Georg von der Gabelentz
Ein biographisches Lesebuch
0918
2013
978-3-8233-7778-8
978-3-8233-6778-9
Gunter Narr Verlag
Kennosuke Ezawa
Annemete von Vogel
Dieses Buch stellt den Sinologen und Sprachforscher Georg von der Gabelentz (1840-1893), seine wissenschaftliche Arbeit und seine Familiengeschichte einem breiten Publikum vor. Gabelentz stammt aus einer Adelsfamilie auf Poschwitz (Altenburg, Thüringen). Er war der Sohn des damals weltweit bekannten Sprachforschers und Staatsmannes, Hans Conon von der Gabelentz (1807-1874). Kernstück des Buches ist ein von Gabelentz' jüngerer Schwester, Clementine von Münchhausen, hinterlassenes Manuskript "H. Georg v. d. Gabelentz. Biographie und Charakteristik", das hier erstmals komplett veröffentlicht wird. Ergänzt wird das Manuskript durch eine detaillierte, 1938 als Faksimile der Handschrift gedruckte familiengeschichtliche Darstellung des alten Adelsgeschlechtes. Zusammen mit Bildern und Dokumenten aus der Gabelentz-Ausstellung der Humboldt-Universität zu Berlin von 2010 werden fünf Arbeiten von Fachwissenschaftlern und Forschern zu Gabelentz' Leben als Wissenschaftler, Auszüge aus seinen Hauptwerken sowie seine scharfsinnigen "Sentenzen", die privat überliefert sind, abgedruckt. So ist der Band ein unterhaltsames, vielseitiges, primäres Quellenbuch für alle diejenigen, die sich für diesen universellen Gelehrten interessieren.
<?page no="3"?> Gabelentz_s001-344AK6.indd 1 12.07.13 16: 22 <?page no="4"?> Bild umseitig: Gemälde von Erhard Ludewig Winterstein (1841-1919) in der Universitätsbibliothek Leipzig. Eine sehr fröhliche Zeit hatten wir zusammen, als um das Jahr 1883 oder 84 die Mama den Maler Winterstein nach Poschwitz kommen ließ, um Georg zu malen. Das große Kniestück, wo vor dem langen Manne auf dem Tisch das winzige weiße Hündchen sitzt, das mein Mann ihm damals - nach dem Tod eines andern vierfüßigen Lieblings - geschenkt hatte, ist ganz vortrefflich und sprechend ähnlich. Georg hat darauf den halb gespannten Ausdruck, wie er ihn haben konnte im Augenblick, ehe er selbst einen seiner feinen Witze vom Stapel ließ, oder im Augenblick, wo ein andrer zu solch einem Witze überzuleiten im Begriff stand, den er mit seiner schnellen Kombinationsgabe schon voraus ahnte (S. 145). Die chinesischen Schriftzeichen auf der Titelseite rechts geben den Klang des Namens „Gabelentz“ wieder. Gabelentz_s001-344AK6.indd 2 12.07.13 16: 22 <?page no="5"?> Georg von der Gabelentz Ein biographisches Lesebuch Herausgegeben von Kennosuke Ezawa und Annemete v. Vogel im Auftrag der Ost-West-Gesellschaft für Sprach- und Kulturforschung, Berlin Gunter Narr Verlag, Tübingen Gabelentz_s001-344End2.indd 3 17.07.13 17: 13 <?page no="6"?> Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Grafisches Konzept: Micol Barichello v. Seebach Satz: Informationsdesign D. Fratzke, Kirchentellinsfurt Druck und Bindung: fgb · freiburger graphische betriebe ISBN 978-3-8233-6778-9 Gabelentz_s001-344End3.indd 4 22.07.13 09: 54 <?page no="7"?> 5 Inhalt Geleitwort (Leopold v. d. Gabelentz) 7 Vorwort der Herausgeber 9 I. Einführung Kennosuke Ezawa: Georg von der Gabelentz als Sprachforscher 13 Georg v. d. Gabelentz: Die ostasiatischen Studien und die Sprachwissenschaft (1881) 19 Wilhelm Grube: Hans Georg Conon von der Gabelentz (1905) 29 II. Georg von der Gabelentz und seine Familie Theodor Dobrucky: Die Herren v. d. Gabelentz (1938) 37 Clementine v. Münchhausen geb. v. d. Gabelentz: H. Georg v. d. Gabelentz. Biographie und Charakteristik (1913) 85 III. Georg von der Gabelentz in Lebenszeugnissen Die Gabelentz-Ausstellung 2010 in Berlin: Norbert Fries: Begrüßungsworte 175 Michael Wolf: Altenburg und Georg v. d. Gabelentz 179 Annemete v. Vogel: Aus der Gabelentz-Ausstellung 185 (Vor- und Nachfahrentafeln 189-191) Klaus-Dieter Mertens: Das „Berghäuschen“ von Georg v. d. Gabelentz 223 Otto Frhr. v. Blomberg: Die Familien v. d. Gabelentz und v. Münchhausen 226 IV. Georg von der Gabelentz in Wissenschaft und Forschung Manfred Taube: Georg von der Gabelentz - seine Herkunft und seine Zeit 235 Christina Leibfried: Georg von der Gabelentz, der Begründer der Leipziger Sinologie, und ihre Entwicklung zur „Leipziger Schule“ 253 Klaus Kaden: Die Berufung Georg von der Gabelentz’ an die Berliner Universität 271 Mechthild Leutner: Sinologie in Berlin 291 Joachim Emig † : Das Familienarchiv von der Gabelentz im Thüringischen Staatsarchiv Altenburg 311 Gabelentz_s001-344End2.indd 5 17.07.13 16: 18 <?page no="8"?> 6 Worte von Georg v. d. Gabelentz 323 Bildnachweis 330 Personenregister 333 Chronologie Georg v. d. Gabelentz 341 Nachfahrentafel Hans Conon v. d. Gabelentz 342 Gabelentz_s001-344End3.indd 6 22.07.13 09: 46 <?page no="9"?> 7 Geleitwort Es ist mir ein großes Bedürfnis, den Herausgebern und dem Verlag zum Zustandekommen dieses „Biographischen Lesebuches“ herzlich zu gratulieren und den Autoren der Beiträge Dank zu sagen für ihre Arbeiten über meinen Großvater, Georg v. d. Gabelentz. Mein besonderer Dank gilt Herrn Dr. Kennosuke Ezawa - ist es doch vor allem ein Resultat seiner Begeisterung und Tatkraft, dass etliche Hürden bis zur Veröffentlichung des nunmehr vorliegenden Bandes erfolgreich überwunden werden konnten. An dieser Stelle Georg v. d. Gabelentz’ Lebensweg nachzuzeichnen oder seine wissenschaftlichen Leistungen würdigen zu wollen, hieße, den sachkundigen und informativen Aufsätzen dieses Bandes vorzugreifen. Es erfüllt mich jedoch mit Freude und familienhistorischem Stolz, festzustellen, dass auch nach über einem Jahrhundert seine bahnbrechenden Arbeiten auf sprachwissenschaftlichem Gebiet in der Fachwelt noch immer Anerkennung finden. Obwohl Gabelentz’ Lehrtätigkeiten an der Universität Leipzig als Professor für ostasiatische Sprachen (der erste Lehrstuhl dieser Art an einer deutschen Universität! ) nur etwa ein Jahrzehnt umfasste und seine ordentliche Professur an der (heutigen) Humboldt-Universität zu Berlin gar nur von 1889 bis zu seinem Tod im Dezember 1893 währte, erfahren seine Leistungen im Bereich der allgemeinen Sprachwissenschaft sowie der Sinologie heute ihre verdiente Würdigung. Die von ihm am 28. Juni 1879 gehaltene programmatische Antrittsrede an der Alma Mater Lipsiensis, an der ich selbst Indologie studiert habe, kann vom interessierten Leser im vorliegenden Bande nachgelesen werden. Während seiner Berliner Zeit beschäftigte sich Gabelentz vor allem mit der allgemeinen Sprachwissenschaft, die in seinem 1891 veröffentlichten zweiten Hauptwerk „Die Sprachwissenschaft, ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse“ gipfelte. Mit diesem Werk eilte er wohl seiner Zeit voraus; viele seiner Erkenntnisse wurden erst weit nach seinem Tode von der Wissenschaft in ihrer vollen Bedeutung erkannt. Wahrscheinlich auch auf Grund seiner nur kurzen Hochschullehrtätigkeit konnte sich keine eigene Schule entwickeln, so dass Gabelentz’ Werk nach seinem Tode vorerst an den Rand der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit geriet. Der Schweizer Indogermanist und allgemeine Sprachwissenschaftler, Ferdinand de Saussure, der noch in Gabelentz’ Leipziger Zeit bei ihm hörte, griff viele seiner in der „Sprachwissenschaft“ veröffentlichten Thesen und Begriffe auf und errichtete darauf wesentlich sein wissenschaftliches Gedankengebäude, ohne allerdings auf Gabelentz hinzuweisen. Es ist auch anzumerken, dass weder die Leipziger noch die Berliner Universität die Bedeutung Georg v. d. Gabelentz’ als Sprachwissenschaftler angemessen erkannt hatten, wie den meisten, eher „dürren“ Nachrufen aus akademischen Kreisen nach seinem frühen Tode im Alter von nur 53 Jahren zu entnehmen ist. Eine wirkliche Renaissance erlebte Gabelentz’ Werk erst nach dem II. Weltkrieg, beginnend mit der Würdigung seiner Leistungen durch Eduard Erkes an der Karl-Marx- Universität Leipzig anlässlich seines 60. Todestages im Jahre 1953. In diesem am 11. Dezember 1953 im Ostasiatischen Institut gehaltenen Vortrag zog Erkes folgendes Resümee über Gabelentz’ Werk: Das Wesentliche an seinen Arbeiten aber ist seine Grundauffassung der Sprache. Er nimmt sie nicht … als eine künstliche Konstruktion mit verbindlichen Regeln, sondern als einen lebenden, sich dauernd verändernden Organismus; seine Auffassungen sind also nicht statisch, sondern dynamisch. Und weiter: Nicht minder wich er … von der herrschenden Meinung ab, dass die Sprache als isolierte Erscheinung betrachtet und verstanden werden müsse. Für ihn war sie vielmehr ein soziologisches Phänomen, das der Verständigung der Menschen … dient, und er suchte darum die von ihm studierten Sprachen als soziologische Erscheinungen zu erklären. Gabelentz_s001-344AK6.indd 7 12.07.13 16: 22 <?page no="10"?> 8 Im gleichen Jahr gab Erkes im Deutschen Verlag der Wissenschaften in (Ost-)Berlin erstmals wieder einen Nachdruck des Gabelentzschen Hauptwerkes aus Leipziger Zeit heraus. Die „Chinesische Grammatik mit Ausschluß des niederen Stiles und der heutigen Umgangssprache“ von 1881 wurde erst damit zu einem Standardwerk der Sinologie. Seitdem bildeten Gabelentz’ wissenschaftliche Forschungen und Ergebnisse einen festen Bestandteil nicht nur der Traditionspflege, sondern auch der Lehre und Forschung an einschlägigen Wissenschaftseinrichtungen. In der DDR wurde die Gabelentz-Tradition besonders an der Leipziger Universität gepflegt. Bis heute kann ein großes Bildnis von ihm, gemalt von Erhard Ludewig Winterstein (1841-1919), in den Räumen der dortigen Universitätsbibliothek besichtigt werden. Zur 100-jährigen Einrichtung eines Lehrstuhls für ostasiatische Sprachen veranstaltete man 1978 zu seinen Ehren in Leipzig ein dreitägiges internationales Symposium, dessen Ergebnisse unter dem Titel „Hans Georg Conon von der Gabelentz. Erbe und Verpflichtung“ in der Nr. 53 der „Linguistischen Studien“ der Akademie der Wissenschaften der DDR, Z entralinstitut für Sprachwissenschaft, veröffentlicht sind. Darin findet man auch die bis heute umfassendste Bibliographie zu Georg von der Gabelentz, erarbeitet von Klaus Kaden und Manfred Taube. Im Westen Deutschlands war es besonders der bekannte rumänische Sprachwissenschaftler Eugenio Coseriu in Tübingen, der in den 1960er und 1970er Jahren mit Arbeiten über Gabelentz hervortrat und damit dessen Leistungen und Verdienste auch an dortigen Universitäten wieder stärker in den Blick rückte. Das nach der Wiedervereinigung Deutschlands ins Leben gerufene Ost-West-Kolloquium für Sprachwissenschaft setzte die Pflege des Erbes von Georg v. d. Gabelentz in verdienstvoller Weise fort, dabei die Grenzen einzelner Universitäten und Hochschulen sprengend, und bot mit vielfältigen Veranstaltungen Wissenschaftlern aus aller Welt Plattformen zur Vorstellung und Diskussion ihrer Forschungsergebnisse, die sich nicht per se und ausschließlich auf Gabe lentz beschränkten, aber doch immer wieder auf seine Arbeit Bezug nahmen. Genannt seien hier die Exkursionen 1998 und 2000 nach Altenburg und Lemnitz, beides traditionel le Gabelentz-Orte. Eingebettet waren diese Exkursionen in w issenschaftliche Kolloquien unter den Titeln „Analytisches und synthetisches sprachliches Wissen“ (1998) bzw. „Spra chen des Ostens - Sprachen des Westens“ (2000). Aus dieser Kolloquien-Reihe ging dann schließlich im Jahre 2000 die O st-West-Gesellschaft für Sprach- und Kulturforschung e.V., Berlin, hervor, die sich in verdienstvoller Weise weiter auch dem Werke Georg v. d. Gabelentz’ verpflichtet fühlt. Er innert sei hier an die Gabelentz-Konferenzen 2003 und 2010 in B erlin. Letztere war begleitet von einer äußerst gelungenen und informativen Ausstellung im Lichthof der Humboldt-Universität, für deren Gestaltung und Organisation hier b esonders Annemete v. Vogel, einer Urgroßnichte von Georg v. d. Gabelentz, zu danken ist. In diesem Zusammen hang gebührt auch ein spezieller Dank meiner Frau, die mit großem Ideenreichtum und Engagement zum Gelingen dieser Ausstellung ebenfalls einen wesentlichen Beitrag leistete. Für den vorliegenden Sammelband wünsche ich den Herausgebern und Autoren eine positive Aufnahme in der Öffentlichkeit und dem Leser eine anregende und informative Lektüre über Georg v. d. Gabelentz als Wissenschaftler und Mensch, der, inspiriert von seinem ebenfalls sprachforschenden genialen Vater, Hans Conon v. d. Gabelentz (1807-1874), und getrieben von leidenschaftlichem Streben nach neuen Erkenntnissen und Einsichten im Bereich der Linguistik, mit seinen wissenschaftlichen Leistungen ein bis heute gültiges Werk geschaffen hat. Berlin, im März 2013 Leopold von der Gabelentz Gabelentz_s001-344End2.indd 8 17.07.13 16: 18 <?page no="11"?> 9 Kennosuke Ezawa und Annemete v. Vogel Vorwort der Herausgeber Dieses „biographische Lesebuch“ über den Sprachforscher Georg v. d. Gabelentz (1840-1893) enthält zwei umfangreiche Texte: 1. Theodor Dobrucky (1893-1957): „Die Herren v. d. Gabelentz“, in: Über ein halbes Jahrtausend auf angestammter Scholle. Geschichte der Herren von der Gabelentz auf Poschwitz 1388-1938, Leipzig: Bibliographisches Institut 1938, als Handschrift gedruckt, S. 11-89; 2. Clementine v. Münchhausen geb. v. d. Gabelentz (1849- 1913): H. Georg v. d. Gabelentz. Biographie und Charakteristik, 1913, handschriftliches Manuskript in neuer Abschrift von Annemete v. Vogel, im Original 298 Seiten*. Sie dienten bislang als Hauptquellen für biographische Angaben über das persönliche Leben des großen Wissenschaftlers, wobei der letztere Text nur als maschinengeschriebene Teilabschrift im Thüringischen Staatsarchiv Altenburg der Öffentlichkeit zur Verfügung stand. Sonst hatte sein Schüler und Nachfolger, Wilhelm Grube (1855-1908), eine fundierte Biographie über ihn in der Allgemeinen Deutschen Biographie (1905) hinterlassen. Über sein familiäres und soziales Umfeld gab 1978 der Leipziger Mongolist Manfred Taube einen Überblick in einem Symposiumsvortrag. Über das akademische Leben des Sinologen, der zuerst in Leipzig, später in Berlin lehrte, gibt es authentische fachliche Darstellungen von Christina Leibfried (2003) und Mechthild Leutner (1987). Klaus Kaden hat 1993 das Berufungsverfahren für Gabelentz von Leipzig nach Berlin aktenbezogen näher dargestellt. Diese maßgeblichen Studien sind alle im vorliegenden Band wiederabgedruckt. Außerdem ist eine Darstellung des Familienarchivs v. d. Gabelentz im Thüringischen Staatsarchiv Altenburg von Joachim Emig (verstorben 2012) zu finden. Von Georg v. d. Gabelentz selbst ist seine 1879 gehaltene Antrittsvorlesung an der Universität Leipzig in der Publikationsfassung (1881) sowie Zitate aus seinen Hauptwerken und überlieferte persönliche Worte von ihm wiedergege- * Für Texte bzw. Textteile, bei denen es sich um die Abschriften handschriftlicher Originale handelt (von C. v. Münchhausen, Teile von K. Kaden), galten folgende Editionsprinzipien, die (bis auf 2. und 6.) vom Aufsatz von K. Kaden übernommen wurden: 1. Orthographie, Satzzeichen, Unterstreichungen werden beibehalten; 2. das Layout der Originale wird nicht übernommen; 3. Schreibfehler, die vom Schreiber selbst bemerkt und durchgestrichen wurden, finden keine Erwähnung, ebenso im Allgemeinen stilistische Änderungen, die der jeweilige Autor selbst vorgenommen hat; 4. die früher bei in deutscher Handschrift abgefassten Schriften übliche Schreibung von Familiennamen, teils auch von Vornamen, dem Doktortitel, Städtenamen, mitunter Monatsnamen, Zeitschriftentiteln sowie allen lateinischen, englischen, französischen usw. Wörtern mit lateinischen Buchstaben wird bis auf wenige Ausnahmen in der Druckschrift nicht nachvollzogen, da es heute nicht mehr gängig ist, eher den Lesevorgang beeinträchtigt und für die Druckvorbereitung einen zusätzlichen Aufwand bedeuten würde; 5. unklare oder unleserliche Stellen (Buchstaben, Wörter) sind durch (? ) gekennzeichnet; 6. der Beginn einer neuen Seite oder eines neuen Blattes im Original wird entgegen der üblichen Texteditionstechnik zugunsten der besseren Lesbarkeit nicht kenntlich gemacht. Für den Wiederabdruck der in Fraktur gesetzten Aufsätze von G. v. d. Gabelentz, W. Grube und Th. Dobrucky galten von den obigen Prinzipien 1., 2., 4. und 6. Gabelentz_s001-344AK6.indd 9 12.07.13 16: 22 <?page no="12"?> 10 Seitenhintergrund rechts: Poschwitz bei Altenburg, „Studierstube“ Gemälde von Georgs Vetter und Studienfreund Curt v. Koseritz Original im Familienbestand ben. Eine allgemeine Einführung von Kennosuke Ezawa über den Sprachforscher G. v. d. Gabelentz ist vorangestellt. Das Personenregister und die Chronologie seines Lebens schließen den Band ab. Das im Jahre 2010 gefeierte 200-jährige Jubiläum der Humboldt-Universität zu Berlin, an der Gabelentz zuletzt als ordentlicher Professor für Sinologie und allgemeine Sprachwissenschaft lehrte, war ein willkommener Anlass, um der Öffentlichkeit den universellen Sprachforscher vorzustellen, der trotz seiner heutigen internationalen Geltung im Fachkreis (Verleihung des ersten Georg von der Gabelentz Award der Association for Linguistic Typology 2009) bislang relativ wenig bekannt geblieben war. Eine Internationale Gabelentz-Konferenz (9.-10. 8. 2010) mit sprachwissenschaftlichen und familiengeschichtlichen Beiträgen fand im Senatssaal der Humboldt-Universität in Verbindung mit der Ausstellung Georg von der Gabelentz. Seine Familie und seine Werke (15. 7.-14. 8. 2010, im Lichthof des Hauptgebäudes) statt. Fachreferate auf der Konferenz werden in einem gesonderten Band unter dem Titel Beiträge zur Gabelentz-Forschung im selben Verlag publiziert. Familiengeschichtliche Beiträge zur Konferenz und Ansprachen zur Ausstellungseröffnung sind in diesem Band enthalten. Eine Auswahl von Exponaten sowie zusätzliche familiengeschichtliche Materialien finden sich im vorliegenden Band mit dazugehörigen Kommentaren im Beitrag von Annemete v. Vogel, die die Ausstellung leitete. Die hier wiederabgedruckten Texte sind bei Publikationen nach 1945 in der Schreibung und in der Textform, besonders in den bibliographischen Angaben, nach dem heutigen Usus vereinheitlicht. Sonst wurde die alte Schreibung und Textgestaltung weitgehend beibehalten. Offensichtliche Fehler wurden beseitigt. Die von den Herausgebern vorgenommenen Berichtigungen wurden mit [ + ] gekennzeichnet. Wir danken Gunter und Sonja Narr herzlich dafür, daß sie diese Publikation in das Programm übernommen und aktiv vorangetrieben haben. Die erfolgreiche Reprintausgabe des Gabelentzschen Hauptwerks Die Sprachwissenschaft, ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse (2. Aufl. 1901), die bei der Gründung des Verlags im Jahre 1969 Pate stand, motivierte sie besonders dabei. Dem Leiter des Lektorats des Verlags, Herrn Dr. Bernd Villhauer, und seinen Mitarbeiterinnen, Frau Melanie Wohlfahrt, Frau Barbara Müller und Frau Sabine Hoffmann- Fratzke, danken wir für ihre gute Zusammenarbeit mit uns. Frau Micol Barichello v. Seebach, Berlin, sind wir für ihre hervorragenden individuellen Leistungen zur Gestaltung des Bandes als Graphikerin ganz besonders dankbar. Herrn Leopold v. d. Gabelentz, Berlin, einem unmittelbaren Nachkommen Georg v. d. Gabelentz’, der uns auf unsere Bitte ein freundliches Geleitwort zukommen ließ, und seiner Frau, Elke v. d. Gabelentz, gilt unser verbindlicher Dank. Frau Erna v. d. Gabelentz, Schwiegertochter Georg v. d. Gabelentz’ und Mutter Herrn Leopold v. d. Gabelentz’, und Herr Dr. Joachim Emig, Direktor des Thüringischen Staatsarchivs Altenburg, sind leider 2012 verstorben. Wir gedenken der beiden in Trauer und Dankbarkeit. Die Humboldt-Universität zu Berlin hat die Ost-West- Gesellschaft für Sprach- und Kulturforschung e.V., die im Jahr 2000 in ihr gegründet wurde, in den Gabelentz-Projekten stets freundlich unterstützt, wofür wir ihr im Namen der Gesellschaft an dieser Stelle herzlich danken möchten. Dem Lindenau-Museum in Altenburg, das uns für diese Publikation wertvolle Bildmaterialien zur Verfügung stellte, sind wir zu besonderem Dank verpflichtet. Den Mitgliedern der Ost-West-Gesellschaft, Prof. Wilfried Kürschner, Prof. Heinrich Weber, Prof. Harald Weydt, Dr. Manfred Ringmacher und Dr. Elisabeth Piirainen sowie Prof. Sebastian Kürschner, Univ. Erlangen, die uns bei der Arbeit an diesem Buch fachkundig unterstützt haben, sagen wir unseren herzlichen Dank! Berlin/ Wunstorf, im März 2013 Kennosuke Ezawa und Annemete v. Vogel Gabelentz_s001-344AK6.indd 10 12.07.13 16: 22 <?page no="13"?> Einführung Kennosuke Ezawa Georg von der Gabelentz als Sprachforscher 13 Georg von der Gabelentz Die ostasiatischen Studien und die Sprachwissenschaft (1881) 19 Wilhelm Grube Hans Georg Conon von der Gabelentz (1905) 29 Gabelentz_s001-344AK6.indd 11 12.07.13 16: 22 <?page no="14"?> 12 Man bildet sich nur zu gern ein, man wisse, warum etwas jetzt ist, wenn man weiss, wie es früher gewesen ist, und die einschlagenden Gesetze des Lautwandels kennt. Das ist aber nur insoweit richtig, als diese Gesetze allein die Schicksale der Wörter und Wortformen bestimmen. . . . Nicht Ei, Raupe und Puppe erklären den Flug des Schmetterlings, sondern der Körper des Schmetterlings selbst. Nicht die früheren Phasen einer Sprache erklären die lebendige Rede, sondern die jeweilig im Geiste des Volkes lebende Sprache selbst, mit anderen Worten der S p r a c h g e i s t. Georg v. d. Gabelentz Aus: Die Sprachwissenschaft, ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse, 1. Auflage, Leipzig: Weigel 1891, S. 9-10. Gabelentz_s001-344AK6.indd 12 12.07.13 16: 22 <?page no="15"?> 13 Kennosuke Ezawa Georg von der Gabelentz als Sprachforscher * 1. Georg v. d. Gabelentz hatte sein Sprachstudium früh in der Kindheit mit Unterstützung seines Vaters, Hans Conon von der Gabelentz (1807-1874), begonnen. In der Familie galt es als selbstverständlich, schon als Kind Französisch, Englisch und Italienisch zu erlernen. Sprachwissenschaftler und -kenner waren häufig Gäste des Hauses und förderten kontinuierlich das Interesse der Familienangehörigen an fremden Sprachen (vgl. Taube, M. 1982: 27 f., hier: 241 f.). Es ging dabei weniger um das passive Lernen grammatischer Regeln und einzelner Wörter als um eine selbständige Analyse von Texten in unbekannten Sprachen, die jeweils als „Dechiffrieraufgaben“ bearbeitet werden sollten. Auf diese Weise lernte Georg v. d. Gabelentz außer bereits in Grammatiken und Wörterbüchern vorliegenden indogermanischen und anderen Sprachen manche „exotische“ Sprachen in Afrika oder im Pazifik kennen. Das Schloss Poschwitz (in Altenburg, Thüringen) 1 , in dem Georg v. d. Gabelentz am 16. März 1840 geboren * Der vorliegende Text ist ursprünglich als Einleitung zu einer neuen Reprintausgabe des Gabelentzschen sprachwissenschaftlichen Hauptwerks Die Sprachwissenschaft, ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse (2. Aufl. 1901) geschrieben worden. Ich danke Herrn Gunter Narr für seine damalige Anregung. Frau Erna v. d. Gabelentz (verst.), dem Ehepaar Elke und Leopold v. d. Gabelentz, Herrn Eberhard Hetzer (verst.) sowie Frau Gabriele Prechtl danke ich für ihre wertvolle Hilfe bei meinen Recherchen zu Georg v. d. Gabelentz. Meinen Kollegen, Klaus Kaden und Wilfried Kürschner, sowie Frau Barbara Unterbeck gilt mein herzlicher Dank für ihre kundigen Vorschläge zu Form und Inhalt des Artikels. 1 Das Adelsgeschlecht Gabelentz hat seinen Ursprung im heute noch existierenden Ort Gablenz bei Crimmitschau (Sachsen), wo bereits Ende des 13. Jahrhunderts ein Besitztum der Familie bestand. Der Name selbst ist slawischen Ursprungs (vergleichbar mit „Apfelstädt“) und entspricht dem geläufigen slawischen wurde, war weithin bekannt für die große „polyglotte Bibliothek“, die sein Vater als Privatgelehrter aufgebaut hatte. Darin waren nicht nur Grammatiken und Wörterbücher bereits erforschter Sprachen, sondern vor allem Texte einschließlich Bibeln in zahlreichen unerforschten Sprachen enthalten. Außerdem waren dort sprachwissenschaftliche „Kollektaneen“ zu finden, die Hans Conon 1828 noch als Student der Rechts- und Kameralwissenschaften in Göttingen anzulegen begonnen hatte, wo er zahlreiche, sprachwissenschaftlich noch unerschlossene Schriften fand. Diese systematisch geordnete Sammlung grammatischer und lexikalischer Belege aus verschiedensten Sprachen diente ihm und seinem Sohn späterhin als eigenes Arbeitsinstrument der Sprachforschung (vgl. v. d. Gabelentz, G. 1891: 77-82, 1901: 75-80). Die Z ahl der erfassten Sprachen, die später vom Sohn Georg besonders um ostasiatische und amerikanische Sprachen erweitert wurden, betrug nach einem später aufgestellten Bibliothekskatalog ca. 2000 (vgl. Do- Familiennamen Jablonski. Im Wappen der Familie v. d. Gabelentz wird allerdings schon früh eine dreizinkige Gabel (Kriegsgabel) als Bestandteil verwendet. Weitere, mit ihr nicht verwandte Familien führen im Übrigen den Namen in unterschiedlichen Schreibungen (Gablentz, von Gablenz, von der Gablentz). Vgl. Dobrucky, Th. 1938: 12 f., hier: 39. Das Gut Poschwitz erbte nach dem Tode von Hans Conon v. d. Gabelentz der zweitälteste Sohn Georg, während der älteste Sohn Hans Albert das Gut und Schloss in Lemnitz (Triptis, Thüringen) erhielt, wo sich Georg 1884 am Schloss ein „Berghäuschen“ baute, das er zu Erholungs- und Arbeitszwecken in den Ferien nutzte (vgl. den Beitrag von K. Mertens in diesem Band). Die Familie v. d. Gabelentz, die in den folgenden Generationen eine Reihe bedeutender Persönlichkeiten in Wissenschaft und Kultur hervorbrachte (vgl. den Beitrag von J. Emig in diesem Band), wurde 1945 enteignet; die Schlösser in Poschwitz und Lemnitz befinden sich heute in einem desolaten Zustand. Gabelentz_s001-344End2.indd 13 17.07.13 16: 18 <?page no="16"?> 14 brucky, Th. 1938: 60-71, hier: 55-65, Gimm, M. 1997: 234, Fußnote 2). Hans Conon v. d. Gabelentz’ sprachwissenschaftliche Arbeiten betrafen (nach Leskien 1878) „mongolische, malaische, melanesische, finnische, afrikanische, amerikanische Sprachen“. Seine Hauptwerke sind Élémens* de la Grammaire Mandchoue (1832; *élémens - eine damals noch übliche Schreibung statt éléments), Die melanesischen Sprachen (2 Bde.; 1860, 1873) und die Abhandlung „Über das Passivum“ (1861), in der 208 Sprachen untersucht wurden. Außerdem gab er zusammen mit Julius Loebe eine dreibändige Ausgabe (1843, 1846, 1860) der gotischen Bibel des Ulfilas heraus. 1846 erhielt er für seine wissenschaftlichen Verdienste die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig. 1849 schied er trotz der erreichten hohen Stellung als Staatsmann im damaligen Herzogtum Sachsen-Altenburg aus dem Staatsdienst aus und widmete sich fortan hauptsächlich der Sprach- und Heimatforschung (Leskien, A. 1878). Sein Leben als Sprachforscher wurde später von seinem Sohn Georg in einem Vortrag ausführlich dargestellt (v. d. Gabelentz, G. 1886). 2. Die Beschäftigung mit dem Chinesischen, das Georg von der Gabelentz später zum Hauptgegenstand seiner grammatischen Forschung machte, begann er, als sein Vater ihm zu seinem 18. Geburtstag Élémens* de la gra mmaire chinoise (1822; * s. o.) von Jean Pierre Abel Rémusat schenkte, ein Buch, das Hans Conon in der Gymnasialzeit sein Mitschüler und Freund Hermann Brockhaus (1806-1877), der später Professor für Indologie in Leipzig wurde, überließ und das ihm selbst den ersten Anstoß zu seinem späteren umfangreichen Sprachstudium gegeben hatte (vgl. Dobrucky, Th. 1938: 51, 77, hier: 53, 69). Zwar strebte Georg v. d. Gabelentz wohl von vornherein nach einer akademischen Laufbahn, leistete aber, entsprechend der Familientradition, im Anschluss an das Kameral- und Rechtswissenschaftsstudium in Jena und Leipzig, den juristischen Staatsdienst an mehreren Orten ab. 1876 promovierte er, noch als Assessor beim Bezirksgericht Dresden, mit einer sinologischen Arbeit an der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig. Es handelte sich dabei (nach Richter, E./ Reichardt, M./ Seiter, G. u. a. 1979: 3) um eine „Ausgabe und Übersetzung des ‚Taijitsu‘ (‚Tafel des Urprinzips‘) des Philosophen Zhou Dunyi (Song-Zeit)“ (v. d. Gabelentz, G.: 1876). Aufgrund dieser Arbeit wurde er 1878 als außerordentlicher Professor für ostasiatische Sprachen an derselben Fakultät berufen. Vier Jahre später wurde er zum ordentlichen Honorarprofessor ohne Sitz und Stimme in der Fakultät ernannt (Richter, E./ Reichardt, M./ Selter, G. u. a. 1979: 7). Diese Professur war insofern die erste ihrer Art in Deutschland, als vor ihm zwar Hermann Brockhaus lange Jahre in Leipzig eine Professur für ostasiatische Sprachen mit Einschluss des Sanskrits innegehabt hatte, ohne dass er sie jedoch in der erforderlichen Breite vertreten konnte (Gimm, M. 1997: 17, Fußnote 2). 