Niederländische Sprachwissenschaft
Eine Einführung
1023
2013
978-3-8233-7771-9
978-3-8233-6771-0
Gunter Narr Verlag
Ute K. Boonen
Ingeborg Harmes
Michaela Poß
Truus Kruyt
Gunther De Vogelaer
Dieser Band führt kompakt und umfassend in die Sprachwissenschaft und Geschichte des Niederländischen ein. Zehn Kapitel bieten eine Übersicht über die wichtigsten Teilgebiete der niederländischen Sprachwissenschaft, unter anderem Semantik, Morphologie und Pragmatik. Die Autoren, die aus den Niederlanden, Belgien und Deutschland stammen, thematisieren auch die nahe Verwandtschaft zwischen der deutschen und niederländischen Sprache sowie die Unterschiede zwischen den verschiedenen Varietäten des Niederländischen. Die Einführung ist für die Verwendung im universitären Unterricht durch Lehrende und Studierende - auch mit nur geringen Niederländischkenntnissen - gleichermaßen geeignet. Übungen und kleinere Arbeitsaufträge jeweils am Kapitelende regen die Studierenden zur weiteren Beschäftigung an und machen mit den verschiedenen sprachwissenschaftlichen Methoden bekannt. Zahlreiche Beispiele und graphische Darstellungen sorgen für eine anschauliche und ansprechende Vermittlung der Inhalte.
<?page no="0"?> Ute K. Boonen/ Ingeborg Harmes in Zusammenarbeit mit Michaela Poß, Truus Kruyt und Gunther De Vogelaer Niederländische Sprachwissenschaft Eine Einführung <?page no="3"?> Ute K. Boonen / Ingeborg Harmes in Zusammenarbeit mit Michaela Poß, Truus Kruyt und Gunther De Vogelaer Niederländische Sprachwissenschaft Eine Einführung <?page no="4"?> Dr. Ute K. Boonen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung für Niederländische Sprache und Kultur an der Universität Duisburg-Essen. Ingeborg Harmes, M.A., lehrt am Institut für Niederländische Philologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Dieses Projekt wurde finanziell unterstützt von der Nederlandse Taalunie . Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 ∙ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 ∙ D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr-studienbuecher.de E-Mail: info@narr.de Printed in the EU ISSN 0941-8105 ISBN 978-3-8233-6771-0 <?page no="5"?> Vorwort Gute Bücher über die niederländische Sprache und Sprachwissenschaft gibt es schon. Und es gibt auch im Internet vielfältige Informationen. Warum sollte man also ein Buch zur niederländischen Sprachwissenschaft schreiben? Nun, nahezu alle Standardwerke der Niederlandistik sind auf Niederländisch verfasst, was für Studienanfänger und andere Interessierte ohne ausreichende Niederländischkenntnisse ein Problem darstellt. Online Informationen wiederum sind oft weitgefächert und dadurch nicht immer überschaubar. Außerdem besteht immer wieder die Gefahr, dass Links nicht mehr existieren oder unauffindbar sind. Bücher leiden weniger darunter und zudem kann man mit einem Text auf Papier besser lernen, weil man unterstreichen und markieren kann. Deshalb diese Einführung in die niederländische Sprachwissenschaft auf Deutsch. Das Buch umfasst zehn Kapitel, die zwar aufeinander aufbauen, die aber auch getrennt voneinander verständlich sind und in einer anderen Reihenfolge gelesen werden können. Zu jedem Kapitel gehören neben einem Textteil auch Aufgaben. Lösungsvorschläge können unter der URL http: / / www.narr-studienbuecher.de eingesehen werden. Dieses Projekt konnten wir nicht alleine in die Tat umsetzen. Wir danken unseren Mitautoren, Michaela Poß, Truus Kruyt und Gunther De Voghelaer, für ihre konstruktive Mitarbeit und die inhaltliche Bereicherung durch ihre Beiträge. Viele Kolleginnen und Kollegen der intra- und extramuralen Niederlandistik waren bereit, die Kapitel einer kritischen Begutachtung zu unterziehen und durch ihr Fachwissen zu bereichern. Dafür danken wir: Amand Berteloot, Ronny Boogaart, Gabriële Boorsma, Heinz Eickmans, Bernhard Fisseni, Joop van der Horst, Karolien Janssens, Jürgen Jaspers, Benina Knothe, Esther de Leeuw, Willy Martin, Anneke Neijt, Daniël Van Olmen, Michaela Poß, Ariane van Santen, Ton van der Wouden und Chris De Wulf. Für die tollen maßgefertigten Illustrationen danken wir Helmut Aretz. Die Übersetzung der Kapitel 3 und 8 aus dem Niederländischen ins Deutsche erfolgte in angenehmer Zusammenarbeit mit Kerstin Kamp und Bettina Anhuth. Nicole Dorweiler und Bernhard Fisseni haben mit großer Sorgfalt das Korrekturlesen übernommen, bei Layout und Formatierung wurden wir von Nicole Dorweiler und Michael Wentker unterstützt. Dem Narr-Verlag danken wir für das uns entgegengebrachte Vertrauen, insbesondere Bernd Villhauer, der sich für dieses Projekt persönlich eingesetzt hat, und Tillmann Bub und Karin Burger. Schließlich möchten wir der Nederlandse Taalunie für die finanzielle Unterstützung des Projektes danken. Amsterdam/ Münster, im September 2013 Ute K. Boonen & Ingeborg Harmes <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort .............................................................................................................5 1. Die niederländische Sprache ...............................................................11 1.1 Die Verbreitung des Niederländischen .................................................................12 1.1.1 Niederlande................................................................................................................12 1.1.2 Belgien.........................................................................................................................13 1.1.3 Übersee .......................................................................................................................15 1.2 Die Tochtersprache Afrikaans ................................................................................19 1.3 Standardsprache ........................................................................................................20 1.4 Sprache und Sprachwissenschaft............................................................................23 1.4.1 Sprachwissenschaft ...................................................................................................24 1.4.2 Sprachen klassifizieren .............................................................................................27 1.5 Aufbau und Ziele dieses Buchs ...............................................................................28 2. Die Geschichte des Niederländischen ................................................31 2.1 Die indoeuropäische Sprachfamilie .......................................................................32 2.1.1 Germanische Sprachen ............................................................................................33 2.1.2 Sprachwandel: Lautverschiebungen ......................................................................34 2.2 Sprachstadien des Niederländischen .....................................................................36 2.2.1 Altniederländisch ......................................................................................................37 2.2.2 Mittelniederländisch ................................................................................................38 2.2.3 Neuniederländisch ....................................................................................................44 2.2.4 Modernes Niederländisch .......................................................................................50 2.3 Zusammenfassung ....................................................................................................52 3. Wörter und ihre Bedeutung .................................................................55 3.1 Wissenschaftliche Erforschung des Wortschatzes ..............................................56 3.1.1 Vom Wort zur Bedeutung; Beziehungen zwischen Wortbedeutungen ..........57 3.1.2 Vom Referenten zum Wort; semantische Beziehungen zwischen Wörtern ...61 3.2 Dynamik im Wortschatz ..........................................................................................65 3.3 Wörterbücher ............................................................................................................67 3.3.1 Wörterbucharten .......................................................................................................67 3.3.2 Aufbau von Wörterbüchern ....................................................................................69 3.3.3 Qualität und Zuverlässigkeit ...................................................................................72 3.4 Zusammenfassung ....................................................................................................73 <?page no="8"?> Inhaltsverzeichnis 8 4. Wörter und ihre Struktur .....................................................................78 4.1 Wortbildungseinheiten ............................................................................................78 4.1.1 Morpheme ..................................................................................................................79 4.1.2 Affixe............................................................................................................................81 4.2 Wortbildung ...............................................................................................................83 4.2.1 Derivation ...................................................................................................................83 4.2.2 Komposition ..............................................................................................................87 4.2.3 Konversion .................................................................................................................91 4.2.4 Weitere Wortbildungsprozesse...............................................................................92 4.3 Flexionsmorphologie ................................................................................................95 4.3.1 Flexion bei Nomen ...................................................................................................96 4.3.2 Flexion bei Adjektiven ..............................................................................................98 4.3.3 Flexion bei Verben ....................................................................................................98 4.4 Zusammenfassung ................................................................................................. 100 5. Sätze und ihre Struktur ......................................................................103 5.1 Konstituenten ......................................................................................................... 103 5.1.1 Arten von Konstituenten ...................................................................................... 103 5.1.2 Köpfe ........................................................................................................................ 105 5.1.3 Wortstellung ........................................................................................................... 106 5.1.4 Konstituententests ................................................................................................. 106 5.1.5 Rekursion ................................................................................................................ 108 5.1.6 Ambiguität............................................................................................................... 109 5.1.7 Koordination .......................................................................................................... 111 5.1.8 Subordination ......................................................................................................... 112 5.2 Sätze.......................................................................................................................... 113 5.3 Satzglieder ............................................................................................................... 116 5.3.1 Subjekt ..................................................................................................................... 116 5.3.2 Prädikat .................................................................................................................... 117 5.3.3 Direktes Objekt ...................................................................................................... 118 5.3.4 Indirektes Objekt ................................................................................................... 118 5.3.5 Präpositionalobjekt ................................................................................................ 120 5.3.6 Adjunkte .................................................................................................................. 120 5.4 Satzarten .................................................................................................................. 121 5.5 Zusammenfassung ................................................................................................. 123 6. Laute und ihre Systeme ......................................................................125 6.1 Das phonetische Alphabet .................................................................................... 126 6.2 Laute beschreiben .................................................................................................. 127 6.2.1 Konsonanten ........................................................................................................... 128 <?page no="9"?> Inhaltsverzeichnis 9 6.2.2 Vokale....................................................................................................................... 132 6.2.3 Prosodie ................................................................................................................... 134 6.3 Phonetik und Phonologie ..................................................................................... 135 6.4 Variation in der Aussprache: Allophone ............................................................ 138 6.5 Phonologische Prozesse ........................................................................................ 139 6.5.1 Auslautverhärtung ................................................................................................. 141 6.5.2 Assimilation............................................................................................................. 142 6.5.3 Weitere phonologische Prozesse ......................................................................... 144 6.6 Zusammenfassung ................................................................................................. 145 7. Sprache im Kontext ............................................................................149 7.1 Das Kommunikationsmodell ............................................................................... 150 7.2 Der Sender als Ausgangspunkt ............................................................................ 152 7.3 Kooperationsprinzip .............................................................................................. 153 7.3.1 Erfolgreiche Kommunikation .............................................................................. 154 7.3.2 Zwischen den Zeilen lesen ................................................................................... 157 7.4 Sprechakte ............................................................................................................... 158 7.5 Indirektheit und Höflichkeit ................................................................................ 160 7.6 Pragmatische Angemessenheit bei Anredeformen........................................... 164 7.7 Zusammenfassung ................................................................................................. 167 8. Variation in Sprache ...........................................................................169 8.1 Variationslinguistik ................................................................................................ 170 8.2 Variationsarten ....................................................................................................... 171 8.3 Geografische oder 'horizontale' Variation ......................................................... 172 8.4 Soziale oder 'vertikale' Variation ......................................................................... 177 8.4.1 Der Aufschwung der gesprochenen Standardsprache ..................................... 177 8.4.2 Quantitativ soziolinguistische Forschung ......................................................... 179 8.4.3 Im Kopf des Sprechers: Attitüde-Forschung .................................................... 183 8.5 Aktuelle Entwicklungen in der niederländischen Sprache.............................. 184 8.5.1 Standardisierung abgeschlossen? ........................................................................ 184 8.5.2 Dialektrenaissance und Anerkennung von Mundarten................................... 185 8.5.3 Post-Standardvarietäten........................................................................................ 187 8.5.4 Neue Variation: vom Weltniederländisch zu straattaal und Murks .............. 188 8.5.5 'Superdiversity' auf dem linguistischen Markt: von Lekten zu Sprechstilen? ........................................................................................................... 190 8.6 Zusammenfassung ................................................................................................. 191 <?page no="10"?> Inhaltsverzeichnis 10 9. Sprache in Bewegung .........................................................................194 9.1 Der Prozess des Sprachwandels ........................................................................... 195 9.1.1 Ursachen für Sprachwandel.................................................................................. 197 9.1.2 Sprachwandel oder Sprachverfall? ....................................................................... 200 9.2 Wie untersucht man Sprachwandel? ................................................................... 200 9.3 Lexikalischer Wandel............................................................................................. 202 9.4 Bedeutungswandel ................................................................................................. 206 9.5 Lautwandel .............................................................................................................. 208 9.6 Morphologischer Wandel ..................................................................................... 210 9.7 Syntaktischer Wandel ............................................................................................ 212 9.8 Pragmatischer Wandel .......................................................................................... 215 9.9 Zusammenfassung ................................................................................................. 217 10. Methoden der Sprachwissenschaft ....................................................220 10.1 Empirische Sprachwissenschaft: Korpuslinguistik........................................... 223 10.1.1 Korpusarten und Formen der Korpusannotation ............................................ 224 10.1.2 Die Analyse von Korpusdaten ............................................................................. 227 10.1.3 Das Internet als Korpus......................................................................................... 229 10.2 Feldforschung ......................................................................................................... 230 10.3 Experimentelle Sprachwissenschaft: Psycholinguistik .................................... 232 10.4 Zusammenfassung ................................................................................................. 235 Rechtsnachweise ..........................................................................................238 Literaturverzeichnis .....................................................................................239 Sachwortregister ..........................................................................................250 <?page no="11"?> 1. Die niederländische Sprache Ingeborg Harmes & Ute K. Boonen Eines sollte man trotz allem nicht tun, nämlich die niederländische Sprache in aller Arroganz zu unterschätzen. Gerade wir Deutschen können dieser Neigung nur schwer widerstehen. Bester Beweis war mein deutscher Schwager: Der meinte, ich solle endlich aufhören, über Nederlands zu klagen, so schwer könne das ja alles nicht sein, es ginge doch bloß um eine Art deutschen Dialekt. Kerstin Schweighöfer, Auf Heineken könn wir uns eineken Derzeit sprechen etwa 23 Mio. Menschen Niederländisch als Muttersprache und damit gehört die niederländische Sprache in Europa zu den mittelgroßen Sprachen. Als große europäische Sprachen gelten z.B. Deutsch mit mehr als 90 Mio. und Englisch mit mehr als 50 Mio. Sprechern; kleine Sprachen sind Schwedisch und Dänisch mit 8 bzw. 5 Mio. Sprechern. Wenn man berücksichtigt, dass weltweit schätzungsweise 6000 Sprachen existieren, hat das Niederländische dennoch eine ziemlich starke Position, denn es gehört zu den 40 meistgesprochenen Sprachen der Welt. Klischees und Halbwissen über die niederländische Sprache wie im obenstehenden Beispiel sind nach wie vor im Umlauf. Wer über die niederländische Sprache schreibt, darf bei Leserinnen und Lesern außerhalb des niederländischen Sprachgebietes keine auch nur einigermaßen angemessene Vorstellung vom Gegenstand der Darstellung voraussetzen; zu sehr ist das Bild des Niederländischen fast allgemein von Vorurteilen und Mißverständnissen verzerrt. (Vekeman & Ecke 1992: 1) Um einige Missverständnisse gleich auszuräumen: Niederländisch wird oft Holländisch, die Niederlande oft 'Holland' genannt. Genau wie England nur ein Teil von Großbritannien ist, ist Holland eigentlich nur ein Teil der Niederlande. Nordholland und Südholland sind zwei Provinzen im Westen der Niederlande. Die größten Städte sowie das politische und ökonomische Zentrum liegen in dieser Region. Vielleicht weil Hollands kürzer und dadurch praktischer ist als Nederlands, verwenden auch die Niederländer selbst häufig Holländisch statt Niederländisch für ihre Sprache. In Belgien wird die niederländische Sprache häufig Vlaams genannt (man spricht hier nicht Hollands! ). Eigentlich bezieht sich 'flämisch' bzw. Vlaams aber auf die Region Flandern und ist der Name von zwei Dialekten, dem West- und Ostflämisch, die im Westen Flanderns gesprochen werden. Offiziell gibt es weder die Sprache 'Holländisch' noch die Sprache 'Flämisch', sondern nur die Sprache 'Niederländisch'. <?page no="12"?> 1. Die niederländische Sprache 12 1.1 Die Verbreitung des Niederländischen Spuren der niederländischen Sprache findet man weltweit. Die vielen Handels- und Kulturkontakte innerhalb und außerhalb Europas haben dazu geführt, dass wir bis heute noch sprachliche Einflüsse in verschiedenen Regionen der Welt finden. Dabei handelt es sich hauptsächlich um niederländische Wörter, die in anderen Sprachen übernommen wurden. Viele dieser Wörter beziehen sich auf das alltägliche Leben, die Seeschifffahrt, den amtlichen Bereich und den Handel. Beispiele für solche Wörter sind bīru (bier) im Japanischen, brote (brood) im brasilianischen Portugiesisch, smear-case (smeerkaas) im amerikanischen Englisch, mápka (map) und kanál (kanaal) im Russischen, gávan (haven) und kontorá (kantoor 'Büro') im Polnischen, kasir (kassier) im Javanischen oder notāris (notaris) und kakkussi-ya (kakhuis) im Singalesischen (Sri Lanka). In der Stadt New York erinnern bestimmte Ortsnamen noch an die niederländischen Anwesendheit im 17. Jahrhundert: Broadway (Breede Weg), Brooklyn (Breukelen), Harlem (Haarlem) oder Coney Island (konijneneiland 'Kanincheninsel'). Derzeit ist Niederländisch die offizielle Amtsprache in den Niederlanden, Belgien, auf den Karibikinseln Aruba, Curaçao, Sint Maarten, Bonaire, St. Eustatius und Saba sowie in Suriname. In den folgenden Abschnitten wird die Position des Niederländischen in den jeweiligen Gebieten vorgestellt. Anschließend gehen wir noch kurz auf die niederländische Sprache in der ehemaligen Kolonie Niederländisch- Ostindien, heute Indonesien, und die Tochtersprache Afrikaans ein. 1.1.1 Niederlande Niederländisch ist die offizielle Amtssprache für die etwa 16,7 Mio. Einwohner der Niederlande. 1 Außerdem hat seit 1995 auch Friesisch (Fries) den Status einer offiziellen Sprache, allerdings nur in der Provinz Friesland. Es gibt etwa 350.000 Sprecher des Friesischen. Friese tolk helpt advocaat Vaatstra-verdachte LEEUWARDEN - De advocaat van de veeboer uit Oudwoude die wordt verdacht van de moord op Marianne Vaatstra laat zich bijstaan door een Friese tolk. De rechter-commissaris spreekt weliswaar Fries, maar advocaat Jan Vlug van de 45jarige verdachte is de Friese taal niet machtig. Daarom werd hij donderdag al bijgestaan door een beëdigd vertaler. In Friesland mag een verdachte op de rechtbank altijd de Friese taal gebruiken. Leeuwarder Courant, 23. 11. 2012 1 Am Kapitelende befindet sich eine Quellenaufstellung zu den Daten zu Sprecher- und Bevölkerungszahlen. <?page no="13"?> 1.1 Die Verbreitung des Niederländischen 13 Außer im familiären Umfeld wird Friesisch in bestimmten Bereichen wie in der Schule, der Verwaltung und der Rechtssprechung verwendet (s. Textbeispiel). Weder die niederländische noch die friesische Sprache sind übrigens im Grundgesetz festgelegt. Neben Friesisch sind Limburgisch (Limburgs) und Nedersaksisch seit 1997 bzw. 1996 offiziell als Regionalsprache (streektaal) anerkannt. Die Provinzen und Gemeinden können ihre eigene regionale Sprache durch diesen Status fördern. So subventionieren sie beispielsweise lokale Theatervereinigungen und lokale Radiosender, die auch in der eigenen Regionalsprache senden. Außerdem werden in den Niederlanden noch - ohne offiziellen Status - die Sprachen der Immigranten gesprochen, wie Türkisch, Marrokanisch-Arabisch, Papiamento (vgl. 1.1.3), Indonesisch und Sranantongo (vgl. 1.1.3). 1.1.2 Belgien Belgien hat drei offizielle Sprachen: Niederländisch, Französisch und Deutsch. Von den etwa 11 Mio. Einwohnern sprechen über 6 Mio. Belgier Niederländisch als Muttersprache, 4,6 Mio. Französisch und circa 150.000 Deutsch. Der belgische Föderalstaat ist in Gemeinschaften und Regionen eingeteilt. Die Gemeinschaften (gemeenschappen) sind sprachlich-kulturell gestaltet und in eine flämische, französische und deutschsprachige Gemeinschaft gegliedert. Die Regionen (gewesten) sind politisch-administrativ gestaltet, im Norden liegt die Region Flandern (Vlaanderen), in der Mitte die Region Brüssel-Hauptstadt (Brussel-Hoofdstad) und im Süden die Region Wallonien (Wallonië). Zudem werden noch - ohne offiziellen Status - u.a. die Immigrantensprachen Italienisch, Marrokanisch-Arabisch, Portugiesisch und Türkisch gesprochen. Die geografische Verteilung der drei offiziellen Sprachen ist in Artikel 4 des Grundgesetztes festgelegt. België omvat vier taalgebieden: het Nederlandse taalgebied, het Franse taalgebied, het tweetalige gebied Brussel-Hoofdstad en het Duitse taalgebied. Elke gemeente van het Rijk maakt deel uit van een van deze taalgebieden. De grenzen van de vier taalgebieden kunnen niet worden gewijzigd of gecorrigeerd dan bij een wet, aangenomen met de meerderheid van de stemmen in elke taalgroep van elke Kamer, op voorwaarde dat de meerderheid van de leden van elke taalgroep aanwezig is en voor zover het totaal van de ja-stemmen in beide taalgroepen twee derden van de uitgebrachte stemmen bereikt. Belgische Grondwet, Gecoördineerde tekst van 17 februari 1994 Laut Gesetz besteht Belgien also aus vier Sprachgebieten (s. Abb. 1.1): dem niederländischen Sprachgebiet in Flandern (1), dem französischen Sprachgebiet in Wallo- <?page no="14"?> 14 nien (2), dem deutsche zweisprachigen Sprachg Darüber hinaus gib In diesen Gemeinden, festgelegt, dass die Einw jeweils anderen Sprach schen Gebiet liegt, kan gen beantragen, Formu Belgien allerdings nicht Ab Wer in Belgien ist, bem anhört als in den Niede 1) Ik heb een h 2) Allee ja bij doen dan d fv700025) 3) We gaan vo Einige typische Merkm schatz: schoon statt moo andere Merkmale sind jij und die grammatisc bezuinigen. In den letzt te Form des Niederlän Niederländischen in de schen ist unter dem N Verkavelingsvlaams (s. T 1. Die niederländis en Sprachgebiet in den Ostkantonen bei Eupen (3 gebiet in der Region Brüssel-Hauptstadt (4). bt es die sog. Fazilitäten-Gemeinden (faciliteiteng die unmittelbar an den Sprachgrenzen liegen, ist wohner das Recht haben, gewisse Verwaltungsdie he zu erhalten: In einer Gemeinde, die eigentlich i nn der Bürger auch auf Niederländisch oder Deuts ulare erhalten etc., und umgekehrt. Regionalsprach t anerkannt. bb. 1.1: Sprachgebiete in Belgien (wikimedia) merkt schnell, dass sich die gesprochene Sprache d erlanden: heel schoon kleedje gekocht in Antwerpen. manier van spreken zoudt de'd gij vijfentwintig dat wat zij daar zit te doen. (Corpus Gesproken N olgend jaar twee miljoen moeten bezuinigen. (ANS) male des Niederländischen in Flandern sehen wir oi, kleedje statt jurkje und die Aufforderung allee! st das Anredepronomen gij statt jij, die dialektale Fo che Konstruktion gaan moeten bezuinigen statt zu en Jahrzehnten sprechen immer mehr Flamen ein dischen, die kein Dialekt (mehr) ist, aber sich erh en Niederlanden unterscheidet. Diese Form des N Namen Verkavelingsvlaams oder auch tussentaal be Textbeispiel) ist ein äußerst facettenreiches Phäno 1 4 2 3 sche Sprache 3) und dem gemeenten). t gesetzlich enste in der m französich Leistunhen sind in dort anders keer beter Nederlands, ) r im Wortatt vooruit! , rm de*d für ullen moeten e bestimmheblich vom Niederländiekannt. Das men, das in <?page no="15"?> 1.1 Die Verbreitung des den letzten Jahren vers beschreiben lässt. Laat ons ne keer te go Dag Karl, gij ept voor o 1.1.3 Übersee Die Karibikinseln Seit der Verfassungsän derlande aus vier Länd den Karibikinseln Arub selbstständige Länder schen Inseln Bonaire, reich. Diese Inseln, di bezeichnet werden, hab Abb. 1.2 Niederländisch ist auf Sprache, die in der Ver ge und auch im Schulun spielt Niederländisch e im Alltag Papiamento auf Curaçao, Sint Maa Aruba und 2007 das Pa mento als offizielle Am sind. In einem Anpassu dass außer Niederländ chen zwischen den öffe im folgenden Fragme (s. Textbeispiel). s Niederländischen tärkt im Zentrum des Interesses steht, sich aber ni oei naar onszelf luisteren ons dienen dikken boek elemaal uitgelezen. Vertelt n http: / / www.vrt.be/ taal/ (13 nderung vom Oktober 2010 besteht das Königreic dern auf zwei Kontinenten: den Niederlanden in E ba, Curaçao und Sint Maarten (s. Abb. 1.2). Die mit einer eigenen Regierung. Auch die drei süd St. Eustatius und Saba (BES-eilanden) gehören z ie auch als Karibische Niederlande (Caribisch ben den Status einer besonderen Gemeinde der Ni 2: Karibischer Teil der Niederlande ( Rijksoverheid ) allen sechs Inseln eine der offiziellen Amtssprach rwaltung, für die Gesetzgebung und andere rechlic nterricht hauptsächlich verwendet wird. Als Umga eher eine kleine Rolle, denn die meisten Einwohne (Papiaments) auf Aruba, Curaçao und Bonaire od rten, Saba und St. Eustatius. 2003 haben das Parl arlament von Curaçao neben Niederländisch auch mtssprache eingeführt, wodurch beide Sprachen g ungsgesetz aus dem Jahr 2010 ist für die BES-Inseln disch auch Papiamento und Englisch Kommunik entlichen Behörden und den Bürgern sind, wie bei nt zum reibeweis 'Führerschein' der Behörde a 15 icht einfach ne keer. 3.11.2001) ch der Nie- Europa und Inseln sind damerikanizum König- Nederland) ederlande. hen und die che Vorgänangssprache er sprechen der Englisch lament von h das Papiagleichwertig n festgelegt, kationsspraispielsweise auf Bonaire <?page no="16"?> 1. Die niederländische Sprache 16 Pidimentu di eksámennan teóriko i práktiko pa e diferente tiponan di reibeweis i e atendementu atministrativo di esaki ta sosodé na Asuntunan Sivil. Pa informashon tokante reibeweis òf petishon pa hasi eksámen mester tuma kontakto ku Asuntunan Sivil. Het aanvragen van theoretische en praktijkexamens voor de verschillende rijbewijzen en het administratief afhandelen daarvan gebeurt bij Burgerzaken. Voor informatie over een rijbewijs of het aanvragen van een examen neemt u contact op met Burgerzaken. http: / / www.bonairegov.an (29.05.2013) Suriname Die Republik Suriname ist eine ehemalige niederländische Kolonie im Norden des südamerikanischen Kontinents. Aufgrund der Geschichte Surinames mit den Eroberungen durch Spanier und Engländer sowie die Sklaverei in den ersten zwei Jahrhunderten der niederländischen Kolonisierung hat sich die Bevölkerung zu einer multiethnischen Gesellschaft entwickelt. In Suriname, das seit 1975 unabhängig ist, werden deshalb um die 20 verschiedenen Sprachen gesprochen. Offizielle Amtssprache ist das Niederländische, das im Bildungswesen, der Verwaltung und im Rechtswesen verwendet wird. Etwa 60% der rund 531.000 Einwohner sprechen es als Muttersprache. Neben Niederländisch ist das Sranantongo (auch Surinamisch oder Taki-Taki genannt) die zweitwichtigste Sprache in Suriname, sie funktioniert als Lingua franca (lingua franca), d.h. als Kontakt- und Gemeinschaftssprache in dieser mehrsprachigen Gesellschaft. Andere Sprachen sind z.B. das Sarnami (surinamisches Hindustanisch), Javanisch, Chinesisch und die Marronsprachen, wie das Saramakanisch und Aukanisch. Das Niederländische in Suriname ist eine eigene Form der niederländischen Sprache, das sich durch den intensiven Sprachkontakt mit den vielen einheimischen Sprachen schwer beschreiben lässt. Schauen wir uns das Fragment aus einem literarischen Text genauer an (s. Textbeispiel unten). In den Dialogen dieses Textes fallen einige Eigenheiten sofort auf, wie z.B. der Gebrauch einer anderen Präposition (breng voor je huisarts statt breng naar je huisarts) oder das Hilfsverb gaan, um das Futur auszudrücken (Waar denk je dat je zo gaat gaan? ). Auch findet man ab und an Wörter oder kurze Sätze in Sranantongo, wie poku (muziek), Pe yu karta de? (Waar is je kaartje? ), nanga hebi alen disi (in deze zware regen) oder das Wörtchen nò? (niet waar? ), das am Ende einer Frage steht und bedeutet, dass man eine Bestätigung erwartet. <?page no="17"?> 1.1 Die Verbreitung des Niederländischen 17 De zinkplaten dakbedekking knapte toen de regen aarzelend zijn eerste druppels losliet. Tjrrrp tjrrrp tjrrrp. Als waterspetters op hete olie. Toen werd het zwaarder, luidruchtig geroffel. Regen speelde poku, danste patyanga op het dak. "Heb je al een nummer gehaald? " Voor een moment staarde ze de zuster verdwaasd aan, drong het niet door wat haar werd gevraagd. "Je nummer! " "Ik kom voor uitslag zuster. Alleen uitslag", klonk het toonloos. "Oh, voor resultáát kom je! Niet hier toch meisje. Is niet hier moet je zijn. Kijk, ga bij zuster daar, dan vraag je." Ze sprong op, liep haastig naar het loket waar ze haar kaartje eerder had laten zien. Er zat nu een ander. "Ik kom voor uitslag zuster, ik verzoek zuster mijn uitslag..." "Pe yu karta de? " Ze overhandigde haar kaartje. Kreeg het terug met een opgevouwen tweedruk die was dichtgeniet. "Breng voor je huisarts." Een enorm watergordijn werd vanuit de hemel neergelaten. Mensen verdrongen zich bij de uitgang. Ze wrong zich tussen hen door. "Hmmm meisje, je kan niet wachten nò, je hebt geen manieren nò? Man! Waar denk je dat je zo gaat gaan nanga hebi alen disi." Ze keek niet op, gaf geen antwoord. Marylin Simons, Carrousel Es ist jedoch in solchen Texten und Situationen schwierig festzulegen, was charakteristisch für das surinamische Niederländisch ist und was vielleicht kein 'gutes' Niederländisch ist. Denn in einer mehrsprachigen Gesellschaft besteht eine rege Interaktion zwischen den verschiedenen Sprachen, in Suriname vor allem zwischen Sranantongo und Niederländisch. Indonesien In Indonesien ist die offizielle Amtsprache das Bahasa Indonesia, was 'Sprache von Indonesien' bedeutet. Ende des 16. Jahrhunderts setzten die ersten Niederländer ihren Fuß auf den Indischen Archipel und bis 1949 war Indonesien die niederländische Kolonie Niederländisch-Ostindien. Aber im Gegensatz zu z.B. England und Spanien haben die Niederländer bewusst keinen Sprachimperialismus betrieben: Die allgemeine Verbreitung des Niederländischen unter der einheimischen Bevölkerung war sogar unerwünscht. Nur in der Verwaltung, der niederländischen Kirche und in einigen Schulen war die niederländische Sprache präsent. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Niederländisch gezielt an bestimmten Schulen eingeführt, die Ausbreitung in den Schulen erfolgte aber erst in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts. Während der japanischen Besetzung (1942-1945) wurde das Niederländische verboten. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es noch für eine kurze Zeit Pläne, die Position der niederländischen Sprache zu stärken, dafür war es aber zu spät. Kurz nach der Souveränitätsübertragung am 27.12.1949 wurde das Niederländische in Schule und Verwaltung abgeschafft. Die niederländische Sprache ist aber nie vollkommen aus Indonesien verschwunden. Es gibt z.B. eine ganze Reihe <?page no="18"?> 1. Die niederländische Sprache 18 von Lehnwörtern aus dem Niederländischen im Bahasa Indonesia, der indonesischen Sprache, und umgekehrt (vgl. Tab. 1.1). Hinzu kommt, dass heutzutage viele Menschen in Indonesien Niederländisch lernen. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Erstens ist Niederländisch als Quellensprache (bronnentaal) von großer Bedeutung in Studiengängen wie Geschichte, Rechtswissenschaften, Antropologie oder Sprachwissenschaft, weil viele ältere Quellen in niederländischer Sprache verfasst sind. Zweitens bestehen immer noch viele Familienkontakte mit den Niederlanden oder besteht der Wunsch, an einer niederländischen oder flämischen Universität zu studieren. Und drittens erhöht das Niederländische die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Niederländische Lehnwörter Indonesische Lehnwörter rebewis (rijbewijs) amok (probleem, ruzie) taplak (tafellaken) soebatten (lief vragen) sekolah (school) pienter (slim) hotperdom (godverdomme) toko (Chinese winkel) seterika (strijken) amper (nog maar net) Tab. 1.1: Lehnwörter Im ehemaligen Niederländisch-Ostindien wurde außer Niederländisch, Malaiisch, Javanisch und anderen einheimischen Sprachen auch eine Art Jugendsprache gesprochen: das Petjo. Vor allem Jungen haben das Petjo auf der Straße gesprochen. Op een dah ik ontmoet Si Bentiet bij 't sluis, haat noh srijven. Dese hij is een wonder fan de werelt. Ik seht: "Masa 'ntiet jij haat werken bij 't sluis! " Hij seh: "Als dese ik doet thuis, di-gampar ikke door mijn moeder! Dese hij is straf." En dan ik leest: "Ik mag niet brutaal zijn tegen de jifrouw." Ik seht: "In de eerste plaats fout dese. Moet júffrouw met korte u. Ajo, ferbeteren. Als niet, kwaai-kwaai djiefrouw straks. Overmaken lagi, als niet tambah extra honderd stuks strafrehel." En dan Si Bentiet hij kijk lang naar mij, tot ik wordt bang een beetje. Op een dag ontmoet ik Bentiet bij de sluis, hij gaat nog schrijven. Dit is een wonder van de wereld. Ik zeg: "Broer Bentiet, ga jij bij de sluis werken? " Hij zegt: "Als ik dit thuis doe, word ik door mijn moeder getekend (=gestraft). Dit is straf." En dan lees ik: "Ik mag niet brutaal zijn tegen de jifrouw." Ik zeg: "In de eerste plaats is dit fout. Júfrouw moet met een korte u. Kom op, verbeteren. Zo niet, dan is de jufrouw straks verschrikkelijk kwaad. Nog eens overmaken, zo niet, honderd stuks strafregels extra erbij doen." En dan kijkt Bentiet lang naar mij, tot ik een beetje bang word. Tjalie Robinson, Ik en Bentiet Die Niederländer dort ärgerten sich sehr über diese 'Krummsprache' (kromtaal), der Schriftsteller Tjalie Robinson setzte sich aber für diese Sprache ein und hat auch <?page no="19"?> 1.2 Die Tochtersprache Afrikaans 19 einige Geschichten in Petjo geschrieben. Die Mischung aus niederländischen und malaiischen Elementen ist in diesem Textbeispiel (s.o.) gut zu erkennen. Malaiische Wörter sind: masa (glaubst du), di-gampar (eins auf die Mütze bekommen), lagi (wieder) und tambah (noch mehr bekommen/ geben). Eine andere Wortstellung zeigt sich in op een dah ik ontmoet Si Bentiet oder en dan ik leest. Typisch sind auch Wortformen wie kwaai-kwaai (sehr wütend) oder Konjugationsformen wie ik seht, ik leest, hij kijk. Heute wird das Petjo nur noch vereinzelt gesprochen, man hört es z.B. noch bei den jährlichen Gedenktagen für die Opfer der japanischen Gefangenenlager oder bei Veranstaltungen zur indonesischen Kultur. 1.2 Die Tochtersprache Afrikaans Afrikaans ist kein Niederländisch, aber die beiden Sprachen ähneln sich so sehr, dass sich Sprecher des Niederländischen und des Afrikaans im Prinzip gegenseitig verstehen können. Vergleichen wir ein Textfragment aus Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry auf Afrikaans und Niederländisch (es hilft wenn man das afrikaanse Textfragment laut liest): A, klein prinsie, so het ek stadigaan iets van jou lewetjie en sy hartseer begin verstaan. 'n Baie lang tyd was die lieflikheid van die sonsondergang vir jou die enigste plesier op jou planeet - dit het ek agtergekom toe jy op die oggend van die vierde dag vir my sê: Ek hou baie van sonsondergange. Ach, kleine prins, zo heb ik langzamerhand je droefgeestige leventje leren begrijpen. Lange tijd had je geen andere afleiding dan het ondergaan van de zon. Dat hoorde ik de vierde dag, toen je zei: Ik houd erg van zonsondergangen. Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz Viele Wörter sind eindeutig zu erkennnen, auch wenn sie nicht gleich geschrieben werden (ek - ik, lewetjie - leventje, vir jou - voor jou, oggend - ochtend und agtergekom - achtergekomen). Auch die Wortstellung unterscheidet sich nicht stark vom Niederländischen. Nicht so leicht zu erkennen sind Wörter wie stadigaan für langzamerhand (nach und nach) und baie für erg (sehr). Die sprachlichen Ähnlichkeiten gehen auf die Entstehungsgeschichte des Afrikaans zurück: Es hat sich aus den holländischen (und seeländischen) Dialekten des 17. Jahrhunderts entwickelt, nachdem sich die Vereinigte Ostindische Handelskompanie (VOC) im heutigen Kapstadt niedergelassen hatte. Die Sprachsituation war von Anfang an sehr divers, außer Niederländisch gab es am Kap noch die europäischen Sprachen Deutsch und Französisch, das Portugiesisch-Malaiische, das die Sklaven sprachen, und die einheimischen afrikanischen Sprachen der San und Khoi-Khoi. Bis etwa 1800 hat sich in dieser Sprachvielvalt das Afrikaans als eigenständige Umgangssprache entwickelt. Nach- <?page no="20"?> 1. Die niederländische Sprache 20 dem die Briten 1806 die Herrschaft der Kapkolonie übernommen hatten, spielte das Englische eine immer größere Rolle. Erst 1925 wurde Afrikaans neben Englisch als offizielle Amtssprache anerkannt. Seit 1994 ist Afrikaans eine der elf offiziellen Sprachen in Südafrika mit etwa 6 Mio. Sprechern. Außerdem wird es in Namibia von einigen zehntausend Menschen gesprochen. Die Position des Afrikaans steht heutzutage ein wenig unter Druck, weil Englisch in immer mehr Bereichen wie in der Verwaltung, in der Rechtssprechung und in den Medien an Bedeutung gewinnt. Dennoch hat das Afrikaans keine schwache Position: Es ist die drittgrößte Sprache, die im familiären Umfeld gesprochen wird (nach Zulu und Xhosa), es existiert eine reiche afrikaanse Literatur und man kann Afrikaans nicht nur in Südafrika, sondern auch in Leiden oder Gent studieren. 1.3 Standardsprache Niederländisch gibt es in verschiedenen Formen: 4) Dit is voor ikke! 5) Arme lieverd, dikke kus dan is het gauw weer beter. 6) Hahaha Floris nieuwe chick? 7) Vandaag ben ik naar uw Verenigde Vergadering gekomen om als uw Koning te worden beëdigd en ingehuldigd. Als gekozen volksvertegenwoordigers bent u daartoe hier, in de hoofdstad, bijeen. 8) Ik heb een heel schoon kleedje gekocht in Antwerpen. 9) Er tocht niet bij mij naar binnen. Ein fünfjähriges Kind (Bsp. 4) spricht ein anderes Niederländisch als eine siebzigjährige Dame (Bsp. 5). Jugendliche in sozialen Netzwerken (Bsp. 6) benutzen eine andere Form des Niederländischen als König Willem-Alexander in seiner Ansprache beim Thronwechsel (Bsp. 7), während eine Flämin (Bsp. 8) bestimmte Wörter verwendet, die in den Niederlanden weniger alltäglich sind. Und nichtmuttersprachliche Niederländer können bestimmte Fehler machen, wie hier beim Gebrauch von er (Bsp. 9). Auch wenn nicht alle Beispiele dem Idealbild der niederländischen Sprache entsprechen, sind es trotzdem Formen, die wir Niederländisch nennen können. Das Idealbild einer Sprache entspricht oft der Norm (norm), d.h. dem, was die Gesellschaft für korrektes Niederländisch hält. Eine eindeutige Norm besteht allerdings nur für die Rechtschreibung, sie steht in der Woordenlijst der Nederlandse Taal, die unter dem Namen Het Groene Boekje bekannt ist. Für Grammatik oder Aussprache gibt es keine eindeutig festgelegte Norm, oft orientiert man sich an Personen mit fachlichem Ansehen, wie Schriftstellern, Journalisten oder Politikern. <?page no="21"?> 1.3 Standardsprache 21 Over de Haarlemse tongval zijn de meeste Nederlanders heel positief. Ze noemen die keurig, helder en duidelijk. Vreemd en stijf vinden ze daarentegen het Nederlands in Friesland. Dat vinden ze het lelijkst. Ook het Amsterdams valt niet in de smaak. Dat komt plat, vulgair, brutaal en hoogmoedig over. Vlamingen waarderen het meest het Nederlands van de provincie Antwerpen: dat vinden ze duidelijk en helder. Maar de taal van de stád Antwerpen waarderen ze helemaal niet. Die klinkt ze plat, vulgair, brutaal, hoogmoedig en arrogant in de oren. Taalpeil 2009 Wer im Ausland Niederländisch lernt oder studiert, lernt in der Regel 'Standardniederländisch'. Lehrwerke sind auf diese Form des Niederländischen ausgerichtet mit dem Ziel, möglichst 'gutes' Niederländisch zu lernen. Standardniederländisch ist allerdings nur eine der vielen Formen von Niederländisch, die gesprochen und geschrieben werden. Wenn man jedoch allgemein über Niederländisch spricht, meint man normalerweise die niederländische Standardsprache (standaardtaal). Standardsprache kann man wie folgt beschreiben: We verstaan onder de standaardtaal het Nederlands dat algemeen bruikbaar is in het publieke domein, dat wil zeggen in alle belangrijke sectoren van het openbare leven, zoals het bestuur, de administratie, de rechtspraak, het onderwijs en de media. Anders uitgedrukt: standaardtaal is het Nederlands dat algemeen bruikbaar is in contacten met mensen buiten de eigen vertrouwde omgeving (in zogenaamde secundaire relaties). Woorden, uitdrukkingen, uitspraakvormen of constructies die standaardtaal zijn, zijn dus in principe zonder problemen bruikbaar in de genoemde sectoren en situaties. http: / / taaladvies.net Standardsprache ist demnach das Niederländisch, das in allen wichtigen Sektoren des öffentlichen Lebens verwendet werden kann: in der Verwaltung, Rechtsprechung, Lehre und Wissenschaft sowie in den Medien. Man verwendet sie normalerweise im Kontakt mit Menschen, die nicht zum Bekanntenkreis gehören, sie wird als Schriftsprache (z.B. in Zeitungen) verwendet und in der Schule gelehrt. Man kann die Standardsprache jedoch nicht mit der Norm gleichstellen. In gewisser Weise ist Standardsprache ein Kulturprodukt, in dem der Einfluss einer bewussten Normierung gelegentlich merkbar ist: So kennt das Standardniederländisch bei den Personalpronomen eine Unterscheidung zwischen hen und hun, die - vereinfacht gesagt - als direktes bzw. indirektes Objekt fungieren: ik zie hen vs. ik stel hun een vraag. Diese Unterscheidung wird im alltäglichenSprachgebrauch aber kaum beachtet. <?page no="22"?> 22 Niederländisch: 'Een Um die niederländisch trag über eine Sprachu gegründet. Ursprünglic den und Belgien, seit 2 Vertrag hat zum Ziel, rund um die niederl Nederlandse Taalunie d (im In- und Ausland) Nederlandse Taalunie is und andere Werke zu schreibregeln fest, die in Die Nederlandse Ta sprache gibt, diese abe 'een standaardtaal met d das Niederländisch in (Nederlands Nederlands verwendet wird, das be das Standardniederlän (Surinaams Nederlands des Deutschen in Deut Englischen in Großbri etc. In den verschieden wendet, British English des Englischen. Eine S wird auch als plurizent Abb. 1.3: Standard 1. Die niederländis standaardtaal met drie poten' he Sprache zu unterstützen und fördern, wurde 19 union (taalunie) geschlossen und die Nederlands ch ging es um eine Zusammenarbeit zwischen den 2005 ist auch Suriname Mitglied der Taalunie. De die niederländische Sprache zu fördern und die ländische Sprache zu verbreiten. Außerdem f den Niederländischunterricht an Schulen und Un ) und allgemein die niederländischsprachige Lit st auch Behörde für die Sprachpolitik, sie gibt Lehrb r niederländischen Sprache heraus und sie legt n Verwaltung und Unterricht bindend sind. alunie geht davon aus, dass es eine niederländische er sozusagen auf 'drei Beinen' steht. Das Niederlä drie poten'. Die drei 'Beine' des Niederländischen s n den Niederlanden, das niederländische Nied s). Zweitens das Standardniederländisch, so wie es elgische Niederländisch (Belgisch Nederlands), u ndisch in Suriname, das surinamische Nied s). Diese sprachliche Situation ist in etwa vergleich tschland, in Österreich und in der Schweiz oder m itannien und den Vereinigten Staaten, Australien nen Ländern wird jeweils eine eigene Norm der Sp h und American English sind verschiedene Stand prache, die verschiedene Zentren für die Standar trische Sprache (pluricentrische taal) bezeichnet. dsprache im niederländischen Sprachgebiet (taaladvies sche Sprache 80 ein Verse Taalunie Niederlaner Taalunie- Kenntnisse fördert die niversitäten eratur. Die bücher und die Rechte Standardändische ist sind erstens derländisch s in Belgien und drittens derländisch hbar mit der mit der des n, Südafrika prache verdardformen rdnorm hat, .net) <?page no="23"?> 1.4 Sprache und Sprachwissenschaft 23 Die Überschneidungen zwischen der Standardsprache in den Niederlanden und der in Belgien sind groß (vgl. Abb. 1.3): Die meisten Wörter und Formulierungen sind gleich, wie appel oder van een mug een olifant maken usw. Nur ein kleiner Teil des Wortschatzes und der Grammatik weicht ab und ist im anderen Sprachgebiet ungebräuchlich oder unbekannt. So verwendet man in den Niederlanden das Wort pinpas für ec-Karte, in Belgien bankkaart. In Belgien ist eine Formulierung wie hoe is het zover kunnen komen standardsprachlich, während man in den Niederlanden sagt hoe heeft het zover kunnen komen. Die nationalen Sprachformen werden immer häufiger als Bestandteil der niederländischen Sprache als Ganzes betrachtet. In den letzten Jahren wurden etwa 500 Wörter aus dem surinamischen Niederländisch in die Woordenlijst der Nederlandse taal aufgenommen, wie z.B. zwamp (Morast), kostgrond (Gemüsegarten) und trekkoffie (Filterkaffee). In der nächsten Ausgabe (geplant für 2015) sollen weitere surinamisch-niederländische Wörter und auch karibisch-niederländische Wörter aufgenommen werden. 1.4 Sprache und Sprachwissenschaft Intuitiv wissen wir viel über unsere Muttersprache. Ein Kind weiß zwar nicht, was ein Substantiv oder Kongruenz ist, dennoch kann es ohne weiteres Sätze formulieren wie de hond eet een koekje. Auch viele erwachsene Muttersprachler wissen nicht explizit, was ein Substantiv oder Kongruenz ist. Sie wissen aber sehr gut, dass de hond eten een koekje kein guter niederländischer Satz ist. Ebenso ist für einen niederländischen Sprachbenutzer (taalgebruiker) klar, dass plek, plaag und pluis niederländische Wörter sind und mlek, mlaag und mluis nicht. Sprachbenutzer verfügen somit über ein unbewusstes Wissen über ihre Muttersprache, die linguistische Kompetenz (linguïstische competence). Wenn ein Sprachbenutzer sein Wissen nun anwendet und konkret Sprache produziert, spricht man von Performanz (performance). Obwohl wir gerne glauben möchten, dass wir im Großen und Ganzen korrekt sprechen, bilden wir oft keine perfekten Sätze. In der konkreten Situation können wir ohne weiteres ein Gespräch führen wie im folgenden Beispiel aus dem Corpus Gesproken Nederlands (fv400124): 10) A: wat is het laatste jeugdboek dat u gelezen hebt of... B: 't is nu wel lang geleden dat ke'd nog... uh omdat 'k tamelijk veel werk heb'z heb eigenlijk. 'k zou mij niet meer kunnen herinneren dat ik nu … de laatste keer'... how 't laatste jaar heb ik eigenlijk weinig... 'k heb er veel besteld dat 'k nog moet lezen nu in de vakantie maar uh... A: ja. dus de boeken stapelen zich zo een beetje op naar de vakantie toe altijd. Die Sätze der beiden Sprecher sind eindeutig keine vollständigen und korrekten Sätze. Dennoch verstehen die Gesprächspartner einander bestens. Offensichtlich <?page no="24"?> 1. Die niederländische Sprache 24 verfügt der Zuhörer über genug sprachliches Wissen, um die Äußerung richtig zu verstehen und haben die 'Sprachfehler' keinen Einfluss auf die Verständlichkeit. Es gibt viele Auffassungen darüber, was unsere Sprache eigentlich ist, aber allgemein wird Sprache als etwas typissch Menschliches verstanden, mit dem wir unsere Gedanken, Vorstellungen und komplexe Informationen ausdrücken und vermitteln können. Sprache ist daher ein Kommunikationsmittel, das aus vielen verschiedenen Sprachformen besteht. Deshalb ist sie auch nicht starr und festgelegt, sondern dynamisch: sie entwickelt sich immer weiter und kann sich den vielen Situationen in einer Sprachgemeinschaft anpassen. 1.4.1 Sprachwissenschaft Zum Thema Sprache hat wohl jeder eine Meinung und etwas zu sagen. Eine viel gehörte Aussage ist z.B., dass Niederländisch 'niedlich' oder 'lustig' ist. Aus kulinarischer Sicht hören sich die Wörter kalkoengalantine oder galantine de dinde appetitlicher an als Truthahnbrust-Bierschinken, das Französische klingt 'leckerer' als das Deutsche. 2 Es ist nicht so schwer, ein bestimmtes Etikett auf eine Sprache zu kleben: Englisch ist cool, Französisch erotisch, Russisch melancholisch, Deutsch streng und Niederländisch lustig. Sprache erregt aber auch Ärgernis. Es gibt Leute, die sich über die angeblich vielen englischen Wörter im Deutschen oder Niederländischen aufregen: Warum sagt man meeting, shoppen oder je fiets customizen wenn gute deutsche und niederländische Äquivalente wie Besprechung (bespreking), einkaufen (winkelen) oder je fiets aanpassen (anpassen) vorhanden sind? Auch regt sich manch einer über Mitmenschen auf, die die Sprache nicht korrekt beherschen und die hun zeggen dat statt zij zeggen dat sagen oder wir gehen nach Hause weil es ist spät statt wir gehen nach Hause weil es spät ist. Zugleich steht die Rechtschreibung oft in der Kritik: Schifffahrt mit drei f sieht seltsam aus und in den Niederlanden ist die Diskussion zum Teil noch immer nicht abgeschlossen, ob ein Pfannkuchen nun als pannenkoek oder pannekoek geschrieben werden soll. Ob Sprache schön oder nicht schön bzw. richtig oder falsch ist, ist subjektiv. Es sind nur ästhetische und normative Meinungen. Wenn man eine Sprache wissenschaftlich betrachten möchte, geht es allerdings gar nicht darum, ob eine Sprache schön klingt oder nicht oder ob der Sprachgebrauch richtig oder falsch ist. Vielmehr steht die Frage im Mittelpunkt, wie Sprache eigentlich funktioniert. Sätze wie hun zeggen dat oder wir gehen nach Hause weil es ist spät sind für Sprachwissenschaftler gerade spannend, weil sie z.B. wissen wollen, ob solche Sätze eine Neuerung im Sprachgebrauch sind oder vielleicht schon länger vorkommen. Oder ob solche Sätze von der Sprachgemeinschaft als akzeptabel oder inakzeptabel empfunden werden, und warum Menschen solche Sätze benutzen, die gegen die Regeln der Sprachnormen verstoßen. Auch Anglizismen werden aus einer anderen Perspektive betrachtet; der Sprachwissenschaftler möchte erfahren, aus 2 Frans klinkt lekkerder dan Duits (19. August 2009), nieuwsblad.be. <?page no="25"?> 1.4 Sprache und Sprachwissenschaft 25 welchem Grund sie benutzt werden, seit wann sie eigentlich vorkommen und ob jeder diese Wörter benutzt oder nur ein Teil der Sprachgemeinschaft. Eine sprachwissenschaftliche Betrachtungsweise versucht also, Sprache wertneutral zu beschreiben und zu erklären. Die Sprachwissenschaft oder Linguistik (taalkunde oder linguïstiek) beschäftigt sich auf objektive Weise mit der natürlichen Sprache der Menschen. Untersuchungsobjekt der Sprachwissenschaft sind die natürlichen Sprachen der Menschen, d.h. Sprachen, die sich historisch in einer Geschellschaft entwickelt haben und sich weiter entwickeln, wie das Niederländische oder Deutsche. Im Gegensatz zu natürlichen Sprachen stehen z.B. die Kommunikationssysteme von Tieren und künstliche Sprachen wie Programmiersprachen, das für die internationale Kommunikation geschaffene Esperanto oder die von J.R.R. Tolkien kreierten Elbensprachen Sindarin und Quenya aus der Trilogie Herr der Ringe. Eine objektive Betrachtungsweise will natürliche Sprache so beschreiben, wie sie in der Wirklichkeit funktioniert. Sprachwissenschaft ist daher generell deskriptiv (descriptief): Sie will nicht vorschreiben, was richtig oder falsch ist oder wie man Sprache zu benutzen hat, sondern wie sie tatsächlich von Sprachbenutzern verwendet wird. Nehmen wir als Beispiel die Vergleichspartikel nach einem Komparativ im Niederländischen: 11) Berlijn is groter dan Amsterdam. 12) Berlijn is groter als Amsterdam. 13) Berlijn is groter of Amsterdam. 14) Berlijn is groter wie Amsterdam Außer der normierten Form dan gibt es noch drei andere Formen, nämlich als, of und wie. Die letzten beiden werden vor allem in südlichen Dialekten verwendet. Im Deutschen kommen die vergleichbaren Formulierungen größer als und größer wie vor. Es gibt aber keinen sprachsystematischen Grund, weshalb groter dan korrekter oder besser ist als groter als oder of. Historisch gesehen kommen alle Formen im niederländischen Sprachgebiet vor. Auch wenn die Norm vorschreibt, dass ein Satz wie Berlijn is groter als Amsterdam 'falsch' ist und diese Form in den Niederlanden sogar zu den Top 10 der Sprachärgernisse gehört, spielt eine solche Meinung und Wertung bei einer sprachwissenschaftlichen Beschreibung keine Rolle. Sprachwissenschaftler betrachten Abweichungen von der Norm meistens nicht als falsch, sondern sehen sie als eine Form der vielen Arten Niederländisch, die gesprochen werden. Um Sprache wissenschaftlich beschreiben zu können, brauchen wir sprachliche Daten. Denn nur anhand von Daten ist es möglich zu beobachten und zu beschreiben, wie Sprache wirklich ist, und können Prinzipien und Strukturen aufgezeigt werden. Sprachliche Regeln werden auch nicht im Voraus festgelegt, sondern auf- <?page no="26"?> 1. Die niederländische Sprache 26 grund einer objektiven Analyse ermittelt und beschrieben. Ein Beispiel für eine solche Analyse ist der Syntactische Atlas van de Nederlandse Dialecten (SAND 2006), in dem u.a. die Verwendung der vier Vergleichswörter dan, als, of und wie in den niederländischen Dialekten dargestellt ist. Bei dieser Studie hat sich herausgestellt, dass als bedeutend öfter vorkommt als dan. In der Sprachwissenschaft kann Sprache aus vielen Perspektiven betrachtet werden: Jemand, der z.B. Texte oder Tonaufnahmen analysiert, um Kriminalbeamten bei der Identifikation von Personen zu unterstützen, beschäftigt sich anders mit Sprache als jemand, der die historische Entwicklung einzelner Wörter wie moeten oder zullen untersucht, oder jemand, der Unterrichtsmethoden für Deutsch als Fremdsprache entwickelt oder Wörterbücher schreibt. Allgemein gibt es zwei Herangehensweisen, um Sprache zu untersuchen: zum einem aus der Perspektive der Sprache selbst und zum anderen aus der Perspektive eines bestimmten Anwendungsgebiets. In einer sprachinternen oder systemlinguistischen Betrachtungsweise (taalinterne oder systeemlinguïstische benadering) sind die eigenen Strukturen der Sprache Ausgangspunkt, wie bei den folgenden Beschreibungsebenen. Von klein nach groß sind das die folgenden Beschreibungsebenen: • Die Beschreibung und Analyse der physischen Eigenschaften von Lauten wie a oder r sind Bestandteil der Phonetik. Einen Schritt weiter geht die Beschreibungsebene der Phonologie, die Laute als abstrakte Einheiten in einem System auffasst. • Form und Struktur von Wörtern fallen in den Bereich der Morphologie. Sie untersucht z.B. auf welcher Weise Wörter wie bewerken, gewerkt oder werkplek aufgebaut sind. • Die Art und Weise, wie man Wörter zu größeren Gruppen und Sätzen zusammenfügen kann und welche Einschränkungen es dabei gibt (ik zie het huis niet gegenüber ik niet zie het huis), gehört zum Gebiet der Syntax. • In der Semantik wird der Frage nachgegangen, welche Bedeutungen Wörter haben (was bedeutet rond? ) und in welcher Beziehung diese Bedeutungen zueinander stehen (wie bei rond in de bal is rond bzw. rond in ze komen rond zes uur naar huis). • Den Sprachgebrauch im zwischenmenschlichen Kontext untersucht die Pragmatik. Eine Äußerung wie mag ik misschien eventjes iets zeggen hat im Gespräch eine ganz andere Wirkung als en nu ik! , auch wenn beide Sätze mehr oder weniger den gleichen Inhalt haben. In einer sprachexternen (taalextern) Betrachtungsweise ist ein bestimmtes Anwendungsgebiet der Ausgangspunkt. Oft sind diese Gebiete interdisziplinär ausgerichtet. <?page no="27"?> 1.4 Sprache und Sprachwissenschaft 27 • Die Soziolinguistik (sociolinguïstiek) beschäftigt sich mit verschiedenen Formen der Sprache in unterschiedlichen sozialen Konstellationen (wie Jugendsprachen, Dialekte) und mit der Wirkung von Sprache in der Gesellschaft. • Die angewandte Sprachwissenschaft (toegepaste taalwetenschap) betrachtet Sprache unter dem Gesichtspunkt ihrer praktischen Verwendung, z.B. wie Menschen eine Fremdsprache lernen und welche Wirkung Sprachunterricht dabei hat. • Die historische Sprachwissenschaft (historische taalkunde) untersucht, wie Sprache sich im Laufe der Zeit verändert und welche Prinzipien dahinter stecken. • Die Psycholinguistik (psycholinguïstiek) untersucht Gehirnaktivitäten und sieht Sprache als Denken; untersucht werden u.a. der Erwerb der Muttersprache bei Kindern oder Sprachstörungen (Aphasien), die durch Gehirnschäden verursacht werden. • Der Korpuslinguistik (corpuslinguïstiek) befasst sich mit dem Aufbau und der Aufbereitung von Sammlungen sprachlicher Daten (Korpora), um Sprache zu analysieren. • Die Computerlinguistik (computationele taalkunde) beschäftigt sich mit der elektronischen Sprachverarbeitung, wie der Erstellung von Übersetzungsprogrammen oder Spracherkennungsprogrammen. • In der forensischen Linguistik (forensische taalkunde) werden z.B. Erpresser- oder Drohbriefe ganz genau analysiert, um den Autor identifizieren zu können. Dies ist nur eine kleine Auswahl der Disziplinen, die sich aus einer sprachwissenschaftlichen Perspektive mit der menschlichen Sprache beschäftigen. 1.4.2 Sprachen klassifizieren Die etwa 6000 Sprachen in der Welt kann man auf unterschiedliche Weise klassifizieren und beschreiben. Die Typologie (typologie) vergleicht und klassifiziert Sprachen aus der Welt auf Grund grammatischer Merkmale. Solche Merkmale können z.B. die Wortstellung im Satz sein, die Anwesenheit von Fällen oder der Gebrauch von Tönen, um unterschiedliche Bedeutungen auszudrücken. Sprachen wie Chinesisch, einige afrikanischen Sprachen, Papiamento, aber auch das Limburgische in Belgien und den Niederlanden sind sog. Tonsprachen. Die Typologie untersucht, welche Merkmale in allen oder in den meisten Sprachen vorkommen, die Universalien (universalia). Mit dieser Methode können Gemeinsamkeiten und Unterschiede in allen Sprachen festgelegt werden, wodurch wir bessere Erkenntnisse über das Wesen von Sprache erhalten können. Denn wenn verschiedene Sprachen ein bestimmtes Merkmal teilen, muss dieses Merkmal wesentlich für das Funktionieren von Sprache sein. So haben z.B. alle Sprachen Konsonanten und Vokale und in allen Sprachen gibt es mehr Konsonanten als Vokale. Der Vokal a ist in allen bekannten <?page no="28"?> 1. Die niederländische Sprache 28 Sprachen der Welt vorhanden, weil er am einfachsten zu artikulieren ist, und auch der Vokal i kommt fast immer vor. Sprachen in einem bestimmten Gebiet können ebenfalls die gleichen Merkmale aufweisen, auch wenn sie nicht unbedingt miteinander verwandt sind. Die Arealtypologie (areale typologie) untersucht die sprachlichen Parallelen von Sprachen, die sich durch intensiven Kontakt entwickelt haben. Solche Sprachen formen zusammen einen Sprachbund (sprachbund). Ein typisches Beispiel ist der Balkansprachbund, der sich u.a. aus Albanisch, Bulgarisch, Rumänisch, Griechisch und Türkisch zusammensetzt. Außer typologisch kann man Sprache historisch-genetisch (historisch-genetisch) oder genealogisch (genealogisch) beschreiben, d.h. aufgrund ihrer Verwandtschaft. Die Klassifizierung der Sprachen basiert auf einer systematischen Beschreibung sprachlicher Übereinstimmungen, meist sind das phonologische, morphologische und lexikalische Merkmale. Die Sprachen bilden Sprachfamilien (taalfamilies), die von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen. Beispiele für solche Sprachfamilien sind die indoeuropäische Sprachfamilie, zu der auch das Niederländische und Deutsche gehören, die semitische Sprachfamilie mit u.a. Arabisch und Hebräisch und die Niger-Kongo Sprachfamilie mit u.a. Swahili, Rwanda und Zulu. Mit der Suche nach dem gemeinsamen Vorfahren ist auch die Frage verbunden, ob alle Sprachen der Welt aus einer gemeinsamen Ursprache entstanden sind oder ob Sprachen sich unabhängig voneinander entwickelt haben und keine gemeinsame Ursprache aufweisen. Die Theorie von der Entstehung aus einer Urform wird Monogenese (monogenese) genannt, die von der Entstehung aus verschiedenen Formen Polygenese (polygenese). Da aber die ältesten Beweismaterialien nicht weiter als 9.000 bis 10.000 Jahre zurückgehen, ist es nicht möglich, die genannten Thesen zur Sprachentstehung nachzuprüfen und zu beweisen. 1.5 Aufbau und Ziele dieses Buchs In diesem ersten Kapitel haben wir schon viele Informationen zum Niederländischen gegeben und die niederländische Standardsprache vorgestellt. In Kapitel 2 gehen wir in der Zeit zurück und geben eine Übersicht über die Geschichte des Niederländischen. Im dritten Kapitel geht es um die Semantik, in den Kapiteln 4, 5 und 6 werden Morphologie, Syntax und Phonetik/ Phonologie behandelt, in Kapitel 7 die Pragmatik. Diese Kapitel zu den sprachinternen Beschreibungsebenen erfordern keine Vorkenntnisse und können unabhängig voneinander gelesen und bearbeitet werden. Anschließend werden zwei sprachexterne Bereiche (Soziolinguistik und historische Sprachwissenschaft) vorgestellt, die auf die Inhalte der vorangegangenen Kapitel aufbauen: In Kapitel 8 geht es um Sprache und Variation, in Kapitel 9 um Sprache in Bewegung. Das letzte Kapitel zu den Methoden der Sprachwissenschaft beschreibt konkret, wie man auf wissenschaftliche Art und Weise Sprache nachvollziehbar, objektiv und nachprüfbar untersuchen kann. <?page no="29"?> 1.5 Aufbau und Ziele dieses Buchs 29 Jedes Kapitel besteht aus einem Textteil, einer Zusammenfassung sowie einem Teil mit Aufgaben und schließt mit einigen Literaturhinweisen ab. Lösungsvorschläge zu den Aufgaben werden unter der URL http: / / www.narr-studienbuecher.de bereitgestellt, damit der Leser die Übungen auch selbständig bearbeiten kann. Außerdem werden im Register alle Fachbegriffe auf Deutsch und Niederländisch aufgeführt. In diesem Buch steht die niederländische Sprache im Mittelpunkt. Sie ist die Zielsprache dieser Einführung, weshalb wir möglichst viele Beispiele auf Niederländisch anführen. Die Beispiele werden nach Möglichkeit so präsentiert, dass sie auf Grund der Verwandtschaft mit der deutschen Sprache leicht zu verstehen sind. Im laufenden Text werden Beispiele kursiviert wiedergegeben, Übersetzungen oder Erklärungen stehen in einfachen Anführungszeichen oder in runden Klammern. Diese Einführung richtet sich insbesondere an deutschsprachige Studienanfänger (auch ohne Niederländischkenntnisse), aber auch an alle diejenigen, die sich für die niederländische Sprache und die Sprachwissenschaft des Niederländischen interessieren. In einer allgemeinverständlichen Form sollen Grundkenntnisse der niederländischen Sprachwissenschaft vermittelt und in die Fachterminiologie aus den wichtigsten Teilgebieten der Sprachwissenschaft eingeführt werden. Anhand der Aufgaben kann das erworbene theoretische Wissen in der Praxis angewandt werden. Durch den deutsch-niederländischen Vergleich sollen zum einen die nahe Verwandtschaft der beiden Sprachen, zum anderen aber auch Kontraste zwischen Deutsch und Niederländisch aufgezeigt werden. Übereinstimmungen, aber auch Unterschiede, werden anhand vieler Beispiele verdeutlicht. Auch Unterschiede zwischen dem Niederländischen in den Niederlanden und in Belgien werden thematisiert, um das Interesse und Bewusstsein für die Verschiedenheit des Niederländischen zu wecken und das Verständnis für Variation zu mehren. Literatur zum Weiterlesen Eine gut lesbare niederländische Einführung in die allgemeine Sprachwissenschaft ist Appel et al. (2002) Taal en taalwetenschap. Weitere Einführungen in die allgemeine Sprachwissenschaft sind Fromkin & Rodman (1995) Universele taalkunde. Een inleiding in de algemene taalkunde und Nieuwenhuijsen (1995) Het verschijnsel taal. Een kennismaking. Eine gute Übersicht über die niederländische Sprache geben Van der Sijs et al. (2007) in Wat iedereen van het Nederlands moet weten en waarom. Besonders zugänglich sind die Werke Alles wat je altijd al had willen weten over taal. De Taalcanon von Boogaard & Jansen (2012) und Waarom een buitenboordmotor eenzaam is von Van Leeuwen (2004). Etwas älter, aber sehr anschaulich ist der Aufsatz von Goossens (1971) Was ist Deutsch - und wie verhält es sich zum Niederländischen? Das Standardwerk für die sprachwissenschaftliche Terminologie auf Deutsch ist das Lexikon der Sprachwissenschaft von Bußmann (2008). Nederlandse woorden wereldwijd (Van der Sijs 2010) bietet einen Überblick zu den niederländischen Wörtern, die andere Sprachen übernommen haben. In Een kleine taal met een grote stem. Hedendaags Nederlands (2009) <?page no="30"?> 1. Die niederländische Sprache 30 schreibt Van Sterkenburg auf unterhaltsame Weise über die Dynamik der niederländischen Sprache. Zum Verkavelingsvlaams ist das Buch De manke usurpator. Over Verkavelingsvlaams (Absislis, Van Hoof & Jaspers 2012) erschienen, das dieses Phänomen aus verschiedenen Perspektiven beschreibt. Internettipps Auf den folgenden Websites finden sich zuverlässige und relevante Informationen zur niederländischen Sprache: • http: / / taalunieversum.org ist ein das Internetportal der Nederlandse Taalunie mit Informationen zur niederländischen Sprache. Die Seite der Taalunie selbst ist http: / / taalunie.org • Auf http: / / neon.niederlandistik.fu-berlin.de findet man ausführliche Informationen zur niederländischen Sprachwissenschaft, auch auf Deutsch. • http: / / www.taalcanon.nl beantwortet allerlei Fragen zum breiten Themengebiet der Sprachwissenschaft. • http: / / www.dbnl.org ist die "digitale bibliotheek der Nederlandse letterkunde", die eine Vielzahl an Informationen zu Autoren und Werken der niederländischen, friesischen, surinamischen und limburgischen Literatur bietet. Außerdem sind viele originale Texte (auch zur Sprachwissenschaft) digital zugänglich. • http: / / www.taalportaal.org ist eine englischsprachige Website im Aufbau, auf der die Grammatik des modernen Niederländisch wissenschaftlich beschrieben wird. • http: / / dutch-beta.ned.univie.ac.at/ ist die Website des Projekts Dutch++, einer Lernplattform in Aufbau mit praktischen Sprachübungen und vielen Informationen zum niederländischen, belgischen und surinamischen Niederländisch. Die Daten zu Sprecher- und Bevölkerungszahlen (Kap. 1.1) stammen aus den folgenden (z.T. digitalen) Quellen: Taalpeil (Ausgabe Sept. 2005), http: / / www.taalunie.org, http: / / www.ethnologue.com, http: / / www.cbs.nl (Zentrale für Statistik, CBS), http: / / www.statistics-suriname.org/ index. php/ statistieken/ downloads/ category/ 3-bevolkingsstatistieken (Algemeen Bureau voor de Statistiek in Suriname), http: / / www.rnw.nl/ nederlands/ article/ 23-miljoen-mensenspreken-nederlands (digitale Quellen abgerufen im Mai 2013). <?page no="31"?> 2. Die Geschichte des Niederländischen Ute K. Boonen Nederlandse taal komt uit Turkije LEUVEN - De Indo-Europese talen waartoe het Nederlands behoort, hebben hun oorsprong hoogstwaarschijnlijk in het Turkse Anatolië. Zo'n 8000 tot 9000 jaar geleden begon zich van daaruit een taal te verspreiden, waarvan de ruim 400 varianten nu worden gesproken van IJsland tot Sri Lanka. Dat stellen wetenschappers van de universiteit van het Belgische Leuven. Zij vergeleken de verspreiding van de taal met die van een virus. Het onderzoek bevestigt eerdere veronderstellingen. Maar de uitkomst weerlegt de populairste opvatting dat de Indo-Europese taalfamilie zich zo'n 6000 jaar geleden ontwikkelde vanaf de Pontische Steppe, een uitgestrekt gebied ten noorden van de Zwarte Zee. De Telegraaf, 24.08.2012 Die niederländische Sprache ist natürlich keine Form des Türkischen, aber was für eine Sprache ist es denn dann? Wo kommt das Niederländische her, wie ist es entstanden? Wieso ähneln sich die niederländische und die deutsche Sprache? Wieso ähnelt das Niederländische so sehr dem Plattdeutschen? Wieso meinen so viele Menschen, dass das Niederländische ein deutscher Dialekt ist, und wundern sich, dass man es als Fach studieren kann? Der Ursprung von Sprache allgemein fasziniert die Menschen seit jeher. Auf der Suche nach der Ursprache ging man lange davon aus, dass eine der drei heiligen Sprachen, Hebräisch, Griechisch und Latein, die Basis für alle Sprachen sein muss. Die große Sprachenvielfalt ist auch in der Bibel ein Thema: So können die Jünger am Pfingstfest plötzlich 'mit allen Zungen sprechen', d.h. sie können sich allen Menschen in deren Muttersprache verständlich machen und die Frohe Botschaft verkünden. Beim Turmbau zu Babel wurden die Menschen wegen ihrer Überheblichkeit mit vielen Sprachen bestraft: Weil man sich nicht mehr verständigen konnte, entstand große Verwirrung. In Europa bleiben die heiligen Sprachen lange Zeit die einzigen 'richtigen' Sprachen, die man lernen kann, zu denen es Grammatiken und Lehrbücher gibt. Erst im Mittelalter beginnt man, auch in der Volkssprache (volkstaal; Engl. vernacular) zu schreiben. Forschungsgegenstand für Sprachwissenschaftler werden diese Sprachen erst sehr viel später. <?page no="32"?> 2. Die Geschichte des Niederländischen 32 2.1 Die indoeuropäische Sprachfamilie Im 19. Jahrhundert versuchen Sprachwissenschaftler wie der Deutsche Jacob Grimm (1785-1863) und der Däne Karl Verner (1846-1896) in Anlehnung an die biologisch-genetischen Erkenntnisse, Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Sprachen festzustellen. Sie analysieren verschiedene Sprachen in ihren unterschiedlichen Stadien, man unterscheidet beispielsweise Neuhochdeutsch und Mittelhochdeutsch, aber auch Neuniederländisch und Mittelniederländisch. Anhand dieser Untersuchungen lassen sich systematische Veränderungen innerhalb einer Sprache aufzuzeigen und auch Parallelen in der Entwicklung zu anderen Sprachen. Vergleichen wir die Begriffe Mutter, Vater, Milch und Brot auf Deutsch, Niederländisch, Englisch, Friesisch, Schwedisch, Gotisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Latein, Altgriechisch und Sanskrit (Alt-Indisch): Deutsch Mutter Vater Milch Brot Niederländisch moeder vader melk brood Englisch mother father milk bread Friesisch mem heit molke brea Schwedisch mor (Pl. mödrar) far (Pl. fädar) mjölk bröd Gotisch áiþei atta milukes hláifs Französisch mère père lait pain Italienisch madre padre latte pane Spanisch madre padre leche pan Latein mater pater lac panis Altgriechisch ματήρ (matèr) πατήρ (patèr) γάλακ (gálak) - Sanskrit matar pitar - - Tab. 2.1: Vergleich der Begriffe Mutter, Vater, Milch und Brot Der Vergleich zeigt, dass sich die Bezeichnungen für Vater und Mutter in allen angeführten Sprachen stark ähneln. Bei den Bezeichnungen für Milch und Brot gleichen sich zum einen die ersten sechs Formen und die zweiten sechs. Aufgrund solcher Sprachvergleiche und der festgestellten systematischen Ähnlichkeiten geht man davon aus, dass diese Sprachen einen gemeinsamen Vorläufer haben, das Indoeuropäisch (Indo-Europees). 1 Da es kein überliefertes Material dieser Sprache gibt, spricht man auch von Proto-Indoeuropäisch, abgekürzt PIE. Sprachwissenschaftler versuchen, diese Sprache anhand von Regelmäßigkeiten und Lautgesetzen zu rekonstruieren. Diese rekonstruierten Formen werden meist mit einem * gekennzeichnet. 1 Hierfür wird auch die Bezeichnung Indogermanisch verwendet. <?page no="33"?> 2.1 Die indoeuropäische Sprachfamilie 33 Neben Latein und Altgriechisch gehören auch uns weniger geläufige Sprachen wie Hethitisch und Tocharisch 2 zur indoeuropäischen Sprachfamilie (Indo-Europese taalfamilie). Innerhalb dieser großen Sprachgruppe werden verschiedene Zweige unterschieden, wie die germanischen Sprachen (Germaanse talen), zu denen u.a. Deutsch, Niederländisch und Englisch gehören. Ein weiterer wichtiger Zweig sind die romanischen Sprachen (Romaanse talen), deren Vorläufer das Latein ist. Neben Italienisch, Französisch und Spanisch gehören auch Portugiesisch, Rumänisch und Rätoromanisch zum romanischen Sprachzweig. Auch die slawischen Sprachen (Slavische talen) wie Polnisch, Russisch, Tschechisch, Serbisch, Kroatisch gehören zu den indoeuropäischen Sprachen. Wie in einer echten Familie sind manche Mitglieder näher miteinander verwandt und ähneln sich stärker. So kann man das Deutsche und Niederländische als Geschwister auffassen. Andere Sprachen, wie die slawischen Sprachen sind Vettern, Sanskrit und andere indische Sprachen noch viel weiter entfernte Verwandte. Indoeuropäisch Keltisch Tocharisch Sanskrit Griechisch Slawisch Hethitisch Latein Germanisch Persisch Romanisch Abb. 2.1: Die indoeuropäische Sprachfamilie In neuesten Untersuchungen, bei denen Linguisten mit einem Virologen zusammengearbeitet haben, wird die Hypothese bestärkt, dass das Indoeuropäische vor etwa 8000 bis 9500 Jahren in Anatolien gesprochen wurde (vgl. Zitat am Anfang). 