonsonanten etwa in „le but“ noch heute gängig ist (Pöll 1998, 75, 78; vgl. dazu auch Corbeil 2009, 113). Andererseits entwickelte sich das Französische in Québec parallel dazu relativ unabhängig von Frankreich weiter. Dabei erhielt es v.a. Einflüsse aus dem Englischen. So hatte und hat auch bis zum heutigen Tage das Englische Auswirkungen auf die Syntax, die Orthographie und die Aussprache des Französischen in Québec (vgl. Corbeil 2009, 113; Oakes 2007, 67). Zudem sind im Bereich der Lexik zahlreiche sowohl direkte als auch leicht modifizierte Entlehnungen feststellbar (vgl. Corbeil 2009, 113; Oakes 2007, 67). Exemplarisch seien hier nur die Verwendung des Wortes „fun“ und der leicht abgeänderten Bezeichnung „bines“ von englisch „beans“ genannt (Pöll 1998, 78). Parallel zum Einfluss der englischen auf die französische Sprache in Québec entwickelte sich dort jedoch auch eine Abwehrhaltung gegenüber dem Englischen. Die anglophone Mehrheit innerhalb Kanadas sowie in den angrenzenden US-Staaten wird dabei von den meisten Québécois bis heute als Bedrohung für die Frankophonie in Nordamerika wahrgenommen und ihr Einfluss auf das Französische in Québec negativ bewertet (Remysen 2004, 99; vgl. dazu Reutner 2009, 87 ff.; Reinke/ Klare 2002, 30; Conrick 2002, 237; 3.1). Dies hat zur Folge, dass häufig im Standardfranzösischen Frankreichs übliche Anglizismen in Québec vermieden und durch andere Lexeme ersetzt werden, so wird z.B. statt „faire du shopping“ in Québec häufig das Verb „magasiner“ verwendet (Pöll 1998, 79; vgl. Corbeil 2009, 114 f.). Auch das 1961 in Québec gegründete Office de la 2 Im Folgenden wird unter „français québécois“ die diatopische Varietät des Französischen in Québec verstanden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Varietät wiederum in sich sowohl diachron als auch synchron variiert. So lassen sich zu verschiedenen Zeitpunkten u.a. diatopische und diamesische Unterschiede feststellen (vgl. u.a. Corbeil 2009, 113). Für die Definition der Varietät „français québécois“ wird in der vorliegenden Untersuchung das Sprecherurteil als ausschlaggebend erachtet (vgl. Wolf 2009, 23). Insécurité linguistique au Québec 133 langue française (vgl. Conrick 2002, 240) hat sich u.a. zur Aufgabe gemacht, Neologismen zu entwickeln, die anstelle von Anglizismen verwendet werden sollen (Cardinal 2006, 97, 110). So wird heute in Québec statt der Bezeichnung „e-mail“ beispielsweise das Wort „courriel“ verwendet (Corbeil 2009, 114). Die Vermeidung von Anglizismen ist eine Quelle für Innovationen innerhalb des Französischen Québecs. Darüber hinaus weist das français québécois jedoch auch andere Eigenheiten auf, wie etwa die Benutzung weiblicher Berufsbezeichnungen, z.B. „écrivaine“ (Pöll 1998, 80; vgl. Conrick 2002, 254). Häufig traten und treten noch heute im Quebecer Französisch Innovationen dann auf, wenn im Standardfranzösischen für eine Begebenheit oder einen Gegenstand aus der Umwelt keine Bezeichnung existiert (vgl. Corbeil 2009, 114). So gibt es im français québécois etwa den Begriff „frasil“, den man gemäß Pöll (1998, 79) mit „cristaux ou fragments de glace flottant à la surface de l’eau“ übersetzen kann, und auch das Wort „motoneige“ ist eine Quebecer Schöpfung (Corbeil 2009, 114). Bis ins 20. Jahrhundert hinein blieben die englische Sprache bzw. deren Sprecher in Québec faktisch dominant (vgl. Reutner 2009, 93). So hatten u.a. die führenden Positionen fast ausschließlich anglophone oder mindestens zweisprachige Personen inne (Gill 2006, 99; vgl. Reutner 2009, 93; Pöll 1998, 64). Erst in der sog. „Révolution tranquille“, mit der die Frankophonen wieder in ökonomisch und gesellschaftlich bedeutendere Positionen vordrangen, engagierten sich diese stark für die französische Sprache in Québec (vgl. Corbeil 2009, 110; Wolf 2009, 37; Gill 2006, 100 f., 107, 113; Pöll 1998, 64 f.). Mittels verschiedener Gesetze wurde zunächst versucht, eine tatsächliche Zweisprachigkeit in der Provinz herzustellen und später der Versuch unternommen, die Frankophonie Québecs zu stärken und die “territoriale französische Einsprachigkeit durchzusetzen“ (Pöll 1998, 65; vgl. Gill 2006, 101 ff.; Conrick 2002, 240). Mit Hilfe der sog. „Loi pour promouvoir la langue française au Québec“ aus dem Jahr 1969 sollte die Bedeutung des Französischen in Québec verstärkt werden (Pöll 1998, 66; Conrick 2002, 240; vgl. Cardinal 2006, 110). Durch die „Loi sur la langue officielle“ aus dem Jahr 1974 und die „Loi 101“ der „Charte de la langue française“ aus dem Jahre 1977 schließlich wurde die französische zur einzigen offiziellen Sprache innerhalb Québecs (Pöll 1998, 66; vgl. Cardinal 2006, 110; Conrick 2002, 240 f.). Heute verwendet die Mehrheit der Québécois Französisch nicht nur als Muttersprache, sondern auch als Hauptsprache sowohl in der informellen als auch in der formellen Kommunikation (vgl. Pöll 1998, 67). Karoline Henriette Heyder (Göttingen) 134 3. Spracheinstellungen in Québec 3.1 Geschichtliche Entwicklung Die Spracheinstellungen der Québécois haben sich seit der Entstehung der französischen Kolonie im 17. Jahrhundert stark gewandelt. Während im 17. und frühen 18. Jahrhundert die regionale, in Québec gesprochene Varietät des Französischen sowohl durch die Franzosen als auch durch die Québécois selbst positiv bewertet wurde und als sprachlich uniformer galt als das in Frankreich gesprochene Französisch (Oakes 2007, 66), wurde die regionale Varietät des Französischen in Québec in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, v.a. jedoch seit dem 19. Jahrhundert, negativer bewertet (vgl. Corbeil 2009, 115; Oakes 2007, 67). Die „Pariser Varietät“ des Französischen war die Norm, an der sich die Québécois - wie im Übrigen nahezu alle Frankophonen - orientierten (Wolf 2009, 22). Nach dem Frieden von Paris 1763 und der damit verbundenen Isolation der nordamerikanischen Kolonie vom ehemaligen Mutterland Frankreich blieb in Québec das Standardfranzösische Frankreichs weiterhin überwiegend die Zielnorm (vgl. Pöll 1998, 67). Pöll (1998, 67) schildert die Situation wie folgt: Unter der intellektuellen Führung des Klerus, der de facto das Bildungsmonopol innehatte, lag das Hauptaugenmerk auf der Bewahrung der traditionellen Werte, wozu auch die überlieferte französische Sprache gehörte. Lediglich hinsichtlich der „Liberalisierung“ Frankreichs im Zuge der Französischen Revolution und später noch einmal in der Phase der „Laizisierung“ sowie bezüglich des „laxen Umgang[s]“ der Franzosen mit dem Einfluss der englischen auf die französische Sprache in Frankreich - so Pöll (1998, 67) - sei der Elite der Québécois, die über die genannten Entwicklungen im ehemaligen Mutterland informiert war, Frankreich „als Vorbild suspekt“ gewesen (vgl. dazu auch Wolf 2009, 27 ff.). Im Zuge der Französischen Revolution kam es dementsprechend zu einer relativen Abnahme der Orientierung der Québécois am ehemaligen Mutterland (vgl. Wolf 2009, 27 ff.). Dennoch blieb sowohl in der Zeit nach der Französischen Revolution als auch später während der einsetzenden Laizisierung sprachlich gesehen bei den Québécois weitestgehend eine Orientierung am französischen Standard bestehen, wobei die Quebecer die „frankophone Verbindung“ zum Mutterland v.a. nutzten, „[…] um der Gefahr eines Verlustes der Identität durch eine totale nordamerikanische Assimilation widerstehen zu können“ (Wolf 2009, 35). Eine sprachliche Unsicherheit der Quebecer entwickelte sich v.a. Mitte des 19. Jahrhunderts, als erneut politische, wirtschaftliche und kulturelle Insécurité linguistique au Québec 135 Beziehungen zwischen Québec und Frankreich entstanden (Paquin 2009, 233; Oakes 2007, 67; vgl. dazu Wolf 2009, 30 f.). Der hieraus entstehende intensivere Sprachkontakt führte seitens der Québécois und der Franzosen zu einem Bewusstsein über die Unterschiede der Ausprägung des Französischen dies- und jenseits des Ozeans (Oakes 2007, 67; vgl. Corbeil 2009, 115; Wolf 2009, 31). Zu dieser Zeit hatte sich die oben beschriebene Entwicklung des Französischen der Île-de-France zur prestigeträchtigsten Norm innerhalb des Französischen fortgesetzt. Weltweit orientierten sich frankophone Sprecher an der eher „utopischen“ Norm des français standard (vgl. Wolf 2009, 22; Oakes 2007, 72; Lüdi 1992, 155). 3 In Québec entstanden seit dem 18./ 19. Jahrhundert zahlreiche Publikationen, die der Sensibilisierung gegenüber den Charakteristika des dortigen Regionalfranzösischen bis hin zur Bekämpfung der Regionalismen im Sprachgebrauch dienten (vgl. Reutner 2009, 86; Corbeil 2009, 115; Wolf 2009, 31; Pöll 1998, 68), wobei als erstes besonders einflussreiches Werk dieser Art in Québec das „Manuel des difficultés“ des Abbé Maguire aus dem Jahre 1841 gilt (Reutner 2009, 86). Während dieser Zeit - und für einige Québécois gilt das noch bis zum heutigen Tage (vgl. 3.2; 4. und 5.) - orientierte sich die Mehrheit der Quebecer Bevölkerung am français standard Frankreichs, verwendete jedoch eine stark regional geprägte Varietät des Französischen (vgl. Pöll 1998, 68). Die Kombination der Orientierung der Québécois an der Norm des Standardfranzösischen Frankreichs und das seit dem 19. Jahrhundert auch bei den „Normalbürgern“ Québecs vorhandene Bewusstsein über die Abweichungen zwischen dem eigenen Idiom und dem français standard sowie die hieraus resultierende negative Bewertung des Regionalfranzösischen Québecs führte dazu, dass für die meisten Québécois eine insécurité linguistique kennzeichnend war (vgl. Reutner 2009, 89; Oakes 2007, 67; Conrick 2002, 252 f.; Pöll 1998, 68). Zwar hatte die Tatsache, dass u.a. die anglophonen Kanadier das Französische in Québec als schlechtes Französisch bewerteten, zur Folge, dass das français québécois erforscht und z.T. aufgrund seines „klassische[n], archaische[n] Charakter[s]“ positiv bewertet wurde, doch überwog diese positive Sichtweise bei den meisten Québécois nicht. Im Gegenteil: die negative Bewertung des Französischen in Québec durch die Anglophonen verstärkte z.T. eher die oben beschriebene negative Einstellung gegenüber der regionalen Varietät (Pöll 1998, 69; vgl. Wolf 2009, 32). Nur wenige 3 Oakes (2007, 72) spricht in diesem Zusammenhang von einem „myth“ und Lüdi (1992, 155) schreibt, es handle sich bei der Debatte über den „bon usage“ um einen „utopian discourse“. Karoline Henriette Heyder (Göttingen) 136 Québécois waren der Auffassung, dass bestimmte Regionalismen des Französischen in Québec benutzt werden sollten und man sich nicht hundertprozentig der exogenen Norm des Standardfranzösischen anpassen sollte (vgl. Reutner 2009, 87 f.; Corbeil 2009, 115). Dabei wurden insbesondere solche Wörter akzeptiert, für die es im Standardfranzösischen keine Entsprechungen gab (vgl. Reutner 2009, 87). 4 Die sprachliche Unsicherheit der Quebecer wurde dadurch verstärkt, dass zugleich das Englische bzw. dessen Einfluss auf die französische Sprache - wie unter 2. geschildert - als Bedrohung wahrgenommen und bekämpft wurde (Remysen 2004, 99; vgl. Reutner 2009, 87 ff.; Wolf 2009, 31; Oakes 2007, 67; Reinke/ Klare 2002, 30; Pöll 1998, 68). Insbesondere der sog. „joual“, „[…] der im Gefolge der Landflucht und Industrialisierung entstandene, von Anglizismen affizierte populäre Sprachgebrauch der unteren Schichten […]“ (Pöll 1998, 68), wurde kritisiert und bekämpft (vgl. Conrick 2002, 252). Laut Oakes (2007, 68) erreichte die sprachliche Unsicherheit der Québécois ihren Höhepunkt in den Jahren 1940-1960. Eine „auto-culpabilisation“ und eine „auto-dépréciation“ oder gar ein „complexe d’infériorité“ waren dabei gemäß Reutner (2009, 87, 89) für die Québécois kennzeichnend. In den 1960er, v.a. jedoch seit den 1970er Jahren, entwickelten sich wieder erste, bedeutende Tendenzen hin zu einer positiveren Bewertung des français québécois (vgl. Oakes 2007, 72; Pöll 1998, 69). Mehrere Schriftsteller unter ihnen Turi, Bélanger, Tremblay, Godin und Renaud verwendeten in ihren Werken die Varietät des „joual“, wobei einige von ihnen, so insbesondere Bélanger und Turi, auf dessen Wert als „Identifikationssymbol“ hinwiesen (Oakes 2007, 68; Pöll 1998, 69) und andere die Varietät verwendeten, um darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig es sei, das Französische in Québec zu stärken (Corbeil 2009, 115 f.; Oakes 2007, 68). Dieses Engagement nahm jedoch schnell wieder ab. In der Folgezeit dominierte eine Hin- und Hergerissenheit die Spracheinstellungen der Québécois: Einerseits orientierten sie sich weiterhin stark am Standardfranzösischen Frankreichs, andererseits bewerteten sie die regionale, in Québec verwendete Varietät des Französischen mindestens in bestimmten Kontexten positiv (vgl. Pöll 1998, 70). So setzte sich etwa die „Association québécoise des professeurs de français“ schon 1977 dafür ein, dass 4 Noch heute wird hinsichtlich der Regionalismen des Französischen in Québec z.T. von den sog. „mots ‚de bon aloi‘“ (Reutner 2009, 87 ff.) gesprochen. Hierbei handelt es sich insbesondere um diejenigen Regionalismen, für die es im français standard keine Entsprechungen gibt, wie etwa „banc de neige“, und die daher im Sprachgebrauch weitestgehend akzeptiert werden (Reutner 2009, 87 ff.). Insécurité linguistique au Québec 137 im Unterricht ein „français standard d’ici“ verwendet wurde (Pöll 1998, 70), wobei sie präzisierte, beim „français standard d’ici“ handle es sich um die „[…] socially prestigious variety of French that the majority of Quebecers tend to use in formal communication situations“ (Association québécoise des professeurs de français 1977, 11, zit. n.: Oakes 2007, 73). Um was es sich sprachlich gesehen bei diesem Quebecer Standardfranzösisch genau handeln sollte, wurde damals jedoch nicht beschrieben (vgl. Pöll 1998, 70) und ist bis heute strittig (vgl. Oakes 2007, 74 ff.). Zudem entstand eine bis heute andauernde Debatte darüber, ob in Québec statt des français québécois ein sog. „français international“ bzw. ein „français universel“ gesprochen werden sollte, die bis heute andauert (Wolf 2009, 37 f.; vgl. Oakes 2007, 69 ff.). Zu beachten ist dabei, dass - wie Oakes (2007, 70 f.) zutreffend schreibt - dem sog. „international French“ - und Gleiches gilt für das „français universel“ - keine „linguistic reality“ entspricht. Es handelt sich um Konstrukte, die insbesondere in der sprachpolitischen Diskussion in Québec immer wieder thematisiert werden. 3.2 Aktueller Stand der Forschung Aktuell gibt es in der Forschung zu den Spracheinstellungen der Québécois verschiedene, z.T. widersprüchliche Aussagen. So finden sich laut einem Teil der Forschung derzeit Anzeichen dafür, dass die sprachliche Unsicherheit der Québécois abnimmt bzw. ganz verschwindet. Als Ursachen hierfür werden einerseits eine Abnahme der Orientierung der Québécois am Standardfranzösischen Frankreichs (vgl. Corbeil 2009, 116; Oakes 2007, 69; Reinke/ Klare 2002, 36 ff.) und andererseits eine Aufwertung der regionalen Varietät des français québécois gewertet. Feststeht, dass - wie bereits angedeutet - Québec seit der „Stillen Revolution“ der 1960er Jahre verstärkt Bemühungen unternimmt, sich von Frankreich und dem englischsprachigen Kanada zu emanzipieren (Oakes 2007, 69). Laut Oakes (2007, 69 ff.) geht hiermit eine Abnahme der insécurité linguistique der Québécois einher, die sich nicht zuletzt in der Entstehung einer identité québécoise äußert. Ähnlich urteilt eine Reihe von Forschern (vgl. etwa Reutner 2009, 94; Conrick 2002, 237, 252; Reinke/ Klare 2002, 36), die davon ausgehen, dass die Quebecer ihre Identität mittels der regionalen Varietät des Französischen in Québec konstruieren. So ist auch Conrick (2002, 253), die dabei - wie Oakes (2007, 69) - auf den Wechsel der Selbstbezeichnung der Quebecer als „Québécois“ statt als „Canadiens français“ verweist, dieser Auffassung: Karoline Henriette Heyder (Göttingen) 138 In the years since the 1960s there has been fundamental change in how Quebecers see themselves. They have reconstructed their identity, reversing almost entirely the lack of prestige that had been associated previously with speaking French. This evolution was marked linguistically by a change in the title they used to identify themselves from ‘Canadiens français’ to ‘Québécois’. This change carried enormous symbolic weight, indicating that they were no longer defining themselves as a minority within Canada, but as a majority within their own context in Quebec. The result is a new self-confidence and vitality not only culturally and politically, but linguistically as well. Auch laut Conrick (2002, 253) haben verschiedene soziolinguistische Studien in den 1990er Jahren gezeigt, dass es zu einer größeren “acceptability of Québécois French“ und einer Tendenz dazu, „[…] no longer to measure it against Standard French as the norm of reference […]“ gekommen sei. Zugleich weist sie jedoch darauf hin, dass es zum Zeitpunkt ihrer Untersuchung Forschungen gegeben habe, die ein gegenteiliges Ergebnis erbrachten (vgl. Conrick 2002, 253). Bezüglich der Konkurrenz der englischen und der französischen Sprache innerhalb Québecs spricht Corbeil (2009, 112) derzeit von einer „certaine forme de paix linguistique“, wobei das Französische die „langue publique commune de la majorité des citoyens“ sei. Lediglich in Montréal, wo es noch immer viele Anglophone gebe und die Zahl der Immigranten besonders hoch sei, sei dies nicht der Fall (Corbeil 2009, 112). Etwas weiter im Text jedoch relativiert er seine Aussage und schreibt: Die „concurrence interne“ habe sich durch die Sprachgesetze gemildert („atténuée“), sie sei jedoch keineswegs verschwunden („mais pas au point de disparaître“) (Corbeil 2009, 118). Zudem bestehe die Bedrohung durch die englische Sprache insofern fort, als in (Nord-)Amerika das Französische in einer Minderheitenposition und das Englische international die Sprache der Globalisierung und der Wirtschaft sei (Corbeil 2009, 118). Laut Reutner (2009, 90) ist situativ zu differenzieren, ob sich die Québécois an einer endo- oder einer exogenen Norm orientieren, wobei sie feststellt, dass diese sich in informellen Situationen weniger stark an der exogenen Norm orientieren als in formellen Gesprächssituationen (vgl. Reutner 2009, 90). Zudem differenzieren einige Autoren bezüglich sozialer Faktoren, so etwa dem Alter der Sprecher. Während Reinke/ Klare (2002, 36) noch 2002 ermittelten, dass insbesondere für die von ihnen befragten Jugendlichen eine insécurité linguistique typisch war, stellte Reutner (2009, 90) im Jahr 2009 fest, dass gerade bei Jugendlichen nur noch eine allenfalls geringe sprachliche Unsicherheit beobachtet werden Insécurité linguistique au Québec 139 konnte und diese dazu tendierten, sich nicht mehr stark am Standardfranzösischen Frankreichs zu orientieren. Auf die Abnahme einer sprachlichen Ausrichtung am Standardfranzösischen Frankreichs sowie eine positivere Bewertung des français québécois deuten auch verschiedene Versuche einer Kodifizierung des Französischen in Québec etwa durch Wörterbücher wie den „Dictionnaire québécois d’aujourd’hui“ (Boulanger/ De Bessé/ Dugas 1992) und den in Sherbrooke erarbeiteten „national dictionary“ (vgl. Reutner 2009, 95; Oakes 2007, 64 f.) sowie die oben genannte Forderung der „Association québécoise des professeurs de français“ hin (Oakes 2007, 64, 73 ff.; vgl Reutner 2009, 95; Pöll 1998, 70). Remysen (2004, 97), der sich dabei auf Francard (1998, 18) stützt, kommt insgesamt zu dem Schluss, es gebe eine „[…] émancipation linguistique croissante des Québécois […]“. Laut Oakes (2007, 72) ist in Québec beobachtbar, dass die französische Sprache eine „plurizentrische Sprache“ im Sinne Lüdis (1992) ist. Ähnlich wie die genannten Autoren urteilt auch Wolf (2009, 38), der schreibt: Diese Neuorientierung bedeutet gleichzeitig das Ende des sprachlichen Pariser Zentralismus, der sich der de facto existierenden Variationsbreite auf Normebene öffnen muss oder mit unzeitgemäßem Alleinvertretungsdenken an Vitalität und Prestige auf internationaler Ebene nur verlieren kann. Welche Norm sich in Québec im Rahmen der sprachlichen Umorientierung der Québécois konkret herausbildet, ist jedoch weiterhin umstritten (vgl. Corbeil 2009, 117 f.; Reinke/ Klare 2002, 31). So besteht heute weder unter den Québécois selbst, noch in der Forschung etwa Einigkeit darüber, wie das français québécois bzw. die Referenznorm eines français québécois zu definieren ist (vgl. Conrick 2002, 252 f.). Diskutiert wird dabei bis heute insbesondere die Problematik, dass trotz der Bewahrung der regionalen Charakteristika des Französischen eine Verständigung zwischen Frankophonen aus Québec und aus anderen Gebieten der Frankophonie, insbesondere jedoch Frankreichs, gewährleistet bleiben soll (vgl. Conrick 2002, 253). Neben der genannten Forschungsmeinung, in Québec sei eine Abnahme der Orientierung der Quebecer am französischen Modell beobachtbar, finden sich in der Forschung jedoch auch gegenteilige Auffassungen bzw. die geschilderten Forschungsergebnisse mildernde Einschätzungen. So gibt es etwa die Aussage, zumindest ein Teil der Québécois orientiere sich weiterhin am Standardfranzösischen Frankreichs und bewerte dieses positiver als die Quebecer Varietät (vgl. Oakes 2007, Karoline Henriette Heyder (Göttingen) 140 73; vReinke/ Klare 2002, 34 ff.). Oakes (2007, 73, 76) beispielsweise weist darauf hin, dass es noch heute Quebecer gebe, die die Qualität des Französischen in Québec bemängelten und sich für das „international French“ einsetzten. Zudem ist Oakes (2007, 73) der Auffassung, die insécurité linguistique der Quebecer sei noch nicht vollständig verschwunden: Quebecers may well be beginning to feel more linguistically secure, but they still suffer from a fair degree of linguistic insecurity […]. (vgl. dazu auch Oakes 2007, 78). Auch Reutner (2009, 90) zufolge lassen sich heute noch eine negative Bewertung des Regionalfranzösischen sowie Korrekturmaßnahmen im Sinne eines Ausmerzens von Regionalismen und nicht zuletzt der Wille, die eigenen Sprachkenntnisse zu verbessern, bei einigen Québécois beobachten. Sie ist der Auffassung, dass heute viele Québécois eine „[…] position à mi-chemin […]“ einnehmen zwischen einer „[…] acceptation aveugle […]“ und einem „[…] refus de (l’accent de) la variété parisienne […]“ (Reutner 2009, 95). Poirier (2000, 122) fasst die Situation in Québec folgendermaßen zusammen: Seiner Auffassung nach gibt es in Québec eine Auseinandersetzung zwischen „[…] les tenants de l’orthodoxie parisienne et les partisans d’une norme adaptée au contexte nord-américain.“ (vgl. Wolf 2009, 23). Mittels der im Folgenden dokumentierten Untersuchung soll ermittelt werden, ob die Spracheinstellungen der Québécois weiterhin durch eine insécurité linguistique geprägt sind oder, ob sich die o.g. Tendenz bestätigen lässt, der zufolge die sprachliche Unsicherheit der Quebecer abnimmt und eine regionale, quebecinterne Orientierung überwiegt. 4. Empirische Untersuchung 4.1 Konzeptionelle Grundlagen Verfolgt man das Ziel, die insécurité linguistique der Québécois zu untersuchen, so muss zunächst definiert werden, was hier unter sprachlicher Unsicherheit verstanden wird. Nach Auffassung der Verfasserin resultiert eine insécurité linguistique i.d.R. aus einer Differenz zwischen dem angestrebten und dem tatsächlichen Sprachverhalten eines Sprechers. Typischerweise orientieren sich Sprecher, für die eine sprachliche Unsicherheit kennzeichnend ist, an einem sprachlichen Standard, den sie jedoch in ihrem Sprachverhalten nicht realisieren (können). So orientieren sich Frankophone aus der Peripherie des Sprachraums häufig an der externen und eher „utopischen“ Norm des français standard de France (vgl. Oakes Insécurité linguistique au Québec 141 2007, 72; Lüdi 1992, 155), verwenden jedoch eine regionale Varietät des Französischen (vgl. dazu u.a. Reinke/ Klare 2002, 34 ff.). Ursächlich dafür, dass das tatsächliche vom angestrebten Sprachverhalten abweicht, ist dabei häufig ein mangelndes oder gering ausgeprägtes Sprachbewusstsein der Sprecher. Aus der Unkenntnis bzw. der falschen Einschätzung des angestrebten Standards und des eigenen Sprachverhaltens können verschiedene Sprachverhaltensweisen resultieren, die zu einer sprachlichen Unsicherheit führen (vgl. dazu u.a. Reinke/ Klare 2002, 37) und sich in vielfältiger Art und Weise äußern können. Sie können von Hyperkorrekturen (vgl. dazu u.a. Reinke/ Klare 2002, 37) bis hin zur gänzlichen Vermeidung des Sprechens einer Sprache reichen. Im Bereich der Spracheinstellungen resultieren hieraus - sofern die betroffenen Sprecher sich der Abweichungen zwischen dem von ihnen angestrebten und dem tatsächlich realisierten Sprachverhalten zumindest teilweise bewusst sind - i.d.R. eine negative Bewertung der eigenen Varietät und eine sprachliche Unsicherheit (Remysen 2004, 95). Für die in der Forschung beschriebene sprachliche Unsicherheit der Québécois sind zwei Einflüsse bedeutsam: Einerseits orientieren sich viele Quebecer sprachlich am Standardfranzösischen Frankreichs. In ihren Spracheinstellungen entspricht dies einer positiven Bewertung des français standard de France. I.d.R. geht damit eine qualitativ negative Bewertung der regionalen Varietät des Französischen in Québec einher (vgl. Reutner 2009, 86 f., 89; Oakes 2007, 64 ff.). Andererseits empfinden die Québécois - wie unter 3.2 geschildert - die englische Sprache häufig als Bedrohung für das Französische in Québec (Remysen 2004, 99; vgl. Reutner 2009, 87 ff.; vgl. Wolf 2009, 31; Reinke/ Klare 2002, 30). Der Einfluss der englischen auf die französische Sprache führt somit zu einer Verstärkung der sprachlichen Unsicherheit der Quebecer (vgl. Oakes 2007, 67). In den Spracheinstellungen führt dies dazu, dass die Quebecer anstreben, Anglizismen zu vermeiden und dadurch dem Einfluss des Englischen entgegenzuwirken. Das Sprachverhalten der Québécois hingegen ist i.d.R. sowohl mehr oder weniger stark regional als auch insbesondere durch den Gebrauch von Anglizismen geprägt. Diejenigen Quebecer, die sich auch hinsichtlich des Gebrauchs von Anglizismen der Differenz zwischen dem von ihnen angestrebten und dem tatsächlich durch sie realisierten Sprachverhalten bewusst sind, tendieren häufig auch zu einer hierdurch bedingten sprachlichen Unsicherheit. Karoline Henriette Heyder (Göttingen) 142 4.2 Methode und Stichprobe Strebt man an, eine möglicherweise bestehende sprachliche Unsicherheit von Sprechern zu untersuchen, so ergibt sich die Schwierigkeit, dass Spracheinstellungen nicht direkt beobachtbar sind, sondern indirekt ermittelt werden müssen. Dies hat Konsequenzen für die methodische Vorgehensweise bei der Untersuchung der Spracheinstellungen. Im vorliegenden Fall wurde ein Onlinefragebogen zur Datenerhebung verwendet. Der Fragebogen umfasst insgesamt 52 geschlossene und offene Fragen. Für die geschlossenen Antworten wurden z.T. 5bzw. 6-stufige Likertskalen eingesetzt. Auch wurde ein Polaritätenprofil verwendet. Besonderer Wert wurde auf die Vermeidung von Suggestivfragen gelegt. Zudem wurde versucht, die Fragen so zu stellen, dass die Befragten nicht von vornherein erkennen konnten, dass sie zu einer möglicherweise ihrerseits bestehenden sprachlichen Unsicherheit befragt wurden. Die Untersuchungsteilnehmer waren lediglich darüber aufgeklärt, dass es sich um eine sprachwissenschaftliche Untersuchung handelte. Hochgeladen und den Befragungsteilnehmern zur Verfügung gestellt wurde der Fragebogen auf der Plattform „Soscisurvey“, die vom Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität München sowie seit 2004 auch von der Universität Zürich getragen wird. Die Befragten konnten im Zeitraum vom 03.05.2011 bis zum 31.10.2011 mittels eines Passwortes auf den Fragebogen zugreifen und diesen online ausfüllen. Der Kontakt zu den Untersuchungsteilnehmern wurde über deren Lehrkräfte hergestellt. Zuvor waren durch die Verfasserin alle weiterführenden Schulen in Québec per Email über die Befragung informiert und deren Schüler zur Teilnahme daran aufgefordert worden. Die Auswertung der Daten erfolgte mit Hilfe des Programms SPSS 19. Insgesamt nahmen an der Befragung 161 Jugendliche teil. Die Mehrheit der Befragten, nämlich insgesamt 99 Personen, ist in den Jahrgängen 1991-1994 geboren und war somit zum Zeitpunkt der Untersuchung zwischen 17 und 20 Jahren alt. Drei der Befragten waren wesentlich älter. Sie gaben an, in den Jahren 1969, 1974 und 1977 geboren zu sein. Vermutlich handelt es sich hierbei um Lehrkräfte, die bevor sie ihren Schülern rieten, den Fragebogen auszufüllen, diesen selbst beantworteten. 39,4 % der Untersuchungsteilnehmer (n= 161) waren männlichen und 60,9 % weiblichen Geschlechts. Die Untersuchungsteilnehmer stammen aus allen Teilen der Provinz Québec, wobei mit 46 Personen ein Großteil von ihnen aus der Stadt Montréal stammt. 60,9% der Befragten (n= 161) gaben an, das Französische sei ihre Muttersprache. Die meisten Untersuchungsteil- Insécurité linguistique au Québec 143 nehmer, deren Muttersprache nicht Französisch ist, haben das Englische als Muttersprache. 4.3 Forschungshypothesen Um zu überprüfen, ob für die befragten jugendlichen Québécois eine insécurité linguistique kennzeichnend ist, wurden in der vorliegenden Befragung fünf aus dem oben geschilderten Forschungsstand abgeleitete Forschungshypothesen überprüft: 1) Das Sprachverhalten der Québécois ist regional gefärbt (Reinke/ Klare 2002, 35 ff.). 2) Die Québécois bewerten das français standard positiver als das français québécois (vgl. Remysen 2004, 96, 99). 3) Die Québécois orientieren sich sprachlich an der Norm des français standard (vgl. Reutner 2009, 89; vgl. Remysen 2004, 96, 99). 4) Die Québécois konstruieren ihre Sprecheridentität mit Hilfe der Varietät des Französischen in Québec (vgl. Reinke/ Klare 2002, 36). 5) Die Québécois empfinden das Englische als Bedrohung für das Französische in Québec (vgl. Reutner 2009, 87 ff.; Wolf 2009, 31; Remysen 2004, 99; Reinke/ Klare 2002, 30). Die Hypothesen zwei und drei unterscheiden sich dabei insofern, als die Tatsache, dass jemand das français standard positiver bewertet als dessen regionale Varietät in Québec, nicht zwangsläufig bedeutet, dass eben diese Person sich im Sprachverhalten am français standard Frankreichs orientiert. Möglicherweise gibt es auch Fälle, in denen Québécois angeben, das Standardfranzösische sei zwar positiver zu bewerten als dessen regionale Varietät in Québec, sie sprächen jedoch ein français québécois. 4.4 Ausgewählte empirische Ergebnisse: Präsentation und Analyse Die Untersuchung erbrachte eine Fülle von Ergebnissen, von denen hier nur eine Auswahl präsentiert und diskutiert werden kann. Im Folgenden werden die zur Beantwortung der hier behandelten Frage nach dem Bestehen einer sprachlichen Unsicherheit seitens der jugendlichen Québécois relevanten Resultate vorgestellt, analysiert und diskutiert. Darüber hinaus wurden mittels der Befragung v.a. Daten erhoben, die für eine Analyse der didaktischen Implikationen, die sich aus den linguistischen Ergebnissen ergeben, aufschlussreich sind. Sie werden an anderer Stelle umfassender und ausführlicher präsentiert und ausgewertet. Karoline Henriette Heyder (Göttingen) 144 Die hier präsentierten Zitate aus den Antworten der befragten Jugendlichen wurden wortwörtlich übernommen und sprachlich nicht korrigiert. Zur Hypothese 1: Das Sprachverhalten der Québécois ist regional gefärbt (vgl. Reinke/ Klare 2002, 35 ff.). In der vorliegenden Untersuchung konnte das Sprachverhalten der Québécois nicht direkt überprüft werden. Allerdings wurden einige Ergebnisse dazu ermittelt, wie die Sprecher ihr Sprachverhalten selbst einschätzen. Die Befragungsteilnehmer wurden aufgefordert, einzuschätzen, ob sie eher ein „français québécois“, ein „français canadien“, ein „français standard“ oder „une autre langue/ variété“ sprächen („Que penses-tu parlestu plutôt ? Coche la réponse la plus pertinente.“). Abb. 1: Selbsteinschätzung des Sprachverhaltens durch die Sprecher (Angaben in %; Quelle: eigene Darstellung) Dabei gab mit 58,9% (n= 124) die Mehrheit der Befragten an, ein „français québécois“ zu sprechen und weitere 12,1% der Untersuchungsteilnehmer waren der Auffassung, sie sprächen ein „français canadien“. 7,3% der Jugendlichen gaben an, sie sprächen eine andere Varietät oder Sprache, wobei die Mehrheit von ihnen spezifizierte, dass sie eine andere Sprache, und zwar v.a. Englisch bzw. mehrere Sprachen, darunter z.T. Französisch, verwende. Bemerkenswert ist, dass mehr als ein Fünftel (21,8%) der Befragten äußerte, eher das „français standard“ zu sprechen und sein Sprachverhalten dementsprechend als einem externen Standard entsprechend definiert. Fraglich ist, ob diese Jugendlichen tatsächlich eine wenig un franç ais qué bé cois un franç ais c anadie n un franç ais standard une autre varie té/ langue Insécurité linguistique au Québec 145 oder gar nicht regional gefärbte Varietät des Französischen sprechen, die dem Standardfranzösischen Frankreichs entspricht. Denkbar wäre auch, dass einige der Befragten zwar regional gefärbt sprechen, jedoch angeben, ein „français standard“ zu sprechen, weil sie dieses für sozial erwünschter halten. Möglicherweise deutet sich hier eine Orientierung an der Norm des français standard Frankreichs an. Die spätere Analyse der Spracheinstellungen ermöglicht eine detailliertere Betrachtung dieser Thematik. Nicht ausgeschlossen werden kann jedoch, dass einige Jugendliche deswegen angaben, das „français standard“ zu sprechen, weil sie ein differierendes Verständnis des Begriffs „français standard“ haben. Es konnte hier nicht überprüft werden, wie die einzelnen Befragten den Begriff „français standard“ definieren. Ausgeschlossen werden kann daher nicht, dass Befragte das „français standard“ als Standardfranzösisch Québecs betrachteten. In jedem Fall interessant ist, dass diejenigen Jugendlichen, die angaben, Standardfranzösisch zu sprechen, ihr eigenes Idiom nicht als vorrangig regional geprägt definierten. Leicht abweichende Ergebnisse erbrachte die Frage bezüglich der Selbsteinschätzung des accent der Sprecher. Auf die Frage „Comment classifierais-tu ton accent français ? Coche la réponse la plus pertinente.“ gaben 66,1% der Befragten (n= 124) an, mit einem accent „plutôt québécois“ zu sprechen. 13,7% waren der Auffassung, sie hätten einen accent „plutôt canadien“ und 2,4% gaben an, eher einen anderen accent zu haben. Hierbei wurden u.a. ein accent „gaspésien“ und ein accent „saguenéen“ genannt. Interessant ist, dass 17,7% der Befragten äußerten, eher mit einem „français standard“ Akzent zu sprechen. Insgesamt zeigen die Ergebnisse den gleichen Trend auf wie bezüglich der Einschätzung des eigenen Sprachverhaltens. Um verlässliche Ergebnisse bezüglich der Hypothese 1 zu erhalten, wäre eine direkte Untersuchung des Sprachverhaltens nötig. Zudem wäre hinsichtlich der Selbsteinschätzung des Sprachverhaltens der Sprecher die Durchführung eines locuteur-masqué-Tests empfehlenswert. Würde sich hierbei ein Unterschied zwischen dem tatsächlich realisierten Sprachverhalten der Sprecher und der Einschätzung ihres Sprachverhaltens ergeben, und würden zusätzlich dazu die Sprechereinstellungen der Befragungsteilnehmer darauf hindeuten, dass diese dem Standardfranzösischen Frankreichs mehr Prestige zuschreiben als der regionalgefärbten Varietät des Französischen in Québec, so wäre dies ein deutliches Indiz für eine bestehende insécurité linguistique der Befragten. Karoline Henriette Heyder (Göttingen) 146 Zur Hypothese 2: Die Québécois bewerten das français standard positiver als das français québécois (vgl. Remysen 2004, 96, 99). Um zu ermitteln, wie die befragten Québécois das français standard bzw. das français québécois bewerten, wurden verschiedene Fragen gestellt. Zunächst wurden die Befragten gebeten, anzugeben, welche der folgenden Varietäten des Französischen die beste sei („Selon toi, quel est le meilleur français ? “). Fast die Hälfte der Untersuchungsteilnehmer (49% (n= 100)) gab an, das „français standard“ sei das beste Französisch. 18% der Jugendlichen bewerteten ein „français québécois“ und 7% ein „français canadien“ am besten. Mit 18% gaben verhältnismäßig viele Jugendliche an, sie hätten keine Idee, wo das beste Französisch gesprochen würde. Weitere 8% der Befragten gaben an, ein anderes Französisch sei das beste. Die Mehrheit der Personen, die diese Antwortmöglichkeit „autres: un français …“ auswählte, bezeichnete das ihrer Ansicht nach beste Französisch als „français de France“. Ein Antwortender kommentierte, es gebe „kein Französisch, dass besser sei als ein anderes“ („aucun français est meilleur que l’autre“). Insgesamt deuten diese Ergebnisse auf eine relativ positive Bewertung des Standardfranzösischen durch die befragten Jugendlichen hin. Einschränkend bleibt dabei die oben genannte Problematik der einheitlichen Definition des Begriffs français standard zu berücksichtigen. Die hohe Zahl von Personen, die die Antwortmöglichkeit „j’en ai aucune idée“ ankreuzten, sowie die Tatsache, dass nur etwa die Hälfte der Befragten das Standardfranzösische als bestes Französisch bewerteten, deuten jedoch darauf hin, dass keineswegs von einer einseitigen Bewertung des français standard als bestem Französisch gesprochen werden kann. Ebenfalls um der Frage nach der Bewertung der verschiedenen regionalen Varietäten des Französischen nachzugehen, wurden die Befragungsteilnehmer gebeten, anzugeben, wo ihrer Ansicht nach das beste Französisch gesprochen werde („Selon toi, dans quel pays/ quelle ville parle-t-on le meilleur français dans le monde ? Note le pays et/ ou la ville! “). Mehr als ein Drittel der Antwortenden (25 bei n= 64) gab hieraufhin an, in Frankreich werde das beste Französisch gesprochen, wobei einige Jugendliche eine Stadt innerhalb Frankreichs und zwar entweder Paris (2) oder Calais (2) bzw. Lyon (1) nannten. Als Begründung dafür, warum ihrer Ansicht nach in Frankreich das beste Französisch gesprochen werde, nannten die Jugendlichen u.a. Folgendes: „Car c’est là que la majorité des gens parle le français standard, c’est-à-dire celui du dictionnaire phonétique.“, „Ils ont un Français plus international.“, „ils Insécurité linguistique au Québec 147 ont plus un Français standard.“, „Car c’est le berceau de cette langue.“ und „Car ils sont à l’origine de cette langue.“ Ebenfalls 25 Befragte waren der Auffassung, in Québec werde das beste Französisch gesprochen. Auch einige dieser Jugendlichen nannten bestimmte Städte oder Regionen, in denen ihrer Auffassung nach das beste Französisch gesprochen wird, und zwar: Montréal (6), la Baie (1), la Gaspésie (1), la ville de Québec (1) und Drummondville (1). Weitere drei Befragte gaben an, in Kanada werde das beste Französisch gesprochen. Diejenigen Untersuchungsteilnehmer, die angaben, in Québec werde das beste Französisch gesprochen, begründeten dies, wie etwa die folgenden Beispiele zeigen, u.a. damit, dass dies „ihr“ Idiom sei. So gab ein Jugendlicher als Begründung an: „parce que c’est ce qui nous définie c’est notre langue. C’est un français d’origine.“. Ein anderer erläuterte seine Aussage wie folgt: „Parce que je vien de Montréal puis je prend pour ma ville! ! ! ! “. Andere begründeten ihre Ansicht damit, den accent québécois zu mögen: „Parce que jaime l’accent québécois.“. Darüber hinaus gab es auch Aussagen, in denen das Französische Québecs in Vergleich zum Standardfranzösischen Frankreichs gesetzt und Letzteres negativ bewertet wurde. Hier ein Beispiel: „Parce que l’accent en France est souvent prétentieux et moins efficace.“ Nicht zuletzt antworteten 14 Untersuchungsteilnehmer, es gebe kein Land bzw. keinen Ort, an dem das beste Französisch gesprochen werde, und viele von ihnen fügten hinzu, die verschiedenen Varietäten des Französischen seien gleichwertig. Nicht zuletzt bezeichneten einige Personen das Französische Belgiens (5), Afrikas (2), der Schweiz (1) bzw. Lausannes (1), Algeriens (1), Arabiens (1) und Haitis (1) als bestes Französisch. Drei Befragte gaben an, sie wüssten nicht, wo das beste Französisch gesprochen werde. Alles in allem gab also jeweils mehr als ein Drittel der Befragten an, in Frankreich bzw. Québec werde das beste Französisch gesprochen und die Mehrheit der übrigen Befragten befand, es gebe keinen Ort, an dem ein bestes Französisch gesprochen werde. Hier ergibt sich dementsprechend ein gegenüber dem bei der vorherigen Frage ermittelten Ergebnis abweichendes Resultat. Auf die Frage hin, wo das beste Französisch gesprochen wird, nannten deutlich weniger Befragte Frankreich als Ort des „meilleur français dans le monde“ als bei der vorherigen vergleichenden Bewertungsfrage des français québécois und des français standard. In einer dritten Frage wurden die Untersuchungsteilnehmer schließlich direkt nach der Qualität des Französischen in Québec gefragt („Que penses-tu de la qualité du français parlé au Québec ? Coche la réponse la Karoline Henriette Heyder (Göttingen) 148 plus pertinente. Il est de qualité …“). Daraufhin gaben jeweils 14% und 31,2% der Befragten (n= 93) an, das français québécois habe eine „très bonne qualité“ bzw. „bonne qualité“ und je 35,5% und 10,8% der Untersuchungsteilnehmer äußerten, das Französische in Québec sei von einer „qualité moyenne“ bzw. einer „mauvaise qualité“. Weitere 8,6% waren der Auffassung, das Idiom sei „ni de bonne, ni de mauvaise qualité“. Insgesamt bewerteten somit jeweils ca. 45% der Jugendlichen die Qualität des Französischen in Québec mit sehr gut oder gut bzw. mit mittelmäßig oder schlecht. Hieraus ergibt sich also keine eindeutige Tendenz einer eher positiven oder eher negativen Bewertung des français québécois. Abb. 2: Bewertung des Sprechens mit „accent québécois“ (Angaben in %; Quelle: eigene Darstellung) Die Frage danach, wie die Jugendlichen generell Personen, die mit einem accent québécois sprechen, bewerten („Quel jugement portes-tu sur les personnes suivantes s’ils ont un accent québécois ? Fais une croix par ligne. Si les personnes n’ont pas d’accent ne fais pas de croix.“, Hier: Ergebnisse zu dem Statement „… en général sur des personnes qui ont un accent québécois“), erbrachte folgendes Ergebnis: Eine Mehrheit von 64,4% der Befragten (n= 104) war der Auffassung, es spiele keine Rolle, ob jemand einen accent habe oder nicht. Jeweils 14,4% bzw. 15,4% der Untersuchungsteilnehmer gaben an, sie bewerteten es als sehr positiv bzw. positiv, wenn jemand mit einem québécois-Akzent spreche und nur 5,8% schätzten es als negativ ein, wenn jemand einen solchen Akzent hat. 64,4 14,4 15,4 5,8 0 0 10 20 30 40 50 60 70 cela n'a aucune importance si quelqu'un l'a ou pas très positif positif négatif très négatif Insécurité linguistique au Québec 149 Hier ergab sich also eine deutliche Tendenz: Der Tatsache, ob jemand mit einem Quebecer Akzent spricht, wird von den befragten Jugendlichen eher keine Bedeutung zugemessen, und wenn sie das Sprechen mit einem solchen regionalen Akzent bewerten, so fast immer positiv. Die bisher genannten Ergebnisse, die hinsichtlich der Bewertung des Französischen in Québec ermittelt werden konnten, zeigen insgesamt keinen eindeutigen Trend auf. Zwar bewerten die Québécois offensichtlich das français standard im direkten Vergleich und zwar insbesondere dann, wenn es sich um eine geschlossene Frage handelt - wie z.B. bei der zuerst präsentierten Frage und den hierzu ermittelten Ergebnissen - eher besser als das français québécois. Bei der offen formulierten Frage nach dem Land/ Ort, wo das beste Französisch gesprochen wird, hingegen liegen das Französische Québecs und das Standardfranzösische Frankreichs gleich auf. Bei der Frage nach der Qualität des français, wo ebenfalls kein direkter Vergleich zum Standardfranzösischen vorgenommen wird, ergibt sich keine eindeutige Bewertung. français standard français québécois la patrie (n=96) 24 76 quelque chose de démodé (n=91) 58,2 41,8 la modernité (n=94) 58,5 41,5 la tradition et la culture québécoise (n=95) 6,3 93,7 la fierté (n=96) 19,8 80,2 la gêne (n=92) 58,7 41,3 la ville (n=93) 49,5 50,5 la campagne (n=93) 11,8 88,2 le prestige (n=91) 81,3 18,7 Tab. 1: Assoziationen zum français standard bzw. français québécois (Angaben in %, Quelle: eigene Darstellung) Die Befragten wurden schließlich aufgefordert, anzugeben, ob sie bestimmte Begriffe eher mit dem français standard oder dem français québécois assoziierten („Qu’associes-tu plutôt avec le français québécois/ le français standard ? Ne fais qu’une croix par ligne.“). Hierbei ergab sich folgendes Bild: Das Wort „patrie“ wurde von 76% der Befragten (n=96) dem français québécois und von 24% dem français standard zugeordnet. Möglicherweise ist die relativ hohe Zahl von Befragten, die den Begriff „Heimat“ dem Standardfranzösischen zuordneten, ein Hinweis darauf, dass einige Untersuchungsteilnehmer tatsächlich, wie bereits vermutet, den Begriff français standard als français québécois standard verstanden haben. Karoline Henriette Heyder (Göttingen) 150 Die Assoziation „quelque chose de démodé“ verbanden 58,2% der Untersuchungsteilnehmer (n=91) mit dem Standardfranzösischen und 41,8% mit dem français québécois. Hier ergibt sich also eine leichte Tendenz dahin, dass das Standardfranzösische schlechter bewertet wird als das Französische Québecs. Fast das gleiche Bild ergibt sich jedoch bei der Zuordnung des Begriffs „la modernité“, der von 58,5% der Befragten (n=94) dem français standard und von 41,5% dem français québécois zugeschrieben wurde. Dies ist insofern interessant, als die Begriffe „quelque chose de démodé“ und „la modernité“ durchaus als Opposition aufgefasst werden könnten. Insgesamt ist hier jedenfalls kein eindeutiger Trend einer durch die Sprecher vorgenommenen Assoziation zwischen einer der beiden Varietäten und den Begriffen „quelque chose de démodé“/ “la modernité“ festzustellen. Die Formulierung „la tradition et la culture québécoise“ wurde - wie zu erwarten - von 93,7% der befragten Jugendlichen (n=95) dem Quebecer Französisch zugeordnet. Interessanter ist, dass auch der Begriff „la fierté“ von 80,2% der Befragungsteilnehmer (n=96) mit dem français québécois assoziiert wurde. Ein weniger klares Bild ergab sich bezüglich der Zuordnung von „la gêne“. Diese wurde von 41,3% der Teilnehmer (n=92) dem français québécois und von 58,7% dem français standard zugeordnet. Dennoch erlaubt das Ergebnis, dass die überwiegende Mehrheit der Untersuchungsteilnehmer das français québécois mit dem Begriff „la fierté“ verbindet und weniger als die Hälfte von ihnen „la gêne“ hiermit verbindet, festzustellen, dass das Französische in Québec eher positiv bewertet wird. Auch hinsichtlich des Begriffs „la ville“ ergab sich keine eindeutige Tendenz: 50,5% der Jugendlichen (n=93) ordneten diesen dem Quebecer Französisch zu, während 49,5% ihn dem Standardfranzösischen zuschrieben. „La campagne“ hingegen wurde von 88,2% der Befragten (n=93) dem Französischen Québecs und nur von 11,8% dem Standardfranzösischen zugeschrieben. Bemerkenswert ist, dass das Wort „prestige“ von 81,3% der Untersuchungsteilnehmer (n=91) mit dem français standard und von nur 18,7% mit dem français québécois in Verbindung gebracht wurde. Hier zeigt sich somit bezüglich der überprüften Assoziationen insgesamt eine „appréciation sociale négative“ des Französischen Québecs, aber eine „appréciation affective positive“ dieses Idioms, wie De Pietro (1995, 232) diese für die Bewertung des Französischen der Schweiz durch die Suisses romands ermittelt hat. Insécurité linguistique au Québec 151 Zu Hypothese 3: Die Québécois orientieren sich sprachlich an der Norm des français standard (vgl. Reutner 2009, 89; Remysen 2004, 96, 99). Der Frage, ob die Québécois sich sprachlich an der externen Norm des français standard orientieren, wie dies von weiten Teilen der Forschung behauptet wird (vgl. Reutner 2009, 89; Remysen 2004, 96, 99), wurde hier u.a. nachgegangen, indem die Jugendlichen dazu befragt wurden, ob sie ihr Sprachverhalten situativ verändern („Dans les situations suivantes, utilises-tu ton accent typique, et si oui avec quelle fréquence l’utilises-tu ? Coche la réponse la plus pertinente pour chaque situation. Si tu n’es pas concerné par certaines questions, n’y réponds pas. Si par exemple tu n’es pas membre d’un club de sport, passe à la question suivante! ”). Die Jugendlichen wurden zudem gebeten anzugeben, inwiefern sie ihr Sprachverhalten änderten, wenn sie nicht mit ihrem typischen Akzent sprächen. Dabei sagten 59,3% bzw. 19,4% der befragten Jugendlichen (n= 108) aus, im Gespräch mit Freunden immer bzw. sehr häufig ihren typischen Akzent beizubehalten und 7,4% gaben an, in Unterhaltungen mit Freunden, häufig mit ihrem accent typique zu sprechen. Lediglich insgesamt ca. 14% äußerten, sie würden in Gesprächen mit Freunden ihren Akzent selten oder nie verwenden. Einige von ihnen erläuterten, sie würden dann eher einen accent „moins soutenu“ haben, weil sie sich „un peu plus libre“ fühlten. Wiederum einige wenige gaben an, einen „accent anglais“ zu haben, wenn sie sich mit Freunden unterhielten. Zudem äußerten einige Jugendliche, sie sprächen im Gespräch mit Freunden ohne Akzent und andere gaben an, sie verwendeten in solchen Kommunikationssituationen ein „français standard“ bzw. ein „français international“. Manche Befragte erläuterten jedoch, sie sprächen mit Freunden mit einem „accent québécois“. Wenn sie sich mit ihrem Vater unterhielten, so behaupteten 49% bzw. 13,5% der Untersuchungsteilnehmer (n=104), verwendeten sie immer bzw. sehr häufig ihren typischen Akzent. Zudem gaben 15,4% der Befragten an, in Unterhaltungen mit dem Vater häufig mit ihrem accent typique zu sprechen. Insgesamt ca. 22% der Jugendlichen äußerten jedoch, in solchen Gesprächen ihren Akzent zu verändern. Einige von ihnen erklärten, sie würden dann eher ohne Akzent sprechen, andere gaben an, dann eher ein „français standard“ bzw. ein „français international“ zu sprechen. Wieder andere äußerten, in Unterhaltungen mit dem Vater einen „accent québécois“ zu verwenden. Jeweils ein bzw. drei Schüler gaben an, mit ihrem Vater Bangali bzw. Englisch zu sprechen. Ein ähnliches Bild ergab sich hinsichtlich der Kommunikation mit den Müttern. Jeweils 53,8% bzw. 17% der Befragten (n= 106) sagten aus, im Karoline Henriette Heyder (Göttingen) 152 Gespräch mit der Mutter immer bzw. sehr oft ihren typischen Akzent zu verwenden. Weitere 11,3% gaben an, häufig mit ihrem typischen Akzent zu sprechen, wenn sie sich mit der Mutter unterhielten. Insgesamt behaupteten lediglich ca. 18% der Untersuchungsteilnehmer, in einer Unterhaltung mit ihrer Mutter ihren Akzent häufig oder immer zu verändern und einige davon spezifizierten, sie veränderten ihr Sprachverhalten dann in Richtung eines „français standard“ bzw. „international“ oder sie sprächen dann ohne Akzent. Zudem gaben einige Schüler an, mit den Müttern mit einem „accent québécois“ zu sprechen, und einige wenige Jugendliche äußerten, im Gespräch mit ihren Müttern andere Sprachen (Englisch, Bangali) zu verwenden. Auch in Unterhaltungen mit Mitgliedern der équipe de sport verwendet die Mehrheit der befragten Québécois ihrer Aussage nach ihren typischen Akzent immer (52,9% bei n=87) bzw. sehr häufig (16,1%) oder häufig (10,3%). Insgesamt ca. 21% der Untersuchungsteilnehmer gaben an, in Gesprächen mit Mitgliedern aus der Sportmannschaft nicht oder nur selten mit dem typischen Akzent zu sprechen und einige erläuterten, sie sprächen dann eher ohne accent bzw. ein „français standard“ oder „international“. Ein Jugendlicher gab an, mit den Mitgliedern seiner Sportmannschaft eher Englisch zu sprechen. Für formellere Kommunikationssituationen, wie etwa Gespräche mit Lehrern während des Unterrichts, zeigen die Untersuchungsergebnisse ein etwas anderes Bild: Hierbei gaben 36,1%, 19,4% bzw. 18,5% der Befragten (n= 108) an, immer, sehr häufig bzw. häufig mit ihrem typischen Akzent zu sprechen. Insgesamt ca. 26% der Teilnehmer behaupteten, selten oder nie ihren accent typique zu verwenden, wenn sie im Unterricht mit den Lehrern sprächen und beschrieben ihren Akzent dann als „français standard“. Zudem gaben einige an, im Gespräch mit den Lehrern im Unterricht keinen Akzent zu haben. Wiederum andere gaben jedoch auch hier an, mit einem „accent québécois“ zu sprechen. Ein noch deutlicher von den Resultaten bezüglich der Kommunikation mit den Eltern und den Freunden abweichendes Ergebnis erbrachte die Befragung dazu, ob die Jugendlichen in Gesprächen mit dem Priester oder Pastor ihren typischen Akzent verwenden oder nicht. Nur 30,6% (n=85) gaben an, dann immer mit ihrem accent typique zu sprechen und lediglich jeweils weitere 8,2% äußerten in Unterhaltungen mit dem Priester bzw. Pastor sehr häufig oder häufig ihren typischen Akzent zu benutzen. Fast 53% der Befragten gaben an, in der Kommunikation mit den Kirchenleuten nur selten oder nie mit ihrem accent typique zu sprechen und einige erläuterten, sie würden dann eher ein „français standard“ Insécurité linguistique au Québec 153 bzw. „international“ sprechen. Andere jedoch gaben an, in Gesprächen mit dem Priester/ Pastor mit einem „accent québécois“ zu sprechen. Einige Jugendliche behaupteten, sich sprachlich an den Gesprächspartner anpassen zu wollen und deshalb in der Kommunikation mit einem Priester oder einem Pastor eher ein „language plus soigné“ zu benutzen bzw. höflicher zu sprechen. Nicht zuletzt gaben auch hier einige Untersuchungsteilnehmer an, ohne Akzent zu sprechen. Auch für die Kommunikation mit Verwaltungsbeamten verwenden viele der befragten Jugendlichen ihrer Auskunft nach nicht ihren typischen Akzent. So gaben lediglich 29,9% der Untersuchungsteilnehmer (n=97) an, immer ihren accent typique zu verwenden, wenn sie mit „fonctionnaires administratifs“ sprächen, und jeweils 17,5% der Befragten behaupteten, sehr häufig oder häufig mit dem für sie typischen Akzent zu sprechen, wenn sie sich mit Angehörigen dieser Berufsgruppe unterhielten. Etwas mehr als 35% der Untersuchungsteilnehmer gaben an, nur selten oder nie mit ihrem typischen Akzent zu sprechen, wenn sie sich im Gespräch mit Verwaltungsbeamten befänden und erklärten, dann eher ein „français standard“ bzw. „international“ zu verwenden oder aber ohne Akzent zu sprechen. Andere gaben an, mit einem „accent québécois“ zu sprechen. Nicht zuletzt äußerten auch hier Befragte, ein „language plus soigné“ zu verwenden bzw. mit einem „accent plutôt neutre“ zu sprechen. Es zeigt sich in diesen Ergebnissen also insgesamt die Tendenz, dass die befragten Jugendlichen in formellen Situationen eher nicht mit ihrem typischen Akzent sprechen, wobei viele von ihnen angeben, diesen dann in Richtung eines accent français standard zu verändern bzw. zu versuchen, ohne Akzent zu sprechen, während sie in informellen Gesprächssituationen und insbesondere in Gesprächen mit vertrauten Personen wie den Freunden und den Eltern i.d.R. ihren typischen Akzent verwenden. Interessant im Hinblick auf die sprachliche Orientierung der Québécois an der Norm des français standard de France ist v.a, wie die Québécois versuchen, ihr Sprachverhalten zu steuern, wenn sie sich mit Franzosen unterhalten. Auf die Frage, ob sie in einem Gespräch mit einem Franzosen, den sie in Québec träfen, versuchen würden, ihren Akzent zu verändern, gab mehr als die Hälfte der Befragten (n=106) an, immer (37,7%), sehr häufig (18,9%) oder häufig (17%) mit ihrem accent typique zu sprechen, wenn sie sich in Québec mit einem Franzosen unterhielten. Nur insgesamt ca. 26% der Jugendlichen äußerten, ihren Akzent nur selten oder nie zu verwenden, wenn sie mit Franzosen in Québec sprächen und erläuterten, dann eher einen „accent français standard“ bzw. ein „français inter- Karoline Henriette Heyder (Göttingen) 154 national“ zu verwenden. Ein Jugendlicher beschrieb sein Verhalten in Situationen, in denen er einen Ausländer trifft, wie folgt: „Lorsque je rencontre quelqu’un de l’extérieur, je fais attention à mes mots car je veux m’assurer qu’il me comprend.“ Ähnlich äußerte sich ein anderer Befragter: „Je vais parler français québécois, mais s’ils ont de la difficulté à me comprendre, je commence à parler en français standard.“ Zudem gaben einige Jugendliche an, sie passten sich ihrem Gegenüber sprachlich an. Ein Befragter schrieb, dies geschehe „involontairement“: „Lorsque je parle avec quelqu’un qui a un accent français, involontairement, je parle aussi avec un accent français.“ Zudem gab die Mehrheit der Befragten an, in einer Unterhaltung mit einem Franzosen, den sie in Frankreich treffen würden, immer (32,7% bei n=98), sehr häufig (13,3%) oder häufig (21,4%) ihren typischen Akzent beizubehalten. Insgesamt ca. ein Drittel der Untersuchungsteilnehmer behauptete jedoch, in Gesprächen mit Franzosen in Frankreich nie oder selten mit seinem typischen Akzent zu sprechen. Diejenigen, die angaben, ihren accent zu verändern, behaupteten, sie sprächen dann eher mit einem „accent plutôt neutre“, einem „accent standard“ bzw. im „français de France“/ “français standard“ oder „français international“. Als Grund hierfür nannten einige von ihnen das Ziel, von den Kommunikationspartnern besser verstanden zu werden. Auch hier erwähnten zudem einige Befragte, sie würden im Gespräch mit einem Franzosen in Frankreich sich diesem „automatisch“ anpassen. Ein Jugendlicher schrieb: „J’utilise sans le vouloir leur accent.“ Interessant ist, dass ähnliche Ergebnisse auch für Gesprächssituationen zwischen den befragten Québécois und Belgiern in Québec bzw. in Belgien ermittelt werden konnten. So gaben je 37,5%, 10,4% bzw. 21,9% der Befragten (n=96) an, in Kommunikationssituationen mit Belgiern, die sie in Belgien träfen, ihren Akzent immer, sehr häufig oder häufig beizubehalten. Insgesamt wiederum ca. ein Drittel der Befragungsteilnehmer behauptete, in solchen Gesprächen seinen Akzent nie oder nur selten zu verwenden bzw. dann eher mit einem „accent français standard“ bzw. ein „français standard“ oder „international“ zu sprechen. Auch hier wurde als Grund für die Veränderung des Sprachverhaltens z.T. das Ziel der besseren Verständigung in der Standardsprache genannt, wobei wiederum ein Jugendlicher angab, die sprachliche Anpassung seines Sprachverhaltens an das Gegenüber geschehe automatisch, ohne dass er es wolle. Noch etwas mehr Jugendliche erklärten, in Gesprächen mit Belgiern, die sie in Québec träfen, sprächen sie immer (37,4% bei n=99), sehr häufig Insécurité linguistique au Québec 155 (17,2%) oder häufig (17,2%) mit ihrem typischen Akzent. Rund 28% jedoch behaupteten nie oder nur selten ihren accent typique beizubehalten, wenn sie sich in Québec mit Belgiern unterhielten, und erläuterten, sie würden dann eher „français standard“ bzw. „français international“ sprechen. Es zeigt sich hier also insgesamt, dass die Mehrheit der befragten Jugendlichen weder im Gespräch mit Franzosen noch mit Belgiern und zwar sowohl in Québec als auch in Frankreich bzw. Belgien dazu tendiert, ihren Akzent zu verändern. Ein eindeutiges Zeichen für eine Orientierung der Québécois an der Norm des francais standard de France lässt sich hieraus nicht ablesen. Im Gegenteil, lediglich ein Drittel der Befragten scheint sein Sprachverhalten im Gespräch mit anderen Frankophonen verändern zu wollen. Einige Jugendliche betonten sogar, dass sie auch in Gesprächen mit Franzosen und Belgiern eine Quebecer bzw. kanadische Varietät des Französischen verwenden würden. Dabei ist wiederum interessant, dass sich kaum Unterschiede zwischen den Gesprächssituationen Québécois - Belgier und Québécois - Franzose ergeben. Würden sich die Quebecer weiterhin stark am Standardfranzösischen Frankreichs orientieren, so würde sich dies wahrscheinlich darin äußern, dass sie insbesondere in Gesprächssituationen mit Franzosen versuchen würden, ihr Sprachverhalten in Richtung eines français standard zu korrigieren. Es wäre interessant, zu untersuchen, ob sich die hier ermittelten Spracheinstellungen, d.h. die Absicht bzw. die Selbsteinschätzung der Québécois hinsichtlich ihres Sprachverhaltens, auch in deren tatsächlichem Sprachverhalten äußern. Aufschlussreich und bemerkenswert sind jedenfalls die Begründungen, die die befragten Québécois dafür gaben, warum sie in Gesprächen mit anderen Frankophonen versuchen, ihr Sprachverhalten zu verändern. Wie aus den obigen Zitaten bereits deutlich wird, gaben viele Befragte zwar an, ein français standard sprechen zu wollen, äußerten aber, dass sie hiermit das Ziel verbänden, verständlich zu sprechen. Auch bei der Frage „Si tu changes ton accent dans au moins une des situations mentionées ci-dessus, pourquoi le fais-tu? Tu peux cocher plusieurs réponses! “ kreuzten nur 24,4% der Befragten (n=123) die Antwortmöglichkeit „pour des raisons de prestige“ an. Es mag sich daran, dass immerhin rund ein Viertel der Befragten sein Sprachverhalten aus Prestigegründen verändern möchte, eine weiterhin bestehende subtile Orientierung der Quebecer am français standard de France verbergen, von einer eindeutigen und deutlich zutage tretenden Ausrichtung nach Frankreich jedenfalls kann - zumindest für die befragte Gruppe von ju- Karoline Henriette Heyder (Göttingen) 156 gendlichen Québécois - aber nicht mehr gesprochen werden. Aussagen wie die folgende, von einem Jugendlichen im Rahmen der Befragung gemachte, sind heutzutage offensichtlich Ausnahmen: „Le français québécois n’est tout simplement pas à la hauteur pour qu’on puisse le qualifier de bon français.“ oui non introduire des leçons sur le français québécois dans les cours (n=94) 66 34 introduire des leçons sur les différences/ ressemblances du français standard et du français québécois (n=94) 80,9 19,1 introduire des mots québécois dans les grands dictionnaires français (n=95) 68,4 31,6 écrire une grammaire du français québécois (n=95) 53,7 46,3 il faut sauvegarder le français québécois (n=85) 80 20 il faut enseigner la prochaine génération à parler avec un accent québécois (n=79) 44,3 55,7 il faut enseigner la prochaine génération à parler sans accent québécois (n=76) 35,5 64,5 Tab. 2: Stellungnahme der Jugendlichen zu sprachpflegerischen Maßnahmen und zur Bewahrung der Sprache (Angaben in %; Quelle: eigene Darstellung) Im Rahmen der Befragung wurden die Jugendlichen nicht zuletzt gebeten, zu bestimmten Aussagen Stellung zu nehmen. So sollten sie angeben, ob sie die Einführung von Unterricht über das français québécois für sinnvoll hielten. 66% der Befragten (n=94) bejahten dies und nur rund ein Drittel gab an, dies nicht zu befürworten. Dem Vorschlag vergleichenden Unterricht français standard - français québécois, d.h. einen verschiedene Varietäten der französischen Sprache kontrastierenden Unterricht, einzuführen, wurde gar von 80,9% der Untersuchungsteilnehmer (n=94) zugestimmt. Auch die Aufnahme von „mots québécois“ in die großen französischen Wörterbücher wurde von 68,4% der Jugendlichen (n=95) begrüßt. Eine „grammaire du français québécois“ zu schreiben, hielten hingegen nur 53,7% der Befragten (n=95) für sinnvoll. Generell für die Bewahrung des français québécois sprachen sich 80% der Teilnehmer (n=85) aus. Der Aussage, man solle die nächste Generation dazu erziehen, mit einem accent québécois zu sprechen, hingegen wurde nur von 44,3% der Jugendlichen (n=79) zugestimmt. Allerdings waren auch nur 35,5% der Befragten (n=76) der Auffassung, man solle die nächste Generation dazu erziehen, ohne einen solchen Akzent zu sprechen. Insgesamt deuten auch diese Ergebnisse daraufhin, dass eine starke Orientierung der hier befragten jugendlichen Québécois am Standardfran- Insécurité linguistique au Québec 157 zösischen nicht mehr vorliegt. Die Mehrheit von ihnen spricht sich für die Bewahrung und Stärkung der von ihnen verwendeten regionalen Varietät des Französischen aus und schätzt diese wert. Gleichzeitig sind die Jugendlichen eher nicht daran interessiert, kommenden Generationen einen bestimmten Sprachgebrauch - und zwar weder das Standardfranzösische Frankreichs noch eine québécois-Variante - aufzuoktroyieren. Die Ergebnisse - etwa bezüglich der Einführung eines die verschiedenen Varietäten des Französischen thematisierenden Unterrichts - zeigen dabei nicht nur den Wegfall der Orientierung an der externen Norm auf, sondern sie bieten zugleich Anzeichen dafür, dass die Québécois sich zunehmend an einer internen Norm orientieren. Dabei stellt sich die Frage, wo innerhalb Québecs diese regional verortet sein wird. In der vorliegenden Untersuchung wurden die Jugendlichen dazu befragt, ob es ein kulturelles Zentrum Québecs gebe und wenn ja, wo dieses sei („Selon toi, y-a-t-il un centre culturel du Québec? Si oui, lequel? Note! ”). Die Mehrheit der Befragten gab daraufhin entweder an, das kulturelle Zentrum Québecs befinde sich in Montréal oder in der Stadt Québec. Nur wenige Jugendliche gaben an, nicht zu wissen, wo das kulturelle Zentrum der Provinz Québec sei und einige äußerten, es gebe kein kulturelles Zentrum dieser Region. Ein ähnliches Ergebnis erbrachte die Frage dazu, wo innerhalb Québecs das beste Französisch gesprochen wird („Selon toi, dans quelle région/ quelle ville au Québec parle-t-on le meilleur français ? Note la région et/ ou la ville! “). Die Mehrheit der Befragten (n=83) nannte entweder Montréal oder die Stadt Québec als Ort, an dem das beste Französisch Québecs gesprochen werde. Nur wenige Jugendliche nannten die Namen anderer Orte, wie etwa Trois-Rivières, oder bestimmter Regionen, wie die Gaspésie. Manche jedoch gaben an, es gebe keinen Ort innerhalb Québecs, an dem ein „besseres“ Französisch gesprochen werde. Zu Hypothese 4: Die Québécois konstruieren ihre Sprecheridentität mit Hilfe der Varietät des Französischen in Québec (vgl. Reinke/ Klare 2002, 36). Die genannte „appréciation affective positive“ und die aufgeführten Ergebnisse, die eher für eine Orientierung der Mehrheit der befragten Jugendlichen an einem regionalen quebecinternen Standard sprechen als für eine Ausrichtung der Québécois am Standardfranzösischen Frankreichs, werden durch die im Rahmen der Untersuchung ermittelten Resultate zur Rolle des français québécois für die Konstruktion der Sprecheridentität der befragten Quebecer bestätigt. So bejahten 69,6% der Befragten (n=102) die Frage, ob es eine „identité québécoise“ gebe („Y-a-t-il ..? Tu peux cocher Karoline Henriette Heyder (Göttingen) 158 plusieurs réponses! “). Darüber hinaus kreuzten 95,8% der Befragten (n=96) zu der Frage, ob sie das Statement „L’accent fait partie de l’identité québécoise“ eher mit dem français standard oder dem français québécois verbünden („Qu’associes-tu plutôt avec le français québécois/ standard? “), an, sie assoziierten dieses eher mit dem Quebecer Französisch. Zu ihrer eigenen Identität befragt, wählten 61,5% der Jugendlichen (n=96) bei der Frage „Te sens-tu plutôt … ? Coche la réponse la plus pertinente.