1881 erschien seine Chinesische Gra mmatik mit Ausschluss des niederen Stiles und der heutigen Umgangssprache. Der inhaltlich einschränkende Zusatz zum Buchtitel zeigt, dass er sich durchaus seiner beschränkten Kompetenz in der Beschreibung bestimmter Varietäten des Chinesischen bewusst war (vgl. hierzu Grube, W. 1905: 551, hier: 31). Trotzdem war dieses Werk, das in umfassender und äußerst kritischer Auseinandersetzung mit allen vorausgegangenen chinesischen Grammatiken entstanden war (vgl. Richter, E./ Reichardt, M./ Selter, G. u. a. 1979: 13-17), ohne Zweifel ein Meilenstein in der Geschichte des Fachs. 1889 wurde er als ordentlicher Professor für Sinologie und allgemeine Sprachwissenschaft (Nachfolger von Wilhelm Schott, 1802-1889, der außerordentlicher Professor des Chinesischen und der tatarischen Sprachen war) an die Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin (heutige Humboldt-Universität zu Berlin) berufen 2 . Er starb dort am 11. Dezember 1893 durch Krankheit im Alter von 53 Jahren (vgl. Grube, W. 1905: 554, hier: 33 f.) 3 . 1891, zwei Jahre vor seinem Tod, war sein allgemeinsprachwissenschaftliches Hauptwerk Die Sprachwissenschaft, 2 In einem Schreiben des Ministeriums vom 20. 9. 1889 heißt es: „Der Lehrauftrag des Professors von der Gabelentz … ist dahin bestimmt worden, daß sich der Genannte an der Vertretung der allgemeinen Sprachwissenschaft zu beteiligen, die chinesische Sprache und Literatur zu vertreten, sowie Vorlesungen über Mandschu, Altjapanisch, Malayisch, Samoanisch und verwandte Sprachen zu halten hat“ (vgl. Kaden, K. 1993: 75, hier: 281). 3 Über das Leben von Georg v. d. Gabelentz sind handschriftliche Aufzeichnungen seiner jüngeren Schwester, Clementine v. Münchhausen geb. v. d. Gabelentz (1849-1913) mit dem Titel: H. Georg v. d. Gabelentz. Biographie und Charakteristik (1913) überliefert, von denen eine Teilabschrift (1938) im Familienarchiv v. d. Gabelentz im Thüringischen Staatsarchiv Altenburg vorhanden ist. Eine komplette Neuabschrift durch ihre Urenkelin, Annemete v. Vogel, ist im vorliegenden Band enthalten. Gabelentz_s001-344AK6.indd 14 12.07.13 16: 22 <?page no="17"?> 15 ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse erschienen, an dem er sein Leben lang gearbeitet hatte (kürzlich wurde ein „Notizbuch“ veröffentlicht, das er in Vorbereitung dieses Werks ab 1879 bei sich geführt hatte, vgl. v. d. Gabelentz, G. 2011). Dieses wurde 1901 von seinem Neffen, dem Sinologen, Albrecht Graf von der Schulenburg (1865-1902), mit Berichtigungen und Ergänzungen herausgegeben. Rezensionen der 1. Auflage dieses Werks durch führende Sprachwissenschaftler der damaligen Zeit wie Wilhelm Streitberg oder Otto Behaghel waren zwar inhaltlich nicht negativ, zeigten jedoch eine grundsätzliche Reserviertheit gegenüber einem Sprachforscher mit eigenem Standpunkt und Material (vgl. Streitberg, W. 1892, Behaghel, O. 1892). Seine sonst publi zierten sowie in handschriftlicher Form hinterlassenen Arbeiten sind in einem Verzeichnis (Kaden, K./ Taube, M. 1979) zusammengestellt. Das Werk Die Sprachwissenschaft (1891, 2 1901) von Georg v. d. Gabelentz hatte in der Folgezeit trotz Erwähnung und zum Teil sehr positiver Wertung durch führende Fachwissenschaftler (Hermann Paul, Hugo Schuchardt, Leo Spitzer, Otto Jespersen, Louis Hjelmslev, Iorgu Iordan, Ernst Cassirer, Friedrich Kainz; vgl. Ezawa, K. 1982: 110 f., 121 f.) bis in die 1960er Jahre des vorigen Jahrhunderts keinen gebührenden Platz in den sprachwissenschaftsgeschichtlichen Darstellungen gefunden, während seine „Chinesische Grammatik“ (1881) seit ihrem Erscheinen als Standardwerk weithin bekannt geblieben ist. Das Werk fand nun Mitte der 1960er Jahre in der Fachwelt auf einmal Beachtung, und zwar einmal durch einen Kongressvortrag des Phonetikers und Wissenschaftsgeschichtlers, Eberhard Zwirner (Zwirner, E. 1965) und zum andern, unabhängig davon, durch einen Aufsatz des Romanisten und allgemeinen Sprachwissenschaftlers, Eugenio Coseriu (Coseriu, E. 1967). Dies hing mit den damals lebhaft geführten Diskussionen über die Sprachbegriffe des Schweizer Indogermanisten und allgemeinen Sprachwissenschaftlers, Ferdinand de Saussure (1857-1913), zusammen, dessen posthum von seinen Schülern aus Vorlesungsnachschriften zusammengestelltes Werk Cours de linguistique générale (1916) allgemein als Ausgangspunkt der modernen, strukturellen Linguistik gilt. Es wurde dabei vor allem auf eine auffällige Übereinstimmung zwischen den Gabelentzschen Begriffen „Einzelsprache“, „Rede“, „Sprachvermögen“ und den Saussureschen „langue“, „parole“, „(faculté du) langage“ sowie zwischen der Unterscheidung der „einzelsprachlichen“ und „genea logisch-historischen Sprachforschung“ bei Gabelentz einerseits und der der „linguistique synchronique“ und „linguistique diachronique“ bei Saussure andererseits hingewiesen (vgl. Rensch, K. 1966, Coseriu, E. 1967). Dies führte auch zu einer Prioritätsdebatte, weil Saussure in Leipzig studier te (1876-78, 1879-80), als Gabelentz dort lehrte, und das Gabelentzsche Werk Die Sprachwissenschaft noch vor der Zeit erschienen war, in der sich Saussure nachweislich mit allgemein-sprachwissenschaftlichen Problemen zu beschäf tigen anfing (1894). Die Diskussion wurde weiter verschärft durch eine Diskussion über einen „authentischen“, d. h. mit dem Cours nicht zu identifizierenden Saussure aufgrund der inzwischen veröffentlichten Manuskripte und Notizen aus dem Nachlass (vgl. Fehr, J. 1997) sowie Inhalte der Privatbi bliothek Saussures. 3. Sowohl Hans Conon als auch Georg v. d. Gabelentz standen in ihrer Sprachforschung unter dem entscheidenden Einfluss der Sprachauffassung Wilhelm von Humboldts (1767-1835), wie sie selbst ausdrücklich bestätigten (vgl. den oben genannten Vortrag von Georg v. d. Gabelentz über seinen Vater sowie das Sachregister seines Werkes Die Sprachwissenscha ft). Dieser sah den Sinn der Sprachforschung nicht in einer geschichtlichen Rekonstruktion der einzelsprachlichen Tatsachen, die in der damaligen Sprachwissenschaft als primäres Ziel galt, sondern im Erkennen der Verschiedenheit der menschlichen Sprache, wie sie sich im systematischen Vergleich der Einzelsprachen zeigt und dadurch von der Freiheit des menschlichen Geistes zur je eigenen Gestaltung der Wirklichkeit Zeugnis ablegt. Die Erforschung vieler, besonders im Sprachbau grundverschiedener Sprachen war daher ein erstes Erfordernis der Sprachforschung im Humboldtschen Sinne. Und eine allgemeine Sprachenlehre als Wissenschaft des Menschen sollte auf einer solch umfassenden Basis zustande kommen. Dies war in der Tat von Hans Conon v. d. Gabelentz mit seiner Abhandlung „Über das Passivum“ (1861) beabsichtigt worden. Und Georg v. d. Gabelentz’ bahnbrechende Ideen besonders als Grammatiker waren denn auch eindeutig im Zusammenhang mit seiner Beschäftigung mit Sprachen entstanden, die sich typologisch von den indogermanischen stark unterscheiden. So veröffentlichte er 1869, als Neunundzwanzigjähriger, in der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, die die Humboldtsche Tradition der Sprachwissenschaft fortführte, einen kleinen Aufsatz „Ideen zu einer Gabelentz_s001-344AK6.indd 15 12.07.13 16: 22 <?page no="18"?> 16 vergleichenden Syntax - Wort- und Satzstellung“, den er 1875 in derselben Zeitschrift um zwei größere Teile erweiterte. Seine bekannte, dort getroffene und in seinen späteren Werken fortgeführte Unterscheidung von „psychologischem Subjekt“ (: Thema) und „psychologischem Prädikat“ (: Rhema), welche sich auf die jeweilige Intention des Sprechers beziehen und als solche vom herkömmlichen formalgrammatischen Subjekt- und Prädikatbegriff grundsätzlich unterscheiden, war bezeichnenderweise ursprünglich aus seinen Studien über das Japanische hervorgegangen (vgl. Grube, W. 1905: 550, hier: 30 f.; Richter, E./ Reichardt, M./ Selter, G. u. a. 1979: 20 ff., 38 f.). Seine ebenfalls bahnbrechende, in seiner Chinesischen Grammatik (1881) erstmalig in der Sprachwissenschaft realisierte Idee eines „synthetischen Systems der Grammatik“, das als Grammatik des Sprechers ein Gegenstück zum traditionellen „analytischen System der Grammatik“ als Grammatik des Hörers darstellen soll, entsprang auch der praktischen Notwendigkeit, isolierende Sprachen wie klassisches Chinesisch, die einer Morphologie wie in den indogermanischen Sprachen entbehren, trotzdem formal zu beschreiben (vgl. Gasde, H.-D. 1993: 138, Coseriu, E. 1996: 16 ff.). Und diesen beiden Unterscheidungen Gabelentz’ lag seine grundlegende sprachtheoretische Unterscheidung der Sprache zugrunde, die er als „Sprache als Erscheinung“ und als „Sprache als Mittel“ begrifflich einmalig klar fasste. (Z u den einzelnen hier genannten Gabelentzschen Begriffen vgl. die betreffenden Stellen im Sachregister seines Werkes Die Sprachwissenschaft). Alle diese Gabelentzschen Forschungsideen, die sich, um es in einem Wort auszudrücken, auf Sprache als Subjekt statt Sprache als Objekt beziehen, gehörten jedoch nicht zum Konzept der damaligen Sprachwissenschaft, die sich bei den sog. Junggrammatikern in Leipzig als Indogermanistik mit vornehmlich lautgeschichtlichen Forschungen etabliert hat te. Eine Typologie der Syntax, wie sie Gabelentz von Anfang an im Sinne hatte, lag außerhalb ihrer Perspektive. Und de Saussure, dessen posthumes Werk danach die neue, strukturelle Linguistik einleitete, blieb mit seinem Strukturbegriff trotz seiner überaus kritischen und skeptischen Haltung in Bezug auf den Gegenstand der Sprachwissenschaft doch dem objektivistischen Gegenstandsverständnis verhaftet, das letztlich im positivistischen Wissenschaftsverständnis des 19. Jahrhunderts wurzelte. Heute tendiert jedoch die Linguistik eindeutig zu einer umfassenderen Einbeziehung des Menschen als aktives Handlungssubjekt in die Sprachbeschreibung, wie sie sich in ihren verschiedenen Richtungen wie der Textlinguistik, der linguistischen Pragmatik, der kognitiven Linguistik oder der linguistischen Universalienforschung im Einzelnen konkretisiert. Tatsächlich war für Gabelentz, im krassen Gegensatz zu Saussure mit seinem Primat der „langue“, nicht die „Einzelsprache“, sondern die „Rede“ der eigentliche Gegenstand der Sprachwissenschaft. Diese jeweils aktuelle Realisierung der Sprache durch den Menschen sollte vom Wissenschaftler von der „Einzelsprache“ und vom „Sprachvermögen“ aus gehend befriedigend erklärt werden (vgl. Coseriu, E. 1967). Und der letzte Aufsatz, den Gabelentz kurz vor seinem Tode schrieb, trug den Titel: „Hypologie (Druckfehler: Typologie) der Sprachen, eine neue Aufgabe der Linguistik“, wobei es sich um das Konzept einer Sprachtypologie auf statistischer Basis handelte, bei der man „aus einem Dutzend bekannter Eigenschaften einer Sprache … mit Sicherheit auf hundert andere Züge (müsste) schliessen können: die typischen Züge, die herrschenden Tendenzen lägen klar vor Augen“ (v. d. Gabelentz, G. 1894: 7), ein Gedanke, der ein Konzept der heutigen Sprachtypologie klar vorweggenommen hat. So hat es über ein Jahrhundert gedauert, bis sich in der Sprachwissenschaft in einer konsequenten Fortentwicklung über die strukturelle Linguistik hinaus heute doch ein Ge genstandsverständnis durchgesetzt hat, das der große, selbständige Sprachforscher Georg v. d. Gabelentz mit universellen Überlegungen aufgrund umfassender Sprachkenntnisse in Überzeugung vertreten hatte (vgl. Ezawa, K. 1982). Zitierte Literatur Behaghel, Otto (1892): Rezension von „Die Sprachwissenschaft“ (1891) von G. v. d. Gabelentz, in: Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 13, 257-258. Coseriu, Eugenio (1967): „Georg von der Gabelentz et la linguistique synchronique“, in: Word 23, 74-110. Deutsche Übersetzung: „Georg von der Gabelentz und die synchronische Sprachwissenschaft“ in der Reprintausgabe von v. d. Gabelentz, G.: Die Sprachwissen schaft, … (2. Aufl. 1901), Tübingen: TBL 1972 (2. Aufl.), 3-35. Wie derabdruck in: Ezawa, K./ Hundsnurscher, F./ v. Vogel, A. (Hrsg.): Beiträge zur Gabelentz-Forschung, Tübingen: Narr 2013. Coseriu, Eugenio (1996): Die gegenwärtige Lage in der Sprachforschung. Einzelsprachliche und Sprachverwendungsforschung, in: Coseriu, E./ Ezawa, K./ Kürschner, W. (Hrsg.): Sprachwissenschaftsgeschichte und Sprachforschung. Ost-West-Kolloquium Berlin 1995. Sprachform und Sprachformen: Humboldt, Gabelentz, Sekiguchi, Tübingen: Niemeyer: 3-34. Gabelentz_s001-344AK6.indd 16 12.07.13 16: 22 <?page no="19"?> 17 Dobrucky, Theodor (1938): „Die Herren v. d. Gabelentz“, in: Über ein halbes Jahrtausend auf angestammter Scholle. Geschichte der Herren von der Gabelentz auf Poschwitz 1388-1938, (als Handschrift gedruckt) Leipzig: Bibliographisches Institut, 11-89, bes, 74-79. Wiederabdruck in diesem Band. Ezawa, Kennosuke (1982): „Gabelentz to gendai-gengogaku“ (jap.), in: Reports of the Keio Institute of Cultural and Linguistic Studies 14: 107-126; in gekürzter deutscher Fassung vorgetragen auf der XVI. Jahrestagung der Societas Linguistica Europaea in Posen, 19.-21. 8. 1983. Deutsche Übersetzung: „Gabelentz und die heutige Sprachwissenschaft“ in: Ezawa, K./ Hundsnurscher, F./ v. Vogel, A. (Hrsg.): Beiträge zur Gabelentz-Forschung, Tübingen: Narr 2013. Ezawa, Kennosuke (1983): „Gabelentz und Sekiguchi“, in: Proceedings of the XIII th International Congress of Linguists, Tokyo: Sanseido, 857-859. Fehr, Johannes (1997): Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie. Notizen a us dem Nachlaß, Texte, Briefe und Dokumente. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. v. d. Gabelentz, Georg (1869): „Ideen zu einer vergleichenden Syntax - Wort- und Satzstellung“, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 6, 376-384. v. d. Gabelentz, Georg (1875): „Weiteres zur vergleichenden Syntax - Wort- und Satzstellung“, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 8: 129-165, 300-338. v. d. Gabelentz, Georg (1876): Thai-kih-thu, des Tscheu-tsï Tafel des Urprinzipes, mit Tschuhi’s Commentare nach dem Hoh-pih-Singli, chinesisch mit mandschuischer und deutscher Uebersetzung, Einleitung und Anmerkungen. (VIII, 88 Seiten). Dresden: v. Zahn in Comm. v. d. Gabelentz, Georg (1881): Chinesische Grammatik mit Ausschluss des niederen Stiles und der heutigen Umgangssprache. (XXIX, 552 Seiten). Leipzig: Weigel. Reprintausgabe (mit Einführung von Eduard Erkes), Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften 1953, 4. Aufl. Halle: Niemeyer 1960. v. d. Gabelentz, Georg (1886): „Hans Conon von der Gabelentz als Sprachforscher“, in: Berichte über die Verhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, philologischhistorische Classe (Sitzung vom 11. 12. 1886), 38, 217-241. v. d. Gabelentz, Georg (1891): Die Sprachwissenschaft, ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse. (XX, 502 Seiten). Leipzig: Weigel Nachfolger; 2. Aufl. 1901, hrsg. v. Albrecht Graf von der Schulenburg. Reprintausgabe: 1. Aufl. 1969, 2. Aufl. 1972, Tübingen: TBL/ Narr. v. d. Gabelentz, Georg (1894): „Hypologie der Sprachen, eine neue Aufgabe der Linguistik“, in: Indogermanische Forschungen IV, 1-7. v. d. Gabelentz, Georg (2011): „Zur allgemeinen Sprachwissenschaft“, herausgegeben und erläutert von Manfred Ringmacher, in: Kürschner, W. (Hrsg.): Miscellanea Linguistica, = LITTERA Bd. 3, Frankfurt/ M.: P. Lang 2011, 335-394. v. d./ de la Gabelentz, Hans Conon (1832): Élémens de la Grammaire Mandchoue. Altenburg: Compt. de la littérature. v. d. Gabelentz, Hans Conon (1860), (1873): „Die melanesischen Sprachen“, in: Abhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, philologisch-historische Classe, Bd. 3, 7. v. d. Gabelentz, Hans Conon (1861): „Über das Passivum“, in: Abhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, philologisch-historische Classe, Bd. 8, S. 450-546. Gasde, Horst-Dieter (1993): „Georg von der Gabelentz’ Sprachtheorie im Spiegel neuer Forschungen“, in: Moritz, R. (Hrsg.) (1993): 137- 146. Gimm, Martin (1997): „Hans Conon von der Gabelentz (1807-1874) und die erste manjurische Grammatik in Deutschland (Briefe und Dokumente aus dem Nachlaß)“, in: Oriens Extremus 40, H. 2, 217- 262. Grube, Wilhelm (1905): „Gabelentz: Hans Georg Conon von der G.“, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 50, Leipzig: Duncker & Humblot, 548-555; Wiederabdruck in diesem Band. Kaden, Klaus (1993): „Die Berufung Georg von der Gabelentz’ an die Berliner Universität“, in: Moritz, R. (Hrsg.) (1993), 57-90; Wiederabdruck in diesem Band. Kaden, Klaus/ Taube, Manfred (unter Mitarbeit von Karin Westphal): „Bibliographie für Hans Georg Conon von der Gabelentz“, in: Richter, E./ Reichardt, M. (Hrsg.) (1979): 229-242. Leskien, (August) (1878): „Gabelentz: Hans Conon von der G.“, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 8, Leipzig: Duncker & Humblot, 286-288. Moritz, Ralf (Hrsg.) (1993): Sinologische Traditionen im Spiegel neuer Forschungen, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag. v. Münchhausen geb. v. d. Gabelentz, Clementine: Georg von der Gabelentz, Biographie und Charakteristik (handschriftliche Aufzeichnungen). Teilabschrift im Familienarchiv v. d. Gabelentz im Thüringischen Staatsarchiv Altenburg (Inventar-Nr. 654); komplette Neuabschrift in diesem Band. Rémusat, Jean Pierre Abel (1822): Élémens de la grammaire chinoise, Paris. Rensch, Karl H. (1966): „Ferdinand de Saussure und Georg von der Gabelentz. Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten dargestellt an der langue-parole Dichotomie sowie der diachronischen und synchronischen Sprachbetrachtung“, in: Phonetica 15, 32-41. Richter, Eberhardt/ Reichardt, Manfred (Hrsg.) (1979): Hans Georg Conon von der Gabelentz, Erbe und Verpflichtung, = Linguistische Studien (Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Sprachwissenschaft), Reihe A, Arbeitsberichte 53 (als Manuskript vervielfältigt), Berlin. Richter, Eberhardt/ Reichardt, Manfred/ Selter, Gerhard/ Gaudes, Rüdiger/ Reichardt, Shuxin/ Taube, Manfred/ Herms, Irmtraud (1979): „Hans Georg Conon von der Gabelentz - Erbe und Verpflichtung“, in: Richter, E. / Reichardt, M. (Hrsg.) (1979), 1-58. Streitberg, Wilhelm (1892): Rezension von Die Sprachwissenschaft (1891) von G. v. d. Gabelentz, in: Anzeiger für indogermanische Sprach- und Altertumskunde 2, 1-6. Taube, Manfred (1982): „Georg von der Gabelentz - seine Herkunft und seine Z eit“, in: Jahrbuch des Museums für Völkerkunde zu Leipzig, 34, 17-36; Wiederabdruck in diesem Band. Zwirner, Eberhard (1965): „Die Bedeutung der Sprachstruktur für die Analyse des Sprechens: Problemgeschichtliche Erörterung“, in: Proceedings of the V th International Congress of Phonetic Sciences, Basel/ New York: Karger, 1-21, (Diskussion) 21-24. Gabelentz_s001-344AK6.indd 17 12.07.13 16: 22 <?page no="20"?> 18 Die chinesische Titelseite der „Chinesischen Grammatik“ von Georg v. d. Gabelentz, Leipzig 1881 Familienbestand. Gabelentz_s001-344AK6.indd 18 12.07.13 16: 22 <?page no="21"?> 19 Georg von der Gabelentz Die ostasiatischen Studien und die Sprachwissenschaft * In der That bedurfte es hierzu einer mächtigen Anregung, und diese verdanken wir einem glücklichen Zusammentreffen. Die Philosophie des vorigen Jahrhunderts hatte auch die menschliche Sprache in das Bereich ihrer Speculationen gezogen. Ihr Treiben mochte ein sehr voreiliges sein, aber ein anregendes war es ganz gewiß. Was zeither nur für die Neugier den Reiz des Absonderlichen gehabt, das lernte man nun mit ganz andern Augen betrachten: es war ein gewaltiger Fortschritt von dem „Vocabular“ Katharina’s II. bis zu Adelung’s "Mithridates“! Dazu nun kam ein zweites. Im Jahre 1799 hatte Gyarmathi einen Theil der Sprachen finnischen (ugrischen) Stammes auf ihre Verwandtschaft hin grammatisch verglichen. Daß sein Werk nicht in ähnlicher Weise epochemachend wurde wie bald nachher die Arbeiten Bopp’s und Grimm’s: das war wol nicht Schuld seiner Leistung, sondern es lag an dem gewählten Gegenstande. Die Sache mußte uns vollends zu Haus und Hof gebracht werden, ehe sie rechten Anklang finden konnte. Nun aber erschien das Sanskrit auf der Bildfläche; mit jubelndem Erstaunen sah man ein ganz neues Licht sich über unsere Sprachen ergießen, erkannte man in dem alten Denker- und Dichtervolke ehrwürdige Verwandte unsers eigenen Geschlechts. Unsere Hochschulen sind sonst zähe; ein neuer Wissenszweig muß kämpfen, ehe er sich einen Lehrstuhl erobert. Hier jedoch war nicht lange zu zaudern: Bopp’s Schüler nahm man mit offenen Armen auf. Es war kein Zweifel, dieser Zweig der Orientalistik hatte mit der Theologie nichts zu schaffen; sein Platz war in dem Massenquartier der philosophischen Facultät, und dahin folgten ihm denn die andern, soweit sie nicht vorab der Bibelkritik dienen wollten, so sachte nach. Von den großen Entdeckungen auf ägyptischem, persisch-baktrischem und assyrischem Gebiet will ich nicht reden. Genug, der ganze bisher beschriebene Kreis der morgenländischen Forschun- Der Begriff der Orientalistik hat sich bekanntlich in unserm Jahrhundert stetig um ein sehr Bedeutendes erweitert. Noch zu unserer Großväter Zeiten waren die morgenländischen Studien kaum mehr als ein Nebenfach der Theologie; die Sprache des Alten Testaments bildete sozusagen den Kernpunkt; andere semitische Sprachen: Syrisch, Chaldäisch, Samaritanisch, Arabisch und etwa noch Aethiopisch, schlossen sich in zweiter und dritter Reihe an, und da uns einmal das mohammedanische Culturleben näher gerückt war, so wurden wol auch gelegentlich Türkisch und Persisch mit in den Bereich jener Studien gezogen, und einzelne verstiegen sich bis ins Armenische und Koptische: sie blieben aber eben vereinzelt. Christliche Sendboten, zumal die rastlos fleißigen Jesuiten, hatten schon längst eine fremde Sprache nach der andern grammatisch und lexikalisch bearbeitet, Reisende hatten aufgezeichnet, was sie in fernen Landen am Wege aufgelesen: an Stoff zum Sammeln hätte es nicht gefehlt, aber es fehlte an wissenschaftlichen Sammlern. Wohl entstanden polyglottische Sammelwerke - man weiß, welchen Antheil Leibniz’ allbefruchtender Geist hierbei hatte -, allein noch ähnelten sie einigermaßen den Raritätencabinets in alten Schlössern: unserm Jahrhundert blieb es vorbehalten, sie in Museen zu verwandeln. * Bearbeitung der vom Verfasser in der Aula der Universität zu Leipzig am 28. Juni 1879 gehaltenen Antrittsvorlesung. (G. v. d. Gabelentz) Erstveröffentlichung 1881 in: Unsere Zeit. Deutsche Revue der Gegenwart, Leipzig: Brockhaus, Bd. 1, 279-291. „Meine Antrittsvorlesung wird nun in einiger Zeit in der Brockhausschen Revüe ‚Unsere Zeit‘ erscheinen, erweitert und abgeändert, sodaß aus der Gelegenheitsrede ein Essay geworden ist“, aus dem Brief G. v. d. Gabelentz’ an seine Schwester Clementine (v. Münchhausen, C. 1913, hier: 120 f.). - Hrsg. Gabelentz_s001-344AK6.indd 19 12.07.13 16: 22 <?page no="22"?> 20 gen zielt am Ende auf uns selbst hin: woher stammen unsere europäischen Völker? woher stammt ihre Cultur? So war es vielleicht kein Zufall, daß unsere deutschen Universitäten zunächst innerhalb dieses Kreises Genüge fanden. Sehe ich ab von dem, was unmittelbar aufs Leben selbst abzweckt, von Staats- und Wirthschaftslehre, von Recht, Religion und Gesundheitspflege: so wüßte ich nicht, was unserm Interesse näher liegen sollte als die Frage nach unserer eigenen Geschichte. Frankreich freilich, auch diesmal von rascherm Entschlusse, ging sofort noch weiter. Mehr als 10000 Bände der wichtigsten chinesischen Bücher schlummerten in den Repositorien der pariser Bibliothek; man ahnte Schätze neuer Belehrung, und das genügte. Im Jahre 1814 wurde Abel Rémusat zum Professor der ostasiatischen Sprachen am Collége de France ernannt, und seitdem haben fast ein halbes Jahrhundert lang die französischen Sinologen den Reigen geführt, bis ihnen englische Meister den Vorrang streitig machten. Erst 1838 folgte Preußen mit der Berufung Schott’s an die berliner Universität, und seitdem hat sich die eigenthümliche Begabung des deutschen Geistes auch auf diesem Gebiete gezeigt; denn dem berliner Gelehrten verdanken wir die erste wahrhaft wissenschaftlich systematische Grammatik der Sprache. Ein zweiter Lehrstuhl der ostasiatischen Sprachen und Literaturen besteht seit 1878 an der leipziger Hochschule. Derselbe wurde mir anvertraut, und meine Antrittsvorlesung hatte naturgemäß von den Aufgaben und der Berechtigung des neuen Lehrfaches zu handeln. Letztere war freilich von seiten der Nächstbetheiligten durch die That anerkannt. Allein ich wiederhole es, von der zeitherigen Richtung unserer morgenländischen und sprachwissenschaftlichen Studien scheint der Gegenstand zu weit abzuliegen. Kein Z weifel, jedes wahrhaft wissenschaftliche Streben ist berechtigt. Allein nicht jeder Z weig wissenschaftlichen Forschens ist geeignet, in dem Rahmen der Universitätsstudien Aufnahme zu finden. Die Entscheidung hierüber gehört nicht ausschließlich vor das Forum der Leute vom Fach, der Gelehrten; die Frage ist nur zur einen Hälfte eine wissenschaftliche, zur andern eine praktische. Wie ist sie zu beantworten? Mit dem bloßen Hinweise auf andere, zum Theil kleinere Länder, auf die Hochschulen Frankreichs, Englands, Rußlands, Hollands und Italiens wäre wenig gedient; denn in wissenschaftlichen Dingen wenigstens pflegt es sonst nicht Deutschland zu sein, das am Vorbilde seiner Nachbarn zu lernen hat. Die Aufgabe, fremden Leistungen mit Aufmerksamkeit zu folgen, bleibt uns darum nicht minder. Es könnte sonst geschehen, daß uns manche jener reichhaltigen Gänge verschlossen blieben, aus welchen andere ihre Schätze fördern. Und wenn ich nun betrachte, was die Gelehrten anderer Nationen, und was so mancher unserer Landsleute aus den unerschöpflichen Fundgruben der ostasiatischen Literaturen heimgebracht: dann muß ich wol wünschen, hier recht viel deutschen Fleiß und deutschen Geist in Arbeit zu sehen. Anders als zur Z eit der Völkerwanderungen, friedlicher, aber nicht minder mächtig treten heute die Völker Ostasiens mit der europäisch-amerikanischen Culturwelt in Berührung. Ein Wettbewerb von stets zunehmender Lebhaftigkeit ist eröffnet. Das hochbegabte, thatkräftige Japanervolk hat sich mit einem Sprunge, wie er für jede andere Nation ein Salto mortale gewesen wäre, mitten in europäisches Wesen hineingestürzt. Der Chinese, bisher weniger zugänglich für unsere Ideen als für unser Silber, fordert zum Entgelt für die Aufnahme unserer Kaufleute, unserer Diplomaten und Missionare freien Einmarsch seiner Arbeiterbataillone in die Werkplätze unsers Gewerbfleißes. Z ukunftsreicher als alle andern Asiaten treten uns heute jene Menschen des fernsten Ostens politisch und wirthschaftlich viel näher als die sinnigen, aber passiven Hindus oder die Bekenner des Islams von arischem, tatarischem oder semitischem Blute. Es gilt, sich in sie hineinzufinden, ihr Denken und Leben zu verstehen. Die Geschichte der letzten Jahrhunderte hat bewiesen, wie hier jedes Misverständniß zu den bedenklichsten Misgriffen führen könne. Hier fällt dem Gelehrten, dem Völker- und Sprachenkundigen eine Pionnierrolle zu, wie ich sie mir dankbarer kaum denken kann. Kaum dankbarer und auch kaum reizvoller. Ich denke an mich und mein Fach, vor allem an das Studium der chinesischen Gesittung, wie sie sich in einer der interessantesten Literaturen der Welt abspiegelt. Diese Literatur, vor mehr denn 4000 Jahren begründet, mithin unter allen lebenden die älteste, vielseitiger als irgendeine des übrigen Orients, vielleicht bändereicher selbst als die meisten europäischen - ist uns kaum erst in einigen ihrer Erzeugnisse bekannt - und wie wenig bekannt sind noch diese! Es ist schlimm, daß ich dies gestehen mußte: man schließt zu gern aus der Größe der Nachfrage auf die Güte der Waare. Jedermann weiß, wie trügerisch dieser Schluß in literarischen Dingen ist. Hier ist das Beste für die Besten, also nicht allemal für die Mehrzahl, und selbst das Beste hat sich seinen Platz zu erkämpfen, wenn es ein Seltsames, Ueberraschendes ist. Man soll sich keiner Täuschung hin- Gabelentz_s001-344AK6.indd 20 12.07.13 16: 22 <?page no="23"?