3 Das Türkische gehört nicht zu den indoeuropäischen Sprachen, sondern zu den sog. oghusischen Turksprachen. Auch Finnisch und Ungarisch sowie Baskisch und Estnisch gehören nicht zur indoeuropäischen Sprachfamilie, obwohl sie in Europa gesprochen werden. 2.1.1 Germanische Sprachen Der germanische Sprachzweig wird in drei Untergruppen verteilt. Die Einteilung bezieht sich auf geographische Aspekte: Wo lebten die Sprecher dieser germanischen Sprache, im Norden, Osten oder Westen des germanischen Sprachraumes? 2 Hethitisch wurde in Kleinasien gesprochen, Tocharisch im Nordwesten Chinas; beide Sprachen sind ausgestorben. 3 Die Forschungsergebnisse wurden unter folgendem Link publiziert: http: / / www.sciencemag.org / lookup/ doi/ 10.1126/ science.1219669; August 2012. <?page no="34"?> 2. Die Geschichte des Niederländischen 34 Nordgermanisch (Noord-Germaans): Schwedisch (Zweeds), Norwegisch (Noors), Dänisch (Deens), Färöisch (Faeröers), Isländisch (IJslands) Westgermanisch (West-Germaans): Niederländisch (Nederlands), Englisch (Engels), Friesisch (Fries), Afrikaans (Afrikaans) 4 , Deutsch (Duits), Luxemburgisch (Luxemburgs), Jiddisch Ostgermanisch (Oost-Germaans): Gotisch (Gotisch), Burgundisch (Burgondisch), Wandalisch (Wandaals) (alle ausgestorben) Der älteste überlieferte Text in einer germanischen Sprache ist die Wulfila-Bibel auf Gotisch. Bischof Wulfila (311-381 n.Chr.) hat zu seinen Lebzeiten eine Übersetzung der Bibel in Auftrag gegeben, die in einer mittelalterlichen Handschrift bewahrt geblieben ist. Das Textbeispiel ist das Vater unser (Van Bree 1996), in dem man Worte wiedererkennen kann, die dem heutigen Deutsch und Niederländisch stark ähneln: das Pronomen uns/ unser, namo für Name/ naam, wilja für Wille/ wil, daga für Tage/ dagen etc. 5 Atta unsar þu in himinam, Vader onze gij in (de) hemelen, weihnai namo þein. geheiligd worde naam uw. qimai þiudinassus þeins. kome koninkrijk uw. wairþai wilja þeins, worde wil uw, swe in himina jah ana airþai. zoals in (de) hemel ook op (de) aarde. hlaif unsarana þana sinteinan brood ons het dagelijkse gif uns himma daga. geef ons deze dag. jah aflet uns þatei skulans sijaima, en vergeef ons dat schuldenaars wij zijn, swaswe jah weis afletam zoals ook wij vergeven þaim skulam unsaraim. de schuldenaars onze. jah ni briggais uns en niet moge gij brengen ons in fraistubnjai, in verzoeking, ak lausei uns af þamma ubilin. maar verlos ons van het boze. 2.1.2 Sprachwandel: Lautverschiebungen Aus dem Indoeuropäischen haben sich verschiedene Sprachen entwickelt. Wohl um 1000 v.Chr. setzt in einigen Sprachen eine lautliche Veränderung ein: Wörter, die im Lateinischen, Griechischen und auch im Sanskrit mit einem p beginnen, weisen in den entsprechenden verwandten Wörtern in den germanischen Sprachen ein f auf, wie bei Lateinisch pellis, im Deutschen Fell, im Niederländischen vel. Grimm konnte 4 Das Afrikaans, eine Tochtersprache des Niederländischen (vgl. Kap. 1), wird allerdings nicht in Europa, sondern in Südafrika gesprochen. Da es aber vom Niederländischen abstammt, gehört es zum westgermanischen Sprachzweig. 5 Der Buchstabe þ entspricht etwa dem englischen th, ei ist langes i, ai vor r klingt wie ä, gg wie ng (vgl. Schmidt 2007: 53). <?page no="35"?> 2.1 Die indoeuropäische Sprachfamilie 35 aufzeigen, dass diese (und andere Verschiebungen) regelmäßig stattfinden; Verner ergänzt Grimms Ausführungen, wodurch scheinbare Ausnahmen ebenfalls systematisch erklärt werden können. Dieser Prozess wird als 1. Lautverschiebung (Germaanse klankverschuiving) bezeichnet. Im Niederländischen spricht man auch von de wet van Grimm und de wet van Verner, vergleichbar mit der englischen Bezeichnung Grimm's law und Verner's law. Durch die 1. Lautverschiebung grenzt sich die Gruppe der germanischen Sprachen von den anderen indoeuropäischen Sprachen ab. Nicht nur das p ist betroffen, sondern auch andere Laute. In Tabelle 2.2 ist das Lateinische als Vertreter der ursprünglichen indoeuropäischen Formen angeführt und deutsche, niederländische und englische Entsprechungen als Beispiele für die 'verschobenen' Formen in den germanischen Sprachen: Latijn Germaans Latijn Germaans p > f pellis Fell b > p labium Lippe t > th tres three d > t duo twee, two k > ch/ h cor hart g > k genu knie Tab. 2.2: Die 1. Lautverschiebung: Latein vs. germanische Sprachen Neben diesen Verschiebungen tritt außerdem in den germanischen Sprachen eine Akzentverlagerung auf. Die Betonung verlagert sich nach vorne, auf die Stammsilbe. Im PIE, wie auch im Lateinischen, kann der Akzent wechseln. Während das Volk pópulus heißt und auf der ersten Silbe betont wird, verschiebt sich die Betonung in der Phrase senatus populúsque Romanus (Senat und Volk von Rom) auf die vorletzte Silbe. In den germanischen Sprachen springt der Akzent nicht mehr. Innerhalb des Germanischen finden weitere Veränderungen statt, wodurch sich eine Unterscheidung zwischen Nord-, Ost- und Westgermanisch feststellen lässt. Das Westgermanische wiederum gliedert sich in verschiedene Zweige, wobei man zunächst zwischen Nordseegermanisch oder Ingwäonisch (Kustgermaans/ Ingweoons) und Kontinentalgermanisch (Continentaalgermaans; auch Weser- Rheingermanisch oder Istwäonisch) unterscheidet. Aus dem Nordseegermanisch entwickeln sich die altenglischen, altfriesischen und altsächsischen Sprachen, aus dem Kontinentalgermanischen die altniederfränkischen und althochdeutschen Sprachen (vgl. hierzu Bußmann 2008: 231). Die Unterscheidung innerhalb des westgermanischen Sprachzweigs lässt sich anhand der 2. Lautverschiebung analysieren. Diese Verschiebung findet wohl im Zeitraum vom 6.-8. Jahrhundert n.Chr. allmählich und geografisch gestaffelt statt. <?page no="36"?> 2. Die Geschichte des Niederländischen 36 Durch die 2. Lautverschiebung (auch hochdeutsche Lautverschiebung; Hoogduitse klankverschuiving) grenzt sich das Althochdeutsche von den anderen westgermanischen Sprachen ab. Die Lautverschiebungen gelten bis heute fast uneingeschränkt für die deutsche Standardsprache. Die sog. Benrather Linie (Benrather linie), die auf der Höhe Benrath - Düsseldorf - Magdeburg - Berlin verläuft, teilt das deutsche Sprachgebiet in Nord und Süd: Die niederdeutschen Dialekte nördlich dieser Linie sind von der Lautverschiebung nicht betroffen. In den hochdeutschen Dialekten südlich dieser Linie hat die Lautverschiebung wohl stattgefunden, ihre Auswirkungen sind im Süden stärker (vgl. Kap. 9 zum Rheinischen Fächer). Das Niederdeutsche und das Niederländische ähneln sich so sehr, weil in beiden Sprachen die 2. Lautverschiebung nicht stattgefunden hat; dies gilt allerdings auch für das Englische. Das Niederländische ist also genauso wenig wie das Englische eine Form des Deutschen oder eine Art deutscher Dialekt. In Tabelle 2.3 sind nicht-verschobene Formen im Englischen, Niederländischen und Niederdeutschen den jeweiligen verschobenen Formen des Hochdeutschen gegenübergestellt. Engels Nederlands Nederduits Hoogduits p > pf pepper peper Peper Pfeffer p > f Help helpen helpen helfen t > s that dat dat das t > ts Salt zout Solt Salz d > t Day dag Dag Tag k > ch make maken maken machen Tab. 2.3: Vergleich nicht-verschobene und verschobene Formen 2.2 Sprachstadien des Niederländischen Die Entwicklung der niederländischen Sprache wird grob in vier Stadien unterteilt, wobei die Übergänge zwischen den einzelnen Stadien nicht plötzlich, sondern allmählich verlaufen, so dass auch die Grenzen nicht scharf gezogen werden können: 6 Altniederländisch Oudnederlands 8. Jh.-1150 Mittelniederländisch Middelnederlands 1150-1500 Neuniederländisch Nieuwnederlands 16. Jh.-19. Jh. Modernes Niederländisch Hedendaags Nederlands 20. Jh.-heute 6 Diese Einteilung entspricht nicht der Einteilung der Sprachstufen des Deutschen, das allgemein so eingeteilt wird: Althochdeutsch bis 1050; Mittelhochdeutsch 1050-1350, Frühneuhochdeutsch 1350-1650; Neuhochdeutsch 1650 bis heute (vgl. Schmidt 2007). <?page no="37"?> 2.2 Sprachstadien des Niederländischen 37 2.2.1 Altniederländisch Ab dem 8. Jahrhundert können Unterschiede zwischen Althochdeutsch, Altniederländisch und Altenglisch angenommen werden. Die 2. Lautverschiebung ist in dieser Periode weitestgehend abgeschlossen. Überliefert sind aus der frühesten Zeit jedoch keinerlei Texte in altniederländischer Sprache. In lateinischen Texten finden sich manchmal vereinzelte Begriffe in der Volkssprache, für die es kein eigenes lateinisches Wort gibt. agger terrae, qui vulgo dik dicitur ein Erdwall, der vom Volk (in der Volkssprache) Deich genannt wird Der älteste Beleg für das altniederländische Wort dik stammt aus dem Jahr 893. 7 Beim ältesten längeren überlieferten Text, den Wachtendonckse Psalmen aus dem 10. Jahrhundert (Textbeispiel zitiert aus De Grauwe 1979-82, Übers. UKB), handelt es sich um eine Übersetzung aus dem Lateinischen ins Altniederländische. Um 1100 entstand der Leidse Willeram oder Egmontse Willeram, bei dem es sich um eine Bearbeitung eines althochdeutschen Textes handelt. An âuont in an morgan in an 's Avonds en 's morgens en mitdon dage tellon sal ic in 's middags zal ik vertellen en kundon, in he gehôron sal. verkonden, en hij zal (me) horen. Irlôsin sal an frithe sêla mîna Verlossen zal hij in vrede mijn ziel fan then thia genâkont mî ... van degene die mij benaderen … Psalm 54, 18-19 In diesem kleinen Beispiel kann man schon vieles erkennen, was für das Altniederländische typisch ist. Vokale, die in späteren Stadien abgeschwächt sind, werden hier noch als volle Vokale gesprochen - oder zumindest geschrieben. Das a oder o in unbetonten Silben wie in morgan, sêla, tellon oder kundon wird im Laufe der Zeit zu einem e, d.h. zu einem sog. Schwa-Laut (sjwa) (vgl. Kap. 6): morgen, siele, tellen, verkonden. Im Altniederländischen finden sich außerdem bereits Veränderungen gegenüber anderen westgermanischen Sprachen, die bis heute erhalten geblieben sind. Nederlands oud mout goud houden Engels old malt gold (to) hold Fries âld mout goud hâlde Duits alt Malz Gold halten Tab. 2.4: Lautliche Veränderungen im (Alt-)Niederländischen 7 Beleg laut ONW, vgl. Kap. 3. <?page no="38"?> 38 Eine der markantesten + d/ t (vgl. Tab. 2.4). 8 schen unverändert gebl Als ältester Text, der vi Altniederländisch verfa Schreiber, wahrscheinl eines Pergamentbogen Satz schreibt er die lyr bauen, außer mir und d Abb. 2.2: Pro Hebban olla uogala ne Hebben alle vogels neste Dieses kleine Liebesged gar nicht sicher, ob es nicht vielleicht doch um 2.2.2 Mittelniederlän Ab Mitte des 12. Jahrh niederländisch. Währen terial zu finden, gibt es telalter, die einen gut Form geben. Im Mittelalter entst konnten nur sehr wenig lateinische (oder auch telalter ändert sich die Bürgertums. Die folgen 8 Das Friesische nimmt e schen und Englischen e 2. Die Geschichte des Niede n Entwicklungen ist der Übergang von a/ o + l + In einigen Ortsnamen ist das a/ o + l auch im N lieben, wie in Terwolde, Westerwolde etc. elleicht keine Übersetzung darstellt, sondern urspr asst wurde, gilt eine sog. Federprobe (Probatio pe lich ein Mönch, testet seine Schreibfeder auf der ns, um dann mit seiner Schreibarbeit zu beginnen. rische Frage: Alle Vögel haben damit begonnen, dir, worauf warten wir nun? obatio pennae - Federprobe ( Bodleian Library Oxford ) estas hagunnan hinase hic enda thu uuat unbidan uue en begonnen behalve ik en jij wat wachten we nu dicht ist das Flaggschiff des Altniederländischen - sich bei diesem Satz tatsächlich um Altniederlän m Altenglisch handelt (De Grauwe 2004). ndisch undert spricht man nicht mehr von Alt-, sondern v nd es für das Altniederländische relativ schwierig i eine ganze Reihe von gut überlieferten Texten au ten Eindruck von dieser Sprache in ihrer ges tehen in Europa volkssprachliche Literaturen. Vor ge Menschen lesen und schreiben und wurden hau griechische und hebräische) Texte schriftlich fixie es mit dem Aufkommen der Städte und dem Ers nden Textausschnitte, die aus der Heiligengeschic eine Mittelstellung ein: In einigen Fällen ist die Kombination erhalten geblieben, in anderen wie im Niederländischen nicht erländischen + d/ t zu ou Niederländirünglich auf ennae). Der r Rückseite Als Probe- , Nester zu e nu - es ist aber ndisch oder von Mittelst, Textmaus dem Mitchriebenen dieser Zeit uptsächlich ert. Im Mitstarken des chte De reis n wie im Deutt. <?page no="39"?> 2.2 Sprachstadien des Niederländischen 39 van Sint Brandaan stammen (zitiert nach Wilmink & Gerritsen 2003; Vers 52-64, 137-140, Übers. UKB), weisen eine Reihe sprachlicher Elemente auf, die für das Mittelniederländische typisch sind. In der ersten Zeile taucht eine zweiteilige Verneinung auf, vergleichbar mit der französischen Konstruktion ne ... pas. Eine Aussage wie Er wollte das nicht glauben wird durch hi en wilde dies niet geloven ausgedrückt. Diese Art der Verneinung ist im Mittelniederländischen üblich, wird aber auch noch heute in gesprochener Sprache verwendet, vor allem in flämischen Dialekten. Im Afrikaans ist diese Art der Verneinung sogar standardsprachlich. Hi en wilde no hi en mochte Hij wilde en hij kon Dies emmer niet geloven, dit nooit geloven, Hi en saecht met zinen oghen. als hij het niet met eigen ogen zou zien. Van toerne verberrendi den bouc Uit woede verbrandde hij het boek Ende gaf den scrivere eenen vlouc. En vervloekte de schrijver. Dat becochti zint wel diere! Dat kwam hem duur te staan. Daer hi stont bi den viere Terwijl hij bij het vuur stond Daer die bouc in bernende lach, Waar het boek te branden lag, Die inghel Gods hem toe sprac: Sprak de engel van God hem toe: "O lieve vrient Brandaen, "O lieve vriend Brandaan, Du heves evele mesdaen, Je hebt ernstig gezondigd Dat over mids dinen toren dat door jouw toorn Die waerheit dus es verloren." de waarheid nu is verloren." [...] […] Doe hi te scepe gaen began Toen hij wilde gaan varen Vant hi thoeft van eenen doden man Vond hij het hoofd van een dode man Voer hem ligghende up tsant; Voor hem liggend op het zand; Die vloet dreeft an tlant. De vloed dreef het aan land. Im Gegensatz zum Altniederländischen sind im Mittelniederländischen die vollen Vokale in unbetonten Silben zu e abgeschwächt. Am Wortende finden sich noch viele Schwa-Laute, wie in toerne (Zorn), viere (Feuer) die in späterer Zeit weggefallen sind (toorn, vuur etc.). Mittelndl. Modernes Ndl. Deutsch Genitiv die inghel Gods de engel van God der Engel Gottes Dativ den scrivere (aan) de schrijver dem Schreiber Akkusativ eenen vlouc een vloek einen Fluch Tab. 2.5: Flexionsformen <?page no="40"?> 2. Die Geschichte des Niederländischen 40 Typisch sind die Flexionsendungen als Markierung für die verschiedenen Fälle, die im modernen Niederländisch außer in feststehenden Ausdrücken (de tand des tijds, van harte, op den duur etc.) nicht mehr vorkommen. Dieses Phänomen wird als Flexionsverlust (flexieverlies) bezeichnet. Das Mittelniederländische ist noch keine einheitliche Sprache und hat auch keine schriftlich festgelegte Grammatik oder Rechtschreibung. Der Schreiber, der einen Text aufzeichnen will, muss versuchen, mit dem Buchstabenmaterial, das ihm aus dem lateinischen Alphabet zur Verfügung steht, das Mittelniederländische klanglich wiederzugeben. Die Längung eines Vokals wird mittels Verdopplung oder mit einem e wiedergegeben (hoeft für hoofd, waerheit für waarheid). Die Formen becochti und verberrendi sind zusammengezogene Formen aus jeweils zwei Wörtern, wobei das -i für das nachgestellte Pronomen hi (hij 'er') steht: becochti für becocht hi (bezahlte er) verberrendi für verberrende hi (verbrannte er). Diese klitischen Formen (clitische vormen) kommen auch bei het vor, sowohl vor als auch hinter dem Bezugswort: thoeft für het hoofd, tlant für het land, saecht für saech het (zag het) dreeft für dreef het. Im modernen Sprachgebrauch finden sich ähnliche Formen: hoe heet hij wird meist ausgesprochen als hoe heet-ie. Die Rechtschreibung richtet sich damals stark nach dem Klang in der Aussprache. Daher werden die verschmolzenen Formen in einem Wort dargestellt. Außerdem wird ein t-Laut am Wortende meist auch als t-Laut geschrieben, obwohl der Stamm des Wortes eigentlich auf d endet, wie in hi stont für hij stond (er stand) oder het lant für het land. Das Mittelniederländische weist eine große Variation auf und der Name muss als eine Sammelbezeichnung für verschiedene regionale (Schreib-)Sprachen verstanden werden. 9 Die Lage Landen, die sich in etwa über die heutigen Niederlande und Belgien (und Luxemburg) erstreckten, können sprachlich in verschiedene Regionen eingeteilt werden: Flandern (Vlaanderen), zu dem auch Seeland (Zeeland) gerechnet wird, Brabant (Brabant), das sich über das heutige Niederländisch und Belgisch Brabant sowie Antwerpen erstreckt, Limburg (Limburg), Holland (Holland), zu dem sprachlich auch Utrecht (Utrecht) gehört, und die IJsselregion im Nordosten der Niederlande (IJsselregio, Noordoosten) (vgl. Abb. 2.3). Es ist nicht ganz einfach, eine Grenze zwischen Mittelniederländisch und Mittelniederdeutsch zu ziehen, man spricht von einem Schreibsprachenkontinuum (Peters 2006; vgl. Kap. 8). Im Mittelalter gab es keine Nationalstaaten, keine deutsche oder niederländische oder belgische Staatsangehörigkeit. Die Schreibsprachen, die im Nordosten der Niederlande verwendet wurden und nicht zu den fränkischen, sondern den sächsischen Schreibsprachen gehören, werden historisch gesehen häufig dem Niederdeutschen zugerechnet. Das Limburgische und Niederrheinische wiederum werden häufig unter 9 Die Bezeichnung 'Schreibsprache' zielt auf die regional variierenden schriftlichen Sprachformen ab; die Bezeichnung 'Dialekt' verweist auf Mundarten, d.h. gesprochene Sprache, und wird aus diesem Grund hier nicht verwendet. <?page no="41"?> 2.2 Sprachstadien des Niederländischen 41 der Bezeichnung Rhein-Maasländisch (Rijn-Maaslands) zusammengefasst und historisch oft dem Niederländischen zugerechnet. Abb. 2.3: Der mittelniederländische Sprachraum Bis heute ähneln sich die Dialekte beiderseits der deutsch-niederländischen Staatsgrenze sehr. Das Friesische hat im Norden der Niederlande seinen eigenen Sprachraum. Friesisch ist eine eigene westgermanische Sprache und keine Form des Niederländischen. Die Heiligenlegende Sente Servaes , die Heinric van Veldeke um 1170 über Bischof Servatius verfasste, markiert den Beginn der mittelniederländischen Literatur. Heinric van Veldeke gilt als erster niederländischer Dichter - in vielen deutschen Werken wird er als erster deutscher Dichter angeführt. Wahrscheinlich kam Veldeke aus der Nähe von Hasselt (heute Belgisch-Limburg) und gehörte zur "Niederrheinischen Kulturtradition" (Van der Wal 2002). Die Sprache, die Veldeke in der Sint- Servaes-Legende verwendet (s. Textbeispiel, zitiert nach Corpus Gysseling; [Friesland] Nordosten/ IJsselregion Holland Utrecht Niederrhein Seeland Brabant West- Ost- Flandern Limburg <?page no="42"?> 2. Die Geschichte des Niederländischen 42 Z. 1002-1009, Übers. UKB), wird auch als Niederfränkisch (Nederfrankisch) bezeichnet. Andere Werke von Veldeke (wie die Minnelieder) sind in mittelhochdeutscher Sprache überliefert. Er beherrschte offenbar beide Sprachen und wird deswegen mit unterschiedlichen Werken zu beiden Literaturen gerechnet (vgl. Berteloot 2006). [...] willig ug sagen gerne. [Von Sankt Maternus] will ich euch gerne cortlike eine warheit. kurz eine wahre Begebenheit erzählen. want her te erst di cristenheit. Denn er begründete als erster die Christenheit In gallia stichte. in Gallien ende dri biscdume berichte. und leitete drei Bistümer: Colne ende triere. Köln und Trier in sente peters ere. zu Ehren des heiligen Petrus, Ende tungren in sente Marien und Tongeren im Namen der heiligen Maria. name. Ein Großteil der ältesten uns überlieferten mittelniederländischen Texte stammt aus Flandern, genauer gesagt aus der Grafschaft Vlaanderen, einer Region von der Nordseeküste bis zur Schelde. Eines der berühmtesten Werke ist das Tierepos Van den vos Reynaerde (zitiert nach Janssens & Marynissen 2008, Übers. UKB): Het was in eenen tsinxen daghe Het was op een Pinksterdag Dat beede bosch ende haghe dat beide, bos en struik Met gronen loveren waren bevaen. met groene bladeren waren bedekt. Nobel, die coninc, hadde ghedaen Nobel, de koning, had zijn hofdag Sijn hof crayeren over al overal afgekondigd Dat hi waende, hadde hijs gheval, die hij dacht, als het meezat, Houden ten wel groeten love. tot zijn grote roem te houden. Doe quamen tes sconinx hove Toen kwamen naar het hof van de koning Alle die diere, groet ende cleene alle dieren, groot en klein Sonder vos Reynaert alleene. alleen behalve vos Reynaert. Der flämische Text, dessen Autor nicht bekannt ist, entstand in der Mitte des 13. Jahrhunderts. Bei vielen Texten aus dem Mittelalter ist der Verfasser nicht bekannt. Zum einen wurden viele Geschichten schon Jahrhunderte lang mündlich überliefert und schließlich von einem Autor schriftlich fixiert, zum anderen gab es englische, deutsche oder auch französische und lateinische Vorlagen anderer Schriftsteller, die man mal freier, mal originalgetreuer in die eigene Sprache bzw. den eigenen Dialekt übertrug. Außerdem verzichteten Verfasser häufig auch aus Bescheidenheit ('humilitas') auf die Nennung des eigenen Namens, insbesondere wenn es sich um religiöse Texte handelte. <?page no="43"?> 2.2 Sprachstadien des Niederländischen 43 Nicht in allen Fällen bleibt der Verfasser anonym. Jacob van Maerlant (ca. 1235- 1291? ) können verschiedene Werke eindeutig zugeschrieben werden. Eines davon ist Der Naturen bloeme, an dessen Beginn Maerlant sich selbst als Autor nennt (Textbeispiel zitiert nach Janssens & Marynissen 2008, Übers. UKB.). Jacob van Maerlant, die dichte Jacob van Maerlant, die dit dichtte, Om te sendene teere ghichte, om als een geschenk te zenden wille dat men dit boec noeme wil dat men dit boek zal noemen In dietsch: 'Der naturen bloeme', ... in het Diets: 'Der naturen bloeme'... Mit dem Begriff dietsch/ Diets will Maerlant angeben, dass sein Text nicht auf Lateinisch, sondern in der Volkssprache verfasst ist. Diets (auch duutsch) bedeutet dabei nicht 'Deutsch'. Bis heute ist die englische Bezeichnung für das Niederländische das verwandte Wort Dutch. Lange Zeit wird das Niederländische als Nederduits bezeichnet; die Bezeichnung de Nederlandtsche tale taucht zum ersten Mal Ende des 15. Jahrhunderts auf, Nederlands setzt sich aber erst im Laufe des 19. Jahrhundert durch. Im 14. Jahrhundert entwickelt sich das Herzogtum Brabant zur wichtigsten Region in den Lage Landen und so entstehen in dieser Zeit auch vermehrt literarische Texte rund um Antwerpen und Brüssel. Berühmt sind insbesondere religiöse und mystische Texte, z.B. von Jan van Ruusbroec (1293-1381), die Beatrijs-Legende oder die Bibelübersetzungen von Petrus Naghel (†1395). Einer der ältesten auf Holländisch (Hollands) verfassten Texte ist die Rijmkroniek van Holland aus dem 13. Jahrhundert. Im Gegensatz zu den bisher angeführten Texten handelt es sich hierbei nicht um einen fiktiven Text, sondern um Geschichtsschreibung in Versform. Der Verfasser, Melis Stoke (ca. 1235-ca. 1305), arbeitete als Skribent in der Kanzlei der Grafen von Holland. Aus dem Nordosten der Niederlande sind erst relativ spät Texte in der Volkssprache überliefert. Bekannt wurde Geert Groote (1340-1384), der die treibende Kraft der sog. Devotio Moderna (die neue Frömmigkeit) war, eine mystisch-religiöse Bewegung, in der die persönliche Beziehung zu Gott im Mittelpunkt steht. Mine siele heuet di begheert inder nacht ende mijn gheist in den innersten mijns herten. soe heb ic vro ghewaket toe di. O alre claerste ewighe wijsheit. Ic bidde dat dine begheerde teghenwoerdicheit moet verdriuen alle vreemde dinghe wt mijnre herten […] Meine Seele hat nach dir verlangt in der Nacht und mein Geist im Innersten meines Herzens. So habe ich froh auf dich gewartet. O allerhellste ewige Weisheit. Ich bitte, dass deine ersehnte Gegenwart alle fremden Dinge aus meinem Herzen vertreiben muss […] <?page no="44"?> 2. Die Geschichte des Niederländischen 44 Das Textfragment (zitiert nach Van Wijk 1940, dbnl, Übers. UKB) stammt aus dem Getijdenboek ('Stundenbuch'), einer Art Gebetbuch für Laien. Auch in diesem Wortmaterial aus der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts finden sich noch viele mittelniederländische Varianten: mine siele für mijn ziel, ic bidde für ik bid. Auch die Kasus sind noch deutlich markiert: in den innersten mijns herten für in het binnenste van mijn hart (im Innersten meines Herzens). 2.2.3 Neuniederländisch Das 16. und 17. Jahrhundert sind eine Epoche, in der die historisch-politischen Umstände in Europa unberechenbar sind. Kaiser Karl V. schlägt die Lage Landen 1555 Spanien zu. Die Niederlande wollen sich vom katholischen Spanien lossagen, weil die spanische Krone den neuen protestantischen Glauben mit der Inquisition bekämpft. Die Spanier wollen die Ablösung jedoch nicht hinnehmen. Während des 80jährigen Krieges (1568-1648) wird im Jahr 1585 Antwerpen von den spanischen Truppen eingenommen (de val van Antwerpen). Viele religiös unabhängige Zeitgenossen, Intellektuelle und Kaufleute fliehen in den Norden der Lage Landen, der nicht unter die spanische Herrschaft fällt. Mit dem Frieden von Münster (Vrede van Munster) wird im Frühjahr 1648 die Unabhängigkeit der Republiek der Zeven Verenigde Nederlanden (d.h. der Zusammenschluss von sieben niederländischen Provinzen zur Republik) besiegelt. Diese Republik ist der Vorläufer der heutigen Niederlande. Die südlichen Gebiete der Lage Landen, in etwa das heutige Belgien, bleiben noch lange unter spanischer bzw. österreichischer, französischer und holländischer Herrschaft. Durch den Buchdruck (ab etwa 1450) ändern sich die Voraussetzungen für das geschriebene Wort grundlegend. Es wird zum ersten Mal möglich, Texte schnell zu vervielfältigen, statt sie mühsam von Hand zu kopieren, d.h. mit Feder und Tinte abzuschreiben. Durch Reformation und Gegenreformation sind viele Schriften im Umlauf, die sich an alle Schichten der Bevölkerung richten. Eine der wichtigsten Figuren in den Lage Landen ist dabei der Buchdrucker Christoffel Plantijn (ca. 1520-1589), der in seiner Druckerei in Antwerpen (und auch in Leiden) viele Schriften druckt. Latein beherrschen auch in dieser Zeit nur die wenigsten, außerdem ist es die Sprache der katholischen Kirche, die Sprache der Reformation wird die Volkssprache. Um möglichst viele Menschen zu erreichen, wird ein überregional verständliches Niederländisch gebraucht, da sich eine zu stark regional gefärbte Sprache nicht für diese Zwecke eignet. So beginnt die Standardisierung (standaardisering) des Niederländischen. Vier Kriterien sind ausschlaggebend für die Standardisierung von Sprache: Selektion (selectie), Akzeptanz (acceptatie), Kodifikation (codificatie) und Verbreitung (elaboratie). <?page no="45"?> 2.2 Sprachstadien des Niederländischen 45 Diese Kriterien (nach Haugen 1972) bauen nicht aufeinander auf, sondern greifen ineinander. Für das Niederländische kann man sich den Standardisierungsprozess in etwa wie folgt vorstellen: Aus verschiedenen Dialekten wird eine Varietät (variëteit) gewählt, die die Basis für die neue Standardform bildet; als Basis für die niederländische Standardsprache wird das Holländische ausgewählt, genauer gesagt das Holländisch der höheren Schichten, das bei vielen Schriftstellern und den höheren Schichten der Gesellschaft einen guten Ruf hat. Außerdem lassen sich starke Einflüsse aus dem Brabantischen (Van der Wal 1995; Van der Sijs 2004), nach neuerer Forschung auch aus den östlichen Dialekten erkennen. Die Auswahl eines Dialektes als Basis für die Standardnorm wird als Selektion auf Makroniveau (selectie op macroniveau) bezeichnet. Die Volkssprache bekommt im Laufe der Zeit immer mehr Prestige gegenüber dem Lateinischen. So schreibt Joost van den Vondel in seiner Aenleidinge ter Nederduitsche Dichtkunste aus dem Jahr 1650 über die Vorzüge des Nederduitsch, so wie es in den höheren Kreisen in Den Haag und Amsterdam gesprochen wird; den platten Dialekt aus Amsterdam und Antwerpen charakterisiert er hingegen als albern bzw. abscheulich (Übers. GDV): Deze spraeck wort tegenwoordigh in 's Gravenhage, de Raetkamer der Heeren Staten, en het hof van hunnen Stedehouder, en t'Amsterdam, de maghtighste koopstadt der weerelt, allervolmaecktst gesproken, by lieden van goede opvoedinge, indien men der hovelingen en pleiteren en kooplieden onduitsche termen uitsluite: want out Amsterdamsch is te mal, en plat Antwerpsch te walgelijck, en niet onderscheidelijck genoegh. Deze uitspraak wordt tegenwoordig in den Haag, in de raadkamer van de heren Staten en het hof van hun stadshouder, en in Amsterdam, de machtigste handelsstad ter wereld, op de meest volmaakte manier gesproken door mensen met een goede opvoeding, als men tenminste de door de hovelingen, pleiters en kooplieden gebruikte vreemde termen uitsluit. Want oud Amsterdams is te mal, en plat Antwerps te walgelijk en niet duidelijk genoeg. Der Selektionsvorgang ist kein demokratischer Prozess, es geht vielmehr um eine Varietät, die von einer relativ kleinen elitären Gruppe, einer einflussreichen Bevölkerungsschicht bevorzugt und dadurch als Grundlage verwendet wird. Die gewählte Varietät muss von einem Großteil der Sprachgemeinschaft als Grundlage akzeptiert werden. In Nachschlagewerken wie Grammatiken und Wörterbüchern wird festgelegt, welche Sprachformen die Norm bilden und 'richtig' sind. Normen und Regeln werden festgehalten, die Standardsprache systematisch erfasst und kodifiziert. In der Regel wird die bereits akzeptierte Standardform kodifiziert, gleichzeitig erhält eine Varietät, die kodifiziert ist, auch mehr Anerkennung; so greifen diese Aspekte ineinander. Das erste niederländische Wörterbuch mit Übersetzungen ins Lateinische <?page no="46"?> 2. Die Geschichte des Niederländischen 46 wurde 1574 von Cornelis Kiliaen veröffentlicht, das Dictionarium Teutonico Latinum. Kilian wollte darin alle wissenswerten Informationen zusammenstellen, die dazu beitragen konnten, die Kenntnisse über das Niederländische auszuweiten, hinsichtlich seiner Verwandtschaft mit dem Deutschen und Französischen und hinsichtlich der Übersetzung des Niederländischen ins Lateinische. Grammatiken für das Lateinische und Griechische gab es schon in der Antike, die erste niederländische Grammatik, d.h. eine Grammatik der niederländischen Sprache auf Niederländisch, erscheint im Jahr 1584: Hendrik Laurenszoon Spieghel veröffentlicht seine Twe-Spraack vande Nederduitsche letterkunst (tweespraak = Zwiegespräch, Dialog), die allerdings stark auf die lateinische Sprache ausgerichtet ist. Latein gilt immer noch als vorbildlich und an seiner Grammatik wird alles gemessen. Die Kodifizierung bezieht sich nur auf die geschriebene Sprache. Dativ und Akkusativ werden mehr oder weniger künstlich als eigenständige Kasus propagiert. Die Differenzierung zwischen den Formen hun (Dativ: 'ihnen') und hen (Akkusativ: 'sie') hat vermutlich im 17. Jahrhundert der Grammatiker Christiaan van Heule eingeführt, weil sie dem Niederländischen einen lateinischen Touch gaben. In keinem niederländischen Dialekt und keiner Form von gesprochenem Niederländisch wird diese Trennung tatsächlich realisiert. Die konkrete 'Wahl' einzelner Varianten wird als Selektion auf Mikroniveau (selectie op microniveau) bezeichnet; ein weiteres Beispiel für diese Art der Selektion ist das Reflexivpronomen sich, das zum einen mit hem/ haar (also ohne Unterschied zum normalen Personalpronomen), zum anderen mit zich ausgedrückt wurde; als Variante der Standardsprache wird im Rahmen der Übersetzung der Staatenbijbel (s.u.) bewusst zich ausgewählt. Diese Form, die ursprünglich im Südosten des Sprachraumes vorkam, hat sich schließlich durchgesetzt (vgl. Van der Wal 1995). Die Verbreitung der ausgewählten Sprachform in sowohl formellen als auch in informellen, eher privaten Situationen, zeigt sich an der Verwendung des Niederländischen in Wissenschaft und Kirche. Die Vorherrschaft der lateinischen Sprache wird nun auch in diesen Bereichen beendet. So schreibt beispielsweise der flämische Naturwissenschaftler, Mathematiker und Ingenieur Simon Stevin (1548-1620) auf Niederländisch und überträgt lateinische Fachtermini ins Niederländische. Er hält nämlich die "Duytsche taele" für die beste. Im Jahre 1637 wird die Statenbijbel veröffentlicht, eine Bibelübersetzung direkt aus dem Hebräischen bzw. Griechischen ins Niederländische. Die offiziell mit dieser Übersetzung beauftragten Herausgeber wägen bei der Übersetzung ganz bewusst bestimmte Ausdrücke und Sprachformen gegeneinander ab; ein Beispiel ist, wie bereits erwähnt, die Form des Reflexivpronomens. Bewusst wird statt hem/ haar das Pronomen zich verwendet. Auch auf dem Gebiet der Literatur entwickelt sich das Niederländische zur Kultursprache: Dichter und Literaten sind äußert produktiv und verfassen etliche Theaterstücke, Gedichte und andere Texte. Die Werke von Vondel, Hooft und Bredero sind außerordentlich populär und wirken auch über die Niederlande hinaus. Durch die literarische Pro- <?page no="47"?> 2.2 Sprachstadien des Niederländischen 47 duktivität und Qualität erhält die Standardvarietät ein hohes Prestige und wird vom Großteil der Sprachgemeinschaft als Norm anerkannt und akzeptiert. Das 17. Jahrhundert, das auch als das Goldene Jahrhundert (de Gouden Eeuw) bezeichnet wird, wird die Blütezeit für die niederländische Republik, nicht jedoch für den Süden. Die niederländische Republik entwickelt sich in ökonomischer wie kultureller Hinsicht, treibt Handel, gründet Kolonien und steigt zur größten See- und Handelsmacht der Welt auf. Es werden die Vereinigte Ostindische Kompanie (Vereenigde Oostindische Compagnie, VOC) und die Westindische Kompanie (Geoctroyeerde West-Indische Compagnie, WIC) gegründet, Handelsimperien in Form einer Art Aktiengesellschaft. Die VOC und die WIC treiben im Fernen Osten Handel und errichten ein Wirtschaftsimperium mit staatlichen Privilegien. Zeitgleich kann sich das Niederländische in den Niederlanden als Amts- und Kultursprache etablieren. Im Süden jedoch ist das Französische, das auch vom flämischen Adel und der flämischen Bourgeoisie gesprochen wird, Amts- und Kultursprache. Da viele niederländischsprachige Intellektuelle und Künstler aus den südlichen Provinzen in die nördlichen ausgewandert sind, gibt es kaum eine niederländischsprachige Elite in Flandern; nur in den Dialekten überlebt die niederländische Tradition. Die Entwicklung des Niederländischen zur Kultursprache findet durch diese Umstände im Norden der Lage Landen statt. Dabei bezieht die Standardisierung sich auf die geschriebene, nicht die gesprochene Sprache. In der Regel entscheiden einflussreiche Literaten und Grammatiker, was ihrer Meinung nach die 'richtige Form' ist, und legen dies in Nachschlagewerken fest; die Standardisierung erfolgt dabei relativ stark gesteuert 'von oben' und nicht als Sprachwandel 'von unten' (vgl. Kap. 8). Bezogen auf die gesprochene Sprache steht jedoch fest, dass die Diphthongierung des uu und des ij im Neuniederländischen umgesetzt und standardsprachlich wurde. Der Laut uu, der ursprünglich wie ein deutsches u, dann wie ein deutsches ü ausgesprochen wurde, wird ab jetzt als ui, als Diphthong, gesprochen. Das ij, auch als y geschrieben, das ursprünglich mit langem i ausgesprochen wurde, wird nun als ei ausgesprochen. 10 18. und 19. Jahrhundert Der Standardisierungsprozess ist im 17. Jahrhundert noch lange nicht abgeschlossen. Die Akzeptanz gegenüber der niederländischen Standardsprache nimmt in der geschriebenen Sprache im Laufe des 18. Jahrhunderts weiter zu. Im Jahr 1804 veröffentlicht Matthijs Siegenbeek seine Rechtschreibregeln (die sog. Spelling Siegenbeek), die bis heute Einfluss auf die Prinzipien der Rechtschreibung des Niederländischen haben. 10 Nur vor r bleibt der ursprüngliche Laut erhalten (z.B. vuur und nicht vuir, mier nicht mijr). <?page no="48"?> 2. Die Geschichte des Niederländischen 48 Im 18. Jahrhundert gehören die südlichen Niederlande zum Herrschaftshaus Habsburg. Ab 1713 fallen sie unter französische Herrschaft. Auf dem Wiener Kongress (1815) wird entschieden, dass die nördlichen und südlichen Niederlande im Verenigd Koninkrijk der Nederlanden vereint werden. Der neue Herrscher, König Willem I., versucht mit einer stringenten Sprachpolitik das Niederländische in seinem Reich als Amts- und Kultursprache zu etablieren unter dem Motto: "één land één taal" (Van der Sijs 2004: 52). Im Jahr 1830 löst Belgien sich von den Niederlanden und wird ein unabhängiger Staat, dessen Elite hauptsächlich Französisch spricht. Niederländisch ist zwar nicht verboten, aber in Schule, Wissenschaft und Politik spielt es keine Rolle mehr, hier wird ausschließlich Französisch verwendet. Die meisten Flamen beherrschen auch kein Standardniederländisch, sondern nur Dialekte, die jedoch keine echte Alternative zum Französischen darstellen. Diese Situation empfinden manche Flamen als unerträglich. Schriftsteller, Philologen, Ärzte, Juristen, Beamte und Priester, meist aus der unteren Mittelschicht, die unter Willem I. in der Zeit des Verenigd Koninkrijk Niederländisch als Kultursprache erlebt haben, setzen sich für die Verwendung und Förderung der 'Volkssprache', in diesem Fall des Niederländischen, ein: die Flämische Bewegung (Vlaamse Beweging) entsteht (vgl. Janssens & Marynissen 2008: 143). Ziel dieser Bewegung ist die gesetzliche Anerkennung der Sprache der Flamen in Belgien, aber auch die wirtschaftliche Entwicklung Flanderns und die Anerkennung der Flamen als eigenständiges Volk (Janssens & Marynissen 2008: 143f.). Wichtige Etappen der Gleichstellung des Niederländischen in Belgien: 1873: Gebrauch des Niederländischen vor Gericht bei Verdächtigen, die kein Französisch beherrschen 1883-85: Niederländisch als Unterrichtsprache auf weiterführenden Schulen (in einzelnen Fächern) 1898: Gelijkheidswet: Alle Gesetze und königlichen Beschlüsse werden auch auf Niederländisch verfasst. 1932: territoriale Einsprachigkeit der Gebiete Flandern und Wallonien 1962/ 63: Festlegung der Sprachgrenze 1970: Belgien wird in vier Sprachgemeinschaften (taalgemeenschappen) eingeteilt: das niederländischsprachige Flandern, das französischsprachige Wallonien, das zweisprachige (französisch-niederländische) Brüssel und eine deutschsprachige Gemeinschaft. 1973: Die Sprache Flanderns wird offiziell als 'Niederländisch' bezeichnet. 1993: Belgien ist offiziell ein Föderalstaat. Es gibt drei Gemeinschaften (gemeenschappen): Flandern, Wallonien und die deutschsprachige Gemeinschaft; drei Regionen (gewesten): Flandern, Wallonien und Brüssel; und vier Sprachgemeinschaften. (vgl. Janssens & Marynissen 2008: 145-147; Van der Sijs 2004: 624) <?page no="49"?> 2.2 Sprachstadien des Niederländischen 49 Es dauert jedoch noch bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, bis durch verschiedene taalwetten (Sprachgesetze) eine Gleichstellung des Niederländischen als Amtssprache für Flandern erreicht wird. Ab 1849 finden alle zwei Jahre regelmäßig Kongresse zur niederländischen Sprache statt, die sog. Nederlandsche Taalen Letterkundige Congressen (Niederländische Sprach- und Literaturwissenschaftskongresse), bei denen Teilnehmer aus den Niederlanden und Flandern über Sprachfragen diskutieren. Konkrete Ergebnisse dieser Kongresse sind zum einen eine einheitliche Rechtschreibregelung (Spelling De Vries en Te Winkel) und zum anderen die Erstellung eines niederländischen Wörterbuchs, das unter der Leitung von Matthias de Vries in Angriff genommen wurde; das Woordenboek der Nederlandsche Taal (WNT; vgl. Kap. 3) ist vergleichbar mit dem Deutschen Wörterbuch oder dem Oxford English Dictionary. Auf diesen Kongressen tauschen sich niederländische und flämische Literaten und Wissenschaftler aus. Noch viel intensiver sind aber die Diskussionen unter den Flamen selbst: Sollen die Flamen in sprachlicher Hinsicht den Anschluss an das Niederländische in den Niederlanden suchen oder soll man lieber eine eigene Form als Standardvariante entwickeln? Die sog. Integrationisten (integrationisten) vertreten die Auffassung, dass sich die Flamen mit ihrem Niederländisch an das im Norden anpassen sollten; nur so ist es möglich dem Französischen eine starke Alternative gegenüber zu stellen, schließlich hat das Niederländische im Norden eine reiche Tradition und wird als Kultursprache verwendet; darauf will man sich auch in Flandern berufen. Zu den Integrationisten gehören Jan-Frans Willems, der auch als Vater der flämischen Bewegung bezeichnet wird, und Autoren wie F.A. Snellaert und Ph. Blommaert. Die Partikularisten (particularisten) hingegen lehnen das 'Holländische' als Sprache der Protestanten ab (Flandern ist überwiegend katholisch); die nordniederländische Norm ist ihnen fast genauso fremd wie das Französische, sie wollen eine Sprache als Norm, die ihnen näher liegt. Zu den Partikularisten gehören u.a. der Grammatiker Pieter Behaegel, der Autor Hendrik Conscience und der Dichter-Priester Guido Gezelle, die eine eigene, vom Holländischen losgelöste belgische, d.h. westflämische Standardvariante etablieren wollen. Die Diskussionen über diese Sprachfrage dauern an, erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzen sich die Integrationisten durch. Geschriebene Sprache vs. gesprochene Sprache Im 19. Jahrhundert nimmt das Interesse an der eigenen Sprache stetig zu, aber alle Standardisierungprozesse sind noch immer stark auf die geschriebene Sprache gerichtet. Dadurch kommt es zu enormen Unterschieden zwischen der geschriebenen und der gesprochenen Sprache. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden Stimmen laut, die dies ändern wollen. So wird der Slogan berühmt schrijf zoals je spreekt (schreib so, wie du sprichst) (vgl. Van den Toorn et al. 1997: 455). Der Sprachwissenschaftler Taco Roorda liefert 1855 bei einem der Sprachkongresse mit <?page no="50"?> 2. Die Geschichte des Niederländischen 50 seiner Verhandeling over het onderscheid en de behoorlijke overeenstemming tusschen schrijftaal en spreektaal einen so unkonventionellen, in Anlehnung an die gesprochene Sprache verfassten Beitrag, dass sich die Redaktion weigert, seinen Artikel zu veröffentlichen. Doch auch Autoren wollen die Kluft zwischen geschriebener und gesprochener Sprache überbrücken. Dies war ein wichtiges Anliegen von Multatuli (Pseudonym von Edouard Douwes Dekker, 1820-1887), der 1860 sein Buch Max Havelaar publiziert. Besonders berühmt ist der Anfang des Buches (Textbeispiel zitiert nach Edition M. Douwes Dekker (1900), dbnl): Ik ben makelaar in koffi, en woon op de Lauriergracht N o 37. Het is myn gewoonte niet, romans te schryven, of zulke dingen, en het heeft dan ook lang geduurd, voor ik er toe overging een paar riem papier extra te bestellen, en het werk aantevangen, dat gy, lieve lezer, zoo-even in de hand hebt genomen, en dat ge lezen moet als ge makelaar in koffi zyt, of als ge wat anders zyt. Max Havelaar Neben einer moralisch-politischen Anklage wegen menschenverachtender Umstände in Indonesien will Multatuli so schreiben, wie man auch tatsächlich spricht, was aber gar nicht so einfach ist, wenn man etwas anderes in der Schule gelernt hat: "Ik leg me toe op 't schryven van levend hollandsch. Maar ik heb schoolgegaan." (aus Ideën I, 41, zitiert aus Edition Funke (1879), dbnl). Für den modernen Leser ist diese Form des Niederländischen noch immer recht steif und ungewohnt. Im 19. Jahrhundert jedoch war dies fast revolutionär, u.a., weil Multatuli auf Flexionsendungen für Dativ und Akkusativ verzichtet, die in der gesprochenen Sprache seit Jahrzehnten verschwunden waren und nur künstlich in Grammatiken heraufbeschworen wurden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kommt es zur ersten Standardisierung des gesprochenen Niederländisch. Statt eines 'platten Dialekts' kann man besser Algemeen Beschaafd Nederlands (abgekürzt ABN) sprechen, also 'allgemeines kultiviertes Niederländisch'. Allgemein ist diese Variante, weil sie überregional verständlich ist und keine allzu gefärbten Elemente enthält. Aufgrund der wachsenden Mobilität und der vermehrten überregionalen Kontakte ist ein solches Kommunikationsmittel schlichtweg notwendig (Van der Sijs 2004). Als kultiviert wird das ABN bezeichnet, weil es zunächst die Sprache der Elite, einer Bevölkerungsschicht mit ökonomischem und kulturellem Prestige, ist. Wer diese Varietät beherrscht, 'gehört dazu' und kann mitreden. 2.2.4 Modernes Niederländisch Mit dem 20. Jahrhundert beginnt das Zeitalter des modernen Niederländisch (Hedendaags Nederlands). Wiederum sind es externe, historisch-kulturelle Faktoren, <?page no="51"?> 2.2 Sprachstadien des Niederländischen 51 die die Entwicklung der Standardsprache stark beeinflussen. Durch die Einführung der Schulpflicht und die Verbesserung des Unterrichts lernen viel mehr Menschen die Standardsprache. Durch Migrationsbewegungen sowohl innerhalb des Sprachraumes als auch durch Migration von außen (Gastarbeiter etc.) und durch die gestiegene Mobilität der Sprecher verbreitet sich die Standardsprache immer mehr und ist im überregionalen Austausch immer wichtiger. Großen Einfluss haben auch Radio, Fernsehen und die Printmedien, die ein überregionales Publikum erreichen wollen. Durch Demokratisierungs- und Emanzipationsbewegungen erhalten weit mehr Gruppen (wie Frauen, Arbeiter) Zugang zu Bildung und kommen dadurch auch in Kontakt mit der Standardsprache bzw. benötigen die Kenntnis der Standardsprache (vgl. Van der Horst & Van der Horst 1999). Auch in Flandern ändern sich die gesellschaftlich-politischen Strukturen grundlegend. Ab 1932 ist Belgien offiziell in einen nördlichen, niederländischsprachigen und einen südlichen, französischsprachigen Teil geteilt, die Sprachgrenze wird 1962/ 63 definitiv festgelegt. Nach der langen französischen Periode wird nun auch in Flandern das Niederländische als Amts- und Kultursprache in wichtigen Bereichen wie Schule, Wissenschaft und Politik wieder eingeführt. Ab den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts kann man in Belgien an der Universität in Gent auf Niederländisch studieren. Insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann Flandern sich stark entfalten und erlebt eine Periode ökonomischer Blüte (Van der Horst & Van der Horst 1999). Diese Veränderungen schlagen sich auch im sprachlichen Selbstbewusstsein der Flamen nieder. Im 20. Jahrhundert richtet sich die Standardisierung des Niederländischen nicht mehr nur auf die geschriebene Sprache, sondern auch auch die gesprochene Sprache; hierzu tragen sicherlich auch die Medien stark bei. Diese Entwicklung verläuft in drei Phasen: In der ersten Phase von etwa 1895-1920 gilt es als schick, Algemeen Beschaafd Nederlands zu sprechen, so wie es von der Fachzeitschrift Taal en letteren propagiert wird. In der zweiten Phase, etwa von 1920-1970, entwickelt sich das ABN zur Sprache des Bürgertums, in der dritten Phase ab 1970 ist das ABN Allgemeingut, die überregionale Sprache, mit der man in Funk und Fernsehen mit allen Niederländischsprachigen kommunizieren kann. Der Einfluss normierender Instanzen (Schulunterricht, Grammatiken etc.) wird immer geringer, so dass der Abstand zwischen Standardsprache und allgemeiner Umgangssprache immer kleiner wird. Varianten wie hun hebben (statt zij hebben), groter als (statt groter dan) oder het boek wat ik lees (statt het boek dat ik lees) könnten sich in nächster Zeit als standard-sprachlich durchsetzen. Der Begriff 'Standardsprache' ist in diesem Kontext nicht unproblematisch. In früheren Jahrhunderten zielte der Begriff in der Regel auf eine schriftlich fixierte Form ab. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts unterliegt aber auch die gesprochene Sprache einer Standardisierung. Definitionen, was eine Standardsprache im modernen Sinne nun eigentlich ist, bleiben meist vage und sind eher Umschreibungen denn Definitionen (vgl. Kap. 1). Hinzu kommt, dass in den unterschiedlichen Epo- <?page no="52"?> 2. Die Geschichte des Niederländischen 52 chen andere Sprachformen unter den Begriff Standardsprache fallen, wie wir gerade gesehen haben. In den letzten Jahren scheint die Akzeptanz verschiedener Formen und die Dehnung der Normen zuzunehmen, wodurch es zu einer Destandardisierung kommen kann (Van der Horst 2008a; vgl. Kap. 8). Die niederländische Sprache unterscheidet sich in den Niederlanden und in Belgien bis heute und auch die Haltung zum Niederländischen unterscheidet sich stark. Die meisten Niederländer halten es für selbstverständlich, dass sie ihre Muttersprache als Kultur- und Amtssprache in Verwaltung, bei Gericht und in der Literatur verwenden können. Die Achtung vor ihrer eigenen Sprache ist nicht besonders hoch und man ist sich der Geschichte und der Bedeutung des Niederländischen als Kultursprache nicht unbedingt bewusst. Entsprechend ist die Bereitschaft zur Sprachpflege bei vielen nicht so stark ausgeprägt und man ist bei internationalen Kontakten gerne bereit, auf andere Sprachen umzuschalten. Bei den Flamen ist das Bewusstsein noch immer vorhanden, dass ihre Muttersprache vom Französischen verdrängt und lange unterdrückt wurde. Sie sind stolz auf ihre Sprache - auch wenn sie häufig das Niederländische der Niederlande, das sie als Hollands bezeichnen, verabscheuen. In den letzten Jahren wächst das Selbstbewusstsein der Flamen stetig. Flandern ist ökonomisch stark und unabhängig und der Wunsch, sich vom 'holländischen Norden' sprachlich weiter abzugrenzen, wächst mit der ökonomischen Stärke (vgl. Kap. 8). Statt der Standardsprache wird in vielen Kreisen allerdings eine andere Varietät verwendet, das sog. Verkavelingsvlaams (vgl. Kap. 1 und 8). Diese Varietät liegt zwischen Standard und Dialekt und wird meist umgangssprachlich verwendet. Es ist völlig offen, wie sich das Niederländische weiter entwickeln wird. Welchen Einfluss hat die allgemeine Tendenz zu mehr Variation und Destandardisierung? Welche Rolle kommt dem Englischen als moderne Lingua franca zu? Wird gerade im Gegenzug zur Globalisierung die Individualität durch Sprache einen neuen Stellenwert erhalten? Wie wird sich das Niederländische in Flandern entwickeln? Wird man stärker seine eigene Form des Niederländischen entwickeln, ohne Rücksicht auf Einheit in der Sprache? Wird man in einigen Jahrzehnten in Flandern Verkavelingsvlaams sprechen statt Niederländisch? Spannende Fragen, mit denen sich die Sprachwissenschaft auseinandersetzt. 2.3 Zusammenfassung Die niederländische Sprache gehört genau wie das Deutsche und Englische zum westgermanischen Sprachzweig innerhalb der indoeuropäischen Sprachfamilie. Nach der 2. Lautverschiebung sieht man deutliche Unterschiede zwischen dem Altniederländischen und dem Althochdeutschen. Im Mittelalter entstehen in den verschiedenen Regionen der Niederlande viele literarische Texte in der Volkssprache; es <?page no="53"?> Aufgaben 53 entwickelt sich eine volkssprachliche Literatur ausgehend von Flandern und Brabant und auch als Amtssprache kann das Mittelniederländische das Lateinische im Laufe der Zeit verdrängen. In der Zeit des Gouden Eeuw macht das Neuniederländische in den Niederlanden und in Belgien aufgrund externer, historisch-politischer Faktoren eine sehr unterschiedliche Entwicklung durch. Bei der Standardisierung der geschriebenen Sprache im 16. und 17. Jahrhundert ist der Norden der Lage Landen tonangebend. Bei der Standardisierung der gesprochenen Sprache im 19. Jahrhundert ebenfalls. Insbesondere in dieser zweiten Phase ist der Einfluss aus Flandern auf die niederländische Standardsprache minimal. Für das moderne Niederländische lässt sich im 20. Jahrhundert eine Annäherung des Niederländischen in Belgien und des Niederländischen in den Niederlanden konstatieren. Im 21. Jahrhundert scheint sich diese Annäherung jedoch weiter nicht durchzusetzen. Die weitere Entwicklung der niederländischen Sprache in Belgien und den Niederlanden ist offen. Aufgaben Aufgaben 1. Warum ähneln sich das Deutsche und Niederländische so sehr? Warum kann man aber ab etwa dem 8. Jahrhundert von zwei unterschiedlichen Sprachen ausgehen? 2. Vergleichen Sie die folgenden Begriffe in der Tabelle. Ist das Türkische doch eine germanische Sprache? Wie lassen sich diese Übereinstimmungen erklären? dt. Schal Pyjama Gameboy Blockflöte Telefon Radio ndl. sjaal pyjama gameboy blokfluit telefoon radio tü. şal pijama gameboy blokflüt telefon radyo 3. Das folgende Textfragment stammt aus der Rittergeschichte Karel ende Elegast (Cd-rom Middelnederlands 1998). Der Ritter Elegast spricht mit König Karl über einen anderen Ritter, Eggeric, der den König verraten haben soll. 1171 Doe Elegast, die ridder goet 1204 Ic ben seker wel te voren 1172 Quam in des conincs sale 1205 Dat Eggeric heeft u doot gesworen 1173 - Nu moochdie horen sine tale! - 1206 Ic hoordet hem seggen daer hi lach. 1174 Hi seide: God hoede dit gesinde, 1207 Hi gaf sinen wive enen slach, 1175 Den coninc ende dat ik hier vinde. 1208 Dat sijt dorste anden, 1209 Dat haer dbloet ten tanden 1210 Ter nase ende ter mont uut brac. a. Benennen Sie Beispiele im Text für flektierte Formen (Genitiv, Akkusativ, Konjunktiv etc.), die im modernen Niederländisch nicht mehr üblich, hier aber noch anzutreffen sind. <?page no="54"?> 2. Die Geschichte des Niederländischen 54 b. Im Text kommen mehrere klitische Formen vor. Benennen Sie diese und geben Sie jeweils die volle Form an. c. In Zeile 1207 steht das Wort wive (wijf). Was bedeutet es offensichtlich im Text, wie würde man es übersetzen? Was bedeutet wijf heutzutage im Niederländischen (und Deutschen)? Was ist offensichtlich geschehen? (vgl. hierzu Kap. 3 und 9) d. Inwieweit haben sich die Wörter wive und uut (Z. 1210) im modernen Niederländisch lautlich verändert? Wie wird dieser Vorgang bezeichnet? e. In Zeile 1210 steht das Wort mont. Warum schrieb man in Mittelalter mont und warum schreibt man heutzutage mond (vgl. hierzu Kap. 6). 4. Warum sind die Geschichtsdaten 1585 und 1648 so wichtig für die Entwicklung des modernen Niederländischen? 5. Vergleichen Sie (z.B. über Google Books) eine Grammatik aus dem 18. Jahrhundert mit der ANS (Algemene Nederlandse Spraakkunst); was fällt auf? Literatur zum Weiterlesen Ein deutschsprachiges Werk zur Geschichte der niederländischen Sprache ist Vekeman & Ecke (1992) Die Geschichte der niederländischen Sprache. Auf Niederländisch gibt das Büchlein De geschiedenis van het Nederlands in een notendop (Van der Sijs 2005a) eine knappe Übersicht. Ausführlicher und mit sehr viel Bildmaterial versehen ist Het verhaal van het Nederands. Een geschiedenis van twaalf eeuwen (Van der Sijs & Willemyns 2009). Für Studierende der Niederlandistik verfasst ist das Grundlagenwerk Het Nederlands vroeger en nu (Janssens & Marynissen 2008), das insbesondere auch auf das Niederländische in Belgien eingeht. Ebenfalls zu den Grundlagenwerken gehört De geschiedenis van het Nederlands (Van der Wal 1993). Wissenschaftliche Standardwerke sind De geschiedenis van de Nederlandse taal (Van den Toorn et al. 1997) und De geschiedenis van het Nederlands in de twintigste eeuw (Van der Horst & Van der Horst 1999). Eine Beschreibung zur historischen Standardisierung des Niederländischen ist De moedertaal centraal (Van der Wal 1995); eine umfassende Darstellung zur Entstehung des ABN bietet Taal als mensenwerk (Van der Sijs 2004). Das mögliche Ende der Standardsprachen in Europa thematisiert Van der Horst (2008a) in Het einde van de standaardtaal. Übersichtlich und ansprechend dargestellte Informationen und Materialien zur niederländischen Literatur vom Mittelalter bis zur Neuzeit (mit einem Kursus Mittelniederländisch) gibt es auf der Internetseite www.literatuurgeschiedenis.nl. Zur Geschichte der Niederlande kann auf das Grundlagenwerk von Lademacher Geschichte der Niederlande. Politik - Verfassung - Wirtschaft (1983) sowie das Buch Geschiedenis van Nederland. Van Opstand tot heden von Wielenga (2012) verwiesen werden. <?page no="55"?> 3. Wörter und ihre Bedeutung Truus Kruyt haaaj Mish! ! ! ben je r? kmoet je wat vertelle : -) w8ff kwor gebeld brb aus Bennis 2012: 47 Ist das Niederländisch? Ja, das ist SMS-Sprache und viele Menschen benutzen diese Art der Sprache, wenn sie über das Internet oder das Handy kommunizieren. In konventionellem Niederländisch heißt der Satz: Ha Misha, ben je er? Ik moet je wat vertellen. Wacht even, ik word gebeld. Be right back. Weil wir in solchen kurzen Nachrichten so viele Informationen wie möglich vermitteln möchten, benutzen wir Sprache auf kreative Art: Wir verkürzen Wörter (r für er, vertelle für vertellen), ziehen Wörter zusammen (kmoet für ik moet, kwor für ik word) und verwenden Abkürzungen (ff für effe (even), brb für be right back). Außerdem kommen nicht-sprachliche Mittel wie Zahlen (w8 für wacht) und Emoticons ( : -) ) zum Einsatz. Dieses Beispiel zeigt, dass Kommunikation nicht nur über Wörter, über Sprache stattfinden kann, sondern auch über nicht-sprachliche Mittel oder aus einer Kombination von beidem. Wenn ein Passant fragt, wo der nächste Parkplatz ist, können wir auf unterschiedliche Art und Weise antworten. Entweder wir erklären den Weg zum Parkplatz mit Wörtern oder wir zeigen auf ein Verkehrsschild mit einem P und sagen Daar! oder aber wir sagen gar nichts und zeigen nur auf das Schild. Verwunderung können wir mit einer bestimmten Äußerung wie Oh? ! , durch Mimik oder mit Wort und Mimik zugleich ausdrücken. Wer eine Toilette sucht, weiß, dass er diese hinter der Tür mit der bekannten Abbildung eines stilisierten Mannes oder einer stilisierten Frau, dem Piktogramm für Toilette, finden kann. Kurzum, es gibt verschiedene Arten, etwas auszudrücken, zu kommunizieren - Sprache ist eine davon. Bei all diesen Kommunikationsformen gibt es eine Beziehung zwischen einer bestimmten Form (Wort, Gebärde, Abbildung u.a.) und der Bedeutung oder Assoziation, die diese Form hervorruft. Die Formen sind 'Zeichen' für etwas anderes und wer diese Zeichen benutzt, weiß, wofür sie stehen und was sie bedeuten. Die Wissenschaft der Zeichen und Zeichensysteme heißt Semiotik (semiotiek). Wörter (und Sprache insgesamt) gehören also in einen viel größeren Zusammenhang von Zeichensystemen, mit denen Kommunikation entsteht. <?page no="56"?> 3. Wörter und ihre Bedeutung 56 3.1 Wissenschaftliche Erforschung des Wortschatzes Alle Wörter einer Sprache bilden zusammen den Wortschatz oder das Lexikon (lexicon) dieser Sprache. Die wissenschaftliche Erforschung des Wortschatzes heißt Lexikologie (lexicologie). Bevor wir auf die wissenschaftlichen Methoden der Lexikologie näher eingehen, soll zunächst die Beziehung zwischen einem Wort als Zeichen und den Assoziationen, die das Wort hervorruft, verdeutlicht werden. In den Niederlanden wird viel gefietst. Die meisten Sprecher des Niederländischen wissen aus eigener Erfahrung, dass ein fiets ein Gegenstand mit zwei Rädern und zwei Pedalen ist, mit dem man sich fortbewegen kann. Auch ohne den konkreten Gegenstand zu sehen, haben sie eine mentale Vorstellung davon: Die Bedeutung (betekenis) von fiets könnte man als 'Gegenstand mit zwei Rädern und zwei Pedalen zur Fortbewegung' umschreiben. Das Wort fiets ist im Niederländischen die Bezeichnung für alle Exemplare eines solchen Gegenstandes, auch wenn nicht alle Exemplare genau gleich aussehen. Wenn man etwas über diesen Gegenstand sagen möchte, benutzt man im Niederländischen das Wort fiets und im Deutschen das Wort 'Fahrrad'. Zwischen dem Gegenstand und den Wörtern, mit denen der Gegenstand beschrieben wird, gibt es einen Unterschied. Die Wörter fiets und Fahrrad gehören mit ihrer Bedeutung zur Sprache; der Gegenstand ist eine Sache in der Wirklichkeit. Das Wort ist nicht der Gegenstand selbst, es ist ein Name für diesen Gegenstand, oder mit Begriffen der Semiotik ausgedrückt: Das Wort fiets ist ein Zeichen (teken) für den Gegenstand, den wir damit assoziieren. Dass der Gegenstand mit dem Wort fiets bezeichnet wird, ist aber willkürlich oder arbiträr (arbitrair): Sprecher des Niederländischen haben diesen Gegenstand im 19. Jahrhundert fiets genannt. Es hätte aber auch genauso gut ein anderes Wort sein können. Diese arbiträre Beziehung gilt für die meisten Wörter. Mit dem niederländischen Wort brug können mindestens drei Sachen gemeint sein: das Bauwerk, die Zahnprothese und die Turnübung. Das hängt von der Situation oder dem Kontext ab. Das Wort brug hat also drei verschiedene Bedeutungen. Es kann als Bezeichnung für drei verschiedene Dinge benutzt werden und zwar für alle Exemplare dieser Art. Auch hier gibt es einen Unterschied zwischen der Wortform brug, den Bedeutungen des Wortes (Bauwerk, Zahnprothese, Turnübung) und den Dingen in unserer Erfahrungswelt, die mit den Bedeutungen des Wortes korrespondieren. Das gilt nicht nur für Wörter, die sich auf konkrete Gegenstände beziehen, sondern auch für abstrakte Wörter wie verstand oder enthousiasme, für Eigenschaften wie aardig und vriendelijk oder für Tätigkeiten wie denken und luisteren. Durch Erfahrung haben Sprachbenutzer eine Vorstellung davon, was mit den abstrakten Wörtern gemeint ist und deshalb funktionieren die Wörter auch in der Kommunikation. Gegenstand oder Ding muss also viel weiter gefasst werden. Wörter verweisen auf Gegenstände in der Erfahrungswelt: auf Sachen, Eigenschaften, Personen, Ereignisse, <?page no="57"?> 3.1 Wissenschaftliche Er Handlungen usw., aber spoken oder marsmanne Zusammenfassend k tung' und 'Entität in de deutungen und jede Be Referenten (referent). schen Dreieck (semiot in der Abbildung geben tung; eine Bedeutung b die indirekte Beziehung Die sprachwissenschaf Sprache (wobei mehr a nennt man Semantik theoretische Strömung begriffe benutzen. So w 'Begriff', 'Konzept', 'Re 'Entität in der Erfahrun 3.1.1 Vom Wort zur B In der Lexikologie kann der semasiologischen Ausgangspunkt. Diese M tungsbeziehungen. Bei der Referent und es w b woordvorm fiets rforschung des Wortschatzes r auch auf Entitäten in der Fantasiewelt wie elfen etjes. können wir von drei Einheiten sprechen: 'Wortfor er Erfahrungswelt'. Jede Wortform hat eine oder m edeutung verweist auf eine Entität in der Erfahrun Das Verhältnis dieser drei Einheiten kann in einem tische driehoek) wiedergegeben werden (Abb. 3.1). n eine direkte Beziehung an: Eine Wortform hat e bezieht sich auf einen Referenten. Die gestrichelte g zwischen Wortform und Referent an. Abb. 3.1: Semiotisches Dreieck ftliche Disziplin, die sich mit der Beziehung zw als bloß Wörter gemeint sind) und der Erfahrungsw (semantiek). Innerhalb der Semantik gibt es ve gen, die jeweils eigene semantische Modelle und ei wird 'Entität in der Erfahrungswelt', auch mit dem ferent' oder 'Entität' bezeichnet. Im Folgenden w ngswelt' der Begriff 'Referent' verwendet. Bedeutung; Beziehungen zwischen Wortbedeutun n der Wortschatz mit zwei Methoden untersucht w n Methode bildet das Wort (eigentlich die Wort Methode beschäftigt sich mit der Bedeutung und d i der onomasiologischen Methode ist der Ausg werden Wörter untersucht, mit denen der Refere betekenis referent 57 n, kabouters, rm', 'Bedeumehrere Bengswelt, den m semioti- Die Linien eine Bedeue Linie gibt wischen der welt befasst, erschiedene igene Fach- Fachbegriff wird hier für ngen werden. Bei tform) den den Bedeugangspunkt nt benannt <?page no="58"?> 3. Wörter und ihre Bedeutung 58 werden kann, und Wörter, die in einem semantischen Zusammenhang stehen. Dieses Unterkapitel beschäftigt sich mit der semasiologischen Methode. Das Wort fiets hat nur eine Bedeutung, die auf einen einzigen Referenten verweist, auch wenn es noch so viele Exemplare davon gibt: nämlich der Gegenstand mit zwei Rädern und zwei Pedalen, mit dem man sich fortbewegen kann. Dasselbe gilt für notebook, surfplank, hoogleraar, januari und andere Wörter. Wenn ein Wort nur eine einzige Bedeutung hat, spricht man von Monosemie (monosemie). Das Wort brug hat mehr als eine Bedeutung, es hat mindestens drei: Bauwerk, Zahnprothese und Turnübung. Beispiele für andere Wörter mit mehr als einer Bedeutung sind man (Mann, Mensch, Ehemann), uitspraak (Aussprache, Äußerung oder Urteil), surfen (auf Wasser oder im Internet) und bekend (bekannt, bekanntlich, vertraut). Hat ein Wort mehr als eine Bedeutung, spricht man von Polysemie (polysemie). Bei polysemen Wörtern sind die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Bedeutungen oft eindeutig, weil sich eine neue Bedeutung aus einer bereits vorhandenen Bedeutung entwickelt. Das surfen im Internet geht auf das surfen mit einem Surfbrett auf dem Wasser zurück. Jedoch ist es nicht immer offensichtlich, ob es eine ursprüngliche Bedeutung gibt, aus der sich die weiteren Bedeutungen entwickelt haben. Es gibt allerdings bestimmte Denkprozesse, die eine Rolle bei der Bildung einer neuen Bedeutung spielen, durch die sich systematische Beziehungen zwischen den Bedeutungen entwickeln. Die wichtigsten Prozesse sind Metonymie (metonymie), Metapher (metafoor), Bedeutungserweiterung oder Generalisierung (betekenisgeneralisatie) und Bedeutungsverengung (betekenisspecialisatie). Diese Begriffe werden im Folgenden anhand eines in der sprachwissenschaftlichen Literatur bekannten Beispiels genauer erklärt. Lesen Sie die folgenden Sätze und bestimmen Sie jeweils die Bedeutung des Wortes school: 1) De ouders zoeken voor hun kind een goede middelbare school. 2) Scholen en ouders hebben plannen voor verbetering van het onderwijs. 3) Voor en na school past de buurvouw op onze kinderen. 4) In de nieuwe wijk komt een supermarkt, een buurthuis en een grote school. 5) De vissen vormen scholen om op zandbanken bij de kust kuit te schieten. 6) Om te gaan staken moeten de leerlingen toestemming hebben van school. 7) Het eerste deel van de memoires van Casanova heet 'De school van het leven'. 8) De school heeft vandaag een sportdag. 9) De school gaat uit. 10) Die schilders behoren tot de Haagse School. 11) Die hoogleraar heeft school gemaakt. 12) Zij heeft dwarsfluit leren spelen volgens de Franse school. Die Bedeutungen von school können folgendermaßen umschrieben werden: <?page no="59"?> 3.1 Wissenschaftliche Erforschung des Wortschatzes 59 1) Einrichtung, in der Unterricht erteilt wird, Bildungseinrichtung 2) Leitung und Lehrkräfte der Bildungseinrichtung 3) Dauer des Unterrichts, Schulstunden 4) Gebäude, in dem sich die Bildungseinrichtung befindet 5) zusammengehörige Menge, Gruppe (Fische) 6) Direktion oder Verwaltung einer Bildungseinrichtung 7) das Leben als Lehre: Im Leben lernt man viel 8) die Schüler der Bildungseinrichtung 9) drei mögliche Interpretationen: die Schüler und Lehrer (gehen nach draußen), der Unterricht (ist zu Ende) oder Schüler und Lehrer (machen einen Ausflug; vergleichbar mit (8)) 10) eine Gruppe von Personen in der Kunst oder Wissenschaft, die gleiche Arbeitsweisen oder Auffassungen haben 11) Schule machen: Schüler/ Promovenden haben, die das Werk von jemandem in seinem Sinne fortsetzen 12) Französische Schule: eine bestimmte Unterrichtsmethode Die erste Bedeutung des Wortes school nehmen wir hier als Ausgangspunkt für die Bezeichnung der Bedeutungszusammenhänge, so wie das in der sprachwissenschaftlichen Literatur häufig gemacht wird. Auch wenn die systematischen Beziehungen in der Fachliteratur unterschiedlich behandelt werden, geht es im Grunde um dieselben Prozesse (Metonymie, Metapher, Bedeutungserweiterung und Bedeutungsverengung). Es wird davon ausgegangen, dass school in unserem mentalen Lexikon (mentaal lexicon) ein Komplex aus verschiedenen Bedeutungsmerkmalen ist, die je nach Kontext in den Vordergrund treten können. Vereinfacht ausgedrückt ist das mentale Lexikon der Wortschatz, der in unserem Gedächtnis gespeichert ist. Man spricht von Metonymie, wenn man ein anderes Wort verwendet als das eigentlich gemeinte, wobei dieses Wort einen engen Bezug zum eigentlichen Wort hat und mit dem gemeinten Referenten assoziiert wird. Ein Beispiel ist de schaatser won goud, wobei goud in diesem Fall für 'Goldmedaille' steht. Eine häufig vorkommende Form der Metonymie ist das Pars pro toto (ein Teil für das Ganze): Anstatt ein Wort für das Ganze zu benutzen, wird nur ein Teil des Ganzen benannt, wie beispielsweise even de neuzen tellen (mal schauen, wie viele Leute da sind), in dem der Teil neus für die gesamte Person steht. Es gibt viele andere metonymische Beziehungen, wie in Wij hebben een Corneille gekocht, d.h. ein Kunstwerk von Corneille (Name des Herstellers für das Produkt) oder Wil je nog een glas? , d.h. ein Glas mit einem bestimmten Inhalt (das Behältnis für den Inhalt). Metonymie (wörtl. Umbenennung) ist der Ersatz einer Benennung durch eine andere, die in einem engen Zusammenhang mit der ersten steht. <?page no="60"?> 3. Wörter und ihre Bedeutung 60 Kehren wir nun zum Wort school zurück. In den Sätzen 2 und 8 steht das Wort school für eine Personengruppe, die zu der Bildungseinrichtung gehört; in 6 für die Direktion oder Verwaltung; in Satz 3 für den Unterricht in der Bildungseinrichtung; in 4 für das Gebäude der Bildungseinrichtung. In 9 gibt es zwei Möglichkeiten: der Unterricht oder die Personen. In allen Fällen handelt es sich um Metonymie: Das Wort school wird also nicht nur für die ursprüngliche Bedeutung 'Bildungseinrichtung' benutzt (1), sondern auch für Dinge und Personen, die in einer klaren Relation dazu stehen. Aber was hat es mit der 'Schule des Lebens' in 7 auf sich? Das Leben wird hier als Erwerb von Wissen und Erfahrungen im Leben verstanden, so wie man Wissen und Erfahrungen auch in der Schule erwirbt - das Leben als Lehre. Hier kann man von einer Metapher sprechen. Bei einer Metapher (wörtl. Übertragung) liegt ein Zusammenhang zwischen der ursprünglichen und der gemeinten Bedeutung aufgrund von Ähnlichkeit vor. Ein anderes Beispiel ist das Wort hoofd mit der Bedeutung 'oberster Teil des Körpers'. Metaphorisch wird hoofd verwendet, wenn es in der Bedeutung von 'der oberste oder vorderste Teil von etwas' benutzt wird, wie in het hoofd van het gezin (Familienoberhaupt), het hoofd van de afdeling (Abteilungsleiter) oder het hoofd van de tafel (der Kopf des Tisches). Ebenso funktioniert das Beispiel de voet van de berg (der Fuß des Berges). Im täglichen Sprachgebrauch wimmelt es von Metaphern: een gezonde economie (in gutem Zustand, so wie ein gesunder Mensch), Computer haben virussen (wie der menschliche Körper), een tsunami van protesten (wie bei einer Flut) und Het is hier een zwijnenstal! als Ausruf bei einer Konfrontation mit einem völlig verdreckten Raum. Für den Sprachbenutzer ist es heutzutage möglich, die Gruppe Fische in 5 als Metapher für die Personengruppe in 2 und 8 zu sehen; historisch betrachtet hat school in diesem Fall jedoch eine andere Herkunft oder Etymologie (etymologie) als school in den anderen Bedeutungen (vgl. 3.3.2). In den Sätzen 10 und 11 liegt eine Bedeutungserweiterung (Generalisierung) vor. Bei diesem Prozess verliert das Wort seine ursprünglichen Bedeutungsbeschränkungen, wodurch sich der Bedeutungsumfang vergrößert. So verweist school nicht mehr ausschließlich auf die Schüler einer Schule, sondern die Bedeutung wird weiter gefasst und auf die Anhänger einer Person (11) oder auf eine Personengruppe mit gleichen Arbeitsweisen oder Auffassungen (10) ausgeweitet. Auch wenn ein Wort aus einer Fachsprache mit einer spezialisierten Bedeutung eine weitere Bedeutung in der allgemeinen Sprache bekommt, liegt eine Generalisierung vor. So hat das Wort output, ein Begriff aus der Informatik, weiter gefasst Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden. In Satz 12 verweist school nicht auf die Unterrichtsstunden, den Unterricht an sich, sondern auf eine bestimmte Unterrichtsmethode. Der Bedeutungsumfang ver- <?page no="61"?> 3.1 Wissenschaftliche Erforschung des Wortschatzes 61 kleinert sich: Es liegt eine Bedeutungsverengung vor. Ein anderes Beispiel ist zetten, das als Druckerbegriff eine speziellere, engere Bedeutung hat, nämlich das Setzen von Bleibuchstaben in den Setzkasten. Oder zitten, das neben der allgemeinen Bedeutung 'auf dem Hintern sitzen' die verengte Bedeutung in de gevangenis zitten 'eine Strafe absitzen' hat. Die verschiedenen Bedeutungen von school und ihr semantischer Zusammenhang werden in Abbildung 3.2 zusammengefasst. Abb. 3.2 : Schematische Übersicht der Bedeutungsbeziehungen von school. Linien ohne Pfeil: Metonymie; Pfeile rechts/ links: Metapher; klein gestrichelter Pfeil: Bedeutungserweiterung; grob gestrichelter Pfeil: Bedeutungsverengung Die Bedeutungsbeziehungen wie bei school kommen auch bei Wörtern wie kantoor, universiteit, instituut, ministerie, ziekenhuis, kerk, fabriek und museum vor. Es gibt hier eine gewisse Systematik. Allerdings sind nicht bei allen polysemen Wörtern die Beziehungen zwischen den Bedeutungen so eindeutig nachvollziehbar wie im Beispiel school. 3.1.2 Vom Referenten zum Wort; semantische Beziehungen zwischen Wörtern Bei der onomasiologischen Methode bilden die Beziehungen zwischen Bedeutungen von Wörtern, die auf denselben Referenten verweisen, den Ausgangspunkt der Untersuchung. Auch die Beziehungen zwischen Wörtern, deren Referenten eine andere semantische Beziehung untereinander haben, können untersucht werden. Der gleiche Referent kann mit verschiedenen Wörtern bezeichnet werden, oder bei polysemen Wörtern mit einer der Wortbedeutungen. Die Wörter fiets oder rijwiel (im Niederländischen beide monosem) verweisen auf denselben Referenten. onderwijsinstelling groep "schoolmensen" gebouw lessen groep vissen school van het leven groep kunstenaars groep wetenschappers lesmethode <?page no="62"?> 3. Wörter und ihre Bedeutung 62 Die monosemen Wörter vriendelijk und sympathiek sowie das polyseme Wort aardig 1 haben eine Bedeutung, die nicht genau, aber fast gleich ist und so auf den mehr oder weniger gleichen Referenten verweist. Wörter, die innerhalb einer Sprache dieselbe oder so gut wie dieselbe Bedeutung haben, werden Synonyme (synoniemen) genannt. Rijwiel und fiets sind Synonyme; aardig, vriendelijk und sympathiek auch. Dennoch gibt es kleine Unterschiede zwischen der Bedeutung von Synonymen. Der Unterschied zwischen aardig, vriendelijk und sympathiek lässt sich nicht so einfach erklären. Sicher ist, dass rijwiel formeller ist als fiets, genauso wie Zweirad im Deutschen formeller ist als Fahrrad. Bei rijwiel denkt man eher an ein altmodisches, schwarzes Fahrrad eines vornehmen älteren Herren oder einer vornehmen Dame als an ein normales Fahrrad. Der formelle Charakter gibt rijwiel eine andere Konnotation (connotatie), d.h. eine andere emotionale Bedeutungskomponente oder einen anderen Gefühlswert (gevoelswaarde) als das Wort fiets. Die beiden Wörter haben jedoch die gleiche Denotation (denotatie): Sie verweisen auf den gleichen Referenten. Auch beurs und portemonnee sind Synonyme. Beurs hat jedoch eine altmodische oder regional gefärbte Konnotation, wenn es sich nicht gerade um feststehende Ausdrücke handelt, wie zijn beurs trekken (die Börse zücken) und diep in de beurs tasten (tief in die Tasche greifen). Bei dem Synonymenpaar griep und influenza gehört griep zum allgemeinen Wortschatz, während influenza vor allem im medizinischen Kontext verwendet wird. Synonyme sind somit nicht in jedem Kontext austauschbar, weil sie häufig nicht genau dieselbe Bedeutung haben. Der Synonymie steht die Antonymie (antonymie) gegenüber: Zwei Wörter haben eine gegenteilige Bedeutung. Beispiele für Antonyme sind aardig/ onaardig, efficiënt/ inefficiënt, hard/ zacht, hoogtepunt/ dieptepunt und rijkdom/ armoede. Bei diesen Wortpaaren handelt es sich um binäre Antonyme (binaire antoniemen), weil sich zwei Bedeutungen gegenüberstehen. Innerhalb dieser Gruppe gibt es die Unterkategorie der logischen Antonyme (logische antoniemen). Wenn das eine gilt, gilt das andere automatisch nicht, sie schließen sich gegenseitig aus, wie z.B. dood/ levend und aanwezig/ afwezig. Von mehrfacher Antonymie (meervoudige antonymie) sprechen wir, wenn es zwischen den beiden Extremen Abstufungen mit einer eigenen Bezeichnung gibt, wie: mager/ dun/ slank/ volslank/ dik vol/ halfvol/ halfleeg/ leeg altijd/ vaak/ soms/ nooit ijskoud/ koud/ lauw/ warm/ heet Eine andere semantische Verbindung liegt bei Hyponymie (hyponymie) und Hyperonymie (hyperonymie) vor, die auch untrennbar miteinander verbunden sind, 1 Aardig kann außer 'nett' auch 'gut' und 'ordentlich' (im Sinne von 'viel') bedeuten wie z.B. in den Sätzen het is nog een aardig eindje lopen (wir haben noch ein ordentliches Stück zu laufen) oder hij verdient een aardig centje met zijn bijbaan (in seinem Nebenjob verdient er gutes Geld). In dieser Bedeutung ist aardig kein Synonym für vriendelijk und sympathiek. Synonymie betrifft also nur die semantische Relation bei Wörtern in einer bestimmten Bedeutung. Das gilt auch für Antonyme, Hyponyme und Hyperonyme. <?page no="63"?