“ die Antwortmöglichkeit „je me sens plutôt québécois“ aus. Weitere 31,3% gaben an, sie fühlten sich eher als „canadien“ und lediglich 7,3% sagten aus, sich „autrement“ zu fühlen und nannten dann andere Nationalitäten als die kanadische und zwar u.a. die amerikanische und die honduranische. Zudem sagten 71,4% der befragten Jugendlichen (n=91), als sie aufgefordert wurden, die Aussage „l’accent fait partie de mon identité“ entweder dem français standard oder dem français québécois zuzuordnen („Qu’associes-tu plutôt avec le français québécois/ standard ? “), aus, der accent français québécois sei Teil ihrer Identität. 28,6% der Befragten gaben an, der standardfranzösische Akzent sei Teil ihrer Identität. Ursächlich für diese relativ hohe Zahl von Personen, die letztere Antwort gaben, könnte jedoch wiederum die o.g. Problematik der Definition des Begriffs français standard sein. Nicht zuletzt zeigen die Ergebnisse, die bei der Frage danach, ob und warum das français québécois bewahrt werden sollte, generiert werden konnten, die Bedeutung der Varietät des Französischen in Québec für die Identitätskonstruktion der Québécois auf. So wurde als Grund für die notwendige Bewahrung des Idioms von verschiedenen Befragten geäußert, dieses sei zu schützen, weil es Teil ihrer Identität sei. Die Jugendlichen nannten für die Bewahrung des français québécois etwa folgende Begründungen: „C’est notre identité! “, „Notre parlé québécois est notre couleur! “, „Parce que c’est une partie de ce que nous sommes, qui représente notre histoire et que c’est comme un héritage qu’on laisse aux futures générations.” und “Parce que ca fait partie de nous, le supprime serait comme nous arracher un bras par exemple.” Alles in allem zeigen diese Ergebnisse, dass die Mehrheit der befragten jugendlichen Québécois sich als Quebecer fühlt und ihre Sprecheridentität mittels der Varietät des français québécois konstruiert. Betrachtet man diese dem français québécois für die Konstruktion der Sprecheridentität zugeschriebene Bedeutung gemeinsam mit der bereits geschilderten geringen Orientierung der Quebecer am français standard und den aufgeführten Ergebnissen zur Bewertung des Standardfranzösischen Frank- Insécurité linguistique au Québec 159 reichs durch die Québécois, so zeigt sich, dass die in der Forschung beschriebene insécurité linguistique, die aus dem Einfluss des Standardfranzösischen resultiert, wenn überhaupt, dann nur noch für Teile der Québécois typisch ist. Viele der befragten Jugendlichen richten sich sprachlich offensichtlich nicht mehr nach dem externen standardfranzösischen Modell und schätzen die in Québec verwendete regionale Varietät. Zu Hypothese 5: Die Québécois empfinden das Englische als Bedrohung für das Französische in Québec (vgl. Reutner 2009, 87 ff.; Wolf 2009, 31; Remysen 2004, 99; Reinke/ Klare 2002, 30). Abb. 3: Zustimmung/ Ablehnung zum Statement: „il est raisonnable de supprimer les mots anglais en français québécois“ (Angaben in %; Quelle: eigene Darstellung) Im Rahmen der bereits oben genannten Frage, bei der die Jugendlichen gebeten wurden, dazu Stellung zu nehmen, ob sie bestimmte Maßnahmen für sinnvoll hielten („Est-ce raisonnable de … ? “) sollten diese u.a. auch zu dem Statement „il est raisonnable de supprimer les mots anglais en français québécois“ Position beziehen. Bemerkenswerterweise kreuzte hierauf nur ca. die Hälfte der Befragten (49,5% bei n=93) an, sie spreche sich für die Streichung der Anglizismen im Quebecer Französisch aus. Vor dem Hintergrund des bisherigen, unter 3.2 geschilderten Forschungsstandes überrascht dieses Ergebnis. Es steht andererseits jedoch im Einklang mit der regionalen Orientierung der Jugendlichen an einer Quebecinternen Norm. Zudem ist dieses Ergebnis ein weiteres starkes Indiz 0 10 20 30 40 50 60 oui non Karoline Henriette Heyder (Göttingen) 160 dafür, dass die sprachliche Unsicherheit zumindest der befragten jugendlichen Québécois keineswegs mehr so stark ausgeprägt ist, wie in Teilen der Forschung (vgl. 3.2) angenommen wird. Zwar hat sich auch in der vorliegenden Untersuchung „nur“ etwas mehr als die Hälfte der Jugendlichen gegen die Bekämpfung des lexikalischen Einflusses der englischen Sprache ausgesprochen, von der unter 3.2 geschilderten abwehrenden Haltung gegenüber dem Einfluss der englischen Sprache auf das Französische in Québec weicht dieses Resultat jedoch deutlich ab. Abb. 4: Zustimmung/ Ablehnung zum Statement „il est raisonnable d’incorporer plus de mots anglais en français québécois“ (Angaben in %; Quelle: eigene Darstellung) Unterstrichen wird dieses Ergebnis durch das folgende, ebenfalls im Rahmen der Untersuchung generierte Resultat: Auf die Aufforderung anzukreuzen, ob sie die Aussage „il est raisonnable d’incorporer plus de mots anglais en français québécois“ bejahten, gab immerhin ca. ein Drittel der Befragten (29,8% bei n=94) an, es stimme diesem Statement zu. Fasst man diese Ergebnisse zusammen, so lässt sich zumindest feststellen, dass die befragten Jugendlichen das Englische nicht unbedingt als Bedrohung wahrnehmen, sondern mindestens ein Drittel von ihnen der englischen Sprache und deren Einfluss auf das Französische in Québec gegenüber positiv eingestellt ist. Auch von einer insécurité linguistique der 0 10 20 30 40 50 60 70 80 oui non Insécurité linguistique au Québec 161 Québécois, welche aus dem Einfluss der englischen Sprache in Québec resultiert, ist demnach nur noch bedingt auszugehen. 4.5 Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse Insgesamt entsprechen die präsentierten Ergebnisse nur z.T. dem unter 3.2 geschilderten Forschungsstand. Zwar konnte im Rahmen der vorliegenden Untersuchung das Sprachverhalten der Teilnehmer nicht direkt überprüft werden, die Mehrheit der Befragten gab jedoch an, dass ihrer eigenen Einschätzung nach ihr Sprachverhalten regional geprägt sei. Allerdings behauptete immerhin ca. ein Fünftel der Untersuchungsteilnehmer, das „français standard“ zu sprechen. Bezüglich der Aussage, die Québécois bewerteten das français standard positiver als das français québécois, liefert die jetzige Untersuchung ein differenziertes Ergebnis. Demnach schreiben die Quebecer dem Standardfranzösischen nur z.T. einen höheren Wert zu als der in Québec verwendeten Varietät des Französischen: Es ließ sich hier zwar eine „appréciation sociale négative“ der Québécois gegenüber dem français québécois feststellen, jedoch war parallel dazu eine „appréciation affective positive“ der Quebecer Varietät durch die Québécois beobachtbar. Aus dem Zwiespalt, der sich aus der „appréciation sociale négative“ und der „appréciation affective positive“ ergibt, resultiert sicherlich eine gewisse sprachliche Unsicherheit der Québécois, weitere im Rahmen der Untersuchung ermittelte Ergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass diese bei weiten Teilen der befragten Jugendlichen nicht mehr so stark ausgeprägt ist, wie in Teilen der Forschung noch bis vor Kurzem angenommen (vgl. 3.2). So ließ sich jetzt beobachten, dass die Mehrheit der Jugendlichen sich nicht mehr oder nur noch in bestimmten Situationen an der externen Norm des français standard orientiert und dann häufig als Grund eher die bessere Verständlichkeit des Standards als dessen Prestige nennt. Zudem ist interessant, dass das Standardfranzösische in der vorliegenden Untersuchung nur noch im direkten Vergleich als besser erachtet wurde als das français québécois. In offen formulierten Fragen, in denen keine Kontrastierung der Varietäten vorgenommen wurde, lagen diese etwa gleich auf. Zusätzlich dazu konnte in der vorliegenden Untersuchung gezeigt werden, dass die Mehrheit der befragten Jugendlichen sich für die Bewahrung und Wertschätzung der Varietät des Französischen in Québec ausspricht. Auch dies ist ein Zeichen dafür, dass die sprachliche Unsicherheit der Jugendlichen nicht stark ausgeprägt sein kann. Im Gegenteil: viele jugendliche Québécois scheinen sich bewusst an einer Québec-internen Karoline Henriette Heyder (Göttingen) 162 Norm zu orientieren, wobei sie diese offensichtlich in den Städten Québec bzw. Montréal verorten. Diese Orte sind es zugleich, die von den Jugendlichen als kulturelle Zentren der Provinz Québec angesehen werden. Unterstrichen wird diese Annahme, dass für die befragten Jugendlichen eine insécurité linguistique nicht mehr typisch ist, nicht zuletzt dadurch, dass die Befragungsteilnehmer mehrheitlich angaben, das français québécois sei für die Konstruktion ihrer Identität bedeutsam, und sie äußerten, sich als Québécois zu identifizieren. Besonders interessant im Hinblick auf eine mögliche insécurité linguistique sind die hier gewonnenen Aussagen der Jugendlichen bezüglich des Umgangs mit dem Einfluss des Englischen auf das Französische in Québec. Die Tatsache, dass das Englische von weiten Teilen der Jugendlichen nicht mehr als Bedrohung für das eigene Idiom wahrgenommen wird, sondern im Gegenteil dazu von einigen sogar als Quelle einer Bereicherung aufgefasst wird, zeigt, dass auch die in der Forschung beschriebene, aus der Stellung des Englischen auf dem nordamerikanischen Kontinent resultierende sprachliche Unsicherheit der Québécois wenn überhaupt, dann nur noch bei einigen von ihnen besteht. Noch 2009 schrieb Corbeil (2009, 113) über die Beeinflussung der französischen Sprache in Québec durch das Englische: „Ce fut une profonde contamination, dont on a grande peine à sortir aujourd’hui, et qui se renouvelle de génération en génération.“ Viele der befragten Jugendlichen vertreten diese Auffassung nicht. Fasst man die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung generierten Ergebnisse zusammen, so besteht zumindest bei Teilen der Québécois eine stark ausgeprägte insécurité linguistique nicht mehr. Zwar lässt sich in bestimmten Kontexten sowie bei Teilen der Befragten noch eine „Restunsicherheit“ ausmachen, insgesamt sind jedoch die Tendenz zur Orientierung an einer endogenen Norm und die Wertschätzung des eigenen Idioms feststellbar. Es bieten sich hier also durchaus Anzeichen dafür, dass in Québec die Entwicklung des Französischen zu einer „plurizentrischen Sprache“ (Pöll 2005; Lüdi 1992) zu beobachten ist. Auch wenn die hier ermittelten Ergebnisse nur für die befragte Gruppe von Personen Gültigkeit haben, so zeigen sie doch interessante Tendenzen auf. Fraglich sind z.T. die Gründe dafür, dass die Québécois sich weniger als früher am Standardfranzösischen Frankreichs orientieren und stattdessen ihr Sprachverhalten an einer wie auch immer definierten, Québec-internen bzw. internationalen Norm ausrichten. Sicherlich tragen die unter 3. genannten Faktoren wie die Vorgabe der „Association des professeurs“ ein „français d’ici“ zu sprechen oder die verschiedenen in- Insécurité linguistique au Québec 163 zwischen existierenden Wörterbücher, die das Französische in Québec neutral oder aber auch positiv thematisieren, hierzu bei. Laut Reutner (2009, 90) führen auch eine „[…] assurance croissante dans des domaines extra-linguistiques […]“ und ein „[…] niveau d’instruction linguistique aujourd’hui plus élevé […]“, das ein Unterordnungsverhalten der Québécois gegenüber Frankreich verringere bzw. sogar bewirke, dass „[…] un grand nombre de personnes […]“ eine solche Unterordnung verweigere, dazu, dass die sprachliche Unsicherheit der Québécois abnimmt. Zugleich stellt sich jedoch auch die Frage, warum immer noch bei vielen Quebecern zumindest eine „appréciation sociale positive“ des français standard und eine z.T. daraus resultierende sprachliche Restunsicherheit bestehen. Möglicherweise ist die genannte Vorgabe der Lehrervereinigung noch nicht in die Tat umgesetzt worden und es wird in der Schule noch immer das Französische Frankreichs als modellhaft dargestellt. Gleiches lässt sich evtl. für die Medien beobachten. Auch unter den Jugendlichen verbreitete Vermutungen darüber, dass Fremde, insbesondere Franzosen, das français québécois negativ bewerten, könnten dazu führen, dass bei einigen von ihnen weiterhin eine insécurité linguistique existiert. Ursächlich dafür, dass viele befragte Québécois angeben, zwar einerseits ein français québécois sprechen zu wollen, andererseits jedoch v.a. in Gesprächen mit Ausländern darauf zu achten, so zu sprechen, dass diese sie verstehen könnten, ist möglicherweise, dass staatliche Institutionen wie die „Commission des Etats généraux sur la situation et l’avenir de la langue française au Québec“ eben solch ein Verhalten vorgeschlagen haben (vgl. dazu Oakes 2007, 64 f). Genauere Aussagen lassen sich darüber machen, warum viele Jugendliche dem Englischen gegenüber aufgeschlossen sind. Die englische Sprache dient ihnen als lingua franca nicht nur in der Kommunikation mit anderen Nordamerikanern, sondern weltweit. Sie steht somit für eine Öffnung gegenüber dem Rest der Welt und ist zugleich im Zuge der Globalisierung die Sprache v.a. der Wirtschaft geworden. So beschreibt Gill (2006, 107 ff.) die Bedeutung der englischen Sprache für das Wirtschaftsleben, insbesondere in Montréal, und er gibt an, es bestehe die Gefahr, dass es zu einer Spaltung zwischen Montréal, wo die englische Sprache bereits weitestgehend akzeptiert und verwendet wird, und der Quebecer Provinz kommen könnte (Gill 2006, 108). Auch die Benutzung der neuen Medien, insbesondere des Internet, hat dazu geführt, dass heute fast alle Québécois Englisch können, wenn auch auf verschiedenen Niveaus (vgl. Corbeil 2009, 118). Dennoch ist auch bzgl. des Englischen festzustellen, dass nicht alle Quebecer dieser Sprache gegenüber aufgeschlossen sind, Karoline Henriette Heyder (Göttingen) 164 so wird etwa von Corbeil (2009, 118) die beschriebene zunehmende Bedeutung des Englischen als wiederaufkommende Gefahr für das Französische in Québec einstuft. 5. Fazit und Forschungsausblick Mittels der vorliegenden Untersuchung konnte gezeigt werden, dass eine insécurité linguistique, wenn überhaupt, so nur noch für Teile der Quebecer Bevölkerung kennzeichnend ist. Vielmehr bieten sich zahlreiche Anzeichen dafür, dass die Québécois sich zunehmend sprachlich von Frankreich emanzipieren und sich an einer endogenen Norm orientieren. Möglicherweise zeigt sich hier ein Indiz für die Entwicklung des Französischen hin zu einer „plurizentrischen Sprache“ (Lüdi 1992; Pöll 2005). Zudem lässt die relativ hohe Toleranz gegenüber dem Einfluss der englischen Sprache auf das Französische in Québec darauf schließen, dass es zu einer Abnahme der sprachlichen Unsicherheit der Québécois auch in dieser Hinsicht kommt (vgl. dazu Remysen 2004, 99). Dennoch bleiben viele Fragen offen. Aus Sicht der Verfasserin ergeben sich verschiedene Forschungsdesiderata. Zum einen sollten die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung generierten Daten weiter ausgewertet werden. So wäre es interessant, bestimmte Korrelationen zu überprüfen und etwa zu analysieren, ob es Unterschiede zwischen den Spracheinstellungen jugendlicher Québécois, die auf dem Land bzw. in der Stadt leben, gibt, oder ob es einen Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und einer Orientierung am Standardfranzösischen gibt. Zudem sollte die Online-Befragung durch einen locuteur-masqué-Test sowie eine Überprüfung des Sprachverhaltens ergänzt werden. Dies würde einen Vergleich zwischen dem tatsächlichen Sprachverhalten und den Aussagen, die die Québécois über ihr Sprachverhalten machen, ermöglichen und weitere Einschätzungen darüber, ob eine sprachliche Unsicherheit besteht, gestatten. Auch detailliertere Untersuchungen dazu, welche Québec-interne Norm sich herausbildet und wo diese sozial und regional verortet ist, wären interessant. Nicht zuletzt wäre eine profundere Analyse des Zusammenhangs zwischen der Sprache und der Identität in Québec aufschlussreich. Zudem sollte die Stichprobe erweitert werden. Hier wäre nicht nur die Ausweitung der Befragung auf andere Altersgruppen in Québec, sondern auch auf andere frankophone Regionen Kanadas interessant. Des Weiteren wäre der Vergleich mit anderen französisch- Insécurité linguistique au Québec 165 sprachigen Gebieten weltweit - etwa der Suisse romande oder dem Französischen auf La Réunion - sicherlich gewinnbringend. Um Aussagen über die Entwicklung der französischen Sprache sowie sprachlicher Unsicherheit in Québec aber auch anderen frankophonen Regionen machen zu können, wäre jedoch v.a. die Durchführung von Longitudinalstudien wichtig. Nur so ließen sich detailliertere Stellungnahmen dazu machen, ob und wie sich das Französische zu einer „plurizentrischen“ (Lüdi 1992; Pöll 2005) Sprache entwickelt. Neben diesem linguistischen Forschungsbedarf ergeben sich aus Sicht der Verfasserin zudem aus sprach- und bildungspolitischer Sicht Desiderata. So sollten hierfür Implikationen, welche sich aus den linguistischen Ergebnissen ableiten lassen, reflektiert werden. Eine der Hauptfragen für die Sprachdidaktik dürfte dabei sein, ob sie an aktuelle sprachliche Entwicklungen anknüpfen oder ob sie sich für die Bewahrung bzw. Revitalisierung „alter“ Verhältnisse einsetzen soll. Zudem ergeben sich insbesondere im Zusammenhang mit der Varietätenvielfalt des Französischen Fragen im Bereich der Mehrsprachigkeitsdidaktik und des interkulturellen Lernens. So gilt es weiterhin zu reflektieren, wie das Sprachbewusstsein von Sprechern geschult werden kann und wie die Bedeutung der Sprache für die Identitätskonstruktion thematisiert werden kann. Gerade im Falle Québecs ist zudem darüber nachzudenken, wie mit der englischen Sprache umgegangen werden soll, bieten die hier ermittelten Ergebnisse doch etwa Anlass dazu, die positive Einstellung vieler Jugendlicher gegenüber dem Englischen aufzugreifen und deren „valeur ajoutée“ (Cardinal 2006, 113) sowie deren Bedeutung als „lingua franca“ (Cardinal 2006, 114) zu thematisieren. Literaturhinweise Association québécoise des professeurs de français 1977. „Le congrès du dixième anniversaire. Les résolutions de l‘Assemblée générale”, in: Québec français, 28, 10-12. 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Das Englische im kanadischen Französisch. Tremblays Les belles-sœurs Ursula Reutner (Passau) 1. Vorüberlegungen Im englisch-französischen Kulturkontakt hatten die frankophonen Quebecer lange den Kürzeren gezogen. Die Anglophonen dominierten in Wirtschaft und Politik, die Frankophonen fühlten sich als Kolonisierte und unterlegen in zweifacher Hinsicht: gegenüber der englischsprachigen Umgebung und gegenüber Paris. Doppelt stigmatisiert war so auch ihr lokales Französisch. Literarische Verwendung fand es bestenfalls zu ornamentalen Zwecken im Landroman (vgl. Reutner/ Plocher 2007). Politik und intellektuelles Leben stagnierten, es herrschte die „große Dunkelheit“, la grande noirceur. Das frankokanadische Selbstbewusstsein erwacht neu in den 1960er Jahren. Der Kampf gegen die Ungerechtigkeiten setzt ein. Um die Zeitschrift Parti pris (1963-1968) gruppieren sich engagierte Autoren wie Gérald Godin, Gaston Miron oder Jacques Renaud. Sie schreiben bewusst in einer bodenständigen Alltagssprache, dem sogenannten joual, für sie ein Ausdruck der Entfremdung, einer „dépossession muée en affirmation et contestation“ (Gauvin 1976, 79). Michèle Lalonde wird 1973 einen „triomphalisme joualeux“ beschreiben, „qui consiste à se dire très fier de parler enfin une langue complètement de chez nous“ (1979, 31). Die Aufwertung des joual zur Literatursprache wird die Quebecer mit ihrer eigenen Varietät versöhnen (vgl. u.a. Poirier 1998, 133). Gleichzeitig führt sie die Distanz zum Pariser Französisch deutlich vor Augen und leitet so einen reflektierten endogenen Normierungsprozess ein. Doch was ist dieses joual? Der Ausdruck selbst, eine stigmatisierte Aussprachevariante von cheval, wurde vom Journalisten und Schriftsteller André Laurendeau 1959 in der Zeitung Le Devoir für die unförmige Diktion seiner Schüler verwendet: „Tout y passe: les syllabes mangées, le vocabulaire tronqué ou élargi toujours dans le même sens, les phrases qui boitent, la vulgarité“. Popularisiert wurde die Bezeichnung ein Jahr später durch die Abhandlung Les Insolences du Frère Untel von Jean-Paul Ursula Reutner (Passau) 170 Desbiens. Joual sei das Zeichen einer „absence de langue“, „un cas de notre inexistence, à nous, les Canadiens français“, „notre inaptitude à nous affirmer, notre refus de l’avenir, notre obsession du passé“ ([1960] 1988, 32). Die unterschiedlichen Erklärungen, die in den folgenden Jahren gegeben werden, verwenden den Ausdruck weiter stigmatisierend oder auch identitätsstiftend (vgl. u.a. Reutner 2008), immer aber kristallisiert sich als kleinster gemeinsamer Nenner die Quebecer Abweichung vom idealisierten hexagonalen Sprachgebrauch heraus. Diese ist bis heute ein Thema der Sprachdiskussion, in der die Bezeichnung joual inzwischen aber tabuisiert ist. Die emotionale Aufgeladenheit des wissenschaftlich nicht klar umrissenen Begriffs, seine Stigmatisierung, aber auch die inzwischen erfolgte Normalisierung mögen diese zwischenzeitlich erfolgte Tabuisierung erklären. Im Jahr 1964 liegt die Tabuisierung der gerade erst geschaffenen Bezeichnung noch in weiter Ferne. Der Ausdruck prägt eine hitzige Debatte, die den joualisierenden Roman von Jacques Renaud Le Cassé begleitet (vgl. u.a. Bollée 2000, Reisinger 2007). Emotionale Aufgeladenheit zeigt auch noch 1972 der Skandal, der durch die Weigerung des Quebecer Kultusministeriums verursacht wurde, die Aufführung eines Theaterstücks in joual in Paris zu subventionieren. Es handelt sich um Les belles-sœurs (1968) von Michel Tremblay (*1942), dessen Reputation durch dieses Stück seinen Anfang nimmt. Mit seinem Namen ist joual seither untrennbar verbunden. Geboren und aufgewachsen im Arbeiterviertel Plateau Montréal, will Tremblay in seinem Stück traditionelle Pfeiler der Quebecer Gesellschaft entmystifizieren: Familie, Ehe, Sexualmoral, Religion und Amtskirche. Dies erreicht er, indem er fünfzehn Frauen aus dem Arbeitermilieu auf engem Raum vereint. Die Protagonistin Germaine Lauzon hat bei einem Preisausschreiben eine Million Rabattmarken gewonnen. Sie kann sie aber nur eintauschen, wenn sie in Heftchen eingeklebt sind. Daher lädt sie verwandte, benachbarte und befreundete Frauen zu einer partie de collage de timbres, einer „Markenklebeparty“, in ihre Küche ein. Frustrationen, enttäuschte Lebenserwartungen und gebrochene Illusionen werden sich in dieser Küche entladen und den monotonen Alltag einer ohnmächtigentfremdeten Schicht aufzeigen. 1 1 Tremblay selbst kommentiert sein Ansinnen mit den Worten: „Je voulais décrire les femmes du milieu ouvrier de Montréal et je cherchais […] un sujet ‘drôle et absurde’ qui me permettrait de faire réagir mes personnages d’une façon ‘réaliste’“ (Tremblay s.d., 152). Als Gipfel der Absurdität, „le summum de l’absurde“ (ib.), machte es ihn fassungslos, dass, nach Abfassen des ersten Aktes, tatsächlich eine Das Englische im kanadischen Französisch 171 Der neue Realismus mit seiner für die Quebecer Zuschauer „ebenso ernüchternden wie heilsamen Selbsterkenntnis“ (Plocher 1987, 22) findet seinen sprachlichen Ausdruck im joual. Die Umgangssprache der Frauen entspricht dem deplorablen Milieu, in dem sie ihr ärmliches Leben fristen. Die Basis für das joual Tremblays ist damit die gesprochene Sprache des Arbeiterviertels Plateau Montréal, wie er sie selbst erlebt hat und nun in literarischer Form im Munde seiner belles-sœurs dokumentiert. Er selbst sagt dazu: „C’est une pièce en joual et je ne crois pas que j’aie à m’en défendre. Quand on aura vu ou qu’on aura lu Les Belles-Sœurs, on comprendra ce que j’ai voulu dire. On comprendra aussi que cette pièce était impensable autrement qu’en joual“ (s.d., 152s.). Es ist die Sprache des Volkes, in der er schreiben will: „Si j’écris en joual, c’est pas pour me rendre intéressant ni pour scandaliser: c’est pour décrire un peuple. Et le monde parle de même icitte! Q’on me câlisse donc la paix! “ (Le Jour vom 2.7.1976, nach Plocher 1987, 23). Natürlich will er als Autor das größtmögliche Publikum erreichen. Bei diesem kann er in der Regel zumindest ein passives Grundverstehen der traditionellen Mündlichkeit voraussetzen. Diese ist vor allem durch phonetische Auffälligkeiten geprägt, die das Stück denn auch durchziehen. 2 In unserem Kontext interessiert aber v.a., wie sich der Sprachkontakt mit Zeitungsanzeige zu einem vergleichbaren Wettbewerb erschien, in dem eine Million Marken zu gewinnen waren. 2 Die traditionelle Quebecer Mündlichkeit zeigt sich im Text z.B. in den bodenständigen Formen moé, toé für moi, toi oder in a für elle und pus für plus. Sie zeigt sich in den Varianten perler für parler, énarvé für énervé, marci für merci, pardre für perdre, aber auch in der Aussprache des auslautenden [-t] in litte für lit, toute für tout oder boute für bout, und ebenso in Urope, das für Europe bis Anfang des 19. Jahrhunderts im Französischen generell nicht ungewöhnlich war, dann aber durch die Schreibaussprache Ablösung erfuhr und nur noch im français populaire präsent bleibt. Sie zeigt sich außerdem in Kontraktionen wie c’t’enfant-là für cet enfant oder J’t’assez contente für j’étais assez contente, chus für je suis, a’donc für elle a donc und in besonderen Verbformen wie j’vas anstelle von je vais oder im beinahe schon klassischen assisez-vous für asseyez-vous. Tremblay verwendet auch die Fragekonstruktion mit -tu (J’ai-tu l’air de quequ’un qui…? , C’tu assez beau, hein? , ça se peux-tu? ) und ältere Formen wie creyable für croyable, icitte für ici, ebenso formal ältere französischen Wörter wie char, ferner achaler, astheur, chiâler, creyable, désâmer ‘faire presque mourir’ oder magané. In der Sprache der belles-sœurs fehlen natürlich auch nicht die typischen Quebecer Euphemismen sakraler Natur (vgl. Reutner 2009a, 171f.) wie bonyeu, sapré, cré (< sacré) oder crisse (< crist) sowie Euphemismen zum Vermeiden fäkalischer Termini wie mardi oder mercredi. Für eine systematische Aufstellung der Charakteristika in vier Romanen und einem anderen Theaterstück Tremblays vgl. Lagerqvist (2004a, 6-20). Ursula Reutner (Passau) 172 dem Englischen niederschlägt. Sprachliches Lehngut ist grundsätzlich ein greifbares Zeugnis von Kulturkontakten. Die in dreierlei Hinsicht anglophone Umgebung der frankophonen Quebecer (vgl. Reutner 2009c) legt den Einfluss des Englischen auf ihre Sprache nahe. Spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts und besonders seit dem Manuel des Abbé Maguire (1841) wird die sprachliche Anglisierung beklagt und für den vermeintlichen Verlust an Sprachqualität verantwortlich gemacht (vgl. resümierend Reutner 2009b, 86ss.). Die Diskussion ist bis in die Gegenwart aktuell und konfrontiert Lexikographen immer neu mit der Frage, ob und welche Anglizismen in die Lexika aufzunehmen sind. 3 Es fehlt auch nicht an Prozentzahlen zu Anglizismen im Wortschatz. Sie fallen aber geringer aus, als es die Debatte darüber vermuten lässt. 4 Als besonderes Charakteristikum wird der englische Einfluss beim joual angeführt. So unterschiedlich die Definitionen auch lauten, so sehr sind sie sich in diesem einen Punkt durch die Jahrhunderte einig. Jacques Allard sieht das joual 1969 als Beleg für die „corruption de la langue française par la langue anglaise (ou franglais)“ (1969, 22). Noch in den 1990er Jahren charakterisiert Saint-Jacques joual u.a. „par l’emploi de mots 3 In der lexikographischen Bearbeitung des Sherbrooker Korpus sind unter den ca. 45 000 Einträgen der bisher vorliegenden Internetversion 1081 Anglizismen, die in den im Konzept des Wörterbuchs ausschließlich berücksichtigten Standard eingegangen sind. Hinzu kommen 659 „emplois critiqués“, insgesamt sind also 1740 Anglizismen aufgenommen. Der thematische Artikel im FRANQUS zu Anglizismen von Michel Théoret reflektiert eine differenzierte Haltung: „Les jugements à porter sur les emprunts utilisés au Québec doivent donc être empreints de prudence. Les critères habituels s’appliquent: intégration, utilité, fréquence; mais il faut aussi évaluer la justesse des sens, le registre […], tenir compte des connotations particulières“ (2011). Noch pragmatischer äußert sich André Thibeault in seinem thematischen Artikel zur Lexikologie: „Les anglicismes sont souvent l’objet de commentaires défavorables, mais ils font partie, tout comme les archaïsmes, les dialectalismes et les innovations, des particularités du français québécois, et ils sont le reflet de l’histoire et de la géographie“ (2011). 4 Massicotte stellt 1978 5 % Anglizismen im „vocabulaire rural de l’Ile-aux-Grues“ fest, die vor allem die technische Terminologie in Land- und Forstwirtschaft betreffen. Lavallé/ Martel nennen 1979 für ein Korpus gesprochener Sprache in der Estrie weniger als 1 % Anglizismen. Ménard stellt im Korpus von Sankoff/ Cedergren zur gesprochenen Sprache in Montréal im „corpus sur les loisirs“ eine „proportion relativement faible d’occurences (1 pour 100) et de vocables (3 pour 100)“ fest (vgl. Wolf 1987, 87). Schafroth legt seiner Auszählung das Dictionnaire de fréquence von Beauchemin et al. zugrunde. Mit 0,28 % Vorkommen und 6,2 % Typen kann er eine „Bedrohung des französischen Wortschatzes in Québec“ auf der Basis von Frequenzkriterien negieren (1996, 40f.). Zu Anglizismen im Sprachatlas siehe noch unten Fn. 18. Das Englische im kanadischen Französisch 173 anglais et de tournures anglaises non assimilées par la langue“ (1990, 232), und erklärt Laforest: „tout ce qui est perçu comme caractéristique du registre populaire du français québécois a été considéré comme tel. Cela est surtout vrai des anglicismes“ (1997, 46). Viele Autoren begreifen den joual auch als Sprache der urbanen Arbeiterschicht: „on s’entend assez généralement pour voir dans le joual […] une variété de français, plutôt urbaine, parlée par la classe ouvrière“ (Laforest 1997, 47). Genau dort siedelt Tremblay seine belles-sœurs an und lädt damit geradezu dazu ein, dieses Kontaktphänomen, wenn auch in literarisierter Form, genauer zu betrachten. Dabei wird sich zeigen, inwieweit die Anglizismen tatsächlich symptomatisch sind für die Sprache des Montrealeser Arbeitermilieus und damit für den joual. 2. Anglizismen in Les belles-sœurs 2.1 Sprachliche Integration Ein Indiz für den Stellenwert von Entlehnungen im Sprachgebrauch ist ihr Integrationsgrad. Er ist oft direkt proportional zum Grad der Geläufigkeit des Wortes in der aufnehmenden Sprache. Die Frage, wie verbreitet die Anglizismen der belles-sœurs im Französischen sind, lässt den Blick also zunächst auf die sprachlichen Veränderungen der englischen Wörter richten. all right adv. coutellerie f. sandwich f. bacon m. cute adj. set m. bingo m. / interj. fancy adj. shape f. boss n. fun m. shop f. bye(-bye) m. / interj. gang f. short adj. cenne(s) f. job f. short(s) m. cheap adj. loosse adj. slogan m. checqué p.p. chum n. lunch m. O.K./ ok adv. et adj. smatte adj. (être) supposé de adj. club (de nuit) m. party m. toast f. coke m. pinotte f. waitress f. compagnie f. pinte f. (être) correct adj. poudigne f. Bei den meisten Anglizismen verzichtet Tremblay auf eine graphische Integration. Nur teilweise adaptiert er sie an französische Schreibgewohnheiten. Die Aussprache des Endkonsonanten wird bei cenne (engl. cent), loosse (engl. loose), pinotte (engl. peanut) und smatte (engl. smart) Ursula Reutner (Passau) 174 durch Konsonantendoppelung + <e> graphisch verdeutlicht. Eine Anpassung der Aussprache ist graphisch in pinotte berücksichtigt, das anders als engl. peanut mit offenem [ ] und kurzem offenen [ ] gesprochen wird. Auch fr. loosse wird mit kurzem offenen [ ] gesprochen, das in Tremblays Schreibung (anders als z.B. im DQA, das lousse angibt) graphisch nicht umgesetzt ist. Der Velarnasal englischer Herkunft wird im Französischen meist in seiner palatalen Variante gesprochen, was auch graphisch berücksichtigt werden kann. So schreibt Tremblay z.B. poudigne statt engl. pudding. 5 Doch verwendet er für engl. gang nicht gagne, das z.B. im GPFC und im NPR vermerkt ist. Da der engl. but-Laut in Québec mit offenem [ ] rezipiert wird (in Frankreich mit [œ], vgl. club, fun, lunch etc.), existiert bei fun auch die adaptierte Form fonne, die z.B. im DQA und im GPFC (fonnant, fonneux) belegt ist. Tremblay meidet sie ebenso wie shoppe (DNALF) für shop und toste (DNALF) bzw. tausse (bei Colpron, nicht in Forest/ Boudreau 2003) für toast. In der Morphosyntax fallen zunächst Genera auf, die das traditionellvolkstümliche Quebecer Französisch vom hexagonalen unterscheiden. Bei Tremblay ist die Rede von une cenne, la gang, une job, la pinotte, 6 la poudigne, la sandwich, la shape, la shop, la toast, während cent (cenne), gang, job, pudding (und pouding), toast im NPR maskulin verzeichnet sind. 7 Teilweise kommen beide Genera mit einer semantischen Unterscheidung vor. Feminin steht dabei die spezifisch kanadische Bedeutung, maskulin die überregional verwendete hexagonale. Gang bezeichnet feminin in Quebec z.B. eine beliebige Gruppierung von Personen, maskulin wie in Frankreich eine Verbrecherbande. Job steht als Femininum in Quebec für eine 5 Die Integration des Velarnasals variiert auch in der Lexikographie. DQA gibt nur die Formen gang und pouding bzw. pudding an. FRANQUS gibt bei pouding/ pudding die Aussprache mit Velarnasal [pudi ] an, bei gang aber [ga ]. Das GPFC enthält noch die Form poutine, die in der Aussprache in Frankreich lange vorherrscht und auch heute noch neben [puding, pudi (g)] teilweise üblich ist. 6 DQA gibt ebenfalls f. an (unter peanut und unter pinotte), GPFC m. und f. 7 Umgekehrt ist party in Kanada maskulin und in Frankreich feminin. Dass Anglizismen nicht prinzipiell als Feminina ins kanadische Französisch integriert sind, belegen bei Tremblay zudem bacon, bingo, coke, fun, lunch, set, short(s) und slogan. Ausnahmen wie das in Frankreich seit dem Mittelalter bekannte bacon oder das schon in der Auswanderungszeit, zu Anfang des 18. Jahrhunderts, in Frankreich rezipierte club können formal auch im Genus aus dem Französischen stammen. Lagerqvist stuft die Genuswahl als „arbitraire“ und weitgehend „inmotivé“ ein (2004b, 25). Dieser Schluss mag daran liegen, dass er nur linguistische Erklärungsmöglichkeiten in Betracht zieht, denn unter Berücksichtigung soziolinguistischer Kriterien lassen sich die Motive der Genuswahl besser fassen. Das Englische im kanadischen Französisch 175 solide berufliche Tätigkeit, während es als Maskulinum wie im hexagonalen Französisch nur eine kleinere kurzfristige Arbeit bezeichnet (vgl. DQA). Im FRANQUS wird der Unterschied bei den Genera hingegen mit Mündlichkeit (Femininum) und Schriftlichkeit (Maskulinum) erklärt, während der DFP einen Registerunterschied ausmacht: „sous l’infl. du français de France [job est] parfois masc. et alors perçu comme moins familier“ (DFP, s.v. job). Ein anderer Fall liegt bei toast vor, das für die gegrillte Brotscheibe in Quebec feminin und in Frankreich maskulin verwendet wird, als Trinkspruch aber auch in Quebec in der wohl schickeren maskulinen Form erscheint (vgl. FRANQUS, s.v.). Dass die hexagonale maskuline Form auch in Quebec höheres Prestige genießt, zeigen maskulin notierte Anglizismen im FRANQUS wie pouding und sandwich, die anderweitig (z.B. im DQA) feminin notiert sind. Die höhere Wertung wird bei beiden Wörtern wiederum klar im DFP formuliert, so s.v. pouding: „Le mot s’emploie aussi au fem. dans la langue fam.“ und s.v. sandwich werden feminines Genus und die Aussprache [ ] im Gegensatz zu [ ] als „familier“ markiert. Im Hinblick auf die Wortstellung sind die Anglizismen an die romanische Abfolge von Determinans und Determinatum angepasst. Tremblays Figuren sprechen von einem monde cheap oder von tasses fancies und selbst bei zwei aufeinanderfolgenden englischen Ausdrücken wie in une waitress cheap erfolgt die Nachstellung des Adjektivs. Interessant sind auch Syntagmen mit fun, das auch auf Personen bezogen wird: toé qui fait le fun dans les parties (BS 31), ma tante Pierrette, c’est le fun! (BS 75). Ansonsten ist noch auf die morphologische Integration von Verben hinzuweisen wie to check als checquer 8 (belegt mit dem Partizip checquée). Mehrere Anglizismen sind Lehnbedeutungen. Ein im Französischen bereits existentes Wort bekommt also eine zusätzliche Bedeutung aus dem Englischen. Dies ist der Fall bei bacon für gesalzenen und geräucherten Speck, club speziell für den Nachtklub, compagnie für das Warenhaus- Unternehmen, être correct im Sinne von ‘convenir’, coutellerie für das Besteck, pinte für die kanadische Maßeinheit, 9 être supposé in der Bedeutung 8 Fr. checqué ‘herausgeputzt, aufgedonnert’ wird in Colpron mit der Bedeutung ‘tiré à quatre épingles, sur son trente et un, trente-six (au Québec)’ als Anglizismus angegeben. Wie auch im DQF wird auf engl. to be checked verwiesen. Dabei ist wohl auch an eine Kontamination mit fr. chicqué (fam.) ‘ce qui n’est pas naturel’ (MLF, s.v.) zu denken. 9 Fr. pinte war bis zur Einführung des Dezimalsystems als Folge der Französischen Revolution auch in Frankreich gebräuchlich. In Paris umfasste das Hohlmaß 0,93 Li- Ursula Reutner (Passau) 176 von engl. to be supposed to ‚être cerné de‘ oder toast für die geröstete Brotscheibe. 2.2 Distribution nach Frequenz und Personen Der Blick auf die sprachliche Integration der Anglizismen ergibt also ein heterogenes Bild. Betrachten wir vor diesem Hintergrund nun weitere Integrationskriterien wie die Gebrauchsfrequenz der einzelnen Wörter und den biographischen Hintergrund der sie verwendenden Figuren. Germaine Lauzon Linda Gabrielle Jodoin Pierrette Guérin Rose Quimet Lisette de Courval Marie-Ange Brouillette Des-Neiges Verrette Rhéauna Bibeau Thérèse Dubuc Olivine Dubuc Yvette Longpré Ginette Ménard Lise Paquette Angéline Sauvé Chor Gesamtzahl der Sprecher Gesamterscheinen all right 1 1 1 bacon 2 C 2 bingo 1 9 2 6 3+C 18 boss 2 1 2 bye (-bye) 1 1 2 2 cenne 1 3 2 3 6 cheap 1 1 1 3 3 checqué 1 1 1 chum 1 1 1 club 4 5 1 6 2 4+C 18 coke 1 1 1 3 4 6 compagnie 1 1 2 2 correct 3 1 3 1 1 2 6 11 coutellerie 1 1 1 cute 1 1 2 2 fancy 1 1 2 2 fun 2 1 1 1 1 1 5 2 7+C 14 gang 1 1 2 1 1 1 5+C 7 job loosse 1 1 1 lunch 1 1 1 ter, in Kanada 1,136 Liter. 1871 legalisierte der kanadische Premierminister Macdonald das metrische System, doch die alten Maßeinheiten blieben bis in die 1960er Jahre in Gebrauch. Erst mit der Änderung der Loi sur les poids et mesures 1971 wurde das internationale Einheitssystem in Kanada obligatorisch. 1988 ist der Umstellungsprozess weitgehend abgeschlossen. DQA verzeichnet pinte s.v. in Kanada unmarkiert für die alte Maßeinheit und gibt zudem einen neueren Gebrauch im metrischen System mit der Bedeutung ‘Liter’ an, die als „familier“ markiert ist. Das Englische im kanadischen Französisch 177 ok 1 1 1 3 3 party 3 1 2 4 pinotte 3 1 3 pinte 1 1 1 poudigne 2 1 2 3 sandwich 1 C 1 set 3 1 2 4 shape 1 1 1 shop 1 1 1 short 1 1 1 shorts 1 1 1 slogan 2 1 2 smatte 3 1 2 3 6 supposé 1 1 1 toast 2 C 2 waitress 1 1 1 Typen 17 5 2 6 10 4 2 6 1 3 2 4 2 4 3 7 / / Vorkommen 29 6 2 12 10 4 10 9 5 3 5 4 3 5 13 16 / 136 Tabelle 1: Verwendung der Anglizismen nach Personen Die Tabelle 1 führt in der linken Spalte die Anglizismen des Stücks auf, 37 Typen (fr./ engl. types). Die rechte Spalte „Gesamterscheinen“ gibt ihre Häufigkeit an und zeigt 136 Vorkommen (fr. occurrences, engl. tokens). Jeder Anglizismus fällt also durchschnittlich 3,6 Mal. Im deutlich längeren Roman Le cassé von Jacques Renaud zählt Annegret Bollée ebenfalls 36 Typen, aber mit nur 67 Vorkommen (2000, 60). Die Häufigkeitsrelation bei Tremblay erklärt sich mit einem außerordentlichen Gebrauch der Wörter bingo und club (jeweils achtzehnmal) sowie fun (vierzehnmal), die alle zudem von mehreren oder allen Personen im Chor verwendet werden. In der Häufigkeitsskala folgen correct (elfmal), gang (siebenmal) sowie cenne, coke und smatte (jeweils sechsmal). Vierzehn Anglizismen erscheinen nur einmal. Für die Geläufigkeit eines Wortes zählt auch, dass es im Sprachgebrauch mehrerer Personen belegt ist. Die zweite Spalte von rechts gibt an, wie viele Sprecher ein Wort verwenden. In unterschiedlicher Zusammensetzung haben die Frauen in Les belles-sœurs eine im Theater traditionelle Chorfunktion („+ C“). Im Chor unterstreichen sie meist die triste, perspektivenlose Alltagsroutine, die „maudite vie plate“ (BS 23), wie sie mit dem morgendlichen Aufwecken der Familienmitglieder und dem Vorbereiten des Frühstücks mit „des toasts, du café, du bacon, des œufs“ (BS 23) Ursula Reutner (Passau) 178 beginnt, sich über die mittäglichen sandwichs für die Kinder fortsetzt und der allabendlichen „Glotze“ endet. Eine Ausnahme ist das beliebte kanadische Lotteriespiel bingo, das positiv besungen wird. Alle Wörter, die im Chor gesprochen werden, sind automatisch vielen Personen bekannt. Außerhalb des Chors verwenden sieben Figuren und damit auffällig viele den Ausdruck fun. Er steht an 427. Stelle im Dictionnaire de fréquence und ist damit der häufigste Anglizismus im Quebecer Französisch, auch wenn seine Beliebheit nicht einfach zu erklären ist (vgl. Beauchemin 1994, 101f.). Bei sechs Frauen erscheint die Lehnbedeutung von correct, bei vier coke, bei drei cenne(s), cheap und smatte, bei zwei cute, party/ -ies, poudigne und shop. Alle anderen Anglizismen treten jeweils nur bei einer Frau auf und auch da nur einmal. Neigen bestimmte Personen nun besonders zu Anglizismen? Hauptperson des Stückes ist Germaine Lauzon, die zum Aufkleben der gewonnenen Marken einlädt. Sie verwendet mit 17 Typen und 29 Vorkommen relativ viele Anglizismen, da sie als Gastgeberin stets präsent ist und sich an den meisten Gesprächen mit längeren oder kürzeren Einlassungen aktiv beteiligt. Als Organisatorin der party (de femmes) kümmert sie sich um cokes, pinottes, also Cola und Peanuts, und poudigne, spricht vom Einkaufen im shop, von pintes (de lait), von cennes zum Bezahlen und von ihrer zu versorgenden gang de nonos. Am Ende ärgert sie sich gewaltig über ihre diebischen Helferinnen, die einen Teil der Rabattmarken in ihren Taschen verschwinden lassen: „toute une gang de maudites voleuses“ (BS 107). Zuvor träumte sie als Gewinnerin der Markensammlung der compagnie davon, bald eine neue Einrichtung, ein Essbesteck, eine coutellerie, ein set (de cuisine), set (de vaiselle), set (de chambre), set (de salon) ihr Eigen nennen zu können. Ansonsten gibt sie ihre Zustimmung im Gespräch mit c’est correct und mit O.K. Sie komplimentiert mit smatte, stellt Vermutungen an mit être supposé und verabschiedet mit bye. Ihr joual ist insgesamt milieukonform und relativ neutral. Es enthält die Charakteristika des traditionellen Quebecer Französisch, aber keine soziolinguistisch besonders markierten Ausdrucksweisen. Ihre Tochter Linda unterscheidet sich trotz aller Streitereien mit der Mutter sprachlich wenig von ihr. Sie redet von ihrem Arbeitstag im Geschäft, dem shop, von ihrem boss und kommentiert mit: „ça va être une vraie job, toute nettoyer ça! “ (BS 109) die Unordnung, die die Frauen der Markenklebeparty hinterlassen. Von den drei Schwestern Germaines unterscheiden sich Gabrielle Jodoin und Pierrette Guérin sprachlich ebenfalls nur wenig von Germaine. Pierrette hat jahrelang in einem Nachtclub (club, viermal) gearbeitet, um ordentlich zu verdienen, aber ihr Johnny hat Das Englische im kanadischen Französisch 179 sie ohne einen Cent, une cenne (dreimal), sitzen gelassen. Soll sie nun als une p’tite waitress cheap, wie sie es als Dienstleistende am wohl anglophonen Arbeitsplatz formuliert, ihr Dasein fristen? Sie ist total am Ende und will gegenüber der Verachtung, die ihr die Frauen ob ihrer zweifelhaften Tätigkeit im Nachtklub entgegenbringen, noch faire la smatte, schön tun und nichts sagen. So bleibt ihr letztendlich nur das Trinken. Die dritte, emotional veranlagte Schwester Rose Quimet spricht eine deftige Sprache, voll von vulgären Ausdrücken. 10 Sie flucht oft in vulgären Ausdrücken, enttabuisiert und verflucht besonders das bislang in Quebec hochgehaltene Eheleben, nennt ihren sie endlos frustrierenden Mann cochon oder maudit cul, „[qui] pète plus haut que son trou“ (BS 48). Andere beleidigt sie mit den Worten: „ton mari se fend le cul en quatre“ (BS 48) oder „sa p’tite bouche en trou de cul de poule“ (BS 85). Sie verwendet Flüche wie sapré oder cré. Mit zehn verschiedenen Anglizismen gebraucht sie die zweithäufigste Anzahl. Ob dies ihrem insgesamt niederen Sprachregister geschuldet ist? Sie verwendet checquée in der Bedeutung ‘herausgeputzt’ und gang auch in Bezug auf Vögel, die ihr Ältester züchtet, während es sonst auf Personengruppen begrenzt wird. Nur bei ihr erscheinen shape und shorts, das Adjektiv short und neben ok auch all right. Dass sie shape in garder ma shape bewusst sagt, um ihre Figur nicht direkt französisch, sondern vielleicht euphemistisch kokettierend englisch zu benennen (etwa anstelle von taille oder forme), bleibt angesichts ihrer sonst vulgären Art unwahrscheinlich. Zur Klebeparty kommt auch Des-Neiges Verrette, die mit 6 Typen und 9 Vorkommen ebenfalls relativ viele Anglizismen verwendet. Sie hat sich über beide Ohren in einen sie umwerbenden Vertreter verliebt, gibt sich aber prüde und ist sehr bemüht, zu betonen, dass sein Verhalten ihr gegenüber völlig correct sei (BS 52f.). Zu einer seiner Vorführungen will sie ein kleines lunch vorbereiten, womit - gegenüber der frankokanadisch dafür gebräuchlichen Bezeichnung dîner (fr. déjeuner) - sicher eine gewisse Anspruchslosigkeit des Mittagessens zum Ausdruck kommt. Für die Organisation seiner Veranstaltung soll sie des belles tasses fancies erhalten. Den Anglizismus fancy umschreibt sie aber sogleich als „des belles tasses 10 Unter den Nachbarinnen hat lediglich die vom Leben frustrierte, eifersüchtig-diebische Marie-Ange Brouillette eine ähnlich vulgäre Ausdrucksweise wie die dritte der genannten Schwestern („ça fait chier les familles qui vivent alentours“, BS 25; „Les Français, c’est toute des p’tits bas-culs qui me viennent même pas à l’épaule“, BS 103). Sie beklagt ausgiebig ihre „maudite vie plate“ (BS 22), verwendet bis auf einmal correct und mehrmals bingo aber keine Anglizismen. Ursula Reutner (Passau) 180 de fantaisie“ (BS 51) und legt damit die eigentliche Bedeutung von fancy ‘élégant, joli, coquet’ (GPFC) schon fast volksetymologisch aus. Betrachten wir noch zwei Figuren mit relativ geringem Anglizismengebrauch, der dann aber umso wirkungsvoller ist. Da ist zum einen die Nachbarin Lisette de Courval, die etwas Besseres sein will. Sie bemüht sich, schön zu sprechen, schließlich war sie einmal in Europa, in Urope, und sogar in Paris. Mitunter korrigiert sie ihr moé in moi (BS 44) und ihr ben in bien (BS 27). Sie meint: „j’perle bien, puis je m’en sens pas plus mal“ (BS 25), bleibt aber trotzdem - wie ihre Nachbarinnen - im joual hängen, was schon die Aussprachen perler und Urope zeigen oder Formen wie icitte und die Fragekonstruktion J’ai-tu l’air … Beim versehentlich verwendeten chums verbessert sie sich mit amis de garçons (BS 28) und entschuldigt sich mit einem euh für den Anglizismus. Das Wort fällt im Gespräch über die am Beispiel einer jungen italienischen Nachbarin im Umgang mit ihren chums angeprangerte Schamlosigkeit der Europäer. Der Anglizismus unterstreicht hier das missbilligte Verhalten der Italienerin. Die Korrektur in amis de garçons ist ein Hinweis darauf, dass chum in ihrem Sprachbewusstsein zum Register des Milieus gehört, von dem sie sich distanzieren will. In ihrem intendierten „besseren“ Sprachgebrauch ist chum eben nicht akzeptabel. Dass sie sich der anderen Frauen schämt, wird auch sonst thematisiert. Das sei nicht ihre eigene Welt, und zurecht habe ihr Leopold gesagt: „c’monde-là, c’est du monde cheap, y faut pas les fréquenter, y faut même pas en parler, y faut les cacher! Y savent pas vivre... Mon Dieu que j’ai donc honte d’eux-autres! “ (BS 59). Das von Tremblay hier kursiv markierte cheap ist überaus negativ konnotiert. Wäre dies mit einem französischen Ausdruck (wie méprisable, médiocre, commun, sans classe, …) zu wenig unterstrichen? Tremblay legt der Frau den Anglizismus sicherlich bewusst in den Mund, als soziolinguistischen Indikator für die unterste Stufe in der frankophonen Gesellschaft Quebecs. Eine weitere interessante Figur, die ebenso wenige Anglizismen verwendet wie Lisette de Courval, ist Lise Paquette, eine schwangere Freundin der Tochter. Sie wurde sitzen gelassen, will aber nicht aufgeben, sondern einen Neuanfang starten: „J’ai toujours été pauvre, j’ai toujours tiré le diable par la queue, pis j’veux que ça change. J’sais que chus cheap, mais je veux m’en sortir! “ (BS 90). Ist diese dritte Verwendung von cheap nicht auch wieder nicht nur Ausdruck individuell empfundener, sondern auch gesellschaftlich zu verstehender Minderwertigkeit, die sich als Grundtenor durch das gesamte Stück zieht? Doch wird diese jetzt nicht mehr unüberwindbar dargestellt. Der Aufbruch, der durch die Stille Revolution eingeläutet wurde, mag durchaus vom Autor mit Absicht perso- Das Englische im kanadischen Französisch 181 nalisiert umgesetzt sein, d.h. in Lise Paquettes festem Willen zur Änderung ihres Schicksals, der Hoffnung auf bessere Zeiten. Eine Hoffnung, die die Stille Revolution aufkeimen ließ. 2.3 Gesprächsthemen und Verwendungsmotive Natürlich sind die hier untersuchten Anglizismen nicht gleichzusetzen mit Schlüsselwörtern, die den Text inhaltlich sozusagen „entschlüsseln“ helfen. Doch fällt auf, wie stark sie in Les belles-sœurs in den Themen des Alltags verankert sind. Besonders viele gehören zum Bereich des Essens und Trinkens: bacon, lunch, pinte, poudigne, sandwich, toast als Kennzeichen der Alltagsroutine, auch coke und pinottes als „Kulinaria“ der Klebeparty, aber auch Gegenstände wie coutellerie und sets als mögliche Gewinne, von denen die Gastgeberin träumt. Dazu passt auch, dass die Frauen gut auf Werbung ansprechen. Eine schwärmt von den belles tasses fancies, die sie als Werbegeschenk erhalten soll, und eine andere hat sich durch einen slogan zum Mitmachen an einem Wettbewerb entschlossen. Die Kleidung wird mit short(s) angesprochen, das Aussehen mit checquée und shape, positive Charakteristika mit cute und smart. Zustimmende Wertungen lauten all right, ok und correct. Primitivität und Minderwertigkeit benennen die Frauen als cheap. Im Themenbereich Arbeit und Arbeitsplatz gibt es den lange vorwiegend anglophonen boss, den job im club, im shop oder in einer compagnie und die frustrierende Tätigkeit z.B. als waitress, die entlohnt wird mit cenne(s). Im Sozialleben ist das „amusement“ ein größerer Gesprächsbereich, der mit sehr häufigem fun erfasst ist und den man mit Freude am bingo erleben kann. Chum als nicht von allen akzeptierte Bezeichnung gehört ebenso hierher wie gang und party sowie das Adieu mit bye. Semantisch ist somit festzustellen, dass die Anglizismen - wie die gesamte Handlung des Stücks - im monotonen Alltag der Hausfrauen integriert sind. Gerade dies lässt für die Entlehnungen einen hohen Verkehrswert ansetzen. Warum nun verwenden die Figuren die fremden Formen anstelle der häufig existierenden französischen Alternativen? Einige der Ausdrücke wurden unter britischer Herrschaft seit 1760 als offizielle Termini obligatorisch. Dazu gehören pinte als nunmehr neue englische Maßeinheit (vgl. Fn. 9) und cenne als Münzeinheit, für die auch das im Stück nicht verwendete sou weiterlebt. Die meisten Ausdrücke spiegeln die teilweise opportunistische Nachahmung von Gepflogenheiten der anglophonen Herrschaftsschicht, die z.B. zur Übernahme von neuen Frühstücksgewohnheiten mit bacon und toast führte, den zeitsparenden Schnellimbiss Ursula Reutner (Passau) 182 mit lunch und sandwich sowie coke verbreitete, ohne den pouding und die pinottes zu vergessen. 11 Die Umstellung der Lebensgewohnheiten betraf auch das Gesellschaftsleben mit party, der Lotterie bingo, dem im streng katholischen Quebec lange fremden club (de nuit) und dem semantisch zumindest neutral gewordenen gang als Bezeichnung einer Gruppe von Personen. Andere Anglizismen dokumentieren die Dominanz der Anglophonen im Wirtschaftsleben, so sicherlich boss und job, eventuell auch cheap, wobei hier nur die Erstbelege den Nachweis für eine Erstverwendung in diesem Geschäftsbereich erbringen können. Der Kontakt zur dominierenden anglophonen Kultur weckte also Bezeichnungsbedürfnisse, die der Einführung der genannten Anglizismen zugrunde liegen. Es handelt sich hier um sogenannte Bedürfnislehnwörter, die aus denominativen Gründen mit der Übernahme der Sache entlehnt wurden. Eher konnotativ zu sehen sind hingegen jene Entlehnungen, die geläufige französische Entsprechungen haben, sogenannte Luxuslehnwörter, wie shape statt forme, chum statt copain/ copine oder die affektiven Ausdrücke cute, fancy und smatte. Diese Wörter können nicht einfach mit der Übernahme fremder Gewohnheiten erklärt werden. Vielmehr dokumentieren sie eine prinzipielle Offenheit für die englische Kultur, die akzeptiert oder abgelehnt werden kann. Doch inwieweit sind sich die Figuren ihrer Anglizismenverwendung überhaupt bewusst? Bei den einfachen Frauen des Stückes ist davon auszugehen, dass sie kaum Englischkenntnisse haben. Sind die Anglizismen in ihrem Sprachbewusstsein dennoch als solche markiert? Nun handelt es sich natürlich um fiktive Gestalten, deren Sprache zwangsläufig durch Tremblays metasprachliches Bewusstsein gefiltert ist. Sie sprechen und empfinden so, wie der Autor sie aufgrund seiner eigenen Milieu-Erfahrung sprechen und empfinden lassen will. Insofern lässt Tremblays mehrheitlich beibehaltene englische Graphie bei zahlreichen Formen darauf schließen, dass er bei diesen Formen von einem Fremdheitsbewusstsein seiner Figuren ausgeht. 12 Bei den verwendeten Lehnbedeutungen hinge- 11 Die französischen Bezeichnungen cacahuète (aus dem Spanischen entlehnt zur Bezeichnung der Frucht) und arachide (für die Pflanze z.B. in beurre d’arachides) waren wohl anders konnotiert, gleichzeitig aber auch weniger bekannt. Hierfür spricht u.a. das Argument, mit dem Laurin den Gebrauch von cacahuète stärken möchte: „Les enfants qui connaissent le mot cacahouète le préfèrent à peanut. Ils le trouvent plus amusant“ (1975, 71). 12 Für den Fremdheitscharakter spricht auch die kursive Markierung beim erstmaligen Auftreten von cheap im Satz „c’monde-là, c’est du monde cheap“ (BS 59). Doch könn- Das Englische im kanadischen Französisch 183 gen ist dies bei den Arbeiterfrauen sehr unwahrscheinlich. Ähnlich dürfte es auch bei den graphisch aufgrund der Aussprache integrierten Wörtern der Fall sein, wie pinotte, poudigne oder smatte. 3. Die Anglizismen aus Les belles-sœurs in der Lexikographie Wir haben also gesehen, dass Anglizismen in der Sprache der belles-sœurs fest verankert sind. Inwieweit spiegeln die Anglizismen aus Tremblays fingierter Mündlichkeit nun deren Stellenwert in der Alltagssprache Quebecs? Und wie sehr unterscheidet sich dieser von der Rolle der Ausdrücke im Pariser Französisch? 3.1 Quebec Sehen wir uns zunächst an, ob die Anglizismen bereits in die kanadische Lexikographie Eingang gefunden haben (Tabelle 2). Hier sind am Rande Aufstellungen von Anglizismen in korrektiver Absicht zu betrachten wie Laurin 1975 und Colpron 1982, v.a. aber allgemeinsprachliche Wörterbücher des Quebecer Französisch. Historisch an erster Stelle steht das GPFC (Glossaire du parler français au Canada), dann folgen das DNALF (Dictionnaire nord-américain de la langue française) von Louis-Alexandre Bélisle, 13 das DFP (Dictionnaire du français plus) von Claude Poirier, das MLF (Multidictionnaire de la langue française) von Marie-Éva Villers, das DQA (Dictionnaire québécois d’aujourd’hui) von Jean-Claude Boulanger, das DQF (Dictionnaire québécois-français) von Lionel Meney und nicht zuletzt das Sherbrooker Projekt FRANQUS in seiner derzeitigen Internet- Version. te die Hervorhebung natürlich auch eine besondere Betonung des Milieucharakters signalisieren. 13 Das DNALF ist eine überarbeitete Fassung des DGLFC von 1944. Es ist als nordamerikanisches Wörterbuch des Französischen konzipiert und berücksichtigt die seit Anfang des 19. Jahrhunderts vorliegenden lexikographischen Werke, v.a. die im GPFC aufgenommenen. Hinzu kommen die vielseitigen eigenen Beobachtungen und fachspezifischen Publikationen des Autors, die auf Québec konzentriert sind. Ursula Reutner (Passau) 184 Laurin Colpron GPFC DNALF DFP MLF DQA DQF FRANQUS all right - - - - - - - - bacon x x x x x x bingo - - x x x x x fam. (interj.) boss x x x x - - x critiqué bye - - - - fam. x fam. cenne - x pop. fam. improp x pop. fam. cheap x - - x fam. x checqué x - - - - fam. chum x x x x fam. fam. critiqué club x x - fam. f. faut. fam. x critiqué coke - - x - fam. x compagnie - - - - - - x correct - x x fam. fam. x x UQ fam. coutellerie x x x x f. faut. fam. x critiqué cute x x - - - fam. x fancy - x x - - x fun x x x x fam. x critiqué gang x x x fam. x fam. x UQ fam. job x x x x fam. x fam. x critiqué loosse x x x x fam. x lunch x - x fam. x x x UQ parf. cr. O.K./ ok x - x fam. fam. fam. x fam. party x x f. faut. fam. x critiqué pinotte x peanut peanut x peanut fam. x critiqué pinte - - - x x fam. x x poudigne pouding poutine poutine pouding pouding x x pouding sandwich x - x x x x x x set x x x x x fam. x critiqué shape x x x - - - x shop x x x - - x short - - - - - - - - short(s) x x x x x x x slogan x - x x x x x smatte x smat x - fam. x supposé x x x f. faut. critiqué critiqué critiqué toast x toasté x x x x x parf. cr. waitress x x x - - x - Tabelle 2: Aufnahme und Wertung der Anglizismen in der kanadischen Lexikographie Tabelle 2 dokumentiert die Verankerung der Tremblayschen Anglizismen in der Lexikographie. Am wenigsten verwundert, dass beinahe alle Ausdrücke im einfachen Anglizismenwörterbuch von Colpron enthalten sind sowie im ideologisch umstrittenen Dictionnaire québécois-français von Lio- Das Englische im kanadischen Französisch 185 nel Meney. 14 Aussagekräftig ist aber, dass auch in philologisch zuverlässig erstellten Wörterbüchern mit Gebrauchsangaben wie dem DQA oder dem FRANQUS ein Großteil der Anglizismen belegt ist. In unserem Zusammenhang interessiert v.a., ob Tremblay Wörter verwendet, die lexikographisch nicht erfasst sind. Diese sind selten, nur all right, 15 (abgesehen vom bildlichen Gebrauch) 16 short und (abgesehen vom DNALF und DQF) waitress sowie die spezifische Lehnbedeutung von compagnie fehlen komplett. Die meisten Anglizismen, die in Les belles-sœurs verwendet werden, haben aus lexikographischer Sicht also keinen Fremdcharakter. Ihre Aufnahme in ein allgemeinsprachliches Wörterbuch bestätigt einen gewissen Verkehrswert der Formen im allgemeinen Sprachgebrauch. Um die Zugehörigkeit der Anglizismen zum joual zu beurteilen, ist ein Blick auf ihre soziolinguistische Wertung in der Lexikographie hilfreich. DQA, DFP und FRANQUS geben solche Markierungen systematisch an. 17 Die Tabelle 2 zeigt, dass der DQA zehn der aufgenommenen Anglizismen neutral bewertet, so bacon, bingo, cenne, correct, lunch, poudigne, sandwich, short(s), slogan und toast. 16 werden als „familier“ eingestuft, nur être supposé de wird kritisiert („critiqué“). Auch das FRANQUS markiert 6 Anglizismen als „fam.“ (z.B. die Interjektion bingo! , das bye(-bye) oder être correct) und wertet 5 als neutral, was sich weitgehend mit den Angaben des DFP und DQA deckt. Die Konzentration des FRANQUS liegt auf dem Standard, zu dem u.a. die Anglizismen bacon, pinte, sandwich, short(s) und slogan gerechnet werden. Interessant ist bei einem auf den Standard beschränkten Wörterbuch die Wertung als „(parfois) critiqué“. Ein Wort wie lunch gilt als „parfois critiqué“, aber „passé dans l’usage standard“ (s.v.), während es im DFP noch als „familier“ klassifiziert ist. Insgesamt stuft 14 Schon mit dem Titel des Dictionnaire québécois-français verweist Lionel Meney auf eine „eigene“ Sprache québécois, der er unterschiedlich zu klassifizierende Abweichungen von der hexagonalen Norm zuordnet. An ihr hält der eingewanderte Franzose fest und präsentiert die Quebecer Besonderheiten teilweise als Folklorismen. Besonders kritisiert wird seine Rubrik „Rions un peu…“, in der er ausgewählte Lemmata in Form von Witzen kontextualisiert. Eine sehr gelungene Gegenüberstellung zwischen dem differentiellen Wörtbuch DQF und dem Globalwörterbuch FRANQUS gibt Pöll 2009. 15 Fr. all right erscheint auch in anderen Werken Tremblays häufig, wie die Zitate in Seutin/ Clas (1979-1982, s.v.) belegen. 16 Colpron gibt z.B. short in der Fügung arriver short ‘être à cour’ an sowie die Ableitungen shortage und shortening. 17 Im GPFC wird die soziolinguistische Markierung nicht explizit angegeben, besteht aber generell im Ausschluss der „langue académique“, die nicht zur „langue parlée du peuple“ gehört (1930, VII). Ursula Reutner (Passau) 186 das FRANQUS 659 Ausdrücke als „(parfois) critiqué“ ein. Im Allgemeinen handelt es sich um Entlehnungen, für die es ein oder mehrere gängige französische Äquivalente gibt, die im Kommentar angegeben werden. Zwölf der kritisierten Wörter sind Anglizismen aus Les belles-sœurs, darunter boss, chum und club. Zusammen mit den fehlenden Ausdrücken sind diese Formen aufgrund des FRANQUS’schen Korpus nicht Bestandteil des guten Sprachgebrauchs. 3.2 Frankreich Bereits die Tabelle 2 zeigt eine teilweise auffallend gute Kontinuität im Gebrauch der Anglizismen. Mehrere Wörter sind sowohl im GPFC von 1930 als auch im DQA von 1993 belegt. Sie wurden also früh ins kanadische Französisch integriert und sind bis heute relevant. In beiden Wörterbüchern sind z.B. verzeichnet bacon, cenne, chum, correct, fun, job, gang, set, pinotte (im GPFC nur als pea-nut), party (im GPFC als parti z.B. d’amusement), smatte (im GPFC als smat, smart) und être supposé. Nur im GPFC sind aufgeführt: boss, checqué (andere Bedeutung als bei Tremblay), coutellerie, fancy, shape und shop. Hingegen enthält nur der DQA bingo, cheap, club, coke, cute, o.k., pinte, sandwich, shorts, slogan, toast, wobei sachlich teilweise (etwa coke, slogan) die Annahme neuerer Entlehnungen besonders naheliegt. Ein Blick in den ALEC dokumentiert zudem die Kenntnis und Verbreitung von Anglizismen im ländlichen Wortschatz. Von den Tremblayschen Ausdrücken sind im ALEC pudding, set (de vaissel), gang und cheap zu finden. 18 Dies führt uns zu der Frage, ob die Anglizismen des Stücks tatsächlich Ausdruck der spezifischen anglophonen Dominanz in Quebec sind oder eventuell auch in Frankreich in Gebrauch sind. Sie könnten einerseits von den Immigranten bereits mitgebracht worden sein und andererseits durch die intensivierten transatlantischen Kontakte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ins Quebecer Französisch gelangt sein, wie es für die Verbreitung der hexagonalen Aussprache [wa] anstelle des traditionell üblichen [we] inzwischen nachgewiesen ist (Reutner im Druck). Ebenso können sie auch von beiden 18 Für den parler populaire, den der Atlas linguistique de l’Est du Canada (ALEC) repräsentiert, erreicht eine erste Auszählung mit 10 % eine relativ hohe Anzahl von Anglizismen-Typen: Von hochgerechneten 60 000 lexikalischen Einheiten sind ca. 6 000 Anglizismen. Dabei fällt im Hinblick auf die geographische Distribution auf, dass vier Ortschaften der Peripherie (in Neuschottland, der Prinz-Edward-Insel und Neubraunschweig) mit 450-800 Anglizismen auf den ersten Plätzen liegen (vgl. Karte in Wolf 1997, 464). Das Englische im kanadischen Französisch 187 Ländern unabhängig aus dem Englischen entlehnt worden sein. Betrachten wir also die Erstdaten beider Länder soweit vorhanden. Frankreich Kanada all right - bacon 1884 (NPR) 1880 (DHFQ, FRANQUS) bingo 1944 (NPR) 1929 (TLFQ, FRANQUS) boss 1860 (NPR) 1855 (TLFQ, FRANQUS) bye 1934 (NPR) cenne 1835 (NPR) 1851 (NPR) cheap 1979 (NPR) 1903 (TLFQ) checqué - chum - 1907 (TLFQ, FRANQUS) club 1698 (NPR ‘réunion, cercle’) coke coca-cola 1942 compagnie - - (être) correct - coutellerie - 1890 (TLFQ) cute - fancy - fun - 1865 (NPR, DHFQ, FRANQUS) gang 1837 (NPR) 1831 (FRANQUS) job 1819 Hapax, 1950 (NPR) 1867 (TLFQ) loosse - 1867 (TLFQ) lunch 1817 (Hapax, NPR) 1860 (TLFQ) O.K./ ok 1869 (NPR) party 1832 (TLF) 1902 (TLFQ) pinte nach 1760 nach 1760 pinotte - 1879 (peanut, DHFQ), 1920 (pinotte, TLFQ) poudigne 1678 (NPR) 1880 (TLFQ) sandwich 1802 (NPR) 1882 (DHFQ) set 1893 (NPR) shape - 1880 (TLFQ) shop - 1879 (TLFQ) short - 1893 (TLFQ) shorts 1910 (NPR) slogan 1842 ‘cri de guerre’, 1930 (NPR) 1836 (TLFQ) smatte 1851 Hapax, 1898 (NPR) 1853 (DHFQ) (être) supposé toast 1750 (NPR) 1833 (DHFQ) waitress - 1930 (DHFQ) Tabelle 3: Erstdaten aus Frankreich und Kanada Die Tabelle 3 zeigt zunächst, dass die allgemeinsprachliche französische Lexikographie des NPR mit all right, cheap, checque, chum, club, compagnie, correct, coutellerie, cute, fancy, fun, loosse, pinotte, shape, shop, short, supposée und waitress eine Reihe von Wörtern respektive Bedeutungen nicht belegt. Dies mag dafür sprechen, dass es sich bei diesen Wörtern um kanadische Ursula Reutner (Passau) 188 Besonderheiten handelt. Doch kann das Wort natürlich trotz fehlender Aufnahme im NPR in Frankreich existieren. Überraschend ist zweifelsohne, wie viele Wörter sich tatsächlich auch im NPR finden, und dies teilweise mit sehr frühen Erstdaten. 