> 21 geben: die Sinologie hat in Deutschland einen schweren Stand. Wir bauen auf dem Felde unserer Orientalistik andere Früchte, und mit wie glänzendem Erfolge! Die herrlichen Errungenschaften unserer indischen, iranischen, semitischen und ägyptologischen Forschungen werden der gebildeten Welt sozusagen zu Haus und Hof behändigt; die Pharaonen und ihre Unterthanen, die Muselmanen und die Brahmanen erscheinen uns nachgerade wie alte Geschäftsfreunde und Vettern, mit denen man sich nicht schnell genug auf Du und Du stellen kann und deren Geschichten man lauscht wie Märchen aus der eigenen Kinderzeit. Was zu uns aus der chinesischen Culturwelt herübertönt, gemahnt freilich nicht an heimische Klänge. Die Dinge haben sich hüben und drüben so ganz voneinander unabhängig gestaltet, daß das beiden Theilen Gemeinsame kaum viel mehr sein kann als das allgemein Menschliche. Und doch, wie viel ist dies! Man durchbreche die fremdartige Hülle, man dringe ein in den Sinn jener reichen Poesie, in ihre Leidenschaften, ihre Andacht, ihre Sehnsucht, ihren Humor, so wird man bald vergessen, daß man um fast zwei Drittheile unserer Halbkugel ostwärts gewandert ist. Gar bald lernt unsere Phantasie in die glatten, gelben, schlitzäugigen Chinesengesichter sympathische Züge zeichnen, und was von fern einer hölzernen Puppe glich, entpuppt sich nun als ein warm fühlender Mensch. Oder versuchen wir es, uns in die Geheimnisse der chinesischen Philosophie zu versenken, in ihre tiefsinnige Mystik, ihre optimistischen und pessimistischen, ihre realistischen und idealistischen Strömungen, in die Kämpfe ihrer Systeme, in die Geschichte ihrer stetigen Entwickelung - schließen wir aus dem Wenigen, was uns heute zugänglich ist, auf die Bedeutung jenes riesenhaften Bücherschatzes, von welchem uns die einheimischen Kataloge melden: so werden wir staunend an Stelle jenes Bildes geistiger Uniformität, welches man uns vorgemalt hat, ein Schauspiel gewaltigen geistigen Ringens erblicken und auf der gelben Chinesenstirn die tiefen Furchen des Denkers gewahren. Jener wunderlich trockene Weltweise, dessen Geist seit mehr als zwei Jahrtausenden ein Drittheil der Menschheit beherrscht, war ein Chinese; und des Confucius Lehre sollte man kennen, ehe man über das Mittelreich und seine Bewohner urtheilt. Wenn wir die Größe einer geschichtlichen Persönlichkeit nach der Mächtigkeit, dem räumlichen und zeitlichen Umfange ihres Wirkens und Nachwirkens bemessen, so ist Confucius unter den großen Männern aller Zeiten einer der größten. Ich finde aber, daß er noch vielfach arg verkannt wird. Man will ihn immer und immer wieder in die Reihe der Religionsstifter stellen: kein Wunder, daß er dabei zu kurz kommt. Er war gewiß nicht irreligiös, wie er etwa dem oberflächlichen Betrachter erscheinen könnte; er glaubte an die Heiligkeit der menschlichen Pflichten und an die Gerechtigkeit der himmlischen Vorsehung, welche straft und belohnt nach Verdienst. Aber es fehlte seinem Geiste die Anlage und Neigung zur Mystik - er kannte, wenn ich den modernen Ausdruck anwenden darf, nur „Gott in der Geschichte“. Sein Sinn war überwiegend praktisch, darum historisch. „Ich schaffe nichts Neues“, so sagte er von sich, „ich überliefere; ich glaube an die Alten und liebe sie.“ Allein er überlieferte nur das Bewährte; er kannte, wie nicht leicht ein zweiter, sein Volk und erkannte, was ihm in alle Ewigkeit frommen würde. Hierin erblicke ich seine Größe: es ist die Größe des Staatsmannes und des praktischen Philosophen. Es ist bekannt, daß kein Reich der Erde besser als das chinesische für Vollständigkeit und Zuverlässigkeit seiner Geschichtschreibung gesorgt hat. Seit dem frühesten Alterthum besoldeten die Regierungen gelehrte Staatsmänner, deren Aufgabe es war und noch ist, jedes denkwürdigere Ereigniß selbständig zu verzeichnen. Die von ihnen aufgenommenen Urkunden wurden in einem geheimen, dem Fürsten und seinem Cabinet selbst unzugänglichen Archiv aufbewahrt und erst nach dem Untergange der Dynastie ans Licht gezogen und verarbeitet. So entstand jenes vielhundertbändige Werk der chinesischen Reichsannalen, der Z eugen einer viertausendjährigen Geschichte. Einzelwerke über Geschichte und Landeskunde der Provinzen und der Regierungsbezirke, deren eins allein 160 starke Hefte füllt, ebenso gewaltige biographische und literaturhistorische Werke schließen sich ihnen ergänzend an. Und was man uns auch von dem stagnirenden Stillstand des Chinesenthums erzählen möge: das Reich und sein Volk hat eine Geschichte, in welcher sich Ideen entwickelt, Staatsformen, gesellschaftliche Sitten und Z ustände umgestaltet, neue Erfindungen und Einrichtungen Bahn gebrochen haben - langsamer vielleicht als bei uns, doch kaum weniger mächtig. Da erfahren wir von einem allmählichen Erstarken der feudalistischen Einzelstaaten, von einem jahrhundertelangen Kriegs- und Fehdezustande, landverwüstend und sittenverwildernd wie unser Dreißigjähriger Krieg; dann von der Errettung der Gesellschaft durch das reformatorische Wirken des Confucius und seiner Schule; dann wieder von Gabelentz_s001-344AK6.indd 21 12.07.13 16: 22 <?page no="24"?> 22 dem radicalen Regierungssystem des Kaisers Schi-hoangti, oder von jenem ephemeren socialistischen Staat zur Zeit der Sung-Dynastie, und von so und so vielen andern staatsmännischen Experimenten, für welche die Analogien in unserer Geschichte nicht immer weit her zu suchen sind. Man wirft den Chinesen Mangel an kriegerischem Heldenmuth vor: nicht mit Unrecht, so scheint es; denn ihre militärischen Leistungen gegen europäische Waffen waren bisher kläglich genug. Allein ich könnte aus den Annalen einer einzigen Dynastie zwei Feldherren nennen, welche mit ihren Heeren dasselbe geleistet haben, was des Leonidas und seiner Spartaner unsterblichen Ruhm begründet hat. Und Folgendes ist sozusagen das Formular zu einer ganzen Menge Episoden der chinesischen Geschichte: der Kaiser gibt im Staatsrathe eine Absicht kund, ein Minister widerspricht; der Kaiser schenkt seinen Gegengründen kein Gehör, und - so drücken sich die Historiker aus - „der Minister stirbt“. Brauche ich nun noch zu sagen, welche Aufklärungen wir von dieser Seite für die Geographie und Geschichte Ostasiens und für die Entstehung der Völkerwanderungen zu erhoffen haben? Wir kennen die beharrliche Ausdehnungskraft des Chinesenvolkes und dürfen ahnen, wie sein stetiges Vordringen gen Norden und Westen sich bei seinen nomadischen Nachbarn in ein verheerendes Vorwärtsstürmen umsetzen mochte. Seit dem 10. Jahrhundert unserer Z eitrechnung wird in China die Buchdruckerei allgemein geübt. Das Volk ist seitdem eins der lese- und schreiblustigsten der Welt geworden; das Streben nach Bildung ist hier verbreiteter als in manchen Ländern unsers Erdtheiles; Gelehrsamkeit allein berechtigt zu Rang und Macht; und ich erfahre, daß jene Aermsten des Volkes, welche in Californien ihr Glück suchen, ihre Schulmeister und Buchhändler mit sich in die neue Heimat geführt haben. Alle Klassen, aber auch alle Provinzen und Stämme der Nation haben an der schriftstellerischen Arbeit ihren Antheil, und dem uniformirenden Einflusse von oben wirkt von unten eine gesunde decentralisirende Macht entgegen. Erleuchtete Kaiser lassen Prachtausgaben der vorzüglichsten Werke drucken: eine derselben in 10000 Bänden hat unlängst die englische Regierung erworben. Reiche Private setzen eine Ehre darein, auf ihre Unkosten neue Auflagen ihrer Lieblingsbücher zu veranstalten und um ein Spottgeld zu verbreiten. Jetzt frage ich: klingt das alles nach Indolenz, nach geistiger Versumpfung? Von den Leistungen der Chinesen für die Kunde ihrer Sprache, von ihren zweihundertbändigen Wörterbüchern, ihren unermeßlichen philologisch-kritischen Arbeiten will ich meine Leser nicht unterhalten. Wozu auch die Z iffern, die doch das Beste verschweigen? Lieber möchte ich ihnen einen Blick in jenes heitere Gebiet der üppig wuchernden neuern Belletristik eröffnen. Sie ist der treueste Spiegel des heutigen Volkslebens, bunt, vielgestaltig, ab und zu auch unsauber wie dieses, hier pedantisch und superfein, dort in genialer Ausgelassenheit über den Strang schlagend. Tollen, oft glänzenden Humor und dann wieder tiefempfundene, echte Poesie, märchenhafte Phantastereien und wiederum den vollkommensten Realismus voll feinster psychologischer Wahrheit - alles dies besitzt der Chinese in jenen leichtesten seiner Geisteserzeugnisse. Welchen Gewinn die Kunde des Buddhismus von den chinesisch-japanischen Quellen zu erwarten habe, ist heute noch nicht zu ermessen. Die Reisebeschreibungen kühner Mönche, welche uns Stanislas Julien zugänglich gemacht, haben in den Kreisen der Indianisten gebührende Beachtung gefunden; eine unlängst nach England gelangte Uebersetzung des „Tripit a ka“ in reichlich 2000 Heften wartet noch der Ausbeutung. Der Fremdherrschaft der Mandschu in China ist unsere Sinologie in mehr als einer Beziehung Dank schuldig. Nicht am mindesten wegen der Mandschuliteratur. Diese ist nicht sehr bändereich und nur zum allerkleinsten Theile heimisches Geistesgut. Aber ihre Uebersetzungen so vieler der wichtigsten chinesischen Werke in eine leicht erlernbare Sprache mit bequemer Buchstabenschrift müssen als nahezu authentische gelten und sind, wo sie vorhanden, uns noch heute ein unschätzbares Hülfsmittel. Kein europäischer Sinolog darf die Mandschusprache vernachlässigen. Die Geistesarbeit des japanischen Schriftstellerthums können wir eher nach ihrem Inhalt und Werth beurtheilen. Eins erkennt man schon heute: das merkwürdige Inselvolk, so begeistert und erfolgreich es die Bildung des Mittelreiches in sich eingeschlürft, ist in vielen Dingen auf ganz eigenen Wegen gewandelt. Die Sinnesart beider Nationen war zu verschieden, die der Japaner bereits zu sehr entwickelt und gefestigt, als das Chinesenthum eindrang; man nahm dieses in sich auf, statt selbst darin aufzugehen. Eine merkwürdige Mythologie, einmündend in die eigentliche Geschichte des Landes, dann diese selbst bilden den Inhalt der ältesten sehr ansehnlichen Schriftwerke. Bald auch zeichnete man jene ansprechenden kurzen lyrischen Gedichte auf, in welchen das ritterlich leidenschaftliche Volk seine Stimmungen zu Gabelentz_s001-344AK6.indd 22 12.07.13 16: 22 <?page no="25"?> 23 äußern liebt. Das Leben selbst bot der Romantik genug; es galt nur, wie unser Dichter sagt, frisch hineinzugreifen, um Stoff zu Romanen und Epopöen zu schöpfen. So entstanden jene zahllosen halbgeschichtlichen Werke, welche uns abwechselnd mit Entzücken und mit schauderndem Entsetzen erfüllen, jene ergreifenden „Monogatari“ und die kurzen volksthümlichen Erzählungen, deren einige unlängst der europäischen Lesewelt bekannt geworden sind. Werke der reinen Erfindung schlossen sich ihnen an, darunter, nach den mir vorgelegenen Proben zu urtheilen, wahre Kunstwerke. Massenhafte beschreibende und belehrende Bücher, meist mit flüchtigen, doch deutlichen Zeichnungen ausgestattet, führen uns in die Landschaften des herrlichen Archipels, in seine Fauna und Flora oder in die gewerbliche und landwirthschaftliche Thätigkeit seiner Bewohner ein. Die Werke der chinesischen Weisen und die Schriften der Buddhisten haben in Japan begeisterte Aufnahme gefunden. Für die gebildete Jugend dieses Landes waren zeither die Classiker des Mittelreiches genau dasselbe, was die römischen und griechischen für unsere Gymnasiasten sind. Ja sie waren noch mehr, und wir werden an das Zeitalter unsers Humanismus erinnert, wenn wir erfahren, dass der Altjapaner sein Lebtag für um so gebildeter galt, je vertrauter er mit jener fremden Literatur, je gewandter er im chinesischen Stil war. Ein solches Abhängigkeitsverhältniß mußte für die heimische Wissenschaft geradezu verhängnißvoll werden. Man hat, soviel mir bekannt, noch nichts von einem selbständigen japanischen Philosophen gehört: kein Wunder wäre es, wenn es nie einen gegeben hätte. Um so anziehender ist die Art, wie die Japaner ihren Landsleuten die ausländischen Geistesfrüchte mundgerecht machen. Unter jenen volksthümlichen Predigern, welche seit einer Reihe von Jahren das Land durchwandern und vor Arbeitern, Frauen und Kindern die schönsten Sprüche aus den drei landesgültigen Lehren auslegen, trifft man wahre Meister künstlerischer Erfindung und Gestaltung an. Die philologische Kritik der alten Schriftsteller blüht in Japan kaum weniger als im Mittelreiche, und viel ist für die Erforschung der eigenen Sprache geschehen. Diese hat sich rascher entwickelt und verändert als vielleicht irgendeine der übrigen Cultursprachen unserer Erde. Die schriftlichen Aufzeichnungen ihrer ältesten Denkmäler sind derart, daß sich nur auf dem Wege der scharfsinnigsten Reconstructionen zu ihrem wissenschaftlichen Verständnisse gelangen läßt, und was die Japaner in dieser Richtung geleistet haben, verdient trotz mancher Ungeheuerlichkeiten alles Lob. Von ihren zahlreichen, zum Theil auch sehr bändereichen Wörterbüchern, deren Vorzüge auch der europäische Forscher bald anerkennen lernt, will ich hier nicht weiter reden. Wenig bekannt aber ist der Umfang und die Bedeutung ihrer grammatischen Werke. Indische Bücher, von den Buddhisten eingeführt, mögen ihnen die erste Anregung hierzu gegeben haben; allein ihr Einfluß dürfte kaum über das gebührende Maß hinausgereicht haben. Sehen wir, wie gewaltsam man noch zuweilen bei uns den heterogensten Sprachen die Glieder verrenkt, um sie in die allbeliebte Uniform der lateinischen Sprachen hineinzuzwängen, so werden wir den japanischen Sprachforschern Gerechtigkeit widerfahren lassen und ihnen um der Genialität ihrer grammatischen Auffassung und um ihres Sammlerfleißes willen so manche Possirlichkeit verzeihen. Jetzt eben ringt auch auf diesem Felde eine europäisirende Schule mit der bodenwüchsigen um die Palme, und unlängst brachte mir dieselbe Post aus Japan zwei Elementar-Sprachlehren der beiden Parteien. Wie reizvoll, einem solchen Kampfe beizuwohnen! So ist den ostasiatischen Studien ein unabsehbar weites Feld eröffnet. Ihre Aufgabe ist zunächst eine philologische im weitesten Sinne des Wortes. Aber eine zweite, nicht minder wichtige reiht sich ihr an: ich meine die linguistische, die Erweiterung und Vertiefung unserer Kenntniß vom Wesen der menschlichen Sprache. Es könnte sein, daß ich insofern mir und meiner Sache erst recht eine Verantwortung schuldig wäre, und indem ich eine Vertheidigung unternehme, könnte es scheinen, als erhöbe ich eine Anklage. In der That liegt mir nichts ferner als dies. Ich muß von Gemeinplätzen ausgehen, um diesen garstigen Schein zu vermeiden. Die Linguistik begreift die wissenschaftliche Erkenntniß der menschlichen Sprachen. Soll diese Erkenntniß eine vollständige sein, so muß sie ihren Gegenstand nach allen Richtungen hin durchdringen. Jede Sprache ist zunächst ein Daseiendes und auf jeder Stufe, in jedem Augenblicke seines Daseins ein in sich Vollkommenes. Man hat von einem Organismus der Sprache geredet und diesen Ausdruck dann wieder verworfen, weil er als eigenlebiges Wesen bezeichnet, was nur eine Function ist. Was aber nicht zur Definition taugt, kann darum doch als Gleichniß dienen; und in der That wüßte ich nichts, was Gabelentz_s001-344AK6.indd 23 12.07.13 16: 22 <?page no="26"?> 24 Entwickelung und Beschaffenheit der Sprache besser verbildlichen könnte als eben der Organismus. Hier wie dort sind alle Glieder einander und dem Ganzen nothwendig, und jede Redeäußerung ist zugleich eine Aeußerung der ganzen im Redenden vorhandenen Sprache. Man muß die Erscheinungen der jetzigen Sprachperiode mit den gleichartigen früherer Entwickelungsstufen vergleichen, wenn man die äußere Sprachgeschichte erforschen will. Man muß aber alle Erscheinungen einer und derselben Phase untereinander in Beziehung setzen, wenn man die bewegenden Ursachen der Sprachentwickelung begreifen will. Es ist von hoher Bedeutung für unsere Wissenschaft, daß gerade die Indogermanistik zur Zeit den so genannten falschen Analogien vorzugsweise Beachtung schenkt. Die Kluft, welche noch vor wenigen Jahren zwischen ihr und den übrigen Fächern der allgemeinen Sprachwissenschaft zu gähnen schien, ist überbrückt, seit sie ihrerseits mit jener Fülle wohlerhaltenen Beobachtungsmaterials, über welches sie gebietet, den psychologischen Kräften in der Sprachenbildung nachforscht. Daß diese Kluft entstanden war, daß ihre Erweiterung der gemeinschaftlichen Sache Gefahr drohte, wer will das leugnen? Die sprachgenealogischen Forschungen seit Bopp, durch eine Menge der bedeutendsten Kräfte gefördert, eilten allen übrigen Bestrebungen auf linguistischem Gebiete um ein Weites voraus. Bei den Indogermanisten müssen wir lernen, ihre Methode, ihre Kritik müssen wir uns aneignen, wenn wir je für die Erkenntnis anderer Sprachenfamilien Aehnliches leisten wollen, wie sie für die ihrige gethan. Dies dürfen wir nicht vergessen, und insoweit, aber auch nur insoweit müssen wir die Ueberlegenheit jener anerkennen. Wenn unserer weniger sind, wenn wir mit bescheidenern Mitteln arbeiten müssen: so ist dafür unsere Arbeit um so schwieriger, unser Feld um so größer, aber auch unsere Ernte um so mannichfaltiger. Es ist nun aber für denjenigen, welcher auf entlegenern Sprachgebieten genealogische Vergleichungen unternehmen will, nicht leicht, sich mit der Indogermanistik auseinanderzusetzen. Die sich immer steigernde Sicherheit ihrer Methode wird auch ihm als Ideal vorschweben. Will er sich aber vorzeitig an sie binden, so kann sie ihm zur hemmenden Fessel, wo nicht zum Fallstrick werden. Die Gesetze, welche die Laut- und Formenentwickelungen bedingen, sind ihrerseits wiederum bedingt von so und so vielen geschichtlichen, ethnologischen, psychologischen, vielleicht physiologischen Voraussetzungen. Die Sprachen unsers Stammes mögen, gut gerechnet, etwa ein Zwanzigtheil aller Sprachen der Erde bilden. Wer mag nun die Kräfte alle benennen und bemessen, welche bei ihren Spaltungen und Wandlungen mitgewirkt haben; wer wollte behaupten, daß bei den übrigen Sprachfamilien nicht noch ganz andere Kräfte hier treibend, dort hemmend gewaltet hätten? Um von den Lauten zu reden: muß denn das Artikulationsvermögen überall und zu allen Z eiten genau so stark gewesen sein wie bei uns? Mich wenigstens will bedünken, der Polynesier mit seinen zehn bis zwölf Consonanten sei hierin ärmer, und so manches kaukasische Gebirgsvolk mit der Unmasse seiner Laute und Lautverknüpfungen vielleicht noch reicher als wir. Wenn wir bei uns und so manchen unserer Verwandten die Conjugationsformen schwinden sehen, so können wir dafür anderwärts, z. B. bei den Kalmücken, beobachten, wie Personalendungen am Verbum entstehen. In der That, stellten unsere Sprachen alle Möglichkeiten der sprachlichen Entwickelung dar, so würden sie nicht einem wohlgeordneten Hausrathe gleichen, der bestimmt und geeignet ist den Bedürfnissen seiner Benutzer zu genügen, sondern eher einem riesenhaften Museum, von dessen Stücken man die Mehrzahl lieber betrachten als handhaben möchte. Gerade dieses, die Vielgestaltigkeit der Sprachen, wird uns gelegentlich bestritten, auch von solchen, die ihre Blicke über die heimischen Grenzen haben hinausschweifen lassen. Noch vor wenigen Jahren las ich in dem Buche eines namhaften ausländischen Gelehrten von einer gemeinsamen Grammatik aller agglutinirenden, und einer solchen aller isolirenden Sprachen. Ich kenne in der That zwei Mittel, sich diese gemeinsamen Grammatiken anzueignen: entweder erlerne man aus jeder dieser Klassen nur eine Sprache - oder, was noch einfacher ist - man erlerne lieber gar keine! Die Wahrheit ist, daß in beiden Klassen sich neben sehr armen und rohen Sprachen andere von ungeahntem Reichthum und Feinsinn vorfinden, und daß die so genannte agglutinirende Klasse kaum mehr als ein cache-désordre , eine große wissenschaftliche Rumpelkammer ist, in welcher die grundverschiedensten Sprachformen vorläufig in ähnlicher Ordnung aufbewahrt werden wie etwa die verschiedenen Wiesenpflanzen im Heu. Voreiligkeiten jener Art richten sich selbst. Schwerer ist es, einem andern Einwande zu begegnen. Wozu, fragt man, die Betrachtung dieses ganzen bunten Bildes? Wenn ich eine Anzahl Sprachen aus allen Erdtheilen kenne, was besitze ich mehr als eine Art Raritätencabinet? Wo ist das innere Band? Gabelentz_s001-344AK6.indd 24 12.07.13 16: 22 <?page no="27"?> 25 Wo bleibt die Wissenschaft? - Dabei wird jedenfalls Eins zugegeben: was der Zulu oder der Hottentotte, der Hurone oder der Quechuá, der Malaie oder der Australneger redet, alles ist menschliche Sprache, oder noch genauer, alles sind verschiedene Aeußerungen des menschlichen Sprachvermögens. Und jetzt frage ich meinerseits: ist dies Sprachvermögen Gegenstand der Linguistik oder nicht? Und wenn es das ist, muß es dann nicht durch die Linguistik definirt werden? Wie aber soll man es definiren, solange man nicht den ganzen Umfang seiner Aeußerungen, solange man nicht alle Möglichkeiten der Sprachentwickelung kennt? Die Naturforscher lehren uns täglich, daß die niedern Organismen für die Wissenschaft nicht minder belangreich sind als die höhern; unsere Etymologen suchen in der höhern Sprachform die niedere als ausgehobenes Moment zu entdecken, und wer Darwin’s Lehre auf die Sprachwissenschaft anwenden will, der muß folgerichtig annehmen, daß auch unsere Sprachen vor Jahrtausenden nicht reicher und feiner gewesen seien als jene der rohesten uns bekannten Völkerschaften. Es dürfte viel Phantasie dazu gehören, sich ohne lebende Vorbilder einen derartigen Urzustand zu vergegenwärtigen, und unsere Sprachanatomen haben manche Anregung zu hoffen von jenen Aermsten und Schwächsten der Sprachenwelt. Und muß denn eine Sprache todt sein, damit sie unser Interesse verdiene? Oder muß ihre Vorgeschichte zugänglich sein, damit ihre Erforschung uns lohne? Heutzutage veranschlagt man das Alter des Menschengeschlechts so hoch, und weiß man von der verschiedenen Lebensgeschwindigkeit der Sprachen so viel, daß man wol zweifeln darf, ob das, was vor 4000 Jahren aus unserer Vorfahren Mund erklungen, den ältesten Formen menschlicher Rede ähnlicher gewesen als die eine oder andere der jetztlebenden Sprachen oder etwa das Gelalle unserer Kinder. Es ist dies ein nebensächlicher Gesichtspunkt; denn man erforscht nicht die eine Sprachform, um diese oder jene andere besser zu begreifen, sondern um ein reicheres, volleres, wahreres Bild von der Mannichfaltigkeit der Sprachorganismen zu gewinnen. Es leuchtet ein, daß zu diesem Zwecke nicht ein oberflächliches Nippen an dieser oder jener Grammatik genügt. Nur wenn eine Sprache zu einem Theil unsers Ich geworden ist, können wir über sie, über ihre Vorzüge und Schwächen urtheilen. In einem sehr beliebten und verbreiteten Buche können wir freilich das Gegentheil lesen: ein Selbstlob der Leichtfertigkeit, das seinesgleichen sucht! Daß Völkerkunde und Linguistik eine ebenso sorgfältige Untersuchung aller Sprachfamilien erheischen, wie sie dermalen für den indoeuropäischen Stamm geführt wird, möchte keines Beweises bedürfen. Namhaftes ist in dieser Richtung bereits geleistet, viel mehr aber noch zu thun. Daß wir uns meist ohne alte Sprachen behelfen müssen, muß uns zu doppelter Vorsicht, zu einem ganz behutsamen Fortschreiten vom Nächsten zum Entferntern veranlassen. Der Erfolg kann bei sorgsam methodischem Vorgehen nicht ausbleiben; der Gewinn aber wird ein doppelter sein. Z unächst eine Vervollständigung und Berichtigung unserer Kenntniß von der Abgrenzung der Sprachstämme nach außen und von ihrer Gliederung nach innen. Dann aber auch, oder ich müßte mich sehr täuschen, eine Bereicherung der Sprachphilosophie selbst. Der indogermanische Sprachstamm scheint nämlich nur einen Theil der möglichen Verwandtschaftsverhältnisse und Entwickelungsrichtungen darzustellen. Man hat, ich weiß nicht mit wie vielem Rechte, seine uns bekannte Entwickelung eine absteigende genannt, und man pflegt noch heute zu bestreiten, daß er wirkliche Mischsprachen enthalte. Sicher ist, daß sich in vielen andern Sprachenfamilien ein lebendigeres Bewußtsein vom Werthe der Bildungselemente bekundet als in der unsern. Und eben jetzt arbeite ich in Fortsetzung der von meinem verewigten Vater eröffneten melanesischen Forschungen an einer Sprachengruppe, in welcher mit den uns geläufigen Verwandtschaftsbegriffen schlechterdings nicht auszukommen ist. Müssen wir hier oder sonstwo echte Mischlinge anerkennen, so ergibt sich von selbst die Folgerung, daß zwei Sprachen mit einer dritten verwandt sein können, ohne es untereinander zu sein: sprachliche Verschwägerungen, wenn der Ausdruck erlaubt ist. Jene armen Contactsprachen, welche noch heute, fast unter unsern Augen entstehen, das Creolische, Pitchen-Englisch und so viele andere, gewinnen ein hohes Interesse, wenn man zu enträthseln versucht, warum in ihnen gerade diese Elemente der einen, jene der andern Sprache entlehnt sind. Es gilt hier Gesetze zu entdecken, welche der Linguistik mit nicht minderm Rechte angehören als etwa die der Lautverschiebungen. Die Z eit der allgemeinen oder philosophischen Sprachlehren im Becker’schen Sinne ist vorüber. Was aber unsere Vorfahren speculativ aus ihrem eigenen Denken heraus schaffen wollten, das müssen wir und unsere Nachfolger durch inductive Arbeit zu erringen suchen. Das Problem der allgemeinen Grammatik bleibt; Arbeiten, wie wir sie über Gabelentz_s001-344AK6.indd 25 12.07.13 16: 22 <?page no="28"?> 26 den Dualis, die Zählmethoden, das Relativpronomen, das Passivum u. s. w. besitzen, sind Beiträge zu seiner Lösung. Wie wenig hierbei auf apriorischem Wege zu erreichen ist, dafür nur einige Beispiele. Die Sprache der Insulaner von Errub und Maer (Meir) kennt nur die Grundzahlen eins und zwei und kann nur bis fünf zählen, wofür zwei-zweieins gesagt wird. Die Chikitos in Südamerika besitzen überhaupt gar keine Zahlen, nicht einmal die Zwei. Dafür besitzen andere melanesische Sprachen neben dem Singular, Dual und Plural noch einen Trialis. Die Sprachen der philippinischen und einiger anderer malaiischer Völker vermögen mit ihrem dreifachen Passivum nicht nur das Object, sondern auch den Ort und das Werkzeug der Handlung zum Subject des Satzes zu erheben. Die schwarzen Bewohner von Annatom, einer Insel der neuen Hebriden, conjugiren nicht das Verbum, sondern das Pronomen. Und wessen Phantasie möchte jene Ungeheuer von Conjugationssystemen für möglich halten, welche uns die polysynthetischincorporirenden Sprachen amerikanischer Indianervölker oder in unserm Erdtheile das Baskische aufweisen? Um nur ein Beispiel anzuführen: Die Tscheroki, jenes interessante Indianervolk, welches sich zur Annahme europäischer Cultur so willig und befähigt gezeigt, drücken den Gedanken: „Ich gehe, um wiederholt hier und da damit zu binden“, in Einem Worte aus: galöstisanidolega! - Um die menschliche Sprache in dem ganzen Reichthum ihrer möglichen Gestaltungen zu begreifen, müssen wir die lautlichen, morphologischen und syntaktischen Mittel aller Sprachen und das Verhalten einer jeden einzelnen gegenüber den logischen und psychologischen Erfordernissen überschauen. Offenbar ist dies seinerseits erst dann vollkommen zu erreichen, wenn alle oder doch alle in typischer Hinsicht wichtigern Sprachen in erschöpfender Weise grammatikalisch erforscht sein werden. Und die Aufgabe der Einzelsprachlehre kann man nicht hoch genug stellen. Die Geschichte unserer eigenen Philologie mag dies bezeugen; man braucht nur an die jahrhundertelange Reihe von Vorarbeiten zu denken, deren es bedurfte, ehe die lateinische Grammatik ihre heutige Verfassung erhielt. Jede Form des Sprachbaues verlangt eine besondere, ihr allein zukommende Form der Darstellung. Diese zu finden, setzt nicht nur wahres Eingelebtsein in das Idiom voraus, sondern auch, und vielleicht vornehmlich, einen sichern und klaren sprachphilosophischen Verstand. Wo dem Verfasser das eine oder das andere mangelt, da eile man rasch über seine Arbeit hinweg und tummele sich um so unbefangener in der lebendigen Sprache, in der Lektüre von Texten und, wenn es sein kann, im Gespräch. Jede Aneignung einer fremdgeistigen Sprache ist zugleich eine That der Befreiung von so vielen Vorurtheilen, welche uns von den früher erlernten Idiomen her anhaften; man findet Sprachfactoren, die uns nutzlos erscheinen, vermißt andere, welche wir für unentbehrlich hielten. Warum das? Weil man von Haus aus gewöhnt ist, die Theile früher zu betrachten als das Ganze, die Wörter und ihre Formen früher als den Satz. Solange man eine Sprache nur so kennt, wie sie zerstückelt auf dem Secirtische vorliegt, ahnt man nimmermehr, was sie vermag; da fällt man Urtheile, wie wir sie oft genug lesen können, Urtheile, die um kein Gran verständiger sind als jenes: der Fisch hat keine Lunge, folglich kann er nicht athmen! Solange wir unsere Studien auf die uns geistig und leiblich verwandten Sprachenkreise beschränken, liegt die Gefahr nahe, daß wir die Bedeutung des syntaktischen Moments unterschätzen. Allein schon der erste ernstliche Schritt über diese Schranke hinaus wird zu der Erkenntniß führen, wie viel wir bis dahin besessen und unbewußt verwerthet hatten, was nun plötzlich seinen Dienst versagt. Unsere Sanskritgrammatiken dürften nicht da aufhören, wo die Syntax anfangen sollte, wenn nicht die Grundgesetze des altindischen Satzbaues die nämlichen wären wie die der übrigen zur Familie gehörenden Sprachen. Ich glaube, es ist Z eit, daß auch wir Deutschen uns jener minder gepflegten Gebiete der Sprachwissenschaft annehmen. Auch sie bedürfen der Pflege, das wird niemand bestreiten, und ich glaube, sie dürfen diese Pflege erwarten an einer Hochschule ersten Ranges, deren Aufgabe und Ruhm es ist, recht eigentlich eine universitas literarum zu sein. Vielleicht bedurfte es nicht einmal dieser Worte pro domo; liegt doch die Sprachwissenschaft in der von mir gewünschten Ausdehnung keinem andern Lehrfache näher als demjenigen, welches selbst die entlegensten Sprachgebiete zum Gegenstande hat. Man kann wol Chinesisch rein praktisch und empirisch erlernen wie jede andere Sprache; wissenschaftlich studiren, begreifen kann man es aber nicht ohne scharfes sprachphilosophisches Nachdenken. Man hat diese Sprache eine formlose genannt, weil sie eine isolirende, der Flexions- und Agglutinationsmittel entbehrende ist; und wieder hat man sie eine Formsprache genannt, weil sie die grammatischen Beziehungen rein und fein wie kaum eine zweite zum Ausdruck zu bringen vermag. Beides ist wahr, so unvereinbar es scheinen mag. Das Chinesische Gabelentz_s001-344AK6.indd 26 12.07.13 16: 22 <?page no="29"?