> 3.1 Wissenschaftliche Erforschung des Wortschatzes 63 denn sie verweisen auf eine hierarchische Beziehung zwischen Referenten. So sind parkiet, mus, merel und mees (alle monoseme Wörter) Bezeichnungen für verschiedene Arten von Vögeln, aber es handelt sich dennoch immer um einen Vogel: Sowohl der Wellensittich ist ein Vogel als auch der Spatz, die Amsel und die Meise. Es gibt eine 'ist ein'-Relation zwischen den verschiedenen Vögeln und vogel. Der Referent von vogel ist der übergeordnete (overkoepelende) Referent. Vogel ist daher das Hyperonym von parkiet, mus, merel, mees und allen anderen Vogelarten. Umgekehrt haben parkiet, mus, merel und mees Referenten, die dem Referenten von vogel untergeordnet (ondergeschikt) sind: Sie sind Hyponyme von vogel. Hier gilt die 'ist ein'- Relation nicht, denn man kann nicht sagen, dass ein vogel ein parkiet ist. Der Referent von vogel umfasst nämlich mehr als nur parkieten. Ein Hyperonym umfasst also die Referenten seiner Hyponyme (und nicht andersherum). Vogel an sich ist ein Hyponym des übergeordneten dier (ein Vogel ist ein Tier). Gleichzeitig ist das übergeordnete dier ein Hyperonym von vogel und von allen anderen Tieren. Dier ist ein Hyponym der übergeordneten Kategorie levend wezen, welche wiederum ein Hyperonym von dier ist. Es gibt also eine hierarchische Ordnung, eine Taxonomie (taxonomie), zwischen parkiet (ist ein) vogel (ist ein) dier (ist ein) levend wezen (Abb. 3.3). levend wezen ... mens dier ... ... vogel vis ... ... parkiet mus merel mees ... Abb. 3.3: Hierarchische Beziehung zwischen Hyperonym und Hyponymen Es gibt übrigens nicht in allen Fällen ein übergeordnetes Wort. So kennt das Niederländische kein Hyperonym speziell für Kleidungsstücke, die man über einer Hose oder einem Rock trägt, wie trui, T-shirt, overhemd, vest usw. Als Oberbegriff ist kledingstuk zu allgemein, da darunter auch broek, rok, jas, das usw. fallen. Eine derartige Lücke im Wortschatz nennt man lexikalische Lücke (lexicaal gat/ lexicale leemte). 2 2 Dieser Begriff wird auch für das komplette Fehlen eines Wortes in einer Sprache benutzt. So gibt es im Niederländischen kein Wort für Armbeuge (ndl.: binnenkant van de elleboog) und auch kein passendes niederländisches Äquivalent für das deutsche Aha-Erlebnis. <?page no="64"?> 3. Wörter und ihre Bedeutung 64 Wörter können auch Referenten benennen, zwischen denen es andere Beziehungen gibt. Ein semantisches Feld (semantisch veld) umfasst Wörter, die (in einer bestimmten Bedeutung) in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen, wie z.B. die Wörter in Tabelle 3.1: Keukentermen lepel, mes, vork, pan, oven, fornuis, magnetron, weegschaal usw. Kleuren geel, groen, rood, oranje, blauw, paars, bruin, beige, grijs usw. Familierelaties vader, moeder, dochter, zoon, opa, oma, oom, tante, nicht, neef usw. Gevoelens vrolijk, opgewekt, optimistisch, boos, bedroefd, teleurgesteld, moedeloos usw. Tab. 3.1: Wörter in einem semantischen Feld Das letzte Beispiel (gevoelens) zeigt, dass ein semantisches Feld auch Synonyme und Antonyme enthalten kann. Wörter können (in einer bestimmten Bedeutung) auch auf Referenten verweisen, zwischen denen es weitere semantische Relationen gibt. Eine davon ist die 'hat ein'-Relation, die Holonymie (holonymie), wie z.B. schoolgebouw hat ein raam. Die umgekehrte Relation ist die 'ist Teil von'-Relation, die Meronymie (meronymie), wie z.B. raam ist Teil vom schoolgebouw. Dieselben Relationen bestehen zwischen schoolgebouw und deur, gang, klaslokaal, docentenkamer, aula usw. Andere Relationen sind zum Beispiel die 'ist gemacht aus'-Relation (schoolgebouw ist gemacht aus beton), die 'entsteht durch'-Relation (schoolgebouw entsteht durch bouwen) und die 'wird benutzt für/ zu'-Relation (schoolgebouw wird benutzt für onderwijs geven und onderwijs krijgen). Derartige Relationen gelten auch für andere Gebäude und sogar für gänzlich andere Referenten: lemmet (Klinge) ist Teil von einem mes, ist gemacht aus staal, wird benutzt zum snijden, entsteht durch metaalbewerking. In diesen Relationen werden also auch Referenten von Wörtern verschiedener Wortarten miteinander in Beziehung gesetzt. Auf diese Art und Weise können die Referenten eines ganzen Themengebietes zu einem semantischen Netz (semantisch netwerk) miteinander verknüpft werden. Es wird angenommen, dass unser mentales Lexikon in Form eines sehr großen und sehr komplexen Netzes organisiert ist. Die semantischen Relationen zwischen Wortbedeutungen werden auch in Such- und anderen Computerprogrammen verarbeitet, um diese 'klüger' und 'intelligenter' zu machen, sodass sie so besser funktionieren können. <?page no="65"?> 3.2 Dynamik im Wortschatz 65 3.2 Dynamik im Wortschatz Denken Sie einmal über die folgenden Fragen nach: Welche Wörter benutzt ein Richter? Verwenden Personen mit einem anderen Beruf diese auch? Benutzen alte Menschen die gleichen Wörter wie junge? Haben Niederländer und Flamen den gleichen Wortschatz? In allen Fällen lautet die Antwort: teilweise ja, teilweise nein. Ein Richter benutzt während der Arbeit Fachbegriffe, die Personen mit einem anderen Beruf nicht kennen, aber er benutzt auch Wörter, die jeder kennt, wie zijn, gaan, dag, huis, vandaag, koud usw. sowie Funktionswörter (wie Artikel, Präpositionen, Konjunktionen, Pronomen usw.). Alte Menschen kennen Wörter, die jungen Menschen unbekannt sind, und umgekehrt. Niederländer und Flamen haben einen großen gemeinsamen Wortschatz, aber es gibt auch typisch niederländische und typisch flämische Wörter (das gilt übrigens auch für die Bedeutung einzelner Wörter): Durch eine Prüfung fallen heißt in Belgien buizen, in den Niederlanden zakken, in Belgien bestellt man een tas koffie, in den Niederlanden een kop koffie; Kehrblech und Handfeger werden in Belgien als blik en veger, in den Niederlanden als stoffer en blik bezeichnet. Im Allgemeinen ist Schriftsprache formeller als gesprochene Sprache. Beispiele für formelle niederländische Wörter aus der Schriftsprache, die von jungen Menschen nicht mehr verstanden werden, sind boreling 3 (Neugeborenes), struweel (Strauchgewächs), bestieren (leiten, lenken) und lafenis (Erfrischung). Informelle niederländische Wörter, die in der gesprochenen Sprache zwar möglich, in der Schriftsprache jedoch nicht passend sind, sind beispielsweise oprotten (sich verpissen), maffen (pennen), driftkikker (Hitzkopf) und smeris ('Bulle' für Polizist). Ursprünglich informelle Wörter, die von vielen inzwischen als neutral, also als Teil der geschriebenen und gesprochenen Sprache verstanden werden, sind z.B. floppen (missglücken), inseinen (informieren), geld ophoesten (bezahlen) und vastpinnen op iets (jemanden auf etwas festnageln). Deutlich vulgärer und mitunter schockierend sind Schimpfwörter wie gratenkut (für eine magere Frau), gleufdier (für eine Frau) und kankerlijer (für einen Mann, 'Scheißkerl'). Die Einschätzung, wie formell, informell oder vulgär ein Wort ist, ist nicht bei allen Sprachbenutzern gleich, sondern hängt unter anderem vom Alter und dem sozialen Hintergrund ab. Innerhalb bestimmter Sprechergruppen gibt es Wörter oder Wortbedeutungen, die nur in dieser Gruppe üblich sind und nicht allgemein von allen Sprachbenutzern verstanden werden. Wörter wie chappie (Junge), niffa (Messer), doekoe (Geld) und kaas (Niederländer) sind Wörter aus einer Jugendsprache in den Niederlanden, der sog. straattaal. Nerds verwenden Wörter wie egosurfen (den eigenen Namen im Internet suchen, um herauszufinden, was andere von einem halten) und dlen (herunterladen). Pferdeliebhaber wissen was achterhand ist, nämlich der Teil des Pferdekörpers hinter dem Sattel, und Ärzte untereinander sprechen von hemorragie (Blu- 3 Wird von jungen Menschen in Flandern noch verstanden. <?page no="66"?> 3. Wörter und ihre Bedeutung 66 tung), cranium (Schädel) und perspiratie (Schwitzen). Wörter oder Wortbedeutungen, die für eine bestimmte Gruppe typisch sind, können in die (informelle) allgemeine Sprache durchdringen, wie das jiddische jatten (stehlen) und mazzel hebben (Glück haben). Nicht jeder kennt oder verwendet also dieselben Wörter und Bedeutungen. Der Wortschatz ist keine statische Wortsammlung: Es kommen neue Wörter und Bedeutungen dazu und Wörter und Bedeutungen verschwinden. Neue Wörter heißen Neologismen (neologismen) (vgl. Kap. 9). Neue Gegenstände, Phänomene, Erkenntnisse usw., d.h. neue Referenten, erfordern neue Wörter oder Wortbedeutungen, mit denen man über diese neuen Erscheinungen kommunizieren kann. In Tabelle 3.2 werden Beispiele für neue Wörter aus dem 20. Jahrhundert angeführt, die in die niederländische Sprache aufgenommen wurden (vgl. Van der Sijs 2001); die Jahreszahlen beziehen sich auf den ältesten bekannten Beleg. vliegtuig (1911) computer (1957) wildplassen (1995) televisie (1914) tekstverwerker (1986) poldermodel (1995) ritssluiting (1937) dotteren (1989) voicemail (1996) kernenergie (1950) blijf-van-mijn-lijfhuis (1989) sluiproute (1998) spijkerbroek (1954) internet (1992) webcam (1998) Tab. 3.2: Neue Wörter im 20. Jahrhundert Ein Beispiel für die Bildung neuer Bedeutungen ist kraken mit den ältesten Bedeutungen een knerpend geluid maken (wie in de trap kraakt 'die Treppe knarrt') und solches breken, bei dem das Geräusch erklingt (wie in noten kraken 'Nüsse knacken'). Im 20. Jahrhundert kamen neue Bedeutungen für die Bezeichnung neuer Phänomene hinzu: für den chemischen Prozess beim Teilen komplexer Kohlenwasserstoffverbindungen zu einfachen Verbindungen durch Erhitzung (wie in petroleum kraken 'Petroleum cracken') und das Aufbrechen und Eindringen in ein leer stehendes Gebäude, um selbst darin zu wohnen (wie in een leegstaand kantoorgebouw kraken 'ein leerstehendes Bürogebäude knacken'), mit dazugehörigen neuen Wörtern wie kraakpand (besetztes Haus) und kraakbeweging (Hausbesetzerbewegung). Wörter und Bedeutungen verschwinden, wenn Dinge oder Phänomene außer Gebrauch kommen oder einfach nicht mehr vorhanden sind. Die Berufe marskramer (Hausierer, ein Händler, der mit seinem eigenen Warensortiment von Haustür zu Haustür geht) und lantaarnopsteker (Laternenanzünder, jemand, der Laternen ansteckt, die mit Öl und Gas funktionieren) sind verschwunden und mit ihnen auch die Wörter aus dem heutigen Sprachgebrauch. Gegenstände wie das kwartje (25 Cent-Münzstück aus der Zeit des Guldens; es gibt kein eurokwartje) und die gloeilamp (Glühbirne, die durch die spaarlamp ersetzt wird) sind zwar noch bekannt, doch die Wörter werden aussterben, weil es diese Dinge nicht mehr gibt oder weil sie nicht mehr hergestellt werden. Im 19. Jahrhundert hatte iemand afbellen (wort- <?page no="67"?> 3.3 Wörterbücher 67 wörtlich 'jemanden abklingeln') die Bedeutung 'jemanden, der sich in einem höheren Stockwerk befindet, durch das Klingeln eines Glöckchens auffordern, nach unten zu kommen'. Dieser Brauch ist nicht mehr üblich oder wird zumindest nicht mehr afbellen genannt. Jetzt bedeutet afbellen 'telefonisch absagen' wie in een afspraak afbellen. Das Verschwinden von Wörtern und Wortbedeutungen geschieht nahezu unbemerkt. Veraltete oder verschwundene Wörter können aber noch in feststehenden Ausdrücken vorkommen: z.B. ergens de brui aan geven (etwas aufgeben, mit etwas aufhören), iemand in de luren leggen (jemanden aufs Glatteis führen) und iets op zijn kerfstok hebben (etwas auf dem Kerbholz haben). Die Eigenschaften des Wortschatzes, so wie sie hier vorgestellt sind, werden in Wörterbüchern dokumentiert. Die Erstellung von Wörterbüchern wird als Lexikografie (lexicografie) bezeichnet. 3.3 Wörterbücher 3.3.1 Wörterbucharten Sind Wörter wie mennisko, mānoth, ōga und sunu niederländische Wörter? Ja, aber nicht mehr in dieser Form. Es sind Wörter aus der ältesten Phase des Niederländischen und sie stehen im Oudnederlands Woordenboek, zusammen mit ihren modernen niederländischen Formen mens, maand, oog und zoon. Ein solcher Eintrag im Wörterbuch wird als Lemma oder Stichwort (lemma oder trefwoord) bezeichnet. Der gesamte niederländische Wortschatz ab dem frühesten Stadium der niederländischen Sprache ist in einigen historischen Wörterbüchern auf wissenschaftlichem Niveau beschrieben worden: Oudnederlands Woordenboek (ONW): Wortschatz von 500-1200 Vroegmiddelnederlands Woordenboek (VMNW): Wortschatz von 1200-1300 Middelnederlandsch Woordenboek (MNW): Wortschatz von 1250-1550 Woordenboek der Nederlandsche Taal (WNT): Wortschatz von 1500-1976 Diese Wörterbücher sind auch online verfügbar. 4 Wörterbuchnutzer können in allen vier Wörterbüchern gleichzeitig suchen oder bestimmte Wörterbücher auswählen. Alle diese Wörterbücher haben historische Lemmata, das bedeutet, dass die Schreibweise nicht aktuell ist. Der Nutzer braucht aber nicht zu wissen, wie ein Wort in einer bestimmten Periode geschrieben wurde, denn nach dem Eintippen der modernen Schreibweise wird das richtige historische Lemma angezeigt. Das noch im Aufbau befindliche Algemeen Nederlands Woordenboek (ANW) wird die niederländische Sprache in den Niederlanden und Flandern in dem Zeitraum 1970-2019 beschreiben. Seit 2009 kann der Nutzer Wörter in einer Demoversion, die alle zwei Monate aktualisiert wird, auf http: / / anw.inl.nl nachschlagen. Die hier aufgeführten 4 Über die Seite http: / / gtb.inl.nl können die Wörterbücher zu Rate gezogen werden. <?page no="68"?> 3. Wörter und ihre Bedeutung 68 Wörterbücher geben für jedes Lemma sehr ausführliche, gründlich recherchierte und somit zuverlässige Informationen. Dadurch sind sie nicht nur für Sprach- und Literaturwissenschaftler nützlich, sondern auch für eine sehr viel breitere Zielgruppe von Wissenschaftlern geeignet und für jeden, der sich mit der niederländischen Sprache und Kultur beschäftigt. Die Wörterbücher, die am häufigsten verwendet werden, sind die viel kompakteren Handwörterbücher, von denen die meisten viele Informationen aus dem Woordenboek der Nederlandsche Taal übernommen haben. Bekannte Handwörterbücher sind Van Dale Groot woordenboek der Nederlandse taal (auch bekannt unter dem Namen Dikke Van Dale), Van Dale Groot Woordenboek hedendaags Nederlands (auch bekannt unter der Abkürzung NN für Nederlands-Nederlands), Prisma Handwoordenboek Nederlands und für das Belgisch-Niederländische das Nijhoffs Zuidnederlands Woordenboek. Vor allem der Dikke Van Dale dient bei Spielen wie Scrabble und seiner Variante im Internet, dem Spiel Wordfeud, oft als Norm für die Existenz eines Wortes im Niederländischen. Sie werden aber auch für seriösere Zwecke in der Schule, bei der Arbeit und für den Privatgebrauch genutzt, meistens um die Bedeutung oder die Schreibweise eines Wortes nachzuschlagen. Neben einsprachigen Wörterbüchern gibt es auch zweisprachige, die von Übersetzern und der Allgemeinheit zum Nachschlagen eines Wortes in einer anderen Sprache genutzt werden. Van Dale hat eine Reihe Übersetzungswörterbücher für verschiedene Sprachen herausgegeben, darunter auch Niederländisch-Deutsch und Deutsch-Niederländisch. Speziell für diejenigen, die Niederländisch lernen möchten, gibt es Van Dale Pocketwoordenboek Nederlands als tweede taal (NT2). Derartige zweisprachige Produkte gibt es auch von anderen Verlagen. Zudem gibt es Spezialwörterbücher. Ein etymologisches Wörterbuch (etymologisch woordenboek) beantwortet die Frage, woher ein Wort kommt und wie es sich im Laufe der Zeit entwickelt hat. Eine wichtige Informationsquelle ist http: / / www.etymologiebank.nl mit einer großen Sammlung etymologischer Wörterbücher und anderer lexikografischer Publikationen. Diese Art von Wörterbuch ist vor allem für Etymologen und andere Sprachwissenschaftler wichtig, obwohl auch viele Laien an der Herkunft von Wörtern interessiert sind. Ein Dialektwörterbuch (dialectwoordenboek) beschreibt die Sprache eines Ortes oder einer Region, die von der allgemeinen Sprache abweicht, oder einen bestimmten Aspekt dieser Sprache, wie die Aussprache. So ein Wörterbuch ist für Dialektologen, Sprachhistoriker und für Sprecher eines betreffenden Dialekts interessant. Es gibt sehr umfangreiche Dialektwörterbuchprojekte (http: / / www.wvd.ugent.be/ rewo), aber auch viele wesentlich kleinere Dialektwörterbücher. Ein terminologisches Wörterbuch (terminologisch woordenboek) erklärt den spezifischen Wortschatz eines bestimmten Fachgebiets. Jedes Fachgebiet hat seine eigene spezifische Fachsprache, weshalb es eine große Variation an Terminologien gibt, wie die finanzielle, juristische, medizinische, technische, sprachwissenschaftliche und touristische Terminologie. Benutzer termi- <?page no="69"?> 3.3 Wörterbücher 69 nologischer Wörterbücher und Datenbanken sind Spezialisten und Übersetzer, die u.a. für die Europäische Kommission arbeiten. Weiterhin gibt es zahlreiche, wissenschaftlich zuverlässige und unzuverlässige Wörterbücher. Diese betreffen Teilgebiete der allgemeinen Sprache (Wörterbücher über Sprichwörter, Synonyme, Neologismen, Schimpfwörter) oder formale Merkmale niederländischer Wörter (Wörterbücher zu Rechtschreibung, Aussprache, Abkürzungen). Außerdem gibt es Wörterbücher zum Wortschatz einer bestimmten Gruppensprache (Wörterbücher über SMS-Sprache, Jugendsprachen) oder für eine bestimmte Zielgruppe (Wörterbücher für Kinder, für die Liebhaber von Kreuzworträtseln). Auch erscheinen immer wieder Wörterbücher, die bestimmte Ereignisse zum Anlass haben (z.B. http: / / www.inl.nl: EK-voetbalwoordenboekje). Im Internet findet man noch viel mehr Wörterbücher, wenn man 'woordenboek' googelt. All diese Wörterbücher spiegeln die Vielfalt des niederländischen Wortschatzes wider. 3.3.2 Aufbau von Wörterbüchern Für Wörterbücher ist der Unterschied zwischen Makrostruktur und Mikrostruktur relevant. Die Makrostruktur (macrostructuur) ist die Gesamtheit der Lemmata, die für ein Wörterbuch ausgewählt wurden, also alle Lemmata eines Wörterbuches zusammen. Die Mikrostruktur (microstructuur) umfasst die Informationen, die zu jedem einzelnen Lemma gegeben werden, und ihre Strukturierung. Ein Lemma bildet zusammen mit dem Inhalt der Mikrostruktur einen Wörterbuchartikel (woordenboekartikel). In keinem einzigen Wörterbuch stehen alle Wörter des Niederländischen. Das geht auch gar nicht, weil stets neue Wörter entstehen und andere verschwinden. Sogar für ein digitales Wörterbuch, das schneller angepasst werden kann als ein gedrucktes Wörterbuch, ist es unmöglich, immer auf dem allerneuesten Stand zu sein. Außerdem ist zu Beginn nicht klar, ob ein neues Wort schon zum Wortschatz gehört: Das Wort muss ja schließlich Eingang bei der Allgemeinheit finden und das über einen ausreichend langen Zeitraum. 5 Modewörter oder Wörter in den Nachrichten werden von vielen Menschen benutzt, verschwinden jedoch nach kurzer Zeit oft wieder. Das zeigt sich schon, wenn man in ein etwas älteres Neologismenwörterbuch oder in 'Wörterbücher aus dem Jahr X' schaut und sieht, welche Wörter jetzt tatsächlich noch aktuell sind. Außerdem entscheidet ein Lexikograf anhand diverser Kriterien, ob ein Wort ins Wörterbuch aufgenommen wird oder nicht, was u.a. abhängig ist von der Art des Wörterbuchs, der Zielgruppe, dem Umfang. Die Feststellung der Makrostruktur ist somit eine Frage der Auswahl. 5 Die ANW-Datenbank umfasst mehr als 19.000 Neologismen, von denen gesagt wird, dass der Großteil von ihnen nicht ins Wörterbuch kommen wird. Die Neologismen sind aber interessant für sprachwissenschaftliche Untersuchungen und für Laien, die auf der Suche nach neuen Wörtern sind. <?page no="70"?> 3. Wörter und ihre Bedeutung 70 Ein anderer Aspekt der Makrostruktur betrifft Wörter, die sich gleich schreiben, semantisch jedoch nicht oder nicht mehr miteinander verwandt sind. Diese Wörter heißen Homonyme (homoniemen). Ein Beispiel hierfür ist school (3.1.1). Das Wort school in der Bedeutung 'geschlossene Gruppe' (Fische) hat ursprünglich eine andere Herkunft, eine andere Etymologie, als school in den anderen Bedeutungen. Das erklärt, warum im diachronen historischen Wörterbuch WNT diese Bedeutung wie ein eigenes Lemma behandelt wird. Es gibt also zwei Wörterbuchartikel: school (I), die Bildungseinrichtung mit den davon abgeleiteten Bedeutungen, und school (II), die geschlossene Gruppe Tiere. Im synchronen Handwörterbuch NN wird dieser Unterschied nicht gemacht und beide Bedeutungen stehen unter dem gleichen Lemma, weil ein Sprecher aus der heutigen Zeit die Etymologie wahrscheinlich nicht kennt und die Bedeutung 'geschlossene Gruppe' als Metapher auffassen kann (vgl. 3.1.1). Wörterbücher gehen also unterschiedlich mit Homonymen um. Kriterien zum Unterscheiden von Homonymen sind a) unterschiedliche Wortarten (leven als Nomen/ Verb), b) unterschiedliches Genus (de bal zum Spielen, het bal zum Tanzen), c) unterschiedliche Aussprache (ondergaan van de zon / een operatie ondergaan), d) völlig unterschiedliche Bedeutungen oder unterschiedliche Etymologie. Vor allem das letzte Kriterium führt zu Unterschieden zwischen Wörterbüchern. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Homonymie und Polysemie: Wenn Homonyme nicht unterschieden werden, bekommt das Lemma eine oder mehrere zusätzliche Bedeutungen, die sonst unter dem Homonym angegeben wären. Ein letzter Aspekt der Makrostruktur ist die Behandlung von Wortgruppen, die auf einen Referenten verweisen, wie dunne darm und groene golf. In den meisten Wörterbüchern werden derartige Wortgruppen nicht als Lemma behandelt, sondern als feste Verbindung in der Mikrostruktur. Die Mikrostruktur umfasst ein Stichwort und die dazugehörigen, strukturierten Informationen, die sich in den verschiedenen Wörterbüchern unterscheiden. Die Bedeutung eines Wortes wird mit einer Bedeutungsumschreibung (betekenisomschrijving) oder Definition (definitie) ausgedrückt: fiets im NN: voertuig met twee in elkaars verlengde geplaatste wielen, dat men voortbeweegt door op de pedalen te trappen fiets auf https: / / www.vandale.nl: tweewielig voertuig dat wordt voortbewogen door op pedalen te trappen Diese Formulierungen sind genauer als die in 3.1 genannten. Wörterbuchdefinitionen werden anhand bestimmter Methoden erstellt. In beiden Definitionen von fiets wird ein Hyperonym genannt (voertuig) und zudem Merkmale, durch die sich fiets von anderen Fahrzeugen unterscheidet (die Hyponyme von voertuig). Eine Definiti- <?page no="71"?> 3.3 Wörterbücher 71 on mit Hyperonym und sog. distinktiven Merkmalen wird analytische Definition (analytische definitie) genannt. Eine andere bekannte Methode ist das Angeben eines Synonyms, eine Synonymdefinition (synoniemendefinitie). So hat rijwiel sowohl im NN als auch auf http: / / www.vandale.nl fiets als Definition (im NN mit dem Label 'formal'). Da Synonyme oft einen geringen Bedeutungsunterschied haben, wird die analytische Definition meistens bevorzugt. Häufig folgt nach einer analytischen Definition noch ein Synonym. In der CD-ROM-Version des NN (2002) werden nach der Definition systematisch Synonyme, Antonyme, Hyperonyme und Hyponyme angegeben. Im WNT und anderen diachronen Wörterbüchern, wie dem Deutschen Wörterbuch, wird die Reihenfolge, in der die Bedeutungen angegeben werden, chronologisch angeordnet, von der ältesten bis zur aktuellsten Bedeutung. So kann die Entwicklung der Bedeutungen eines Wortes aufgezeigt werden. Das ANW hat neben der Definition auch ein sog. Semagramm (semagram), um die Bedeutung eines Wortes zu umschreiben. Ein solches Semagramm in Databaseform ermöglicht das onomasiologische Suchen vom Referenten zum Wort. Semagramm im ANW für das Lemma mus: 6 Een mus... is een vogel; is een dier is tot ongeveer 16 centimeter lang tjilpt heeft vaak bruine vleugels en een bruine staart en een grijze of witachtige buik heeft een vrij dikke snavel, aangepast aan het eten van zaden behoort, afhankelijk van de soort, tot de standvogels dan wel tot de trekvogels, en maakt deel uit van het geslacht der vinken komt wereldwijd voor is een holennestbouwer beweegt zich op de grond vliegend en hippend voort eet vooral zaden en insecten vormt met soortgenoten vaak een zwerm Häufig wird die Bedeutung durch Beispielsätze oder Zitate aus Texten verdeutlicht. Im WNT und anderen wissenschaftlichen Wörterbüchern dienen Zitate auch als Beleg dafür, dass es eine bestimmte Bedeutung gibt oder gegeben hat. Auch die Zitate im WNT und anderen diachronen Wörterbüchern werden chronologisch geordnet. Mithilfe der Etymologie oder des ältesten Zitats wird die Reihenfolge der Bedeutungen bestimmt. 6 Dieses Semagramm kann man unter der Option Toon: (…) Semagrammen finden, beim Resultat für die semasiologische Suche nach mus via Woord Betekenis ('vom Wort zur Bedeutung'). Die onomasiologische Suche ist möglich via Betekenis Woord ('von der Bedeutung zum Wort'). <?page no="72"?> 3. Wörter und ihre Bedeutung 72 Labels, d.h. Abkürzungen in Klammern, geben verschiedene Arten von Merkmalen an: Unterschiede zwischen wörtlich und bildlich (im Zusammenhang mit Metapher und Metonymie), die Konnotation (formell, informell, grob, scherzhaft usw.), die Fachsprache, die Region, manchmal die Gruppensprache, in der eine Bedeutung oder ein Wort verwendet wird, oder dass es um ein Wort oder eine Bedeutung geht, die im belgischen Niederländisch bzw. im niederländischen Niederländisch vorkommt. Während früher nur das belgische Niederländisch ein Label bekam, ist dies seit 2009 im Prisma Handwoordenboek Nederlands auch für das niederländische Niederländisch der Fall. Die Informationen in der Mikrostruktur von Wörterbüchern sind noch vielfältiger, worauf wir aber hier nicht weiter eingehen. Sowohl die Makrostruktur als auch bestimmte Informationen in der Mikrostruktur stützen sich heutzutage auf die Analyse von Sprachmaterial. Früher waren das Zitate aus gedruckten Texten, heute sind es sorgfältig zusammengestellte digitale Textsammlungen (Textkorpora) oder das Internet (vgl. Kap. 10). Ein Wörterbuch, das eine Textsammlung als Grundlage hat, nennt man ein korpusbasiertes (corpusgebaseerd) Wörterbuch. Alle hier erwähnten wissenschaftlichen Wörterbücher und inzwischen auch viele kommerzielle Wörterbücher sind korpusbasiert. 3.3.3 Qualität und Zuverlässigkeit Durch die Digitalisierung und das Internet sind Wörterbücher leichter zugänglich geworden: kein Schleppen mehr von Büchern, um ein Wort nachzuschlagen, sondern einfach ein Wort eintippen und der Wörterbuchartikel erscheint auf dem Bildschirm. Außerdem gibt es Suchsysteme, mit denen in einer Sammlung von Wörterbüchern gesucht werden kann, wie http: / / gtb.inl.nl und für das Deutsche http: / / woerterbuchnetz.de/ DWB/ , das das Deutsche Wörterbuch und noch weitere Wörterbücher enthält, sowie http: / / www.mediaevum.de/ wb1.htm. Auf diesen Seiten gibt es wiederum Links zu anderen Wörterbuchseiten. Hierbei handelt es sich um wissenschaftliche Wörterbücher, die von zuverlässigen Institutionen erstellt worden sind. Herkunft, Qualität und Zuverlässigkeit dieser Webseiten sind also garantiert. Das gilt auch für kommerzielle Wörterbücherseiten bekannter Verlage. Im Internet sind allerdings auch viele Wörterbuchsysteme zu finden, deren Qualität und Zuverlässigkeit weniger offensichtlich ist, man findet sie wenn man 'woordenboek' oder 'Wörterbuch' googelt. Es handelt sich dabei oft um Webseiten, auf denen viele verschiedene Wörterbücher, Übersetzungsoptionen und diverse Informationsquellen zu Sprache angeboten werden. Wer diese zusammengetragen hat und auf welche Quellen er sich bezieht, ist für den Nutzer nur in wenigen Fällen zu sehen. Die Quellen können veraltet sein, wenn aktuelle Publikationen und Datenbanken wegen des Autorenrechts geschützt sind. Bei einer multilingualen interaktiven Internetseite wie http: / / nl.wiktionary.org/ wiki/ kann jeder Nutzer Wörterbuchartikel hinzufügen. Ob eine Redaktion diese kontrolliert, ist weniger ersichtlich. Dies alles ist vielen Menschen nicht wichtig - sie finden schnell die Informationen, <?page no="73"?> 3.4 Zusammenfassung 73 die sie suchen. Für seriöse Zwecke, wie das Studium, Forschung oder das Übersetzen, sollte man diese Internetseiten auf jeden Fall kritisch beurteilen. 3.4 Zusammenfassung Wörter haben eine oder mehrere Bedeutungen, mit denen Sprachbenutzer über konkrete und abstrakte Entitäten in unserer Erfahrungswelt kommunizieren können: Wir sprechen über Dinge, Personen, Eigenschaften, Geschehnisse, kurzum über alles, was mit Wörtern bezeichnet werden kann. Eine Entität in der Erfahrungswelt haben wir hier als Referent bezeichnet. Die Lexikologie beschäftigt sich mit der wissenschaftlichen Untersuchung von Wörtern, wobei es zwei Methoden gibt, die semasiologische und die onomasiologische. Bei der semasiologischen Methode ist das Wort der Ausgangspunkt und werden die Bedeutung und die Beziehungen zwischen Bedeutungen untersucht. Es gibt monoseme Wörter mit nur einer Bedeutung und polyseme Wörter mit mehr als einer Bedeutung. Monoseme beziehen sich auf nur einen Referenten, bei Polysemen bezieht sich jede Bedeutung auf einen anderen Referenten. Die Beziehungen zwischen den Bedeutungen von Polysemen können eindeutig sein, wenn eine vorhandene Bedeutung durch einen systematischen Denkprozess um eine neue erweitert ist. Die wichtigsten Prozesse dabei sind Metonymie, Metapher, Bedeutungserweiterung und Bedeutungsverengung. Bei der onomasiologischen Methode ist der Referent der Ausgangspunkt. Hier geht es um Bedeutungen von Wörtern, mit denen ein und derselbe Referent angedeutet wird. Diese Wörter heißen Synonyme. Synonyme sind nicht immer austauschbar, da sie in unterschiedlichen Kontexten einen anderen Gefühlswert, eine andere Konnotation, haben können. Auch andere semantische Beziehungen werden innerhalb dieser Methode untersucht, wie Wörter mit gegenteiliger Bedeutung (Antonyme), Wörter mit einer hierarchischen Beziehung zwischen Referenten (Hyperonyme und Hyponyme), Wörter mit inhaltlichem Zusammenhang (semantisches Feld) und Wörter mit breiteren semantischen Beziehungen (semantisches Netz). Der Wortschatz ist in sich dynamisch. Es gibt Unterschiede im Wortschatz zwischen alten und jungen Menschen, es gibt Gruppensprachen, wie SMS-Sprache, Jugendsprachen und Fachsprachen, und es gibt regionale Varianten, darunter auch das belgische Niederländisch und das niederländische Niederländisch. Gleichzeitig entwickelt sich der Wortschatz als Ganzes: Neue Wörter kommen hinzu, andere verschwinden. Neue Referenten können durch eine neue Bedeutung oder durch ein neues Wort benannt werden. Wörter und Bedeutungen verschwinden, wenn sie - aus welchem Grund auch immer - außer Gebrauch kommen. Wörter werden in Wörterbüchern dokumentiert. Es gibt viele verschiedene Arten von Wörterbüchern, die sich hinsichtlich des Inhalts und der Zielgruppe unter- <?page no="74"?> 3. Wörter und ihre Bedeutung 74 scheiden: ein- und mehrsprachige Wörterbücher der allgemeinen Sprache, Spezialwörterbücher, Wörterbücher, die ein Teilgebiet der Sprache behandeln, Wörterbücher für spezielle Zielgruppen und viele andere mehr. Wörterbücher haben eine Makrostruktur, die Liste der Lemmata, und eine Mikrostruktur, das einzelne Lemma mit strukturierten Informationen, u.a. der Bedeutung. Beiden liegt Sprachmaterial zugrunde, wenn das Wörterbuch korpusbasiert ist. Die wissenschaftlichen Wörterbücher der niederländischen Sprache können online zu Rate gezogen werden, ebenso wie etliche der deutschen Sprache. Diese sind gut und zuverlässig, was man von kommerziellen Wörterbüchern im Internet nicht immer behaupten kann. Aufgaben Aufgaben 1. Erstellen Sie eine SMS in niederländischer Sprache und benutzen Sie dabei die verschiedenen Mittel, die in der Einleitung genannt werden. Diese Internetseiten können dabei hilfreich sein: http: / / www.wimdaniels.nl/ sms/ pages/ smileys.html http: / / www.sms-taal.nl/ Siehe auch: http: / / nl.wikipedia.org/ wiki/ MSN-taal; unter den Links ist folgender Artikel zu finden: Hans Bennis. Het Korterlands. Anarchie in de schrijftaal, in: Onze taal, 2012, 2/ 3, 46-48. 2. Suchen Sie die Bedeutungen der Wörter pimpelen, kerel, zetel, babyface, ouwehoeren, bestieren, lafenis en ouverture in einem Handwörterbuch auf. a. Welche sind monosem, welche polysem? b. Schlagen Sie auch nach, mit welchen Labels (Abkürzung in den Klammern) die Wörter markiert sind. Die kostenlose website http: / / www.vandale.nl ist für diese Aufgabe nicht geeignet. 3. Hier geht es um die Beziehung zwischen Bedeutung und Kontext. Lesen Sie die Sätze im Kasten und achten Sie dabei besonders auf das Wort bank. a. Bestimmen Sie für jeden der Sätze die Bedeutung des Wortes bank und versehen Sie gleiche Bedeutungen mit der gleichen Zahl. b. Notieren Sie für jede Bedeutung (für die Sätze mit gleicher Zahl), welche anderen Wörter oder inhaltlich verwandte Wörter in dem Kontext mehr als einmal vorkommen. Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen Wörtern und der Bedeutung? c. Stehen die Wörter, die Sie bei Aufgabe b herausgesucht haben, vielleicht auch unter bank in einer anderen Bedeutung? Was schließen Sie daraus? 1. Speciale aanbiedingen op onze banken in diverse stoffen & kleuren. Ruime keuze en scherpe prijzen! <?page no="75"?> Aufgaben 75 2. Wij geven u een verzameling van online meubelwinkels waar u onder andere banken kunt kopen! 3. Bestel uw bank of hoekbank online via online meubelshops. 4. U kunt bij de ASN Bank betalen, sparen en beleggen. 5. Vergelijk prijzen van banken en zitcombinaties! 6. De Rabobank is een bank zonder aandeelhouders (…) U kunt bij ons terecht voor al uw dagelijkse bankzaken. 7. Deze week 1000 banken afgeprijsd. Kom snel naar de Meubelmegastore! 8. Hoekbanken, leren en eiken banken kopen of verkopen doet u via Marktplaats.nl! 9. De bank is half zo groot als de provincie Utrecht en ligt zo'n 30-40 meter onder de zeespiegel. 10. Ambitieuze bank met circa 300 medewerkers, gelegen tussen prachtige bollenvelden nabij zee, strand en duinen. 11. Gelderland meubelen levert o.a. Jan des Bouvrie banken en design banken, stoelen, fauteuils, tafels en bedden. 12. Regel uw bankzaken snel en eenvoudig met OHRA Bank Online. 13. Voor een lederen bank of lederen bankstel van topkwaliteit bent u van harte welkom in de showroom van Mokana Meubelen. 14. Duurzaam beleggen, duurzaam sparen of een betaalrekening met iDEAL bij een onafhankelijke bank. 15. AEGON Bank helpt u grip te krijgen en te houden op uw financien. Of het nu gaat om sparen, verzekeren, beleggen, hypotheken of pensioen. 16. Op de Thornton Bank in zee worden windmolens geinstalleerd. 17. Een ondernemende bank voor ondernemende mensen, gespecialiseerd in sparen en beleggen. 18. Kiest u voor een design bank, hoekbank, trendy lounge bank of bankstel? 19. Banken, zwinnen, muien en zwinkuilen vormen de bodem van de zee voor de kust. Die Verbindung zwischen Bedeutung und Kontext wird dazu verwendet, automatisch die Bedeutung von Wörtern bestimmen zu können. 4. Was wird mit den kursiv gedruckten Wörtern tatsächlich gemeint? Wie bezeichnet man dieses Phänomen? 1. Nederland won van IJsland met 1-2. De trainer is blij met de overwinning. 2. Onze winkel zit hier al jaren en we verdienen er een goede boterham mee. 3. De aandelenmarkten zijn te sterk gestegen en zijn rijp voor een correctie. 4. De volgepakte eretribune van het stadion barst uit in een luid applaus. 5. De politicus kreeg een storm van kritiek over zich heen. 6. Bij een wegversmalling op de snelweg moet je ritsen. <?page no="76"?> 3. Wörter und ihre Bedeutung 76 5. Ein Synonymwörterbuch im Internet ist http: / / synoniemen.net. a. Sehen Sie sich die Internetseite an. Was fällt Ihnen auf? b. Geben Sie als Suchwort "interessant" ein. Sie finden dann Phrasen wie: in het woordenboek is voor interessant [aantal] omschrijving(en) gevonden interessant is [aantal] maal gevonden als trefwoord interessant is [aantal] maal gevonden als synoniem van een ander trefwoord In der ersten Phrase steht 'in het woordenboek'. Wird deutlich, welches Wörterbuch gemeint ist? In der zweiten und dritten Phrase steht 'gevonden als trefwoord' und 'gevonden als synoniem van een ander trefwoord'. Was bedeutet das? c. Handelt es sich dabei um wirkliche Synonyme? Welche sind als Synonym geeignet, welche passen weniger und welche gar nicht? d. Auf der Internetseite gibt es auch Antonyme. Welche von ihnen treffen zu, welche passen weniger und welche gar nicht? e. Es gibt ebenfalls Links zu anderen Internetseiten. Klicken Sie auf MijnWoordenboek. Sind alle genannten Synonyme geeignet? Welche davon sind zutreffend, welche passen weniger und welche gar nicht? Sehen Sie sich auch diese Internetseite genau an: Was können Sie alles entdecken und was fällt Ihnen auf? f. Nehmen Sie das Wörterbuch eines bekannten Verlages zur Hand: Welche Synonyme für 'interessant' stehen darin? Sind diese Synonyme besser? 6. Welche semantische Verbindung besteht zwischen Hyperonymen und Hyponymen? a. Nennen Sie mindestens fünf Hyponyme für jedes der folgenden Wörter: huisdier, vervoermiddel, vrucht, sport, boom. b. Wie heißt das Hyperonym der Wörter in den folgenden Wortgruppen? huis, school, kerk, fabriek hamer, boor, schroevendraaier lopen, rennen, hollen, hardlopen mug, vlieg, vlinder, bij ham, salami, rookworst, rosbief kaas, jam, pindakaas, ham 7. Öffnen Sie die Seite http: / / gtb.inl.nl, klicken Sie Start de applicatie an und geben Sie 'vorst' in der Zeile 'Mod. Ned. trefwoord' ein. Sorgen Sie dafür, dass bei allen Wörterbüchern - außer beim WFT - ein Häkchen steht. Klicken Sie auf 'Start zoeken'. Es erscheint eine Liste mit Stichwörtern aus dem ONW, VMNW, MNW und WNT (siehe 3.3.1 für die Erläuterungen zu den Abkürzungen). a. Wie viele Homonyme werden in jedem dieser Wörterbücher unterschieden? b. Welche Veränderungen fallen am Lemma auf? Gibt es einen Zusammenhang zwischen Homonym und der Form des Lemmas? Und wenn ja, in welchen Wörterbüchern (also in welcher Periode)? <?page no="77"?> Aufgaben 77 c. Klicken Sie origineel trefwoord im ONW an. Sehen Sie sich die Etymologie jedes Stichwortes an und schauen Sie nach, wann sie im altniederländischen Sprachmaterial zum ersten Mal auftauchten (oudste attestatie) und welche Bedeutung sie haben (klicken Sie dazu auf den Pfeil vor der Bedeutungsnummer, um die dazugehörigen Zitaten sehen zu können). Welche Unterschiede gibt es? Welche Kriterien sind für die Unterschiede zwischen den Homonymen verantwortlich? d. Suchen Sie die Homonyme im WNT auf, indem Sie sie anklicken. Welches homonyme Stichwort steht zwar im WNT, aber nicht im ONW? e. Schauen Sie bei diesem Lemma unter den Bedeutungen nach und achten Sie dabei auf die Reihenfolge der Zitate (wenn Wörterbücher angegeben sind, stehen diese vor den anderen Zitaten). Stimmt es, dass die Zitate chronologisch geordnet sind? f. Suchen Sie über den Button 'Help&Info' im Suchfenster (dort der letzter Reiter) weitere Informationen über das WNT. g. Suchen Sie weitere Informationen über das ANW über den Button 'Help. Over het ANW' auf der Webseite http: / / anw.inl.nl. Literatur zum Weiterlesen Eine anschauliche Übersicht über semantische Begriffe bietet Smessaert Basisbegrippen semantiek (2009). Die Bücher zur Semantik von Geeraerts Woordbetekenis (1986) und Verkuyl Semantiek (2000) sind eher für fortgeschrittene Leser geeignet. Das gilt auch für das zweite Kapitel aus Dirven & Verspoor (1999) Wat er in een woord zit? Lexicologie. Einen guten Eindruck vom aktuellen Forschungsstand bezüglich der Lexikologie und Lexikografie liefert der zugängliche Aufsatz von Martin Lexicologie en lexicografie: een stand van zaken (2011). Van Sterkenburg gibt in seinem Buch Van woordenlijst tot woordenboek (2011) ein lebendiges Bild von der Geschichte der Wörterbücher des Niederländischen, einschließlich der historischen Wörterbücher und anderer Arten von Wörterbüchern. Das sehr gut lesbare Chronologisch Woordenboek von Van der Sijs (2001) gibt ausführliche Informationen zu Alter und Herkunft niederländischer Wörter, darunter auch von solchen Wörtern, die einen deutschen Ursprung haben. <?page no="78"?> 4. Wörter und ihre Struktur Ute K. Boonen Ein Wort, das nicht im Wörterbuch steht, existiert nicht - oder doch? Beim Wortsuchspiel Scrabble entstehen häufig Reibereien darüber, ob es ein bestimmtes Wort nun gibt oder nicht - und wenn man die Frage nicht beantworten kann, wird der Duden (oder ein anderes Wörterbuch) zu Rate gezogen. Nur wenn das besagte Wort darin enthalten ist, erhält der Spieler Punkte, denn nur dann existiert es. Zumindest wenn man dem Scrabble-Mythos glaubt (Sanders 2005). Sind jedoch tatsächlich alle Wörter, die existieren, auch in den Wörterbüchern aufgelistet? Das Wort fiets dürfte in einem niederländischen Wörterbuch (z.B. Van Dale) zu finden sein, auch fietsbel (Fahrradklingel), aber wie steht es mit fietsbelverkoper? Handelt es sich um ein korrektes niederländisches Wort? Die Bedeutung des Begriffs ist jedem klar: Ein fietsbelverkoper ist ein Verkäufer von Fahrradklingeln. Aber ist das Wort auch hinsichtlich seiner Form, seiner Struktur ein echtes, korrektes niederländisches Wort? Um die Frage nach der Richtigkeit auch ohne Wörterbuch beantworten zu können, muss man wissen, wie man die Struktur eines Wortes analysieren kann. 4.1 Wortbildungseinheiten Warum bilden wir Wörter? Wir wollen Gegenstände und Konzepte benennen und uns mit anderen austauschen können. Dabei will der Mensch nicht nur für andere verständlich, sondern auch innovativ und originell sein. In der Literatur, aber auch in journalistischen Texten werden häufig neue Wörter gebildet: ochtendherfstlucht (Morgenherbstluft), wapeninleverdag (Waffenabgabetag). Für neue Konzepte, für Bedeutungen in neuen Situationen benötigen wir neue Begriffe. Es gibt verschiedene Möglichkeiten in der deutschen bzw. niederländischen Sprache, neue Begriffe zu bilden, wie Wortschöpfung (brood), Phrase (rode kaart), Bedeutungswandel (gek) und Entlehnung (computer) (vgl. Kap. 3 bzw. 9). Dabei handelt es sich nicht um morphologische Prozesse im eigentlichen Sinne. Als morphologischer Prozess wird nur die Wortbildung (woordvorming) bewertet. Der internationale Fachterm Morphologie (morfologie) kommt aus dem Griechischen: μορφή (morphè) bedeutet 'Gestalt, Form', λόγος (lógos) bedeutet 'Wort, Lehre'; Morphologie ist demnach die Lehre von der Form, d.h. die Lehre von der internen Struktur, dem Aufbau von Wörtern und der Bildung von Wörtern. Morphologische Prozesse haben in der Sprache zwei wichtige Funktionen: Zum einen wird der Wortschatz durch neue Begriffe für Gegenstände, Ideen und jede Art von <?page no="79"?> 4.1 Wortbildungseinheiten 79 Konzepten, die man in Sprache fassen möchte, ausgebaut. Diese Art der Morphologie wird als Wortbildung (woordvorming) bezeichnet (siehe 4.2). Zum anderen werden Wörter durch morphologische Prozesse an die Bedingungen im Satz angepasst, so dass sie grammatische Funktionen im Satz übernehmen können. So kann durch sprachliche Prozesse aus den Begriffen das, klein, Haus, stehen, in, Amsterdam bzw. het, klein, huis, staan, in, Amsterdam jeweils ein Satz gebildet werden: 1) Das kleine Haus steht in Amsterdam. Het kleine huis staat in Amsterdam. Durch die morphologischen Anpassungen, d.h. durch die abgeänderte Form des Adjektivs und des Verbs (klein - kleine; staan - staat) wird ein Zusammenhang zwischen den einzelnen Wörtern angezeigt. Diese Art von Morphologie wird als Flexion (flexie) bezeichnet (siehe 4.3). 4.1.1 Morpheme Wörter können häufig in kleinere Bestandteile zerlegt werden. Ein Wort wie fietsbel kann man in zwei Teile zerlegen, die jeweils ein eigenes Wort darstellen: fiets und bel. Während der Zusammenhang zwischen dem Lautbild fiets und der Bedeutung 'Fahrrad' arbiträr (arbitrair), d.h. willkürlich ist, ebenso wie der zwischen dem Lautbild bel und dem Konzept 'Klingel', ist die Bedeutung des Wortes fietsbel transparent (transparant) und motiviert (gemotiveerd): Wer weiß, was fiets bedeutet und was bel bedeutet, kann folgern, vielleicht sogar wissen, was mit fietsbel gemeint ist. Aus zwei Wörtern ist hier ein neuer Begriff entstanden. Unterteilt man telbaar (zählbar), so erhält man die Teile tel und -baar, wobei tel ein eigenständiges Wort ist (vgl. ik tel - ich zähle), -baar aber nur in Kombination mit einem anderen, eigenständigen Wort verwendet werden kann. Dennoch liefert -baar einen Beitrag zur Bedeutung des Ausgangswortes: Was gezählt werden kann, ist telbaar; was getrennt werden kann, ist scheidbaar; was gewaschen werden kann, ist wasbaar etc. Das Element -baar fügt dem Ausgangswort eine Bedeutung hinzu und ist so eine bedeutungstragende Einheit. Die kleinsten Wortbausteine heißen Morpheme (morfemen). Ein Morphem bildet die kleinste bedeutungstragende Einheit. Ein Morphem entspricht nicht automatisch einer Silbe. Vergleichen wir die folgenden Begriffe unter 2a): 2a) kers 2b) kersen banaan bananen appel appels Das erste Wort besteht aus einem Morphem und auch nur aus einer Silbe: kers (Kirsche). Morphem und Silbe entsprechen einander in diesem Fall. Das Wort banaan <?page no="80"?> 4. Wörter und ihre Struktur 80 besteht aus zwei Silben (ba-naan), aber nur aus einem Morphem / banaan/ ; das gleiche gilt für das Wort appel, das aus einem Morphem / appel/ und aus zwei Silben (ap-pel) besteht. Wenn wir die niederländischen Pluralformen zu den Beispielwörtern bilden, ergeben sich die unter 2b genannten Formen. Im ersten Fall trennen wir zwei Silben (ker-sen), es handelt sich auch um zwei Morpheme (kers+en). Im zweiten Fall haben wir im Plural drei Silben (ba-na-nen), aber nur zwei Morpheme (banaan+en). Im dritten Beispiel bleibt das Wort zweisilbig (ap-pels), aber es besteht nun aus zwei Morphemen (appel+s). Morpheme sind also nicht mit Silben gleichzusetzen und Morphemgrenzen entsprechen nicht automatisch Silbengrenzen. Ein freies Morphem besteht in der Regel aus dem Wortstamm. Das Wort tanzen besteht aus den Morphemen tanz und -en (vgl. hierzu 4.3). Der Stamm ist tanz. Im Niederländischen lässt sich der Stamm eines Verbs sehr leicht ermitteln, da er in der Regel der 1. Person Singular entspricht: Der Stamm von dansen ist dans, wie in ik dans oder de dans. 1 Dass auch im Deutschen tanz ein selbstständiges Wort sein kann, zeigt die Form der Tanz. In der Regel entspricht auch die Befehlsform dem Stamm des Wortes. 2 Wie kann man die folgenden Wörter unterteilen bzw. untergliedern? 3) huisdeur broek verhuur bloempot schoon schoonheid bakker geblaf Das Substantiv huisdeur besteht aus zwei Gliedern, huis + deur, die beide auch alleine verwendet werden können. Auch bloempot lässt sich in zwei selbstständige Segmente gliedern: bloem (Blume) und pot (Topf). Die Substantive schoonheid (Schönheit) und bakker (Bäcker) sowie verhuur (Vermietung) und geblaf (Gebell (eines Hundes)) bestehen aus jeweils zwei Gliedern: schoon + heid, bak + er, ver + huur, ge + blaf. 3 Wörter, die aus zwei oder mehr Morphemen bestehen, sind komplex (complex/ geleed). Das Wort schoonheid ist komplex (schoon + -heid) und von einem anderen Morphem (nämlich schoon) abgeleitet. Ein solcher Begriff wird auch als polymorphem(at)isch bezeichnet. Das Adjektiv schoon (sauber, schön) kann nicht weiter unterteilt werden. Es ist nicht weiter zerlegbar und auch nicht von einer anderen Form abgeleitet (vgl. ANS 1997: 38). Ein solches Wort wird als simplex (simplex/ ongeleed) oder als monomorphem(at)isch bezeichnet. 1 Bei Verben mit f/ v- oder s/ z-Wechsel sieht die 1. Person durch die angepasste Rechtschreibung anders aus: der Stamm des Verbs leven ist leev, der von reizen ist reiz, die erste Person ist ik leef bzw. ik reis. 2 Zum Beispiel gehen - geh! , schreiben - schreib! Dies ist jedoch nicht immer der Fall: Der Verbstamm von lesen ist les-, während der Imperativ lies lautet; in diesen Fällen kann der Stamm dennoch als freies Morphem bewertet werden (vgl. Römer 2006; Donalies 2007). 3 Aufgrund der niederländischen Rechtschreibregeln müssen Konsonanten und Vokale regelmäßig verdoppelt bzw. eingespart werden: aus bak und -er wird daher bakker, aus speel und -er speler. <?page no="81"?> 4.1 Wortbildungseinheiten 81 Wie wir gesehen haben, können einige Morpheme alleine als Wort verwendet werden, wie huis, deur, broek, huur, bloem, pot, schoon, bak, blaf etc. Andere Morpheme können nicht alleine stehen und kommen nur in Verbindung mit einem freien Morphem vor, wie beispielsweise ver-, -heid, -er, geetc. Morpheme, die alleine stehen können, werden als freie Morpheme (vrije morfemen) bezeichnet, Morpheme, die nicht alleine stehen können, als gebundene Morpheme (gebonden morfemen). Morpheme mit einer inhaltlichen Bedeutung (fiets, tel, -baar etc.) werden als lexikalische Morpheme (lexicale morfemen) bezeichnet. Grammatische Morpheme (grammaticale morfemen) haben keine eigene inhaltliche Bedeutung, sondern übernehmen vielmehr eine Funktion im Satz; sie passen ein Wort nach grammatischen Aspekten an oder stellen ein Verbindung zwischen Wörtern im Satz her. Grammatische Morpheme sind dabei jedoch nicht bedeutungslos im Sinne von unwichtig, ihre Bedeutung kann man jedoch nicht im Wörterbuch nachschlagen. Typische grammatische Morpheme sind Deklinations- und Konjugationsendungen, wie z.B.: 4) -en (Pl.): bij - bijen Biene - Bienen -t (3. Sgl.): zingen - (zij) zingt singen - sie singt -er (Komparativ): klein - kleiner klein - kleiner Manchmal werden auch selbstständige Wörter für rein grammatische Informationen verwendet wie dat, aan, van, zij, mijn, de etc. Diese Konjunktionen, Präpositionen, Pronomen und Artikel werden als Funktionswörter (functiewoorden) bezeichnet. Wörter mit inhaltlicher Bedeutung wie Nomen, Adjektive, Verben und Adverbien werden als Inhaltswörter (inhoudswoorden) bezeichnet. 4.1.2 Affixe Die oben genannten Beispiele zeigen, dass es unter den komplexen Wörtern unterschiedliche Fälle gibt. Zum einen gibt es Wörter, die aus selbstständigen Wörtern bestehen (huisdeur, bloempot), zum anderen gibt es Wörter mit Bestandteilen, die alleine keine (auf Anhieb erkennbare und einfach beschreibbare) Bedeutung haben und nicht alleine stehen können (-er in bakker, -heid in schoonheid, verin verhuur, gein geblaf). Diese gebundenen Morpheme werden als Affixe (affixen) bezeichnet. Das Wort Affix kommt von lat. affingere 'anheften'. Diese Morpheme werden also an anderes Wortmaterial angeheftet. Während in den Wörtern verhuur und geblaf die gebundenen Morpheme ver- und gejeweils vor dem freien Morphem, dem Stamm (huur bzw. blaf), stehen, sind die gebundenen Morpheme -heid und -er in schoonheid und bakker hinter den Stamm (schoon bzw. bak) geheftet. Aufgrund der Position, an der das Affix an den Stamm <?page no="82"?> 4. Wörter und ihre Struktur 82 geheftet wird, werden die gebundenen Morpheme in unterschiedliche Kategorien verteilt: Präfix - prefix / steht vorne (lat. prae = vorne/ vor) voorvoegsel bewerken < be-werken bearbeiten < be-arbeiten Suffix - suffix / steht hinten (lat. sub = hinten, unten) achtervoegsel vriendschap < vriend -schap Freundschaft < Freund -schaft Zirkumfix - steht um den Stamm herum (lat. circum = circumfix 'drumherum') gelehrig < gelehr -ig gevogelte < gevogel -te (Geflügel) Infix - infix steht im Wort (lat. in = innen, hinein) vincere - vinco - vici - victum -nin der Mitte (siegen - ich siege - ich habe gesiegt - gesiegt) Im Niederländischen wird das Zirkumfix auch als discontinu affix ('unterbrochenes Affix') bezeichnet. In Wörtern wie gelehrig oder gevogelte arbeiten das ge- und -ig bzw. ge- und -te zusammen und können nicht getrennt voneinander verwendet werden; *gelehr und *lehrig sowie *gevogel und *vogelte sind keine möglichen Formen; das Affix muss um das Wort herum gefügt werden. 4 Auch das Partizip Perfekt wird mit einem Zirkumfix gebildet (woon: ge-woon-d). Während Präfixe, Suffixe und Zirkumfixe sowohl im Deutschen als auch im Niederländischen vorkommen, gibt es in beiden Sprachen keine Infixe. Im Lateinischen beispielsweise kommen Infixe häufiger vor. Die Bedeutung mancher Affixe ist bis heute erkennbar, aber eher abstrakt oder 'entkonkretisiert'. Diese sog. Wortbildungsmorpheme sind gebunden, waren aber in früheren Sprachstadien freie lexikalische Morpheme (vgl. Römer 2006: 31). Ein Beispiel für ein solches Wortbildungsmorphem ist das Suffix -baar: 5) -baar: etwas kann ge-X-t werden, es ist möglich zu X-en Übertragen auf ein konkretes Beispiel heißt das, schapen zijn telbaar: Schafe können gezählt werden; es ist möglich, Schafe zu zählen. Ursprünglich bedeutet beran 'tragen', *bāri 'tragend, fähig zu tragen'. Historisch gesehen handelt es sich um ein freies, lexikalisches Morphem, das sich im Laufe der Zeit zu einem Affix entwickelt hat (vgl. Nübling 2006: 73-76). 4 Das Sternchen vor dem Wort verweist in diesem Falle nicht auf eine grammatisch falsche Form, sondern auf eine rekonstruierte Form. Das Adjektiv ist in den Quellen freistehend nicht belegt. <?page no="83"?> 4.2 Wortbildung 83 4.2 Wortbildung Im Niederländischen gibt es wie im Deutschen verschiedene Möglichkeiten, neue Worte zu bilden. Die drei wichtigsten, regelmäßigen und produktiven Wortbildungsprozesse sind Derivation (derivatie, afleiding), Komposition (compositie, samenstelling) und Konversion (conversie). Der Begriff Produktivität (productiviteit) gibt dabei an, dass der Wortschatz anhand einer Form-Bedeutungssystematik ausgeweitet werden kann (vgl. Booij & Van Santen 1998: 46): Aus bereits bestehenden komplexen Wörtern wird ein regelmäßiges Muster abgeleitet, sodass unendlich viele neue Wörter gebildet werden können. Dies ist möglich, weil die Bildung einem regelhaften System unterliegt. Ein Beispiel ist das Suffix -baar, das an bestimmte Verbstämme gefügt werden kann und dann ein Adjektiv bildet: 6) eten eet-baar bespreken bespreek-baar lezen lees-baar tellen tel-baar reizen *reis-baar lachen *lach-baar Diese Bildung ist allerdings nur möglich, wenn das Verb transitiv ist (also mit einem direkten Objekt verwendet werden kann) und die Umschreibung 'kann ge-X-t werden, es ist möglich zu X-en' zulässt. Bei einem intransitiven Verb wie reizen oder lachen ist eine derartige Ableitung nicht möglich. Anhand produktiver Regeln können wir neue Wörter bilden, sog. Neologismen (vgl. Kap. 3 und 8), die korrekt sind, obwohl sie nicht im Wörterbuch stehen. Die drei wichtigsten Arten der Wortbildung werden in den folgenden Paragraphen ausführlicher besprochen. Neben diesen Prozessen gibt es im Niederländischen und Deutschen die Möglichkeit, den Wortschatz durch Kurzwortbildung oder Reduplikation auszubauen. 5 Diese speziellen Fälle werden in Kapitel 4.2.4 besprochen. 4.2.1 Derivation Die Verbindung von freiem und gebundenem Morphem bezeichnet man als Derivation (afleiding, derivatie). In der Regel wird ein freies Morphem mit einem Affix verbunden: schoon mit -heid. Auch eine Kombination mit mehreren Affixen ist möglich: natuur kann mit -lijk zu natuurlijk verbunden werden und im nächsten Schritt mit -heid zu natuurlijkheid oder mit onzu onnatuurlijk: 6 5 Wortschatzausbau durch Bedeutungswandel etc. wird in den Kapiteln 3 und 9 ausführlicher behandelt. 6 Die eckigen Klammern deuten wie in der Mathematik an, wie die einzelnen Elemente miteinander in Verbindung stehen. <?page no="84"?> 4. Wörter und ihre Struktur 84 7) [[schoon] + -heid] schoonheid Schönheit [[[natuur] + -lijk] + -heid] natuurlijkheid Natürlichkeit [on- + [[natuur] + -lijk]] onnatuurlijk unnatürlich Abhängig davon, welcher Wortklasse das Ausgangswort angehört, spricht man von denominalen (natuur N - natuurlijk), deadjektivischen (schoon A - schoonheid) und deverbalen Ableitungen (mix V - mixer). 7 Affixe haben zwar keine konkrete lexikalische Wortbedeutung, geben dem neuen Wort aber dennoch eine bestimmte zusätzliche Bedeutung, einen anderen kategorialen Wert (categoriale waarde). So können mit dem Suffix -er handelnde Personen bezeichnet werden, die eine Tätigkeit ausführen, sog. nomina agentis (von lat. agere 'handeln, tun'). Das abgeleitete Verb (z.B. spelen, bakken) gibt dabei an, um welche Tätigkeit es sich handelt: 8) speel + -er speler Spieler bak + -er bakker Bäcker mix + -er mixer Mixer Als Basis für die Ableitung wird stets der Stamm des Verbs verwendet, also speel, bak etc. und nicht die Infinitivform (spelen, bakken). Neben Personen können mit -er Ableitungen gebildet werden, die ein Instrument oder Werkzeug bezeichnen, mit dem man die Tätigkeit ausführt (mit einem Mixer mixt man). Allgemein können wir formulieren: nomina agentis: handelnde Person; Beruf; Funktion; Gerät [X] V → [X + -er] N Auch für andere Derivate können derartige Regeln aufgestellt werden. Bei einem nomen actionis handelt es sich um eine Bezeichnung einer Handlung, als Basis dient hier ebenfalls ein Verb. Von Adjektiven lassen sich Nomen ableiten, die eine Eigenschaft ('qualitas') ausdrücken. nomina actionis: [X] V → [X + -ing] N actionis roep-ing nomina qualitatis: [X] A → [X + -heid] N qualitatis schoon-heid In diesen Derivationen bestimmt das Affix die grammatischen Eigenschaften des neuen Begriffs. So wird aus dem Verb speel durch die Suffigierung (suffigering) mit dem Suffix -er und aus dem Adjektiv schoon mit dem Suffix -heid jeweils ein Nomen (vgl. Booij & Van Santen 1998: 121): 9) V → N Suffigierung: speler A → N Suffigierung: schoonheid N → A Suffigierung: natuurlijk 7 N steht für Nomen/ Substantiv, A für Adjektiv, V für Verb (vgl. Kap. 5). <?page no="85"?> 4.2 Wortbildung 85 Mit dem Zirkumfix ge-…-te können Kollektiva, Sammelbegriffe gebildet werden: aus einem Berg wird ein Gebirge, aus einem Vogel Geflügel: Kollektiva: [X] N → [ge- + X + -te] N collectivum ge-berg-te (Gebirge) ge-vogel-te (Geflügel) Diese Art der Derivation ist allerdings nicht produktiv; die Zirkumfixe ge-…-d und ge-…-t kommen allerdings regelmäßig bei der Bildung des Partizips Perfekt (voltooid deelwoord) vor: 10) bellen bel gebeld (telefonieren, telefoniert) blaffen blaf geblaft (bellen, gebellt) Nicht nur Nomen können als Basis für eine Derivation dienen, sondern auch Verben wie in Beispiel 11): 11) werken bewerken wonen bewonen Anders als bei den Komposita und den oben besprochenen Derivaten bestimmt bei den abgeleiteten Verben nicht der rechte Teil die grammatischen Eigenschaften des neuen Wortes, sondern das Präfix, obwohl es den linken Teil des Wortes bildet (vgl. 12c). 8 So macht das Präfix beaus einem intransitiven Verb (ohne direktes Objekt) ein transitives Verb (mit direktem Objekt). Bei werken und wonen kann man nicht fragen wen oder was? , bei bewerken und bewonen ist diese Frage jedoch möglich. 12a) Ik werk. *Ik werk een opstel. Ik bewerk een opstel. Ich arbeite. *Ich arbeite einen Aufsatz. Ich bearbeite einen Aufsatz. 12b) Ik woon. *Ik woon een kamer. Ik bewoon een kamer. Ich wohne. *Ich wohne ein Zimmer. Ich bewohne ein Zimmer. 12c) be- + [werk] V intrans. - [bewerk] V trans. be- + [woon] V intrans. - [bewoon] V trans. Exkurs: Diminutive Eine für die niederländische Sprache sehr typische morphologische Form ist das Diminutiv (verkleinwoord). Mit dem Diminutiv kann man nicht nur ausdrücken, dass etwas klein ist, sondern man kann Zuneigung, Wertschätzung oder auch eine Abwertung zum Ausdruck bringen. Außerdem ermöglicht die Diminuierung, aus Stoffen Entitäten zu formen, das heißt eine abgegrenzte, kleine Menge des besagten Stoffes anzugeben (Bsp.: Lust jij een ijsje? Hast du Lust auf ein Eis? ). Die letzte Bildung ist im Deutschen nicht üblich. Diminutive werden gebildet, indem an den Stamm eine Diminutivendung gefügt wird: [[X] + -tje] → Diminutiv 8 Die sog. Righthand-Head-Rule (mehr dazu in 4.2.2) gilt hier also nicht. <?page no="86"?> 4. Wörter und ihre Struktur 86 Es gibt fünf verschiedene standardsprachliche Endungen, -tje, -kje, -pje, -etje und -je, die abhängig von der lautlichen Form des Stammes verwendet werden. 9 Die unterschiedlichen lautlichen Varianten von Morphemen, die die gleiche Funktion und Bedeutung haben, werden als Allomorphe (allomorfen) bezeichnet. Endet der Stamm des Basiswortes z.B. auf einen langen Vokal gefolgt von -m oder auf -lm, -rm oder auf unbetontes -em oder -um, dann lautet die Diminutivendung nicht -tje, sondern -pje: raam - raampje, film - filmpje, arm - armpje, bezem - bezempje, museum - museumpje. Derartige Regeln lassen sich für alle Endungen aufstellen. Im Allgemeinen gilt, dass bei jedem Basiswort nur genau eine Endung möglich ist. So wird das Diminutiv von raam mit dem Suffix -pje gebildet: raampje. Die anderen Formen (*raamje, *raamtje, *rametje, *raamkje) sind durch die Existenz der Form raampje blokkiert. Die eindeutige Verteilung der verschiedenen Allomorphe auf verschiedene Wortstämme wird als komplementäre Distribution (complementaire distributie) bezeichnet (vgl. Kap. 6). 10 Im Niederländischen ist die Diminutivbildung bei Substantiven äußerst produktiv und auch bei Adjektiven häufig; diese müssen allerdings ongeleed sein: groen - groentje, groenig - *groenigje. Im Gegensatz zum Deutschen können im Niederländischen auch andere Wortarten wie Verben, Präpositionen (P), Zahlwörter (Num), Adverbien (Adv) und Pronomen (Pron) als Basis für ein Diminutiv dienen, was allerdings nicht sehr produktiv ist (Bsp. 13). Auch Phrasen können diminuiert werden. Die gebildeten Derivate sind jeweils Nomen. 13) [klein] A [kleintje] N kleines, junges Kind [dut] V [dutje] N Nickerchen [uit] P [uitje] N Ausflug [tien] Num [tientje] N Zehn-Euro-Schein [tussendoor] Adv [tussendoortje] N Zwischenmahlzeit [dit] Pron en [dat] Pron [ditjes en datjes] N Allerlei [onder ons] Phrase [onderonsje] N Gespräch unter vier Augen Im Deutschen können zwar auch Begriffe wie Blondchen oder Dummchen gebildet werden, das Verfahren ist im Deutschen aber längst nicht so produktiv. 9 Regional kommen in nicht standardsprachlichen Varietäten noch weitere Endungen vor: -ke, -eke und -ske (vrouwke, manneke, bakske) sind im Süden der Niederlande und Flandern, aber auch in Groningen gebräuchlich. Im Westen des Sprachraumes wird auch -ie verwendet (harinkie, jochie). 10 Es gibt einige Ausnahmen von dieser Regel: Zu bloem gibt es die Formen bloempje und bloemetje, zu brug brugje und bruggetje, zu kip kipje und kippetje etc. (vgl ANS 1997 ). <?page no="87"?> 4.2 Wortbildung 87 4.2.2 Komposition Begriffe wie huisdeur und bloempot bestehen aus zwei jeweils selbstständigen Teilen (Bsp. 14). Bei einer solchen Verbindung zweier freier Morpheme spricht man von einer Komposition (samenstelling, auch compositie). 14) huisdeur [huis] + [deur] bloempot [bloem] + [pot] Die Komposition ist im Niederländischen und Deutschen außerordentlich produktiv. Aufgrund der Struktur oder Form von appeltaart 'weiß' der Sprachbenutzer, wie er aus kers und taart das neue Wort kersentaart bilden kann. 15) taart: appeltaart taartvorm kersentaart taartmes pruimentaart taartrecept slagroomtaart taartbodem Mit taart können beliebig viele neue Wörter gebildet werden (Bsp. 15). Dabei kann taart sowohl als erster als auch als zweiter Bestandteil fungieren. Auch ist es möglich, die Komposition weiter auszubauen, indem man einen weiteren Bestandteil ergänzt. So ist ein Rezept für Apfeltorte ein appeltaartrecept, ein Buch mit Rezepten für Apfeltorten ist ein appeltaartreceptboek (vgl. Donalies 2007: 11). Im Prinzip lässt sich dies beliebig oft erweitern. Die deutsche Sprache ist für dieses Phänomen berühmtberüchtigt (Donaudampfschifffahrtsgesellschaft). Abb. 4.1: Rekursives Kompositum im Straßenbild (De Leertent) Im Niederländischen sind samenstellingen ebenfalls rekursiv (recursief) wie in hottentottententententoonstellingstent oder autotransponderchipsleutel (Cornelisse 2012: 189); in Amsterdam heißt ein Geschäft für Motorradbekleidung mit Beratung Motorkledingadvieswinkel De Leertent (s. Abb. 4.1). Eine feste Regel für die Länge von Komposita gibt es nicht. Komposita können mittels unterschiedlicher Wortarten erstellt werden. Ist der rechte Teil ein Nomen, spricht man von einer nominalen Komposition (nominale samenstelling), z.B. fietsbel, sneltrein, slaapzak. Diese Art der Komposition ist außerordentlich produktiv. Ist der rechte Teil ein Adjektiv, spricht man von einer adjektivischen Komposition (adjectievische samenstelling), die ebenfalls produktiv ist, z.B.: boterzacht (butterweich), kotsmisselijk (speiübel), lichtblauw (hellblau). Nicht <?page no="88"?> 4. Wörter und ihre Struktur 88 produktiv sind im Deutschen und Niederländischen verbale Kompositionen (werkwoordelijke samenstelling) wie slaapwandelen. Verbindungen mit Verbalpartikeln wie opbellen, doorzetten etc. oder mit einem Nomen als linkem Teil wie bierbrouwen oder ademhalen sind hingegen produktiv. Bei diesen Verbindungen handelt es sich um eine Zusammenrückung (samenkoppeling), die in den flektierten Formen wieder auseinandergezogen wird: opbellen - ik bel op, bierbrouwen - hij brouwt bier. Verbindungen mit Wortarten wie Adverbien, Präpositionen etc. als rechtem Teil sind ebenfalls möglich, aber selten. Neben dieser formalen Unterscheidung können Komposita aufgrund ihrer semantischen Eigenschaften in drei Arten unterteilt werden: Determinativkomposita, Bahuvrihi-Komposita und Kopulativkomposita. Wie wir bereits gesehen haben, können mit dem Wort taart viele verschiedene Begriffe gebildet werden: appeltaart, kersentaart, pruimentaart, slagroomtaart etc. Diese Begriffe verweisen alle auf eine Art Torte: Apfel-, Kirsch-, Pflaumen- und Sahnetorte. In den Beispielen bildet der zweite, der rechte Teil der Komposition die Basis des neuen Wortes (Torte), der erste, der linke Teil bestimmt dieses Grundwort näher: 'eine Torte, und zwar mit Äpfeln'. Der linke Teil determiniert den rechten; daher wird diese Arte der Komposition als Determinativkomposition (determinatieve samenstelling) bezeichnet. Die Bedeutung des neuen Begriffs ergibt sich aus der Kombination von Determinans (lat. 'bestimmendes'; linker Teil) und Determinatum (lat. 'bestimmtes'; rechter Teil). Die Bedeutung des neu zusammengestellten Begriffs liegt innerhalb des Wortes und ist transparent: appeltaart ist eine bestimmte Art von taart, nämlich mit appel, kersentaart ist eine bestimmte Art von taart, nämlich mit kersen usw. Da sich der Kern der Bedeutung im Wort befindet, wird diese Art der Komposition auch als endozentrische Komposition (endocentrische samenstelling) bezeichnet. 16) appeltaart Determinans: appel - Determinatum: taart Die rechte Seite bildet die Basis, den Kopf (engl. head) des Kompositums und bestimmt die grammatischen Eigenschaften des neuen Wortes. So kann man am Artikel des Wortes archieffoto (Bsp. 17) erkennen, dass das de-Wort de foto ausschlaggebend ist und nicht das het-Wort het archief (zu de- und het-Wörtern vgl. 4.3.1). Die Markierung des Plurals wird ebenfalls nur am rechten Teil vorgenommen: de archieffoto's (Pluralmorphem -s) und de fotoarchieven (Pluralmorphem -en). Dieses Phänomen wird als Righthand-Head-Rule (right-hand head rule, oft abgekürzt als RHR) bezeichnet. Diese Regel gilt sowohl im Niederländischen als auch im Deutschen für Kompositionen. 17) [archief] het-woord + [foto] de-woord → de archieffoto = bepaald soort foto [foto] de-woord + [archief] het-woord → het fotoarchief = bepaald soort archief <?page no="89"?> 4.2 Wortbildung 89 Darüber hinaus sind Kompositionen stets binär (binair) aufgebaut, d.h. dass sich der Kopf und die Bestimmung in zwei Teile gliedern lassen, unabhängig von der Anzahl der verwendeten Morpheme. Es gibt linksverzweigende (linksvertakkend) Komposita (Bsp. 18) und rechtsverzweigende (rechtsvertakkend) Komposita (Bsp. 19) sowie Kombinationen (Bsp. 20) daraus: 18) 19) 20) voet bal club dames voet bal baar moeder slijm vlies In der Notation mit eckigen Klammern ergibt sich das Folgende: 18) [[[voet] + [bal]] + [club]] (Fussballverein) 19) [[dames] + [[voet] + [bal]]] (Frauenfussball) 20) [[[baar] + [moeder]] + [[slijm]+vlies]]] (Gebärmutterschleimhaut) Der semantische Zusammenhang zwischen Determinans und Determinatum kann außerordentlich vielseitig sein. Vergleichen wir die folgenden Ölarten: 21) olijfolie visolie babyolie smeerolie aardolie Heizöl slaolie knoflookolie Olivenöl ist Öl, das aus Oliven gespresst wurde; Fischöl kommt vom Fisch. Babyöl hingegen ist Öl, das geeignet ist für Babys bzw. speziell für Babys entwickelt wurde. Schmieröl ist Öl, das zum Einschmieren von metallischen Gegenständen geeignet ist. Erdöl ist Öl, das aus der Erde kommt und gewonnen wird. Heizöl ist Öl, das zum Heizen verwendet werden kann. Salatöl ist essbar, nicht zum Frittieren oder Braten geeignet, passt aber zu Salat. Knoblauchöl wiederum ist ein Öl, das mit Knoblaucharoma versehen ist. Eine speziellere Art der Komposition ist die Bahuvrihi-Komposition (bahuvrihisamenstelling), die auch als exozentrische Komposition (exocentrische samenstelling) bezeichnet wird. Der Begriff bahuvrihi stammt aus dem Sanskrit und ist selbst auch eine exozentrische Komposition aus bahu (= viel) und vrīhi (= Reis). Jemand, der viel Reis besitzt, ist reich; bahuvrihi bedeutet 'reicher Mann'. Im Gegensatz zur endozentrischen Komposition lässt sich die Bedeutung bei solchen Neubildungen nicht unmittelbar aus dem Kopf des Kompositums ableiten. Ein Begriff wie neushoorn lässt sich in zwei freie Morpheme untergliedern: neus + hoorn. Formal ist hoorn der Kopf des Kompositums. Es handelt sich bei einem neushoorn aber nicht um eine näher bestimmte Art von Horn, sondern um ein Tier, das sich dadurch auszeichnet, dass es auf seiner Nase ein Horn trägt. Der Begriff roodborstje verweist <?page no="90"?> 4. Wörter und ihre Struktur 90 ebenfalls auf ein Tier, und zwar auf eines, das eine rote Brust (oder Kehle) hat. Aus der Kombination rood + borstje lässt sich nicht ableiten, dass es sich um einen Vogel handelt. Neushoorn und roodborstje werden metonymisch zur Bezeichnung des jeweiligen Tieres verwendet (vgl. Kap. 3). Abb. 4.2: Nashorn meets Nasenhorn Der rechte Teil eines Bahuvrihi-Kompositums besteht immer aus einem Nomen und auch das neugebildete Wort ist immer ein Nomen. Semantisch handelt es sich anders als beim Determinativkompositum nicht um eine näher bestimmte Art des Basiswortes, sondern um eine übertragene Bedeutung, meist eine Metonymie (vgl. Kap. 3). Verbindungen wie zwart-wit oder prins-gemaal werden als Kopulativkomposita (copulatieve samenstelling) bezeichnet. Hier sind die beiden Teile der Komposition gleichwertig, d.h. es bestimmt nicht ein Teil den anderen näher. Bei zwart-wit handelt es sich nicht um eine bestimmte Art von weiß. Ein Schwarzweißfilm ist ein Film, der nicht in Farbe gedreht wurde, sondern in schwarz und weiß (und in Graustufen). Als prins-gemaal war der Ehemann der niederländischen Königin ihr Gatte und zugleich Prinz. Kopulativkomposita kommen wesentlich seltener vor als Determinativ- und Bahuvrihi-Kompositionen. Bei der Kombination von Wörtern wird häufig ein sogenanntes Fugenelement (bindfoneem, tussenklank) eingefügt, ein -s-, -en- oder -e-: 22) schaapskooi schaap+s+ kooi (Schafstall) schapenvlees schaap+en+vlees (Schafsfleisch) koninginnedag koningin+e+dag (Königinnentag) Auch im Deutschen gibt es derartige Fugenelemente wie bei Schafsfleisch, Königinnentag. In einigen Fällen kann das Fugenelement als Genitivendung erklärt werden: <?page no="91"?> 4.2 Wortbildung 91 aus der Formulierung des Teufels Sohn wird der Teufelssohn; die urspüngliche Flexionsendung -s für den Genitiv wird dann zum Fugenelement -s- (vgl. Nübling 2006: 85). In anderen Fällen jedoch lässt sich das Fugenelement nicht auf diese Weise erklären; so kommen bei schaap Komposita ohne Fugenelement vor, z.B. schaapherder (Schafshirte), aber auch Komposita mit -s- und mit -enals Fugenelement (Bsp. 22). Auch andere semantische Erklärungen greifen nicht in allen Fällen. Ein boekenrek ist ein Regal für mehr als ein Buch, daher ist der Plural boeken logisch, in einem boekwinkel werden aber auch viele Bücher verkauft, weshalb der Buchladen boekenwinkel heißen müsste. Fugenelemente können Grenzen zwischen Erst- und Zweitglied signalisieren und so dem Hörer helfen, das Gesagte besser zu verstehen: uitdrukking-s-vermogen (Ausdruck-s-fähigkeit), verwarming-s-element (Heizkörper). Ob das Fugenelement eine morphologische oder eine phonologische Funktion hat, wird in der Literatur diskutiert (vgl. hierzu Nübling et al. 2006: 85-87). 4.2.3 Konversion Bei der Konversion (conversie) handelt es sich um einen Wortklassenwechsel (klassenverhuizing). Die Veränderung des Wortes ist nicht aufgrund einer Formveränderung sichtbar, da kein Morphem an das Grundwort hinzugefügt wird, sondern lässt sich nur an den neuen grammatischen Eigenschaften des Begriffs erkennen (vgl. Bsp. 23). Das Nomen fiets ist als Nomen erkennbar, weil es einen Artikel bei sich haben kann: een fiets, de fiets. Im Deutschen zeigen sich am Nomen zudem noch Kasusendungen wie des Fahrrads, den Fahrrädern. Als Verb hat fiets andere Eigenschaften: Es kann konjugiert werden und dementsprechende Endungen aufweisen (ik fiets, hij fietst), es kann in einem Tempus der Vergangenheit stehen (ik fietste, ik ben gefietst). Von der Form her besteht aber zwischen dem Nomen fiets und dem Verb fiets kein sichtbarer Unterschied. Das Nomen, das in diesem Fall die Basis bildet, wird durch den Wechsel der Wortart zu einem neuen Wort. Das Verb entsteht bei dieser Konversion, ohne dass ein Morphem hinzugefügt wird. 23) (de) fiets N - (ik) fiets V kort A - (ik) kort V (ik) dans V - (de) dans N rood A - (het) rood N Auch ein Adjektiv wie kort kann durch eine Konversion zu einem Verb werden: korten (kurz - kürzen). Um eine Konversion von Adjektiv zu Nomen handelt es sich bei rood (rot) zu (het) rood (Röte). Das Verb dans (Infinitiv dansen) wiederum wird durch eine Konversion zum Nomen (de) dans. Auch im Deutschen gibt es das Verb tanz(en) und das Konvertat (der) Tanz. Neben den Verbstammkonvertaten wie dans, vloek, slaap, start etc. gibt es auch sogenannte Infinitivkonvertate: eten - het eten; lopen - het lopen. <?page no="92"?> 4. Wörter und ihre Struktur 92 Bei der Konversion ändert sich die Form des Wortes nicht, es ändern sich aber seine grammatischen Eigenschaften. Die Veränderung ist implizit im Wort verborgen, nicht explizit sichtbar. Nur aufgrund der Funktionen, die das jeweilige Wort erfüllen kann, lässt sich entscheiden, um welche Wortart es sich handelt. 4.2.4 Weitere Wortbildungsprozesse Die unter 4.2.1-4.2.3 besprochenen Wortbildungsprozesse sind die produktiven, regelmäßigen morphologischen Prozesse, mithilfe derer neue Wörter gebildet werden können. Die Wortbildungsarten, die im Folgenden besprochen werden, sind im strengeren Sinne nicht 'morphologisch', da sie nicht aus Morphemen kombiniert werden: Blending, Akronyme und Clipping. Außerdem wird die Reduplikation kurz vorgestellt. Beim Blending werden zwei Wörter miteinander verschmolzen, d.h. der Anfang eines Wortes A und das Ende eines Wortes B werden miteinander kombiniert; der Vorgang wird daher auch als Wortverschmelzung (woordversmelting) bezeichnet. Sogenannte Blends sind vor allem im Englischen sehr beliebt, kommen aber auch im Niederländischen und Deutschen vor: 24) smog < smoke und fog brunch < breakfast und lunch Neben diesen Internationalismen gibt es weitere Blends: 25) botel < boot und hotel infotainment < information und entertainment burkini < burka und bikini Derartige Bildungen werden auch als Koffer- oder Portmanteauwort (kofferwoord/ portmanteauwoord) bezeichnet. Insbesondere im kreativen Sprachgebrauch werden Blends gerne verwendet. So haben die Kabarettisten und Sprachvirtuosen Kees van Kooten und Wim de Bie mit ihren Blends nachhaltig die niederländische Sprache bereichert: 26) krommunicatie < krom (krumm) und communicatie kneukfilm < knokken (sich prüglen) und neuken (vögeln) schrijpend < schrijnend (bitter, herb) und nijpend (grimmig) Die Bildung von Blends ist nicht vorhersagbar. Es gibt keine festen Regeln, wie viele Bestandteile aus dem ersten Wort und wie viele aus dem zweiten verwendet werden müssen. Jeder Blend wird auf seine eigene Art und Weise gebildet und so gibt es auch keine morphologische Begründung, warum brunch nicht breanch geworden ist. <?page no="93"?> 4.2 Wortbildung 93 Bei Akronymen (acroniemen) handelt es sich um Kurzwörter, die landläufig unter 'Abkürzungen' gefasst werden. 11 Bei Akronymen entstehen im Allgemeinen keine neuen Begriffe, sondern Dubletten: Das Langwort und Kurzwort existieren als Doppelformen nebeneinander mit der gleichen Bedeutung. 27) ARD = Allgemeine Rundfunkanstalten Deutschlands KRO = Katholieke Radio Omroep UvA = Universiteit van Amsterdam HEMA = Hollandsche Eenheidsprijzen Maatschappij Amsterdam Bei Akronymen können die einzelnen Buchstaben getrennt ausgesprochen werden wie bei A-R-D und K-R-O; dann handelt es sich um sog. letterwoorden. Akronyme können aber auch als Wort ausgesprochen werden, wie bei 'üfa' und 'hema'. Bei diesen Beispielen ist jeweils der erste Buchstabe zur Bildung des neuen Wortes verwendet. Es können aber auch mehrere Buchstaben verwendet werden: 28) Azubi < Auszubildender horeca < hotel, restaurant, café holebi < homoseksueel, lesbisch, biseksueel Während Azubi als Kurzform eine Dublette zu Auszubildender darstellt, ist horeca nicht einfach die kurze Variante des langen Wortes mit der gleichen Bedeutung. Der Begriff horeca steht für Gastronomie, bildet damit einen neuen Begriff und stellt keine Aneinanderreihung von Hotel, Restaurant und Café dar. Dass der neue Begriff über die Summe der drei Einzelbegriffe hinausgeht, zeigt sich auch am Genus des Wortes: Obwohl alle drei ursprünglichen Begriffe het-Wörter sind, ist das Akronym ein de- Wort: de horeca. Langform und Kurzform sind hier nicht austauschbar, sondern sie bezeichnen unterschiedliche Dinge. Das Akronym holebi ist eine Art Sammelbegriff; in einem holebi-café sind Schwule, Lesben und Bisexuelle willkommen. Die Bildung von Akronymen unterliegt keinen festen Regeln, weder was die Aussprache als Wort oder in Buchstaben noch was die Anzahl der verwendeten Buchstaben betrifft. Untersuchungen haben gezeigt, dass in den Niederlanden häufiger die woorduitspraak vorkommt als die letteruitspraak, in Belgien wiederum wird die letteruitspraak häufiger verwendet als die woorduitspraak (vgl. Joosten 2002). Dies wird deutlich an den Kurzformen für die niederländischen und belgischen Universitäten: 29) Rijksuniversiteit Groningen: RUG 'rüch' Katholieke Universiteit Brabant: KUB 'küb' Rijksuniversiteit Gent: RUG 'er-ü-che' Katholieke Universiteit Brussel: KUB 'ka-ü-be' 11 Um 'echte' Abkürzungen handelt es sich bei Formen wie z.B. oder ipv, die zwar in der Kurzform geschrieben werden, aber immer in der Langform, also als zum Beispiel bzw. in plaats van ausgesprochen werden. Niemand sagt zett Be oder i-pe-ve. <?page no="94"?> 4. Wörter und ihre Struktur 94 Beim Clipping (afkapping) werden ebenfalls Kurzwörter gebildet, die als Dubletten neben der Langform existieren. Die Verkürzung erfolgt nicht über Buchstaben, sondern über die Streichung eines Teils des Wortes; meistens wird das Ende weggelassen. 