20 der 37 Anglizismen sind auch im NPR belegt: poudigne bereits seit 1678, toast seit 1750, bacon, boss, cenne, gang, lunch, o.k., party, sandwich, set und smatte seit dem 19. Jahrhundert, bingo, bye und short(s) seit dem beginnenden 20. Jahrhundert. Der Gebrauch dieser Wörter mag in Quebec zwar durch die anglophone Umgebung gestärkt worden sein, ist aber - außer eventuell in der Frequenz - keine Besonderheit des Quebecer Französisch. Der Vergleich der beidseitig vorhandenen Erstdaten zeigt zunächst, dass sich die Angaben für das hexagonale und kanadische Französisch in mehreren Fällen beinahe decken: bacon (1884/ 1880) 19 und boss (1860/ 1855) erscheinen praktisch gleichzeitig und auch cenne oder smatte sind ähnlich datiert. Ein größerer Abstand liegt bei party (1832/ 1902) und toast (1750/ 1833) vor, die beide in Frankreich früher belegt sind als in Quebec. Auch in diesen Fällen ist es schwierig, die Anglizismen als prinzipiellen Ausdruck der Quebecer Situation aufgrund der anglophonen Umgebung zu sehen, auch wenn im Falle von toast das abweichende Genus eine unabhängige Entlehnung beider Sprachen aus dem Englischen dokumentiert (vgl. DHFQ, s.v.). 4. Resümee Halten wir also fest: Die Anglizismen in Les belles-sœurs zeigen einen unterschiedlichen Integrationsgrad. Die orthographisch unveränderte Darstellung einiger Wörter spricht für ihre Fremdheit in der Alltagssprache. Die Französierung der Aussprache und morphosyntaktische Anpassungen anderer Wörter dokumentieren hingegen einen Integrationsprozess, der sie auch im Bewusstsein der Sprecherinnen nicht mehr unbedingt als fremd erscheinen lässt (2.1). Insgesamt enthält das Stück 37 Typen mit 136 Vorkommen. Diese relativ hohe Zahl ist insofern zu relativieren, als insgesamt 17 Typen, also knapp die Hälfte, nur bei jeweils einer Frau auftre- 19 Der Ausdruck bacon wurde im 14. Jahrhundert aus dem Französischen ins Englische entlehnt. Er entwickelte dort eine neue Bedeutung, in der er Ende des 19. Jahrhunderts ins Französische rückentlehnt wurde. Unterschiede liegen in der Aussprache vor. NPR gibt [bek ] an, FRANQUS [bekœn], DHFQ nennt daneben (pop.) [bek n] und erklärt, dass teilweise die vorrevolutionäre französische Aussprache [bak ] empfohlen wurde. Das Englische im kanadischen Französisch 189 ten und 14 davon nur ein einziges Mal erscheinen. Doch verwenden prinzipiell alle Protagonistinnen Anglizismen, wenn auch mit Schwankungen in der Typenzahl zwischen 1 und 17. Die häufigen Anglizismen der vulgär sprechenden Rose Quimet und die wenigen Anglizismen der um guten Sprachgebrauch bemühten Lisette de Courval deuten auf eine Relation zwischen niedriger Ausdrucksweise und häufigem Anglizismusgebrauch hin. Selbstkorrekturen wie diejenige von Lisette de Courval ordnen Anglizismen einem niedrigeren Register innerhalb des joual zu. Umschreibungen wie die der tasses fancies als tasses de fantaisy durch Des- Neiges Verrettes dokumentieren einen bewusst oder unbewusst kreativen Umgang mit dem englischen Wortmaterial (2.2). Die semantische Zugehörigkeit zu Begriffsbereichen wie Essen, Trinken und Arbeit zeigt, wie sehr die Anglizismen im Alltag der Figuren verwurzelt sind. Teilweise schließen die Ausdrücke sachlich-kulturelle Bezeichnungslücken, oft geben sie nur konnotativen Unterschieden Ausdruck (2.3). Der Blick in die Quebecer Lexikographie bestätigt den hohen Gebrauchsgrad oder Verkehrswert der meisten Anglizismen. Die Wörter sind zweifelsohne nicht nur Teil der stigmatisierten Sprache einer Montrealeser Unterschicht. Vielmehr finden sie sich teilweise ohne abwertende Markierungsangabe selbst in Wörterbüchern, die den guten Sprachgebrauch dokumentieren (3.1). Viele von ihnen sind auch gut im hexagonalen Französisch belegt, häufig früher als in Quebec (3.2). Insgesamt zeigt die differenziertere Betrachtung der Anglizismen in Les belles-sœurs nur wenige Verwendungen, die besonders auffällig wären. Von einigen Ausnahmen abgesehen, haben die Entlehnungen aufgrund ihres Alters und ihrer Geläufigkeit ihren festen Platz im allgemeinen familiären Sprachgebrauch Quebecs und dies eben auch in der Sprache der Figuren Tremblays. Als ein oft genanntes Charakteristikum des joual können Anglizismen, zumindest ihrer literarischen Verwendung nach zu schließen, nicht angeführt werden. Die Sorge vor einer durch Anglizismen sprachlich belegbaren Kolonisierung löst sich damit in Wohlgefallen auf. Auffällig sind sie im Stück lediglich wegen ihrer Zugehörigkeit zum Alltagswortschatz und ihrer mit 136 Vorkommen hohen Frequenz. Mit dieser Fülle an alltäglichen Anglizismen spiegelt das Stück unzweifelhaft die Präsenz der übermächtigen anglo-amerikanischen Umgebung im Quebecer Französisch. Tremblay trieb mit seinem innovativen Stück so einen Sensibilisierungsprozess voran, der die sprachliche und kulturelle Emanzipation Quebecs entscheidend förderte. Denn er führte deutlich vor Augen, wie sehr das Quebecer Französisch im Netz der anglophonen Sprachverquickung zappelt. Ursula Reutner (Passau) 190 Literaturhinweise Allard, Jacques: „Dix remarques sur la vie de la langue française au Québec“, in: Europe 47/ 8-9, 1969, 21-23. 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Einleitung In der historischen Übersetzungsforschung des 16. Jh. sind ‚vertikale‘ Übersetzungen aus den klassischen Sprachen bislang gegenüber ‚horizontalen‘ innervolkssprachlichen Übersetzungen deutlich besser untersucht. So konstatiert Hausmann (1994, 89): „Die Geschichte der französischen Übersetzungen aus anderen Sprachen [d.h. aus anderen Volkssprachen] ist nur unzureichend erforscht, auch wenn man in einschlägigen Monographien und Studien zum Gegenstand eher Gegenteiliges liest.“ Im Weiteren zweifelt Hausmann die verbreitete Meinung an, dass die Übersetzungsgeschichte des 16. Jh. im Wesentlichen eine aus den alten Sprachen sei. Innerhalb der innervolkssprachlichen Übersetzung sind literarische Texte im engeren Sinne eher Gegenstand von Nachforschungen geworden als Gebrauchstexte und periphere Textsorten des traditionellen Literaturbegriffs wie Reiseberichte. Diese gelten als früheste Zeugnisse der ‚horizontalen‘ innervolkssprachlichen Übersetzung und stellen doch ein vernachlässigtes Kapitel der historischen Übersetzungsforschung dar, wie Henschel (2005) in ihrer Studie nachweist. Dies gilt auch noch für das 17. Jh. Die Frühphase der englisch - französischen Übersetzungsgeschichte ist allgemein bis etwa 1700 wenig erforscht, d.h. sowohl bezüglich Texten, die dem engeren sowie bezüglich solchen, die dem weiteren Literaturbegriff entsprechen. Überhaupt thematisiert wird diese Frühphase lediglich in frühen Werken des 20. Jh. 1 Erst für die Zeit ab 1700 existiert eine Bibliography of French translations of English works, 1700-1800 von Charles Alfred Emmanuel Rochedieu (Chicago 1948). Diese Ausgangslage überrascht, trägt die historische Übersetzungsforschung doch erheblich nicht nur zur Erhellung der Übersetzungsge- 1 Lee 1907, Ascoli 1927; Ascoli 1930; Offor 1928-47; Mackenzie 1939; Rochedieu 1948. Maria Hegner (Saarbrücken) 194 schichte, sondern auch der Sprachgeschichte bei. Im Einzelnen vermittelt sie zentrale Erkenntnisse zu Strategien und Verfahren der Übersetzung in der Frühphase der neuzeitlichen Übersetzungsgeschichte und dient dem Ermitteln einzeltextübergreifender Tendenzen in der (frz.) Übersetzungsgeschichte. Da Übersetzungen bis zu einem gewissen Grad immer auch vom einzelnen Übersetzer abhängig sind, lassen sich überdies Profile zu diesen erstellen, d.h. zu deren Übersetzungsstrategien, -verfahren und Problemlösungen. Für den Bereich der Lexikographie leistet die historische Übersetzungsforschung einen wichtigen Beitrag zur Ermittlung von Erstbelegen, da Lexeme häufig erstmals in Übersetzungen entlehnt und bestimmte Komposita oder Syntagmen 2 in Anlehnung an die Vorlage erstmals mehr oder weniger ad hoc gebildet werden. Spezieller ermöglicht die historische Übersetzungsforschung Erkenntnisse zum Stand der Fachterminologie, auch und gerade im Sprachvergleich. Schließlich ermöglicht sie im Fall der Übersetzungsrichtung E-F einen Beitrag zum Kenntnisstand der Ausgangssprache (AS) Englisch im 16. und 17. Jh. in Kontinentaleuropa. 3 2. Abriss zur E-F Übersetzungsgeschichte sowie Bemerkungen zum Text In diesem Beitrag soll ein Text aus dem letzten Abschnitt der Frühphase der E-F Übersetzungsgeschichte, Richard Blomes Amerique Angloise (1688), bezüglich lexikalischer Aspekte der Übersetzung exemplarisch untersucht werden. Dieser entstammt der Domäne geographischer Texte zu Nordamerika und zählt zur Textsorte des Reise-/ Länderberichts. Im späten 16. Jh. zählen Reiseberichte zu den frühesten Zeugnissen auch der E-F Übersetzungsgeschichte. Diese nimmt mit Pithous frz. Übersetzung La Navigation du capitaine Forbisher (1578) ihren Anfang. 4 Es folgen eine Übersetzung von Drakes Reise zu den Westindischen Inseln sowie von Harriots Virginia-Bericht. 5 Letzterer liefert die Textsortenvorlage zum 2 Cf. zur Abgrenzungsproblematik zwischen Komposita und Syntagmen Schpak-Dolt (2010, 135 f.). 3 Das Englische ist bis zur Schwelle zum 18. Jh. eine wenig bekannte Sprache mit geringem Prestige in Kontinentaleuropa, cf. bspw. Ascoli (1930, Bd. 2, 171 f.). 4 Settle, Dionyse: La Navigation du capitaine Forbisher Anglois és regions de West & Nordwest, en l’année 1577. Genève: A. Chuppin, 1578. Üb. Nicolas Pithou. Engl. Original: A true reporte of the laste voyage into the West and Northwest regions, London: Henrie Middleton, 1577. 5 Walter Bigges: Le Voyage de Messire François Drake Chevalier, aux Indes Occidentales l’an M.D.LXXXV. Leiden: Fr. de Raphelengien, 1588. Engl. Original: A summarie and true discourse of Sir Frances Drakes West Indian voyage, London: Roger Ward, 1589. Harriot, Neue Welt und Kulturkontakt 195 Aufbau von Blomes Amerique Angloise. Im 17. Jh. erfolgen im Bereich der Geographie von 1603 - 1660 (Restauration der Stuart-Könige nach der Cromwell-Herrschaft) nur zwei Übersetzungen der Weltumsegelung Drakes von Francis Pretty (1613, erneut 1627). 6 Von 1660 - 1688 erfährt die geographische Übersetzungsliteratur mit 13 Übersetzungen einen erneuten Aufschwung und zugleich ihre Blütezeit. Der Anteil der Amerikaliteratur daran beträgt vier Übersetzungen; hinzu kommt eine Reisesammlung von Thévenot (Relation de divers voyages curieux, 1663-72), deren Inhalte teilweise die Alte, teilweise die Neue Welt betreffen. Von 1688 - 1700 entstehen wiederum nur zwei neue Übersetzungen, was mit der zunehmenden geographischen Kenntnis der Welt zusammenhängen könnte. Richard Blomes Amerique Angloise (1688) stammt nun aus der letzten Phase der frühen Übersetzungsgeschichte E-F, die 1578 mit Pithous Navigation beginnt und 1688 zu einem vorläufigen Abschluss kommt, bevor sie im 18. Jh. explosionsartig expandiert. 7 Der Text stellt eine landeskundliche Beschreibung der britischen Überseegebiete in Nordamerika und der Karibik dar und umfasst folgende thematische Aspekte: Entdeckung, Klima, Pflanzen- und Tiervorkommen, Rohstoffvorkommen, Flüsse, Kolonien, Grafschaften, Städte, Lebensweise und Religion der Ureinwohner. Daraus ergeben sich die lexikalischen Aspekte geographische Bezeich- Thomas: Merveilleux et estrange rapport, toutesfois fidele, des commoditez qui se trouvent en Virginia. Frankfurt/ Main: Theodor de Bry, 1590. Üb. Charles de l’Escluse. Engl. Original: A Briefe and true report of the new found land of Virginia, London: R. Robinson, 1588.- In den 1580er Jahren erfolgen des Weiteren vier Übersetzungen aus dem Kontext des Thronanspruchs und der Hinrichtung Maria Stuarts, bezeichnenderweise alle im Jahr der Hinrichtung 1587, sowie eine Übersetzung zur schottischen Reformation von John Hay (1583) (cf. Chavy 1988). 6 Le voyage de l'illustre seigneur et chevalier François Drach, admiral d'Angleterre, alentour du monde. Paris: Jean Gesselin, 1613. Üb. François de Louvencourt.- Erneut 1627: Augmentée [sic] de la seconde partie. Engl. Original: The famous voyage of Francis Drake into the south sea, London: Richard Field, 1589. 7 Weitere mögliche Enddaten wären 1685 mit der Aufhebung des Edikts von Nantes und der folglichen Massenflucht der frz. Hugenotten in die protestantischen Nachbarländer, u.a. auch nach England, sowie als ‚runde‘ Jahreszahl 1700, mit der Rochedieu (1948) seine Bibliographie beginnen lässt. Mackenzie (1939, 1, 65) betont den Einschnitt des Jahres 1685 für die englisch-französischen Beziehungen. Die frz. Protestanten tragen nicht nur zur weiteren Verbreitung des Frz. in Europa bei, sondern bei ihrer Rückkehr auch zur Kenntnis des Englischen in Frankreich. 1688 werden die schottischen Stuart-Könige mit der Glorreichen Revolution vom Thron des geeinten Königreichs vertrieben, was den endgültigen Abschluss der ‚Auld Alliance‘ zwischen Frankreich und dem schottischen Königshaus markiert. Maria Hegner (Saarbrücken) 196 nungen, Toponyme, Anthroponyme, Ethnika, Administrativa, Fauna und Flora bezüglich Wortschatzbereichen sowie Indigenismen und Anglizismen bezüglich des Vorkommens von Fremdbzw. Lehnwörtern. Für die nachfolgende Übersetzungsanalyse lexikalischer Aspekte wurden die Kapitel zu den Neuenglandstaaten Virginia (A Description of Virginia/ Description de la Virginie), Maryland (A Description of Mary- Land/ Description de Marilland), Neuengland (A Description of New- England/ Description de la Nouvelle Angleterre), New York (Description of New-York/ Description de la Nouvelle York) und Neufundland (A Description of New-found-land/ Description de la Nouvelle Foundland, ou Terre Neuve) ausgewählt, da sich englisch französischer Kulturkontakt vornehmlich in diesen abgespielt haben dürfte. Die Kapitel zu Virginia und Maryland stellen zudem spätere Paralleltexte zu Harriots Virginia-Bericht (1588) dar; möglicherweise dienten Originaltext (1588) und französische Übersetzung (1590) auch als Vorlage für Blome bzw. den anonymen Übersetzer. 3. Möglichkeiten der Übersetzung 3.1. Toponyme Zunächst einmal könnte man annehmen, dass grundsätzlich Übersetzbares auch übersetzt wird. Die geläufigsten Möglichkeiten des Transfers bestehen dabei in der Lehnübersetzung, der Teilübersetzung (z.B. unter Beibehalten eines Eigennamens oder Zitatworts) sowie in der (integralen) Übernahme. Bei einer Übernahme bestehen wiederum die Möglichkeiten einer integralen Entlehnung als Zitatwort ohne graphisch-phonologischmorphologische Anpassung an die Zielsprache (ZS), ggf. mit Glossierung oder sonstiger sprachlicher Erklärung, und einer Entlehnung unter graphisch-phonologisch-morphologischer Integration in die Zielsprache. 8 Im Bereich der Toponyme kann so etwa engl. St. Georges Fort (S. 237) durch frz. Le Fort S. George (S. 303; Lehnübersetzung mit frz. Äquivalent des Eigennamens) wiedergegeben werden, engl. South-sea (S. 182) durch frz. la Mer du Sud (S. 232; bereits gefestigtes Äquivalent; ursprüngl. Lehnübersetzung < sp. mar del sur 9 ). Nicht oder schwer übersetzbare Eigennamen (engl. Whitson-Bay, S. 183, frz. la Baye de Whitson, S. 232) werden dabei in 8 Der Begriff Entlehnung wird hier unter Vorbehalt verwendet, weil viele Termini nur als Zitatwörter ‚entliehen‘ werden, aber nicht dauerhaft in die Sprache eingehen. 9 In Settles A true reporte und in Pithous frz. Übersetzung lauten die Formen noch engl. Sea of Sur (S. B4r) bzw. frz. la mer de Sur (S. B7r). Neue Welt und Kulturkontakt 197 der Regel ebenso beibehalten wie Indigenismen (engl. Gulph or Bay Chesopeak ‚Chesapeake Bay‘, S. 191, frz. Golphe ou Baye Chesopeack, S. 243; Teilübersetzungen). 10 Dies ist jedoch nicht stets der Fall: So variieren Übersetzungslösungen zu ein und demselben Komplex durchaus in der Umsetzung. Diese Variationen sind bedingt durch - Schwankungen in der Benennung, - Nichtübersetzen, - Surtraduction (übermäßiges Übersetzen). Zur Illustration von Schwankungen in der Benennung und Nichtübersetzen seien die frz. Bezeichnungen New-York (Nichtübersetzen) neben (la) Nouvelle York (beide S. 257 ff.; Teilübersetzung) 11 und New Foundland (Nichtübersetzen) neben Nouvelle Foundland, ou Terre Neuve (Teilübersetzung mit glossierender Lehnübersetzung; beide S. 304) angeführt. Extreme Schwankungen existieren zur Benennung von Jamestown, Virginia: So steht frz. James Town, ou Jaques Ville (S. 234; integrale Übernahme mit glossierender Lehnübersetzung) neben frz. James Town (S. 235), James Ville (S. 244) und Ville James ou Ville Jaques, ou plûtôt James Cité (S. 244) zur englischen Correctio James-Town, or rather James-City (S. 191). Interessant ist dabei die Behandlung des Eigennamens bezüglich Nachstellung (frz.romanische Determinatum-Determinans-Abfolge) vs. Voranstellung (James Cité, James Ville; germanische Determinationsstruktur). 12 Nicht übersetzt werden zudem teilweise nur einmalig genannte Grafschaften und Städte wie frz. New Netherland (S. 257), frz. New-Plymouth (S. 303) oder frz. Cambridge, premiérement New-Town (S. 303), die ohne Weiteres zumindest in Teilen übersetzbar gewesen wären. Somit scheint das Nichtübersetzen dem Erzeugen von Lokalkolorit zu dienen. Bei längere Zeit oder aus der Alten Welt bekannten Toponymen wie frz. Gloustre, Lancastre, l’Isle d’Wight (S. 245) zu engl. Glocester, Lancaster, Isle of Wight (S. 192) greift der anonyme Übersetzer auf etablierte, integrierte frz. Äquivalente oder Lehnübersetzungen zurück. Bei neuen, tendenziell unbekann- 10 Eigennamen werden sowohl im engl. Ausgangstext (AT) als auch im frz. Zieltext (ZT) stets kursiv gesetzt; diese Kursivsetzung wird bei Zitaten in Anführungszeichen beibehalten, bei Kursivsetzung von Objektsprache jedoch nicht durch Rectesetzung markiert. 11 Eine Unterscheidung zwischen Stadt und Staat New York ist darin nicht ersichtlich. 12 Ähnlich: die Benennung des James River als frz. la Riviére James (S. 244; Lehnübersetzung ohne präpositionales Bindeglied; Entlehnung des engl. Vornamens James) neben frz. la Riviére de Jaques (S. 243; Lehnübersetzung mit präpositionalem Bindeglied de). Maria Hegner (Saarbrücken) 198 ten Toponymen scheint sich hingegen eine Tendenz zur integralen Übernahme abzuzeichnen; dann erfolgen auch Schwankungen in der Benennung. Ein gänzlich anderes Phänomen besteht in der übermäßigen Übersetzung von Toponymen, was zu Übersetzungsfehlern führt. Dies wird im Folgenden als surtraduction bezeichnet, auch wenn der Begriff im Allgemeinen für ein augmentatives (verbesserndes) textbearbeitendes Verfahren steht, die „Verstärkung von Charakteristika des Originals“ (Graeber 1987, 68; zit. nach Schreiber 1993, 264). 13 So wird engl. Road-Island (S. 220, d.h. Rhode Island) im frz. ZT als la Rade de l’Isle (S. 280) wiedergegeben, engl. Martin’s Vineyard (S. 233, d.h. Martha’s Vineyard) als S. Martin le Vigneron (S. 298) und engl. Saquahog-Meadows (S. 223) als frz. dans un Saquahog herbeux (S. 284). Ursache sind jeweils fälschliche Assoziationen zum Lexem im Bemühen um eine explikative Lehnübersetzung, nämlich frz. Rade zu engl. Road, frz. S. Martin le Vigneron ‚Sankt Martin, der Winzer‘ zu engl. Vineyard (eigentlich ‚Weinberg‘; Zusatz von Saint vermutlich kulturell (katholischer Glaube) bedingt). Bei frz. dans un Saquahog herbeux hingegen liegt eine fälschliche Auffassung von Saquahog als Nomen statt als Eigenname zu Grunde mit folglicher syntaktischer Restrukturierung. Diese 13 Schreiber (ib., Anm. 423) räumt allerdings ein, dass der Begriff nicht einheitlich verwendet wird und in der Stylistique comparée bspw. „eine bestimmte Art der zu ‚wörtlichen‘ Übersetzung bezeichnet. Eine noch nicht besetzte begriffliche Alternative könnte hypertraduction sein. His Majesties Isles L’Amérique Angloise Anmerkungen James-Town built (S. 184) Jacques, Ville bâtie (Titel, S. 234) syntaktische Restrukturierung im Frz. James-Town was built (S. 184) James Town, ou Jaques Ville fut bâtie (S. 234) Entlehnung + Lehnübersetzung James-Town, or rather James-City, commodiously seated on James- River [...]. Next to James-Town, may be reckoned that of Elizabeth (S. 191) comme Ville James ou Ville Jaques, ou plûtôt James Cité, qui est fort commodément située sur la Riviére James [...]. Aprés James Ville, l’on peut compter celle qu’Elizabeth plaça au fond (S. 244) Nachstellung des Eigennamens (roman. Determinatum- Determinans-Abfolge) vs. Voranstellung (James Cité, James Ville) Neue Welt und Kulturkontakt 199 Erscheinungen des übermäßigen Übersetzens, der surtraduction, sind im Zusammenhang mit einer generell stark explizierenden Übersetzungsweise, einem Bestreben um Exaktheit und Nuancierung im 16. und 17. Jh. zu sehen, die in diesem Fall paradoxerweise gerade zu Übersetzungsfehlern führen. 14 3.2. Indigenismen (ohne Toponyme) Indigenismen kommen vorrangig in den Bereichen indigene Kultur und Fauna vor. Im vorangehenden Abschnitt wurde thematisiert, dass indigene Eigennamen aufgrund ihrer prinzipiellen Nichtübersetzbarkeit weitgehend integral übernommen werden. Dies ist natürlich auch bei Nicht- Toponymen der Fall. Indigenismen werden vom Autor des englischen Originals immer wieder als Lokalkolorit in den laufenden Text eingestreut und von diesem durch ein englisches Äquivalent glossiert. Den Regelfall stellt dabei die Abfolge Zitatwort + Glosse dar (bspw. engl. „Massasoit, the chief Sachem or Commander“, S. 217, frz. „Massasoit, le principal Sachem ou Commandeur“, S. 270), doch liegen auch die umgekehrte Abfolge Glosse + Zitatwort (engl. „When their King or Sachen sits in Council“, S. 208, frz. „Quand leur Roi ou Sachen est assis au Conseil“, S. 265) und sogar die Abfolge Zitatwort + Zitatwort (Glossierung durch ein Zitatwort bzw. erneute Nennung eines bereits eingeführten synonymen Zitatworts, vgl. engl. „Passaconaway, the great Sagamore or Sachim of Merimack River“, S. 218, frz. „Passaconaway le grand Sagamore ou Sachim de la Rivière de Merimack“, S. 277) vor. Interessant ist dabei, dass die Indigenismen z.T. morphologisch in die englische Sprache integriert werden, meist durch Suffigierung, etwa bei Verben durch engl. -ed und -ing, vgl. they Pawawed, or Conjured (S. 226) und Pawawing, or Conjuring (S. 227). Weiterhin kommt es zu englisch-indigenen Hybridbildungen wie bei Sagamorships (S. 232) ‚kingdoms; dukedoms‘. Für den französischen Übersetzer ergibt sich daraus eine doppelte Fremdheit: die Indigenismen aus zweiter Hand einerseits sowie die englischen Entsprechungen andererseits. Wie geht der französische Übersetzer nun mit dieser Spezifik um? Naheliegend wäre, die Indigenismen integral zu übernehmen und die englische Entsprechung ins Französische zu überführen, und dies tut der 14 Diese Verfahrensweise wird bei der Übersetzung von Binomen besonders deutlich, cf. bspw. Smith, Pauline M.: „Le redoublement de termes et les emprunts linguistiques dans la traduction en France au XVIe siecle: Henri Estienne et Francois de Belleforest“, in: Revue de linguistique romane 47, 1983, 37-58. Maria Hegner (Saarbrücken) 200 Übersetzer auch. So lautet die Übersetzung zu engl. Pawawing, or Conjuring (S. 227) frz. Pawawiner ou faire leurs Conjurations (S. 289). Gelegentlich kommt es dabei zu graphischen Verunglimpfungen der englischen Schreibung des Indigenismus, etwa bei frz. Pavauw (p. 207) zu engl. Pawaw ‚Priester‘ (S. 264). Auch werden englische Suffixe nicht immer als solche erkannt. So wird das oben zitierte engl. they Pawawed, or Conjured (S. 226) als frz. ils conjuroient Pawawed (S. 288) übersetzt, also als Personenname aufgefasst. Ebenfalls integral übernommen wird die Hybridbildung engl. Kingdoms, or Sagamorships (S. 232) als frz. Royaumes ou Sagamorships (S. 268). Eine graphisch-phonologische Integration durch Akzentsetzung findet bei frz. Okée, ou le Diable (S. 237) zu engl. Okee, or the Devil (S. 187) statt. Zu sachem ‚Häuptling‘ existieren sowohl im englischen Ausgangstext (AT) als auch im frz. Zieltext (ZT) mehrere Schreibvarianten, die so in den frz. ZT übernommen werden, vgl. engl. Sachen (S. 208), Sachim (S. 218), frz. Sachen (S. 265), Sachim (S. 277). Diese graphischen Varianten sind für das Französische bspw. im TLFi nicht dokumentiert; im OED fehlt die Form engl. sachen. Indigenismus His Majesties Isles L’Amérique Angloise Anmerkungen Indigenismus Sagamore + engl. Suffix ship the three Kingdoms, or Sagemorships of the Mattachusets, being before very populous, having under them seven Dukedoms or petty Sagamorships (S. 232) les trois Royaumes ou Sagamorships des Mattachusets, étant au paravant fort peuplez, ayant sur eux sept Duchez, ou petits Sagamorships (S. 296) Glosse + Zitatwort; Hybridbildung indigenes Lexem + engl. Suffix; integrale Entlehnung inkl. des engl. Suffixes -ship im frz. ZT Indigenismus Sachem Massasoit, the chief Sachem or Commander (S. 217) Massasoit, le principal Sachem ou Commandeur (S. 270) Zitatwort + Glosse; Erstbeleg sachem 1784 (TLFi, s.v. sachem, subst. masc.) Passaconaway, the great Sa- Passaconaway le grand Sa- Glosse aus Zitatwort + Zitatwort Neue Welt und Kulturkontakt 201 3.3. Anglizismen und über das Englische vermittelte Indigenismen Anglizismen des englischen AT werden überwiegend aus den Domänen Fauna und Administrativa in den französischen ZT entlehnt. Im Bereich der Fauna werden diese entweder integral übernommen, integral übernommen und glossiert oder gehen als Lehnübersetzungen in den französischen ZT ein. Integral entlehnt werden dabei nicht nur genuin englische Lexeme wie frz. Humbird ‚colibri‘ (S. 300), auch lautmalerisch glossiert als engl. Colibry or Humming-Bird (S. 52), frz. Colibry ou Humming-bird (S. 62), 15 sondern auch über das Englische vermittelte Indigenismen wie frz. Rackoons ‚raton laveur‘ 16 (S. 300), Utchunquois ‚a wild-cat‘ (S. 241), Mooses ‚élans‘ (S. 300). Die integrale Übernahme ohne Glossierung insbesondere bei über das Englische vermittelten Indigenismen erklärt sich aus der Unkenntnis der entsprechenden Referenten und somit auch des Konzeptes. Bei frz. Swamp ‚marécage‘ (S. 280; öfters) aus dem Bereich der Flora hingegen ist von Unkenntnis des englischen Lexems an sich auszugehen. 17 Integral übernommen und (pseudo)glossiert werden hingegen 15 Der englische Erstbeleg ist im OED im Übrigen erst für 1714 [Colibus] bzw. 1740 angegeben; der frz. Erstbeleg im TLFi für 1640. 16 Weitere Schreibvarianten liegen in beiden Sprachen mit engl. Rosconnes (S. 189), frz. Rosconne (S. 241) und engl. Racoon (S. 204), frz. Racon (S. 260) mit leichten graphischmorphologischen Anpassungen an das Frz. vor. 17 Weitere integrale Entlehnungen englischer Lexeme in der Fauna liegen mit frz. Scales ‚Fischart‘ (S. 300), Wesels ‚belettes‘ (S. 241) und Grampus ‚Rundkopfdelphin‘ (S. 300) vor. Eine formale Nachahmung englischer Lexeme im Frz. findet sich bei frz. Vignons zu engl. Wigeons ‚a wild duck of the genus Mareca‘, ‚a West Indian duck‘ (OED, s.v. widgeon, wigeon, n.), frz. Vivres ‚alose‘, dt. ‚Maifisch‘ (S. 300) zu engl. Alewives (S. 235) und aus dem Bereich der Flora bei frz. Voisde (S. 242) zu engl. Woad (S. 190), obgleich der Germanismus guède ‚(Färber)Waid‘ bereits ca. 1165 im Franzöchim of Merimack River (S. 218) gamore ou Sachim de la Rivière de Merimack (S. 277) Indigenismus powwow, N. > to powwow, V. the Indians went to Pawawing, or Conjuring (S. 227) où les Indiens furent Pawawiner ou faire leurs Conjurations (S. 289) Zitatwort + Glosse Stützverbkonstruktion im Frz. faire + N. Maria Hegner (Saarbrücken) 202 bekannte oder vermeintlich semantisch herleitbare englische Lexeme, so etwa engl. the Mock-bird (S. 189) als frz. le Mock Bird, ou Oiseau moqueur (S. 241) mit Lehnübersetzung der engl. Bezeichnung statt Substitution durch das französische Äquivalent rossignol. Eine gänzlich fälschliche Assoziation mit folglicher Surtraduction unterläuft dem Übersetzer jenseits des Bereichs der Fauna bei der Glossierung von engl. Seasoning ‚Saisonkrankheit in den Kolonien‘ („that few die of the Countrey-Disease, called Seasoning“, S. 188) als frz. Seasoning, ou la Sauce (S. 239). 18 Zudem liegen zahlreiche Lehnübersetzungen englischer Komposita vor, die sich im Frz. an der Schnittstelle zwischen Komposita und Syntagmenbildung bewegen. 19 Darunter befinden sich sowohl in der kontextuellen Bedeutung nicht dokumentierte Syntagmen 20 sowie überhaupt als Formen in den großen historischen Wörterbüchern fehlende Syntagmen. Nachzuweisen sind diese oft lediglich über elektronische Volltextsammlungen wie bspw. Gallica oder Google Book Search (= GBS). Eine exakter Erstbeleg ist somit schwierig auszumachen, da in den einzelnen Volltextsammlungen bspw. nicht alle existierenden Texte digital verfügbar sind oder übersetzte Texte keine Berücksichtigung finden. Eine exemplarisch anhand von GBS durchgeführte Recherche ergibt, dass der früheste darüber nachzuweisende Beleg wie bei den nachfolgend angeführten Syntagmen häufig später ist als in der Amérique Angloise: engl. sheeps-heads, S. 189, frz. têtes de brebis, S. 241, ‚Fischart‘; GBS: frühester Beleg 1707 [la Tête de Brebis; les Têtes de Brebis, in: Beverley, Robert: Histoire de la Virginie, par un auteur natif & habitant du païs, Übersetzung aus dem Englischen, Amsterdam: T. Lombrail, 1707, S. 209; 210]; engl. rock-fish (S. 189), frz. poissons de rocher (S. 241); GBS: frühester Beleg 1741 [„IIs pêchent sur-tout de cette manière beaucoup de Poissons de Rocher (Klip-visschen)“, in: Kolb, Peter: Description sischen belegt ist. Diese Übernahmen stellen die lexikalische Kompetenz des Übersetzers in Frage. 18 Englischer Erstbeleg im OED in der Bedeutung ‚[h]ence, an attack, more or less severe, of ague or some kindred disease suffered by those who take up their abode for the first time in a tropical district‘ 1670 (OED, s.v. seasoning, n.). 19 Vgl. zur Abgrenzungsproblematik zwischen Komposita und Syntagmen Anm. 2. 20 So etwa frz. Oeil de Bœuf (S. 241) zu engl. Oxe-eyes (S. 189) in der Bedeutung ‚Vogelart‘; im TLFi angegeben sind lediglich die Bedeutungen ‚Pflanzenart‘ und ‚Rundfenster‘ (Architektur); im OED zusätzlich die Bedeutung ‚[a]ny of various edible marine fishes‘ (OED, s.v. ox-eye, n.). Neue Welt und Kulturkontakt 203 du Cap de Bonne-Espérance, Bd. 1, Amsterdam: J. Cauffe, 1741, S. 344]; engl. rattle-snake (S. 236), frz. la couleuvre sonnante (S. 300) ‚serpent à sonnettes‘; GBS: frz. frühester Beleg 1701 [„Et c’est ce bruit qui la fait appeller couleuvre sonnante“, in: Furetière, Antoine/ de Beauval, Henri Basnage/ Bayle, Pierre: Dictionnaire universel, Bd. 1, La Haye/ Rotterdam : Leers, 2 1701, s.v. couleuvre]. 21 Somit könnte es sich um erste Belege handeln. Auch bei Lehnübersetzungen aus dem Bereich der Fauna finden sich Schwankungen in der Benennung, so etwa bei engl. Musk-Rats (S. 189), frz. Rats Musquins (S. 241) vs. Rats musquez ‚Bisamratte‘ (S. 310). 22 Noch größere Unsicherheiten treten bei der Benennung der neuen Fauna mit alter Lexik auf, vgl. engl. „and near the Coasts, is great killing of Marses, or Sea-Oxen […], and may therefore more justly be called Sea-Lyons than Sea-Oxen or Horses.“ (S. 244), frz. „& proche de la Côte, une grande tuërie de Marsouïns ou Bœufs de Mer […], & on peut les appeller les Lions de la Mer, plûtôt que Bœufs ou Chevaux de Mer“ (S. 310 f.) für FM dugong ‚Seekuh‘ oder morse ‚Walross‘. 23 Ein (wenn auch nachvollziehbares) Kuriosum stellt schließlich die Wiedergabe von engl. „that are assured to find sufficient Freight of Cod and Poor John, one man catching an hundred in an hour“ (S. 245) ‚Seehecht; Stockfisch‘ (vgl. OED, s.v. Poor John, n.) als frz. „qui sont assurez d’y trouver leur charge suffisante de Moruë. Un homme appellé 21 Weitere interessante Lehnübersetzungen außerhalb der Fauna stellen der Euphemismus frz. eaux fortes ‚starke alkoholische Getränke‘ nach engl. Strong-waters (cf. engl. „a quart of Brandy, Rum or Strong-waters“, S. 205, frz. „une quarte de Brandevin, de Rum ou d’Eaux fortes“, S. 261) gegenüber FM eau-fort 1. ‚Scheidewasser‘ (Chem.), 2. ‚Ätzradierung‘ (Kunst) sowie frz. souliers à neige nach engl. Snow-Shoes (engl. „In the Winter […] they will fasten to their Feet Snow-Shoes, made like a large Racket for Tennis Play“, S. 234 f., frz. „[…] ils attachent à leurs pieds des souliers à neige, faits comme une raquette large pour joüer à la Paume“, S. 299). Letzteres ist über GBS erstmals 1749 zu ermitteln, ebenfalls in einer Übersetzung aus dem Englischen (Ellis, Henry: Voyage de la Baye de Hudson, Bd. 2, Paris: Ballard, 1749, S. 58 [„Une paire de souliers à neige achevoit l’habillement.“]). 22 Analog: engl. Musk-Cats (S. 244), frz. Chats musquez ‚civettes‘ (S. 310) unter Pluralbildung jeweils mit -s an Determinatum und Determinans. 23 Ein Hapax liegt überdies mit der Übersetzung von engl. „which is made of Periwinkle-shell“ (S. 205) als frz. „avec de la Monnoye faite de Coquilles de Pagarolles de Mer“ (S. 261) vor. Frz. pagarolle wird lediglich einmal bei Jean Le Clerc zitiert und im Stichwortverzeichnis als „monnoie des Indiens“ erläutert (Le Clerc, Jean: Bibliothèque universelle et historique de l’année 1687, Bd. 6, Amsterdam, 1687, S. 269; 586). Bei L’Escluse, dem Übersetzer von Harriots Virginia-Bericht, lautet die Übersetzung übrigens limassons de mer (S. 21). Maria Hegner (Saarbrücken) 204 Jean Poor, en pêcha cent en une heure: “ (S. 312) dar. Die synonyme englische Bezeichnung für den Stockfisch wird vom frz. Übersetzer als Eigenname gelesen und folglich syntaktisch rekategorisiert. 3.4. Kulturspezifik - das Beispiel Administrativa Die Problematik der Kulturspezifik soll am Beispiel englischer Administrativa verdeutlicht werden. Zunächst einmal finden sich im Französischen z.T. seit Langem vorhandene Lehnwörter wie frz. alderman (S. 258 f.) oder shérif (ebd.). Diese können somit direkt durch das entsprechende frz. Lehnwort substituiert werden. Das Bemühen um ein formales Äquivalent kann allerdings auch zu Bedeutungsdifferenzen führen, wenn es sich um falsche Freunde handelt. Dies geschieht etwa bei der Substitution von engl. Mayor (S. 203) durch frz. Major (S. 258 f.) in der Bedeutung ‚maire‘. Andere englische Administrativa gibt der Übersetzer wiederum durch ein zielsprachliches und zielkulturelles Äquivalent wieder, vgl. engl. Deputy-Governor (S. 237), frz. Lieutenant (S. 302) und engl. Assistants (ebd.), frz. Assesseurs (ebd.). Eine dritte Möglichkeit der Übersetzung stellen Lehnübersetzungen und Paraphrasen dar. Lehnübersetzungen werden bspw. zu engl. Justices of the Peace (S. 192) und engl. Quarter-Court (ebd.) angefertigt als frz. Justice à Paix (S. 244 f.; FM juges de paix) und Cour du Quartier (S. 245). Bei frz. Justice à Paix (FM Justice de paix ‚Friedensgericht‘) handelt es sich offenkundig um eine eilige, wörtliche Übersetzung, die zu einer Denotatdifferenz führt (‚Friedensrichter‘ vs. ‚Friedensgericht‘). 24 Bei frz. Cour du Quartier könnte es sich auch um eine innerfranzösische Bildung handeln; zumindest ist der früheste Beleg von Cour du Quartier bei GBS in einem nicht übersetzten Text 1680 zu finden. 25 Eine das Konzept erläuternde (binominale) Paraphrasenbildung liegt bspw. zu engl. Freeholders (S. 192) mit frz. Citoyens & Possesseurs libres ‚propriétaires fonciers‘ (S. 244 f.) vor. 24 Mackenzie (1939, 1, 82) gibt die Form Justicier de paix für das Jahr 1672 an. Über GBS lässt sich der früheste Beleg für frz. justice de paix für 1671 ebenfalls in einer Übersetzung aus dem Englischen finden (Chamberlayne, Edward: L'estat présent de l'Angleterre, Paris, 1671, 427). 25 „Lors mondit sieur le premier Président a recommandé à mondit sieur lè Garde des Sceaux le payement des gages deubs à ladite Cour du quartier de Ianvier, Février, & Mars derniers“, in: Du Chesne, François: Histoire des chancelliers de France et des gardes de sceaux de France, o.O: o.V., 1680, S. 624. Neue Welt und Kulturkontakt 205 Administrativum His Majesties Isles L’Amérique Angloise Anmerkungen engl. Burgesses, frz. Bourgeoisie; engl. Freeholders and the Burgesses chosen by the Freeholders (S. 192) & de Bourgeoisie choisie par les Citoyens & Possesseurs libres (S. 244 f.) frz. Bourgeoisie; frz. Paraphrase Citoyens & Possesseurs libres ‚propriétaires fonciers‘ engl. Burgesses, frz. Bourgeois As for the Electing of a Governor, Deputy- Governor, Assistants, Burgesses, and other Magistrates (every town having two Burgesses) (S. 237) & pour l’élection d’un Gouverneur, Lieutenant, Assesseurs, Bourgeois, autres Magistrats, chaque Ville ayant deux Bourgeois (S. 302) Adaptation von engl. Deputy- Governor zu frz. Lieutenant; frz. Assesseurs ‚Beisitzer‘; formal ähnlich zu engl. Assistants engl. Quarter- Court from which there may be Appeals to the Quarter- Court held at James-Town. (S. 192) dont on peut appeller à la Cour du Quartier, tenu à James Ville. (S. 245) Lehnübersetzung von engl. Quarter- Court vs. eigene Bildung (GBS: frühester Beleg 1680) engl. Justices of the Peace in each of which are Sheriffs, Justices of the Peace, and other Officers (S. 192) dont chacune a des Sherifs, Justice à Paix, & autres Officiers (S. 244 f.) engl. Justices of the Peace ‚Friedensrichter‘ (FM juges de paix) vs. frz. Justice à Paix ‚Friedensgericht‘ Maria Hegner (Saarbrücken) 206 4. Ergebnisse und Perspektiven 4.1. Bewertung der französischen Übersetzung Wie die Analyse der französischen Übersetzungen von englischen und indigenen Toponymen und Bezeichnungen der Fauna sowie englischer Administrativa gezeigt hat, unterlaufen dem Übersetzer einzelne Übersetzungsfehler auf allen sprachlichen Rängen. Eine wesentliche Ursache scheinen dabei ‚eilige‘ Übersetzungen als Fehlerquelle darzustellen. 26 Dennoch spielt auch die z.T. fehlende sprachliche Kompetenz des Übersetzers eine Rolle. Diese zeigt sich bspw. in fehlender lexikalischer und bikultureller Kompetenz (nicht nur bei ‚schwierigen‘ Lexemen wie engl. Cod and Poor John ‚Stockfisch‘, S. 245, frz. „Un homme appelé Jean Poor‘, S. 312; es sei bspw. an frz. swamp erinnert). Weiterhin entstehen Übersetzungsfehler durch falsche semantische Assoziationen, die hier als Surtraductions bezeichnet wurden (bspw. frz. la Rade de l’Isle zu engl. Rhode-Island). Fehlende syntaktische Kompetenz zeigt sich in häufiger vorkommenden syntaktischen Restrukturierungen des frz. ZT (bspw. frz. „nous couchâmes dans un Saquahog herbeux“ zu engl. „we lay in the Saquahog-Meadows”; frz. Jacques, Ville bâtie, S. 234, Titel, zu engl. James-Town built, S. 184, Randglosse). Im Bereich der Phraseologie sind wörtliche Übersetzungen zwar denotativ äquivalent, doch nichtssagend für den Leser der französischen Zielkultur (bspw. frz. „il lui dit qu’il falloit aller à Bilbao“, S. 293 f., zu engl. „that he should go to the Bilboes [d.h. Bilbao]“, S. 230; cf. OED, s.v. bilbo, n. 1 ; n. 2 ). Insgesamt kann die französische Übersetzung aber als eine eng am AT orientierte, z.T. sehr wörtliche, inhaltsgetreue Übersetzung im heutigen Sinne 27 gelten. 4.2. Weitere Tendenzen in der Frühphase der Übersetzung E-F (Geographie, 1578-1688) Die Übersetzungsmethode und -verfahren des anonymen Übersetzers des behandelten französischen ZT entsprechen in etwa denjenigen, die exemplarisch in weiteren französischen Übersetzungen englischer geographischer Texte des Zeitraums festgestellt wurden. Im lexikalischen Bereich findet die Verwendung formal ähnlicher Lexeme bzw. von 26 Übersetzungen mussten häufig unter großem Zeitdruck erstellt werden, da diese oftmals für Handels- und Seeleute bestimmt waren. Ein Umsatzplatz dafür war Amsterdam. 27 Vgl. zu den Kriterien einer Übersetzung gegenüber denen einer Bearbeitung Schreiber (1993). Neue Welt und Kulturkontakt 207 Cognats als Äquivalenten Anwendung, 28 was mit der Gefahr der denotativen Diskrepanz (partielle oder vollständige ‚falsche Freunde‘) einhergeht. Latinismen des engl. AT werden i.d.R. aufgelöst, insbesondere bei Toponymen und Fachbegriffen (hier bspw. frz. Orange, appellée presentement Albanie, S. 202, zu engl. Aurania, now called Albany, S. 202). Fremdsprachige Lexeme werden häufiger als Zitatwörter übernommen, entweder, weil diese wenig oder gar nicht bekannt sind oder um Lokalkolorit zu erzeugen. Dies gilt auch für Eigennamen, die desto eher integral übernommen werden, je unbekannter sie sind bzw. dann übernommen werden, wenn kein eigensprachliches Äquivalent zur Verfügung steht (während zu europäischen Vornamen auf Grund des gemeinsamen römischgriechischen kulturellen Erbes oft Äquivalente existieren, ist dies bei europäischen Patronymen schon seltener und bei indigenen Eigennamen gar nicht der Fall). Integrierte Lehnwörter existieren in der Regel nur zu längere Zeit, womöglich auch aus der alten Welt bekannten Bezeichnungen und Eigennamen (etwa frz. Gloustre, Lancastre). Im Zusammenhang mit der fehlenden Lexikalisierung der Lexik der Neuen Welt bzw. mit fehlenden Äquivalenten z.B. bei Toponymen treten immer wieder Schwankungen in der Benennung auf. Dass die Fachterminologie überdies noch eher gering ausgeprägt ist, zeigen die Bezeichnungen engl. South-sea (S. 182), frz. la Mer du Sud (S. 232) für den Pazifik sowie Schwankungen in der Benennung wie bei frz. la Mer Atlantique (S. 249) neben l’Océan Atlantique (S. 232) für den Atlantischen Ozean. Zudem scheint Lehnübersetzungen insgesamt zumindest im behandelten Text eine große Bedeutung zur Prägung neuer Termini zuzukommen, die dann später verkürzt werden können, bspw. durch das Auslassen der Präposition bei Syntagmen oder dadurch, dass bei Komposita das Determinans alleine für die Gesamtbedeutung steht. 4.3. Fazit und Konsequenzen für die Lexikographie Für die historisch-etymologische Lexikographie einer Einzelsprache ist deutlich geworden, wie wichtig es ist, auch Übersetzungen dafür zu berücksichtigen. Dies ist bislang noch nicht in ausreichendem Maß oder gründlich genug geschehen, betrachtet man nur die fehlenden Einträge, Erstbelege, formalen Varianten und Nebenbedeutungen, die in diesem kurzen Ausschnitt aus der Übersetzungsgeschichte deutlich geworden 28 Insbesondere in Harriots Virginia-Bericht. Maria Hegner (Saarbrücken) 208 sind. Zur Verdeutlichung seien nochmals Beispiele exemplarisch anhand des TLFi genannt: für vorzudatierende Erstbelege frz. sachem (TLFi: 1784), für fehlende Varianten die Formen frz. sachim, sachen zu sachem, für fehlende Nebenbedeutungen frz. carcerelle ou hochet / cercerelle ou hochet (S. 237; S. 268) zu FM sarcelle ‚Brachvogel‘, hier in der Bedeutung ‚Rassel‘ verwendet, für fehlende Einträge frz. vignon/ vigeon ‚a wild duck of the genus Mareca‘; ‚a West Indian duck‘, cf. OED, s.v. widgeon/ wigeon, n.). Dies soll natürlich nicht in Abrede stellen, dass eine Reihe von Erstbelegen dem heutigen Kenntnisstand entsprechend korrekt angegeben ist, etwa frz. pudding (S. 292) zu engl. Hasty-Pudding (S. 229). Fehlende Einträge kommen bei Lexemen nur vereinzelt vor und können teilweise wie bei frz. vignon/ vigeon über historische Wörterbücher zu Drittsprachen nachgewiesen werden; bei Komposita oder Syntagmen sind sie jedoch beinahe an der Tagesordnung. Folglich sind unter diesen viele fehlende Belege und Erstbelege zu vermuten. Als Hilfsinstrument zur Bestimmung des Erstbelegs bzw. zur Ermittlung möglicher früherer Belege können elektronische Volltextsammlungen herangezogen werden. Eine Reihe von Komposita und Syntagmen konnte bei dieser exemplarischen Analyse über GBS erst später nachgewiesen werden, womit sich der frühere, womöglich früheste Beleg in der Amérique Angloise findet. Die Vernachlässigung von Komposita und Syntagmen in der historisch-etymologischen Lexikographie ist ein großes Manko, das im dritten Jahrtausend nicht fortbestehen sollte. Literaturhinweise Primärliteratur Anon.: L’Amerique angloise, ou Description des isles et terres du roi d’Angleterre, dans l'Amerique. Avec de nouvelles cartes de chaque isle & terres. Traduit de l’anglois, Amsterdam: Abraham Wolfgang, 1688. Blome, Richard: The Present state of His Majesties isles and territories in America, viz. Jamaica, Barbadoes, S. Christophers, Mevis, Antego, S. Vincent, Dominica, New- Jersey, Pensilvania, Monserat, Anguilla, Bermudas, Carolina, Virginia, New- England, Tobago, New-found-land, Maryland, New-York. With new maps of every place, London: H. Clark, 1687. GBS = Google Book Search, http: / / books.google.com. Neue Welt und Kulturkontakt 209 Sekundärliteratur Ascoli, Georges: La Grande Bretagne devant l’opinion française. Le seizième siècle, Paris: Gamber, 1927. Ascoli, Georges: La Grande Bretagne devant l’opinion française. Au XVIIe siècle, 2 Bde., Paris: Gamber, 1930. Chavy, Paul: Traducteurs d’autrefois. Moyen Age et Renaissance. Dictionnaire des traducteurs et de la littérature traduite en ancien et moyen français (842-1600), Bd. 1: A- J, Bd. 2: K-Z, Paris: Champion-Slatkine, 1988. Hausmann, Frank-Rutger: „‚Italia in Gallia‘ - Französische literarische Übersetzungen aus dem Italienischen im Zeitalter der Renaissance“, in: Staccioli, Giuliano/ Osols-Wehden, Irma (Hgg.): Come l’uom s’etterna: Beiträge zur Literatur-, Sprach- und Kunstgeschichte Italiens und der Romania. Festschrift für Erich Loos, Berlin: Arno Spitz, 1994, 89-117. Henschel, Christine: Italienische und französische Reiseberichte des 16. Jahrhunderts und ihre Übersetzungen. Über ein vernachlässigtes Kapitel der europäischen Übersetzungsgeschichte, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2005. Lee, Sydney: „The Beginning of French Translation from the English“, 1907, London: Oxford University Press, http: / / library.oxfordjournals.org/ content/ TBS- 8/ 1/ 85.full.pdf [21.12.2011]. Mackenzie, Fraser: Les relations de l’Angleterre et de la France d’après le vocabulaire, Bd. 1: Les infiltrations de la langue et de l'esprit anglais: Anglicismes français, Bd. 2: Les infiltrations de la langue et de l'esprit français en Angleterre: Gallicismes anglais, Paris: Droz, 1939. OED = Simpson, John A. u.A. (Hgg.): The Oxford English Dictionary. Oxford: Clarendon Press, 2 1989. http: / / www.oed.com. Offor, Richard: A collection of books in the library of the University of Leeds printed before the beginning of the nineteenth century containing (a) translations from English into French; (b) books written in French on Great Britain and on British affairs. Leeds: Chorley and Pickersgill, 1928-47. Bd. 1 (1928), 292-298; Bd. 2 (1928), 109- 123, 361-376; Bd. 4 (1936), 55-76; Bd. 5 (1938-43), 277-293, 403-419; Bd. 6/ 1 (1944-47), 111-124, 196-215, 283-312. Rochedieu, Charles Alfred Emmanuel: Bibliography of French translations of English works, 1700-1800. 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Die Herkunft der Sklaven in der Karibik Die Kreolsprachen, die in der Forschung aus gutem Grund als solche bezeichnet werden, sind im Zeitalter der Europäischen Expansion nach Afrika, Asien und Amerika entstanden, in einer Zeit, die man mit Jacques Arends als eine ganz außergewöhnliche Phase der Menschheitsgeschichte bezeichnen kann, „une phase tout à fait extraordinaire de l’histoire de l’humanité“ (2002, 143). Zum ersten Mal, so fährt er fort, sind ganze Kontinente in einen kontinuierlichen und intensiven Kontakt miteinander getreten („pour la première fois de l’histoire les continents furent mis en contact continu et intensif entre eux“). Eine der Folgen dieses Kontakts, Arends spricht von einer „explosion de contact“, betrifft die Sprachen: Nie zuvor waren so viele Sprecher so vieler verschiedener Sprachen miteinander in Berührung gekommen. Der Ausdruck „Explosion“ ist sicherlich nicht übertrieben zur Charakterisierung der Kontakte zwischen Afrika und Amerika durch den atlantischen Sklavenhandel, von dessen Ausdehnung zwischen 1501 und 1900 wie auch von den Einzelheiten seiner Durchführung wir gerade durch rezente Forschungen ein immer klareres Bild gewinnen. David Eltis u.a. haben eine Datenbank erstellt, die zunächst auf CD-ROM, seit 2009 auch im Internet verfügbar ist (www.slavevoyages.org), und auf dieser Grundlage haben Eltis und Richardson 2010 den Atlas of the Transatlantic Slave Trade publiziert, in dem die Ergebnisse auf 189 eindrucksvollen Karten veranschaulicht werden. Die Datenbank beruht auf der Auswertung von fast 35.000 slave voyages, dies entspricht etwa 80 Prozent aller Sklaventransporte. 1 Nach den durch Schätzungen ergänzten Daten von Eltis u.a. sind insgesamt 12.570.000 afrikanische Sklaven auf die Schiffe verfrachtet 1 „In January 2008, the database underlying the Atlas contained details of 34,934 documented slave voyages. We think that these voyages constitute just over 80 percent of all the slave ventures that ever set out for Africa to obtain slaves from all locations around the Atlantic“ (Eltis/ Richardson 2010, xxv). Annegret Bollée (Bamberg) 214 worden; in Amerika angekommen sind 10.705.850 (Eltis/ Richardson 2010, 5 und 203), etwa 15 Prozent haben also die Reise nicht überlebt. Wieviele schon auf den oft langen und qualvollen Märschen der Gefangenen aus dem Landesinneren an die Küste, in den Gefängnissen der Häfen oder an Bord vor der Abreise umgekommen sind, wissen wir nicht. Im Jahre 1820 machten die afrikanischen Sklaven etwa 80 Prozent aller Einwanderer in der Neuen Welt aus. „The magnitude of the slave trade conveys at least a hint of the magnitude of human suffering“, schreibt David Brion im Vorwort zu dem Atlas; er sieht im Sklavenhandel eines der größten Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Geschichte (Eltis / Richardson 2010, xvii). Von den 12,5 Millionen verschifften Sklaven entfielen fast die Hälfte (5,8 Mio) auf die Transporte der Portugiesen, vor allem nach Brasilien; Frankreichs Anteil betrug 1,4 Millionen, die meisten Sklaven (774.000) gelangten nach Saint-Domingue, 290.000 nach Martinique und Guadeloupe. Auf den Karten 157 und 164 ist erkennbar, aus welchen Gegenden Afrikas die Sklaven kamen (Eltis/ Richardson 2010, 238 und 248). Allerdings ist hier eine wichtige Einschränkung zu machen: die Datenbank und der Atlas zeigen nur, von wo die Sklaven verschifft wurden, denn nur diese Informationen sind den ausgewerteten Schiffsdokumenten zu entnehmen. Es wurde aber schon angedeutet, dass viele Sklaven aus dem Hinterland an die Küste verbracht wurden, meist aus Gebieten, die weniger als 300 km von der Küste entfernt lagen, nur in seltenen Fällen von sehr weit her (Fuchs 1996, 45). Was die Datenbank und der Atlas auch nicht dokumentieren, obwohl es eine sehr große Rolle gespielt hat, ist der Sklavenhandel innerhalb der Kolonien. Einige von den Schiffen angesteuerte Sklavenmärkte waren in erster Linie Umschlagplätze für den Weiterverkauf in andere Kolonien, so z.B. Curaçao. Französisch Guayana bezog viele seiner Sklaven indirekt durch den niederländischen Handel mit Suriname. Dieser Einschränkungen muss man sich bewusst sein, dennoch sind aber die Informationen des Atlas auch für die sprachwissenschaftliche Frage nach dem afrikanischen Anteil an der Entstehung der Kreolsprachen und ihres Wortschatzes eine ganz wichtige Quelle. Sie bringen gegenüber dem bisherigen Forschungsstand einen bedeutenden Erkenntnisgewinn: Frühere demographische Angaben zu Zahl und Herkunft der Sklaven bezogen sich jeweils auf die Gesamtheit der französischen Kolonien, Informationen zu einzelnen Kolonien waren nicht möglich. Das hat sich mit der Datenbasis von Eltis u.a. nun geändert; wir wissen jetzt ziemlich genau, wieviele Sklaven aus welchen Regionen Afrikas nach Martinique, Guadeloupe Afrikanismen in den Frankokreolsprachen der Karibik 215 oder, wie in der folgenden Tabelle aufgeschlüsselt, nach Saint-Domingue (Haiti) verschifft wurden: 2 Senegambia Sierra Leone Windward Coast Gold Coast Bight of Benin Bight of Biafra West Central Africa Southern Africa Slaves in Sample 1701- 1725 19.2 0.2 0.4 59.3 1.8 17.8 1.3 32,060 1726- 1750 13.2 0.4 3.0 13.0 37.8 0.6 31.9 100,835 1751- 1775 4.4 3.7 0.9 1.5 25.3 3.8 60.2 0.1 201,927 1776- 1800 4.4 4.7 0.8 3.7 19.1 8.0 51.5 7.7 271,977 1701- 1800 6.8 3.4 1.2 4.3 26.3 5.1 49.3 3.6 607.768 Der Tabelle kann man entnehmen - und dies ist für das Folgende sehr wichtig - dass zwischen 1700 und 1750 (insbesondere 1700-25) die aus dem Gebiet um die Bucht von Benin verschifften Sklaven das größte Kontingent unter den nach Saint-Domingue verbrachten Afrikanern darstellten. Welche Schlüsse kann man daraus ziehen? Jacques Arends meint, diese demographischen Daten stützten die Relexifizierungshypothese von Claire Lefebvre; er selbst drückt sich allerdings etwas vorsichtiger aus: „… that speakers of Gbe (a major Bight of Benin language cluster) exerted an exceptionally strong influence in the formation of Haitian Creole“ (2008, 314). Dies berührt die zentrale Frage der Kreolistik und die immer noch lebhaft geführte Diskussion über die Rolle der afrikanischen Sprachen für die Kreolgenese, auf die ich hier nicht eingehen kann und will. In ihrem 2000 erschienenen Buch African Languages. An Introduction meinten die Herausgeber Bernd Heine und Derek Nurse, auch etwas über „African languages in the Americas“ sagen zu müssen, und baten John McWhorter, einen kurzen Überblick zu verfassen. Dieser, in der Tat sehr kurz geraten, beginnt mit den Worten: 2 Die Tabelle ist aus Eltis 2001, 46, entnommen, Angaben in Prozent; in der Kolumne „Slaves in Sample“ wird die Gesamtzahl der im 18. Jh. in diese Kolonie verschifften Sklaven genannt. Die Summe müsste eigentlich eine Gesamtzahl von 606,799 ergeben - wo der Fehler liegt, ist nicht feststellbar. Annegret Bollée (Bamberg) 216 The principal fate of African languages in the New World has been to serve as primary sources for the creoles which slaves developed in plantation colonies. Often speaking closely related languages while having minimal contact with whites, early slaves’ transfer-laden approximations of a given European language conventionalised into new languages, African-derived as much as European (Heine/ Nurse 2000, 9). Afrikanische Sprachen wären demnach „wichtige Quellen“ für die Kreolsprachen, und die afrikanische Abstammung wäre nicht minder wichtig als die europäische. Dass es hinsichtlich des afrikanischen Einflusses Unterschiede gibt - wobei das Saramakkanische und das kubanische Spanisch als Pole eines Kontinuums gesehen werden könnten - verkennt McWhorter nicht, aber die zitierte Sicht gilt jedenfalls für die Kreolsprachen Haitis und der französischen Antillen. Wenn wir hier, wie gesagt, die Kreolgenese als solche ausklammern und nur den Wortschatz in den Blick nehmen, dann kann schon beim gegenwärtigen unbefriedigenden Stand der Forschung gesagt werden, afrikanische Sprachen seien keine „primary sources“ gewesen und das Lexikon sei keineswegs „Africanderived as much as European“. Um eine - sehr vorläufige - Zahl zu nennen: Philip Baker hat im Kreolischen von Haiti und den Antillen insgesamt 308 Afrikanismen identifiziert, von denen etwa ein Drittel dem Wortschatz des Vodou zuzurechnen ist. 3 Schon jetzt haben wir bei der Vorbereitung des Dictionnaire étymologique des créoles français d’Amérique weitere Wörter afrikanischen Etyma zuordnen können, doch scheint es sehr fraglich, ob die genannte Zahl wesentlich erhöht oder gar letztlich verdoppelt werden kann. In der zitierten Tabelle wird die Herkunft der Afrikaner nach acht Küstenregionen aufgeschlüsselt, zu denen dann auch noch das jeweilige Hinterland zu rechnen ist. Dies gibt dem Linguisten Anhaltspunkte dafür, welche afrikanischen Sprachen mit einiger Wahrscheinlichkeit als Gebersprachen in Frage kommen. Für Saint-Domingue bzw. Haiti ist das Gebiet Senegambia mit dem Hafen Gorée in der Frühzeit der Kolonien von Bedeutung (auch in den Jahren vor 1700), 4 später nicht mehr; wichtiger noch 3 Siehe Bakers Beiträge zum Sammelband von Bartens/ Baker (Hgg.), in Vorbereitung. 4 Vgl. Geggus 2001, 123: „West Central Africa does not appear at all in the seventeenth-century record, when French captains purchased most of their slaves in Senegambia and the Bight of Benin. In the first quarter of the eighteenth century, West Central Africa became the second most important source of captives for the French, although it remained a long way behind the Bight of Benin. Only during the boom years of the last half of the eighteenth century was the Loango coast the French trader’s leading supplier.“ Afrikanismen in den Frankokreolsprachen der Karibik 217 ist aber der Golf von Benin mit dem Hafen Ouidah, aus dem zwischen 1701 und 1725 fast 60% der Sklaven in Saint-Domingue stammten. Diese Region wird dann als Hauptquelle abgelöst von Westzentralafrika, dessen Anteil von 17,8 % über 31,9 % nach der Mitte des 18. Jahrhunderts auf 60,2 % ansteigt, um danach auf immerhin noch die Hälfte der ankommenden Afrikaner zurückzugehen. Die Tabelle zeigt auch, welche Regionen bzw. welche Sprachen wohl zu vernachlässigen sind. Bekanntlich ist es nun leider nicht so, dass alle in Frage kommenden Sprachen in Afrika ausreichend beschrieben bzw. ihr Wortschatz durch einigermaßen vollständige Wörterbücher zugänglich wäre. Da für Romanisten Feldforschung in Afrika in der Regel nicht in Frage kommt, muss man sich mit dem bescheiden, was vorhanden ist. Im Rahmen dieses Beitrags werde ich vor allem Wörter aus dem Fon und dem Ewe vorstellen (zur Familie der Kwa-Sprachen gehörig), für deren Etymologien wir u.a. auf die Wörterbücher von Segurola (1963), Segurola/ Rassinoux (2000) und Westermann (1928) zurückgreifen können, ferner Wörter aus den in Westzentralafrika gesprochenen Bantusprachen, die vor allem durch Wörterbücher des Kikongo erschlossen sind (Laman 1936, Swartenbroeckx 1973). 2. Semantische Felder Die im Folgenden präsentierten Beispiele sind dem in Arbeit befindlichen Dictionnaire étymologique des créoles français d’Amérique (DECA) entnommen, das als Fortsetzung des Dictionnaire étymologique des créoles français de l’Océan Indien (DECOI) konzipiert ist. 5 Die Beispiele sollen wichtige semantische Bereiche illustrieren, denen die lexikalischen Afrikanismen zuzuordnen sind. 2.1. Trommeln, Musikinstrumente, Tänze Auch unter den Bedingungen der Sklaverei haben die Afrikaner viele Elemente ihrer Kultur bewahren und z.T. auch weiterentwickeln können. Trommeln oder andere Musikinstrumente werden sie kaum auf die Schiffe haben mitnehmen können (immerhin wurden sie aus gesundheitlichen Gründen bei schönem Wetter auf Deck gebracht und mussten sich dort bewegen und tanzen, auch wenn ihnen nicht danach zumute war). In der 5 Siehe www.uni-bamberg.de/ romling1/ deca. Annegret Bollée (Bamberg) 218 Neuen Welt wurden die Trommeln und Instrumente dann aus den dort verfügbaren Materialien neu hergestellt. 6 banboula n. ‘tambour’ Ant. « Le petit [tambour] qu’on nomme le baboula » (Labat 1722-4, 155) ; Mart. « On appelle chantrelle une femme qui fait métier de chanter dans les bamboulas où, comme on sait, l’on danse aux chansons accompagnées du tamtam » (Marbot 1846, 128) ; lou. banboula ‘tambour en bambou ; banboula (danse africaine) ; fête, soirée’ (DLC) ; haï. bamboula ‘tambour’ 1757 (MCHM 2008, 88) ; ‘petit tonneau défoncé des deux bouts, auxquels les Nègres substituent des peaux d’animaux, pour leur servir de tambour, qu’ils battent avec les mains, sans baguettes, en se mettant à cheval dessus’ (SDu 296) ; id. (plutôt usité sous la forme abrégée boula) ‘désigne certaines mélopées accompagnant les convites. Ce mot désignait un tambourin ou encore une danse nègre’ (Faine 315) ; banboula ‘drum ; dance ; feast, revelry’ (HCED) ; ant. id. ‘petit tambour se battant avec précipitation ; réunion nocturne des nègres d’une même habitation, dansant la bamboula ; par extension, fête nocturne bruyante’ (RGe) ; M-G id. ‘amusement avec danses’ (MBa) ; mart. id. ‘autrefois tambour fait sur un nœud de bambou, le mot est devenu en français synonyme de danse nègre’ (EJo 182) ; tri. bamboula ‘a kind of dance’ (JTh 19) ; guy. banboula ‘une sorte de jeu de loterie où on mise de l’argent’ (LTch). D’après Arveiller (79-80) et TLF le mot est d’origine africaine, attesté vers 1688 sous la forme bombalon ‘sorte de tambour en usage chez les Noirs d’Afrique’ chez La Courbe [qui parle des habitants de l’île Sorcière, située devant l’île de Bissao, Guinée] ; d’après König il provient de la langue des Sarar et Bolu (Guinée-Bissau) (1939, 25). - La Courbe est la source de Labat, v. la citation ci-dessus qui prouve que le terme était en usage aux Antilles d’où il est passé en fr. métropolitain. - DLC cite Tinker 1935 qui rapproche le terme de bambou : « Bamboula is a drum so named because in the West Indies it was made from a huge joint of bamboo over the end of which was stretched a goat’s skin. » Peut-être ce rapprochement paronymique est-il la cause du changement phonétique de bombalon en bamboula. Einige Bezeichnungen sind schon in französischen Berichten und Beschreibungen aus der Kolonialzeit belegt, banboula bei dem Dominikaner Père Jean-Baptiste Labat (1722), dem wir die umfangreichste und detaillierteste Darstellung der frühen Kolonialzeit verdanken, und bei François- Achille Marbot, der 1846 Fabeln von La Fontaine ins Kreolische übersetzt hat; der zitierte Beleg ist eine Fußnote zu dem Wort chantrelle, „une femme qui fait métier de chanter dans les bamboulas…“. Die ursprüngliche 6 Die in den Wörterbuchartikeln benutzten Zeichen und Abkürzungen werden am Ende des Beitrags aufgeschlüsselt. Zum Bereich „Musikinstrumente“ s. auch den Artikel banza ‚instument de musique’ in Bollée 2012, 34. Afrikanismen in den Frankokreolsprachen der Karibik 219 Bedeutung ‚Trommel’ ist noch erhalten in Louisiana (‚tambour en bambou’), Haiti und auf den Antillen, vgl. den Beleg ‚petit tonneau défoncé des deux bouts, auxquels les Nègres substituent des peaux d’animaux, pour leur servir de tambour…’, der aus dem Manuel des habitans de Saint-Domingue von Ducoeurjoly aus dem Jahre 1802 stammt. Daneben hat das Wort die Bedeutungen ‚Tanz’ und ‚Fest’ angenommen. Die Etymologie ist noch genauer zu klären - die im FEW zu findende Angabe „Bantu“ dürfte jedenfalls falsch sein. Das Wort erscheint 1688 bei La Courbe in der Form bombalon und stammt nach König (1939, 25) aus der Sprache der Sarar und Bolu, die wohl im heutigen Guinea-Bissau gesprochen wurde. Es gibt eine volksetymologische Herleitung des Wortes von bambou ‚Bambus’, und in Louisiana scheinen die Trommeln auch aus Bambus gemacht zu werden, was vielleicht die Umformung von bombalon zu bamboula erklärt. djouba n. ‘esp. de danse’ Mart. « Les principales danses sont le bèlè, le caleinda, le guiouba, le cosaque et la biguine » (Marbot 1846, 128) ; haï. djouba ‘nom de danse’ (C-SSur), djouba, djoumba ‘djouba rhythm ; special voodoo drum used for Azaka and more generally at Carnival time ; special dance for Azaka’ (HCED) ; djounba ‘danse’ (ALH 1250/ 2). Kikongo nzuba ‘danse de chef, à laquelle les femmes prennent part’ (Laman ; C-SSur ; Baker 1993, 142). bigin n. ‘danse créole’ Mart. « Les principales danses sont le bèlè, le caleinda, le guiouba, le cosaque et la biguine » Marbot 1846, 128) ; gua. bigin ‘biguine (danse créole)’ (LMPT) ; mart. bidjin ‘id. (style de musique créole)’ (RCo) ; StLuc. bidjim [sic] ‘creole danse’ (JMo) ; guy. bigin ‘id.’ (GBa) ; gua. bigine ‘danser la biguine’ (LMPT) ; mart. bidjine ‘id.’ (RCo) ; guy. bigine ‘id.’ (GBa). Peut-être d’origine bantoue, Josephau 89 (qui écarte le rapport avec le verbe angl. begin) : « Je crois […] qu’il s’agit d’une forme ayant pour base le radical kinou / kina qui, dans la plupart des langues bantoues signifie ‘danse / danser’. » Bantou -kin- ‘danser’ ; kikongo kina ‘danser, sauter, gesticuler comme à la danse’ ; mikinya ‘joie, fête’ (Laman). Die Bezeichnungen djouba und bigin für Tänze afrikanischen Ursprungs sind ebenfalls in der Adaptation der La Fontaine-Fabeln von Marbot bezeugt; der Beleg ist die Fortsetzung der unter banboula zitierten Fußnote. Marbot nennt hier bèlè und caleinda, 7 beide stammen aus Bantu- 7 Zu den Artikeln im DECA s. Bollée 2012, 36-37. Annegret Bollée (Bamberg) 220 sprachen (Kikongo und Kimbundu), bèlè wurde fälschlicherweise in volksetymologischer Umdeutung aus franz. bel air hergeleitet. Die Etymologie von djouba, das in Haiti auch eine ‚Trommel’ bezeichnet, die zu Ehren des Vodou Azaka, des Gottes der Landwirtschaft, und im Karneval zum Einsatz kommt, kann als gesichert gelten; das Wort kommt von kikongo nzuba ‚Häuptlingstanz, an dem auch die Frauen teilnehmen’. Was bigin, fr. biguine betrifft, so ist die Herkunft weniger klar. Serge Josephau (1977), der einen bahnbrechenden Beitrag zur Erforschung der Afrikanismen geleistet hat, schlägt als Ausgangspunkt das in mehreren Bantusprachen vorkommende Verb kinu, kina ‚tanzen’ vor, was ja semantisch passen würde, doch bleibt die Entwicklung der kreolischen Form noch zu erklären. Die Herleitung von engl. to begin ist sicher falsch, und die französischen Wörterbücher ziehen sich mit der Angabe „mot des Antilles“ aus der Affaire. 