> 27 besitzt nur zwei grammatische Factoren: feste und klare Gesetze der Wortstellung und verdeutlichende Hülfswörter. Es würde zu weit führen, wenn ich auch nur andeutungsweise erklären wollte, wie kunstvoll und doch natürlich diese beiden ineinanderwirken. Genug, die Sprache, wie sie ist, hat sich bewährt als Trägerin einer der bedeutendsten Literaturen, jeder logischen Abstraction gewachsen, fähig eines reichen Periodenbaues und wieder einer wuchtigen Kürze und einer rhetorischen Kraft und Innigkeit, wie sie so vereint sich kaum in einer andern Sprache finden dürften. Die Grammatik stellt an das Gedächtniß des Lernenden sehr bescheidene, an sein logisches Denken sehr hohe Anforderungen. Mit dem Hersagen von Paradigmen und dem Aufzählen von Unregelmäßigkeiten bleibt er verschont. Dafür muß er seinen Geist einer ihm gänzlich neuen Denkweise anbequemen; er muß diese in ihrer ganzen Folgerichtigkeit nicht nur begreifen, sondern geradezu erleben, und ich wüßte nicht, wo ihm die Bedeutung der Syntax deutlicher zu Tage treten sollte als hier, wo nicht nur die Beziehungen der Wörter untereinander, sondern auch ihre Functionen als Redetheile, als Substantiva, Adjectiva, Verba u. s. w. sich lediglich aus dem Satznexus ergeben. Die Anregung mag eine einseitige sein, aber sie ist eine mächtige; wer sie mit wissenschaftlich empfänglichem Sinne empfunden hat, dem wird von selbst nach andern ähnlichen verlangen. Und kein Verlangen ist gegründeter; denn mit jeder neuen Sprache, die wir erlernen, erschließt sich in uns eine neue Gedankenwelt. Gabelentz_s001-344AK6.indd 27 12.07.13 16: 22 <?page no="30"?> 28 Georg v. d. Gabelentz ca. 1882 Foto: in der Originalbiographie von C. v. Münchhausen Gabelentz_s001-344AK6.indd 28 12.07.13 16: 22 <?page no="31"?> 29 Wilhelm Grube (1855-1908) Hans Georg Conon von der Gabelentz * schung in anerkennender Weise erwähnt worden sei. So unterließ er es denn nicht, sich neben seinen juristischen Fachstudien auch eifrig unter Herm. Brockhaus’ Leitung mit dem Sanskrit zu beschäftigen. Den mächtigsten und nachhaltigsten Einfluß auf seine linguistische Ausbildung hat jedoch unstreitig sein Vater ausgeübt. Wie viel er dessen Anregung und methodischer Leitung verdankte, hat er selbst dankbar bekannt in seinem pietätvollen Aufsatze: „Conon von der Gabelentz als Sprachforscher“ (Ber. d. philol.-hist. Classe der Kgl. Sächs. Ges. d. Wiss., Sitzung am 11. Dec. 1886). Er erzählt darin, wie er als achtjähriger Knabe Englisch zu lernen begann und dabei die Wahrnehmung machte, daß im Englischen immer th für deutsches d zu stehen schien. Diese für einen Knaben von acht Jahren erstaunliche Beobachtung, die bereits an der Klaue den Löwen erkennen ließ, gab dem Vater Veranlassung, ihn in einer für das kindliche Verständniß geeigneten Form in die Geheimnisse der Lautverschiebung einzuführen. „Zwölf oder dreizehn Jahre alt mochte ich sein“, fährt er dann fort, „als er mir erlaubte Eichhoff ’s Vergleichung der Sprachen von Europa und Indien zu lesen, ein Buch, das ich halbwegs verstehen und namentlich recht genießen konnte. Etwa ein Jahr später gab er mir Bopp’s Vergleichende Grammatik in die Hand, und ich habe wol den größten Theil davon mit Wonne gelesen. Eine eigentliche Anleitung zum Verständnisse gab er mir nicht, eher dann und wann auf Befragen einzelne Erläuterungen. Ueberhaupt ließ er mir immer die Initiative, ging nur mehr oder weniger auf meine Wünsche und Interessen ein und gab ihnen höchstens die Richtung, die ihm dienlich schien. So mochte er es gern, wenn wir Geschwister einander und ihm selbst spielweise Dechiffriraufgaben stellten, und als ich eine Sprache nach seiner Methode aus Texten zu erlernen wünschte, gab er mir die Genesis in Grebo und einige Anleitung zur Anlage von Collecta- * Wilhelm Grube war ein Schüler Georg v. d. Gabelentz’ an der Universität Leipzig und dessen Nachfolger an der Berliner Universität. Näheres vgl. Leutner, M. (1987): 35 ff., hier: 293 f. Erstveröffentlichung des vorliegenden Textes in: Allgemeine Deutsche Biographie 50 (1905): 548-555. - Hrsg. Gabelentz: Hans Georg Conon von der G., Sprachforscher und Sinolog, wurde am 16. März 1840 als zweiter Sohn des nachmaligen herzoglich sächsischen Wirkl. Geheimen Raths Hans Conon v. d. G. zu Poschwitz im Herzogthum Sachsen-Altenburg geboren. Bis zu seinem 16. Lebensjahre im elterlichen Hause erzogen, besuchte er von 1855 bis 1859 das herzogliche Gymnasium zu Altenburg, nach dessen Absolvirung er von 1859 bis 1863 zuerst in Jena, darauf in Leipzig vornehmlich rechts- und staatswissenschaftlichen Studien oblag. Im J. 1864 trat er in den königlich sächsischen Staatsdienst, in welchem er bis zum Jahre 1878 nacheinander als Accessist, Hülfsreferendar, Referendar, Auditor und Assessor in Dresden, Leisnig, Leipzig, Chemnitz und wieder in Dresden thätig gewesen ist. Dazwischen ist er von 1871-1872 commissarisch in der reichsländischen Verwaltung zu Straßburg und Mülhausen i. E. verwendet worden. So sehr ihn jedoch sowol das juristische Studium wie auch später der dienstliche Wirkungskreis nach seinen eigenen Worten interessirte: seine innersten Neigungen gehörten dennoch einem anderen Gebiete an. Schon frühzeitig begann in ihm als väterliches Erbtheil eine ungewöhnliche Begabung und leidenschaftliche Begeisterung für das Sprachstudium hervorzutreten, und was er als Knabe versprach, hat er als Mann gehalten. Gern und nicht ohne berechtigten Stolz pflegte er zu erzählen, daß eine kleine Arbeit über die Verwandtschaft des Chinesischen und Siamesischen, die er als Gymnasiast verfaßt hatte, von August Schleicher in dessen Colleg über vergleichende Sprachfor- Gabelentz_s001-344AK6.indd 29 12.07.13 16: 22 <?page no="32"?> 30 neen, - das Weitere überließ er mir. Später, etwa in meinem sechszehnten Jahre, ließ er mich zur Uebung und Unterhaltung einige Seiten neuseeländische Texte mit Uebersetzung lesen und danach einen Abriß der Grammatik verfassen. Da ich Chinesisch zu lernen wünschte, schenkte er mir zu meinem sechszehnten Geburtstage Rémusat’s Élémens. Als ich diese durchgearbeitet hatte, gab er mir St. Julien’s Ausgabe und Uebersetzung des Meng-tsï zur Lectüre, fast gleichzeitig aber auch dessen Exercices pratiques“. Ich habe diesen Passus wörtlich angeführt, weil er für den Sohn nicht minder charakteristisch ist als für den Vater. Erst wenn man die Entstehung und den Entwicklungsgang seiner linguistischen Studien kennt, wird man Georg v. d. G. in seiner Eigenart als Forscher wie als wissenschaftliche Persönlichkeit richtig beurtheilen können: sowohl seine Vorzüge wie auch seine Mängel finden hier ihre Erklärung. Obwol er also gewissermaßen in der Schule seines Vaters aufwuchs, hat ihn dennoch dieser selbst, indem er ihm „immer die Initiative ließ“, vor der Gefahr geistiger Abhängigkeit zu schützen gewußt. So wird es begreiflich, wie Beide trotz der Gleichartigkeit von Talent und Neigung nichtsdestoweniger in der Art wie jeder von ihnen seine Aufgabe erfaßt und durchführt, die auffallendste Verschiedenheit zeigen. Beide sind in gleicher Weise bestrebt, einen möglichst allumfassenden Einblick in die verschiedensten Typen des Sprachbaues zu gewinnen, wobei sie in der Regel den mühsamen, aber sicheren Weg eigener Beobachtung einschlagen und den zu erforschenden Sprachen lieber durch das unmittelbare Studium von Texten als durch die Vermittlung von Grammatiken, sofern solche vorhanden waren, zu Leibe gehen. Aber wenn der Vater sich zufrieden gab, sobald es ihm gelungen war, die auf inductivem Wege gefundenen Sprachformen in die Rubriken der landläufigen grammatischen Kategorien einzuordnen, ist der Sohn vor allem darauf bedacht, sich nach Möglichkeit von jedem vorgefaßten Schema frei zu halten, um der Fülle der Erscheinungen gerecht zu werden und sie aus sich heraus zu erklären. Dabei kam ihm freilich neben einer geradezu erstaunlichen Combinationsgabe ein Sprachgefühl von seltener Feinheit zu Hülfe, vermöge dessen er oft im Stande war, gleichsam intuitiv zu errathen, was dann erst durch nachträgliche Analyse als richtig bewiesen werden konnte. Während ferner Hans Conon bei seiner Abneigung gegen philosophische Betrachtungsweise Verallgemeinerungen mit ängstlicher Scheu aus dem Wege ging, fühlt sich Georg gerade zu den Fragen der allgemeinen Grammatik und der Sprachphilosophie unwiderstehlich hingezogen. Gründliche philosophische Bildung, verbunden mit dialektischer Gewandtheit und logischer Prägnanz des Ausdrucks sind Vorzüge, durch welche sich die meisten seiner Arbeiten auszeichnen, - Vorzüge, die er nach seinem eigenen Geständniß in erster Linie der Einwirkung Kuno Fischer’s zu verdanken glaubte, wie denn auch dessen Logik und Geschichte der neueren Philosophie zu seinen Lieblingsbüchern gehörten, in die er sich gern immer wieder vertiefte. - Endlich tritt die individuelle Verschiedenheit Beider mit besonderer Schärfe in ihrer Schreibweise hervor. Hans Conon schreibt sachlich und klar, ohne sich im übrigen um die äußere Form der Darstellung zu kümmern, und so ganz unrecht hatte er wol nicht, wenn er klagte, „daß er die trockene Pedanterie des amtlichen Geschäftsstiles nimmer überwinden könne“; der Sohn hingegen ist jederzeit bemüht, auch den sprödesten Stoff in eine künstlerische Form zu gießen, wobei freilich sein Stil, namentlich in seinen früheren Arbeiten, nicht immer ganz frei von Manierirtheit erscheint. Georg v. d. G. pflegte im Hinblick auf die „Lautschieber“, wie er scherzweise diejenigen unter den Indogermanisten bezeichnete, die sich ausschließlich mit dem Lautwesen der Sprache befaßten, daß ihre Forschung gerade dort aufhörte, wo die Sprache als Ausdruck des Gedankens überhaupt erst interessant zu werden anfinge, und er fügte dann auch wol die boshafte Bemerkung hinzu, daß diese geflissentliche Nichtbeachtung der Syntax sich oft genug an der Schreibweise jener Sprachforscher bitter rächte. So ist es denn gewiß bezeichnend für sein mehr der inneren als der äußeren Form der Sprache zugewandtes Interesse, daß eine seiner frühesten Schriften (er hatte bis dahin nur eine kurze Anzeige einiger Mandschu-Drucke im XIV. Bde. der Zeitschr. d. Deutschen morgenl. Gesellsch ., 1860, und eine Notiz über die Conjugation im Dayak, ebendas. Bd. XVI, 1862, veröffentlicht) den Titel: „Ideen zu einer vergleichenden Syntax“ trägt ( Zeitschr. f. Völkerpsychologie u. Sprachwissensch., hrsg. von Lazarus u. Steinthal, Bd. VI, 1869). Er sucht darin die Lehre von dem psychologischen Subject und Prädicat zu begründen und zugleich den für die Wortstellungsgesetze wichtigen Nachweis zu führen, daß das psychologische Subject als der eigentliche Gegenstand des Gedankens stets die erste, das psychologische Prädicat hingegen, als dasjenige, was der Angeredete über jenen Gegenstand zu denken veranlaßt werden soll, stets die zweite Stelle im Satze einnehme. In einem sechs Jahre später erschienenen Aufsatze: Gabelentz_s001-344AK6.indd 30 12.07.13 16: 22 <?page no="33"?> 31 „Weiteres zur vergleichenden Syntax“ (ebendas. Bd. VIII, 1875) behandelt er dann noch einmal dasselbe Thema, indem er es jedoch auf Grund eines ungleich umfassenderen Sprachenmaterials zugleich erweitert und vertieft. Dieser zuerst von ihm ausgesprochene Gedanke, ursprünglich aus seinen japanischen Studien hervorgegangen, hat sich in der Folge als überaus fruchtbar erwiesen, und er selbst ist später des öfteren auf jene beiden psychologisch-grammatischen Kategorien zurückgekommen, - so besonders in der großen „Chinesischen Grammatik“ und in der „Sprachwissenschaft“. Es liegt auf der Hand, daß die einmal eingeschlagene Richtung ihn geradeswegs auf das Chinesische hinleiten mußte als auf diejenige Sprache, deren Grammatik ausschließlich auf der Wortstellung beruht, also, mit anderen Worten, reine Syntax ist. Im J. 1876 erschien denn auch als erster Versuch auf sinologischem Gebiete seine Promotionsschrift, für die ihm die Leipziger philosophische Facultät die Doctorwürde verlieh; sie trägt den Titel: „Thaikih-thu, des Tscheu-tsï Tafel des Urprinzipes, mit Tschu-hi’s Commentare nach dem Hoh-pih-sing-li, Chinesisch mit mandschuischer und deutscher Uebersetzung, Einleitung und Anmerkungen“ (Dresden). Werthvoll als ein Beitrag zur Kenntniß der damals noch sehr wenig bekannten chinesischen Naturphilosophie aus deren Blüthezeit, ist die Arbeit zugleich lehrreich durch die sorgfältige grammatische Analyse des Textes. Im J. 1878 wurde G. als Extraordinarius an die Universität Leipzig berufen. Damit war sein Lieblingswunsch erfüllt, und er konnte fortan ganz und mit ungetheilter Kraft seiner Wissenschaft leben. Von nun an wendet er sich mit voller Energie dem Studium des Chinesischen und auch der mit diesem verwandten Sprachen zu. Im Herbste desselben Jahres, kurz vor Antritt seiner Professur, hält er auf dem Orientalistencongreß zu Florenz einen Vortrag über die Verwandtschaft der indochinesischen Sprachen („Sur la possibilité de prouver l’existence d’une affinité généalogique entre les langues dites indochinoises“, Atti del IV. Congr. Intern. degli Orientalisti, vol. II, p. 283-295, Firenze 1881), in welchem er bereits auf gewisse lautgeschichtliche Erscheinungen in diesen Sprachen hinweist, die er später in der Einleitung zu seiner chinesischen Grammatik mit größerer Ausführlichkeit behandelt. Schon Stan. Julien hatte auf die Vorliebe der Chinesen für Satzperioden, die sich in Theile von gleicher Gliederzahl zerlegen lassen, und auf die Bedeutung dieser Eigenthümlichkeit für die grammatische Analyse hingewiesen; dasselbe Thema behandelt G. in dem kleinen Aufsatze: „Ein Probestück vom chinesischen Parallelismus“ (Zeitschr. f. Völkerpsychologie u. Sprachwissensch., Bd. X, 1878). Ungleich bedeutsamer ist jedoch sein „Beitrag zur Geschichte der chinesischen Grammatiken und zur Lehre von der grammatischen Behandlung der chinesischen Sprache“ ( Zeitschr. d. deutschen morgenl. Gesellsch., Bd. XXXII, 1878) als der erste methodologische Versuch dieser Art. Nach einer gedrängten kritischen Uebersicht der bis dahin erschienenen chinesischen Grammatiken kommt G. im zweiten Theile des Aufsatzes auf die Aufgaben der grammatischen Behandlung des Chinesischen zu sprechen und begründet darin die Forderung, daß die grammatische Darstellung die Sprache als eine Gesammtheit von Erscheinungen aufzufassen, diese jedoch nach zwei getrennten Gesichtspunkten zu betrachten habe: einmal im Hinblick auf die Mittel, welche die Sprache als Factoren des Gedankenausdrucks besitzt, und dann in Rücksicht auf das Verhältniß dieser Mittel zu den verschiedenen Möglichkeiten der Gedankenverknüpfungen. Der erste Gesichtspunkt leitet uns beim Uebersetzen aus einer fremden Sprache in die eigene, der zweite, wenn wir uns einer fremden Sprache bedienen wollen (vgl. auch den kurzen Vortrag: „On a new Chinese Grammar“ in den Verhandlungen des V. Internat. Orientalisten-Congresses II, II, Berlin 1882). Das hier aufgestellte Programm hat G. bald darauf in seiner „Chinesischen Grammatik mit Ausschluß des niederen Stiles und der heutigen Umgangssprache“ (Leipzig 1881) durchgeführt. Um die wissenschaftliche Bedeutung dieses Werkes nach Verdienst zu würdigen, muß man sich gegenwärtig halten, was bisher auf diesem Gebiete geleistet worden war. An chinesischen Grammatiken war zwar nachgerade kein Mangel, aber keine von ihnen, mit alleiniger Ausnahme von Schott’s bahnbrechender „Chinesischer Sprachlehre“ (1857), bot mehr als eine mehr oder weniger brauchbare Anleitung zum Uebersetzen aus dem Chinesischen. Aber auch Schott’s Buch war doch im Grunde eher eine Abhandlung über chinesische Grammatik als eine solche selbst. Das Lob, welches G. ihm spendet, daß er der chinesischen Grammatik eine Form gegeben habe, welche keine andere Voraussetzung kennt als den Bau der Sprache selbst, gebührt ihm selber in ungleich höherem Maße. Schon durch die Gliederung in ein analytisches und ein synthetisches System, wie sie in diesem Buche, entsprechend der in der soeben erwähnten Abhandlung geforderten Zweitheilung, durchgeführt ist, er- Gabelentz_s001-344AK6.indd 31 12.07.13 16: 22 <?page no="34"?> 32 scheint hier die Sprache in einer völlig neuen Darstellung. Besonders aber ist es die Lehre von den Partikeln, die Alles, was bis dahin in der Behandlung dieses für die chinesische Grammatik so wichtigen Capitels versucht worden war, weit hinter sich zurückläßt. Hier gerade zeigt sich so recht die vollendete Meisterschaft in der psychologischen Analyse, wenn man damit die unbeholfen tastenden Versuche eines St. Julien, des größten Sinologen seiner Zeit, vergleicht, der sich in seiner „Syntaxe nouvelle“ damit begnügt, untereinander verwandte Einzelfälle einfach zu registriren, statt ihren inneren Zusammenhang aufzudecken. Und welcher Reichthum an neuen Gesichtspunkten für die Beurtheilung nicht nur der Lautgeschichte des Chinesischen, sondern auch seiner Stellung im Kreise verwandter Sprachen in dem einleitenden Abschnitt: „Lautgeschichtliche und etymologische Probleme“! Doppelt erstaunlich erscheint jedoch das Buch als wissenschaftliche Leistung, wenn man in Betracht zieht, daß Gabelentz’ Belesenheit in der chinesischen Litteratur sich in verhältnißmäßig recht engen Grenzen bewegte. Gewiß verlangen manche Einzelheiten eine Berichtigung oder Ergänzung, aber als Ganzes genommen liegt hier eine grammatische Darstellung vor, die so leicht nicht überboten werden dürfte, und mit vollem Recht sagt daher Conrady in seinem schönen Nachruf (Beil. zur Allg. Z eitung, 1893, Nr. 303): „In der That ist die ‚Chinesische Grammatik‘ nicht nur grundlegend für die Sinologie: sie reicht auch über den Rahmen der Einzelsprache weit hinaus in das Gebiet der allgemeinen Sprachwissenschaft“. Da indeß die „Chinesische Grammatik“ schon allein durch ihren Umfang, als Einführung in das Studium der Sprache wenig geeignet erschien, ließ G. ihr bald die „Anfangsgründe der chinesischen Grammatik mit Uebungsstücken“ (Leipzig 1883) folgen, die in gedrängter Form eine übersichtliche Zusammenstellung alles dessen enthalten, was für die Lectüre leichterer Texte unerläßlich ist. Das Buch ist jedoch nicht etwa ein bloßer Auszug aus dem größeren Werke, vielmehr bietet es eine von diesem durchaus abweichende, selbständige Behandlung des Gegenstandes. Galt es dort der Sprache als einer Gesammtheit von Erscheinungen zugleich in allen ihren Theilen durch eine erschöpfende wissenschaftliche Darstellung gerecht zu werden, so hatten hier in erster Linie didaktische Erwägungen den Ausschlag zu geben. Zum Unterschied von der großen Grammatik wird in den „Anfangsgründen“ überdies auch die neuere Sprache und der niedere Stil berücksichtigt. Leider hatte sich aber G. damit an ein Gebiet herangewagt, welches er nur sehr ungenügend beherrschte, so daß gerade dieser Abschnitt äußerst dürftig ausgefallen ist und dem Buche eher zum Mangel als zum Vortheil gereicht. Außer den „Anfangsgründen“ schließen sich noch eine Anzahl kleinerer einschlägiger Arbeiten mehr oder weniger unmittelbar an das Hauptwerk an. Theils sind es Ergänzungen und Berichtigungen der großen chinesischen Grammatik, wie der kleine Aufsatz: „Some Additions to my Chinese Grammar“ (Journ. of the China Branch of the R. As. Soc., New Series, XX, Shanghai 1886) und die sehr reichhaltige Monographie: „Beiträge zur Chinesischen Grammatik. Die Sprache des Čuang-tsï “ (Abh. d. philol.-hist. Cl. d. Kgl. Sächs. Ges. d. Wissensch., Bd. X, Nr. VIII, Leipzig 1888), theils behandeln sie methodologische Fragen, wie die Entgegnung auf F. Misteli’s „Studien über die chinesische Sprache“: „Zur chinesischen Sprache und zur allgemeinen Grammatik“ (Intern. Zeitschr. f. allgem. Sprachwissenschaft, hrsg. von F. Techmer, Bd. III, Leipzig 1887). Und hierher gehört auch die kleine Studie: „Zur grammatischen Beurtheilung des Chinesischen“ (ebenda Bd. I, 1884), eine äußerst feine und scharfsinnige kritische Untersuchung über die grammatischen Kategorien des Chinesischen, die meines Erachtens das Beste ist, was je über den grammatischen Bau dieser Sprache geschrieben wurde und zugleich ein Muster formvollendeter wissenschaftlicher Darstellung. Mit der chinesischen Philosophie befassen sich die Abhandlungen: „Ueber das taoistische Werk Wen-tsï“ (Berichte d. Kgl. Sächs. Ges. d. Wissensch., philol.-hist. Cl., 1887), „Ueber den chinesischen Philosophen Mek Tik“ (ebenda 1888) und „Der Räuber Tschik, ein satirischer Abschnitt aus Tschuang-tsï“ (ebenda 1889), eine mustergültige Uebersetzungsprobe aus einem der schwierigsten Schriftsteller der chinesischen Litteratur. Hin und wieder wendet sich G. auch an einen größeren Leserkreis, wie z. B. in seiner Leipziger Antrittsrede: „Die ostasiatischen Studien und die Sprachwissenschaft“ (Unsere Zeit 1881) sowie in den beiden Essays: „Ueber Sprache und Schriftthum der Chinesen“ (ebenda 1884) und „Confucius und seine Lehre“ (Leipzig 1888). Aber so sehr auch das Chinesische für G. den Mittelpunkt seiner Interessen bildet, so werden doch anderweitige linguistische Studien darüber keineswegs vernachlässigt. Seit jeher hatte er sich begreiflicherweise mit besonderer Vorliebe den Sprachen der Südseevölker zugewandt: mußte ihm doch die Pflege speciell dieses Sprachgebietes geradezu als ein väterliches Vermächtniß erscheinen. Mit Unterbrechungen kehrte er daher immer wieder zu den längst Gabelentz_s001-344AK6.indd 32 12.07.13 16: 22 <?page no="35"?> 33 begonnenen Vorarbeiten zurück, und als die Frucht eines langjährigen Sammelfleißes erschienen endlich die mit A. B. Meyer gemeinsam herausgegebenen „Beiträge zur Kenntniß der melanesischen, mikronesischen und papuanischen Sprachen, ein erster Nachtrag zu Hans Conon’s von der Gabelentz Werke ‚Die melanesischen Sprachen‘“ (Abh. d. philol.-hist. Cl. d. Kgl. Sächs. Ges. d. Wissensch., Bd. VIII, Nr. IV, Leipzig 1882). Es wird darin auf Grund einer lexikalischen Vergleichung von 78 Idiomen der Nachweis geliefert, daß die melanesischen Sprachen als aus der Vermischung einer Negritorace mit malaio-polynesischen Elementen hervorgegangen zu betrachten seien. Im darauffolgenden Jahre veröffentlichte er, gleichfalls im Verein mit A. B. Meyer: „Einiges über das Verhältniß des Mafoor zum Malayischen“ (Bijdragen tot de taal-, landen volkenkunde van Neerl. Indië, 1883) und kommt auch in dieser sprachvergleichenden Untersuchung zu dem Ergebniß, daß die Uebereinstimmungen zwischen dem Mafoor und den malayischen Sprachen so weitgehend seien, als daß an eine Entlehnung im gewöhnlichen Sinne des Wortes kaum zu denken sein dürfte. In der Abhandlung: „Einiges über die Sprachen der Nicobaren-Insulaner“ ( Ber. d. Kgl. Sächs. Ges. d. Wissensch., 1885) führte er dann noch den Nachweis, daß diese Idiome der indonesischen Sprachensippe beizuzählen seien. Neben all diesen einzelsprachlichen und sprachvergleichenden Arbeiten hat G. die Fragen der allgemeinen Sprachwissenschaft nie aus dem Auge verloren. Die Frucht seiner Studien auf diesem Gebiete war sein letztes größeres Werk: „Die Sprachwissenschaft, ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse“ (Leipzig 1891), von dem inzwischen (1901) eine vom Grafen A. von der Schulenburg herausgegebene zweite, verbesserte und vermehrte Auflage erschienen ist. Einen Abschnitt daraus: „Stoff und Form in der Sprache“ hatte G. bereits in den Ber. d. Kgl. Sächs. Ges. d. Wissensch. 1889 veröffentlicht. Das Buch ist, wie er selbst in der Vorrede betont, in einer längeren Reihe von Jahren mit großen Unterbrechungen entstanden, und seine Theile sind keineswegs in der Reihenfolge verfaßt, in der sie vorliegen. Was ihn eben beschäftigte, wurde, sobald es ihm reif schien, als Aufsatz niedergeschrieben, und mit der Zeit entstand der Plan des Ganzen. Er selbst sah ein, daß die Spuren einer solchen Entstehung sich kaum verwischen ließen, und in der That kann nicht geleugnet werden, daß die einzelnen Abschnitte des Buches nicht nur verschiedenartig in der Darstellung, sondern auch verschiedenartig in der Ausführung gerathen sind. Mit Recht werden ihm die Indogermanisten vorhalten, daß er der vergleichenden Sprachforschung im engeren Sinne doch allzu sehr als unbetheiligter Zuschauer gegenübergestanden habe und daher hin und wieder die Vorzüge einer streng methodischen Schulung vermissen lasse; und mit gleichem Rechte wird man ihm den Vorwurf nicht ersparen können, daß er die Ergebnisse der neueren Psychologie nicht gebührend berücksichtigt habe. Aber dennoch bleibt gerade dieses Buch trotz all’ seinen Mängeln ein ϰτῆμα ἐς ἀεί: einmal durch die reiche Fülle von Anregungen und schöpferischen Gedanken, die es enthält, - dann aber auch dank dem Umstande, daß sein Verfasser mit der unendlichen Mannichfaltigkeit der verschiedensten Gebilde menschlichen Sprachbaues vertrauter war als irgend ein anderer seiner Z eitgenossen. Und diese Vertrautheit schöpfte er nicht etwa aus grammatischen Lehrsystemen, sondern, wo immer er dazu in der Lage war, aus dem selbständigen Studium von Texten. „Wer das Schwimmen lernen will, muß selbst ins Wasser gehen“, pflegte Georg v. d. G. zu sagen, und Niemand hat diesen Grundsatz treulicher befolgt als er. Daraus erklärt sich auch der Charakter des unmittelbar Erlebten, der diesem Buche nicht nur einen so unvergänglichen Reiz verleiht, sondern ihm auch einen bleibenden Platz in der Geschichte der Sprachwissenschaft sichert. Im Herbste des Jahres 1889 wurde er als ordentlicher Professor an die Berliner Universität berufen und als Schott’s Nachfolger zum Mitgliede der dortigen Akademie der Wissenschaften gewählt. Aber die Hoffnungen und Erwartungen, die sich an diese Berufung geknüpft hatten, sollten sich leider nicht erfüllen. Gleichzeitig mit der Uebersiedlung nach Berlin traf ihn ein schweres häusliches Ungemach: nach einer siebzehnjährigen, anscheinend glücklichen Ehe sah er sich plötzlich zur Scheidung genöthigt. Dieser herbe Schlag, der ihn thatsächlich völlig unvorbereitet traf, warf ihn zunächst völlig nieder, und zum Ueberfluß stellten sich schon damals die Vorboten eines tückischen körperlichen Leidens ein, das zwar durch ärztliche Kunst eine Z eitlang hingehalten, aber nicht mehr beseitigt werden konnte. So kam es, daß mit dem Abschluß der fruchtbaren Leipziger Periode auch die Zeit productiver wissenschaftlicher Arbeit ihr Ende fand. Seine Schaffenskraft war gebrochen. Zwar fällt das Erscheinen der „Sprachwissenschaft“ in die Berliner Zeit, doch war das Buch, wie erwähnt, zum größten Theile in früheren Jahren entstanden, und unter den wenigen Abhandlungen, die er in seinen letzten Lebensjahren Gabelentz_s001-344AK6.indd 33 12.07.13 16: 22 <?page no="36"?