30) Uni für Universität unief für universiteit bieb für bibliotheek mayo für mayonaise homo für homofiel foto für fotografie Im Gegensatz zu den Langformen handelt es sich bei den kurzen Varianten häufig um umgangssprachliche Wörter, die in der Schriftsprache eher nicht verwendet werden. Von der Bedeutung her unterscheiden sich die Wörter in der unterschiedlichen Länge aber nicht. Wie beim Blending und bei der Akronymbildung gibt es auch beim Clipping keine festen, systematischen Regeln, welcher Teil des Wortes gestrichen wird oder wie viel vom ursprünglichen Wort wegfällt. Bei der Reduplikation (reduplicatie) werden neue Worte durch Verdopplung des Ausgangswortes oder eines Teils der Basis (gedeeltelijke reduplicatie) gebildet. Häufig haben diese Begriffe einen spielerischen Charakter, wie bei kielekiele (etwa: das war knapp, um ein Haar), toi-toi-toi, balletje-balletje (Hütchenspiel), koppie-koppie (Köpfchen! ). Nur teilweise redupliziert sind Begriffe wie wipwap (Wippe) und haaibaai (Beißzange), bei denen der lautmalerische Charakter deutlich wird. In manchen Sprachen ist die Reduplikation ein sehr produktives, regelgesteuertes Verfahren, um z.B. Mehrzahl, Intensivierung oder große Mengen anzugeben. Dies gilt z.B. für das Indonesische (31) oder das Afrikaans (32, 33): 31) pohon (Baum) vs. pohon-pohon (Bäume) 32) dik (dick) vs. dik-dik (sehr dick) 33) Die tak tik teen die ruit. (Der Zweig tickt gegen die Fensterscheibe) vs. Die tak tik-tik teen die ruit. (Der Zweig tickt unablässig gegen die Fensterscheibe.) (vgl. Ponelis 1993) Neologismen, d.h. kreative Neubildungen, werden mit diesem Verfahren allerdings auch im Niederländischen gerne gebildet: 12 Meisje 1: 'Hij studeert Nederlands. En hij roeit. Hij is wel leuk.' Meisje 2: 'Oké... Maar is ie leuk? Of is ie leuk-leuk? ' 'Leuk' betekent dat iemand aardig is, maar dat is je broertje ook. Leuk-leuk betekent dat je je kunt voorstellen dat er uiteindelijk dingen gaan gebeuren zonder onderbroek. Paulien Cornelisse, En dan nog iets 12 Die Form is ie ist eine umgangsprachliche Variante von is hij. <?page no="95"?> 4.3 Flexionsmorphologie 95 Als weiteres Beispiel führt Cornelisse die Verdopplung von baan zu baan-baan an: Einen kleinen Job hat man zum Beispiel als Aushilfskraft bei einer Kita, einen richtigen im Ministerium, wo man sich dementsprechend seriös und erwachsen benehmen muss: "Ik ben gestopt als invalhulp op het kinderdagverblijf, ik werk nu bij het ministerie. Leuk, maar wel echt een baan-baan." (Cornelisse 2012: 11-12). Wie wir in diesem Abschnitt gesehen haben, gibt es im Deutschen und Niederländischen neben den regelgesteuerten und systematischen Wortbildungsverfahren (Derivation, Komposition und Konversion) weitere Verfahren, neue Wörter zu bilden. Obwohl die hier besprochenen Verfahren sehr häufig verwendet werden und einen immer größeren Raum in unserem Lexikon einnehmen, werden sie traditionell nicht zum Kernbereich der Morphologie gerechnet. Dies liegt zum einen daran, dass die Bausteine, aus denen die Wörter gebildet werden, keine Morpheme sind, sondern einzelne Buchstaben oder Wortstücke etc. Zum anderen sind die Bildungen nicht systematisch und regelgesteuert und dadurch auch nicht vorhersagbar. 4.3 Flexionsmorphologie Um miteinander kommunizieren zu können, verwenden wir in der Regel nicht einzelne, unabhängige Wörter, sondern wir kombinieren Wörter miteinander, stellen sie in einen Zusammenhang und bilden Sätze. Um in Sätzen den Zusammenhang zwischen den einzelnen Wörtern deutlich machen zu können, werden die einzelnen Wörter häufig durch Endungen angepasst, so dass sie grammatische Funktionen im Satz übernehmen können. Die einzelnen Wörter het, klein, huis, staan, in, Amsterdam können zu einem Satz zusammengefügt werden: 34) Het kleine huis staat in Amsterdam. Das Adjektiv klein erhält die Endung -e, das Verb staan erhält die Personalendung -t. Durch die Hinzufügung der Suffixe ändert sich die Bedeutung der Wörter nicht: das Adjektiv behält die Bedeutung 'klein', das Verb die Bedeutung 'stehen'. Die Endung übermittelt eine grammatische Information: Das Adjektiv gehört zu einem Substantiv in der Einzahl, das Prädikat gehört zu einem Subjekt in der Einzahl etc. Derartige Endungen, sog. Flexive oder Flexionsmorpheme (flexiemorfemen), sorgen dafür, dass Wörter an die grammatischen und syntaktischen Bedingungen angepasst werden können, sodass ein grammatisch korrekter Satz entsteht. Mit Flexiven werden also keine neuen Wörter, keine neuen Begriffe kreiert, sondern es werden die verschiedenen Formen eines Wortes gebildet, die gemeinsam das Paradigma (paradigma) bilden. Auf die verschiedenen Flexionskategorien beim Nomen, Adjektiv und Verb gehen wir im Folgenden näher ein. <?page no="96"?> 4. Wörter und ihre Struktur 96 4.3.1 Flexion bei Nomen Das Nomen oder Substantiv kennt im Deutschen und Niederländischen drei Flexionskategorien: Kasus, Numerus und Genus. Die lateinischen Begriffe verweisen auf den Fall, die Zahl und das Geschlecht. Im Deutschen sind die vier Kasus (naamvallen) Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ gebräuchlich, auch wenn der Dativ 'dem Genitiv sein Tod' ist und die Formen hauptsächlich am Artikel oder zugehörigen Adjektiv erkennbar sind: 35) der Mann de man die Frau de vrouw des Mannes de man der Frau de vrouw dem Mann(e) de man der Frau de vrouw den Mann de man die Frau de vrouw Im Niederländischen findet eigentlich keine Unterscheidung mehr statt. Ausnahmen bilden die Pronomen (Bsp. 36), der besitzanziegende Genitiv bei Eigennamen (Jans huis, Brams geheim) und erstarrte Ausdrücke wie de tand des tijds (der Zahn der Zeit), heden ten dage (heutzutage) oder de plek des onheils (der Ort des Unheils). Die syntaktische Funktion des Substantivs wird im Niederländischen in der Regel durch die Positionierung in Satz und mit Hilfe von Präpositionen wie van oder aan ausgedrückt. Nur bei den Pronomina wird eine klare Unterscheidung von Subjekt und Nicht-Subjekt deutlich: 36) ik - mij jij - jou hij - hem zij - haar zij - hun/ hen In der Regel werden bei den Pronomina Dativ und Akkusativ nicht unterschieden, nur in der 3. Person Plural gibt es formal den Unterschied zwischen hun (ihnen) und hen (sie) (vgl. Kap. 2 und 8). Die meisten Niederländischsprachigen verwechseln diese Formen jedoch und verwenden sie häufig nicht korrekt. 37) *Ik zie hun. - Ik zie hen. *Hij geeft hen een cadeau. - Hij geeft hun een cadeau. *Zij overnacht bij hun. - Zij overnacht bij hen. Beim Numerus (getal) wird im Niederländischen wie im Deutschen eine Unterscheidung von Singular (enkelvoud) und Plural (meervoud) vorgenommen. Während im Deutschen fünf Pluralklassen unterschieden werden (in manchen Lehrwerken wird von neun Pluralbildungen ausgegangen), 13 gibt es im Niederländischen nur zwei Pluralklassen, mit den Endungen -en und -s (vgl. Tab. 4.1). Die Verwendung der Pluralendung ist im Niederländischen stark abhängig von prosodischrhythmischen Faktoren (vgl. Kürschner 2002, Booij & Van Santen: 85-90): Nach unbetonten Silben wird -s angehängt (appels, bezems, dekens, akkers), nach betonten Silben -en (mandarijnen, bananen, honden, fietsen). 13 Die Pluralbildung ohne explizite Zufügung eines Pluralmorphems (das Messer - die Messer) wird in der Literatur häufig mit Ø markiert; dieses Phänomen wird als Nullmorphem (nulmorfeem) bezeichnet, ist aber umstritten (vgl. Römer 2006: 29). <?page no="97"?> 4.3 Flexionsmorphologie 97 Deutsche Beispiele Pluralform ndl. Entsprechung Löwe-n Frau-en -(e)n vrouw-en Berg-e Zähn-e (Umlaut) + -e Messer-Ø Mütter-Ø (Umlaut) + - Ø Kind-er Münd-er (Umlaut) + -er kind-eren Känguruh-s -s appel-s Tab. 4.1: Pluralklassen im Deutschen und Niederländischen Die niederländischen Pluralformen auf -en und -eren sind historisch mit den Pluralklassen auf -en und -er im Deutschen verwandt. Das Morphem -eren ist eigentlich 'doppelt gemoppelt': Der Plural auf -er wurde durch die zusätzliche Verwendung des Suffixes -en verstärkt. Man spricht dabei von einem Stapelsuffix (stapelsuffix). Nur eine kleine Gruppe von Wörtern bildet den Plural mit diesem Stapelsuffix. Während die Endung -s im Deutschen meist bei Lehn- und Fremdwörtern verwendet wird, kommt diese Pluralendung im Niederländischen regelmäßig bei einheimischem Wortmaterial (wie appel) vor. In einigen Fällen kennt auch das Niederländische eine Art Umlaut bzw. Vokaldehnung, die im Plural auftritt: stad - steden, schip - schepen, dag - dagen, dak - daken etc. Diese Art der Pluralbildung ist nicht produktiv. Eine kleine Gruppe von Wörtern bildet zwei Pluralformen mit unterschiedlicher Bedeutung: been - benen (Beine), aber beenderen (Gebeine), blad - bladen (Blätter aus Papier), aber bladeren (Blätter am Baum, Laub) etc. In einigen Fällen wird im belgischen Niederländisch als Pluralmorphem -s verwendet, während im niederländischen Niederländisch -en gebräuchlich ist (vgl. De Caluwe & Devos 1998: 23f.): Plural im niederländischen Ndl. Plural im belgischen Ndl. leraar leraren leraars handelaar handelaren handelaars type typen types Tab. 4.2: Unterschiedliche Pluralformen Das Deutsche unterscheidet drei Genera (geslacht): maskulinum, femininum und neutrum bzw. männlich, weiblich, sächlich. Historisch kennt auch die niederländische Sprache diese Dreiteilung in mannelijk, vrouwelijk und onzijdig. Während man im Südniederländischen, insbesondere in den Dialekten, ebenfalls diese Dreiteilung kennt, schwindet im Norden die Unterscheidung von mannelijk und vrouwelijk, zumindest bei Substantiven, die keine Person bezeichnen. Hier wird nur noch zwischen de-Wort (de-woord) und het-Wort (het-woord) unterschieden, wobei die de- Wörter ein genus commune (gemeinsames Genus) haben: de koe (die Kuh), de os (der Ochse), het rund (das Rind). So kann man im Nordniederländischen sagen: Daar staat een koe. Hij geeft melk. - 'Dort steht eine Kuh. Er gibt Milch.' <?page no="98"?> 4. Wörter und ihre Struktur 98 4.3.2 Flexion bei Adjektiven Auch Adjektive kennen verschiedene Flexionskategorien. Bei attributivem Gebrauch (het blauwe huis) wird das Adjektiv im Niederländischen (wie im Deutschen) flektiert, während in beiden Sprachen Adjektive bei prädikativem und adverbialen Gebrauch unflektiert bleiben: het huis is blauw; de zanger zingt mooi. Die Steigerungsformen gehören ebenfalls zur Flexion. Das Deutsche kennt drei Flexionsklassen (schwache, starke und gemischte Flexion) und mehrere Adjektivendungen (-e, -er, -es, -em, -en); das attributiv verwendete Adjektiv wird in Kasus, Numerus und Genus an das Bezugswort angepasst (ein schöner Mann, schöne Frauen, dem schönen Kind etc.). Im Niederländischen gibt es nur zwei Endungen: -e oder -Ø: het kleine huis, aber een klein huis. Bei allen de-Wörtern ist die Endung -e und auch bei het-Wörtern, die näher bestimmt sind oder im Plural stehen. Nur bei unbestimmten het-Wörtern in der Einzahl bleibt das Adjektiv unflektiert (Endung -Ø): 14 38) [X] A → [X + -Ø] A / [+neutrum, -Plural, -definit] [X] A → [X + -e] A In neueren Untersuchungen werden aber Tendenzen deutlich, dass sich dies ändern könnte und Adjektive in attributiver Funktion unabhängig vom Genus des Bezugswortes möglicherweise zukünftig immer flektiert werden: "een mooie verhaal" statt "een mooi verhaal" (vgl. Weerman 2003). Die Steigerungsformen (trappen van vergelijking) ähneln sich im Niederländischen und Deutschen sehr. An die Grundform (Positiv, positief/ stellende trap) wird im Komparativ (comparatief/ vergrotende trap) die Endung -er gefügt, im Superlativ (superlatief/ overtreffende trap) die Endung -st. Bei Adjektiven, deren Stamm auf -r endet, wird vor der Komparativendung noch ein -deingefügt; ein solcher Lauteinschub wird als Epenthese (epenthesis) bezeichnet: 39) groot - groter - grootst klein - kleiner - kleinst duur - duurder - duurst Die Endungen -er und -der für den Komparativ sind Allomorphe; man spricht hier wiederum von komplementärer Distribution (vgl. 4.2.1). 4.3.3 Flexion bei Verben Das Verb (werkwoord) kennt eine ganze Reihe von Flexionskategorien: Person (persoon), Numerus (getal), Modus (wijze), Tempus (tijd), Genus verbi (genus verbi, d.h. Aktiv (actief) und Passiv (passief)), Aktionsart und Aspekt (im Niederländischen werden diese zwei Kategorien meist beide mit aspect bezeichnet). Die Akti- 14 Zur Notation derartiger Regeln vgl. Kap. 6. <?page no="99"?> 4.3 Flexionsmorphologie 99 onsart ist im Niederländischen und Deutschen keine Kategorie, die über eindeutige Flexionsendungen oder -merkmale verfügt. Während im Englischen ein grammatisch wichtiger Unterschied zwischen simple und progressive vorliegt, kann die progressive Form im Deutschen nur in der 'rheinischen Verlaufsform' ausgedrückt werden, die aber nicht deutschlandweit gebräuchlich ist (und daher in 40 mit einem ? markiert ist). Im Niederländischen ist die Verlaufsform grammatisch völlig korrekt, wird aber nicht so streng wie im Englischen von der normalen Form unterschieden: 40) engl.: I am reading I read dt.: ? ich bin am lesen ich lese ndl.: ik ben aan het lezen ik lees Weitere Verbformen sind die infiniten Formen: Partizip Präsens (onvoltooid deelwoord: dansend - tanzend), Partizip Perfekt (voltooid deelwoord: gedanst - getanzt) und der Infinitiv (infinitief/ onbepaalde wijs: dansen - tanzen). Alle Konjugationsformen bilden gemeinsam das Paradigma eines Verbs. Das Präteritum kann im Niederländischen mithilfe dreier unterschiedlicher morphologischer Prozesse ausgedrückt werden: Die produktive Variante ist die Affigierung (affigering) mit -de/ -te. Diese Formen sind regelmäßig, meist spricht man in diesem Fall von zwakke werkwoorden. Nicht mehr produktiv ist die Bildung der Vergangenheit durch einen Vokalwechsel, den sog. Ablaut (ablaut). Verben mit Ablaut werden als sterke werkwoorden bezeichnet; ihre Bildung erfolgt nach einer gewissen Systematik. Eine dritte Kategorie von Verben folgt keinem regelmäßigen Muster, sie sind onregelmatige werkwoorden (vgl. Salverda 2006, Klooster 2001): 41) zwak ik woon ik woonde ik heb gewoond sterk ik neem ik nam ik heb genomen onregelmatig ik denk ik dacht ik heb gedacht Die Basisendung des Präteritums ist die stimmhafte Form -de (im Plural -den). Endet der Stamm des Verbes jedoch auf einen stimmlosen Konsonanten , so wird die stimmlose Variante -te (im Plural -ten) angehängt (vgl. auch Kap. 6): 42) Stamm stimmhaft: ik woon ik woonde ik heb gewoond Stamm stimmlos: ik dans ik danste ik heb gedanst Diese Angleichung erfolgt auch beim Partizip: Das Zirkumfix, das zur Bildung verwendet wird, hat die Form ge- + Stamm + -d/ -t, abhängig davon, ob der Stamm auf einen stimmhaften oder stimmlosen Konsonanten endet (vgl. Bsp. 42). Im Deutschen hingegen ist die regelmäßige Endung stets die stimmlose Form -te(n): 43) Stamm stimmhaft: ich wohne ich wohnte ich habe gewohnt Stamm stimmlos: ich tanze ich tanzte ich habe getanzt Aufgrund der regelmäßigen Präteritumssbildung gehen wir davon aus, dass es sich bei der Gegenwartsform um die ongelede Form, bei der Vergangenheit um die gelede <?page no="100"?> 4. Wörter und ihre Struktur 100 Form handelt. Bei den regelmäßigen Verben ist dies an der expliziten Zufügung des Suffixes eindeutig zu konstatieren. Dies wird auf die Ablautformungen und die unregelmäßigen Verben übertragen, auch wenn hier keine Affigierung sichtbar wird (vgl. Booij & Van Santen 1998: 26): 44) ongeleed blijf grijp denk ben geleed bleef greep dacht was Die Flexionskategorien beim Verb sind wesentlich komplexer als die Flexionskategorien von Substantiv und Adjektiv und reichen bereits weit in den syntaktischen Bereich. Bei den folgenden Paradigmen passiert etwas Seltsames: 45) zijn - ben - is - wees - was - geweest goed - beter - best weinig - minder - minst Eigentlich müsste es doch heißen: goed - goeder - goedst und weinig - weiniger - weinigst? Im Deutschen ist diese regelmäßige Flexion beim entsprechenden Adjektiv wenig grammatisch völlig korrekt. Im Niederländischen werden statt dieser Formen zur Bildung des Komparativs und Superlativs jedoch andere Wortstämme herangezogen Auch das Verb zijn bildet seine Formen anhand unterschiedlicher Wortstämme. Die Verwendung verschiedener Stämme zur Bildung der Wortformen, die Suppletion (suppletie), ist kein produktives Verfahren und kommt nicht sehr häufig vor. 4.4 Zusammenfassung Mithilfe morphologischer Prozesse, bei denen wir Morpheme, d.h. kleinste bedeutungstragende Elemente, auf vielfältigste Weise mitenander kombinieren, können wir unseren Wortschatz unendlich ausdehnen. Produktive Verfahren sind die Derivation, Komposition und Konversion. Bei der Derivation werden durch die Zufügung von Affixen neue Wörter gebildet; abhängig von der Position des Affixes unterscheidet man Präfixe, Zirkumfixe und Suffixe. Die Zusammenstellung von freien Morphemen wird als Komposition bezeichnet. Aufgrund ihrer semantischen Struktur können drei Arten unterschieden werden Determinativkomposita, Bahuvrihi-Komposita und Kopulativkomposita. Bei der Konversion liegt ein Wortklassenwechsel ohne Zufügung eines Morphems vor. Weniger systematisch und regelgesteuert, aber dennoch häufig vorkommend sind die verschiedenen Arten der Kurzwortbildung: Blending, Clipping und Akronyme und die Reduplikation. Bei der Flexion von Wörtern werden Affixe zugefügt, ohne dass neue Wörter entstehen. Vielmehr wird ein Paradigma des jeweiligen Wortes mit seinen ver- <?page no="101"?> Aufgaben 101 schiedenen grammatischen Informationen gebildet. So wird ein Zusammenhang zwischen einzelnen Wörtern erstellt und können Wörter eine bestimmte Funktion im Satz einnehmen. Die Flexion bildet eine Verbindung zwischen der Morphologie auf der einen und der Syntax auf der anderen Seite. Aufgaben Aufgaben 1. Ermitteln Sie in den folgenden Begriffen die einzelnen Morpheme und geben Sie mit Hilfe von eckigen Klammern die Struktur (inklusive der jeweiligen Wortart) der folgenden Begriffe an: windkracht, leefbaar, warmte, lezer, water, bootverhuur, begroening, slagroomtaart, afstandsbediening, versterker, onnatuurlijkheid Bsp.: versmelting [[[ver- + [smelt] V ] V + -ing] N Welches Problem ergibt sich beim letzten Begriff? Wie lässt es sich lösen (vgl. Booij & Van Santen: 131f.)? 2. Vergleichen Sie die nachstehenden Begriffe: bestuurder hoorder taalleerder loper lezer ondernemer a. Mit welchen Suffixen kann man ein Nomen agentis bilden? Wie bezeichnet man solche Formvarianten? Die Formvarianten stehen in komplementärer Distribution zueinander. Erläutern Sie dieses Phänomen. b. Sind diese Suffixe produktiv? Erläutern Sie Ihre Antwort mit Beispielen. c. Inwiefern sind die Bildungen doender, tuinder, diender Ausnahmen zur bestehenden Regel? 3. Lesen Sie den Text im Kasten. Es kommen drei Komposita vor: commissiestiekem, Oranje-kwestie und buitenwereld. Wie sind diese Komposita aufgebaut? Welches Element bildet jeweils den Kopf der Komposition? Was fällt dabei auf? Werd de commissie-stiekem misbruikt voor de Oranje-kwestie? Spannende gesprekken over geheime zaken die voor de buitenwereld verborgen moeten blijven. Dat is het beeld dat de commissie-stiekem oproept. Wat doet die commissie en hoe geheim zijn de zaken die daar worden besproken? http: / / www.volkskrant.nl, 08.06.2011 4. Analysieren Sie die folgenden Begriffe morphologisch: vis, winkel, douche, hamer, loop, gek, wit. Handelt es sich um gelede oder ongelede Wörter? Wenn es sich um eine Konversion handelt, wie verläuft dann der Wortklassenwechsel? Bsp.: fiets de fiets ik fiets [fiets] N > [fiets] V <?page no="102"?> 4. Wörter und ihre Struktur 102 Wie kann man argumentieren, dass der Wortklassenwechsel derartig verläuft? Vergleichen Sie dazu die Ausführungen in Booij & Van Santen 2002 (S. 30ff.). 5. Welche grammatischen Mopheme kommen in den folgenden Beispielen vor, welche Morpheme liefern inhaltlich-lexikalische Information? Wie lässt sich die unterschiedliche Schreibweise von grote und grootte in 2. erklären? Worin besteht in 3. der Unterschied zwischen den angegebenen Varianten? 1. een jonge kat de jonge honden 2. grote landen de grootte van het land 3. De baby lacht. De baby is aan het lachen. 6. Die Zeitschrift Onze taal greift am 06.06.2013 einen Artikel aus dem Siegel auf: Duitse universiteit wil enkel nog vrouwelijke functieaanduidingen 'Professorin, Wissenschaftlerin, Doktorandin' - in de reglementen van de universiteit van Leipzig wordt voortaan bij alle universitaire functiebenamingen voor de vrouwelijke vorm daarvan gekozen. Het besluit wordt niet door iedereen gewaardeerd, maar de universiteit 'kent een traditie van grenzen overschrijden en op een provocerende manier problemen aankaarten', aldus rectrix magnifica Beate Schücking. http: / / onzetaal.nl/ nieuws/ Wie werden im Niederländischen weibliche Berufsbezeichnungen gebildet? Im Deutschen ist die Endung -in überaus produktiv (Lehrer - Lehrerin); im Niederländischen gibt es diese Endung zwar auch (boer - boerin), sie ist aber wesentlich weniger produktiv. Welche Endungen werden im Niederländischen überhaupt verwendet? Welche Endungen sind produktiv? Gibt es weitere Verfahren? Ziehen Sie Booij 2002, Seite 102, zu Rate. Führen Sie im Internet oder in einer niederländischsprachigen Zeitung eine empirische Analyse (vgl. Kap. 10) durch. Literatur zum Weiterlesen Das Standardwerk zur Morphologie des Niederländischen mit umfassenden Informationen und Übungsaufgaben ist Booij & Van Santen 1998 Morfologie van het Nederlands. Auf Englisch und ebenfalls sehr informativ ist Booij 2002 The Morphology of Dutch. Eine niederländischsprachige Einführung ist Smessaert (2010) Morfologie van het Nederlands. Een inleiding. Ein sehr übersichtliches, gut lesbares Werk zur deutschen Morphologie ist von Donalies (2011) Basiswissen Deutsche Wortbildung. <?page no="103"?> 5. Sätze und ihre Struktur Michaela Poß De oude man slaapt lekker ist zweifelsohne ein korrekter niederländischer Satz. Man de slaapt oude lekker ist ebenso klar ungrammatisch. Doch wie sieht es bei dem folgenden Satz aus? De wakkere stoel slaapt blauw. Strukturell unterscheidet er sich nicht von de oude man slaapt lekker, dennoch ergibt die Aussage keinen Sinn. Stoel de slaapt wakkere blauw können wir wiederum sofort als ungrammatisch verwerfen. Doch was ist nun eigentlich der Unterschied zwischen den beiden Stuhlsätzen, wenn beide nicht gedeutet werden können? Noam Chomsky verwendete 1957 den englischen Satz colourless green ideas sleep furiously, seitdem wohl der populärste Satz der Sprachwissenschaft. Ebenso wie de wakkere stoel slaapt blauw illustriert er den Unterschied zwischen Syntax und Semantik, zwischen der Struktur und der Bedeutung einer Aussage. Beide Sätze sind, gemessen an den syntaktischen Regeln des Niederländischen bzw. Englischen, korrekt. Da sie aber semantische Prinzipien verletzen, sind sie nicht interpretierbar. Stoel de slaapt wakkere blauw verstößt gegen kombinatorische Regeln und ist somit auch strukturell ungrammatisch. Das Niederländische hat, wie beinahe alle Sprachen, ein deutliches System, nach dem einzelne Wörter zu größeren Gruppen, den Konstituenten, zusammengefügt werden können. Einzelne Konstituenten können wiederum zu Sätzen verbunden werden, und auch dieser Prozess unterliegt Regeln. So ist z.B. die Reihenfolge Artikel > Adjektiv > Substantiv eine mögliche Reihenfolge in einer niederländischen Nominalphrase wie de dikke hond, Substantiv > Adjektiv > Artikel ist hingegen ungrammatisch (hond dikke de). Mit der Struktur von Konstituenten und Sätzen beschäftigt sich dieses Kapitel. 5.1 Konstituenten 5.1.1 Arten von Konstituenten Ein komplexer Satz wie zum Beispiel De dikke man zette de stoel aan het einde van de tafel neer kann auch in komprimierter Form ausgedrückt werden, wenn der Adressat, also derjenige, an den die Aussage gerichtet ist, mit dem Kontext der Situation vertraut ist (vgl. Kap. 7). Hij zette hem daar neer transportiert dann die gleiche Information. Dabei ersetzt hij den Komplex de dikke man, hem ersetzt de stoel und daar ersetzt aan het einde van de tafel. Wenn man ein Wort oder eine Wortgruppe durch ein anderes Element ausdrücken kann, ohne dass sich die Struktur des Satzes ändert, handelt es sich um eine Phrase (woordgroep) oder Konstituente (constituent). <?page no="104"?> 5. Sätze und ihre Struktur 104 Eine Konstituente ist eine Einheit aus einem oder mehreren Wörtern, die eine gemeinsame syntaktische Funktion innerhalb einer größeren, hierarchischen Struktur haben. Wir unterscheiden hier fünf verschiedene Arten von Konstituenten, abhängig von ihrem zentralen Wort und ihrer semantischen Funktion. Eine Reihe von Wortarten steht immer zentral innerhalb einer Konstituente (sie projizieren die Konstituente). Mit anderen Worten: Wann immer wir ein Wort der folgenden Wortarten sehen, sehen wir auch eine dazugehörige Phrase: Substantive (oder Nomen) und Pronomen projizieren grundsätzlich eine Nominalphrase (NP, nominale constituent oder naamwoordgroep), Verben projizieren Verbalphrasen (VP, verbale constituent oder werkwoordelijke groep), Präpositionen Präpositionalphrasen (PP, voorzetselconstituent), Adjektive Adjektivphrasen (AP, adjectivische constituent oder bijvoeglijk naamwoordgroep) und Adverbien projizieren Adverbphrasen (AdvP, bijwoordelijke constituent). Um über Konstituenten reden zu können, benötigen wir ein Basisinventar an Abkürzungen für die Wortarten und Konstituenten. Diese Liste ist nicht vollständig, doch für die einfachen Sätze, mit denen wir uns hier beschäftigen werden, sind die folgenden Kategorien ausreichend: Abkürzung Deutsch Niederländisch S Satz (Startpunkt) zin NP Nominalphrase nominale constituent VP Verbalphrase verbale constituent PP Präpositionalphrase voorzetselconstituent AdjP Adjektivphrase adjectivische constituent AdvP Adverbphrasen adverbiale constituent Det 1 Artikel lidwoord N Substantiv, Nomen zelfstandig naamwoord Pron Pronomen voornaamwoord Num Numerale, Zahlwort telwoord V Verb werkwoord P Präposition voorzetsel Adj Adjektiv bijvoeglijk naamwoord Adv Adverb bijwoord Tab. 5.1: Abkürzungen für Konstituenten und Wortarten 1 Det steht für Determinator, Synonym für Artikel und als Abkürzung gebräuchlicher. <?page no="105"?> 5.1 Konstituenten 105 NPs haben in der Regel eine referentielle Bedeutung, sie referieren auf einen Gegenstand, eine Person oder eine abstrakte Einheit in der Wirklichkeit. Die NP oma Nella referiert auf die Person Oma Nella. VPs haben meistens Prozessbedeutung. Sie drücken die Handlung oder den Prozess aus, in die das Subjekt eingebunden ist (oma Nella slaapt). In PPs, die in der Regel aus einer Präposition und einer NP bestehen, wird eine Relation zwischen der eingebetteten NP und Satzgliedern außerhalb der Konstituente gelegt. In dem Satz het boek ligt op tafel drückt op die Relation zwischen het boek und der eingebetteten NP tafel aus. AdjPs haben eine attributive Bedeutung, sie weisen einer NP eine Eigenschaft zu (het boek is zwaar). Auch AdvPs weisen Eigenschaften zu, hier ist das Ziel jedoch in der Regel eine VP (so wie in Jonathan moest erg huilen) oder eine AdjP (so wie in erg slecht). Die inhärenten Bedeutungen der verschiedenen Konstituenten sind sehr abstrakt, und das ist auch beabsichtigt. Letztendlich erhalten sie ihre Bedeutung im Satz, abhängig davon, als welches Satzglied sie fungieren. Doch darauf kommen wir in Kapitel 5.3 zurück. 5.1.2 Köpfe Jede Konstituente besteht wenigstens aus einem Kopf (hoofd/ kern). Der Kopf ist das zentrale Element, das sowohl die kategoriale Information (z.B. Substantiv, Verb etc.) als auch die grammatische Information trägt (z.B. Plural, Vergangenheit etc.). In den folgenden Nominalphrasen ist der Kopf jeweils hervorgehoben: 1) oma 2) de grootmoeder 3) de oudere dame 4) de oudere dame met de hond 5) de oudere dames in het café Der Kopf ist das Element in einer Konstituente, das in der Regel nicht weggelassen werden kann und einfach erfragbar ist, da es der Bedeutungsträger des gesamten Ausdrucks ist (vgl. Kap. 3). In Beispiel 5 ist die Antwort auf die Frage "Worum geht es? " eindeutig dames und nicht z.B. café. Andererseits ist café selbst auch wieder ein Substantiv und somit Kopf einer NP, nämlich het café. Diese NP ist allerdings eingebettet in die größere, übergeordnete NP de oudere dames in het café. Der Kopf ist derjenige Teil einer Konstituente, der deren grammatischen Eigenschaften bestimmt. Köpfe sind obligatorisch und vererben ihre Merkmale auf die gesamte Konstituente. Als Köpfe fungieren in der Regel Wörter der lexikalischen Klassen N, V, P, Adj und Adv. Koordinatoren und Komplementierer (vgl. 5.1.7 und 5.1.8) können ebenso eigene Phrasen projizieren. Da es sich allerdings um Funktions- und nicht um Inhaltswörter handelt, sind sie nicht Teil der zentralen Gruppe von projizierenden Wortarten. <?page no="106"?> 5. Sätze und ihre Struktur 106 5.1.3 Wortstellung Jede Art von Phrase unterliegt ihren eigenen kombinatorischen Möglichkeiten. So besteht eine NP mindestens aus einem Substantiv, eine VP mindestens aus einem Verb usw. Doch sobald die Konstituenten komplexer werden, werden die Elemente innerhalb der Phrase in einer Reihenfolge angeordnet, die je nach Typ unterschiedlich strikt ist. So ist de man eine korrekte NP des Niederländischen, man de hingegen nicht. Auch in de oude man ist die Reihenfolge von Artikel, Adjektivphrase und Substantiv korrekt, in de man oude hingegen nicht. Die Wortstellung innerhalb von Konstituenten und Sätzen ist immer sprachspezifisch, wie man an diesem Beispiel gut sehen kann. De oude man im Niederländischen und der alte Mann im Deutschen sind korrekt und jeweils die einzig mögliche Anordnung innerhalb dieser NP. Im Spanischen heißt es allerdings normalerweise el hombre viejo, das Adjektiv steht also nach dem Substantiv, und im Dänischen ist es sogar so, dass in der NP manden der Artikel (den) an das Substantiv (man) angehängt wird. Eine sprachwissenschaftliche Grundannahme, die Grundlage vieler Untersuchungen ist, ist das Prinzip der Ikonizität (iconiciteit), der Entsprechung von Form und Funktion. Einfach gesagt wird davon ausgegangen, dass zwei Strukturen, die gleich sind, auch die gleiche Funktion haben, während zwei Strukturen, die unterschiedlich sind, auch unterschiedliche Funktionen haben. Nicht immer ist die Wortstellung innerhalb der Konstituente strikt vorgegeben, hin und wieder haben Sprecher die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Stellungsvarianten zu wählen. Häufig sind in dem Fall jedoch unterschiedliche Bedeutungsaspekte an die Varianten geknüpft, wie zum Beispiel in den beiden PPs in de wei und de wei in. Im Niederländischen können bestimmte Präpositionen alternativ vor oder hinter der eingebetteten NP stehen. Stehen sie vor der NP, ist ihre Bedeutung lokativ (locatief), also ortsanweisend (Bsp. 6), als Postposition (postpositie) hinter der NP ist ihre Bedeutung direktional (directioneel), also richtungsanweisend (Bsp. 7). 6) Het paard loopt in de wei. Das Pferd läuft auf der Weide. 7) Het paard loopt de wei in. Das Pferd läuft auf die Weide. 5.1.4 Konstituententests Doch wie wissen wir überhaupt, wann es sich bei einer Wortkette um eine Konstituente handelt? Schauen wir uns folgenden Satz an: 8) Ik heb soep met balletjes gegeten. Zwar fällt schon intuitiv auf, dass soep met balletjes konzeptuell enger zusammengehört als balletjes gegeten, doch wir müssen uns nicht auf Intuition verlassen, um zu beschreiben, warum zum Beispiel in dem Satz Ik heb de soep met de lepel gegeten der <?page no="107"?> 5.1 Konstituenten 107 Teil de soep met de lepel aus zwei Konstituenten besteht, nämlich NP und PP, während soep met balletjes nur eine NP darstellt. Ob ein Komplex zusammen eine Konstituente bildet oder nicht, kann mit Hilfe sogenannter Konstituententests (constituententests) bestimmt werden. Als Beispiel dient der Satz de oudere meneer met de baard zag ik gisteren al. Wir wollen herausfinden, ob de oudere meneer met de baard eine Konstituente darstellt: • Substitutionstest (substitutietest) Die Konstituente kann durch ein anderes Element aus dem gleichen Paradigma, der gleichen Reihe, ersetzt werden: 9) Oma zag ik gisteren al. • Pronominalisierungstest (pronominalisatietest) Die Konstituente kann durch ein einziges Element, in der Regel ein Pronomen, ersetzt werden: 10) Hem zag ik gisteren al. • Verschiebeprobe (verplaatsing) Die Konstituente kann nur als Ganzes zusammenhängend im Satz verschoben werden: 11) Ik zag de oudere meneer met de baard gisteren al. • Fragetest (vraagtest) Die Konstituente ist die Antwort auf eine einzige Frage: 12) Wie zag je gisteren al? - De oudere meneer met de baard. Die vier Konstituententests führen jeweils zu dem gleichen sinnvollen, grammatischen Ergebnis, also ist de oudere meneer met de baard eine komplexe Konstituente. Im Falle von de soep met de lepel sieht es anders aus: 2 13) Ik heb brood gegeten. 14) Ik heb het gegeten. 15) (*) De soep met de lepel heb ik gegeten. 16) Wat heb je gegeten? - (*) De soep met de lepel. / Wat heb je met de lepel gegeten? - De soep. / Waarmee heb je de soep gegeten? - Met de lepel. Der Substitutionstest führt zwar zu einem grammatischen Ergebnis, allerdings fehlt die Information, mit welchem Instrument gegessen wurde. Und damit ist der Test gescheitert: Es geht nicht ausschließlich darum, einen grammatischen Satz zu formulieren, er muss auch die gleichen inhaltlichen Bestandteile abdecken, um zu einem 2 Das Sternchen vor einem Beispielsatz zeigt an, dass es sich um einen ungrammatischen Satz handelt. Steht das Sternchen in Klammern (wie in 15), bedeutet dies, dass nur eine der möglichen Lesarten ungrammatisch ist. <?page no="108"?> 5. Sätze und ihre Struktur 108 positiven Resultat zu führen. Das gleiche Problem sehen wir beim Pronominalisierungstest. Interessanterweise führt die Verschiebeprobe entweder zu einem grammatischen oder einem ungrammatischen Ergebnis. Soll ausgedrückt werden, dass man einen Löffel benutzt hat, um die Suppe zu essen, ist der Satz ungrammatisch. In Kapitel 5.4 werden wir auch sehen, warum: Im Niederländischen kann in einfachen Aussagesätzen nur eine einzige Konstituente vor dem finiten Verb (persoonsvorm) stehen, in der Instrument-Lesart handelt es sich aber bei de soep und met de lepel um zwei unabhängige Konstituenten. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass die Suppe einen Löffel als Einlage beherbergt (also Löffelsuppe so wie Nudelsuppe), führt Satz 15 doch zu einem grammatischen Satz. Und auch der Fragetest kann zu zwei verschiedenen Ergebnissen führen: Handelt es sich um eine Löffelsuppe, ist de soep met de lepel die korrekte Antwort auf die Frage wat heb je gegeten? Ist der Löffel allerdings das Instrument, dann müssen wir de soep und met de lepel mit zwei unterschiedlichen Sätzen erfragen: wat heb je met de lepel gegeten? und waarmee heb je de soep gegeten? , ein klares Zeichen, dass wir es mit zwei Konstituenten zu tun haben. 5.1.5 Rekursion Die Konstituente soep met balletjes ist komplex, denn sie beinhaltet wiederum eine andere Konstituente. So ist met balletjes eine PP, bestehend aus dem Kopf met und der NP balletjes. Wir haben es hier also mit einem Fall zu tun, in dem eine NP (soep met balletjes) wiederum eine NP (balletjes) enthält. Doch ist es eigentlich möglich, dass die eingebettete NP wieder eine NP enthält? Und diese auch wieder eine? Und diese dann auch wieder eine? Grundsätzlich ist das durchaus möglich, ab einer gewissen Länge des Gesamtkomplexes wäre es für den Adressaten (vgl. Kap. 7) allerdings äußerst schwierig, noch zu behalten, worum es eigentlich ging. Das Phänomen der Einbettung einer Kategorie X in eben diese Kategorie X nennt man Rekursion (recursie). Rekursion spielt neben der Sprache noch in der Informatik und der Mathematik eine wichtige Rolle, doch auch außerhalb der Wissenschaft kennen wir Beispiele für rekursive Strukturen. Denken Sie beispielsweise an ein Fernsehbild, welches einen Fernseher zeigt, der dasselbe Fernsehbild ausstrahlt. Logischerweise ist dann in diesem Bild auch wieder derselbe Fernseher, und in dessen Bild ist auch wieder derselbe Fernseher usw. Es gibt einen ersten Fernseher, nämlich der, der in Ihrem Wohnzimmer steht, doch es gibt keinen letzten Fernseher, da es automatisch immer wieder einen eingebetteten Fernseher gibt. Das Bild ist somit unendlich oder infinit, ebenso wie die Mona Lisa in Abbildung 5.1. Sprache hingegen ist nur potenziell infinit, da sowohl unsere Merkfähigkeit als auch unsere begrenzte Lebensdauer dafür sorgen, dass wir zu gegebener Zeit mit unseren Sätzen zum Ende kommen. Die komplexe NP de man met de bril met de streepjes können wir noch ohne Probleme <?page no="109"?> 5.1 Konstituenten 109 verstehen, wenn wir allerdings noch zwei Einbettungstiefen weitergehen, wird es schon schwieriger, sich am Ende noch an den Anfang zu erinnern, so wie in de vrouw met de muts met de bloemetjes met de bladeren met de zwarte stippen. Abb. 5.1: Rekursive Mona Lisa (www.megamonalisa.com) 5.1.6 Ambiguität Nicht immer sind Sätze eindeutig analysierbar, abhängig vom Kontext können sie mehrdeutig oder ambig (ambigu) sein. Sprache kennt verschiedene Arten der Ambiguität, z.B. kann die Bedeutung eines Wortes ambig sein, wie etwa in dem Homonymenpaar bank (Sitzmöbel) und bank (Geldinstitut). Möglicherweise ist auch die morphologische Struktur eines Wortes ambig, so wie in nieuwe autoverzekering (eine neue Autoversicherung oder eine Versicherung für neue Autos). Doch nicht nur Wörter, sondern auch ganze Konstituenten oder gar Sätze können ambig sein. Nehmen wir z.B. den Satz Oma slaat de dief met de tas. Hierbei können wir uns zwei verschiedene Situationen vorstellen: In Situation 1 hält der Dieb eine Tasche, und auf die Frage, womit Oma ihn schlägt, wird nicht genauer eingegangen; in Situation 2 holt Oma aus und schlägt den Dieb mit der Handtasche. Dieser Satz hat zwei verschiedene mögliche Interpretationen, er ist also ambig. Die Ambiguität kann nur im Kontext aufgelöst werden, z.B. wenn der Adressat die Szene vor Augen hat und daher weiß, wer in diesem Moment im Besitz einer Tasche ist. Syntaktische Ambiguität zeigt sich in der Regel in der Analyse der Konstituentenstruktur. In unserem Beispiel liegt die Mehrdeutigkeit darin begründet, dass die PP met de tas sich entweder auf den Kopf der VP, nämlich slaat bezieht (vgl. Abb. 5.3) oder auf den Kopf der NP, nämlich man (vgl. Abb. 5.4). , <?page no="110"?> 5. Sätze und ihre Struktur 110 Abb. 5.2: Der Dieb hat die Tasche In einem Phrasenstrukturbaum (boomdiagram), der die hierarchische Anordnung der Konstituenten eines Satzes wiedergibt, wird dieser Unterschied deutlich. Abb. 5.3: Der Dieb hat die Tasche Abb. 5.4: Oma hat die Tasche Die PP ist im ersten Fall ein Teil der NP, und diese ist wiederum Teil der VP. 3 Wir können die komplexe NP erfragen mit einem Test: Wen schlägt Oma? - Den Dieb 3 Dieser Baum ist eine Visualisierung der folgenden Information: de tas ist eine NP, die Teil der PP met de tas ist. Diese PP wiederum ist, zusammen mit de und dief, Teil der komplexen NP de dief met de tas. Zusammen mit dem Verb slaat bildet die übergeordnete NP eine VP, und der Satz besteht aus der NP de oma und der VP. In vielen syntaktischen Modellen steht der syntaktische Baum zentral. Wir wollen uns hier allerdings nicht im Detail in einzelne Theorien vertiefen und benutzen die Phrasenstrukturbäume in ihrer einfachsten Form, als graphische Darstellung einfacher Abhängigkeiten. Bei der Darstellung einzelner Konstituenten gerade in Sprachen wie Deutsch und Niederländisch, wo wir mit relativ freier Wortstellung zu tun haben, gerät die einfache Baumanalyse schnell an ihre Grenzen. <?page no="111"?> 5.1 Konstituenten 111 mit der Tasche. Bei der zweiten möglichen Interpretation sieht es anders aus: NP und PP sind beide Töchter der VP, also nehmen beide Bezug auf den Kopf slaat. Der Fragetest für diese Struktur lautet: Womit schlägt Oma den Dieb? - Mit der Tasche. Es handelt sich also bei de dief und met de tas um zwei verschiedene Konstituenten. Abb. 5.5: Oma hat die Tasche 5.1.7 Koordination In natürlicher Sprache gibt es eine ganze Reihe verschiedener Formen der syntaktischen Ambiguität, doch wir beschränken uns auf eine weitere, nämlich auf ambige koordinierte Konstituenten. Koordination (coördinatie) ist der Prozess, in dem zwei Elemente der gleichen Kategorie einander ebenbürtig nebeneinandergestellt werden. Koordination ist eine Form der Nebenordnung (nevenschikking): 17) oma en opa 18) (wil je iets) eten of drinken? 19) Jan slaapt en Els leest. 20) goed of kwaad In den Beispielen sind die koordinierten Konstituenten fett gedruckt. In Beispiel 17 handelt es sich um zwei koordinierte NPs, in 18 um zwei VPs, in 19 um zwei koordinierte Sätze und in 20 um zwei AdjPs. Die Konjunktionen en und of treten als Koordinatoren (coördinatoren/ nevenschikkende voegwoorden) auf. Zwar ist es so, dass nur Elemente der gleichen Kategorie miteinander koordiniert werden können, qua Form können sie allerdings unterschiedlich sein. *Jan slaapt en opa ist folglich ungrammatisch, Jan slaapt en Els leest nog verder in het boek dat ze gisteren cadeau gekregen heeft ist korrekt. Koordinierte Konstituenten sind häufig die Stelle im Satz, an der syntaktische Ambiguität auftritt. Nehmen wir zum Beispiel den Satz dikke mannen en vrouwen kwamen naar het toneel. Auch hier gibt es wieder zwei verschiedene mögliche Inter- <?page no="112"?> 5. Sätze und ihre Struktur 112 pretationen: Entweder kommen dicke Männer und dicke Frauen ins Theater, oder es kommen dicke Männer und nicht weiter spezifizierte Frauen. In der ersten Lesart bezieht sich dikke ausschließlich auf mannen, in der zweiten Lesart sind mannen und vrouwen koordiniert, und dikke modifiziert den gesamten Komplex. Auch diesen Unterschied können wir wieder in zwei verschiedenen Bäumen sichtbar machen: Abb. 5.6: Männer und Frauen sind dick Abb. 5.7: Nur die Männer sind dick Die Maßgabe, dass nur gleiche Elemente koordiniert werden können, ist nicht immer so strikt einzuhalten. So ist z.B. der Satz Wil je iets drinken of een ijsje durchaus grammatisch, obwohl iets drinken und een ijsje nicht der gleichen Kategorie angehören. Doch was aussieht wie eine Koordination von ungleichen Elementen, kann durchaus als Ellipse (ellips) analysiert werden. In elliptischen Konstruktionen fehlt ein Element, häufig werden redundante Teile weggelassen. Der Satz Wil je iets drinken of een ijsje kann auch als elliptische Version des Satzes Wil je iets drinken of wil je een ijsje interpretiert werden. In diesem Fall ist das Kriterium der Koordination gleicher Elemente wieder erfüllt, da zwei komplette Sätze koordiniert werden. 5.1.8 Subordination Die Koordination verbindet zwei gleichrangige Kategorien miteinander, wenn jedoch ein Element untergeordnet in ein anderes eingebettet wird, sprechen wir von Subordination oder Unterordnung (subordinatie/ onderschikking). Eine Form der Subordination ist die Einbettung eines Nebensatzes (bijzin/ ingebedde zin) in einen übergeordneten Hauptsatz (hoofddzin/ matrix-zin). Im Gegensatz zur Koordination ist dieser Prozess rekursiv. So kann man den Satz hij slaapt einbetten in den Satz ze denkt X (ze denkt dat hij slaapt), und das Ergebnis kann wiederum eingebettet werden in den Satz ik geloof X (ik geloof dat ze denkt dat hij slaapt). Die Einbettung geschieht mithilfe einer Konjunktion (conjunctie/ onderschikkend voegwoord) oder eines Komplementierers (complementeerder/ onderschikkend voegwoord). <?page no="113"?> 5.2 Sätze 113 5.2 Sätze Bislang haben wir uns in diesem Kapitel hauptsächlich mit der inneren Form von Konstituenten beschäftigt. Diese sind jedoch nur die Bausteine, aus denen man größere Einheiten zusammensetzt: die Sätze (zinnen). Doch um sagen zu können, ob ein Satz wohlgeformt ist oder nicht, gehört noch eine Menge mehr als seine rein kategorialen Eigenschaften. Der Satz de man leest de krant ist grammatisch, de krant leest de man ist nur dann eine sinnvolle Aussage, wenn de krant einem anderen Medium gegenübergestellt wird, z.B. het boek, oder wenn es die Antwort auf die Frage ist, was der Mann liest. Auch die Aussage de man gaf de deur een nieuw laagje verf ist durchaus sinnvoll, de deur gaf de verf een nieuwe man hingegen nicht. Zwar kann der Satz ohne weiteres mit dem Inventar an niederländischen Konstituenten gebildet werden, ein sinnvoller Satz des Niederländischen ist er dennoch noch lange nicht. Was sind also die weiteren Kriterien, die bei der Bildung von Sätzen eine Rolle spielen? Und was genau ist ein Satz? Eigentlich weiß jeder intuitiv, was ein Satz ist. Es beginnt mit einem Großbuchstaben, dann kommt eine Aussage, und am Ende steht ein Punkt. Sprachwissenschaftlich ist es allerdings schwieriger, eine treffende Definition für die Einheit Satz zu finden. In der gesprochenen Sprache haben wir keine Satzzeichen oder Großbuchstaben zur Orientierung, und die Grenzen zwischen zwei komplexen Sätzen können höchstens durch die Intonation markiert werden. Außerdem sprechen Menschen bei weitem nicht so grammatikalisch, wie man denkt. Nur die wenigsten Sprachbenutzer bringen regelmäßig ihre Sätze zu Ende, man unterbricht den Redefluss und beginnt einen neuen Satz, man verspricht sich, benutzt zu viele oder zu wenige Satzteile etc. Grammatikalität (grammaticaliteit) kann auf zwei verschiedene Arten bewertet werden: entweder normativ (normatief) oder deduktiv (deductief). Während die normativen Grammatiken, z.B. Schulgrammatiken und Lehrbücher, Standardregeln zur Bildung von wohlgeformten Sätzen vorschreiben, untersuchen und beschreiben deduktive Grammatiken, z.B. wissenschaftliche Grammatiken wie die Algemene Nederlandse Spraakkunst (ANS), tatsächlich vorkommende Konstruktionen der jeweiligen Sprache. Deduktive Beobachtungen und normative Regeln überlappen, sind aber nicht immer kohärent: Niederländisch wie Deutsch weisen pro einfachem Satz nur ein finites Verb und ein Subjekt auf, dennoch verfügen beide Sprachen über eine Spiegelkonstruktion im informellen Sprachgebrauch. Ähnlich ist es mit den Verben brauchen und hoeven. In beiden Sprachen ist es zwar deutlich gebräuchlicher, dass die Verben ein zu-/ te-Komplement nehmen ("Wer 'brauchen' nicht mit 'zu' gebraucht, braucht 'brauchen' gar nicht zu gebrauchen"), dennoch wird in der gesprochenen Sprache häufig das zu bzw. te weggelassen (vgl. Van der Wouden 1996). Zwar lernen Schüler in der Schule, dass ein Satz ohne zu normativ ungrammatisch ist, deduktiv ist er jedoch grammatisch. <?page no="114"?> 5. Sätze und ihre Struktur 114 Die sogenannte Spiegelkonstruktion (overloopconstructie) z.B., die in der informellen Rede sowohl im Deutschen als auch im Niederländischen vorkommt, beinhaltet zwei Subjekte und zwei finite Verben innerhalb eines einfachen Satzes: Je kunt van elke sinaasappelkist kun je wel een nachtkastje maken. 4 Wenngleich es schwierig ist, eine umfassende Definition der Einheit 'Satz' zu formulieren, können wir sagen, dass ein Satz wie folgt beschrieben werden kann: Ein Satz ist eine konzeptuell in sich geschlossene Einheit, die alleine stehen kann und mindestens aus einem Subjekt und einem Prädikat besteht. Wie fast immer in derartigen Definitionen finden wir eine Reihe von Ausnahmen, die von der Definition nicht erfasst werden. So kommen auch Satzarten vor, die nicht mindestens aus Subjekt und Prädikat bestehen, wie z.B. infinite Nebensätze (beknopte bijzinnen), z.B. hard lachend kwam hij binnen oder Imperative (bevelende zinnen), z.B. kom nou! Die Mehrheit der Sätze jedoch kann unter unserer Definition zusammengefasst werden. 21) Jan slaapt. 22) Jonathans moeder is moe. 23) De hond van de buren blaft. 24) Dat je gisteren niet lief bent geweest, klopt. Das fett gedruckte Satzglied ist jeweils das Subjekt (onderwerp), nicht fett ist das Prädikat (gezegde). Diese grundlegende Einteilung haben wir schon vorher kennengelernt: Das Subjekt ist dasjenige, worüber etwas ausgesagt wird, das Prädikat ist dasjenige, was über das Subjekt ausgesagt wird. 5 Im Niederländischen wie im Deutschen ist die Anordnung der einzelnen Satzglieder im Satz relativ frei. In beiden Sprachen werden Sätze traditionell mithilfe des topologischen Modells (topologisch model) beschrieben, einem abstrakten Schema, worin Sätze in verschiedene Positionen aufgeteilt werden. Die unterschiedlichen Satztypen und Satzmuster können anhand der Besetzung dieser Positionen beschrieben werden. Welches Satzglied dabei auf welcher Position steht, ist abhängig von dem jeweiligen Satzmuster, der Konstruktion (constructie). Konstruktionen sind vergleichbar mit abstrakten Schablonen, die ausgefüllt werden müssen, um einen grammatischen Satz formulieren zu können. Ausgehend von einer einfachen deklarativen Hauptsatzkonstruktion wird der Satz im topologischen Modell in die folgenden Felder unterteilt: Vorfeld, Mittelfeld 4 Beispielsatz aus der E-ANS, „Overloopconstructies“. 5 Der Begriff Prädikat wird auf zweierlei Arten benutzt: im weiteren Sinne und im engeren. Die ältere Verwendung, in der das Prädikat alles beinhaltet, was nicht Subjekt ist, wird in der traditionellen Satzgliedanalyse abgelöst von der Verwendung, in der sich der Begriff Prädikat lediglich auf den verbalen oder prädikatsnominalen Kern bezieht. <?page no="115"?> 5.2 Sätze 115 und Nachfeld. Die einzelnen Felder werden voneinander getrennt durch die linke und die rechte Satzklammer, bestehend aus dem finiten Verb (links) und allen dazugehörenden verbalen Elementen wie Partizipien und Verbpartikeln. Da die Verben die Elemente im Mittelfeld umschließen, sprechen wir auch von einer Satzklammer. In der niederländischen Terminologie wird eine andere Metapher benutzt, nämlich die tangconstructie (Zangenkonstruktion). Im Gegensatz zu den anderen Satzteilen stehen die Voll- und Hilfsverben beinahe immer an einer festen Position, daher eignen sie sich besonders gut, um Sätze zu strukturieren. Vorfeld linke Satzklammer Mittelfeld rechte Satzklammer Nachfeld eerste zinsplaats eerste pool middenstuk tweede pool laatste zinsplaats ik heb gisteren nog gevraagd of je komt Tab. 5.2: Topologisches Satzmodell In unmarkierten Aussagesätzen steht das Subjekt im Vorfeld (op de eerste zinsplaats), also an der Stelle vor dem finiten Verb. Genauso wie im Deutschen können allerdings auch andere Satzglieder das Vorfeld besetzen, z.B. Objekte (aan oma heb ik gisteren nog moeten denken) und Adverbiale (gisteren heb ik nog aan oma moeten denken). Solange nicht mehr als eine Konstituente im Vorfeld steht, ist der Satz grammatisch. Steht in einer Konstruktion ein Satzglied satzinitial, welches nicht das Subjekt ist, sprechen wir von Topikalisierung (topicalisatie). Topikalisierten Konstituenten wird ein besonderer Nachdruck verliehen, sie werden besonders hervorgehoben. Häufig stehen sie im direkten Kontrast mit anderen Elementen (oma heb ik gisteren gezien, niet opa), oder sie bilden die Antwort auf eine Frage (Wie heb je gisteren gezien? - Oma heb ik gisteren gezien.). Während das Deutsche beinahe jede Konstituente vor dem finiten Verb zulässt, solange das Vorfeld nur besetzt ist, zeigt sich das Niederländische etwas restriktiver. So sind etwa unbestimmte (onbepaalde) NPs, also die, die nicht mit einem bestimmten Artikel oder Zahlwort spezifiziert werden, im Vorfeld nur dann vertreten, wenn sie eine generische Lesart haben (also auf eine ganze Klasse bezogen sind, z.B. der Mensch): 25) *Een boterham is kwijtgeraakt. 26) *Iemand heeft een paraplu laten liggen. 27) *Enkele kinderen zijn in de tuin. All diese Beispiele sind nicht wohlgeformt (zumindest standardsprachlich, in einigen Genres und Varietäten sind sie nämlich sehr wohl akzeptiert). Unbestimmte NPs sind also im Vorfeld unerwünscht. Was aber, wenn der Sprecher doch etwas über einen unbestimmten Referenten aussagen möchte? Dann wird die NP ins Mittelfeld geschoben. Da im Niederländischen wie im Deutschen aber das Vorfeld in <?page no="116"?> 5. Sätze und ihre Struktur 116 deklarativen Hauptsätzen (Aussagesätzen) immer besetzt sein muss, übernimmt das semantisch leere präsentative (presentatief) er die Rolle des Vorfeldbesetzers und schon ist der Satz wieder grammatisch: 28) Er is een boterham kwijtgeraakt. 29) Er heeft iemand een paraplu laten liggen. 30) Er zijn enkele kinderen in de tuin. Im Mittelfeld (middenstuk) finden wir die Argumente und Adjunkte, die zwar durchaus bevorzugte Stellungen haben (z.B. indirekte vor direkten Objekten), grundsätzlich aber relativ frei angeordnet werden können. So sind zum Beispiel sowohl Ik heb aan oma een ei gegeven als auch Ik heb een ei aan oma gegeven grammatisch, wenngleich die zweite Anordnung häufiger auftritt als die erste. Im Nachfeld (laatste zinsplaats) stehen bevorzugt abhängige Nebensätze (ik had toch gezegd dat ik niet kom) sowie Präpositionalobjekte (moeder Theresa heeft zich altijd ontfermd over de armen) und Adverbiale (wij hebben veel gezwommen in Spanje) (vgl. 5.3.5 und 5.3.6). 5.3 Satzglieder Die grammatische Zerlegung von Sätzen in ihre Einzelteile, die Satzgliedanalyse (zinsontleding/ redekundig ontleden) kennt jeder aus der Schule. Man bekommt einen Satz und soll diesen in seine Satzglieder zerlegen und diese benennen. Genau das wollen wir nun auch für niederländische Sätze machen. Zu diesem Zwecke reichen allerdings die Konstituenten nicht aus, wir müssen ihre Funktion im Satz kennen. Deshalb führen wir zunächst die relevanten Satzglieder (zinsdelen) ein. 5.3.1 Subjekt Subjekte können verschiedene äußere Formen annehmen, z.B. einfache oder komplexe NPs, und manchmal ist das Subjekt sogar ein ganzer Satz. Wie auch im Deutschen kann das Subjekt erfragt werden mit den Fragewörtern Wer? oder Was? (wie oder wat): Wie is moe? - Jonathans moeder. Wat klopt uiteraard? - Dat je gisteren niet lief bent geweest. Die fett gedruckten Satzteile sind jeweils die Subjekte der Sätze Jonathans moeder is moe und Dat je niet lief bent geweest, klopt uiteraard. Im Gegensatz zum Deutschen kann das niederländische Subjekt allerdings nicht am Kasus (naamval) erkannt werden. Subjekte stehen grundsätzlich im Nominativ. Das Niederländische hat allerdings seine Kasusmarkierung weitestgehend verloren, wodurch nur noch bei den Personalpronomen eine Unterscheidung zwischen Nominativ und Dativ/ Akkusativ gemacht wird (ik versus mij, jij versus jou etc.; vgl. Kap. 4). Subjekte stehen immer in Kongruenz (congruentie) mit dem finiten Verb (persoonsvorm): Steht das Verb im Singular, steht auch das Subjekt im Singular. Steht das Verb im Plural, gilt das auch für das Subjekt. De man aait de honden ist <?page no="117"?> 5.3 Satzglieder 117 somit grammatisch, de man aaien de honden nicht, es sei denn, die Hunde sind diejenigen, die streicheln, und nicht der Mann. 5.3.2 Prädikat Das Prädikat ist der zentrale Kern des Satzes und umfasst alle seine verbalen Teile, die in der linken und rechten Satzklammer vorkommen. Das lexikalische Verb steuert den Satzbauplan bei, in dem bestimmt wird, welche weiteren Elemente noch fehlen, um einen grammatischen Satz zu erhalten. Diese Fähigkeit nennt man (nach dem Vorbild der Chemie) Valenz (valentie). Satzglieder werden entweder vom Verb verlangt, dann nennen wir sie Argumente (argumenten), oder sie werden frei hinzugefügt, dann nennen wir sie Adjunkte (adjuncten). Das Verb slapen z.B. verlangt lediglich noch ein Subjekt, dann ist der Satz schon vollständig. Verben, deren Valenz nur ein einziges Argument, nämlich das Subjekt, erfordert, sind intransitiv oder einstellig (onovergankelijk/ intransitief oder eenplaatsig). Das Verb maken verlangt nach einem Subjekt und einem Objekt, so wie in Jan maakt zijn huiswerk. Verben, die Subjekt und Objekt erfordern, nennt man transitiv oder zweistellig (overgankelijk/ transitief oder tweeplaatsig). Eine Reihe von Verben verlangt drei Argumente, ein Subjekt und zwei Objekte, wie z.B. das Verb geven in ik geef oma een cadeau. Diese Verben sind ditransitiv (ditransitief). Nicht alle Argumente eines Verbs müssen grundsätzlich realisiert sein. So kann das transitive Verb drinken (Jan drinkt koffie) auch intransitiv auftreten (Jan drinkt). In der Regel ist eine solche Valenzreduktion (valentiereductie) allerdings mit einer Bedeutungsverschiebung verbunden. Von den verbalen Prädikaten (werkwoordelijk gezegde) unterscheiden wir die nominalen Prädikate (naamwoordelijk gezegde). Letztere bestehen aus zwei Teilen: einer Kopula (koppelwerkwoord) und einem Prädikatsnomen (naamwoordelijk deel van het gezegde). Kopulas sind Hilfsverben, die das Subjekt an eine Zustandsbeschreibung im Prädikatsnomen koppeln, wie z.B. zijn, worden und lijken Im Gegensatz zu einer Handlung, die in der Regel vom verbalen Prädikat ausgedrückt wird (Jan slaat de leraar), schreibt die Kopula dem Subjekt eine Eigenschaft zu (Jan is de leraar). Nominale Prädikate können unterschiedliche Formen annehmen: 31) Jan is timmerman. 32) Els wordt moe. 33) Hij lijkt vrolijk. 34) Het feest is gaande. 35) De snoepjes zijn op. 36) De service is over de top. 37) Films zijn niet meer wat ze geweest zijn. An diesen Beispielen sehen wir, dass die Form des Prädikatsnomens unterschiedlich ausfällt, vor allem ist sie nicht ausschließlich substantivischer Natur, wie man dem <?page no="118"?> 5. Sätze und ihre Struktur 118 Namen nach schließen könnte. In Beispiel 31 ist das Prädikatsnomen eine NP, in 32 und 33 eine AdjP, in 34 besteht es aus einem Partizip Präsens (tegenwoordig deelwoord), in 35 aus einer AdvP, in 36 aus einer PP, und in 37 ist das Prädikatsnomen ein abhängiger Nebensatz. Wenngleich verbale und nominale Prädikate auf den ersten Blick sehr unterschiedlich wirken, haben sie doch die Eigenschaft gemeinsam, dass sie beide das ausdrücken, was über das Subjekt ausgesagt wird. 5.3.3 Direktes Objekt Das Satzglied, welches am häufigsten neben Subjekt und Prädikat vorkommt, ist das direkte Objekt (direct object/ lijdend voorwerp). Im Deutschen bezeichnet man diese Kategorie auch mit dem Begriff Akkusativobjekt, doch da das Niederländische mit wenigen Ausnahmen im Pronominalsystem keine Kasus mehr markiert, ist diese Benennung dort obsolet. Ob im Satz ein direktes Objekt vorkommt oder nicht, hängt von der Valenz des Verbs ab. Transitive Verben drücken eine Relation zwischen dem Subjekt und dem direkten Objekt aus: 38) Opa bouwt een huis. 39) Oma bakt een taart. 40) Papa kookt een eitje. 41) De man aait de hond. 42) De politieagent helpt de vrouw. So kann das direkte Objekt das Resultat der Handlung des Subjekts sein (Bsp. 38 und 39), oder es kann betroffen sein von der Handlung, die im lexikalischen Verb ausgedrückt wird (Bsp. 40 bis 42). Während das Deutsche durch seine Kasusmarkierung noch zwischen Akkusativ-, Dativ- und Genitivobjekten als Argument von zweistelligen Verben unterscheiden kann (z.B. jemandem helfen, jemandes gedenken), wird in der niederländischen Tradition syntaktisch nicht weiter zwischen verschiedenen direkten Objekten unterschieden. Wann immer ein einzelnes Objekt im Satz auftritt, ist es das direkte Objekt. 5.3.4 Indirektes Objekt Dreistellige Verben selegieren drei Argumente: das Subjekt, das direkte Objekt und das indirekte Objekt (indirect object/ meewerkend voorwerp). Gewöhnlich nimmt der Rezipient eines ditransitiven Verbs im aktiven Satz die Form des indirekten Objekts an: 43) Opa koopt oma een auto. 44) Hans geeft Inge een tas. <?page no="119"?> 5.3 Satzglieder 119 Indirekte Objekte können im Niederländischen grundsätzlich auch mit einer Präposition, nämlich aan oder voor, realisiert werden. Wann immer wir eine dieser Präpositionen hinzufügen können, handelt es sich um ein indirektes Objekt. 45) Opa koopt een auto voor oma. 46) Hans geeft een tas aan Inge. Erfragt werden indirekte Objekte mit aan wie oder voor wie. 47) Voor wie koopt opa een auto? - Voor oma. 48) Aan wie geeft Hans een tas? - Aan Inge. Exkurs: Thematische Rollen Im Prinzip ist die Differenzierung verschiedener Objekte in Sprachen, die keinen Kasus markieren, sehr schwierig. Mögliche Parameter der Analyse sind einerseits die Stellung im Satz und andererseits die semantische Funktion des Arguments innerhalb einer bestimmten Konstruktion. Während man zum Beispiel im Deutschen die beiden Sätze Der Mann gibt der Frau ein Plätzchen und Der Frau gibt der Mann ein Plätzchen beide zweifelsfrei so versteht, dass die Frau am Ende im Besitz eines Plätzchens ist, ist das im Niederländischen anders: Bei dem Satz de man geeft de vrouw een ei ist die Frau am Ende im Besitz des Eis, bei dem Satz de vrouw geeft de man een ei ist es der Mann. Aufgrund der fehlenden Kasusmarkierung ist es nicht ersichtlich, wer der Handelnde ist und wer der Empfänger, daher spielt die Position im Satz eine wichtigere Rolle als im Deutschen. Wenn nicht aus dem Kontext oder einer starken Satzintonation deutlich hervorgeht, wer wem ein Ei gibt, steht in niederländischen ditransitiven Sätzen satzinitial (vor dem finiten Verb, an erster Stelle) das Agens (agens), also dasjenige Argument im Satz, welches die Handlung ausführt. An zweiter Stelle steht der Rezipient (recipiënt), der Empfänger, und als letztes Argument kommt das Thema (thema). In dem Satz de oma slaat de dief met de tas ist de oma wieder das Agens, de dief ist Thema (belebte Themen werden manchmal auch Patiens (patiens) genannt), und met de tas ist das Instrument (instrument), aber nur in der Lesart, in der die Oma mit der Tasche zuhaut. Trägt hingegen der Dieb die Tasche, ist de dief met de tas als Ganzes das Thema. Diese Kategorien nennt man auch thematische Rollen (thematische rollen). Thematische Rollen sind keine syntaktischen Kategorien, vielmehr beschreiben sie die semantische Funktion eines Arguments im Satz. Anders als syntaktische Kategorien bleiben sie über verschiedene Satzkonstruktionen hinweg stabil. So ändert sich zum Beispiel in Passivsätzen die Zuordnung der Kategorien Subjekt und Objekt. In oma wordt een koekje gegeven ist oma nicht mehr das indirekte Objekt, sondern das Subjekt, im Gegensatz zum Deutschen übrigens, wo das direkte Objekt des Aktivsatzes das Subjekt des Passivsatzes ist, also ein Plätzchen wird Oma gegeben. Die thematischen Rollen bleiben allerdings immer gleich: Opa ist immer das Agens, Oma ist immer der Rezipient, und Plätzchen ist immer das Thema. Wie die Argumente im <?page no="120"?> 5. Sätze und ihre Struktur 120 Satz semantisch beschaffen sein müssen, bestimmt das lexikalische Verb. Dass der Satz de wakkere stoel slaapt blauw nicht interpretiert werden kann, liegt zum Beispiel daran, dass das Verb slapen als Subjekt ein Lebewesen verlangt, da nur Lebewesen auch schlafen können. 5.3.5 Präpositionalobjekt Eine Reihe von Verben selegiert immer ein Argument, das von einer speziellen Präposition eingeleitet wird. Diese Argumente nennen wir Präpositionalobjekt (voorzetselvoorwerp). Die Präpositionen haben eine enge Verbindung mit dem Verb, sind nicht durch andere austauschbar und in der Regel semantisch verblichen. 49) Jan denkt aan opa. 50) Kees wacht op de trein. 51) Veel ouders staan op goede manieren. An Beispiel 51 können wir gut den Unterschied zwischen Präpositionalobjekten und adverbialen Bestimmungen (siehe 5.3.6) sehen. Eltern (be)stehen natürlich nicht auf guten Manieren, die Präposition kann also nicht wörtlich (nämlich ortsanweisend) interpretiert werden. Anders ist es bei einer adverbialen Bestimmung: 52) Het boek ligt op de trap. Hier ist die Präposition op semantisch nicht verblichen, sondern deutet den Ort an, an dem sich das Buch befindet. 5.3.6 Adjunkte Adjunkte (adjuncten/ bepalingen) sind in der Regel, anders als die Argumente, im Satz weglassbar. Sie drücken eine spezifischere Eigenschaft ihres Referenten aus. Adverbiale (bijwoordelijke bepalingen) spezifizieren die Handlung, die mit dem Verb ausgedrückt wird, näher. In dem Satz oma bakte gisteren een taart nimmt das Adverbial gisteren Bezug auf bakte, in dem Satz Jonathan ruimt graag zijn kamer op bezieht sich graag auf die Handlung des Aufräumens. Adverbiale können erfragt werden mit den Fragewörtern wie waar, wanneer, waarmee, hoe und hoeveel. Attribute (bijvoegelijke bepalingen) beziehen sich nicht auf das Verb, sondern auf einen meist nominalen Antezedenten (antecedent). So sind sie auch kein eigenständiges Satzglied, sondern Teil eines Satzgliedes. In der Regel sind Attribute AdjPs, die Töchter innerhalb einer NP sind. In dem Satz De rare man met de dikke bril kijkt televisie sind die AdjPs rare und dikke Attribute der Substantive man und bril. Weglassbare Adjunkte, die nach dem Kopf einer NP stehen, nennen wir Komplemente (complementen). Ein Beispiel für ein Komplement ist met de dikke bril. Eine besondere Form der Adjunkte steht semantisch genau zwischen Adverbial und Attribut, da sowohl die im Prädikat ausgedrückte Handlung als auch ein nomi- <?page no="121"?> 5.4 Satzarten 121 naler Referent gleichzeitig spezifiziert werden. Diese Satzglieder nennt man prädikative Attribute (bepalingen van gesteldheid). Sehen wir uns die folgenden Sätze an: 53) Hongerig kwam Thies langs. 54) Gisteren kwam Thies langs. 55) Lachend keek hij me aan. 56) Soms keek hij me aan. 57) Slapend hebben ze de kat vervoerd. 58) Stiekem hebben ze de kat vervoerd. Die unterstrichenen Satzglieder sind prädikative Attribute, gisteren, soms und stiekem sind gewöhnliche Adverbiale. Hongerig, lachend und slapend charakterisieren nicht allein die Handlung, die im Prädikat ausgedrückt wird, sondern sie beschreiben zusätzlich noch die Eigenschaft eines nominalen Antezedenten: In den Beispielen 53 und 55 ist das jeweils das Subjekt des Satzes, nämlich Thies und hij, in 57 ist es das direkte Objekt, nämlich de kat. 5.4 Satzarten Mit der Hilfe des topologischen Modells können wir abschließend noch die verschiedenen niederländischen Satztypen (zinstypes) syntaktisch klassifizieren. Die ANS bedient sich dabei der Position des finiten Verbs (persoonsvorm/ pv) als Kriterium und klassifiziert Sätze in solche mit voor-pv (finites Verb vorne im Satz) und solche mit achter-pv (finites Verb hinten im Satz). Die Klasse der Sätze mit voor-pv kann wiederum unterteilt werden in Sätze mit finitem Verb an erster Stelle und Sätze mit finitem Verb an zweiter Satzgliedstelle. In der ersten Gruppe finden wir die unabhängigen Hauptsätze (zelfstandige hoofdzinnen). Dazu gehören die Fragesätze (vraagzinnen) (Bsp. 59) und die Imperative (gebiedende wijs) (Bsp. 60). Das finite Verb steht an zweiter Stelle in deklarativen Sätzen (mededelende zinnen) (Bsp. 61). Sätze mit achter-pv sind in der Regel abhängige Nebensätze (afhankelijke bijzinnen), die nicht allein stehen können. Dabei unterscheiden wir wieder zwei verschiedene Typen, nämlich Nebensätze, die innerhalb des Satzes als Satzteil fungieren (Bsp. 62), und Nebensätze, die als Teil eines Satzteiles oder einer Konstituente auftreten (Bsp. 63). In der linken Satzklammer steht bei Sätzen mit achter-pv nicht das finite Verb, sondern das Bindewort (bindterm), das Haupt- und Nebensatz miteinander verbindet: 59) Loop jij even mee? 60) Denk niet de hele tijd aan auto's! 61) Dat zei ik toch gisteren al. 62) (Ik zei toch gisteren al) dat je eerst nog even moet opruimen. 63) (De man) die ik gisteren belde (was niet bijzonder vriendelijk). <?page no="122"?> 5. Sätze und ihre Struktur 122 Wir unterscheiden Satzarten also auf zwei verschiedenen Ebenen: voor-pv versus achter-pv sowie Hauptsätze versus Nebensätze. Im topologischen Schema sehen die verschiedenen Satztypen des Niederländischen wie folgt aus: Vorfeld linke Satzklammer Mittelfeld rechte Satzklammer Nachfeld 1a Ik heb gisteren nog gevraagd of je komt. 1b Heb je dit gelezen eigenlijk? 2 dat ik nog even ga stofzuigen als ik thuiskom. Tab. 5.3: Topologisches Satzmodell 2 In Anlehnung an die ANS nennen wir die drei möglichen Satzmuster 1a (voor-pv mit besetztem Vorfeld), 1b (voor-pv ohne besetztes Vorfeld) und 2 (achter-pv). Doch wofür benötigen wir eigentlich zwei verschiedene Beschreibungsebenen? In Schulgrammatiken kommt man doch auch mit der Unterscheidung von Haupt- und Nebensätzen aus. Der Grund liegt darin, dass die Kategorien Haupt- und Nebensatz eben nicht 1: 1 auf bestimmte Satzmuster übertragen werden können. Die große Mehrheit der Hauptsätze fällt zwar unter das Satzmuster 1a, doch wie ist es mit solchen exklamativen Sätzen wie z.B. Dat je dat allemaal voor me doet! Dieser Satz kann zwar alleine stehen, fällt aber unter das Satzmuster 2. In der direkten Rede treffen wir hingegen Fälle an, in denen ein Satz des Typs 1 ein abhängiger Nebensatz ist, wie in dem Satz Hij riep: "Stel je niet zo aan! ", wo der Imperativ das direkte Objekt des übergeordneten Satzes ist. In der Typologie (typologie) werden die Sprachen der Welt (unter anderem) hinsichtlich ihres Satzbaus klassifiziert. Dabei wird die relative Reihenfolge von Subjekt, Verb und Objekt (S, V und O) im deklarativen Hauptsatz der einzelnen Sprachen miteinander verglichen. Englisch und Französisch zum Beispiel sind SVO-Sprachen. Japanisch ist eine SOV-Sprache, das finite Verb steht immer am Satzende. Deutsch und Niederländisch sind nicht so einfach zu klassifizieren: Beide Sprachen haben SVO im Hauptsatz, und SOV in Nebensätzen. Darüber, wie das zu analysieren sei, kann diskutiert werden. So argumentiert z.B. Koster (1981), dass Niederländisch und Deutsch SOV als Basisreihenfolge haben, von der die Hauptsatzfolge SVO abgeleitet ist. Daher spricht man auch von 'unterliegend SOV' (onderliggend SOV). In moderneren Arbeiten wird das Problem häufig so gelöst, dass man den Zwang, sich auf eine Variante beschränken zu müssen, einfach fallenlässt. Im World Atlas of Language Structures (WALS) z.B., werden Niederländisch und Deutsch geführt als Sprachen ohne dominante Reihenfolge, die SVO im Hauptsatz und SOV im Nebensatz aufweisen. <?page no="123"?> 5.5 Zusammenfassung 123 Die Struktur von natürlichen Sätzen ist häufig komplex, und entsprechend vielschichtig ist auch deren Beschreibung. Wir haben in diesem Kapitel Konstituenten, Satzglieder und Satzmodelle kennengelernt, drei Beschreibungsniveaus, die nahtlos ineinandergreifen und deren Zusammenspiel es uns ermöglicht, die verschiedenen Formen und Funktionen von Sätzen zu analysieren. 5.5 Zusammenfassung In diesem Kapitel haben wir uns mit der internen Struktur von Sätzen beschäftigt. Sätze setzen sich zusammen aus Konstituenten, die jeweils benannt sind nach ihrem zentralen Element, dem Kopf. Dieser vererbt der Konstituente seine syntaktischen und semantischen Merkmale. Konstituenten haben eine interne Ordnung, die je nach Typ unterschiedlich strikt ist. Ob es sich bei einem Komplex um eine Konstituente handelt oder nicht, können wir anhand verschiedener Tests herausfinden. Dazu gehören die Ersetzungsprobe, der Pronominalisierungstest, die Verschiebeprobe und der Fragetest. Konstituenten können rekursiv sein, eine Kategorie X kann also wiederum Kategorie X beinhalten. Rekursion ist verantwortlich für die potentielle Infinitheit menschlicher Sprache. In einigen Fällen kann eine einzelne Konstituente verschiedene syntaktische Abhängigkeiten aufweisen. In solchen Fällen ist die Struktur ambig. In den Fällen, die wir gesehen haben, besteht die Ambiguität darin, dass einzelne Konstituenten entweder als eingebetteter Teil einer anderen Konstituente verstanden werden können, oder als dieser nebengeordnet. Ein möglicher Ort für syntaktische Ambiguität sind koordinierte Strukturen, in denen zwei Elemente der gleichen Kategorie einander mit Hilfe einer Konjunktion nebengeordnet werden. Wird ein Element einem anderen mit einer Konjunktion untergeordnet, sprechen wir von Subordination. Neben der phrasalen Struktur ist die funktionale Struktur von entscheidender Bedeutung für die Interpretation eines Satzes. Wir haben die traditionellen Satzglieder Subjekt, Prädikat, direktes Objekt, indirektes Objekt, Präpositionalobjekt und Adjunkt kennengelernt. Zum Schluss haben wir die verschiedenen niederländischen Satztypen mithilfe des topologischen Modells klassifiziert. Dabei haben wir zwei verschiedene Analyseniveaus unterschieden: erstens die Einteilung nach dem Ort des finiten Verbs und zweitens die Einteilung in Haupt- und Nebensatz. Nur in Kombination können diese beiden Beschreibungsebenen die verschiedenen niederländischen Satztypen vollständig klassifizieren. <?page no="124"?> 5. Sätze und ihre Struktur 124 Aufgaben 1. Lesen Sie die folgenden Sätze. Handelt es sich bei den fett gedruckten Komplexen um eine Konstituente? Beweisen bzw. widerlegen Sie mithilfe von jeweils 2 Konstituententests. 1. Dat je gisteren niet gekomen bent vond ik helemaal niet leuk. 2. De politieagent kwam de trap op. 3. Ik heb gisteren vis gegeten. 2. Sind die folgenden Sätze ambig? Wenn ja, warum? 1. De man legt het boek op tafel. 2. Oude kaas en ijsjes zijn mijn lievelingseten. 3. AdjPs können als eigenständige Satzglieder entweder adverbial (mijn zus zingt heel mooi) oder prädikativ (mijn zus is heel mooi) verwendet werden. Worin besteht der Unterschied zwischen den beiden Gebrauchsweisen? 4. Im Text ist die Rede von unabhängigen Hauptsätzen und abhängigen Nebensätzen. Es gibt aber auch abhängige Sätze mit voor-pv und unabhängige Sätze mit achter-pv. Welche sind das? Literatur zum Weiterlesen Eine tiefergehende Einführung in die niederländische Syntax mit einer zusätzlichen Übungs-CD bietet Bennis (2000) Syntaxis van het Nederlands. Eine deskriptive Grammatik des Niederländischen, die neben den generellen Strukturen auch einzelne Phänomene beschreibt, ist die Algemene Nederlandse Spraakkunst (ANS) (1997). Nicht minder interessant, allerdings aufgrund eines ausgeprägten Abkürzungssystems anfangs recht schwer zugänglich, ist die etwas ältere Grammatik Beknopte ABN syntaksis von Paardekooper (1963). <?page no="125"?> 6. Laute und ihre Systeme Ingeborg Harmes Wenn wir eine unbekannte Sprache hören, nehmen wir eine Klangreihe wahr, die sich wie Kauderwelsch anhört. Mit dem niederländischen Satz kooputook kann z.B. ein Spanischsprechender wenig anfangen, denn die einzelnen Wörter und Laute kann man erst unterscheiden, wenn man die Sprache einigermaßen kennt. Dann ist es möglich, die vier Wörter ik hoop het ook zu erkennen und den Sinn der Mitteilung zu verstehen. Abb. 6.1: kooputook? Die Artikulation des spontan gesprochenen Niederländischen ist generell etwas lässig, wie beispielsweise kweenie (ik weet het niet) und tuulik (natuurlijk) zeigen. Niederländisch hört sich ohnehin für viele Sprecher des Deutschen etwas 'merkwürdig' an. Denn im Vergleich zum Deutschen werden nicht nur die Wörter 'lässiger' ausgesprochen, bestimmte niederländische Laute sind auch deutlich häufiger vertreten, weshalb das Niederländische auch gelegentlich als 'Halskrankheit' oder 'kratzig' beschrieben wird. So auch in Der Koch (2010) von Martin Suter: "Und während Van Genderen in seinem gurgelnden Holländerdeutsch auf ihn einsprach…". Jeder kann sich vorstellen, was mit der Beschreibung 'gurgelnd' gemeint ist, aber die Beschreibung ist natürlich nicht sehr genau. Von einer wissenschaftlichen Beschreibung werden allerdings Genauigkeit und Eindeutigkeit erwartet. Die Phonetik (fonetiek) ist die Wissenschaft, die sich mit der präzisen Beschreibung der menschlichen Sprachlaute befasst. Ein Sprachlaut oder Phon (spraakklank oder foon) ist eine konkrete und messbare Einheit. <?page no="126"?> 6. Laute und ihre Systeme 126 Das Gebiet der Phonetik ist breit und lässt sich in drei Bereiche unterteilen: • Die artikulatorische Phonetik (articulatorische fonetiek) beschäftigt sich mit den physiologischen Eigenschaften bei der Lautproduktion. • Die akustische Phonetik (akoestische fonetiek) beschäftigt sich mit Lauten als physikalischem Phänomen und untersucht die Eigenschaften der Schallwellen. • Die auditive Phonetik (auditorische oder perceptieve fonetiek) beschäftigt sich mit der Perzeption der Laute beim Hören und untersucht, wie der Hörer Laute wahrnimmt. Dieses Kapitel befasst sich mit der artikulatorischen Phonetik der niederländischen Laute und der systematischen Beschreibung des niederländischen Lautinventars. 6.1 Das phonetische Alphabet Obwohl Sprache oft mit lesen und schreiben, also mit ihrer schriftlichen Form, in Verbindung gebracht wird, ist die Schreibung kein wesentlicher Bestandteil der Sprache. Kinder sprechen und beherrschen Sprache, lange bevor sie die Sprache schreiben oder lesen können, und viele Sprachen haben gar keine schriftliche Tradition. Man kann es mit Musik vergleichen: Es ist gar nicht notwendig, Noten lesen zu können, um Musik zu machen oder ein Lied zu singen. Hinzu kommt, dass die schriftliche Form in der Regel nicht eins zu eins mit den Sprachlauten korrespondiert. Wenn wir die Wörter hemelbed oder verleden lesen, sehen wir jeweils dreimal den Buchstaben e, wenn aber die niederländischen Wörter für Himmelbett und Vergangenheit ausgesprochen werden, hören wir sofort, dass die drei e jeweils unterschiedlich klingen. Ähnliches die passiert bei den Wörtern ijs, bijzonder und heerlijk: dreimal sehen wir Buchstabenkombination ij, die sich jedoch in allen drei Wörtern anders anhört. Auch auf Satzebene sprechen wir normalerweise nicht so, wie wir schreiben, wie das Beispiel in Abbildung 6.1 zeigt. Die konventionelle Rechtschreibung oder Orthografie (spelling/ ortografie) ist daher nicht geeignet, um sprachliche Laute naturgetreu abzubilden. Wir brauchen demzufolge eine Notation, die in der Lage ist, diese Anforderungen zu erfüllen. Das Internationale Phonetische Alphabet (IPA) wurde speziell entwickelt, um Laute zu notieren und die Laute aller Sprachen eindeutig zu repräsentieren. Das IPA ist eine offene Liste, der theoretisch immer neue Laute hinzugefügt werden können. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Deutsche oder Niederländische einen neuen Laut entwickelt, der nicht auf Kontakt mit einer anderen Sprache zurückgeführt werden kann, ist allerdings extrem gering. Der Großteil der Sprachen der Welt ist bis heute noch gar nicht dokumentiert. Ohne Zweifel gibt es noch Möglichkeiten der Lautproduktion, die bislang im IPA noch nicht abgedeckt sind. Daher ist es sinnvoll, die Liste für Erweiterungen offen zu lassen. Phonetische Zeichen werden konventionell zwischen eckigen Klammern geschrieben, so wird der erste Laut im Wort been als [b] notiert. Dem gegenüber wer- <?page no="127"?