2.2. Personenbezeichnungen Das erste Beispiel für die wenigen Personenbezeichnungen afrikanischen Ursprungs, beke, bekye, betje, ist auch vielen Franzosen als Bezeichnung der Weißen auf den Antillen bekannt: beke n. ‘Blanc’ haï. bequié ‘Blanc ? ’ (env. 1730, MCHM 2008, 63) ; gua. beke, bekye ‘Blanc créole, Blanc originaire des Antilles’ (LMPT ; T/ B) ; M-G id. ‘id. ; surnom donné volontiers à un garçon à la peau claire’ (MBa) ; mart. « Nèg, béké, toutt doué souffri » ‘Esclaves, maîtres, tous doivent souffrir’ (Marbot 1846, ii et 127), betje ‘Blanc martiniquais, Blanc créole, descendant des premiers colons français de la Martinique arrivés dans l’île au XVII e siècle’ (RCo) ; StLuc. id., beke ‘white person’ (JMo ; KD) ; mart. betje-fwans (arch.) ‘Français(e)’ (RCo) ; gua. beke-gouyav ‘Blanc-pays pauvre’ (LMPT) ; mart. betje-griyav (< goyave) ‘Blanc créole pauvre, sans le sou’ ; betje kreyol / peyi ‘Blanc martiniquais’ (RCo) ; gwo beke ‘Blanc-pays riche’ (LMPT). Josephau 88 : igbo béké ‘Blanc, Européen’. - Baker 1993, 147. E/ CTT beke (arc) ‘a white man ; sometimes any light-skinned person of higher economic status’ (< Igbo beké ‘white man ; European’) (Winer). Zum ersten Mal belegt ist das Wort in einem der ersten kreolischen Texte aus der Karibik, der Passion de Notre Seigneur selon St Jean en Langage Nègre von ca. 1730 (in dem, wenn ich recht sehe, sonst kein weiterer Afrikanismus vorkommt). Das Fragezeichen der Bedeutungsangabe wurde deshalb gesetzt, weil der erste Herausgeber und Übersetzer des Textes, Guy Hazaël-Massieux, es unübersetzt gelassen hat. Es scheint aber ziemlich Afrikanismen in den Frankokreolsprachen der Karibik 221 sicher, dass es von Anfang an die Bedeutung ‚Weißer, Europäer’ gehabt hat, die ja auch der Bedeutung des Etymons entspricht. Das Wort stammt aus dem Igbo, gesprochen in der Region um die Bucht von Biafra, im heutigen Nigeria. da n. ‘bonne d’enfant’ ant. da ‘dénomination ancienne, de la vieille bonne d’enfant ou de la nourrice (l’enfant l’appelle mabo)’ ; dada ‘porteuse de bébé, bonne d’enfant’ (RGe) ; gua. da ‘bonne d’enfant’ (ABa 93) ; ‘grand-mère’ (LMPT) ; M-G id., dada ‘bonne d’enfants faisant pratiquement partie de la famille, c’était seulement dans les familles aisées’ (MBa) ; mart. da ‘bonne d’enfant’ (EJo 125, 206) ; ‘nourrice/ nounou noire des familles blanches créoles ou des familles mulâtres aisées ; gouvernante’ (RCo) ; StLuc. id. ‘the woman who carries the baby at a christening ceremony ; nurse’ (JMo ; KD) ; guy. id. ‘nourrice, bonne d’enfant’ (GBa). Ewe d ‘elder sister, mother’ ; dadá ‘mother’ (Westermann). - Josephau 84 ; Baker 1993, 147. Das Wort da, gebräuchlich auf den Antillen und in Guayana, kommt aus dem Ewe: d ‚ältere Schwester, Mutter’, dadá ‚Mutter’ sind die Etyma. Im kolonialen Kontext hat es andere Bedeutungen angenommen: es bezeichnet nicht die Mutter, sondern weibliche Personen, die sich um Säuglinge und Kleinkinder kümmern: zunächst wohl die Amme, dann auch Kindermädchen, Großmutter, usw. Bekanntlich haben in den Haushalten der Plantagenbesitzer schwarze Ammen und Kindermädchen den Nachwuchs betreut. Wie man sieht, gehören die Afrikanismen nicht dem unmarkierten Grundwortschatz an, sondern benennen Besonderheiten der Kolonialgesellschaft oder, wie die folgenden Beispiele zeigen, aus Afrika überkommene Elemente der kreolischen Kultur. Dazu gehört der u.a. von Alfred Métraux beschriebene Zwillingskult, der im Kontext des Vodou eine Rolle spielt: Les jumeaux (marassa) vivants et morts sont investis d’un pouvoir surnaturel qui fait d’eux des êtres d’exception. Dans le panthéon vaudou, une place privilégiée leur est réservée à côté des grands « mystères ». D’aucuns prétendent même que les marassa sont plus puissants que les loa. Ils sont invoqués et salués au début d’une cérémonie, tout de suite après Legba; en certaines régions, à Léogane notamment, ils ont la préséance sur cette divinité (1958/ 2007, 129). Nach ihrem Tode werden Zwillinge zu lwa, Geistern oder Gottheiten, die von ihren Nachkommen zu verehren sind; jede Familie, die Zwillinge hat oder zu ihren Vorfahren zählt, muss diesen Opfergaben darbringen, geschieht dies nicht, kann es böse Folge haben. Annegret Bollée (Bamberg) 222 marasa n. ‘jumeau(x)’ haï. marasa ‘jumeau ; loa des jumeaux identifié aux Saints Côme et Damien’ (C-SSur) ; ‘twins ; voodoo deity associated with children, especially twins ; divine twins [voodoo]’ (HCED) ; ‘jumeau’ (ALH 1127). D’origine incertaine, peut-être du kikongo masava ‘jumeau, nom propre’ (Laman). dosa n. ‘fille née après des jumeaux’ haï. dossa ‘fille née après des jumeaux’ (C-SSur), dosa ‘id.’ (HCED). Fon tossa ‘nom de jumelle’ (C-SSur). dosou n. garçon né après des jumeaux’ haï. dossou ‘garçon né après des jumeaux’ (C-SSur), dosou ‘id.’ (HCED ; ALH 1128). Fon dosú ‘"trou fermer" = nom donné à tout frère puîné de jumeaux. Si c’est une fille, on l’appellera Dosí’ (Segurola/ Rassinoux). Einige Personenbezeichnungen und auf Personen bezogene Adjektive haben negative Bedeutungen wie ‚dumm’, ‚unbeholfen’, ‚verkrüppelt’ - Afrikanismen zum Ausdruck lobens- oder bewundernswerter Eigenschaften sind mir in den karibischen Kreols noch nicht begegnet (während in den Kreolsprachen im indischen Ozean einige Adjektive mit der Bedeutung ‚stark’ afrikanischer Herkunft sind). Ein Beispiel ist haï. bakoulou, als Substantiv mit der Bedeutung ‚Schwindler, Betrüger, Gauner’, als Adjektiv mit den Bedeutungen ‚unehrlich, skrupellos, gerissen’ gebraucht. Das Etymon ist kikongo b kulu ‚jemand, der auf seinen Gewinn, seinen Vorteil aus ist’. bakoulou n. ‘trompeur’ haï. bakoulou ‘con man, deceiver, double dealer [esp. toward women] ; crook’ ; adj. ‘rotten, crooked, dishonest, unscrupulous ; cunning, crafty’ (HCED ; ALH 474/ 16) ; haï. bakoulouz ‘female con artist’ (HCED). Kikongo b kulu ‘qch qui sert à s’emparer, à faire un gain’ (Laman ; Baker 1993, 142). 2.3. Nahrungsmittel und deren Zubereitung Der sehr ausführlichen Darstellung von Gabriel Debien in seinem Buch Les esclaves aux Antilles françaises (XVII e -XVIII e siècles) (1974, 171-218) ist zu entnehmen, dass für die Kolonisten und Plantagenbesitzer die Versorgung der Sklaven gegenüber dem eigenen Gewinnstreben eine cura posterior war, obwohl eine gesunde und ausreichende Ernährung ja die Grundvoraussetzung dafür gewesen wäre, die Arbeitskraft der Sklaven zu er- Afrikanismen in den Frankokreolsprachen der Karibik 223 halten und ihre erschreckend kurze Lebenserwartung zu verlängern. Je nach Kolonie, Zeitraum, Größe der Plantage und Einstellung des Besitzers gab es große Unterschiede, wobei sich zwei verschiedene Systeme herausbildeten: entweder wurden wöchentlich oder täglich Lebensmittelrationen verteilt, oder die Sklaven bekamen ein Stückchen Land, auf dem sie an dem dafür freizuhaltenden Samstag Nahrungsmittel für ihre eigene Versorgung anbauen mussten - im günstigsten Fall und wenn entsprechende Vermarktungsmöglichkeiten bestanden, konnten sie Überschüsse verkaufen. Nachdem in den ersten Jahrzehnten Pökelfleisch, Stockfisch und Salzheringe aus Europa eine große Rolle gespielt hatten, wurden allmählich die vor Ort angebauten Nahrungsmittel Hauptbestandteile der Ernährung, vor allem Maniok, Jamswurzeln, Bataten, Hülsenfrüchte aller Art und Bananen; Mais spielte eine untergeordnete Rolle. Ob ihnen nun die Lebensmittel in Rationen zugeteilt wurden oder ob sie sie in ihren Gärten ernteten, die Sklaven bereiteten die Mahlzeiten selbst zu - ältere oder hochschwangere Frauen wurden für das Kochen eingeteilt. Dies erklärt die Bewahrung einiger afrikanischer Wörter für traditionelle Gerichte. Hinsichtlich der in den Tropen gedeihenden Agrarprodukte fand ein gewisser Austausch sowohl der Pflanzen als auch ihrer Bezeichnungen zwischen Afrika und Amerika statt. Die Jamswurzel, franz. igname, und ihr Name stammen aus Westafrika, ebenso ihre kreolische Bezeichnung malanga. Die Banane, ursprünglich in Südostasien beheimatet, gelangte wohl über Madagaskar nach Afrika; von dort brachten sie die Spanier und Portugiesen nach Amerika. Das Wort Banane ist ein in vielen westafrikanischen Sprachen verbreitetes „Wanderwort“ und gelangte über das Portugiesische ins Französische. banann n. ‘banane’ Ant. « vn regime de bananes » ; « Les bananiers sont de la hauteur de quinze ou vingt pieds » (Bouton 1640, 62) ; Gua. « Le tronc ne porte qu’vn regime de Figues ou de Bananes » (Du Tertre 1654, 205) ; lou. banàn, banòn, banann ‘banane’ (DLC) ; haï. banane ‘figue d’Adam, production commune dans les Indes…’ (SDu 296-7) ; bannann ‘plantain, cooking banana’ ; ‘hook [boxing]’ (HCED) ; gua. id. ‘banane, banane à cuire, Musa acuminata’ (LMPT ; T/ B) ; ‘petit poisson coloré ; croche-pied douloureux’ (RGe) ; M-G id. ‘bananier’ ; ‘battant de la cloche ; (très grossier) verge de l’homme’ (MBa) ; mart. id. ‘banane ; coup de genou au milieu de la cuisse’ (RCo) ; StLuc. id. ‘plantain’ (KD) ; guy. id. ‘banane à cuire (toutes variétés)’ (GBa) ; lou. bananye ‘bananier’ (DLC) ; haï. ba(n)na(n)na ‘plantain flour ; grated plantain soup’ (HCED) ; bannann fig / mi ‘banane-fruit’ (ALH 1630) ; Annegret Bollée (Bamberg) 224 bannann kase / peze / fri / fwi ‘banane pressée et frite’ (ALH 960) ; bann pile ‘purée de fruit à pain et banane plantain’ (ALH 961/ 1) ; haï. pye ba(n)nann ‘bananier, Musa section Eumusa’ (ALH 1604, v. ALH 2, 708). Pour l’histoire de banane Arveiller 80-85 : Emprunté au port. banana ‘banane’ (d’origine africaine, attesté depuis 1563), le mot banane apparaît dans un texte fr. (adapté du latin) en 1602 et chez le Père Claude d’Abbeville en 1614, mais c’est aux Antilles que le terme s’est vulgarisé à partir de 1640 : « les Antillais ont dû d’abord emprunter le terme au portugais au cours d’escales en Afrique occidentale (Cap Blanc, Cap Vert, Iles du Cap Vert) » (Arveiller 85). Westermann (Die westlichen Sudansprachen, 1927, 205) cite des formes du mot (banana, baranda, etc.) qu’il range parmi les « Wanderwörter », dans 21 langues ouest-africaines. - FEW 20, 86b ; RChLex 560 ; DECOI P. II banan. Aus Afrika wurden auch einige Hülsenfruchtsorten nach Amerika verpflanzt, im Kreolischen immer als pwa bezeichnet, auch wenn es sich um Bohnen handelt. Auf die afrikanische Herkunft lässt bei einigen Arten der Name schließen: gua. pwa dangol, haï. pwa kongo, pwa boukousou. boukousou n. ‘esp. de pois’ haï. boukousou ‘large bean ; thick cassave bread’ (HCED) ; ‘gâteau assez grossier, à base de manioc’ (ALH 953) ; ‘campagnard’ (Josephau 73) ; gua. id. ‘de la campagne ; plouc, rustre’ (LMPT) ; mart. bousoukou ‘variété de pois d’Angole, Cajanus’ (RCo) ; StLuc. boukousou ‘type of pea similar to snow peas’ (K/ D) ; haï. pwa boukousou / bousoukou ‘esp. de pois, Lablab niger (plusieurs variétés)’ (ALH 1687) ; gua. pois boukoussou, mart. pois boussoukou ‘proches parents des pois d’Angole’ (Josephau 72-73) ; M-G (pwa) boukousou ‘esp. de pois’ (MBa) ; gua. veillée boukoussou ‘veillée campagnarde’ (Josephau 73). Josephau 72-73 : De l’ethnonyme Mboukouchou ou Moukoussou, population du sud de l’Angola. - Baker 1993, 142. Aus Bohnenmehl mit weiteren Zutaten werden die auf den Antillen sehr beliebten pikanten acras gemacht; das Wort ist sogar schon bis in den Petit Robert vorgedrungen und wird dort wie folgt glossiert: ‚dans la cuisine créole, boulette faite d’une pâte de farine et de poisson émietté ou de légumes écrasés, assaisonnés d’aromates, frite dans l’huile bouillante’. Der Nouveau Petit Robert gibt als Etymologie yoruba akara an, doch ist das Wort auch in anderen westafrikanischen Sprachen verbreitet. akra n. ‘beignet salé’ haï. (z)akra ‘acras, esp. de beignet que les Nègres font avec de la farine de pois ou haricots’ (SDu 286) ; acra ‘esp. de croquette faite de pois dits ‘inconnus’ (Vina sinensis […]) réduits en pâte fortement assaisonnée de piment, frite dans du saindoux’ (Faine 315) ; akra ‘malanga ou taro fritter’ (HCED) ; id., akla (4, Afrikanismen in den Frankokreolsprachen der Karibik 225 7) ‘boulette de taro’ (ALH 956) ; gua. akra ‘beignet de légumes ou de poisson’ (LMPT) ; ‘baiser sonore plaqué sur la joue’ (RGe) ; M-G id. ‘beignets salés (les meilleurs sont faits avec de la morue salée)’ (MBa) ; mart. id. ‘beignets de légumes’ (EJo 94) ; id., zakra ‘beignet de morue’ (RCo) ; StLuc. akwa ‘a fritter, a mixture of fish and flower fried in oil or butter’ (JMo) ; guy. akra ‘beignet salé à base de morue ou autres poissons, ou de arrow-root’ (GBa). Fon aklà (yoruba akàlà) ‘beignet de haricot, de maïs ou de manioc, ou beignet de gùsí [esp. de sésame] préparé avec son huile’ (Segurola/ Rassinoux) ; ewe akl- ‘cakes made of beans or plantains’ (Westermann) ; yoruba àkàrà ‘beignet de haricot’ (Sachnine). - EJo 94 ; Baker 1993, 146. E/ CTT ac(c)ra, akra ‘a food made from saltfish mixed with flour, water and seasonings and deep-fried’ < Yor, Igbo àkàrà, Fon akla ‘fritter or fried cake of ground beans’ (Winer). Maniok und Mais lernten die Europäer in Amerika kennen und führten sie als Kulturpflanzen nach Afrika ein: Maniok diente den Portugiesen auf ihren Plantagen in Brasilien als wichtigste Nährfrucht für die Sklaven, ab dem 17. Jahrhundert wurde er zum gleichen Zweck in Afrika angebaut (Barampama 1992, 73). Einige Bezeichnungen für Gerichte aus Maniok und Mais haben in der Kolonialzeit den umgekehrten Weg über den Atlantik genommen, wofür hier drei Beispiele angeführt werden: akasan n. ‘bouillie de maïs’ Lou. « la farine de maïs aigrie, cuite en bouillie, se nomme cassant » (Robin 1807-3, 40) ; haï. acassan ‘esp. de brouet fait de maïs moulu. Parfois, il est sous une forme solide, enveloppé dans des fragments de feuilles de bananier, mais toujours liquéfié en brouet au moment de la consommation’ (Faine) ; akasan ‘bouillie de maïs sucrée au sirop de canne’ (HCED ; ALH 943) ; haï. mayi akasan (1), akasan mayi (11) ‘bouillie de maïs’ (ALH 943). Fon akasa ‘cassave, boules faites de pâte de manioc ou de maïs, aigrie dans de l’eau et pimentée’ (Delafosse) ; akansán ou akasá (probablement du portugais caçabe qui a donné en français cassave) ‘pâte de farine de maïs’ (Segurola/ Rassinoux). - Baker 1993, 146. E/ CTT akasan (arc) ‘a dish made of fermented ground corn’ < Yoruba àkàs, Fon ak-s- ‘steamed maize pap’ (Winer). doukoun(ou) n. ‘pain doux’ haï. doucounou ‘pain doux, esp. de pudding de maïs, de grande consommation dans le bas peuple’ (Faine) ; doukounou ‘a pastry similar to a hard akasan wrapped in a banana leaf’ (HCED) ; ant. doukoun ‘excellent dombré sucré de farine de maïs, cuit dans les larges pailles de l’épi et recevant la forme d’un gros boudin’ (RGe) ; gua. id. ‘gros gâteau à pâte pesante non levée’ (LMPT ; T/ B) ; ‘bonbon fait avec de la mélasse et de la noix de coco râpée’ (EJo 96) ; Annegret Bollée (Bamberg) 226 guy. dokonon ‘friandise faite à base de lait de coco et de maïs enveloppée dans de la feuille de bananier’ (GBa). Mot d’origine africaine, probablement du twi o-dòkóno ‘boiled maize bread’ (Christaller), passé aux créoles fr. par l’intermédiaire du créole de la Jamaïque, où il est attesté depuis 1740, Cassidy/ Le Page : dokunu [dókunu, dúkunu, dúkuno] ‘a kind of pudding made of some ‘starch’ food (plantain, green banana, cassava flour, esp corn meal) sweetened, spiced, traditionally wrapped in plantain or banana leaf, and boiled (in some localities baked or roasted) : a favourite peasant dish’. Cf. aussi fon duko ‘beignet de maïs’ (Delafosse). chanmchanm n. ‘plat à base de maïs’ haï. chanmchanm, sanmsanm ‘ground roasted corn’ (HCED ; id., tchanmtchanm ‘plat à base de maïs’ (ALH 942) ; haï. chanmchanm / sanmsanm mayi, mayi dzyadzya (12) ‘plat à base de maïs’ (ALH 942). ALH 1, 420 : Ce mot désigne une préparation culinaire à base de maïs, d’arachides, de sésame et de piments (piments zwazo). Dans certaines variantes de ce plat, on utilise soit le maïs, soit l’arachide. - Le plat est aussi appelé poud mayi par le témoin du point 3. D’origine africaine, d’après Winer < Akan o-ši m, Guang òsiam ‘parched ground corn’ ; elle ajoute : « Sansam is pounded parched corn, mixed with salt or sugar, and eaten dry. Its African character is recognized by the people. ‘This is African real food,’ said one. (Herskovits & Herskovits 1947, 289) ». E/ CTT samsam, sansam ‘special food cooked without salt, esp. parched corn, offered to spirits of the dead’ (Winer). Akasan ist eine Art Maisbrei, das kreolische Wort kommt aus dem Fon, und fon akasá wiederum wahrscheinlich von port. caçabe, das auch fr. cassave zugrundeliegt. Port. caçabe, span. cazabe sind die Bezeichnungen für Maniok, das spanische Wort gehört zu den Entlehnungen von Kolumbus aus dem Taíno; im Französischen bezeichnet es die aus Maniokmehl gebackenen flachen Brote. Das ades afrikanischen Etymons ist ein häufiges Nominalpräfix. Das Beispiel doukounou (vielleicht auch chanmchanm) zeigt, dass Afrikanismen auch innerhalb der Karibik wandern - beispielsweise gibt es im Englischen und Kreolischen von Trinidad und Tobago viele Entlehnungen aus den französischen Kreolsprachen. Der Ausdruck doukounou für eine Art Kuchen aus Maismehl ist wahrscheinlich über die Vermittlung des englisch-basierten Kreol von Jamaika, für das Twi eine typische Gebersprache ist, in die franz. Kolonien gelangt. Auch chanmchanm kann eine solche indirekte Entlehnung sein. Das letzte Beispiel aus dem Bereich des Essens soll zeigen, dass noch viele etymologische Fragen ungeklärt sind bzw. möglicherweise auch nie Afrikanismen in den Frankokreolsprachen der Karibik 227 geklärt werden können: (l)angou ist ursprünglich ein Brei aus Mais, Jamswurzeln oder Maniok, heute eine Art süßes Gebäck. Josephau meint, das Wort sei afrikanischen Ursprungs, es kommt in Afrika auch vor: in den portugiesischen Kreolsprachen von S-o Tomé und im Fon. Dorthin könnte es aber auch aus Brasilien durch portugiesische Vermittlung zusammen mit der usprünglichen Bedeutung ‚Maniokbrei’ gelangt sein. angou n. ‘mets’ gua. langou ‘pâte que devient de la farine de manioc mélangée à du chocolat bouillant’ (Josephau 82) ; ‘crème de maïs, au préalable, grillé et pulvérisé. À l’origine, bouillie d’igname et de manioc ; nourriture ordinaire des nègres’ (RGe) ; tri. wangou ‘a paste of boiled corn meal’ (JTh 12) ; guy. angou ‘mets qui ressemble au langou guadeloupéen’ (Josephau 82) ; ‘sorte de pâtisserie à base de farine de maïs dur, de noix de coco, de sucre, du lait, de la vanille, de la cannelle, de la muscade, d’essence de noyo’ (LTch) ; ‘pâtisserie à base de noix de coco et de maïs’ (GBa) ; guy. angou-mi ‘pâtisserie [variante de angou]’ (LTch). Mot d’origine incertaine. Josephau pense qu’il pourrait être d’origine africaine « car la recette est fort en usage au Congo », mais n’a pas trouvé d’étymon satisfaisant (82). J.-L. Rougé note à propos du terme employé à S-o Tomé : En forro et angolar angu ‘pâte de banane’. Terme d’origine incertaine. On retrouve angu au Brésil où il désigne une pâte de manioc. En espagnol au Costa-Rica et à Panama, angú ‘masa de plátanos verdes cocidos con caldo de carne’ [Neves]. Il nous semble que ce terme peut avoir aussi bien une origine africaine - on peut le rapprocher du fon agu ‘igname pilée’ - qu’une origine amérindienne. Dans ce dernier cas, ce sont les voyageurs portugais qui l’ont introduit à S-o Tomé (2004, 291). - Cf. fon ag ‘igname, manioc ou taro pilés’ (Segurola/ Rassinoux). Esp. amér. (Costa Rica y Panamá) (vulg.) angú ‘masa de plátanos verdes cocidos con caldo de carne’. Es el fufú cubano (Malaret). Il nous semble probable que le terme créole a été emprunté au portugais du Brésil. 2. 4. Der haitianische Vodou Der letzte Teil dieses Beitrags ist dem Wortschatz des haitianischen Vodou gewidmet, in dem die Wörter afrikanischen Ursprungs zwar sehr zahlreich sind, der aber auch in nicht geringem Umfang aus dem Französischen herzuleiten ist. Diesem Thema wäre eine eigene Arbeit zu widmen, die Darstellung kann hier nur skizzenhaft sein. Sie fußt vor allem auf den Büchern von Alfred Métraux: Le vaudou haïtien (1958/ 2007) und Jean Kerboull: Le Vaudou. Magie ou religion? (1973), ferner auf dem Katalog der Berliner Vodou-Ausstellung von 2010 (Hainard/ Mathez 2010) und Annegret Bollée (Bamberg) 228 für die Etymologien auf Comhaire-Sylvain: „Survivances africaines dans le vocabulaire religieux d’Haïti“ (1955). Der Terminus vaudou wird von Métraux definiert als ein „ensemble de croyances et de rites d’origine africaine qui, étroitement mêlés à des pratiques catholiques, constituent la religion de la plus grande partie de la paysannerie et du prolétariat urbain de la République noire d’Haïti“ (1958 / 2007, 10). Das Wort stammt aus dem Fon: vodún ‘déité de la religion traditionnelle au Sud du Bénin, improprement traduit par "fétiche". Toute manifestation d’une force qu’on ne peut définir, toute monstruosité, tout ce qui dépasse l’imagination ou l’intelligence est vodoun, c’est-à-dire une chose mystérieuse et qui réclame un culte’ (Segurola/ Rassinoux). Die Fon waren die wichtigste Ethnie im ehemaligen Königreich Abomey oder Dahomey. Heute ist Fon die Sprache von etwa 40% der Einwohner von Benin; von den 54 in diesem Land gesprochenen Sprachen hat es die meisten Sprecher (auch noch einige in Togo). Wie eingangs gezeigt wurde, kam in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts der größte Prozentsatz der Sklaven in Saint-Domingue aus der Region um den Golf von Benin, der Anteil der Sprecher des Fon dürfte unter ihnen sehr hoch gewesen sein. Es ist also davon auszugehen, dass die Religion dieser ethnischen Gruppe die Basis des haitianischen Vodou bildet, vgl. Kerboull: Le vaudou tire son origine de l’Afrique. Les vaudoulogues l’ont bien discerné: le polythéisme fon et yorouba de la culture béninoise (golfe du Bénin) est à la source du Vaudou haïtien (1973, 31). Dies spiegelt sich auch in der Terminologie: houngan ‚Vodou-Priester’, hounsi ‚Assistent(in) des Priesters, der/ die die Initiationsriten durchlaufen hat’, hounfò ‚Vodou-Tempel’ stammen aus dem Fon, ferner viele andere Ausdrücke, vor allem für die lwa, die „Gottheiten“ des Vodou-Pantheons, und für die Trommeln, die bei den Zeremonien - der Vodou ist eine „getanzte Religion“ - eine große Rolle spielen. Die Herkunft des Wortes lwa, in der Literatur meistens loa geschrieben, ist umstritten. Comhaire-Sylvain leiten es von yoruba olúwa her, das ‚lord, master’ bedeutet, dies wäre eigentlich eine plausible Erklärung. Kerboull dagegen meint, es komme von franz. loi ‚Gesetz’: L’étymologie du mot […] est contestée. Plusieurs la rattachent à un idiome africain resté indéterminé. En fait, pourtant, il semble bien que le mot soit tout simplement le français «loi», que certains auteurs, comme Aubin, orthographient tel quel en traitant des divinités vaudou (1973, 50). Afrikanismen in den Frankokreolsprachen der Karibik 229 Die Herleitung aus dem Französischen hat sich auch André-Marcel d’Ans (1987, 281-295) zu eigen gemacht, und sie kann vor dem Hintergrund seiner Analyse der traditionellen bäuerlichen Gesellschaft Haitis durchaus überzeugend begründet werden. Man kann eine grobe Einteilung in zwei Erscheinungsformen des Vodou vornehmen, die mit der von d’Ans sehr eindrucksvoll beschriebenen Spaltung der haitianischen Gesellschaft korreliert: den Vodou der Heiligtümer und der professionellen Priester (houngan) und Priesterinnen (mambo) in den größeren Städten, vor allem in und um Port-au-Prince (dieser ist Gegenstand der Darstellung von Alfred Métraux), und den Vodou auf dem Lande, der von Jean Kerboull, der ihn quasi „entdeckt“ hat, auf der Grundlage einer umfangreichen Enquête mit ca. 9000 Informanten beschrieben worden ist. Nur zu diesem Vodou seien abschließend noch einige Bemerkungen gemacht. Zentren des Vodou in der postkolonialen bäuerlichen Gesellschaft sind die Familien im weiteren Sinne, das Schlüsselwort ist ras < fr. race, das im Kreolischen die Bedeutung ‚Großfamilie, Geschlecht, Abstammung, Vorfahren bzw. Nachkommenschaft’ angenommen hat (vgl. Bollée 2008, 197 f.). Ort des familiären Kults ist lakou, zunächst kreisförmig angeordnete Häuser, nach außen mit einer Palissade gesichert, mit nur einem von Legba bewachten Zugang und dem Haus des Patriarchen in der Mitte. Heute sind die Befestigungen natürlich verschwunden, die Bedeutung von lakou ist jetzt ‚Ansammlung von Häusern oder kleines Dorf, in dem die Mitglieder der Großfamilie wohnen, mit eigenem Friedhof’. Das Wort kommt von franz. la cour (s. Bollée 2008, 202 f.), die von dem Houngan Max Beauvoir vertretene Ansicht, es sei „ein indianisches Wort aus der Taíno-Sprache und [beziehe] sich auf eine umfriedete heilige Fläche, auf der Gott Opfergaben dargebracht werden“ (Hainard/ Mathez 2010, 28) ist entschieden zurückzuweisen. Dem Oberhaupt der Familie obliegt es, das spirituelle Erbe („l’Héritage, corpus des loas honorés par chaque famille étendue“, Kerboull 1973, 176) zu bewahren und zu verehren - in diesem Kontext wäre die französische Etymologie von lwa durchaus plausibel, zumal die lwa auch mit anderen aus dem Französischen stammenden Termini benannt werden (saints, anges, mystères, bagaye < bagage, Kerboull 1973, 178). Der Patriarch muss die notwendigen kultischen Handlungen durchführen, das bedeutet konkret, den lwa, die das Erbe der Familie ausmachen, Opfer darzubringen: offrandes von Speisen und Getränken, sacrifices in Form von Tieropfern. Mais qu’est-ce, au juste, que ce fameux Héritage? Il se définit comme le groupe ésotérique de loas protecteurs d’un clan, dévoilés et transmis, par tradition orale, à la génération suivante. Il compte une moyenne de 26 unités. La famille Annegret Bollée (Bamberg) 230 étendue a le devoir impérieux de l’honorer et de le servir, collectivement et individuellement (Kerboull 1973, 180). Der schon zitierte Houngan Max Beauvoir sagt, es gäbe 401 lwa (Hainard/ Mathez 2010, 25), ohne eine Quelle für diese Zahl zu nennen. Nach Kerboull sind es bedeutend mehr, in den beiden Regionen seiner Enquête hat er 1200 bzw. 3200 loas ermittelt (es ist zu vermuten, dass die Zahlen wegen vieler Überschneidungen nicht addiert werden sollten). Das folgende Beispiel der lwa einer Familie soll verdeutlichen, dass im Vodou nicht nur das Erbe des Polytheismus der Fon und des Katholizismus weiterleben, sondern dass er sich auch aus weiteren afrikanischen Quellen speist: den Göttern und dem Ahnenkult der Bantu-Völker, auf deren hohen Anteil an der Sklavenbevölkerung vor allem ab der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts ja schon hingewiesen wurde. Etwa 40 Prozent des von Suzanne und Jean Comhaire-Sylvain analysierten religiösen Wortschatzes stammen aus Bantu-Sprachen, so z.B. die Bezeichnung mambo für die Priesterin. Héritage de Dieujuste Pierre (Kerboull 1973, 240) Rada: Agaou, Frère Linglessou, Jumeaux, Maîtresse Erzulie, Mouché Pierre, Papa Dambara, Papa Legba, Tit-Pierre. Pétro: Linglessou-bassin-sang, Zandor. Congo: Simbi, Zandor. Guédé: Brave Guédé. …………………………………………………………………………………. Rada: Jumeaux, Linglessou, Maîtresse Erzulie, Maîtresse Z’anges, Mouché Pierre, Papa Legba. Pétro: Linglessou-bassin-sang. Congo: Soussou-panan. Guédé: Brave Guédé-ibo. ? : Maître Balan. In dieser Übersicht finden sich oben die lwa der väterlichen, unten der mütterlichen Linie. Sie sind nach Kategorien geordnet, „Nationen“ oder „Familien“ genannt, die zumeist auf ethnische Namen zurückgehen, mit unterschiedlichen Riten, Tänzen usw. verehrt werden und unterschiedliche Eigenschaften und Verhaltensmuster aufweisen: Rada [Rada] 8 ‚category of voodoo deities/ spirits originating in Africa, usually benevolent’ (HCED); der Name (auch Arada, Allada) kommt von Allada, einer 8 In eckigen Klammern die kreolische Namensform, die sich als Lemma im Haitian Creole - English Dictionary (HCED) findet. Afrikanismen in den Frankokreolsprachen der Karibik 231 Stadt in Dahomey, und war in der Kolonialzeit eine vage Sammelbezeichnung für die aus der Region des Königreichs Dahomey stammenden Sklaven. Pétro [Petwo] ‚a category of often aggressive or malevolent voodoo spirits’ (HCED). Nach Moreau de Saint-Méry wäre dieser Ritus eine kreolische Erfindung, begründet 1768 von einem spanischen Freigelassenen namens Don Pedro in Petit-Goave (2004, 69). Viel wahrscheinlicher ist jedoch eine Herkunft aus dem Kongo: Pedro ist der Name von sieben Königen im Kongo und war unter den mit dem Sammelnamen Congo bezeichneten Sklaven ein außerordentlich häufiger Name (Geggus 1991, 38). Zu dieser Hypothese passt auch das Datum 1768: zu dieser Zeit waren die Sklaven aus dem Kongo zahlenmäßig dominant. Congo [Kongo] ‚rite vodou, le plus important après le rada’ (C-SSur), benannt nach dem ehemaligen Königreich Kongo; Kongo ist, wie Rada, ein sehr vager Sammelname, in diesem Falle für verschiedene Ethnien aus Westzentralafrika. Guédé [Gede] ‚voodoo deity of death; mischievous and often obscene voodoo spirits of death (not to be confused with soul of the dead)’ (HCED) < Fon Gede ‚ce serait le nom du vodoun ou de l’ancêtre des autochtones de la région d’Abomey avant l’arrivé des Aladaxónú au XVII e siècle. Ces autochtones s’appelaient Gedeví ‚enfants de Gede’ (Segurola/ Rassinoux). Die von Kerboull in seiner Enquête gesammelten Namen sowie weitere Namen von lwa 9 sind Gegenstand einer in Arbeit befindlichen Untersuchung von A. Bollée und I. Neumann-Holzschuh; an dieser Stelle seien nur wenige Erklärungen zum héritage der Familie von Dieujuste Pierre gegeben. Jumeaux, Mouché Pierre, Tit-Pierre und Maître Balan benennen wahrscheinlich divinisierte Vorfahren der Eltern des Informanten, das gleiche gilt wohl für Agaou und Frère Linglessou, die auf Eigennamen aus dem Fon zurückgehen: Gaou war ein königlicher Vorname (< fon gawu ‚général de l’aile droite’), 10 den auch der Großvater von Toussaint Louverture, Gaou Guinou, trug; das Etymon für Linglessou ist eglosso ‚qui résiste à la foudre’ (C-SSur). Maîtresse Erzuli, Papa Dambara, Papa Legba und Soussou-pannan sind dem Pantheon der Fon zuzuordnen: Erzuli oder Èzili gilt als die „Venus“ unter den Vodou-Göttern, sie repräsentiert Liebe, Schönheit, Anmut und Eifersucht; Dambara oder Dambala (< fon dangbe 9 Kerboull 1973, 229-265, dazu die in dem Katalog der Berliner Ausstellung genannten (Hainard/ Mathez 2010, 108 f.). 10 Die französischen Bedeutungsangaben stammen, wenn nichts anderes angegeben wird, jeweils aus Segurola/ Rassinoux. Annegret Bollée (Bamberg) 232 ’Pytho regius, serpent vodoun, divinité des Xwedá’), 11 symbolisiert durch die Schlange, ist der wichtigste Gott des Vodou; Legba (< fon l gba ’génie protecteur d’une maison, d’un enclos d’initiation, d’un marché, d’une localité; messager des autres vodouns’) fungiert als Beschützer des Hauses und der Wege; Soussou-pannan ist ein hybrider Name: Soussou kommt von fon josusu ‚génie du bonheur’ (Delafosse) und pannan von kikongo nàma ‚maître en l’art de tromper’ (Laman). Aus dem Kikongo sind auch die Namen Zandor und Simbi herzuleiten, von den Etyma zándu ‚sachet du fétiche ou de médicine’ und símbi ’lutin, dieu marin; esprit lutin qui hante plus spécialement les eaux et les précipices ou la forêt’ (Laman). Im haitianischen Vodou ist Simbi die Gottheit des Wassers. In dem hier zitierten Beispiel des héritage von Dieujuste Pierre fehlen katholische Heilige, sofern nicht Maîtresse Z’anges dazu zu rechnen ist; in den anderen von Kerboull ermittelten Familientraditionen finden sich u.a. Sainte-Élisabeth, Saint-Jean-Baptiste, Saint-Pierre, Saint-Pierre-ouvri-la-porte, Saint-Jacques Majeur; sie spielen jedoch insgesamt eine sehr marginale Rolle. Abkürzungen (in den Artikeln aus dem DECA) Ant. Antilles ant. antillais E/ CTT English/ Creole of Trinidad & Tobago Gua. Guadeloupe gua. guadeloupéen guy. guyanais haï. haïtien lou. louisianais Mart. Martinique mart. martiniquais M-G créole de Marie-Galante StLuc. créole de Sainte-Lucie tri. trinidadien Wörter aus französischsprachigen Texten Ableitungen und Komposita Etymologie Literaturhinweise ABa = Bazerque, Auguste: Le langage créole, Basse-Terre, Guadeloupe: Imprimerie Artra, 1969. 11 Die Xwedá sind ein Stamm, der vor Ankunft der Fon die Gegend um Ouidah bewohnt hat. Von ihrem Namen leitet sich der Name der Hafenstadt Ouidah her. Afrikanismen in den Frankokreolsprachen der Karibik 233 ALH = Fattier, Dominique: Contribution à l’étude de la genèse d’un créole. L’Atlas linguistique d’Haïti, cartes et commentaires, 6 Bde., Villeneuve d’Ascq: Septentrion, 1998. Arends, Jacques: „La ‘dé-historicisation’ de la créologenèse“ in: Valdman, Albert (Hg.): La créolisation: à chacun sa vérité, in: Études créoles 25/ 1, 2002, 143-156. 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Ausgangspunkte und sprachpolitische Präliminarien Die Niederländischen Antillen gelten in der deutschsprachigen Romanistik spätestens seit der Pionierarbeit von Rudolf Lenz (1863-1938) zum Kreolischen Curaçaos (1928) 1 als ein philologisch lohnendes Studienobjekt der America Romana. Die Untersuchung, die auf einer Reihe früher Texte (u.a. Übersetzungen) sowie der Sprachkompetenz eines Zufallsinformanten, des Schiffskochs Natividad Sillie, beruht, tappt - vor dem Hintergrund neuerer Erkenntnisse (cf. die rezenten Arbeiten von Bart Jacobs 2008-2010) - weder hinsichtlich der Genese des Papiamentu 2 im Dunkeln, noch haben die Aussagen zur Grammatik ihre Aussagekraft verloren. Lenz strukturiert seine Grammatik nach dem damals üblichen Muster und bezieht auch zur historischen Dimension Stellung. Mit dem Aufschwung der Soziolinguistik und einer zunehmenden Beschäftigung mit Minderheitensprachen ab den 1960er Jahren rückt auch die sprachpolitische Situation der Inseln mehr und mehr in den Fokus romanistischer Untersuchungen. Auf diese Weise beobachten wir nicht nur ein vermehrtes Interesse für die Standardisierungsaktivitäten des Papiamentu, das sich als Vorreiterin unter den Kreols entpuppt, sondern auch für vergleichende Untersuchungen (z.B. Martinus 1991, 1997; Eckkrammer 1996). Die Beschäftigung mit dem Papiamentu wird zu einer 1 Die Arbeit erscheint zunächst gestückelt in den Anales de la Universidad de Chile in den Jahren 1926 und 1927. Erst 1928 wird sie als Gesamtwerk in Santiago de Chile verlegt. 2 Korrekterweise müsste, um den unterschiedlichen Orthographienormen zu entsprechen, die Endung wie im Titel des Beitrags jeweils mit -u/ -o angegeben werden. Aus Gründen der Lesbarkeit beschränken wir uns in der Folge jedoch auf das in der Varietät Bonaires und Curaçaos dominierende -u, betrachten jedoch das im arubanischen Sprachgebiet übliche finale -o als miteingeschlossen. Eva Martha Eckkrammer (Mannheim) 238 Konstante der romanistischen Forschung (Maurer u. a. 1986, 1988, 1991; Eckkrammer 1999, 2005; Kramer 2004; Jacobs 2008, 2009, 2010). Richten wir die Aufmerksamkeit auf die kreolophonen Inselgebiete selbst, so zeichnen sich vor allem ab den 1960er Jahren soziale und politische Umbrüche ab, welche die Besinnung auf die eigene Sprache und Kultur befördern. Die Antillianisierungstendenzen kristallieren sich auch in ersten Gesetzesentwürfen zur Kooffizialisierung des Papiamentu in den späten 1970er Jahren. Zu diesem Zeitpunkt firmieren die „unter dem Wind“ gelegenen kreolophonen Inselterritorien Aruba, Bonaire und Curaçao (ABC-Inseln) gemeinsam mit den drei „über dem Wind“ gelegenen Inseln St. Eustatius, St. Maarten und Saba (SSS-Inseln), welche das Englische als Vernakularsprache haben, als politische Einheit der Niederländischen Antillen (N.A.). Dennoch sind Spannungen zwischen den Gebieten schon zum damaligen Zeitpunkt offensichtlich und schlagen sich nicht nur in dem nach wie vor textprägenden orthographischen Schisma nieder, bei dem sich Aruba für eine leicht etymologische Rechtschreibung entscheidet, während Curaçao und Bonaire eine Orthographie nach phonologischem Muster offizialisieren, sondern auch in den bildungspolitischen Entwicklungen. Sprachplanung und -politik werden vor allem ab den 1980er Jahren zu einem zentralen Thema, das die Medien und lokale Politik stark beherrscht und zu einem zunehmenden domänenspezifischen Erstarken des Kreolischen führt. Diese Politik ist allerdings nur am Rande vom Mutterland bestimmt, da die Übersee- Territorien mit dem Statuut von 1954 (für die Niederlande, Surinam und die N.A.) innenpolitisch weitgehend autonom sind. Das Kreolische wird zunehmend standardisiert und erobert prestigeträchtige Domänen wie die Verwaltung und den Schulbereich. Auch auf politischer Ebene wird eine Entstigmatisierung und die Entwicklung zur Vollsprache deutlich vorangetrieben. Daran ändert auch der Umstand wenig, dass Aruba 1986 einen status aparte innerhalb des Königreichs der Niederlande erhält und damit den Inselverband der N.A. verlässt. Für die Niederlande entwickeln sich die Überseeterritorien - nicht zuletzt auch mit Blick auf die Effekte der wirtschaftlichen Depression der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts - zu einem ungelösten Problem. Die Einwanderung in das Mutterland nimmt stetig zu, die Schulden der Gebiete wachsen. Ab dem Beginn des 21. Jahrhunderts kommt es damit zu einer Reihe von Referenden, welche fundamentale Umbrüche einleiten und schlussendlich in die Beschlüsse vom Oktober und November 2006 Überlegungen zum Sprachausbau des Papiamentu/ o 239 münden 3 . Mit dieser umfassenden Abwicklungserklärung wird die formale Auflösung der N. A. festgeschrieben, welche eine neue Ära der Diversifikation und der sprachpolitischen Herausforderung einläutet. Diese sehr rezente Phase postkolonialer Sprachpolitik in der America Romana soll mit Fokus auf der Minderheitensprache Papiamentu in diesem Beitrag genauer untersucht werden. Kapitel 2 gibt demgemäß im Rahmen einer diachronischen Kontextualisierung einen Überblick über die Ursachen und Eckpunkte der Auflösung der N. A. sowie Einblick in die politischen Veränderungen, welche diese aus einer allgemeinen politischen Perspektive nach sich ziehen. In Abschnitt 3 wird darauf aufbauend die sprachpolitische Dimension erläutert, wobei zunächst kurz auf die wichtigsten Meilensteine des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts eingegangen wird. Das Prinzip des Teilens und Herrschens - divide et impera - als „Erfolgsmodell“ assimilatorischer Sprachpolitik wird dabei ebenso thematisiert wie mögliche Alternativen und Allianzen in der sprachpolitischen Fortentwicklung. In den Unterkapiteln zeigen wir anhand einer Analyse der programmatischen Modifikationen im Bildungsbereich anhand von Caribisch Nederland, Aruba und Curaçao auf, welche konkreten Auswirkungen die neuen politischen Gegebenheiten auf die Sprachenverwendung im Bildungsbereich hat. Den Schwerpunkt der Betrachtungen bilden dabei einerseits das sprachpolitische Vakuum nach der Auflösung der N. A. in Bonaire sowie andererseits - mit Blick auf europäische Minderheitensprachen - mögliche Optionen für die Zukunft. 2. Postkoloniale Umbrüche Bereits in der Einleitung wurde stichpunktartig auf die aus diachronischer Perspektive stetig steigenden Tendenzen zur Desintegration der N.A. sowie der darin verorteten ABC-Inseln als Sprachgebiete des Papiamentu hingewiesen. Dadurch wird bereits deutlich, dass in den letzten vier Dekaden des 20. Jahrhunderts schismatische Bewegungen an Stärke gewonnen und schussendlich zu jenen Gesetzen geführt haben, welche zunächst Aruba 1986 den status aparte ermöglichen und in der 3 Parallel dazu kommt es zu einer deutlichen Verschärfung der niederländischen Einwanderungsgesetze (Wet Inburgering Nieuwkomers, WIN), welche etwa auch den BewohnerInnen der ABC-Inseln, die im Besitz eines niederländischen Passes sind, in Absenz einer abgeschlossenen Schulbildung umfangreiche Einbürgerungsmaßnahmen abverlangen. Eva Martha Eckkrammer (Mannheim) 240 Folge zur formalen Auflösung des Inselverbandes führen. Zunächst ist jedoch ein Blick in die Kolonialvergangenheit des 20. Jahrhunderts unabdingbar, da die heute gültigen Gesetzesgrundlagen ihre Ursprünge in diesem Zeitraum haben. Mit dem Beginn des zweiten Weltkriegs beginnt für den niederländischen Kolonialismus eine erzwungene Neuverortung. Bereits die Londoner Exilregierung überlegt eine Neuausrichtung der kolonialen Verhältnisse. Die amerikanischen Überseegebiete werden für einige Zeit zu den einzigen unbesetzten Teilen des niederländischen Königreichs und nehmen während des Krieges eine Schlüsselrolle ein, da die Raffinerien der Inseln Curaçao und Aruba - beide werden unter dem Hyperonym Curaçao als Gebietsteile der Niederlande geführt - die alliierten Truppen mit Flugzeugtreibstoff versorgen. Bereits 1942 wird seitens des niederländischen Königshauses ein Mehr an Autonomie für die amerikanischen und asiatischen Kolonien angekündigt 4 . Während sich jedoch Surinam und die Antillen abwartend verhalten, regt sich in Teilen der ostindischen Kolonien Widerstand, der dazu führt, dass in Indonesien bereits während der japanischen Okkupationszeit die Unabhängigkeit ausgerufen wird (1943), welche sich nach der Kapitulation Japans im August 1945 realisiert und 1949 nach dem unrühmlichen niederländisch-indonesischen Krieg (1947-48) in die Gründung der Republik Indonesien mündet. Mit Ausnahme von Neuguinea, das erst 1962 unabhängig wird, ist die niederländische Kolonialzeit in Ostasien damit beendet (Oostindie/ Klinkers 2001, 22). Vor diesem Hintergrund wird ab 1948 intensiv über ein neues Statut für das Königreich verhandelt. Dieses zum damaligen Zeitpunkt dezidiert nicht für die Ewigkeit ausgelegte Statuut voor het Koninkrijk der Nederlanden (cf. Oostindie/ Klinkers 2001) entfaltet mit dem 15.Dezember 1954 in Surinam, den Niederländischen Antillen und den Niederlanden Geltungskraft. Es garantiert eine gemeinschaftliche Regelung und den einzelnen Teilen des Königreichs weitgehend innenpolitische Autonomie. Festgehalten wird an einer gemeinsamen Nationalität, einem gemeinsamen Staatsoberhaupt (die jeweilige Nachfolge der Königin Juliana) und einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik. Das Statuut wird in den folgenden Dekaden als Grundlage des transatlantischen niederländischen Königreichs stetig angepasst und fortgeschrieben und bildet bis heute die zentrale Rechtsgrundlage, d.h. auch für sprachpolitische Belan- 4 Hintergrund dieser Entwicklung ist freilich auch die im März 1942 erfolgte Kapitulation gegenüber den Japanern nach deren Einmarsch in die asiatischen Kolonien. Überlegungen zum Sprachausbau des Papiamentu/ o 241 ge. Veränderungen des Statuts sind jeweils nur durch einen einstimmigen gemeinschaftlichen Beschluss aller Teile zu erwirken. Nach einer relativ konfliktfreien Konsolidierungsphase kommen 1960 vor allem in Surinam erste kritische Stimmen auf. Das Statut wird zur Diskussion gestellt, wobei die Unruhen von 1969 in Surinam und der Marsch auf Fort Amsterdam (Curaçao) sowie die anschließende Eskalation am 30.Mai 1969 eine Wende einleiten (cf. Oostindie 1999). So wird in aller Eile ein Plan erarbeitet, Surinam in die Unabhängigkeit zu entlassen, der 1975 tatsächlich greift. Die Niederländischen Antillen erhalten als einziges verbliebenes Überseegebiet den Status eines eigenen Landes innerhalb des Königsreichs und damit noch mehr Selbstbestimmungsrechte, wobei die Blickrichtung gleichermaßen der Unabhängigkeit gilt. Im sechsteiligen Inselverband, der eine Phase der Antillianisierung durchlebt (cf. 1.), manifestieren sich jedoch deutliche Fragmentierungserscheinungen, welche in den 1980er Jahren in die Anerkennung eines status aparte für Aruba münden. Dadurch wird eine neuerliche Anpassung des Statuut notwendig, auf die einige kleinere Veränderungen folgen. Der Boden für ein Auseinanderdriften des Konstrukts der N.A. ist jedoch bereitet (cf. Ooostindie/ Klinkers 2001). Dennoch kommen erst mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts tiefgreifende Diskussionen um die Zukunft der N.A. auf. Eine Suche nach wechselseitig akzeptablen, politischen Lösungen beginnt, welche längerfristig den Status der Gebiete sowie die Beziehungen zu den Niederlanden ausregeln sollen. Im südlichen niederländischen Teil der Insel St. Maarten findet im Jahr 2000 ein Referendum statt, bei dem eine Mehrheit der Bevölkerung sich für einen status aparte nach dem arubanischen Modell ausspricht. Weitere Umfragen in den übrigen Inselterritorien folgen: 2004 sprechen sich Bonaire und Saba für eine stärkere Anbindung an die Niederlande aus, während Curaçao 2005 für einen status aparte votiert. St. Eustatius wiederum drückt im gleichen Jahr den Wunsch nach einer neuen Form der Kooperation aus und wird deshalb seitens der zum 50-jährigen Bestehen des Statuuts eingerichteten Arbeitsgruppe mit Bonaire und Saba in eine Reihe gestellt. Für die nunmehr BES- Gruppe (cf. 3.1.) genannten Inselterritorien wird eine dichtere Anbindung an die Niederlande empfohlen, während Curaçao und St. Maarten einen unabhängigen Weg innerhalb des Königreichs beschreiten sollen. Bereits im Oktober 2005 werden die wichtigsten Eckpunkte der neuen Struktur in einem gemeinsamen Beschluss festgehalten. Ein Jahr später erfolgt die Einigung auf eine Abschlusserklärung (Slotverklaring), welche die Zukunft der einzelnen Gebiete festlegt. Während die BES-Gebiete zu besonderen niederländischen Gemeinden werden sollen, steht - nach einer umfassen- Eva Martha Eckkrammer (Mannheim) 242 den Schuldenübernahme seitens der Niederlande - für Curaçao und St. Maarten die Selbständigkeit innerhalb des Königreichs ins Haus. Dass der Prozess heiß umkämpft ist, zeigt sich etwa an der Tatsache, dass die Slotverklaring von 2006 zwar von der Regierung der N.A. sowie von den Inselräten von Bonaire, St. Maarten, Saba und St. Eustatius verabschiedet werden, in Curaçao jedoch vorerst ein ablehnendes Votum des Inselrates hervorruft. Dort erfolgt erst nach einem politischen Wechsel im Sommer 2007 eine Verabschiedung. Das ursprünglich anvisierte Schließungsdatum wird mehrfach revidiert und schließlich auf den 10.10.2010 fixiert. Damit kommt es zum finalen Umbruch seit Existenz des Statuts. Regelte dieses seit 1986 die Rechte und Pflichten der Niederlande, der Niederländischen Antillen und Arubas, so werden die angestammten Strukturen jetzt aufgebrochen in die BES-Gebiete, nunmehr Karibische Niederlande (Caribisch Nederland), und die innerhalb des Königreichs selbständigen Gebiete Aruba, Curaçao und St. Maarten. Seit dem Oktober 2010 lauten die ersten beiden Punkte des Artikel 1, § 1 Allgemeine Bestimmungen des Statuuts damit: 1. Het Koninkrijk omvat de landen Nederland, Aruba, Curaçao en Sint Maarten. 2. Bonaire, Sint Eustatius en Saba maken elk deel uit van het staatsbestel van Nederland. Voor deze eilanden kunnen regels worden gesteld en andere specifieke maatregelen worden getroffen met het oog op de economische en sociale omstandigheden, de grote afstand tot het Europese deel van Nederland, hun insulaire karakter, kleine oppervlakte en bevolkingsomvang, geografische omstandigheden, het klimaat en andere factoren waardoor deze eilanden zich wezenlijk onderscheiden van het Europese deel van Nederland. (1. Das Königreich umfasst die Länder Niederlande, Aruba, Curaçao und St. Maarten. 2. Bonaire, St. Eustatius und Saba sind jeweils der Staatshoheit der Niederlande unterstellt. Für diese Inseln können bestimmte Bestimmungen und spezifische Regelungen getroffen werden, welche die spezifischen ökonomischen und sozialen Begebenheiten, den großen Abstand zum europäischen Teil der Niederlande, das Klima sowie andere Faktoren berücksichtigen, durch die sich die betreffenden Inseln wesentlich vom europäischen Teil der Niederlande unterscheiden). Dass dies für das kreolophone Sprachgebiet eine politische Zersplitterung größerer Dimension bedeutet, liegt auf der Hand. Insofern gilt es nunmehr in einem weiteren Schritt den Übergangs- und Neuregelungen der Sprachgesetzgebung nachzuspüren, mit besonderem Augenmerk auf der niederländischen Gemeinde Bonaire (3.1.) und damit den BES-Gebieten. Überlegungen zum Sprachausbau des Papiamentu/ o 243 Ein kürzerer Blick auf die anderen beiden kreolophonen Inseln soll darüber hinaus mögliche Entwicklungsszenarien aufzeigen (3.2.). 3. Sprachpolitische Auswirkungen Welche sprachpolitische Wirkung entfaltet das neue politische Szenario, welche Sprachen haben in den Gebieten offiziellen Status und bleiben in der Schule präsent? Wenngleich auch die Situation der durch die englische Vernakularsprache geprägten Inseln über dem Wind spannend ist 5 , möchten wir die Beobachtungen auf die kreolophone Sprachgruppe der ABC-Inseln beschränken, da für sprachliche Minderheiten das divide et impera-Prinzip hochproblematisch ist. Vorwegzuschicken gilt es überdies, dass gerade die erste Dekade des 21. Jahrhunderts auf den N. A. sprachpolitische Errungenschaften mit sich brachte, welche seit den 1970er Jahren umkämpft waren. Denn zunächst wird die Antilliaans Landsverordening op de Officiële Talen der N. A. von 2007 als großer Schritt gefeiert, denn dieses Sprachgesetz reagiert schlussendlich auf die seit den späten 1970er Jahren geforderte Kooffizialisierung des Kreolischen und Englischen auf den N. A.. Nach langem Ringen wird - nachdem das Kreolische in den staatlichen Schulen Bonaires und Curaçaos schon seit 2004 als Unterrichtssprache benutzt wird - dem Papiamentu kooffizieller Status zugestanden. Dennoch erfolgt diese Statusabsicherung zu einem Zeitpunkt, zu dem auf der Grundlage der Referenden bereits die Slotverklaring (2005) ausgehandelt war, welche die Abschaffung des politischen Verbunds, in dem das neue Sprachgesetz Geltung hat, besiegelt wird. Mit der formellen Auflösung der N.A. werden damit Übergangsregelungen - zumeist Übernahmen der N.A.- Gesetzgebung - notwendig, bis zum Zeitpunkt einer endgültigen Ausregelung der Sprachenfrage seitens der Inselparlamente (mit eigener Jurisdiktion). Die BES-Gebiete werden als besondere Gemeinden der Niederlande europäischer Gesetzgebung unterworfen und gleichermaßen unter die Zuständigkeit des Rijksdienst Caribisch Nederland (Nationales Büro für die Karibischen Niederlande), kurz RCN, gestellt. Der genaue Status des Papiamentu auf Bonaire bleibt dadurch zunächst vage (cf. 3.1.), wenngleich das Kreolische ab diesem Zeitpunkt den vollen Schutz der Europäischen Charta zum Schutz der Regional- und Minderheitensprachen genießt (Council of Europe 1992). Wenden wir uns 5 Das Englische ist auf den Inseln über dem Wind hauptsächliche Vernakularsprache. Eva Martha Eckkrammer (Mannheim) 244 also zunächst der (Sprach)Gesetzgebung in den BES-Gebieten als besondere Gemeinden der Niederlande zu und damit dem sprachenrechtlichen Vakuum und den Interimsgesetzen von Caribisch Nederland. Dabei soll vor allem die Auswirkung auf die Präsenz der Sprachen im Bildungswesen fokussiert werden. 3.1. Karibische Niederlande: Sprachpolitik in den BES-Gebieten Mit der Auflösung der N.A. bildet sich neben den Gebieten mit status aparte ein neuer Inselverbund mit rund 21.000 Einwohnern 6 , der in zweierlei choronymischer Referenz in den Dokumenten aufscheint. Einerseits trifft man auf die Regionalbenennung Caribisch Nederland, mit den Entsprechungen Hulanda Karibe im Papiamentu und The Caribbean Netherlands im Englischen. Andererseits wird der Begriff BES-Inseln oder BES-Gebiete benutzt, der als Analogiebildung zu den zur Zeiten der N.A. häufig gebrauchten Initialbildungen für die ABC-Inseln und die SSS-Inseln entsteht. Als besondere Gemeinden der Niederlande sind die Inseln mit einem Inselrat (eilandsraad) sowie einem operativen Leitungsgremium (bestuurscollege) ausgestattet, dem ein Gouverneur (gezaghebber) vorsitzt. Die Einwohner der BES-Inseln haben das Wahlrecht für die Niederlande und die EU. Bei genauer Sichtung sind die Gebiete vor dem Gesetz jedoch nicht niederländischen Gemeinden gleichgestellt, sondern gelten als öffentliche Entitäten (openbare lichamen), so dass die Gesetzgebung sich mitunter deutlich von jener der Niederlande unterscheidet. Da die Gebiete nicht Teil einer niederländischen Provinz sind, entfällt die Entscheidungsgewalt, die in der Regel einer Regionalregierung zukommt, zu gleichen Teilen auf den Inselrat und den RCN. Seitens der EU haben die Inseln den Status von Überseeterritorien. Das politische Konstrukt soll zunächst bis 2015 erprobt werden. Auf der Ebene der Sprach- und Bildungspolitik ergibt sich dadurch die Herausforderung, das kreolophone Territorium Bonaire (ebenso wie die anglophonen ES-Inseln) adäquat zu berücksichtigen und in seiner Mehrsprachigkeit gesetzlich zu verankern. Der RCN entwirft im Auftrag des Ministeriums (Ministerie van Onderwijs, Cultuur en Wetenschap, MOCW) eine Bildungsagenda für die Karibischen Niederlande, die als Onderwijsagenda voor Caribisch Nederland (OCN) im März 2011 von der niederländischen Ministerin für Bildung, Kultur und Wissenschaft sowie 6 Die niederländischen Censusdaten vom 31.12.2010 weisen für Bonaire 15.666, für St. Eustatius 3.643 und für Saba 1.824 Einwohner aus (CBS 2012c). Überlegungen zum Sprachausbau des Papiamentu/ o 245 allen betroffenen Ämtern und Schulleitungen unterzeichnet wird (MOCW 2011). Unter dem Lemma „Gemeinsam an der Qualität arbeiten“ werden die Eckpunkte und Prioritäten der Bildungspolitik festgelegt. Sprachpolitisch ist klar, dass die spezifischen soziolinguistischen und -kulturellen Bedingungen berücksichtigst werden sollen. So wird bereits in der Einleitung explizit vor einer eins zu eins Übernahme der niederländischen Bildungsagenda gewarnt und auf die andere(n) Muttersprache(n) und kulturellen Begebenheiten hingewiesen. Ieder eiland heeft een eigen cultuur, een eigen geschiedenis en een eigen identiteit. Op alle drie eilanden is voor veel leerlingen het Nederlands niet de moedertaal. Ook vanwege de schaal en de afstand is het niet mogelijk om het onderwijs op exact dezelfde manier te organiseren als in Europees Nederland (MOCW 2011, 1) (Jede Insel hat eine eigene Kultur, eine eigene Geschichte und eine eigene Identität. Auf allen drei Inseln ist für viele Schüler und Schülerinnen das Niederländische nicht die Muttersprache. Überdies ist es auch angesichts der anderen Maßstäbe und der geographischen Distanz nicht möglich, den Schulbetrieb in der gleichen Weise zu organisieren, wie dies in den europäischen Niederlanden der Fall ist.) Die weiteren Ausführungen weisen explizit auf die Notwendigkeit des Einbezugs des karibischen Kontexts sowie der unterschiedlichen Ausgangssituation und der Anschlussfähigkeit an die lokale Lebenswelt hin. Die Sprach- und Rechenkompetenz wird in den Mittelpunkt gestellt und die Aussagen verdeutlichen, dass im Vergleich mit der Situation vor 1970, in der die vollständige Negation der sprachlichen Andersartigkeit der Antillen im Schulwesen der Regelfall war, eine neue Politik angewandt werden soll. Gleichermaßen wird jedoch als Maßstab im Sekundarschulbereich das Niederländische als Unterrichtssprache sowie als Sprache des Zentralexamens erwähnt. Het regeerakkoord van het huidige kabinet benadrukt dat de kerntaak van scholen in het primair onderwijs ligt bij taal (Papiaments, Engels en Nederlands) en rekenen. Bijkomende uitdaging voor Caribisch Nederland is dat de instructietaal in het vortgezet onderwijs op Bonaire, Saba en Sint- Eustatius Nederlands is en dat de eindexamens in het Nederlands worden afgenomen (MOCW 2011, 6, eigene Hervohebung) (Das Regierungsabkommen des aktuellen Kabinetts betont, dass die Hauptaufgabe der Schulen im Grundschulbereich im Bereich der Sprache (Papiamentu, Englisch und Niederländisch) und beim Rechnen liegt. Für die Karibischen Niederlande kommt die Herausforderung hinzu, dass die Unter- Eva Martha Eckkrammer (Mannheim) 246 richtssprache im Sekundarschulbereich auf Bonaire, St. Eustatius und Saba das Niederländische ist und dass die Abschlussexamina auf Niederländisch erfolgen.) Insofern gilt es an der OCN-Agenda dahingehend Kritik zu üben, dass eine sichtbare Verankerung stabiler Mehrsprachigkeit nur auf Grundschulniveau als Ziel sichtbar ist und eine gehobene multiple Sprach(en)kompetenz und stabile Mehrsprachigkeit außen vor bleibt. Konkreta zur Verteilung der Sprachen in den verschiedenen Schulstufen, zwischen Unterrichtssprache und Fach werden nicht erwähnt. Damit ist nicht sicher, ob hinter die 2004 erfolgte Einführung des Kreolischen als Unterrichtssprache auf Bonaire zurückgegangen wird. Im Raum steht ein wenig konkret definiertes Übergangsmodell, dessen Ziel vor allem die Transition zu gehobener niederländischer Sprachkompetenz und damit am Ende der Kette die Submersion ist. Angesichts des prioritären Ziels, Anschlussfähigkeit zum niederländischen Schulsystem herzustellen, wird ein Effekt der (Re)Niederlandisierung nicht ausbleiben (v.a. im Bereich der höheren Bildung). Lediglich bei den Berufsschulen wird eine Kooperation mit anderen Gebieten der vormaligen N.A. angesprochen (MOCW 2011, 3). Die Qualität versucht man also v.a. durch Anpassung an das niederländische Zielniveau zu erreichen, so dass es mehrfach heißt, dass bereits ab dem Schuljahr 2011-2012 in den Sekundarschulen auf niederländische Examina hingearbeitet wird (MOCW 2011, 5). Mitunter wird zwar die Übersetzung von Zentralexamina in Aussicht gestellt und den Schulen bei der Interpretation der Ergebnisse sprachliche Unterstützung zugesichert, ein genaues Übergangsszenario, wie man im Zuge eines transitional models den Übergang vom Kreolischen zum Niederländischen schafft, bleibt jedoch aus. Vor allem hinsichtlich der konkreten Unterrichtssprache im Grundschulbereich bleibt die OCN vage und unbestimmt. Die diffuse bildungspolitische Situation wird durch das sprachpolitische Vakuum der BES-Gebiete noch angeheizt, denn bisher stehen vor allem Übergangsregelungen im Raum, welche ausgehend von der Landesverordnung „offizielle Sprachen“ der N.A. dem Papiamentu bestimmten Schutz angedeihen lassen. So bestimmt das Interimsgesetz zu den offiziellen Sprachen der BES-Gebiete (Tijdelijke wet officiële talen BES, 2010), das vom Ministerium für Innere Angelegenheiten und Königreichsbeziehungen erstellt wird mit Gültigkeit bis Anfang 2012, dass der Eid des Inselrates von Bonaire in Papiamentu erfolgen kann (art 15 WolBES) Überlegungen zum Sprachausbau des Papiamentu/ o 247 - Rechtspersonen und Stiftungen ihre Einrichtungsstatuten in der Regionalsprache erstellen dürfen der Gerichtshof und Gerichte in erster Instanz in niederländischer Sprache Recht sprechen, jedoch das Papiamentu als Vortragssprache erlaubt ist (Rijkswet Gemeenschaplijk Hof van Justitie art. 9) (cf. van der Velden 2010) Als aktuelle Rechtsgrundlage dient mittlerweile das Einführungsgesetz der BES-Gebiete (Invoeringswet openbare lichamen Bonaire, Sint Eustatius en Saba 2010), das per 1.Januar 2011 in Kraft tritt. Der sprachpolitisch relevante Abschnitt 2b „Die Sprache im amtlichen Verkehr (De taal in het bestuurlijk verkeer), welche v.a. die Sprache im Inselrat, in der Rechtssprechung, bei den Beamten ausregelt, beginnt mit der allgemeinen Aussage, dass generell die niederländische Sprache zu gebrauchen ist, wenn nicht in einem Unterabschnitt Anderes bestimmt wird: 1. De [...] bedoelde organen en personen gebruiken de Nederlandse taal, tenzij bij of krachtens dit hoofdstuk anders is bepaald. 2. Zij kunnen een andere taal gebruiken dan bij of krachtens dit hoofdstuk is bepaald, indien het gebruik daarvan doelmatiger is en de belangen van derden daardoor niet onevenredig worden geschaad. (1. Die betroffenen Organe und Personen bedienen sich der niederländischen Sprache, wenn es durch oder kraft dieses Abschnitts zu keiner anderen Regelung kommt. 2. Sie können sich einer anderen Sprache als in diesem Abschnitt bestimmt bedienen, falls der Gebrauch derselben zweckmäßiger erscheint und die Belange von Dritten dadurch nicht verletzt werden.) In der Folge wird zwischen dem Sprachgebrauch zwischen Privatpersonen und Ämtern, der amtsinternen Kommunikation und dem Kontakt mit dem europäischen Teil der Niederlande unterschieden. Bei Einzelpersonen kann nach §2, Artikel 4d, jeder die niederländische Sprache gebrauchen, auf Bonaire im Kontakt mit Ämtern und Amtspersonen auch das Papiamentu: „Een ieder kan: a. het Papiaments gebruiken in het verkeer met de organen van het openbaar lichaam Bonaire“ (Jeder kann a) das Papiamentu im Verkehr mit den Organen der öffentlichen Entität Bonaires gebrauchen; Invoeringswet openbare lichamen Bonaire, Sint Eustatius en Saba, 2010). Problematisch erscheinen allerdings die standardmäßigen Regelungen in diesem Abschnitt zwei des Einführungsgesetzes (4b-4j), dass zunächst als Sprache im amtlichen mündlichen wie schriftlichen Verkehr das Kreolische auf Bonaire zugelassen wird, in einem zweiten Schritt der Gebrauch mit BeamtInnen und Rechtsvertreter- Eva Martha Eckkrammer (Mannheim) 248 Innen ausgehebelt wird, sobald die Verwendung des Kreolischen (oder des Englischen) zu einer unverhältnismäßigen Belastung des Amtsverkehrs wird oder zu einem unbefriedigenden Verlauf desselben führt. Dies liegt freilich vor allem im Ermessen der AmtsträgerInnen und kann - obgleich punktuell auch eine Übersetzungsregelung getroffen wird - Probleme hervorrufen. Generell muss damit ob aller Detailregelungen im Einführungsgesetz der BES-Gebiete (Invoeringswet openbare lichamen Bonaire, Sint Eustatius en Saba, 2010) moniert werden, dass sowohl im Schulwesen als auch in der Verwaltung und Jurisdiktion das Kreolische zwar stets explizit Rechte zugesprochen bekommt, diese jedoch auch relativ einfach zu umgehen sind. Insofern verwundern auch die Ergebnisse einer ersten im Oktober 2011 publizierten Studie zur Wahrnehmung der Karibischen Niederlande seitens der BewohnerInnen selbst wenig (Curconsult 2011). Diese zeigt etwa für den Bildungsbereich auf, dass weniger als die Hälfte der BürgerInnen (42%) sich mit Blick auf die Neuerungen im Bildungsbereich für gut informiert halten. 27% fühlen sich sogar schlecht informiert, wobei in Bonaire die Unzufriedenheit am größten ist. Ein ähnliches Bild zeichnet sich auch bei der Frage nach der Qualität der Schulbildung: 40% der Befragten vermeinen seit der politischen Neuverortung eine Verbesserung wahrzunehmen, während 29% die Qualität für konstant und 22% für deutlich schlechter halten. Auch hier ist wiederum das kreolophone Bonaire jenes Gebiet des BES-Konstrukts, in dem der Pessimismus am deutlichsten ausgeprägt ist. Dennoch glauben 57% der BewohnerInnen der BES-Inseln, dass in Zukunft eine positive Entwicklung im Schulwesen eintreten wird, nur 13% vermuten eine Verschlechterung. Parallel zu den anderen Daten ist dieses positive Denken in Bonaire am schwächsten ausgeprägt (52% versus 75% auf Saba und 61% auf St. Eustatius). Im Vergleich mit anderen Themengebieten (medizinische Dienste, Steuern, Immigration) ist allerdings die Zufriedenheit mit dem Bildungsbereich etwas höher. Durchgesetzt hat sich in allen Sprachen überdies die Initialbildung RCN, um sich auf die neue politische Steuerungsinstanz zu beziehen (cf. Curconsult 2011). Inwieweit das Papiamentu als Minderheitensprache der Niederlande den Schutz der Charta zu spüren bekommt, ist derzeit ungewiss. Van der Velden (2010) plädiert dafür, dass ihm ein ähnliches Absicherungspaket wie dem Friesischen zukommen müsste. Angesichts des sehr kurzen Beobachtungszeitraums sowie der nur partiellen sprachrechtlichen Ausregelung ist derzeit noch schwer absehbar, welche Auswirkungen die neue politische Situation und Sprachge- Überlegungen zum Sprachausbau des Papiamentu/ o 249 setzgebung auf die Entwicklung des Kreolischen haben wird. In jedem Fall darf den Niederlanden angesichts der Referenden keine von langer Hand geplante divide-et-impera-Sprachpolitik attestiert werden. Eine „Glottotomie“ als bewusster oder versteckter Eingriff von außen (Goebl 1979, 7 in Anlehnung an den von Heinz Kloss geprägten Terminus der Sprachspaltung) 7 ist jedoch ebenso nachweisbar wie eine Schizoglossie, d.h. offensichtliche Probleme der inneren Gliederung der Sprachgemeinschaft und des Sprachgemeinschaftsgefühls (Goebl 1979, 7). Bevor noch die Auswirkung eines Nation-Building-Prozesses, wie er etwa auf Curaçao derzeit intensiv beworben wird (cf. Gobièrnu di Kòrsou 2011), auf den Sprachausbau berücksichtigt werden kann, zeigt sich im Detail der BES- Sprachpolitik, dass das Papiamentu auf Bonaire im Ausbauprozess zweifellos zurückfällt und eine weitgehende Entkoppelung von den übrigen Sprachgebieten stattfindet. Eine Kooperation mit der niederländischen Diaspora ist bisher noch nicht formalisiert, da diese auch keinen entsprechenden Schutz durch die europäische Charta zum Schutz der Regional- und Minderheitensprachen erfährt, denn allochthone Sprachgruppen sind aus der Charta explizit ausgeschlossen. Inwieweit das Papiamentu in Hinkunft tatsächlich von einem geschützten Status wie das Friesische profitieren kann, muss damit derzeit noch unbeantwortet bleiben. 3.2. Status aparte Gebiete: Arubas Inkorporationsprogramm und die neue Freiheit Curaçaos Auf Aruba stellt sich die Situation durch die seit 1986 weitgehend unabhängige Sprach(en)politik sehr unterschiedlich dar. Wenngleich die Absplitterung aus der Gesamtsicht zu einer Schwächung und Diversifikation im Bereich des Sprachausbaus führt (Glottotomie und Schizoglossie, s.o.), wird in Aruba ein eigenständiges sprachpolitisches Agieren möglich, welches den Ausbau des Kreolischen in eine Konsolidierungsphase überführt. Gleichwohl wird durch die unterschiedlichen Orthographien sowohl ein eigenständiges als auch unabhängiges Verlagswesen für die Minderheitensprache unter den neuen Bedingungen unmöglich. Aruba fokussiert jedoch zunehmend die Mehrsprachigkeit als wichtiges Thema, diskutiert die Vor- und Nachteile bilingualer Schulsysteme und versucht 7 „Glottotome Eingriffe setzen allerdings neben einem entsprechenden Machtpotential auf seiten des Staates auch das Vorhandensein gewisser Kohärenzprobleme innerhalb der betreffenden Sprachgruppe voraus, wodurch es erst möglich wird, zwei oder mehrere Teilgruppen der jeweiligen Sprachgemeinschaft gegeneinander auszuspielen“ (Goebl 1979, 31f). Eva Martha Eckkrammer (Mannheim) 250 Zuwanderersprachen sowie Problemkomplexe beim Erwerb der Zielsprache Papiamentu (oder Englisch) aktiv zu bearbeiten. Bereits im Mai 2003 erfolgt die Kooffizialisierung des Papiamentu durch die autonome arubanische Gesetzgebung (Legislacion Arubano). Dennoch bleibt man im Schulsystem auf den höheren Ebenen dem Niederländischen treu, nicht zuletzt um die Anschlussfähigkeit an die niederländische Universitätslandschaft nicht zu verlieren. Lediglich Berufsschulen (Enseñansa Profeshonal Basiko und Medio) dürfen das Kreolische umfänglich fortschreiben. Angesichts der Tatsache, dass der mit der Entlassung in den Sonderstatus vinkulierte Weg in die Unabhängigkeit nach Ablauf von zehn Jahren dann doch nicht eingeschlagen wird, bleibt zwar das gemeinsame außenpolitische Dach erhalten, nicht jedoch die gemeinschaftliche Sprachpolitik und -planung. Die interinsuläre Standardisierungskommission gibt in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre ihre Arbeit auf (cf. Eckkrammer 2005), so dass Standardisierung ab diesem Zeitpunkt nur mehr bottom-up stattfindet, u.a. durch das Projekt banko di palabra der Fundashon Planifikashon di Idioma (FPI) auf Curaçao. Zur besseren Integration der allochthonen Minderheiten führt Aruba 2011 ein neues Programm ein, wenngleich die Eckpunkte bei genauerem Hinsehen etwas widersprüchlich erscheinen: Het doel van het PRISMA-project was in het begin om alleen de anderstalige buitenlandse kinderen zo snel en zo goed mogelijk taalvaardig te maken in het Nederlands. […] Nederlands is en blijft ook voor Arubaanse kinderen een vreemde taal en zal nooit hun eerste taal of moedertaal worden. (Gobierno di Aruba 2011) (Das Ziel des PRISMA-Projekts war zu Beginn, die anderssprachigen Kinder so schnell als möglich im Niederländischen sprachfähig zu machen. […] Niederländisch ist und bleibt auch für arubanische Kinder eine fremde Sprache, welche niemals die Primär- oder Muttersprache werden kann.) Die zugrunde liegende sprachpolitische Programmatik setzt bei der Pflege der Mehrsprachigkeit an und zielt darauf ab, dass alle Kinder mehr als und in mehr als einer Sprache lernen sollen. Ein mehrsprachiges Unterrichtsmodell, das gerade entwickelt wird, soll dafür sorgen. Präzise Informationen dazu sind noch nicht vorhanden. Im Vergleich dazu zeichnet sich für Curaçao derzeit ein Festhalten an den sprachpolitischen Regelungen der N.A. ab, die eine Fortschreibung erfahren. Hinter die Errungenschaften von 2007 soll nicht zurückgegangen werden, vielmehr wird dem Kreolischen ein prominenter Platz einge- Überlegungen zum Sprachausbau des Papiamentu/ o 251 räumt. Allerdings zeigt sich bei einer vergleichenden Analyse der Website der Regierung Curaçaos mit jener der RCN für die BES-Gebiete, dass letztere wesentlich konsequenter dreisprachig (Niederländisch, Englisch und Papiamentu) agiert. Die Inselregierung von Curaçao hingegen fügt nur punktuell kreolische Texte ein und dies obgleich sich hinsichtlich der sprachlichen Distribution in den vergangenen zehn Jahren auf der am stärksten besiedelten Insel wenig verändert hat. Die vorläufigen Census- Daten für 2011 zeigen, dass auf Curaçao in 78,6% der Haushalte Papiamentu die dominante Sprache ist, während nur 9,4% Niederländisch benutzen, gefolgt von Spanisch (6%) und Englisch (3,5%) (CBS 2012b). Inwieweit eine Stärkung des Kreolischen und eine Kontaktnahme mit den anderen Sprachgebieten erfolgen wird, lässt sich noch nicht vorhersagen. Lediglich in der Bildungspolitik steht ein neues Schulsystem im Raum, bei dem im Rahmen eines Übergangsmodells in den Anfangsjahren die Einführung der Muttersprache der Mehrheit der Bevölkerung - und damit das Papiamentu - als Unterrichtsmedium im Zentrum steht. Die Ausgestaltung der Autonomie wird damit in jedem Fall in unterschiedlicher Weise geschehen und an den vorherigen Status anknüpfen. Ob es zwischen Aruba und Curaçao unter den neuen politischen Bedingungen wieder zu einer Annäherung und Kooperation kommt, muss zum aktuellen Zeitpunkt ebenfalls unbeantwortet bleiben. 