> 34 geschrieben und in den Sitzungsberichten der Kgl. Preuß. Akademie der Wissenschaften veröffentlicht hat („Vorbereitendes zur Kritik des Kuan-tsï“ 1892, „Zur Beurtheilung des koreanischen Schrift- und Lautwesens“ 1892, „Die Lehre vom vergleichenden Adverbialis im Altchinesischen“ 1893 und „Baskisch und Berberisch“ 1893), ist keine, die einen Vergleich mit seinen früheren Leistungen aushielte. Nach seinem Tode erschien dann noch als opus postumum das Buch: „Die Verwandtschaft des Baskischen mit den Berbersprachen Nord-Africas, herausgegeben nach dem hinterlassenen Manuscripte durch Dr. A. C. Graf von der Schulenburg“ (Braunschweig 1894). Leider muß gesagt werden, daß diese Veröffentlichung einer noch keineswegs druckreifen Arbeit nur als ein Schritt irregeleiteter Pietät erklärt und entschuldigt werden kann. G. hat sich in Berlin wol nie so recht heimisch gefühlt und schien sein dortiges Domicil, schon infolge der größeren Entfernung von seinem Gute Poschwitz und den dort b efindlichen reichen Schätzen der väterlichen Bibliothek, immer als eine Art Exil zu empfinden, aus dem er sich, so oft er irgend konnte, in sein geliebtes Tusculum flüchtete. Noch einmal durfte er sich eines ungetrübten Eheglücks er freuen, aber dies Glück war leider nur von kurzer Dauer: nur zu bald warf ihn sein altes Uebel aufs Krankenlager, von dem er sich nicht wieder erheben sollte. Am 11. December 1893 erlöste ihn ein sanfter Tod von seinen qualvollen Leiden. Bei seiner Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften schloß G. seine Antrittsrede (Sitzungsberichte 1890, XXXIV) mit den Worten: „Neigung und Schicksal haben mich bisher dahin geführt, an sehr verschiedenen Punkten des Globus linguarum Umschau zu halten. Oft nur sehr flüchtige Umschau, aber - das hat die Landstreicherei für sich -, überall anregende. In wieweit ich fernerhin der einen oder anderen dieser Anregungen folgen werde, das hängt nur zum kleinsten Theile von meinem Willen ab“. Wenn es sich auch gewiß nicht leugnen läßt, daß eine so große Vielseitigkeit wie er sie anstrebte, unvermeidliche Gefahren in sich birgt, so muß doch zugegeben werden, daß er auf dem Wege, den er einschlug, eine Weite des Blickes und eine Unvoreingenommenheit des Urtheils erlangt hat, welche die einseitige Beschränkung auf ein engbegrenztes Specialgebiet nimmermehr gewähren kann. Sicherlich hat es Sinologen genug gegeben, die ihm an philologischer Gründlichkeit und positivem Fachwissen weit überlegen waren, aber man vergesse dabei nicht, daß keiner von ihnen im Stande gewesen wäre, eine chinesische Grammatik zu schreiben, wie sie die Wissenschaft ihm verdankt. Er war ein Anreger und Pfadfinder, als Forscher wie als Lehrer. Frei von gelehrtem Dünkel besaß er den Muth des Irrthums und zugleich eine Naivetät des Gemüthes und Geistes, wie sie nur wahrhaft selbständigen Naturen eigen ist. Der Vollständigkeit wegen seien zum Schlusse noch folgende kleinere Arbeiten erwähnt, die im Vorstehenden keine Berücksichtigung finden konnten: „ Kin Ping Mei, les aventures galantes d’un épicier, Roman réaliste, trad. du Mandchou“ (Revue orient. et américaine, publ. par L. de Rosny, Paris 1879); „Zur chinesischen Philosophie“ (Wiss. Beil. d. Allg. Ztg. 1880, Nr. 92); „A. F. Pott“ (Allg. deutsche Biographie) und die Artikel in Ersch u. Gruber’s Encyklopädie: Kung-fu-tse, Kuki (Volk und Sprache), Kolarische Sprachen, Kunama-Sprache, Lao-tse. Einige populäre Aufsätze zur Länder- und Völkerkunde sind in den älteren Jahrgängen des „Globus“, die meisten seiner Recensionen im „Literarischen Centralblatt“ erschienen. Seitenhintergrund rechts: Detail aus dem Gemälde von Erhard Ludewig Winterstein (1914) siehe Seite 181 Original bei Matthias v. Münchhausen, Apelern Gabelentz_s001-344AK6.indd 34 12.07.13 16: 22 <?page no="37"?> Georg v. d. Gabelentz und seine Familie Theodor Dobrucky Die Herren v. d. Gabelentz 37 Clementine v. Münchhausen geb. v. d. Gabelentz H. Georg v. d. Gabelentz. Biographie und Charakteristik (1913) 85 Gabelentz_s001-344AK6.indd 35 12.07.13 16: 22 <?page no="38"?> 36 Gabelentz_s001-344AK6.indd 36 12.07.13 16: 22 <?page no="39"?> 37 Theodor Dobrucky* Die Herren v. d. Gabelentz Inhaltsübersicht 1. Die erste urkundliche Erwähnung des Geschlechtes 38 2. Der Name des Geschlechtes 39 3. Das Wappen 39 4. Die Herkunft und der Ursprung 40 5. Die ersten 100 Jahre (im Anhang) 73 6. Das 2. Jahrhundert (im Anhang) 75 7. Das 3. Jahrhundert (im Anhang) 77 8. Das Epitaph im Dom zu Mainz. Johann Bernhard v. d. Gabelentz 1537-1592 41 9. Die 1. Poschwitzer Linie. Wolf Albrecht II. v. d. Gabelentz 1622-1667 46 Bild links: Grabmal im Dom zu Mainz Sebastian v. d. Gabelentz, seine Ehefrau Barbara geb. von Bünau und sein Sohn Johann Bernhard, Archipresbyter in Mainz, im Hintergrund die weiteren 4 Söhne und 2 Töchter Sebastians (Unterschrift des Fotos im Original: C. Hertel. Mainz 1878. Nr. 167. Dom zu Mainz. Denkmal des Freiherrn von Gablenz. 1595.). Das Gabelentz-Wappen ist zweimal enthalten: oben links in dem großen Oval und direkt darunter, das erste der acht kleinen Wappen über der Kruzifixgruppe. Bild: ThStA 10. Die alte Lemnitzer Linie. Hans Georg I. v. d. Gabelentz 1624-1700 48 11. Die neue Poschwitzer Linie. Wolf Heinrich v. d. Gabelentz 1669-1709, Wilhelm Ludwig v. d. Gabelentz 1738-1805, Hans Carl Leopold v. d. Gabelentz 1778-1831, Hans Conon v. d. Gabelentz 1807-1874 49 12. Die neue Lemnitz-Münchenbernsdorfsche Linie. Hans Albert v. d. Gabelentz-Linsingen 1834-1892 65 13. Georg v. d. Gabelentz 1840-1893 67 14. Anhang 73 15. Anmerkungen 81 Gabelentz_s001-344AK6.indd 37 12.07.13 16: 22 <?page no="40"?> 38 [1.] Die erste urkundliche Erwähnung des Geschlechtes In Johann Gottlob Horns „Lebens- und Helden-Geschichte des Glorwürdigsten Fürsten und Herren, Herrn Friedrich’s des Streitbaren ...“ (Leipzig 1733) findet sich S. 679 bis 680 folgende Urkunde aus dem Jahre 1388: Wir Friedrich Wilhelm und Jurge Gebruder etc. bekennen etc. daz wir von sundirlicher gunst vnd gnaden Conrade von Harburg vnd Dangwarte von Harburg vnde iren Erbin vnd czu irer Hand ader ab sy nicht lenger weren ader ane rechte lehinserbin abegingen mit dem Tode, den Got lange vor sey Günthern von Konritz Burgmanne zcu Korun und synen erbin, daz Vorwerk gelegen in dem Dorffe zcu Salis mit drittehalber Mark Geldes Jerlichs zcinses mit ackern holczern weiden vorsten rechten gewonheiten dinsten vnd gemeinlich mit allin zcugehorungen als dy alliz vor von uns bizher gehabit und besessen synt zu rechten lehen geligen habin vnd lihen von vns vnd unserin erbin geruwiglich czu behalden vnd czu genissen vnd czu besitzen. Doch also daz der egenannte Conrad von Harburg Dangkwart syn Vetter vnd ihre Erben ob sy die ernach gewinnen des egnannten Vorwerkis mit alle syner czugehorunge ire lebetage ganze Macht habin sullin vnd mugin czu vorkouffen czu keren vnd zcuwenden nach irer Notdurfft ane alliz hindernisß wohin sy wollen vnd habin des czu urkunde etc … / Daby synt gewest alsß geczuge der Erber Er Johann Techand czu Nuenburg die gestrengen Er Berld von Buchenow Er Offe von Sliwin hofemeister / Er Hans von Lidelaw Rittere Siverd stange Hans vnd Hencze stange Gebruder Heinrich von dem Bruch Albrecht v. d. Gabelenz etc. / Datum Aldinburg quinta feria post festum nativitatis Johannis anno Domini etc. LXXXVIIj (1388) In dieser Urkunde wird zum erstenmal ein Herr v. d. Gabelentz als Burgmann auf dem Schloß zu Altenburg erwähnt, nämlich Albrecht v. d. Gabelenz. Fehlt zwar 1388 noch die Bezeichnung Burgmann, so läßt eine Urkunde vom Jahre 1389, die sich ebenfalls bei Horn, S. 680, findet, keinen Z weifel, daß Albrecht v. d. Gabelenz bereits 1388 Burgmann und damit Besitzer eines der Burglehen auf dem Schlosse zu Altenburg war 1 . Mit dem Besitz des Burglehens war ständig ein größerer Grundbesitz im Altenburger Lande, ja wohl auch in größerer Nähe des Schlosses liegend, verbunden. So werden in der zweiten Urkunde (1389) die Herren Stange, Besitzer von Knau, auch ein Gut in nächster Nähe Altenburgs, wie auch der Ritter von Lidelaw (Oberlödla, ein Dorf dicht bei Altenburg) usw. als Burgleute genannt. Querstriche zur Aufteilung des Textes in Abschnitte durch laufende Nummern in eckigen Klammern zu Beginn des jeweiligen Abschnittes ersetzt. Die Abschnitte 5., 6. und 7., die inhaltlich von weniger Interesse für die meisten Leser sein können, wurden im Anhang untergebracht. In diesem Zusammenhang wurde vom Abschnitt 8. der Textbeginn etwa um eine Seite in den Abschnitt 7. vorverlegt, außerdem ein eigener Abschnitt 13. über Georg v. d. Gabelentz eingerichtet. Jedem Abschnitt wurde zur inhaltlichen Orientierung ein Titel gegeben. Die im Original durchgeführten Auszeichnungen von Namen, Wörtern und Phrasen durch Versalien, Sperr- oder Fettdruck wurden nicht übernommen. Einige Angaben wurden berichtigt. Die graphische Textgestaltung erfolgte weitgehend unabhängig vom Original. - Hrsg. Titelvignette des Buchs (von Conrad Felixmüller) * Theodor Dobrucky (1893-1957) war 1930-1948 Pfarrer in Windischleuba (Landkreis Altenburger Land, Thüringen), wo Gabelentzens und später Münchhausens ihr Gut hatten. Er stammte aus Hoyerswerda (Oberlausitz, bei Cottbus) und hatte in Leipzig Theologie, alte Sprachen, Slawistik und Geschichte studiert. Er hatte guten Kontakt zu den Familien v. d. Gabelentz und v. Münchhausen und betätigte sich als Heimatforscher. Für die einschlägige Auskunft danken wir Frau Gabriele Prechtl, Windischleuba, sehr herzlich. Die erste Drucklegung des vorliegenden Textes erfolgte 1938 im als Handschrift gedruckten Buch: Über ein halbes Jahrtausend auf angestammter Scholle. Geschichte der Herren von der Gabelentz auf Poschwitz 1388-1938, Leipzig: Bibliographisches Institut, 11-89. Beim Wiederabdruck wurden die im Original zu findenden Gabelentz_s001-344AK6.indd 38 12.07.13 16: 22 <?page no="41"?> 39 Diese urkundliche Erwähnung von 1388 gab den Anlaß zu der vorliegenden Schrift „Über ein halbes Jahrtausend auf angestammter Scholle“. Es soll mit dieser Datierung durchaus nicht ein nach allen Seiten hin geschichtlich gültiges Faktum des Gabelentzischen Besitzes von Poschwitz kundgetan werden. Die Möglichkeit besteht, durch neu aufzufindende Urkunden die Besitzergreifung in die Zeit vor 1388 verlegen zu können, vielleicht auch ein späteres Jahr als 1388 annehmen zu müssen 2 . Aber die innere Berechtigung ist gegeben, in der Darstellung der Gabelentzischen Geschichte auf Poschwitz vom Jahr 1388 auszugehen, in welchem ein Ahn dieses Geschlechtes zum ersten Male in fester und enger Verbindung mit dem Altenburger Schloß, Land und regierendem Fürstenhause genannt wird, eine Verbindung, die nicht nur äußerlich durch Stand und Besitz zustande kam und erhalten blieb, die sich vielmehr in 550 Jahren zu einer tiefen, innerlichen Verbundenheit mit dem Lande, seinen Herrschern, seinem Volke und seiner Geschichte auswuchs. Männer und Frauen schenkte das Geschlecht v. d. Gabelentz, deren Leben und Sein bestimmt war durch das Eine, im Dienst und in der Treue die Ersten des Landes zu sein, aber auch Männer, die weit über die Grenzen ihrer Heimat in der Welt- und Geistesgeschichte des ganzen deutschen Volkes diesen Weg der Treue und des selbstlosen Dienstes gingen. Wie sie diesen Weg gingen, sollen die Seiten des Aufsatzes darstellen 3 . [2.] Der Name des Geschlechtes Der Name des Geschlechtes v. d. Gabelentz ist gleichlautend mit dem Namen des Ortes Gablenz bei Crimmitschau. Dorf und Burg Gablenz waren bereits am Ende des 13. Jahrhunderts im Besitz der Familie. Da die ritterlichen Familien sich nach dem Ort ihres Sitzes benannten, so dürfte die Erklärung des Familiennamens durch die Ausdeutung des Ortsnamens gegeben sein. Gabelentz ist ein Wort slawischen Ursprunges. Jabl heißt soviel wie Apfel; Jablenz, Jablonicy, Gablonz, Gablenz sind Orte, die sich durch Apfelbäume auszeichneten. Der Name würde sich am besten gleichlautend dem deutschen Ortsnamen Apfelstädt wiedergeben lassen. Freilich liegt nun der Ort Gablenz bei Crimmitschau nicht im slawischen Siedlungsgebiet 4 . Doch haben die Slawen, die als Jäger und Sammler von Früchten die sonst von ihnen nicht besiedelten Waldgebiete durchstreiften und kannten, Bächen, Bergen und Flurteilen erhöhter Bedeutung Namen gegeben, so daß der Name des Ortes Gablenz auf slawischen Ursprung zurückgeführt werden kann. Die deutsche Siedlung hat dann diesen an der Stelle haftenden Namen übernommen. Auf eine weitere Möglichkeit der Entstehung des Namens des Ortes Gablenz wird später bei der Darstellung der ältesten Geschichte der Familie eingegangen werden. Der Name Gabelentz ist dann sinngemäß auch gleich den Namen der slawischen Familien Jablonski, Jablonowski u. a. Von Familien gleichen Namens sei folgendes erwähnt: In Zedlers Universal-Lexikon, Bd. LV, S. 823, wird ein Widlaf oder Gablentz von Galwitz erwähnt, der einem altadligen Geschlecht slawischer Herkunft entstammt. Ferner ist eine Familie von Gablenz bekannt, von welcher Heinrich v. Gablenz 1430 Plebanus von Sorau war. Aus dieser Familie wurden Balthasar v. Gablenz 1494 und seine Söhne mit Friedersdorf bei Sorau belehnt. Das gänzlich verschiedene Wappen dieser Familie deutet darauf hin, daß keinerlei Verwandtschaft mit der osterländischen Familie besteht. Im vergangenen Jahrhundert erhielt eine Familie v. d. Gablentz das preußische Adelsprädikat. Diese neu geadelte Familie hat keinerlei Beziehungen zu dem hier für unsere Darstellung in Frage kommenden Geschlecht. [3.] Das Wappen Das Wappen derer v. d. Gabelentz ist in einem silbernen Schilde eine abwärts gehende eingebogene rote Spitze mit einer aufrechtstehenden silbernen dreizinkigen, die äußeren Zinken auswärts gebogenen Gabel ohne Schaft; der Helmschmuck ist ein ausgebreiteter, in der Mitte von Rot und Silber gleich abgeteilter Adlerflug, Helmdecken rot und silbern. Die Gabel stellt die als Waffe benutzte Kriegsgabel dar. Gabelentz_s001-344AK6.indd 39 12.07.13 16: 22 <?page no="42"?> 40 Die ältesten Abdrücke des Wappens finden sich im Hauptstaatsarchiv zu Dresden. Es ist dies das Wappen des Dietrich v. d. Gabelentz vom Jahr 1351 und des Peter v. d. Gabelentz von 1394. Diese Wappen zeigen noch nicht die Gabel, die das erstemal 1416 im Wappen Hermanns v. d. Gabelentz vorkommt. Dieser Abdruck ist der älteste und sicherste des Wappens mit der Gabel, die hier noch einen Stiel hat. Auch dieses Siegel nebst Urkunde befindet sich im Staatsarchiv zu Dresden. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts hat das Wappen die Gestalt des heutigen 5 . Das Wappen derer v. d. Gabelentz [4.] Die Herkunft und der Ursprung Die Herkunft und der Ursprung der Familie v. d. Gabelentz verliert sich wie bei so vielen altadeligen Geschlechtern im Dunkel des frühen Mittelalters. Urkundlich sicher begegnet uns ein Glied der Familie als Zeuge auf einer Urkunde von 1273, die in Crimmitschau datiert ist und sich im Staatsarchiv Dresden unter Nr. 250 befindet 6 . Es ist Theodoricus de Gabelence. Da Gablenz zur Herrschaft des Burggrafen von Crimmitschau gehörte 7 , welche 1301 in den Besitz der Schönburge überging, ist anzunehmen, daß das Geschlecht schon vor 1273 längere Zeit in der dortigen Gegend ansässig war, daß aber sein Kommen in dieses Kolonialland mit der weiteren Erforschung der Geschichte der Herrschaft Crimmitschau und der dortigen Siedlung aufgehellt werden muß. Neben dem schon genannten Theodoricus wird bereits 1305 ein Ericus v. d. Gabelentz als Burgmann in Schönburgschen Diensten auf der Schweinsburg bei Crimmitschau erwähnt. Diese Urkunden lassen auf das Ansehen und die Bedeutung der Familie für die damalige Z eit schließen. Dies berechtigt zur weiteren Annahme, daß das Geschlecht in weit früheren Jahrhunderten schon seine Bedeutung gehabt hat und nicht erst im Zuge der Kolonisation des Osterlandes entstanden ist. Schon Hans Conon v. d. Gabelentz kannte eine Reihe von Urkunden aus dem Anfang des 12. Jahrhunderts, die das Vorhandensein eines Geschlechtes von „Gabelizo“ im Tal der unteren Saale in der damaligen Markgrafenschaft Eilenburg bezeugt 8 . Sein Enkel Albrecht v. d. Gabelentz fand 1910 eine weitere Urkunde 9 auf dem herzoglichen Staatsarchiv zu Zerbst, die, vom Jahr 1106 datiert, den Geschlechtsnamen „de Jabelince“ bezeugt. Eine dritte Urkunde 10 zeigt den Namen „Jabelence“. Für die Deutung dieser Namen kommt das im Eingang Gesagte in Betracht. Die photographische Wiedergabe der Urkunden befindet sich im Poschwitzer Archiv. Als ältester Träger des Namens wird in der Urkunde von 1106 Godescalcus, Pater Sigifridi et Baderi de Jabelince genannt. 1117 erscheint Godescalcus, Miles de Gabelizo. In der dritten Urkunde von 1159 wird erwähnt Badericus v. Jabelensce im Z usammenhang mit dem Verkauf der späteren Orte Nimbsch und Neußlitz bei Grimma an kolonisierende Flamländer. Diese Urkunde würde den Namen der Familie bereits an die Grenzen des späteren Sitzes des Geschlechtes führen. L. von Ledebur in „Die Grafen von Valkenstein“ (Berlin 1847) nimmt S. 61 f. und 107 f. an, daß Godescalcus der Sohn des Grafen von Ludesburg und der Gräfin Mathilde von Orlamünde ist. Besteht diese Vermutung zu Recht, so läßt sich das Geschlecht bis ins 10. Jahrhundert zurückverfolgen, zugleich aber hat diese Familie selbst in verwandtschaftlichen Beziehungen zu den Wettinern und Wiprecht von Groitzsch gestanden. Der 1159 erscheinende Badericus ist wohl der gleiche wie der in der Urkunde von 1106 genannte Baderus de Jabelince und damit ein Sohn des Godescalcus. Den Namen hat das Geschlecht wohl gehabt von einer Burg Gabelenz im unteren Saaletal, die urkundlich bezeugt ist 11 und 1140 zerstört wurde 12 . Es besteht nun die Möglichkeit, daß die 1273 zum ersten Male erwähnte Familie v. d. Gabelentz von diesem im 12. Jahrhundert genannten Geschlecht abzuleiten ist. Auch daß die späteren Herren v. d. Gabelentz in einem Vasallenverhältnis zu den Burggrafen von Leisnig standen und Heinrich II., Burggraf von Magdeburg, auch Burggraf von Leisnig um die Mitte des 12. Jahrhunderts war, deutet Zu- Gabelentz_s001-344AK6.indd 40 12.07.13 16: 22 <?page no="43"?> 41 sammenhänge verwandtschaftlicher Art an, denen die Erforschung der Familiengeschichte in der Zukunft nachgehen muß 13 . Zur Zeit läßt sich durch urkundliche Nachweise keine Verbindung von 1273 ins 12. Jahrhundert finden. Nach dem vorher Gesagten ist nicht von der Hand zu weisen, daß ein in den Kriegswirren verarmtes reichsunmittelbares Geschlecht Besitz und Burg verlor, aber von mächtigeren und glücklicheren Verwandten und Gönnern im Kolonialland mit Gütern und Besitz neu belehnt wurde, wenn es dabei auch in ein Vasallenverhältnis zu anderen Herren treten mußte. Hieraus ließe sich auch die Merkwürdigkeit des slawischen Namens des Ortes Gablenz bei Crimmitschau, der durch seine Flureinteilung als deutsche Siedlung erwiesen ist, daraus erklären, daß Ort und Burg von Rittern gegründet wurden, die den Namen ihrer alten zerstörten Burg der neuen Burg gaben 14 . Auch heißt der Ort heute noch im Volksmunde nicht schlechthin Gablenz, sondern „die Gablenz“, ein sprachliches Zeichen dafür, daß das Ursprüngliche eine Burgsiedlung war, die den Namen des erstsiedelnden Geschlechtes trug. Die Ausführung über Ursprung und Herkunft der Familie v. d. Gabelentz schließt mit einer Aufgabe zur weiteren historischen Forschung, die um so reizvoller ist, als sie die Geschichte des Geschlechtes und seines Anfanges in die großen Geschichtszusammenhänge der Kolonisierung unserer Heimat und der Geschichte jener Männer, die diese unter Kämpfen und Ringen schufen, hineinstellt. [Abschnitte 5.-7. im Anhang] [8. Das Epitaph im Dom zu Mainz. Johann Bernhard v. d. Gabelentz 1537-1592] Wir kehren zur Geschichte des in der Heimat verbliebenen Zweiges der Familie zurück. - Sebastian I. v. d. Gabelentz, der einzige überlebende Sohn Georgs II., hat hier die Familie fortgepflanzt. Dieser hat nach einem Erbvergleich mit seinen 3 Schwägern im Jahr 1535 17 durch den Kurfürsten Friedrich Donnerstag nach Quasimodogeniti 1536 die Belehnung mit dem Vorwerk zu Poschwitz, Burglehen zu Crimmitschau, Holz zu Tränau und dem Spander, Obergericht und Kirchlehen zu Nobitz, Kirchlehen zur Leuben, Weinbergen zu Wöllnitz und Amorbach, vom Burggrafen Hugo von Leisnig die Belehnung über die Güter Windischleuba und Nobitz erhalten. Der Reformation scheint Sebastian I. ebensowenig wie sein Vater Georg II., der nach der Kirchenvisitation 1530 42 noch angewiesen werden mußte, dem Pfarrer in Windischleuba den entzogenen Decem wieder abfolgen zu lassen, zugeneigt gewesen zu sein. Sein Sohn Johann Bernhard war und blieb, der Tradition seines Oheims Christoph folgend, Domherr zu Mainz. Aus dem Grunde hat sich wohl Sebastian I. auch in Mainz im katholischen Gotteshaus begraben lassen. Auch über die Frau seines Oheims Heinrich finden sich aus den Jahren 1528 ff. Klagen in den Altenburger Ratsakten, daß sie die Klosterjungfrauen der evangelischen Lehre abspenstig mache. Es ist daher auch nicht zu verwundern, wenn wir den Edelmann aus evangelischem Lande, Sebastian I. v. d. Gabelentz, 1530 43 im Gefolge des Kardinals Albrecht, Erzbischofs zu Mainz und Magdeburg auf dem Reichstag zu Augsburg finden, der durch die Übergabe des evangelischen Bekenntnisses seine Bedeutung hat. Es wird von ihm erzählt 44 , daß er im Jahr 1545 mit 3 Ritterpferden gedient und 20 Mann gehabt habe, nämlich 2 Handschützen, 9 Hellebardiere und 9 Langspießer zu Nobitz. Den Heerwagen hielt er mit Valentin von Reinsberg auf Ehrenberg. 1544 45 wird er unter der Erbarmannschaft unter den Kanzleischriftsassen als der vierte aufgeführt: „Sebastian v. d. Gabelentz zur Windischen Leuben“. Im Jahr 1548 wurde er von Kurfürst Moritz eingeladen 20 , am 5. Oktober in Torgau mit 4 Pferden an den Festlichkeiten und Ritterspielen anläßlich der Vermählung Herzog Augusts teilzunehmen. 1539, 1556, 1574 wurde Sebastian wiederholt mit seinen Gütern beliehen. Auch bestand eine Mitbelehnschaft auf die preußischen Güter des Oheims, wie ja dieser und seine Nachkommen auch bis 1578 Mitbelehnte auf den osterländischen Gütern waren. Nach von Schönberg: „Nachrichten …“, Bd. 2, ist Sebastian am 16. Januar 1575 gestorben. Diese Jahreszahl durfte, da sein letzter Lehnbrief 1574 datiert ist, eher auf Wahrscheinlichkeit beruhen, als die Nachricht auf seinem Grabstein im Dom zu Mainz, daß er 1573 gestorben sei. Dieses Grabmal befindet sich als Teil des Denkmals seines Sohnes Johann Bernhard daselbst und hat folgende Inschrift: „Anno Domini MDLXXIII den 16 Januarii ist in Got christlich vnd sellich entschlafen der edel vnd erenvest Sebastian von der Gablentz zvr Windischleiben vnd zvvor Anno Domini MDLXX den XXIII. Junij ist in Got christlich vnd sellich verschieden die edel vnd tugenthafte Fraw Barbara von der Gablentz geborne von Binaw, deren beiden Eheleiden Got gneedig sein wole. Amen.“ Gabelentz_s001-344AK6.indd 41 12.07.13 16: 22 <?page no="44"?> 42 Die rechte Schrifttafel am Fuße des Gabelentz-Epitaphs im Dom zu Mainz Foto: Achim v. Wedemeyer Vermählt war er mit Barbara von Bünau aus dem Hause Breitenhain, die nach obigem 1570 starb. 5 Söhne und 2 Töchter überlebten die Eltern 46 . In seinem Testament 17 vermachte er sein bares Geld seinem Sohn Friedrich „als seinem gehorsamsten Kinde“; doch sollte Sebastian, ein weiterer Sohn, 600 Gulden davon zu seinen Studien erhalten. Das zunächst ungeteilte Erbe pachtete Friedrich I. v. d. Gabelentz, der jährlich jedem seiner Brüder 200 Gulden zahlte 46 . 1580 haben die Brüder miteinander die Verpachtung von Nobitz, die ganz ungenügende Einnahmen brachte, neu geregelt. Besitzänderungen und Verkäufe sind von Sebastian nicht bekannt. Mit seinem Tod schließt das 3. Jahrhundert, mit seinen Söhnen beginnt das 4. Jahrhundert der Familie! Um 1580 17 teilten die Brüder untereinander den Besitz in folgender Weise: Antonius wurde mit Geld abgefunden, Friedrich und Christoph nahmen die Güter Poschwitz und Nobitz für 14832 fl. an, Bernhard und Sebastian Windischleuba für 15014 fl. Johann Bernhard v. d. Gabelentz war der älteste Sohn Sebastians I. Er widmete sich dem geistlichen Stande. Geboren war er 1537. 1571 trat er am 21. April in das Domstift zu Mainz ein, wo er 1573 35 zum Kapitular aufrückte. Er war auch daselbst Kanonikus der Kirchen St. Alban und D. Virg. in gradibus und Domherr zu Naumburg, wo im Hochchor des Domes sein Wappen mit Inschrift sich in Stein gehauen findet. Am 29. Januar 1578 17 wurde ihm mit seinen Brüdern die Belehnung über die erledigten väterlichen Güter zuteil. Als diese werden genannt: Vorwerk Poschwitz, Burglehen zu Crimmitschau, Holz in Thräna und Spanner, Weinberge zu Amorbach, Gefäße, Vorwerk und Dorf Windischleuba nebst Obergerichten und Kirchlehen daselbst, den Wüstungen Naundorf, Karßdorf und Schwabach, den 2 Vorwerken in Nobitz, Obergerichten und Kirchlehen daselbst. In der Erbteilung mit seinen Brüdern erhielt er die Mühle zu Windischleuba, Belehnung 1581 und 1587 17 . 1586 kaufte er nach seines Bruders Friedrich Tode Poschwitz von seinen Brüdern für 7000 Mfl., in welcher Summe sein Anteil enthalten ist. Nobitz gehörte den Brüdern gemeinsam 17 . Bevor er einem ihm ergangenen Auftrag gemäß nach Rom reisen konnte 47 , starb er am 2. Februar 1592 als Archipresbyter 35 und liegt im Dom zu Mainz neben dem Altar St. Petri begraben. Sein bereits vorher erwähntes Grabdenkmal [siehe Bild S. 36] ist ein besonders schönes Kunstwerk der Renaissancezeit, die Figuren der Toten sind lebensgroß in Stein gehauen. In Poschwitz befindet sich eine in Holz geschnitzte verkleinerte Nachbildung aus dem vergangenen Jahrhundert. Die auf ihn bezügliche Inschrift lautet folgendermaßen: Anno Dni. MDXCII die 2. Febr. pie in Christo obdormivit R’ndus et nobilis dns D Joannes Bernardus a Gablentz, metropolitanae Moguntinae Archipresbyter et D. Albani nec non in gradibus B. Mariae Virg. Ecclesiac. Canon. Capitul.: Aetatis suae anno LV, cuius anima Deo vivat. Joannes BernardVs obIt nVnC eXtra foeLIX SeCVLa de Gablenz In sIgnI stIrpe Capes Cens. Friedrich v. d. Gabelentz war der 2. Sohn Sebastians I. Von seinem Bruder Christoph erkaufte er 1580 46 dessen Anteil an Poschwitz für 598 fl., um alleiniger Besitzer zu werden. Im gleichen Jahr erbaute er das Schloß in Poschwitz an der Stelle des 1507 abgebrannten. Er war vermählt mit Anna von Lichtenhain. Nach Nachrichten der Altenburger Stadtrechnung, in der vermerkt ist, daß die Stadt ihm 2 Eimer und 3 Kannen Wein zur Hochzeit verehrte, muß die Vermählung 1577/ 78 stattgefunden haben. Sein und seiner Gattin Wappen als der Erbauer des Schlosses sind an der nördlichen Tür desselben in Stein gehauen. Darunter steht folgende Inschrift: Gabelentz_s001-344AK6.indd 42 12.07.13 16: 22 <?page no="45"?