> 6.2 Laute beschreiben 127 den orthografische Zeichen oder Grapheme (grafemen) zwischen spitzen Klammern notiert, z.B. der zweite Laut im Wort been, das sogenannte 'lange e', ist hier als <ee> notiert. Wie die Rechtschreibung unterliegt auch der Gebrauch phonetischer Zeichen Konventionen, weshalb Unterschiede immer wieder vorkommen können. Tabelle 6.1 zeigt die phonetischen Symbole der wichtigsten niederländischen Laute: Konsonanten Vokale p pijn t tas chillen goal i Tien u poel b been d das jungle k kool Tin pol f fijn s sap sjaal geel e Teen o pool v over z zijn genre χ nacht εi Pijn u Paul wijn r riet j jas riet ε Pen pal w m ruw mijn l n lier nier oranje h ŋ huis ring y buurt put a paal ø Teun œy Tuin Tab. 6.1: Die Laute des Niederländischen in der IPA-Notation 1 Das Notieren von Sprache in IPA nennt man transkribieren (transcriberen) (wörtl. 'umschreiben'). Ziel einer Transkription ist, die Aussprache so genau wie möglich wiederzugeben. Außer für die Wissenschaft ist die Transkription auch für den Fremdsprachenunterricht sowie für Wörterbücher von großem Nutzen. Denn man kann mit einer Transkription eindeutig angeben, dass magisch als [ma is] ausgesprochen werden soll. 6.2 Laute beschreiben Je lippen liggen op elkaar en dan laat een bobbel adem ze openbarsten. Joke van Leeuwen, Waarom een buitenboordmotor eenzaam is Um angemessen über Laute (klanken) sprechen zu können, ist es notwendig, die Laute, die man beim Sprechen produziert, eindeutig und präzise zu beschreiben. Zunächst unterscheiden wir zwei Kategorien von Lauten: Vokale (vocalen/ klinkers) und Konsonanten (consonanten/ medeklinkers). Die beiden Kategorien unterscheiden sich in der Art der Produktion: Vokale sind Laute, bei denen der Luftstrom sich frei durch den Mund-Rachenraum hinaus bewegen kann, bei den Konsonanten 1 Die beiden standardsprachlichen Varianten [r] und [ ] stehen für das Zungenspitzen-r bzw. das Zäpfchen-r. Die Laute [ ], [ ], [ ] und [ ] kommen nur in Lehnwörtern vor. <?page no="128"?> 6. Laute und ihre Systeme 128 dagegen wird der Luftstrom ganz oder teilweise durch einen Verschluss oder eine Verengung im Mund-Rachenraum 'gestört'. Deutlich zeigt sich das z.B. daran, dass man alle Vokale singen kann, der Versuch, ein [p], [t] oder [k] zu singen, muss zwangsläufig scheitern. Konsonanten und Vokale werden anhand unterschiedlicher Kriterien beschrieben. Wir fangen mit der Beschreibung der Konsonanten an. 6.2.1 Konsonanten Wenn wir einen Konsonanten eindeutig beschreiben wollen, benutzen wir drei verschiedene Parameter: • Artikulationsort (plaats van articulatie): An welcher Stelle im Mund- Rachenraum werden Laute produziert? • Artikulationsart (wijze van articulatie): Wie wird die Luft beim herausströmen gestört? • Stimmhaftigkeit (stemhebbendheid): Schwingen die Stimmbänder mit oder nicht? Versuchen Sie einmal ein [b] oder [m] auszusprechen. Bei beiden Lauten werden die Lippen aufeinander gepresst und wird so der Luftstrom unterbrochen. Bei der Aussprache von [k] und [ŋ] drücken wir den Zungenrücken gegen den weichen Gaumen. Mit unseren Sprechorganen, in Abbildung 6.2 mit den deutschen und niederländischen Bezeichnungen dargestellt, gelingt es uns, viele unterschiedliche Laute zu produzieren. Sie sind die Basis für die Beschreibung des ersten Parameters. Fangen wir bei den Lippen (lat. labiae) an: Um die Laute [b], [p] und [m] zu produzieren, müssen sich beide Lippen berühren. Dementsprechend heißen diese drei Laute Bilabiale (bilabialen). Weitere Konsonanten, die wir mit den Lippen bilden, sind [v], [f] und [ ]: 2 Bei der Lautproduktion berührt die Unterlippe die oberen Schneidezähne (lat. dentes), weshalb sie Labiodentale (labiodentalen) genannt werden. Zusammen bilden diese Laute die Lautklasse der Labialen (labialen). Dentale (dentalen) sind Laute, die mit den Schneidezähnen und der Zungenspitze produziert werden, wie z.B. die englischen th-Laute. 3 Die nächste Stelle ist der Zahndamm (lat. alveolus), eine Rundung zwischen den Zähnen und dem harten Gaumen. Um [d], [t], [s], [z], [n], [l] und das Zungenspitzen-r [r] zu produzieren, hebt sich die Zungenspitze (lat. apex) zum Zahndamm (lat. alveolen), diese Laute sind die Alveolaren (alveolairen). Die nächste Gruppe sind die Postalveolare (postalveolaren) [ ], [ ], [ ], [ ] und [ ], sie werden direkt hinter dem Zahndamm artikuliert. Bei der Produktion des [j] bewegt sich der Zungenrücken (lat. dorsum) in Richtung des harten Gaumens (lat. palatum), weshalb diese Lautklasse 2 In Flandern wird das <w> eher bilabial, wie in ruw (in IPA mit [w] notiert), ausgesprochen. In Suriname ist das bilabiale [w] noch stärker ausgeprägt. 3 Streng genommen hat das Niederländische keine Dentale, oft werden allerdings Laute, die mithilfe der Schneidezähne produziert werden, wie z.B. [d] und [t], als Dentale bezeichnet. <?page no="129"?> 6.2 Laute beschreiben 129 Palatale (palatalen) heißt. Hinten im Mundraum werden die Laute [ ], [k], [ ] und [ŋ], gebildet, der hintere Teil der Zunge berührt den weichen Gaumen (lat. velum). Sie werden Velare (velaren) enannt. Die Laute [χ] und [ ] − das Zäpfchen-r − werden am Zäpfchen (lat. uvula) produziert, sie sind Uvulare (uvularen). Die velaren und uvularen Laute zusammen nennt man auch Dorsale (dorsalen). Die Glottale (glottalen) schließlich werden in der Stimmritze (lat. glottis) erzeugt. Außer dem [h] wird in der Stimmritze der sog. Knacklaut oder Glottisschlag (glottisslag) produziert, der mit dem IPA-Symbol [ ] wiedergegeben wird. Für diesen Laut besteht in unserem Alphabet kein Zeichen, aber wir können den Glottisschlag deutlich wahrnehmen bei der deutschen Aussprache von Theater [te atə]. Im Niederländischen kommt der Glottisschlag nicht so oft vor, wie die Aussprache [tejatər] zeigt. Dennoch wird der Glottisschlag manchmal produziert, wie in [χə amyzert] (geamuseerd). A) Nasenhöhle (neusholte) B) Mundhöhle (mondholte) C) Rachenhöhle (keelholte) D) Speiseröhre (slokdarm) E) Luftröhre (luchtpijp) a) Lippen (lippen) b) Zähne (tanden) c) Zahndamm (tandkas) d) harter Gaumen (harde gehemelte) e) weicher Gaumen (zachte gehemelte) f) Zäpfchen (huig) g) Kehldeckel/ Epiglottis (strotklep) h) Kehlkopf/ Larynx (strottehoofd) i) Stimmritze (stemspleet) k) Zungenspitze (tongpunt) l) Zungenrücken (tongrug) Abb. 6.2: Sprechorgane (nach Neijt 1991) Der zweite Parameter beschreibt, auf welche Art und Weise die Luft an einer Verengung oder Konstriktion (constrictie) im Mund-Rachenraum vorbei strömt. Nach dieser Kategorisierung gibt es die folgenden Lautklassen: • Bei der Artikulation der Plosive (plosieven oder plofklanken) strömt die Luft durch die Stimmritzen in den Mund-Rachenraum und wird dort zuerst komplett verschlossen, dann auf einmal ausgestoßen. Die Plosive sind: [p], [t], [k], [b], [d], [ ] sowie der Glottisschlag [ ]. <?page no="130"?> 6. Laute und ihre Systeme 130 • Frikative (fricatieven oder wrijfklanken) werden produziert, indem die Luft an einer Verengung im Mund-Rachenraum vorbeiströmen muss und dabei ein kontinuierlich hörbares Rauschen entsteht, wie z.B. ein Zischen oder Hauchen. Im Gegensatz zu Plosiven kann der Luftstrom den Mundraum ununterbrochen verlassen. Die Frikative sind: [f], [v], [s], [z], [ ], [ ], [ ], [χ]und [h]. Die Laute [ ] und [ ] sind Affrikaten (affricaten): eine Kombination aus einem Plosiv und einem darauf folgenden Frikativ, die an ungefähr der gleichen Artikulationsstelle gebildet werden. • Bei der Produktion der Liquidae (liquidae oder vloeiklanken) fließt die Luft mit geringer Verengung den Mund-Rachenraum heraus. Bei Lateralen (lateralen) strömt die Luft auf beiden Seiten der Zunge aus dem Mund heraus, wie bei der Aussprache eines [l]. Im Gegensatz zum Deutschen wird das niederländische [l] oft weiter hinten am Gaumen gebildet. Die beiden anderen Laute dieser Lautklasse sind [r] und [ ]. Im ersten Fall berührt die Zunge mehrmals den Zahndamm, im zweiten Fall berührt der Zungenrücken das Zäpfchen. Das mehrmalige Berühren wird mit dem englischen Wort Trill bezeichnet. • Die Nasale (nasalen oder neusklanken) werden produziert, indem ein Verschluss im Mundraum gebildet wird und die Luft durch die Nasenhöhlen herausströmt. Daher ist es auch nicht möglich, die Laute [m], [n], [ŋ] und [ ] auszusprechen, wenn wir die Nase zuhalten. • Gleitlaute oder Halbvokale (glijklanken oder halfklinkers) sind eine besondere Klasse der Konsonanten, denn die Luft kann durch die geringe Verengung fast ungehindert herausströmen. Diese Eigenschaft haben sie mit den Vokalen gemeinsam. Dennoch sind sie nicht mit Vokalen gleichzusetzen, denn wenn wir versuchen, die Gleitlaute [j], [ ] und [w] zu singen, entsteht ein hörbares Rauschen, was beim Singen von Vokalen nicht geschieht. Auch ihre Rolle in der Sprache ist anders: Im Niederländischen können diese Laute nie zwischen zwei Konsonanten vorkommen: beter ist möglich, bwter jedoch nicht. Plosive, Frikative und Affrikate zusammen bilden die Lautklasse der Obstruenten (obstruenten), sie haben als gemeinsame Eigenschaft, dass der Luftstrom nicht ungehindert den Mundraum verlassen kann. Die anderen Laute bilden die Lautklasse der Sonoranten (sonoranten), die Luft kann ungehindert herausströmen und resonieren. Zu den Sonoranten gehören die Liquidae, die Nasale, die Gleitlaute sowie die Vokale. Laterale und Halbvokale zusammen werden auch Approximanten (approximanten) genannt, weil sich hierbei zwei Sprechorgane einander annäheren ('approximieren'). Der dritte Parameter bei der Beschreibung von Konsonanten ist die Stimmhaftigkeit, bei der es darum geht, ob die Stimmbänder mitschwingen oder nicht. Wenn die Luft aus den Lungen Richtung Mundraum strömt, kommt sie an den Stimmbändern vorbei. Zwei Szenarien können sich jetzt abspielen: Die Stimmbänder öffnen und <?page no="131"?> 6.2 Laute beschreiben 131 schließen sich abwechselnd innerhalb kürzester Zeit und die Luft kommt zum Schwingen. In diesem Fall sind die Laute stimmhaft (stemhebbend). Oder die Luft strömt frei durch die geöffnete Stimmritze, dann werden die Laute stimmlos (stemloos) produziert. Wir können das einfach kontrollieren, indem wir die Hand an den Kehlkopf legen und die Laute [z] und [s] oder [v] und [f] abwechselnd aussprechen. Wenn wir eine Vibration spüren, ist der Laut stimmhaft, wenn wir keine spüren, ist der Laut stimmlos. Für Sonoranten ist der Parameter Stimmhaftigkeit fest auf stimmhaft gesetzt, lediglich die Obstruenten können im Niederländischen stimmhaft und stimmlos realisiert werden. Die artikulatorischen Merkmale der Konsonanten fassen wir in Tabelle 6.2 zusammen. Artikulationsart Artikulationsort labial/ labiodental alveolar postalveolar/ palatal velar/ uvular/ glottal Plosiv stimmhaft stimmlos [b] been [p] pijn [d] das [t] tas [ ] chillen [ ]jungle [ ] goal [k] kool Frikativ stimmhaft stimmlos [v] over [f] fijn [z] zijn [s] sap [ ] sjaal [ ] genre [ ] geel [χ] nacht [h] huis Liquida Trill Lateral [r] riet [l] lier [ ] riet Halbvokal [ ] wijn [w] ruw [j] jas Nasal [m] mijn [n] nier [ ] oranje [ŋ] ring Tab. 6.2: Eigenschaften von Konsonanten Mit den drei Parametern Artikulationsort, Artikulationsweise und Stimmhaftigkeit kann man jeden Konsonanten eindeutig und präzise beschreiben, denn die Beschreibung 'alveolarer stimmloser Frikativ' entspricht nur dem Laut [s] und 'bilabialer stimmhafter Nasal' nur dem Laut [m]. <?page no="132"?> 6. Laute und ihre Systeme 132 6.2.2 Vokale Für die Beschreibung der Vokale verwenden wir ebenso drei Parameter: • Artikulationsort: An welcher Stelle im Mund (vorne - zentral - hinten) werden die Vokale produziert? • Öffnungsgrad (openingsgraad): Wo befindet sich die Zunge (hoch - mittel - tief) während der Artikulation? • Lippenrundung (ronding): Sind die Lippen gerundet oder nicht? Bei der Produktion von Vokalen kann die Luft frei durch den Mund-Rachenraum herausströmen, daher sind alle Vokale Sonoranten. Die Unterschiede bei der Artikulation ergeben sich hauptsachlich aus der Position der Zunge, die sowohl den Artikulationsort als auch den Öffnungsgrad mitbestimmt und die den Mundraum in unterschiedliche Formen bringt. Das merken wir, wenn wir ein [i] und ein [ ] hintereinander sprechen: Im ersten Fall spüren wir, dass die Zunge sich nach vorne hebt, im zweiten Fall senkt sie sich nach hinten ab. In der Mitte dieser beiden Extreme wird das Schwa (sjwa oder stomme e) produziert, das mit dem IPA-Symbol [ə] wiedergegeben wird. Im Niederländischen und Deutschen kommt das Schwa nur in unbetonten Silben vor, wie z.B. in lopen, vijftig und bedanken. Der erste Beschreibungsparameter ist der Artikulationsort: 4 die Stelle im Mund- Rachenraum, an der der Zungenrücken sich anhebt. Bei der Artikulation eines [i], [ ], [y], [ø], [e] oder [ε] hebt sich die Zunge vorne im Mundraum zum Gaumen. Diese Vokale werden vordere Vokale oder Vorderzungenvokale (voorklinkers) genannt. Um ein [u], [ ], [o] oder [ ] zu bilden, bewegt sich die Zunge nach hinten, diese Vokale werden hintere Vokale oder Hinterzungenvokale (achterklinkers) genannt. Die Vokale [ ], [ə] und [a], die zentral im Mundraum produziert werden, werden häufig mittlere bzw. zentrale Vokale oder Mittelzungenvokale (middenklinkers) genannt. Der zweite Parameter, der Öffnungsgrad, ergibt sich aus der Position der Zunge und des Unterkiefers. Wenn sich der Zungenrücken in Richtung des Gaumens hebt, wie bei der Bildung von [i], [y] und [u], wird der Raum, durch den die Luft herausfließen kann, verengt. Diese hohen Vokale (hoge klinkers) werden deshalb auch geschlossene (gesloten) Vokale genannt. Die tiefen Vokale (lage klinkers) [ ] und [a] werden mit einer tief positionierten Zunge gebildet, der Öffnungsgrad ist dementsprechend größer. Deshalb werden diese Vokale auch offene Vokale (open klinkers) genannt. Bei der letzten Gruppe der Vokale nimmt der Zungenrücken eine Mittelposition ein. Das Schwa [ə] ist allerdings der einzige Vokal, der wirklich in der Mitte des Artikulationsraumes artikuliert wird, daher werden die Vokale [ ], [e], [ø] 4 Der Artikulationsort (und in geringerem Maße der Öffnungsgrad) ist bei Vokalen nicht einfach festzulegen, weshalb in der Literatur unterschiedliche Kategorisierungen vorkommen. <?page no="133"?> 6.2 Laute beschreiben 133 und [ ] als halbgeschlossene Vokale (halfgesloten klinkers) kategorisiert, und die Vokale [ε] und [ ] als halboffene Vokale (halfopen klinkers). Der dritte Parameter betrifft die Form der Lippen, sie können gerundet (gerond) sein und so den Weg nach draußen verlängern oder ungerundet (ongerond). Die Vokale mit Lippenrundung sind [y], [ ], [ø], [u], [ ] und [o], die übrigen Vokale werden ohne Lippenrundung 5 artikuliert. Die artikulatorischen Merkmale der einfachen Vokale oder Monophthonge (monoftongen) lassen sich wie folgt zusammenfassen: Öffnungsgrad Artikulationsort ungerundet gerundet ungerundet gerundet ungerundet gerundet vorne zentral hinten hoch [i] tien [y] buurt [u] poel halbgeschlossen [ ] tin [ ] put [ ] bol [o] pool [e] teen [ø] Teun mittel [ə] het halboffen [ε] pen tief [a] paal [ ] pal Tab. 6.3: Eigenschaften von Vokalen Neben den einfachen Vokalen kennt das Lautinventar der niederländischen Standardsprache drei Diphthonge (diftong/ tweeklank), nämlich das [εi] wie in mei und mijn, das [ u] wie in bouw und klauw und das [œy] wie in beschuit met muisjes. Artikulatorisch gesehen besteht ein Diphthong aus zwei unmittelbar aufeinander folgenden Vokalen. Der jeweils erste Vokal ist vom Öffnungsgrad her ein tiefer Vokal, der allmählich steigt, oder anders formuliert: Diphthonge sind offene Vokale, die sich allmählich schließen. In den Niederlanden kann man zurzeit beobachten, dass die drei Diphthonge weiter geöffnet artikuliert werden, wie maai statt mij, baau statt bouw und beschaut statt beschuit. Zugleich tendieren auch die einfachen Vokale [e], [ø] und [o] zur Diphthongierung, wie zeej statt zee, beuj statt beu und zoow statt zo. Diese Tendenz findet man allerdings nur in den Niederlanden und nicht in Flandern (vgl. Kap. 8). Außer den drei Parametern Artikulationsort, Öffnungsgrad und Lippenrundung gibt es weitere Merkmale für die Beschreibung von Vokalen. Eines dieser sog. sekundä- 5 Vokale mit Lippenrundung werden auch als 'ungespreizt', Vokale ohne Lippenrundung als 'gespreizt' beschrieben. <?page no="134"?> 6. Laute und ihre Systeme 134 ren Merkmale soll hier kurz besprochen werden, nämlich die Vokallänge. 6 Das Niederländische und das Deutsche unterscheiden grundsätzlich zwischen langen und kurzen Vokalen, wie in den Wortparen maan - man, boot - bot und veel - vel. Die Diphthonge ei/ ij, ou/ au und ui in Wörtern wie mei, mij, jou, blauw und tuin zählt man ebenso zu den langen Vokalen. In einer Transkription können lange einfache Vokale mit dem IPA-Symbol [ ] wiedergegeben werden, wie [e ] oder [o ]. Das Merkmal Vokallänge ist im Deutschen allerdings ausgeprägter als im Niederländischen, das bemerkt man bei der Aussprache von boot und Boot, baan und Bahn oder stoel und Stuhl. Die deutschen langen Vokale werden deutlich länger ausgesprochen als die niederländischen. Zudem kann Vokallänge im Deutschen zu unterschiedlichen Wortbedeutungen führen, wie z.B. bei den Wörtern muss und Mus in ich muss dieses (Apfel)Mus mal probieren. Die niederländischen langen Vokale werden meist nur halblang ausgesprochen, was man mit dem IPA-Symbol [·], wie in [be·n] oder [bo·n] wiedergeben kann. Nur vor einem r-Laut, wie z.B. bei boor, meer oder broer werden Vokale tatsächlich 'länger' ausgesprochen. Weil Vokallänge im Niederländischen eine kleinere Rolle als im Deutschen spielt und zugunsten der besseren Lesbarkeit, werden die Vokale in diesem Kapitel ohne Längenzeichen dargestellt. 6.2.3 Prosodie Wenn wir sprechen, passiert mehr als nur die Aneinanderreihung von Konsonanten und Vokalen, den sog. segmentalen (segmentele) Elementen. Wir betonen Silben in Wörtern (Amsterdam) oder Wörter in Sätzen (jij was het en niet Jan), wir machen Sprechpausen (wir essen jetzt, Opa) und wir variieren die Tonhöhe (echt waar? ja.). Diese Merkmale sind nicht an die einzelnen Laute gebunden, sondern ihre Wirkung geht darüber hinaus, weshalb sie auch suprasegmental (suprasegmenteel) genannt werden. Mithilfe von suprasegmentalen oder prosodischen Merkmalen können wir u.a. Bedeutungen in Wörtern oder Sätzen unterscheiden und Informationen in längeren Klangreihen strukturieren. Die Gesamtheit an Eigenschaften, die über die Aneinderreihung einzelner Sprachlaute hinausgeht, ist die Prosodie (prosodie) (wörtl. 'Hinzugesungenes'). Dazu gehören Wort- und Satzakzent, Intonation, Rhythmus und Sprechtempo. Das Hervorheben einer Silbe im Wort nennt man Akzent (klemtoon), der in einer IPA-Transkription mit dem Symbol ' wiedergegeben wird, wie z.B. in [ mstər'd m]. Im Vergleich zu anderen Sprachen, wie z.B. dem Französischen, wo der Akzent immer auf der letzten Silbe liegt, sind die Regeln für den niederländischen Wortakzent ziemlich komplex. Silben mit einem Schwa sind allerdings immer unbetont, auch 6 Das Merkmal Vokallänge ist nicht nur ein quantitatives Merkmal, es steht auch in Zusammenhang mit der Vokalqualität (d.h. mit dem Artikualtionsort, dem Öffnungsgrad und der Lippenrundung). <?page no="135"?> 6.3 Phonetik und Phonologie 135 wenn sie in einsilbigen Wörtern wie de oder het vorkommen. Der Akzent kann bei Homographen (homografen), das sind Wörter, die gleich geschrieben, aber unterschiedlich ausgesprochen werden, die Bedeutung unterscheiden. Das Wort doorlopen kann als 'doorlopen oder als door'lopen ausgesprochen werden. Im ersten Fall ist die Bedeutung 'weiterlaufen', wie in je moet wel even doorlopen, im zweiten Fall ist die Bedeutung 'durchlaufen', wie in een procedure doorlopen. Phrasen oder Sätze werden normalerweise nicht monoton gesprochen, sondern als Verlauf von höheren und tieferen Tönen, der Satzmelodie. Die Tonhöhe (toonhoogte) oder Intonation (intonatie) kann u.a. verschiedene Satztypen markieren, wie Aussage-, Frage- und Ausrufesätze. Die Intonation im Aussagesatz ist am Satzende fallend, wie in Ze gaat naar huis. Bei einem Fragesatz wie Ze gaat naar huis? steigt der Tonverlauf am Satzende, wie auch bei einem Exklamativsatz, in letzterem Fall allerdings oft kombiniert mit einem stärkeren Akzent, wie in Ze gaat naar huis! Das letzte Beispiel zeigt, dass man durch Prosodie nicht nur Bedeutungen unterscheiden und Informationen strukturieren, sondern auch die Emotionen oder die Attitüde eines Sprechers ausdrücken kann. 6.3 Phonetik und Phonologie Die exakte Beschreibung der menschlichen Sprachlaute ist die Aufgabe der Phonetik. Die Phonologie (fonologie) hingegen beschäftigt sich mit der Inventarisierung einzelsprachlicher Systeme. Jeder Sprecher hat intuitives Wissen über die Lautsystematik seiner Muttersprache. So weiß der Deutsche beispielsweise, dass der Konsonant in den Wörtern ich und ach an unterschiedlichen Orten realisiert wird. Ich endet auf einen palatalen Frikativ, ach auf einen uvularen. 7 Dass diese Verteilung einer Systematik unterliegt, ist den meisten nicht bewusst. Der Vokal [ ] wird vorne im Mund gebildet, genauso wie der palatale Frikativ, der Vokal [ ] wird hinten im Mund gebildet, genauso wie der uvulare Frikativ. Auch weiß der Sprachbenutzer, ohne es bewusst gelernt zu haben, dass nicht jeder Sprachlaut in jeder Position vorkommen kann. Es gibt z.B. keine niederländischen Wörter wie ngaar oder ngoeder, der Laut [ŋ] kann im Niederländischen nur im Inlaut (zingen) oder im Auslaut (zing) vorkommen. Wörter mit einem [ŋ] im Anlaut kommen im niederländischen Lautsystem nicht vor. Das Phonem (foneem) ist die kleinste Einheit innerhalb eines Lautsystems. Phoneme sind bedeutungsunterscheidend. Been und peen sind offensichtlich zwei verschiedene Dinge, das erste ist ein Bein und das zweite eine Möhre. Der Unterschied liegt in den Anlauten der beiden Wörter: [b] und [p] sind zwei verschiedene Laute, die den einzigen Unterschied zwischen den beiden Wörtern ausmachen. Sie sind zwei Phoneme des Niederländischen. Doch nicht alle Laute sind bedeutungsunter- 7 Der ach-Laut wird in der Fachliteratur auch als velarer Frikativ, mit dem IPA-Symbol [x], kategorisiert. <?page no="136"?> 6. Laute und ihre Systeme 136 scheidend: Person A spricht das Wort roltrap mit einem [r] aus, Person B hingegen mit einem [ ]. Trotzdem verweisen beide Sprecher auf eine Rolltreppe. Die Laute [r] und [ ] sind nicht bedeungsunterscheidend und haben keinen Phonemstatus. Realisationen von Sprachlauten werden als Phone (foon) bezeichnet und werden in eckigen Klammern notiert. Sobald es um bedeutungsunterscheidende Phoneme geht, schreiben wir sie zwischen Schrägstrichen: die Phoneme / b/ und / p/ wie bei den Beispielen been und peen oder das Phonem / r/ , das als Sprachlaut [ ] oder [r] realisiert werden kann. Um zu entscheiden, ob ein Laut Phonemstatus hat oder nicht, bilden wir Minimalpaare (minimale paren). Dafür suchen wir zwei unterschiedliche Wörter, die sich lediglich in einem Laut 8 unterscheiden: been [ben] peen [pen] veder [fedər] veter [fetər] maag [maχ] maar [mar] Die Beispiele zeigen, dass das bedeutungsunterscheidende Element im Anlaut (been - peen), im Inlaut (veder - veter) und im Auslaut (maag - maar) vorkommen kann. Solange alle anderen Laute des Wortes übereinstimmen, handelt es sich um ein Minimalpaar. Da man anhand der beiden Laute [b] und [p] im Niederländischen Wortbedeutungen unterscheiden kann, haben sie eine konzeptionelle Natur und erreichen damit Phonemstatus. Jeder Laut, für den ein Minimalpaar innerhalb einer Sprache gefunden werden kann, hat also nicht nur eine phonetische Qualität, sondern bildet auch eine abstrakte Einheit innerhalb eines lautlichen Systems. Was genau unterscheidet nun eigentlich been und peen? Beide Anlaute sind bilabiale Plosive, sie unterscheiden sich aber darin, dass / b/ stimmhaft ist und / p/ stimmlos. In der Stimmhaftigkeit liegt das distinktive Merkmal (distinctief kenmerk) der Phoneme / b/ und / p/ : been + bilabial peen + bilabial + plosiv + plosiv + stimmhaft - stimmhaft Das gleiche Verfahren wird angewendet, wenn wir den Phonemstatus von Vokalen überprüfen wollen. Die beiden Wörter muur und mier bilden auch ein Minimalpaar. Sie unterscheiden sich nur an einer einzigen Stelle: im Inlaut / y/ und / i/ . Da es sich einmal um das Wort für Mauer und einmal für Ameise handelt, sind diese Vokale bedeutungsunterscheidend und haben deshalb Phonemstatus: muur + vorne mier + vorne + hoch + hoch + gerundet - gerundet 8 Genau genommen unterscheiden Minimalpaare sich nur in einer distinktiven Eigenschaft. Diese strikte Unterscheidung wird allerdings nicht immer durchgeführt. <?page no="137"?> 6.3 Phonetik und Phonologie 137 Das distinktive Merkmal beim Minimalpaar muur - mier ist die Lippenrundung: / y/ wird mit Lippenrundung produziert, / i/ ohne Lippenrundung. Die kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten in einem Lautsystem heißen Phoneme. Ein Phonem lässt sich in kleinere Merkmale, die distinktiven Merkmale, aufteilen. Ein distinktives Merkmal ist phonologisch, wenn es innerhalb einer Sprache eine bedeutungsunterscheidende Funktion hat. Phoneme lassen sich anhand eines Bündels distinktiver Merkmale beschreiben. Diese Merkmale sind in der Regel binär, d.h. sie haben entweder den Wert (+) oder (-), und sie werden in eckigen Klammern notiert, z.B. [+ stimmhaft] oder [- stimmhaft]. Das Phonem / t/ können wir mit den Merkmalen [+ alveolar] [+ plosiv] und [- stimmhaft] beschreiben. In einigen Fällen hat ein distinktives Merkmal mehr als zwei Werte, wie z.B. der Öffnungsgrad bei Vokalen, den wir mit den Werten hoch - mittel - tief beschreiben. Die Wiedergabe des Öffnungsgrades lässt sich mittels der beiden Merkmale [± hoch] und [± tief] darstellen: hohe Vokale als [+ hoch, - tief], mittlere Vokale als [- hoch, - tief] und tiefe Vokale als [- hoch, + tief]. Phonologie ist die Wissenschaft, die sich mit der präzisen Beschreibung der Merkmale, die einen Laut von einem anderen unterscheiden, befasst. Ein Phonem ist eine abstrakte Einheit, die aus distinktiven Merkmalen besteht. Die Unterschiede zwischen Phonetik und Phonologie lassen sich wie folgt zusammenfassen: Phonetik Phonologie Ziel Beschreibung aller möglichen Sprachlaute Beschreibung des Sprachlautsystems innerhalb einer Sprache Konzept des Lautes konkrete und messbare Einheit abstrakte Einheit mit bedeutungsunterscheidenden Merkmalen Einheit Phon [b] Phonem / b/ Methode Messungen mit Geräten ohne Bedeutungsaspekte Kategorisierung von Strukturen mit Bedeutungsaspekten Tab. 6.4: Phonetik und Phonologie Nicht nur Phoneme, sondern auch suprasegmentale Elemente wie Akzent oder Intonation, können bedeutungsunterscheidend sein, wie z.B. im bereits erwähnte Beispiel 'doorlopen und door'lopen oder im Wortpaar 'ondergaan und onder'gaan. Die <?page no="138"?> 6. Laute und ihre Systeme 138 Bedeutung von 'ondergaan ist 'untergehen', wie im Satz de zon gaat onder, und die von onder'gaan ist 'sich unterziehen', wie in een operatie ondergaan. Ein berühmtes Beispiel ist der Bedeutungsunterschied zwischen ['kan n] und [ka'n n]: Im ersten Fall handelt es sich um ein Lied oder einen Bildungskanon, im zweiten Fall um eine Kanone. Auch Intonation kann bedeutungsunterscheidend sein, wirklich mit einem steigenden Ton drückt eine Frage aus, wirklich mit einem fallenden Ton jedoch eine Bestätigung oder Ironie. 6.4 Variation in der Aussprache: Allophone Die konkrete Realisierung eines Phonems nennt man Phon. Es ist allerdings nicht so, dass es immer genau nur eine konkrete Aussprachemöglichkeit gibt. In einigen Fällen kann die Realisierung eines Phonems in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich ausfallen. Im Deutschen wird der palatale Frikativ - wie wir bereits gesehen haben - nach [i], [e], [y] und Konsonanten palatal als [ç] ausgesprochen, nach [a], [o] und [u] uvular als [χ]. Diese Verteilung ist zwar bindend, hat aber keine bedeutungsunterscheidende Funktion. Es gibt im Deutschen keine Minimalpaare für [ç] und [χ]. Die unterschiedlichen Realisierungen eines Phonems nennt man Allophone (allofonen). Allophonie wird durch verschiedene Faktoren ausgelöst: • Individuelle Faktoren: Sogar der einzelne Sprecher artikuliert einen Laut immer anders, es gelingt einem Sprecher z.B. nicht, ein [e] immer identisch auszusprechen. • Regionale Faktoren: Die geografische Region kann die Variation in der Realisierung eines Phonems beeinflussen. Ein bekannter Unterschied ist die Aussprache des 'harten g' im Norden, das uvulare [χ], und des 'weichen g' im Süden, das velare [ ] und die stimmlose Realisierung [x]. Ein Sprecher aus den Niederlanden artikuliert z.B. zee oder zo oft als zeej oder zoow, ein Sprecher aus Flandern wird die beiden Vokale als einfaches [e] bzw. [o] aussprechen. Auch das Phonem / r/ zeigt regionale Unterschiede, denn in der Provinz Seeland, im Nordosten der Niederlande sowie in Flandern kommt die Realisierung vorzugsweise als Zungenspitzen-[r] vor, in den anderen Teilen der Niederlande ist das Zäpfchen-[ ] weiter verbreitet. • Soziale Faktoren: Faktoren wie Alter oder Bildung können die Realisierung eines Phonems beeinflussen, was sich z.B. an der offeneren Aussprache des Diphthongs [εi] in den Niederlanden zeigt: Personen mit einem höheren Bildungsstand tendieren dazu, das [εi] als [ai] auszusprechen, wij zijn blij hört sich dann etwa wie waai zaain blaai an. • Die Lautumgebung: Die Artikulation eines Lautes wird immer von der unmittelbaren Umgebung beeinflusst. Wenn wir [k t] und [k t] einige Male hintereinander sprechen, spüren wir im Mundraum, dass der velare Plosiv / k/ unter- <?page no="139"?> 6.5 Phonologische Prozesse 139 schiedlich produziert wird. Das [k] in kit wird palatal ausgesprochen, das [k] in kat velar. Für Allophone lassen sich grundsätzlich keine Minimalpaare finden, so kann der uvulare Frikativ im Deutschen nie auf einen vorderen Vokal folgen, der palatale Frikativ nie auf einem hinteren. Wenn zwei Laute ausschließlich in unterschiedlichen Umgebungen vorkommen können, stehen sie in komplementärer Distribution (complementaire distributie) (vgl. auch Kap. 4.2.1). Komplementäre Distribution ist zu vergleichen mit der mythologischen Gestalt des Werwolfs. Bei Vollmond verwandelt sich der Mensch in einen Werwolf, sobald die Vollmondphase vorbei ist, verwandelt der Werwolf sich zurück in einen Menschen. Die Verwandlung in einen Werwolf außerhalb der Vollmondphase ist ausgeschlossen, ebenso wie das Ausbleiben der Verwandlung bei Vollmond. Mensch und Werwolf sind in komplementärer Distribution, die Mondphase ist die bedingende Umgebung. Ebenso funktioniert komplementäre Distribution bei zwei Allophonen: Nur in einer Lautumgebung mit hinterem Vokal kann der uvulare Frikativ [χ] vorkommen, während nach allen anderen Lauten der palatale Frikativ [ç] auftritt. Die Laute [χ] und [ç] kommen somit nie in derselben Lautumgebung vor. Auch im Niederländischen gibt es Allophone in komplementärer Distribution, allerdings sind sie nicht ganz so anschaulich wie die deutschen Frikative. In Teilen der Niederlande wird das Phonem / r/ nach einem Vokal im Silbenauslaut 'geknödelt' ausgesprochen, so ähnlich wie ein Amerikanisches / r/ . Der Luftstrom wird bei dieser Variante nicht unterbrochen. Dieser alveolare Approximant, in der IPA- Notation mit dem Symbol [ ] wiedergegeben, ist im Volksmund bekannt unter der Bezeichnung 'Gooise r' und kommt ausschließlich nach Vokalen vor: maar [ma ] beter ['betə ] kers [kε s] aardig ['a dəχ] Im Anlaut kann das [ ] nicht vorkommen, in der Regel wird dann ein [ ] ausgesprochen. Allophone, die nur in einer bestimmten Lautumgebung vorkommen können, nennt man kombinatorische Allophone (combinatorische allofonen). Der alveolare Approximant [ ] ist abhängig von seiner Lautumgebung und kann nur postvokalisch realisiert werden. Die Allophone [r] und [ ] dagegen können in jeder Position vorkommen: Sie sind unabhängig von der Lautumgebung, d. h dass ein r-Laut sowohl im Anlaut (rood) als auch im In- und Auslaut (aardig und maar) als [r] oder [ ] ausgesprochen werden kann. Diese Art Variation wird freie Variation (vrije variatie) genannt. 6.5 Phonologische Prozesse Bisher haben wir uns hauptsächlich mit der Beschreibung einzelner Laute beschäftigt. Bei der Aussprache von Wörtern und Sätzen passiert es allerdings eher selten, <?page no="140"?> 6. Laute und ihre Systeme 140 dass Laute und prosodische Merkmale einzeln artikuliert werden. Sie werden vielmehr aneinandergereiht ausgesprochen. Um die Artikulation zu erleichtern, passen sich die einzelnen Laute einander an, sie ändern sich oder werden manchmal gar nicht ausgesprochen, wie in den bereits genannten Beispielen kooputook, kweenie und tuulik. Diese Veränderungen und Anpassungen der Laute werden phonologische Prozesse (fonologische processen) genannt. Obwohl der Sprachbenutzer sich dieser oft nicht bewusst ist, treten phonologische Prozesse innerhalb einer Sprache systematisch auf. Aufgabe der Phonologie ist es, diese Prozesse zu erkennen und ihre Regelmäßigkeit zu beschreiben. Die Ergebnisse werden als phonologische Regeln notiert, die sich an einem Basismuster A B / X_Y orientieren. A B / X_Y A Eingabe: Bündel von Merkmalen und deren Werte wird zu B Ausgabe: Bündel von Merkmalen und deren Werte / im Kontext X_Y die Position des veränderten Elementes, nach X bzw. vor Y # Wortgrenze Für die Verteilung der deutschen ich- und ach-Laute kann die phonologische Regel so beschrieben werden: / ç/ wird zu [χ], wenn es auf einen hinteren Vokal folgt. Auf das Basismuster übertragen kann die Regel dann so aussehen: / ç/ [χ] / [+ hintere Vokale]_ Die Verteilung für das sogenannte Gooise r kann wie folgt umschrieben werden: / r/ wird im Silbenauslaut zu [ ]. Als phonologische Regel kann die Verteilung so repräsentiert werden: / r/ [ ] / [- Konsonant]_ Phonologische Regeln stellen eine abstrakte Wiedergabe phonologischer Prozesse dar, die insbesondere für Muttersprachler meistens eine Selbstverständlichkeit sind und kaum wahrgenommen werden. Diese Prozesse spielen auch eine bedeutende Rolle bei morphologischen Prozessen, weil das Zusammenfügen von Morphemen zu lautlichen Anpassungen führen kann. Ein Beispiel dafür sind die Allomorphe -je, -tje, -pje, -kje oder -etje des Diminutivs, die von ihrer lautlichen Umgebung bestimmt werden (vgl. Kap. 4.2.1). Die Beschreibungsebene zwischen Morphologie und Phonologie nennt man Morpho-Phonologie (morfofonologie) oder Morphonologie (morfonologie). Im Folgenden werden einige phonologische Prozesse, die im niederländischen Sprachgebrauch verbreitet sind, vorgestellt. <?page no="141"?> 6.5 Phonologische Prozesse 141 6.5.1 Auslautverhärtung Schauen Sie sich die folgenden Wortpaare im Niederländischen an: been [ben] krabben ['kr bə(n)] krab [kr p] peen [pen] krappe ['kr pə] krap [kr p] dak [d k] laden ['ladə(n)] laad [lat] tak [t k] laten ['latə(n)] laat [lat] Die Wortpaare been - peen, dak - tak, krabben - krappe sowie laden - laten zeigen, dass die Plosive / b/ und / p/ sowie / d/ und / t/ sich im An- und Inlaut bezüglich des Merkmals Stimmhaftigkeit unterscheiden. Bei den Wortpaaren krab - krap und laad - laat sehen wir, dass das Merkmal Stimmhaftigkeit im Auslaut nicht mehr anwesend ist: Sie werden als [kr p] und [lat] ausgesprochen (die unterschiedliche Rechtschreibung ist schließlich kein Kriterium für die Aussprache). Stimmhafte Plosive werden im Auslaut stimmlos artikuliert und dieser Prozess ist als Auslautverhärtung (finale stemverscherping) bekannt. Das Phänomen der Auslautverhärtung ist sprachspezifisch: Sie kommt z.B. im Niederländischen und Deutschen 9 vor, jedoch nicht im Englischen. Die Phoneme / b/ und / d/ in den Wörtern crab und bed werden auch im Auslaut als [b] und [d] ausgesprochen, weshalb englische Minimalpaare wie crab - crap und bed - bet existieren. Niederländische und deutsche Minimalpaare mit / b/ und / d/ im Auslaut gibt es nicht. Nicht nur die Plosive / b/ und / d/ werden am Wortende stimmlos ausgesprochen, sondern auch die stimmhaften Frikative / v/ , / z/ und / / . Die Verstimmlosung (verstemlozing) der ersten zwei Laute findet sich in der niederländischen Rechtschreibregel des f/ v- und s/ z-Wechsels wieder. Diese Regel besagt, dass ein Wort nie auf ein <v> oder <z> endet, stattdessen schreiben wir ein <f> oder <s>, wie z.B. in leven - ik leef, brieven - brief, kazen - kaas und serieuze - serieus. im Inlaut im Auslaut Prozess bedden ['bεdə(n)] Bed [bεt] / d/ [t] krabben ['kr bə(n)] Krab [kr p] / b/ [p] huizen ['hœyzə(n)] Huis [hœys] / z/ [s] brave ['bravə] Braaf [braf] / v/ [f] drogen ['dro ə(n)] Droog [droχ] 10 / / [χ] Tab. 6.5: Konsonanten mit Verstimmlosung im Auslaut Für die Auslautverhärtung kann die phonologische Regel so umschrieben werden: Stimmhafte Plosive und Frikative (oder zusammen: Obstruenten, Nicht-Sono- 9 Im Deutschen wird auch der Plosiv / / im Auslaut stimmlos, Betrug [bətruk], in niederländischen Wörtern kommt / / im Auslaut nicht vor. 10 In diesem Beispiel ändert sich auch der Ort der Artikulation, velares [ ] uvulares [χ]. <?page no="142"?> 6. Laute und ihre Systeme 142 ranten) werden zu stimmlosen Obstruenten, wenn sie am Wortende stehen. Mit der Bezeichnung nicht-sonorant kann man nicht nur die Verstimmlosung von / d/ zu [t] und / b/ zu [p] umschreiben, sondern auch die von / z/ zu [s] (huizen -huis), / v/ zu [f] (brave - braaf) und / / zu [χ] (drogen - droog). In der Kurznotation kann man die phonologische Regel wie folgt notieren (das Symbol # markiert die Wortgrenze): [- son, + stem] [- stem] / _# Aufgrund der Auslautverhärtung endet das Partizip Perfekt der schwachen Verben in der Aussprache immer auf [t]. Geschrieben wird der Laut allerdings entweder mit <d> (gespeeld, gewoond etc.) oder <t> (gewerkt, gesport etc.). Um sich die korrekte Rechtschreibung besser merken zu können, wird oft die Eselsbrücke 't kofschip angewandt: Endet der Stamm auf einen der Konsonanten in 't kofschip, dann schreiben wir das Partizip Perfekt mit einem <t>, in allen anderen Fällen mit einem <d>. Die zugrundeliegende Idee der Eselsbrücke ist also, dass alle Konsonanten in 't kofschip stimmlos sind, weshalb man sie mit dem stimmlosen t kombiniert. Die übrigen Konsonanten sind stimmhaft und werden mit dem stimmhaften d kombiniert. Für die Verben mit einem f/ v- und s/ z-Wechsel ist diese Rechtschreibregel allerdings ein wenig irreführend, da die ich-Form, die Basis für die Bildung des Partizip Perfekts, auf <f> (ik leef) bzw. <s> (ik reis) endet. Es ist aber nicht die ich-Form, auf die 't kofschip angewandt wird, sondern der Stamm des Verbs. Der Stamm dieser Verben endet auf ein stimmhaftes v bzw. z, wie z.B. [lev] bei leven und [rεiz] bei reizen, weshalb das Partizip Perfekt mit einem d gebildet wird, während die Rechtschreibung des Obstruenten sich weiterhin nach der ich-Form richtet: ik leef wird demnach zu ik heb geleefd und ik reis wird zu ik heb gereisd. Die Bildung der einfachen Vergangenheit (mit dem Suffix -de oder -te) ist für niederländische Muttersprachler einfacher, weil die Aussprache hier Hilfe leistet: ['speldə] (speelde), ['wondə] (woonde),['wεrktə] (werkte) und ['sp rtə] (sportte) sowie ['levdə] (leefde) und [rεizdə] (reisde). Die Laute [d] und [t] sind bei diesen Verbformen gut zu unterscheiden, weil man beim Sprechen dazu neigt, die aufeinanderfolgenden Laute hinsichtlich ihrer Merkmale anzugleichen. 6.5.2 Assimilation Wenn wir beim Sprechen Laute produzieren, gehen sie oft fließend ineinander über. Benachbarte Laute beeinflussen sich dabei gegenseitig und passen sich aneinander an, indem die Sprechorgane sich auf den nächsten zu produzierenden Laut vorbereiten. Wenn wir die drei Wörter koek - keek - kaak aussprechen, spüren wir, dass der Anfangslaut [k] in koek und kaak eher velar produziert wird, und in keek eher palatal. Umgekehrt kann auch der vorangehende Laut auf den nächsten einwirken, wie z.B. bei der Verteilung des ich- und ach-Lautes. Der Prozess der gegenseitigen Beeinflussung heißt Koartikulation (coarticulatie). Koartikulation ist allophonischer Natur, <?page no="143"?> 6.5 Phonologische Prozesse 143 denn die Veränderungen führen nicht zu bedeutungsunterscheidenden Merkmalen. Es sind übrigens besonders die Vokale, die auf ihre direkte Umgebung Einfluss ausüben. Die Annäherung kann so stark sein, dass ein Wechsel in einem distinktiven Merkmal eintritt. Im Niederländischen wird z.B. der alveolare Nasal [n] vor einem bilabialen Laut grundsätzlich zu [m]: renbaan wird als ['rεmban], aanpakken als ['amp kə(n)] und inmaakglas als [' makχl s] ausgesprochen. Das distinktive Merkmal, das sich anpasst, ist in diesen Fällen der Artikulationsort: Das alveolare / n/ wird zum bilabialen [m]. Assimilation (assimilatie) ist demnach die Angleichung hinsichtlich eines distinktiven Merkmals. Der Assimilationsprozess kann anhand von drei Kriterien eingeteilt werden: • Die Richtung des Assimilationsprozesses: Die Angleichung tritt beim folgenden oder vorangehenden Laut ein. • Der Abstand zwischen den sich angleichenden Lauten: Der Einfluss wirkt auf den direkt benachbarten Laut oder auf einen früheren bzw. späteren Laut ein. • Das distinktive Merkmal, das sich angleicht: der Artikulationsort oder die Stimmhaftigkeit. Die Wirkung von Assimilationsprozessen ist immer einseitig: Sie kann nach vorne bzw. progressiv (progressief, perseverend oder links-naar-rechts) wirken, wobei ein Laut auf den unmittelbar folgenden Laut in der Lautreihe Einfluss nimmt. Wirkt der Einfluss auf den vorangehenden Laut, ist die Assimilation regressiv (regressief, anticiperend oder rechts-naar-links). progressiv regressiv opvangen p f [' pf ŋə(n)] onpraktisch m p [ m'pr ktis] afzien f s [' fsin] leefbaar v b ['levbar] Tab. 6.6: Progressive und regressive Assimilation Das zweite Kriterium ist der Abstand zwischen den sich angleichenden Lauten. Im Niederländischen tritt Assimilation generell bei direkt benachbarten Lauten auf, man spricht dabei von Kontaktassimilation (contactassimilatie), wie die Beispiele opvangen, afzien, onpraktisch und leefbaar zeigen. Eher selten kommt es zu Fernassimilation (assimilatie op afstand), bei der eine Angleichung über mehr als einen Lautabstand stattfindet. Im Niederländischen gibt es keine eindeutigen Beispiele für Fernassimilation. Ein Beispiel, das in der Standardsprache nicht konventionell ist, ist die Aussprache von sergant als [ εr ant], in dem der postalveolare Frikativ [ ] dafür sorgt, dass der erste Konsonant weiter hinten ausgesprochen wird, d.h. / s/ wird zu / / . <?page no="144"?> 6. Laute und ihre Systeme 144 Das dritte Kriterium betrifft die Merkmale, die sich angleichen. In den meisten Assimilationsvorgängen handelt es sich um Anpassungen des Artikulationsortes oder der Stimmhaftigkeit. So assimiliert der Artikulationsort des alveolaren Phonems / n/ vor einem bilabialen Laut zu einem [m]. Diesen Assimilationsvorgang nennt man auch Nasal-Assimilation (n-assimilatie/ nasaalaanpassing): aanpassen ['amp sə(n)] beenbreuk ['bembrøk] onmiddellijk [ 'm dələk] Die Nasal-Assimilation ist im Niederländischen weiter verbreitet als im Deutschen, wo dieses Phänomen in der Standardsprache nicht vorkommt. Nichtstandardsprachlich kann im Deutschen die Nasal-Assimilation am Wortende auftreten, Senf z.B. wird dann als [semf] und haben als ['habm] ausgesprochen. Bei Stimmassimilation (stemassimilatie) handelt es sich um die Angleichung des Merkmals Stimmhaftigkeit. Stimmhafte Frikative werden nach einem stimmlosen Obstruenten stimmlos artikuliert: opvangen [' pf ŋən] und afzien [' fsin]. Hierbei ist die Wirkung immer progressiv. Umgekehrt werden stimmlose Obstruenten vor stimmhaften Plosiven stimmhaft: leefbaar ['levbar] und potdicht [p 'd χt]. In diesen Vorgängen ist die Wirkung immer regressiv. Der Assimilationsprozess in den Beispielen [p 'd χt] (potdicht) und [ 'm dələk] (onmiddellijk) hat dazu geführt, dass die benachbarten Laute identisch geworden sind und als ein Laut ausgesprochen werden. Dieser Prozess ist bekannt als Degemination (degeminatie). 6.5.3 Weitere phonologische Prozesse Außer Auslautverhärtung und Assimilation treten weitere phonologische Regularitäten im Niederländischen auf. Exemplarisch sollen hier die folgenden Prozesse vorgestellt werden: • t-Deletion (t-deletie): Das / t/ kann wegfallen, wenn es zwischen Obstruenten steht, wie z.B. bei den Wörtern kerstkrans, krachtpatser und postzak: ['kεrskr ns], ['kr χp tsər] und ['p s k]. Auch in Verkleinerungsformen wird das [t] nach stimmlosen Obstruenten weggelassen, wie in nachtje ['n χjə], bruiloftje ['brœyl fjə] und feestje ['fe jə]. Das Beispiel postzak zeigt darüberhinaus, dass t-Deletion gelegentlich zu Stimmassimilation (/ z/ [s]) und Degemination führen kann. • Schwa-Epenthese oder 'Sprossvokal' (sjwa-insertie oder svarabhaktivocaal): Nach bestimmten Konsonantenkombinationen kann ein Schwa eingefügt werden. Diese Einfügung ist nur möglich in Silben, die auf mindestens zwei Konsonanten enden, wobei der erste ein [l] oder [r] ist. Der darauf folgende Konsonant kann ebenfalls kein willkürlicher Konsonant sein, denn nur wenn ein / m/ , / p/ , / v/ , / f/ , / n/ , / χ/ oder / k/ folgt, kann ein Schwa eingefügt werden. Wörter <?page no="145"?> 6.6 Zusammenfassung 145 wie melk, kalf, herfst und erg werden dann als ['mεlək], ['k ləf], ['hεrəfst] und ['εrəχ] ausgesprochen. • Verstimmlosung der Frikative: In den Niederlanden werden die stimmhaften Frikative / v/ , / z/ und / / im Anlaut oft stimmlos artikuliert, wie z.B. [f s] statt [v s], [sef] statt [zef] und [χut] statt [ ut]. Das Verschwimmen des Merkmals Stimmhaftigkeit bei / s/ und / z/ sowie / f/ und / v/ hat zur Folge, dass es ein Durcheinander von stimmhaften und stimmlosen Aussprachen gibt, wie in Zwolle ['s lə], centraal [zεn'tral], feest [ves(t)] usw. Dieses Phänomen kommt auch im Inlaut vor, wie z.B. bei filosofie [vilozo'vi]. In Flandern ist die stimmhafte Aussprache für / v/ , / z/ und / / zwar noch der Standard, aber auch dort kommt mittlerweile eine stimmlose Aussprache der Frikative im Anlaut vor. • n-Deletion (n-deletie): Am Wortende kann ein / n/ nach einem Schwa wegfallen, wie bei opvangen [' pf ŋə] oder open ['opə]. Dieser Prozess unterliegt allerdings vielen Faktoren, wie z.B. Region, Situation und Lautumgebung. Im Deutschen kommt diese Aussprache nicht vor. • Vokalverlängerung (verlenging): Lange Vokale, die den Wortakzent tragen, werden vor einem r-Laut länger artikuliert: [be: r] (beer) und ['vi: rhuk] (vierhoek). Wann phonologische Prozesse auftreten, ist von vielen Faktoren abhängig: Nicht nur individuelle, regionale oder soziale Faktoren spielen eine Rolle, sondern auch die direkte Lautumgebung sowie die Sprechsituation. Beim Diktieren eines Textes z.B. ist man eher geneigt, die Laute besonders deutlich zu artikulieren, während man sich in der Kneipe unter Freunden keine Gedanken darüber macht. Die phonologischen Prozesse vereinfachen die Artikulation der Laute, wodurch die Sprache natürlicher klingt. Für das Erlernen einer Sprache ist es also recht günstig, sich der phonologischen Prozesse bewusst zu sein. Die typisch niederländische Aussprache, so lässig wie in kooputook, kweenie und tuulik, zeichnet sich gerade durch die Umsetzung dieser phonologischen Prozesse aus. 6.6 Zusammenfassung Die genaue Beschreibung der menschlichen Sprachlaute ist die Aufgabe der Phonetik. Sie betrachtet Laute oder Phone als konkrete und messbare Einheiten. Um Laute so exakt wie möglich wiederzugeben, wurde das International Phonetic Alphabet (IPA) entwickelt. Das Lautsystem unterscheidet zwischen Konsonanten und Vokalen. Konsonanten werden anhand von drei Kriterien beschrieben: dem Artikulationsort (bilabial, labiodental, alveolar, postalveolar, palatal, velar, uvular und glottal), der Artikulationsweise (Plosive, Frikative, Nasale, Liquidae und Halbvokale) und der Stimmhaftigkeit (stimmhaft oder stimmlos). Auch die Vokale können <?page no="146"?> 6. Laute und ihre Systeme 146 anhand von drei Kriterien beschrieben werden: dem Artikulationsort (vorne - zentral - hinten), dem Öffnungsgrad (hoch - mittel - tief bzw. geschlossen - halbgeschlossen - halboffen - offen) und der Lippenrundung (gerundet oder ungerundet). Neben den einzelnen Lauten spielt die Prosodie (Akzent, Intonation, Rhythmus und Sprechtempo) eine bedeutende Rolle bei der Sprachproduktion. Die Phonologie beschäftigt sich mit der Inventarisierung einzelner Lautsysteme und untersucht, wie Laute zu unterschiedlichen Bedeutungen führen können und wie sie sich ihrem phonologischen Kontext anpassen. Untersuchungsgegenstand ist das Phonem, eine abstrakte Einheit, die sich in distinktive bzw. bedeutungsunterscheidende Merkmale aufteilen lässt. Um zu bestimmen, ob ein Merkmal distinktiv ist, bildet man Minimalpaare. Aufgrund individueller, regionaler und sozialer Faktoren sowie der Lautumgebung tritt Variation in der Lautproduktion auf. Die unterschiedlichen Realisierungen eines Phonems werden Allophone genannt. Wenn zwei Laute ausschließlich in jeweils unterschiedlichen Umgebungen vorkommen können, stehen sie in komplementärer Distribution. Allophone können als freie Varianten frei austauschbar sein oder als kombinatorische Varianten nur in einer bestimmten Lautumgebung vorkommen. Beim Sprechen werden Laute nicht einzeln artikuliert, sondern sie passen sich aneinander an, damit die Sprachproduktion einfacher und natürlicher verläuft. Diese phonologischen Prozesse vollziehen sich nicht willkürlich, sondern folgen einer bestimmten Systematik. Sie sind sprachspezifisch und lassen sich mittels phonologischer Regeln beschreiben. Im Niederländischen kommen die phonologischen Prozesse Auslautverhärtung, Koartikulation, Assimilation, t-Deletion, Schwa- Epenthese, n-Deletion und Vokalverlängerung vor / r/ häufig vor. Aufgaben Aufgaben 1. Lesen Sie den folgenden Ausschnitt aus dem Stern (Ausg. 26, 19.06.2008). Welches phonetische Merkmal bringt die Autorin dazu, die niederländische Sprache als "das kehlig zischende und würgende Idiom" zu beschreiben, das "gekeucht und gehustet" wird? Des Weiteren wird die Niedlichkeit des Niederländers zunichte gemacht durch das Niederländische. Insgesamt hat das kehlig zischende und würgende Idiom einen klompigen Charakter, der insbesondere beim Singen des lokalen Liedguts mit Titeln wie "Weet je nog wel, die avond in de regen" auf geradezu katastrophale Weise zum Ausdruck kommt. Es überrascht nicht, dass diese gewöhnungsbedürftige Sprache kein Exportschlager ist und außerhalb der Niederlande und ihrer ehemaligen Kolonien nur in Flandern (Flämisch) und Südafrika (Afrikaans) gekeucht und gehustet wird. <?page no="147"?> Aufgaben 147 2. Kooij & Van Oostendorp (2003: 202) behaupten Folgendes: "taal is natuur, schrift is cultuur". Was meinen sie damit? 3. Welche Konsonanten werden im Folgenden beschrieben? 1. bilabial, stimmlos, plosiv 2. velar, stimmhaft, nasal 3. labiodental, stimmhaft, frikativ 4. velar, stimmhaft, frikativ 5. alveolar, stimmlos, plosiv 6. labiodental, stimmlos, frikativ 7. palatal, stimmhaft, nasal 8. alveolar, stimmhaft, lateral 4. a. Welches Merkmal haben / o/ , / i/ , / b/ , / z/ , / d/ , / m/ und / n/ gemeinsam? b. Und welches / / , / / , / / , / / ? 5. Schauen Sie sich das Wortpaar dt. agrarisch und nl. agrarisch an. Welche Unterschiede in der Aussprache gibt es? Der Unterschied wird jeweils von einem phonetischen Merkmal bewirkt. Bestimmen Sie für diese Laute das phonetische Merkmal. 6. In diesem Kapitel ist das [h] als stimmloser glottaler Frikativ klassifiziert. Schlagen Sie in verschiedenen Werken nach, wie das [h] dort beschrieben wird. Warum ist es so schwierig, das [h] zu klassifizieren? 7. Bestimmen Sie das distinktive Merkmal bei den folgenden Lautpaaren: 1. / d/ und / t/ 6. / f/ und / s/ 2. / m/ und / ŋ/ 7. / εi/ und / œy/ 3. / a/ und / 8. / j/ und / w/ 4. / v/ und / z/ 9. / i/ und / e/ 5. / k/ und / p/ 10. / d/ und / b/ 8. In der niederländischen Aussprache der Wörter staan en stoom ist ein beachtlicher Unterschied in der Realisierung des [s] vorhanden. Sie können das überprüfen, indem Sie die beiden Wörter hintereinander aussprechen und dabei auf die Bewegungen im Mund achten. a. Warum haben wir es hier, trotz dieses Unterschieds in der Aussprache, nicht mit einem distinktiven Merkmal zu tun? b. Die beiden Realisierungen des [s] in staan und stoom bezeichnen wir als 'breites s' (staan) und 'rundes s' (stoom). Ein Sprachwissenschaftler nimmt nun an, dass in Sprache X der Unterschied zwischen einem 'breiten' und 'runden s' ein phonologischer ist. Wie kann der Sprachwissenschaftler das nachweisen? <?page no="148"?> 6. Laute und ihre Systeme 148 9. Welche phonologischen Prozesse liegen hier vor? 1. [p k'sw rt] 3. ['v sb ndə] 2. [ mbə'w lkt] 4. [' fχər nt] 10. Vergleichen Sie das niederländische und deutsche Vokal- und Konsonantensystem. Welche phonemischen und allophonischen Unterschiede fallen auf? 11. Versuchen Sie, für den Assimilationsprozess in den folgenden Wörtern eine phonologische Regel aufzustellen: aanpassen, onbezet, bonbon und pinpas. Literatur zum Weiterlesen Eine ausführliche Einführung zur Phonetik auf Niederländisch bieten Rietveld & Van Heuven (2009) Algemene fonetiek sowie Kooij & Van Oostendorp (2003) Uitnodiging tot de klankleer van het Nederlands und Neijt (1991) Universele fonologie. Eine englischsprachige Beschreibung der niederländischen Lautlehre gibt Booij (1995) The phonology of Dutch. Der Leitfaden zum IPA ist das Handbook of the International Phonetic Association. A Guide to the Use of the International Phonetic Alphabet (1999). Empfehlenswert ist auch das deutschsprachige Werk von Ten Cate & Jordens (2008) Phonetik des Deutschen. Eine kontrastiv deutsch-niederländische Beschreibung für den Zweitspracherwerb. Zwar steht in diesem Werk die deutsche Lautlehre in Vordergrund, die niederländischen Laute werden aber vielfach zum Vergleich herangezogen. Im Uitspraakwoordenboek von Heemskerk & Zonneveld (2000) kann man die Aussprache niederländischer Wörter nachschlagen. <?page no="149"?> 7. Sprache im Kontext Ute K. Boonen Abb. 7.1: Eine typische Begrüßung im Ruhrgebiet Ein Nicht-Muttersprachler - aber auch ein Besucher aus Bayern oder Sachsen - würde eine Begrüßung wie in Abbildung 7.1 wohl nicht so formulieren, auch wenn ihm alle Vokabeln bekannt sind. Sprache besteht eben aus mehr als nur Wortschatz und Grammatik. Wenn man genug Vokabeln gelernt hat und die grammatischen Regeln kennt und anwenden kann, kann man noch lange nicht davon ausgehen, dass man die Sprache auch in allen Facetten und Nuancen beherrscht. Wer lernt schon im Deutschunterricht, dass eine Begrüßung im Ruhrgebiet so aussehen kann? Auch wenn keine konkreten Informationen ausgetauscht werden, handelt es sich bei diesem Wortwechsel ja durchaus um eine kommunikative Handlung, eine floskelhafte Eröffnung eines Gesprächs. Wie hier erkennbar wird, hat Sprache neben einer beschreibenden Funktion, mit der wir Ideen, Vorstellungen, Gedanken ausdrücken und Informationen austauschen können, auch eine interpersonale Funktion: Sie dient allgemein zur Kommunikation (communicatie), dazu Mitmenschen zu grüßen, Freude oder Missfallen auszudrücken usw. Mit Sprache sorgen wir für Kontakt und Interaktion zwischen Menschen. Der Bereich der Linguistik, der sich mit dieser funktionalen Seite der Sprache beschäftigt, wird als Pragmatik (pragmatiek) bezeichnet. Der Begriff kommt aus dem <?page no="150"?> 7. Sprache im Kontext 150 Griechischen: πρᾶγμα (pragma) bedeutet 'Handlung, Tat'. Die Pragmatik beschäftigt sich mit der Sprache im Gebrauch, mit Sprache in verschiedenen Gebrauchssituationen, mit Sprache als Kommunikationsmittel zwischen Gesprächspartnern und den Äußerungsabsichten von Sprachbenutzern, wobei die Kommunikation sowohl mündlich im Gespräch als auch schriftlich in verschiedensten Arten von Texten erfolgen kann. Die linguistische Pragmatik ist ein relativ junges Forschungsfeld. Zu den Begründern und wichtigsten Vertretern gehören der britische Philosoph John Langshaw Austin (1911-1960), der britische Sprachphilosoph Herbert Paul Grice (1913-1988) und der amerikanische Philosoph John Rogers Searle (*1932). Auf ihre Ideen gehen die Modelle zurück, die in den Unterkapiteln 7.3 bzw. 7.4 vorgestellt werden. 7.1 Das Kommunikationsmodell Die Pragmatik analysiert Sprache in den verschiedensten Kommunikationssituationen, zu denen immer ein Sprecher und ein Zuhörer gehören. In der Terminologie eines einfachen, aber sehr nützlichen und wichtigen Modells, dass der russische Sprachwissenschaftler Jakobson 1 aus der Nachrichtentechnik in die Linguistik eingeführt hat, werden die allgemeineren Bezeichnungen Sender (zender) und Empfänger (ontvanger) oder Adressat verwendet. communicatiemodel context zender bericht / boodschap ontvanger medium code Abb. 7.2: Kommunikationsmodell Der Sender sendet eine Botschaft (bericht/ boodschap), eine Nachricht innerhalb eines Kontextes (context), wozu u.a. persönliche, situative, aber auch politische und historische Verhältnisse und Ereignisse gehören. Zur Vermittlung benötigt der Sender einen Kanal, ein Kontaktmedium (medium). Darunter versteht man jede Art von physischer, technischer Übermittlung, z.B. elektrische Impulse, fernmeldetech- 1 Roman Jakobson (1896-1982) gilt als einer der Begründer der modernen Sprachwissenschaft und gehört zu den wichtigsten Vertretern der sog. Prager Schule (Strukturalismus); Forschungsschwerpunkt dieser Schule ist die Phonologie. <?page no="151"?> 7.1 Das Kommunikationsmodell 151 nische Apparaturen bei einem Telefonat, aber auch einen Brief, ein Gedicht etc. Für eine erfolgreiche Vermittlung der Botschaft müssen Sender und Empfänger den gleichen Kode (code) verwenden. Das bedeutet zunächst, dass sie das gleiche Sprachsystem (z.B. die niederländische Sprache) verwenden und verstehen müssen, aber auch, dass beiden Kommunikationspartnern klar ist, ob es sich um eine Nachrichtensendung, einen Cartoon oder ein Gedicht handelt, ob es sich um eine informative Aussage oder einen Witz handelt. Das Modell ist für jede Form von Kommunikation anwendbar, also nicht nur für gesprochene Sprache, sondern auch für geschriebene Sprache oder Gebärdensprache etc. Für eine gelungene Kommunikation ist es essentiell, dass Sender und Empfänger sich verstehen. Aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen und Bewertungen kann es jedoch zu kommunikativen Missverständnissen kommen, die im Extremfall zu echten Schwierigkeiten führen können. Es kommt gelegentlich sogar zu Klagen, meist gegen Künstler wie Literaten oder Kabarettisten, weil beispielsweise sarkastische Texte als 'echte' Beleidigung gewertet werden. Beleidigung ist prinzipiell ein strafbares Delikt. Steht aber fest, dass die Beleidigung im Genre des politischen Kabaretts ausgesprochen wurde, ist dies wohl erlaubt, da es sich um Satire handelt. Was passiert nun in Abbildung 7.3? Die Person links im Bild stellt eine Frage, die im Zusammenhang mit dem äußeren Erscheinungsbild seines Gegenübers steht: "Bist du Fakir? ". Die Person rechts antwortet mit "Nein ich komme nie hierher." Abb. 7.3: Misskommunikation Der Fakir hat die Frage seines Gegenübers nämlich nicht als ben je fakir, sondern als ben je vaak hier (bist du oft hier? ) aufgefasst. Beides klingt von einem Niederländer ausgesprochen mehr oder weniger gleich. Nur wer über ausreichende Nieder- <?page no="152"?> 7. Sprache im Kontext 152 ländischkenntnisse verfügt, kann diese Doppeldeutigkeit verstehen. Die Kommunikation zwischen dem Zeichner (Sender) und dem Leser (Adressat) funktioniert nur, wenn beide auch den gleichen Kode beherrschen, in diesem Fall die niederländische Sprache. Die beiden Figuren im Cartoon jedoch beherrschen beide die niederländische Sprache, verwenden den gleichen Kode, und dennoch geht etwas in ihrer Kommunikation schief. Wie kann es dazu kommen? Der Fakir interpretiert die Lautkette benjefakir im Kontext der Kneipe, als einem Ort, an dem häufiger ein Spruch wie "Kommst du öfter hierher? " als Einstiegsfrage verwendet wird, wenn man (oder frau) am Tresen steht und ein Bier trinkt. Seine Interpretation entspricht also durchaus dem situativen Kontext 'Kneipe'. Für den Fragenden ist aber das fremde, andersartige Aussehen des Fakirs der Ausgangspunkt für seine Frage. Der Ort des Gesprächs ist für ihn gar nicht relevant. Attribute wie Turban, Schlange, Nägel bilden für ihn den situativen Kontext. Für Kommunikation ist ein gemeinsamer Kode zwar die Voraussetzung, die gleiche Sprache zu sprechen reicht aber für eine gelungene Kommunikation noch lange nicht aus: Die richtige Interpretation der Botschaft, eingebettet in den situativen Kontext ist außerordentlich wichtig und mitentscheidend für das Gelingen der Verständigung. 7.2 Der Sender als Ausgangspunkt Nicht nur dem Empfänger einer Botschaft kommt eine wichtige Rolle zu, sondern auch dem Sender, der in hohem Maße die Bedeutung einer Botschaft bestimmt. Wie lässt sich beispielsweise die Botschaft Wij spreken daar morgen af interpretieren, wenn unklar ist, wer den Satz sagt? Ist es einem Außenstehenden möglich, aus diesem Satz zu schließen, wer sich wo, wann trifft? Die Begriffe wij, daar und morgen verweisen nicht auf einen kontextunabhängigen Referenten (vgl. Kap. 3), sondern können sich abhängig vom Sprecher und dem situativen Kontext auf verschiedene Referenten beziehen. Etwas anderes ist die Aussage in der Form: Jan de Vries en Kees Vermeulen spreken op 31 december 2013 op het Amstelveld af. Eine solche Aussage ist auch ohne den situativen Kontext eindeutig. Begriffe, deren Bedeutung kontextabhängig ist, und die vor allem auf etwas verweisen, werden als deiktische Begriffe bezeichnet. Das Wort deiktisch (ndl. deiktisch) geht auf das griech. δείκνυμι 'deiknumi - (an)zeigen, auf jem./ etw. zeigen' zurück. Die Pronomen ik/ wij beziehen sich auf den Sprecher, jij/ jullie auf den Empfänger, hij/ zij auf außenstehende Dritte. Neben dieser Personaldeixis (personele deixis) gibt es auch Temporaldeixis (temporele deixis). Das Wort morgen steht in einem Zusammenhang mit vandaag und gisteren, aber eine Wendung wie Morgen is vandaag <?page no="153"?> 7.3 Kooperationsprinzip 153 gisteren zeigt, dass die Bedeutung nur eine relative ist: vandaag deutet genau den Zeitpunkt an, an dem der Sprecher seine Botschaft äußert, gisteren bezieht sich auf einen Zeitpunkt vor der Äußerung, morgen auf einen Zeitpunkt danach; weitere Beispiele sind nu und dan. Genauso wenig konkret sind die Begriffe hier und daar. Bedeutung erhalten sie nur im situativen Kontext: hier ist in der Nähe des Sprechers, daar ist in einer Entfernung zum Sprecher; bei derartigen Begriffen spricht man von Lokaldeixis (ruimtelijke deixis). In literarischen Texten kann man mit der deiktischen Beziehung von Sender und Empfänger auch spielen, so wie es der Dichter Erik van Os in seinem Gedicht tut: Dag papegaai, zei de pinguïn. Dag papegaai, zei de papegaai. Nee, zei de pinguïn, jij moet dag pinguïn zeggen. Nee, zei de papegaai, jij moet dag pinguïn zeggen. Nee, zei de pinguïn, ík ben een pinguïn Nee, zei de papegaai, ík ben een pinguïn. Jíj bent een papegaai, zei de pinguïn Jíj bent een papegaai, zei de papegaai. Stomme papegaai, zei de pinguïn. Stomme pinguïn, zei de papegaai. Erik van Os (1994) 7.3 Kooperationsprinzip In der Regel wollen Gesprächspartner so miteinander kommunizieren, dass sie einander verstehen. Sender und Empfänger bemühen sich sicherzustellen, dass Bezüge zum Kontext eindeutig sind, dass Kontaktmedium und Kode für beide Seiten verständlich sind, so dass die Botschaft, die der Sender vermitteln will auch vom Empfänger korrekt verstanden wird. Beide Gesprächspartner sind dann kooperativ, wenn sich zum einen der Sender der Botschaft bemüht, deutlich und eindeutig sowie verständlich zu sein, und wenn zum anderen der Empfänger versucht, die Botschaft zu entschlüsseln und zu begreifen. Die Grundvoraussetzung für gelungene, erfolgreiche Kommunikation wird als Kooperationsprinzip (coöperatieprincipe) bezeichnet. Im Fakir-Beispiel wollen der junge Mann und der Fakir kooperativ sein, aufgrund unterschiedlicher Interpretationen gelingt die Kommunikation nicht. In Beispiel 1 verhält sich der antwortende Kommunikationspartner bewusst nicht kooperativ. <?page no="154"?> 7. Sprache im Kontext 154 1) Kunde: Kann ich bei Ihnen bezahlen? Verkäufer: Ich weiß nicht, ob Sie das können. Woran liegt dies? Der Kunde möchte wissen, ob es möglich ist, an dieser Kasse, bei diesem Verkäufer zu bezahlen. Der Verkäufer - dem diese Intention des Fragenden, des Senders, sicherlich klar ist - tut so, als ginge es um die Fähigkeit des Kunden, zahlen zu können. Dabei weiß der Kunde, ob er in der Lage ist zu zahlen oder nicht. Darauf ist seine Frage ja nicht gerichtet. Die Antwort des Verkäufers wirkt ironisch. Diese Ironie entsteht durch die bewusste Verletzung des Kooperationsprinzips. In Gespräch 2 möchte Arie nicht wissen, ob Bram in der Lage ist, die Uhr zu lesen oder ob er über ein bestimmtes Wissen tatsächlich verfügt. 2) Arie: Weißt Du, wie spät es ist? Bram: Ja. Die Frage ist vielmehr eine Bitte an Bram, Arie mitzuteilen, wie spät es ist. Dabei ist es natürlich notwendig, dass Bram über dieses Wissen tatsächlich verfügt. Arie fragt aber nicht "Weißt Du, wie spät es ist, und wenn ja, teile es mir bitte mit." Eine solche Frage wirkt seltsam. Wäre Bram kooperativ, könnte er antworten: "Ja, viertel nach drei." Die Antwort "Viertel nach drei" wäre - sogar ohne die explizite Antwort "Ja" - eine passende Antwort auf Aries Frage. 7.3.1 Erfolgreiche Kommunikation Nach dem Modell von Grice beachten bei erfolgreicher Kommunikation die Gesprächspartner vier Richtlinien: Bei diesen Konversationsmaximen (gespreksmaximes) handelt es sich um universelle Prinzipien, allgemeingültige Strategien zur Informationsübermittlung, die nicht sprachspezifisch für das Deutsche oder Niederländische sind, sondern für alle Sprachen gelten. Daher werden diese Maximen auch als pragmatische Universalien (pragmatische universalia) bezeichnet. Die Maxime der Qualität bezieht sich auf die Richtigkeit der geäußerten Information. Was ein Sprecher äußert, sollte wahr und richtig sein und es sollten Gründe oder Belege für die Aussage vorliegen. Nach der Maxime der Quantität gibt man soviel Information wie nötig, aber so wenig wie möglich. Die Maxime der Relation oder der Relevanz besagt, dass die Äußerung relevant, passend und zur Sache sein soll. Aufgrund der Maxime der Art und Weise oder der Modalität sollen alle Äußerungen eindeutig, klar und unmissverständlich sowie strukturiert und in der richtigen Reihenfolge dargestellt werden. Mit dem Modell sollen keine praktischen Ratschläge für Kommunikation gegeben werden, das Modell soll vielmehr dabei helfen, Kommunikation objektiv zu beschreiben. Nicht in allen kommunikativen Situationen werden diese Maximen tatsächlich angewandt und beachtet; häufig werden sie bewusst und gezielt missachtet, manchmal aber auch unbewusst verletzt. <?page no="155"?> 7.3 Kooperationsprinzip 155 Maxime der Qualität maxime van kwaliteit Maxime der Quantität maxime van kwantiteit Maxime der Relation maxime van relatie Maxime der Art und Weise maxime van wijze Betrachten wir noch einmal Beispiel 1. Der Verkäufer beantwortet die Frage bewusst 'falsch'. Die Antwort ist nicht relevant, weil sie nicht zur intendierten Frage passt. Der Bezug von können auf 'die Fähigkeit besitzen' ist in diesem situativen Kontext nicht passend. In Beispiel 2 ist die Antwort von Bram quantitativ nicht ausreichend: Arie fragt implizit nach der Uhrzeit und diese Frage beantwortet Bram nicht. Die explizite Formulierung "Weißt Du, wie spät es ist, und wenn ja, teile es mir bitte mit." entspricht ebenfalls nicht der Maxime der Quantität. Bei kooperativen Gesprächspartnern ist diese Frage zu ausführlich, zu lang, enthält überflüssige Informationen. Der 'seltsame Effekt' dieser Frage ergibt sich aus der Verletzung der Maxime. In einem anderen situativen Kontext kann die Antwort von Bram auch anders interpretiert werden. Wenn Bram gar nicht weiß, wie spät es ist und dennoch mit "Ja" oder "Viertel nach drei" antwortet, verletzt er die Maxime der Qualität. In einer anderen Situation kann Brams Antwort "Ja" allerdings auch alle Maximen erfüllen. Stellen wir uns vor, Arie und Bram müssen zu einem bestimmten Zeitpunkt aufbrechen, Arie hat keine Uhr und möchte wissen, ob Bram weiß, wann sie aufbrechen müssen und dann auch Bescheid gibt. In diesem Fall bittet Arie nicht um die Nennung der Uhrzeit, sondern möchte sich versichern, dass Bram die Uhr im Auge behält, so dass sie pünktlich sind. Die Gesprächspartner in Dialog 3 sprechen offensichtlich nicht miteinander, sondern aneinander vorbei. 2 3) Annelies: Kan ik je fiets morgen lenen? Stefan: Die buurvrouw hiernaast is me er trouwens ook een, zeg! Annelies: Ik moet morgen op de fiets naar Marken. Stefan: Die heeft haar haar deze week al drie keer anders geverfd. Annelies: Ik moet mijn jarige neef opzoeken. Stefan: Ik zou mijn portemonnee maar klaar houden, als ik bij haar thee ging drinken. Die Antwort von Stefan passt nicht zur Frage von Annelies, es wirkt so, als hätte Stefan die Fragen von Annelies akustisch gar nicht wahrgenommen. Die jeweiligen Reaktionen passen nicht zu den Aktionen. Es ist fraglich ob es sich überhaupt um ein Gespräch, eine Kommunikationssituation zwischen zwei Gesprächsteilnehmern handelt. Wenn Stefan in Gedanken versunken ist oder Hörschwierigkeiten hat, weil 2 Die Beispiele gehen auf Appel et al. 2002 zurück, sind aber z.T. leicht angepasst. <?page no="156"?> 156 es beispielsweise in der rationsprinzip unbewu Stellen wir uns vor, da davon genervt ist und wählt Stefan seine Antw der Relation. Statt expli versucht er Annelies kl dass er auf diesem Ohr In Beispiel 4 ist es gu ve Gesprächspartner sin 4) Frank: Kan Jan: Mij Die Maxime der Rela werden. Dennoch lasse von Jan tatsächlich rel kann sich Geld aus de positiv. b) Jan hat sein kann Frank somit kein Jans Antwort ist für Fra Im Fakirdialog geht Maxime der Relation h Fakir? " nicht besonders die Frage anders, sodas Die Maxime der Art un oder unstrukturiert ges nicht eindeutig: 5) Ik zag de da 6) Politie schie Metro) 7) Ab Der Bezug des Pronom der Junge, der wegrenn 7. Sprache r Umgebung extrem laut ist, verletzen die beiden d usst. Beispiel 3 kann aber auch anders interpretie ass Annelies Stefan ständig bittet, ihr etwas zu leih Annelies sein Fahrrad gar nicht leihen möchte. I worten ganz bewusst aus und verletzt absichtlich d izit mit "Nein, ich leihe dir mein Fahrrad nicht" zu arzumachen, dass er ihr nicht schon wieder etwas taub ist. ut möglich, davon auszugehen, dass Frank und Jan nd und Jan eine echte Antwort auf Franks Frage gib n ik wat geld van je lenen? jn portemonnee ligt in de keuken. ation scheint hier zwar auf den ersten Blick mis en sich relativ leicht Kontexte herstellen, in denen d evant ist: a) Frank braucht nur in die Küche zu em Portemonnaie nehmen. Jan beantwortet die F n Portemonnaie nicht bei sich, weil es in der Küc Geld leihen. Mit seiner Antwort intendiert Jan dan ank relevant und erfüllt auch die anderen Maximen t der Fakir davon aus, dass sein Gesprächspartner hält und eine relevante Frage stellt. Für den Fakir s relevant, für ihn ist es ja völlig normal. Daher inte s sie für ihn wohl relevant ist. nd Weise wird verletzt, wenn die Botschaft missv sendet wird. Die Aussage eines Zeugen wie in Be ader en de jongen. Hij rende weg en werd neergesch et na overval op juwelier (Onze taal kalender 06.02 bb. 7.4: Anleitung für Risotto met gegrilde kip mens hij in Beispiel 5 ist missverständlich: Ist es der nt und auf den geschossen wird? Grammatisch ka e im Kontext das Koopeert werden. hen, Stefan In dem Fall die Maxime antworten, leihen will, n kooperatibt: ssachtet zu die Antwort gehen und Frage dann che liegt. Er nn ein Nein. . sich an die ist "Bist du erpretiert er verständlich eispiel 5 ist hoten. 2.2012, aus r Täter oder nn sich das <?page no="157"?> 7.3 Kooperationsprinzip 157 Pronomen schließlich sowohl auf de dader als auch auf de jongen beziehen. Dadurch ist es für den Empfänger nicht deutlich, ob es der Täter oder der Junge ist, der wegrennt und auf den geschossen wird. Hier müsste der Empfänger der Botschaft nachfragen, was genau gemeint ist. In Beispiel 6 ist nicht ganz klar, auf wen die Polizei denn nun geschossen hat - auch wenn anzunehmen ist, dass es nicht der Juwelier ist. Wer seine Mikrowellenmahlzeit so zubereitet, wie auf der Verpackung (Bsp. 7) angegeben, hat ein Problem mit dem Umrühren: Wie soll man das machen, wenn man die Folie nicht entfernen darf? Die Anleitung ist also etwas ungenau (bzw. fehlerhaft). In informativen Texten sollten Ungenauigkeiten und Doppeldeutigkeiten (dubbelzinnigheden) vermieden werden. Im literarischen Sprachgebrauch aber wird die Maxime der Art und Weise häufig bewusst verletzt. Durch Ambiguität (ambiguïteit) wird eine Interpretation erforderlich. Berühmt für die bewusste Doppeldeutigkeit sind die Aussprüche von Orakeln; so soll die Sybille dem König Pyrrhus Folgendes prophezeit haben: 8) Ibis redibis nunquam per bella peribis. (Cicero, De divinatione II, 56, 116) Pyrrhus interpretiert die Aussage in 8 als "du wirst gehen und zurückkehren und niemals in Kriegen umkommen". Die Sybille jedoch hat das Adverb nunquam nicht auf den Untergang, sondern auf die Rückkehr bezogen: "du wirst gehen und niemals zurückkehren; in Kriegen wirst du umkommen". 7.3.2 Zwischen den Zeilen lesen Der Empfänger einer Äußerung muss diese nicht nur akustisch wahrnehmen, sondern auch richtig verstehen und interpretieren. Häufig reicht es nicht, Äußerungen ganz wörtlich aufzufassen. Wir müssen zwischen den Zeilen lesen und Schlussfolgerungen ziehen. In dem bereits besprochenen Beispiel vom Fakir bettet der Fakir die Frage in den Kontext der Kneipe statt sie auf sein Äußeres zu beziehen: Der Fakir zieht die falschen Schlüsse. Im Dialog 4 beantwortet Jan Franks Frage nicht explizit mit Ja oder Nein. Seine Antwort Mijn portemonnee ligt in de keuken geht weit über die wörtliche Bedeutung 'die Geldbörse befindet sich in der Küche' hinaus. Frank kann mehrere Schlussfolgerungen aus dieser Antwort ziehen, wenn er zwischen den Zeilen liest. Gehen wir davon aus, dass Frank und Jan im Wohnzimmer sind und die Küche nebenan ist, dann kann Frank aus Jans Antwort schließen: Das Portemonnaie ist in der Küche; es ist Geld im Portemonnaie; Jan ist bereit, Frank Geld zu leihen; Frank soll in die Küche gehen und sich selbst Geld aus dem Portemonnaie nehmen. Diese Schlussfolgerungen sind nur möglich, weil Frank davon ausgeht, dass Jan sich bei seiner Antwort an das Kooperationsprinzip hält und davon überzeugt ist, dass Frank seinerseits in der Lage ist, zwischen den Zeilen zu lesen. Derartige Schlussfolgerungen werden bei Grice Implikaturen (implicaturen) genannt. <?page no="158"?> 7. Sprache im Kontext 158 7.4 Sprechakte Wenn Menschen sprechen, tauschen sie nicht nur Informationen aus, wie beispielsweise Bienen, die sich gegenseitig darüber informieren, in welcher Richtung und Entfernung es geeignete Blüten gibt. In menschlicher Kommunikation geht es häufig um mehr als um Aussagen und Behauptungen wie in 9 und 10, deren Wahrheitsgehalt überprüfbar ist: 9) De aarde draait om de zon. 10) 2 plus 2 is 4. Mit einer Äußerung wollen wir nämlich meistens neben einer Übermittlung von Information mehr erreichen, wir verfolgen eine Absicht, wollen unseren Gesprächspartner zu etwas bewegen, zu etwas auffordern, von etwas überzeugen etc. Die Äußerung hat neben einer informativen Bedeutung auch einen pragmatischen Sinn. Die Aussageabsicht des Sprechers, der funktionale Aspekt Aspekt einer Äußerung, geht über das eigentlich wortwörtlich Gesagte hinaus. Viele Äußerungen sind in sich Handlungen, bei denen es nicht um einen Wahrheitsgehalt der Aussage geht: etwas wünschen, um etwas bitten, schimpfen, versprechen. Austin bezeichnet diese Aussagen dementsprechend als speech acts, Sprechakte (taalhandelingen). Ausgehend von dieser Feststellung klassifiziert Searle Sprechakte in fünf Kategorien: assertive, direktive, kommissive, expressive Sprechakte sowie Deklarationen. Diese fünf Kategorien lassen sich in drei zusammenfassen: informativ, obligativ und konstitutiv, wobei zur informativen Kategorie dem assertiven Sprechakt eine Kategorie hinzugefügt werden kann: die Informationsfrage. Bei informativen Sprechakten (informatieve taalhandelingen) geht es um die Mitteilung von Informationen, um Behauptungen, Beschreibungen, Konstatierungen (assertive Sprechakte - assertieve taalhandelingen) und um die Frage nach derartigen Informationen (Informationsfrage- informatievraag): • informatief assertief: De trein rijdt via Duisburg naar Amsterdam. informatievraag: Gaat deze trein naar Amsterdam? Typische Verben für diese Sprechakte sind beweren (behaupten), vaststellen, beschrijven, aannemen bzw. vragen. Bei obligativen Sprechakten (obligatieve taalhandelingen) geht es um eine Verpflichtung, die der Sprecher, also der Sender, sich selbst oder einem anderen auferlegt. Kommissiv (commissief) sind solche Sprechakte, bei denen der Sender sich selbst zu etwas verpflichtet (beispielsweise in Form eines Versprechens), direktiv (directief) sind Sprechakte, bei denen der Sender dem Empfänger eine Verpflichtung auferlegt, beispielsweise in Form einer Bitte oder eines Befehls: <?page no="159"?