4. Schlussfolgerungen und mögliche Auswege Fassen wir die wichtigsten Eckpunkte der Entwicklung und ihre Auswirkungen zusammen, so sind die Desintegrationstendenzen der N.A. - und damit des Sprachgebiets des Papiamentu - ab den 1970er Jahren bemerkbar. Aruba, nicht zuletzt aus Unzufriedenheit angesichts der Hegemonialstellung der größeren Nachbarinsel Curaçao, schlägt mit aller Kraft den Weg in Richtung status aparte ein. Nach der ungestraften Aufgabe der Vinkulation mit der Unabhängigkeit (1991) wird dieser autonome Status innerhalb des Königreichs der Niederlande in den Referenden der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts zu einer attraktiven Option. Dennoch optiert man auf Bonaire für eine Eingliederung in die Niederlande und bewirkt auf diese Weise die endgültige Zersplitterung des Kernsprachgebiets des Papiamentu. Damit rückt die gemeinschaftliche Erarbeitung didaktischer Materialien im Zuge einer einheitlichen Bildungsagenda oder auch ein starkes Verlagswesen in weite Ferne. Virulent ist überdies für die aktuelle Situation der vollständige Verlust einer gemeinsamen, institutionell ver- Eva Martha Eckkrammer (Mannheim) 252 ankerten Sprachplanung. Dieser Umstand unterminiert, wie die wenig deutlichen Aussagen der Bildungsagenda für die BES-Territorien belegen, sowohl das Recht auf primärsprachlichen Erstunterricht als auch den Ausbauprozess des Kreolischen. Die Rollenverteilung der Sprachen ist in den besonderen Überseegemeinden als diffus zu bezeichnen, wenngleich sich die Neuregelungen große Mühe geben, die verschiedenen Sprachen, und damit auch das Kreolische, gleichberechtigt anzuerkennen. Nicht zuletzt erschweren die in den drei kreolophonen Inselterritorien geltenden unterschiedlichen gesetzlichen Rahmenbedingungen eine enge Kooperation, und damit rückt die Wiederaufnahme eines gemeinschaftlichen Standardisierungsprozesses ebenso in weite Ferne wie eine gemeinsame Bildungsagenda. Das für Bonaire unscharf beschriebene Übergangsmodell zielt überdies nicht auf eine stabile Mehrsprachigkeit ab, wie dies die Inkorporationsprogramme der anderen Inseln versuchen, sondern vielmehr auf eine kulturkontingente Heranführung an niederländische Bildungsstandards. Angesichts des sehr jungen Stadiums des sprachpolitischen Schismas bleibt zu hoffen, dass es längerfristig zu einem sprachplanerischen Schulterschluss zwischen Bonaire und den anderen beiden kreolophonen Inseln kommt - ebenso jedoch auch mit des allochthonen papiamentusprachigen Minderheiten in den Niederlanden sowie authochtonen Sprachminderheiten wie den Friesen. Ziel wäre ein gemeinsames Pochen auf die Einhaltung der Europäischen Charta für Regional und Minderheitensprachen, die bereits 1992 von den Niederlanden unterfertigt, 1996 ratifiziert und bereits seit 1998 umgesetzt wird. Eine Einforderung der Rechte, Strukturen und Finanzmittel, die dem Friesischen zukommen, würde dem Papiamentu auf Bonaire eine solide ausbautechnische Weiterentwicklung ermöglichen und auch positive Impulse für die Nachbarinseln. Für die SprecherInnen des Papiamentu ist die Implementierung einer dezidierten Mehrsprachigkeitsprogrammatik in den wichtigen gesellschaftlichen Domänen - v.a. der Bildung, Rechtssprechung und Administration - von zentraler Bedeutung. Eine solche müsste dem Kreolischen im gesamten Curriculum einen festen Platz einräumen - und zwar als Unterrichtsmedium sowie im kontinuierlichen primärbzw. herkunftssprachlichen Unterricht. Eine positive Entwicklung auf linguistischer Ebene bedarf wiederum einer entsprechenden Gesetzgebung und einer intensiven Kooperation zwischen Bonaire, Aruba und Curaçao. Überlegungen zum Sprachausbau des Papiamentu/ o 253 Es bleibt damit zu hoffen, dass die inklusive der Diaspora 8 bald 350.000 SprecherInnen zählende Sprachgemeinschaft des Papiamentu auch in dieser noch virulenteren Phase des Geteiltseins einen gemeinsamen Weg findet und damit jenseits der sehr unterschiedlichen gesetzlichen Rahmen eine Kooperationsbasis, die es erlaubt, das Papiamentu auch weiterhin als die Kreolsprache an der Speerspitze des Sprachausbaus zu betrachten. Es wäre damit auch vollends gerechtfertigt, in den postkolonialen Gebieten nicht nur über eine Teilhabe an der institutionalisierten Niederländischen Sprachgemeinschaft Nederlandse Taalunie nachzudenken, sondern die Gründung einer gebietsübergreifenden Union Pro Papiamentu 9 anzuregen. Literaturhinweise CBS = Centraal Bureau Statistiek, Bevolking; generatie, geslacht, leeftijd, en herkomstgroepering, Den Haag/ Heerlen, 2011, http: / / statline.cbs.nl/ Stat Web/ publication/ ? 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RefererType=RSSItem [Stand 31.01.2012]. 8 Man kann heute angesichts der kontinuierlichen Migrationszuwächse von etwa 120-130.000 SprecherInnen des Papiamentu in den Niederlanden ausgehen. Die Zahl der aus den N.A. stammenden Menschen, die in den europäischen Niederlanden ansässig sind, weist v.a. in den vergangenen sechs Jahren einen deutliches Zuwachs auf. Das Centraal Bureau Statistiek spricht 2011 von 141.345 Menschen, die dieser Gruppe angehören, wobei knapp 58% davon der ersten Generation „Einwanderer“ angehören (CBS 2011). 2006 waren es noch nicht ganz 87.000. 9 Der Begriff würde terminologisch an eine der ersten Standardisierungsinitiativen anknüpfen. Eva Martha Eckkrammer (Mannheim) 254 Council of Europe / Conseil de l´Europe: Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen. European Charter for Regional or Minority Languages. Charte européene des langues régionales ou minoritaires, Straßburg, 1992. Curconsult: Sigui konstruí huntu. 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Papiamento als Musterfall der „America Romana“ Wenn ein Idiom gut in das Grundkonzept der „America Romana“, also das Ineinanderwirken verschiedener romanischer und nichtromanischer Sprachen, aus dem etwas Neues entsteht, passt, dann ist es die Papiamento 1 genannte Kreolsprache der niederländischen Inseln Aruba, Bonaire und Curaçao (auch kurz ABC-Inseln genannt) vor der Küste Venezuelas. Wir haben es hier mit einem besonders intensiven Fall des Sprachkontakts zu tun, wo ein Amalgam aus portugiesischen und spanischen Elementen die Sprachbasis bildet, dieses Amalgam aber erst durch niederländische Zutaten, die vom Anfang der Sprachentwicklung an einwirkten, seine volle Funktionsfähigkeit erhält. Wörter anderer Herkunft, also afrikanische, französische oder englische Elemente, bilden nur ein schmückendes, numerisch unerhebliches Beiwerk zum iberoromanischen Papiamento mit niederländischer Überformung. 2. Etymologische Studien zum Papiamento Etymologische Studien zum Papiamento haben trotz der Tatsache, dass im letzten Vierteljahrhundert einige ausführlichere Darstellungen zu Aspekten der Sprache erschienen sind 2 , und obwohl es inzwischen fünf umfangreiche Wörterbücher gibt 3 , nicht gerade Hochkonjunktur: Manchmal wird, wenn es den Verfassern nötig erscheint, die Herkunft von Wörtern kurz angegeben, aber von einem etymologischen Wörterbuch ist man noch weit entfernt, nicht zuletzt deswegen, weil in vielen Fällen denjenigen, die sich intensiver mit dem Papiamento beschäftigen, die Herkunfts- 1 Ich verwende diese auf Aruba übliche Form; auf Curaçao und Bonaire gilt Papiamentu. 2 Kouwenberg & Murray 1994; Eckkrammer 1996; Martinus 1996; Munteanu 1996; van Buurt & Joubert 1997; Maurer 1998; van Putte 1999; Fouse 2002; Kramer 2004; Bachmann 2005; Faraclas & Severing & Weijer 2008. 3 Dijkhoff 1991; Mansur 1997; Joubert 1999; van Putte 2005; Ratzlaff 2008. Johannes Kramer (Trier) 258 frage so banal erscheint, dass sie nicht näher darauf eingehen zu müssen glauben: In vielen Fällen liegt gegenüber der iberoromanischen, also spanischen und/ oder portugiesischen Ausgangsform 4 , entweder gar keine Veränderung (enfermo, batata, flor) oder nur eine minimale Abweichung (tempu, -o = sp. tiempo, port. tempo) vor, und die niederländischen Elemente sind oft einfache Übernahmen (druk, spuit, speculaas). Freilich, wann man mit Erklärungen einsetzen muss, ist nicht immer einfach: Dass buki ‚Buch’ etwas mit boek (gesprochen [buk]) zu tun hat, liegt auf der Hand, dass das -i auf eine volkstümliche Diminutivform -ie zurückgeht, die dem schriftsprachlichen -je entspricht, weniger, und dass also aus bord ‚Tafel, Schild’ über bordje/ bordie die Form borchi entstehen muss, ist jedenfalls eine Erklärung wert. Ein vollständiges etymologisches Wörterbuch des Papiamento würde alle Probleme lösen, denn dort würden ja schwierige Etymologien genauso wie auf der Hand liegende Herleitungen ihren Platz finden. Der Weg dahin ist freilich noch lang, und man kann nur neidvoll verfolgen, wie weit die frankokreolischen Idiome hier schon vorangekommen sind 5 . Es ist vielleicht gut, zunächst einmal in sich alphabetisch geordnete kürzere Studien zu in irgendeiner Weise auffälligen Wörtern zu veröffentlichen, die ja später einmal als Mosaiksteine eines Wörterbuchs verwendet werden könnten. Kürzlich habe ich in einem Zeitschriftenbeitrag etwa 120 Etymologien veröffentlicht (Kramer 2011), und ich möchte hier 150 weitere Etymologien anschließen. Die Wörter sind in der Orthographie von Curaçao und Bonaire („ortografia fonológiko“) angeführt, die die Lautung relativ gut wiedergibt; wenn es nötig ist, wird die historischen Prinzipien folgende Orthographie Arubas („ortografia etimologico“), die Romanisten ein vertrauteres Bild bietet, daneben angeführt. 4 Bekanntlich ist das Papiamento eine Kreolsprache, die einen portugiesischen Grundbestand hat, der von Anfang an starker Hispanisierung und zunehmend auch Niederlandisierung unterlag; das Portugiesische erfuhr noch eine Auffrischung durch Entlehnungen, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und am Anfang des 18. Jahrhunderts aus der Sprache der sephardischen Juden erfolgten, aber danach gab es virtuell keine Kontakte zwischen den Bewohnern der Karibikinseln und dem Portugiesischen mehr, während das Spanische omnipräsent blieb, so dass alle jüngeren Entlehnungen aus dem Spanischen erfolgten. Eine formale Unterscheidung zwischen spanischen und portugiesischen Lehnwörtern ist oft nicht möglich; es ist naheliegend, beide Sprachen zu nennen, auch wenn oft aus kulturellen Gründen eigentlich nur das Spanische in Frage kommt. 5 Vom Dictionnaire étymologique des créoles français ist der Teil, der den indischen Ozean erfasst, bereits erschienen (Bollée 1993-2007), am amerikanischen Teil wird gearbeitet (Bollée 2007, 139). 150 Papiamento-Etymologien 259 3. Lautliche Veränderungen bei der Adaptation von portugiesischen, spanischen und niederländischen Elementen ans Papiamento Bei der Adaptation von portugiesischen, spanischen und niederländischen Elementen an die Lautstruktur des Papiamento treten regelmäßige Veränderungen auf, die man normalerweise in einer historischen Lautlehre behandeln würde. So etwas gibt es für das Papiamento nur in Ansätzen: Rodolfo Lenz liefert eine kurze „Fonética“ (1928, 77-93), John Calhoun Birmingham liefert in seiner nur als Mikrofilm zugänglichen Dissertation eine „Phonology“mit historischen Ausblicken (1970, 1-39), und eine „Historische Lautlehre“ findet sich bei Johannes Kramer (2004, 163-176). Im Folgenden habe ich kurz die wichtigsten phonetischen Erscheinungen zusammengestellt, die in den folgenden Etymologien auftreten. Im Vor- und Nachton besteht die Tendenz, e durch i und o durch u zu ersetzen (Kramer 2004, 164-166), wobei auf Aruba vielfach -o steht, während Curaçao -u hat. In den Kombinationen -eya und -iya fällt das -y- aus (Birmingham 1970, 22), das ja der amerikanisch-spanischen Aussprache entsprechend auch für den palatalen Lateral, der -ll- geschrieben wird, eintritt: beaku, orea, rosea, strea und famia, kuchiu, kustia, patia, pieu, puitu, rudia, sia, simia, stampia. Das intervokalische [x] fällt regelmäßig aus (Birmingham 1970, 20-21; Kramer 2004, 171): abou, bieu, kangreu, leu, nuá, pareu, y(i)u. In den Verbindungen von b und g mit dem Halbvokal [w] fällt das konsonantische Element weg, also bu + Vokal und gu + Vokal > w (Birmingham 1970, 28): tawela, webu, wela, wesu, yewa. In der Kombination von [s] mit nachfolgendem [i] wird der Sibilant zu [ ] (Kramer 2004, 172): ansha, doshi, masha, shimaron, shinisha. Es kommt vor, dass -y- nasaliert wird, also über -ny- zu -ñ- wird: haña. Die Unterscheidung zwischen den Lateralen l und r ist nicht besonders ausgeprägt, das heißt, bis zu einem gewissen Grade sind l und r austauschbar: lastra, plama, purga. Das r kann auch ausfallen: bigonia, totolika, kakalaka.; im Auslaut ist der Wegfall die Regel. Metathese tritt besonders häufig auf, wenn ein r oder ein l betroffen sind: drumi, perta, purba, skirbi, stroba, trempan, tribon; balia, lubidá. Gelegentlich kann -r- statt -d- (sangura) und -b- statt -m- (kabaron) eintreten (Kramer 2004, 169). Johannes Kramer (Trier) 260 Die iberoromanischen Elemente können gekürzt werden. Am häufigsten tritt Aphärese, also der Ausfall der unbetonten Anfangssilbe, auf (Birmingham 1970, 30-31): brongosá, dòrna, fenete, fiernu, ihá, kaba, lampro, lastra, marga, mashá, nuá, plama, pura, ranka, riba, saminá, sende, suku, tende, tormentá, wela, zeta. Ein Sonderfall der Aphärese liegt vor, wenn das iberoromanische e vor s impurum ganz regelmäßig ausfällt (Birmingham 1970, 23): skirbi, sklama, spada, spanta, stampia, staña, strea, stroba. Im Vergleich zur äußerst häufig auftretenden Aphärese kommt die Apokope des Auslauts ziemlich selten vor (Birmingham 1970, 31-32): cos, siman. Auch die Synkope, also der Schwund unbetonter Inlautsilben, ist vergleichsweise selten (Birmingham 1970, 31): dirti, drama, drechi. Die meisten Papiamento-Wörter sind zweisilbig. Niederländischen Wörtern wird daher oft ein -u/ -o oder ein -a angefügt, um sie „einheimischer“ aussehen zu lassen: kana, skèiru, snèiru, sorto. Aber auch generell ist der Auslautvokal nicht selten Veränderungen unterworfen, denn es kommt assimilatorische Umgestaltung vor (Birmingham 1970, 25-26): -a statt -e: biaha, kaya, pia; -a statt -o: aña, frena, staña, tawela; -o statt -a: siboyo; -e statt -o: dede, promente; -i statt -a: butishi). Es gibt daneben auch, viel seltener, den Fall der dissimilatorischen Umgestaltung (Birmingham 1970, 26): -a statt -e: feneta; -u/ -o statt -e: tristu/ tristo. Progressive Assimilation tritt gelegentlich auf: brongosá, burdugu, chubatu, komprondé, pordoná, pursuguí, sonfonía. Die Adjektive gehen normalerweise auf die iberoromanische Maskulin-Form zurück, aber es gibt Fälle, wo das Femininum zugrundeliegt: Das Musterbeispiel ist bunita ‘schön’, wo die feminine Form sich wahrscheinlich daher erklärt, dass das Wort sich häufig auf Frauen bezog (una mujer bonita > un muhé bunita), aber oft gibt es keine offenkundige Erklärung: barata, bisiña, marga. Ein Sonderfall ist die Schnellsprech-Kurzform yen < sp. lleno. Ein Charakteristikum des Papiamento ist darin zu sehen, dass eine portugiesische Ausgangsform mit einer spanischen Parallelform ein Amalgam eingeht, dass also eine portugiesisch-spanische Mischform auftritt (palomba < port. pomba + sp. palomba, vgl. Kramer 2004, 99). In der folgenden Liste treten solche Fälle bei soño, galiña, bakiou auf. 4. Etymologien von Papiamento-Wörtern abou ‚unten, unter, herunter, westlich’ < sp. abajo. Der intervokalische Frikativ [x] ist regelmäßig geschwunden. 150 Papiamento-Etymologien 261 aña ‚Jahr’ < sp. año. Die Endung ist in Assimilation an den Hauptton zu -a geworden. ansha (Aruba ansia) ‚Angst; Eile’ < port. ânsia, sp. ansia. Bei der heute auf Curaçao einzig gängigen Form ansha liegt die Entwicklung des [s] vor ursprünglichem [i], das dann geschwunden ist, zu [ ] vor. Die portugiesisch-spanische Ausgangsform hat sich auf Aruba erhalten, wo auch die Bedeutung ‚Verlangen’ noch lebendig ist; ansia ‚Angst’ ist im 19. Jahrhundert auch für Curaçao noch belegt (Frederiks 2009, 2). atrobe, trobe ‚wieder, erneut’ < port. outra vez, sp. otra vez. Wahrscheinlich liegt eine Metatheseform *otrabe (amerikatypischer Ausfall des Schluss-Sibilanten) > atrobe vor. bakiou ‚Kabeljau, Stockfisch’ < port. bacalhau, sp. bacalao, niederl. kabeljauw. Die romanischen und germanischen Bezeichnungen für den durch Einsalzen haltbar gemachten ‚Stockfisch’, der lange Zeit ein wichtiger Bestandteil der Küche der ABC-Inseln war, hängen etymologisch zusammen, obwohl es noch nicht gelungen ist, das eigentliche Etymon festzumachen. Im Papiamento ist die Endung des Wortes zweifellos aus dem Niederländischen zu erkären, während der Wortanfang iberoromanischen Ursprungs ist. balia ‚tanzen’ < port. sp. bailar. Es liegt eine Metathese des -l- vor. baliña ‚Scheide für Messer, Schwerter etc.; Schote der Hülsenfrüchte’ < port. bainha. Das sp. vaina kommt wegen des -ñ- nicht in Frage. Dan Munteanu (1996, 260) erklärt das -l- aus einer Einmischung von Papiamentu galiña ‚Huhn’, aber man könnte auch an balente ‚mutig, tapfer’ denken. barata ‚billig’ < port. sp. barato. Das Papiamento-Wort geht auf das iberoromanische Femininum zurück; Assimiliation an -a-a. basora ‚Besen’ < port. vassoura. Es gibt in der portugiesischen Umgangssprache auch die Variante bassoura. Das spanische basura heißt nur ‚Müll’ und kommt deswegen als Etymon nicht in Frage. In der vulgären Umgangssprache bezeichnet basora auch das ‚männliche Glied’ (Marugg 1992, 11: ‚miembro viril’). beaku (Aruba beaco) ‚schlau, gerissen’ < sp. bellaco. In spanischen Verbindungen des Typs [eja] kann das [j] wegfallen. biaha ‚Reise; mal’ < sp. viaje. Der Auslaut des spanischen Wortes ist an den Haupttonvokal assimiliert worden. Die Bedeutung ‚mal’ (dies biaha ‚zehnmal’, un biaha mas ‚noch einmal’, otro biaha ‚ein anderes Mal’) ist aus dem Niederländischen des 18. Jahrhunderts entlehnt, wo reis neben ‚Reise’ auch ‚mal’ (tien reis ‚zehn mal’) heißen konnte (Kramer 2004, 146). Johannes Kramer (Trier) 262 bieu ‚alt’ < sp. viejo. Es liegt der im Papiamento übliche Schwund des intervokalischen frikativen Velars vor: [bjexo] > [bjeo] > [bjeu]. bigonia ‚Spitzamboss’ < sp. bigornia. Das vorkonsonantische -r- ist ausgefallen. bisiña ‚benachbart; Nachbar, Nachbarin’ < port. vizinho, sp. vecino. Es liegt eine unauflösliche Mischung zwischen dem portugiesischen (i der ersten Silbe, nh) und dem spanischen (v- > b-, -ci- > -si-) Wort vor. Das iberoromanische Femininum hat sich durchgesetzt. botram ‚Butterbrot’ < niederl. boterham. Das unbetonte -e- ist geschwunden, und es gibt keine Spur eines Hauchlautes. brongosá ‚in Verlegenheit bringen’ < sp. avergonzar. Es liegt Aphärese dar Anlautsilbe vor. Die weitere Entwicklung läuft über eine er-re- Metathese und über eine Verlagerung des Nasals aus der zweiten in die erste Silbe, die dann die Verdumpfung des e zu o zur Folge hatte: bergonsá > bregonsá > brengosá > brogonsá. bula ‚fliegen, springen’ < sp. volar. Während die Bedeutung ‚fliegen’ aus dem Spanischen übernommen ist, ist ‚springen’ eine Weiterentwicklung, die nur im Papiamento vorliegt. burdugu (Aruba burdugo) ‚Henker’ < port. sp. verdugo. Die Vortonvokal ist an den Tonvokal assimiliert worden. butishi ‚Krug’ < port. sp. botija. Lautlich ist das -sh- aus dem portugiesischen [ ] und nicht aus dem spanischen [x] zu erklären. Im Auslaut ist -i statt -a eingetreten. chincha ‚Sattelgurt, Gürtel; Katapult; Wandlaus’ < sp. cincha. Der Anlaut ist an den Inlautkonsonanten assimiliert worden. Die Bedeutungsentwicklung zu ‚Gürtel’ einerseits, ‚Katapult’ andererseits ist nicht erstaunlich; bei der ‚Wandlaus’ ist die Körperzeichnung ausschlaggebend. chubatu (Aruba chubato) ‚Bock’ < sp. chivato. Durch den nachfolgenden Tonvokal -a- ist der Vokal der Anlautsilbe velarisiert worden. dede ‚Finger; Zeh’ < port. sp. dedo. Der Auslautvokal ist analogisch an den Tonvokal angeglichen worden. Zur Unterscheidung von ‚Finger’ und ‚Zeh’ sagt man, wenn es nötig ist, dede di man und dede di pia. depchi ‚10 Cent’ < niederl. dubbeltje. Im traditionellen niederländischen Münzensystem war ein dubbeltje ein ‚doppelter Stuiver [dòsplaka] (= 5 Cent-Stück)’. diesplaka, djesplaka ‚25 Cent’ < sp. diez placa(s). Diese dem niederländischen kwartje ‚ein viertel Gulden’ entsprechende Münzeinheit ist das Zehnfache der Münzeinheit plaka. 150 Papiamento-Etymologien 263 dirti ‚schmelzen’ < port. derreter, sp. derretir. Es liegt Schwund der unbetonten Inlautsilbe vor. disimbèin, lisimbein, risimbein (Aruba risinbein, lisinbein) ‚Tausendfüßler’ < niederl. duizendbeen. Im Jahre 1859 stand die damals übliche Form dizenbein (Frederiks 2009, 22) noch relativ nahe am niederländischen Etymon. Heute ist die Form mit d- auf Curaçao ausgestorben und auf Aruba veraltet, stattdessen liegen Dissimilationsformen mit l- und r- vor, wobei l- auf Curaçao und r- auf Aruba verbreiteter ist. dòrna ‚schmücken’ < port. sp. adornar. Es liegt Aphärese des a- vor. doshi ‚Dose, Schachtel; weibliches Geschlechtsorgan’ < niederl. doosje (Diminutiv von doos). Im Niederländischen wird die Verbindung -sj- als [ ] realisiert. Die sexuelle Bedeutung liegt auch bei niederl. doosje vor (Marugg 1992, 24). dòsplaka ‚5 Cent (= Stuiver)’. Im traditionellen niederländischen Münzsystem gingen von dieser Münze, dem Stuiver, die anderen Benennungen (dubbeltje ‚10 Cent’, kwartje ‚25 Cent’) aus; auf den Antillen war die Grundmünze ein halber Stuiver (siehe plaka), weswegen außer dèpchi alle Münzbezeichnungen darauf zurückgehen. drama ‚ausgießen, austeilen’ < port. sp. derramar. Der Vortonvokal ist geschwunden. Bei B. Th. J. Frederiks ist 1859 noch die volle Form als Alternative belegt: „vergieten, derrama (drama)“. drechi ‚richtig, korrekt; rechts’ < sp. derecho. Beim Adjektiv liegt der Schwund des Vortonvokals vor. Das Verb drecha ‚reparieren, bereitmachen, verbessern’ ist im Papiamento von drechi abgeleitet worden. Die Parallelform dresa ‚herrichten (von Betten)’ scheint hingegen auf sp. enderezar zurückzugehen. Heute sind beide Formen austauschbar: Man kann sowohl drecha kama als auch dresa kama sagen. drumi ‚schlafen’ < port. sp. dormir. Es liegt Metathese des -r- vor: dormir > *dromir > drumi. famia ‚Familie’ < port. família, sp. familia. Die Kurzaussprache famiya wird den Lautregeln entsprechend zu famia weiterentwickelt. feneta ‚Stecknadel’ < port. alfinete. Es liegt Aphärese der Anlautsilbe al- und Ersatz des Auslautvokals -e durch -a vor. Sp. alfiler kommt als Etymon nicht in Frage. ferlofde ‚Verlobter, Verlobte’ < niederl. verloofde. Das niederländische Wort ist am häufigsten und steht neben dem Verb ferlof ‚sich verloben’, zu dem es auch die interne Ableitung ferlofmentu ‚Verlobung’ gibt. Daneben gibt es die Hispanismen novio und novia sowie prometido und prometida. Am Hochzeitstag selbst werden auch die Niederlandismen Johannes Kramer (Trier) 264 bruidegom ‚Bräutigam’ und brùit oder breit ‚Braut’ verwendet („e novio/ novia riba dia di su kasamentu“, Marugg 1992, 17). fiernu (Aruba fierno) ‚Hölle’ < sp. infierno. Es liegt Aphärese des Präfixes vor. fòrnu ‚Ofen’ < port. forno. In diesem Falle kommt das sp. horno als Etymon nicht in Frage. forsa ‚Kraft’ < port. força. Es handelt sich um eines der älteren, ausschließlich aus dem Portugiesischen zu erklärenden Elemente des Papiamento. frèi ‚Liebhaber’ < niederl. vrijer. Das niederländische Wort hat seine Endung -er verloren; frèi kann auch verbal im Sinne von ‚den Hof machen, flirten’ verwendet werden (zu niederl. vrijen), und davon sind frèiashi und frèimentu ‚Liebschaft’ abgeleitet. Marugg 1992, 32 gibt folgende Definitionen: „frei 1. (v.) Namorá sin intenshon serio. 2. (v.) Namorá ku intenshon di kasa ku otro. 3. (s.) Persona ku tin un relashon amoroso ku un otro durante sierto tiempo. 4. Persona ku ta namorá un otro ku intenshon di kasa kuné. Freiashi Akto di frei, namoramentu. Tambe: freimentu“. frena ‚Zaum; Bremse’ < sp. freno. Es liegt der nicht seltene Fall vor, dass statt des Auslautes -o ein -a eingetreten ist. galiña ‚Huhn; Mädchen’ < port. galinha. Das Etymon ist zweifellos das portugiesische Wort und nicht etwa sp. gallina. Die Sekundärbedeutung ‚Mädchen’ haftet dem Wort für ‚Huhn, Henne’ in vielen Sprachen an (vgl. z. B. engl. chick). Für das Papiamento ergeben sich folgende Definitionen: „1. Mucha muhé. 2. Namorada òf frei di un hòmber. 3. Muhé ku kende un hòmber tin un relashon amoroso pasahero“ (Marugg 1992, 34). haña (Aruba haya) ‚finden, bekommen’ < sp. hallar. 1859 ist für Curaçao noch haja, also haya, als normale Form belegt (Frederiks 2009, 33), aber heute ist haya nur noch auf Aruba geläufig, während sich sonst haña durchgesetzt hat. Es handelt sich um ein Nasalierungsphänomen: [j] > [nj], geschrieben ñ. ihá (Aruba aiha) ‚Patenkind’ < sp. ahijado. Auf Curaçao und Bonaire, aber nicht auf Aruba, liegt Aphärese des Anlautes vor. Überall ist die Auslautsilbe weggefallen. kaba (Aruba caba) ‚enden, aufhören’ < port. sp. acabar. Es liegt Aphärese des a- vor. kabana (Aruba cabana) ‚Stroh, Riet’ < port. cabana. Das portugiesische Wort bedeutet nur ‚Strohhütte’; „el cambio del significado se esplica tal vez 150 Papiamento-Etymologien 265 por intermedio de kas di kabana, pasando el nombre del edificio al material“ (Lenz 1928, 225). kabaña (Aruba cabaña) ‚Hüttchen, Badekabine am Strand’ < sp. cabaña. Das spanische Wort hat eine Einschränkung seines Bedeutungsbereiches erfahren, denn das normalere Wort für ‚Hüttchen’ ist kas di kunuku oder kasita. kabaron (Aruba cabaron) ‚Garnele’ < sp. camarón. Es liegt der Ersatz des bilabialen -m- durch das bilabiale -b- vor. kakalaka (Aruba cacalaca) ‚Kakerlak, Küchenschabe’ < niederl. kakkerlak. Im Papiamento liegt Ausfall des -r- vor -l- oder, anders betrachtet, Assimilation des -r- an das folgende -l- vor. Das niederländische kakkerlak ist 1675 zum ersten Male bezeugt, aber niederdeutsch Kakerlack kommt schon 1524 vor (de Vries 1971, 296); es handelt sich um eine Entlehnung aus dem sp. cucaracha (DCECH 2, 264). Wir haben es also mit einem spanischen Wort zu tun, das über das Niederländische ins Papiamento eingedrungen ist. kana ‚eine Maß, ein Liter’ < niederl. kan. Dem niederländischen Wort ist die Endung -a angefügt worden. Sp. caña kommt als Etymon wohl nicht in Frage: Erstens passt es lautlich mit seinem -ñ- nicht, und zweitens bedeutet es ausgehend von der Grundbedeutung ‚Rohr’ nur ‚hohes kleines Glas’, nicht das ‚große Glas’, oft bauchig, das mit kana gemeint ist. kangreu (Aruba cangreu) ‚Krebs’ < sp. cangrejo. Es liegt regelmäßiger Schwund des intervokalischen [x] vor. karnisá (Aruba carnisa) ‚Pökelfleisch’ < port. carne salgada, sp. carne salada. Im Papiamento ist der letzte Teil des Adjektivs weggefallen, vielleicht, weil man das Wort fälschlich direkt mit karnisé ‚Metzger’ < port. carniceiro, sp. carnicero und mit karniseria ‚Metzgerei’ < port. carniçaria, sp. carnicería verbunden hat. kaya (Aruba caya) ‚Straße, Weg’ < sp. calle. Das Wort ist an die Gruppe der zahlreichen Formen auf -a adaptiert worden. kohe, kue (Aruba coge, coy) ‚nehmen, greifen, fangen; Geschlechtsverkehr haben’ < port. colher, sp. coger. Während die Kurzformen am ehesten auf das portugiesische Wort zurückgehen, scheint bei kohe/ coge der spanische Ausgangspunkt durch. Zur sexuellen Bedeutung vgl. Marugg 1992, 58: „kue, koge, kohe. Tin relashon seksual ku. Aplikabel pa hende hòmber unikamente. [...] kue kaya. Koge mal kaminda (un mucha muhé), drenta bida alegre, bira puta. Kue mal kaminda. Bisá di un persona hóben, generalmente un mucha muhé, ku a bandoná ‘bon kaminda’, envolviendo su mes den relashonnan amoroso ilisito“. Johannes Kramer (Trier) 266 komprendé (Aruba comprende), komprondé ‚verstehen’ < port. compreender, sp. comprender. Auf Curaçao ist in der Alltagssprache nur die Form komprondé geläufig, in der der Vokal des Präfixes analogisch auf die folgende Silbe eingewirkt hat. kòrá ‚rot’ < port. corado. Das portugiesische Wort bedeutet ‚farbig’; nur als sekundäre Bedeutung ist ‚errötet’ möglich. kos ‚Ding, Sache, Angelegenheit’ < sp. cosa. Dieses Wort wird als Verlegenheitsterminus verwendet, um eine Umschreibung von etwas einzuleiten, dessen genaue Bezeichnung man nicht weiß: kos di boka dushi ‚Süßigkeiten’, kos di hasi ‚Beschäftigung’, kos di saka kòrki ‚Korkenzieher’, kos mahos ‚Geschlechtsorgan’ (andere erotische Ausdrücke bei Marugg 1992, 57). Die sehr häufige Verwendung des Wortes hat dazu beigetragen, dass Apokope des -a eingetreten ist. kriá (Aruba cria) ‚Hausangestellter; Dienstmädchen; erzogen’ < port. sp. criado, criada. Wie üblich ist die iberoromanische Endung -do weggefallen. kuchiu (Aruba cuchio) ‚Messer’ < sp. cuchillo. Die in Amerika -iyo ausgesprochene Endung wird regeläßig zu -io/ -iu. Auf Aruba ist das Wort normal, auf Curaçao gilt es heute als veraltet und ist durch kuchú ersetzt. kustia (Aruba custia) ‚Seite, Flanke’ < sp. costilla. Die Endung -illa, in Südamerika als -iya gesprochen, wird als -ia ins Papiamento übernommen. lamper (Bonaire), lampro (Aruba) ‚Wetterleuchten, Blitz’ < port. relâmparo. Wir haben es mit einer Aphärese des Präfixes rezu tun. Das Basiswort muss port. (re)lâmparo > lampro > lamper sein, die Parallelformen port. relâmpado und sp. relámpago passen lautlich weniger gut. lastra ‚schleppen’ < sp. arrastrar. Es liegt Aphärese vor, und in der Anfangssilbe r-l-Wechsel, der durch die Dissimilation vom folgenden -r- begünstigt ist. leu ‚weit’ < sp. lejos. Zugrunde liegt die in Amerika geläufige spanische Form lejo (Schwauß 1977, 407) mit dem üblichen Schwund des intervokalischen velaren Frikativs [x]. liber ‚Pfund’ < port. sp. libra. Das iberoromanische -a ist wahrscheinlich unter dem Einfluss von liber (Aruba libre, libro) ‚frei; außer’ < sp. libre ausgefallen; das -e- ist ein Sprechvokal. lubidá ‚vergessen’ < port. sp. olvidar. Wir haben es mit einer Metathese des -l- zu tun: olvidar > *lovidar > lubidá. makutu (Aruba macuto) ‚geflochtener Korb’ < venezolanisch-sp. macuto. Das Wort, das in Venezuela vor allem den ‚Bettlerkorb, Bettelsack’ 150 Papiamento-Etymologien 267 (Schwauß 1977, 420) meint, stammt aus dem Arawak (van Buurt/ Joubert 1997, 115). manteka ‚Butter’ < port. manteiga, sp. manteca. Es handelt sich im Papiamento um eine ältere Form aus einer Zeit, wo sich die spanische Unterscheidung zwischen manteca ‚tierisches Fett’ und mantequilla ‚Tafelbutter’ noch nicht durchgesetzt hatte. marga ‚bitter’ < port. sp. amargo. Das Wort tritt im Papiamento in einer Form auf, die auf das iberoromanische Femininum zurückgeht. Zudem liegt Aphärese vor. mashá, masha ‚viel, sehr’ < port. sp. demasiado. Es liegt Aphärese vor, und das [s] ist vor dem ursprünglichen, dann geschwundenen [i] zu [ ] geworden. Im 19. Jahrhundert ist die Form masjar belegt (Frederiks 2009, 62), was darauf schließen lässt, dass ursprünglich das -d- zu -r- geworden war (demasiado > *masiado > *masiaro > *masiar > mashar > mashá). Infolge der engen Verbindung mit dem nachfolgenden Wort ist die Betonung auf der letzten Silbe oft aufgegeben worden. mea ‚Strumpf, Socken’ < port. meia. Aus lautlichen Gründen eignet sich das spanische Wort media weniger gut als Etymon. misa ‚Messe; katholische Kirche’ < port. missa, sp. misa. Gegenüber der Bedeutung in den iberoromanischen Sprachen kam die neue Bedeutung ‚katholische Kirche’ (als Gebäude und als Gemeinschaft der Gläubigen) hinzu. mochi ‚kleines Stück’ < niederl. mootje (Diminutiv von moot). Die Verbindung tj ist im Papiamento zu einer Affrikate geworden. mondi ‚Wildnis, Wald, Gestrüpp’ < port. sp. monte. Das Wort gehört zum ältesten Vokabular: -nt- ist wie bei hende, Punda zu -nd- geworden. Die spanische Grundbedeutung ‚Berg’ ist nicht mehr vorhanden, weil dafür seru eingetreten ist. mucha ‚Kind’ < sp. muchacho, muchacha. Die Kurzform des spanischen Wortes kann, wie üblich, bezüglich des Geschlechts, wenn nötig, näher bestimmt werden: mucha homber ‚Junge’, mucha muhé ‚Mädchen’. muhé, muher ‚Frau’ < port. mulher, sp. mujer. Die Form mit Schluss-r ist veraltet. Da es im Papiamento normalerweise keine Genera gibt, kann das Wort an genuslose Substantive angehängt werden, um den Geschlechtsunterschied anzudeuten: obrero homber ‚Arbeiter’ ~ obrero muhé ‚Arbeiterin’, dosente homber ‚Lehrer’ ~ dosente muhé ‚Lehrerin’ (aber: maestro ~ maestra), kantadó homber ‚Sänger’ ~ kantadó muhé ‚Sängerin’. nister ‚Niesen’ < niederl. niesen + Papiamento tèr. Es handelt sich um die Zusammensetzung aus dem niederländischen niesen ‚niesen’ und dem Johannes Kramer (Trier) 268 Papiamento-Wort tèr ‚plagen, quälen’ < niederl. treiteren. Das Vorbild könnte niesbui ‚Niesanfall’ sein. niwa ‚Sandfloh’ < südamerik. sp. nigua. Es liegt die normale Entsprechung gu > w vor. nuá ‚verfeindet, überworfen’ < sp. enojado. Es liegt Aphärese vor, und das intervokalische [x] ist geschwunden. orea ‚Ohr’ < port. orelha. Dieses Wort zeigt die normale Weiterentwicklung der ursprünglichen Verbindung *-eya > -ea. Hier kommt sp. oreja als Etymon nicht in Frage. pai ‚Papa; Opa; Geliebter’ < port. pai. Das portugiesische Wort gehört sicher zum ältesten Bestand des Papiamento. Es hat sein Bedeutungsfeld erweitert, denn es bezeichnet sowohl den ‚Opa’ als auch, aus der Sicht der Frau, den ‚Geliebten’ (‚nòmber di kariño pa un hòmber stimá òf deseá seksualmente’, Marugg 1992, 77). palu (Aruba palo) ‚Pfahl, Mast, Baum, Holz; Penis’ < sp. palo. Auch das spanische Wort hat einen großen Bedeutungsumfang, er ist aber im Papiamento noch erweitert, weil das gesamte semantische Feld ‚Holz’ und ‚Baum’ abgedeckt wird. Man benutzt das Wort auch, um ein Substantiv zu steigern: pal’i hòmber, palu di hòmber ‚ein wunderbarer Mann’, pal’i muhé, palu di muhé ‚eine phantastische Frau’. pareu ‚gleichförmig; gleichzeitig; mittelgroß’ < sp. parejo. Der intervokalische Frikativ [x] ist geschwunden, wie es regelmäßig geschieht. patia ‚Wassermelone; Backenbart’ < venezolan. sp. patilla. Das spanische Wort, das eigentlich ‚Brüstung’ heißt, bezeichnet in Kolumbien, Venezuela, Puerto Rico und in der Dominikanischen Republik die ‚Wassermelone’ (DLE 2001, 1701, s. v. patilla, 10). Die -iya ausgesprochene Endung wird im Papiamento regelmäßig zu -ia. perdoná, pordoná < sp. perdonar. In der Umgangssprache ist die progressive Assimilation an den Tonvokal verbreitet. perseguí, pèrsiguí, pursiguí, pursuguí ‚verfolgen’ < port. sp. perseguir. Bei diesem Wort liegen verschieden weit gehende Assimilationserscheinungen vor. pèrta ‚klemmen, drücken’ < sp. apretar. Auszugehen ist von einer Aphärese und von einer Metathese des -r-: apretar > *pretar > perta. pia ‚Fuß, Bein’ < sp. pie. Die Endung -a könnte in diesem Fall statt -e eingetreten sein, um den lautlichen Abstand zum -i- zur erhöhen. pieu ‚Floh’ < dialektales sp. piejo. In Spanien ist die Form piejo statt des normalen piojo in Teilen Kastiliens, in Aragon und Murcia zu belegen (DEEH 861). In der Endung -ejo schwindet der Konsonant regelmäßig. pinchi ‚Pinte, halber Liter’ < niederl. pintje. 150 Papiamento-Etymologien 269 plaka (Aruba: placa) ‚Geld; Münze; zweieinhalb Cent (= halber Stuiver)’ < port. sp. placa < frz. plaque < niederl. plak ‚Scheibe; Münze’. Dieses Wort, das heute vor allem das Normalwort für ‚Geld’ ist, das aber ursprünglich die fünf-Cent-Münze, den stuiver (Frederiks 2009, 76), und dann die zweieinhalb-Cent-Münze, den halve stuiver, bezeichnete, geht auf ein im Mittelniederländischen üppig belegtes placke ‚benaming van een muntstuk van ongelijke waarde’ (Verwijs/ Verdam 6, 1907, 408- 409) zurück, das im 16. Jahrhundert noch als plak ‚klein koperen (en soms ook zilveren) mundtstuk, waarvan de waarde naar verschillende plaatsen wisselde; soms gold de plak een stuiver, maar meestal was de waarde slechts een gedeelte van een stuiver’ (Woordenboek der Nederlandsche Taal 12 [1], 2192) gut bezeugt ist, dann aber aus der Schriftsprache verschwand und nur noch dialektal weiterlebte. Einige Nachbarsprachen des Niederländischen haben das Wort entlehnt: englisch plack ‚small copper coin, valued at 4 pennies’ (15.-17. Jh., Robinson 1985, 499), frz. plaque ‚petite monnaie de Flandres’ (15./ 16. Jh., FEW 16, 626), sp. placa ‚género de moneda estrangera; chapa; plancha’ (seit 1611, DCECH 4, 571), port. placa ‚chapa’ (seit 1706, DELP 4, 378). Das Papiamentu-Wort plaka geht sicher nicht direkt auf niederl. plak zurück, denn in der Zeit der Kolonisierung, also nach 1634, war es nicht mehr geläufig; wir müssen vielmehr mit Entlehung aus sp. placa ‚moneda antigua de los Países Bajos, que corrió en los demàs dominios españoles’ (DRA 2001, 1776) rechnen, das im 17. Jahrhundert gut bezeugt ist und auch das Auslaut-a im Papiamentu bestens erklärt. Die alte Erklärung von D. C. Hesseling 1905, 163, bleibt also bestehen: „Het woord is in de middeleeuwen in Vlaanderen ontstaan (op soortgelijke wijs als brik, mop, stuk, schijf), en het is vandaaruit naar Frankrijk, Engeland, Spanje en Portugal gekomen. In ’t land van zijn oorsprong in onbruik geraakt, doch door de Spanjaarden naar West- Indië gebracht, is het daar in ’t leven gebleven“). Die Annahme, dass frz. plaque die Vermittlung des niederländischen Wortes an das Spanische bewerkstelligt hat, ist unnötig: Die direkten Kontakte zwischen dem Niederländischen und dem Spanischen waren im 16. und 17. Jahrhundert intensiv genug, um eine direkte Übernahme zu rechtfertigen. Auf den Antillen ist die plaka-Münze im Wert von zweieinhalb Cent der Ausgangspunkt für andere Münzbezeichnungen: dòsplaka, diesplaka. plama ‚verbreiten, verschütten’ < sp. desparramar. Es liegt Aphärese der Anlautsilbe des- und r-l-Wechsel vor. Johannes Kramer (Trier) 270 porko (Aruba porco) ‚Schwein’ < port. porco. Dieses portugiesische Element weist auch die adjektivische Verwendung ‚schmutzig’ auf. porta ‚Türe, Tor’ < port. porta. Dieses nur aus dem Portugiesischen zu erkärende Wort könnte durch die Existenz von niederl. poort ‚Pforte’ gegen das Vordringen von sp. puerta geschützt worden sein. promente ‚Cayennepfeffer’ < port. pimenta, pimento, sp. pimienta, pimiento. Das Wort hat in Analogie zum Tonvokal die Endung -e angenommen, und die Anlautsilbe heißt pro- in Analogie zu den vielen anderen Wörtern mit dem Präfix pro-. puitu (Aruba puito) ‚Küken’ < sp. pollito. Das in Südamerika als poyito ausgesprochene Wort entwickelt sich im Papiamento regelmäßig zu *poito > puito > puito. purar ‚beeilen’ < sp. apurar. Das spanische Verb apurar bedeutet ‚läutern, drängen, erschöpfen’; in der südamerikanischen Umgangssprache heißt apurarse aber vor allem ‚sich beeilen’, und diese Variante hat das Verb, das Anlautaphärese aufweist, im Papiamento. purba ‚probieren’ < port. provar, sp. probar. Es liegt Metathese des -r- vor. purga (Aruba) ‚Floh’ < port. sp. pulga. Es liegt ein Liquidentausch, -r- statt -l-, vor. pushi‚ Katze; weibliches Geschlechtsorgan’ < niederl. poesje (Diminutiv von poes). Die sexuelle Bedeutung (‚organo seksual feminino’, Marugg 1992, 91) hat sich nicht im Papiamento herausgebildet, sondern liegt schon bei niederl. poesje vor. ranka (Aruba ranca) ‚(heraus)ziehen, verbrauchen’ < port. sp. arrancar. Es liegt Aphärese der Anlautsilbe vor. rei ‚raten’ < niederl. raaien = raden. In der niederländischen Umgangsprache fällt intervokalisches -d- aus und wird oft durch -j- (geschrieben -i-) ersetzt (Schönfeld 1970, 34), so dass also beispielsweise raaien statt raden eintritt. Die Form raai ist für das Papiamento des 19. Jahrhunderts noch belegt, im 20. Jahrhundert trat dann die charakteristische Entwicklung [ai] > [ei] ein (Munteanu 1996, 225-226). rèki ‚Gestell, Regal’ < niederl. rekkie, rekje (Diminutiv zu rek). Dieses Wort wird in typisch niederländischen Verbindungen verwendet: rèki pa buki = boekenrek ‚Bücherregal’ (sp. estantería), rèki di paña = kledingrek ‚Kleidergestell’ (sp. percha), rèki pa (oder rek’i) seka paña = droogrek ‚Trockengestell’. riba ‚oben, auf’ < port. sp. arriba. Bei diesem Adverb, das im Papiamento vor allem als Präposition benutzt wird, liegt Aphärese des a- vor. rosea ‚Atem’ < sp. resuello. Das Papiamento-Wort weist in der ersten Silbe Verdunklung des Vokals auf. Es ist mit dem Eintritt der häufigen En- 150 Papiamento-Etymologien 271 dung -a und dann mit der regelmäßigen Entwicklung von -eya > -ea zu rechnen. rudia ‚Knie’ < sp. rodilla. Die im südamerikanischen Spanisch als -iya ausgesprochene Endung tritt im Papiamento regelmäßig als -ia auf. ruròm, rurònt ‚Rührei’ < niederl. roer om, roer rond. Meist wird webu ruròm oder webu rurònt gesagt, wörtlich ‚Ei rühr’ um’ bzw. ‚Ei rühr’ rund’. saminá ‚untersuchen’ < port. sp. examinar. Es liegt Aphärese des evor. sangura ‚Moskito’ < amerik. sp. zancudo. Es liegt Ersatz des -d- durch -r- vor, und das -k- ist nach -n- sonorisiert worden. sanka (Aruba: sanca) ‚Hintern; Hinterteil; Flaschenbauch’ < port. as ancas, sp. las ancas. Das Auslaut-s des portugiesischen und/ oder spanischen Pluralartikels ist agglutiniert worden; das Wort sanka gilt im Papiamento als vulgär. saya di abou (oder djabou) ‚Unterrock’ < port. saia, sp. saya + de + abajo. Der ‚Unterrock’ heißt port. saiote, sp. enaguas. Die Papiamento-Ausdrucksweise ist dem niederländischen onderrok nachgebildet. sèn ‚Cent’ < niederl. cent. Im alten System gab es eine Münze für einen halben Cent, die sèn chikí genannt wurde; der ganze Cent hieß sèn grandi. Die (bis 1979) kupfernen Cent-Münzen heißen sèn pretu: nan no a duna-nos ni un sèn pretu ‚sie haben uns keinen roten Heller gegeben’. sende ‚anzünden, einschalten’ < port. acender, sp. encender. Es liegt Aphärese der Anlautsilbe vor. seru (Aruba cero) ‚Hügel, Berg’ < port. sp. cerro. Die Ausdehnung der Bedeutung von ‚Erdhügel’ zu ‚Berg’ findet sich überall in Amerika. shimaron ‚wild, verwildert’ < sp. cimarrón. Der Übergang von [s] + [i] zu [ ] ist regelmäßig. shinishi ‚Asche’ < sp. ceniza. In der Vortonsilbe wird das spanische [e] zu [i], und dann wird das [s] zu [ ]. Für die Auslautsilbe „es de suponer la siguiente evolución fonética: ceniza > *sinisia > shinishi” (Munteanu 1996, 235). sia ‚Sattel’ < sp. silla. In Amerika wird silla als siya ausgesprochen, was direkt zur Papiamento-Form sia führt. siboyo ‚Zwiebel’ < sp. cebolla. Durch Assimilation an den Hauptton ist die Schluss-Silbe zu -o geworden. siman ‚Woche’ < port. sp. semana. Es liegt Apokope des -a vor. simia (Aruba semia) ‚Saat’ < sp. semilla. Die in Amerika als -iya ausgesprochene Endung wird regelmäßig zu -ia. skèiru (Aruba skeiro) ‚Bürste’ < niederl. schuier. Dem aus dem Niederländischen entlehnten Papiamento-Wort ist ein -u/ -o angehängt worden, um es „einheimischer“ aussehen zu lassen. Johannes Kramer (Trier) 272 skirbi, skibi ‚schreiben’ < sp. escribir. Das e vor dem s impurum ist, wie es regelmäßig ist, weggefallen, und im Wort ist Metathese (-kri- > -kir-) erfolgt; in der moderneren Form skibi, die sich auf Aruba jedoch bislang nicht durchgesetzt hat, ist das -r- ausgefallen. sklama (Aruba sclama) ‚schreien, rufen’ < sp. exclamar. Das e vor dem s impurum ist der Regel entsprechend ausgefallen. skochi (Aruba scochi) ‚Schoß’ < niederl. schootje (Diminutiv zu schoot). Die tj-Verbindung hat im Papiamento zur Affrikate geführt. snèiru (Aruba snijer) ‚Schneider’ < niederl. snij(d)er. Das archaische niederländische snijer (heute sagt man kleermaker) tritt auf Aruba unverändert auf, während es auf Curaçao mit einem -u äußerlich adaptiert wurde. sonfonia ‚Harmonika’ < port. sinfonia, sp. sinfonía. Während die normal entwickelte Papiamento-Form sinfonia die ‘Symphonie’ bezeichnet, bezieht sich sonfonia (mit Assimilation der ersten Silbe an den folgenden Vokal) auf populäre Musikinstrumente: sonfonia di boka ‘Mundharmonika’, sonfonia di man ‘Akkordeon’. soño ‚Traum, Schlaf’ < port. sonho, sp. sueño. Im Papiamento liegt ein Amalgam zwischen dem portugiesischen und dem spanischen Wort vor, wie es öfter vorkommt (Kramer 2004, 99). sorto ‚Sorte, Art’ < niederl. soort. Dem niederländischen Wort ist durch das Anfügen eines vom Tonvokal beeinflussten -o ein einheimischeres Aussehen gegeben worden. spada ‚Schwert; Pik (beim Kartenspiel)’ < port. sp. espada. Das Anlaut-e vor s impurum ist geschwunden. spanta ‚erschrecken’ < port. sp. espantar. Es liegt regelmäßiger Schwund des e vor s impurum vor. stampia ‚Briefmarke’ < sp. estampilla. Im Spanischen Südamerikas wird estampilla, das in Spanien nur ‚Stempel’ bedeutet, generell für die ‚Briefmarke’ verwendet; das Wort kam wohl aus Venezuela ins Papiamento. Im Anlaut ist regelmäßig das e vor dem s impurum geschwunden, und die in Amerika -iya ausgesprochene Endung wird als -ia realisiert. staña ‚Zinn’ < port. estanho, sp. estaño. Das e vor s impurum ist regelmäßig geschwunden, und die Endung ist in Analogie an den Haupttonvokal zu -a geworden. strea ‚Stern’ < sp. estrella. In den Verbindungen, die im Spanischen [eja] ausgesprochen werden, kann das [j] ausfallen. Das e vor dem s impurum fällt regelentsprechend weg. 150 Papiamento-Etymologien 273 stroba ‚stören’ < port. estorvar, sp. estorbar. Im Anlaut tritt s impurum auf, und es liegt Metathese des -r- vor. suegu ‚Schwiegervater, Schwiegermutter; Schwiegersohn, Schwiegertochter’ (Aruba suegro ‚Schwiegervater’, suegra ‚Schwiegermutter’, yerno ‚Schwiegersohn’, nuera ‚Schwiegertochter’) < sp. suegro, suegra (yerno, nura). Auf Aruba liegt das spanische System der Benennungen der angeheirateten Verwandschaft vor. Sonst gilt suegu, das eigentlich nur ‚Schwiegervater’ heißt, auch für den ‚Schwiegersohn’ (und entsprechend für ‚Schwiegermutter’ und ‚Schwiegertochter’); das Adjektiv grandi (suegu grandi) kann, wenn es nötig erscheint, die Generationen trennen. suku (Aruba suco, sucu) ‚Zucker’ < port. açúcar, sp. azúcar. Es liegt Aphärese vor, und die Endung ist, vielleicht auch unter dem Einfluss von niederl. suiker, analogisch umgestaltet worden. tata ‚Vater’ < amerikanisch-sp. tata. Dieses kindersprachliche Wort, das in vielen Sprachen der Welt vorkommt, hat es verhindert, dass sp. padre ins Papiamento eindrang. Die Form tawela ‚Opa’ < sp. abuelo ist im An- und Auslaut durch tata beeinflusst. tempran, trempan ‚früh’ < sp. temprano. Die direkt auf das Spanische zurückgehende Form tempran und die Metathese-Form trempan existieren gleichberechtigt nebeneinander. tende ‚hören, verstehen’ < port. sp. entender. Es liegt Aphärse der Anlautsilbe vor. tormentá, tromentá ‚quälen’ < port. sp. atormentar. Die Aphärese der Anlautsilbe wird dadurch erleichtert, dass das Verb dann besser zu tormento ‚Qual’ und zu tormenta ‚Sturm’ passt. torto (Aruba tuerto) ‚einäugig, schielend’ < port. torto. Die portugiesische Form torto gilt auf Curaçao und Bonaire (neben der Ableitung tortin), während auf Aruba die spanische Variante tuerto eingetreten ist. Das auf Aruba beschränkte Substantiv torto ‚Lehm; Mischung von Lehm, Kuhmist und kleinen Zweigen, verwendet beim Bau von Hütten’ ist ein anderes Wort; es gehört zu sp. torto ‚Fladen’. totolika (Aruba totolica) ‚Turteltäubchen’ < sp. tortolica. Das -r- ist ausgefallen. tribon ‚Hai’ < sp. tiburón. Das -r- ist durch Metathese in die erste Silbe gelangt. tristu (Aruba tristo) ‚traurig’ < port. sp. triste. Der Schlussvokal -e ist zu -u/ -o, der häufigsten Adjektivendung, dissimiliert worden. webu (Aruba webo) ‚Ei’ < sp. huevo. Das spanische Wort wird in der südamerikanischen Umgangssprache als güevo realisiert (Schwauß 1977, Johannes Kramer (Trier) 274 370), was angesichts der normalen Entsprechung sp. gu > Pap. w die Form der ABC-Inseln erklärt. wela ‚Großmutter’ < sp. abuela. Es ist Aphärese eingetreten, und statt der spanischen Verbindung bu wird das heimische w artikuliert. wesu (Aruba weso) ‚Knochen’ < sp. hueso. Die südamerikanische Umgangssprache bietet mit ihrem güeso (Schwauß 1977, 370) die Ausgangsbasis für die Papiamentu-Form mit gu > w-Entsprechung. yaya ‚Kindermädchen’ < sp. aya. Bei diesem Wort, das auf lat. avia ‚Großmutter’ zurückgeht, liegt eine kindersprachliche Verdoppelung der eigentlichen Auslautsilbe vor. yen ‚voll’ < sp. lleno. Das Wort wird sehr häufig gebraucht, auch in der Verbindung yen di (yen di buraku ‚voller Löcher’), was den Wegfall des Auslaut-o erklärt. yewa ‚Stute’ < sp. yegua. Es liegt die normale gu > w-Entsprechung vor. yiu, yu ‚Kind’ < sp. hijo. Das intervokalische [x] ist den Regeln entsprechend ausgefallen. yùfrou ‚Fräulein’ < niederl. juffrouw. Wie im Niederländischen, im Englischen oder im Deutschen ist diese Anrede für unverheiratete jüngere Frauen (auch in der Bedeutung ‚Sie’ verwendet: yùfrou ta di suerte ‚Sie haben Glück’) inzwischen ebenso wie señorita veraltet, man sagt señora oder shon. Geläufig ist yùfrou im Sinne von yùfrou di skol ‚Lehrerin’. zeta (Aruba azeta) ‚Öl’ < port. azeite, sp. aceite. Das Wort ist in der Endung an die vielen anderen Elemente auf -a angepasst worden, und auf Curaçao und Bonaire, aber nicht auf Aruba, ist Aphärese des a- eingetreten. Literaturhinweise Bachmann, Iris (2005): Die Sprachwerdung des Kreolischen. Eine diskursanalytische Untersuchung am Beispiel des Papiamentu. Tübingen: Narr. Birmingham, John Calhoun (1970): The Papiamentu language of Curaçao. Ann Arbor: University Microfilms. Bollée, Annegret (1993/ 2000/ 2007). 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Einleitung Zum grundlegenden kulturellen Wissen jedes Sprachteilnehmers gehört die Annahme, dass sich Menschen aus verschiedenen sozialen Milieus u.a. durch ihre Sprechweise unterscheiden. Fast automatisch interpretieren wir Besonderheiten in Aussprache und Wortwahl als Anhaltspunkte für den sozialen Hintergrund unserer Gesprächspartner. Dass soziolinguistische Variation stereotype Zuschreibungen hervorruft, wird nicht zuletzt am Beispiel des Unterhaltungsfernsehens deutlich, wo die Funktion von Sprache als sozialem Indikator häufig als Mittel der indirekten Charakterisierung von Personen verwendet wird, meist zu komischen Zwecken - man denke nur einmal an die Bedeutung der deutschen Dialekte oder des so genannten Türkenslang für Kunstfiguren wie Cindy aus Marzahn, Olaf Schubert oder Erkan und Stefan. Auch im romanischsprachigen Raum gehört die mediale Überformung von Soziolekten zum Repertoire von Komikern, Schriftstellern und anderen Sprachkünstlern, und zwar schon seit Jahrhunderten. So bevölkerten stereotype Figuren wie Bauern, Andalusier, Afrikaner, Basken oder Zigeuner schon im 16. Jahrhundert das spanische Barocktheater, wobei sie nicht nur durch ihre Kostümierung und charakteristische Verhaltensweisen, sondern auch anhand ihrer Sprache eindeutig als Vertreter ihres Berufsstandes oder ihrer Ethnie ausgewiesen wurden. Die romanische Sprachwissenschaft hat sich verschiedentlich mit diesen Texten befasst, meist mit dem Ziel, daraus Erkenntnisse über standardferne Varietäten vergangener Zeiten zu gewinnen. Anliegen des vorliegenden Beitrags ist es, am Beispiel der habla de negro die Bedeutung ethnisch gefärbter Bühnenvarietäten für die Rekonstruktion historischer Sprachkontaktsituationen zu reflektieren und ihre Eignung als Primärquellen zumindest teilweise neu zu bewerten. Silke Jansen (Mainz) 280 2. Die habla de negro Literarische Formen von Soziolekten besitzen für die iberoromanische Sprachgeschichte eine besondere Relevanz, denn eine Reihe von Sprachkontakten vom 15. bis zum 19. Jahrhundert ist vorwiegend oder sogar ausschließlich in Bühnenvarietäten dokumentiert. Dies gilt insbesondere für die habla de negro bzw. habla bozal, 1 d.h. die Sprachformen der afrikanischen Sklaven auf der Iberischen Halbinsel und in den amerikanischen Kolonien, über die es aufgrund der marginalisierten Stellung ihrer Sprecher keinerlei direkte Zeugnisse gibt. Die afrikanischen Sklaven haben jedoch von Beginn der europäischen Expansion an portugiesisch- und spanischsprachige Autoren dazu inspiriert, in der Lyrik und v.a. im Drama ethnische Charaktere zu schaffen, die sich durch eine besondere Sprechweise auszeichnen. Die ersten Belege der habla de negro erscheinen schon im 15. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Erkundung der westafrikanischen Küste durch die Portugiesen in Gedichten und Liedern in portugiesischer Sprache. Als im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts immer mehr schwarzafrikanische Sklaven auf die Iberische Halbinsel gelangen, greift diese literarische Praxis auch auf das Spanische über und wird später mit dem atlantischen Sklavenhandel nach Amerika getragen. Ihren Höhepunkt feiert die Inszenierung schwarzer Charaktere auf der Bühne im spanischen Barocktheater, wo sie in großer Zahl in den Werken von Sánchez de Badajoz, Lope de Rueda, Simón de Aguado, Góngora und Lope de Vega auftreten, ebenso wie im kubanischen teatro bufo des 19. Jahrhunderts, wo der negrito, die mulata und der chino zum festen Figurenrepertoire gehörten. Darüber hinaus wird insbesondere in Kuba die Sprache der Sklaven im 19. und 20. Jahrhundert in der costumbristischen Literatur, den anthropologischen Arbeiten von Lydia Cabrera und Fernando Ortiz sowie in Volksliedern und Zeitungskolumnen imitiert. Insbesondere im Theater werden Afrikaner meist in wenig schmeichelhaftem Licht dargestellt: Sie treten praktisch immer als Narren auf, haben nur Essen und Schlafen im Kopf und sprechen ein in hohem Maße deformiertes Spanisch, das neben der grotesken Kostümierung als humoristisches Element eingesetzt wird und die Ungeschliffenheit und intellektuelle Unterlegenheit der Figuren unterstreichen soll. 1 Bozal war ein v.a. in den amerikanischen Kolonien gebräuchlicher Begriff für diejenigen schwarzen Sklaven, die nicht in Amerika geboren, sondern direkt aus Afrika in die Neue Welt verschleppt worden waren (vgl. Klimenkowa in diesem Band). Mediale Ethnolekte in Spanien und Amerika 281 Für Linguisten sind diese Darstellungen vor allem deswegen interessant, weil man sich von ihrer Untersuchung Aufschluss auf ein immer noch rätselhaftes Kapitel der iberoromanischen Sprachgeschichte erhofft, nämlich den jahrhundertelangen Sprachkontakt zwischen afrikanischen Sprachen und dem Spanischen bzw. Portugiesischen im Kontext der Sklaverei. Seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich die Hispanistik, in geringerem Maße auch die Lusitanistik, daher immer wieder mit der habla de negro (bzw. der fala de preto) befasst. Als Meilenstein auf diesem Gebiet kann Teyssiers bekannte Monographie La langue de Gil Vicente (1959) gelten, die sich allerdings auf einen einzigen Autor und weitgehend auf die lusitanistische Perspektive beschränkt. In der Hispanistik ist das Thema im Laufe des 20. Jahrhunderts verschiedentlich aufgegriffen worden (vgl. u.a. die Arbeiten von Chasca (1946) und Weber de Kurlat (1963a, b; 1970)), erst in jüngerer Zeit sind jedoch größere Forschungsarbeiten entstanden, die die habla de negro aus einer übergreifenden Perspektive darstellen und über die exemplarische Analyse einzelner literarischer Texte hinausgehen. Die beiden Monographien von John Lipski (A history of Afro-Hispanic language. Five centuries, five continents, 2005) und William W. Megenney („Lengua“ en la literatura neoafronegroide: Cuba y Brasil, 2006), zwei ausgewiesenen Experten im Bereich der afrikanischiberischen Sprachkontakte, bilden derzeit die umfangreichsten Arbeiten zu dieser Thematik. Während die Studie von Megenney (2006) ausschließlich mit Erzählliteratur aus dem 20. Jahrhundert arbeitet und letzten Endes ein eher literaturwissenschaftliches Ziel verfolgt - nämlich die Formen und Funktionen der „lengua“ auf der Ebene der Texte selbst zu untersuchen - macht Lipski es sich zur Aufgabe, aus dem afrohispanischen Korpus vom 15. bis 20. Jahrhundert Rückschlüsse auf die von den afrikanischen Sklaven gesprochenen Kontaktvarietäten zu ziehen. Dabei problematisiert er zwar (wie auch schon die Untersuchungen aus dem 20. Jahrhundert) verschiedentlich das Verhältnis von soziolinguistischer Realität und ihrer künstlerischen Überformung, geht allerdings aufgrund der sprachlichen Merkmale sowie der Entstehungsbedingungen der Texte davon aus, dass sowohl die Komödien des Siglo de Oro als auch das afrohispanische Korpus aus Amerika prinzipiell geeignete Quellen für die Untersuchung des spanisch-afrikanischen Sprachkontaktes darstellen: […] several observations combine to justify a cautious consideration of Golden Age literary texts as sources of evidence on earlier Afro-Hispanic speech. First, although no single text can be taken as a faithful transcription of bozal language, most of the early texts contain phonetic and morphological traits which are empirically documented in existing Afro-Iberian pidgins and creoles, or Silke Jansen (Mainz) 282 which are logical extensions of African areal characteristics. Second, the African traits found in the literary habla de negros has no obvious non-African source; the remaining dialect imitations found in Golden Age literature (e.g. of Moorish, Basque, Galician, Gypsy, Sayagués, Italian, etc.) are not internally consistent and compatible with actual instances of contact with the languages in question, they also differ qualitatively from all but a handful of habla de negros imitations (i.e. those which are clear parodies of Moorish speech). Such phenomena as massive conversion of prevocalic / r/ to [l], intrusive nasalization, use of (a) mí as subject pronoun, invariant copular sa, and flapping of prevocalic [d] are found in existing Afro-Iberian creoles, and (with the exception of the last trait, found in nearly all non-native varieties of Spanish) are not attested for other contact varieties of Spanish. Finally, the historical and social circumstances surrounding key authors and texts indicate likely familiarity with Afro-Hispanic pidgin, not only among a selected group of writers, but also by the general public, who enjoyed - and more importantly, comprehended - plays, songs, and religious precessions containing imitations of Africanized Spanish. When combined with Latin American bozal texts from later centuries, the Golden Age Afro-Iberian documents offer a useful tool in reconstructing the first approximations to Spanish and Portuguese by speakers of sub- Saharan African languages. (Lipski 2005, 93-94) Folglich behandelt Lipski die literarischen Quellen an vielen Stellen seiner Untersuchung wie linguistische Primärdaten, indem er z.B. die Einführung neuer Merkmale in den Texten als direkte Hinweise auf Sprachwandel in den afroiberischen Varietäten versteht (vgl. die Ausführungen zur Distribution von / -s/ auf S. 225) oder Frequenzverschiebungen bei einzelnen Merkmalen als Anhaltspunkte für einen Wechsel der afrikanischen Substratsprachen wertet (vgl. z.B. die Ausführungen zur Neutralisierung von / r/ und / l/ und der Einfluss der Bantu-Sprachen in verschiedenen Epochen der Kolonialgeschichte auf S. 218-219 und 241). Insgesamt kommt Lipski dabei aufgrund der weitgehenden inneren Homogeneität der Texte sowie der Übereinstimmung mit grundlegenden typologischen Merkmalen der afrikanischen Sprachen zu dem Schluss, dass diese eine afrohispanische Kontaktvarietät widerspiegeln, die er als Afro-Hispanic pidgin bzw. Afro-Hispanic language bezeichnet. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass es sich hier um ein literarisches Korpus handelt, in dem Sprache v.a. zu ästhetischen Zwecken verwendet wird, scheint uns diese Vorgehensweise problematisch zu sein, da das Spannungsverhältnis zwischen literarischer Überformung und soziolinguistischer Realität zwar angeschnitten, aber nicht wirklich reflektiert wird. Frühere Arbeiten zur habla de negro haben diese Frage z.T. stärker problematisiert: So warnt de la Fuente Ballestros (1984) davor, die Darstellungen von Schwarzen, Mauren und Morisken in den tonadillas des 16. Mediale Ethnolekte in Spanien und Amerika 283 und 17. Jahrhunderts als direkte Imitationen der ethnischen Varietäten zu lesen, und Perl, der sich in einer Reihe von Arbeiten aus den 80er und 90er Jahren intensiv mit der habla bozal in Kuba befasst hat, schließt literarische Texte wie das teatro bufo explizit als Quellen aus (vgl. z.B. Perl 1989, 19). Eine eingehende Diskussion darüber, wie im Spannungsfeld zwischen soziolinguistischer Realität und medialer Überformung mit der habla de negro methodisch zu verfahren ist, steht allerdings bisher aus. Wir wollen daher im Folgenden einige Überlegungen zum Nutzen der afrohispanischen Texte für die Rekonstruktion früherer Kontaktvarietäten anstellen, und zwar ausgehend vom Begriff des Ethnolektes. 3. Der Begriff des Ethnolektes Der Begriff des Ethnolektes wurde in den 90er Jahren analog zu Begriffen wie Dialekt, Soziolekt etc. geprägt, um sprachliche Variation zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen innerhalb einer Sprachgemeinschaft terminologisch zu fassen. Clyne (2000, 86) definiert ihn folgendermaßen: Ethnolects‘ [sic! ] are varieties of a language that mark speakers as members of ethnic groups who originally used another language or distinctive variety. Als typisches Beispiel für einen Ethnolekt wird im deutschsprachigen Raum v.a. das bereits erwähnte Türkendeutsch (auch: Kiezdeutsch, Kanak- Sprak) untersucht, eine Varietät des Deutschen, die von Migranten der 2. und 3. Generation vor allem in den Großstädten verwendet wird (vgl. z.B. Auer/ Dirim 2004; Androutsopoulos 2007, 117ff). Auf den ersten Blick liegt es nahe, die Sprechweise von Kunstfiguren aus der deutschen Ethnocomedy oder auch die Varietäten der Afrikaner, Zigeuner und Basken im spanischen Barocktheater als Ethnolekte zu betrachten, denn die von der Mehrheitsgesellschaft abweichende Ethnizität der Figuren wird ja unmittelbar anhand sprachlicher Merkmale offenbar. Andererseits handelt es sich jedoch nicht um authentische Sprecheräußerungen, sondern um eine hochgradig elaborierte Sprache, die die Autoren den Figuren zu Zwecken der Komik in den Mund gelegt haben. Es ist also zunächst zu klären, ob der Begriff Ethnolekt überhaupt auf Bühnenvarietäten angewandt werden kann - ein Problem, das letztlich die Frage berührt, inwieweit diese die sprachliche Realität direkt abbilden oder aber verformen bzw. sogar eine eigene sprachliche Realität erschaffen. Auer/ Dirim (2004, 217ff) unterscheiden in diesem Zusammenhang zwischen dem so genannten primären Ethnolekt - dem authentischen Türkenslang, wie er von Angehörigen der zweiten Einwanderergeneration in Silke Jansen (Mainz) 284 deutschen Großstädten verwendet wird - und dem sekundären Ethnolekt, der dann entsteht, wenn dieser von Medienmachern in Filmen, Comedies, Comics usw. übernommen wird, und zwar durch Personen, die gar nicht aus dem Migrantenmilieu stammen. Wenn diese medial stilisierten sekundären Ethnolekte wiederum von Medienkonsumenten aufgegriffen und verwendet werden, die gar keinen Kontakt zu Sprechern des primären Ethnolektes haben und den Soziolekt daher ausschließlich aus der medialen Überformung kennen, spricht man von einem tertiären Ethnolekt. Es handelt sich dabei um eine Form des crossing (vgl. Rampton 1996), bei dem sich Sprecher einer soziolektalen Varietät bedienen, die ihnen eigentlich nicht „zusteht“. Da diese Praxis unter deutschen Jugendlichen weit verbreitet ist (vgl. Auer/ Dirim 2004, 221) wirkt der mediale Ethnolekt auf diese Weise auch auf Varietäten des Deutschen zurück, die nicht unmittelbar durch das Türkische oder andere Migrantensprachen beeinflusst sind und prägt auf diese Weise auch die Vorstellungen, die im deutschen Sprachraum über die Sprechweisen von Migranten existieren. Auf jeder dieser drei Ebenen wird der ursprüngliche Ethnolekt verdichtet, stilisiert und damit auch strukturell verändert. Wenn, wie es beim Türkenslang der Fall ist, die Herkunftssprache und die ethnische Ausgangsvarietät (der primäre Ethnolekt) bekannt sind, lassen sich die Veränderungen beim Übergang von einer Ebene zur nächsten mit linguistischen Methoden untersuchen. Laut Auer/ Dirim (2004, 218ff) und Androutsopoulos (2007, 2010) bestehen durchaus strukturelle Überschneidungen zwischen den primären Ethnolekten der zweiten Migrantengeneration und der Sprechweise der Migrantenfiguren in der deutschen Medienlandschaft. Allerdings wird der primäre Ethnolekt nicht vollständig im sekundären abgebildet, sondern es werden v.a. solche Merkmale herausgegriffen und stereotyp wiederholt, die die Mehrheitsgesellschaft als besonders charakteristisch (salient) empfindet - beim Türkenslang etwa die koronale Realisierung vom ich-Laut / ç/ als [ ], die Auslassung von Artikeln (hast du Problem? ) und Präpositionen sowie die Verwendung von Adjektiven wie krass und korrekt und den Diskursmarkern Alter und verstehs du. Diese so genannten Leitmerkmale charakterisieren die Figuren als Angehörige einer bestimmten ethnischen Gruppe und haben für die Medienkonsumenten einen hohen Wiedererkennungswert. Darüber hinaus enthält der sekundäre Ethnolekt auch Merkmale aus Soziolekten und Registern des Deutschen, die nicht auf die Sprechweise von Migranten beschränkt sind, z.B. aus dem kolloquialen Deutsch und der Jugendsprache. Schließlich finden sich auch Merkmale, die weder im authentischen Türkenslang noch in anderen Varietäten des Mediale Ethnolekte in Spanien und Amerika 285 Deutschen auftreten (vgl. z.B. die ausschließliche Vewendung der Form den als Artikel durch das Komikerduo Mundstuhl; Auer/ Dirim 2004, 219 ff.). Diese im wahrsten Sinne des Wortes „hinzugedichteten“ Eigenheiten sind meist idiosynkratisch, aber nicht vollkommen frei erfunden, sondern basieren ihrerseits auf stereotypen Vorstellungen über die Sprache sozialer Gruppen (z.B. über die Sprechweise von Fremdsprachenlernern) oder stellen Übergeneralisierungen innerhalb des sekundären Ethnolektes dar. Der sekundäre Ethnolekt ist also gleichzeitig enger und weiter als der primäre Ethnolekt - ein Phänomen, das Androutsopoulos (2010, 198 ff.) als double distortion bezeichnet. Die Erkenntnisse über das Türkendeutsch deuten also darauf hin, dass mediale Varietäten zwar auf primären Ethnolekten basieren, diese jedoch nicht mimetisch abbilden, sondern das Produkt einer Stilisierung sind. Es ist also denkbar, dass auch die habla de negro einer doppelten Verzerrung in Sinne von Androutsopoulos unterliegt und die literarischen Darstellungen der afrikanischen Sklaven keine linguistischen Primärquellen darstellen, sondern vielmehr zeitgenössische Ideologien über ethnische Sprechweisen widerspiegeln und damit im Grunde als metasprachliche Texte zu lesen sind. Diesen Gedanken wollen wir im Folgenden am Beispiel des spanischen Barocktheaters weiter ausführen. 