> 43 Friedrich von der Gabelentz disen Bau angefangen vnd vollendt 1580. Wo Gott zum Haus nicht gibt sein Gunst, Da arbeit idermann umbsonst. Er verstarb, ohne Leibeserben zu hinterlassen, wahrscheinlich 1580, da in diesem Jahre seine Brüder mit seinen nachgelassenen Gütern beliehen werden 17 . Christoph II. v. d. Gabelentz war der 3. Sohn Sebastians. Nachdem er seinen Anteil an Poschwitz verkauft hatte, kommt er später im Besitz des Rittergutes Kunewalde und 1586 17 im Besitz des Gutes Drauschwitz in der Oberlausitz vor. Wie er dorthin gekommen ist, läßt sich nicht mehr feststellen, wahrscheinlich durch Heirat. Seine Gattin war Rosine von Kitscher, deren Vater in kursächsischen Diensten stand. Ihre Mutter und deren Angehörige waren um des evangelischen Glaubens willen aus Franken vertrieben worden. Da Christophs Söhne später die Erben des gesamten Familienbesitzes wurden und keinerlei katholisierende Anschauungen, wie wir sie bei Sebastian I. und seinen Söhnen und Verwandten zum Teil finden, mehr auftauchen, darf man annehmen, daß der Einfluß der Gattin Christophs II. die evangelische Haltung in die Familie verpflanzt hat. Christoph II. starb am 27. Juli 1598 46 . Seine Witwe am 27. Mai 1628, 67 Jahre alt 48 . Seine Söhne Christoph Friedrich und Wolf Albrecht sollten die Geschichte des Geschlechtes in der Heimat fortsetzen. Sebastian II. v. d. Gabelentz war der 4. Sohn Sebastians I. Von 1562 bis 1565 besuchte er die Fürstenschule von Grimma 49 . Wie das Testament seines Vaters zu erkennen gibt, widmete er sich dem Studium, wohl der Rechtswissenschaft, denn wir finden ihn später 1593 50 im Staatsdienst. 1606 20 ist er als fürstlicher Rat in Naumburg eingesetzt. Er ist der erste der Familie, von dem wir wissen, daß er Rechtswissenschaft studiert hat, ein Studium, zu dem in späteren Jahrhunderten fast die meisten Söhne des Hauses übergingen. Aus seinem höfischen Dienst ist folgendes zu berichten: 1588 17 wird er in Weimarer Hofdienst mit 3 Ritterpferden gefordert. 1594 erhält er nebst anderen den ehrenvollen Auftrag, die Herzogin Anna von Liegnitz bei Gößnitz zu empfangen und nach Altenburg zu geleiten 51 . 1605 50 ist er beim Begräbnis des Herzogs Johann von Weimar mit denen vom Adel, die den Leichnam des hohen Herrn auf die Sänfte legen und zur Gruft begleiteten. Seit 1581 ist er Besitzer von Windischleuba. Nach Johann Bernhards Tode ererbt er den Gesamtbesitz der Familie, da Christoph und Antonius ihm ihren Anteil abtreten 17 . Die Urkunde über diese Belehnung von 1593 enthält den ungekürzten Besitzstand, den er durch das Rittergut Oberwiera vermehrte. Jedoch verkaufte er letzteres 1614 um 7400 fl. Seine Gemahlin Ursula von Einsiedel aus Gnandstein gebar ihm 2 Töchter und 1 Sohn, Haubold v. d. Gabelentz, der aber vermutlich 1615 starb. 1614 wird er im Kaufbrief von Oberwiera noch erwähnt, während er sich in den Akten Sebastians II. Verlassenschaft betreffend, von 1616 nicht mehr findet. So mußte Sebastian noch vor seinem Tode den tiefen Schmerz erleben, daß der in seiner Hand geeinte Familienbesitz nicht seinen Nachkommen erhalten blieb. Vielleicht war der frühe Tod seines Sohnes auch mit die Ursache, daß Sebastian selbst bald nach dessen Hinscheiden am 19. September 1616 starb 46 . Antonius v. d. Gabelentz, der 5. Sohn Sebastians I., wird 1582 als Hofjunker im Gefolge des Kurfürsten Wolfgang von Mainz auf dem Reichstag zu Augsburg genannt 52 . Er hat später als bischöflicher Amtmann des Mainzer Kurfürsten in Mainz und Bischofsheim gelebt 46 und ist 1607 unter Hinterlassung einer einzigen Tochter gestorben 53 . Es ist wohl anzunehmen, daß sein Bruder Johann Bernhard, der Domherr, für ihn als den Jüngsten der Familie, sich am Hofe in Mainz verwendet hat. Nach dem Tode Sebastians fielen die Güter der Familie an die Söhne Christophs II., Christoph Friedrich und Wolf Albrecht v. d. Gabelentz. Wie sich beide von ihrem Oberlausitzer Besitz gelöst haben, ist nicht bekannt. Beide treten zuerst 1616 als gemeinschaftliche Besitzer des osterländischen Familienbesitzes auf. Jedoch wird schon 1617 eine künftige Teilung beredet und vorbereitet 17 . Es wurden 2 Teile gebildet, den einen Teil bildete Windischleuba, den anderen Poschwitz und Nobitz, der künftige Besitzer von Windischleuba sollte dem von Poschwitz und Nobitz 2282 fl. herauszahlen. Jeder der Brüder sollte dem anderen 20 000 fl. an seinem Besitztum als Lehen lassen. 1621 17 wurde ein förmlicher Teilungsrezeß aufgerichtet, kraft dessen Wolf Albrecht I., der die Wahl hatte, Poschwitz und Nobitz in Besitz nahm, während Christoph Friedrich I., der die Teile festgesetzt hatte - es mußte ja auch der Streubesitz geordnet werden -, Windischleuba mit der Verpflichtung zur Auszahlung obengenannter Summe erhielt. Der langjährige Gesamtbesitz und die damit verbundene einheitliche Bewirtschaftung der Güter Windischleuba und Poschwitz brachte noch mancherlei Irrung und Wirrung mit sich, bis ein Vergleich im Jahre 1631 17 den freilich nie ernstlich gestörten Frieden der beiden Brüder wieder herstellte. Ein dauernder Zeuge aus der ersten Zeit der ge- Gabelentz_s001-344AK6.indd 43 12.07.13 16: 22 <?page no="46"?> 44 meinsamen Herrschaft grüßt heute noch vom Turm der Kirche in Windischleuba in der kupfernen Wetterfahne. Diese trägt das Gabelentzische Wappen, die Jahreszahl 1617 und die Buchstaben „C. F. V. G.“ (Christ. Friedr. v. d. Gabelentz) und „W. A. V. G.“ (Wolf Albrecht v. d. Gabelentz). 1617 wurde nämlich der Kirchturm in seinen Giebeln weiter aufgeführt, ebenso eine Kirchturmuhr angebracht 54 . Mit der Teilung von 1621 und 1631 entstanden zwei Linien derer v. d. Gabelentz, erstens der Windischleubaer Zweig bis 1661 und zweitens der Poschwitzer Zweig. In schwere, drangsalvolle Zeit fällt das Leben Christoph Friedrichs v. d. Gabelentz, des Begründers der Windischleubaer Linie. Die düsteren, von Bränden durchglühten Schatten des 30jährigen Krieges liegen auch über der Heimat des Geschlechtes. Das Windischleubaer Kirchenbuch nennt aus den Jahren 1629, 1633 und 1634 und anderen Hunderte von Namen als Opfer der Pest. Immer wieder rasen Mord und Raub, lauert Gewalt und droht Plünderung und doch blieb ein gut Teil alten Besitzes in der Kirchfahrt Windischleuba vor Brand und völliger Z erstörung gewahrt. Die Kirche, das Pfarrgut mit Pfarrhaus, der Gasthof, so manches kleinere Haus, das heute noch Heimat fleißiger Menschen ist, alte Bauerngüter, soweit nicht neuere Zeit und Wohlhabenheit neu und modern gebautes Besitztum entstehen ließen, die unzerstörten Schlösser in Windischleuba und Poschwitz, alles Baulichkeiten, die aus der Zeit vor dem 30jährigen Krieg bis in unsere Zeit gedauert haben. Sie sind steinerne Zeugen der Tatsache 55 , daß die damaligen Herren v. d. Gabelentz ihr gesamtes Barvermögen opferten und überdies Geld aufnahmen, um kaiserlichen und schwedischen Kriegsvölkern die Schonung abzukaufen und die geforderten Kontributionen zu erfüllen. Hier sei auf den historischen Roman des früheren Windischleubaer Pfarrers, späteren Altenburger Konsistorialrates Richard Eckart verwiesen, „Der Reiter auf dem fahlen Roß“, der die Zeit des 30jährigen Krieges in Windischleuba, im Altenburger Land und in der Geschichte der Familie v. d. Gabelentz auf Grund sorgfältiger Studien entstehen läßt. Freilich konnte späterhin nicht jede Plünderung und Brandschatzung verhindert werden, wie das 1646 errichtete Testament Christoph Friedrichs I. beweist. Der heutige Gottesacker in Windischleuba wurde von Christoph Friedrich I. in seinem ältesten Teil 1633 als Pestfriedhof angelegt 48 . 1621 verpachtete Christoph Friedrich die Mühle und den sog. Münzturm im Schlosse Windischleuba 56 an Herzog Friedrich von Sachsen-Altenburg für den jährlichen Pachtpreis von 3500 Mfl. zur Prägung von herzoglichen Silbermünzen, die das Münzzeichen WL tragen. Lange Zeit war diese Tatsache, die sich in sagenhafter Überlieferung erhalten hatte, bestritten worden, bis Herr Pfarrer Mehlhose, als em. in Hartha lebend, die Urkunde fand: „Die Münze in Windischleuba betreffend“ 56 , ebenso ein Schreiben des Landesherrn, welches den Betrieb der Münze für 1622 bezeugt. Die Sage, daß die Herren von Windischleuba damals das Münzrecht besaßen und Juden zum Schlagen der Münze beauftragt hätten, entspricht nicht den Tatsachen. Vielmehr hatte der Landesherr die vorhandene Wasserkraft und den steinernen Schutz der Wasserburg Windischleuba gepachtet, um hier seine Münzen schlagen zu lassen. Ein in Windischleuba geschlagener Groschen befindet sich in Poschwitz. Kriegsdrangsale, Brand, die wirtschaftliche Bedrückung, die durch beides sich steigernde Verschuldung und Belastung des Gutes, dazu tretende Kränklichkeit und Schwäche zwangen Christoph Friedrich I., sich bereits 1646 seiner Herrschaft zu begeben, zugunsten seines Sohnes Hans Sebastian v. d. Gabelentz. Er ist der erste Gabelentz, von dem wir dies wissen 17 . Seine Gattin war Maria von der Nadelwitz aus dem Hause Berbisdorf und Cosel. Sie ging ihm am 22. April 1639 48 im Tode voran. Christoph Friedrich I. starb am 28. Februar 1650 48 . Sein im Testament niedergelegter Wunsch, daß „das uralt Stammgut Windischleuba fürder dabei bleiben und auf seine Nachkommen, mannliches Geschlechtes, devolvieret und gebracht werden möge“, ist nicht in Erfüllung gegangen. Hans Sebastian v. d. Gabelentz, einziger Sohn Christoph Friedrichs I., starb bereits in demselben Jahr wie sein Vater, am 16. Oktober 1650 48 . Ihm war es nicht möglich, in den vier Jahren seiner Herrschaft, von 1646 bis 1650, mehr zu tun, als den Besitz zu erhalten und die Wirtschaft notdürftig zu ordnen. So hinterließ er seinem unmündigen Sohn Hans Wolf v. d. Gabelentz ein gefährdetes Erbe. Seine Gemahlin Elisabeth, Tochter Hildebrands von Wöllnitz, hatte zwar eine größere Summe Geldes mit eingebracht; da sie sich aber 1657 17 wieder verheiratete mit Hans Bruno von Pöllnitz Trätzsch, mag ihr Interesse an Windischleuba sich verloren haben und ihre Forderung nach Rückzahlung ihrer Mitgift machte den Vormündern die Weiterführung des Gutes unmöglich. Der am 23. Juli 1648 48 geborene Sohn Hans Sebastians, Hans Wolf v. d. Gabelentz, kam unter die Vormundschaft Gabelentz_s001-344AK6.indd 44 12.07.13 16: 22 <?page no="47"?> 45 seiner Poschwitzer Vettern, die sich gemeinsam mit dem Großvater des Kindes, Hildebrand v. Wöllnitz, der selbst hochbetagt das Gut pachtete, mühten, des Unmündigen Erbe zu erhalten. Jedoch vereitelte der Tod des Großvaters und die Wiederverheiratung der Mutter - Mutter und Großmutter verlangten die Auszahlung von 10 500 Mfl. - bei der schon vorhandenen Verschuldung jede Aufrichtung des Besitzes 17 . Daher suchten die Vormünder 1658 die Erlaubnis zum Verkauf nach, der dann am 16. März 1659 für 21 000 Mfl. an die fürstliche Kammer in Altenburg erfolgte. Hans Wolf, dem ein Lehnsstamm von 10 300 Mfl. auf Windischleuba stehen blieb, starb bald darauf, 13jährig, 1661. Das Gut ging für die Familie verloren, da die Poschwitzer Herren nach den schweren Kriegszeiten nicht die Mittel besaßen, es für sich zu erwerben. Mit Hans Wolf erlosch der Windischleubaer Zweig des Geschlechtes. Vor dem 30jährigen Krieg war der Besitz der Familie geeint und groß in der Heimat, neu erworben in Ostpreußen und in der Lausitz. Nach dem Kriege stand das Geschlecht wieder am Anfang seiner osterländischen Geschichte, in Poschwitz. Z wei Zweige der Familie waren erloschen. Nur der des alten Stammgutes war erhalten geblieben, dessen Glieder berufen waren, Träger und Fortpflanzer kommender Generationen zu sein. Wolf Albrecht I. v. d. Gabelentz, der 2. Sohn Christophs v. d. Gabelentz, wurde der Begründer dieser Poschwitzer Linie. Obwohl er auf den Gütern Poschwitz und Nobitz nicht besondere Übernahmelasten hatte wie sein Bruder Christoph Friedrich in Windischleuba, sah er sich doch gezwungen, Nobitz nach vorhergehender Verpachtung am 12. Januar 1622 an Wolf Dietrich von Zechau, fürstlicher Hofmarschall zu Altenburg, für 22 150 Mfl. damaliger Währung zu verkaufen 17 . Die infolge des Krieges einsetzende Münzverschlechterung hat ihm bei diesem Verkauf noch bösen Schaden verursacht. Später besserten sich jedoch seine wirtschaftlichen Verhältnisse und er kaufte das Gut Lemnitz unteren Teils im Orlatal bei Triptis. Aus seinem Leben, das durch die Wirrnisse und Schrecken des 30jährigen Krieges hindurch ging, ist wenig zu berichten. Nach dem Windischleubaer Kirchenbuch von 1635 ist er als fürstlicher Kriegs-Kommissarius zu Altenburg bestellt gewesen. In diesem Amte hatte er mit den Kriegsvölkern aller Heerführer betreffs Durchmarsch, Kontributionen, Abwendung von Plünderung u. dgl., Güte- und Schlichtungsverhandlungen zu führen, vielfach wohl auch bei den zügellosen Soldaten und brutalen Befehlshabern sein Leben aufs Spiel zu setzen. Dieses Amt machte ihn bei Freund und Feind bekannt, denn es wäre ihm ja auch vom Fürsten nicht übertragen worden, wenn er nicht in seiner Klugheit und Geschicklichkeit und seiner Persönlichkeit in ihm den geeigneten Mann zu solchen Verhandlungen gesehen hätte, dem es wohl auch mit zu verdanken ist, daß Windischleuba und Poschwitz vor den ärgsten Heimsuchungen bewahrt blieben. An den großen geldlichen Opfern zum Besten des Kirchspiels und des Landes hat er auch seinen Teil tragen müssen. Anläßlich des Leichenbegängnisses der Herzogin Sophie Elisabeth in Altenburg, dem er mit Gemahlin und Söhnen 1650 beiwohnte, wird berichtet, daß er ein eigenes Haus in Altenburg besaß 57 . Er war verheiratet mit Marie von Schönberg 48 . 4 Söhne und 4 Töchter wurden den Eltern geboren 48 . Wolf Albrecht I. starb den 22. April 1656 48 bei seiner Tochter Marie Catherine, die mit Heinrich von Bünau auf Irfersgrün verheiratet war. Seine Witwe starb im Mai 1662. Unter seinen Söhnen ging das 4. Jahrhundert der Geschichte des Geschlechtes zu Ende. Vom Stammgut aus wurde die Zukunft neu aufgebaut. Es soll von nun an, den Familiengepflogenheiten folgend, die Darstellung nicht mehr in Jahrhunderten zusammengefaßt werden, sondern die nun sich bildenden Z weige des Geschlechtes fortlaufend und durchgehend behandelt werden. Friedrich Wilhelm v. d. Gabelentz, der älteste Sohn Wolf Albrechts I., wurde 1620 geboren und starb 1638 48 . Wolf Albrecht II. v. d. Gabelentz, 2. Sohn Wolf Albrechts I., war geboren den 6. März 1622, kam 1635 bis 1636 als Page zu der Herzogin Elisabeth von Altenburg, in deren Dienst er 4 Jahre verblieb. Soldatentum und Kriegslärm war damals das tägliche Brot der Jugend. Das Schwert brachte schnelleren Gewinn und Ehre als der umdrohte und oft seiner Frucht beraubte Acker. Darum verließ er den Hofdienst, um in den militärischen einzutreten. Unter Obristwachtmeister von Seidewitz dienend 17 , brach er bei Brünn den Arm, ging 1646 17 zu seinem Vetter Christoph Friedrich v. d. Gabelentz nach Ostpreußen, wo er 1½ Jahr blieb. Ostpreußen war damals von den Wogen des Krieges verschont geblieben, und so hoffte er hier vielleicht durch seinen Verwandten neue Heimat und Existenz zu finden. Aber Wolf Albrecht sah, daß für ihn des Bleibens nicht war, und so ging er zunächst als Kornett zu General Hans Christoph von Königsmarck nach Westfalen. Da ihm aber seine Eltern zu einer standesgemäßen militärischen Equipierung nichts beisteuern konnten, nahm er Dienste am Hofe Georgs von Gabelentz_s001-344AK6.indd 45 12.07.13 16: 22 <?page no="48"?> 46 Schönburg auf Lichtenstein bis 1635. Am 30. Mai 1653 48 wurde er mit Marie Magdalene Bose in Poschwitz getraut. Er pachtete einige Jahre das Rittergut Niedertrebra, jedoch gab er die Pachtung auf, um nach dem Tode seines Vaters, 1656, mit seinen Brüdern gemeinsam das väterliche Erbe anzutreten. Um der mißlichen Verhältnisse willen tritt die Mutter 1656 17 einen großen Teil ihrer Nutznießung an die Söhne ab. Aus gleichen Gründen verzichten die Schwestern auf den ihnen zustehenden Erbteil. Im gleichen Jahr 1656 17 kommt es zu einer Teilung, bei der der Wert von Lemnitz auf 5000 Mfl., der von Poschwitz auf 18 000 Mfl. festgesetzt wird. Wolf Albrecht II. und Christoph Sebastian erhalten Poschwitz in gemeinsamen Besitz, später jedoch überläßt Christoph Sebastian seinem Bruder den Alleinbesitz von Poschwitz für 10 000 Mfl. Kaufsumme. [9. Die 1. Poschwitzer Linie. Wolf Albrecht II. v. d. Gabelentz 1622-1667] Wolf Albrecht II. wird nun der Begründer der 1. Poschwitzer Linie. 1663 17 erhielt Wolf Albrecht II., der inzwischen Rittergut Wolftitz pachtweise innegehabt hatte, die Kanzleischriftsässigkeit und bewirtschaftete fortan Poschwitz selbständig. Er konnte das Gut durch Ankauf mehrerer Allodialgrundstücke 17 vergrößern. Am 16. Mai 1667 48 starb er und lag in der Kirche zu Windischleuba unfern des Altares begraben. Sein Grab wurde 1822 bei der Renovierung der Kirche, da es an Aufsicht mangelte, sinnlos zerstört. Nur ein Panzerhandschuh und ein Stilett, die zu seiner Rüstung gehörten, die in der Kirche war, konnten sichergestellt werden und befinden sich heute in Poschwitz, ebenso wurde sein Ölgemälde damals aus der Kirche ins Schloß Poschwitz gerettet. Es ist das älteste Ahnenbild, das in der Familie vorhanden ist. Von ihm stammt ein in Poschwitz liegendes Stammbuch, das mit allerlei Versen und Zeichnungen bekannter Zeitgenossen versehen ist. 2 Schwerter aus den Jahren vor 1600, auch Beigaben in Gabelentzischen Begräbnissen, wurden 1936 bei Kanalisationsarbeiten auf dem Kirchhof in Windischleuba aufgefunden. Eines von ihnen wird in Poschwitz aufbewahrt. Christoph Sebastian v. d. Gabelentz, der 4. Sohn Wolf Albrechts I. 58 , ist im November 1627 geboren 48 , seinen Anteil an Poschwitz verkaufte er wohl an seinen Bruder, aber diesem und seinen Nachkommen sind daraus keinerlei finanzielle Schwierigkeiten entstanden, da er die Auszahlung nie verlangte. 1668 59 wird er unter den Teilnehmern am Begräbnis der Herzogin Magdalene Sibylle von Altenburg genannt. Er verstarb den 29. Januar 1692 48 ohne Leibeserben. Die Zeiten des Krieges rissen manche tiefe Wunde. Gelockert wurden Bande, die früher von Sitte, Glaube und Familientradition unzerreißbar gestaltet waren. Auch dies mußten Wolf Albrecht I. und seine Gemahlin erfahren. Im Testament der Gattin Wolf Albrechts I. 17 wird eine Tochter Sophie Elisabeth v. d. Gabelentz enterbt, da sie sich „aus höchst schimpflichen Leichtsinn und Treulosigkeit an einen leichtfertigen Gesellen heimlich gehengt und mit demselben endlich davongeritten“ ist. Der älteste Sohn Wolf Albrechts II. war Wolf Balthasar v. d. Gabelentz, welcher 1654 geboren ist und 1677 erst die Mündigkeit erlangte 17 . Da aber seine Geschwister noch unmündig waren, konnte ihm und seinen Brüdern erst 1682 die Gesamtbelehnung erteilt werden. Er wurde bei der Erbteilung mit Geld abgefunden. Er war 1668 bei der verwitweten Herzogin von Eisenach, welche in Altenburg lebte, Hof- und Kammerpage 48 . Doch trat er, getrieben von seinem unruhigen Blut, bereits als 16jähriger in Kriegsdienste 17 . Die Kriegstrompeten, die mit dem 30jährigen Krieg erklungen waren, schwiegen auch in den folgenden Jahrzehnten nicht und riefen die Söhne des Adels, die daheim die Arbeit des Landmanns nicht mochten oder als nachgeborene Söhne lieber den Dienst mit dem Schwerte suchten als bürgerliches Federfuchsertum zu treiben, zu Kampf, Streit und Abenteuer. Es fällt auch in diese Z eit die Entstehung der stehenden Heere; Soldat sein wird Beruf. So finden wir Wolf Balthasar 1670 unter dem Befehl Heinrich IV., Reußen zu Plauen, in münsterischen Diensten, 1686 ist er kurbayrischer Leutnant und mit seinem Bruder Wolf Albrecht III. in Ungarn, 1692 ist er kursächsischer Hauptmann und nimmt an dem Rheinfeldzug teil 17,48 . Das Soldatenleben hatte ihn der väterlichen Scholle und der Tradition der Familie entfremdet. Manchen Verdruß hat er seinen Lehnsvettern noch in seinem hohen Alter durch Leichtsinn und Schuldenmachen bereitet 17 . Der Degen und kavaliermäßiges Leben bedeuteten ihm mehr als die Erhaltung des väterlichen Besitzes von Poschwitz, welches er nach dem Tode seines Bruders Hans Christoph 1696 ererbte. Er versuchte mehrfach, seinen Anteil an Poschwitz zu Gelde zu machen, 1697 schloß er aber einen förmlichen Kaufvertrag über den Verkauf des gesamten Gutes. Nur das Dazwischentreten seiner Lemnitzer Vettern verhinderte, daß damals Poschwitz der Familie verlorenging. Wolf Balthasar v. d. Gabelentz_s001-344AK6.indd 46 12.07.13 16: 22 <?page no="49"?> 47 Gabelentz heiratete am 1. April 1693 48 Sidonie verw. von Heynitz, geb. von Einsiedel. Er starb den 2. Oktober 1728 in Grimma 17 . Hans Christoph v. d. Gabelentz, der 2. Sohn Wolf Albrechts II., ist Ende des Jahres 1655 geboren. 1683 schließen die Söhne Wolf Albrechts einen Vertrag, kraft dessen Hans Christoph Poschwitz von seinen Brüdern um 12 000 Mfl. erkaufte. Trotz seines Besitzes, der eine führende Hand brauchte, trat er in kursächsische Militärdienste, so 1685 und 1686 als Leutnant, 1692 als Dragonerhauptmann am Rhein, 1695 auf dem Feldzug in Ungarn 17,48 . Auch er wollte bereits 1689 Poschwitz veräußern, konnte aber dieses Vorhaben infolge des Widerspruchs seines Lemnitzer Oheims nicht ausführen 17 . In seiner Ehe mit Magdalene Elisabeth von Carlowitz wurden ihm 2 Söhne und 2 Töchter geboren 17 , von denen aber nur Johanna Magdalene den Vater überlebte, die sich 1701 mit ihrem Vetter Christoph Friedrich II. auf Lemnitz vermählte 60 . Hans Christoph starb in Dresden am 22. März 1696 17 , seine Witwe am 27. Dezember 1717 in Lemnitz, wo sie im Hause ihrer Tochter ihre Heimat gefunden hatte 60 . Wolf Albrecht III. v. d. Gabelentz, geboren 1657, war der 3. Sohn Wolf Albrechts II. 1679 wird er im Windischleubaer Kirchenbuch Studiosus genannt, später trat er in hessendarmstädtische Dienste. Mit dem darmstädtischen Prinzen nahm er 1683 an der Befreiung Wiens von den Türken teil, 1685 begleitete er die Prinzen Ernst Ludwig und Georg von Hessen auf ihrer 1¼jährigen Kavaliersreise durch die Schweiz und Südfrankreich nach Paris 61 . 1686 war er Hofjunker und Fähnrich bei der hessischen Leibgarde. 1687 war er im Gefolge der hessischen Prinzen auf dem Feldzug in Ungarn. Nach der Schlacht bei Esseg in Ungarn erkrankte er 1687 an der Ruhr und starb. Ein freundliches Geschick ließ seinen Bruder in den letzten Stunden bei ihm, fern der Heimat, sein. Dieser, Wolf Balthasar, ließ ihn, in türkische Matratzen eingewickelt, in einer alten Kirche oberhalb von Esseg, Darenketh genannt, beisetzen. Er starb unvermählt 48 . Christoph Dietrich v. d. Gabelentz war der 4. Sohn Wolf Albrechts II. Von ihm ist nur bekannt 17 , daß er 1677 in dem preußisch-holländischen Regiment dienend, als militärischer Gefangener in Valencia von einem Gefreiten durch einen Stoß in die rechte Seite getötet wurde. Im gleichen französischen Kriege von 1677 ist Carl Friedrich v. d. Gabelentz, Wolf Albrechts II. 5. Sohn, der in der Begleitung des Hauptmanns von Carlowitz diente, gefallen und in einer Kirche in Landau begraben worden 17 . Ein gleiches Kriegerschicksal erlitt der sechste der Söhne Wolf Albrechts II., Haubold v. d. Gabelentz. Er ist im Februar 1663 geboren 48 . 1678 steht er im Dienst des Kurfürsten von Sachsen als Silberpage, 1679 ist er Kammerpage geworden. 1682 reiste er mit seinem Herrn ins Teplitzer Bad, 1683 wird er nach seiner Entlassung aus dem Pagendienst am 22. Juli durch den Oberhofmarschall wehrhaft gemacht 17 . Als Fähnrich des kursächsischen Leibregiments ist er im Gefolge des Kurfürsten Johann Georg III., als dieser am 28. Dezember 1684 eine Reise nach Venedig antritt 62 . Vom März 1685 ist die ihm vom Kurfürsten erteilte Erlaubnis datiert, in die sächsischen Hilfsvölker eintreten zu dürfen, die der Republik Venedig gegen die Türken gestellt wurden; zugleich wird er zum Leutnant ernannt. Im Schönfeldischen Regiment nimmt er am Feldzug in Morea, an den Belagerungen von Calamata, Navarino, Modon und Napoli di Romania teil. Als Hauptmann nahm er 1686 seinen Abschied, um nach Deutschland zurückzukehren. Auf dem Schiff Jean Baptista soll er erkrankt und gestorben und ins Meer begraben worden sein. So erzählt das Windischleubaer Kirchenbuch. Der in Poschwitz aufbewahrte Totenschein besagt, daß er vom Schiffe nach Navarino krank zurückbefördert wurde, dort gestorben und begraben ist. So sind von den 6 Söhnen Wolf Albrechts II., die alle den Fahnen folgten, 4 auf dem Schlachtfeld geblieben, und mit ihrem Tode geht dieser Poschwitzer Z weig der Familie im Jahre 1728 mit dem Tode Wolf Balthasars zu Ende. Mag auch so manches im Leben dieser Brüder überschattet sein, so darf man nicht vergessen, daß die Kinder, denen der Vater zu jung starb, von einer Mutter erzogen wurden, deren Hand in den schweren Zeiten zu weich war, den überschäumenden Mut und die Abenteuerlust ihrer Söhne zur rechten Zeit zu dämpfen. Und wiederum würde man ungern auf den Seiten der Familiengeschichte diese ritterlichen 6 Söhne des Geschlechtes vermissen, die aller Ungunst der Zeit sich mit dem Schwert in der Hand entgegenstemmten und fechtend, darbend, lachend und sterbend sich auf allen Schlachtfeldern der Welt schlugen für ihrer Herren Ruhm und des Alten Reiches Größe und Herrlichkeit. Sie starben alle ohne männliche Nachkommen zu hinterlassen. Mit ihrem reichbewegten Leben verhallt erst der Sturm, der mit dem 30jährigen Krieg über das Geschlecht dahinfuhr, vieles zerschlug und zunichte machte, aber wenn auch der Stamm bis ins Innerste geborsten zu sein schien, erblühte doch wieder dem Geschlecht neues Leben und neuer Aufstieg. Gabelentz_s001-344AK6.indd 47 12.07.13 16: 22 <?page no="50"?> 48 [10. Die alte Lemnitzer Linie. Hans Georg I. v. d. Gabelentz 1624-1700] Wie Wolf Albrecht II. 1662 die bereits 1728 ausgestorbene I. Poschwitzer Linie begründet hatte, so hatte sein Bruder, Hans Georg I. v. d. Gabelentz, der in dieser Erbteilung Lemnitz und ein Kapital von 2666 Mfl. erhielt, 1662 die alte Lemnitzer Linie begründet. Er war der 3. Sohn Wolf Albrechts I. und am 13. Mai 1624 geboren 63 . Nach Vorbereitung im Elternhaus studierte er von 1643 bis 1648 in Jena die Rechtswissenschaften. 1670 17 erkaufte er zu seinem väterlichen Erbe Lemnitz unteren Teils den oberen Teil des Rittergutes. Wie schon erwähnt, hat er über der Erhaltung des Poschwitzer Familienbesitzes gewacht und es gelang ihm, am 30. Juli 1700 Poschwitz um den Preis von 18 500 Mfl. für sich und seine Nachkommen zu erwerben. Wie die Leichenpredigt berichtet, erhielt er einen Tag vor seinem Tode, der in Lemnitz 19. Oktober 1700 60 erfolgte, zu seiner großen Freude die Nachricht, daß der Kauf von Poschwitz fest und gesichert war. Er trat in die Dienste Christians von Schönburg auf Glauchau und Waldenburg und war 20 Jahre lang Bevollmächtigter der Herren von Schönburg auf dem Landtag zu Dresden 20 . Von seiner Gemahlin Sibylle Sophie von Zehnten, geboren den 3. Juni 1646, gestorben den 27. August 1702 60 , hatte er 8 Söhne, von denen aber nur 2 den Vater überlebten. Bei seinem Tode war er Fürstlich Schönburgischer Rat und Hofmeister. Die Leichenpredigt rühmt seine „Frömmigkeit, Wohltätigkeit und wahrhaft adelig Gesinnung“ 17 . Nach seinem Tode schlossen seine beiden Söhne unter dem 23. Juni 1701 einen Erbvergleich 17 , durch welchen Christoph Friedrich II. v. d. Gabelentz den Lemnitzer Besitz erhielt, während sein älterer Bruder Wolf Heinrich Poschwitz erbte und die Neue Poschwitzer Linie begründete. Christoph Friedrich II. v. d. Gabelentz, geboren im Februar 1673, erhielt außer Lemnitz aus Poschwitz 2500 Mfl. herausgezahlt. Mit diesem Geld und dem Erbteil seiner Frau Johanne Magdalene, geborene v. d. Gabelentz, erkaufte er 1706 das Rittergut Schiebelau. Anfangs in Weimarischen Militärdiensten stehend, finden wir ihn 1701 als kursächsischen Hauptmann. Er starb am 7. Juni 1759 zu Schiebelau und ist in der dortigen Kapelle begraben 64 . Eine runde Glasscheibe mit seinem Namen und der Jahreszahl 1706 findet sich im Poschwitzer Turmzimmer. 6 Söhne und 4 Töchter wurden ihm geboren. Sein ältester Sohn Wilhelm Friedrich v. d. Gabelentz starb als 4jähriges Kind den 14. Juli 1706. Johann Christoph Gottlieb v. d. Gabelentz, der 2. Sohn Christoph Friedrichs, ist am 11. September 1703 geboren und im November 1775 als gothaisch-altenburgischer Obristleutnant gestorben 60 . In den Jahren 1739 bis 1747 baute er das neue Lemnitzer Schloß. Über dessen Tür nach Morgen steht: Ao. 1739 ward der Grund zu diesem Hause geleget. Mit Gott glücklich zustande gebracht Ao. 1747 von Hr. Jo. Christoph Gottlieb v. d. Gabelentz, kaiserl. Hauptmann. Über der Tür nach Westen steht: Der Grundstein ward gelegt, der Bau beglückt vollbracht, Gott sey dafür gedankt, der es so wohl gemacht. Angefangt 1739 vollendet 1747. Aus seiner Ehe mit Caroline von Brand entstanden keine Nachkommen. Der 3. Sohn Christoph Friedrichs war Georg Carl Gottlob v. d. Gabelentz 65 . Er ist in Lemnitz 1708 geboren, mit 17 Jahren wurde er Soldat, erst in kaiserlichen Diensten, wurde er mit seinem Regiment später dem König von Preußen überlassen. 