> 7.4 Sprechakte 159 • obligatief commissief: Morgen mag je zoveel ijs eten als je maar wilt. directief: Wil je de deur dicht doen? Typische Beispiele für derartige Sprechakte sind beloven (versprechen), aanbieden bzw. verzoeken -bitten), bevelen, aanraden (empfehlen) und voorstellen (vorschlagen). Bei konstitutiven Sprechakten (constitutieve taalhandelingen) geht es um Sprechakte, die nur in ganz bestimmten Kontexten und Situationen angemessen und gültig sind. Eine Gratulation oder eine Äußerung des Dankes oder der Wertschätzung passt nur unter bestimmten Umständen, es handelt sich dabei um expressive Sprechakte (expressieve taalhandelingen). Bei deklarativen Sprechakten (declaratieve taalhandelingen) beinhaltet die Äußerung zugleich eine Tat. Mit der Äußerung wird eine neue soziale Wirklichkeit kreiert und es ändern sich soziale Gegebenheiten: • constitutief expressief: Gefeliciteerd met je verjaardag. declaratief: Hierbij verklaar ik u tot man en vrouw. Beispiele hierfür sind bedanken, feliciteren, groeten, condoleren bzw. dopen (taufen), huwen (trauen), veroordelen und vonnissen (ein Urteil sprechen). Wie wir bereits gesehen haben, kann es bei der kommunikativen Interaktion zu Missverständnissen zwischen Gesprächspartnern kommen. In den folgenden Beispielen wird deutlich, welche Rolle die Sprechakte bei der Entstehung der Missverständnisse spielen: 3 11) Els: De vuilniszak staat nog niet buiten. Bram: Zet hem zelf maar op de stoep. Els: Ik vroeg je toch niets! Die Reaktion von Bram zeigt, dass er die Aussage von Els als obligativen, direktiven Sprechakt auffasst. Er bewertet die Aussage als Aufforderung von Els an Bram, den Müll hinauszubringen. Die Reaktion von Els wiederum macht deutlich, dass Els ihre Aussage nicht als direktiven Sprechakt, sondern als einen informativen, assertiven Sprechakt sieht. Els stellt fest, dass der Müll noch drinnen steht. Die vom Sender intendierte Botschaft kommt in diesem Fall offensichtlich nicht korrekt beim Empfänger an. Ein Sprechakt gilt nur dann als gelungen oder geglückt, wenn er unter bestimmten Bedingungen geäußert wurde; diese Bedingungen werden als Glückensbedingungen (geslaagdheidsvoorwaarden; Engl. felicity conditions) bezeichnet. Der 3 Das Beispiel stammt aus Appel et al. 2002. <?page no="160"?> 7. Sprache im Kontext 160 Sender eines assertiven Sprechaktes muss über korrekte Informationen verfügen, um diese vermitteln zu können. Der Sender einer Aufforderung muss über die soziale Position verfügen, um jemand anderem einen Befehl zu übermitteln. Die Sekretärin kann nicht zu ihrem Chef sagen: "Schick mal das Fax nach Berlin". Eine solche Aufforderung wird höchstwahrscheinlich nicht zum intendierten Ziel führen und ist somit nicht geglückt. Insbesondere bei konstitutiven Sprechakten wird deutlich, dass der situative Kontext und die Umstände der realen Welt darüber entscheiden, ob ein Sprechakt geslaagd ist oder nicht. Obwohl Marloes einen Glückwunsch äußert, gratuliert sie Roel in Beispiel 12 nicht zu seinem Geburtstag - da er zum Zeitpunkt der Äußerung gar keinen Geburtstag hat. Der Sprechakt gelingt somit nicht: 12) Marloes: Gefeliciteerd met je verjaardag! Roel: Ik ben pas volgende week jarig. In gleicher Weise gelingt der intendierte Gruß der Verkäuferin in Beispiel 13 nicht. Guten Morgen sagt man eigentlich nur morgens bis 12 Uhr, danach sollte man Guten Tag verwenden: 13) Verkoopster : Goedemorgen! Klant: Het is al half drie. Statt zurückzugrüßen erwidert der Kunde, dass es bereits halb drei ist. Die freundliche Begrüßung geht hier also ins Leere. 7.5 Indirektheit und Höflichkeit Nicht immer sagen wir explizit und direkt, was wir meinen oder möchten. Gehen wir von der folgenden Situation aus: Bert und Karin sind im Auto auf der Autobahn unterwegs. Karin muss auf die Toilette und möchte daher bei der nächsten Raststätte anhalten. 14) Karin: Moet jij niet naar de wc? Bert: Nee, hoor, ik kan het nog een tijdje volhouden. Bert fährt an der Ausfahrt vorbei. Offensichtlich hat er die Äußerung in 14 als echte Frage aufgefasst und nicht als indirekte Bitte. Wenn Karin sich nun beschwert, wird Bert wahrscheinlich denken "Warum sagt die Frau nicht einfach, was sie möchte? " Warum verwenden wir indirekte Sprechakte (indirecte taalhandelingen), statt einer direkten, expliziten Äußerung? Vergleichen Sie die folgenden Sätze: 15a) Tür zu! 15b) Schließ bitte die Tür! 15c) Türe schließen. 15d) Würdest Du so freundlich sein, die Tür zu schließen? 15e) Sollten wir nicht lieber die Tür schließen? 15f) Ich finde es hier nicht warm. <?page no="161"?> 7.5 Indirektheit und Höflichkeit 161 Alle sechs Aussagen beinhalten die Aufforderung des Senders an den Empfänger, die Tür zu schließen. Die erste Formulierung ist sehr direkt und wirkt unhöflich. Ein solcher Befehl kann in bestimmten Situationen, wenn es z.B. schnell gehen muss wie beim Sport oder bei einer Gefahr, dennoch angemessen sein. In 15b handelt es sich um eine Aufforderung mit einer Imperativform des Verbs, im Deutschen meist ergänzt um das Wort bitte. Durch diesen Zusatz wird der Befehl abgeschwächt und freundlicher, so dass es sich um eine recht neutrale Aufforderung handelt. Eine Aufforderung wie in 15c in Form eines Infinitivs wird häufig bei Schildern verwendet. Auch hier ist der Zusatz bitte regelmäßig zu finden. Auch in 15d wird die Aufforderung höflich formuliert, in diesem Fall durch eine Frage (auf die der Sender allerdings keine Ja-Nein-Antwort möchte). Durch die Frageform vergrößert der Sender den sozialen Abstand zwischen sich und dem Empfänger. Der Sprecher macht sich selbst klein und der Empfänger kann sein Gesicht wahren: Er könnte theoretisch mit Nein antworten. Der Sprecher kann den sozialen Abstand zwischen sich und dem Adressaten auch verringern, indem er beispielsweise wir statt du verwendet und den Empfänger der Botschaft zum gemeinsamen Handeln einlädt wie in 15e. Die Aussage in 15f ist so indirekt, dass der Empfänger sie nicht unmittelbar als Aufforderung auffassen muss. Es könnte sich auch um eine reine Feststellung handeln. Der Empfänger der Botschaft muss die vom Sender intendierte Aussage erkennen und die Implikatur verstehen, um die Aussage als direktiven Sprechakt analysieren zu können. Wenn wir unsere Mitmenschen um etwas bitten oder sie zu etwas bewegen wollen, gelingt uns dies leichter, wenn wir unseren Mitmenschen höflich begegnen. Indirektheit (indirectheid) ermöglicht dabei, dass unser Gegenüber in einem hohen Maß sein Gesicht wahren kann. Indirekte Sprechakte sind gesichtsbeschützend (gezichtsbeschermend; engl. face saving), während direkte Sprechakte, die sehr eindeutig und klar sind, auch gesichtsbedrohend (gezichtsbedreigend; engl. face threatening) sind. Solche Aussagen, die zu einem Gesichtsverlust führen, werden in der Regel als unhöflich empfunden. Höflichkeit (beleefdheid) kann also als ein Grund dafür angesehen werden, dass wir indirekte Sprechakte verwenden. Jeder Mensch hat dabei zwei Gesichter (im Sinne des öffentlichen Images einer Person; Meibauer 2008: 114). Das negative Gesicht steht für Handlungsfreiheit und Unabhängigkeit, das positive für Anerkennung. Eine Vorgehensweise wie in 15d wird daher als negative Höflichkeitsstrategie (negative beleefdheidsstrategie), die in 15e als positive Höflichkeitsstrategie (positieve beleefdheidsstrategie) bezeichnet. Mit Höflichkeitsstrategien sorgt der Sender dafür, dass der Empfänger sein Gesicht wahren kann, indem er dem Empfänger prinzipiell die Möglichkeit offenlässt, eine Bitte abzuschlagen. Oder der Sender bestärkt den Empfänger in seinem Handeln, z.B. durch ein Kompliment und schenkt ihm Anerkennung (vgl. Nübling 2006: 155). Dem Sender nützen diese Strategien, da die Wahrscheinlichkeit, dass der Empfänger tut, was der Sender möchte, steigt, wenn der Empfänger sich nicht 'bedroht', sondern bestärkt fühlt. Wie wir in Dialog 14 gesehen haben, kann Indirektheit allerdings <?page no="162"?> 7. Sprache im Kontext 162 auch zu Missverständnissen führen. Die meisten Sprachbenutzer haben ein Gefühl dafür, ob sie in einem bestimmten situativen Kontext eine Äußerung besser direkt oder indirekt formulieren sollten. Sie sind meistens in der Lage, abzuschätzen, wann welche Äußerung angemessen ist, sie wissen um die pragmatische Angemessenheit (pragmatische gepastheid) der Aussage. Die deutschen Formulierungen in den oben aufgeführten Beispielsätzen 15 können recht wörtlich ins Niederländische übertragen werden: 16a) Deur dicht! 16b) Wil je de deur dicht doen? 16c) Deur sluiten a.u.b. 16d) Zou je zo vriendelijk willen zijn de deur dicht te doen? 16e) Moeten we de deur niet dicht doen? 16f) Ik vind het hier niet echt warm. Der auffälligste Unterschied besteht in der Formulierung in Beispiel 15/ 16b: Während die deutsche Formulierung Schließ bitte die Tür eine neutrale Form ist, gilt dies nicht für die Imperativform im Niederländischen Doe de deur dicht. Eine derart direkte Aufforderung wirkt im Niederländischen wie ein eher unhöflicher Befehl und wird in der Regel als nicht angemessen und gesichtsbedrohend für den Empfänger erfahren. Die pragmatisch angemessene Formulierung auf Niederländisch lautet Wil je de deur dicht doen? , die gesichtsbeschützend ist, da der Empfänger auf die Frage theoretisch mit Nein antworten und die Bitte des Senders abschlagen könnte. Fehler in der angemessenen Formulierung können zu Störungen der Kommunikation führen, wie das folgende Textbeispiel (Schlizio et al. 2009: 37) zeigt: Das dringende Fax Der promovierte deutsche Betriebswirt Holger Knef arbeitet als Unternehmensberater in den Niederlanden. Er ist daran beteiligt, neue Produktionskonzepte für größere Unternehmen zu erarbeiten. Eines Tages muss er dringend ein Fax nach Deutschland zu einem Kunden senden. Er weiß, dass die Berliner Firma in spätestens einer Stunde schließt. So geht er schnell zu der Sekretärin, Ruth van Helvoort, mit der Bemerkung: "Guten Tag, Ruth, fax das bitte schnell nach Berlin. Die Nummer steht auf dem Brief. Danke." Als er ihr Büro verlassen will, ruft Ruth ihn jedoch zurück. Ihr gefalle sein Tonfall nicht, er sei unfreundlich [...]. Die Kommunikation zwischen deutschem Vorgesetzten und niederländischer Sekretärin gelingt nicht, weil der Sender eine falsche Form des direktiven Sprechaktes wählt. Zumindest ist diese Form im Niederländischen falsch: Die niederländische Sekretärin ist pikiert. Anweisungen an andere Personen werden in den Niederlanden <?page no="163"?> 7.5 Indirektheit und Höflichkeit 163 normalerweise als Frage formuliert. Eine aus deutscher Sicht höfliche Bitte ist nicht ausreichend, weil sie für Niederländer wie ein Befehl klingt: "Anweisungen müssen anders verpackt werden", der Angestellte möchte "das Gefühl haben, noch 'Nein' sagen zu können." (Schlizio et al. 2009: 38). Im Niederländischen werden also verstärkt negative Höflichkeitsstrategien verwendet. Der Sender vergrößert durch die Frage den Abstand zwischen sich selbst und dem Empfänger und ermöglicht durch die Frageform dem Empfänger, sein Gesicht zu wahren. Auf Deutsch ist diese Art der Anweisung in Form einer Frage ebenfalls möglich (Würden Sie bitte das Fax verschicken? ), die Imperativform in Kombination mit dem Zauberwort bitte wird jedoch noch häufiger als neutrale Variante verwendet. Nicht nur durch die Hinzufügung des Wörtchens Bitte können wir Aufforderungen abschwächen. Vergleichen Sie die nachstehenden Sätze. Inwieweit unterscheiden sie sich - abgesehen von der Anzahl der verwendeten Wörter? Was ist der pragmatische Unterschied? 17) Komm her! Komm mal her! Komm doch her! Komm doch mal eben her! In den vier Beispielsätzen in 17 geht es jeweils um eine Aufforderung: Die angesprochene Person soll zum Sprecher kommen. Im ersten Fall ist die Aufforderung sehr direkt, in den anderen Beispielen sind Partikeln wie mal, doch, eben hinzugefügt. Mit Partikeln (partikels) können wir Aussagen auf subtile Weise nuancieren und z.B. Aufforderungen in ihrer Direktheit abschwächen und indirekter gestalten. Die Übersetzung von Partikeln stellt häufig ein Problem dar. Deutsch und Niederländisch gelten als partikelreiche Sprachen, im Gegensatz zu beispielsweise Englisch und Französisch, die partikelarm sind. Zu einem Großteil ähneln sich die deutschen und niederländischen Wörter. Dennoch gibt es in der Verwendung Unterschiede: Oft entspricht toch dem deutschen doch doch nicht ganz, und maar lässt sich nicht mit aber wiedergeben. 4 Dass Partikeln sich nur schwer übersetzen lassen, liegt daran, dass sie keine leicht zu beschreibende Bedeutung haben und nicht auf einen bestimmten Referenten verweisen (vgl. Kap. 3). Sie dienen vielmehr dazu, die Interpretation eines Sprechaktes zu steuern. Die Bedeutung der niederländischen Modalpartikeln (schakeringspartikels) wie eens, maar, nou und toch, mit denen der Sprecher seine Haltung oder Meinung ange- 4 Als Partikel bedeutet maar meist etwas wie 'nur', 'ruhig': kom maar - komm ruhig her. <?page no="164"?> 7. Sprache im Kontext 164 geben oder nuancieren kann, kann in etwa so umschrieben werden (vgl. E-ANS 2002, Kap. 8.3.2): 18) Kom! Befehl Kom eens! Wunsch, freundliche Bitte Kom maar! freundliche Bitte (beruhigend, aufmunternd) Kom nou! ungeduldige Aufforderung Kom toch! ungeduldige, mahnende Aufforderung Partikeln können im Niederländischen (wie im Deutschen) auch miteinander kombiniert werden, meistens liegt die Reihenfolge der Partikeln fest. Die Übersetzung der Partikeln bzw. die Wiedergabe der Nuancierung stellt dabei häufig ein Problem dar, wie die folgenden Beispiele zeigen, bei denen die wortwörtliche Übertragung nicht möglich ist: 5 19a) Toen heeft ze maar eens even gespiekt. ? Da hat sie ruhig mal halt abgeguckt. Da hat sie halt mal abgeguckt. 19b) Kijk dan toch eens! ? Schau dann doch mal! Schau doch mal! 19c) Das kann doch wohl nicht wahr sein! *Dat kan toch wel niet waar zijn! Dat kan toch niet waar zijn! 19d) Geef de boeken dan nou toch maar eens even hier. *Gib die Bücher dann nun doch ruhig mal eben her. Gib die Bücher dann doch mal her. 7.6 Pragmatische Angemessenheit bei Anredeformen Gesprächspartner verwenden in einer Konversation Anredeformen (aanspreekvormen) wie jij (du), jullie (ihr) oder u (Sie). Im Niederländischen gibt es eine ganze Reihe von Pronomen für die Anredeform, die in Tabelle 7.1 aufgelistet sind (vgl. Vismans 2007: 175, Kremer 2000: 16). Zum einen werden die Anredepronomen nach formellen und informellen Formen unterschieden. Die formellen Formen werden beim Siezen (vousvoyeren) verwendet, die informellen beim Duzen (tutoyeren). Neben den Personalpronomen (Sie, du, ihr) sind die besitzanzeigenden Pronomen (Possessiva) aufgeführt (Ihr, dein, euer). Bei einigen Formen gibt es neben einer sog. vollen, betonten Form auch eine unbetonte Variante (z.B. jij - je). Hinzu kommt die für den Süden des Sprachraumes typische Form gij, die zwar offiziell nicht als standardsprachlich gilt, die aber in der Umgangssprache außerordentlich weit verbreitet ist. Neben der Subjektform jij bzw. gij (du) gibt es als Objektform jou (dir, dich) bzw. u, wobei das u dann ebenfalls 'dir/ dich' bedeutet. 5 Das Beispiel stammt aus Hoogvliet 1903, zitiert nach Van der Wouden & Caspers (2010: 4). <?page no="165"?> 7.6 Pragmatische Angemessenheit bei Anredeformen 165 formell informell Pers. Poss. Pers. Poss. betont unbetont betont unbetont Sgl. u uw jij je jouw je jou je gij ge uw u uw Pl. u uw jullie jullie je gij ge uw Tab. 7.1: Pronomen der 2. Person Wann siezt man nun seinen Gesprächspartner und wann duzt man sich? Allgemein werden Status (status; engl. power) und Solidarität (solidariteit; engl. solidarity), Begriffe die von Brown & Gillmore 1960 eingeführt wurden, als ausschlaggebende Faktoren angesehen. In einem asymmetrischen Verhältnis zwischen den Gesprächspartnern, wie zwischen Eltern und Kind oder Professor und Student, ist der Status für die Wahl der Anredeform entscheidend, in einem symmetrischen Verhältnis, wie zwischen Schulkameraden oder Studierenden, die Solidarität (vgl. Vismans 2007: 175f.). Siezen ist wiederum typisch für den Ausdruck von Status, duzen für den von Solidarität. Allerdings spielen im Niederländischen noch mehr Faktoren bei der Wahl der Anredeform eine Rolle: das Alter und die geographische Herkunft sowie Religionszugehörigkeit, Geschlecht und Ausbildung des Sprechers, Alter, Geschlecht und gesellschaftlicher Rang des Adressaten sowie der Grad der Formalität des Gesprächs an sich (Vermaas 2002). Vergleichen wir die Minidialoge in 20, die sich inhaltlich entsprechen: 20a) Student: Guten Tag Herr Eickmans. Professor: Guten Tag Herr Schulze. Student: Haben Sie morgen Zeit? Kann ich dann in Ihre Sprechstunde kommen? Professor: Ja, Sie können morgen in meine Sprechstunde kommen. 20b) Student: Hallo Geert. Professor: Hallo Jan. Student: Heb je morgen tijd? Kan ik tijdens je spreekuur langskomen? Professor: Ja, je kunt morgen tijdens mijn spreekuur langskomen. 20c) Student: Goeiedag professor. Professor: Hallo Freek. Student: Heeft u morgen tijd? Mag ik dan tijdens uw spreekuur langskomen? Professor: Ja, je kunt morgen tijdens mijn spreekuur langskomen. <?page no="166"?> 7. Sprache im Kontext 166 Es handelt sich in allen drei Fällen um eine asymmetrische Situation zwischen Student und Professor. Im deutschen Beispiel 20a siezt der Student den Professor und der Professor siezt den Studenten. Obwohl die Gesprächspartner auf unterschiedlichen hierarchischen Ebenen stehen, verwenden beide Seiten die Sie-Form. Das Siezen drückt dabei die soziale Distanz, ggf. auch gegenseitigen Respekt, aus. Im niederländischen Beispiel 20b duzen sich die Gesprächspartner trotz des hierarchischen Unterschieds. Das Duzen soll hier das freundschaftliche, solidarische Verhältnis betonen. Im flämischen Beispiel 20c duzt der Professor den Studenten, während der Student den Professor siezt. Der hierarchische Unterschied (und die Asymmetrie) wird hier in den unterschiedlichen Anredeformen zum Ausdruck gebracht. Zwischen dem niederländischen Niederländisch, dem belgischen Niederländisch und dem Deutschen gibt es offensichtlich interkulturelle Unterschiede, welche Anredeform pragmatisch angemessen ist und welche nicht. Aus niederländischer Sicht betont das deutsche Siezen die Distanz zwischen den Gesprächspartnern und den Status. Im Deutschen siezen sich häufig aber auch langjährige gute Bekannte (z.B. in Geschäftsbeziehungen), wobei die Sie-Form dann vor allem Respekt und Achtung dem Gesprächspartner gegenüber ausdrücken soll. In den Niederlanden wird häufig nach dem ersten Vorstellen bereits geduzt, was freundschaftlich, vertraut und solidarisch klingen soll. Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es in den Niederlanden aber weit verbreitet, nicht nur Gott und die Königin sowie Fremde zu siezen, sondern sogar die Eltern und Großeltern (Oma, mag ik een koekje van u? - ? Oma, kann ich ein Plätzchen von Ihnen bekommen? ). Bis heute wird dies in bestimmten Kreisen so gehandhabt. In Flandern wiederum ist es völlig ungebräuchlich, Eltern oder Großeltern zu siezen. Für den deutschen bzw. anderssprachigen Lerner hat das niederländische System durchaus auch seine Tücken, denn nicht immer ist es angemessen, Unbekannte einfach zu duzen. Eine Regel wie "sag immer Sie, es sei denn ..." gibt es aber im Niederländischen nicht. Nicht nur für Ausländer, sondern offensichtlich auch für Niederländer selbst ist es häufig schwierig, die richtige Wahl zu treffen: De meeste Nederlanders tussen de dertig en zestig worden tegenwoordig als aangesprokene voortdurend tussen u en jij heen en weer geslingerd. Bij de supermarkt krijg ik u als ik me geschoren heb, maar met stoppels ben ik 'jij'. U lijkt bedoeld voor het maaten mantelpak, jij past bij de joggingbroek. Op mijn werk ben ik, ongeacht mijn voorkomen, 'jij' voor de collega's en 'u' voor het kantinepersoneel. Mijn studenten bedienen zich van beide. Grezel 2007 (http: / / www.kennislink.nl) In Flandern ist die Situation etwas übersichtlicher. Geduzt wird meist mit gij/ ge, auch jij/ je kommt vor. Gesiezt wird mit u. Im Allgemeinen ist die Entscheidung fürs Siezen oder Duzen in Flandern deutlicher als in den Niederlanden. Geduzt werden <?page no="167"?> Aufgaben 167 nur bekannte, vertraute Personen in informellen Situationen. Unbekannte, ältere Menschen und Respektspersonen werden gesiezt. In Gesprächssituationen, bei denen die Partner auf unterschiedlichen hierarchischen Stufen stehen, kommt es häufig vor, dass die höher stehende Person die andere duzt, während die Person auf der niedrigeren Hierarchiestufe die andere siezt: Der Professor duzt den Studenten, der Student siezt den Professor. Dies ist wiederum anders als im Deutschen. Das Wissen um die interkulturellen Unterschiede in den Anredeformen ermöglicht es, eine Gesprächssituation richtig einzuschätzen und Kommunikation erfolgreich gelingen zu lassen. 7.7 Zusammenfassung Sprache dient der Kommunikation zwischen Gesprächspartnern, soll Informationen und auch Intentionen vermitteln. Gesprächspartner (Sender und Empfänger) müssen bei der Nachrichtenvermittlung den gleichen Kode benutzen, das Medium kennen und den situativen Kontext korrekt einschätzen, damit die Botschaft auch richtig ankommt. Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, kann es zu Missverständnissen kommen. In der Regel sind Gesprächspartner kooperativ und halten sich an die Konversationsmaximen: Wir sagen, was wir für wahr und relevant halten, sind möglichst eindeutig und geben unserem Gesprächspartner die richtige Menge an Informationen. Für die Vermittlung von Aussagen stehen uns informative, obligative und konstitutive Sprechakte zur Verfügung. Nicht immer meinen wir wortwörtlich, was wir sagen. Wir verwenden Höflichkeitsstrategien und können indirekt formulieren. Auch mithilfe von Partikeln können wir unsere Aussagen nuancieren. Der Sprachbenutzer muss um die pragmatische Angemessenheit wissen, wenn er nicht unangenehm auffallen will, da unterschiedliche Formulierungen und Anredeformen vom situativen Kontext, aber auch vom kulturellen Hintergrund abhängig sind. Aufgaben Aufgaben 1. Um welche taalhandeling handelt es sich in den folgenden Beispielen? 1. (Bij Christie's: ) Eenmaal, andermaal, verkocht! 2. Ik help je met verhuizen. 3. Het huren van een fiets kost € 7,50 per dag. 4. Mag ik een zakdoek van je? 5. Ligt de stad Liège in Vlaanderen? 6. Gefeliciteerd met je verjaardag! 2. Inwiefern unterscheiden sich die beiden folgenden Aussagen? 1. Morgen ga ik zwemmen. 2. Morgen breng ik je het boek mee. <?page no="168"?> 7. Sprache im Kontext 168 3. Analysieren Sie die folgenden Gespräche hinsichtlich des Kooperationsprinzips und der Konversationsmaximen und lesen Sie zwischen den Zeilen. Gesprek 1 Henk hat einen Platten und sucht nun einen Fahrradladen in der Nähe. Henk: Ik heb een lekke band. Is er een fietswinkel in de buurt? Bram: O, vlak om de hoek is een garage. 1. Bram weiß, dass man in der Werkstatt um die Ecke auch Fahrräder repariert. 2. Bram weiß nicht, ob man in der Werkstatt auch Fahrräder repariert. 3. Bram weiß, dass man in der Werkstatt auch Fahrräder repariert, aber er weiß ebenfalls, dass diese an diesem Tag geschlossen ist. Gesprek 2 Annelies: Ga je vanavond mee naar de opera? Paul: Mijn zoon is ziek. 4. Bei welchen Formulierungen werden positive bzw. negative Höflichkeitsstrategien angewandt? 1. Laten we naar binnen gaan. 3. Zou je me de krant kunnen geven? 2. De koelkastdeur staat open. 4. Zullen we nu samen opruimen? 5. Übersetzen Sie die folgenden Sätze ins Niederländische und Englische (ggf. auch ins Französische oder weitere Sprachen) und vergleichen Sie, wie die Partikeln jeweils wiedergegeben werden: 1. Das war aber eine Reise! 3. Ja, ich denke schon. 2. Ich kann es ja versuchen. 4. Wo ist denn nur mein Schlüssel? 6. Vergleichen Sie in verschiedenen niederländischen und deutschen Lehrwerken und Grammatiken die Gebrauchsregeln zur Verwendung der Anredepronomen. Stellen Sie Ihre Ergebnisse den Resultaten von Ludger Kremer in seinem Artikel "Duzen und Siezen" (2000) gegenüber. Literatur zum Weiterlesen Eine niederländischsprachige Einführung ist Houtkoop & Koole (2000) Taal in actie. In dem schon etwas älteren Band Studies over taalhandelingen, herausgegeben von Eemeren &. Koning (1981) wird näher auf die Sprechakte eingegangen. Eine übersichtliche Einführung zur Pragmatik auf Deutsch ist Meibauer (2008) Pragmatik. Eine Einführung. An englischsprachiger Literatur findet sich viel, übersichtlich mit vielen Beispielen ist Grundy (2008) Doing Pragmatics oder auch Verschueren (1999) Understanding pragmatics. <?page no="169"?> 8. Variation in Sprache Gunther De Vogelaer Keine zwei Menschen sprechen oder schreiben, auch wenn sie die gleiche Sprache gebrauchen, vollkommen identisch. Jede Sprache auf der Welt, auch die niederländische, weist nämlich Variation (variatie) auf: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, den gleichen Inhalt auszudrücken. Ein Buch wie die Bibel ist zum Beispiel in einem vielleicht etwas altmodisch anmutenden Niederländisch geschrieben (oder besser: übersetzt worden). Aber es geht auch anders, nämlich in der sog. straattaal, dem Niederländischen, das manche Jugendliche in multikulturellen holländischen Städten auf der Straße miteinander sprechen (Textbeispiel nach http: / / www.straat bijbel.nl): Maria, een meisje van misschien veertien jaar oud, was uitgehuwelijkt aan een kill die Jozef 'Jowie' Davids heette. Ze waren verloofd, zeg maar. De gewoonte was toen om geen seks voor het huwelijk te hebben. Maar ze bleek ineens pregno te zijn. Jowie kwam erachter en hij was omin depressed, want hij dacht dat ze met een ander gebald had. Hij kon het in ieder geval niet geweest zijn! Een grote schande. Die kursiven Wörter markieren die wichtigsten Unterschiede zum ursprünglichen Text: Einige Wörter aus dem Fragment stehen nicht im Wörterbuch: pregno 'schwanger', omin 'sehr schlimm', depressed 'niedergeschlagen', gebald 'Sex gehabt', ein Wort wie kerel wird anders ausgesprochen (kill), die Form des Eigennamens Jozef wird angepasst (Jowie) und die Kombination zeg maar wird als Satzpartikel anstelle des standardsprachlichen als het ware benutzt. Im sprachwissenschaftlichen Jargon spricht man in diesen Fällen von Varianten (varianten). Die Form des Niederländischen, in der jeweils geschrieben oder gesprochen wird, nennt man eine Varietät (variëteit), in diesem Fall straattaal. Dass die kursiven Varianten aus dem Textbeispiel nicht in Wörterbüchern oder anderen maßgeblichen Beschreibungen der niederländischen Sprache zu finden sind, ist kein Zufall. Nachschlagewerke beschränken sich in der Regel nur auf eine einzige, genau bestimmte Varietät des Niederländischen, das Standardniederländisch (Standaardnederlands). Wörter wie pregno und depressed sind nicht allgemein genug, um in die Standardsprache aufgenommen zu werden. <?page no="170"?> 8. Variation in Sprache 170 8.1 Variationslinguistik Standardniederländisch ist eine noch relativ junge Erscheinung. Man geht davon aus, dass es im 17. Jahrhundert entstanden ist (vgl. Kap. 2). Obwohl Standardniederländisch im Mittelpunkt des Sprachunterrichts und in der Beschreibung der Sprache steht, ist es für Sprachwissenschaftler nur eine von vielen Varietäten des Niederländischen. Es ist ein bekannter Ausspruch, dass eine (Standard-) Sprache nichts anderes als 'a dialect with an army and a navy' sei. Das heißt, dass es aus sprachwissenschaftlicher Sicht oft vollkommen willkürlich ist, ob ein bestimmtes sprachliches Phänomen zur Standardsprache gehört oder nicht. Aus diesem Grund sprechen Sprachwissenschaftler eigentlich auch nur selten von Sprachfehlern. Man kann höchstens von einem Sprachgebrauch sprechen, der den Anforderungen, die die Gesellschaft in bestimmten Situationen auferlegt, nicht entspricht. Es gibt Zweige in der Sprachwissenschaft, die gerade die Sprachvariation untersuchen: Allgemein spricht man dann von Variationslinguistik (variatielinguïstiek). Es gibt sicher zwei gute Gründe, sich mit Variationslinguistik zu beschäftigen. Erstens schmälert eine Beschränkung auf die Standardsprache die empirische Grundlage für die wissenschaftliche Erforschung des Niederländischen. Hierbei besteht die Gefahr, dass man ungerechtfertigte Aussagen über die niederländische Sprache macht. So könnte man behaupten, dass die niederländische Verbkonjugation im Plural neutralisiert ist: Die Flexion lautet schließlich wij/ jullie/ zij gaan. Diese Behauptung lässt jedoch außer Acht, dass bei südlichen Varietäten die Flexion der zweiten Person Plural auf -t endet (z.B. gullie gaat, meist noch mit einem abweichenden Pronomen). Zweitens hat Sprache eine bestimmte Wirkung in der Gesellschaft: Viele sehen Sprache als Kommunikationsmittel, mit dem man Botschaften übermittelt. Auf kommunikativer Ebene scheint die Variation nicht gerade effizient, weil es dadurch wesentlich leichter zu Missverständnissen kommen kann. Was bringt Sprecher dann dazu, so verschieden zu sprechen und, wie im obenstehenden Fragment, Wörter wie depressed statt terneergeslagen zu verwenden, oder pregno statt zwanger? Zweifellos spielt dabei eine Rolle, dass Sprache auch ein Mittel ist, um Identität auszudrücken und soziale Beziehungen zu knüpfen. Durch die Wahl bestimmter Wörter, Laute oder Formen können Sprecher angeben, zu welcher gesellschaftlichen Gruppe sie gehören (oder gehören wollen). Zuhörer können oft auch aus der Art und Weise, wie jemand spricht oder schreibt, sehr viel über diese Person ableiten. Die Soziolinguistik (sociolinguïstiek) untersucht diese Wirkung der Sprache in der Identitätsbildung und in der Gesamtheit der sozialen Beziehungen in der Gesellschaft. Das alles impliziert, dass die Variationslinguistik eine besonders vielseitige Teildisziplin ist. Sie hat Verzweigungen in allen Bereichen der Systemlinguistik (von Phonologie über Morphologie und Syntax zur Pragmatik) und ist gleichzeitig fest in der Soziolinguistik verankert. <?page no="171"?> 8.2 Variationsarten 171 8.2 Variationsarten Wenn wir davon ausgehen, dass Standardniederländisch nur eine von vielen Varietäten des Niederländischen ist, dann stellt sich die logische Frage, wie viele Varietäten es im Niederländischen denn überhaupt gibt. Bei der Beantwortung dieser Frage stellen sich zwei Probleme: Was genau verstehen wir unter dem Begriff 'Niederländisch' und was genau ist notwendig, um von einer Varietät sprechen zu können? Für das erste Problem können verschiedene Kriterien herangezogen werden. Die gängigsten sind Geografie, historische Verwandtschaft und grammatische Ähnlichkeiten, Verständlichkeit sowie die Meinung der Sprachbenutzer. Diese Kriterien sind aber nicht hieb- und stichfest und führen außerdem zu widersprüchlichen Ergebnissen. Folgendes Beispiel verdeutlicht dies: Man kann die Sprache aller Einwohner der Niederlande und Flanderns als 'Niederländisch' betrachten. Das geografische Kriterium steht jedoch mit den anderen in einem Konflikt: Die Verständlichkeit der Dialekte aus beispielsweise Westflandern und der niederländischen Provinz Limburg ist für Menschen aus anderen Regionen relativ gering. Auch gibt es Personen, die sich kaum mit der niederländischen Sprache identifizieren. Viele Flamen sind sehr zurückhaltend mit der Behauptung, Niederländisch zu sprechen. Auf dem Niveau der gesprochenen Sprache sprechen sie lieber von Flämisch. Niederländisch als die Sprache der Niederlande und Flanderns zu umschreiben, spiegelt also nicht die Meinung dieser Menschen wider. Die Probleme mit dem geografischen Kriterium werden noch größer, wenn wir über die Grenzen der Niederlande und Flanderns hinausschauen. Dann finden wir u.a. westflämische Dialekte in Frankreich, die außer den flämischen Nachbarn kaum jemand versteht und die oft von Menschen gesprochen werden, die wiederum kein Standardniederländisch verstehen. Gelten diese Dialekte nun als Niederländisch oder nicht? Und was machen wir mit den niederdeutschen Dialekten, die auf der deutschen Seite der deutschniederländischen Grenze gesprochen werden und die bezüglich ihrer Verständlichkeit und ihres Sprachsystems kaum von ihren Nachbardialekten in den Niederlanden abweichen? Auch das zweite Problem, nämlich das Bestimmen, was eine Varietät genau ist, hat sich als im Grunde unlösbar herausgestellt. Wenn man davon ausgeht, dass keine zwei Sprecher identisch sprechen und alle ihren eigenen sog. Idiolekt (idiolect) haben, ist es vielleicht nicht weit hergeholt, von ein paar Millionen Varietäten auszugehen. Außerdem gibt es selbstverständlich auch noch Sprecher, die in verschiedenen Situationen unterschiedliche Formen der niederländischen Sprache verwenden. Allerdings sind nicht alle Unterschiede in der Sprache gleich wichtig. Oft verbergen sich die Unterschiede nur im Gebrauch eines bestimmten Wortschatzes, z.B. einer Fachsprache (vaktaal) oder eines Jargons (jargon), oder in minimalen Unterschieden in der Aussprache, einem Akzent (accent). In der Regel spricht man erst bei beträchtlichen, systematischen Unterschieden, die auch die Grammatik betreffen und von einer definierbaren gesellschaftlichen Gruppe gesprochen werden, von <?page no="172"?> 8. Variation in Sprache 172 einer Varietät. Mit anderen Worten wird dabei also eine Kombination linguistischer und sozialer Kriterien verwendet. Doch die Kriterien führen zu allem anderen als zu eindeutigen Ergebnissen: Ab wann sind linguistische Unterschiede groß oder systematisch genug und wann wird eine Gruppe in der Gesellschaft 'erkennbar'? Eine genaue Schätzung, wie viele Varietäten es mit einer derartigen Beschreibung geben könnte, gibt es dementsprechend nicht. Es dürften wohl sehr viele sein. Die Frage, der mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, ist, welche Arten von Varietäten es in der niederländischen Sprache überhaupt gibt. Die Antwort auf diese Frage sagt jedenfalls viel über die Struktur der Gesellschaft aus: Man kann davon ausgehen, dass Faktoren, die eine starke Wirkung auf den Sprachgebrauch haben, wichtig für die Identitätsbildung sind und umgekehrt. Die Variationsform, die traditionell die größte Aufmerksamkeit erhielt, ist die geografische Variation. Schon im 19. Jahrhundert entstand eine reiche Forschungstradition zu Dialekten (dialecten), lokalen Sprachvarietäten, die von der Dialektologie (dialectologie) untersucht wurden. Die Dialektologie kann als Vorläufer der Soziolinguistik betrachtet werden. Im Laufe des 20. Jahrhunderts, vor allem ab den sechziger Jahren, begannen sich Linguisten viel stärker auf Varietäten innerhalb von Sprechergemeinschaften zu konzentrieren, wobei Faktoren wie Geschlecht, soziale Schicht, Alter und Ethnie von entscheidender Bedeutung waren. Varietäten, die von einer spezifischen gesellschaftlichen Gruppe gesprochen werden, nennt man Soziolekte (sociolecten); ein Beispiel dafür ist Jugendsprache. Bei ethnischer Variation spricht man von Ethnolekt (etnolect). Neuere Ansätze in der Soziolinguistik wenden sich in gewissem Sinne von solchen Herangehensweisen ab, die von Lekten und Varietäten sprechen. Menschen identifizieren sich in der heutigen Gesellschaft oft mit verschiedenen Gruppen gleichzeitig und versuchen, diesen mehrschichtigen Identitäten eine Form zu geben, indem sie Varianten aus verschiedenen Varietäten miteinander kombinieren und sie situationsabhängig einsetzen oder auch nicht. In einer solchen Landschaft wird nicht länger von deutlich unterscheidbaren Varietäten gesprochen, sondern von Sprechstilen (spreekstijlen). Einige Formen von Variation werden im Folgenden erörtert, wobei generell die chronologische Reihenfolge beibehalten wird, in der die jeweilige Variation ins Niederländische eingeführt wurde. 8.3 Geografische oder 'horizontale' Variation Eine erste Form der Variation, die wir im Niederländischen antreffen, ist die geografische Variation. Sie wird auch 'horizontale' Variation genannt, weil es um Varietäten geht, die 'auf derselben Höhe' eines vergleichbaren geografischen und sozialen Bereichs liegen. In diesem Fall sind das die Dialekte. Die Dialekte in den Niederlanden <?page no="173"?> 8.3 Geografische oder 'horizontale' Variation 173 und Flandern sind gut dokumentiert und beschrieben, u.a. in Dialektwörterbüchern und Grammatiken, in denen meistens ein einzelner Dialekt beschrieben wird. Auch Atlanten bieten eine globale Übersicht. Obwohl Niederländer und Flamen recht einfach voneinander zu unterscheiden sind, spielt die Staatsgrenze in diesen Einteilungen eine untergeordnete Rolle. Meist unterscheidet man fünf große Gruppen (vgl. Abb. 8.1): holländische, brabantische, flämische, sächsische und limburgische Dialekte (vgl. Kap. 2). Zum Flämischen wird meist auch das Seeländische gerechnet. Abb. 8.1: Dialektkarte des niederländischen Sprachgebiets (Janssens & Marynissen 2008) Darüber hinaus gibt es noch die friesischen Dialekte, die sehr stark mit anderen nördlichen Dialekten verwandt sind. Aber da Friesisch als separate Sprache betrachtet wird, gehen wir auf diese hier nicht weiter ein. Die Grenzen zwischen diesen Gebieten sind größtenteils weniger scharf umrissen als Karten es vielleicht vermuten lassen. Es gibt zumeist breite Übergangszonen zwischen den Dialekten. Eine sehr deutliche Übergangszone ist das Ostflämische, das historisch stärker mit dem Westflämischen verwandt ist, aber inzwischen weitgehend verbrabantst, 'brabantisiert' ist. Die sächsischen und limburgischen Dialektgebiete erstrecken sich über die deutschniederländische Landesgrenze hinweg und bilden einen fließenden Übergang zu den Dialekten im deutschen Sprachgebiet bzw. zu den niederdeutschen sowie ost- und <?page no="174"?> 8. Variation in Sprache 174 mittelfränkischen Dialektgebieten. Eine echte Sprachgrenze zwischen den Niederlanden und Deutschland kann also, im Gegensatz zu einer Grenze mit dem französischen Sprachgebiet, nicht gezogen werden. Eine Sprachlandschaft mit fließenden Übergängen wird auch ein Dialektkontinuum (dialectcontinuüm) genannt. Die niederländischen, deutschen und friesischen Dialekte gehören zum kontinentalwestgermanischen Dialektkontinuum (Continentaal West-Germaanse dialectcontinuüm). Ein häufiger Irrtum in Bezug auf Sprache ist, dass Dialekte von der Standardsprache 'abgeleitet' seien. Die Existenz eines sprachübergreifenden Dialektkontinuums beweist aber genau das Gegenteil: Die heutige Dialektlandschaft entstand schon lange, bevor überhaupt von Standardsprachen die Rede war, zum Großteil sogar schon kurz nach den germanischen Invasionen ins Römischen Reich. Trotz der Heterogenität innerhalb der jeweiligen Gruppen können für jedes Gebiet dennoch einige typische Merkmale aufgelistet werden. Für die holländischen Dialekte ist das noch am schwierigsten: Da die Standardsprache vor allem auf das Holländische ausgerichtet ist, zeigen die holländischen Dialekte sehr viele Gemeinsamkeiten mit der Standardsprache. Diphthonge wie in huis oder ijs sind aus dem Holländischen in die Standardsprache durchgedrungen, genauso wie der sogenannte 'Einheitsplural' von Verben auf -e(n) (wij/ jullie/ zij werk-en). Manche holländischen Merkmale, wie die diphthongierte Aussprache von ee, eu und oo (z.B. heejt statt heet, leujk statt leuk und booum statt boom) oder die stimmlose Aussprache der Frikative v, z und g (z.B. foet statt voet, seven statt zeven und choede statt goede), werden allmählich auch in der Standardsprache übernommen, vor allem in den Niederlanden. Dasselbe gilt für einige grammatische Merkmale, wie für den Gebrauch von hun als Subjekt (z.B. hun hebben gescoord) oder das generalisierte Relativpronomen wie/ wat (z.B. de speler wie gescoord heeft). Holländische Merkmale offene Diphthonge: blaaive für blijven oder kaaud für koud (diese sind auch zum sog. Poldernederlands durchgedrungen, vgl. 8.5.4) Reflexivpronomen zijn eigen: hij wast z'neige statt hij wast zich Diminutive auf -ie: meisies statt meisjes Brabantische Merkmale offene Diphthonge, die oft auch velar (d.h. hinten im Mund) gesprochen werden: blaaive für blijven oder oois für huis Diminutive auf -(s)ke: zakske statt zak, fietske statt fiets Reflexivpronomen zijn eigen: hij wast zijneige statt hij wast zich <?page no="175"?> 8.3 Geografische oder 'horizontale' Variation 175 Flämische/ Seeländische Merkmale Diphthongierung fehlt größtenteils: ies statt ijs und muus statt muis g wie h ausgesprochen: hoed statt goed (beachte: in den meisten flämischen und brabantischen Dialekten wird das h weggelassen) Reflexivpronomen hem und haar: hij wast hem und zij wast haar (= zich) Sächsische Merkmale Diphthongierung fehlt: ies statt ijs und muus (oder moes) statt muis -en am Ende eines Wortes wird vollständig ausgesprochen, manchmal mit Verschlucken des Schwa-Lautes: slikn statt slikke(n) Einheitsplural auf -t: wij/ jullie/ zij werkt statt werken Limburgische Merkmale 'singende' Intonation: manche Wörter mit einem ansteigenden Ton ausgesprochen werden k am Ende eines Wortes manchmal wie ch ausgesprochen: ich anstatt ik in manchen Gebieten ist du (ausgesprochen als [du]) als Anrede bewahrt Die Dialektologie beschäftigt sich mit verschiedenen Aspekten der Dialektvariation. Obwohl man bestimmten Dialektgebieten allgemeine Merkmale zuschreiben kann, muss nachdrücklich betont werden, dass Dialekte zu einem sehr großen Teil unabhängige Sprachsysteme sind. Um ihre Struktur zu ergründen, ist demnach sehr viel Forschungsarbeit notwendig. Aus soziolinguistischer Sicht ist vor allem wichtig, dass innerhalb der Dialektologie auch eine bedeutende historische Theoriebildung entwickelt wurde, die uns über die Motive der Sprecher für die Wahl einer bestimmten Art des Sprachgebrauchs aufklärt. In der Sprachwissenschaft der Junggrammatiker (19. Jahrhundert) hielt man den Sprachwandel für einen Prozess, der mit regelmäßigen Lautgesetzen beschrieben werden konnte. Die Dialektologen hingegen stellten auf ihren Dialektkarten wesentlich chaotischere Muster fest, wobei sich die Grenzen zwischen zwei Aussprachevarianten nicht mit allgemeinen phonologischen Prinzipien vorhersagen ließen. Ganz im Gegenteil - sie konnten für jedes Wort abweichen. Dieses Phänomen nennt man lexikalische Diffusion (lexicale diffusie). Die Entdeckung der lexikalischen Diffusion führte zu der bekannten Maxime der Dialektologie: 'Jedes Wort hat seine eigene Geschichte'. Sprachwandel läuft dann darauf hinaus, dass Sprecher Innovationen Wort-für-Wort über Sprachkontakt (taalcontact) übernehmen. Dabei sind zentralisierte, dichtbevölkerte und wirtschaftlich starke Gebiete erfolgreicher, ihre Innovationen zu verbreiten, als periphere, isolierte und dünnbevölkerte Gebiete, weil Kontakte mit Sprechern aus erstgenannten Gebieten wahrscheinlicher sind. Durch aufeinanderfolgende Wellen der Entwicklung aus verschiedenen Zentren entstehen Dialektkontinuen und nach einiger Zeit auch neue Sprachen. Diesen Vorgang beschreibt die sog. Wellentheorie oder Expansionstheorie (expansietheorie). Heute <?page no="176"?> 176 wissen wir, dass sprac Junggrammatiker als a berühmtes Beispiel aus chen: die Aussprache d Abb. 8.2: Lautv In zentralen Gebieten östlichen und südwest Variante, z.B. hoes, moe [u]-Aussprache treffen erstens, dass die Aussp schiedlich ist, und zwe Landen, genauer gesagt ben. Dialektologen spr expansie). Schon seit Jahrhund biets Niederländisch ge andere Sprachen eine w sogar für alle Sprecher, 8. Variatio chliche Veränderungen sowohl anhand der Auff auch anhand der Wellentheorie erklärt werden kö s der niederländischen Dialektologie kann dies ve des Lautes <ui> (huis, muis). verteilung zu muis und huis nach Kloeke (Hamans 2011 wie Holland und Brabant ist es ein Diphthong [œ tlichen Peripherie ein Monophthong, sei es [u] es), sei es [y] (eine frühe Entwicklung, z.B. huus, n wir übrigens auch im Niederdeutschen an. Die rache der Wörter huis und muis in manchen Gebi eitens, dass sich die Entwicklungen vom Zentrum t von Holland aus, über den Rest des Gebiets ver rechen hier auch von holländischer Expansion derten wird auch außerhalb des niederländischen esprochen. In Gebieten, in denen neben Niederlän wichtige Rolle spielen, ist Niederländisch für sehr , nicht die erste Sprache. Durch Zweisprachige u n in Sprache fassung der önnen. Ein eranschauli- 1) œy], in der (die älteste muus). Die Karte zeigt ieten unterm der Lage rbreitet ha- (Hollandse n Sprachgendisch noch r viele, oder nd Anders- <?page no="177"?> 8.4 Soziale oder 'vertikale' Variation 177 sprachige entstehen Kontaktvarietäten (contactvariëteiten) des Niederländischen, die deutlich von anderen Sprachen beeinflusst worden sind. Es gibt verschiedene Arten, von denen einige eigentlich schon eher eigene Sprachen sind als Varietäten. Ein erster Typ sind die Pidginsprachen. Das sind Sprachen, die in mehrsprachigen Gebieten als Umgangssprache benutzt werden, während sie fast niemand als Muttersprache beherrscht. Pidgins sind somit auch meistens stark vereinfachte Sprachen, mit einem begrenzten Wortschatz und frei von allen grammatischen Komplexitäten. In den Vereinigten Staaten soll es zwei Pidgins des Niederländischen gegeben haben, das Mohawk Dutch und das Negro Dutch, diese sind aber nicht überliefert. Ein anderer Typ sind die Kreolsprachen, die entstehen, wenn große Gruppen Fremdsprachiger eine meist europäische Umgangssprache als Muttersprache übernehmen. Auf diese Weise entstehen 'Mischsprachen', die ihre Merkmale teils von der Ausgangssprache der Anderssprachigen übernehmen, teils von der europäischen Zielsprache und teils auch eigene Merkmale entwickeln (oft typische Kontaktphänomene). Beispiele finden wir im ehemaligen Niederländisch-Indien (Petjo, Javindo, Ceylons-Nederlands) und in der Karibik (Negerhollands, Berbice Nederlands, Skepi Nederlands). Alle niederländischen Kreolsprachen sind ausgestorben oder vom Aussterben bedroht. Außer Pidgins und Kreolsprachen gibt es noch Kontaktvarietäten, die weniger von einer anderen Sprache beeinflusst worden sind, wobei nicht so sehr Zweisprachigkeit, sondern eher Entlehnung eine Rolle gespielt hat. Der Brüsseler Dialekt ist beispielsweise stark von der französischen Sprache beeinflusst, genau wie das Französisch-Flämische. Amsterdamer Dialekte hingegen haben viele Wörter aus dem Jiddischen übernommen. 8.4 Soziale oder 'vertikale' Variation 8.4.1 Der Aufschwung der gesprochenen Standardsprache Neben der horizontalen Variation gibt es auch die 'vertikale' Sprachvariation, bei der hierarchisch geordnete Varietäten, d.h. Varietäten aus einem unterschiedlichen geografischen und sozialen Bereich, nebeneinander existieren. Sehr lange wurde außerhalb der eigenen Gruppe eine importierte (oder 'exogene') Sprache wie Latein oder Französisch verwendet. Das kann man sehr gut an den überlieferten historischen Quellen sehen, die natürlich fast ausschließlich die Schriftsprache betreffen. Ab dem Mittelalter wurde auch mehr und mehr in der Volkssprache geschrieben, anfänglich in Schreibsprachen, die stark an Dialekte angelehnt waren (vgl. Kap. 2). Im 17. Jahrhundert entwickelte sich dann ein Vorläufer der heutigen niederländischen Standardsprache. Diese Standardsprache ist als Schriftsprache immer wichtiger geworden, auch wenn die Entwicklung der Schriftsprache in den Lage Landen damit sicher noch nicht abgeschlossen ist. Heute nimmt zum Beispiel auch Englisch eine sichtba- <?page no="178"?> 8. Variation in Sprache 178 re Rolle in der Gesellschaft ein (z.B. in Werbeslogans, in der Wissenschaft) und in bestimmten jüngeren Formen geschriebener Sprache (E-Mails, Chat, Internetforen) tauchen wieder neue Nicht-Standardmerkmale auf. Über das Verhältnis zwischen gesprochener Standardsprache und Dialekt im Laufe der Geschichte ist viel weniger bekannt als über die Schriftsprache, da die überlieferten schriftlichen Quellen nur sporadische Informationen darüber enthalten, wie früher gesprochen wurde. Das Streben nach einer einheitlichen Aussprache ist in jedem Fall jünger als die geschriebene Norm. Die meisten Experten situieren die Entstehung der gesprochenen Standardsprache, des Algemeen Beschaafd Nederlands (ABN), in den Niederlanden erst ins 19. Jahrhundert (vgl. Kap. 2). Bis zu einem gewissen Grad wurden Standardsprachen, häufig auch die Sprache der Hauptstadt, als die Sprachform gesehen, die die nationale Identität am besten ausdrückt. Durch dieses hohe gesellschaftliche Ansehen wurde die Standardsprache nicht nur eine zusätzliche Varietät neben den Dialekten, sondern es übernahmen immer mehr Sprecher die Standardsprache, auch im alltäglichen Kontakt mit Menschen aus derselben Region. Die Entwicklung, dass immer weniger Menschen in immer weniger Situationen Dialekt sprechen, nennt man Dialektverlust (dialectverlies). Der Dialektverlust hält bis heute an. Eine Situation, in der der Dialektverlust besonders erkennbar wird, ist die Erziehung. Sehr viele Eltern, die miteinander Dialekt sprechen, entscheiden sich dafür, mit ihren (kleinen) Kindern Standardsprache zu sprechen. Das führt fast unweigerlich dazu, dass die Kinder keinen, oder zumindest weniger gut, Dialekt beherrschen. Der Dialektverlust hat nicht in allen Regionen gleich stark um sich gegriffen: In den zentralen Regionen in den Niederlanden ist der Dialekt so gut wie verschwunden, aber in niederländischen Randgebieten hört man ihn noch relativ oft. In Belgien sind die Dialekte noch etwas stärker vertreten als in den Niederlanden, doch auch dort gibt es große Unterschiede zwischen dialektfesten Regionen (wie Westflandern) und Regionen mit einer starken Standardisierung (z.B. Limburg, das in diesem Punkt stark von der gleichnamigen niederländischen Nachbarprovinz abweicht). In den Regionen mit starkem Dialektverlust ist der Dialekt auf eine begrenzte soziale Gruppe, oft die unteren Schichten, zurückgedrängt worden. Wegen der starken Assoziation mit einer bestimmten sozialen Schicht fungieren die Dialekte in dieser Region somit auch eher als Soziolekte (sociolecten) oder Gruppensprache. Viele der lokalen Dialektmerkmale verschwanden unter dem Einfluss der Standardsprache und anderer Dialekte. Dadurch näherten sich die Dialekte nicht nur immer mehr dem Standard an, sondern ähnelten sich auch gegenseitig immer stärker. Auch dieser Prozess, der Dialektausgleich (dialectnivellering) genannt wird, dauert bis heute an. Er kann im Prinzip dazu führen, dass es langfristig kaum noch lokale Dialekte geben wird, und höchstens noch von regionalen Varietäten, Regiolekten (regiolecten) oder Akzenten gesprochen werden kann. Das Dialektkontinuum zum Deutschen und Friesischen 'zerbricht'. <?page no="179"?> 8.4 Soziale oder 'vertikale' Variation 179 In der Interaktion zwischen Standard und Dialekt sind Varietäten mit Merkmalen beider Formen entstanden. Von einer Situation, in der Dialekte neben einer deutlich abgegrenzten Standardsprache existierten (was als eine Form von Diglossie (diglossie) oder Zweisprachigkeit zu betrachten ist), entwickelte sich die Sprache zu einem Kontinuum mit der Standardsprache und dem Dialekt an den Polen und allerlei Zwischenvarietäten: eine sog. Diaglossie (diaglossie). In einer Diaglossie bestimmen die Sprecher je nach Situation mehr oder weniger autonom, wie viele standardsprachliche und wie viele lokale Elemente sie in ihrem Sprachgebrauch zulassen wollen. dialect standaardtaal ==> dialect tussenvariëteiten standaard DIGLOSSIE DIAGLOSSIE Abb. 8.3: Von Diglossie zu Diaglossie Ob ein Sprecher sich in einer diaglossischen Sprachlandschaft eher am Standardsprachepol oder eher am Dialektpol orientiert, hängt von vielen Faktoren ab, z.B. von sozialen Faktoren wie Herkunft, Alter, Bildungsgrad etc. Außerdem spielt auch die konkrete Kommunikationssituation eine Rolle. 8.4.2 Quantitativ soziolinguistische Forschung Weil 'gemischter' Sprachgebrauch sowohl Elemente enthält, die man Dialekten, als auch solche, die man der Standardsprache zuordnen kann, muss man ihn zwangsläufig mit quantitativen Techniken beschreiben: Nur so kann man nämlich angeben, ob Wörter, Laute und grammatikalische Konstruktionen zur Standardsprache gehören oder nicht und in welchen Situationen, wie oft und von wie vielen Sprechern sie verwendet werden. Der quantitativ soziolinguistische Forschungsansatz verwendet häufig das Konzept der linguistischen Variable (linguïstische variabele). Damit ist eine Reihe von Sprachbausteinen oder Varianten (varianten) mit derselben Bedeutung gemeint, die jedoch unterschiedliche soziale Konnotation haben. Variablen gibt es auf allen Beschreibungsebenen der Sprachwissenschaft, im Wortschatz (Flämisch ajuin vs. ui in der Standardsprache), auf der Ebene der Laute (unterschiedliche Aussprache des r, wie z.B. Zungenspitzen-[r], Gaumen-[ ] oder Approximant- [ ]) und auf dem Gebiet der Morphosyntax (die zweite Person Singular ist z.B. jij werk-t oder du werk-s). Der Einsatz von Variablen erlaubt es, den relativen Anteil von standardsprachlichen und dialektalen Elementen in einer Materialsammlung zu bestimmen. Mit der quantitativen Soziolinguistik assoziiert man vor allem die Arbeiten des amerikanischen Sprachwissenschaftlers William Labov (*1927). Seine Studien haben bis heute einen enormen Einfluss auf das Forschungsgebiet. Auf der Grundlage von Labovs Methoden wurden u.a. historische Phänomene wie Dialektausgleich und Dialektverlust erforscht. Außerdem beschäftigt man sich mit Standardisie- <?page no="180"?> 180 rungsprozessen und/ od die Standardisierung in Prozess dort in jüngste scheinen sich das belgis schon seit Jahren aufe weniger der Fall, da die den Niederlanden. Das belgische von der Nor Niederlanden übernom man sich beispielsweis destens genauso zur St 'weiche g' in goed wird von Sprechern aus Lim Labov und andere synchroner Information indem man verschied nennt man Apparentaus, dass sich die Sprach che eines heute Fünfzig dreißig Jahren gesproch pen miteinander vergle der Sprache. Ein bekanntes Beisp Veränderungen in der Jahr 1989. Van Hout s von hun als Subjekt (hu Abb. 8.4: hun 8. Variatio der Veränderungen innerhalb der Standardsprache n Flandern ist gründlich erforscht worden, weil er Zeit durchgesetzt hat. Auf dem Gebiet der Sch sche Niederländisch und das niederländische Nied inander zu zubewegen. Bei der Aussprache ist d e Standardaussprache in Flandern viel konservativ s niederländische Niederländisch weicht auch stär m ab, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunde mmen wurde. Für das niederländische Niederlän e fragen, ob Aussprachevarianten wie fis und seef tandardsprache gezählt werden können wie vis un in den Niederlanden sogar allgemein als südliche mburg, Nordbrabant oder Flandern wahrgenommen Soziolinguisten fanden heraus, dass man auf der nen feststellen kann, ob Dialektverlust oder -ausgle ene Generationen miteinander vergleicht. Diese -Time-Methode (apparent-time methode). Man g he von Erwachsenen kaum noch verändert und da gjähren somit Aufschluss darüber gibt, wie Zwanzig hen haben. Wenn man also die Sprache von zwei A eicht, erhält man Informationen über aktuelle Verä piel für eine solche (quantitativ-soziolinguistische) Standardsprache untersucht, ist die von Van Hou stellte u.a. fest, dass der nicht-standardsprachliche un hebben gescoord) immer häufiger vorkommt. n als Subjekt in Nimwegen (nach Van Hout 1989: 231) n in Sprache e. Vor allem sich dieser hriftsprache derländisch das deutlich ver ist als in rker als das erts aus den ndisch kann f nicht minnd zeef, das es Merkmal n. Grundlage eich vorlag, e Methode geht davon ss die Spragjährige vor Altersgrupänderungen Studie, die ut aus dem e Gebrauch <?page no="181"?> 8.4 Soziale oder 'vertikale' Variation 181 In einer Umfrage stellte sich heraus, dass in einer Gruppe von 36 älteren Männern aus Nimwegen gerade mal einer hun als Subjekt verwendete, in einer jüngeren Altersgruppe fünf von 35 und bei der jüngsten Gruppe sogar neun von 35. Dieses Ergebnis ist außerordentlich interessant: Wie überall in den Niederlanden gibt es auch in der Dialektlandschaft um Nimwegen Dialektausgleich und sogar Dialektverlust. Das typische Bild in einer soziolinguistischen Studie zeigt eigentlich, dass sich jüngere Sprecher in einer solchen Situation eher an der Standardsprache orientieren als ältere. Für hun als Subjekt gilt das aber offensichtlich nicht: Dieses Phänomen scheint auf dem Vormarsch zu sein, obwohl es nicht standardsprachlich ist. Abbildung 8.4 gibt nicht nur Aufschluss über das Alter. Offensichtlich gibt es auch geschlechtsspezifische Unterschiede, denn Mädchen verwenden das Subjekt-hun häufiger als Jungen. Auch diese geschlechtsspezifischen Unterschiede werden in der Soziolinguistik untersucht. Aus Studien zum Dialektverlust und -ausgleich geht dabei hervor, dass sich Frauen meistens mehr am Standard orientieren als Männer. Es gibt allerdings eine Ausnahme: Bei Variablen, für die sich der Standard im Wandel befindet, verwenden Frauen doch häufiger die innovativere Variante, auch wenn diese mehr von der Standardsprache abweicht. Frauen sind also in der sprachlichen Entwicklung Vorreiter, sowohl was Entwicklungen angeht, die sich in Richtung der Standardsprache bewegen, als auch bei solchen, die sich vom Standard weg bewegen. Man hat versucht, dieses progressive Verhalten der Frauen auf unterschiedliche Art und Weise zu erklären, beispielsweise mit der Rolle von Frauen in der Kindererziehung oder mit ihrer weniger günstigen Position auf dem Arbeitsmarkt. Beide Faktoren würden dann dafür sorgen, dass Frauen ihr soziales Prestige mehr über Sprache definieren müssten (und über Äußerlichkeiten wie Kleidung). Sehr überzeugend sind diese Erklärungen jedoch nicht; kinderlose Frauen oder erfolgreiche Karrierefrauen drücken sich nämlich nicht unbedingt 'männlicher' aus. Außer den schon erwähnten geschlechtsspezifischen Unterschieden bringen viele Studien Unterschiede auf der Grundlage der sozialen Schicht (sociale klasse) zu Tage. Auch hier sind die Ergebnisse nicht eindeutig: Einerseits orientieren sich höhere soziale Klassen normalerweise stärker an der Standardsprache, wodurch sie die Prozesse des Dialektverlustes und -ausgleichs anführen. Andererseits gibt es auch Beispiele, bei der die soziale Oberschicht die Veränderung, die sich von der Norm weg bewegt, beeinflusst und fördert. Ein Beispiel dafür ist das Poldernederlands (eine junge Variante der niederländischen Sprache, in der vor allem die Vokale stark von der Standardaussprache abweichen, vgl. 8.5.4). Zurzeit genießt das Poldernederlands großes Ansehen und es sieht so aus, also ob sich diese Variante weiter verbreiten würde. Geschlechtsspezifische Unterschiede und Unterschiede in der sozialen Schicht machen es nicht gerade einfach, Aussagen über die Richtung zu treffen, in die sich der Sprachwandel bewegt. Dennoch werden diese Faktoren in der sprachhistorischen Forschung häufig herangezogen, weil sie erlauben, die Rolle des sozialen Prestiges (sociaal prestige) aufzuzeigen: Sowohl Frauen als auch die Oberschicht <?page no="182"?> 8. Variation in Sprache 182 scheinen sich stärker an den Varianten mit einem solchen Prestige zu orientieren. Das Prestigekonzept gehört zu den Schlagwörtern der klassischen Soziolinguistik: Man geht davon aus, dass Sprecher Prestigevarianten mehr oder weniger bewusst übernehmen, beispielsweise um in Gesprächen einen besseren Eindruck zu hinterlassen. Wenn das langfristig dazu führt, dass eine Prestigevariante eine andere Variante verdrängt, spricht man von change from above the level of social consciousness oder kurz von change from above. Die Soziolinguistik hat sich sehr intensiv mit diesem Phänomen beschäftigt. Im Gegensatz zum change from below, für den meist sprachinterne Faktoren ausschlaggebend sind (weil eine Variante z.B. einfacher zu erlernen oder aus anderen Gründen anwenderfreundlicher ist), kann change from above eher mit sozialen Motiven erklärt werden. In der klassischen Soziolinguistik ging man davon aus, dass Sprecher eigentlich zwei Arten von Sprache unterscheiden: Zum einen die informelle Sprache, die man innerhalb einer bestimmten Gruppe, seiner Peergroup (peer group), benutzt, und zum anderen die Sprache, die man in formellen Situationen, in denen Hierarchie eine Rolle spielt, benutzt. In informellen Situationen, so die Annahme, wollten Sprecher vor allem Solidarität (solidariteit) ausdrücken und so häufig wie möglich die Sprache verwenden, die sie als Kind erlernt haben - ihren Idiolekt (meistens ein lokaler Dialekt). In formellen Situationen hingegen verlaufe die Verwendung von Sprache nicht spontan, sondern kontrolliert. In diesen Situationen versuchten die Sprecher Prestigevarianten zu benutzen. Dieses Bild von Sprachvariation führte zu einer typischen Methodik, wobei man versuchte, spontane Sprache (das informellste Register) mit vorgelesenen Texten (das formellste Register) zu vergleichen, und eventuell noch andere Situationen hinzu zu nehmen, die bezogen auf die Formalität eine Zwischenposition einnehmen. Das Variationskonzept der klassischen Soziolinguistik wurde in vielen anschaulichen Studien angewandt. Es wurde und wird jedoch auch stark kritisiert. So funktioniert ein Konzept wie das des Prestiges nicht immer auf die gleiche Art und Weise: Was Prestige überhaupt ist, lässt sich nicht so leicht definieren und es lässt sich nicht vorhersagen, welche Sprachformen Prestige erlangen werden. Beispiele wie die Entwicklung zu stimmlosen Frikativen und die Verwendung von hun als Subjekt illustrieren, dass Prestige nicht dasselbe ist wie Standardsprachlichkeit. Ein weiteres Problem des Prestigekonzeptes ist, dass es offensichtlich nicht nur die Reichen und Mächtigen der Gesellschaft sind, die ihre Art zu sprechen an den Rest der Gesellschaft weitergeben. So wurde z.B. die Anrede jij aus dem Holländischen der unteren Schichten übernommen. Diese Anrede war in dieser Schicht im 17. Jahrhundert üblich, während der Adel noch systematisch gij benutzte. Diese Verteilung wird in Quellen der damaligen Zeit beschrieben und außerdem als Stilmittel in Theaterstücken verwendet. Da sich Sprecher über die verschiedenen Möglichkeiten, aus denen sie wählen konnten, sehr wohl bewusst waren, gilt die Verallgemeinerung der jij- Form im heutigen Holland als change from above, die hier nicht die Prestigevariante des Adels verallgemeinert hat, sondern eine Form, die als intim und vertraut galt. <?page no="183"?> 8.4 Soziale oder 'vertikale' Variation 183 Daran kann man sehen, dass bei Sprachwandel kompliziertere soziale Motive wirken als nur die Tendenz der Sprecher, einem Prestige nachzueifern. 8.4.3 Im Kopf des Sprechers: Attitüde-Forschung Innerhalb der Soziolinguistik hat man sich, u.a. wegen der Komplexität sozialer Situationen, zum Ziel gemacht zu ermitteln, wie Sprecher über bestimmte Varianten und Varietäten denken, wie ihre Attitüde (attitude) gegenüber diesen sprachlichen Formen ist. Wird der Sprachgebrauch beispielsweise als schön oder hässlich beurteilt, mit gebildeten oder ungebildeten Sprechern assoziiert, wird er als sprachwissenschaftlich reich oder arm angesehen? Diese Art von Bewertungen hat meistens kaum etwas mit objektiven Merkmalen einer Sprache oder Varietät zu tun, sondern ausschließlich mit den Vorstellungen, die innerhalb der Sprache über einige Sprecher herrschen. So wird die Aussprache der Verbformen spreken im Plural als / spre: kn/ in den Niederlanden als boers ('plump') beurteilt, da diese Aussprache mit Sprechern der nordöstlichen Dialekte auf dem platten Land in Verbindung gebracht wird. In Deutschland hingegen ist diese Variante der Endung -en die normale und sogar die prestigeträchtigere Aussprache. Für die Attitüdeforschung sind verschiedene Methoden entwickelt worden. So kann man zum Beispiel vom Sprachverhalten ableiten, welche Varianten in welchen Situationen bevorzugt und welche eher vermieden werden. Da soziolinguistische Beobachtungen sehr arbeitsintensiv sind, entscheidet man sich meistens für eine eher zielgerichtete Arbeitsweise, bei der man versucht, die Attitüden einer Informantengruppe zu 'messen'. Diese Messung kann direkt durchgeführt werden, in dem man die Informanten unumwunden nach ihrer Meinung zum Sprachgebrauch fragt, entweder mit oder ohne Hörbeispiele. Die direkte Methode hat allerdings den Nachteil, dass die Testpersonen nicht immer sofort ihre wahre Einstellung preisgeben, sondern manchmal eher geneigt sind, Antworten zu geben, die sozial erwünscht sind. Mit einer indirekten Messung, bei der die Testpersonen nicht wissen, dass sie an einer Studie zur sprachlichen Attitüde teilnehmen, kann dieses Problem gelöst werden. Dabei werden z.B. Hörproben verwendet, anhand derer die Testpersonen sagen müssen, was sie über den Sprecher des Fragmentes denken. Typische Fragen sind: "Glauben Sie, dass der Sprecher eine leitende Funktion hat? " oder "Denken Sie, dass der Sprecher dieses Fragmentes vertrauenswürdig ist? ". Das erste Merkmal wird typischerweise Sprechern der Standardsprache zugewiesen, das zweite Dialektsprechern. Bei solchen Studien wird häufig die Matched-Guise- Technik (matched-guise techniek) verwendet, bei der verschiedene Fragmente, die die Probanden beurteilen sollen, von derselben Person eingesprochen werden. Unterschiede in der Evaluation sind dann mit großer Sicherheit dem Sprachgebrauch im jeweiligen Fragment zuzuschreiben und nicht anderen Faktoren wie beispielsweise der Stimmfärbung. <?page no="184"?> 8. Variation in Sprache 184 In der niederländischen Soziolinguistik wird seit 1960 intensive Attitüdeforschung betrieben. In manchen Studien scheinen die Testpersonen beispielsweise ziemlich typisch in Begrifflichkeiten von Solidarität und Prestige zu denken, was mit der klassischen Betrachtungsweise nach Labov übereinstimmt. Andere Studien zeigen eine dreiteilige Struktur der Attitüden, wobei neben dem prestigeträchtigen Sprachgebrauch auch Varianten vorkommen, die die persönliche Integrität unterstreichen (Merkmale wie Zuverlässigkeit oder Ehrlichkeit) oder die soziale Anziehungskraft beurteilen (Merkmale wie Humor oder unterhaltsame Gesprächspartner). Neuere Studien zeigen z.B., dass ein limburgischer Akzent in den Niederlanden mit Integrität assoziiert wird, während in einem großen Teil des niederländischsprachigen Belgiens ein brabantischer Akzent als sozial reizvoll wahrgenommen wird. Attitüden scheinen, genau wie Sprache an sich, in Zeit und Raum variabel zu sein. Sie variieren auch innerhalb verschiedener Bevölkerungsschichten und sind außerdem empfänglich für Faktoren wie Alter, Geschlecht und soziale Schicht. Das kann dazu verleiten, einen Zusammenhang zwischen den Attitüden, die eine bestimmte Person hat, und ihrem Sprachgebrauch zu sehen. Die Beziehung zwischen Attitude und Sprachgebrauch ist jedoch bei weitem nicht immer gleich offensichtlich. Nicht alle Informanten, die die Standardsprache als sehr prestigeträchtig betrachten, würden selbst in formellen Situationen auf Standardsprache umschalten. Attitüdeforschung wurde nicht nur bezogen auf Varianten des Niederländischen betrieben, sondern auch auf Attitüden gegenüber Sprachen, die in den Medien vertreten sind (wie Englisch), Sprachen, die als Fremdsprache erlernt werden, oder Sprachen von Migranten. 8.5 Aktuelle Entwicklungen in der niederländischen Sprache 8.5.1 Standardisierung abgeschlossen? Wenn ein Standardisierungsprozess wie die Verallgemeinerung des gesprochenen Standards lange Zeit andauert, stellt man sich die Frage, wann diese Entwicklung definitiv abgeschlossen ist. Heute ist klar, dass Standardisierung niemals zu vollständiger Einheitlichkeit führen wird: Es spricht schließlich einiges dafür, dass die Standardisierung momentan nicht im gleichen Tempo wie vor einigen Jahrzehnten voranschreitet. Das zeigt nochmals, dass Variation der Sprache eigen ist und Sprache nicht nur als Kommunikationsmittel dienen soll, sondern sie den Sprechern auch ermöglicht, ihre eigene Identität auszudrücken. Dass Standardisierung an Stärke verliert (manche sprechen sogar von Destandardisierung), zeigt sich in unterschiedlichen aktuellen Entwicklungen. So wird von einer Dialektrenaissance gesprochen, bei der der Dialekt in bestimmte Nischen der Sprache eindringt, in denen er früher kaum oder nicht vorhanden war (s. 8.5.2). Außerdem scheint sich die Norm der Standardsprache sowohl in den Niederlanden als auch in Flandern auszuweiten, was <?page no="185"?> 8.5 Aktuelle Entwicklungen in der niederländischen Sprache 185 sich in neuen Varietäten des Niederländischen widerspiegelt. Diese neuen Varietäten sind vor allem in informellen Registern der gesprochenen Sprache sehr erfolgreich, wie das Poldernederlands und Verkavelingsvlaams (s. 8.5.3). Vor allem in Großstädten entstehen durch den Kontakt des Niederländischen mit anderen Sprachen auch vollkommen neue Varietäten. Diese Entwicklungen kann man häufig nur dann nachvollziehen, wenn man die lokalen Gegebenheiten in einer Region berücksichtigt. Sie zeigen sich auch von Person zu Person sehr unterschiedlich. Aus diesen Gründen sind sie eine wichtige Herausforderung für die klassischen soziolinguistischen Forschungsmethoden, die sich vor allem eignen, um verallgemeinernde Aussagen über große Bevölkerungsgruppen zu machen. 8.5.2 Dialektrenaissance und Anerkennung von Mundarten Seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts glauben einige Wissenschaftler, eine Dialektrenaissance (dialectrenaissance) zu erkennen, ein neu auflebendes Interesse an Dialekten. Die Dialektrenaissance ist ein schwierig zu beschreibendes Phänomen, denn sie äußert sich auf unterschiedliche Art und Weise. So erfreut sie sich der Dialekt als Teil der Lokalgeschichte und der lokalen Identität großer Beliebtheit: Viele Amateurhistoriker wollen Wörterbücher oder Grammatiken zu einem lokalen Dialekt schreiben oder Gespräche und Lieder aufnehmen. Frappierender ist allerdings, dass der Dialekt auch in Gebiete vordringt, in denen er früher höchstens eine kleine Rolle gespielt hat. Die Bibel beispielsweise wurde in verschiedene Dialekte übersetzt. Der Dialekt ist in Literatur, Theater, Kabarett und Musik im Kommen und dringt so bis in den Kultursektor vor. Ein Problem bei der Beschreibung der Dialektrenaissance ist, dass keines der genannten kulturellen Phänomene vollkommen neu ist: Auch im 19. Jahrhundert gab es Dialektliteratur und -theater, vor allem inspiriert vom Faible für das Lokale und für die Natur in der Romantik. Dieses Faible fehlt in der Dialektrenaissance allerdings größtenteils, da die Genres, die man benutzt, ein Teil der modernen Popkultur sind und die Kulturprodukte so weit über das eigentliche Kulturgebiet hinaus bekannt werden. Ein Beispiel ist die Comicfigur Haagse Harry, ein Arbeitsloser aus Den Haag, der gerne randaliert (s. Abb. 8.5). Dialektrenaissance zeigt sich auch in der Popmusik: In den letzten Jahrzehnten gibt es immer mehr Musiker, die Dialekt verwenden. Das Typische an den Musikern der jüngeren Generation ist, dass sie den Dialekt im Gegensatz zu der älteren Generation nicht als Motor für lokale Identität sehen, sondern eher als Instrument, mit dem sie ihre eigenen persönlichen Gefühle am besten ausdrücken können (Stichwort Authentizität). Bekannte niederländische Bands sind Normaal, Rowwen Hèzze und Skik. In Flandern gibt es Flip Kowlier und Axl Peleman. Die jungen Künstler singen über Themen der heutigen industrialisierten und urbanisierten Gesellschaft. <?page no="186"?> 186 A Das Fragment des we moaten) beschäftigt sic auch englische Wörter n tlp, is ne party dj moa skratch solo's kan nie brieng sex i zinne lust en zin l tlp, de gentse porno-ki bza, inne vlamsche rap en ne parttime vizzeklu moj kan leute moaken en tjikenen lik de beste mijn respect voe bza i Die Dialektrenaissance lend ist jedoch, dass die zur Folge hat: Der Dia gängig gemacht und nic Eine weitere wichtig onalsprachen (streekta parates, Regionalsprach Die Niederlande haben onalsprachen anerkann nung als offizielle Amt 8. Variatio Abb. 8.5: Haagse Harry ( Niet Te Wènag! ! ) estflämischen Sängers Flip Kowlier (Textbeispie ch mit Themen wie Hip-Hop-Musik und Pornogr nicht vermieden werden: TLP is een party DJ nt ie maar scratchsolo's kan hij niet brengen leven seks is zijn lust en zijn leven ing TLP de Gentse pornokoning pper BZA is een Vlaamse rapper uot en een part-time vieze kloot n lik ginjin maar hij kan plezier maken als geen e en tekenen als de beste gruot mijn respect voor BZA is groot e erhöht die Sichtbarkeit des Dialektes in den Med es keine Zunahme des Dialektes im täglichen Sprac alektverlust und der Dialektausgleich werden also cht einmal aufgehalten. ge Entwicklung ist die Anerkennung von Dialekte alen). 1992 entschlossen sich die Mitgliedsstaaten hen und Sprachen regionaler Minderheiten zu un n in diesem Rahmen Limburgisch und Nedersaksis nt, während Friesisch eine noch weiter reichende tssprache in der Provinz Friesland erhalten hat. Im n in Sprache el aus: min rafie, wobei neen dien. Auffalchgebrauch nicht rücken als Regin des Euronterstützen. ch als Regie Anerkenm Zuge der <?page no="187"?> 8.5 Aktuelle Entwicklungen in der niederländischen Sprache 187 Anerkennung (einiger) Dialekte als Regionalsprachen, versucht man den Dialekt auf unterschiedliche Art und Weise als vollwertige Sprache zu etablieren: In vielen niederländischen Gemeinden gibt es Straßenschilder im Dialekt, man strebt eine einheitliche Schreibweise an und möchte sogar Rechtschreibprogramme oder Software von Navigationsgeräten im Dialekt entwickeln. Belgien hat die Charta der Regional- oder Minderheitensprachen nicht ratifiziert, aus Angst vor Unstimmigkeiten mit der eigenen komplexen Sprachgesetzgebung, und hat deshalb keine Dialekte anerkennen lassen. In Frankreich wurde Westflämisch anerkannt. 8.5.3 Post-Standardvarietäten In den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts fand der niederländische Sprachwissenschaftler Jan Stroop heraus, dass eine große Gruppe renommierter Sprecher - vor allem Frauen in der Randstad - anfing, eine Varietät zu sprechen, die deutlich vom Standardniederländisch abwich, das Poldernederlands. ie oe beet leuk boot beit luik bout teid uit koud taaid kaaud aut aa Abb. 8.6: Vokaldreieck des Poldernederlands (nach Stroop 1998) Das auffälligste Merkmal des Poldernederlands ist die sehr offene Aussprache der Diphthonge ei, ui und ou (bzw. taaid statt tijd, aut statt uit und kaaud statt koud). Parallel zu diesen Lauten haben auch das ee, das eu und das oo eine offenere und stark diphthongierte Aussprache entwickelt. Aus weiteren Studien geht hervor, dass junge Frauen in der Randstad zwar finden, dass Poldernederlands weniger gepflegt klingt als die Standardsprache, sie sich aber dennoch stärker damit identifizieren. Die Varietät verbreitet sich mittlerweile sehr schnell über die Niederlande, auch wenn sie in den Ohren mancher stark stigmatisiert ist. In Flandern bekommt die Standardsprache keine Konkurrenz vom Poldernederlands, sondern aus einer anderen Ecke. Die gesprochene flämische Sprache steht der niederländischen Standardsprache weniger nahe als die gesprochene Sprache in den Niederlanden. In den meisten formellen Situationen galt als Norm jedoch der stark <?page no="188"?> 8. Variation in Sprache 188 am nördlichen Niederländisch orientierte Standard. Jüngere Sprecher finden es momentan wohl weniger dramatisch, wenn in solchen Situationen wieder regionale Merkmale durchschimmern. Dieses Phänomen hat unterschiedliche Namen, die fast alle recht negativ klingen, wie Verkavelingsvlaams, Soapvlaams, Schoon Vlaams, tussentaal usw. Die Bezeichnung tussentaal, die am häufigsten verwendet wird, ist ein Ausdruck, der die Sprache auf der einen Seite zwar ziemlich neutral als etwas beschreibt, das sowohl Merkmale der Standardsprache als auch Merkmale des Dialektes aufweist. Auf der anderen Seite wird diese Varietät jedoch als vorübergehende und unvollkommene Sprachform stigmatisiert, die sich mit fortschreitender Entwicklung in Richtung der Standardsprache bewegt. Im Gegensatz zum Poldernederlands ist Verkavelingsvlaams sehr heterogen: Es basiert auf dem belgischen Standardniederländisch, ist jedoch von regional gefärbten Lauten und Strukturen durchzogen, die sich von Gebiet zu Gebiet unterscheiden. Eines der bekanntesten Merkmale ist das Wegfallen des -t am Ende eines Funktionswortes (wie nie statt niet, da statt dat), außerdem kommt u.a. das Pronomen gij (statt jij) vor sowie Diminutive auf -ke (z.B. tafelke statt tafeltje). Auf den ersten Blick scheint die Verwendung von Varietäten wie Poldernederlands und Verkavelingsvlaams darauf hinzuweisen, dass der Standardisierungsprozess teilweise rückgängig gemacht wird. Es gibt allerdings auch gute Gründe anzunehmen, dass diese Varietäten teilweise als Folge der Standardisierung entstanden sind: Die Standardsprache ist immerhin jahrzehntelang das wichtigste sprachliche Instrument gewesen, um gesellschaftliches Ansehen zu erstreben oder zu demonstrieren. Zu einem Zeitpunkt, zu dem die Kenntnis der Standardsprache weit verbreitet ist, kann diese nicht länger soziale Unterschiede markieren. Es scheint also logisch, dass Sprecher nach neuen sprachlichen Möglichkeiten suchen, um dies zu tun. Außerdem sind die traditionellen westeuropäischen Gesellschaftsformen und auch die dazugehörige Kultur der Standardsprache in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich informeller geworden. Das Abweichen von der Standardsprache wird in einem derartigen Klima von vielen als Form von Authentizität (authenticiteit) gesehen. Sprecher weichen bewusst von der Standardsprache ab, um zu signalisieren, dass sie sich wohl fühlen, die Situation unter Kontrolle haben oder einfach sie selbst sind. 8.5.4 Neue Variation: vom Weltniederländisch zu straattaal und Murks Niederländisch steht wegen seiner kolonialen Vergangenheit schon sehr lange mit anderen Sprachen in Kontakt, aber erst mit der stärkeren Präsenz in der niederländischen Gesellschaft haben die Kontaktvarietäten mehr Beachtung gefunden. Diese Präsenz hängt vor allem mit der Immigration aus den ehemaligen Kolonien (hauptsächlich aus Indonesien und Suriname) und mit Arbeitsmigranten (vor allem aus Marokko und der Türkei) zusammen. In der heutigen Gesellschaft kommen diese <?page no="189"?