4. Exkurs: Der Andalusier im spanischen Barocktheater - literarische Darstellung und soziolektale Realität Um das Verhältnis zwischen primären und sekundären Ethnolekten in der spanischen Literatur und damit den Wert literarischer Quellen für die Untersuchung historischer Sprachkontakte zu erhellen, ist es aufschlussreich, die zahlreichen ethnischen Figuren zu beleuchten, die die spanische Theaterlandschaft des 16., 17. und 18. Jahrhunderts bevölkerten. Neben Afrikanern findet man dort auch Sprecher iberoromanischer Dialekte und verschiedener europäischer und z.T. außereuropäischer Sprachen. Im Gegensatz zu den Ausgangssprachen der Afrikaner, über die wir heute größtenteils nur spekulieren können, sind die Sprachen und Varietäten der anderen ethnischen Figuren häufig bekannt, was es ermöglicht, sie mit den entsprechenden Bühnenvarietäten zu vergleichen und zu überprüfen, wie die Autoren bei der Stilisierung vorgegangen sind. Silke Jansen (Mainz) 286 Beispielsweise ist die Figur des Andalusiers seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts 2 im spanischen Drama präsent und wird z.B. bei Lope de Vega (wie auch die Figur des gitano) vor allem durch den çeçeo bzw. zezeo charakterisiert. Dass der çeçeo/ zezeo integraler Bestandteil der zeitgenössischen Vorstellungen über die Sprechweise der Andalusier war, wird von Quevedo sogar explizit formuliert: Los andaluces, de valientes, feos, cargados de patatas y ceceos. (Francisco de Quevedo, 1964[1635], 61) In einer Reihe von Stücken treten zum ceceo noch zwei weitere Leitmerkmale hinzu: der yeísmo und die Aspiration des etymologischen lateinischen [f-] (cf. Frago Gracia 1986, 88; Ramírez Luengo 2002, 117-118). Gemeinsam mit dem ceceo sind diese zweifelsohne charakteristisch für das Andalusische, bilden es aber keinesfalls erschöpfend ab. Es fehlen beispielsweise Hinweise auf die Aspiration bzw. den Ausfall von implosivem / -s/ , der für den Süden Spaniens bereits seit dem 13. Jahrhundert belegt ist und sich ab dem 14./ 15. Jahrhundert rasant ausbreitete (vgl. Frago Gracia 1993, 482ff), jedoch in den literarischen Texten aus dem 17. und 18. Jahrhundert keine Spuren hinterlassen zu haben scheint. Außerdem werden lexikalische Andaluzismen nur sporadisch verwendet, und es gibt keinerlei morphosyntaktische Abweichungen vom Standard (vgl. Ramírez Luengo 2002, 118). Gleichzeitig verwenden andalusische Figuren Elemente aus dem ländlich-volkstümlichen Spanisch, die diatopisch nicht ausschließlich in Andalusien zu verorten sind (yeísmo, [h-] < lat. [f]), ebenso wie Formen, die weder im Andalusischen noch in anderen Varietäten existieren und offensichtlich von den Autoren erfunden wurden. Ein anschauliches Beispiel dafür sind Formen wie jabemos jecho, die insofern kaum als realistische Darstellung des Andalusischen gelten können, als hier gar kein etymologisches [f-] vorhanden ist (cf. Frago Gracia 1986, 89-90). Es handelt sich also um den Reflex der allgemein verbreiteten Annahme, nach der die Andalusier überall dort, wo die Schriftsprache das Graphem <h-> setzt, eine Aspiration vornehmen, wobei aus der Übertreibung natürlich ein komischer Effekt resultiert. Ähnliche Beobachtungen lassen sich bei ethnischen Figuren wie den Mauren, Galiziern oder Basken machen (cf. Frago Gracia 1986; Ramírez Luengo 2002). Von den Merkmalen, die eine bestimmte Varietät nach 2 Laut Frago Gracia (1986, 86) erscheint er erstmals in der Comedia Tesorina (wahrscheinlich 1535) von Jaime de Huerta. Mediale Ethnolekte in Spanien und Amerika 287 linguistischen Maßstäben auszeichnen, werden einige wenige, besonders hervorstechende Charakteristika meist lautlicher Art ausgewählt, exzessiv (wenn auch nicht immer systematisch) verwendet und dabei auch auf Kontexte generalisiert, in denen sie in den authentischen Primärethnolekten nicht zu erwarten wären. Schon Teyssier beschreibt diese Vorgehensweise in seiner Analyse der Sprache Gil Vicentes (hier im Bezug auf die Sprache der commères in seinen portugiesischen Stücken): […] l’on voit ici d’une façon particulièrement nette comment Gil Vicente procède quand il veut peindre un type. Il prend un trait entre plusieurs (ici les formes en d), l’accentue, le spécialise, l’isole. Ce trait devient le signe distinctif, l’indicatif du type. […] Et nous voyons du même coup, dans un cas particulièrement net, comment les „parlers caractéristiques“ des personnages vicentins sont le produit d’une stylisation, d’une élaboration artistique. Non seulement Gil Vicente isole un trait de langue pour lui donner la valeur d’un signe indicatif, mais il l’étend à tout un groupe de personnages.“ (Teyssier 1959, 195-198) Der „indicatif du type“ entspricht dabei ganz offensichtlich dem Phänomen, das Androutsopoulos als Leitmerkmal bezeichnet. Auch das Bühnenandalusische und andere stereotypisierte Varietäten im Theater unterliegen daher offensichtlich einer doppelten Verzerrung (double distortion), so dass die Strategien, mit deren Hilfe die deutschen Ethnokomiker und die spanischen Autoren ihre sekundären Ethnolekte gestalten, grundsätzlich vergleichbar zu sein scheinen. 5. Ethnolekte und Indexikalitätshierarchien Wenn die spanischen Bühnenvarietäten des Barocks ähnlichen Strategien der Stilisierung unterliegen wie die Varietäten der Migranten in der Ethnocomedy, dann stellt sich die Frage, ob ihre Untersuchung überhaupt einen substantiellen Beitrag zur Beschreibung der afrikanisch-spanischen Kontaktvarietäten vergangener Jahrhunderte leisten kann. Dies ist nur unter der Voraussetzung der Fall, dass die Vorgänge beim Übergang vom primären zum sekundären (und eventuell tertiären) Ethnolekt reflektiert und bei der Beschreibung berücksichtigt werden. Um die Korrelation zwischen soziolinguistischer Variation und ihrer Darstellung in der Literatur terminologisch zu fassen, bietet sich dabei der Begriff der Indexikalität aus der linguistischen Anthropologie an. Nach Silverstein (1992, 316; 2003; vgl. auch Milroy 2004) ist sprachliche Variation auf unterschiedlichen Ebenen indexikalisch. Die so genannte first-order-indexicality beschreibt die Tatsache, dass sprachliche Variablen Silke Jansen (Mainz) 288 systematisch in einer Beziehung zu sozialen Gruppen stehen und auf diese verweisen. Dieser systematische Bezug zwischen Merkmalen und Sprechergruppen ist mit wissenschaftlichen Methoden beobachtbar und bildet den Gegenstand soziolinguistischer Forschung. Bei der secondorder-indexicality dagegen stehen nicht die (mehr oder weniger) objektiv gegebenen Korrelationen, sondern die Wahrnehmung dieser Merkmale durch eine Sprechergruppe im Vordergrund: first-order-indexicality entails the association by social actors of a linguistic form or variety […] with some meaningful social group […], second [or higher]-order-indexicality is a meta-pragmatic concept, describing the noticing, discussion, and rationalization of first-order indexicality.” (Milroy 2004: 167; vgl. Silverstein 1992, 2003) Dabei wird eine Verbindung zwischen bestimmten Merkmalen und bestimmten sozialen Gruppen in eine Sprachideologie überführt - d.h., es entstehen gesellschaftlich geteilte Annahmen über Sprachen und Sprachvarietäten und ihre Verwendung in der sozialen Welt. Diese Sprachideologien können explizit in metasprachlichen Aussagen erscheinen (z.B. in dem oben verwendeten Zitat von Quevedo), oder auch implizit im sozialen Handeln, z.B. bei der Reaktion auf bestimmte Soziolekte oder eben bei der Imitation der Sprechweise sozialer Gruppen im Theater oder anderen Medien (vgl. Androutsopoulos 2007, 122). Im Gegensatz zur Indexikalität ersten Grades, die auf in der Realität beobachtbaren Variablen beruht, sind Sprachideologien gesellschaftlich-ideologische Konstrukte. 3 Offensichtlich sind primäre, sekundäre und tertiäre Ethnolekte durch eine Indexikalitätshierarchie verbunden. Die Merkmale des primären Ethnolektes besitzen Indexikalität ersten Grades und können als solche mit soziolinguistischen Methoden beschrieben werden, sind aber im Fall historischer Varietäten der empirischen Forschung oft nicht zugänglich, insbesondere dann, wenn es sich um Sprachformen marginalisierter Gruppen wie der afrikanischen Sklaven handelt. Die humoristische Darstellung von Migrantenfiguren oder afrikanischen Sklaven im sekundären und tertiären Ethnolekt ist dagegen eine Praxis, Stereotypen über ethnische Sprechweisen in Szene zu setzen, so dass das spanische Barocktheater nicht als ein direktes Abbild der sprachlichen Wirklichkeit gelten 3 Natürlich sind auch wissenschaftliche Arbeiten Konstrukte, so dass auch linguistische Beschreibungen in einer weiten Auffassung als Ideologien über Sprache betrachtet werden könnten. Diese hoch interessante Problematik können wir jedoch an dieser Stelle nicht weiter verfolgen. Für eine eingehende Diskussion vgl. Androutsopolous 2011. Mediale Ethnolekte in Spanien und Amerika 289 kann, sondern als ein Ort, an dem Sprachideologien dargestellt, verhandelt und letztlich auch verbreitet und perpetuiert werden. Unter einer im engeren Sinne linguistischen Perspektive werden dabei einige wenige Charakteristika des primären Ethnolektes als Leitmerkmale (oder signes indicatifs im Sinne von Teyssier 1959) herausgegriffen und mit sekundärer Indexikalität aufgeladen. Die Problematik, die sich aus dem metasprachlichen Charakter der Texte für die Rekonstruktion der afroiberischen Kontaktvarietäten ergibt, liegt auf der Hand: Lipski (2005) und andere Sprachwissenschaftler, die anhand literarischer Texte die primären Ethnolekte der afrikanischen Sklaven zu rekonstruieren versuchen, sind eigentlich an sprachlichen Formen interessiert, die Indexikalität ersten Grades besitzen. Dafür stützen sie sich allerdings auf Quellen, deren sprachliche Merkmale von Indexikalität zweiten oder dritten Grades gekennzeichnet sind. Anstelle der afroiberischen Kontaktvarietäten beschreiben sie daher in erster Linie die Sprachideologien über Afrikaner oder Afroamerikaner, die seit dem 15. Jahrhundert in der spanischsprachigen Welt kursieren. Da diese jedoch vermutlich nicht vollkommen unabhängig von den historischen Ausgangsvarietäten entstanden sind, sondern wahrscheinlich im Sinne der doppelten Verzerrung (double distortion) auf primären Ethnolekten basieren, wollen wir im Folgenden das Verhältnis zwischen ethnischen Bühnenvarietäten und ihren historischen Ausgangsvarietäten am Beispiel der Figuren des afrikanischen Sklaven sowie des Indianers beleuchten. 6. Merkmale der Habla de negro und ihre Bedeutung für die Rekonstruktion afroiberischer Kontaktvarietäten Dazu ist zunächst einmal eine Bestandsaufnahme der Normabweichungen notwendig, durch die die afrikanischen Figuren charakterisiert werden. Die habla de negro im spanischen Barocktheater weist nicht wenige Überschneidungen mit anderen Bühnenvarietäten auf, aber auch eine Reihe von rekurrenten Merkmalen, die ausschließlich schwarzen Figuren in den Mund gelegt werden. Diese treten in den einzelnen Werken mit unterschiedlicher Frequenz und in jeweils individuellen Bündelungen auf, so dass sich die habla de negro im Textkorpus nicht als einheitliche Varietät mit stabilen und systematischen Merkmalen präsentiert, sondern ihre vielfältigen Erscheinungsformen vielmehr durch Familienähnlichkeiten miteinander verbunden sind. Silke Jansen (Mainz) 290 Wir betrachten im Folgenden ausschließlich die Besonderheiten, die in der hispanistischen Forschungsliteratur als allgemein charakteristisch für die literarischen Ethnolekte der afrikanischen Figuren genannt werden und müssen dabei von den Spezifika einzelner Texte abstrahieren. Außerdem werden wir an dieser Stelle aus Platzgründen nur die lautlichen Merkmale der habla de negro diskutieren und morphologische und lexikalische Besonderheiten weitgehend außer Acht lassen. Dabei gehen wir abweichend von Lipski davon aus, dass diese Merkmale im Theater in erster Linie der Gestaltung und sprachlichen Charakterisierung der Figuren dienen, und zwar dank ihrer Eigenschaft, sekundäre Indexikalität zu tragen. 6.1. Typische Merkmale der afrohispanischen Figuren Interessant im Zusammenhang mit der Darstellung möglicher afrohispanischer Kontaktvarietäten sind v.a. die Merkmale, die nur den afrikanischen Sklaven in den Mund gelegt werden und bei anderen ethnischen Figuren nicht vorkommen. Diese betreffen ausschließlich den Konsonantismus 4 : Schwund von auslautendem / -r/ (sabé) Schwund von / -s/ , v.a. in der Verbendung -mos (queremo, bendecimo, pue que, epela (=espera)) paragogische Vokale (dioso) Lambdazismus und Rhotazismus (negla, pol cierto, dispeltamo, diabro, habramo) pränasalisierte Konsonante (nin falta unan cosan sola, onjos míos 5 ) Artikulation von / d/ als [r] (tura la hora) Diese Merkmale werden in einer Reihe von Arbeiten zur habla de negro diskutiert und meist durch den Einfluss der afrikanischen Sprachen erklärt, wobei es angesichts der großen sprachlichen Vielfalt auf dem afrikanischen Kontinent und dem Mangel an zuverlässigen Daten zur geo- 4 Da die Merkmale der habla de negro im spanischen Barocktheater bereits in zahlreichen Publikationen zusammengestellt und ausführlich beschrieben worden sind, beschränken wir uns an dieser Stelle auf einige wenige charakteristische Beispiele, die alle aus Lope de Vegas El Santo negro Rosambuco stammen (vgl. Lipski 2005, Appendix, ohne Paginierung). Eine systematische Auflistung von Einzelbelegen für die oben aufgeführten Phänomene im spanischen und amerikanischen Textkorpus, jeweils getrennt nach ihrem Vorkommen in spanischen oder amerikanischen Texten, findet sich in Lipski 1995. 5 Lope de Vega, El santo negro Rosambuco. Mediale Ethnolekte in Spanien und Amerika 291 graphischen und ethnischen Herkunft der Sklaven fast unmöglich ist, sie auf konkrete Substratsprachen zurückzuführen. Dieses Problem sieht auch Lipski und beschränkt sich daher darauf, einige übergeordnete Merkmale afrikanischer Sprachen aufzuführen, die seiner Ansicht nach als repräsentativ wenn nicht für den gesamten Kontinent, so doch zumindest für Westafrika gelten könnten. Dazu gehören eine Silbenstruktur, die nur offene Silben und keine Konsonantengruppen im Silbenanlaut zulässt, die fehlende Opposition zwischen / r/ und / l/ und die Existenz von Nasalvokalen und pränasalisierten Konsonanten (vgl. Lipski 2005, 213). Ein zentrales Element in Lipskis Argumentation ist dabei die einfache Silbenstruktur der afrikanischen Sprachen (vgl. die Ausführungen auf S. 213ff), mit der sich gleich mehrere Eigenheiten der habla de negro erklären ließen, nämlich das Verstummen von implosivem / -s/ , das Verstummen von / -r/ beim Infinitiv und die Existenz von paragogischen Vokalen. Ob diese Merkmale tatsächlich aus dem Substrat stammen, ist nicht eindeutig feststellbar. Schon die Annahme, dass eine einfache Silbenstruktur ein afrikanisches Merkmal sei, ist problematisch, wie ein Blick auf die areale Verteilung von Sprachen mit unterschiedlich komplexer Silbenstruktur auf dem afrikanischen Kontinent zeigt (vgl. den Artikel und die Sprachenkarte zum Merkmal 12a, „Syllable structure“, im WALS online 6 ): Entgegen der Prämisse von Lipski erlaubt die Mehrzahl der Sprachen auf dem afrikanischen Kontinent silbenschließende Konsonanten, und eine ganze Reihe der in Westafrika beheimateten Sprachen besitzt eine komplexe Silbenstruktur. Allerdings ist zu sagen, dass die Bantusprachen, die möglicherweise eine besondere Rolle für den afrohispanischen Sprachkontakt gespielt haben könnten, nur offene Silben zulassen. Die Veränderungen am Silbenende könnten aber auch aus dem Spanischen erklärt werden, denn der Ausfall von / -s/ und / -r/ beim Infinitiv ist aus dem Andalusischen bekannt, das wahrscheinlich die Zielvarietät für die Afrikaner auf der Iberischen Halbinsel darstellte. Selbst paragogische Vokale sind dem Spanischen nicht fremd, sondern erscheinen in lyrisch-epischen Versdichtungen und in der südspanischen volkstümlichen Literatur noch im 16. und 17. Jahrhundert (vgl. Lapesa 2008, 194- 195), allerdings nur als paragogisches / -e/ , während in der habla de negro meist ein / -o/ angefügt wird. Dabei findet sich paragogisches / -o/ v.a. in den Lexemen Dioso und boso (<vos), und seine Verwendung scheint zudem häufig durch die Anforderungen von Reim und Metrik motiviert zu sein, wie in dem folgenden Beispiel bei Lope de Vega: 6 http: / / wals.info/ . Silke Jansen (Mainz) 292 Tenemo hallado a su Madre que parió este Niño Dioso, que se quedamo doncella tras el parto milagroso. (Lope de Vega, El mayor rey de los reyes, Hervorhebung durch die Verfasserin) Angesichts der Verhältnisse im Andalusischen und in den Bantu-Sprachen ist es grundsätzlich denkbar, dass die Ethnolekte der Sklaven Merkmale wie / -s/ , / -r/ > / -ø/ oder paragogische Vokale aufwiesen, wenn es auch naheliegender erscheint, von einem multikausalen Ursprung auszugehen als von einer reinen Substrateinwirkung. Dass diese Merkmale jedoch nicht systematisch erscheinen, sondern sich auf bestimmte Formen des Verbparadigmas (1. Person Plural, Infinitiv) sowie wenige Lexeme (Dioso) konzentrieren, zeigt, dass die Texte nicht systematisch phonetische Adaptationsprozesse beim Erwerb des Spanischen durch Sprecher afrikanischer Sprachen widerspiegeln, sondern Sprachideologien, die u.a. auch zu ästhetischen Zwecken gemäß den Anforderungen der Textsorte eingesetzt werden. Zu den interessantesten Phänomenen der habla de negro gehört die Behandlung der Liquide, mit denen sich die afrikanischen Charaktere im Theater ausgesprochen schwer tun. In den Texten findet man Neutralisierungen zwischen / r/ und / l/ in beide Richtungen, die Realisierung von intervokalischem / d/ als [r], den Ausfall von / -r/ beim Infinitiv sowie sporadisch den Ausfall von implosvem / -r-/ im Wortinneren. Laut Lipski handelt es sich hier um Interferenzen aus dem afrikanischen Substrat, allerdings ist der Nachweis eines konkreten afrikanischen Vorbildes schwierig. Laut einer Untersuchung von Ladefoged (1968; vgl. auch Lipski 2005, 217) auf der Grundlage von 61 westafrikanischen Sprachen unterscheiden die meisten potentiellen Substratsprachen zwischen einem l- und einem r-Laut, so dass man kaum von einem allgemeinen afrikanischen Muster sprechen kann. Allerdings kennen gerade die Bantu- Sprachen, aus denen wahrscheinlich auch die pränasalisierten Konsonanten stammen, größtenteils keine Opposition zwischen / r/ und / l/ . Alle Phänomene im Zusammenhang mit der Behandlung der Liquiden in der habla de negro existieren darüber hinaus auch im Palenquero und sind ebenfalls aus südspanischen Varietäten bekannt, die wahrscheinlich die Zielvarietäten der aus Afrika verschleppten Sklaven darstellten (vgl. Frago Gracia 1993, 488ff, besonders 489). Unabhängig von der Frage, ob es sich bei den Liquidenkonfusionen um eine Auswirkung des spanisch-afrikanischen Sprachkontaktes oder eine Weiterentwicklung romanischer Tendenzen handelt, ist es also ins- Mediale Ethnolekte in Spanien und Amerika 293 gesamt nicht unplausibel, dass diese in den primären Ethnolekten der Sklaven vorkamen. Vor allem aber waren sie ein zentraler Bestandteil der Sprachideologie über die Sprechweise von Afrikanern, wie folgende Passage aus dem Kapitel „Para saber todas las ciencias, y artes mecánicas, y liberales en un día“ aus Quevedos Libro de todas las cosas (1631) illustriert: Si quieres saber todas las lenguas, háblalas entre los que no las entienden; y está probado. Si escribieres comedias y eres poeta, sabrás Guineo en volviendo las r, l, y al contrario, como Francisco, Flancico: Primo, Plimo. (Quevedo 1839[1631], 339-340), Natürlich ist es in hohem Maße unglaubwürdig, dass die Afrikaner die Liquiden / r/ und / l/ in allen Kontexten genau komplementär zur Distribution im Spanischen verwendeten, zumal sich diese Verwendung aus keiner der oben genannten potentiellen Kontaktsprachen und Zielvarietäten herleiten ließe. Offensichtlich handelt es sich hier um eine karikatureske Übertreibung, aus der hervorgeht, dass weniger eine realistische Darstellung angestrebt wird als vielmehr das Fehlerhafte und Groteske der Sprache der Afrikaner in Szene gesetzt werden soll. In den Texten werden / r/ und / l/ auch nicht systematisch gegeneinander ausgetauscht, sondern insbesondere die Autoren des Siglo de Oro verwenden v.a. einige wenige Lexeme mit Lambdazismus exzessiv (vgl. ne(n)glo, Siolo, plimo, Flancico), neben zahlreichen Lexemen ohne Lambdazismus oder Rhotazismus. Offensichtlich handelt es sich hier um Elemente, die sich zu festen Stereotypen entwickelt haben und in hohem Maße mit sekundärer Indexikalität aufgeladen sind. Die Verwendung solcher Leitmerkmale erlaubt es den Autoren, die Figuren mithilfe weniger, gezielt eingesetzter Erkennungszeichen im sozialen Raum zu verorten, ohne dass die Verständlichkeit unter einer allzu weitreichenden lautlichen Deformation leiden muss. Selbst wenn die Existenz von Liquidenkonfusionen in der habla de negro also vor dem Hintergrund der Verhältnisse in den westafrikanischen Sprachen, den spanisch basierten Kreolsprachen und in den an ihrer Genese beteiligten romanischen Sprachen und Varietäten prinzipiell plausibel ist, zeigt der Umgang mit diesem Merkmal in konkreten Texten, dass es hier weniger um eine naturgetreue Imitation der afroiberischen Ethnolekte als vielmehr um die Inszenierung von Sprachideologien zu künstlerischen Zwecken geht. Schreibweisen wie unan cosan solan oder an dioso deuten auf die Existenz von pränasalisierten Konsonanten in der habla de negro hin, d.h., auf Verbindungen von Verschlusslauten und homorganen Nasalkonsonanten Silke Jansen (Mainz) 294 in einem einzigen konsonantischen Segment. Pränasalisierte Konsonanten sind in den Sprachen der Welt stark markiert und treten v.a. in Papua Neuguinea und in den afrikanischen Bantu-Sprachen auf; in den europäischen Sprachen einschließlich dem Spanischen sind sie dagegen unbekannt. Dies macht eine Herkunft aus dem afrikanischen Substrat sehr wahrscheinlich, zumal pränasalisierte Konsonanten auch im Palenquero existieren. Gleichzeitig ist nicht von der Hand zu weisen, dass Lautkombinationen wie [mb], [nd] und [ g] ein wichtiger Bestandteil von Sprachideologien nicht nur über die spanischen Varietäten der Afrikaner, sondern auch über afrikanische Sprachen an sich sind, was sich u.a in pseudoafrikanischen lautmalerischen Sequenzen wie zambambú, calambú (vgl. Góngora, En la fiesta del Santísimo Sacramento, vgl. Lipski 2005, Appendix) usw. widerspiegelt, die im Theater des Siglo de Oro und anderen literarischen Darstellungen afrohispanischer Varietäten die Ausgangssprachen der Sklaven simulieren sollen und praktisch immer Kombinationen aus Nasalkonsonanten und Okklusiven enthalten. 7 In den Texten wimmelt es zudem von lautlich deformierten Lexemen, die nicht durch systematische Lautersetzungen, sondern durch Paranomasien zustande kommen. Dabei wird häufig durch Anlehnung an die Vulgärsprache ein derb-komischer Effekt erzielt (vgl. z.B. Rufiana, merdaelada statt Rufina, mermelada in Calderón de la Barca, La noche de carnestolendas; vgl. Lipski 2005, Appendix), der die Triebhaftigkeit und Grobheit der Figuren unterstreichen soll. Einige dieser Deformationen haben sich zu festen Stereotypen entwickelt, wie z.B. die Anrede cagayero aus span. Caballero, die in zahlreichen Texten aus dem Siglo de Oro verwendet wird. Natürlich wurden diese Ausdrücke den Afrikanern wahrscheinlich nicht direkt vom Munde abgeschaut, sondern zu humoristischen Zwecken von den Autoren erfunden. Auch sie basieren jedoch letztendlich auf einer Sprachideologie, die fremdländischen Personen eine deformierte, „falsche“ Sprechweise zuschreibt. 7 Vgl. z.B. die Sequenz „salandanga, mandinga, surunga surumba“ aus dem Gedicht „Teque-leque“ (Julián de Contreras, Kolumbien, 17. Jahrhundert; vgl. Lipski 2005, Appendix). Auch in der jüngeren spanischsprachigen Literatur ist diese Sprachideologie bei der Imitation afroamerikanischer Sprachformen noch sehr lebendig, z.B. in den Gedichten von Nicolás Guillén. Mediale Ethnolekte in Spanien und Amerika 295 6.2. Überschneidungen mit anderen Bühnenvarietäten im spanischen Barocktheater 6.2.1. Iberische Varietäten Obwohl es sich bei den Afrikanern um fremdländische Figuren handelte, spielen mit dem Andalusischen und dem so genannten sayagués auch iberische Dialekte eine Rolle für ihre Charakterisierung. Bei dem sayagués handelt es sich um eine Bühnenvarietät für ländliche Charaktere, die sich durch eine unrealistische Ansammlung von Archaismen sowie Merkmalen aus dem volkstümlichen Kastilischen und dem Leonesischen auszeichnete (vgl. Teyssier 1959, 25ff). Ob das sayagués ursprünglich auf die Varietät des Leonesischen um die Stadt Sayago im Nordwesten Spaniens zurückgeht oder sich der Name dieser Bühnenvarietät von dem Lexem sayo ‚traditionelles Gewand der Schäfer‘ ableitet, ist umstritten (cf. Teyssier 1959, 24; Stern 1961, 217). Sicher ist, dass es sich um eine Bühnenvarietät handelt, die auf keinem konkreten iberischen Dialekt basiert, sondern v.a. zur Stereotypisierung von ländlichen, hinterwäldlerischen Charakeren eingesetzt wurde - als „a derisive label applied to a steretype of that period, who was depicted with such undesirable personal attributes as uncouth appearance, illiterate speech, stupidity or foolishness, savageness and intractability.“ (Stern 1961, 230). Dass einige der sayagués- Merkmale, darunter z.B. die Palatalisierung von präkonsonantischem / s/ (moxca statt mosca, vgl. Lipski 2005, 73), die Palatalisierung von / l/ und / n/ (ñegrito, ñegro), Alternanzen zwischen Vokalen der mittleren Öffnungsgrade (mochacho, utro día, riponde) und Aphäresen (te scribo, crabo (span. esclavo mit Rhotazismus oder port. escravo)) sich in der habla de negro wiederfinden lassen, mag darauf zurückzuführen sein, dass den Afrikanern ähnliche Eigenschaften zugeschrieben wurden. Anders verhält es sich beim Andalusischen, das im Barocktheater eine viel stärkere diatopische Indexikalität besaß als das sayagués. Interessanterweise enthält die habla de negro neben den typischen Charakteristika des Bühnenandalusischen (ceceo, yeísmo, Aspiration von / f-/ ) noch weitere typisch südspanische Elemente (z.B. den seseo und v.a. den Ausfall von silbenschließendem / -s/ ; vgl. Weber de Kurlat 1963a, 157-158), weshalb es sich wahrscheinlich nicht um die bloße Übernahme eines literarischen Stereotyps handelt, sondern hier wahrscheinlich wohl Elemente aus dem primären Ethnolekt aufgegriffen werden. Angesichts der Tatsache, dass Sevilla als Einfuhrhafen für Sklaven fungierte und der Großteil von ihnen auch in Südspanien eingesetzt wurde, ist es durchaus plausibel, dass das Andalusische die Zielvarietät für die Afrikaner darstellte. Silke Jansen (Mainz) 296 6.2.2. Portugiesisch Neben spanischen Dialekten finden sich auch Reflexe fremder Sprachen in der habla de negro. Zahlreiche Texte enthalten beispielsweise iberische Formen ohne Diphthong wie quero, quere, quera (quiero, quiere, quiera), bun (buen) oder perna (pierna), die auf ein portugiesisches Element hinweisen könnten, oder Lexeme, in denen das anlautende lateinische / f-/ erhalten ist (vgl. Weber de Kurlat 1963a, 148). Tatsächlich legen einige historische Dokumente die Annahme nahe, dass die afrikanischen Sklaven im Umgang mit den portugiesischen Sklavenhändlern rudimentäre Kenntnisse des Portugiesischen erwarben, die ihnen den Erwerb des Spanischen erleichterten: Y los llamados criollos y naturales de San Thomé, con comunicación que con tan bárbaras y recónditas naciones han tenido el tiempo que han residido en San Thomé, las entienden casi todas con un género de lenguaje muy corrupto y revesado de la portuguesa, que llaman lengua de San Thomé, al modo que ahora nosotros entendemos y hablamos con todo género de negros y naciones con nuestra lengua española corrupta, como comúnmente la hablan todos los negros. (Alonso de Sandoval 1627 De instauranda Aethiopum salute, zitiert in Portilla 2010, 256-257) Die Vorreiterolle Portugals bei der Entdeckung und wirtschaftlichen Erschließung Afrikas sowie das Monopol auf den Sklavenhandel sind außersprachliche Faktoren, die die Präsenz portugiesischer Elemente im primären Ethnolekt begründen könnten. Andererseits darf nicht vergessen werden, dass die habla de negros ursprünglich aus der portugiesischen Literatur stammt und es sich daher auch um die Übernahme eines literarischen Typs handeln könnte. Weber de Kurlat nimmt daher an, dass bei den portugiesischen Elementen in der habla de negro bei Reinos sprachliche Realität und literarische Tradition zusammenwirken: Creo que la abundancia de estos ejemplos puede interpretarse como conjunción de la observación de la realidad (los negros que llegaban a Sevilla conocían palabras portuguesas porque habían permanecido un tiempo en Lisboa antes de ser trasladados al mercado de esclavos de Sevilla) sumada a la tradición literaria portuguesa, en la que encontró Reinosa el punto de partida para su propia obrita. (Weber de Kurlat 1963b, 387f.) Offensichtlich besaßen Formen ohne Diphthongierung und mit erhaltenem lateinischem / f-/ sekundäre Indexikalität im Bezug auf die afrikanischen Sklaven. Ob sie allerdings auch in den primären Ethnolekten vorhanden waren oder auf literarische Vorbilder aus Portugal zurückgehen, kann aufgrund der sprachlichen Fakten nicht entschieden werden. Mediale Ethnolekte in Spanien und Amerika 297 6.2.3. Habla morisca Vor allem in den Texten aus dem 16. Jahrhundert zeichnet sich die habla de negro bisweilen durch den so genannten xexeo, d.h., den Ersatz aller Sibilanten durch / / (graphisch <x>) aus: Quix dar mi a ti no dexir lo que no oír, que xi yo habrar, voxotras confexar, y no xer bono xi no miro (Gaspar Gómez de Toledo, Tercera parte de la tragicomedia de Celestina; cf. Lipski 2005, Appendix; vgl. auch Weber de Kurlat 1963a, 162f.) Der xexeo galt im Barocktheater als typisches Kennzeichen der habla morisca (vgl. Teyssier 1959, 252) - eine Sprachideologie, die offensichtlich noch ältere Wurzeln hat, denn sie wird schon von Antonio de Nebrija im ersten Kapitel seiner Grammatik explizit formuliert: […] los moros siempre la ponen en lugar de nuestra s i por lo que nosotros dezimos Señor San Simón, por e, ellos dizen Xeñor Xan Ximón, por x. (Nebrija, Gramática I, iii) 8 Der xexeo stellt daher in der habla de negro wahrscheinlich eine Überlagerung mit der Bühnenvarietät der Morisken dar. Die Palatalisierung kann durch lautliche Interferenz mit dem Arabischen erklärt werden und stammt daher möglicherweise wirklich aus dem primären Ethnolekt der Mauren bzw. Morisken, wurde aber im Theater häufig unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit der Figuren als allgemeines Kennzeichen muslimischer bzw. nicht christlicher Figuren eingesetzt, z.B. auch für Türken. Es besaß also sekundäre Indexikalität im Bezug auf Fremdheit und Heidentum, was seine Verwendung in der habla de negro erklärt, aber eher gegen sein systematisches Vorhandensein im primären Ethnolekt spricht. 6.3. Zwischenfazit Es zeigt sich, dass für eine Reihe von Merkmalen, die ausschließlich bei afrikanischen Charakteren vorkommen, eine Herkunft aus dem primären Ethnolekt plausibel ist. Dazu gehören v.a. solche Normabweichungen im Konsonantismus, die sich gut aus dem afrikanischen Substrat erklären lassen (v.a. die pränasalisierten Konsonaten, evtl. auch / d/ > / r/ und die Neutralisierung von / r/ und / l/ ), aber keine Basis in den romanischen 8 Vgl. dazu auch Quevedo: „Morisco hablarás […] pronunciando muchas xx, ó jj, como Espadahan, Jerro, Boxanxe, Borriquela, y Mendozas, Mera Boxanxé; y asi en todo.“ (Quevedo 1839[1631], 340) Silke Jansen (Mainz) 298 Sprachen haben, sowie Merkmale des Andalusischen, das wahrscheinlich die Zielvarietät der Afrikaner darstellte. Allerdings sind diese Merkmale in hohem Maße stilisiert, denn sie werden häufig gerade nicht systematisch verwendet, sondern beschränken sich auf einige wenige „Leitformen“, die dafür ausgesprochen häufig vorkommen (vgl. Siolo, neglo, dioso, boso, Verlust von / -s/ v.a. in der 1. Person Plural des Verbparadigmas etc.). Hier deutet sich an, dass weniger das Streben nach Mimesis im Bezug auf die Ausgangsvarietäten, sondern vielmehr die Eigenschaft sprachlicher Formen, sekundäre Indexikalität zu tragen, ausschlaggebend für ihre Verwendung in den Bühnenvarietäten war. Dies tritt besonders deutlich dort zutage, wo Charakteristika aus anderen Bühnenvarietäten in die habla de negro übernommen werden, denn die Normabweichungen sind nicht in erster Linie indexikalisch im Bezug auf die ethnische Herkunft der Sprecher zu lesen, sondern spiegeln Sprachideologien über andere soziale Gruppen wider. Der Erkenntniswert der sekundären Ethnolekte für die Untersuchung historischer Sprachkontakte kann daher nur reflektiert werden, indem man auch die jeweils intendierte außersprachliche Bezugsgröße hinterfragt. Um diesen Umstand zu illustrieren, möchten wir kurz auf einen weiteren sekundären Ethnolekt eingehen: die so genannte habla de indio, die ausschließlich in Texten aus Amerika erscheint. 7. Die habla de indio Während sich der Afrikaner schon früh als ethnischer Typus im spanischen Theater etabliert und sich sowohl in Europa als auch in Amerika großer Beliebtheit erfreut, betritt der Indianer nur sporadisch die Bühne - und zwar nicht in der Rolle des bufón, sondern meist als tragische oder heroische Figur. Obwohl sich namhafte Autoren wie Lope de Vega oder Tirso de Molina der Thematik annehmen, bleibt sie doch insgesamt marginal. Eine eigene Bühnenvarietät entsteht nicht; vielmehr legen die Autoren ihren Figuren ein unauffälliges, ja sogar eher sublimes Spanisch in den Mund, während die Referenz auf bestimmte kulturelle Praktiken (z.B. auf die areitos, indianische Feste, die in den Chroniken beschrieben werden) sowie die exotische Anthroponymie, Toponymie und der Gebrauch von Indigenismen dazu dienen, Lokalkolorit herzustellen und Amerika als paradiesischen Ort zu inszenieren: […] de todos los signos, el más plenamente embellecedor y ennoblecedor del indio es la palabra profundamente lírica. También los nombres de los perso- Mediale Ethnolekte in Spanien und Amerika 299 najes, cuyas fuentes directas se encuentran más que en las Crónicas de Indias, en Alvar Núñez Cabeza de Vaca (Dulcanquellin o Tapirazú) o en La Araucana de Ercilla (Ongol) o en la toponimia americana (Auté Palca), tienen su correspondencia exótica en los nombres de la fauna y flora americanas, nombres pronunciados por los indios. Es precisamente a través de ellos como accendemos al espacio paradisíaco que habitan, justo antes de que lo invadan - en sentido escénico también - los españoles. (Ruiz Ramón 1993, 34) In Spanien existiert also keinerlei Sprachideologie im Bezug auf die Sprechweise der Indianer, wahrscheinlich aus zwei Gründen: Einerseits waren Indianer auf der Iberischen Halbinsel weit weniger präsent als Afrikaner, und andererseits dient die deformierte, fremdländische Sprache der Sklaven im Theater v.a. dazu, die Figuren der Lächerlichkeit preiszugeben - eine Funktion, die sich nicht mit dem Charakter der indianischen Charaktere vereinbaren lässt. In Amerika, wo die indigene Bevölkerung Bestandteil der alltäglichen Erfahrung war, finden wir dagegen sporadische Beispiele einer habla de indio wenn nicht im Theater, so doch in der Literatur. Ein recht bekanntes Beispiel (vgl. auch die Untersuchung von Rivarola 1987) sind die Gedichte des peruanischen Autors Juan del Valle Caviedes vom Ende des 17. Jahrhunderts, in denen er die Sprechweise der Indigenen aus dem Andenraum parodiert: Parici ostí jonto al novia tan ridondo y ella larga como in los trocos di juego, taco, bola in misma cama. Neben einigen morphosyntaktischen Eigenheiten wie fehlender Genuskonkordanz oder dem Auslassen von Artikeln fallen in lautlicher Hinsicht v.a. Konfusionen zwischen / i/ und / e/ sowie / o/ und / u/ auf, die noch heute die Sprechweise Bilingualer in der Andenregion auszeichnen und darauf zurückgehen, dass das Quechua und das Aimara nur drei Vokale kennen, die dann in spanischen Lernervarietäten häufig übergeneralisiert werden (vgl. Rivarola 2000). Offensichtlich handelt es sich hier um einen sekundären Ethnolekt, der der von Androutsopoulos beschriebenen double distortion unterworfen ist, denn andere typische Charakteristika des vom Quechua und Aimara beeinflussten Andenspanisch - darunter z.B. die Schwächung unbetonter Vokale oder Konstruktionen mit doppeltem Possessiv tauchen nicht oder nur sporadisch auf. Dass es sich in der Tat um eine Stereotypisierung und nicht um eine realistische Wiedergabe von ethnischen Varietäten handelt, wird auch in dem folgenden Auszug aus einer Loa von Félix de Alarcón (1744) deut- Silke Jansen (Mainz) 300 lich, der einen Dialog zwischen einem Soldaten und einem Indianer vom Volk der Vilela wiedergibt (vgl. Rivarola 1987, 151): Ay, se sopiera mi estorva a sus hejos tan queredos la intrada; foira horrorosa el reprensión que llevaras. Auch hier finden wir wieder Konfusionen zwischen / i/ und / e/ sowie / o/ und / u/ , obwohl diese für das Vilela gar nicht wahrscheinlich sind, da es wie das Spanische zwischen fünf Vokalen unterscheidet (cf. Rivarola 1987, 152). Wir haben es hier also wiederum mit einer stilisierten Sprachideologie über den Indianer zu tun, die unabhängig vom konkreten ethnischen Hintergrund funktioniert und daher gerade nicht die sprachliche Realität abbildet, sondern emblematisch für die soziale Kategorie Indianer steht. Dies ist durchaus nicht ungewöhnlich für sekundäre Ethnolekte, fungieren doch beispielsweise die Türken als prototypische Sprecher für die Repräsentation von Migrantenfiguren in der deutschen Medienlandschaft. Ähnliches mag für die habla de negro gelten: Selbst wenn deren Leitmerkmale am ehesten den afrikanischen Sprachen der Bantu-Gruppe zu entsprechen scheinen, müssen wir insgesamt von einer großen ethnischen und damit wohl auch sprachlichen Heterogeneität unter den bozal-Sklaven ausgehen, deren Komplexität im globalen Typus des afrikanischen Sklaven und in der Sprachideologie der habla de negro wahrscheinlich erheblich reduziert wurde, ähnlich wie die Figur des Indianers und ihre Sprechweise. Die ethnischen Kategorien afrikanischer Sklave bzw. Indianer, für die die Leitmerkmale des sekundären Ethnolektes indexikalisch stehen, sind dabei soziale Konstrukte und ihrerseits Bestandteil der Sprachideologie. 8. Fazit Die Sprache, durch die Sklaven und Indianer in literarischen Werken charakterisiert werden, ist kein realistisches Abbild der afrikanischen und indianischen Ethnolekte, wie sie zur damaligen Zeit auf der iberischen Halbinsel und in den amerikanischen Kolonien verwendet wurden. Sie ist aber auch kein reines Kunstprodukt, das vollkommen losgelöst von realen Sprachformen zu sehen wäre. Dieser zwiespältige Charakter der habla de negro und habla de indio erklärt sich aus einem Effekt, der typisch für mediale Überformungen von Ethnolekten zu sein scheint und von Androutsopoulos als double distortion bezeichnet wird: Der sekundäre Ethno- Mediale Ethnolekte in Spanien und Amerika 301 lekt besitzt einerseits nur eine Teilmenge der Eigenschaften seines Vorbildes, geht aber andererseits auch über diesen hinaus. Zentral ist in diesem Zusammenhang, dass sprachliche Merkmale soziale Indexikalität auf unterschiedlichen Ebenen besitzen. Soziolinguisten sind in der Regel an Indexikalität ersten Grades interessiert, also den sprachlichen Merkmalen, die direkt mit der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe korrelieren. Sekundäre Ethnolekte sind jedoch keine Abbilder dieser Realität, sondern Ausdruck von Sprachideologien. Sie zeichnen sich durch Normabweichungen aus, die sich nur z.T. mit den Merkmalen der Ausgangsvarietät überschneiden, dafür aber stark mit sekundärer Indexikalität aufgeladen sind. Die Theaterstücke und Gedichte, die das afrohispanische Korpus bilden, schreiben daher einen sprachideologischen Diskurs fort und sind eher als metasprachliche Texte zu lesen denn als sprachwissenschaftliche Primärdaten. So erklärt sich auch die weitreichende Übereinstimmung zwischen den Leitmerkmalen und den explizit formulierten Sprachideologien zeitgenössischer Sprachexperten (Nebrija, Quevedo). Die Sprachideologien dienen in den konkreten Stücken einerseits poetischen und ästhetischen Zwecken (insbesondere der Komik), schreiben aber auf einer übergeordneten Ebene auch einen Herrschaftsdiskurs über die „legitime Sprache“ fort, da die Sprachformen der ethnischen Figuren vor dem Hintergrund einer postulierten homogenen Standardsprache implizit abgewertet werden. Das spanischsprachige Theater ist daher ein Ort, wo Sprachideologien in Form von Bühnenvarietäten reproduziert und inszeniert, aber auch erzeugt und verhandelt werden, denn durch die literarische Verarbeitung wird die habla de negro als sprachideologisches Konstrukt und exotischer Gegenstand erst hervorgebracht. Wer einen sekundären Ethnolekt beschreibt, stellt zunächst einmal eine Sprachideologie dar. Die weitgehende Stabilität bestimmter afrohispanischer Merkmale in Texten aus unterschiedlichen Zeiten und Gebieten der Hispanophonie spricht dabei nicht unbedingt für einen hohen Authentizitätsgrad der literarischen Darstellung, sondern spiegelt möglicherweise lediglich die Beständigkeit der Sprachideologie wider. Um zu den soziolinguistischen Realitäten hinter der literarischen Überformung vorzudringen, muss in jedem einzelnen Fall sorgfältig geprüft werden, ob die Existenz des Merkmals im primären Ethnolekt plausibel ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sekundäre Ethnolekte mit anderen medialen Varietäten interagieren und die außersprachliche Bezugsgröße - in diesem Fall der Afrikaner als ethnischer Typus - ihrerseits eine soziale Kategorie darstellt, die innerhalb der Textsorte konstruiert wird und damit selbst Teil der Sprachideologie ist. Silke Jansen (Mainz) 302 Das Bild, das man auf diese Weise vom primären Ethnolekt rekonstruieren kann, bleibt dementsprechend unscharf und lückenhaft. Es ist zwar grundsätzlich plausibel, dass Merkmale wie die Neutralisierung der Liquide, pränasalisierte Konsonanten, der Ausfall von / -s/ oder die Realisierung von / d/ als [r] in den Varietäten der bozal-Sklaven vorkamen, jedoch lässt sich aus den Quellen nicht ablesen, ob diese allgemein verbreitet und Teil eines stabilen Ethnolekts mit einer eigenen Zielnorm waren, oder ob es sich bei der habla de negro um ein Kontinuum von individuellen Lernervarietäten handelte, deren ursprüngliche Variabilität und Heterogeneität im Zuge der Stilisierung auf wenige Leitmerkmale reduziert wurde. Fest steht lediglich, dass die Merkmale der literarischen habla de negro von der hispanophonen Mehrheitsgesellschaft als charakteristisch für die Sprache der Sklaven empfunden wurden - so charakteristisch, dass die Autoren in Lyrik und Drama daraus über Jahrhunderte hinweg Parodien der esclavos bozales spinnen konnten. Die Aufgabe der Linguisten, die aus diesen Darstellungen die historische habla de negro rekonstruieren wollen, ist dabei vergleichbar mit der Herausforderung, aus einer Karikatur ein realistisches Konterfei einer Person zu entwerfen, die man selbst nie gesehen hat. Von den authentischen Varietäten der afrikanischen Sklaven können wir daher nur die groben Züge erahnen. Immerhin kennen wir jedoch dank der literarischen Überformung zumindest die Sprachideologien der damaligen Zeit. Literaturhinweise Androutsopoulos, Jannis: „Die Erfindung >des< Ethnolekts“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 164, 2011, 93-120. Androutsopoulos, Jannis: „Ethnolekte in der Mediengesellschaft. Stilisierung und Sprachideologie in Performance, Fiktion und Metasprachdiskurs“, in: Fandrych, Christian/ Salverda, Reiner (Hgg.): Standard, Variation und Sprachwandel in germanischen Sprachen, Tübingen: Narr, 2007, 113-155. 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Vergleichende Betrachtung des Sprachkontakts im Grenzgebiet zwischen Uruguay und Brasilien sowie zwischen der spanischen Extremadura und den angrenzenden portugiesischen Regionen (Beira Baixa/ Alto Alentejo) Christina Ossenkop (Münster) 1. Einleitung Sowohl auf der Iberischen Halbinsel als auch in Südamerika existieren Grenzräume, in denen spanische und portugiesische Varietäten bzw. deren Sprecher in Kontakt miteinander stehen. Während einige dieser Sprachkontaktgebiete bereits Ende des 19. Jahrhunderts zum Gegenstand linguistischer Studien wurden, wurde anderen lange Zeit nur geringes Forschungsinteresse zuteil. Zu letzteren gehört u.a. das Gebiet zwischen Cedillo und La Codosera in der spanischen Region Extremadura, dessen Existenz noch bis in die 1990er Jahre, im Gegensatz zu den Sprachkontaktzonen in der Sierra de Jálama und in Olivenza, auch in Fachkreisen kaum bekannt war. In Südamerika wurde 1965 die erste umfassende Studie zum spanisch-portugiesischen Sprachkontakt im brasilianischuruguayischen Grenzgebiet veröffentlicht (vgl. Rona 1965), und seit den 1980er Jahren haben sich insbesondere Harald Thun (vgl. Thun 1986, 1996, 2000a/ b) und Adolfo Elizaincín (vgl. Elizaincín 1992, 1996, 2002, 2004, 2008), aber auch Boller (2002), Kaufmann (2009) und andere der Erforschung der dort gesprochenen Varietäten gewidmet. Im Folgenden sollen die sprachliche Situation und das Auftreten kontaktsprachlicher Merkmalsausprägungen im brasilianisch-uruguayischen Grenzgebiet mit denen im Sprachkontaktgebiet zwischen Cedillo und La Codosera verglichen werden. Die Ausführungen basieren dabei zum einen auf den Forschungsergebnissen Elizaincíns, zum anderen auf den Erkenntnissen meiner eigenen Feldforschung im spanisch-portugiesi- Christina Ossenkop (Münster) 306 schen Grenzgebiet zwischen Cedillo und La Codosera. Dabei sollen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen beiden Sprachkontaktsituationen herausgearbeitet und analysiert werden. 2. Das Sprachgrenzgebiet zwischen Cedillo und La Codosera Das Sprachgrenzgebiet zwischen Cedillo und La Codosera liegt, wie oben erwähnt, in der spanischen Region Extremadura und erstreckt sich entlang der Staatsgrenze vom linken Ufer des Tajo in Richtung Süden (vgl. zum Folgenden Ossenkop 2008 sowie Ossenkop 2006a/ b, 2007, 2010a). Es besteht aus den drei Gemeinden Cedillo, Valencia de Alcántara und La Codosera, wobei die beiden erstgenannten zur Provinz Cáceres gehören, die letztgenannte zur Provinz Badajoz. Im Norden grenzt das Gebiet an die portugiesische Region Beira Baixa (Distrikt Castelo Branco), im Westen an den Alto Alentejo (Distrikt Portalegre), sodass von Cedillo aus Kontakt zu zwei unterschiedlichen portugiesischen Regionen besteht, die nach Lindley Cintra allerdings ein gemeinsames sprachliches Areal - den Unterdialekt von Castelo Branco und Portalegre - bilden (vgl. Cintra 1983, 155f.). Zu Valencia de Alcántara und La Codosera gehören verschiedene kleinere Weiler, die sich z.T. direkt an der Grenze zum Alto Alentejo befinden und damit an ein dialektales Kontinuum grenzen, das durch die Abnahme beiranischer und die Zunahme alentejanischer Merkmalsausprägungen gekennzeichnet ist (vgl. Ossenkop 2008 sowie Carrasco González 2001, 151). Aus soziolinguistischer Sicht lässt sich feststellen, dass in Cedillo sowie in den Grenzweilern der Gemeinden Valencia de Alcántara und La Codosera bis etwa Mitte des 20. Jahrhunderts fast ausschließlich portugiesische Varietäten gesprochen wurden, die jedoch aufgrund des sozioökonomischen Wandels in der Region zunehmend durch die spanische Sprache überdacht wurden. 1 Dies äußert sich zum einen im Auftreten sprachkontaktbedingter Merkmalsausprägungen in den lokalen portugiesischen Varietäten, zum anderen in einer kontinuierlichen Abnahme des Portugiesischgebrauchs seit Mitte des 20. Jahrhunderts gegenüber einem Anstieg im Gebrauch des Spanischen. 1 Zu nennen sind hier insbesondere die Durchsetzung der Schulpflicht, die Emigration, die Verbesserung der Infrastruktur, der Zugang zu Massenmedien und nicht zuletzt der Beitritt Spaniens und Portugals zur EU sowie die Unterzeichnung des Schengener Abkommens, durch welche die ökonomischen Vorteile des grenzüberschreitenden Handels beseitigt wurden. Die spanisch-portugiesische Sprachgrenze dies- und jenseits des Atlantiks 307 Historisch handelt es sich bei den untersuchten Ansiedlungen um portugiesische Ortsgründungen, die zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert entstanden sind und ihre Ursache nach Carrasco González (1997, 66f.) vor allem in demographischen und wirtschaftlichen Faktoren hatten, wobei insbesondere im 20. Jahrhundert der grenzüberschreitende Handel einen wesentlichen Einfluss ausübte (vgl. auch Ossenkop 2008). Die Präsenz des Portugiesischen in diesem Gebiet ist somit jüngeren Datums und nicht etwa, wie im Falle der Sierra de Jálama, auf Wiederbesiedlung der Region durch galicisch-portugiesische Siedler infolge der Reconquista zurückzuführen. Daraus folgt, dass es sich bei den lokalen Varietäten des Portugiesischen nicht um archaische Relikte, sondern um Varietäten der benachbarten portugiesischen Dialekte handelt, die jedoch in unterschiedlichem Grad vom Spanischen beeinflusst sind. 3. Die brasilianisch-uruguayische Sprachgrenze Das spanisch-portugiesische Sprachkontaktgebiet Uruguays liegt im Nordosten des Landes an der Grenze zu Brasilien. Nach Elizaincín (2008, 301ff.), der für seine Monographie Dialectos en contacto eine Feldforschung in acht Orten dieses Gebiets durchgeführt hat, 2 handelt es sich hier in den meisten Fällen um eine offene Grenze, die kaum durch natürliche Hindernisse gefestigt wird und daher den grenzüberschreitenden Kontakt der Bevölkerung nicht behindert. An dieser Sprachgrenze haben sich die sogenannten DPU - dialectos portugueses del Uruguay - herausgebildet, die unter der Bezeichnung fronterizo erstmals von José Pedro Rona untersucht wurden (vgl. Rona 1965) und seitdem vor allem Gegenstand der Forschung Elizaincíns sind. 3 Dabei handelt es sich nach Elizaincín um sprachliche Varietäten, die innerhalb eines Kontinuums zwischen zwei Polen - dem Spanischen Uruguays und dem Portugiesischen des brasilianischen Bundesstaats Rio Grande do Sul - gesprochen würden (vgl. Elizaincín 1992, 67), oder anders gesagt um „variedades mezcladas de español y de portugués [...]“ mit einer „base mayoritariamente portuguesa, con fuerte incidencia del español [...]“ (Elizaincín 2008, 303). 2 Es handelt sich um die Städte Artigas (30.000 Einwohner) und Rivera (50.000 Einwohner) sowie die kleineren Ansiedlungen Tranqueras, Vichadero, Minas de Corrales, Río Branco, Aceguá und Isidoro Noblía (mit jeweils zwischen 1000 und 6000 Einwohnern; vgl. Elizaincín 1992, 96f.). 3 Zu erwähnen ist hier insbesondere der gemeinsam mit Harald Thun herausgegebene Atlas lingüístico diatópico y diastrático del Uruguay(-Norte), vgl. Thun u.a. 2000a/ b. Christina Ossenkop (Münster) 308 Elizaincín bescheinigt diesen Varietäten einen hohen Grad an interner Variabilität, die auf der Fusion der Grammatiken beider Sprachsysteme beruhe und z.T. zu sprachlicher Unsicherheit bei den Sprachteilhabern führe. Er verwendet den Terminus lengua zur Bezeichnung der DPU und beschreibt die sprachliche Situation im Grenzgebiet zu Brasilien im Großen und Ganzen als diglossisch mit den DPU als low variety, dem Spanischen als high variety: Die DPU seien Muttersprache eines großen Teils der dort lebenden Bevölkerung, allerdings nicht verschriftet und im Wesentlichen auf den Gebrauch im alltäglichen Leben, auf die Kommunikation in der Familie und im engen Freundes- und Bekanntenkreis, begrenzt. Darüber hinaus würden sie überwiegend von Personen mit geringer oder fehlender Schulbildung verwendet, die in ländlichen Regionen lebten, auch wenn sich diese Situation durch Binnenmigration in die Städte allmählich verändere (vgl. Elizaincín 2008, 303f.). Allerdings lasse sich nach Elizaincín auch im Bereich des Spanischen die Existenz unterschiedlicher Varietäten feststellen, als deren wichtigste er das stärker dialektal geprägte español rural einerseits, das durch dialektale Nivellierung gekennzeichnete español urbano andererseits heraushebt. Der Sprachkontakt im Nordosten Uruguays bestehe somit einerseits zwischen den DPU und dem español rural dieser Region, zum anderen zwischen den DPU und der überdachenden spanischen Standardsprache des La-Plata-Gebiets (vgl. Elizaincín 2008, 306f.). Es ist allerdings hinzuzufügen, dass sich der spanisch-portugiesische Sprachkontakt in Uruguay nicht auf das Grenzgebiet im Nordosten beschränkt. Bereits zur Zeit der Kolonialisierung war Uruguay, die sogenannte Banda Oriental, Schauplatz zahlreicher Kämpfe zwischen Spaniern und Portugiesen, die das Land für ihre Krone in Besitz nehmen wollten. Während die heutige Hauptstadt Montevideo 1726 von Buenos Aires aus gegründet wurde, gründeten die Portugiesen bereits 1680 die Stadt Colonia do Sacramento, die in der Folgezeit mehrfach den Besitzer wechselte, bis sie endgültig von Spanien in Besitz genommen wurde. Zu den ersten Siedlern Montevideos gehörten darüber hinaus viele Familien kanarischer Herkunft, deren Lexikon stark mit portugiesischen Einflüssen durchsetzt war (vgl. Elizaincín 2008, 305f.). Der Nordosten des Landes wurde schließlich zu einem großen Teil von portugiesischen bzw. brasilianischen Siedlern besiedelt mit der Folge, dass das Spanische in diesem Gebiet erst im 20. Jahrhundert nach und nach Fuß fassen konnte und sich somit eine Kontaktsituation herausgebildet hat, aus der letztlich die DPU entstanden sind (vgl. Elizaincín 2008, 307; Elizaincín 1992, 97ff.). Die spanisch-portugiesische Sprachgrenze dies- und jenseits des Atlantiks 309 4. Vergleichende Betrachtung ausgewählter Sprachkontaktphänomene Elizaincín geht bei seiner Untersuchung der Sprachkontaktsituation an der brasilianisch-uruguayischen Sprachgrenze von folgender Fragestellung aus: „¿existe, como consecuencia del contacto, una nueva lengua, reconocible y tratada ya como algo diferente a las otras lenguas? “ (Elizaincín 1992, 87). Zu diesem Zweck untersucht er insgesamt sechs phonetische sowie 26 morphologische und syntaktische Variablen im Hinblick auf den Grad der vorhandenen Variation, wobei er sowohl endogen als auch exogen entstandene Variation berücksichtigt. Ausgehend von Labovs Ansatz zur Messung der sprachlichen Variation quantifiziert er die spanischen und portugiesischen Variantentypen für jeden Ortspunkt und berechnet so den Grad der Variabilität oder Stabilität der lokalen Varietäten. 4 4.1 Sprachkontaktphänomene im Bereich der Phonetik und Phonologie Bezüglich der untersuchten phonetischen Variablen, die auf der Grundlage der historischen Phonetik ausgewählt wurden, 5 weisen die DPU nach Elizaincín (1992, 100ff.) eine eindeutige Tendenz zu portugiesischen Varianten mit insgesamt geringer Variation auf. Gleiches lässt sich für die portugiesischen Varietäten im Sprachkontaktgebiet zwischen Cedillo und La Codosera feststellen, die damit areallinguistisch den portugiesischen Nachbardialekten des Alto Alentejo und der Beira Beixa zuzuordnen sind. Allerdings lassen sich im Grenzgebiet zwischen Cedillo und La Codosera in Abhängigkeit von Wohnort, Alter und Mobilitätsgrad der Informantinnen und Informanten einige phonetisch-phonologische Merkmalsausprägungen beobachten, die auf den Einfluss der spanischen Kontaktsprache zurückzuführen sein können, wobei der Sprachkontakteinfluss z.T. eine vorhandene endogene Variation des Portugiesischen 4 Dabei besteht z.T. ein methodisches Problem in der eindeutigen Zuordnung einzelner Varianten zu einem der beiden Pole, da beide Kontaktsprachen einen engen Grad der Verwandtschaft aufweisen und somit ein Kontinuum bilden (vgl. Elizaincín 1992, 68). 5 Es handelt sich um die Entwicklung der lt. Nexus -KT-, -KL-, -TL-, der Geminate -NN-, des lt. anlautenden F- und Jsowie des lt. kurzen E, O. Andere lautliche Erscheinungen wie die Entphonologisierung der Oppositionen / b/ : / v/ , / o/ : / / oder die Desonorisierung von Sibilanten (vgl. Navas Sánchez-Élez 1994, 274ff.) werden von Elizaincín an dieser Stelle nicht thematisiert. Christina Ossenkop (Münster) 310 verstärkt. Dies betrifft z.B. die Entphonologisierung der Opposition / b/ : / v/ , die bei einigen Gewährspersonen lediglich lexemgebunden belegt ist (als Betazismus: labrador statt lavrador, palabra statt palavra, aber auch umgekehrt persever statt perceber, caravineiro statt carabineiro). Bei einem unter- 50-jährigen Informanten mit mittlerem Mobilitätsgrad tritt die sporadische Entphonologisierung der Opposition / b/ : / v/ mit dem Ergebnis / v/ jedoch undifferenziert in unterschiedlichen Lexemen auf (visavós statt bisavós, vasada statt baseada, u.a.) und ist damit als Hyperkorrektismus zu werten. Auch die Imperfektendung -ava wird von einem Informanten als -aba realisiert, allerdings nur sporadisch (vgl. Ossenkop 2008, VI.1.3), während Elizaincín, der dieses Phänomen im Zusammenhang mit morphosyntaktischen Merkmalsausprägungen diskutiert, in 89% aller Fälle die Realisation der Imperfektendung mit intervokalischem [b] feststellt (vgl. Elizaincín 1992, 129). Eine andere phonologische Opposition, die im Grenzgebiet zwischen Cedillo und La Codosera sporadisch aufgegeben wird, ist diejenige zwischen / o/ und / / . 6 Hier weisen drei Informanten mit mittlerem bis hohem Mobilitätsgrad eine Tendenz zur Realisierung eines mittleren Öffnungsgrades auf, die eindeutig auf den Einfluss der spanischen Kontaktsprache zurückgeführt werden kann, während andere, nur sporadisch auftretende Fälle auch der mangelnden Kenntnis der portugiesischen Standardsprache geschuldet sein können (z.B. die Nicht-Beachtung der Metaphonie povo [povu] - povos [p vu ]; vgl. Ossenkop 2008, VI.1.2). Systematische Entphonologisierungserscheinungen lassen sich allerdings nur bei insgesamt drei Gewährspersonen unter 50 Jahren mit hohem Bildungs- und z.T. auch Mobilitätsgrad nachweisen, d.h. die zu beobachtenden phonetisch-phonologischen Merkmalsausprägungen manifestieren sich nicht im System der lokalen portugiesischen Varietäten, sondern lediglich in der Kompetenz einzelner Sprecherinnen und Sprecher. 4.2 Sprachkontaktphänomene im Bereich der Morphologie und Syntax Das Ausmaß der sprachkontaktbedingten Variation im Bereich der Morphologie und Syntax ist sowohl in den DPU als auch in den portugiesischen Varietäten zwischen Cedillo und La Codosera größer als im Bereich der Phonetik und Phonologie. Elizaincín (1992, 143ff.) stellt bei sieben der von ihm untersuchten Variablen einen hohen Grad der Variation zwi- 6 Nach Navas Sánchez-Élez (1994, 274) findet sich die Entphonologisierung dieser Opposition auch in den DPU. Die spanisch-portugiesische Sprachgrenze dies- und jenseits des Atlantiks 311 schen den beiden Polen Spanisch und Portugiesisch fest, während in zehn Fällen überwiegend bis ausschließlich portugiesische Varianten realisiert würden, in acht Fällen überwiegend spanische Varianten (in einem weiteren Fall lässt sich die untersuchte Variable nicht eindeutig der einen oder anderen Sprache zuordnen). Daraus zieht der Autor die Schlussfolgerung, dass die DPU das Ergebnis eines noch nicht abgeschlossenen Konsolidierungsprozesses eines neuen, abgrenzbaren Dialektes seien, dessen Entstehung durch Sprachmischung und sprachliche Unsicherheit seitens der Sprachteilhaber mit geprägt werde. 7 Die Variablen, die nach Elizaincín überwiegend bis ausschließlich durch portugiesische Varianten realisiert würden, sind folgende (vgl. Elizaincín 1992, 143ff.): 8 - Form und Gebrauch der bestimmten und unbestimmten Artikel (o, os, a, as, uma(s), un(s),...) die Kontraktion von Artikel und Präposition de (do) der Gebrauch der Subjektpronomina (eu, vocé, ele, ela, nos, vocés) unregelmäßige Verbalformen der 1. und 3. Person Singular Indikativ Präsens (vou, tem) unregelmäßige Verbalformen des Imperfekts Indikativ (tinha, vinha) - Schwund statt Erhalt des auslautenden -r in Infinitiven (falá, viní) - Fehlen der Präposition in der Verbalperiphrase ir + Infinitiv mit futurischer Bedeutung (va viní una guría, vo faser us mandadus, vgl. Elizaincín 1992, 132) - Gebrauch des Subjektpronomens in der Position des direkten und indirekten Objekts (Eu vi ele. Falo para ele.) - Gebrauch der Präposition para bei der Rektion des indirekten Objekts (falar para ele) die syntaktische Struktur der von verba dicendi eingeleiteten Sätze: Qué e que poso contá? Qué e que vou falar? (vgl. Elizaincín 1992, 142) Die Variablen, die nach Elizaincín überwiegend bis ausschließlich durch spanische Varianten realisiert würden, sind folgende (vgl. Elizaincín 1992, 143ff.): 7 „[S]e trata de [...] una situación [...] sui-generis, esto es, el probable surgimiento de un dialecto consolidado o, mejor dicho, la probable consolidación de un dialecto que, con muchas dificultades, está naciendo. Por el momento, la mezcla más o menos indiscriminada, y la inseguridad del hablante en muchos casos son síntomas que creemos inequívocos del proceso de surgimiento de una nueva entidad dialectal“ (Elizaincín 1992, 142f.). 