1735 ist er preußischer Kapitän, 1746 Major, 1757 Obristlieutenant und Oberst, 1758 Generalmajor. Nach dem Kriege wird er 1764 zum Kommandanten von Schweidnitz ernannt, im Range eines Generalleutnants. Er hat sich in vielen Schlachten des 7jährigen Krieges ausgezeichnet, daher wurde ihm auch 1772 der Schwarze Adlerorden verliehen 66 . Er besaß das Gut Schiebelau. In Schweidnitz verstarb er am 25. März 1777. Christoph Friedrich III. v. d. Gabelentz, 4. Sohn Christoph Friedrichs II., ist 1710 im November geboren. 1727 trat er als Kadett in altenburgische, aber bereits 1730 in württembergische Militärdienste, in welchen er 1736 zum Sekondeleutnant, 1743 zum Premierleutnant, 1744 zum Hauptmann, 1754 zum Major und 1759 zum Oberst befördert wurde. Als solcher wird er unter den Taufpaten Schillers genannt, dessen Vater in seinem Regiment stand. Da die Paten nach damaligem Brauch die Namen des Kindes erteilten, ist Schillers Taufname Friedrich wohl auf ihn als seinen Taufpaten zurückzuführen. 1786 wurde Christoph Friedrich III. Generalleutnant und Gouverneur der Festung Hohen-Twiel. Mit seinem Tode am 8. Januar 1794 erlosch der Lemnitzer Z weig und die in seiner Hand befindlichen Güter Lemnitz und Schiebelau, die er 17 nach dem Tod seiner Brüder ererbt hatte, fielen an die Poschwitzer Linie. Gabelentz_s001-344AK6.indd 48 12.07.13 16: 22 <?page no="51"?> 49 Von den weiteren 2 Söhnen Christoph Friedrichs II. ist nur zu berichten, daß Wolf Heinrich Erdmann v. d. Gabelentz als 22jähriger Kornett in kaiserlichen Diensten 1739 im Feldlager bei Kronstadt in Siebenbürgen gestorben ist, wie auch sein Bruder Johann Friedrich v. d. Gabelentz, ebenfalls unvermählt, 44 Jahre alt, als preußischer Hauptmann in Torgau 1764 starb 17,60 . [11. Die Neue Poschwitzer Linie. Wolf Heinrich v. d. Gabelentz 1669-1709, Wilhelm Ludwig v. d. Gabelentz 1738-1805, Hans Carl Leopold v. d. Gabelentz 1778- 1831, Hans Conon v. d. Gabelentz 1807-1874] Die Neue Poschwitzer Linie wurde von Wolf Heinrich v. d. Gabelentz, Hans Georgs I. ältestem Sohn, begründet. Er wurde am 28. September 1669 geboren 63 . 1701 erhielt er das Rittergut Poschwitz aus dem väterlichen Erbe. Auch er trat in Militärdienste. Mit 17 Jahren finden wir ihn 1686 als Pikenier in der Garde zu Dresden, doch trat er bereits 1687 in koburgische Dienste, 1689 kämpfte er unter der Führung Herzog Heinrichs von Sachsen-Merseburg auf seiten des Kaisers in Italien und Savoyen, 1693 ist er sachsen-weimarischer Fähnrich, 1701 bekleidet er die Stelle eines Dragonerhauptmanns 17 . Am 26. Dezember 1701 17 vermählte er sich mit Anna Helene von Bodenhausen, die am 30. August 1679 geboren war. Diese brachte ihm 9 000 Reichstaler zu, mit welchem Gelde er alte Schulden beglich, seine Wirtschaft ausbaute und das Holz in der Pahna kaufte. Von 4 Kindern überlebten nur 2 Söhne die Eltern. Wolf Heinrich starb den 13. Juni 1709 48 und liegt im Windischleubaer Erbbegräbnis begraben, an seiner Seite seine am 9. Juni 1722 verstorbene Gemahlin. Von dieser rührt ein noch in Poschwitz befindliches großes Tischtuch her, das die Anfangsbuchstaben des Namens ihrer Mutter A(nna) S(ophie) v B(odenhausen) in den Rand eingewebt enthält. Ein Kristallpokal in Poschwitz mit Wappen und Namenszug des Otto Friedrich v. Zanthier wird wohl auch von ihr herstammen, da ihre Schwester Eleonore mit einem Herrn v. Zanthier verheiratet war, sonst aber keinerlei Beziehungen zu dieser Familie nachzuweisen sind. Der älteste Sohn Wolf Heinrichs, Wolf Albrecht IV. v. d. Gabelentz, wurde am 1. Januar 1706 geboren 48 . Nachdem auch seine Mutter gestorben war, kam er als 17jähriger unter die Vormundschaft seines Lemnitzer Oheims Christoph Friedrich II. Aus Akten in Poschwitz ist zu ersehen, daß die vormundschaftliche Verwaltung zu vielerlei Mißständen und Schäden führte; noch 1743 sucht der Vormund gegen ihn erhobene Beschuldigungen in einem längeren Schreiben zu entkräften. Am 23. Februar 1743 17 schließt Wolf Albrecht IV. mit seinem Bruder Hans Georg einen Hauptvergleich, in welchem Hans Georg II. als alleiniger Besitzer von Poschwitz bestimmt wird, Wolf Albrecht aber für seinen Teil 13 000Mfl. zugesichert bekommt. 3000 Mfl. dieser Summe werden aber Hans Georg II. für verschiedene Ansprüche zurückgegeben, 6000 Mfl. bleiben als Lehnsstamm für Wolf Albrecht auf Poschwitz stehen, die restlichen 4000 Mfl. sollte er nur dann ausgezahlt erhalten, falls er heirate und Nachkommen hätte. Dies geschah jedoch nicht. Wolf Albrecht trat nach seinem Studium als Kammerjunker in markgräflich bayreuthische Dienste. Er starb den 10. Januar 1784 in Altenburg und wurde in Windischleuba beigesetzt 48 . So blieb Poschwitz im Besitz Hans Georgs und brauchte infolge des großzügigen Verzichtes Wolf Albrechts IV. nicht belastet zu werden, ja den Kindern Hans Georgs II. fiel nach dem Tode ihres Oheims ein nicht unbedeutender Nachlaß zu, wie der betreffende Erbvergleich 17 es ausweist. Auch der silberne Hostienteller in der Kirche zu Windischleuba ist ein Geschenk dieses freigebigen und mildtätigen Wolf Albrecht IV. v. d. Gabelentz. Hans Georg II. v. d. Gabelentz, der jüngste Sohn Wolf Heinrichs, wurde am 25. Oktober 1707 48 geboren. In seiner Jugend war er Page am fürstlichen Hofe in Gotha. Ein Gedicht, das er auf den Tod des 1728 verstorbenen Hofmarschalls von Zehmen, auf Windischleuba gesessen, gemacht hatte, läßt auf ein für damalige Zeiten anzuerkennendes Talent und Wissen schließen. In den Jahren 1734 bis 1740 war er Kammerjunker, Vizeschloßhauptmann und Kommandant über die Schloßtrabanten zu Altenburg. Er hat auch rühmlichen Anteil an den damaligen Umbauarbeiten am Altenburger Schloß genommen. Später trat er in das Forstfach ein. Als Oberforstmeister war er zuerst in Tabarz und dann in Altenburg tätig, wo er zur Stelle eines Landjägermeisters aufrückte, außerdem war er Herzoglich Sachsen- Gotha-Altenburgischer Kammerherr. Am 23. November 1734 vermählte er sich mit Christiane Amalie von Bose, geboren den 26. Mai 1711 17 . Er starb in Altenburg am 2. August 1773, seine Beisetzung erfolgte in Windischleuba. Seine Gattin starb den 17. April 1783 48 . Von ihr stammt noch ein in Poschwitz vorhandenes Gedeck her, das die Buchstaben CEvB mit der Jahreszahl 1719 enthält, Gabelentz_s001-344AK6.indd 49 12.07.13 16: 22 <?page no="52"?> 50 und ein Geschenk ihrer Mutter Christiane Erdmuthe von Bose ist. 3 Söhne und 1 Tochter überlebten den Vater. Der älteste Sohn Hans Georgs II., Hans Friedrich v. d. Gabelentz, wurde den 16. November 1735 geboren 17 . Als Jagdpage wird er bis 1760 am Hof in Gotha geführt; aber im April des gleichen Jahres erfolgt seine Ernennung zum Hof- und Jagdjunker daselbst. Im August 1760 verläßt er sein Amt, um als Leutnant beim Leibregiment in Gotha einzutreten, aus welchem Dienst er unter dem 21. Dezember 1763 den ehrenvollen Abschied erhielt. 1765 wurde ihm die Aufsicht über die gothaischen Landforsten übertragen, 1767 wurde er zum Oberforstmeister ernannt, 1773 erhielt er die durch seines Vaters Tod erledigte Oberforstmeisterstelle in Altenburg 17 . Am 5. Oktober 1773 schloß er mit seiner Mutter und seinen Brüdern einen Erbvergleich 17 , in welchem der Poschwitzer Besitz auf 24 000 Mfl. veranschlagt wurde. Das Los fiel auf seinen Bruder Wilhelm Ludwig v. d. Gabelentz, mit dem er wie sein damals noch lebender Bruder August Heinrich Adolph einen Kauf über ihre Gutsanteile schlossen. 1774 vermählte sich Hans Friedrich v. d. Gabelentz mit Friderike Dorothee Freiin von Lichtenstein aus dem Hause Lahm. Durch diese Heirat bekam er das Recht, sich unter die Burgmannen zu Friedberg aufnehmen zu lassen. Allein hat er später durch allerlei Umstände verhindert, die Reise nach Friedberg zur Aufnahme und Eidesleistung zu machen, diese Angelegenheit fallen lassen. Nach dem Erlöschen der Lemnitzer Linie erbte er 1794 mit seinem Bruder Wilhelm Ludwig die Güter Lemnitz und Schiebelau. Beide Brüder verglichen sich zunächst unter dem 29. März 1794 mit der verwitweten Frau Obristleutnant v. d. Gabelentz, geborene von Brand, über die Erbschaft, ferner sollte Hans Friedrich Lemnitz für 25 250 Mfl. allein annehmen, Schiebelau aber beiden Brüdern gehören. Am 4. August 1794 wurde jedoch diese Vereinbarung aufgehoben zugunsten des gemeinsamen Besitzes dieser Güter 17 . Am 13. Mai 1800 starb Hans Friedrich in Altenburg, seine Witwe den 25. April 1809 48 . Von ihr, die die kleine Tante genannt wurde, enthält sowohl das Poschwitzer Archiv als auch Wäsche- und Geschirrschrank zu Poschwitz vielerlei Dankenswertes und Interessantes. Wilhelm Ludwig v. d. Gabelentz, 2. Sohn Hans Georgs II., wurde den 10. Januar 1738 in Altenburg geboren. Er trat in preußische Militärdienste und stand in besonderer Gunst bei Prinz Heinrich, dessen Page er 1756 war. Am 24. Juli 1756 wurde er zum Fähnrich im Füsilierregiment des Prinzen Heinrich ernannt. Bald Sekondeleutnant, avancierte er dank der Gunst seines prinzlichen Gönners bereits am 14. Dezember 1760 zum Premierleutnant. Eine Menge Handbilletts des Prinzen Heinrich an Wilhelm Ludwig zeugen von dem fast freundschaftlich zu nennenden Verhältnis der beiden. Trotzdem schied Wilhelm Ludwig aus dem preußischen Dienst, vor allem wohl, da sein Wunsch, in der Nähe des Prinzen selbst bleiben zu dürfen, nicht erfüllt wurde. Im Mai 1762 wird er zum Kapitänleutnant bei der Leibgarde zu Fuß und zum Kammerjunker bei dem Herzog in Gotha ernannt. 1764 rückte er zum Rittmeister auf. Nach seinem Scheiden aus dem Militärdienst erhielt er die Ernennung zum Herzoglich Sachsen-Gotha-Altenburgischen Kammerherrn im März 1769 17 . 1765 wurde ihm auf sein Ersuchen die Exspektanz auf die Kommenthurei Wietersheim des Johanniterordens zugesichert, 1772 wurde er zum Ritter geschlagen. Sein Wappenschild befindet sich unter denen der übrigen Ritter in der Kirche zu Sonnenburg. Nachdem er in der Erbteilung von 1773 das Stammgut Poschwitz erhalten hatte, vermählte er sich 1775 17 mit Christiane Auguste von Lindenau, geboren den 27. August 1751. Den 18. Januar 1778 wurde ihm sein einziger Sohn Hans Carl Leopold v. d. Gabelentz geboren, welchem er noch bei Lebzeiten seinen Anteil an Schiebelau sowie den Anteil, den er daran nach seines Bruders Tode erbte, abtrat. Wilhelm Ludwig war ein stattlicher, eleganter, dem heiteren Leben zugeneigter Herr, wohlwollend und gütig, oft sich selbst zum Schaden. Er hatte das Glück, den gesamten Familienbesitz in seiner und seines Sohnes Hand wieder vereint zu sehen. Nach 20jährigem Verlassensein wurde von ihm das Poschwitzer Schloß wieder wohnlich und behaglich eingerichtet, innen und außen, im Park und Garten manches Neue geschaffen. Wilhelm Ludwig starb den 26. Oktober 1805 zu Altenburg, seine Gemahlin den 3. Juli 1837 zu Poschwitz. Beide sind im Windischleubaer Erbbegräbnis beigesetzt. August Heinrich Adolph v. d. Gabelentz, der 3. Sohn Hans Georgs II., wurde den 14. April 1747 geboren 17 . Nach 4jährigem Pagendienst am Hof in Gotha trat er 1767 als Sekondeleutnant in das Königlich Sächsische Infanterieregiment Graf Solms ein. Er starb unverheiratet den 8. April 1774 in Altenburg und wurde in Windischleuba beigesetzt 17,48 . Wieder ruhte, wie so oft in der Geschichte des Geschlechtes, die Zukunft auf zwei Augen, dem einzigen Soh- Gabelentz_s001-344AK6.indd 50 12.07.13 16: 22 <?page no="53"?> 51 ne Wilhelm Ludwigs, Hans Carl Leopold v. d. Gabelentz, der am 18. Januar 1778 in Gotha geboren wurde 67 . Er genoß Privatunterricht im elterlichen Hause und bezog 1793 die Universität Leipzig, von wo er später nach Göttingen ging. 1798 trat er, 20 Jahre alt, als Assessor in die Regierung zu Altenburg ein, in welcher er 1800 zum Rat befördert wurde [siehe Bild S. 193]. 1797 wurde er in den Johanniterorden aufgenommen wie sein Vater und auf die Commenthurei Wietersheim exspektiviert. Am 17. April 1798 vermählte er sich zum erstenmal mit Henriette Johanne Friederike Philippine von Baumbach, welche aber bereits am 17. 11. 1802 starb. Aus dieser seiner ersten Ehe stammt eine Tochter Dorothea - Doska genannt - Auguste, geboren den 22. Oktober 1801. Diese verheiratete sich 1828 mit dem Pfarrer Justus Jakob Balthasar Hoppe in Altwied, später in Seelbach im Nassauischen. Sie wanderte 1850 mit ihrem Gatten nach Nordamerika aus und starb den 13. August 1855 in Belleville im Staate Illinois. Am 2. Juli 1803 vermählte sich Hans Carl Leopold zum zweiten Male, mit Marianne [Mariane + ] Auguste von Seebach aus dem Hause Großfahner, welche am 15. April 1784 geboren war. In dieser Ehe wurden 1 Sohn und 5 Töchter geboren. Außer dem Sohn Hans Conon sei von den 5 Töchtern folgendes genannt: Pauline v. d. Gabelentz, geboren 31. Oktober 1804 in Altenburg, starb unvermählt den 13. Juni 1824 in Poschwitz. Julie Agnes Elisabeth v. d. Gabelentz, geboren 25. Dezember 1808 in Altenburg, vermählt mit Dr. Julius Göpel daselbst, starb am 2. März 1880 in Altenburg. Marie Mathilde v. d. Gabelentz, geboren 14. April 1810 in Altenburg, vermählt mit Ludwig Hermann Freiherrn von Wangenheim, starb den 11. Mai 1881 in Altenburg. Isidore Sidonie v. d. Gabelentz, geboren 14. Dezember 1812 in Altenburg, Staatsdame der Königin Marie von Hannover, starb den 16. Januar 1884 in Altenburg. Louise Constance v. d. Gabelentz, geboren 11. November 1814 in Altenburg, starb als Stiftsdame daselbst den 5. Juni 1901. Sie hat wertvolle zeitgeschichtliche Erinnerungen über Eltern, Umwelt, Hof und Gesellschaft hinterlassen und besaß eine außerordentliche hellseherische Begabung. In der Kriegszeit von 1805 bis 1814 wurden Hans Carl Leopold wie seinen Vorfahren im 30jährigen Krieg wichtige Ämter zum Wohl und Schutze des Landes und des Volkes übertragen. Vor allen Dingen hatte er, wie einst Wolf Albrecht I., mit den durchziehenden Truppen zu verhandeln. In diese Zeiten fallen auch seine großen Reisen, so 1806 nach Paris, 1810 und 1811 durch Frankreich, Italien und Österreich, über welche wir in den Briefen an seine Frau eine lebendige Schilderung besitzen. In Paris erlebte er unter anderem das Fest des österreichischen Gesandten, Fürst Schwarzenberg, bei welchem Napoleon beinahe einem ausbrechenden Brande zum Opfer gefallen wäre. Gabelentz selbst hatte sich nur die Schuhsohlen verbrannt. Als lebendige Z eugen seiner Reisen haben sich im Park in Poschwitz wertvolle Bäume erhalten, vor allem die große Platane vor dem Haus und die hohen Tulpenbäume, welche er aus dem Jardin des Plantes in Paris schicken ließ. Die Rechnung darüber ist noch erhalten. Seine Ämter, die im Sonderaufsatz [Franz Schmidt: „Leopold v. d. Gabelentz (1778 bis 1831)“ in: Über ein halbes Jahrtausend auf angestammter Scholle, 1938, 91-100 - Hrsg.] näher behandelt sind, seien hier nur kurz aufgezählt: 1810 wurde er zum Herzoglich Sachsen-Gotha-Altenburgischen Kammerherrn ernannt, 1814 war er Regierungsdeputierter bei der Polizeikommission und städtischen Verwaltung in Altenburg, 1819 wurde er an die Spitze der Armenversorgungsanstalten berufen, 1822 wurde ihm das Amt des Vizekanzlers übertragen, 1827 wurde er Direktor der Landesbank des Herzogtums Altenburg, 1830 ernannte ihn der Herzog zum Kanzler. Die Ereignisse des Jahres 1830 mögen es mit verursacht haben, daß Hans Carl Leopold, der seinem Körper und seiner Gesundheit jedes Opfer abverlangte, doch sich zu sehr angegriffen hat und so am 7. März 1831 in Altenburg einer Erkältungskrankheit erlag. Da er der einzige Träger des Geschlechtes durch Jahrzehnte hindurch war, sein 1807 geborener Sohn in den ersten Jahren seines Lebens immer kränkelte, kam der Besitz in die Gefahr, falls er und sein Sohn ohne männliche Nachkommen stürben, in die Hand des Staates zurückzufallen. Darum erkaufte er unter großen Opfern die Allodifikation der Güter Poschwitz, Lemnitz und Schiebelau und erwarb damit das Recht, diese Güter auch an die Töchter weiter vererben zu können. Um die hohen Forderungen zu begleichen, verkaufte er 1811 Schiebelau an Karl Gottlob Esche. Leider waren diese finanziellen Opfer umsonst, da die nachfolgenden revolutionären Ereignisse die einengenden Lehensbestimmungen verschwinden ließen. Einige Jahre später erwarb er das Stadthaus am Markt in Altenburg, welches jedoch sein Sohn Hans Conon 1838 wieder verkaufte. Hingewiesen sei noch auf seine wertvolle Sammlung antiker Münzen, die er aber noch bei Lebzeiten verkaufte 68 . Gabelentz_s001-344AK6.indd 51 12.07.13 16: 22 <?page no="54"?> 52 Seine Gattin überlebte ihn um 45 Jahre und starb am 22. Dezember 1876 in Altenburg. Der einzige Sohn Hans Carl Leopolds war Hans Conon v. d. Gabelentz. Er wurde am 13. Oktober 1807 in Altenburg im sog. Seebachschen Hause auf der Burgstraße geboren. Zwischen 1807 und 1813 gebettet liegen die für die Entwicklung des Menschen entscheidenden ersten 6 Lebensjahre des Knaben. Die Residenzstadt war von dem brausenden Wirbel des Geschehens erfüllt, das damals die Welt erschütterte. Der langgestaute Strom der Völker war durch Napoleon in die Form des Heeres gegossen zum Fluten gekommen: Deutsche in Spanien, Italien und Rußland; Franzosen, Italiener, Spanier, Afrikaner, Russen, Kirgisen, Baschkiren, Tataren, Finnen und Slawen in Deutschland. Mauern, Throne und Reiche brachen nieder, die man für die Ewigkeit gebaut hielt. Ahnen von kommender Umschichtung und Umwertung des Vergangenen brach sich Bahn. Hans Conons Vater, Carl Leopold, bereiste 1810 und 1811 Paris und Italien. Die Militärschule Saint Cyr, auf der Napoleon seine militärische Ausbildung erhalten hatte, begeisterte ihn so, daß er nichts sehnlicher wünschte, als daß sein damals 3jähriger Sohn dereinst auch in Saint Cyr die Soldatenschule besuchte. Zu gleicher Z eit wuchs dieser daheim ein wenig unbeaufsichtigt heran, mehr den Mädchen, Bedienten und sich selbst überlassen. Ein Kind nach dem anderen wurde den Eltern geboren, da war es nicht möglich, allzuviel Zeit an ein einziges zu verschwenden. Fragte einer den 3jährigen Hans Conon, was er wohl werden wollte, und während zu gleicher Zeit der Vater des Kindes in Saint Cyr die erste Stufensprosse eines ruhmreichen Soldatenlebens für seinen Sohn sieht, stellte der 3jährige Knabe ein Ziel auf, das so ganz anders, ja ganz unwahrscheinlich klang: „Ich möchte alle Sprachen lernen, die es gibt! “ Das Rauschen der vielen Sprachen auf allen Straßen war auch ans Ohr seiner Mutter gedrungen, die sich mit allerlei sprachlichen Dingen beschäftigt hatte, vielleicht schon damals, als Hans Conon noch unter ihrem Herzen lag. Und so hat sie wohl schon dem Ungeborenen die Liebe zur Welt der Sprachen ins Herz gesenkt. Und ging nicht einst durch so manchen Ahnen des Geschlechtes die tiefe Sehnsucht nach der weiten fernen Welt? Ist solche Sehnsucht wiedergekehrt im Herzen des Kindes und fand sie dann alle ihre Erfüllung, als der zum Mann herangereifte Knabe mit dem Geistesrosse der Sprachen weiteste Fernen, fernste Weiten der Welt und der Menschheit zu durchstürmen und zu durchforschen berufen war? 1813 hatte der Vater Carl Leopold das Stadthaus am Markt erworben. Irgendwo nach einem Hof zu lag das Z immerchen des Knaben, in dem nun etwas formlos und ohne rechte Aufsicht der Unterricht begann. Vor Lesen und Schreiben kannte er als echtes Altenburger Kind und als Sohn des Mannes, der zu den Erfindern des Skatspieles gehört, die Karten. Darum gab er seinem Onkel, Bernhard von Lindenau, die Antwort: „Lesen kann ich nicht, aber alle Karten kenne ich“. Privatunterricht, dann das Institut des Professor Hauschild waren die erste Etappe auf dem Wege des Lernens, das ihm Inhalt und Glück seines Lebens wurde. Über das Schulmäßige hinaus ging schon in den ersten Jahren sein Streben. Unter den Stachelbeerbüschen im Poschwitzer Garten fanden die Schwestern den Knaben mit einer lateinischen oder griechischen Grammatik, während andere im gleichen Alter sich noch mit der Fibel herumschlugen. Während der Vater von ungewöhnlicher Körperstärke, erfüllt von lebhaftem, feurigem Temperament sich im flutenden Leben am wohlsten fühlte, war der Sohn still, schüchtern, als Kind schon vielmehr auf das Innere gerichtet, wenn er auch später im öffentlichen Leben mutig und entschlossen seinen Mann stellte. Der Gesundheitszustand des einzigen Sohnes, seine andauernde Anfälligkeit machten den Eltern große Sorge. Die Wälder des Altenburger Holzlandes sollten ihm Genesung und Stärkung bringen. Im Hause des den Eltern befreundeten Landjägermeisters von Z iegesar in Hummelshain fand Hans Conon bis zu seiner Konfirmation Aufnahme, elterliche Liebe und Fürsorge, in den Söhnen des Hauses Hugo und Otto frohe Gefährten und Freunde fürs ganze Leben. „Dieser vortrefflichen Familie“, schreibt Hans Conons Sohn, Prof. Georg v. d. Gabelentz in seinen Erinnerungen, „in der ein ernst-sittlicher und religiöser, allem Schönem und Hohem zugewandter Sinn herrschte, verdankte er glückliche und gewiß für die Entwicklung seines Geistes und Herzens segensvolle Jahre“. Gern hat Hans Conon selbst später dieser Z eit gedacht. Nach seiner am 15. April 1821 in Drackendorf, einem damals Ziegesarschen Gute, erfolgten Konfirmation kam er auf das Friedrichs-Gymnasium nach Altenburg, auf dem er bis zu seinem Abitur, 1825, verblieb. In dieser Zeit hatte er für seine sprachwissenschaftliche Entwicklung eine bedeutsame Begegnung mit dem damaligen Altmeister des Chinesischen, Rémusat, dessen Werk: „Éléments [Élémens + ] de la grammaire chinoise“ er durch seinen Mitschüler und bleibenden Freund Hermann Brockhaus, später Professor in Leipzig, kennenlernte. Brockhaus Gabelentz_s001-344AK6.indd 52 12.07.13 16: 22 <?page no="55"?> 53 trat ihm dieses Buch mit den Worten ab: „Weißt du was, Conon, ich habe es satt; nimm du den Rémusat und sage mir, was drin steht“. Hatte er sich bereits als Kind, angeregt durch das chinesische Wort „luk“ = Hirsch, auf schwarzer Tusche abgebildet, mit Erlernung chinesischer Schriftzeichen befaßt, so tat er nun an der Hand des Buches Rémusats den ersten Schritt in die weite Welt der Sprachen unbekannter Fernen. Neben dem Chinesischen erlernte er auf der Schule Hebräisch, Arabisch, Türkisch, Persisch, Spanisch, Italienisch; Französisch und Englisch hatte er bereits im Elternhause erlernt. Das Gymnasium war dem Jüngling mit seinen Gaben und Forderungen viel zu eng. Manches mag er vielleicht im Schulischen auch versäumt haben und nicht immer zur Freude seiner Lehrer. So ersieht man aus dem Abgangszeugnis recht deutlich das Schütteln des professoralen Hauptes über den in die Weite, Höhe und Tiefe des Sprachgeistes stürmenden jungen Edelmann, als ihm 1825 beim Scheiden vom Gymnasium bescheinigt wurde: „Er hätte noch größere Fortschritte gemacht, wenn er nicht ingenii alacritate zu gewissen anderen Studien abgezogen worden wäre.“ 1825 bezog er die Universität Leipzig, um Rechtswissenschaft und Cameralia zu studieren. Innerlich froh und frei hat er sich in diesem Studium, wie auch später im juristischen und Verwaltungsamt nie gefühlt. Prof. Georg v. d. Gabelentz schreibt dazu: „Er konnte dem römischen Rechte nicht das Verderben verzeihen, das dieses dem deutschen Volke gebracht hatte.“ Wie so nahe steht er darin dem Heute, das wieder seinen Weg sucht zu eigenem, bodenwüchsigem Rechte. Und doch überwand er die Gefahren, die das Genie oft seinem Träger bereitet, nämlich im uferlosen Strome des Wollens und Könnens sich ziellos treiben zu lassen, durch das hohe sittliche Pflichtgefühl, dem er auch sein heißestes Wollen und sein bestes Können bedingungslos unterordnete, eine Haltung, die er späterhin sein ganzes Leben hindurch bewahrte. Als einzige Vorlesungen außerhalb seines juristischen Studiums hörte er solche über Mathematik. Diese hohe Schule des Denkens und der gesetzmäßig geordneten Kombination suchte er, weil er, der selbst mit genialer, intuitiver und kombinatorischer Begabung erfüllt war, diese Schule brauchte, um aus ihr die Gesetze der Grenze und Ordnung, die Zucht des Denkens zu erlernen, damit die Wahrheit seiner Forschung vor dem ÜberfIuten der in ihm übermächtigen Quelle genialer Schau gesichert blieb. Vergeblich suchen wir in seinen Aufzeichnungen Vorlesungen und Übungen auf dem Gebiete der Sprachwissenschaft. Er, der Meister dieses Wissens, hat weder in Leipzig noch in Göttingen eine solche Vorlesung besucht, aber ständig neben fortwährender Beschäftigung mit den bereits erlernten Sprachen neues unbebautes Feld gepflügt, besonders Mandschurisch, Mongolisch und die Sprachen des finnisch-ugrischen Sprachstammes, für den damals es so gut wie gar keine Quellen gab. 1828 fand er dann in Göttingen reiche, für die Sprachwissenschaft noch ungehobene Schriften, die er in unermüdlichem Fleiß nicht nur exzerpierte, sondern oft Wort für Wort zu späterer erneuter Durcharbeit abschrieb. Hier entstanden seine ersten Kollektaneen, die er in seinem Leben ständig vergrößerte und durcharbeitete, von deren Ertrag er aber nur einen Bruchteil veröffentlicht hat. Doch ließ auch alles Studium ihm noch genügend Zeit, sich als froher Student mit den anderen seines Lebens zu freuen. Seine Tagebücher sind voll von Gedichten und lustigen Z eichnungen, voll von Scherzen und jugendlich heiteren Erlebnissen. Ihm war kein Tag etwas wert, der ihn nicht in froher Runde mit anderen gesehen hätte; und trotzdem blieb ihm Z eit genug, zu sammeln und zu forschen. So hat er es - dies sei dem Späteren vorweg genommen - sein ganzes Leben gehalten. Er machte die Wissenschaft nie zum Grab aller Behaglichkeit und Lebensfreude. In Poschwitz stand er später am Vormittag am Stehpult, das so klein und unbedeutend aussieht, daß es ein Pförtner in der Fabrik unter seiner Würde hielte, an einem solchen Pultchen seine Eintragungen zu machen, geschweige denn der homo sapiens nostri mundi, der eine ganze Theaterbühne als Schreibtisch benötigt, und geht den melanesischen und den Bantusprachen, dem Syrjänischen oder dem Indianerdialekt der Osages nach, empfängt nachmittags die Altenburger Hofgesellschaft und sitzt abends - nun aber nicht nur einmal, sondern auch fünfmal in der Woche, wie wir aus seinen Kalendarien ersehen - mit dem Pfarrer und dem Kantor aus Windischleuba auf dem Plateau, um dort beim Glase Bier der Welten Lauf zu besprechen. Zu später Stunde heimkehrend setzten die Herren im Poschwitzer Schloß zuweilen noch einen ganz geräumigen Erker auf das Haus der Gemütlichkeit. Er blieb auch in dieser Beziehung sein Leben lang der studiosus litterarum. Glückliche Zeiten, glückliche Menschen, wenn auch bescheiden frohe Menschen, aber nur deswegen glücklich, weil es geniale Menschen waren, die drei oder fünf Stunden des Tages so auskaufen konnten, daß wir armen Epigonen zum mindesten eine Woche brauchen, um den Ertrag dieser fünf im Flug des Genies durcheilten Stunden irgendwie zu Gabelentz_s001-344AK6.indd 53 12.07.13 16: 22 <?page no="56"?> 54 sichten und zu sichern. Eines der Rätsel seines Lebens und seines Schaffens, das wir nur dann lösen, wenn wir beim Blick auf sein Lebenswerk und bei der Frage, wie dies alles geschafft werden konnte, die eine Antwort geben: Genie! Im Jahr 1828 bestand Hans Conon das juristische Staatsexamen und wurde Auditor beim Altenburger Kreisamt, 1830 wurde er als Assessor ans Herzogliche Kammerkollegium berufen, 1831 erfolgte seine Ernennung zum Herzoglichen Regierungs- und Kammerrat. Überraschend schnell wurde der 24jährige bereits in die Spitze der Regierung geführt. Die Amtsgeschäfte sind freilich nicht so drückend und mit zeitraubendem Schriftwechsel angefüllt gewesen wie heute. Hans Conons Tagebuch von 1830 enthält den Arbeitsplan einer Woche, in welchem nur die Zeit von 10 bis 11 Uhr für die Amtsgeschäfte eingetragen ist. Wenn er nun auch seine amtliche Tätigkeit oft als Last empfunden hat, hat er doch nie in der Treue und Sorgfalt bis ins Kleinste nachgelassen. Vor allem fühlte er sich mit all den Menschen verbunden, Bauern, Bürgern und Arbeitern, mit denen er amtlich zu verkehren hatte. Er liebte sie als die Söhne seines Volkes und als die Kinder seiner Heimat, wie ja gerade die Liebe zum Volkstümlichen und Bodenwüchsigen sein ganzes Inneres, seine Sprachwissenschaft und sein historisches Schaffen erfüllte. Von dieser Liebe aus kann man ihn in seiner Ablehnung des preußischen, in welchem er die Gefahr einer Nivellierung und Gleichmacherei erblickte, in seinem Standesbewußtsein als Edelmann, in seinem Hängen an dem großdeutschen Gedanken, der Raum für alle und doch für aller Eigenleben ließ, und doch wiederum in seiner liberalen Gesinnung für alles Echte, aus Volk und Boden erwachsende neue Regen und Leben verstehen. Gerade durch diese Gesinnung wurde er in den Jahren 1830 bis 1849 der berufene Regierungsbeamte, ja dann später der führende Mann der Regierung in Weimar wie in Altenburg. Im Herbst 1831 verlobte er sich mit Henriette Grace Dorothee Ulrike Adolphine von Linsingen aus dem Hause Birkenfelde. Diese war am 4. Dezember 1813 als Tochter des hannoverschen Generals in englischen Diensten, August Heinrich von Linsingen und seiner Gemahlin Albertine geborene von Cornberg, im Feldlager von Ipswich in Südengland geboren. Ihr Vater erlag bald nach der Geburt den Strapazen der Feldzüge. Mancherlei Widerstände stellten sich den Verlobten entgegen, bis am 16. September 1833 die Vermählung in Altenburg gefeiert werden konnte. In der überaus glücklichen Ehe, von der die Tagebücher der Kinder, Verwandten und Bekannten unerschöpflich und immer wieder neu zu berichten wissen, wurden 2 Söhne und 3 Töchter geboren. 