> 8.5 Aktuelle Entwicklungen in der niederländischen Sprache 189 Kontaktvarietäten in einer komplexen Interaktion mit der niederländischen Sprache und auch untereinander in Kontakt. Das surinamische Niederländisch entlehnt seine ethnischen Elemente dem Sranantongo (vgl. Kap.1) - vor allem bei der Aussprache und dem Wortschatz. Das typischste Merkmal in der Aussprache ist das bilabiale w, das ein bisschen wie ein [u] klingt. Im lexikalischen Bereich fallen vor allem die Srananwörter auf, die auch häufig von Jugendlichen mit surinamischem Hintergrund verwendet werden, wie z.B. brada (Bruder/ Freund), doekoe (Geld), sma(tje) (Mädchen) und waggie (Wagen). Das marokkanische Niederländisch weist Einflüsse aus dem marokkanischen Arabisch und aus den Berbersprachen auf. Ein Merkmal ist beispielsweise die Aussprache von s als sj (z.B. muisj, sjlapen) oder das Verschlucken des Schwa, vor allem in offenen Silben (z.B. gvangen statt gevangen und jongtje statt jongetje). Die erste Generation der marokkanischen Einwanderer hat außerdem Probleme mit dem niederländischen Vokalsystem, u.a. mit dem Unterschied zwischen kurzen und langen Vokalen. Auch eine Beeinflussung des Wortschatzes kommt vor, nicht nur auf den zu erwartenden lexikalischen Ebenen, wie dem Wortschatz im Hinblick auf den Islam oder die marokkanischen Bevölkerungsgruppen, sondern auch in Form von Interjektionen (z.B. we llah 'ich schwöre' und teez 'shit'). Im türkischen Niederländisch kommt unter anderem die Palatalisierung des k (klingt etwa wie kj) und die Verwendung des Zungenspitzen-r vor. Sprecher der ersten Generation haben typischerweise Probleme mit Konsonantenclustern und sagen beispielsweise files statt fles. Die oben beschriebenen Varietäten spielen in den Niederlanden als Teil der sog. straattaal eine deutliche Rolle. Mit straattaal wird nicht eine einzelne Varietät des Niederländischen bezeichnet, sondern die Sprache, die Jugendliche vor allem mit ausländischer Herkunft in der Randstad miteinander sprechen. Aufgrund der Vielfältigkeit in den Städten gibt es sehr viele Arten von straattaal - auch wenn es einige Merkmale gibt (meistens grammatikalische Eigenheiten), die für alle Kontaktvarietäten gelten. Das auffallendste gemeinsame Merkmal ist sicher die Universalität des Artikels de (bekannt ist hier vor allem der Hit Waar is de meisje der Hip-Hop-Band De Hoop) sowie das flektierte Adjektiv (z.B. een mooie meisje). Ansonsten hängt es sehr stark vom Hintergrund des Sprechers ab, welche Elemente in der straattaal genau vorkommen. Fast alle Studien zeigen, dass Sprecher der straattaal aus mehreren Kontaktvarietäten schöpfen: Jugendliche mit einen surinamischen Hintergrund mischen beispielsweise nicht nur Sranantongo in ihr Niederländisch, sondern übernehmen auch Elemente aus dem Papiamentu der Antillianer oder marokkanische Elemente. Da viele Jugendliche die fremde Sprache nicht oder kaum noch sprechen, ist es unwahrscheinlich, dass sie die Herkunft aller Elemente kennen. Es tritt offensichtlich Vermischung auf. Dabei treten das surinamische und das marokkanische Niederländisch am leichtesten zutage, da ihre Sprecher 'verborgenes Prestige' genießen. Zu den ethnischen Elementen kommt noch ein starker englischer Einfluss hinzu. Dies zeigt, dass straattaal nicht so sehr eine ethnische, sondern eher eine Jugend- <?page no="190"?> 8. Variation in Sprache 190 sprache (oder ein Soziolekt) ist, die man aufgrund ihrer heterogenen Zusammenstellung auch als Multi-Ethnolekt (multi-etnolect) bezeichnet. Eine besondere Form des Sprachgebrauchs ist Murks. Weiße Jugendliche benutzen Murks, um straattaal zu imitieren und zu ironisieren, aber nur, wenn keine straattaal-Sprecher in der Nähe sind. Man kann eher von einem Sprachspiel als von einer echten Varietät des Niederländischen sprechen. Das ist für einen Soziolinguisten nicht weniger interessant, da es einen Einblick in die komplexe soziologische Realität der modernen Großstadt vermittelt. Auch in Flandern kommt (Multi-) Ethnolekt vor, wobei das Niederländische vor allem mit Marokkanisch und Türkisch interagiert. Außerdem werden auch sehr viele Dialektelemente in die Kontaktvarietäten übernommen. Eine Studie aus Antwerpen zeigt, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund in manchen Situationen sehr bewusst die ausländischen Merkmale in ihrer Sprache übertreiben. Diese Form der 'Sprachsabotage' bezeichnen sie als 'illegales Sprechen'. In der belgischen Provinz Limburg gibt es auch eine italienisch-niederländische Kontaktvarietät: Citétaal. 8.5.5 'Superdiversity' auf dem linguistischen Markt: von Lekten zu Sprechstilen? In der neueren Geschichte der niederländischen Sprache sind offensichtlich mehrere neue Varietäten entstanden, die als Gruppensprachen oder Soziolekte charakterisiert werden können. Das Phänomen der Soziolekte ist nicht neu, aber zurzeit nehmen sie eine wichtigere Rolle ein als früher. Sie scheinen gewissermaßen den Platz der Dialektvariation einzunehmen, die entweder verloren gegangen oder nivelliert ist. Soziolekte unterscheiden sich von Dialekten darin, dass die grammatischen Unterschiede zur Standardsprache weniger prägnant sind. Sie unterscheiden sich meistens nur durch einen eigenen Wortschatz und einige Merkmale in der Aussprache. Soziolekte entstehen in einem breiteren sozialen Kontext, in dem eine bestimmte Gruppe ihrer Identität über die Sprache Ausdruck verleihen möchte. Es gibt sehr viele Arten von Faktoren, die eine Gruppenidentität definieren können, vom Alter über die Ethnie, den Beruf und das Geschlecht bis hin zur sexuellen Orientierung und dem Musikgeschmack oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Subkultur. All diese Merkmale können offensichtlich auch sprachliche Variation hervorrufen. Untersuchungen in den Vereinigten Staaten haben gezeigt, dass bestimmte Sprachlaute typischerweise von Leuten aus der Schwulenszene verwendet werden. In über Musik definierten Subkulturen wiederum kann der eigene Wortschatz angeführt werden, um u.a. auf Menschen innerhalb und außerhalb dieser Subkultur zu verweisen. Diese Art von identitätsbildenden Faktoren schließen sich in der Regel nicht aus: Es ist sogar normal, dass Sprecher zu verschiedenen sozialen Gruppen gehören. Jeder Sprecher ist dabei wegen seiner mehr oder weniger einzigartigen Biografie verschiedenen Einflüssen ausgesetzt. In diesem Zusammenhang wird manchmal behauptet, dass wir momentan eine Zeit der linguistic superdiversity erleben. In einer solchen Situation machen viele sprachliche Variationen eigentlich <?page no="191"?> 8.6 Zusammenfassung 191 keinen Teil von erkennbaren Varietäten aus. Soziolinguisten verwenden deshalb häufig den Begriff 'Sprechstil', um auf eine bestimmte Art des Sprachgebrauchs einer Person hinzuweisen. Manche neuere Ansätze in der Soziolinguistik machen es sich auch nicht länger zum Ziel, Varietäten zu beschreiben, sondern eher die sozialen Bedeutungen (sociale betekenissen) darzustellen, die an Sprachvarianten gekoppelt werden können. Die zugrundeliegende Vorstellung ist die eines gigantischen linguistischen Marktes, auf dem Sprachbenutzer sich auf der Grundlage sozialer Bedeutungen aus den Varianten, die für sie in Frage kommen, eine vollkommen einzigartige Sprache zusammenstellen - abhängig von der gewünschten Identität. Dieser Ansatz steht im Kontrast zur klassischen Herangehensweise, bei der Sprache als Mittel zur Bildung einer gemeinsamen Identität verstanden wird und nicht als eine Spiegelung der eigenen Identität. Bei diesem Ansatz wird solchem Sprachgebrauch besondere Beachtung geschenkt, bei dem Sprecher in ihren Aussagen auch implizit die Form, mit der sie etwas sagen, kommentieren. Das wird Stylisation (stylisation) genannt. Von Crossing (crossing) spricht man, wenn die Sprache anderer sehr bewusst übernommen oder nachgeahmt wird. Die flämische Sängerin Hannelore Bedert imitiert in der ersten Strophe ihres Songs Vocabulaire (s. Textbeispiel) die Sprache von Leuten, die sich über den westflämischen Dialekt der Sängerin lustig machen. Bedert übernimmt dabei nicht-standardisierte Elemente, die für brabantische Dialekte typisch sind (Crossing), u.a. der Gebrauch von gij und uwe als Anrede und Wörter wie vocabulaire und klappen ('reden'). In der zweiten Strophe wechselt die Sängerin zu ihrem eigenen westflämischen Dialekt, wobei aus dem Kontext und dem übermäßigen Gebrauch von auffallenden Merkmalen, wie der Aussprache des g als h, der abweichende Charakter und die erschwerte Verständlichkeit deutlich werden. juffrouw, er zijn wat woorden / in uwe vocabulaire / die wij niet helemaal begrijpen / juffrouw, er zijn wat letters / in uwe vocabulaire / die wij niet niet helemaal kunnen horen / ge moet dringend leren klappen / uw taal, juffrouw, uw taal / zo komt ge niet onder de mensen / ge klinkt zo abnormaal ik zeg, madam, het is west-vloams / 't è nie gemaakt om te verstoan / a 'k ik min klep wil open doen / awel, dan doe'k ze op'n / en a 'k ik hoesting é / om de h in een g te verand'ren / dan é gie doar geen zoakens mee 8.6 Zusammenfassung Neben und eigentlich auch innerhalb der Standardsprache gibt es unterschiedliche Formen des Niederländischen. Dabei ist es nicht immer ganz einfach zu bestimmen, was eigentlich noch '(Standard-)Niederländisch' ist und was nicht. Obwohl in diesem Kapitel nur ein Teil der gesamten Variation beschrieben wurde, wird die wichtige Rolle, die diese Sprachvariation in der heutigen Gesellschaft spielt, sehr deut- <?page no="192"?> 8. Variation in Sprache 192 lich: Sie erlaubt es den Sprechern, sich über Sprache zu definieren. Durch die Beschäftigung mit Sprachvariation kann man mehr über die Grammatik, die Sprachgeschichte und sogar die Struktur der niederländischen und flämischen Gesellschaft erfahren; hier sind die Ansätze vorgestellt, bei denen die Variation im Mittelpunt steht (Dialektologie und Soziolinguistik). Die Erforschung von Varietäten verläuft größtenteils parallel zu der Entwicklung von allgemeinen sprachlichen Variationen. Durch die extreme Zunahme der geografischen und sozialen Mobilität im zwanzigsten Jahrhundert verschiebt sich der Fokus von lokalen Varietäten fester und größtenteils homogener Gemeinschaften auf Städte mit einer sehr heterogenen Population. Das bedeutet, dass mehrschichtige Identitäten, starke oder vielfältige Besiedlung und komplexe soziale Beziehungen die Regel sind. Dennoch ist weder Sprachkontakt an sich eine neue Erscheinung, noch sind die 'alten' Variationen fester Sprachgemeinschaften verschwunden. Außerdem ist die Vorstellung eines linguistischen Marktes, auf dem sich die Sprecher bedienen können, sehr verlockend. Es steht fest, dass die Sprache, mit der man aufwächst, im weiteren Leben nach wie vor einen entscheidenden Einfluss hat, was bedeutet, dass die vollkommene Wahlmöglichkeit bei Erwachsenen eine Illusion ist. Die traditionellen Ansätze zur sprachlichen Variation sind daher noch immer relevant. Das 21. Jahrhundert braucht somit genauso sehr Dialektatlanten und Studien, die sich mit den neuen Phänomenen befassen. Dabei ist es vor allem interessant zu erfahren, wie neue und oft fremdsprachliche Elemente in die niederländische Sprache integriert werden. Und wir brauchen natürlich neue Methoden, mit denen wir die zukünftigen Entwicklungen der niederländischen Sprache verstehen können. Aufgaben Aufgaben 1. Was sind Idiolekte, Dialekte, Soziolekte, Ethnolekte, Sprechstile? Geben Sie jeweils ein Beispiel, sowohl aus dem Niederländischen als auch aus dem Deutschen. Welche Art von Varietäten findet man eher in einer Diglossie, und welche in einer Diaglossie? 2. Was sind Sprachattitüden? Warum interessieren sich Soziolinguisten dafür? 3. Was versteht man unter 'Stylisation' und 'Crossing'? Warum sind das für Soziolinguisten interessante Phänomene? Versuchen Sie ein eigenes Beispiel zu finden. 4. Benennen Sie einige Unterschiede zwischen der Dialektologie und der Soziolinguistik, sowohl auf inhaltlichem als auch auf methodischem Niveau. Inwieweit hängen die inhaltlichen und methodischen Unterschiede zusammen? 5. Sammeln Sie in den niederländischen und flämischen Medien (z.B. auf den Webseiten von Fernseh- und Radiosendern, via Youtube u.ä.) fünf Beispiele <?page no="193"?> Aufgaben 193 von Personen, die Ihrer Meinung nach eine Form des Niederländischen sprechen, die von der Standardsprache abweicht. a. Können Sie für jede Person fünf Merkmale nicht-standardsprachlichen Sprachgebrauchs ermitteln? b. Können Sie die Varietät, die die Personen jeweils sprechen, benennen? Um welche Art von Varietät handelt es sich? c. Können Sie den Grund für die Abweichungen erklären? Handelt es sich um bewusste oder unbewusste Abweichungen von der Standardsprache? In welchem Maße liegen diese Abweichungen Ihrer Meinung nach in der spezifischen Gesprächssituation begründet? d. Erkennen Sie Ähnlichkeiten im desbetreffenden Sprachgebrauch und Ihrem eigenen Niederländisch? Warum (nicht)? Literatur zum Weiterlesen Die traditionelle niederländische Dialektvariation ist in verschiedenen Dialektatlanten ausführlich beschrieben, wie in Reeks Nederlandse Dialectatlassen (Blancquaert & Pée 1925-1982) und Fonologische/ Morfologische und Syntactische Atlas van de Nederlandse Dialecten (FAND bzw. MAND bzw. SAND). Sehr zugänglich ist auch der Dialectatlas van het Nederlands von Van der Sijs et al. (2005). Bekannte Einführungen in die Dialektologie sind u.a. Weijnen (1966) Nederlandse Dialectkunde und Goossens (1977) Inleiding tot de Nederlandse dialectologie. Klassische soziolinguistische Studien sind z.B. die Dissertationen von Van de Velde (1996) Variatie en verandering in het gesproken Standaard-Nederlands und von Van Hout (1989) De structuur van taalvariatie. Das Oevre von Jan Stroop gilt als Standardreferenz in Bezug auf das Poldernederlands (u.a. Stroop 2010). Zum Verkavelingsvlaams gibt es ein aktuelles Buch von Absilis, Jaspers & Van Hoof (2012). Nortier (2009) bespricht in Nederland Meertalenland verschiedene Formen der Sprachvariation in den Niederlanden sowie auch Van der Sijs (2005b) in Wereldnederlands. Die wissenschaftliche Zeitschrift Taal & Tongval ist der Sprachvariation gewidmet (www.taalentongval.eu). Hier finden sich zahlreiche qualitativ hochwertige Artikel. <?page no="194"?> 9. Sprache in Bewegung Ingeborg Harmes Thes naghtes an minemo beddo uortheroda ich minen wino; ich uortheroda hine ande neuand sin niet. (Oudnederlands) Een welken die mine ziele mint socht ic des nachts in mijn bedde. Ic sochte hem: ende ic en vants niet (Middelnederlands) 's Nachts in mijn slaap zoek ik mijn lief. Ik zoek hem, maar ik vind hem niet. (Hedendaags Nederlands) Hooglied (3: 1) Sprachen verändern sich ständig. Das ist deutlich zu erkennen, wenn man das Niederländische von heute mit seinen älteren Sprachstadien vergleicht. Das Beispiel aus dem Hooglied (3: 1) zeigt, dass das moderne Niederländisch sich erheblich vom Alt- und Mittelniederländischen unterscheidet. Auch heutzutage verändert sich das Niederländische allmählich, was wir aber oft gar nicht so (bewusst) wahrnehmen. So kann z.B. der Gebrauch von hun als Subjekt im nichtstandardsprachlichen hun hebben het gedaan auf eine Veränderung im pronominalen System des Niederländischen hinweisen. Auch kommen neue Wörter (whatsappen) dazu, während andere wie ijdeldarm ('Vielfraß') wieder aus dem Sprachgebrauch verschwinden. Veränderungen in einer Sprache fallen aber vor allem dann auf, wenn sie die Regeln der Standardsprache und das Idealbild einer Sprache verletzten. Der Prozess, bei dem sich Sprache innerhalb eines bestimmten Zeitraums verändert, nennt man Sprachwandel (taalverandering). Sprachwandel ist Teil der Sprachgeschichte, die man aus zwei Perspektiven betrachten kann: Die innere Sprachgeschichte (interne taalgeschiedenis) beschäftigt sich mit den Veränderungen innerhalb einer Sprache, wie z.B. Lautveränderungen, grammatische und lexikalische Veränderungen. Die äußere Sprachgeschichte (externe taalgeschiedenis), die die innere Sprachgeschichte beeinflusst, beschäftigt sich mit dem Kontext, in dem diese Veränderungen stattfinden. Dazu gehören politische und gesellschaftliche Veränderungen, das Verhältnis Niederlande - Flandern, die allmähliche Ausbildung der Standardsprache, die Position des Niederländischen hinsichtlich anderer Kultursprachen wie Latein und Französisch und die vorhandenen Quellen, in denen man Sprachwandel beobachten kann. Mit der äußeren <?page no="195"?> 9.1 Der Prozess des Sprachwandels 195 Sprachgeschichte befasst sich das 2. Kapitel, in diesem Kapitel gehen wir auf die innere Sprachgeschichte und den eigentlichen Prozess des Sprachwandels ein. Da die innere Sprachgeschichte des Niederländischen äußert reich und komplex ist, werden in diesem Kapitel nur einzelne Veränderungen exemplarisch behandelt. 9.1 Der Prozess des Sprachwandels Wenn wir uns die Beispiele aus dem Hooglied (3: 1) anschauen, fallen sofort einige Unterschiede zwischen den drei Sprachstadien auf, wie z.B. in der Rechtschreibung (ich - ic - ik und mine - mijn), der Konjugation (vand statt vond), der Deklination (minemo - mine - mijn), der Grammatik (eine zweigliedrige Verneinung en ... niet in ic en vants niet statt ik vond niet) oder in Wörtern, die heute etwas anderes bedeuten als damals (fortheron 'fordern' für zoeken 'suchen'). Obwohl die Rechtschreibung genau genommen zum Bereich der äußeren Sprachgeschichte gehört, können Rechtschreibunterschiede auf Lautunterschiede weisen, wie z.B. das [i] in minen und das [ i] in mijn. Diese Beispiele zeigen, dass Sprachwandel auf allen Ebenen stattfindet, von der Phonologie, über die Morphologie und Syntax bis hin zur Lexikologie und Semantik. Veränderungen auf der einen Sprachebene können Folgen haben für die anderen Sprachebenen. Der Verlust des Kasussystems im Niederländischen, ein morphologischer Prozess, hat z.B. zu Veränderungen in der Syntax geführt: Die Regeln für die Wortstellung sind strikter geworden, wie in hij ziet mij statt mij ziet hij. Sprachwandel hat mehrere Eigenschaften, so ist er erstens zeitlich und räumlich begrenzt. Die Lautveränderung / ol/ und / al/ > / ou/ vor einem dentalen Plosiv im Altniederländischen, wie gold > goud, wald > woud und malz > mout hat nur in der Periode von etwa 800-1100 stattgefunden. Bei Wörtern, die später in den niederländischen Wortschatz übernommen wurden, ist diese Lautveränderung nicht eingetreten. Das Wort folter, das erst im Mittelniederländischen aus dem Deutschen entlehnt wurde, hat sich z.B. nicht zu fouter entwickelt. Auch die räumliche Begrenzung lässt sich gut an diesem Beispiel erklären, denn diese Lautveränderung hat nur im altniederländischen Sprachraum stattgefunden, weshalb die Wörter goud und mout im Deutschen und Englischen bis heute Gold und Malz respektive gold und malt heißen. Zweitens ist Sprachwandel ein allmählicher Prozess: Veränderungen in der Sprache finden eben nicht über Nacht, sondern über eine längere Periode statt, die sogar mehrere Jahrhunderte dauern kann. Auch in geografischer Hinsicht ist dieser Prozess allmählich. Ein Beispiel dafür ist die 2. Lautverschiebung: Im Rheinland ist die Verschiebung von / p, t, k/ zu / pf, ts, χ/ nicht einheitlich durchgeführt: Im Süden ist sowohl p (appel - apfel) als auch t (dat - das) und k (maken - machen) verschoben, im zentralen Gebiet hauptsächlich k und t und im Norden nur das k, die Laute p und t dagegen nicht. Mit anderen Worten: von Süden nach Norden nehmen die Lautverschiebungen nach und nach ab. Die Grenzlinien zwischen diesen Gebieten, die Iso- <?page no="196"?> 196 glossen (isoglossen), la Rheinischen Fächer ( nur in geografischer H verbreiten, man nennt (vgl. Kap. 8.3). Die Lau Wortschatz. Im Gebiet einem anlautenden / p einigen eher südlichen Ein weiteres Beispiel fü später entstandene Uer limburgischen Provinze A Abbildung 9.1 zeigt die den Varietäten, die süd stattgefunden, in denen Verschiebung nur für d Karnavalsliedern ist die im folgenden Satz von dat ik hier zeker even blij Die unvollständige schnitt des Rheinischen ger Prozess ist. Auch m ständig durchgeführt s zwei produktive Morph (tijger - tijgers). Wir k Plural mit einem -s bil Wörtern, die auf Schw gemeenten, hoogte - hoo Heute sind beide Form hoogtes, weduwen - wed 9. Sprache i ufen alle am Rhein zusammen und bilden einen F (Rijnlandse waaier). Lautveränderungen verbreiten Hinsicht, sondern können sich ebenfalls von Wo diese Erscheinung lexikalische Diffusion (lexic utveränderungen verbreiten sich dann schrittweise t des Rheinischen Fächers findet man z.B. das Wor p/ nicht nur in den nördlichen Varietäten, sonde Varietäten, wo eigentlich die Wortform Pferd zu e ür die Allmählichkeit von Sprachwandel ist die etw rdinger Linie oder ik-ich-Linie, die zum Teil auch en in Belgien und den Niederlanden führt: Abb. 9.1: Die ik-ich-Linie (nach wikimedia) e Grenzlinie für die Verschiebung k ch im Wor dlich der Grenzlinie gesprochen werden, hat die Ve n nördlich der Grenzlinie nicht. Bemerkenswert ist die beiden Wörter ik/ ich und ook/ ouch gilt. In lim e verschobene Form ich besonders gut zu erkenne Ben Erkens: Ich dènk dat ich hiej zeker effe hange b jf hangen). Verbreitung der 2. Lautverschiebung im nörd n Fächers zeigt drittens, dass Sprachwandel ein un morphologisch gibt es Veränderungen, die (noch) ind, wie z.B. bei der Pluralbildung. Das Niederlän heme, um einen Plural zu bilden: -en (doek - doe können seit längerer Zeit beobachten, dass Wört lden, zunehmen. Noch Anfang des 19. Jahrhunde wa enden, nur ein Plural mit -n möglich, wie z.B. ogten, weduwe - weduwen (Witwe) und bediende - men möglich und akzeptiert: gemeenten - gemeentes duwes und bedienden - bediendes. Im Englischen h in Bewegung Fächer, den n sich nicht rt zu Wort ale diffusie) e durch den rt Pferd mit ern auch in erwarten ist. wa 400 Jahre h durch die rt ik/ ich. In erschiebung t, dass diese mburgischen en, wie z.B. lief (ik denk dlichen Abnvollständi- ) nicht vollndische hat ken) und -s ter, die den erts war bei gemeente - - bedienden. s, hoogten - hat sich die <?page no="197"?> 9.1 Der Prozess des Sprachwandels 197 Veränderung von zwei produktiven Pluralmorphemen zu einem vollzogen: Das moderne Englische hat, abgesehen von einigen Ausnahmen, seit etwa dem 14. Jahrhundert nur noch eine Pluralform auf -s (mit Allomorphie). In früheren Stadien (im Altenglischen ca. 900-1066) konnte der Plural noch mit -s und -en gebildet werden. Diese Beispiele zeigen zugleich, dass Sprachwandel ein nicht vorhersehbarer Prozess ist. Das liegt nicht nur daran, dass mehrere Faktoren im Laufe einer Veränderung eine Rolle spielen können, wie z.B. die Normierung im Standardisierungsprozess (vgl. Kap. 2), sondern auch weil es viele mögliche Ursachen für Sprachwandel gibt. 9.1.1 Ursachen für Sprachwandel Sprache verändert sich nicht einfach so. Immer sind mehrere Ursachen und ineinandergreifende Prinzipien dafür verantwortlich, wenn ein Teil einer Sprache sich neu organisiert. Eine Spracherneuerung beginnt meist mit einem individuellen Sprecher, der z.B. ein neues Wort wie whatsappen einführt oder einen Plural mit -s bildet und vogels sagt statt vogelen, und damit, dass diese Neuerung von der Sprachgemeinschaft in der direkten Umgebung übernommen wird. Die neuen Formen verbreiten sich dann weiter in andere Gebiete und es entsteht Variation (variatie): sowohl vogels als auch vogelen kommt als Pluralform vor. Erst wenn die Sprachgemeinschaft die Erneuerung übernommen hat, können wir eigentlich von Sprachwandel sprechen. Die Periode zwischen der Einführung einer Neuerung und deren Akzeptanz kann eine sehr lange sein und sogar mehrere Jahrhunderte dauern. Im Groene Boekje stehen z.B. immer noch die beiden Pluralforme vogelen und vogels neben einander. Ob Sprache sich verändert oder nicht, liegt deshalb vor allem an gesellschaftlichen Faktoren. Dennoch gibt es mehrere Prinzipien, die zu Sprachwandel führen. Ein Prinzip liegt in der Sprache selbst, die Veränderungen in eine bestimmte Richtung vorgibt. Dieses Phänomen nennt der amerikanischen Sprachwissenschaftler Edward Sapir (1884-1939) Drift (drift): [L]anguage is not merely something that is spread out in space, as it were - a series of reflections in individual minds of one and the same timeless picture. Language moves down time in a current of its own making. It has a drift. (Sapir 1921: 127) The drift of a language is constituted by the unconscious selection on the part of its speakers of those individual variations that are cumulative in some special direction. (Sapir 1921: 155) Die Idee dahinter ist, dass Sprache sich selber und von den Sprechern unbemerkt in eine Richtung organisiert. Das Niederländische z.B. hat im Laufe der Jahrhunderte seine morphologische Kasusmarkierung verloren (vgl. Kap. 2.2.2). Als Reaktion auf diesen Flexionsverlust sind neue Mechanismen entstanden, die die nun fehlenden Informationen ersetzt haben, wie z.B. festere Satzmuster und Konstruktionen mit Präpositionen, wie des esels name zu de naam van de ezel. <?page no="198"?> 9. Sprache in Bewegung 198 Eine Motivation für Sprachwandel ist das ökonomische Prinzip (economisch principe) des Sprachbenutzers, der sich so schnell und einfach wie möglich ausdrücken will. In der Aussprache können wir das besonders gut sehen bei den phonologischen Prozessen (vgl. Kap. 6.5), wie z.B. bei Assimilation (onpraktisch wird [ m'pr ktis]) oder dem Wegfall von -n am Wortende (lopen wird ['lopə]). Auch in der Grammatik wirkt das ökonomische Prinzip, wie z.B. im Englischen und Afrikaans. Sie bilden das Perfekt ausschließlich mit dem Hilfsverb have bzw. het: I have been very ill - ek het baie siek gewees (ik ben erg ziek geweest). Dem ökonomischen Prinzip steht das Prinzip der Deutlichkeit (helderheid) gegenüber, der Sprecher möchte sich so klar wie möglich ausdrücken. Der Verlust der Genitivendung hat z.B. zu einer Umschreibung mit der Präposition van geführt, damit der Besitzer eindeutig angezeigt werden kann (van de koning, van het kind, van de ezel usw.). Eine oft vorkommende Ursache für Sprachwandel ist die Analogie (analogie): eine sprachliche Form verändert sich durch die Ähnlichkeit mit anderen sprachlichen Formen. Ein Beispiel dafür ist die Bildung der Vergangenheitsform. Außer den unregelmäßigen Verben kennt das Niederländischen zwei weitere Arten von Verben: Schwache Verben bilden die Vergangenheit mit mit -de/ -te und ge- + Stamm + -d/ -t (werken - werkte - gewerkt und wandelen - wandelde - gewandeld) und starke Verben mit einem Ablaut (lopen - liep - gelopen und blijken - bleek - gebleken). Heutzutage gibt es einige Verben, die früher eine starke Beugung hatten, die heute aber zum Teil nach dem Muster der schwachen Verben konjugiert werden: lachen loech gelachen > lachte gelachen wassen 1 wies gewassen > waste gewassen stoten stiet gestoten > stootte/ stiet gestoten ervaren ervoer ervaren > ervoer/ ervaarde ervaren Tab. 9.1: Analogieprozesse bei starken Verben Am Partizip Perfekt können wir noch erkennen, dass diese Verben einst eine starke Präteritumform hatten. Der umgekehrte Prozess kommt auch vor, ist aber eher selten. Beispiele sind zeiken (pissen, meckern) und vragen, die ursprünglich schwache Verben waren (zeikte - gezeikt bzw. vraagde - gevraagd), die heute auch starke Formen zulassen zeek - gezeken bzw. vroeg (- gevraagd). Auch in diesem Prozess handelt es sich um Analogie, allerdings nicht nach dem häufig vorkommenden Muster der schwachen Verben, sondern nach bestimmten Ablautreihen. Eine weitere Ursache für Sprachwandel kann Erstspracherwerb (eerstetaalverwerving) sein: Der Grundgedanke ist, dass Kinder Sprache lernen aufgrund des Inputs der Eltern (und anderer Personen in ihrer Umgebung), wobei sie sich die Kombinationsmöglichkeiten der Sprache zu eigen machen. Ein klassisches Beispiel 1 Gemeint ist hier das Verb mit der Bedeutung 'mit Wasser saubermachen'. <?page no="199"?> 9.1 Der Prozess des Sprachwandels 199 sind die starken Verben, die anfangs von Kindern oft schwach gebeugt werden (hij eette het niet op). Normalerweise werden diese 'Fehler' von der Umgebung korrigiert (hij at het niet op) und lernen Kinder die richtige Formen und Konstruktionen. Passiert das jedoch nicht, dann kann eine Sprachneuerung entstehen. Solche Prozesse können zu Reinterpretation oder Reanalyse (herinterpretatie) führen: Die Grammatikregeln werden sozusagen 'neu kreiert'. Ein morphologisches Beispiel können wir in der Pluralbildung sehen. Die ursprünglichen Pluralformen kinder und eier wurden als Singular interpretiert und es wurde ein neuer Plural gebildet mit dem Pluralmorphem -en (hier spielt auch Analogie eine Rolle): Aus kinder und eier wurde kinderen und eieren. Dieser Prozess hat auch bei den Wörtern, die auf Schwa enden, stattgefunden, wodurch doppelte Endungen wie in gemeentens und begeertens 2 vorkamen. Solche Formen finden wir heute immer noch, wie z.B. bei damens en heren oder auch bei Wörtern griechischer Herkunft wie z.B. lemmata - lemmata's und traumata - traumata's. Ähnliche Prinzipien wirken beim Zweitspracherwerb (tweedetaalverwerving), dem Lernen einer Fremdsprache. Der Zweitspracherwerb kann also ebenfalls eine Ursache für Sprachwandel sein. So haben Immigranten (wie übrigens auch niederländischsprachige Kinder) z.B. Schwierigkeiten mit dem Erwerb des bestimmten Artikels het, sie sagen dann beispielsweise de paard und de meisje. Es wäre deshalb nicht undenkbar, dass der Zweitspracherwerb eine Ursache sein könnte beim beobachteten Rückgang von het-Wörtern im Niederländischen, die ohnehin seltener vorkommen als de-Wörter. Eine weitere Ursache für Sprachwandel ist Sprachkontakt (taalcontact). Beim Zweitspracherwerb oder wenn zwei Sprachen in einem Gebiet verwendet werden, besteht eine Situation von Mehrsprachigkeit. Die Sprachen können sich dabei gegenseitig beeinflussen oder eine Sprache wird zugunsten der anderen aufgegeben. Ein Beispiel ist das Niederländische in den USA: Um 1850 zogen einige Gruppen niederländischer Protestanten nach Michigan und Iowa, weil sie durch Veränderungen in der religiösen Landschaft und in der Politik ihren Glauben nicht mehr ausüben könnten. Das Niederländische hat sich in diesen Gegenden relativ lange behauptet. Ein Beispiel für dieses amerikanische Niederländisch ist folgender Textabschnitt: Mijn wijf en ik zijn lest Toesdee vijf-en-twintig jaar gemerried geweest, en daar hebben wij 'n nais sellebreesje van gehad. De wiek bevoor had ik 'n ed in De Groundwet, daar zal ik hier 'n koppie van af laten printen. Mijn vrouw en ik zijn vorige dinsdag vijfentwintig jaar getrouwd geweest en daar hebben we een gezellig feestje van gehad. De week daarvoor had ik een advertentie in de Groundwet, daar zal ik hier een afschrift van laten drukken. Dirk Nieland, 'n Fonnie Bisnis (1929) 2 Die Beispiele stammen aus Weiland's Nederduitsche spraakkunst (1805). <?page no="200"?> 9. Sprache in Bewegung 200 Der Einfluss des Englischen ist vor allem im Wortschatz (Toesdee - Tuesday, sellebreesje - celebration, gemerried - married) deutlich zu erkennen. Das Niederländische in den USA wurde erst in den Schulen, danach in der Kirche und Presse und schließlich auch im familiären Bereich aufgegeben. Heutzutage ist es so gut wie verschwunden und sind nur noch Ortsnamen wie Zwolle und Westerlo erhalten. Eine letzte Ursache sind gesellschaftliche Veränderungen (maatschappelijke veranderingen) wie z.B. neue Gegenstände, neues Wissen und veränderte soziale Verhältnisse. Sie sind u.a. ein wichtiger Grund für das Entstehen und Verschwinden von Wörtern. Bei den sozialen Verhältnisse spielt das Prestige eine wichtige Rolle: Sprachvarianten, die von Sprechern mit Prestige verwendet werden, haben bessere Chancen sich durchzusetzen (vgl. Kap. 8.4.2). Diese Ursachen und Prinzipien können auch dazu führen, dass eine Sprache irgendwann nicht mehr gesprochen wird. Wenn eine Sprache keine Muttersprachler mehr hat, spricht man von Sprachtod (taaldood). Das Gotische z.B. hat sich durch die Völkerwanderung in Mittel- und Südeuropa verbreitet, wo auch mehrere andere Sprachen gesprochen wurden. Irgendwann wurde das Gotische zugunsten dieser anderen Sprachen aufgegeben und heute sind nur noch Orts- und Personennamen sowie Lehnwörter aus dem Gotischen übriggeblieben. 9.1.2 Sprachwandel oder Sprachverfall? Lebende Sprachen verändern sich kontinuierlich, und wir haben gesehen, dass Variation eine Voraussetzung für Sprachwandel ist, indem alte und neue Formen nebeneinander existieren. Es ist allerdings keine Sebstverständlichkeit, dass Variation in einer Sprache auf objektive Weise beurteilt wird. Normative und ästhetische Urteile über Sprache sind für die meisten Sprecher ein wichtiger Gradmesser, denn sie möchten gerne wissen, ob eine bestimmte Form akzeptabel ist oder nicht. Neue Sprachformen, die in einer Sprache noch nicht allgemein akzeptiert sind, werden deshalb oft abweisend beurteilt und als Sprachverfall (taalverloedering) interpretiert. Bekannte Beispiele sind der Gebrauch vom Vergleichswort als nach einem Komparativ und der Gebrauch von hun als Subjekt: hun zijn groter als mij. Für einen Sprachwissenschaftler, der Sprache so beschreiben will, wie sie in der Wirklichkeit ist, existiert Sprachverfall einfach nicht. 9.2 Wie untersucht man Sprachwandel? Um Sprachwandel untersuchen zu können, brauchen wir sprachliche Daten, und die gehen für das Niederländische - abgesehen von einigen kleineren Texten und Textfragmenten - nicht weiter zurück als bis etwa ins 10. Jahrhundert. Bei den historischen Daten handelt es sich vorwiegend um schriftliche Quellen, Tonaufnahmen existieren schießlich noch nicht so lange. Die Geschichte einer Sprache ist deshalb <?page no="201"?> 9.2 Wie untersucht man Sprachwandel? 201 vor allem eine Geschichte der geschriebenen Sprache. Dennoch ist viel über die Geschichte der niederländische Sprache bekannt, und auf Grund der vorhandenen Quellen sind historische Wörterbücher und Grammatiken geschrieben worden, in denen die interne Geschichte des Niederländischen ausführlich beschrieben ist. Zudem sind historische Quellen immer mehr digital verfügbar, sodass die Möglichkeiten, Sprache historisch untersuchen zu können, stets besser werden (vgl. auch Kap. 10.1). Die Geschichte der Sprache stand lange Zeit im Mittelpunkt der Sprachwissenschaft. Im 19. Jahrhundert gab es eine Gruppe von Sprachwissenschaftlern in Leipzig, die Junggrammatiker (Neogrammatici), die Sprache nach einer wissenschaftlichen Systematik beschreiben wollte und die Geschichte der Sprache als die wichtigste Betrachtungsweise voraussetzte. Ein wichtiger Bestandteil dieser historisch-vergleichende Methode (comparatieve methode) ist die Rekonstruktion der Ursprache (prototaal) aufgrund von Wörtern, die einen gemeinsamen Ursprung haben und dadurch eine lautliche Ähnlichkeit aufweisen. Diese Wörter heißen Kognaten (cognaten): Sanskrit Griechisch Latein Französisch Englisch Deutsch Niederländisch pitar patér pater père father Vater vader dva duo duo deux two zwei twee Tab. 9.2: Kognaten der indoeuropäischen Sprachfamilie Die Sprachwissenschaft sollte für die Junggrammatiker eine Gesetzeswissenschaft − wie die Physik − sein, weshalb sie Lautverschiebungen als Lautgesetze (klankwetten) darstellten und zunächst die Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze postulierten. Weil Ausnahmen nicht immer als systematisches Gesetz erklärt werden konnten, wurde als Ergänzung zum Lautgesetz das Prinzip der Analogie (vgl. Kap. 9.1.1) eingeführt. Die Junggrammatiker haben mit ihren methodischen Ansätzen einen großen Beitrag zur Erforschung der Sprachgeschichte geleistet. Sprache und Sprachwandel kann man auf zwei Ebenen betrachten: einerseits den Zustand zu einem bestimmten, zeitlich festgelegten Moment, d.h. synchron (synchroon), andererseits die Entwicklung über zwei oder mehrere Zeitebenen hinweg, d.h. diachron (diachroon). So können wir beispielsweise das Kasussystem im Mittelniederländischen und im modernen Niederländischen untersuchen, wir haben dann jeweils eine synchrone Studie. Wenn wir die Entwicklung im Kasussystem zwischen den beiden Zeitebenen untersuchen, handelt es sich um eine diachrone Studie. Die Zweiteilung oder Dichotomie (dichotomie) der Synchronie und Diachronie geht auf den Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (1857-1913) zurück, der diese Herangehensweise in seinem 1916 postum erschienen Cours de linguistique générale eingeführt hat. <?page no="202"?> 9. Sprache in Bewegung 202 Die Synchronie (synchronie) betrachtet Sprache zu einem gewissen Zeitpunkt, die Diachronie (diachronie) betrachtet die Entwicklung der Sprache im Laufe der Zeit. Real time vs. apparent time Es gibt zwei Methoden, um Sprachwandel zu untersuchen, mit einem Vergleich in real time oder in apparent time. Bei der Real-Time-Methode (werkelijke tijd methode) werden (oft bereits vorhandene) Quellen miteinander verglichen, so können wir z.B. Zeitungstexte aus dem 19. Jahrhundert mit solchen aus dem 20. Jahrhundert vergleichen oder früher gesammelte Dialektdaten mit aktuellen Dialektaufnahmen. Der Vorteil dieser Vorgehensweise ist, dass man Sprachwandel über einen längeren Zeitraum untersuchen kann. Ganz unproblematisch ist diese Methode allerdings nicht, da man von den überlieferten Daten abhängig ist. Das bedeutet u.a., dass man sich hauptsächlich auf geschriebene Sprache beschränken muss, weil es wenige Tonaufnahmen aus der Zeit vor 1950 gibt. Ein anderer Punkt ist die Repräsentativität des Sprachmaterials (s. hierzu auch Kap. 10): Es ist nicht einfach, vergleichbare Daten zu finden, wie z.B. ähnliche Textsorten. Um jüngere Entwicklungen zu untersuchen ist die Apparent-Time-Methode (schijnbare tijd methode) eine Alternative (vgl. auch Kap. 8.4.2). Ausgangspunkt dieser Vorgehensweise ist die Annahme, dass der Sprachgebrauch eines Menschen sich ab einem bestimmten Alter (ab etwa 20 Jahren) kaum noch verändert. Eine 60 Jahre alte Person hat demzufolge einen 40 Jahre älteren Sprachstand als ein(e) 20- Jährige(r). Durch den Vergleich können Erkenntnisse über neuere Veränderungen gewonnen werden. Der Vorteil dieser Methode ist, dass die Daten auf allen Ebenen vergleichbar sind, die Repräsentativität ist daher sehr hoch. Die Apparent-Time- Methode hat aber auch Nachteile: Erstens können nur neuere Veränderungen untersucht werden und zweitens kann sich der Sprachgebrauch mit zunehmendem Alter noch ändern. Man spricht dann von age grading. Über age grading und seinen Einfluss auf den Sprachgebrauch ist jedoch noch nicht viel bekannt. 9.3 Lexikalischer Wandel Die auffälligste Veränderung in einer Sprache ist die Verändering des Wortschatzes: Es kommen neue Wörter hinzu und andere Wörter verschwinden. Dies wird in Wörterbüchern, wie z.B. dem Woordenboek der Nederlandsche Taal (WNT) dokumentiert (vgl. Kap. 3). Der wichtigste Grund für das Verschwinden von Wörtern ist, dass bestimmte Gegenstände oder Konzepte nicht mehr zu unserem Alltagsleben gehören. Gegenstände wie een griffel en een lei (Griffel und Schiefertafel), ein trekschuit (Treckschute, s. Abb. 9.2), Berufe wie der lijfbediende (Leibdiener) oder Konzepte wie terugspoelen (zurückspulen) sind durchaus noch bekannt, die Wörter werden allerdings kaum mehr gebraucht, da die dazugehörigen Gegenstände, Handlungen <?page no="203"?> 9.3 Lexikalischer Wande oder Berufe in unserer altmodischen oder vera Ab Ein anderer Grund für alternativen Wortes fü krankzinnigenarts ('Ge interieurverzorgster (Ra einen patiënt (Patient) neue Gegenstände, ve wichtigste Grund für da Neue Wörter könne den: Neologismen (ne mengesetzt. Mit den pr vation (vgl. Kap. 4) comazuipen, ecokleding voordeurdeler (wörtl. 'H sammenlebt und einen blockierte Stellen in Bl neue Wörter gemacht, (alcohol + automobilist (burgerservicenummer) zess ist die Lexikalisie gene Bedeutung bekom groene golf. Bemerkensw sind (Dünndarm und D gruppe bezeichnet werd zugleich, dass man Kom abgrenzen kann. Neologismen haben rekte Beziehung zum A el heutigen Gesellschaft nicht mehr gebraucht werd alteten Wörter heißen Archaismen (archaïsmen). bb. 9.2: Treckschute (C.C. Fuchs, um 1810) r das Verschwinden eines Wortes kann das Auft r das gleiche Konzept sein, so nennt man heutzu eisteskrankenarzt') lieber psychiater, die werkster aumpflegerin) oder schoonmaakster (Reinigungs ) oft cliënt (Kunde). Veränderungen in der Gesell eränderte Normen und Werte und neues Wissen as Entstehen und Verschwinden von Wörtern. en in einer Sprache dazukommen, weil sie neu ge eologismen) werden aus schon vorhandenen Wört roduktiven Wortbildungsprozessen Komposition können wir nach Bedarf neue Wörter bilden g, Koningsdag, gezondheidscoach sowie televisie, Haustürteiler', eine Person, die mit einer anderen n gemeinsamen Haushalt führt) und dotteren (Ve lutgefäßen zu behandeln). Durch Blending werde wie z.B. frappuccino (frappé + cappuccino) oder a t), und Akronyme können neu gebildet werden und LOL (laughing out loud). Ein anderer produ erung (lexicalisering) einer Wortgruppe, die dadur mmt, wie z.B. dunne darm und dikke darm, goude wert ist, dass die ersten zwei Beispiele auf Deutsch Dickdarm) während die letzten zwei ebenfalls mit e den (die gelben Seiten und grüne Welle). Diese Beisp mposition und Lexikalisierung nicht immer klar vo n eine deutliche Funktion in der Sprache: Sie hab Alltagsleben und füllen Lücken im Wortschatz, wie z 203 den. Solche reten eines utage einen (Putzfrau) skraft) und lschaft, wie n, sind der ebildet wertern zusamn und Derin, wie z.B. bromfietser, Person zurfahren um en ebenfalls alcomobolist n, wie BSN uktiver Prorch eine eien gids und Komposita einer Wortpiele zeigen on einander ben eine diz.B. Wörter <?page no="204"?> 9. Sprache in Bewegung 204 für neue Berufe (gezondheidscoach) oder neue Konzepte (comazuipen). Nicht alle Neologismen haben 'gute Überlebenschancen', viele sind nur Modewörter, die relativ schnell wieder in Vergessenheit geraten, weil sie einfach nicht mehr benutzt werden. Die Neologismen, die weiterhin Bestand haben, werden irgendwann in ein Wörterbuch aufgenommen. Neue Wörter können auch durch Entlehnung aus einer anderen Sprache hinzukommen: Diese Wörter heißen Lehnwörter (leenwoorden). Entlehnung findet statt bei Sprachkontakt zwischen Sprechern unterschiedlicher Sprachen, das kann z.B durch die geografische Nähe sein, wie bei Französisch und Deutsch, durch Kultur- oder Handelskontakte und heutzutage vor allem durch die modernen Medien. Das Niederländische hat in seiner Geschichte aus vielen Sprachen Wörter entlehnt. Sehr frühe Entlehnungen aus dem 10. Jahrhundert oder noch davor sind z.B. kerk (Griechisch), poort (Lateinisch) und ambacht (Keltisch). Tabelle 9.3 zeigt einige Beispiele der Gebersprachen, aus denen das Niederländische Wörter entlehnt hat. Die Jahreszahlen beziehen sich auf niederländische Quellen, in denen die Lehnwörter zum ersten Mal angetroffen wurden (Van der Sijs 2001). Sprache frühe Entlehung späte Entlehnung Friesisch eiland (1240) sjoelbak (1912) Afrikaans aardvarken (1779) apartheid (1961) Indonesisch mango (1596) loempia (1954) Französisch fanatiek (1796) generalist (1984) Italienisch risico (1525) pizzeria (1984) Spanisch ansjovis (1518) macho (1976) Portugiesisch banaan (1596) gamba (1984) Deutsch turnen (1856) kek (1974) Jiddisch goochem (1800) keppeltje (1950) Englisch trainen (1572) voicemail (1996) Arabisch imam (1626) halal (1989) Hebräisch halleluja (1561) sjwa (1929) Türkisch kaviaar (1481) yoghurt (1912) Japanisch soja (1670) tsunami (1992) Chinesisch bami (1897) wok (1984) Tab. 9.3: Lehnwörter im Niederländischen Wenn ein neues Wort entlehnt wird, tritt es normalerweise zunächst bei einer kleinen Gruppe von Sprechern auf (unter Jugendlichen, Fachkollegen o.ä.), bevor das Wort eventuell von der Gesellschaft übernommen wird. Wörter, die eine Lücke im Wortschatz füllen, wie einst cacao, suiker oder fingerspitzengefühl, werden im Allge- <?page no="205"?> 9.3 Lexikalischer Wandel 205 meinen ohne Probleme in den allgemeinen Sprachgebrauch übernommen. Wenn ein neues Wort entlehnt wird, behält es zunächst seine ursprüngliche Schreibweise und Aussprache. Wenn es sich durchsetzt, wird es irgendwann in Wörterbücher aufgenommen. Pizzeria, macho und voicemail haben zwar noch immer ursprüngliche Merkmale der Aussprache und Schreibweise, sie stehen aber in den niederländischen Wörterbüchern. Die Aufnahme in Wörterbücher ist ein wichtiges Indiz dafür, dass ein Lehnwort in den niederländischen Wortschatz aufgenommen wurde. Andere Indizen sind die Anpassungen des Wortes an das Niederländische in Bezug auf die Rechtschreibung (fanatiek aus fanatique), Aussprache (turnen mit niederländischer Aussprache) oder Morphologie: in der Flexion (loempia - loempia's, whatsappen - gewhatsappt) oder in den niederländischen Wortbildungsprozessen (joghurtje, banaanachtig, sojamelk, trainingsbroek). Bei weitem nicht alle Fremdwörter werden dauerhaft in eine Sprache übernommen. Faktoren wie das Prestige der Sprecher, die das Lehnwort einführen, und die Häufigkeit der Benutzung spielen eine wichtige Rolle. Außerdem können Lehnwörter auf Widerstand stoßen, weil man danach strebt, die Sprache möglichst frei von Fremdwörtern zu halten. Statdessen werden sie durch Wörter aus der eigenen Sprache ersetzt. Dieses Phänomen nennen wir Purismus (purisme). Im 17. Jahrhundert hat Simon Stevin z.B. die Wörter wiskunde (Mathematik), optellen (addieren) und aftrekken (subtrahieren) eingeführt, um die griechischen und lateinischen Wörter zu ersetzen. In Flandern hat man sich gegen französischen Einfluss gewehrt und viele französische Wörter durch niederländisch wirkende Wörter ersetzt, wie inkom statt entree oder regenscherm statt paraplu. Jedes Wort hat seine Geschichte, und die Etymologie (etymologie) untersucht die Herkunft, die ursprüngliche Form und Bedeutung sowie die Entwicklung von Wörtern. Die Geschichte von sigaret lässt sich beispielsweise so erklären, dass es im 19. Jahrhundert aus dem spanischen cigarritos 'sigaartjes' und dem französischen cigarette entlehnt wurde. Der Autor Willem Hietbrink behauptet in seinem Büchlein Kwispelen met taal, dass das Niederländische als 'Mutter aller Sprachen' zu sehen ist. Die Wörter sigaret, hospitaal und cynisme seien wie folgt zu erklären: sigaret ist aus 'zuig-er-uit', hospitaal aus 'huis-bed-hal' und cynisme aus 'zie-er-niets-meer' entstanden. Die Etymologie als Wissenschaft ist nicht zu verwechseln mit der Volksetymologie (volksetymologie), in der aufgrund meist oberflächlicher Laut- und Bedeutungsverbindungen Erklärungen zur Herkunft von Wörtern gegeben werden. Ein berühmtes Beispiel für eine volksetymologische Erklärung ist das Wort hangmat, das im 17. Jahrhundert über das Spanische hamaca entlehnt wurde (das es wiederum aus einer haitianischen Sprache entlehnt hatte). Die ursprüngliche Form hamack entwickelte sich ziemlich schnell zu hangmak und noch etwas später zu hangmat. Das Wort <?page no="206"?> 9. Sprache in Bewegung 206 hangmat ist nachher als eine Zusammenstellung von hangen und mat erklärt worden. Diese Art volksetymologischer Erklärungen kommt vor allem bei Lehnwörtern vor. 9.4 Bedeutungswandel Wenn neue Wörter entstehen und andere verschwinden, verändert sich der Umfang des Wortschatzes. Bei semantischem Wandel oder Bedeutungswandel (betekenisverandering) geht es darum, wie sich die Bedeutung einer vorhandenen Wortform im Laufe der Zeit verändert. Das Wort winkel z.B. war im Alt- und Mittelniederländischen ein geometrischer Begriff, genauso wie der deutsche Winkel. Heute ist die übliche Bedeutung von winkel 'Geschäft', also ein 'Gebäude, in dem Waren zum Verkauf angeboten werden', und ist hoek der geometrische Begriff für Winkel. Solche Bedeutungsveränderungen kann man in einem historischen Wörterbuch wie dem WNT nachschlagen. Die Veränderung der Wortbedeutung unterliegt stets den gleichen Prinzipien: Das sind die Bedeutungserweiterung, die Bedeutungsverengung, Metapher und Metonymie sowie Pejoration und Melioration (vgl. auch Kap. 3). Wenn die Bedeutung eines Wortes sich erweitert und die ürsprüngliche Bedeutung verlorengegangen ist, spricht man von Bedeutungserweiterung oder Bedeutungsgeneralisierung (betekenisverruiming oder betekenisgeneralisatie). Das Wort muis hatte ursprünglich die Bedeutung 'Nagetier aus der Familie der Muridae', wie die bekannte Hausmaus. Später kam die Bedeutung 'fleischiger Teil/ Muskel des menschlichen Körpers' hinzu, womit heute allerdings nur noch die Handballen unterhalb des Daumes bezeichnet werden. Im 20. Jahrhundert hat muis eine neue Bedeutung dazu bekommen, nämlich 'Gerät zu Steuerung eines Computers', die Computermaus. Ein anderes Beispiel ist limonade, einst ein Erfrischungsgetränk aus Zitronensaft, Zucker und Wasser. Heute kann die Basis für limonade jeder Fruchtsaft oder jede Fruchtessenz sein. Der umgekehrte Prozess ist die Bedeutungsverengung (betekenisspecialisatie): die neue Bedeutung beschränkt sich auf ein bestimmtes Merkmal in der Semantik des Begriffs. Im Alt- und Mittelniederländischen hatte varen die allgemeine Bedeutung 'gehen' oder 'sich fortbewegen': 1) Florus die voer vter stad. (Rijmbijbel, 1275-1300) 'Florus, der aus der Stadt ging' Heute ist varen auf die Fortbewegung mit einem Schiff beschränkt. Nur in feststehenden Ausdrücken wie de hoop laten varen 'die Hoffnung fahrenlassen' oder vaarwel 'Lebewohl' ist die ältere Bedeutung noch zu erkennen. Ein anderes Beispiel ist deftig, das früher mehrere Bedeutungen hatte, wie 'vernünftig', 'erheblich', 'wichtig' und 'vornehm'. Heutzutage hat deftig in den Niederlanden nur noch die letzte Bedeutung (de deftige oude dame oder met deftige woorden spreken), in Flandern kann deftig - wie im Deutschen - auch 'kräftig und nahrhaft (ohne verfeinert zu sein)' bedeuten, wie in een deftige maaltijd. <?page no="207"?> 9.4 Bedeutungswandel 207 Metapher (metafoor) und Metonymie (metonymie) fungieren ebenfalls oft als Grundlage für Bedeutungswandel. Durch eine Metapher bekommt ein Wort eine neue Bedeutung aufgrund einer bestimmten Ähnlichkeit. Das wort blad wurde einst nur für das botanische 'Blatt' bei Pflanzen benutzt. Später kam die Bedeutung 'Stück Papier' dazu, das ebenfalls ein 'flacher Gegenstand' ist. Bei einer Metonymie erweitert sich die Bedeutung eines Wortes, wobei ein logischer Zusammenhang zwischen den beiden Bedeutungen besteht. Ein Beispiel ist das Wort tuin, bei dem ein räumlicher Zusammenhang zwischen den älteren Bedeutungen 'Umzäunung' und 'Abtrennung' (Bsp. 2) und der modernen Bedeutung 'Garten' besteht: 2) Een man was die plantte eenen wijngart, ende omme din wijngart so loec hi enen tuun (Het Luikse Diatessaron, 1291-1300) 'Es war ein Mann, der einen Weingarten pflanzte, und um den Weingarten zog er einen Zaun' Schon im Mittelniederländischen hat sich die Bedeutung von tuin zu 'umzäunter Bereich, Garten' erweitert, heute hat tuin ausschließlich diese Bedeutung. Der deutsche Kognat Zaun hingegen hat die alte Bedeutung bis heute. Es lässt sich allerdings nicht immer leicht festzstellen, ob es sich bei Bedeutungswandel um eine Metapher oder um eine Metonymie handelt. Schließlich kann Bedeutungswandel Veränderungen im Gefühlswert oder der Konnotation eines Wortes bewirken (vgl. Kap. 3). Zum einem kann eine Bedeutungsverschlechterung oder Pejoration (pejorisatie) auftreten: Das Wort wijf hat heutzutage grundsätzlich einen abwertenden Gefühswert, wie in wat een dom wijf oder het wijf van de overkant. Nur in bestimmten Kombinationen, wie in een moordwijf oder wat een lekker wijf, ist die Bedeutung von wijf nicht unbedingt abwertend. Abb. 9.3: Wijf im 15. und 21. Jahrhundert <?page no="208"?> 9. Sprache in Bewegung 208 Im Mittelniederländischen hatte wijf diese Konnotation nicht, wijf bezeichnete einfach eine Person des weiblichen Geschlechts bzw. eine verheiratete Frau (vgl. Abb. 9.3). Das scone wijf namens Sanderijn aus dem mittelalterlichen Text Lanseloet van Denemerken (1400-1420) war eindeutig frei von negativen Assoziationen. Aber auch wenn ein lekker wijf heute nicht unbedingt eine abwertende Konnotation haben muss, ist dieser Ausdruck nicht ganz frei von einem vulgären oder sexuellen Unterton. Die Pejorisierung von Wörtern für Menschen des weiblichen Geschlechts findet man in vielen Sprachen. Ein weiteres Beispiel für Pejoration ist raar, das heute die Bedeutung 'seltsam' oder 'komisch' hat: er gebeuren hier rare dingen oder de melk smaakt raar. Die ursprüngliche Bedeutung von raar war 'selten', wie im Deutschen, oder 'merkwürdig'. Zum anderen kann Bedeutungsverbesserung oder Melioration (ameliorisatie) auftreten. Ein bekanntes Beispiel ist das Wort maarschalk, das heute einen hochrangigen Soldaten bezeichnet. Früher bedeutete maarschalk jedoch 'Pferdeknecht': 3) Ghi sult moeten riden u peerd ombesleghen, want de maerscalc ne heeft gheen haenbilt no gheen hamer (Het Brugsche Livre, 1351-1400) 'Sie werden ihr Pferd unbeschlagen reiten müssen, denn der Marschall hat weder Amboss noch Hammer' Ein weiteres Beispiel ist das Wort ijver, das im Niederländischen einst u.a. die Bedeutung 'Neid' oder 'Eifersucht' hatte. Heute ist die mehr geläufige Bedeutung von ijver 'Fleiß', die ältere Bedeutung 'Neid' findet man nur noch in den Wörter na-ijver und ijverzucht. Der Prozess der Melioration kommt im Vergleich zu Pejoration jedoch weniger vor. 9.5 Lautwandel Wir haben gesehen, dass für die älteren Sprachstadien nur schriftliche Quellen vorhanden sind. Dennoch ist es möglich, die Ausprache zu rekonstruieren, denn obwohl es im Alt- und Mittelniederländischen noch keine standardisierte Rechtschreibung gab, hat man doch nach einer bestimmten Systematik geschrieben. Auch sind viele mittelniederländische Texte in Reimform geschrieben, was ebenfalls Hinweise zur damaligen Aussprache liefern kann. Schließlich wird in alten Grammatiken die Aussprache von Lauten behandelt, so schreibt Spieghel in seiner Twe-spraack vande Nederduitsche letterkunst (1584), dass der Laut / ey/ "nóchtans als / ay/ meest uyt ghesproken word". Lautveränderungen sind mit diesen Rekonstruktionsmethoden ziemlich gut zurückzuverfolgen. Es gibt verschiedene Arten von Lautveränderung: • Laute können wegfallen: Die Prokope (procope) ist der Wegfall im Anlaut, wie z.B. das h in manchen südlichen Dialekten honderd > ondert. Im Inlaut heißt der Wegfall Synkope (syncope), Beispiele sind maghet > maagd und weder > weer. <?page no="209"?> 9.5 Lautwandel 209 Bei der Apokope (apocope) fällt der auslautende Laut weg, wie das Schwa in vrouwe > vrouw und ic hebbe > ik heb. • Laute können hinzu kommen: Im modernen Niederländisch haben einige Wörter ein d im Inlaut, das in den älteren Formen nicht vorkommt, wie das altniederländische kellere > kelder und diurir > duurder. Das Einfügen eines Lautes im Inlaut wird Epenthese (epenthesis) genannt. • Laute können den Platz tauschen: Die Umstellung oder Metathese (metathese) kommt häufig beim Laut r vor, wie in borne > bron (Brunnen) oder drie > derde oder dertig. Mit der 1. Lautverschiebung haben sich die germanische Sprachen von den anderen indoeuropäischen Sprachen abgegrenzt und mit der 2. Lautverschiebung das Althochdeutsche von den anderen westgermanischen Sprachen (vgl. Kap. 2.1.2). Für die niederländische Sprache sind danach die sog. altniederländischen Lautgesetze (Oudnederlandse klankwetten) von Bedeutung gewesen, sie haben in den anderen westgermanischen Sprachen selten oder nicht gewirkt. Tabelle 9.4 zeigt einige wichtige Lautverschiebungen: Lautgesetz Deutsch Niederländisch ft > cht Luft, stiften lucht, stichten chs > ss Fuchs, Achse vos, as 3 Vokal + l + d/ t > ou + d/ t Holz, kalt hout, koud ai > ee Stein, weinen steen, wenen au > oo Traum, laufen droom, lopen Tab. 9.4: Altniederländische Lautgesetze Der Übergang zum Mittelniederländischen wird vor allem durch die Abschwächung der vollen Vokale in unbetonten Silben charakterisiert: hebban > hebben und vogala > vogele. Im Mittelniederländischen hat sich die Lautkombination sk, wie in scone wijf, durch Assimilation allmählich zu sχ entwickelt, heute das schone wijf. Eine wichtige Lautveränderung, die den Übergang zum Neuniederländischen kennzeichnet, ist die Diphthongierung der Monophthonge i (im Mittelniederländischen mit <ij> geschrieben) und u: Lautgesetz Mittelniederländisch Modernes Niederländisch i > ij [i] wijf, mijn [εi] wijf, mijn u > ui [y] huus, muus [œy ] huis, muis Tab. 9.5: Diphthongierung 3 Gemeint ist hier der technische Begriff 'Achse'. <?page no="210"?> 9. Sprache in Bewegung 210 Nicht alle Wörter haben diese Entwicklung durchgemacht, vor einem r sind die Monophthonge nicht diphthongiert, vieren und buur sind beispielsweise nicht zu *vijren und *buir geworden. Auch haben bestimmte Wörter den ursprünglichen Lautwert behalten, wie kiekeboe (< kijken) oder piel (männliches Glied), oder kommen beide Formen heute noch vor, wie duivel und duvel. Abschließend werden einige neuere Entwicklungen im 20. Jahrhundert vorgestellt. In einer Studie haben Van der Velde, Gerritsen und Van Hout (1995) festgestellt, dass zwischen 1935 und 1993 die stimmhaften Frikative v, z und in den Niederlanden immer häufiger stimmlos ausgesprochen wurden, besonders im Anlaut (vgl. auch Kap. 6.4 und 6.5). Auch der Liquid r ist stark in Bewegung: Im Niederländischen kommen das Zungenspitzen-r und das Zäpfchen-r nebeneinander vor, wobei das Zungenspitzen-r vermutlich die ältere Aussprache ist. In Flandern ist das Zäpfchen-r auf dem Vormarsch, während sich in den Niederlanden das sog. 'Gooise r' (vgl. Kap. 6.4) immer mehr verbreitet. Im Vokalsystem sind ebenfalls neue Entwicklungen bei den Diphthongen zu beobachten, nämlich die weiter geöffnete Artikulation von [εi], [ u] und [œy] sowie die Tendenz zur Diphthongierung von e und o (vgl. Kap. 8.5.3). 9.6 Morphologischer Wandel Bei morphologischem Wandel geht es um Veränderungen der Derivations- und Flexionsmorphemen: Es können neue hinzukommen oder verschwinden oder ihre Produktivität verändert sich. Eine prominente Veränderung in der niederländischen Sprachgeschichte ist der Flexionsverlust, der nicht nur bei den Kasus im nominalen Bereich stattfindet (vgl. Kap. 2.2.2), sondern auch im verbalen Bereich. Eine markante Veränderung können wir in der zweiten Person sehen: Mittelniederländisch (1200-1300) Modernes Niederländisch du gheves du ghafs 4 jij geeft jij gaf ghi ghevet ghi g(h)avet jullie geven jullie gaven du hoers du hoerde jij hoort jij hoorde ghi hoert ghi hoert jullie horen jullie hoorden Tab. 9.6: Flexionsverlust in der Konjugation Im Mittelniederländischen sehen wir in der zweiten Person Singular noch eine Endung auf -s, in der zweiten Person Plural auf -t. Mit dem Verschwinden des Pronomens du ist auch die Endung -s verloren gegangen. Die modernen jij-Formen stammen vom Pronomen gij ab und werden dementsprechend in Kombination mit der verbalen Endung -t verwendet. In Weilands Nederduitsche Spraakkunst aus dem Jahr 4 Die Flexion der 2. Person Singular ist im Mittelniederländischen wesentlich komplexer als hier dargestellt (vgl. Van Loey (1948), besonders § 49c 2 und Bemerkung 2). <?page no="211"?> 9.6 Morphologischer Wandel 211 1805 steht z.B. gij geeft für die zweite Person Singular und Plural im Präsens und gij gaaft im Präteritum. Bis weit nach 1950 lassen sich in der geschriebenen Sprache noch Verbformen auf -t für die zweite Person Plural finden. Auch der Konjunktiv ist allmählich verschwunden. Im Niederländischen des 19. Jahrhunderts wurde der Konjunktiv in der geschriebenen Sprache noch häufig verwendet. Nach und nach wurden seine Funktionen, wie z.B. Wünsche und Aufforderungen, jedoch mit Hilfe von Hilfsverben oder einem Indikativ umschrieben. Heute gibt es nur noch einige feste Redewendungen mit einem Konjunktiv, wie z.B. zo waarlijk helpe mij God almachtig oder men neme twee eieren. Der Flexionsverlust ist ein sehr langsamer Prozess in der Sprachgeschichte, sehr wahrscheinlich auch, weil die Flexion durch die Kultivierung oder durch das Primat (bis De Saussure) der geschriebenen Sprache lange aufrechterhalten wurde. Auch Derivationsmorpheme sind dem Sprachwandelprozess unterworfen. Um z.B. neue weibliche nomina agentis zu bilden, sind im modernen Niederländischen nur noch die Suffixe -e und -ster produktiv: piloot - pilote, echtgenoot - echtgenote, voorzitter - voorzitster und vrijwilliger - vrijwilligster. Das Suffix -in, das im Deutschen sehr produktiv ist (Lehrer - Lehrerin, Soldat - Soldatin, Herr - Herrin), war im Niederländischen nur bis zum Mittelniederländischen sowie im 15. und 16. Jahrhundert produktiv, und auch nur sehr eingeschränkt. Manche Wörter wie duivelin, boerin und koningin existieren immer noch, wohingegen andere wie meesterin und zangerin heutzutage ersetzt sind durch meesteres und zangeres. Wir können hier eine Veränderung in der Produktivität beobachten, denn das Suffix -in ist im modernen Niederländischen generell nicht mehr produktiv. Allerdings scheint es neuerdings im belgischen Niederländisch wieder einigermaßen produktiv zu sein, denn dort ist die Form studentin (statt studente) seit einigen Jahren im Umlauf: Mooie kamer voor betrouwbare studentin Ruime, net gerenoveerde mooie studentenkamer te huur in woonhuis centrum Leuven, voor betrouwbare studentin die wil bijverdienen door af en toe te babysitten op de twee kinderen (9m en 2j) van eigenaar. http: / / nl.kapaza.be/ (07.06.2013) Die Produktivität eines Morphems kann sich auch steigern, ein Beispiel dafür können wir bei den Intensivierungen (intensivering) sehen. Intensivierungen sind Affixe, Wörter oder Wortkombinationen, mit denen Ausdrücke verstärkt werden können, wie z.B. supergroot, megacool, keigezond, knalrood, heel erg vol und zo sterk als een paard. In den letzten Jahren ist der Gebrauch des Präfixes überals Intensivierung zu beobachten. Beispiele finden wir vor allem im Internet, wo Ausdrücke wie beispielsweise übergezond leven, een übergezonde maaltijd, een übercool weekend, übercoole fietsverlichting oder een übermooi huis zahlreich vorkommen. <?page no="212"?> 9. Sprache in Bewegung 212 9.7 Syntaktischer Wandel Dass Lautung und Bedeutungen einzelner Wörter sich im Laufe der Zeit verändern, kann man sich noch gut vorstellen. Dass ganze Satzmuster hinzukommen, wegfallen oder ihre Funktion ändern, ist schon schwieriger nachzuvollziehen. Doch auch syntaktischer Wandel ist in natürlichen Sprachen an der Tagesordnung. Eine ziemlich auffällige Entwicklung in der niederländischen Sprachgeschichte ist die Veränderung in der Negation (negatie), der Verneinung. Allgemein angenommen wird, dass es ursprünglich ein Element ne gab, um einen Satzinhalt zu verneinen, wie z.B. im folgenden altniederländischen Satz: 4) ne ist heil himo in Gode sinemo (Wachtendonckse Psalmen, 10. Jh.) 'Es gibt keine Erlösung für ihn bei seinem Gott' In einigen späteren Texten des Altniederländischen sind aber zweiteilige Negationen zu finden, ein Vorbote der geläufigen Negation im Mittelniederländischen - sowie am Anfang des Neuniederländischen -, die aus zwei Teilen bestand: ne oder en direkt vor dem konjugierten Verb und einem zweiten Element wie niet, das sehr wahrscheinlich zur Verstärkung diente: 5) Wir newillon niet uergezzan, thaz ... (Leidse Willeram, um 1100) 'Wir wollen nicht vergessen, dass ...' 6) Ende ic en weet niet waer ic henen sal (Lanseloet, 1400-1420) 'Und ich weiß nicht, wo ich hin soll' 7) Ick en weet niet oft ghij levende oft doot zijt (Brieven vd Meulen, 1584) 'Ich weiß nicht, ob du lebendig oder tot bist' Die zweigliedrige Verneinung war in geschriebenen Texten noch bis weit ins 17. Jahrhundert verbreitet, heute kommt sie aber in dieser Form nicht mehr vor. Das ursprüngliche Verneinungselement ne/ en ist in der Standardsprache kein Teil der Negation mehr. In einigen Dialekten ist es allerdings noch anwesend, wie z.B. im Westflämischen: Ik en heb niemand gezien. 5 Die meisten syntaktischen Veränderungen folgen zwei größeren Entwicklungstendenzen. Die erste Tendenz ist die Entwicklung von einem synthetischen zu einem analytischen Sprachbau. Die Begriffe 'synthetisch' und 'analytisch' charakterisieren in der Typologie die Art und Weise, wie eine Sprache syntaktische Beziehungen im Satz ausdrückt. Synthetische Sprachen (synthetische talen) markieren Beziehungen untereinander mittels Flexion am Wort, wie z.B. Kasus (der Gesang des Vogels), Modus (wenn ich ein Vöglein wär, flög ich zu dir) oder die Person des Verbs (lat. cantat 'er singt'). Die Wortstellung in einer synthetischen Sprache ist häufig etwas freier, da 5 Beispiel aus Van der Auwera, De Cuypere & Neuckermans (2006), das der Lesbarkeit halber auf Standardniederländisch wiedergegeben ist. <?page no="213"?> 9.7 Syntaktischer Wandel 213 die syntaktischen Beziehungen der Satzglieder ja am Wort gekennzeichnet sind. Analytische Sprachen (analytische talen) hingegen markieren syntaktische Beziehungen mittels Umschreibungen oder Periphrasen, wie z.B. Präpositionen anstelle von Kasus (het gezang van de vogel), Hilfsverben zum Ausdruck von Konditionalsätzen (als ik een vogel zou zijn, zou ik naar jou vliegen) oder Personalpronomen bei Verben (hij zingt). Auch feste Satzkonstruktionen, in denen jeder syntaktischen Funktion eindeutig eine Position zugewiesen ist, sind ein typisches Merkmal analytischer Sprachen. Die Wortstellung ist relativ fest, weil eine freie Wortstellung zu Ambiguität führen kann: Der Satz Oma schlägt der Dieb hat nur eine Interpretation, während oma slaat de dief zwei mögliche Interpretationen zulässt. Die Entwicklung von einem synthetischen zu einem analytischen Sprachsystem verläuft fließend. Das Indoeuropäische und das Urgermanische, der rekonstruierte Vorläufer der germanischen Sprachen, waren vorwiegend synthetische Sprachen. Das moderne Niederländische ist allerdings vorwiegend analytisch und die Entwicklung in diese Richtung ist immer noch im Gange, auch wenn sie sich großenteils bereits vor dem Altniederländischen abgespielt hat. Die syntaktische Entwicklung steht innerhalb des Sprachsystems nicht für sich, sondern im Zusammenhang mit phonetischen und morphologischen Entwicklungen. Mit der Abschwächung von vollen Vokalen in unbetonten Silben (eine der phonetischen Veränderungen zwischen Alt- und Mittelniederländisch) wurde der Weg frei für den Flexionsverlust: die Endungen verschwanden allmählich, wodurch Konstruktionen mit Präpositionen (preposities/ voorzetsels) immer wichtiger wurden, wie z.B mit aan, um das indirekte Objekt anzuzeigen (ze geven een koekje aan het kind), oder mit van, um den Besitzer anzuzeigen (het huis van de burgemeester). Auch treten immer mehr Verben mit einer festen Präposition auf, wie geven aan, wachten op, bezwaar hebben tegen oder verliefd zijn op. Darüber hinaus kommen vermehrt feste Verbindungen (vaste verbindingen) vor, z.B. de aandacht vestigen op (auf etwas hinweisen), in de gaten houden (im Auge behalten), aan de hand van (anhand), met een sisser aflopen (keine Folgen haben), een conclusie trekken (die Schlussfolgerung ziehen ) oder iets tot in de puntjes weten (etwas in allen Einzelheiten kennen). Hinzu kommt, dass die Wortstellung immer strikter wird, so steht das niederländische finite Verb in Aussagesätzen normalerweise an der zweiten Stelle im Satz (diese Eigenschaft wird in der Linguistik auch als V2 bezeichnet), nur in besonderen Fällen taucht die finite Verbform auf einer anderen Position auf (s.u.). Der Wandel von einem synthetischen zu einem analytischen System ist ein sehr langsam fortschreitender Prozess mit vielen kleineren und größeren Änderungen, die in einem größeren Zusammenhang stehen und einander gegenseitig bedingen. Die zweite Tendenz ist eine Verschiebung der Wortstellung (woordvolg-ordedrift), die das Niederländische in seiner Entwicklung mitmacht (vgl. die Klassifizierung des Satzbaus in Kap. 5.4). Während das moderne Englische ganz klar eine SVO-Sprache ist, weisen das Niederländische und Deutsche ein gemischtes Muster mit SVO im Hauptsatz und überwiegend SOV im Nebensatz auf: <?page no="214"?> 9. Sprache in Bewegung 214 8) I believe that she S likes V him O . Ik geloof dat zij S hem O leuk vindt V . Ich glaube, dass sie S ihn O mag V . Das war aber nicht immer so. Das Urgermanische hatte sehr wahrscheinlich eine ausgeprägte SOV-Wortstellung. Im Mittelniederländischen können wir im Nebensatz bereits verschiedene Möglichkeiten finden, das Verb konnte fast an jeder Stelle vorkommen, nur nicht an der ersten Stelle direkt nach der Konjunktion: 9) Ic hebbe dicke wel horen lesen, dat die minne S soect V haers ghelike O (Lanseloet, 1400-1420) 'Ich habe oft gehört und gelesen, dass die Liebe ihres Gleichen sucht' 10) Ic bidde gode, dat hi S mine scande O wille V decken (Lanseloet, 1400- 1420) 'Ich bitte Gott, dass er meine Schande verhüllen will' Das Mittelniederländische war auf dem Weg, sich zu einer SVO-Sprache zu entwickeln, 6 eine Veränderung, die im Englischen bereits um 1200 durchgeführt war. Dennoch hat sich diese Entwicklung für das Niederländische nicht durchgesetzt, was wieder einmal zeigt, dass Sprachwandel offensichtlich ein unvollständiger Prozess ist. Exkurs: Grammatikalisierung Im 19. sowie zu Anfang des 20. Jahrhunderts nahm die diachrone Sprachwissenschaft eine zentrale Position in der Linguistik ein, wobei die Schule der Junggrammatiker führend war. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts verschob sich der Akzent hin zu einer synchronen Betrachtungsweise von Sprache, aber in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kehrte die Diachronie in den Fokus der Linguistik zurück, u.a. in der Grammatikalisierungsforschung. Die Grammatikalisierung (grammaticalisatie) ist − vereinfacht ausgedrückt − der Prozess, in dem ein lexikalisches Element sich zu einem grammatischen entwickelt. Ein Beispiel ist das Substantiv richting mit der Bedeutung 'Stand oder Bewegung auf eine bestimmte Seite oder ein bestimmtes Ziel'. Heutzutage wird richting auch als Präposition verwendet, wie in we gaan richting Brussel. Das Substantiv richting ist ein lexikalisches Element, d.h. dass es eine 'konkrete' Bedeutung hat (wir haben eine mentale Vorstellung davon) und es kann bei Wortbildungsprozessen wie Komposition und Derivation ohne weiteres eingesetzt werden. Die Präposition richting ist ein grammatisches Element, d.h. dass es eine 'abstrakte' Bedeutung hat (wir brauchen Kontext um die Bedeutung zu verstehen) und dass es eher selten bei Wortbildungsprozessen eingesetzt wird. Ein anderes Beispiel ist die Entstehung von Hilfsverben aus Vollverben. Das Verb 6 Diese Entwicklung wird hier auf einer sehr vereinfachten Weise dargestellt, in Wirklichkeit verlief sie komplizierter. Es führt aber zu weit, hier auf die Details einzugehen. <?page no="215"?> 9.8 Pragmatischer Wandel 215 hebben (mit der Vollverbbedeutung 'besitzen' − zij heeft een auto) hat sich zugleich zum Hilfsverb des Perfekts entwickelt (hij heeft geslapen). Mit dem Übergang von einem lexikalischen zu einem grammatischen Element 'entsteht' sozusagen Grammatik. 9.8 Pragmatischer Wandel Die Pragmatik untersucht, wie sprachliche Mittel in einer bestimmten Situation benutzt werden. Das bedeutet, dass der Kontext, in dem die Kommunikation stattfindet, von großer Bedeutung ist. Bei pragmatischem Wandel steht daher die Frage im Mittelpunkt, ob sich die Art und Weise verändert, wie Menschen sprachliche Mittel verwenden. Ein Beispiel für pragmatischen Wandel ist die Veränderung im Gebrauch der Anredeformen: Seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich im Niederländischen der Gebrauch des Anredepronomens je/ jij ausgebreitet. Diese Veränderung lässt sich mit den Dimensionen Macht und Solidarität beschreiben. Diese Dimensionen wurden von Brown & Gillman (1960) eingeführt, um die Verschiebung in den Anredepronomen, nämlich die von V-Pronomen zu T-Pronomen, in europäischen Sprachen zu erklären. 7 Das V-Pronomen beruht auf dem lateinischen vos (u/ uw), das T-Pronomen auf tu (jij/ je/ jou/ jouw/ jullie) (vgl. Kap. 7.6). Bis weit ins 20. Jahrhundert war die Dimension Macht entscheidend für die Wahl des Anredepronomens. In einer Studie hat Vermaas (2002) festgestellt, dass der Gebrauch von jij in vielen Situationen zugunsten von u zugenommen hat. Gesellschaftliche Veränderungen in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts wie die Individualisierung, Emanzipation und Demokratisierung haben sehr wahrscheinlich dazu geführt, dass die Solidaritätsdimension im Vergleich zur Machtsdimension einen höheren Stellenwert eingenommen hat. Parallel dazu gibt es eine Verschiebung im Gebrauch der Vornamen, die zunehmend häufiger verwendet werden. Denn prinzipiell kombiniert man im Niederländischen den Vornamen mit der Anredeform je/ jij, und den Familienamen − in Kombination mit mevrouw, meneer oder einer anderen Anredeform − mit u. 8 Die Verschiebung hat jedoch zur Folge, dass eine große graue Zone entstanden ist, in der Situationen nicht klar zu bestimmen sind und es immer wieder zu Unsicherheiten bei der Wahl des Anredepronomens kommt. So auch im Fernsehprogramm Zomergasten im Jahr 2002, in dem der Schriftsteller und Fernsehmoderator Adriaan van Dis mit dem Historiker und Jurist Cees Fasseur sprach. Am Anfang der Sendung hat Adriaan van Dis seinen Gesprächspartner gesiezt, aber im Laufe des Gesprächs hat er immer mehr zwischen u 7 Die Dimensionen Macht und Solidarität sind in der Forschung zu den Anredepronomen auch auf Kritik gestoßen, vor allem weil diese Dimensionen die Wirklichkeit zu einfach darstellen. 8 Im Deutschen dahingegen können in bestimmten Situationen Anreden mit dem Vornamen und Sie vorkommen (das sog. 'Hamburger Sie' wie in Max, lesen Sie bitte Seite 28) sowie mit dem Familiennamen und Du (das sog. 'bayerische Du' wie in Frau Müller, kannst du mir sagen, wo die Bücher sind? ) (vgl. Kremer 2000: 27). <?page no="216"?> 9. Sprache in Bewegung 216 und jij gewechselt, besonders nachdem Cees Fasseur angefangen hatte, ihn 'Adriaan' zu nennen: Abb. 9.4: Fokke & Sukke (Reid, Geleijnse & Van Tol) Auch wenn die Solidaritätsdimension heutzutage eine größere Rolle spielt, bedeutet dies nicht, dass heutzutage die Machtsdimension kein Gewicht mehr hat, in vielen Situationen ist sie nicht zu unterschätzen. Die Entscheidung für das V- oder T- Pronomen ist deshalb von vielen persönlichen Faktoren, wie Alter, Bildung, gesellschaftlicher Position oder Religion abhängig. Auch situative Faktoren sind entscheidend: Bei einer Arbeitsbesprechung ist die Situation anders als im Schulunterricht, beim Arzt oder bei einem Kneipenbesuch. Eine andere Art pragmatischen Wandels ist eine Veränderung im Gebrauch des Hilfsverbs zullen, nämlich bei der Vergangenheitsform zou. Im heutigen Niederländischen wird zou häufig mit modalen Hilfsverben wie kunnen, moeten und willen kombiniert. Verbindungen mit modalen Verben sind schon im Mittelniederländischen belegt, aber die Kombination von zou mit kunnen und moeten ist neueren Datums. Die wichtigste Bedeutung von zou ist eine hypothetische (zu umschreiben mit 'angenommen, dass...'), wie sie heutzutage auch in Konditionalsätzen verwendet wird, z.B. in als ik een miljoen zou winnen, zou ik een wereldreis maken. Oder auch in Sätzen wie de enige met wie ik dat zou kunnen bespreken, is Gudrun ('angenommen, dass ich das mit jemandem besprechen könnte, dann ist das Gudrun'). Schauen wir uns nun folgende Sätze an: 11) Je zou 't ook allebei kunnen doen 'Du könntest auch beides machen' 12) Dat zou je 'ns aan iemand moeten vragen. 'Du solltest das mal jemanden fragen' <?page no="217"?> 9.9 Zusammenfassung 217 In diesen Beispielen hat zou in Kombination mit kunnen oder moeten keine reine hypothetische Bedeutung mehr, sondern fungiert als ein Ausdruck von Höflichkeit, um jemandem auf 'vorsichtige Weise' einen Rat zu geben. Solche vorsichtigen Ausdrücke werden auch mit dem englischen Begriff mitigation ('Abschwächung' oder 'Milderung', mitigatie) bezeichnet. Aus dem größeren Kontext des Gesprächs oder Textes lässt sich in diesen Fällen das Hintergrundwissen (Was, Wo, Wann usw.) ableiten. Zou als Höflichkeitsausdruck hat sich aus der hypothetischen Bedeutung entwickelt, was noch gut in Sätzen wie ik zou nu direct naar huis gaan (als ik jou was) oder ik zou het morgen vragen (als je het gaat vragen) zu erkennen ist. Die Konditionalsätze als ik jou was oder als je het gaat vragen werden allerdings nicht mehr ausdrücklich gesagt, sie lassen sich aber aus dem Kontext erschließen, wie in einer Implikatur (implicatuur) (vgl. Kap 7.3.2). Auf diese Weise ist die Höflichkeitsfunktion von zou in Kombination mit Verben wie kunnen und moeten entstanden. In Beispiel 11 sehen wir sowohl die hypothetische Bedeutung (mit der Implikatur 'als je het gaat doen') als auch eine pragmatische Funktion, eine höfliche Empfehlung. In Beispiel 12 ist die Höflichkeitsfunktion von zou nicht mehr von einer Implikatur abhängig, sondern funktioniert jetzt selbständig. In diesem Fall ist die Implikatur der Auslöser für Sprachwandel, die eine Verschiebung von einer semantischen Bedeutung zu einer pragmatischen Funktion bewirkt hat. 9.9 Zusammenfassung Sprachen verändern sich kontinuierlich. Der Prozess des Sprachwandels hat verschiedene Eigenschaften: Er findet auf allen sprachlichen Ebenen statt, ist zeitlich und räumlich begrenzt, unvollständig, unvorhersagbar, und vollzieht sich allmählich. Sprachen verändern sich jedoch nicht einfach so. Es gibt verschiedene Ursachen und Prinzipien, die für Sprachwandel verantwortlich sind, wie Drift, die Prinzipien der Ökonomie und Deutlichkeit, Analogie, Spracherwerb, Reinterpretation, Sprachkontakt und gesellschaftliche Veränderungen. Außer zu Veränderungen können diese Phänomene auch zu Sprachtod führen. Die innere Sprachgeschichte befasst sich mit sprachlichen Veränderungen in den verschiedenen Sprachstadien, die äußere Sprachgeschichte mit gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklungen. Um Veränderungen in der Sprache zu untersuchen, sind zwei Herangehensweisen erforderlich: eine synchrone und eine diachrone Betrachtung. Der Vergleich von sprachlichen Daten verschiedener Sprachstadien kann durch die Real-Time- oder die Apparent-Time-Methode erfolgen. Die historisch-vergleichende Methode wird vor allem eingesetzt, um Sprachen mithillfe von Kognaten zu rekonstruieren. Veränderungen finden auf allen sprachlichen Ebenen statt: Es gibt Lautwandel, lexikalischen Wandel, Bedeutungswandel sowie morphologischen, syntaktischen und pragmatischen Wandel. Li aben m Weiterlesen <?page no="218"?