8 Die Graphie wird bei diesen und den folgenden Beispielen aus dem Werk von Elizaincín übernommen. Christina Ossenkop (Münster) 312 fehlender Gebrauch des Artikels vor Possessivadjektiven (noso idioma, visinha nostra, vgl. Elizaincín 1992, 121) überwiegende Realisierung der Verbalendung der 1. Person Singular Präsens Indikativ als [o] und nicht als [u] (falo statt falu) - Tendenz zur spanischen Form bei der Realisation unregelmäßiger Verbalformen der 3. Person Plural Präsens Indikativ (son statt s-o, vgl. Elizaincín 1992, 127ff.) - Tendenz zum Gebrauch der spanischen Verbalendungen der 3. Person Singular des einfachen Perfekts (cantó statt cantou, comió statt comeu, partió statt partiu) - Tendenz zum Gebrauch der spanischen, auf -n statt -m auslautenden Verbalendungen der 3. Person Plural des einfachen Perfekts (vinierun statt vieram, cantaron statt cantarum) - Tendenz zum Gebrauch der spanischen Imperfektendung -aba statt -ava (gastaba, trabaiaba) - Präferenz des unbetonten statt des betonten Personalpronomens zum Ausdruck des Experiens (a mi me parece que statt eu acho que, mit hybriden Konstruktionen wie yo...me parece que, vgl. Elizaincín 1992, 141f.) Keiner der beiden Sprachen kann die Alternanz der Vokale [e] und [i] in der Präposition de eindeutig zugeordnet werden. In folgenden Fällen besteht allerdings nach Elizaincín ein hoher Grad an Variation innerhalb der DPU (vgl. Elizaincín 1992, 143ff.): - Alternanz zwischen in (= pg. em) und en (sp.) - Alternanz der Varianten pra (pg.) und pa (sp.) bei der Realisation der Präposition para - Alternanz der Pluralmarkierung in Nominalsyntagmen (as terra(s), os filho(s)) 9 - Alternanz des Themavokals a (sp.) ~ e (pg., vor allem bpg.) in der 1. Person Plural des Präsens und einfachen Perfekts (trabalhamos - trabalhemos) 10 9 Dieses Phänomen ist allerdings sowohl im gesprochenen Spanisch Uruguays als auch im gesprochenen brasilianischen Portugiesisch verbreitet, sodass die Pluralkonkordanz meines Erachtens nicht eindeutig der einen oder anderen Sprache zuzuordnen ist. 10 Im europäischen Portugiesisch gilt die Verschiebung des Themavokals von a > e nach Vasconcellos ( 2 1970, 110-117) als diastratisch niedrig markierte Form, die nicht sprachkontaktinduziert ist. Gleiches gilt für einige analoge Verbalformen wie perdo statt perco. Die spanisch-portugiesische Sprachgrenze dies- und jenseits des Atlantiks 313 - Alternanz der Verbalformen der 1. Person Singular des einfachen Perfekts (canté - cantei) - Alternanz im Gebrauch der Hilfsverben ter und haver (hei visto - tenho visto) - Alternanz der Rektion bei den Verben pg. gostar de/ sp. gustar (eu gosto de bailar - eu gosto viašá - A mi me gusta más de hablar brasilero, vgl. Elizaincín 1992, 133f.) Beim Vergleich der Realisation dieser Variablen mit derjenigen im Sprachkontaktgebiet zwischen Cedillo und La Codosera ist zu berücksichtigen, dass nicht dieselben Varietäten des Spanischen und Portugiesischen in Kontakt treten. Insbesondere einige für das brasilianische Portugiesisch typische Merkmalsausprägungen wie der Schwund des finalen -r in Infinitiven oder der Gebrauch von Subjektpronomina in Objektposition sind für die Bestimmung des Sprachkontakteinflusses an der lusoextremeñischen Grenze nicht relevant. Im Gegenzug gibt es jedoch Variablen im Bereich der Morphosyntax, die lediglich für den Kontakt zwischen europäischen Varietäten des Spanischen und Portugiesischen von Bedeutung sind, so z.B. die Stellung der klitischen Objektpronomina, bei der im europäischen Portugiesisch in affirmativen Sätzen eine Tendenz zur Enklise vorherrscht (vgl. auch Elizaincín 2002, 257). Hier lässt sich vor allem im mittleren Teil des Grenzgebiets zwischen Cedillo und La Codosera eine deutliche Tendenz zur Proklise beobachten, und über das ganze Untersuchungsgebiet verteilt finden sich hyperkorrekte Enklisen im Sprachgebrauch unter-50-jähriger Gewährspersonen (z.B. in abhängigen Nebensätzen: quando fala-se do rio, como dava-le vergonha). Auffällig im Grenzgebiet zwischen Cedillo und La Codosera ist auch der Gebrauch des Konjunktivs Futur, welcher nur von über-50-jährigen Gewährspersonen im südlichen Teil des Untersuchungsgebiets regelmäßig verwendet wird, während er im mittleren und nördlichen Teil in den meisten Fällen durch den Konjunktiv Präsens ersetzt wird. Bei einigen jüngeren Gewährspersonen lassen sich darüber hinaus hyperkorrekte Verwendungen des Konjunktivs Futur beobachten (hier anstelle des Konjunktivs Imperfekt falasse): (1) PJM: se falar com um de Marv-o diria segunda terça quarta c(om) o Jo-o + falaria de lunes martes (SP 2: 19, 2: 20-25) 11 11 Die Belegangabe in diesem und den folgenden Beispielen beinhaltet die Kennziffer der Minidisc, auf der die Aufnahme archiviert ist, sowie die genaue Belegstelle. Christina Ossenkop (Münster) 314 Betrachten wir die Variablen, die nach Elizaincín im brasilianischuruguayischen Grenzgebiet überwiegend nach spanischem Muster realisiert werden, so lassen sich im Grenzgebiet zwischen Cedillo und La Codosera nur im Bereich der Verbalmorphologie einige Übereinstimmungen finden, und zwar in den Konjugationsparadigmata einiger unregelmäßiger Verben. Zu unterscheiden sind hier Formen, die regional verbreitet und z.T. schon im Altportugiesischen belegt sind, wie die 1. Person Singular Präsens Indikativ pido statt peço oder die Konjunktivform vaia statt vá, 12 von solchen Formen, die überwiegend im Sprachgebrauch von Personen mit hohem Mobilitätsgrad oder bei jüngeren Sprechern und Sprecherinnen zu finden sind: - Verschiebungen der Konjugationsklasse: convivir statt conviver, ocorriu statt ocorreu, escriviu statt escriveu - Verbalformen des Präsens Indikativ: voy statt vou, podo statt posso, pertenece statt pertence, renúncias statt renuncias - Verbalformen des einfachen Perfekts Indikativ: fuimos statt fomos, tuve statt tive, estuve statt estive - Verbalformen des Präsens Konjunktiv: sepa statt saiba, sea statt seja - Verbalformen des Imperfekts Konjunktiv: estuvera statt estivera (morphologische und syntaktische Interferenz, da es sich bei pg. estivera nicht um den Konjunktiv (= estivesse), sondern um das Plusquamperfekt handelt) Darüber hinaus sind einige syntaktische Konstruktionen auffällig, bei denen auch Elizaincín in seinem Untersuchungsgebiet einen hohen Grad an Variabilität oder eine Tendenz zur spanischen Realisierung festgestellt hat. 13 Zum einen betrifft dies die Rektion des Verbs gostar, die bei fünf von 37 Gewährspersonen alterniert. So folgt in Beispiel 2 die portugiesische auf die zuvor verwendete spanische Konstruktion, in Beispiel 3 sind 12 Da die Monophthongierung des Diphthongs ai in einigen Dialekten des Portugiesischen verbreitet ist, erfüllt die Form vaia z.T. die Funktion der Disambiguierung zwischen der 3. Person Singular Indikativ va(i) und dem Konjunktiv vá (vgl. auch Ossenkop 2008, VI.2.2.3). 13 Die einzige Variable, bei der im brasilianisch-uruguayischen Untersuchungsgebiet das portugiesische Realisierungsmuster überwiegt, im Gebiet zwischen Cedillo und La Codosera dagegen das spanische, ist der Gebrauch der Verbalperiphrase „ir (a) + Infinitiv“ mit futurischer Bedeutung. In der luso-extremeñischen Sprachkontaktzone wird diese Verbalperiphrase tendenziell mit Präposition realisiert. Es handelt sich dabei um das Ergebnis älteren Sprachkontakteinflusses, der auch auf portugiesischer Seite der Grenze belegt ist (vgl. Ossenkop 2008, VI.2.4.2). Die spanisch-portugiesische Sprachgrenze dies- und jenseits des Atlantiks 315 sowohl die Rektion nach portugiesischem Muster als auch die Mischform me gosta de enthalten, welche auch von Elizaincín beobachtet wurde. (2) CMN: o beber também n-o me gosta + andar borracho n-o me gosta eu gosto de + + + de diverti(r)-me + de passá-lo bem (C 8: 65, 4: 53-5: 01) 14 (3) PMP: assim por exemplo gosto ma(i)s da fala portuguesa + + parece que + como estemos acostumados nós aqui ao português n-o + pois me gosta ma(i)s + d(e) ouvir em português (LM 1: 57, 0: 21-34) Im Sprachgebrauch der hier angeführten Gewährspersonen lässt sich somit eine Alternation der portugiesischen und spanischen Rektionsmuster beobachten, während zwei unter-30-jährige Frauen systematisch die syntaktischen Konstruktionen des spanischen Verbs gustar bei der Rektion von pg. gostar verwenden. Ein anderer interessanter Fall ist die Rektion des Verbs parecer in der Bedeutung ‘meinen’: (4) PMP: ai me parece-me (que) também tenhem + eu me parece que eles logo alguma vez também tenhem aí (i.e. na escola) português (LM 1: 66, 0: 14-19) Neben der gleichzeitigen Voran- und Nachstellung des klitischen Objektpronomens me fällt in diesem Beispiel die Sequenz „eu me parece“ auf. Elizaincín (1992, 142), der Belege dieser Art auch in seinem Untersuchungsgebiet an der uruguayisch-brasilianischen Grenze, allerdings in erster Linie auf Spanisch („Yo ... me parece que“) vorgefunden hat, geht in solchen Fällen von einer Beeinflussung durch die Syntagmenstruktur des portugiesischen Verbs achar ‘finden, meinen’ aus, welches den Experiens im Gegensatz zu parecer im Subjektkasus regiert. In den lokalen portugiesischen Varietäten meines Untersuchungsgebiets sind Konstruktionen des Typs „eu me parece“ jedoch immer auf Portugiesisch belegt, und zwar auch bei einer Gewährsperson des benachbarten portugiesischen Ortes Os Galegos. Ein spanisch-portugiesischer Kontakteinfluss ist hier somit auszuschließen. Es handelt sich syntaktisch gesehen um Linksversetzungen, die in erster Linie der Topikalisierung des Experiens dienen und die damit dem in der gesprochenen Sprache häufig auftretenden Bedürfnis der Sprachteilhaber nach Hervorhebung des „logischen Subjekts“ der Verbalhandlung nachkommen (vgl. Ossenkop 2008, VI.2.4.3). Insgesamt waren bei 39 von 58 Gewährspersonen sporadisch oder regelmäßig Merkmalsausprägungen im Bereich von Morphologie und Syn- 14 In diesem Fall könnte die standardsprachliche Rektion „eu gosto“ auch eine Autokorrektur der zuvor verwendeten spanischen Syntagmenstruktur implizieren. Christina Ossenkop (Münster) 316 tax festzustellen, die primär auf den Einfluss der spanischen Kontaktsprache zurückzuführen waren. Bei 25 Gewährspersonen handelte es sich allerdings nur um sporadische Interferenzen, während bei sechs Gewährspersonen, und zwar entweder jüngeren Sprecherinnen und Sprechern oder solchen mit mittlerem bis hohem Mobilitätsgrad, deutliche Defizite in der Portugiesischkompetenz festzustellen waren (vgl. Ossenkop 2008, VI.2.5). Da es sich bei diesen in der Regel um Personen handelt, die im Alltag überwiegend Spanisch sprechen, ist allerdings nicht, im Gegensatz zum brasilianisch-uruguayischen Grenzgebiet, von der Entstehung eines neuen Mischdialektes bzw. einer Mischsprache auszugehen, sondern von der allmählichen Aufgabe des Portugiesischen durch die jüngeren Generationen. 5. Fazit Elizaincín (1992, 232f.) fasst die sprachliche Situation an der brasilianischuruguayischen Sprachgrenze folgendermaßen zusammen: Los hablantes [...] se ven asaltados continuamente por inseguridad en sus usos. [...] la fuente interna para dicha inseguridad reside en la inestabilidad de las gramáticas respectivas resultantes del contacto que da lugar al dialecto mixto o mezclado. [...]. Las formas alternantes son, precisamente eso: formas que alternan sin que se les pueda adjudicar una funcionalidad específica (lo que les conferiría el status de ‘oposición’, en el sentido funcional del término). La alternancia es, entonces, un uso más o menos aleatorio de formas rivales que pertencen [sic! ] a una y a otra de las dos lenguas que entran en contacto (Elizaincín 1992, 232f.). Während Elizaincín als Folge des hohen Grades an Variabilität in dem von ihm untersuchten Sprachkontaktgebiet die Entstehung einer neuen Sprachform - eines dialecto mixto - postuliert, 15 ist ein massives Auftreten von Sprachkontaktphänomenen im Grenzgebiet zwischen Cedillo und La Codosera nur im Sprachgebrauch einzelner Personen festzustellen, wobei die ausschlaggebenden Parameter zum einen das Alter der Gewährspersonen, zum anderen der Wohnort (entscheidend für die Integration in die 15 Carvalho (2003, 145) lehnt dagegen diese Auffassung zumindest für die portugiesische Varietät von Rivera ab: „Logo, sugiro que o português de Rivera n-o se encaixe nas definições anteriormente propostas de dialeto mixto, interlíngua, pré-pidgin ou basileto, mas simplesmente consista em um dialeto do português rural que como toda variedade em contato, sofre influência (sobretudo lexical) da língua com a qual coexiste.“ Die spanisch-portugiesische Sprachgrenze dies- und jenseits des Atlantiks 317 lusophone Sprachgemeinschaft) sowie der Mobilitätsgrad sind. Als Folge der Überdachung der lokalen portugiesischen Varietäten durch die spanische Standardsprache und des Kontakts zu lokalen spanischen Varietäten ist von weit größerer Bedeutung, dass es zu einer allmählichen Aufgabe des Portugiesischen im genannten Grenzgebiet kommt, da die primärsprachliche Tradierung der lokalen portugiesischen Varietäten unterbrochen wurde. Literaturhinweise Barme, Stefan: „Galicisch-Brasilianisch-lateinamerikanisches Spanisch: Konvergenzen in der Morphosyntax“, in: Zeitschrift für Romanische Philologie 119, 2003, 578-596. Boller, Fred: „Sonorización en castellano vs. ensordecimiento en portugués en situaciones de contacto luso-español“, in: Díaz, Norma u.a. (Hgg.): La Romania americana. Procesos lingüísticos en situaciones de contacto, Frankfurt a.M.: Vervuert, 2002, 197-208. Carrasco González, Juan M.: „Hablas y dialectos portugueses o galaicoportugueses en Extremadura (Parte I: Grupos dialectales. 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Er markiert den Einstieg einer neuen Figur und einer neuen Thematik in das populäre Kurztheater, den „sainete“: Die traditionelle Gaucho-Thematik - der Gaucho als Opfer des Strukturwandels der traditionellen Viehhaltung und der Wirtschaft insgesamt - wur- 1 Dieser Text ist überall zitiert, mit ausreichender sprachlicher Erklärung nur bei Blengino (1977, 419s). Der ausgelassene Text ist eine Abfolge von „immagini improprie“ (ib.); er lautet: „guese de la taba de la canilla de lo caracuse“. Blengino (ib.) erklärt: taba = „L’astrágalo della mucca usata dai gauchos per una specie di giochi ai dadi“; canilla de lo caracuse = „midollo (caracul)“. Ferner: ‚parata’ = „prestanza, termine lunfardo, improprio nel linguaggio gauchesco“ (ib.) 2 -e, -o: (unterstrichene) Auslautvokale, vielleicht sogar -a: Ich schließe nicht aus, dass diese als Schwa realisiert wurden (s.u. Anm. 17). 3 Die „Bühne“ war die Arena eines Zirkus, geleitet von der Familie Podestá. Es gehörte seit mehr als einem halben Jahrhundert in Buenos Aires zur Tradition der Zirkusveranstaltungen, auch kurze szenische Aufführungen zu bieten, die die Welt der criollos repräsentierten, dies durchaus in Opposition und in Konkurrenz zu den teatros, die Stücke aus dem internationalen (d.h. un-argentinischen) Repertoire aufführten. Einen kritischen Überblick dazu liefert Montoya (1979, 33-59 und 1980, 13- 16), cf. Di Tullio (2004, 13). Kailuweit (2004/ 05/ 06) ordnet diese bekannten Fakten in den Skripturalitäts-Diskurs ein. Werner Forner (Siegen) 322 de erweitert und dann ersetzt durch die viel aktuellere Problematik der massiven Einwanderung vor allem aus Italien: Eine „Lawine“, die die Bevölkerungszahl in den städtischen Zentren am Rio de la Plata in kurzer Zeit mehr als verdoppeln sollte, und die natürlich Integrationsprobleme in kaum vorstellbarer Vielfalt nach sich zog. Diese Vielfalt war einer fundamentalen Opposition untergeordnet: der Unterscheidung zwischen den in Argentinien Geborenen einerseits und andererseits den Zugewanderten, zwischen den „criollos“ (gesprochen: ! % bzw. heute [ ]) und den „gringos“. Diese antagonistische Denkstruktur entsprach einer unmittelbar wahrnehmbaren Realität: Sie war sichtbar und vor allem, sie war hörbar - sichtbar war sie oft an den spezifischen Wohngebieten; hörbar war sie an der Sprache der gringos: Diese Sprache war einerseits noch kein Spanisch, sie war aber auch nicht mehr das Idiom der Heimat. Diese basale Opposition (+/ criollo) 4 drängte zu ihrer Auflösung: Die Gringos hatten Interesse daran, in die höher bewertete 5 Klasse der criollos aufzusteigen; der Aufstieg führte über die Sprache. Dieser Antagonismus und die Versuche, diesen durch sprachlichen Schein zu überwinden, wird im Eingangszitat parodiert. Der Sprecher war ein Hilfsarbeiter aus Kalabrien namens Cocoliccio 6 . Das Publikum reagierte begeistert; eine neue Satire (Thema und Performance) war geboren, nämlich eine, die den Pseudo-Criollo durch seine Sprache entlarven wollte. Genau diese satirische Zielsetzung sollte die nachfolgenden Sainetes (und Grotescos) etwa ein halbes Jahrhundert lang beherrschen. Diese künstliche Mischsprache der Bühnen, und zugleich auch die reale Mischsprache in den Gassen der Stadt, erhielt bald den Namen des Komödianten, der diese Sprache als Erster auf die Bühne gestellt hatte: „Cocoliche“. Der Antagonimus criollos vs. gringos war bühnenwirksam, 4 Dieselbe binäre Opposition definiert m.E. auch die Pole des sprachpolitischen Diskurses zwischen 1870 und 1930. Eine analytische Skizze dazu liefert Di Tullio (2003, bes. ab S. 99). 5 Die Immigranten - bes. die meridionalen - litten unter den „reacciones de rechazo y de hostilidad“ (s. Di Tullio 2003: 75 und 141; auch pp. 82 ss, Anm. 35-36). Auch Blanco de Garcia (1987: 245 s, 257) unterstreicht den „spírito xenófobo“, u.a. 6 Ob Person oder Figur mag dahin gestellt bleiben, cf. Montoya (1979: 55 s.); jedenfalls bezeichnete der Name bald metonymisch die Mischsprache zunächst des tano, bzw. dann des italienischen gringo überhaupt.- „Tano“ ist die Figur des Süditalieners, apokopiert aus Napole-tano, oder vielleicht aus der für satirische Zwecke verballhornten Form Papole-tano, die José Hernandez schon seit 1872 in seinem populären Gauchotheater (Martín Fierro) auf die Bühne gestellt hatte, cf. Blengino (1977, 420 s.). Sprachkontakt Genuesisch-Spanisch in Buenos Aires 323 weil er „hörbar“ war: Die Einwanderer verrieten ihren Status durch ihre Sprache. Diese Schibboleth-Funktion von Sprache wurde in den Sainetes - wie dies auch in anderen Literaturen geschehen ist 7 systematisch genutzt, natürlich weniger zu mimetischen als vielmehr zu karikaturalen Zwecken: Die karikaturalen Vorgaben der jeweils vorausgegangenen Sainetes wurden von den Nachfolgern aufgegriffen, es bildete sich eine theatralische Variante dieser Mischsprache heraus. Wir müssen daher streng unterscheiden zwischen dem Bühnen-Cocoliche einerseits und andererseits dem realen Cocoliche. Inwieweit die reale Mischsprache den Bühnenvarianten ähnelte, ist nicht bekannt 8 : Die Bühnenvarianten sind die fast einzigen Überlieferungen 9 . Das Cocoliche war eine Sprache des Übergangs: Spätestens nach 1960 lebte es nur noch in der Erinnerung, kaum noch als reales Kommunikationsmittel 10 . Es gibt - neben den Sainetes - noch eine zweite Form des Überlebens: Aus der Mischsprache bzw. eher aus der Sprachenmischung wurden zahlreiche lexikalische und einige morphologische Elemente entborgt, anfangs vielleicht auch zu kryptischen Zwecken, aber vor allem in diastratisch-diaphasischer Funktion: ein Jargon 11 , genannt „Lunfardo“. Auch 7 Z.B. in der span. Comedia der Renaissance und des Siglo de Oro, wo ein leonesischer Dialekt (el Sayagués) als Erkennungsmerkmal der Figur des Schäfers topisch wurde.- Auch die zeitgleichen Sainetes in Madrid (die als Vorbild dienten: Blanco de Garcia 1987) thematisierten die Unterschicht, indem sie deren Sprache nachahmten. Cf. Montoya (1980, 29). Analog: die habla negra, s. S.Jansen im vorliegenden Band. 8 Diese Unterscheidung ist comunis opinio, vgl. z.B. Montoya (1979, 60, 73; 1980); Blengino (1977); Blanco de Garcia (1987, 256); Di Tullio (2003, 92 und 2003a, 9 und 2004, 113), etc.. Dieselbe Unterscheidung (reale vs. Kunstsprache) war schon früh für die habla gauchesca beansprucht worden: Costa Alvarez (1932), Rona (1962). Der frühe Borges (1941, bzw. 1974, 654) stellt das reale Cocoliche in Abrede, es sei eine Erfindung der Dialektologen; diese „han improvisado el gauchesco, a base de Hernández, el cocoliche, a base de un payaso que trabajó con los Podestá ..“ (zitiert aus: Di Tullio 2003, 92). 9 Für eine exakte Beschreibung fehle die empirische Basis, ähnlich wie beim Vulgärlatein, beklagt sich Di Tullio (2003a, 11). 10 Nicht nur die Sprachmischung, sondern auch ihre Muttersprache haben die Immigranten von vor 1950 verloren, vgl. Veith (2008, 184). 11 Überblick s. Conde (2011), Born (2007), Veith (2008, 49-53). Lunfardo ist zunächst das Wort für „Dieb“ (aus ital. „lombardo“). Die ersten Wortlisten waren durch die Polizei erstellt worden; dies und der Name erklärt den Mythos von der ursprünglichen Verbrechersprache. Lexik: Meo Zilio (1970), Guarneri (1978, 83-99), Conde (2004), Gobello (2008); ein Lexikon der Italianismen s. Veith (2009); speziell Genuesismen: ein Wörterbuch von immerhin 93 Genuesismen im Lunfardo enthält jetzt Toso (2005, Werner Forner (Siegen) 324 dieser Jargon verbreitete sich - wie das Cocoliche - über eine mediale Schiene: Das Lunfardo war seit den 20er Jahren die Sprache der Tango- Lieder und wurde mit diesen populär: Man konnte den Jargon nicht nur sprechen, man konnte ihn auch singen und tanzen 12 . Im Lunfardo sind Anleihen aus dem Genuesischen durchaus zahlreich. Heute markiert das Lunfardo - besser: die Variation Castellano~Lunfardo die gesprochene Umgangssprache in der Plata-Region 13 . Diese kurzen Hinweise auf das Lunfardo mögen hier genügen: Thema ist das Cocoliche. Über das Cocoliche als Mischsprache ist viel geschrieben worden. Ich werde im Folgenden zunächst versuchen, den Stand des linguistischen Wissens kurz zusammenzutragen. Es fällt auf, dass die ‚italienischen’ Anteile des Cocoliche weitgehend toskanische (standarditalienische 14 ) und meridionale Merkmale aufweisen, nur selten galloitalische, noch seltener ligurische Eigenheiten. Dabei spielten die ligurischen Einwanderer sowohl sprachlich als auch migrationsgeschichtlich eine relativ eigenständige Rolle. Es stellt sich daher die Frage, ob die abweichende Migrationsge- 174-187), im Anschluss an die Sammlungen von Toso (1984) und Cervetto (1994), vor allem von Meo Zilio (1970, 49-84). 12 Das Lunfardo stand zunächst symbolisch für die caballeros de la industria; es wurde durch den Tango „medial potenziert“ (Kailuweit 2005, 298; s. a. Berg/ Schäffauer 1999). Tango-Texte in Salas (2002) (mit lexikalischen Erklärungen und - nicht immer korrekter - deutscher Übersetzung). 1943-49 wurden Lunfardo-Wörter in Rundfunksendungen nicht mehr zugelassen, viele Tango-Texte wurden geändert (Gobello 1999, Vardaro 2007, Beispiele auch in Salas 2002). Die mediale Tango-Präsenz des Lunfardo war allerdings begrenzt, wie Stolidi (1990) gezeigt hat: Sie war funktional, sie war thematisch eingeschränkt, und sie betraf längst nicht das gesamte Genre. 13 „Mediante los términos lunfardos se crea la etnicidad, la espontaneidad, la camaradería y la intimidad“; das heutige Lunfardo stehe für „modernidad y sabiduría mondanos“, schreibt Terruggi (1978: 334). „Marca de identidad nacional“: Montoya (1990, 71). 14 Auch der frühe Sarmiento sprach und schrieb programmatisch ein ‚italienisches’ „Cocoliche“ (analysiert von Cancellier 1996). Ein standarditalienischer Einfluss (bei Sarmiento und generell) muss verwundern. Denn nach der Unificazione beherrschten weniger als 3 % der Neuitaliener ‚ihre’ Landessprache (De Mauro 1963, oder jedenfalls weniger als 10 % lt. Castellani 1982). In Süditalien war der Prozentsatz niedriger, bei den meridionalen Emigranten minimal. Wie also kommt das ‚Italienische’ ins Cocoliche? Möglicherweise entstammen die standardsprachlich scheinenden Italianismen eher dem Venezianischen, das ja einen besonders starken Anteil an der frühen Immigration hatte.- Sprachpolitisch war Sarmiento ein entschiedener Gegner einer Stärkung der italienischen Sprache in Argentinien, speziell in der Schule (Skizze s. Di Tullio 2003: 186-9); umso mehr muss die betont ‚italienische’ Durchmischung seiner Sprache verwundern. Sprachkontakt Genuesisch-Spanisch in Buenos Aires 325 schichte mit einer abweichenden Art von Sprachmischung korrespondierte. 2. Das Cocoliche Das Eingangszitat des Signor Cocoliccio zeigt schon einige Merkmale des Cocoliche auf, enthält aber auch Merkmale, die an die Gaucho-Tradition anknüpfen. Den (süd-) italienischen Ursprung des Sprechers verraten die Verben „me quiame, songo“. Hingegen ist das pleonastische gin „güese“ typisch für die rurale Spanisch-Variante der argentinischen Pampa bzw. der Gauchos 15 (und auch südspanischer Regionen), es begleitet dort regelmäßig den anlautenden Diphthong [w -]. In unserem Zitat wurde es ironisierend übertragen auch auf „_hasta, cre_ollo“. Ganz anders wiederum verhält es sich mit dem abschließenden Wort „parata“ (in der Bedeutung „schönes Auftreten“): Dieses gehört weder der Gaucho-Sprache noch der Einwanderer-Sprache an, sondern ist dem Lunfardo entnommen (nach Blengino 1977, 419s). Das Lunfardo war das Markenzeichen der neuen Generation der Malavita, der Compadritos 16 . Unser Textchen enthält also auf kleinem Raum eine dreifache Stil-Mischung. Was in unserem Text besonders auffällt, ist die aleatorische Verteilung der Auslautvokale (-o, -e), und das Fehlen der Pluralmarkierung (-s im Spanischen, -i,e im Italienischen): Die Auslautmarkierung der Nominalflexion entfällt 17 . Das ist ein typisches Merkmal des Cocoliche, es taucht in allen Texten auf, es wurde von Meo Zilio (s.u.) noch in den 50er Jahren „in loco“ observiert: Auslautendes -i weist die italienische Herkunft des Sprechers aus, auslautendes -s ist typisch spanisch, beides besitzt also zwar soziolinguistischen Symbolwert, aber die morphologische Signalkraft für die Numerusmarkierung ist verloren: Beide Endungen kommen in beiden Numeri vor, selbst die Doppelung (-i plus -s) ist attestiert: 15 In Martín Fierro, dem Emblem der habla gauchesca, finden wir: „güeya, güérfano, güen“ (für huella, huérfano, buen), cfr. Frago Gracia (2003, 260; 263). 16 Hier die Definition der Compadritos - auf Cocoliche - aus den Amores de Giacumina: „esu que tienen la milena dil pelo llena di aceite, que usan lu pantalón curtito é lo taco di lo botine más arto que la tore di abirdo“ (Anonym 1909, zitiert nach Montoya 1979, 117). 17 Nicht ohne dialektale Vorläufer: -s ist labil im Südspanischen, auch in Argentinien; die Austauschbarkeit der Auslautvokale - meine ich könnte ihren Ursprung in süditalienischen Dialekten haben, die alle Auslautvokale durch Schwa ersetzen, wodurch die Genus-/ Numerus-Opposition im Auslaut neutralisiert erscheint. Werner Forner (Siegen) 326 „gnocchis“ 18 . Ein ähnliches Chaos gilt auch für die Verbalflexion: Das gesamte Arsenal von Konjugationsendungen wird verwendet, ohne die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Flexionsklassen bzw. Tempora bzw. Sprachen zu respektieren. Analoges gilt für die Syntax: Insbes. die Wahl der Präposition, soweit diese durch sprachspezifische syntaktische Parameter determiniert ist, ist von dieser syntaktischen Determination befreit 19 . Übrigens gehören auch bei den heutigen bilingualen Italo- Argentiniern genau diese Interferenztypen (Verzicht auf die vokalischen Distinktionen der Flexion und die Präpositionen) zu den relativ häufigsten der selten gewordenen ‚Fehler’ im Spanischen 20 . Das Cocoliche ist ein defizitäres Phänomen: Dies ist die Lektion aller linguistischen Untersuchungen. Die Markierungen / Determinationen des Ausgangssystems sind verloren, die des Zielsystems sind nicht realisiert: ein linguistisches Defizit! Auch ein kommunikatives Defizit, denn Registerunterschiede 21 , die in der Ausgangsbzw. Zielsprache üblich sind, entfallen im Cocoliche. Auch ein linguistisches und kommunikatives Chaos, denn jeder Sprecher spricht ein anderes Cocoliche, je nach regionaler Herkunft, je nach Integrationsgrad, je nach Gesprächspartner: Cocoliche ist nicht der Name einer neuen Sprache im Sinne von System, sondern ist der jeweils individuelle Übergang von einem System zu einem anderen System, eine Interlingua, oder eine kontinuierliche Palette von Interlinguae. Es ist das Ergebnis einer Mechanik, die der Sprachkontakt immer und überall auslöst. Eine solche mechanische Reaktion vollzieht sich umso leichter, je größer die kommunikative Notwendigkeit ist, je ähnlicher die beiden 18 Meo Zilio (1964, 72, 87s, 83). 19 Meo Zilio (1964, 94) glaubt übrigens zu erkennen (bei den Richtungspräpositionen), dass das „logischere“ - d.h. spanische - System bevorzugt wird. 20 S. Veith (2008, 150s., 170; 168s, 172, 176); es kommt aber nicht mehr zur Verwechslung zwischen vokalischer vs. sigmatischer Pluralmarkierung, wohl aber zur Doppelung auf / -+i+s/ (ib., 165-166). „Die ... Kontaktphänomene bleiben dieselben wie in der vor 100 Jahren von den Einwanderern gesprochenen Übergangsvarietät Cocoliche ..“ (ib., 186); sie sind nur entschieden weniger häufig. 21 Diesen Befund - der über das kasuistische Fehler-Sammeln der Vorgänger weit hinaus geht - hat Lavandera (z.B. 1984) anhand von soziolinguistischen Enquêtes nachgewiesen. Mehrsprachige Sprecher ersetzen, wenn sie Cocoliche sprechen, z.B. die indirekte Rede - obwohl sie diese in ihrem Heimatdialekt oder im Spanischen durchaus beherrschen - durch wörtliche Rede plus „sagt er“. Diese Ausdrucksform („le digo, me dice“) hatte Schibboleth-Funktion und wurde von einem Komiker der 50er Jahre persifliert (Lavandera 1984, 68 s.): Das Cocoliche - so schließt die Autorin auch aus weiteren Beispielen - verhindere stilistische Differenzierungen bei Sprechern, die zu diesen Differenzierungen sonst fähig sind. Sprachkontakt Genuesisch-Spanisch in Buenos Aires 327 Kontaktsysteme sind, und je weniger Sprachbewusstsein die Sprecher besitzen. Diese Voraussetzungen waren am Rio de la Plata gegeben. Das Chaos und die Mechanik seiner Entwicklung lassen sich linguistisch nachweisen, wenn die beiden Kontaktsprachen als Maßeinheit gewählt werden. Genau das hat Meo Zilio (1964, nach vorausgegangenen Publikationen) gemacht, er hatte Anfang der 50er Jahre noch Gelegenheit, das reale Cocoliche 22 in den Gassen von Buenos Aires und von Montevideo zu observieren. Er belegt 116 Fehlertypen: 28 aus dem Bereich der Aussprache bzw. Graphie, weitere 28 morphologische Typen, 53 Fehlertypen syntaktischer oder stilistischer Art, 7 lexikalische Entlehnungstypen eine beachtliche Kasuistik! „Mechanik, Zersetzung (desmoranamiento), mangelhaftes Sprachbewusstsein 23 , Inkonsistenz 24 “, das sind seine immer wiederkehrenden Schlüsselworte. Meo Zilio observierte auch die umgekehrte Richtung: Italienisch-lernende Spanischsprecher. Bei denen fand er dieselben Fehlertypen. Seine Schlussfolgerung (ib. p. 80 s, 92): Diese Mechanik ist nicht auf die italienische Immigration beschränkt, sondern sie definiert Sprachkontakt immer und überall. Meo Zilio hatte auch Gelegenheit, zwei Einwanderergenerationen zu vergleichen: Die Einwanderer vor dem Zweiten Weltkrieg hatten einen sehr geringen Bildungsstand und eine sehr geringe consciencia ihres eigenen Idioms und waren überwiegend Meridionale. Im Gegensatz dazu hatten die späteren Einwanderer meist Kenntnisse der Nationalsprache, zusätzlich zu ihrem Heimatdialekt, von daher ein kritischeres Sprachbewusstsein; die meisten besaßen eine Berufsausbildung; die späten Einwanderer waren darüber hinaus überwiegend Norditaliener, folglich mit ganz anderen, laut Meo Zilio günstigeren 25 , sprachlichen Voraussetzungen. Ergebnis: Die späten Zuwanderer machten deutlich weniger Fehler als die Vorläufer, dennoch: Die Typologie war die gleiche. Das zeigt er- 22 Die Linguisten - auch G. Meo Zilio (1964), schreibt Di Tullio (2003a, 11) haben nicht das reale, sondern immer nur das Bühnencocoliche beschrieben. Aber Meo Zilio beteuert das Gegenteil. Ich sehe keinen Anlass, dies nicht zu glauben. 23 „La medida de la contaminación es inversamente proporcional al grado de consciencia de su propria lengua, y directamente proporcional al grado de presión de la otra.“ (Meo Zilio 1964, 92, cfr. 62). Mangelndes Sprachbewusstsein gilt allgemein als Hauptursache der chaotischen Mischung, cfr. jetzt auch Veith (2008, 145, Anm. 182). 24 „Inkonsistenz“, „carácter oscilante“, kein Sprachsystem: Meo Zilio (1964, 63 u. passim); im italienischen Einwanderer „se va progresivamente desmoronando la base linguística italiana“ (ib., 61). 25 Meo Zilio (1964, 67) attestiert den Meridionalen eine „cierta viscosidad fonetica“. Werner Forner (Siegen) 328 neut: Die Mechanik gilt allgemein. Sie folgt, so Meo Zilio, dem Weg des geringsten Widerstands. Sie führt zur „Zersetzung“ der angestammten Norm. Diese Definition des Cocoliche, wie sie Meo Zilio vertritt - die mechanische Mischung, die Vielfalt und Kontinuität der Varianten - sind weiterhin comunis opinio 26 . Es gab Versuche, das Phänomen in die Nähe von Kreolsprachen oder Pidgins zu klassifizieren 27 . Etwas sinnvoller ist der Begriff „Interlingua“ 28 . Alle diese Begriffe meinen letztlich dasselbe wie Meo Zilio: Eine Sprache, die keine ist, die beliebigen Schwankungen unterworfen ist, Schwankungen, die den Sprechern angeblich gar nicht bewusst sind, geschweige denn strategisch manipulierbar wären. 3. Funktionale Variation vs. „Mechanik“ Diese Form von Sprachvariation, die definiert ist durch eine rein mechanische Mischung der beiden Kontaktsprachen, ergibt sich aus der Entdeckungsprozedur: Im Zentrum steht weniger die Sprachvariation, als vielmehr punktuelle „Fehler“ beim Zweitsprachenerwerb. Aber kontaktbedingte Veränderungen der Ausgangssprache oder der Zielsprache vollziehen sich in der Regel nicht funktionslos, sondern können Ausdruck einer conversational strategy (di Pietro 1976, 203) sein: Die Sprachen, die in der Folge von Einwanderung in Kontakt treten, sind affektiv sehr unterschiedlich aufgeladen: Die Ausgangssprache symbolisiert das para- 26 „.. el cocoliche es un fenómeno mecánico individual de confusión entre dos idiomas ..“, schreibt Cancellier (1996, 7); ähnlich Fontanella de W. (1979, 75 / 1987a, 138 / 1987b, 209): „repertorio fluido“. Die mechanistische Einschätzung ist auch in der neuesten Literatur unverändert, z.B. Veith (2008, 34-41): „hybride Sprachmischung“, „Übergangssprache“; für Wurl (2007, 166-172) gilt Meo Zilios Katalog universell für „Transitionsphänomene“; Cichon (2006, 1882 s): „Mischidiom, Interimssprache“, Schmid (2006, 1798): „interlecto inestable“, Di Tullio (2003, 92 s.; 2004, 113): „lengua híbrida, inestabilidad, plurimorfismo“; Elizaincín (2003, 1044): „variedad mezclada“; DRAE (2001): „jerga híbrida“, etc. Schematischer Überblick s. Kailuweit (2004, 53). 27 „Pseudo-Pidgin“ (Keith Whinnom und Jan F. Hancock, beide in Hymes 1971; später auch: Gnerre 1998, 637 - zur Kritik s. Di Tullio 2003a, 12); „lingua franca“ (Hurch 1993, 566); „Pseudo-sabir“ (Pierre Perego 1968, 604, Perera San Martín 1974, Golluscio de Muntoya 1979, 19 und 60; Cancellier 1996, 5, 7, 9). - Der Terminus Pseudo-Sabir - schreibt Kailuweit (2007, 507) zu Recht - sei „tan vacío como el concepto pseudo-pidgin“. 28 „una serie di sucessive interlingue (Di Tullio 2003a, 10), „interlingua“ (Toso 2005, 10, 111, 141 s., und passim). Sprachkontakt Genuesisch-Spanisch in Buenos Aires 329 dise lost und intime Werte, sie eignet sich daher für bestimmte Inhalte von vorn herein besser, etwa für Witze oder Flüche, oder für Erinnerungen. Diese ungleiche symbolische Fracht der beiden Sprachen galt z.B. für die italienischen Einwanderer in den USA und führte dort zu einer ungleichen Selektion der beiden Sprachen, wie di Pietro (1976) nachgewiesen hat. Dieselbe symbolische Fracht ist auch für die Einwanderer am Río de la Plata belegt. Das funktionale Oszillieren zwischen den beiden Sprachen kann sogar grammatischen Bedingungen genügen, wie Poplack (1980) für das Code-switching der in New York lebenden Puertoricaner nachgewiesen hat. Der Begriff „strategischer“ Wechsel setzt natürlich Vertrautheit mit beiden Sprachen voraus. Genau diese aufgeklärte Zweisprachigkeit wird den Einwanderern am Río de la Plata abgesprochen 29 . Ich komme darauf zurück. Aber immerhin fällt auf, dass das erste Zeugnis des Bühnen-Cocoliche (s. Text 1) durchaus funktional mit der Mehrsprachigkeit umgeht: Bei der Besprechung des Textes (§ 2) haben wir lexikalische und phonetische Hinweise auf drei Welten entdeckt: auf die alte Welt der Gauchos und auf die zeitgenössischen kontrastierenden Figuren des Compadrito und des Gringo. Die komische Wirkung des Gringo wird hier sogar noch durch einen Kunstgriff gesteigert: durch Übertreibung (die alliterierende Wiederholung des vorgeschalteten g-). Mechanisch-chaotisch ist in diesem Text - wie gezeigt (§ 2) - nur der Verzicht auf morphologische und z.T. syntaktische Distinktionen; aber dieser Verzicht wiederum ist symbolisch für die Figur des Gringo. Gerade dieser Text weist also eine funktionale Handhabung des Cocoliche nach. Es ist daher nicht unangebracht, der Frage nach Mechanik versus Funktion nachzugehen. Dazu müssen wir zunächst einen Blick auf die Einwanderungsgeschichte werfen. 29 „Como el hablante no está en condiciones de manejarla [la lengua] autónomamente del italiano y del español, se caracteriza por carecer de alternancia estilística“ (Di Tullio 2004, 113). Einzige Gegenstimme: „.. la intercalación de formas del dialecto italiano en el español y viceversa posée en sí significación estilistica y define los hechos de habla en cuanto a los propósitos de la interacción. El paso de un códico a otro código puede servir para caracterizar un hecho de habla. ..“ (Lavandera 1984, 73). Werner Forner (Siegen) 330 4. Typologien der Immigration Die italienische Einwanderung war massiv und vielfältig. Massiv: Mit der Verfassung von 1853 öffnete sich das Land der europäischen Einwanderung ohne jede Einschränkung. Das erzeugte bis in die 1870er Jahre einen allmählich zunehmenden Einwanderungsfluss (von zunächst knapp 3000 pro Jahr vor 1860 über durchschnittlich 7.700 im nachfolgenden Jahrzehnt zu jährlich 8.500 in den 70er Jahren). Danach kam die sogenannte „Lawine“: Im Jahrzehnt nach 1880 vervielfachte sich die Einwandererzahl um das 7,5-fache, im darauffolgenden Jahrzehnt ‚nur’ um das 3,8-fache, aber zwischen 1900 und 1910 wurden sogar 1.120.200 Einwanderer registriert ! Gemessen an der Gesamtbevölkerung betrug der Anteil der Zuwanderer im Jahre 1895 ein Viertel, 15 Jahre später 30% (das sind doppelt so viele wie 1910 in New York)! Speziell in Buenos Aires lag die Quote der criollos sogar niedriger als die Einwandererquote. Fast die Hälfte (44,9 %) der Einwanderer kam aus Italien, und zwar vor 1900 vorwiegend aus Norditalien (besonders Venetien und Piemont), danach überwog der meridionale Anteil (besonders Kalabrien und Sizilien) 30 . (2) Einwanderung (Montoya 1990, 60): Immigranten 76.600 85.100 637.700 319.900 1.120.200 269.100 878.000 Zeitraum 1861-70 1871- 80 1881-90 1891- 1900 1901-10 1911-20 1921-30 Die Einwanderung war nicht nur massiv, sondern auch vielfältig: Ein Teil der Einwanderer verdingte sich als Landarbeiter und lebte verstreut. Die große Mehrheit aber lebte in „comunità omogenee“ (Meo Zilio 2002, 1086s), und die geschlossene Welt der Gemeinde wirkte stabilisierend auf die Kommunikation in der Muttersprache. Nicht homogen hingegen war die Situation im städtischen Bereich 31 von Buenos Aires: Die 30 Daten aus: Montoya (1979, 6-11; 1990, 60-62), Nascimbene (1986), Di Tullio (2004, 111). Einen umfassenden Überblick bietet Veith (2008). 31 Der Gegensatz Stadt/ Land, räumliche Enge/ Weite und ethnische Homogenität/ Diskrepanz sind sicherlich Hauptfaktoren von Sprachgenese, vermutet z.B. Scobie (1977, 193-196 u.a.). Den empirischen Nachweis - bezogen auf italienischspanischen Sprachkontakt - liefert eine gute vergleichende Untersuchung von drei Sprachkontakt Genuesisch-Spanisch in Buenos Aires 331 riesige Immigrantengruppe in der Hauptstadt bewohnte zwar überwiegend dieselben Stadtviertel, aber sie teilte ihre Wohngebiete mit einer Gruppe von zugezogenen criollos der untersten sozialen Schicht, das waren zum Teil die aus der Landwirtschaft abgestoßenen Gauchos. Und unterste Unterschicht waren auch die immigrierten gringos: meist Analphabeten, ohne Berufsausbildung, und mit sehr unterschiedlichen Muttersprachen (italienische Dialekte, ohne Kenntnis einer überlokalen Sprache). Beide - zunächst die Ex-Gauchos etc. und kurz danach die Immigranten siedelten auf engem Raum in südlichen Stadtteilen, die von der Elite aus gesundheitlichen Gründen verlassen worden waren 32 : Zwei Gruppen mit vielen unterschiedlichen Sprachen, jedoch verbunden durch eine analoge soziale Situation, waren durch die räumliche Nähe zur Kommunikation gezwungen. Das ist der Nährboden, der den jeweiligen Zuwanderern immer wieder eine Annäherung an das Spanische abverlangte, ohne dass ein Bewusstsein der Anderssprachigkeit aufkommen musste: jeder hatte seine eigene Form der Annäherung, und die Sprecher glaubten, ihr Kauderwelsch sei korrektes Spanisch. Eine von dieser Typologie deutlich abweichende Gruppe bildete die Mehrzahl der Einwanderer aus Ligurien. Über den ligurischen Beitrag zur nationalen Sprache und Kultur Argentiniens informiert jetzt umfassend das Buch Xeneizes von Fiorenzo Toso (2005). Ein Teil der ligurischen Einwanderer war schon lange vor der Einwanderungslawine präsent 33 , die ligurische Nachwanderung blieb kontinuierlich 34 , massiv wird sie erst Einwanderungsgebieten südlich von Buenos Aires (Fontanella de Weinberg 1979; Fontanella de W. et all. 1987b; Zusammenfassung: Fontanella de W. 1987a, 141). 32 Montoya (1990, 61s); von Vázquez Rial (1996) wissen wir, dass eine Gelbfieberepidemie 1871 die Oberschicht veranlasst hatte, ihre angestammten Wohngebiete im Süden der Stadt zu verlassen, dass das Vakuum schnell Proletariat und Malavita aufsog, „y a partir del 1880, masivamente, los inmigrantes“ (Vázquez Rial 1996, 256, zit. nach Kailuweit 2005, 299s). 33 Zahlen aus der ersten Hälfte des 19. Jh. liegen nicht vor. Lt. Toso (2005, 16) lassen die Familiennamen der Revolutionäre aus den Unabhängigkeitskriegen auf eine relativ starke ligurische Präsenz schließen, u.a. Giuseppe Garibaldi mit seiner legione italiana zur Verteidigung von Montevideo. 34 Bekannt sind die Zahlen der offiziellen Emigranten ab 1849 ab Genua (also ohne die Klandestinen oder die, die andere Häfen wählten): z.B. zwischen 1854 und 63 sind es 47.000, zwischen 1876 und 1925 ca. 300.000 (Bianchi 1983, zitiert in Toso 2005, 20, 30). Im Zeitraum 1876-1913 war der ligurische Anteil der Immigration relativ schwach, er betrug 5,6%, gegenüber 12,5% aus dem Piemont und aus dem Veneto 25,5% (ib.). Werner Forner (Siegen) 332 nach dem Ersten Weltkrieg 35 , dann wieder nach dem Zweiten Weltkrieg bis etwa 1960. Die Ligurer unterschieden sich von den Einwanderern aus dem Süden durch ihr Persönlichkeitsprofil, durch ihre Unterbringung und durch ihre Wirtschaftskraft. Viele der ligurischen Einwanderer brachten berufliche Fertigkeiten mit: Bauern, Handwerker, Facharbeiter, Handel, Seefahrt. Manche hatten schon vor der Emigration berufliche Kontakte zur Neuen Welt (Toso 2005, 15) - deren Einwanderung geschah nicht aus Verzweiflung, sondern war Frucht einer unternehmerischen Strategie. Einige (vor 1860) waren politische Flüchtlinge. Ihre Muttersprache war ein anderer Sprachtyp (diverse ligurische Dialekte), neben ihren jeweiligen Lokaldialekten kannten sie eine Regionalsprache, nämlich Genuesisch; daher besaßen sie ein Bewusstsein für sprachliche Divergenz. Das ligurische Siedlungsgebiet war an der Mündung des Flusses Riachuelo (La Boca) südöstlich von Buenos Aires 36 . Den ligurischen Einwanderern war es gelungen, in La Boca eine autarke Gemeinde zu gründen, mit einer eigenen Industrie: Schiffbau, Hafen, Handel - eine Industrie, die schnell nationale Bedeutung erlangte. Der Handel blühte: Import von Immigranten, Export von Waren (aus dem Hinterland, aus Perú, aus Chile, etc.), in den Schiffen aus Genua, die „fast täglich“ (Toso 2005, 25) einliefen. Die Schifffahrtsgesellschaften in Genua investierten in immer mehr, immer größere, immer modernere Schiffe. Die Genuesen am Riachuelo sicherten die Technik, die Infrastruktur, die Logistik. Die „Xeneizes“, wie sie am Ort genannt wurden, gehörten schon vor der Republik (vor 1853) zur Mittelklasse von Buenos Aires 37 . Die Sprache dieser Wirtschaftszweige war Genuesisch 38 , übrigens nicht nur 35 Allein 1919 sind es 14.000 offizielle Emigranten ab Genua (Bianchi 1983, zitiert in Toso 2005, 20, 30). 36 Eine analoge Situation ist für Montevideo attestiert: Schon 1852 gab es dort eine „colonia di 6000 oriundi liguri“, schreibt Bianchi (1983, zitiert in Toso 2005, 15). 37 „Tra il 1810 e il 1853 i Genovesi di Buenos Aires entrano nei ranghi della classe media urbana. Controllano la navigazione, la riparazione e la costruzione di imbarcazioni, la pesca; hanno una parte di rilievo nel commercio a minuto, nei mestieri e nelle professioni. Sono più di 12 mila, ma in una città che non supera le centomila anime. (..)“ (M.A.García 1986, zit. nach Toso 2005, 20). 38 „E’un’epoca in cui la marinería argentina parla per lo più genovese“ (Toso 2005, 25). Genuesisch in La Boca „rimase, fino alle prime decadi di questo secolo [d.h.: 20. Jh, WF], la lingua di communicazione corrente a livello comunitario non istituzionale.“ (Meo Zilio 2002, 1090). Sprachkontakt Genuesisch-Spanisch in Buenos Aires 333 an der Boca 39 . Wer am Riachuelo in der zweiten Hälfte des 19. Jh. Arbeit finden wollte, hatte Interesse, Genuesisch zu lernen, nicht Spanisch. Kurzfristig gab es sogar eine República Genovesa de la Boca 40 . Diese wurde 1882 anlässlich eines ausgiebigen Generalstreiks proklamiert, mit der Flagge von Genua als Symbol für den neuen Staat; der König von Italien wurde um Unterstützung gebeten. Zwar war die República Genovesa nur episodisch, denn die Erhebung wurde schnell niedergeworfen. Dennoch sollte das Ereignis im kollektiven Gedächtnis der Xeneyzes einen festen symbolischen Platz behalten: In folklorisierter Version wurde das Ereignis noch in den 30er Jahren nachgespielt (Toso 2005, 146). Traditionen und Ansprüche werden in associazioni 41 wachgehalten. 5. Genuesisch an der Boca Es ist deutlich: Die genuesische Kolonie an der Mündung des Riachuelo unterschied sich fundamental von den übrigen Immigranten (s. Schema (3)). Die soziale Unterlegenheit (a), die Vielfalt der Heimatsprachen (b), der Zwang zur Kommunikation auf Spanisch (c), das fehlende Prestige der jeweils eigenen Sprache (d), das fehlende Bewusstsein der Eigenständigkeit (e) - das sind die Merkmale, die dort für die besprochene sprachliche Mischung verantwortlich sind. Die genuesische Gemeinde an der Boca weist für diese Merkmale die umgekehrte Markierung auf: soziale Integration (und bisweilen Dominanz) (a), Einheit der Sprache (b), Prestige der eigenen Sprache als Berufssprache (c, d), Bewusstheit des besonderen Status (e). 39 In den Zentren in Entre Rios schreibt Basilio Cittadini in der Rivista Ligure von 1885 - „dopo la lingua del paese, non si parla che in dialetto genovese ..“ (zit. nach Toso 2005, 27s., 30s.). 40 „La República Genovesa de la Boca fue un intento de un grupo de imigrantes genoveses de crear un nuevo estado en el barrio en 1882, a raíz de una larga huelga. Se cuenta que hizaron la bandera genovesa y enviaron al rey de Italia un acta de indepencia firmada por los miembros del nuevo estado, a lo que el entonces presidente Julio Argentino Roca respondió mandando a quita la bandera y anulando la sublevación.“ Kommentar zu einem Bericht von E.Guano über La Boca: http: / / www.genoves. com.ar./ laboca_nostalgia.html (Zugriff: 8-3.11). 41 Der associazionismo wurde in den 20-30er Jahren intensiv, cf. Toso (2005: 29), ist aber teilweise sehr alt: Die Associazione Ligure de la Boca (gegründet 1885, seit 1900 Sitz in La Boca) konnte im Jahr 2010 ihren 125. Geburtstag feiern, s. Traverso (2010, 8). Werner Forner (Siegen) 334 (3) Immigrationsprofile Immigranten Zentrum La Boca (a) Sozialer Status - + (b) Einheitliche Muttersprache - + (c) Gastsprache notwendig + - (d) Prestige der Muttersprache - + (e) Bewusstheit der Eigenständigkeit - + Außerhalb der Boca war der Status der diversen Heimatsprachen in der Tat ausgesprochen labil. Die genuesische Konstellation hingegen bietet a priori keinen Anlass, die eigene Sprache aufzugeben; auch nicht, mangelndes Sprachbewusstsein zu unterstellen. Eine Reihe von Zeugnissen (gesammelt von Toso 2005, 119 ss.) scheint zu belegen, dass das Genuesische bis zur Mitte des 20. Jh. (und z.T. länger) gebräuchlich blieb, neben dem Spanischen, das von der Jugend präferiert wurde. Einige dieser Zeugnisse zitiere ich im Folgenden. Anschließend stellt sich die Frage, in welcher Form das Genuesische so lange erhalten blieb: als „Mischsprache“? oder als - mehr oder weniger - korrektes Genuesisch. - Gilberto Govi - der Altmeister der genuesischen Dialektkomödie und über viele Jahrzehnte der beliebteste Komödiant Italiens - berichtet über seinen Besuch in Buenos Aires im Jahre 1923, dass die „vecchi liguri ... pretendevano che i loro figli capissero il loro dialetto“, und dass diese puristisch an veraltetem Wortschatz festhielten. Genuesisch war also in den 20er Jahren des 20. Jh. zu einer Generationenfrage geworden. Das ist die typische Entwicklung in der Diaspora: Die Alten halten - sogar krampfhaft, „puristisch“ - fest an ‚ihrer’ Sprache; die Jugend hingegen ist mit der alternativen Sprache - zumindest in der Schule - aufgewachsen und zieht diese aus diversen Gründen vor. Beide Entscheidungen setzen Sprachbewusstsein voraus: Entweder die eine oder die andere Sprache; ein mechanisches Umswitchen in eine Mischsprache ist kaum denkbar. - Ein argentinischer Schriftsteller - Juan José de Soiza Reilly (1880-1959) berichtet 1930 von der Boca, sie sei „una Génova en miniatura“, mit „el habla genovesa que resonaba en las calles“ 42 . 42 In: http: / / www.genoves.com.ar./ laboca_nostalgia.html (Zugriff: 8-3.11). Sprachkontakt Genuesisch-Spanisch in Buenos Aires 335 - Es gibt auch Zeugnisse aus den 50er Jahren über die Präsenz des Genuesischen; aber die könnten sich auf die Sprache der ligurischen Neuzuwanderungen der Nachkriegszeit beziehen. Es gab eine genuesisch-sprachige Zeitschrift: 1898 wurde eine Wochenzeitschrift gegründet, die das Vorbild der gleichnamigen Zeitschrift von Genua abbildete: O Balilla. Sie konnte sich ca. 20 Jahre lang halten. Bekannt ist einstweilen nur ein Exemplar von 1914 43 . Das Genuesische der Texte ist frei von Interferenzen mit dem Spanischen. Gemischt-sprachige Texte sind selten und deutlich ironisierend. Der Balilla wurde ab 1933 erneut herausgegeben, als Monatsschrift. Balilla II fungierte als Propagandaorgan mit deklariert nationalistischen Zielen: Die Boca als ‚Klein-Genua’ wird integriert in den „regionalismo fascista“, Genuesisch wird zum Symbol für Italianität und für rassische Exzellenz: (4) Balilla II, Nr. 1, VIII-1933 (O Balilla sei : ) .. l’exprescion de quella Grande Famiggia di Ligûri che son staeti i primmi pionieri de italianitae in Argentinn-a e che forse, comme nisciûn ätro popolo, han transfûso con o sangue inti discendenti quello spirito de iniziativa e de conquista inconfondibile che o destin o l’assegna a-e razze sûperiori perché possan portâ pe o mondo e loro doti e, donde possan, lasciâghe o segno, ed incitamento ed esempio.“ (Balilla dankt der Boca u.a. für: ) „pe avei parlou o dialetto zeneize squaexi comme ûn segno de distinzion“ 44 Das Genuesische von Balilla II ist frei von Hispanismen, gemischtsprachige Texte sind ausgeschlossen. Das liegt - vermutet Toso - hier eher an der Propagandafunktion der Sprache als am tatsächlichen Sprachgebrauch an der Boca. Das korrekte, schriftliche Genuesisch dieser Zeitschrift kontrastiert mit dem Bild der Cocoliche-Sprecher. Wie war der Sprachgebrauch an der Boca wirklich? War eine genuesisch-spanische „Interlingua“ ein reales Kommunikationsmittel? War die schriftgenuesische Korrektheit des Balilla eine Fälschung, die der propagierten Italianität geschuldet war? Toso (2005: 141) glaubt, dass es ein Genuesisch-basiertes Cocoliche gegeben habe. Nach meiner Einschätzung sind die Indizien, auf die er sich stützt, nicht hinreichend. Das ist eine empirische Frage, der wir uns gleich 43 Nr. 890, von 1914: Toso (1994 und 2005, 102 ss.). 44 zit. aus Toso (2005, 107; 111) - die Hervorhebungen sind von mir, WF. Werner Forner (Siegen) 336 zuwenden müssen. Toso rekonstruiert eine zweifache Typologie: Neben einem „genovese iperurbano“ bei einzelnen Sprechern (Typ O Balilla, mit der genannten missionarischen Motivation) habe es die gesamte Palette gemischt sprachiger Varianten gegeben: eine „interlingua ispanogenovese, o italo-ispano-genovese“, mit mehr oder weniger Interferenzen, mit oder ohne Code-Switching. Interlingua, Interferenzen, Code-Switching - ich selbst möchte diese Typen von Sprachmischung nicht demselben Kontinuum untergeordnet wissen. Denn ein paar Interferenzen machen noch keine Interlingua, und Code-Switching und Interlingua sind gewissermaßen entgegengesetzt (s.o. § 3): Da ist einerseits das mechanistisch gedachte, unbewusst passierende Durcheinander des Cocoliche, andererseits - beim Code-Switching - das funktionale Umschalten von einer Sprache in die andere, das gerade umgekehrt eine gute und bewusste Kompetenz beider Sprachen voraussetzt. Diese Unterscheidung ermöglicht eine gezieltere Recherche: Es gibt in der Tat Texte, die einerseits Interferenzen, andererseits Code-Switching attestieren. Demgegenüber sind die Evidenzen für ein genuesisch-basiertes Cocoliche weniger als schwach. Beides soll in den drei folgenden Abschnitten gezeigt werden. 6. Interferenzen Während das Cocoliche - wie gezeigt - Gegenstand eines literarischen Genres war und dementsprechend - als literarisches Konstrukt - bestens belegt ist, findet man ‚Sprachfehler’ und Code-Switchings in Texten, die als Wegwerfliteratur galten und folglich nur selten erhalten sind. Toso (2005) ist es gelungen, einige derartige Texte auszugraben, z.B. das folgende Karnevalslied, das in den 20er Jahren zum Repertoire der Band Don Yacobo y su familla gehört hatte (Toso 2005, 123, mit Kommentar): (5) Karnevalslied Original Phonet. Transkription 1 De Natale a primu d’anu " & & Da niatri se hacustume ' & ( De teñi acesu u lume )* +& & ( De mañá e beive ben ! , - . - 5 Da recatu ha e butille / ' & -& ! E a y coti senza fundu & & Sprachkontakt Genuesisch-Spanisch in Buenos Aires 337 E fa caminá a u mundu ,' & & & E cu vaque cumu u vò. & . & & .0'$ Dun Yacobu e a so familla ! &1 &2 0 1 2 ! 10 Sa prupuesto a perde a note 3 " &" & " 4 E manyá de cose cote ! ,' ' ' 4 Se que né qui que ne dà 3 Dun Yacobu e a so familla ! & 0 ! Poy niatri ve cunviemu " ' . & . ' & 15 Cun d crose milanese & 0'+ + E cun hoiu de richin. & 4 & * $ Fene fitu avrine e porte 5'1 2 ' & .*' " ' Nu ve fei y nesci & . 5' 1 2 ' Nu estei a durmi & 5' 1 2 & *' 20 Fene fitu avrié porte 5'1 2 ' & .* " ' Perche cun de leñe " 6 & ' ) Ve femu arvi. . & .*'$ „xy“ = Hispanismus „xy“ = italien. Graphie „xy“ = von Graphie unzureichend gekennzeichnete Lautung. „(..)“ = Varianten des Genuesischen „ ´ “ ohne Akzent: Paenultima. Es handelt sich offenbar um Genuesisch, nicht um eine Mischsprache: Spanisch sind nur sehr wenige Elemente (in der linken Spalte fett gedruckt). „Spanisch“ ist weitgehend nur die Graphie, und die ist ja für bestimmte Laute / Phoneme des Genuesischen nicht geeignet: Übers.: „Zwischen Weihnachten und Neujahr gibt es bei uns die Sitte, das Licht nicht zu löschen, gut zu essen und zu trinken, die bodenlosen Flaschen und Becher zu ‚reinigen’, und die Welt in Gang zu bringen, damit sie läuft, wie sie will. Jakob und seine Familie hat vor, die Nacht drauf zu machen und Gekochtes zu essen, wenn es Leute gibt, die ihm zu Essen geben, denn dann laden wir euch ein mit mailändischen Gassen (? ) und mit Rizinusöl. Beeilt euch, macht uns die Tore auf, stellt euch nicht dumm an, döst nicht so rum! Beeilt euch, macht die Tore auf, denn [sonst] bringen wir euch mit Knüppeln dazu, sie zu öffnen. Werner Forner (Siegen) 338 Einige vokalische Oppositionen gehen in der Graphie unter: Die Quantitätsopposition und die Öffnungsgrade (e/ / æ) sind in der spanischen Graphie nicht unterscheidbar, bisweilen auch nicht der Diphthong [éj]; die palatal-gerundeten Vokale [y, ø, œ] werden durch „u,o“ wiedergegeben, genau so wie [u, ]. Im Bereich des Konsonantismus wird [d ] durch „ll“ bzw. „y“ transkribiert (die ja im Argentinischen [ ] gesprochen werden), [t ] durch „ch“ (aber für [ ] in „nesci“ wird die italienische Graphie gewählt); [g] wird durch „c“ ausgedrückt, vielleicht um die spanische Spirantisierung (/ -g-/ > [ ]) auszuschließen. Der Buchstabe „s“ unterscheidet nicht zwischen s/ z. Spanisch ist nur die Hälfte von Vers 10, „Don“ in v. 9 gehört zum Namen der Band, „estei“ (v. 20, mit prothetischem e-) ist eher ein Graphismus (bes. nach Vokal); „avrí“ (statt des genuesischen „arví“) ist wohl eher eine Interferenz mit span. abrir als ein westligurischer Dialektalismus (VPL I, p.38). Dem Auge erscheint der Originaltext (linke Spalte) zwar nicht als Genuesisch, aber dem Ohr (rechte Spalte) doch - sofern man von den sehr wenigen spanischen Interferenzen absieht 45 . Die falschen Segmentierungen in v.13 verraten zwar ein mangelhaftes grammatisches Bewusstsein, aber gerade deswegen eine sichere Sprachkompetenz. Der Liedtext wurde offenbar genutzt von Menschen, die im schriftlichen Bereich nur mit der spanischen Graphie vertraut waren, und denen das Genuesische als gesprochene Sprache so vertraut war, dass die verwendete unfunktionale Graphie sie nicht behinderte. Derartige genuesische Liedtexte mit wenigen spanischen Interferenzen, aber in spanischer Graphie geschrieben, waren offenbar keine Seltenheit 46 . 7. Funktionale Variation Genuesisch-Spanisch Die banalste Form des Code-Switchings ist natürlich die Übersetzung. Wir finden sie im folgenden Karnevalslied der Gruppe El Trapito (nach 1935). Dessen erste Strophe ist rein spanisch; die zweite beginnt mit einem genuesischen Text, der dann auf Spanisch wiederholt wird (aus: Toso 2005, 126 s): 45 Inhaltlich handelt es sich offenbar um ein Bettellied, gepaart mit Drohgebärden: vv. 14-16 und vv. 21 f; die erste Drohgebärde - bes. v. 15 - ist verdorben. 46 Analoge Texte s. Toso (2005, 124, 125) Sprachkontakt Genuesisch-Spanisch in Buenos Aires 339 (6) Karnevalslied „Queremos la leche“, Strophe II Original Phonet. Transkription 17 Turna qui gue semu 7& & Turna i’natra vota 7& ' . Cu e gambe a’laia 8& - ' 20 E a facha sporca. 9 " ' $ In pa de mustaci : 1 2 " ' & Suta da pipeta ; & 1 2 " " E purtemu in testa 9 "& & 3 In capelin, belu pichín : " * -3 & " * $ 25 Otra vez por fin, = 17-18 Las piernas a l’aire = 19 Súcios de carmín. = 20 Un par de bigotes = 21 Bajo la nariz, = 22 30 En nuestra cabeza = 23 Un sobrerito chiquitín. = 24 Die Übersetzung als Form von Code-Switching ist zwar banal, aber sie zeigt, dass es den Textern nicht an Bewusstheit der Anderssprachigkeit mangelt. In anderen Liedern ist der Sprachwechsel durch die Liedform festgelegt: Genuesisch ist z.B. jeweils der letzte Vers einer Strophe, oder ist beschränkt auf den Chor 47 . Typische Code-Switching-Situationen sind solche, die affektiv aufgeladen sind, oder die gewissermaßen Fachtermini sind (zB. kulinarische Termini, Ortsnamen u.ä.). Letzteres ist der Fall in einem wunderbaren Sonett von 1930 von Filippo Angelo Castello 48 , von dem ich die Einleitung und die zwei Terzette reproduziere: 47 Lied von 1922; bzw. „Hymne“ des „Dandy-clubs“, in Toso (2005, 122, bzw. 128). 48 Publiziert in dem Gedichtband: Zena, a Liguria e o so folklorismo, Genova (Tip Nazionale) 1930. Zitiert aus Toso (2005, 154, 166 s, bzw. Toso 1984). Übers.: „Da sind wir wieder, wieder und noch mal, mit den Beinen in der Luft, und mit schmutzigem Gesicht. Ein Schnäutzer-„Paar“ unter dem Pfeifchen (d.h. unter der Nase), und auf dem Kopf tragen wir ein hübsches kleines Hütchen.“ Werner Forner (Siegen) 340 (7) Sonett Original Phonet. Transkription 1 In zeneize a l’é bòcca, ma in castiggia + + -& ! < 2 A l’é ‚boca’, còn ûn c, e l’o serrôu, = - > & ( $ ( ... ) 9 E in ti ‚cuarti’ e in te ‚cagge’ sentî dî: = > = ! > * ' Figgiêu .. voî, côse voeì, sciâ ven vosciâ? ! 4' $$ . ' ' . . .& ,? E in tò portu: mòllæ, arriæ de chì .. & " ' &' 5@ 5@ ' $$ 12 E e parolle do gatto .. Quelle-lì " & & * So-a l’ordine do giorno, che ò se sâ, A B & ! & & & Che pe nò dile, se creddiæ de moî ! "3 & ' 5 '$ Übers.: „Auf Genuesisch heißt es ‚Bôcca’, aber auf Kastilisch ‚Boca’, mit nur einem c und mit geschlossenem o. / Und in den ‚cuartos’ und den ‚calles’ hört ihr [sagen]: Jungs, .. und ihr, was wollt ihr denn? Kommen Sie? Und im Hafen: Loslassen! Lasst die Segel hierher runter! Und die Kraftausdrücke. Die sind an der Tagesordnung; denn man weiß ja: Wenn man die nicht sagen dürfte, glaubte man zu sterben.“ Der Text ist reines Genuesisch, bis auf zwei Entlehnungen: Spanische Ortsbezeichnungen sind in die genuesische Morphologie eingepasst (und nicht umgekehrt): „cuartos“ > „cuarti“ - das kann man kaum noch als Code-Switching bezeichnen. Inhaltlich ist das Sonett ein wichtiges Zeugnis der Sprachsituation an der Boca um das Jahr 1930. Es bezeugt (v. 12 ss.) darüber hinaus die kommunikative Relevanz der Kraftausdrücke, der „Katzenwörter“, wie sie in Genua heißen. Diese sind aufgrund ihrer affektiven Ladung die am wenigsten verzichtbaren Elemente, beim Code-Switching spielen sie daher eine Hauptrolle. Im Lunfardo stellen sie übrigens eine Hauptgruppe. Dieselbe affektive Ladung besitzen natürlich auch die spanischen „Katzenwörter“, sie wurden gern in den genuesischen Diskurs integriert. Das zeigt - u.a. 49 das folgende Sonett (publiziert 1930) 50 , das den „parlâ italo- 49 „caramba“ wird auch in dem berühmtesten genuesischen Volkslied („Ma se ghe penso“ von 1926) einem heimkehrwilligen Argentinien-Genuesen in den Mund gelegt: „Son stanco de sentî: ‚Señor caramba’, mi veuggio ancôn tornâmene in zû“ (von Mario Cappello, Neuauflage der histor. Aufnahme: 2004, bei Devega, Genua). Sprachkontakt Genuesisch-Spanisch in Buenos Aires 341 argentin-zeneize“ karikiert. Die Hispanismen sind fett gedruckt und in der rechten Spalte typisiert: (8) O parlâ italo-argentin-zeneize Kommentar 1 5 10 Cara...mba! Che speranza! Giâ lo creo! Che in questi tempi falta mucia plata, nò se pêu ciù cobrâ, l’é verdadero, bueno che bueno! A l’é ’na carognata! E o tempo o l’é ben malo e o l’é ben feo, sin embargo, davveì ningùn se sciata, gringo o nò gringo, sòn zeneize a reo, ma mi parlo a castiggia a ciù pûrgata. Me gûsta de mangiâ pucero e asao, e o tango de ballâ crioggio o spagnollo, e o mate de ciûppâ mas bien amao; me gûsta ò tempo secco mas che o mollo, vamos passæ mas tarde... adiòs e ciao, chè se usté ò nò comprende, o l’é ûn gran sciollo! Kraftausdruck, Floskel Terminus (mit Verb) Terminus, Floskel, Floskel - Floskel Terminus Terminus Terminus, Terminus Terminus Terminus, Terminus.-- - Floskel, Übersetzung Ansprache Dieser Text ist tatsächlich eine Mischung der beiden Sprachen, aber eine chaotische Mischung wie es ja vom Cocoliche behauptet wird - ist er nicht: sondern wir finden hier eine kompetente Mischung von jemandem, der beide Sprachen beherrscht, wie der Autor sich selbst attestiert: Was Spanisch ist, ist authentisches Spanisch, das Genuesische ist korrekt 51 . Darüber hinaus sind die Anleihen ans Spanische meist motiviert: Es handelt sich zu Beginn um einen spanischen Kraftausdruck (später um einen 50 Zitiert nach Toso (2005, 155s, 167, bzw. Toso 1984) aus demselben Band wie in Anm. 48. 51 „sciata“ in v.6 müsste allerdings „sc-ciata“ [ ] lauten. Caramba! Von wegen Hoffnung! Ich glaub’s Euch wohl! Denn in diesen Zeiten braucht man viel Geld, man kann nichts mehr einkassieren, wirklich! Stimmt! So eine Sauerei! Und die Zeit ist ziemlich schlecht, sie ist ziemlich hässlich, trotzdem regt sich wirklich kein Mensch auf, egal ob Gringo oder nicht, ich bin zwar Genuese durch und durch, aber ich spreche ein höchst gepflegtes Kastilisch. Ich esse gerne Pucero und Asado, ich tanze gerne - einheimischen oder spanischen - Tango, und ich trinke gerne Mate, lieber bitter; trockenes Wetter mag ich lieber als feuchtes, na los! Kommt später noch mal vorbei! Adiòs und Tschüs, denn wenn Sie (Sie Spanischsprecher) nicht verstehen, dann sind Sie ein großer Dummkopf! Werner Forner (Siegen) 342 genuesischen: „carognata“ v.4 [einen genuesischen Italianismus]), häufig sind es andere ‚Gesprächswörter’ wie Abtönungs- oder Gliederungspartikel („Floskel“ im Kommentar), oft finden sich lokal fixierte Wörter („Termini“) für die wirtschaftliche Lage, Herkunfts- und Sprachbezeichnungen, auch für Kulinarisches; schließlich wird der potentielle hispanophone Zuhörer mit der spanischen Höflichkeitsform, nicht mit der genuesischen (mit „usté“ statt „voscià“) angeredet. Die syntaktischen Konstituentengrenzen sind respektiert, allerdings werden - wie schon zuvor - manche Hispanismen morphologisch ins genuesische System eingepasst: die Infinitivendung (mit -r) wird genuesisch (auf Langvokal) realisiert: „cobrâ“ statt „cobrar“; die spanischen Nomina können mit dem genuesischen Artikel kombiniert werden („o tango, o mate“). Sprachmischung im Sinne von Code-Switching finden wir durchaus. Was wir aber jedenfalls nicht finden, ist das grammatische „Chaos“, das Meo Zilio - gefolgt von allen anderen - in den Cocoliche-Texten diagnostiziert hat. 8. Genuesisches Cocoliche ? Es gehört zur argentinischen Tradition, zwischen zwei Typen von Cocoliche-Literatur zu unterscheiden. Wendepunkt ist der eingangs skizzierte Auftritt des Herrn Cocoliccio im Jahre 1890, der die Figur und mit ihr die Sprachform des süditalienischen Immigranten auf der Bühne eingeführt hatte. Aber Sprachmischung hatte es schon vorher gegeben; und auch diese vorausgehende Sprachmischung ist auf literarischem Weg attestiert und ausgeformt: Fünf Jahre vorher war ein anonymer Kurzroman im Druck erschienen, mit dem Titel: „Los amores de Giacumina“; diese Erzählung verknüpfte ganz bewusst nicht-hoffähige erotische Abenteuer mit einer unkonventionellen Mischsprache. Beides - Inhalt und Sprache der Erzählung - erzeugte Reaktionen auf breiter Basis, und die Giacumina wurde und blieb lange ein Riesenerfolg 52 . Die Heldin, Giacumina, ist Tochter genuesischer Einwanderer. Der bedeutende uruguayische Sprachkritiker Vicente Rossi (1910, 129) hatte vorgeschlagen, die beiden sprachlichen Traditionen (die von Herrn Cocoliccio initiierte und die in Giacumina realisierte) terminologisch zu trennen, in: „literatura giacumina“ vs. „literatura cocoliche“. Angela Di Tul- 52 Erstausgabe von Anonym 1885 (Montevideo), Zweitausgabe 1909 (Autor: Ramón Romero). Es gab zahlreiche Nachahmungen, schon seit 1886, 1906 erschien ein Saynete mit demselben Titel. Überblick über Kritik und Nachleben in Di Tullio (2003, 95 s; 2003a, 13-15, 2004, 114-116). Sprachkontakt Genuesisch-Spanisch in Buenos Aires 343 lio (u.a.) übernimmt diese Unterscheidung: Sie spricht von genuesischbasiertem vs. meridional-basiertem Cocoliche 53 . Grund genug, die „genuesische“ Basis kurz unter die Lupe zu nehmen. (9) Los amores de Giacumina Escrita por il hicos dil duoño di la fundita di Pacarito Giacumina teñiba las piernas gurdas ... pero así ... di gurdas, lo que hacía que todos los hombres cuande la viesen inta calle, abriesen tamaño lus ocos. (..) Per supuesto que Giacumina sempre teñiba más de venti novio_ (..). Die auffälligsten und häufigsten Abweichungen vom Spanischen sind alte Bekannte: - Die Auslautmarkierung der Nominalflexion ist auch hier - wie in dem Cocoliche-Beispiel (1) - aleatorisch. - Dasselbe gilt auch für die Unterscheidungen (Tempus-Modus / Verbalklasse) der Verbalflexion 54 ; - Aussprache: [ ] wird als [k] gesprochen („hico, oco“). - Genuesische Elemente hingegen sind - in Giacumina und in der literatura giacumina -vergleichsweise selten und z.T. nicht eindeutig zuzuordnen (alternative Zuordnungen sind am rechten Rand vermerkt): (10) ‚Genuesische’ Elemente Außerhalb Liguriens: a Genuesisch ist im vorliegenden Text die Präposition „inta“; diese ist im Ligurischen die Kontraktion aus inte- + bestimmter Artikel f.Sg. -a. Diese Form findet sich nicht selten in Cocoliche- Texten, auch in Verbindung mit dem spanischen best. Artikel („inta+la“). Friaulisch (u.a. 55 ) b Der unbestimmte Artikel in der Giacumina lautet häufig „in“ (Hinweis von Toso 2005: 145): Im Ligurischen - aber auch anderswo - heißt der unbest. Artikel meist [y ]. Diese Form kann y > i: passim in y- Zone (Rohlfs 1966, 60) - Rezeption y = i : in u- Zone normal 53 „Tra il ventaglio delle possibili varianti del cocoliche (..) sono due: Una di base genovese e un’altra di base meridionale, specificamente napoletana“ (Angela Di Tullio 2003, 95; 2003a, 13). 54 Unangebrachte und fehlende Pluralmarkierung: „il hicos“, „20 novio_“; die Tempus- / Modus Distinktionen gehen durcheinander, auch die zwischen Konjugationsklassen („abriesen“, „teñiba“). 55 Auch z.T. Galloitalisch: Alpengebiet, s. REW, s.v. intus. Werner Forner (Siegen) 344 leicht zu [i ] entrundet werden. Dies ist u.a. in Genua passiert. c Die linguistische Literatur 56 zählt zu den genuesischen Charakteristika auch den Ablaut des vortonigen o zu -uin „Giacumina, lumbardo“. Aber wir finden auch die umgekehrte Verwechslung: „mochacha“, und übrigens auch in der Tonstelle, hier: „gurdo“ statt „gordo“. Die Apophonie ist zwar ein auch ligurisches Phänomen - sie ist aber sehr viel weiter verbreitet, und vor allem, diese Verwechslung ist in unseren Texten offenbar gar nicht an Ablaut-Konditionen gebunden. z.B. Venedig: ~o, ~e (Zamboni 1974, 11) -- Analog sind die Schwankungen von vortonigem e zu i („il“, „di, dil“ in Text 10): Die haben aber mit Genuesisch nichts zu tun. 57 d Als Genuesisch gilt die Schließung (o, > u) vor velarem / / ; zitiert werden die Suffixe / +ONE/ , / +(I)ONE/ > -(i)ún“. Aber die konditionierte Schließung des zweiten Öffnungsgrades (o>u) gilt in einem sehr viel weiteren Areal. z.B. Piemontesisch: (Rohlfs 1966, 93) e Als genuesisch gilt ferner der Rhotazismus des implosiven -l, z.B „arguno, urtimu“ - typisch a. für Piemont, auch für meridionale Dialekte (Rohlfs 1966: 342 s.). f Ein Cocoliche-Text von 1924 58 enthält: „.. no gay plata per pagare la fatura“; „gay“ kann analysiert werden als Kreuzung aus span. „hay“ und genuesisch „(u) gh’è“, beides: „es gibt“. Dieser Textausschnitt enthält keine weiteren norditalienischen Merkmale. „ghe“ ist in allen norditalienischen Dialekten zu Hause. 56 Di Tullio (2003a, 14), Toso (2005, 145). 57 Man könnte süditalienische phonologische Prozesse (Umlautung) als ursprünglichen Auslöser (für e~i) hypothetisieren; aber in der Realität des Cocoliche spielt dieser Auslöser keine Rolle (mehr). Insgesamt ist der Vokalismus (incl. Diphthonge) labil; vielleicht ist es sinnvoller, einfach von Vokalwechsel zu sprechen. Montoya (1979, 91-93) präsentiert einen langen Katalog dieser Schwankungen. Diese sind jedenfalls nicht typisch für genuesisch-basiertes Cocoliche. 58 Text und Analyse in Toso (2005, 146); die Charakterisierung „un ibrido ispanogenovese“ (ib.) ist korrekt nur für das eine Wort „gay“, nicht für den Cocoliche- Abschnitt. Analoges gilt für dieselbe Charakterisierung (ib., 143) der Giacumina- Texte. Sprachkontakt Genuesisch-Spanisch in Buenos Aires 345 Die ‚genuesische’ Ernte ist offenbar nicht gerade reichhaltig! Die Merkmale sind weder zahlreich noch frequent, noch haben sie diagnostischen Wert. Denselben Befund liefert auch die Analyse weiterer Texte 59 , die die genuesische Einwanderung thematisieren: Die Merkmale, die dort als genuesisch entdeckt wurden, sind dieselben, und sie sind dort nicht zahlreicher als in Giacumina. Die genuesische Thematik hat also selbst auf der Bühne gerade nicht zu einer spezifisch genuesischen Sprachmischung geführt, allerdings manchmal zu Code-switching. Code-switching bzw. genuesische Thematik - beides ist kein hinreichender Beweis für die Existenz eines genuesischen Cocoliche. Diese Kategorien müssen klar geschieden werden: Thematik vs. Sprachform einerseits, mechanische vs. funktionale Sprachmischung andererseits. Im argentinischen Theater hat es ein genuesisches Cocoliche anscheinend nicht gegeben. Daher gibt es erst recht keinen Anlass, dieses für den alltäglichen Sprachgebrauch in den Gassen der Boca zu postulieren. 9. Ein früher Beleg Oder gibt es vielleicht doch Anlass? Zwei Jahrzehnte älter als die ersten literarischen Cocoliche-Zeugnisse ist ein humoristischer Brief aus dem Jahre 1862, der erst kürzlich veröffentlicht wurde (Barcia 2005, 519-520): Der Brief enthält die bekannten Merkmale des Cocoliche und zusätzlich auch Genuesismen in größerem Umfang als die zuvor diskutierten Zeugnisse. Nur wenige sind diagnostisch („+ D“ im nachfolgenden Schema) Der Autor des Briefes outet sich selbst und seinen Gesprächspartner als italienische Immigranten. Ziel des Brie- 59 Die Sainetes: „Noiatri zeneixi semmo coscí“ und „Puerto Madero“ - dort finden wir - statt genuesisch-argentinischer „Sprachmischung“ - Code-Switching mit korrektem Genuesisch. Z.B. in „Puerto Madero“ erkennen sich zwei Einwanderer als Genuesisch-Sprecher und setzen ihr Gespräch dann in perfektem Genuesisch fort (Textausschnitt publiziert in Di Tullio 2003a, 16). In einem weiteren Saynete, Un ‚títulu’ para Laurina (Textausschnitt in Toso, 2005, 149-154, 155 s.) streuen die Vertreter der älteren Generation oft genuesische Lexik ein; aber dabei handelt es sich um Schimpfwörter, Termini, Kontaktwörter, Zitate („testún, e palanche, capíu? “, u.a., p. 149), also um genau die Typologie, die oben anhand des Bsp. (8) diagnostiziert wurde. Toso (p. 153) analysiert korrekt: „.. il testo riproduce .. l’incrocio di lingue .., i passaggi da un idioma all’altro legati alla situazione, allo stato emotivo, agli interlocutori“. Also Code-switching, nicht Cocoliche. - Montoya (1980, 22) schließlich hält den Sainete „La Ribera“ für genuesisch, aufgrund der Typen (10-c,d): Das ist weniger als wenig! Werner Forner (Siegen) 346 fes ist der Hinweis auf eine gelungene Tanzvorführung und die Bitte an den Adressaten, deren Wiederholung beim Poder Ejecutivo durchzusetzen. (11) Brief von 1862 (Auszüge) D | Genuesisch 1 (...) La casa staba inta la caye de Santo Martino (...). - Inte + a (+ Artikel) 5 10 15 Allí, a la porta, habiba ino milico con in penachos que ha sido ina cola din caballo bianco, e que lan ponido una tintura celestre, per fin. (..) La dansa staba de lo bello, la mogié allí staba come ina máñiga de serafín. Los brazo, il pecho, staba a la naturala, e in la cabesas teniva mas flore que la que osté poede pillá inta lo mercó. (Die zwei Schönsten) Lica di quello medicos que ...; La otra que se llama Docampos, licas de Cabiroyo, (...), que sa infermó allí e se mandó a muda. Despois, im prima filas, licas de lo Podé Jecutivo, las dó, La má pichina de eya, teniva inta la cabesa, inas flore (...) (..), e le dago a osté ina fidansa de la amabilidade .. de eya. Non guené de ‚Palmerina de oro’ que (...) Pida osté lo Podé Jecutivo, dague in altra dansa, - [i ) ] (statt [y ]) ( Z. 4: „una“) - Relativkonstruktion (it. cui) + [mud ! é: ] + [pid ! á: ] „nehmen“ 60 ; + [merków] + pp. auf [-ów]; - AUX: [ 3 ] - [pit í a] - [dágu] - [nu ge n 3 ] - [(ke) dáge] 1 5 10 Das Haus war in der St-Martins-Straße. Am Eingang stand ein Soldat mit einem Helmbusch, der [in Wirklichkeit] der Schwanz eines Schimmels war, den sie himmelblau gefärbt hatten. Der Tanz war schön, die Frau war wie ein engelhaftes Schätzchen. Die Arme, der Busen wirkten natürlich, und auf dem Kopf trug sie mehr Blüten als Sie auf dem Markt „nehmen“ können. Die Tochter dieses Arztes, der (..) Die andere heißt D., die Tochter von C., 60 Piyar ist auch im Lunfardo attestiert, aber in 2 abweichenden Bedeutungen: Gobello (2008, 206). Sprachkontakt Genuesisch-Spanisch in Buenos Aires 347 15 die dort krank wurde und die zum Umziehen geschickt wurde. Danach, in der ersten Reihe, die Töchter des Poder Ejecutivo, beide; die jüngere von ihnen hatte auf dem Kopf Blumen (..) Und ich gebe Ihnen eine vertrauliche Mitteilung von .. Es gibt keine ‚Palmerina de oro’, die ... Bitten Sie den Poder Ejecutivo, er soll noch einen Tanz geben .. Der Textausschnitt (11) umfasst etwa 30 % des gesamten Briefes, der genuesische Anteil ist offenbar sehr moderat, aber doch erheblich lebhafter als in allen bislang zitierten Texten. Der Hauptanteil ist La Plata-Spanisch, wir finden ferner zuhauf die gewohnten Cocoliche-Merkmale (Entfunktionalisierung der Flexionsmarkierungen), ferner auch hier Anleihen ans Standarditalienische (oder analoge Mundarten, z.B. bianco, Z.3). Acht Einheiten könnten aus dem Genuesischen entborgt sein, aber auch aus anderen Regionen, sie sind daher nicht diagnostisch („-D“ im Schema): inta, ina, (s.o.), pichina, (Z. 12), die Allomorphien von dar (dagu, dague, Z.13, 15), auch der norditalienische Ausdruck nu ghe n’è (für „gibt’s nicht“). Nicht-diagnostisch ist schließlich die analytische Relativkonstruktion, in der die syntaktische Funktion (Kasus) durch ein zusätzliches Personalpronomen ausgedrückt ist (que + le, Z.4). Diese Konstruktion ist im gesamten galloitalischen und süd-galloromanischen Bereich heimisch, und darüber hinaus. Diagnostischen Wert für speziell genuesische Herkunft haben nur fünf Entlehnungen: das Wort mogié (Z. 5), eine semantische Entlehnung (pillá, Z. 7, in der Bedeutung „nehmen“), bei den Partizipien oder Substantiven auf -ATO die genuesische assimilierte Form auf -ow statt span. -ao (-ó < gen. -´ow: mercó, infermó, mandó, Z. 7, 10). Alles das ist wenig im Verhältnis zu den zahlreichen morphonologischen Komplikationen, die die genuesische Flexion kennzeichnen (herkömmliche Grammatiken unterscheiden z.B. nicht weniger als 15 Varianten der Pluralbildung), und die natürlich an der Sprachmischung teilweise hätten teilnehmen können. Aber trotz dieses schmalen Umfangs ist die sprachliche Präsenz des Genuesischen hier doch deutlich höher als in allen anderen Texten mit genuesischer Thematik. Und vor allem: Funktionale Gründe für die Wahl dieser Genuesismen sind - für mich - nicht erkennbar: Der Fall des Code-Switching scheint mir hier nicht gegeben zu sein. Außer der Tatsache, dass der Verfasser offenbar die Absicht hat, einen unterhaltsamen Text vorzulegen. Also Cocoliche, mit nur sporadischen genuesischen Anteilen. Wenn dem aber so ist, wenn dies den Beginn einer genuesischen Tradition repräsentieren sollte, stellt sich die Frage, warum spätere Texte - Texte mit Werner Forner (Siegen) 348 genuesischer Thematik - diese Tradition gewissermaßen gemieden haben, statt sie dankbar aufzugreifen. Ich würde aus der mehr als schwachen genuesischen Präsenz in den späteren Cocoliche-Texten eher den Schluss ziehen, dass sich diese Tradition nicht herausbilden konnte. Vermutlich deswegen nicht, da die ligurischen Einwanderer - aus den o.g. Gründen (§ 5) - in der Lage waren, die beiden Sprachen nicht zu vermischen, sondern kritisch distinkt zu halten. Literaturhinweise Anonym, 1885 / 1909, Los amores de Giacumina. Escrita per il hicos dil duono di la fundita dil pacarito, Buenos Aires. 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Jedoch konzentrieren sich die Untersuchungen vorwiegend auf das Französische in Nordamerika oder im varietätenlinguistischen Kontext auf die französisch-basierten Kreolsprachen in Mittelamerika bzw. in der Karibik. Im Gegensatz dazu findet die Thematisierung des Französischen als Migrationssprache in Südamerika weniger Berücksichtigung - abgesehen von Argentinien, dessen französische Immigrationsgeschichte aus soziologischer Perspektive relativ gut dokumentiert ist. Die gegenwärtige Präsenz der französischen Sprache in südamerikanischen Ländern resultiert im Wesentlichen aus der migratorischen Bewegung französischer Migranten im Zeitraum zwischen dem 18. und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Die favorisierten Ziele waren Länder wie Brasilien, Argentinien, Uruguay, Peru und Chile. Zu erwähnen - zumindest für den hispanophonen Sprach- und Kulturraum - sind auch Mexiko und Kuba. Eine große Anzahl der Migranten stammte zwar aus Frankreich, aber auch frankophone Sprecher sowohl aus Belgien als auch aus der Schweiz errichteten ihren neuen Lebensmittelpunkt in Lateinamerika. Die folgenden Darstellungen konzentrieren sich auf französische Migranten in Chile. Hierbei soll der Schwerpunkt jedoch auf dem historischen Kontext liegen, d.h. es soll eine chronologische Skizze der Migration gegeben und vor allem die Situation des Französischen als Migrationssprache näher betrachtet werden. Sandra Herling (Siegen) 354 2. Historischer Überblick zur europäischen bzw. französischen Emigration nach Südamerika Die Tatsache, dass Sprachgrenzen nicht mit Staatsgrenzen korrespondieren, trifft ebenso auf die Mehrheit der südamerikanischen Länder zu. Diese sprachliche wie auch kulturelle Heterogenität resultiert aus der jeweiligen Besiedlungs- und Einwanderungsgeschichte. Von großer Relevanz ist in diesem Kontext die europäische Migration nach Südamerika, die schon seit der Entdeckung bzw. Eroberung stattgefunden hat. Gegenwärtig zählen lateinamerikanische Länder zwar zu Auswanderungsregionen, aber der umgekehrte Fall, eine verstärkte Zuwanderung aus verschiedenen europäischen Staaten, lässt sich vor allem in einem bestimmten Zeitraum konstatieren: Noch bis Mitte der 1970er Jahre war Lateinamerika eine klassische Einwanderregion. Von 1860 bis 1930 gingen 15 Millionen Europäer nach Lateinamerika - vorwiegend nach Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay -, um dort Arbeit zu finden. (Gratius 2005, 165). Die zugrundeliegenden Migrationsmotive sind komplexer Natur, im Vordergrund stehen - bezüglich des 19. Jahrhunderts - im Wesentlichen ökonomische Faktoren: Después de 1860, el flujo migratorio hacia los países del continente americano conoce un gran crecimiento. La crisis económica que aqueja a los países europeos durante el periodo de 1873 a 1896 obliga a miles de europeos a abandonar sus hogares con la esperanza de lograr una mejor calidad de vida. (Domingo 2006). Europa stand zwar einerseits im Zeichen der Industrialisierung, andererseits zog dies auch die Konsequenz nach sich, dass der landwirtschaftliche Sektor geschwächt wurde: L’Europe est en pleine révolution industrielle mais sa prospérité est mal partagée. Les changements intervenus dans l’agriculture sont à l’origine de cette émigration de masse car l’Europe touche le fond d’une grave crise agricole et beaucoup de personnes sont forcées de quitter leur terre avant que les industries des villes ne soient suffisamment développées pour pouvoir les absorber. (Desbordes 2004). Ausschlaggebend für die Tatsache, dass sich ein Großteil der Europäer in Südamerika niederließ, war - um dies zusammenzufassen - die wirtschaftliche Ausgangssituation. Hinzu kommt die Tatsache, dass bekanntermaßen während des 19. Jahrhunderts viele europäische Länder von einem rasanten demographischen Wachstum betroffen waren. Sicherlich Französische Migranten in Chile ein historischer Überblick 355 lassen sich auch andere Faktoren, die eher psychologischer Natur waren, in Erwägung ziehen. Humbert (1997, 30) betont beispielsweise in Bezug auf die massive Auswanderungswelle aus Spanien im 19. Jahrhundert auch die Abenteuerlust, fremde Gebiete zu entdecken, als relevanten Motivationsfaktor, die eigene Heimat zu verlassen. Schließlich wurde die Einwanderung seitens der lateinamerikanischen Länder begrüßt und vor allem auch forciert. Offensichtlich ging es in erster Linie darum, den Bedarf an Arbeitskräften, der von der einheimischen arbeitenden Bevölkerung nicht ausreichend gestellt werden konnte, zu decken: La première période de l’émigration outre-atlantique débute aux alentours de 1830 et correspond à la fois à une demande de main-d‘œuvre émanant des nouvelles républiques latino-américaines et à un accroissement considérable de la population européenne dès la fin du XVIIIème siècle. (Desbordes 2004). So genannte Agenturen zur Einwanderung bzw. Auswanderung erleichterten bzw. unterstützten finanziell die Einreise in lateinamerikanische Länder. Sehr aktiv waren am Ende des 19. Jahrhunderts Argentinien, Uruguay, Paraguay und Chile (vgl. Riviale 2007, 118f.). Selbst in peripheren Gebieten wurden Werbekampagnen verfolgt, wie das Beispiel der balearischen Inseln demonstriert: In Printmedien oder durch öffentliche Aushänge wurde auf eine Übersiedlung aufmerksam gemacht: Pasajes para Buenos Aires o cualquier puerto de la República Argentina, se gestiona su adelanto y asegura la obtención. Ha obtenido cuantos ha pedido. Información x despacho, calle Pelaires núm. 58, piso 2 o , izquierda. (Crespí 2002, 36). Der quantitativ bedeutendste Zeitraum der europäischen Auswanderung nach Übersee lässt sich - wie bereits vermerkt worden ist - auf das 19. Jahrhundert festlegen. Generell lassen sich besonders im Hinblick auf Lateinamerika drei große Einwanderungswellen verzeichnen: Vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis 1830, die zweite zwischen ca. 1860-1878 und schließlich ab 1880 bis zum Ersten Weltkrieg (vgl. Desbordes 2004; siehe auch Bähr 5 2010, 265ff.). Die bevorzugten Ziele europäischer Migranten im südamerikanischen Kontext waren die Länder des Cono del Sur: Chile, Argentinien und Uruguay (vgl. Domingo 2006). Jedoch unterscheidet sich in quantitativer Hinsicht die Einwanderung nach Chile von der in die beiden anderen Länder: „La inmigración europea en Chile, a diferencia de Argentina o Uruguay, nunca fue masiva. Esta inmigración se limita a ciertos flujos migratorios irregulares y numéricamente reducidos.“ (Domingo, 2006). Sandra Herling (Siegen) 356 Mit der Unabhängigkeit Chiles im Jahre 1818 ging eine Öffnung gegenüber europäischen Ländern einher. Das vordergründige Motiv lag in der Stärkung der politischen bzw. ökonomischen Bindung. Aus diesem Faktum resultierte eine erste Einwanderungswelle. Zunächst ließen sich Briten in Chile nieder. Aufgrund der beruflichen Struktur (vorwiegend Händler) waren besonders die Hafenstädte und die chilenische Hauptstadt favorisierte Niederlassungspunkte. Von Relevanz ist schließlich auch die Einwanderung von Deutschen, die sich in der Periode von 1846- 1875 beobachten lässt. In den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts wurde Chile mit einer erneuten Einwanderungswelle aus verschiedenen europäischen Ländern konfrontiert. Hinsichtlich der beruflichen Struktur handelte es sich nun um Arbeiter mit oder sogar ohne Ausbildung (Domingo, 2006). Die Kategorisierung der Emigranten nach ihren Herkunftsländern gestaltet sich - wie es bereits bei der kurzen Darstellung zu Chile angeklungen ist - heterogen. Neben Großbritannien oder Deutschland waren beispielsweise Italien, Spanien, aber auch Frankreich von dem Phänomen der Emigration betroffen. Französische bzw. frankophone Migranten - wenn man die Auswanderungen aus Belgien oder der Schweiz berücksichtigt - ließen sich vor allem in den Ländern Argentinien, Uruguay, Brasilien und Chile nieder. Aus quantitativer Perspektive spielt in erster Linie Argentinien und Brasilien eine relevante Rolle. Nach Brasilien emigrierten im Zeitraum von 1850-1965 schätzungsweise 100.000 französische Staatsbürger (Ambassade de France au Brésil 2009, 2). Ein großes Kontingent französischer Auswanderer ließ sich auch in Argentinien nieder, wo der wirtschaftliche Aufschwung zahlreiche (Fach-)Arbeitskräfte forderte: A cette époque, l‘Argentine manifeste sa volonté d'attirer des professionnels, techniciens et ouvriers spécialisés français, pour certaines tâches, comme l'extension du réseau de chemin de fer, la construction du port de Buenos Aires, de routes, du télégraphe. La propagande en France se faisait à travers quatre agences à Paris et à Marseille, en relation directe avec la Commission Centrale d‘Immigration de Buenos Aires.“ (Celton 1995, 158) Im Zeitraum von 1857 bis 1946 wanderten - laut den Angaben von Celton - 261.020 Franzosen nach Argentinien aus, wobei der Höhepunkt in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts zu verzeichnen ist (vgl. Celton 1995, 158). Der überwiegende Teil der Migranten stammte aus dem Südosten Frankreichs, d.h. sowohl aus dem Baskenland als auch der Provinz Béarn (vgl. Otero 2009). Eine analoge Herkunftsstruktur findet sich ebenfalls hinsichtlich der französischen Emigration nach Uruguay: „ […] l‘Uruguay capta seulement 13.922 entre 1833 et 1842, la plupart d’entre-eux origi- Französische Migranten in Chile ein historischer Überblick 357 naires du Pays Basque et du Béarn.” (Otero 2009). Ein nächster Höhepunkt der Einwanderung lässt sich in den Jahren 1843-1879 beobachten. Allein im Jahre 1872 kamen 17.900 Franzosen nach Uruguay. In dieser Epoche waren Franzosen die quantitativ größte Einwanderergruppe, was bereits ein Vergleich mit anderen europäischen Migranten verdeutlicht: Im Zeitraum von 1833 bis 1842 emigrierten 8481 Spanier, 7945 Italiener, 850 Briten und 653 Deutsche nach Uruguay (vgl. Chareille 2003, 86f.). Die französische Sprache in Uruguay befand sich in jener Epoche in einer ambivalenten Situation. Einerseits stellte sie die Sprache der Migranten dar, die in erster Linie aus wirtschaftlichen Gründen nach Uruguay gekommen sind - dies gilt zumindest verstärkt für Migranten aus den südlicheren Regionen Frankreichs. Andererseits genießen die französische Kultur sowie politische Ideologien Frankreichs insbesondere bei den sozial höhergestellten Schichten Uruguays ein hohes Prestige - ein Faktum, das sich ohne Zweifel auch auf andere südamerikanische Länder übertragen lässt: D’autre part, la culture française bénéficie de l’engouement des élites locales. Les créoles sud-americains font ainsi venir auprès d’eux des Français, domestiques, “mademoiselles-institutrices”, coiffeurs, modistes et autres petits artisans tous francophones. Ils suivent ainsi la mode des afrancesados (francisés) lancée par Philippe V d’Espagne, petit fils de Louis XIV qui propage à Madrid tout un mode de vie “à la française” bientôt imité par les aristocrats, les bourgeois et exporté en Amérique latine auprès des Vice-Rois, des gouverneurs généraux et des familles patriciennes locales. Un peu plus tard, la France diffuse les idées des Lumières, puis celles de la Révolution française et apporte aux bourgeoisies sud-américaines certaines idées liberals propres à favoriser les mouvements d’indépendance qui surgissent au début du XIX e siècle. L’Uruguay, entre autres, se libère du joug espagnol durant la période qui s’étend en France de la fin du premier Empire à la fin de la Restauration. Sa bourgeoisie est toute acquise à la française. (Chareille 2003, 85f.) Eng verknüpft mit dieser ambivalenten Rolle des Französischen ist die Einstellung bzw. die Bereitschaft der Migranten, sich an die hispanophone Umwelt sprachlich zu assimilieren. Während die sozial niedrigeren und finanziell schwächeren Migranten, die in der Regel aus ländlicheren Gegenden Frankreichs stammten, sich eher sprachlich assimilierten, zeigten sozial besser gestellte französische Migranten Sprachloyalität (vgl. Chareille 2003, 86). Dieses Verhalten wird wiederum seitens des frankophilen uruguayischen Bürgertums gefördert, woraus schließlich eine verstärkte Präsenz der französischen Sprache besonders in der Haupt- Sandra Herling (Siegen) 358 stadt resultierte: „A Montevideo, à cette époque, on entend parler cette langue presque autant que l’espagnol […].“ (Chareille 2003, 86). Hinsichtlich der sprachlichen Assimilation sei angemerkt, dass es sich primär um Migranten aus dem Südwesten Frankreichs handelte. Man kann folglich davon ausgehen, dass ein Großteil der Auswanderer nicht Französisch, sondern eine Regionalsprache wie beispielsweise Baskisch als Primärsprache hatte. Es ergibt sich für diese Migrantengruppe folgende Problematik: Zum einen stellt sich die Frage, ob Französisch erhalten bleiben soll, oder gar die Regionalsprache. Im Falle Uruguays lässt sich - wie Samantha Chareille (2003, 86) betont -, eher die Tendenz beobachten, dass sich das Französische als gemeinsame Sprache der Migranten durchsetzen konnte. Ob der Einfluss der zentralistisch-repressiven Sprachpolitik Frankreichs und das daraus geschwächte Prestige der Regionalsprachen eine Rolle spielte, kann vermutet werden. Ausschlaggebend für die Sprachenwahl waren ohne Zweifel Faktoren wie z.B. die Intensität des Kontakts mit Basken aus Spanien, die ab den 1850er Jahren verstärkt einwanderten (vgl. hierzu Pastor 2004, 232), der Kontakt mit anderen frankophonen Migranten, sowie exogame Eheschließungen. In Bezug auf Argentinien stellt Otero (2009) dar, dass vor allem baskische Migranten aus Frankreich einem dreifachen Assimilationsdruck ausgesetzt waren: „vers les Basques de l’autre côté des Pyrénées, vers les Français en provenance d’autres parties de l’hexagone et vers la société argentine“ (Otero 2009). Daraus kann geschlussfolgert werden, dass die baskische Sprache eher aufgegeben worden ist und sich französische Basken eher an das Spanische assimiliert haben (vgl. Otero 2009). Aus demographischer Perspektive kann festgehalten werden, dass sich der überwiegende Teil französischer Migranten in den Ländern Brasilien, Argentinien und Uruguay niedergelassen hat. In Peru beispielsweise spielte die französische Einwanderung eher eine marginale Rolle, wie die statistischen Angaben verdeutlichen: Im Jahre 1857 lebten 2693 Franzosen in Lima (Riviale 2007, 114). In Bezug auf die Herkunftsregionen lässt sich ebenfalls eine Dominanz des Südwesten Frankreichs beobachten: ca. 12,5% der Migranten stammten aus dem Département Gironde und ca. 9% aus dem Département Pyrénées-Atlantiques (Riviale 2007, 116) Neben Argentinien und Uruguay stellt im hispanophonen Raum Südamerikas auch - wie im Folgenden näher ausgeführt wird - Chile ein Land dar, das mit einem großen Kontingent von französischen Migranten konfrontiert wurde. Französische Migranten in Chile ein historischer Überblick 359 3. Französische Migranten in Chile (19. und 20. Jahrhundert) Der erste französisch-chilenische Kontakt lässt sich bereits auf den Anfang des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um das Phänomen der Migration, sondern um Entdeckungsfahrten. Weitaus bekannter sind ohne Zweifel die Entdeckungsfahrten Frankreichs im 16. Jahrhundert, die nach Kanada führten oder auch Südamerika betreffend, die Fahrt von Jean de Léry nach Brasilien. Zu erwähnen in diesem Kontext ist ebenfalls der Kolonisierungsversuch Frankreichs, der unter der Bezeichnung France antarctique bekannt ist. In Bezug auf Chile sind mehrere Entdeckungsfahrten im Laufe des 18. Jahrhunderts von Bedeutung. Vorweg sei angemerkt, dass es sich nicht um koloniale Expansionsintentionen handelte. Die Reisen standen eher unter dem Zeichen der Forschung und können somit im wahrsten Sinne einer Entdeckung verstanden werden. Bereits 1703 bereist der Kleriker Louis Feuillée die chilenische Küste sowie Peru. Fünf Jahre später erfolgte seine zweite Reise, die ebenfalls seinen biologischen Studien diente. Zurück in Frankreich publizierte Feuillée 1714 die dreibändige Ausgabe Histoire des plantes médicinales du Pérou et du Chili. (Montory 2004, 51ff.) Im Jahre 1712 verließ François Amédée Frézier den Hafen von Saint- Malo in Richtung Chile. Wie Feuillée verfolgte Frézier das Ziel, sowohl Fauna und Flora als auch die Geographie und auch ethnologische Begebenheiten Chiles zu studieren. Nicht unerwähnt bleiben sollte der wohl bekannteste Entdecker Frankreichs, Louis Antoine de Bougainville, der während seiner Weltumseglung 1766-1769 mehrmals einen Zwischenhalt in Chile einlegte. Schließlich verließ Jean-François Galaup, Comte de La Pérouse, im Jahre 1785 den Hafen von Brest mit Kurs auf Südamerika. An Bord seiner zwei Schiffe, die ca. siebzig Tage später vor der Küste der chilenischen Stadt Concepción landeten, waren mehrere Wissenschaftler, darunter auch Botaniker (vgl. Blancpain 1999, 27-33). An die Entdeckungsfahrten während des 18. Jahrhunderts schlossen sich jedoch keine nennenswerten Besiedlungen aus Frankreich an. Erst im 19. Jahrhundert, nach der Unabhängigkeit Chiles, lässt sich - wie bereits weiter oben erwähnt - ein allmähliches Interesse für Chile als Auswanderungsziel erkennen. Es gilt allerdings festzuhalten, dass aus quantitativer Perspektive die französische Emigration nach Chile im Gegensatz zu Argentinien eine eher untergeordnete Rolle spielte. Bis 1860 handelte es sich eher um eine Auswanderung individueller Natur, d.h. einzelne Personen oder vereinzelt auch Familien ließen sich in Chile nieder. Interes- Sandra Herling (Siegen) 360 sant ist die berufliche Struktur, denn größtenteils wählten französische Mediziner, Händler, Künstler, Kleriker, Ingenieure, Winzer, Architekte und Lehrer Chile als neuen Lebens- und Arbeitsmittelpunkt (vgl. Domingo 2006; Blancpain 1999, 64). Eine verstärkte Auswanderung erfolgte schließlich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Als treibende Kraft agierte nun auch die chilenische Regierung: Ihr Vorhaben, die südlichen Regionen des Landes zu besiedeln erforderte zusätzliche Arbeitskräfte, die vorwiegend aus den damaligen wirtschaftlich schwächeren Gebieten Europas rekrutiert werden sollten: Al final del siglo XIX y bajo el mandato de José Manuel Balmaceda (1886-1891) y de Pedro Montt (1906-1910) el gobierno chileno realiza en Francia varias campañas de publicidad a través de una serie de conferencias sobre la prosperidad de las tierras chilenas y las condiciones excepcionales de acogida que ofrece el país. Esta campaña consigue atraer a ciudadanos franceses que viven en departamentos industriales que conocen graves problemas de desempleo. Siguiendo el proceso, los franceses que desean ir a Chile deben dirigirse a las agencias privadas de inmigración las cuales perciben una cotización por emigrante. (Domingo 2006). Infolgedessen wandelte sich die berufliche Struktur der Migranten: Ab 1860 kamen vor allem Arbeiter und Bauern nach Chile. Der überwiegende Teil der Migranten, präziser ausgedrückt fast 80%, stammten aus der Region des Baskenlandes, aus Bordeaux, Charente und aus dem Périgord. Die Einwanderung nach Chile erreichte schließlich in dem Zeitraum zwischen 1880 und dem Ersten Weltkrieg ihren Höhepunkt: Im Jahre 1854 lebten 1654 Franzosen in Chile, während 1912 die Zahl der Einwanderer auf ca. 10.000 beziffert werden kann (vgl. Domingo 2006; Blancpain 1999, 139). Ein deutlicher Höhepunkt lässt sich zwischen den Jahren 1882 und 1897 konstatieren. Laut den Angaben des chilenischen Außenministeriums ließen sich 8413 französische Migranten in Chile nieder. Nichtsdestotrotz stellt die Einwanderung nach Chile kein Massenphänomen dar. Gründe hierfür könnten in der defizitären Administration sowie schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen liegen (vgl. Domingo 2006). Letztere Gründe fallen vermutlich in Bezug auf die Besiedelung der südlichen Regionen Chiles ins Gewicht. In diesem Zusammenhang spielen die klimatischen Verhältnisse sicherlich eine ausschlaggebende Rolle. Ein Beispiel hierfür liefert auch das Vorhaben, eine spanische Kolonie in Patagonien (auf argentinischer Seite) zu gründen. Aufgrund der widrigen klimatischen Bedingungen siedelten die Einwanderer nach kurzer Zeit Französische Migranten in Chile ein historischer Überblick 361 wieder um und ließen sich beispielsweise im Großraum Buenos Aires nieder (vgl. Akoudad 2002, 608). Wenn man die geographische Verteilung der französischen Migranten in Chile betrachtet, so lassen sich folgende Schwerpunkte beobachten: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden Städte wie Valparaíso und Santiago für eine Niederlassung favorisiert: Durante la década de 1860, el 38% de los franceses de Chile de domicilian en Valparaíso. Al mismo tiempo el crecimiento urbano de Santiago y su categoría de capital política y social del país, da al inmigrante francés la posibilidad de instalar du propia empresa con un alto índice de posibilidad de éxito. (Domingo 2006). Die hauptsächliche Motivation, sich in diesen Städten anzusiedeln, ist ohne Zweifel wirtschaftlicher Natur. Wie bereits weiter oben beschrieben, übte ein Großteil der französischen Einwanderer Berufe mit kommerziellem Hintergrund aus. Es liegt folglich auf der Hand, dass Großstädte, besonders mit Hafenanbindung, lukrative Handelsmöglichkeiten bieten: „La ciudad de Valparaíso, con su puerto, es el principal centro comercial del país y el lugar más interesante para desarollar una carrera de negociante.“ (Domingo 2006). Neben Valparaíso stellte die chilenische Hauptstadt einen weiteren Niederlassungsschwerpunkt dar. Laut den vorliegenden statistischen Angaben lebte Anfang des 20. Jahrhunderts ca. ein Drittel der Franzosen in Santiago. Des Weiteren ließen sich französische Einwanderer im Landesinneren, südlich von Santiago, in der Umgebung von Rancagua, in der Großstadt Concepción, sowie in der Region Bío-Bío nieder (vgl. Blancpain 1999, 136ff.). Festzuhalten ist, dass der berufliche Hintergrund ein entscheidender Faktor für die geographische Distribution war. Wie oben erwähnt, kamen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts quantitativ mehr Arbeiter, aber auch Bauern, nach Chile. Letztere siedelten sich dementsprechend eher in ruralen Gebieten an. Insbesondere sind Basken in der Schafzucht aktiv (vgl. Otero 2009). Jedoch stellt dies nicht die Regel dar, denn viele französische Migranten aus dem Baskenland sind ebenso in industriellen Zweigen oder im Dienstleistungssektor tätig (vgl. Blancpain 1999, 174). Insgesamt gesehen waren die kommerziellen Aktivitäten der Franzosen insbesondere in den urbanen Regionen Chiles sehr erfolgreich. Im Jahre 1875 war ca. 40% des Handels in Santiago in französischer Hand (vgl. Blancpain 1999, 173). In diesem Zusammenhang ist der Kommentar des österreichisch-französischen Forschers und Entdeckers, Charles Wiener, sehr aussagekräftig. Er schreibt am Ende des 19. Jahrhunderts: „J’ai Sandra Herling (Siegen) 362 trouvé notre colonie fort travailleuse, elle est riche et bienfaisante.“ (Vega 1904, 120). Im Falle der französischen Migranten handelte es sich nicht nur um Arbeitnehmer, sondern ein Großteil wurde selbstständig. Aus einer Bilanz zur chilenischen Wirtschaft aus dem Jahre 1925 geht hervor, dass beispielsweise 15 Juweliergeschäfte, 50 Hotels, 28 Weinhandlungen, 57 Modegeschäfte, 26 Schuhgeschäfte, 20 Restaurants, 42 Bäckereien, 14 Brennereien, 2 Parfümerien, 6 Möbelherstellungsbetriebe, 28 Schuhherstellungsbetriebe, 50 Gerbereien, 35 Sägewerke von Franzosen gegründet und betrieben worden sind. Nach dem Ersten Weltkrieg nahm der Bergbau eine zunehmende Bedeutung an. In französischer Hand waren Kupfer-, Kohle-, und Salpeterminen. Zu erwähnen ist schließlich noch der landwirtschaftliche Sektor, in dem Franzosen tätig waren. Von Relevanz sind hier zum Einen die Schafzucht und zum Anderen der Weinanbau (Blancpain 1999, 175f.). Gegenwärtig ist Chile das bekannteste Weinanbauland Südamerikas. Die ersten Rebflächen wurden zwar schon im 16. Jahrhundert kultiviert, aber dank den französischen Winzern, die sich ab 1845 in Chile niederließen, kann von einem Aufschwung des Weinanbaus erst im 19. Jahrhundert die Rede sein. Gezielt warb auch die chilenische Regierung französische Winzer sowie Önologen wie z.B. Le Feuvre an, der ab 1873 das Amt des Direktors am Instituto Agrícola innehatte (Briones Quiroz 2006, 126 und Blancpain 1999, 144). Festzuhalten ist, dass zumindest ein großer Teil der französischen Migranten einen gewissen Wohlstand genossen hat und vor allem maßgeblich daran beteiligt ware, die chilenische Wirtschaft - insbesondere um die Jahrhundertwende - anzukurbeln (vgl. González 2003, 206). Nichtsdestotrotz setzt der Niedergang der französischen Wirtschaftsstruktur allmählich mit dem Beginn des ersten Weltkrieges ein (vgl. Blancpain 1999, 174). Neben sozio-ökonomischen, demographischen Gesichtspunkten stellt sich im Kontext der Migration auch die Frage nach sprachlich-kulturellen Aspekten. Im Folgenden soll nun diese Perspektive eingenommen und der Frage nachgegangen werden, inwiefern die französische Migranten“kolonie“ in Chile die französische Sprache aufrechterhalten konnte. Französische Migranten in Chile ein historischer Überblick 363 4. Die kommunikative Infrastruktur französischer Migranten in Chile während des 19. und 20. Jahrhunderts Ein Charakteristikum der französischen Sprache in Chile während des 19. Jahrhunderts war - wie bereits weiter oben angeklungen ist - ihre ambivalente Position. Auf der einen Seite war sie die Sprache der Migranten, auf der anderen Seite genoss sie ein internationales Prestige, das auf südamerikanische Länder wie auch Chile ausstrahlen konnte. Insgesamt betrachtet besaß Frankreich eine gewisse Vorbildfunktion, so dass ein französischer Einfluss auf vielfältige Weise in der chilenischen Gesellschaft spürbar war: Dem zunehmenden Interesse an französischsprachiger Literatur trug die Tageszeitung Mercurio Rechnung, in dem regelmäßig über Autoren wie Dumas, Jules Verne, George Sand, Maupassant oder Daudet berichtet wurde. Auch chilenische Autoren wie zum Beispiel Vicente Pérez Rosales verfassten teilweise ihre Werke auf Französisch (vgl. Blancpain 1999, 104). Darüber hinaus manifestierte sich französischer Einfluss in der Architektur: A partir de la segunda mitad del siglo XIX, la fisonomía de Santiago comenzó a cambiar en forma vertiginosa y en ello le cupo una labor destacada a una serie de arquitectos franceses contratados por el gobierno de Chile (González 2003, 188). Eine Französierung erfuhr ebenfalls auch die Mode. Diesbezüglich kommentiert 1886 Charles Wiener: Il y trente ans, les femmes ne sortaient qu’enveloppées du vêtement appelé le manto, sorte de grand châle généralment noir qui couvre la tête et les épaules et tombe, en larges plis, jusqu’aux genoux. […] Aujourd’hui, toutes les femmes de la société portent le chapeau français […] (Wiener zit. n. Blancpain 1999, 183). Selbst manche Attitüden waren Ausdruck der vorherrschenden Frankophilie: Lo francés producida admiración y como la admiración suele traer la imitación, consciente o no, en la sociedad chilena, sobre todo en las élites, ciertos usos y costumbres propias del país europeo comenzaron a ser parte de la vida diaria. […]. Jóvenes con aire de dandys que usaban un lenguaje rebuscado en el que forzosamente tenían que aperecer palabras y giros en francés podían ser considerados como extravagantes. […]. (González 2003, 178ff.). Sandra Herling (Siegen) 364 Eine bedeutende Rolle spielte infolgedessen auch die französische Sprache. Ihr damaliger Status in Chile ist vergleichbar mit dem des Englischen heutzutage (vgl. González 2003, 71). Philosophie und politische Ideologien Frankreichs beeinflussten nicht nur den Unabhängigkeitsprozess Chiles, sondern manifestierten sich auch in Form von Gallizismen in der chilenischen Lexik: Beispiele hierfür sind funcionario, gabinete, guillotina, insurgente, patriota, revolución, secretario de Estado etc. (Prieto 1992, 117). Was den Sprachgebrauch und die Sprachkenntnisse anbelangt, so gilt es jedoch festzuhalten, dass es sich um eine horizontale Französisierung handelte. Es waren ausschließlich chilenische Intellektuelle, Vertreter der sozial höher gestellten Schicht, die sich der französischen Sprache bedienten. Dieses Faktum ist jedoch nicht unerheblich im Hinblick auf französische Migranten, die somit zumindest im Kontakt mit der elitären chilenischen Gesellschaftsschicht nicht nur ein frankophiles, sondern auch ein frankophones Umfeld vorfanden. Man kann folglich davon ausgehen, dass in diesem Kontext günstige Bedingungen für den Spracherhalt gegeben waren. Doch wie lässt sich die allgemeine Situation des Französischen als Migrationssprache in Chile beschreiben? Welche Faktoren konnten zum Spracherhalt beitragen und welche bedingten einen Sprachwechsel? Es sei angemerkt, dass eine umfassende Studie zu diesen Fragestellungen bisher noch nicht in der Migrationsbzw. soziolinguistischen Forschung vorliegt. Faktoren, die zumindest Teilantworten auf die Frage nach Spracherhalt und Sprachwechsel liefern können, sind in der sozio-ökonomischen Struktur der französischen Migrantengruppe verankert. Die Intensität des Sprecherkontakts und somit eine Bedingung für die Spracherhaltungsmotivation ist durch die spezifische Wirtschaftsstruktur der Franzosen gegeben. Charakteristisch war, dass viele Firmen oder Geschäfte in Familienbesitz waren und somit eine bestimmte Heiratspolitik verfolgten: La utilización del matrimonio de interés tiene como objetivo el éxito de la empresa y la promoción social. Entre el final de siglo XIX y el principio del siglo XX numerosos ejemplos nos muestran que dentro de la colonia francesa existe une tendencia a la endogamia social y económico. Jean-Michel Etchepare, empleado de la casa de importación-exportación Etchegaray, se casa con la hija de su patrón. En 1875 se plantea la cuestión de la succesión en la dirección de la empresa. Ese mismo año Jean-Michel Etchepare se convierte en asociado de su suegro y, años más tarde, es el único propietario de la empresa. […] Por ejemplo la familia Texier se alía económicamente con la familia Puyo y la familia Guérin gracias a la creacion de nuevos lazos familiares. Al final del Französische Migranten in Chile ein historischer Überblick 365 siglo XIX, Emile Cheyre, comerciante, hotelero e industrial, se casa con la hermana del industrial francés Alcide Magnère. (Domingo 2006). Jedoch nicht nur die Heiratspolitik, sondern auch die Tatsache, dass bevorzugt Arbeiter aus Frankreich eingestellt wurden, forciert den Kontakt bzw. die Motivation zur Spracherhaltung (vgl. Domingo 2006). Sehr ausgeprägt scheint das patriotische Gefühl der französischen Einwanderer in Chile zu sein. Dies drückt sich vor allem in der Intention aus, die wirtschaftlichen Relationen mit Frankreich zu erneuern und zu verstärken. Im Jahre 1892 wurde die Institution La Chambre de Commerce Française de Santiago gegründet, mit den Zielen, die Handelsverbindungen zwischen den beiden Ländern auszubauen, die französische Wirtschaft in Chile zu unterstützen sowie den Export franco-chilenischer Produkte nach Frankreich zu erleichtern (vgl. Statut in Vega 1904, 254). Einen weiteren Ausdruck des Wunsches an Frankreich angebunden zu bleiben, manifestiert sich in dem Vorhaben bzw. in der Bitte an Frankreich, eine französische Bank in Chile zu errichten. Im Jahre 1909 wird in der Tageszeitung Journal du Chili diesbezüglich vermerkt: […] à défaut d’une Banque française, le capital dont nous parlons doit forcément et inconsciemment contribuer à alimenter le mouvement commercial de nos concurrents au détriment du nôtre et il nous paraît rationnel et patriotique à la fois de faire un effort pour donner à ce courant une direction favorable aux intérêts français. (zit. n. Domingo 2006). Neben dem wirtschaftlichen Netzwerk wird die kommunikative und soziale Infrastruktur durch weitere Faktoren wie z.B. die Gründung von Institutionen und Vereine konstituiert. Wie bereits die Namen mehrerer Organisationen demonstrieren, steht die gegenseitige Hilfe, der Schutz und somit die Konstituierung und Festigung eines Gruppengefühls im Vordergrund. Im Jahre 1869 wurde in Valparaíso die erste Société française de secours mutuels ins Leben gerufen. Fünf Jahre später folgte eine weitere Gründung in Santiago. In erster Linie war das Ziel der Société die medizinische Versorgung. Im Statut heißt es hierzu: „La Société a pour but 1. de donner les soins du médecin et les médicaments aux membres participants malades. […]“ (Vega 1904, 256). Die im Jahre 1897 gegründete Organisation La Prévoyance widmete sich sowohl der medizinischen Versorgung als auch dem Wohlbefinden von Witwen und Waisenkindern. Im Fokus der Société française de Bienfaisance standen Hilfsbedürftige und Arbeitslose. Auch die im Jahre 1900 gegründete Union des employés français au Chili setzte sich für Arbeitssuchende sowie die Schaffung neuer Arbeitsplätze ein (Vega 1904, 256ff.). Eine bedeutende Rolle kam jedoch Sandra Herling (Siegen) 366 auch der freiwilligen Feuerwehr zu, die ab 1851 ihren Dienst antrat (González 2003, 212). Allgemein kann die Gründung eines Feuerwehrdienstes als ein typisches Merkmal von Migrantengruppen angesehen werden: L’un des premiers soucis des immigrés installés a été de se protéger et de protéger leurs biens souvent chèrement acquis et dangereusement exposés. Dans toutes les villes d’Amérique latine, anciennes ou nouvelles, l’institution la plus utile, la plus populaire, la plus durable, donc aussi la première en date, a été celle des pompiers volontaires; représentative de l’immigration masculine au complet, organisée, hiérarchisée, disciplinée, en uniforme […] (Blancpain 1999, 197). Im Kontext der Organisationen ist noch der Cercle Français aus dem Jahre 1887 zu nennen, der als eine Art Zentrale für jegliche Vereinigungen fungierte. Blancpain (1999, 212) bezeichnete diesen Cercle treffend als „maison mère des autres associations“. Interessant ist, dass im Statut festgelegt wurde, dass auch Mitglieder anderer Nationalitäten zugelassen werden konnten (vgl. Vega 1904, 255). Ab 1919 traten beispielsweise auch frankophone Belgier der Vereinigunge bei (vgl. Blancpain 1999, 212). Ein weiteres Element, das die soziale Kohäsion, die Solidarität festigen konnte, war die jährliche Feier des französischen Nationalfeiertages am 14. Juli (vgl. Blancpain 1999, 198). Dies verdeutlicht einmal mehr die Betonung der Herkunft, das Aufrechterhalten der Bindung an Frankreich. Daraus kann auch die Schlussfolgerung gezogen werden, dass innerhalb der französischen Einwanderer eher die Tendenz zur Sprachloyalität bestanden hat. Unterstützende Wirkung erzielte sicherlich auch die Gründung der Alliance Française im Jahre 1886. Sowohl in den Großstädten Valparaíso und Santiago entstanden Niederlassungen, als auch in weiteren Orten wie Traiguén, Victoria, Iquique etc. (Vega 1904, 253). Die Aufgabe der Alliance bestand bekanntermaßen nicht nur in der Verbreitung und Förderung des Französischen außerhalb Frankreichs, sondern in Bezug auf die Migranten auch in der Sicherung der Sprachkenntnisse der nachfolgenden Generationen: „[…] une école qui préservera la première génération “américaine” du risqué d’analphabétisme.” (Blancpain 1999, 213). Eine bedeutende Rolle zur Verbreitung und Förderung einer Sprache kommt ohne Zweifel den Medien zu. Den Migranten standen zwar eine Reihe von französischsprachigen Printmedien zur Verfügung, es fällt jedoch auf, dass diese von einem recht kurzlebigen Charakter gekennzeichnet waren. Beispielsweise erschien im Jahre 1870 die Wochenzeitung Le Courrier du Chili, die jedoch bereits nach 35 Ausgaben wieder einge- Französische Migranten in Chile ein historischer Überblick 367 stellt wurde. Insgesamt zwei Jahre lang, von 1885 bis 1887, war Echos du Pacifique erhältlich. Ein ähnliches Schicksal ereilte die Zeitung La Colonie Française, die 1885 in Santiago publiziert wurde. Ebenfalls nach kurzer Zeit wurde die Wochenzeitung Gazette Française, die erstmalig im Jahre 1893 erschien, eingestellt. Lediglich eine Tageszeitung, La France, konnte sich länger auf dem Markt halten, nämlich von 1890 bis 1900. Wenn auch nur vereinzelt existierten in kleineren Orten zweisprachige Zeitschriften. Ein Beispiel hierfür wäre El Colono/ La Colonie (vgl. González 2003, 218f und Blancpain 1999, 209). In der Gesamtbetrachtung lässt sich Folgendes festhalten: Faktoren, die den Spracherhalt innerhalb der französischen Migrantengruppe begünstigen haben könnten, waren die wirtschaftlichen Verbindungen untereinander, die Errichtung eines sozialen Netzwerkes bestehend aus Organisationen mit vorwiegend wohltätigem Charakter sowie der Ausdruck eines kollektiven patriotischen Gefühls, dass sich einerseits über die ökonomische Anbindung an Frankreich und andererseits über nationale Festlichkeiten (14. Juli) manifestiert. Jedoch sollte berücksichtigt werden, dass - wie bereits weiter oben erwähnt - die wirtschaftliche Dekadenz der französischen Unternehmer in Chile nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte. Eine engere Vernetzung mit chilenischen und somit spanischsprachigen Geschäftspartnern wurde somit unumgänglich. Ein zweiter Aspekt, der Berücksichtigung finden sollte, ist die regionale Herkunft der französischen Migranten. Wie bereits dargestellt worden ist, handelte es sich bei einem Großteil der französischen Migranten um Basken und somit eigentlich um Sprecher einer Regionalsprache. Auch wenn die zentralistisch-repressive Sprachpolitik Frankreichs im 19. Jahrhundert ihre Wirkungen zeigte, kann nicht davon ausgegangen werden, dass alle baskischen Migranten über Französischkenntnisse verfügten. Vermutet werden kann, dass allerdings die französische Sprache in der Kommunikation mit anderen französischen Einwanderern verwendet worden ist und somit als gemeinsame Migrationssprache in Chile - insbesondere im 19. Jahrhundert - fungierte. 5. Ein kurzer Blick auf die Gegenwart Laut des Zensus aus dem Jahre 2002 leben 3043 französische Staatsbürger in Chile (Censo 2002). Statistische Angaben zu den Nachfahren der französischen Migranten des 19. Jahrhunderts divergieren zwischen 5-20%. Verschiedene Internetseiten widmen sich auf praktischer Ebene diesem Sandra Herling (Siegen) 368 Thema und stellen Möglichkeiten zur Ahnenforschung bereit. Ein Beispiel hierfür ist die Webseite www.genfrancesa.com. Es sei angemerkt, dass diese Seiten aus onomastischer Perspektive gewinnbringend sein können. Gegenwärtig sind Franzosen in Chile auch in einem sozialen Netzwerk organisiert. Viele der damaligen Organisationen haben ihre Aktivitäten zwar zwischen den beiden Weltkriegen eingestellt, aber drei von ihnen weisen eine Kontinuität bis in die Gegenwart auf: Zum Einen die Société Française de Bienfaisance de Valparaíso und zum Anderen die 4ème Compagnie de Pompiers de Santiago. Zu erwähnen ist noch die Vereinigung Dames Françaises de la Bienfaisance, deren Ziel es ist, durch verschiedene kulturelle wie auch wohltätige Veranstaltungen Treffpunkte für Franzosen in Chile zu schaffen (vgl. Webseite La France au Chili 2011). Im Jahre 2009 feierte die Union des Français du Chili ihr achtzigjähriges Bestehen. Jedoch scheint - wie der Kommentar des Präsidenten Jean-Marc Besnier verdeutlicht - die Relevanz der Funktion, eine Anlaufstelle zu bieten, im Laufe der Zeit abgenommen zu haben: „les Français du Chili de 2009 n’ont pas les mêmes besoins qu’à l’époque de la fondation du Club. Grâce aux moyens modernes de communications, ils ont moins besoin de venir retrouver un bout de France“ (Le Petit Journal 2009). Selbstverständlich ermöglicht das Internet heutzutage den direkten Zugang zu frankophonen Medien. Von daher verwundert es nicht, dass es (fast) keine französischsprachigen Printmedien (oder audiovisuelle Medien) explizit für und von Franzosen in Chile gibt. Eine Ausnahme stellt jedoch die Internetzeitung Le Petit Journal dar, die sich generell bzw. global an frankophone Migranten wendet. Eine lokale Sparte ist auch für Chile konzipiert (siehe hierzu www.lepetitjournal.com). Des Weiteren wird jährlich eine Semaine française von der Chambre franco-chilienne pour le commerce et l’Industrie organisiert. Ebenfalls wird - wie bereits im 19. Jahrhundert - der französische Nationalfeiertag am 14. Juli gefeiert. Zur Präsenz der französischen Sprache tragen auch die verschiedenen Niederlassungen der Alliance Française in den Städten Antofagasta, La Serena, Valparaíso, Concepción, Valdivia, Chillan, Puerto Montt, Temuco, Osorno, Coyhaique und auf der Osterinsel bei (Alliances Françaises du Chili 2011). Relevant in diesem Zusammenhang sind natürlich auch französische Schulen, die in verschiedenen Städten Chiles gegründet wurden: Collège français de Valparaíso, Lycée Jean Mermoz (Curico), Collège français de Vina del Mar, Lycée Claude Gay (Osorno), Lycée Saint Exupéry (Las Condes), Lycée Charles de Gaulle (Concepción) (Les écoles françaises 2011). Französische Migranten in Chile ein historischer Überblick 369 6. Schlussbetrachtung Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass während der Einwanderungswellen im 19. Jahrhundert davon ausgegangen werden kann, dass die dominante Sprache innerhalb der Migrantengruppe das Französische war. Ausschlaggebender Faktor war die ausgeprägte sozio-ökonomische Infrastruktur, die spracherhaltend wirken konnte. Von Relevanz waren auch die Bemühungen, wirtschaftliche Relationen mit Frankreich aufrechtzuerhalten. Hinzu kam, dass sich sozial privilegiertere chilenische Gesellschaftsschichten frankophil zeigten und über Kenntnisse des Französischen verfügten. Der verstärkte Kontakt mit der spanischen Sprache und somit ein fortschreitender Assimilationsprozess wird sich im Zuge der Dekadenz des wirtschaftlichen Netzwerkes nach dem Ersten Weltkrieg vollzogen haben. Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert ist das soziale Netzwerk der Franzosen in Chile weniger ausgebaut. Eine Integration in die chilenische Gesellschaft ist ohne Spanischkenntnisse nicht möglich. Sehr aussagekräftig ist die Tatsache, dass die Homepage der Organisation Union des Français du Chili ausschließlich auf Spanisch rezipiert werden kann. Lediglich der Name der Organisation ist französisch. Generell stellt sich jedoch die Frage nach der Sprechereinstellung bzw. inwieweit das Französische als zweite Sprache erhalten werden soll. Diesbezüglich bleiben soziolinguistische Studien ein Desiderat. Literaturhinweise Akoudad, Sylvaine: „Varietäten des Katalanischen in Argentinien“, in: Störl, Kerstin/ Klare, Johannes (Hgg.): Romanische Sprachen in Amerika. Festschrift zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. Hans-Dieter Paufler, Frankfurt/ M, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien: Peter Lang Verlag, 2002, 603-614. Bähr, Jürgen: Bevölkerungsgeographie. Verteilung und Dynamik der Bevölkerung in globaler, nationaler und regionaler Sicht. Stuttgart: Ulmer, 5 2010. Blancpain, Jean-Pierre: Le Chili et la France. Paris: L’Harmattan, 1999. 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Biobibliografische Daten Luigi Castiglioni (1757-1832) entstammt altem Mailänder Adel (sein Vater war der Conte Ottavio Castiglioni, seine Mutter Teresa Verri) 1 . Durch reiche Erbschaft finanziell unabhängig, befasste er sich nach der Schulausbildung am Collegio dei Nobili mit naturwissenschaftlichen und insbesondere botanischen Studien. Im Alter von 27 Jahren brach er - dem Usus der guten Gesellschaft der Zeit entsprechend - zu einer Reise in die Vereinigten Staaten von Amerika auf, um Erfahrungen zu sammeln. Die Wahl des Reiseziels war vermutlich von den Berichten über die Verträge von Versailles inspiriert, mit denen die USA 1783 ihre Unabhängigkeit erlangten. Die Reise begann 1784 und führte Castiglioni zunächst über Paris nach London 2 . In London schiffte er sich am 13. April 1785 nach Boston ein. Von dort aus reiste er über Vermont weiter bis nach Montreal, und danach wieder Richtung Süden über New York und North und South Carolina bis nach Georgia. Die Heimreise nach Italien trat er am 17. Mai 1787 an 3 . Nach seiner Rückkehr fasste er seine Erlebnisse in den beiden Bänden des Viaggio negli Stati Uniti dell’America settentrionale zusammen, die 1790 im Verlag von Giuseppe Marelli in Mailand erschienen. Castiglioni gibt darin eine ausführliche Schilderung des Reiseverlaufs und der geographischen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse vor Ort 4 . Besonderes Augenmerk gilt auch der einheimischen Flora und Fauna. Der Bericht ist in lexikalischer Hinsicht von großem Interesse, denn Castiglioni verfügt 1 Zur Genealogie der Familie cfr. http: / / www.geneall.net/ I/ per_page.php? id=1489 405. 2 Aus der Zeit des Aufenthalts in Frankreich und England sind einige Briefe erhalten (ed. Bernardini/ Lucci 2009). 3 Cfr. Cerruti 1996, XXIV ss.; Bernardini/ Lucci 2009, 15ss. 4 Zu den historiographischen und politischen Inhalten des Textes cfr. Di Capua/ Saibene 2005. Wolfgang Schweickard (Saarbrücken) 374 über einen differenzierten Wortschatz und übernimmt für seine Beschreibungen vielfach die einheimischen (englischen und indigenen) Bezeichnungen. Die besondere Aufmerksamkeit, die er sprachlichen Aspekten entgegenbringt, spiegelt sich auch in einem italienisch-indianischen Glossar mit über 200 Wörtern aus dem Choctaw und dem Cherokee (1,259- 266) 5 . Zur Abrundung seines eigenen Erlebnisberichts zieht Castiglioni auch Berichte früherer Reisender zu Rate. Benutzt wird vor allem die 1770/ 1771 erschienene englische Übersetzung (Travels in North America) von Pehr Kalms Resa till norra America (z. B. 1,164, 168, 192, 393). Daneben verwendet er botanische Fachliteratur (vor allem Linné und Buffon). Teileditionen des Textes wurden von Cerruti 1996 und Clerici 2008 besorgt. Eine vollständige Edition hat Cerruti angekündigt (bislang nicht erschienen). Eine deutsche Übersetzung des ersten Bandes des Viaggio wurde noch im 18. Jahrhundert veröffentlicht (1793). Eine moderne Übersetzung ins Englische mit Kommentierung der naturwissenschaftlichen Beobachtungen von Antonio Pace folgte 1983. Auf die sprachlichen Besonderheiten des Textes gehen die vorliegenden Ausgaben nur am Rande ein. Um das lexikalische Interesse des Textes zu veranschaulichen, wird im Folgenden eine exemplarische Auswahl von Belegen aus Castiglioni 1790 zusammengestellt, die lexikographisch bislang erst mit späterer Datierung oder überhaupt noch nicht erfasst sind. Als Beispiele werden Wörter englischer und indigener Herkunft sowie der botanische Wortschatz gewählt. Als lexikographische Referenz dient der GRADIT, an den sich auch die Definitionen anlehnen. 2. Anglizismen bacon m. ‘pancetta di maiale affumicata’ (1,346: «Questa carne salata, ed affumicata chiamasi Bacon»). GRADIT: 1913. Engl. bacon. barrel m. ‘nome di varie unità di misura non decimale anglosassoni per liquidi e aridi’ (1,322 in nota: «Un Barrel di riso è cinquecento libbre Inglesi di peso»). GRADIT: 1913. Engl. barrel. bushel m. ‘unità di misura di capacità, usata in Inghilterra e negli Stati Uniti d’America per aridi e fluidi, equivalente a circa 36 litri (1,73: «Il frumento ren- 5 Cfr. dazu Salvucci 2004. - Alle Stellenangaben beziehen sich auf Band und Seite der Ausgabe 1790. Luigi Castiglionis Viaggio 375 de circa 4 Bushels, ogni acre, ed ogni Bushel si vende d’ordinario una pezza di Spagna»). GRADIT: 1892. Engl. bushel. fathom m. ‘unità di misura di lunghezza usata nei paesi anglosassoni’ (1,7 in nota: «Il fathom è di 6 piedi Inglesi»). GRADIT: 1875. Engl. fathom. hemlock m. ‘legno di tre specie di alberi del genere Tsuga dell’America settentrionale’ (2,321: «L’Abete detto Hemlock [...] è comunissimo nei boschi del Massachusset»). GRADIT: 1892. Engl. hemlock. spruce m. ‘nome dato in commercio ad alcune varietà di abeti del genere Picea; il legno ricavato da tali piante (1,56: «Le loro bevande sono Rum misto con acqua, e birra ottenuta dallo Spruce [...]»; weitere 1,64, 117, 138; 2,33). GRADIT: 1930. Engl. spruce. toddy m. ‘bevanda calda a base di whisky e gin con aggiunta di acqua, zucchero e spezie’ (1,25: «il toddy, che è rum misto con acqua»). GRADIT: 1825. Engl. toddy. waggons m.pl. ‘vagoni, carri o carrozze ferroviarie’ (1,401: «certi carri pesantissimi chiamati Waggons»). GRADIT s.v. vagone: 1838. Engl. wagon / waggon. yachts m.pl. ‘tipo di navi’ (1,168: «s’impiegano continuamente moltissimi Yachts, che rimontano, e discendono il fiume fra Albany, e Nuova-York»). GRADIT: 1802. Engl. yacht. 3. Wörter indigener Herkunft coguar m. ‘puma’ (2,156: «il Coguar di Buffon»). GRADIT s.v. coguaro: 1838. Tupi çuaçuarana (über fr. couguar). toma-hawk m. ‘arma tribale degli Indiani d’America costituita da un’ascia con lama di pietra o di ferro, spec. ornata di piume’ (1,75: «Il Toma-hawk specie di mazza terminata da una pesante palla»; 1,253 in nota). GRADIT s.v. tomahawk: 1801. Algonkin tamahacan (über engl. tomahawk). wampums / vampums m.pl. ‘collane di conchiglie’ (1,66: «fascie di tela coperte di Wampums»; 1,153: «braccialetti, Vampums, granelli di vetro da collane»). GRADIT s.v. wampum: 1927. Algonkin wampumpeag (über engl. wampum). wigwams m.pl. ‘tende a forma di cupola costituite da un’ossatura di rami ricoperta da pelli, stuoie o cortecce d’albero’ (2,208: «Wigwams o Capanne»). GRADIT: 1801. Chippewa wigwaum (über engl. wigwam). Wolfgang Schweickard (Saarbrücken) 376 4. Indigene Ethnien Nordamerikas abenaquis m.pl. (1,66: «Derivano essi dalla antica Nazione degli Abenaquis [...]»). GRADIT Ø. cerochesi m.pl. (1,258: «Unitamente a questo [vocabolario] ebbi pure quello dei Cerochesi i quali, benchè confinanti coi primi [scil. i Selvaggi Chactaws], hanno un linguaggio affatto diverso»). GRADIT Ø. chactaws m.pl. (1,252: «all’Occidente sono i Creek ed i Chactaws»). GRADIT Ø. chickesaws / chicasaws m.pl. (1,256: «Ho piacere di sentire, che i Chactaws, e i Chickesaws formino un sol popolo»; 2,292: «evvi la nazione de’ Chicasaws, che estende il suo territorio fino presso il Missisipi»). GRADIT Ø. creek m.pl. (1,252s.: «[...] furono sorpresi dai Creek, che molti ne uccisero»). GRADIT: 1940. matowacs m.pl. (1,190: «i Matowacs, che possedevano l’Isola Lunga»). GRADIT Ø. mohawks m.pl. (1,66: «Derivano essi dalla antica Nazione degli Abenaquis, che abitavano altre volte i paesi compresi sotto il nome di Nuova-Inghilterra, e sono misti coi discendenti dei Mohawks venuti dal Canadà, e con alcuni figlj di Francesi ammogliati con donne Selvagge»). GRADIT: 1895. mohegans m.pl. (1,74: «al Nord-Est dimoravano i Churchers, e i Mohegans»). GRADIT s.v. moicano: 1895. 5. Botanischer Wortschatz azalea f. ‘pianta del genere Azalea’ (1,235: «In questi boschi si osservano l’Azalea, quella specie d’Alloro chiamata Sweet-Bay, ed il così detto Gelsomino giallo, che è la Bignonia sempervivens del Linneo»). GRADIT: 1819. bartsia f. ‘pianta erbacea parassita o semiparassita del genere Bartsia’ (2,206: «quella specie di Bartsia non era ancora bene esaminata»). GRADIT: 1892. betula f. ‘pianta forestale del genere Betula’ (2,207: «nostra Betula bianca europea»). GRADIT: 1829. bignonia f. ‘pianta del genere Bignonia’ (2,213: «Bignonia radicante»). GRADIT: 1829. calicanto m. (2,216: «Trovasi il Calicanto nelle due Caroline, nella Georgia, ed anche nelle parti interne della Virginia»). GRADIT: 1820. Luigi Castiglionis Viaggio 377 catalpa f. ‘genere di piante arboree delle Bignoniacee che forniscono un ottimo legname da carpenteria’ (1,173: «alcuni pochi alberi di Catalpa»). GRADIT: 1830. ceanoto m. ‘arbusto del genere Ceanoto’ (2,218: «Il Ceanoto d’America»). GRA- DIT: 1830. celastro m. ‘pianta del genere Celastro’ (2,220: «Il Celastro della Virginia»). GRADIT: 1875. chionanto m. ‘arbusto del genere Chionanto’ (2,224: «Il Chionanto è uno de’ più curiosi vegetabili dell’America-Unita»). GRADIT: 1830. coreopside f. ‘erba del genere Coreopside’ (2,225: «È la Coreopside un’erba a fiori radiati»). GRADIT: vor 1800. corifa f. ‘palma tropicale del genere Corifa’ (2,227: «Non fu descritta dal Linneo questa specie di Corifa»). GRADIT: 1830. illicio m. ‘pianta aromatica del genere Illicio’ (2,156: «la Magnolia, l’Illicio, il Calicanto, ed il Ginseng»). GRADIT: 1834. kalmia f. ‘arbusto sempreverde, diffuso nell’America settentrionale’ (1,173: «In questa latitudine [...] cresce abbondantissima la Kalmia a fior grande»). GRADIT: 1895. licuala f. ‘palma del genere Licuala’ (2,125: «foglie di licuala»). GRADIT: 1957. 6. Zusammenfassung Die große (und beliebig erweiterbare) Anzahl von Belegen aus Castiglioni, die gegenüber dem GRADIT rückdatiert werden können oder bislang lexikographisch noch nicht erfasst sind, unterstreicht zweierlei: (1) Nicht-kanonische Bereiche des Wortschatzes, wie im gegebenen Fall Entlehnungen aus dem Englischen und aus indigenen Sprachen sowie die speziellere Fachterminologie sind lexikographisch immer noch unzureichend dokumentiert. (2) Heute ist es ein Leichtes, auf ältere, bislang kaum zugängliche Quellen zurückzugreifen (auch die Belege aus Castiglioni lassen sich wiederum ohne großen Aufwand weiter zurückdatieren). Die Ausgangssituation für die lexikographische Grundlagenforschung erscheint daher in völlig neuem Licht. Wolfgang Schweickard (Saarbrücken) 378 Leider sind Wörterbücher wie der GRADIT nicht primär wissenschaftlich konzipiert, sondern zielen auf einen breiteren Käuferkreis. Eigene Grundlagenforschung wird nur in Ausnahmefällen betrieben. Die Aufarbeitung der neuen Quellen wird deshalb noch geraume Zeit in Anspruch nehmen. Hilfreich für die Forschung sind vor allem kommentierte Neuausgaben älterer Drucke. Wünschenswert wäre, dass solche Aufgaben in noch höherem Maße auch im Rahmen akademischer Qualifikationsarbeiten bewältigt würden. Literaturhinweise Originaldruck Castiglioni, Luigi, Viaggio negli Stati Uniti dell’America settentrionale fatto negli anni 1785, 1786, e 1787, 2 vol., Milano, 1790. (Teil-)Ausgaben und Übersetzungen Castiglioni, Luigi, Lettere dalla Francia (1784) / Viaggio in Inghilterra (1784-1785), edd. Paolo L. Bernardini / Diego Lucci, Novi Ligure, Città del Silenzio, 2009. Castiglioni, Luigi, Reise durch die Vereinigten Staaten von Nord-Amerika, aus dem Italienischen übersetzt von Magnus Petersen, vol. 1 [mehr nicht erschienen], Memmingen, bey Andreas Seyler, 1793. Castiglioni, Luigi, Viaggio negli Stati Uniti dell’America settentrionale, ed. Marco Cerruti, Modena, Mucchi Editore, 1996. Castiglioni, Luigi, Viaggio negli Stati Uniti dell’America settentrionale, in: Clerici, Luca (ed.), Scrittori italiani di viaggio, vol. 1: 1700-1861, Milano, Mondadori, 2008, 1558-1595. Castiglioni, Luigi, Viaggio. Travels in the United States of North America 1785-1787. Translated and edited by Antonio Pace. With Natural History Commentary and Luigi Castiglioni’s Botanical observations translated by Antonio Pace and edited by Joseph & Nesta Ewan, Syracuse, University Press, 1983. Castiglioni, Luigi, Vocabulary of Cherokee, ed. Claudio R. Salvucci, Bristol (Pennsylvania), Evolution Publishing, s.a. [2004]. Sonstige Literatur und Wörterbücher DEI = Battisti, Carlo / Alessio, Giovanni, Dizionario etimologico italiano, vol. 1: acaudisono (1950), vol. 2: caudotomia-fatica (1951), vol. 3: faticabilità-medusa (1952), vol. 4: medusa 3 -rabbò (1954), vol. 5: rabbruzzare-z (1957), Firenze, Barbèra, 1950- 1957. Di Capua, Giovanni / Saibene, Luigi, Luigi Castiglioni nel paese degli uomini liberi, Soveria Mannelli, Rubbettino, 2005. Luigi Castiglionis Viaggio 379 GDLI = Battaglia, Salvatore, Grande dizionario della lingua italiana, 21 vol., Torino, UTET, 1961-2002. GRADIT = De Mauro, Tullio, Grande dizionario italiano dell’uso, 8 vol., Torino, U- TET, 1999-2007. Kalm, Pehr, En resa till norra America, vol. 1 (1753), vol. 2 (1756), vol. 3 (1761), Stockholm, tryckt på Lars Salvii kostnad, 1753-1761. Kalm, Pehr, Travels into North America. Translated into English by John Reinhold Forster, vol. 1 (1770), vol. 2 und 3 (1771), Warrington, printed by William Eyres, 1770-1771.