> 9. Sprache in Bewegung 218 Aufgaben Aufgaben 1. Sprachwandel kann auf verschiedenen Ebenenen vorkommen. Schauen Sie sich folgendes Textfragment aus dem Jahr 1877 an und bestimmen Sie, welche Elemente heutzutage veraltet sind und auf welchen sprachlichen Ebenen (Morphologie und Semantik) sie zu beschreiben sind. Ist es auch möglich, Lautunterschiede zu beschreiben? De nieuwe rarekiek van den ouden korporaal Smit. De oude Korporaal Smit? hoor ik u vragen, zou dat dezelfde zijn, waarover we pa en moe wel hebben hooren spreken, die zooveel moois te kijken gaf in hun jongen tijd en naar wien zij zoo gaarne luisterden? De oude Korporaal Smit zelf en geen mensch anders, zooals mijn grootvader zaliger placht te zeggen, toen hij zoo oud was als ik op dit oogenblik. Dezelfde oude Korporaal; maar natuurlijk ben ik mee vooruitgegaan met mijn tijd. In plaats van de kijkkast van vroeger, die ik op mijn rug versjouwen moest, een kijkkast met drie glazen, kan ik thans het geachte Nederlandsche publiek ontvangen in een net ingerichte tent en U, beste jongens en meisjes, allerlei fraaie dingen laten zien uit vreemde landen, ver hier van daan en uit uw eigen land, dingen, die ik op mijn lange reis zelf eigenhandig heb aanschouwd. Anoniem, De nieuwe rarekiek van den ouden korporaal Smit 2. Welche Bedeutungswandelprozesse sind in den Beispielen 1-6 eingetreten? Benutzen Sie eventuell ein modernes und ein historisches Wörterbuch, um alte und neue Bedeutungen nachzuschlagen. 1. stout Karel de Stoute (1433-1477) 2. gelaat ursprünglich 'de manier waarop een persoon zich voordoet, zich vertoont, er uitziet' 3. lekker 'lekker weertje vandaag' oder 'een lekker ding' 4. zebra de kinderen kunnen ook oefenen met oversteken op zebra's 5. geil ursprünglich 'vrolijk' 6. fontein ursprünglich 'bronwater, bron' 3. Lesen Sie folgendes Zitat. Der leicht sarkastische Unterton wird wohl keinem Leser entgehen. Begründen Sie, warum es vielen Menschen schwer fällt, Sprachwandel nicht als Sprachverfall zu sehen. "[T]aalkundigen zijn dol op veranderingen; als het volk massaal een bepaalde taalfout begint te maken, staan ze verrukt toe te kijken, als ouders bij hun spelende kinderen." (Benno Barnard, Knack.be 22.10.2008) 4. Das Verb gaan kommt im Niederländischen sowohl als selbständiges Verb, mit der Bedeutung 'sich fortbewegen' als auch als Hilfsverb des Futurs vor. Benutzen Sie die Algemene Nederlandse Spraakkunst (ANS) und das Woordenboek der Nederlandsche Taal (WNT) um die folgenden Fragen zu beantworten. <?page no="219"?> Aufgaben 219 a. Wie kategorisiert die ANS das Verb gaan? b. Kann gaan mit alle Arten Verben kombiniert werden? Welche Kombinationen sind in der Standardsprache möglich und welche nicht? c. Welche Bedeutungsveränderungen sind bei gaan aufgetreten? d. Vergleichen Sie die Art und Weise, wie die ANS en das WNT die regionale Variation behandeln. Was fällt Ihnen auf? e. Wie können Sie die Veränderungen von gaan charakterisieren? Literatur zum Weiterlesen Zu den Grundlagenwerken gehören die Historische taalkunde von Van Bree (1996), De geschiedenis van het Nederlands von Van der Wal (1992), De geschiedenis van de Nederlandse taal von Van den Toorn et al. (1997) und Het Nederlands vroeger en nu von Janssens & Marynissen (2008). Spezialisiert auf das 20. Jahrhundert ist De geschiedenis van het Nederlands in de twintigste eeuw (Van der Horst & Van der Horst 1999). Van der Horst bespricht in Taal op drift (2013) die langfristigen Sprachentwicklungen in den europäischen Sprachen in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Veränderungen. Zum Sprachwandel und Sprachverfall ist Taalverandering en Taalverloedering (Bennis, Cornips & Van Oostendorp 2004) eine interessante Lektüre. Das Leenwoordenboek (Van der Sijs 1996) bietet eine gute Übersicht über Lehnwörter im Niederländischen und das Etymologisch Woordenboek van het Nederlands (Philippa et al. 2003-2009) beschreibt die Geschichte der modernen niederländischen Wörter. Um Bedeutungswandel zu untersuchen, ist das Woordenboek der Nederlandsche Taal (1864-1998) unentbehrlich. Zum Laut- und Flexionswandel sind exemplarisch Schönfelds Historische grammatica van het Nederlands (1970), Van Loeys Middelnederlandse spraakkunst I Vormleer (1980) und Middelnederlandse spraakkunst II Klankleer (1979) sowie Van Brees Historische Grammatica van het Nederlands (1987) zu nennen, zu neueren Veränderungen Variatie en verandering in het gesproken Standaard-Nederlands (Van de Velde 1996). Ein Monumentalwerk zum syntaktischen Wandel ist die zweiteilige Geschiedenis van de Nederlandse syntaxis (Van der Horst 2008). Ein einführendes Kapitel zur Grammatikalisierungstheorie steht im Studienbuch Funktionale Grammatik. Konzepte und Theorien (Smirnova & Mortelmans 2010). <?page no="220"?> 10. Methoden der Sprachwissenschaft Michaela Poß Armchair linguistics does not have a good name in some linguistics circles. A caricature of the armchair linguist is something like this. He sits in a deep soft comfortable armchair, with his eyes closed and his hands clasped behind his head. Once in a while he opens his eyes, sits up abruptly shouting, "Wow, what a neat fact! ", grabs his pencil, and writes something down. […] Corpus linguistics does not have a good name in some linguistics circles. A caricature of the corpus linguist is something like this. He has all the primary facts that he needs, in the form of a corpus of approximately one zillion running words, and he sees his job as that of deriving secondary facts from his primary facts. At the moment he is busy determining the relative frequencies of the eleven parts of speech as the first word of a sentence versus as the second word of a sentence. Charles J. Fillmore (1992: 35) Wie das Wort schon verrät, handelt es sich bei der Sprachwissenschaft um eine Wissenschaft und als solche ist sie gewissen methodischen Standards verpflichtet. Die Basis jeden wissenschaftlichen Arbeitens ist die Vertrauenswürdigkeit der erlangten Ergebnisse. Betrachten wir z.B. die Medizin: Werden neue Medikamente bei Patienten einer bestimmten Gruppe getestet, muss die Fachwelt davon ausgehen können, dass die Untersuchungsreihen gewissenhaft durchgeführt und die Ergebnisse nicht manipuliert werden, damit die gewonnenen Erkenntnisse vertrauenswürdig auf weitere Patienten übertragen werden können. Doch nicht nur die Verlässlichkeit der Resultate spielt eine Rolle in der wissenschaftlichen Arbeit. Die Methoden, mit denen wissenschaftliche Ergebnisse erzielt werden sollen, müssen zielführend sein. Möchte ein Mediziner also wissen, ob sein neues Medikament die gewünschten Resultate liefert, ist es nicht ausreichend, den Krankheitsverlauf eines einzelnen Patienten auszuwerten. Vielleicht ist es Zufall, dass es dem Patienten besser geht bzw. dass das Mittel anschlägt. Oder vielleicht schlägt es gerade nicht an, da der betroffene Patient empfindlich auf einen Inhaltsstoff reagiert, während die meisten anderen Menschen doch positiv reagieren würden. Medizinische Studien müssen also so angelegt sein, dass äußere Faktoren, die die Ergebnisse beeinflussen könnten, kontrolliert werden und die Gruppe der Testpersonen ausreichend groß und divers ist. Zwar ist die Gefahr, dass Menschen zu Schaden kommen, in der sprachwissenschaftlichen Forschung vergleichsweise gering, dennoch funktioniert Wissenschaft als Quelle des Erkenntnisgewinns nur dann, wenn alle, die daran teilhaben, sich all- <?page no="221"?> 10. Methoden der Sprachwissenschaft 221 gemeingültigen Qualitätsstandards verschreiben. Nehmen wir z.B. eine fiktive Fragestellung aus der Soziolinguistik. Person A möchte gerne herausfinden, inwiefern die Sprachgewohnheiten von Menschen unter 60 Kilogramm Gewicht und Menschen über 60 Kilogramm Gewicht sich voneinander unterscheiden. Zu diesem Zwecke wertet Person A eine Rede eines 63-jährigen Mannes aus, der promovierter Vorstandsvorsitzender eines börsennotierten Großkonzerns ist und 120 Kilogramm wiegt, und vergleicht diese mit einem selbstgeführten und transkribierten Interview mit einer 19-jährigen Mutter dreier Kinder, die ohne Abschluss die Schule mit 15 verlassen hat und 52 Kilogramm wiegt. Der Katalog der sprachlichen Unterschiede zwischen den beiden, die Person A feststellt, ist lang, allerdings für die konkrete Frage, welche sprachlichen Unterschiede wir zwischen Menschen unter und über 60 Kilogramm finden, völlig ohne Aussagekraft. Der Vorstandsvorsitzende und die junge Mutter unterscheiden sich auf so vielen Ebenen, z.B. Alter, Bildungsgrad, Geschlecht, persönliches Umfeld etc., dass es schier unmöglich ist, zu unterscheiden, ob ein spezieller sprachlicher Unterschied nun auf das Lebendgewicht zurückzuführen ist oder auf andere innere und äußere Faktoren, die einen Einfluss auf das sprachliche Verhalten ausüben. Wissenschaftlich schwierig ist diese Studie auch deshalb, weil es schon intuitiv keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Körpergewicht und dem Idiolekt, also der eigenen, individuellen Sprache, zu geben scheint. Das bedeutet natürlich nicht, dass es Unsinn ist, nach Zusammenhängen zu suchen, die noch nicht bekannt sind, doch zumindest müsste Person A gut darlegen können, warum das Körpergewicht einen möglichen, sinnvollen Faktor in der Beschreibung der Sprache eines Individuums darstellen könnte. Dafür ist aber die Auswahl je eines Vertreters der verglichenen Gruppen viel zu wenig. Um statistisch relevant Fragen beantworten zu können, muss die Gruppe der Versuchspersonen angemessen groß sein. Wie groß 'angemessen groß' im Einzelfall ist, kann nur abhängig von der Fragestellung beantwortet werden. Je ein beobachtetes Subjekt, soviel ist jedoch klar, ist in jedem Fall zu wenig. Obendrein ist die im Beispiel gewählte Fragestellung viel zu ungenau und unspezifisch. Je konkreter und abgegrenzter eine wissenschaftliche Fragestellung ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie beantwortet werden kann, und zwar mit Methoden, die zielführend und exakt sind. Das Herzstück einer jeden wissenschaftlichen Studie ist eine sauber formulierte Hypothese (hypothese). In ihr wird ein vermuteter Zusammenhang zwischen zwei beobachtbaren Variablen (variabelen) formuliert, der dann überprüft werden kann. In unserem Beispiel hat Person A schon zu Beginn den Fehler begangen, eine Fragestellung zu formulieren, die gar nicht systematisch in einem Schritt untersuchbar ist. Besser macht es Person B. Sie ist Medizinerin und möchte den Zusammenhang zwischen Körpergewicht und Schnarchen untersuchen. Eine gewisse Relevanz des Faktors 'Gewicht' für die Wahrscheinlichkeit, ob eine Person schnarcht oder nicht, ist in der Literatur bereits bekannt. Die Fragestellung erscheint also intuitiv sinnvoll. Weiterhin weiß Person B, dass das absolute Gewicht eines Menschen alleine nicht aussagekräftig ist, da es nur im Zusammenhang mit der Größe auf einer Skala einge- <?page no="222"?> 10. Methoden der Sprachwissenschaft 222 ordnet werden kann. Für einen Menschen mit 1,40 Meter Körpergröße sind 60 Kilogramm ein eher hohes Gewicht, ist jemand 2 Meter groß, sind 60 Kilogramm sehr wenig. Person B wählt also als erste beobachtbare Variable den Body Mass Index, also das Körpergewicht in Relation zur Körpergröße, der deutlich aussagekräftiger ist als das reine Gewicht. Als zweite beobachtbare Variable wählt sie den Faktor Schnarchen, also die Frage, ob und wie stark ein Individuum schnarcht. Eine mögliche Hypothese ist dann die Annahme, dass ein Body Mass Index, der über einem bestimmten Niveau liegt, zu verstärkter Schnarchaktivität, die ebenfalls über einem bestimmten Niveau liegt, führt, und diese Hypothese ist untersuchbar. Sie entspricht neben der Wahl beobachtbarer Variablen auch dem zweiten Kriterium für eine gute Hypothese: Sie ist falsifizierbar (falsificeerbaar). Es wäre nämlich auch denkbar, dass das Ergebnis der Studie enthüllt, dass gerade Menschen mit einem niedrigen Body Mass Index verstärkt schnarchen. Damit wäre zwar die Ausgangshypothese widerlegt, dennoch hätte Person B ein wissenschaftlich relevantes Ergebnis erzielt. Hypothesen, die nicht falsifizierbar sind, z.B. 'ein Mensch mit einem Body Mass Index von mehr als 30 schnarcht, oder er schnarcht nicht', sind wissenschaftlich nicht von großem Interesse. Das dritte Kriterium, welches eine gute wissenschaftliche Hypothese erfüllen muss, ist, dass das Ergebnis reproduzierbar (reproduceerbaar) sein muss. Jede wissenschaftliche Studie muss so aufgebaut und dokumentiert sein, dass es grundsätzlich möglich ist, sie unter den gleichen Bedingungen zu wiederholen und zu sehen, ob man wieder zu den gleichen Ergebnissen kommt. Dadurch ist gewährleistet, dass wissenschaftliche Ergebnisse überprüft werden können. Das einleitende Beispiel beschreibt eine methodische Dichotomie innerhalb der Sprachwissenschaft: Auf der einen Seite befinden sich die sog. 'Lehnstuhllinguisten', die mithilfe introspektiver Herangehensweise sprachliche Phänomene beschreiben und analysieren. Doch die eigenen Intuitionen können täuschen, und gerade diejenigen, die sich täglich analytisch mit Sprache auseinandersetzen, haben oft Schwierigkeiten, unvoreingenommene Urteile zu fällen, z.B. über die Grammatikalität von Aussagen. Auf der anderen Seite befinden sich die Korpuslinguisten, die sich in erster Linie auf die Empirie verlassen. Doch auch hier gilt es, achtzugeben. Das reine Zählen von Beispieldaten hat noch keinen eigenen Mehrwert. Erst in Verbindung mit einer sinnvollen Fragestellung und Hypothese trägt die empirische Arbeit zum Erkenntnisgewinn bei. Der Weg zur guten linguistischen Arbeit liegt also vermutlich in der Mitte: Welche Fragen und Phänomene untersucht werden und welche Methoden angewendet werden, um zu Ergebnissen zu kommen, ist eine Folge der Introspektion. Doch gerade in einem Feld, in dem der Untersuchungsgegenstand so vergleichsweise einfach beobachtbar ist, sollten auch empirische und experimentelle Methoden unterstützend eingesetzt werden, um die Ergebnisse zu untermauern. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werden einige linguistische Methoden, die über die Introspektion hinausgehen, vorgestellt. Dabei erhebt diese Aufzählung keinen Anspruch auf Vollständigkeit und in einem solch kurzen Text kann den ein- <?page no="223"?> 10.1 Empirische Sprachwissenschaft: Korpuslinguistik 223 zelnen Disziplinen auch nicht Genüge getan werden. Unser Hauptaugenmerk liegt auf der Korpuslinguistik und das aus einem einfachen Grund: Korpora des Niederländischen sind recht leicht zugänglich und auch ohne tiefere Computerkenntnisse können schon einfache Fragestellungen beantwortet werden. Neben der Korpuslinguistik unternehmen wir noch kurze Ausflüge - und als solche sollen sie auch verstanden werden - auf die Gebiete der Feldforschung und der Psycholinguistik. 10.1 Empirische Sprachwissenschaft: Korpuslinguistik Linguisten sind verglichen mit beispielsweise Physikern deutlich im Vorteil, denn Sprache ist, im Gegensatz zu subatomaren Teilchen, allgegenwärtig beobachtbar. Das ist insofern praktisch, dass wir nicht allein auf unsere Introspektion angewiesen sind, sondern wir können direkt am Objekt testen, ob unsere theoretischen Annahmen auch in der Realität belegbar sind. Ein weiteres Beispiel: Person A ist der festen Überzeugung, dass das Verb brauchen im Deutschen immer mit einem zu- Komplement benutzt wird. Person B hingegen denkt, dass man brauchen auch ohne weiteres ohne zu benutzen kann. Wer von beiden Recht hat, ist relativ einfach herauszufinden, indem sie in geschriebenen Texten und gesprochener Sprache darauf achten, wie Menschen brauchen benutzen. Personen A und B werden schnell feststellen, dass beide Gebrauchsweisen, also mit und ohne zu-Komplement, vorkommen. Eine solche vergleichsweise simple Fragestellung kann gut durch aufmerksames Zuhören beantwortet werden. Stellen wir uns jetzt vor, dass A und B mit diesem Resultat noch nicht zufrieden sind und gerne wüssten, welche der beiden Varianten häufiger vorkommt. In dem Fall wäre aufmerksames Zuhören sehr zeitraubend, immerhin sind Sätze mit modalem brauchen nicht sonderlich frequent, es würde also vermutlich lange dauern, bis man eine repräsentative Menge an Beispielsätzen zusammen hat. Allerdings kann die Frage, welche Gebrauchsweise denn nun häufiger ist, nicht auf einem kleinen Set von Beispielen basieren. Um statistisch signifikante Resultate zu erzielen, müssen ausreichend viele Daten ausgewertet werden. Große Datenmengen stehen der Sprachwissenschaft zur Verfügung in Form von maschinenlesbaren Korpora (corpora). Ein Korpus besteht aus einer großen Menge meist homogener Sprachdaten, die auf unterschiedliche Weisen mit Metadaten angereichert und zugänglich gemacht sind. Je nach Art der Textsammlung können Korpora leicht viele Millionen Wörter umfassen. Im modernen Computerzeitalter ist das Sammeln von Sprachdaten verhältnismäßig einfach geworden. Gerade geschriebene Sprache, z.B. aktuelle Zeitungen und Bücher, liegt häufig schon in digitaler Form vor und kann in einem Korpus gebündelt werden. Darüber hinaus sind Bibliotheken weltweit dabei, Altbestände zu digitalisieren, sodass auch historisches Material, welches noch nicht bereitsteht, mehr und mehr mit dem Computer durchsuchbar gemacht wird. Doch je größer die Datenmenge wird, desto schwieri- <?page no="224"?> 10. Methoden der Sprachwissenschaft 224 ger ist es, sie so zu filtern, dass die relevanten Treffer gefunden werden. Um sich in einem großen Korpus noch zurechtfinden zu können, ist also eine weitere Aufbereitung der Sprachdaten von Nöten. Der Begriff Korpus wird in der heutigen Sprachwissenschaft in der Regel auf maschinenlesbare Datenbanken angewendet, und die Korpuslinguistik ist ein Themenfeld, das seit den 1980er Jahren an Popularität gewinnt. Nimmt man es genau, wird allerdings schon seit den Anfängen der Sprachwissenschaft korpuslinguistisch gearbeitet: Alle Arbeiten zu älteren Sprachstufen, die auf der Auswertung von erhaltenem, geschriebenem Textmaterial basieren, sind korpuslinguistischer Art. Erst das Computerzeitalter hat die etablierte, aufwändige Methode der breiten Masse zugänglich gemacht. 10.1.1 Korpusarten und Formen der Korpusannotation Grundsätzlich wird zwischen zwei verschiedenen Formen von Korpora unterschieden: den Referenzkorpora (referentiecorpora) und den Spezialkorpora (speciale corpora). Ein Referenzkorpus ist in der Regel groß und beansprucht für sich, eine bestimmte Periode einer bestimmten Sprache recht umfassend abzudecken. Referenzkorpora sollten balanciert (gebalanceerd) sein, mit anderen Worten eine ausgewogene Mischung verschiedener Sprachgenres beinhalten. Spezialkorpora hingegen beschränken sich auf eine bestimmte Textsorte, z.B. gesprochene Sprache im Corpus Gesproken Nederlands (CGN), oder Abschriften von Reden des Europäischen Parlaments in verschiedenen Sprachen im Europarl. Sehr verbreitet sind Zeitungskorpora wie das 27-Miljoen-Krantencorpus 1995, doch auch hochspezialisierte Textsorten wie flämische gesprochene Sprache von Sprechern mit pathologischen Sprachstörungen sind als Korpus erhältlich. Spezialkorpora sind grundsätzlich nicht repräsentativ, da sie nicht die gesamte Bandbreite der Sprache abdecken, sondern nur ein Teilgebiet, z.B. Zeitungssprache oder gesprochene Sprache. Daher gilt es, bei der Wahl des Korpus genau abzuwägen, ob die Sprachdaten zur eigenen Hypothese passen. Korpora gibt es entweder annotiert (geannoteerd) oder nicht annotiert, also mit oder ohne metalinguistische Information (Bsp. s.u.). Nichts ist älter als die Korpusliste von gestern. Daher verzichten wir auf einen detaillierten Überblick über die niederländischen Korpora. Die eigene Suche im Internet führt schnell zu Ergebnissen. Die meisten niederländischen Korpora werden zudem von der TST-Centrale unterhalten und zu wissenschaftlichen Zwecken gratis zur Verfügung gestellt. Weitere Information unter URL: http: / / www.inl.nl/ tstcentrale/ . <?page no="225"?> 10.1 Empirische Sprachwissenschaft: Korpuslinguistik 225 Die einfachste Form der digitalen Textbereitstellung ist das rohe (platte) Korpus. Darin ist nur der reine Text (inklusive Satzzeichen etc.) enthalten, ohne jede Form der qualitativen Analyse. Rohe Korpora können aufgrund der fehlenden Komplexität sehr schnell auch in gigantischen Größen erstellt werden. Nehmen wir z.B. alle Texte der niederländischen Wikipedia, kopieren sie als rohen Text in einen Texteditor und speichern diese Textdatei, so haben wir selbst ein digitales Korpus gebaut. Die Elemente, die in einem Korpus enthalten sind, nennt man Tokens (tokens). Alles, was zwischen zwei Leerzeichen steht, ist ein Token und kann somit von einem Wort unterschieden werden. Zu den Tokens gehören nämlich auch die Einheiten, die keine Wörter sind, wie z.B. Satzzeichen. Ein Computer kann nun also recht einfach bestimmen, wie viele Tokens ein Korpus beinhaltet, indem er alle Einheiten zählt, die zwischen zwei Leerzeichen stehen. Eine einzelne, spezifische Zeichenkette entspricht einem Type (type) und kann in einem Korpus natürlich häufiger vorkommen. Alle Zeichenketten, die von der Form her gleich sind, gehören demselben Type an. Sehen wir uns ein Beispiel in Form eines Minikorpus an, bestehend aus dem Anfang von Harry Mulischs Buch De ontdekking van de hemel: - Ogenblik! - Wat is er? - Opdracht volbracht. De zaak is rond. - Welke zaak? - Ja, neemt u mij niet kwalijk. Het allerbelangrijkste. De hoofdzaak. - De hoofdzaak? Waar heb je het over? - Over het testimonium. - Ach, natuurlijk! Lieve hemel, het is toch verschrikkelijk. Onafgebroken wijd je je aan de wezenlijke dingen, al je vermogens geef je er aan, - en dan komt het moment, dat je ze eenvoudig vergeet, of dat je ze even in een handomdraai afhandelt. Unser Korpus besteht aus 83 Tokens, darunter Ogenblik! und aan. Sprachwissenschaftlich gesehen ist das natürlich ungünstig, da wir wissen, dass das Ausrufezeichen kein Bestandteil der Einheit ogenblik oder aan ist. Der erste Schritt, der also sinnvollerweise bei der Erstellung eines Textkorpus unternommen wird, ist die Tokenisierung (tokenizing). In diesem Prozess werden alle Einheiten, die nicht zusammengehören und trotzdem nicht durch eine Leerstelle getrennt sind, wieder voneinander losgelöst. Ogenblik und ! sind in einem tokenisierten Korpus zwei Tokens. Auf der Type-Ebene kommen wir auf eine andere Zahl als auf Token-Ebene. Alle Einheiten, die mehr als einmal vorkommen, werden nur einmal gezählt. Unser Korpus besteht also aus 61 Types. Doch auch mit dieser Unterteilung geht wieder sprachwissenschaftliche Information verloren, die wir gerne aus dem Korpus ablesen können würden. So sind z.B. over in Zeile 6 und Over in Zeile 7 zwei verschiedene <?page no="226"?> 10. Methoden der Sprachwissenschaft 226 Types, da eines mit einem Großbuchstaben beginnt, eines nicht. Für den Computer sind die beiden Einheiten vollkommen unterschiedlich, für den Sprachwissenschaftler aber nicht, da beide Formen der Präposition over zugeordnet werden. Andererseits finden wir in unserem Korpus mehrere Instanzen des Types je, die entweder dem Personalpronomen jij oder dem Possessivpronomen jouw zugeordnet werden. Für eine automatische Suche in einem großen Korpus wäre es natürlich sinnvoll, wenn alle Formen eines Lemmas auch gemeinsam kategorisiert würden. Diesen Prozess nennt man Lemmatisierung (lemmatisering). In der lemmatisierten Version eines Korpus sind alle Tokens einem abstrakten Lemma zugeordnet, so dass man einerseits Homographen disambiguieren kann und andererseits verschiedene morphologische Formen eines Wortes wieder unter einem Lemma zusammenfassen kann. Die nächste Stufe der linguistischen Analyse von Textkorpora ist die Wortartenannotation oder Parts-of-Speech-Tagging (parts of speech tagging). Hierbei wird jedem Token nicht nur ein Lemma zugewiesen, sondern auch die Wortart, in der es im Text vorkommt. Diese Metainformation ist beispielsweise dann von Interesse, wenn man Daten zu bestimmten Wörtern extrahieren möchte, die in verschiedenen Wortarten vorkommen können. Das niederländische Substantiv richting kann etwa nominal gebraucht werden (In welke richting ligt Mekka? ), oder präpositional (richting oosten). Interessiert man sich ausschließlich für die präpositionale Gebrauchsweise, kann man explizit danach in einem wortartenannotierten Korpus suchen. Empirische Korpusstudien zu bestimmten syntaktischen Konstruktionen sind erheblich leichter realisierbar, wenn das Korpus neben der Wortarteninformation noch über eine syntaktische Annotation (syntactische annotatie) verfügt. Komplexe Fragestellungen, wie z.B. welche Konstituenten und Satzglieder sich an erster Satzposition befinden können oder welche Reihenfolge direktes und indirektes Objekt bei ditransitiven Verben einnehmen, können nur anhand einer Wortartenabfolge nicht beantwortet werden. Erst die metasprachliche Information über die Konstituentenstruktur und Satzfunktionen macht eine genaue Suche in großen Korpora möglich. Korpora, die mit einer syntaktischen Annotation versehen sind, nennt man Baumbank oder Treebank (treebank). Die hier aufgezählten Analyseniveaus haben in den vergangenen Jahren eine rasante Entwicklung erlebt und gehören heutzutage zur Basisausstattung eines guten, sprachwissenschaftlich nutzbaren Korpus. Darüber hinaus gibt es noch viele denkbare linguistische Ebenen, die von Interesse sein können und die in Einzelfällen auch annotiert sind, z.B. semantische Information, Informationsstruktur, Dialektzuordnung etc. Welche Analyseniveaus der Nutzer genau benötigt, hängt immer von der einzelnen Fragestellung ab. Häufig steht die Qualität der Korpusannotation in direktem Verhältnis zur Größe des Korpus. Es gibt rohe Korpora mit Tokens in Milliardenhöhe, doch die sind natürlich auch einfach zu kompilieren. Die Suchmöglichkeiten in beispielsweise 3 <?page no="227"?> 10.1 Empirische Sprachwissenschaft: Korpuslinguistik 227 Milliarden Tokens rohem Text ist hingegen extrem eingeschränkt. Dann gibt es wiederum Korpora, die auf verschiedenen Ebenen manuell annotiert sind. Diese Annotationen sind in der Regel sehr wenig fehlerbehaftet, andererseits sind die Korpora meist vergleichsweise klein und somit nicht in der Lage, die erforderliche Treffermenge für eine bestimmte Fragestellung zu liefern. Dieses Problem versuchen Computerlinguisten seit Jahren durch automatische Annotationsverfahren zu lösen, und auch hier sind die Entwicklungen rasant. 1 Für die Gebiete Tokenisierung, Lemmatisierung und Wortartenannotation gibt es inzwischen automatische Programme, die solch gute Erfolge erzielen, dass auch gigantische Textmengen ohne Probleme automatisch bearbeitet werden können. Auf dem Gebiet der syntaktischen Annotation werden ebenfalls immer bessere Ergebnisse erzielt, sodass heutzutage auch Treebanks die Millionen-Token-Grenze leicht überschreiten können. An die Qualität manuell annotierter Korpora ragen sie jedoch mit einer Präzision von selten über 90 Prozent nicht heran. 10.1.2 Die Analyse von Korpusdaten Die rasche automatische Verarbeitung von Korpusdaten und die damit gewonnene Möglichkeit, schnell und vergleichsweise unkompliziert sprachliche Phänomene beobachten zu können, vereinfacht die wissenschaftliche Arbeit natürlich. Dennoch gibt es Stolperfallen und viele Faktoren, die beim Aufbau einer korpusbasierten Arbeit zu bedenken sind. So entbindet die Existenz von Korpora uns nicht von der Pflicht, eine sinnvolle Hypothese zu entwickeln und die Daten, die wir analysieren wollen, vorsichtig auszuwählen. Dabei gilt besondere Vorsicht bei der Wahl der Textsorte. In vielen Fällen ist die Gattung der Daten, die in einem Korpus zusammengefasst sind, homogen oder zumindest getrennt durchsuchbar. Wir unterscheiden z.B. zwischen geschriebenen und gesprochenen Korpora. Letztere bestehen aus Transkriptionen gesprochener Sprache, wie etwa das Corpus Gesproken Nederlands (CGN). Es liegt auf der Hand, dass ein solches Korpus bei einer Fragestellung, die auf gesprochenes Niederländisch abzielt, das Mittel erster Wahl ist. Mit insgesamt 9 Millionen Tokens, von denen 900.000 syntaktisch annotiert sind, ist das CGN allerdings eher klein. Bezieht sich die zu untersuchende Hypothese auf ein Phänomen, welches sowohl in der gesprochenen als auch in der geschriebenen Sprache gleichermaßen auftritt, wäre es sinnvoller, ein größeres Korpus zu Rate zu ziehen. Welches Korpus man zu Rate zieht und welche Analysemethoden man anwendet, hängt von der Fragestellung ab. Grundsätzlich gilt: Je spezifischer und ungewöhnlicher das Phänomen, desto größer muss das Korpus sein. Für die Beantwortung der Frage, welcher Buchstabe im geschriebenen Niederländisch am häufigsten 1 Genaugenommen ist der Begriff Korpuslinguistik ambig. Einerseits beschreibt er den Ansatz, sprachwissenschaftliche Hypothesen entweder aus Datenmaterial abzuleiten oder sie mit Daten zu unterstützen, andererseits bezieht sich Korpuslinguistik auf das Gebiet der (automatischen) Annotation und Kompilierung. <?page no="228"?> 10. Methoden der Sprachwissenschaft 228 vorkommt, reichen 100.000 Tokens, um eine statistisch aussagekräftige Antwort zu erhalten. Wer beobachten möchte, wie häufig das Verb niesen mit drei Argumenten statt intransitiv auftritt, entscheidet sich besser für ein Korpus in der Größenordnung des 2,4 Milliarden Token LASSY-Korpus. Doch selbst dann, wenn man in einem gigantischen Korpus eine gesuchte Konstruktion nicht beobachten kann, bedeutet das nicht, dass sie nicht existiert. Niemals kann mithilfe von Korpusdaten ex negativo argumentiert werden. Nur, weil etwas nicht da ist, heißt das nicht, dass es nicht da sein könnte. Korpuslinguistik im Sinne von datenbasierten Studien kennt zwei verschiedene Ansätze: die korpusgeleitete (corpusgedreven) und die korpusbasierte (corpusgebaseerde) Analyse. In korpusgeleiteten Studien werden Hypothesen induktiv aus dem gefundenen Material generiert. In korpusbasierten Studien werden introspektiv aufgestellte Hypothesen anhand des gefundenen Korpusmaterials bestätigt oder widerlegt. Weiß man also schon, was gesucht werden soll, arbeitet man korpusbasiert, analysiert man erst die Daten und bildet dann eine Hypothese, arbeitet man korpusgeleitet. Wie man im Einzelnen eine Hypothese untermauern möchte, hängt immer vom spezifischen Ziel ab und kann nicht über den Daumen gepeilt vorgeschrieben werden. Dennoch können einzelne Methoden als zentral betrachtet werden, die wir hier vorstellen wollen. Ein wichtiges empirisches Instrument in der Korpusanalyse ist die Konkordanz (concordantie). Konkordanzen sind Listen, in denen ein bestimmter Suchbegriff angeführt wird. Will man z.B. alle Belege des Tokens richting in einem Korpus sehen, kann man mithilfe eines Konkordanzprogramms 2 die Daten danach durchsuchen und sich die Treffer anzeigen lassen. Eine Form der Konkordanz ist der sog. KWIC-Index (KWIC steht für Key Word In Context). Der Index präsentiert den jeweiligen Suchbegriff in seiner sprachlichen Umgebung. Konkordanzen und KWIC-Indizes werden bei der Kookkurrenz- oder Kollokationsanalyse (collocatie-analyse) verwendet, um zu erfassen, in der Umgebung welcher Wörter ein Suchbegriff besonders gerne auftritt. So wissen wir, dass es sterke koffie und krachtige computer heißt, nie allerdings krachtige koffie und sterke computer. Kollokationen sind also lexikalische Einheiten, die häufiger miteinander auftreten, als es statistisch wahrscheinlich wäre. Mithilfe von Konkordanzen können wir aus großen Korpora auch die Kollokationen herausfiltern, die etwas weniger augenscheinlich sind. Sie sind immer dann hilfreich, wenn ein bestimmter Suchterm bekannt ist. 2 Auch die Software zur Durchforstung von Korpora ist in ständigem Wandel und unterliegt Moden. Daher ist es auch hier wieder ratsam, sich im WWW umzusehen, welche Programme derzeit (häufig auf Universitätswebseiten) angeboten werden. In der Regel sind auch diese gratis. Häufig werden Korpora auch direkt mit einer eigenen Software angeboten. <?page no="229"?> 10.1 Empirische Sprachw Abb. 10.1: KWIC-I Wollen wir allerdings n mehr als nur ein rohes tigen wir eine Treebank fig mitgeliefert wird). M schen eher ik geef oma e eigentliche Fragestellun häufiger vorkommt ode das nicht beantworten, turen zulässt, hingegen Je nachdem, ob das lyse (kwalitatieve bzw. unterschiedliche Schrit fundenen Treffer einze zen. Eine mögliche qu Satzmuster A und 250 beide akzeptabel sind." wohl in Satzmuster A, in 89 Prozent der Fälle raus, dass die Wahrsch muster A auftritt, deutli 10.1.3 Das Internet als Im Internetzeitalter lie Korpora auch das Inter eine Milliarde Dokume 3 Korpusstatistik ist ein g Einführung hinausgeht Auswertungen durchge erlässlich. Wer eine gr programmen wie R ode wissenschaft: Korpuslinguistik ndex für den Suchbegriff richting aus dessen Wikipediae nach abstrakten syntaktischen Mustern suchen, br Korpus und ein Konkordanzprogramm. In diesem k und ein darauf ausgerichtetes Suchwerkzeug (w Möchte man z.B. gerne herausfinden, ob es im N een cadeau heißt oder ik geef een cadeau aan oma, s ng, ob in ditransitiven Sätzen die Satzstellung NP er NP V NP PP. Mit einer rein lexikalischen Abfrag , mit einem Korpus, das die Suche nach syntaktisc sehr einfach. Ziel der Suche eine qualitative oder eine quantit kwantitatieve analyse) ist, schließen sich an die T tte an. Bei einer qualitativen Korpusanalyse werd ln bewertet, um die vorangegangene Hypothese zu ualitative Aussage wäre: "Ich habe im CGN 300 Treffer für Satzmuster B gefunden. Ich schließe d " Eine mögliche quantitative Aussage wäre: "Verb als auch mit Satzmuster B realisiert werden. Im C e mit A auf und in 11 Prozent der Fälle in B. Ich s heinlichkeit, dass C im gesprochenen Niederländis ich höher ist als die Wahrscheinlichkeit, dass es in B s Korpus egt es eigentlich auf der Hand, anstelle von eigen rnet als primäre Quelle für Sprachdaten zu nutzen ente und Webseiten sind im weltweiten Netz gespe großes und komplexes Gebiet, welches im Detail über den R t. Und viele kleine Korpusstudien können auch ohne komplex eführt werden. Dennoch ist Statistik für jeden, der mit Daten ößere quantitative Arbeit plant, findet große Hilfe in spezie er SPSS. 229 eintrag rauchen wir m Fall benöwelches häu- Niederländio lautet die P V NP NP ge lässt sich chen Struktative Ana- Treffersuche den die geu unterstüt- Treffer für daraus, dass C kann so- CGN tritt es schließe dasch in Satz- B auftritt". 3 ns erstellten n. Mehr als eichert, und Rahmen einer xe statistische n arbeitet, unellen Statistik- <?page no="230"?> 10. Methoden der Sprachwissenschaft 230 die können wertvolle Informationen für jeden Linguisten enthalten. Die meisten werden schon einmal sprachliche Information mit Hilfe einer Internetsuchmaschine gewonnen haben: z.B. wenn man sich der Schreibung eines Wortes nicht sicher ist. Die Suche mit Google nach dem Wort tegenwordig bringt als Resultat 341000 Treffer. Das ist eine Menge, verglichen mit der Suche nach tegenwoordig jedoch signifikant weniger. Die korrekte Schreibweise mit doppeltem o liefert 17,4 Millionen Treffer. 4 Bei einer solch deutlichen Verteilung können wir beruhigt davon ausgehen, dass tegenwoordig die korrekte Schreibweise ist. Für lexikographische Fragestellungen eignet sich das WWW durchaus gut. Wie wird ein Wort verwendet, welche Wörter treten häufig gemeinsam auf, in welchem stilistischen Kontext benutzt man einen bestimmten Ausdruck? All dies sind Fragen, die mithilfe von Suchmaschinen auch im Internet gut beantwortet werden können. Dabei hat man mit der Zielsprache Niederländisch sogar einen Vorteil z.B. den Anglisten gegenüber: Englisch ist Verkehrssprache im WWW, und die Frage, ob und welche Autoren von Texten wie Forenbeiträgen und Chats Muttersprachler des Englischen sind, ist so gut wie nicht zu beantworten. Für eine vergleichsweise kleine Sprache wie Niederländisch ist dieses Problem überschaubar, und natürlich ist nicht alles immer gleich korrekt, was man findet (immerhin schreiben ja auch ausreichend viele Nutzer tegenwoordig mit einem o), doch die Wahrscheinlichkeit, in hohem Maße Texte von Nicht-Muttersprachlern zu analysieren, ist eher klein. Nahezu alle Fragestellungen, die zu ihrer Beantwortung von einer differenzierteren Annotation abhängen, sind hingegen schwer mit Material aus dem WWW zu beantworten. Komplexe Satzmuster und grundsätzlich alle abstrakten Strukturen lassen sich ohne eine Metaebene kaum finden. Daher gibt es inzwischen von mehreren Seiten Bemühungen, das Internet auch linguistisch informiert durchsuchbar zu machen, oder auf einfache Weise große Datenmengen selbst zu einem linguistisch informierten Korpus zu bündeln. 10.2 Feldforschung Natürlich ist die Arbeit mit Korpora nicht die einzige Möglichkeit, sprachwissenschaftliche Fragestellungen mit Daten zu untermauern. Je nach Phänomen ist sie auch völlig ungeeignet. Nehmen wir z.B. eine Sprache X, gesprochen von Ureinwohnern des Landes Y, die vom Aussterben bedroht ist. Die Kinder wachsen nicht mehr mit Sprache X als Muttersprache auf, sondern mit der für den Handel hilfreicheren Sprache Z und die letzten Muttersprachler von X gehen dem Rentenalter entgegen. X hat keine schriftliche Kultur und ist damit für die Nachwelt nicht überliefert. Hier ist ein Feldforscher gefragt. Feldforschung (veldwerk) ist eine Methode der Datengewinnung, bei der der Sprachwissenschaftler selbst 'ins Feld' geht, also zu den Sprechern der Varietät, den 4 Stand: August 2012. <?page no="231"?> 10.2 Feldforschung 231 Informanten (informanten), die es zu untersuchen gilt, und dort anhand von Gesprächen die Daten gewinnt, die er benötigt. Ob das nun (wie bei vielen bedrohten Sprachen der Fall) eine komplette Grammatik ist, die dazu dienen soll, eine aussterbende oder noch nicht untersuchte Sprache zumindest in der Theorie zu erhalten, oder ob es der Erfassung dialektaler Unterschiede innerhalb eines Sprachsystems dient, ist dabei nachrangig. Die Methode bleibt die gleiche. Auch für eine eigentlich sehr gut dokumentierte Sprache wie das Niederländische trifft man auf Fragestellungen, die sich nicht mit bereits existierenden Daten beantworten lassen. So sind beispielsweise zahlreiche Dialekte des Niederländischen nicht schriftlich festgehalten. Glücklicherweise haben einige Sprachwissenschaftler es sich in den vergangenen Jahren zum Ziel gesetzt, die dialektalen Unterschiede systematisch zu kategorisieren und somit einem Wissensverlust entgegenzuwirken. Interessante Ergebnisse dialektbezogener Feldforschung sind der Dialectatlas van het Nederlands (2011), der in erster Linie lexikalisch-semantische Eigenheiten dokumentiert, und der Syntactische Atlas van de Nederlandse Dialecten (SAND), ein Projekt, das syntaktische Variation zwischen niederländischen Dialekten in dialektalen Karten festhält. Doch sehen wir uns ein konkretes Beispiel an. Im Niederländischen Sprachraum gibt es eine Vielzahl umgangssprachlicher Grußformeln, die beim Abschied verwendet werden. An einigen Orten sagt man doeg, andernorts verabschiedet man sich mit ajuus und andere sagen daag. Bei der Frage, wo man welchen Gruß benutzt, kann ein Korpus nicht weiterhelfen, da in der Regel keine ausreichend feinkörnige Annotation der regionalen Information vorhanden ist. Die Alternative ist also, entweder selbst vor Ort mit Sprechern des Dialekts zu reden und zu erfragen, was sie zum Abschied sagen, oder - so wie es das Dialectbureau, der Vorgänger des Meertens Instituut tat - einen Fragebogen an einzelne Haushalte in verschiedenen Regionen schicken. Nach der Auswertung zeigte sich, dass 1973 die Grußwörter beim Abschied in den niederländischen Dialekten wie in Abbildung 10.2 angegeben verteilt waren. Jedes Symbol steht dabei für eine bestimmte Grußformel und auf der Karte ist gekennzeichnet, wo Sprecher welches Wort verwenden. Für den Syntactische Atlas van de Nederlandse Dialecten wurden die relevanten Daten in insgesamt drei Schritten erhoben: Mit einem schriftlichen Fragebogen, der an Informanten an 321 Orten in den Niederlanden und Belgien verschickt wurde, gefolgt von einem mündlichen Fragebogen, der Testpersonen an 267 Orten vorgelegt wurde, und zum Schluss wurden noch 246 telefonische Interviews geführt. Jedes Mal wurden eine Vielzahl von Sätzen vorgestellt und die Informanten mussten ein Grammatikalitätsurteil fällen: Kann ich das in meinem Dialekt so sagen, oder nicht? <?page no="232"?> 10. Methoden der Sprachwissenschaft 232 Abb. 10.2: Grußformeln in niederländischen Dialekten (nach Stroop 2009) Solche Methoden der Datenerhebung sind besonders wertvoll in der Variationslinguistik (vgl. Kap. 8), wenn kleinflächige regionale und/ oder soziale Unterschiede untersucht werden sollen. Doch ähnlich wie bei der Korpuslinguistik ist auch hier wieder die Frage der Repräsentativität nicht zu vergessen, wobei die Auswahl der Informanten eine große Rolle spielt. Ein frisch in eine Region zugezogener Informant ist ebenso wenig geeignet, Aussagen über den dortigen Dialekt zu treffen, wie ein Sprecher, der an dem Ort geboren ist, allerdings schon seit 20 Jahren im anderssprachlichen Ausland wohnt. 10.3 Experimentelle Sprachwissenschaft: Psycholinguistik Wer sich in der sprachwissenschaftlichen Forschung nicht auf seine Intuitionen verlassen möchte, hat mit der Korpuslinguistik und der Feldforschung schon zwei mächtige Instrumente zur Hand. Dennoch bleiben noch immer viele Fragen offen, <?page no="233"?> 10.3 Experimentelle Sprachwissenschaft: Psycholinguistik 233 die mit den bisher bekannten Werkzeugen nicht beantwortbar sind. Wie genau verarbeiten wir eigentlich Sprache? Was passiert in unserem Gehirn, wenn wir Sprache hören oder lesen? Wie lernen Kinder ihre Muttersprache und wie eine Fremdsprache? Wie sind eigentlich die Wörter in unserem mentalen Lexikon angeordnet und wie greifen wir darauf zu? All dies sind zentrale Fragen der Psycholinguistik (psycholinguïstiek), der Schnittstelle zwischen Sprachwissenschaft und Psychologie. Psycholinguistische Studien sind häufig experimenteller Natur. Die Frage, wie wir auf Wörter zugreifen beispielsweise, lässt sich weder durch Introspektion noch durch Analyse von Texten beantworten. Ob es überhaupt möglich ist, subtile kognitive Prozesse exakt nachzuvollziehen, ist fraglich. Doch wie bei einem Puzzle ist es anhand kleiner, einzelner Beobachtungen möglich, Hypothesen zu formulieren und zu testen. So kann man z.B. herausfinden, welche Wörter gemeinsam mit anderen aktiviert (geactiveerd) werden. Die erste Beobachtung ist, dass das mentale Lexikon (mentaal lexicon), also unser Speicherort für lexikalisches Wissen, nicht eine willkürliche Liste von Wörtern ist, die unabhängig voneinander gespeichert sind, sondern dass die einzelnen Elemente in Netzwerken miteinander verknüpft sind. Denken wir gerade an eine Kuh, können wir z.B. viel schneller das Wort melk aus dem Lexikon holen, als das Wort koffie. Koe aktiviert melk. Auch die relative Wortfrequenz hat Einfluss auf die Aktivierung eines Wortes: Wörter, die hochfrequent sind, stehen schneller zur Verfügung als niedrigfrequente. Das Wort koe kommt uns also schneller in den Sinn als das Wort herbivoor. Mit dem bloßen Ohr ist dieser Unterschied nicht hörbar, da beide Wörter im Millisekundenbereich zur Verfügung stehen. Apparativ und experimentell können Zeitverzögerungen jedoch gut nachgewiesen werden. Die Psycholinguistik verfügt über verschiedene experimentelle Methoden, um die Vernetzung von Wörtern sichtbar zu machen. Eine davon ist die lexikalische Entscheidung (lexicale decisie). Einer Versuchsperson werden (meistens auf dem Computer) Wörter vorgestellt, und mithilfe eines Knopfdrucks muss sie entscheiden, ob es sich um ein Wort handelt, oder nicht. Die Zeit, die zwischen Präsentation des Wortes und der Entscheidung liegt, wird dabei gemessen. Lexikalische Entscheidungsaufgaben bringen ans Tageslicht, dass die Reaktionszeiten (reactietijden) bei hochfrequenten Wörtern schneller sind als bei niedrigfrequenten, aber auch, dass es möglich ist, einen Stimulus (stimulus), also das Wort, welches gerade untersucht werden soll, mithilfe von Priming (priming) schneller zu aktivieren. Ein Prime ist ein Reiz, häufig ein vorangehendes Wort, der die Verarbeitung eines Wortes beeinflusst. Koe primet melk, da die semantische Kategorie im Gehirn bereits voraktiviert ist. Neben semantischem Priming lassen sich auch auf den Gebieten des phonologischen, morphologischen und syntaktischen Primings sichtbare Ergebnisse erzielen, die alle darauf hinweisen, dass Wörter eben nicht nur wie eine einfache Vokabelliste gespeichert, sondern auf höchst komplexe Weise miteinander vernetzt sind. <?page no="234"?> 10. Methoden der Sprachwissenschaft 234 Eine weitere experimentelle Herangehensweise ist das Eye-Tracking (eye tracking). Hierbei werden die Augenbewegungen der Versuchsperson aufgenommen und analysiert, während sie einen Text oder eine Reihe einzelner Wörter liest. Menschen lesen Texte nämlich nicht linear Wort für Wort, sondern sie springen bei Bedarf vor und zurück und fixieren einzelne Elemente. Mit der Messung von Augenbewegungen kann man z.B. den sog. Holzwegeffekt (intuineffect) aufspüren. Holzwegsätze schicken den Leser oder Hörer anfänglich auf einen falschen Interpretationsweg, und im laufenden Satz wird plötzlich deutlich, dass die ursprüngliche Interpretation nicht stimmen kann. Dann muss ab der Stelle, an der die Analyse schiefgegangen ist, neu interpretiert werden und das bewirkt erneutes Lesen (und kostet Zeit, ist somit auch messbar). Nehmen wir z.B. den Satz Experimenten met regen maken lijken succesvol. 5 Das Wort lijken ist ambig und bezieht sich entweder auf tote Körper, oder es ist die 3. Person Plural des Verbs lijken. Im ersten Ansatz interpretieren Leser den Satz so, dass Experimente mit Regen Leichen machen, doch das Adjektiv X führt semantisch nicht zu einer sinnvollen Interpretation. Anders wäre es mit dem Satz Experimenten met regen maken lijken nat. Trifft der Leser also während des Lesens auf das Wort succesvol, weiß er, dass er sich mit seiner Interpretation auf dem Holzweg befand und dass er das bisher Gelesene reinterpretieren muss. Im zweiten Ansatz ist es dann offensichtlich, dass regen maken zusammen verstanden werden muss und dass lijken eine Verbform ist. Dann kann der Satz in Gänze interpretiert werden, nämlich so, dass Experimente mit dem Machen von Regen erfolgreich zu sein scheinen. Mithilfe von Augenbewegungsexperimenten ist es möglich, sog. Prozessierungs- oder Verarbeitungsstrategien (processing strategieën) zu enthüllen, da Holzwegeffekte in erster Linie daher rühren, dass mögliche Interpretationen unterschiedliche Aktivierungspotenziale mit sich bringen. Hochapparative Verfahren, die die Gehirntätigkeit bei der Verarbeitung sprachlicher Phänomene beobachten, werden vor allem in der Neurolinguistik (neurolinguïstiek) eingesetzt. Mithilfe von ereigniskorrelierten Potenzialen (event-related potentials, ERP) können z.B. Beispiel elektrische Strömungen, die als Reaktion auf einen Stimulus ausgelöst werden, gemessen werden. Mit magnetischer Resonanzbildgebung (magnetic resonance imaging, MRI) können die Teile des Gehirns sichtbar gemacht werden, die bei der Verarbeitung von Informationen angesprochen werden. Solche Verfahren sind natürlich stark abhängig von einer geeigneten apparativen Umgebung und können somit nicht spontan und unkompliziert durchgeführt werden. Zudem ist bei experimentellen Studien eine tiefgehende Kenntnis statistischer Methoden nötig. Letztendlich ist aber hoffentlich deutlich geworden, dass auch ein Sprachwissenschaftler sich nicht ausschließlich auf seine Intuitionen verlassen muss. Introspektive Erkenntnisse und oberflächliche Beobachtungen können mit den geeigneten (objektiven) Methoden wissenschaftlich untermauert wer- 5 Beispielsatz von URL: http: / / www.psy.vu.nl/ pracfunc/ meer_weten_grammatica.html (abgerufen am 20.10.2012). <?page no="235"?> 10.4 Zusammenfassung 235 den. Dabei ist allerdings das Aufstellen einer Hypothese und auch die Beweisführung, die Auswahl der geeigneten Daten oder der Aufbau eines Experiments immer nur so gut wie die Denkleistung, die darin steckt. 10.4 Zusammenfassung In diesem Kapitel haben wir uns mit den wissenschaftlichen Methoden der Sprachwissenschaft beschäftigt. Wer zu einem linguistischen Thema forschen möchte, muss sich an gewisse methodische Standards halten, um Ergebnisse zu erhalten, die zum Erkenntnisgewinn beitragen. Dabei hat die Rolle der Introspektion, des Einfach-darüber-Nachdenkens, in den letzten Jahrzehnten auf dem Gebiet der Sprachwissenschaft deutlich abgenommen und die moderne Linguistik orientiert sich deutlich hin zu datenbasierten Ansätzen. Nach wie vor beginnt jedoch jede sinnvolle Studie mit einer klar definierten Hypothese, die das weitere Vorgehen leitet. Eine gute Hypothese stellt eine Verbindung zwischen zwei beobachtbaren Variablen her, ist falsifizierbar und die dazugehörige Untersuchung reproduzierbar. Die Korpuslinguistik bietet eine gute Möglichkeit, entweder seine Hypothesen an großen Mengen von Sprachdaten zu testen (korpusbasiert) oder aber seine Hypothesen aus Beobachtungen abzuleiten (korpusgeleitet). Die Auswahl an Korpora ist mannigfaltig und es ist die Aufgabe des Nutzers, das für seine Fragestellung am besten geeignetste Korpus zu wählen. Verschiedene Ebenen der linguistischen Annotation helfen dabei, die relevanten Treffer in großen Korpora zu finden. Am verbreitetsten sind derzeit die Wortartenannotation und die syntaktische Annotation. Syntaktisch annotierte Korpora nennt man Treebanks. Je nach Korpustyp finden sich zusätzlich noch semantische Annotationen, in Spezialkorpora oft auch genrespezifische Informationen wie Sprechpausen und Versprecher in gesprochenen Korpora. Die einzelnen Elemente in einem Korpus nennt man Tokens, Einheiten, die von der Form her gleich sind, sind Mitglieder eines Types. Häufig werden alle Tokens übergeordneten Lemmata zugewiesen, was die Suche nach speziellen Begriffen enorm erleichtert, da Homonyme ausgeschlossen und verschiedene morphologische Formen zusammengefasst werden können. Das Durchforsten von großen Korpora übernehmen spezielle Programme, die häufig mit dem Korpus geliefert werden. Eine wichtige Rolle spielt die Erstellung von Konkordanzen oder KWIC-Indizes, die Listen eines Suchbegriffs in seiner sprachlichen Umgebung generieren. Ist ein Korpus syntaktisch annotiert, kann jedoch auch unabhängig von einem lexikalischen Element nach abstrakten Strukturen gesucht werden. Abhängig davon, ob eine Arbeit qualitativ oder quantitativ ausgerichtet ist, dienen die extrahierten Daten entweder der Illustration oder der statistischen Analyse. Das größte Korpus ist natürlich das Internet und mithilfe geeigneter Suchmaschinen kann auch das WWW wichtige Informationen über sprachliche <?page no="236"?> 10. Methoden der Sprachwissenschaft 236 Phänomene liefern. Aufgrund der relativen Unerschlossenheit beschränkt sich der Radius von Internetanalysen derzeit mit Einschränkungen auf lexikalisch-semantische Arbeiten. Eine Vielzahl von linguistischen Fragestellungen ist mit reinem Korpusmaterial allerdings gar nicht beantwortbar. Ein Beispiel ist die Mikrovariation in Dialekten, die einerseits oft gar nicht über eine Schriftsprache verfügen; andererseits sind in den wenigsten Korpora überhaupt die Daten feinkörnigen Regionen zugeordnet. In solchen Fällen kann die klassische Feldforschung sehr dienlich sein. Anhand von schriftlichen oder mündlichen Interviews und Fragebögen werden von Informanten Grammatikalitätsurteile und lexikalische Informationen erfragt. Kleine Feldstudien sind schon ohne großen Aufwand durchführbar. Deutlich aufwändiger sind die Versuchsaufbauten, die häufig in der Psycho- und Neurolinguistik verwendet werden. Auf der Suche nach den kognitiven Zusammenhängen, die es Sprechern und Hörern ermöglichen, Sprache zu verarbeiten, werden verschiedene Arten von Experimenten durchgeführt. Die Aktivierung von semantisch verwandten Elementen kann beispielsweise mithilfe von lexikalischer Entscheidung untersucht werden. Syntaktische Prozesse wie der Holzwegeffekt werden durch Eye-Tracking-Experimente sichtbar gemacht und alle möglichen Arten der physiologischen Reaktion auf Reize werden mit hochapparativen Methoden wie ERP und MRI dargestellt. Aufgaben Aufgaben 1. Sehen Sie sich noch einmal das Minikorpus unseres Mulisch-Texts an. In der jetzigen Form besteht es aus 83 Types und 61 Token. Tokenisieren sie das Korpus vollständig und zählen Sie noch einmal. Wieviele Types und Tokens finden Sie jetzt? - Ogenblik! - Wat is er? - Opdracht volbracht. De zaak is rond. - Welke zaak? - Ja, neemt u mij niet kwalijk. Het allerbelangrijkste. De hoofdzaak. - De hoofdzaak? Waar heb je het over? - Over het testimonium. - Ach, natuurlijk! Lieve hemel, het is toch verschrikkelijk. Onafgebroken wijd je je aan de wezenlijke dingen, al je vermogens geef je er aan, - en dan komt het moment, dat je ze eenvoudig vergeet, of dat je ze even in een handomdraai afhandelt. 2. Lemmatisieren Sie unser Minikorpus. Dabei sollte jeder Type, der ein Satzzeichen ist, auch einem eigenen Lemma zugeordnet werden. Wieviele Lemmata benötigen Sie, um das Korpus vollständig zu lemmatisieren? <?page no="237"?> Aufgaben 237 3. Stellen Sie sich vor, Sie machten folgende Beobachtung: Alle Sprecher der Sprache X, die über 60 sind, produzieren durchgehend ein Zungenspitzen-r. Formulieren Sie eine sprachwissenschaftliche Fragestellung, eine Hypothese, und beschreiben Sie, wie diese überprüft werden kann. a. Inwiefern ist Ihre Hypothese aus Frage 3) falsifizierbar und ihre Untersuchung reproduzierbar? b. Mit welchen linguistischen Metadaten müsste ein Korpus versehen sein, das als Datenbasis für die Hypothese dient, dass alle Sprecher der Sprache X über 60 das / r/ nur dann mit der Zungenspitze rollen, wenn sie aus der nördlichen Region Y stammen? c. Erklären Sie den jeweiligen Holzwegeffekt in den folgenden Sätzen: 1. Het meisje slaat de hond met de stok met de riem. 2. Hij kwam om in een steekpartij te vechten. 3. Het meisje dat meerdere mensen bewonderden, zingt ook echt heel mooi. Literatur zum Weiterlesen Eine gute Übersicht über die Methoden und Möglichkeiten der Korpuslinguistik bieten die Einführungen von Lemnitzer & Zinsmeister (2006) Korpuslinguistik. Eine Einführung und Corpus Linguistics: Method, Theory and Practice (2012) von McEery & Hardie. An die statistische Auswertung von Daten mithilfe des Statistikprogramms R führt Baayen (2008) heran. Die Geschichte der Wissenschaft und ihre Konzepte werden in De ontwikkeling van wetenschap. Een inleiding in de wetenschapsfilosofie von De Vries (1995) skizziert. Syntaktische Variation in den niederländischen Dialekten wird im Syntactische Atlas van de Nederlandse Dialecten dargestellt, der auch in einer digitalen Fassung abrufbar ist: DynaSAND unter http: / / www.meertens.knaw.nl/ sand/ . Van der Sijs (Hrsg.) behandelt auch lexikalische und phonologische Variation im Dialectatlas van het Nederlands (2011). Eine gute Einführung in die Psycholinguistik bietet das Buch von Carroll (2008) Psychology of Language. Die meisten niederländischen Korpora werden vom INL verwaltet: Informationen zum CGN gibt es unter http: / / lands.let.kun.nl/ cgn/ , das Korpus selbst ist erhältlich über die TST-Centrale, http: / / tst-centrale.org/ nl/ producten/ corpora/ corpus-gesprokennederlands/ 6-17. Das 27-Miljoen-Krantencorpus 1995 findet sich unter http: / / tstcentrale.org/ nl/ producten/ corpora/ 27-miljoen-woorden-krantencorpus-1995/ 6-45, das COPAS unter http: / / www.inl.nl/ tst-centrale/ nl/ producten/ corpora/ corpus-pathologischeen-normale-spraak-copas/ 6-46 und das LASSY-Korpus unter http: / / tst-centrale.org/ nl/ producten/ corpora/ lassy-groot-corpus/ 6-67. Das Europarl Korpus findet man unter http: / / www.statmt.org/ europarl/ . Um selbst ein Korpus zu erstellen eignet sich z.B WebCorp, eine Suchmaschine für Sprachwissenschaftler, zu finden unter http: / / wse1. webcorp.org.uk/ . Für einen Überblick über das Gebiet 'Web als Korpus' siehe http: / / webascorpus.sourceforge.net/ . <?page no="238"?> Rechtsnachweise Abb. 1.1: Sprachgebiete in Belgien, wikimedia commons (Lennart Bolks) Abb. 1.2: Karibische Niederlande, mit freundlicher Genehmigung der Rijksoverheid Abb. 1.3: Standaardtaal, mit freundlicher Genehmigung der Nederlandse Taalunie (http: / / taaladvies.net/ taal/ advies/ tekst/ 85) Abb. 2.2: Probatio pennae, mit freundlicher Genehmigung der Bodleian Library Oxford Abb. 4.1: mit freundlicher Genehmigung von De Leertent, Amsterdam Abb. 5.1: Rekursive Mona Lisa, http: / / www.megamonalisa.com/ recursion/ Abb. 6.2: Sprechorgane nach Neijt 1991: 36 Abb. 8.1: Dialektkarte aus Janssens & Marynissen 2008: 178, mit freundlicher Genehmigung von Acco-Leuven Abb. 8.2: Lautverteilung zu muis und huis nach Kloeke, aus: Hamans, Camiel (2011): An early sociolinguistic approach towards standardization and dialect variation. G.G. Kloeke's theory of Hollandish expansion. 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Neben dem deutschen Begriff steht kursiv die niederländische Entsprechung mit dem bestimmten Artikel; Adjektive stehen jeweils in der Grundform. 1. Lautverschiebung de Germaanse klankverschuiving 35 2. Lautverschiebung de Hoogduitse klankverschuiving 35ff., 52 Ablaut de ablaut 99, 198 Adjektivphrase de bijvoeglijk naamwoordgroep 104, 106 Adjunkt het adjunct/ de bepaling 116f., 120 Adressat de adressaat 103, 108f., 150, 152, 161, 165 Adverbial de bijwoordelijke bepaling 115f., 120f. Adverbphrase de bijwoordelijke constituent 104 Affigierung de affigering 99f. Affix het affix 81ff., 211 Affrikat de affricaat 130 Agens het agens 119 Akkusativobjekt het indirect object/ voorwerp 118 Akronym het acroniem 92f., 203 Akzent de klemtoon 35, 134f., 137 Akzent het accent 171, 178, 184 Akzeptanz de acceptatie 44, 47, 52, 197 Allomorph de allomorf 86, 98, 140 Allophon de allofoon 138f. kombinatorisch combinatorisch 139 Altniederländisch het Oudnederlands 36ff., 195, 209, 212f. alveolar alveolair 128 ambig ambigu 109, 111, 157, 227, 234 Analogie de analogie 198f., 201 Analyse de analyse 26, 72, 109, 119, 225-229, 233f. korpusbasiert corpusgebaseerd 228 korpusgeleitet corpusgedreven 228 qualitativ kwalitatief 229 quantitativ kwantitatief 229 Satzgliedanalyse de zinsontleding/ het redekundig ontleden 114, 116 analytische Sprache de analytische taal 213 Anredeform de aanspreekvorm 164ff. Antezedent het antecedent 120f. Antonym het antoniem 62, 64, 71 binär binair 62 logisch logisch 62 mehrfach meervoudig 62 Apokope de apocope 209 Apparent-Time-Methode de apparent-time methode/ schijnbare tijd methode 180, 202 Approximant de approximant 130, 139, 179 arbiträr arbitrair 56, 79 Archaismus het archaïsme 203 Arealtypologie de areale typologie 28 Argument het argument 116-120, 228 Artikulationsart de wijze van articulatie 128, 131 Artikulationsort de plaats van articulatie 128, 131ff., 143f. Assimilation de assimilatie 142ff., 198, 209 Fernassimilation assimilatie op afstand 143 Kontaktassimilation contactassimilatie 143 Nasal-Assimilation n-assimilatie/ nasaalaanpassing 144 regressiv regressief 143 Stimmassimilation stemassimilatie 144 Attitüde de attitude 135, 183 Attribut de bijvoeglijke bepaling 120f., 152 prädikatives Attribut bepaling van gesteldheid 121 Auslautverhärtung de finale stemverscherping 141f., 144 Authentizität de authenticiteit 185, 188 Bahuvrihi-Komposition/ -Kompositum bahuvrihi-samenstelling 88ff. Bedeutungserweiterung de betekenisverruiming 58ff., 206 Bedeutungsgeneralisierung de betekenisgeneralisatie 206 Bedeutungsumschreibung de betekenisomschrijving 70 Bedeutungsverengung de betekenisspecialisatie 58f., 61, 206 <?page no="251"?> 251 Bedeutungswandel de betekenisverandering 78, 83, 206f. belgisches Niederländisch het Belgisch Nederlands 22, 72, 97, 166, 180, 211 Benrather Linie de Benrather linie 36 bilabial bilabiaal 128 binär binair 89, 137 Blend de blend 92 Blending de blending 92, 94, 203 Botschaft het bericht/ de boodschap 150ff., 156f., 159, 161, 170 Clipping de afkapping 92, 94 Crossing de crossing 191 deduktiv deductief 113 Definition de definitie 51, 71., 114 analytisch analytisch 71. Synonymdefinition synoniemendefinitie 71 Degemination de degeminatie 144 deiktisch deiktisch 152f. Denotation de denotatie 62 dental dentaal 128 Derivation de derivatie/ afleiding 83, 85, 95, 203 deskriptiv descriptief 25 Determinativkomposition/ -kompositum de determinatieve samenstelling 88, 90 de-Wort het de-woord 88, 93, 97, 199 diachron diachroon 70, 201f., 214 Diaglossie de diaglossie 179 Dialekt het dialect 11, 14, 19, 26f., 31, 36, 39ff., 45ff., 50, 52, 68, 97, 171-175, 177ff., 182-191, 208, 212, 231f. Dialektausgleich de dialectnivellering 178f., 181, 186 Dialektkontinuum het dialectcontinuüm 174f., 178 Dialektologie de dialectologie 172, 175f. Dialektrenaissance de dialectrenaissance 184ff. Dialektverlust het dialectverlies 178ff., 186 Dichotomie de dichotomie 201, 222 Diglossie de diglossie 179 Diminutiv het diminutief 85f., 140, 174, 188 Diphthong de diftong/ tweeklank 47, 133f., 138, 174, 176, 187, 210 direktional directioneel 106 distinktives Merkmal het distinctieve kenmerk 70, 136f., 143 ditransitiv ditransitief 117ff., 226, 229 Doppeldeutigkeit de dubbelzinnigheid 152, 157 dorsal dorsaal 129 Drift de drift 197 einstellig eenplaatsig .117 Ellipse de ellips 112 emotionale Bedeutungskomponente de gevoelswaarde 62 Empfänger de ontvanger 119, 150ff., 157ff., 161ff. Epenthese de epenthesis 98, 209 Schwa-Epenthese de sjwa-insertie 144 ereigniskorreliertes Potenzial het event-related potential 234 Erstspracherwerb de eerstetaalverwerving 198 Ethnolekt het etnolect 172, 190 Multi-Ethnolekt multi-etnolect 190 Etymologie de etymologie 60, 70f., 205 Volksetymologie volksetymologie 205 Expansionstheorie de expansietheorie 175 Eye-Tracking de eye tracking 234 Fachsprache de vaktaal 60, 68, 71, 171 falsifizierbar falsificeerbaar 222 Feldforschung het veldwerk 223, 230ff. feste Verbindung de vaste verbinding 70, 213 finites Verb de persoonsvorm 108, 113ff., 119, 121f., 213 flämische Bewegung de Vlaamse Beweging 48f. Flexion de flexie 79, 96, 98, 100, 170, 205, 210ff. Flexionsverlust het flexieverlies 40, 210f., 213 Flexiv het flexiemorfeem 95 Fragesatz de vraagzin 121, 135 Fragetest de vraagtest 107f., 111 frikativ fricatief 130f., 135, 138f., 141, 143ff., 174, 182, 210 Fugenelement het bindfoneem/ de tussenklank 90f. Funktionswort het functiewoord 65, 81, 105, 188 Gefühlswert de gevoelswaarde 62, 207 genealogisch genealogisch 28 Generalisierung de generalisering 58, 60 Genus het geslacht 70, 93, 96ff. Genus commune het genus commune 97 Genus verbi het genus verbi 98 gerundet gerond 132f. 136 gesichtsbedrohend gezichtsbedreigend 161f. gesichtsbeschützend gezichtsbeschermend 161f. Gleitlaut de glijklank 130 glottal glottaal 129 Glückensbedingungen geslaagdheidsvoorwaarden 159 Sachwortregister <?page no="252"?> Sachwortregister 252 Grammatikalisierung de grammaticalisatie 214 Grammatikalität de grammaticaliteit 113, 222 Graphem het grafeem 127 Halbvokal de halfklinker 130f. Hauptsatz de hoofdzin/ matrix-zin 112, 122, 213 het-Wort het het-woord 88, 97, 199 historisch-genetisch historisch-genetisch 28 historisch-vergleichende Methode de comparatieve methode 201 Höflichkeit de beleefdheid 160f., 217 Höflichkeitsstrategie de beleefdheidsstrategie 161 negativ negatief 161, 163 positiv positief 161 holländische Expansion de Hollandse expansie 176 Holonymie de holonymie 64 Holzwegeffekt het intuineffect 234 Homograph de homograaf 135, 226 Homonym het homoniem 70f. Hyperonym het hyperoniem 62f., 70f. Hyponym het hyponiem 62f., 70f. Hypothese de hypothese 33, 221f., 224, 227ff., 233, 235 Idiolekt het idiolect 171, 182, 221 ik-ich-Linie de ik-ich-linie 196 Ikonizität de iconiciteit 106 Imperativ de gebiedende wijs 80, 114, 121f. Implikatur de implicatuur 157, 161, 217 Indirektheit de indirectheid 161 Infix het infix 82 Informant de informant 183f., 231f. Informationsfrage de informatievraag 158 Inhaltswort het inhoudswoord 81, 105 Instrument het instrument 119 Integrationisten integrationisten 49 Intensivierung de intensivering 94, 211 Intonation de intonatie 113, 134f., 137, 175 intransitiv intransitief/ onovergankelijk 117, 228 Introspektion de introspectie 222f., 233 Isoglosse de isoglosse 196 Jargon het jargon 171 Kasus de naamval 44, 46, 96, 98, 116, 118f. kategorialer Wert de categoriale waarde 84 klitische Form de clitische vorm 40 Koartikulation de coarticulatie 142 Kode de code 151ff. Kodifikation de codificatie 44 Kofferwort het kofferwoord 92 Kognat het cognaat 201 Kommunikation de communicatie 149 Kommunikationsmodell het communicatiemodel 150 komplementäre Distribution de complementaire distributie 86, 98, 139 Komplement het complement 120 Komplementierer de complementeerder/ het onderschikkend voegwoord 112 komplex complex/ geleed 80f. Komposition/ Kompositum de samenstelling 83, 85, 87- 91, 95, 203, 214 adjektivisch adjectievisch 87 endozentrisch endocentrisch 88 exozentrisch exocentrisch 89 nominal nominaal 87 verbal verbaal 88 linksverzweigend linksvertakkend 89 rechtsverzweigend rechtsvertakkend 89 Kongruenz de congruentie 116 Konjunktion de conjunctie/ het onderschikkend voegwoord 112 Konkordanz de concordantie 228 Konnotation de connotatie 62, 71, 179 Konsonanten consonanten/ medeklinkers 99, 127f., 130f., 134, 138, 141f., 144 Konstituente de constituent 103-111, 113, 115f., 121, 123, 226 Konstituententest de constituententest 106f. Konstriktion de constrictie 129 Konstruktion de constructie 114, 115, 119, 228 Kontaktmedium het medium 150, 153 Kontaktvarietät de contactvariëteit 176, 177, 188, 189, 190 Kontext de context 103, 109, 119, 140, 149f., 152f., 155, 157, 160, 162, 190, 217, 230 Konversationsmaximen gespreksmaximen 154 Konversion de conversie 83, 91f., 95 Kookkurrenz-/ Kollokationsanalyse de collocatieanalyse 228 Kooperationsprinzip het coöperatieprincipe 153, 156f. Koordination de coördinatie 111f. Koordinator de coördinator/ het nevenschikkend voegwoord 105, 111 Kopf het hoofd/ de kern 88f., 105, 108f., 111, 120, 183 Kopula het koppelwerkwoord 117 Kopulativkomposition/ -kompositum de copulatieve samenstelling 88, 90 <?page no="253"?> 253 Korpus het corpus 223- 231 Korpuslinguistik de corpuslinguïstiek 223f., 227f., 232 labial labiaal 128 labiodental labiodentaal 128 lateral lateraal 130 Laute klanken 35, 125ff. 130f., 134ff., 139ff., 144f., 179, 187, 195, 208 Lautgesetz de klankwet 201, 209 Lautwandel de klankverandering 208 Lehnwort het leenwoord 18, 200, 204f. Lemma het lemma 67, 69ff., 226 Lemmatisierung de lemmatisering 226f. lexikalische Diffusion de lexicale diffusie 175, 196 lexikalische Entscheidung de lexicale decisie 233 lexikalische Lücke het lexicale gat/ de lexicale leemte 63 Lexikalisierung de lexicalisering 203 Lexikografie de lexicografie 67 Lexikologie de lexicologie 56f. Lexikon het lexicon 56, 95, 233 Lingua franca de lingua franca 16 Linguistik de linguïstiek 25 linguistische Kompetenz de linguïstische competence 23 linguistische Variable de linguïstische variabele 179 Lippenrundung de ronding 132ff., 137 liquida liquida 130 Lokaldeixis de ruimtelijke deixis 153 lokativ locatief 106 magnetische Resonanzbildgebung de magneticresonance-imaging 234 Makrostruktur de macrostructuur 69f., 72 Matched-Guise-Technik de matched-guise techniek 183 Melioration de ameliorisatie 208 mentales Lexikon het mentale lexicon 59, 64, 233 Meronymie de meronymie 64 Metapher de metafoor 58- 61, 70f., 115, 207 Metathese de metathese 209 Metonymie de metonymie 58-61, 71, 90, 207 Mikrostruktur de microstructuur 69f., 72 Minimalpaar het minimale paar 136, 138f., 141 mitigation de mitigatie 217 Mittelfeld het middenstuk 114ff., 122 Mittelniederländisch het Middelnederlands 32, 36, 38ff., 194f., 201, 206-214, 216 Modalpartikel het schakeringspartikel 163 Modernes Niederländisch het Hedendaags Nederlands 30, 36, 39f. , 50, 192, 201, 209f., 213 Monogenese de monogenese 28 monomorphem(at)isch ongeleed 80 Monophthonge de monoftong 133 Monosemie de monosemie 58 Morphem het morfeem 79ff., 83, 86, 89, 91f., 95, 97, 196, 211 Flexionsmorphem het flexiemorfeem 95, 210 frei vrij 80f., 83, 87, 89 gebunden gebonden 81f. grammatisch grammaticaal 81 lexikalisch lexicaal 81f. Nullmorphem het nulmorfeem 96 Morphologie de morfologie 78f., 95, 140, 170 Morphonologie de morfonologie 140 Morpho-Phonologie de morfofonologie 140 motiviert gemotiveerd 79 Nachfeld de laatste zinsplaats 115f., 122 nasal nasaal 130 n-Deletion de n-deletie 145 Nebensatz de bijzin/ ingebedde zin 112, 116, 121 infinit beknopt 114 Nebenordnung de nevenschikking 111 Negation de negatie 212 Neologismus het neologisme 66, 69, 83, 94, 203 Neuniederländisch het Nieuwnederlands 32, 36, 44, 47, 209, 212 Neurolinguistik de neurolinguïstiek 234 niederländisches Niederländisch het Nederlands Nederlands 22 Nominalphrase de naamwoordgroep 103f. Norm de norm 20ff., 25 normativ normatief 113 Numerus het getal 96, 98 Objekt het object/ voorwerp Akkusativobjekt het direct object 118 direkt direct 21, 83, 85, 116, 118f., 121f., 226 indirekt indirect 21, 116, 118f., 213, 226 Präpositionalobjekt het voorzetselvoorwerp 116, 120 Obstruent de obstruent 130f., 141f., 144 Öffnungsgrad de openingsgraad 132ff., 137 ökonomisches Prinzip het economisch principe 198 onomasiologische Methode de onomasiologische methode 57, 61 Sachwortregister <?page no="254"?> Sachwortregister 254 Orthografie de ortografie/ spelling 126 palatal palataal 129 Paradigma het paradigma 95, 99, 107 Partikel het partikel 163f. Partikularisten particularisten 49 Partizip Präsens het tegenwoordig/ onvoltooid deelwoord 99, 118 Partizip Perfekt het voltooid deelwoord 85 Parts-of-Speech-Tagging het parts of speech tagging 226 Patiens het patiens 119 Peergroup de peer group 182 Pejoration de pejorisatie 207 Performanz de performance 23 Personaldeixis de personele deixis 152 Phon de foon 125, 136ff. Phonem het foneem 135-139, 141 Phonetik de fonetiek 125f., 135, 137 akustisch akoestisch 126 artikulatorisch articulatorisch 126 auditiv auditorisch/ perceptief 126 Phonologie de fonologie 135, 137, 140, 170 phonologischer Prozess het fonologisch proces 140, 144f. Phrase de woordgroep 78, 103f., 106 Phrasenstrukturbaum het boomdiagram 110 plosiv plosief 129f., 136, 141 Plural het meervoud 80, 91, 96ff., 105, 116, 170, 183, 234 plurizentrische Sprache de pluricentrische taal 22 Polygenese de polygenese 28 polymorphem(at)isch geleed 80 Polysemie de polysemie 58, 70 Portmanteauwort het portmanteauwoord 92 postalveolar postalveolaar 128 Postposition de postpositie 106 Prädikat het gezegde 95, 114, 117f., 120f. nominales Prädikat het naamwoordelijk gezegde 117 verbales Prädikat het werkwoordelijk gezegde 117 Prädikatsnomen het naamwoordelijk deel van het gezegde 117f. Präfix het prefix/ voorvoegsel 82, 85 Pragmatik de pragmatiek 149f., 170 pragmatische Angemessenheit de pragmatische gepastheid 162 pragmatische Universalien pragmatische universalia 154 Präpositionalphrase de voorzetselconstituent 104 Präposition de prepositie/ het voorzetsel 213 Prestige het prestige 45, 47, 50, 181ff., 189, 200, 205 Priming de priming 233 Produktivität de productiviteit 47, 83 progressiv progressief 143f. Prokope de procope 208 Pronominalisierungstest de pronominalisatietest 107f. Prosodie de prosodie 134f. Prozessierungs-/ Verarbeitungsstrategien processing strategieën 234 Psycholinguistik de psycholinguïstiek 223, 232f. Purismus het purisme 205 Quellensprache de bronnentaal 18 Reaktionszeit de reactietijd 233 Real-Time-Methode de real-time methode/ werkelijke tijd methode 202 Reanalyse de herinterpretatie 199 Rechtschreibung de spelling 40, 47, 69, 126f., 141f. Reduplikation de reduplicatie 83, 92, 94 Referent de referent 57ff., 61ff., 66, 70f., 115, 120f., 152, 163 Referenzkorpora referentiecorpora 224 Regiolekt het regiolect 178 Regionalsprache de streektaal 13, 186 regressiv regressief 143f. Reinterpretation de herinterpretatie 199 Rekursion de recursie 108 rekursiv recursief 87, 112 reproduzierbar reproduceerbaar 222 Rezipient de recipiënt 118f. Rheinischer Fächer de Rijnlandse waaier 36, 196 Righthand-Head-Rule de right-hand head rule 85, 88 Satz de zin103, 111, 113f., 121 deklarativ mededelend 114, 116, 121f. Satzgliedanalyse de zinsontleding/ het redekundig ontleden 114, 116 Satzglied het zinsdeel 114ff., 121, 123, 226 Satzklammer de tangconstructie 115, 117, 121f. Satztyp het zinstype 114, 121f., 135 Schwa de sjwa 37, 39, 132, 134, 145, 175, 189 segmental segmentaal 134 Selektion de selectie 44 auf Makroniveau op macroniveau 45 auf Mikroniveau op microniveau 46 <?page no="255"?> 255 Semagramm het semagram 71 Semantik de semantiek 57, 103 semantisches Netz het semantisch netwerk 64 semantisches Feld het semantische veld 64 semasiologische Methode de semasiologische methode 57 Semiotik de semiotiek 55f. semiotisches Dreieck de semiotische driekhoek 57 Sender de zender 150ff., 158-162 simplex simplex/ ongeleed 80 Singular het enkelvoud 80, 96, 116, 179 Solidarität de solidariteit 165, 182f. Sonorant de sonorant 130ff., 142 soziale Schicht de sociale klasse 178, 181 Soziolekt het sociolect 172, 178, 190 Soziolinguistik de sociolinguïstiek 170, 172, 179, 181ff., 191, 221 Spezialkorpora speciale corpora 224 Spiegelkonstruktion de overloopconstructie 113f. Sprachbenutzer de taalgebruiker 23 Sprachbund de sprachbund 28 sprachextern taalextern 26 Sprachfamilie de taalfamilie 28, 32f., 201 Sprachgeschichte de taalgeschiedenis 194f., 201, 210ff. äußere extern 194f. innere intern 194f. sprachintern taalintern 26 Sprachkontakt het taalcontact 175 Sprachlaut de spraakklank 125, 135f. Sprachtod de taaldood 200 Sprachvariation de taalvariatie 170, 177, 182 Sprachverfall de taalverloedering 200 Sprachwandel de taalverandering 34, 47, 175, 181f., 194-202, 214, 217 Sprachwissenschaft de taalkunde 18, 23ff. Sprechakt de taalhandeling 158-163 assertiv assertief 158 indirekt indirect 160 informativ informatief 158 konstitutiv constitutief 159f. obligativ obligatief 158 Sprechstil de spreekstijl 172, 190f. Sprossvokal de svarabhaktivocaal 144 Standardisierung de standaardisering 44, 47, 50f., 178f., 184, 188 Standardniederländisch het Standaardnederlands 21f., 48, 169ff., 187f. Standardsprache de Standaardtaal 20ff. Stapelsuffix het stapelsuffix 97 Status de status 165f. Steigerungsformen trappen van vergelijking 98 Stichwort het trefwoord 67, 70, 185 stimmhaft stemhebbend 99, 131, 136f., 142, 144 Stimmhaftigkeit de stemhebbendheid 128, 130f., 136, 141, 143ff. stimmlos stemloos 99, 131, 136, 141f., 144f. Stimulus de stimulus 233f. Stylisation de stylisation 191 Subjekt het subject/ onderwerp 95f., 105, 113- 119, 121f., 174, 180, 182, 221 Subordination de subordinatie 112 Substitutionstest de substitutietest 107 Suffigierung de suffigering 84 Suffix het suffix/ achtervoegsel 82ff., 86, 95, 142 Suppletion de suppletie 100 suprasegmental suprasegmenteel 134 surinamisches Niederländisch het Surinaams Nederlands 17, 22 synchron synchroon 201f. Synkope de syncope 208 Synonym het synoniem 62, 64, 69, 71 syntaktische Annotation de syntactische annotatie 226 synthetische Sprache de synthetische taal 212f. systemlinguistisch systeemlinguïstisch 26 Taxonomie de taxonomie 63 t-Deletion de t-deletie 144 Temporaldeixis de temporele deixis 152 Thema het thema 119 thematische Rollen thematische rollen 119 Tokenisierung de tokenizing 225, 227 Token het token 225ff. Tonhöhe de toonhoogte 134f. Topikalisierung de topicalisatie 115 topologisches Modell het topologische model 114, 121 transitiv transitief/ overgankelijk 83, 117 transkribieren transcriberen 127 transparent transparant 79, 88 Treebank de treebank 226f., 229 Trill de trill 130f. Type het type 225 Typologie de typologie 27, 122 Uerdinger Linie de Uerdinger linie 196 ungerundet ongerond 133 Universalien universalia 27 Unterordnung de onderschikking 112 uvular uvulaar 129 Sachwortregister <?page no="256"?> Sachwortregister 256 Valenz de valentie 117f. Valenzreduktion de valentiereductie 117 Variable de variabele 179, 181, 221 Variante de variant 44, 46, 51, 86, 94, 106, 127, 169, 172, 179, 181, 183, 184, 191, 223 Variation de variatie 40, 52, 68, 138f., 169f., 172, 177, 184, 188, 190, 197, 200, 231 Variationslinguistik de variatielinguïstiek 170, 232 Varietät de variëteit 45, 50, 52, 169, 171, 178, 183, 187ff., 230 velar velaar 129 Verbalphrase de werkwoordelijke groep 104 Verbreitung de elaboratie 44, 46 Verschiebeprobe de verplaatsing 107f. Verschiebung der Wortstellung de woordvolgorde-drift 213 Verstimmlosung de verstemlozing 141, 145 Vokal de vocaal/ klinker 37, 39, 86, 127f., 130, 132-140, 143, 145, 181 Halbvokal de halfklinker 130f. Hinterzungenvokal de achterklinker 132 Mittelzungenvokal de middenklinker 132 Vorderzungenvokal de voorklinker 132 Vokalverlängerung de vocaalverlenging 145 Volkssprache de volkstaal 31, 37, 43ff., 48, 177 Vorfeld de eerste zinsplaats 114f., 122 Wellentheorie de expansietheorie 175 Wortbildung de woordvorming 78f., 83 Wörterbuch het woordenboek 45, 49, 67-72, 78, 83, 169 Dialektwörterbuch dialectwoordenboek 68, 173 etymologisch etymologisch 68 terminologisch terminologisch 68 Wörterbuchartikel het woordenboekartikel 69, 70, 72 Wortverschmelzung de woordversmelting 92 Zeichen het teken 55f., 108, 127, 129 Zirkumfix het circumfix 82, 85, 99 Zusammenrückung de samenkoppeling 88 zweistellig tweeplaatsig 117 Zweitspracherwerb de tweedetaalverwerving 199 <?page no="257"?> Dieser Band führt kompakt und umfassend in die Sprachwissenschaft und Geschichte des Niederländischen ein. Zehn Kapitel bieten eine Übersicht über die wichtigsten Teilgebiete der niederländischen Sprachwissenschaft, unter anderem Semantik, Morphologie und Pragmatik. Die Autoren, die aus den Niederlanden, Belgien und Deutschland stammen, thematisieren auch die nahe Verwandtschaft zwischen der deutschen und niederländischen Sprache sowie die Unterschiede zwischen den verschiedenen Varietäten des Niederländischen. Die Einführung ist für die Verwendung im universitären Unterricht durch Lehrende und Studierende - auch mit nur geringen Niederländischkenntnissen - gleichermaßen geeignet. Übungen und kleinere Arbeitsaufträge jeweils am Kapitelende regen die Studierenden zur weiteren Beschäftigung an und machen mit den verschiedenen sprachwissenschaftlichen Methoden bekannt. Zahlreiche Beispiele und Abbildungen sorgen für eine anschauliche und ansprechende Vermittlung der Inhalte.