1843 wurde Hans Conon zum Geheimen Kammer- und Regierungsrat in Altenburg ernannt. In dieser Stellung leitete er in Wirklichkeit bereits die Hauptgeschäfte der Regierung. Aus diesem Amte schied er 1847, als er als Besitzer von Lemnitz zum Landesmarschall in Weimar, dem Präsidenten des damaligen, ständisch aufgebauten Landtages, berufen wurde. Dieses Amt führt ihn 1848 in die Revolutionswirren Weimars. Ein kleines Geschichtlein, das seinen Briefen an seine Frau entnommen ist, mag zeigen, wie er es damals verstand, durch Mut, Entschlossenheit und Klugheit auf die erregten Volksmassen zu wirken. Man hatte ihm in den ersten Tagen des März 1848, verhetzt durch Demagogen, eine Katzenmusik gebracht, die ihn als völlig unmusikalischen Menschen aber gar nicht weiter berührte. Am Tage darauf wandte sich die Wut des Volkes gegen einen Minister, der bleich und zitternd im Schloß Hilfe suchte. Das Volk drohte, das Schloß zu stürmen, als Hans Conon v. d. Gabelentz zu diesen Vorgängen hinzukam. Trotz des Vorfalles am Tage zuvor war er sofort bereit, zum Volk zu sprechen und ihm, seinem Mut und seinem energischen Auftreten gelang es nicht nur das Volk zu beruhigen, sondern es so zu begeistern, daß es unter Hochrufen auf den Herrn Landesmarschall davon zog, ohne weiteren Schaden anzurichten. Am gleichen Abend aber brachte man ihm ein stimmungsvolles Ständchen im Gefühl dankbarer Anerkennung, das ihn aber ebensowenig rühren konnte wie die Katzenmusik am Tag zuvor. Inzwischen war er bereits ausersehen, die gesamtthüringischen Staaten für die 12. Stimme des Bundestages in Frankfurt zu vertreten. Es ist daraus ersichtlich, wie sein Name und seine Person über die Grenzen seiner Heimat hinaus Geltung und Ruf besaßen. Am 28. März 1848 begibt er sich nach Frankfurt, wo er auch später als Bundestagsgesandter mitwirkte. Sein Nachbar war der Dichter Uhland, der den altenburgischen Edelmann erst dann einer Unterhaltung wert erachtete, als er erfuhr, daß der Herausgeber des „Ulphilas“ derselbe sei, wie der Bundesgesandte und Geheime Rat v. d. Gabelentz. Wir sind heute gewöhnt, die Jahre um 1848 ein wenig humoristisch zu sehen, blättert man aber in den Briefen Hans Conons, seinen Berichten und den damaligen Zeitungen, so merkt man, wie grauenvoll blutig das deutsche Schicksal sich gestaltet haben würde, hätten nicht Männer wie er in brennender Gabelentz_s001-344AK6.indd 54 12.07.13 16: 22 <?page no="57"?> 55 Liebe zum Vaterland, in nie wankender Treue und ungebrochenem Pflichtgefühl auf ihrem Posten in selbstlosem Dienste ausgeharrt. Hans Conon erkannte den Ernst dieser Stunden und Tage, aber auch sein ganzes treues Mannestum klingt aus den Worten: „Wenn in der Paulskirche nur etwas Gescheites zustande kommt, bin ich bereit, mich für das Vaterland in Frankfurt politisch totschlagen zu lassen“. Pfarrer und Kirchenrat Löbe in Rasephas, einer seiner vertrautesten Freunde von Jugend an und Mitarbeiter in der Sprach- und Geschichtswissenschaft, widmete ihm im Altenburger Hauskalender von 1875 einen Nachruf, der von ihm als einem, der es mit erlebt hat, geschrieben deutlich schildert, durch welch wichtige Fragen und Nöte Hans Conon v. d. Gabelentz damals das in seiner politischen und wirtschaftlichen Existenz bedrohte Staatsschiff des Herzogtums Altenburg, ja Gesamtthüringens und Deutschlands mit einbegriffen, mit sicherer treuer Hand geführt hat, wie er nie den Kopf verlor, immer klar, nüchtern, unverbittert blieb, wie er auch bereit war, für sein Vaterland in den Tod zu gehen. Hans Conon hat außer in seinen Briefen diese Erlebnisse, seine Arbeit und seine Sorgen nirgends schriftlich niedergelegt. Er suchte nicht nach Lohn, haschte nicht nach Popularität, sein Herz war ja auch in diesen Z eiten bei seinen Büchern und seinem Stehpult, aber wenn auch keine Zeitung von seinem Verdienste kündete, fiel ihm doch die Achtung, Verehrung und die Liebe des Volkes ungesucht zu. Denn der wahren Größe beugt sich des Volkes Herz. Daher berief ihn auch Herzog Georg von Sachsen-Altenburg am 30. November 1848 an die Spitze der Regierung, jedoch schied er bereits im August 1849, nachdem wieder ruhigere Verhältnisse eingetreten waren, auf seinen Wunsch, unter den höchsten Ehren entlassen, aus dem Staatsdienst. Sein Wirken in der Öffentlichkeit, abgesehen von der Tätigkeit als Abgeordneter auf dem Unionsparlament in Erfurt, beschränkte sich von jetzt an nur darauf, dem Altenburger Landtag von 1851 bis 1870, mit Ausnahme des Jahres 1854, zu präsidieren. 1855 wurde ihm der Titel eines Wirklichen Geheimen Rates verliehen, und als die Poschwitzer Exzellenz lebt er noch heute in den Dörfern der Heimat fort. Henriette v. d. Gabelentz, geb. von Linsingen. Ölbild von G. Reichmann (1832), heute im Lindenau-Museum, Altenburg Hans Conon v. d. Gabelentz. Ölbild (1831), alte Kopie nach Ludwig Doell, heute im Lindenau-Museum, Altenburg Gabelentz_s001-344AK6.indd 55 12.07.13 16: 22 <?page no="58"?> 56 Überblickt man nun das Leben Hans Conons und seine öffentliche Tätigkeit, so müßte man meinen, es sei zu anderen Studien in diesen Jahren wohl wenig Zeit und Muße geblieben. Jedoch offenbart sich hier die schon erwähnte, in ihm wohnende riesenhafte Kraft, den oft wenigen Stunden des Tages, die ihm blieben, das in geistiger Arbeit abzurin gen, was nur irgendwie möglich war. Aber er war auch in seiner Arbeit nicht nur der hochgestellte Staatsmann, der weithin geachtete Edelmann, nicht nur der souveräne Forscher der Sprache; die Welt, in der er lebte, ihre kleine Geschichte, ihr Sein und Werden umfaßte er mit der echten, warmen Liebe des getreuen Haushalters im Reiche des Geistes, der sich auch in das Kleinste, Unscheinbarste mit gleich großer Liebe und Treue versenkte. Und er stand mit seinem Her zen in dem großen Strom vaterländischen Empfindens, der überall im deutschen Land die Menschen aufrief, dem Einst ehrfurchtsvoll forschend nachzugehen, weil man in der Ge schichte der Vergangenheit zu lernen hoffte, wie man das große, ersehnte, geeinte Vaterland bauen und formen konnte. Als am 29. September 1838 der nachmalige Geheimrat Dr. Back zur Gründung der Geschichts- und Altertumsforschenden Gesellschaft des Osterlandes in Altenburg aufforderte, folgte Hans Conon als einer der ersten diesem Rufe. Am 3. November desselben Jahres wurde die Gesellschaft gegründet, und der damals 31jährige Regierungs- und Kam merrat Hans Conon v. d. Gabelentz zum Vorsteher erwählt. Dieses Amt - nur einige Jahre löste Regierungs- und Obersteuerrat Wagner ihn ab - hat er fast ununterbrochen bekleidet, nun aber nicht, um allein mit seinem Namen und Rang der Gesellschaft vorzustehen und ihr möglichste Förderung zu verschaffen; er hat nicht nur ständig den Sitzungen bei gewohnt und die technische Leitung in der Hand gehabt, er war selbst einer der eifrigsten Mitarbeiter und Mittätigen an diesem Werk. Und wirkliche Freundschaft verband ihn mit allen Männern dieser Gesellschaft, ob sie Gelehrte oder Kanzleiassistenten waren, Handwerker, Kaufleute oder Bau ern, wenn sie nur gleiche Liebe und gleiche Begeisterung zur vaterländischen Sache erfüllte. Hans Conon war unter ihnen als Primus inter pares, aber um ein Wort aus dem Nachruf eines seiner gelehrten Freunde vorauszunehmen: „Hans Co non war Primus inter pares. Er sorgte für die Parität, oder [aber + ] (weil sie sich alle innerlich vor ihm beugten) für das Primat sorgten die anderen.“ So waltete er seines Amtes in der Altertumsforschenden Gesellschaft. Seinem Namen ist es wohl auch zuzuschreiben, daß Altenburg 1864 zum Vorort aller Geschichts- und Altertumsforschenden Vereine Deutschlands gewählt und Hans Conon berufen wurde, den Generalversammlungen dieser Vereine vorzustehen. So leitete er 1864 die Generalversammlung in Konstanz, 1865 in Halberstadt, 1867 in Freiburg, 1868 in Erfurt, 1869 in Regensburg und 1871 in Naumburg. Von seiner überaus reichen Mitarbeit als Forscher der heimatlichen Altenburger Geschichte berichten die ersten 7 Bände der Mitteilungen der Geschichts- und Altertumsforschenden Gesellschaft des Osterlandes. Nach diesen hat er insgesamt 64 Vorträge gehalten, von denen 24 zumeist in den oben genannten Mitteilungen veröffentlicht wurden. Sie seien chronologisch geordnet hier mitgeteilt: Bd. I, S. 133 bis 135: „Über die am 17.9.1841 erfolgte Ausgrabung auf dem Leuseberge bei Waltersdorf “. Ergänzungen dazu in Bd. VII, S. 422 ff. Bd. II, S. 37 bis 41: „Über die altadelige Familie derer von Dera“. Bd. II, S. 42 ff.: „Über die Familie derer von Selbitz und das Schlöpitzer Sonnenlehen“. Ergänzungen Bd. III, S. 110 ff. Bd. II, S. 145 bis 201: „Die Aufhebung des Deutschen Ordenshauses und deren Folgen 1539 ff.“. Bd. II, S. 238 bis 250: „Über den Pleißengau und das Pleißener Land“. Bd. II, S. 302 ff.: „Altenburgische Belagerung 1632“. Bd. IV, S. 14 bis 32: „Der deutsche Ritter Hans v. d. Gabelentz“. Bd. IV, S. 279 bis 308: „Zur Geschichte des Pleißner Landes unter Heinrich dem Erlauchten und Albrecht dem Ausgearteten“. Nachträge dazu: Bd. V, S. 130. Bd. V, S. 45 ff.: „Über die Entstehung der Familiennamen, mit besonderer Rücksicht auf Sachsen und Thüringen“. Bd. V, S. 87 ff.: „Über eine Urkunde Dietrichs v. Leisnig vom Jahr 1291“. Bd. V, S. 422 ff.: „Zur ältesten Geschichte des Nonnenklosters Mariae Magdalenae in Altenburg“. Nachtrag dazu: Bd. VI, S. 217. Bd. VI, S. 156 ff.: „Über den Limes Sorabicus“. Bd. VI, S. 199 ff.: „Die Schulen der Stadt Altenburg vor und während der Zeit der Reformation“. Bd. VI, S. 274 bis 465: „Die ausgestorbenen Adelsfamilien des Osterlandes“. Nachträge dazu: Bd. VII, S. 271 und 422. Bd. VI, S. 528 ff.: „Die Familie de Proprio“. Bd. VI, S. 531 ff.: „Eine Urkunde des Burggrafen von Starkenberg von 1398“. Bd. VII, S. 77 ff.: „Abschriften aus dem Kopialbuche des Altenburger Regierungs-Archivs C I XIV A 12“. Bd. VII, S. 254 ff.: „Ein Beitrag zur Geschichte des Bruderkrieges und Apels Vitztum“. Bd. VII, S. 307 ff.: „Der Pleißengau im 10. Jahrhundert“. Bd. VII, S. 405 (gemeinsam mit Pfarrer Dr. Löbe) : „Einige Bemerkungen über Langenleuba“. Bd. VII, S. 422 ff. (teilweise schon erwähnt): „Nachträge und Berichtigungen zu früheren Mitteilungen“. Gabelentz_s001-344AK6.indd 56 12.07.13 16: 22 <?page no="59"?> 57 In der Zeitschrift des Vereins für Thüringer Geschichte, Bd. VI, 1865, S. 235 bis 248: „Erzählung über die Bekehrung Thüringens und die Einrichtung ihrer Gerichte. (Aus einer alten Handschrift, in der Poschwitzer Bibliothek befindlich und aus den Jahren 1425 bis 1430 stammend, mitgeteilt). Nach seinem Tode erschien in den Leisniger Mitteilungen der dortigen Altertumsforschenden Gesellschaft 69 , H. IV, 1876: „Regesten der Burggrafen von Leisnig“. Von den restlichen 40 dem Titel nach bekannten mündlichen Vorträgen sind bisher keinerlei Aufzeichnungen gefunden worden. Nach den Angaben in den Jahresberichten der Altertumsforschenden Gesellschaft des Osterlandes hat seine Beschäftigung mit der Geschichte der Familie, die sehr umfangreich war und deren Resultate auch heute noch gültig sind, ihn auch zu weiteren genealogischen Forschungen und zu Berichten über urkundliche Funde in diesem Zusammenhange geführt. Hier sei auch die wertvolle Sammlung der Bücher Diplomatica betreffend in der Poschwitzer Bibliothek erwähnt, die bezeugt, daß er wissenschaftlich und ernsthaft, soweit damals Quellen und Hilfsmittel zur Verfügung standen, Urkundenforschung betrieben hat. Mit seinem Sprachstudium verbundene Vorträge finden sich 3 an der Zahl. Zahlreicher sind Berichte aus der Zeit des 30jährigen Krieges im besonderen und des 17. Jahrhunderts im allgemeinen, über Handschriften und Chroniken seiner Bibliothek, über Urkunden aus Altenburger Turmknöpfen, über Altenburger Bevölkerung und ihre Stammeszugehörigkeit. Über prähistorische Funde hat er, dem wissenschaftliche Exaktheit und nur die Mitteilung des wirklich Verbürgten über alles ging, sich ein Gutachten eines Dresdener Fachmannes eingeholt. Soweit seine Darstellungen veröffentlicht sind, zeigen sie einen klaren, überaus schlichten Stil, der fast an den amtlicher Referate erinnert. Alles, was den Historiker auszeichnet, besaß Hans Conon: kritischen Sinn für Behandlung der Quellen, die ihm durch Fleiß beim Sammeln und Finderglück oft reich flossen, verband er mit der Gabe sicherer Kombination bei strengster Z urückhaltung im Urteilen dort, wo noch Rätsel blieben. Für ihn, der den Sprachgeist der ganzen Erde durchforschte, der die unbebauten Strecken dieser Wissenschaft erschloß, in fernsten Ländern und Völkern sich einzuleben wußte, freilich ohne sie zu besuchen, war dieses historische Arbeiten gleichsam ein Wandern auf vertrauten, lieben, räumlich und gemütlich nahen Pfaden, eine gewünschte und geliebte Ergänzung der anderen Seite seiner Lebensarbeit, nämlich der Sprachwissenschaft. Über Hans Conon als Sprachforscher hat sein Sohn Prof. Hans Georg Conon v. d. Gabelentz in der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften am 11. Dezember 1886 berichtet. Auf dessen Darstellung sowie auf den Erinnerungen Hans Conons Tochter Clementine, Freifrau von Münchhausen, der Mutter des Dichters Börries, Freiherrn von Münchhausen, beruht zum größten Teil neben sonstigen Akten in Poschwitz und anderswo die vorliegende Darstellung und auch die Schilderung seiner sprachwissenschaftlichen Methode, des Werdens seiner Forschung und der Arbeit auf diesem Gebiete. Gegenüber der damals unter Grimms und Bopps Führung aufkommenden und blühenden Schule der Indogermanisten, die die zerlegende Vergleichung toter Wortstämme, Formen und Laute pflegten, suchte Hans Conons eigentümliche polyglotte Begabung, Wilhelm von Humboldt verwandt, den Geist fremdgearteter Sprachen zu erforschen. Er ist nicht Anatomist und Atomist der Sprachen gewesen, man kann ihn den Biologen der Sprachwissenschaft nennen, der nicht nach den formalen Verhältnissen der Sprache und deren Verwandten fragt, sondern nach den geheimen Lebenskräften, aus denen die Sprache sich formt und lebt. Das tiefe, liebevolle Verständnis für alles Volkstümliche und Bodenwüchsige fand hier seine Krönung in der Art und dem Z iel seiner Forschung. Letzteres wird uns besonders klar in seiner Vorrede zum „Passivum“ - Abhandlung der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften VIII -, in welcher er das Wesen der Sprache folgendermaßen beschreibt: Die Sprache, als der Ausdruck des menschlichen Denkens durch artikulierte Laute, ist das Produkt einer in der geistigen Natur des Menschen begründeten Notwendigkeit. So wie das Atmen dem tierischen Leben, so ist die Sprache dem geistigen Leben Bedürfnis. Aber nicht nur jeder Volksstamm, sondern in Wahrheit jeder Mensch redet seine eigene Sprache. Ideenkreis und Ideengang des Sprechenden, Bedürfnisse und Anschauungsweisen bilden Sprachstoff und Sprachform aus. Beispiele aus dem Kreis der Indianersprachen, deren Mannigfaltigkeit zum Beispiel für „Essen“, „Hungern“, „Wunden haben“; Beispiele aus dem Lappischen mit seinen 30 Ausdrücken für „Renntier“; des Tagalischen mit seinen vielen Worten für „Reis“; des Arabischen für „Kamel“ und „Löwe“ beweisen diese seine Auffassung für die Bildung des Sprachstoffes aus Umwelt und Leben des Redenden, während er für die Sprachformbildung als Beispiel auf die reiche Ausgestaltung des grammatischen Genus bei den arischen Völkern hinweist, die er in Verbindung bringt mit den religiösen Anschauungen der Arier, die Himmel und Erde, Luft und Wasser mit einer Menge von Gottheiten bevölkerten und alles personifizierten. Gabelentz_s001-344AK6.indd 57 12.07.13 16: 22 <?page no="60"?> 58 So ist ihm im Gegensatz zu Jacob Grimm die Sprache nichts willkürlich Gemachtes und Erfundenes, sondern etwas Gewordenes und Werdendes. Sie ist ihm nicht Ausdruck des Darzustellenden, sondern des Darstellenden, daher auch nicht allein objektiv dem Inhalt nach zu betrachten, sondern subjektiv zu fassen; denn in der Sprache reden die Eindrücke, welche die Gegenstände auf den menschlichen Geist machen, und die Vorstellungen, die der menschliche Geist sich über die Eindrücke macht, in der Sprache kommen die Art und Weise, wie die Gesichtspunkte, unter denen er sie betrachtet, zum Ausdruck. Ihm stand die Entwicklung des Sprachgeistes und damit des Menschengeistes in den Völkern wie in den einzelnen im Brennpunkt seines Interesses. Er untersuch te, wie sich die Sprachen des Erdballes den verschiedenen grammatischen Kategorien gegenüber verhielten, um so den sprachbauenden Menschengeist in aller seiner Mannigfal tigkeit, aber auch in seiner Totalität kennenzulernen. Diese Arbeit, deren Krönung eine allgemeine Grammatik gebildet hätte, hat er nie vollendet. Ihm war trotz des überreichen Maßes an sprachlichem Wissen doch noch zu wenig Stoff gesichert, um vor die Öffentlichkeit mit verbürgten Feststel lungen treten zu können. Er hat auch nie ausgesprochen, an wieviel und an welche Kategorien er dabei gedacht hat. Nach 3 Hauptrichtungen bewegte sich seine Forscherarbeit: 1. Wollte er die verwandtschaftliche Zusammengehörigkeit der Sprachen ergründen, 2. ihren geschichtlichen Veränderungen in den Lauten, Formen, Wörtern und Bedeutungen nachgehen, 3. die mannigfaltigen Äußerungen des menschlichen Sprachvermögens erkunden. Da diese seine Arbeit den gesamten Erdball umspannte, die Erde damals aber noch im Zeichen der großen weißen Flecken nicht nur auf dem Gebiet der Landkarten, sondern auch auf dem der Sprachen stand, seine Arbeit sich daher auch nur in geringem Umfange auf Quellen deutscher Bibliotheken aufbauen konnte, war er genötigt und auch wirtschaftlich in der Lage, sich selbst in Poschwitz eine solche polyglotte Bibliothek zu schaffen, die damals einzig dastand und durch seinen Sohn Georg besonders auf dem Gebiet der ostasiatischen und amerikanischen Sprachen weiter ausgebaut wurde. Auch heute noch gilt sie trotz ihrer historischen Bedingtheit nach der Aussage eines Forschers als der einzige Raum Deutschlands, in dem man fast allen Sprachen der Welt begegnet. Zu der Wertung der Bibliothek etwas aus den Erinnerungen seiner Tochter Clementine: Da kam ich eines Morgens in Papas Stube und merkte an seinem strahlenden Gesicht, daß er eine Freude gehabt hatte. Er erzählte: ,Da habe ich heute einen Brief bekommen aus Wien, von einem Herrn, der fragte nach einem Buch. In Wien hätten sie es nicht, hätten ihn nach Paris verwiesen, die hatten’s auch nicht, verwiesen ihn nach Berlin, die hatten’s wieder nicht, vielleicht wär’s in London und in London haben sie ihm geschrieben, wenn’s einer hätte, wäre ich’s. Und es ist schon auf der Post.‘ Man sieht daraus auch seine eigene Freude und seinen stillen Stolz auf den Schatz seiner Bibliothek. Hans Conons Forschertätigkeit ist nicht aus dem endgültig zu bestimmen, was er veröffentlicht hat. Seit seiner Göttinger Studentenzeit 1828 hat er unermüdlich Kollektaneen angelegt, von denen aber nur ein Bruchteil dem Druck übergeben wurde. Seine Gewissenhaftigkeit, nur das unbedingt Feststehende kundzutun, hinderte ihn, vieles, was er in intuitiver Schau bereits richtig erahnt hatte, zu veröffentlichen. Seine Kollektaneen im Druck herauszugeben, ist heute unmöglich geworden, es hätte nur sein Sohn, der seine Forschertätigkeit und Forschermethode genau kannte, tun können, aber diesem wurde ja die Feder durch frühen Tod zu zeitig aus der Hand genommen. Alle Versuche, seine Methode zu erklären und darzustellen, geben nicht die Möglichkeit, seine Arbeitsart auch für einen anderen zum Sprachenlernen fruchtbar zu machen. In die letzten Tiefen seines genialen Könnens kann wohl kein Heutiger hinabsteigen, darum sei das Folgende nur als ein Herantasten an die geistesgewaltige Art und Weise seiner Sprachforschung zu werten. Als er als 16jähriger Gymnasiast an das Chinesische herantrat, hat er nicht die Regeln der Rémusatschen Grammatik erlernt und nachlesend angewandt, sondern seine eigene Methode aufgebaut, die für seine ganze spätere Forschung entscheidend wurde. Er schrieb sich Beispiele aus Sprach- und Leseproben ab, suchte aus ihnen sich die grammatikalische Form und Gestaltung der Sprache, Wort für Wort und zunächst ohne systematischen Zusammenhang zu ergründen. Dadurch gelangte er zu einem weit tiefer gelagerten Besitz der Sprache, deren Leben ja nie durch Regeln erfaßt werden kann. Denn die Ausnahme, die große Schwierigkeit für alle, die nur von der grammatischen Gesetzmäßigkeit aus die Sprache lernen, gibt ja der Sprache selbst ein immer wieder neues Tor zu stetem Fortschreiten und Abwandeln. Wo das Gesetz der letzte Ausdruck der Sprache ist, ist die Sprache Gabelentz_s001-344AK6.indd 58 12.07.13 16: 22 <?page no="61"?> 59 tot. Zu dieser Methode kam die ihm noch besonders eigentümliche Begabung, Geheimschriften entziffern zu können. Auch hier birgt die Poschwitzer Bibliothek die wunderbarsten Schätze ältester in die Inkunabelzeit reichender Werke über diesen Gegenstand. In dem Wirrwarr irgendwelcher nach geheimnisvollem Schlüssel zusammengefügten Laute eroberte sich Hans Conon dank der ihm innewohnenden genialen kombinatorischen Begabung erst die kleinsten Worte, die er in einer gewissen Wiederkehr der verwirrten Laute erkannte und ausdeutete, von dem kleinen schritt er zum größeren Wort, von 3 bis 4 Wörtern zum ganzen Satz, bis er dann das ganze Schriftstück herunterlesen konnte. Daß natürlich ein ungeheueres Gedächtnis ihn darin unterstützte, braucht nur hiermit gesagt zu werden. Diese Dechiffrierkunst wurde zum seltsamsten Kinderspiel, das je in einer Kinderstube gespielt wurde. Sie trat in Poschwitz an die Stelle des gewöhnlichen Rätselratens. In des Vaters Stube hatten während der Arbeit nicht die Frau, aber die Kinder freien Zutritt. An ihnen, ihren Fragen und Reden lernte Hans Conon immer von neuem, sich in die Denkart primitiver Menschen, ihre Redeweise und ihre Anschauung einzuleben. Daher war es ihm nie zuviel, mit ihnen zu plaudern, mit ihnen zu zeichnen, ihre Fragen zu hören, ihren Geist zu lenken. Aber die Kinder wuchsen, von ihm geführt, in sein Lebenswerk mit hinein, ihnen war die Welt der Samojeden und Syrjänen, der Bantu und der Kaukasier, der Dakota und der alten Kelten nichts Fremdes, und es war ihnen die größte Freude, zum Beispiel ein altirisches Gedicht nach einem bestimmten Schlüssel in einen unmöglichen Haufen fremdartiger Laute zu verwandeln und dem geliebten Papa zur Entzifferung vorzulegen. Dieser legte geduldig seine Arbeit über irgendeine melanesische Sprache beiseite, nahm die im Kinderkonvent entstandene Arbeit freundlichst lächelnd entgegen, fuhr mit dem Z eigefinger der linken Hand in die linke Locke seines Hauptes - eine Bewegung, die ihm besonders eigentümlich war - und begann, den Zettel zu studieren. Nach einer Weile von 5 Minuten verkündete er zur atemlosen Freude der Kinder, die auf ihren Vater ja so stolz waren, daß das Schriftstück in irischer Sprache geschrieben sei, diese und jene Worte habe er bereits erkannt, und nach einer Viertelstunde hat er das Gedicht in vollendeter Art wiedergegeben. Nichts kann deutlicher machen, als diese Kindergeschichte, daß wir hier vor einer der wichtigsten Quellen seines Könnens und Wissens stehen, die wir aber nur beschreiben, nicht näher erklären können, da ja das Genie sich dem Zugriff des verstandesmäßigen Begreifens entzieht. Daher hat sein Urenkel Georg v. d. Gabelentz, Rechtsanwalt in Poschwitz, diese geniale Art seiner sprachlichen Begabung am besten mit den Worten umschrieben: „Die fremden Sprachen und ihre Sprachproben waren meinem Urgroßvater Rätsel, die er löste, wie heute einer Rätsel in seiner Illustrierten löst. Und die Fähigkeit, jene Rätsel zu lösen, besaß nur eben er.“ Das, was im Rohbau an sprachwissenschaftlichen Forschungen handschriftlich von ihm noch vorhanden ist, enthält oft gar keine Überschrift, so daß große Wortsammlungen heute noch nicht ihrer Sprache wieder zugeteilt werden können. Der heute neu aufgestellte Bibliothekskatalog nennt Wortsammlungen und Sprachproben aus etwa 2000 Sprachen, von denen Hans Conon ja allein 209 [208 + ] im „Passivum“ für seine Darstellung ausgewertet hat. Im vollen Umfang hat er 83 Sprachen durchforscht, die aber allen Sprachfamilien angehören. Vor allem galt seine Arbeit den schon genannten weißen Flecken. 30 dieser damals unerforschten Sprachen verdanken ihm die erste Bearbeitung. Aber auch mit allen gleichzeitigen sprachwissenschaftlichen Versuchen hat er sich beschäftigt, wie die reichhaltigen Quellen in der Bibliothek es beweisen, er überließ aber diese Arbeiten wie Ägyptisch, Koptisch, Semitisch, Babylonisch, Altpersisch, Indogermanistik usw., nachdem er sich ernstlich mit ihnen abgegeben hatte, anderen, die als Einzelspezialisten auf diesen Gebieten arbeiteten, um immer wieder das unbebaute Feld zu suchen und als erster durch das Unbekannte zu wandern und es zu erschließen. Missionare und Reisende, Kaufleute und besonders auch sein Schwiegersohn von Carlowitz, der in Schanghai die heute noch blühende Firma gleichen Namens gründete, zuweilen auch der Z ufall vermittelten ihm Kenntnis und Proben solcher neu entdeckten Sprachen und Völker. Ein Vaterunser, einige Kapitel der Bibel waren ihm genug, erstmalig in den Geist und dann auch in die genauer zu beschreibende Form der Sprache einzudringen. Natürlich hat er nicht einseitig die vorher vielleicht etwas zu stark beurteilte Methode Bopps und Potts verworfen, sondern sie vor allem, wo Material sich bot, auch angewandt, wenn es auch ihm immer wieder um mehr ging als nur zum abstrakten Formalismus zu gelangen. Er hörte das Blut der Menschen rauschen, wenn er ihren Worten nachsann, und ist uns darum heute so ganz nahe geworden. Er hat nie nach Ruhm in seinem Leben gestrebt, aber wie ihm in seiner politischen Tätigkeit die Anerkennung ungesucht zufiel, so durfte er sich als Sprachforscher auch dessen freuen, daß man ihm als dem genialen Gabelentz_s001-344AK6.indd 59 12.07.13 16: 22 <?page no="62"?> 60 Meister der Sprachwissenschaft alle Ehren und Würden der gelehrten Welt zukommen ließ. So verlieh ihm die Universität Leipzig den Doktor der Philosophie honoris causa, 1846, die Landesuniversität Jena trug ihm, dem größten Gelehrten Thüringens, den Posten eines Kurators der Universität an, den er ebenso ablehnte wie die leitende Stelle am Germanischen Museum in Nürnberg, die man ihm als Herausgeber des „Ulphilas“ und beachtlichen Forscher deutscher Geschichte zugedacht hatte. Das 1844 verliehene Ritterkreuz des Königlich Sächsischen Zivilordens, das 1849 verliehene Großkreuz des Altenburger Hausordens galten dem Staatsmann ebenso wie dem Gelehrten. Bereits bei der Gründung wurde er zum ordentlichen Mitglied der Königlich Sächsischen Akademie der Wissenschaften ernannt, Ehrenbzw. Korrespondierendes Mitglied wurde er bei den Akademien in Berlin, Petersburg, Budapest, Institut d’Afrique, der Asiatischen Gesellschaft zu Paris und anderen. Die Deutsche Morgenländische Gesellschaft hat er mitbegründet. Im folgenden sei eine Zusammenstellung seiner Publikationen auf sprachwissenschaftlichem Gebiet gegeben. Zuvor sei noch erwähnt, daß er zu den Mitbegründern und ersten Redakteuren der „Altenburger Blätter“ gehört, die 1830 das erstemal erschienen. 1832 erscheint sein erstes sprachwissenschaftliches Werk „Eléments [Élémens + ] de la grammaire Mandchoue“, das 1833 durch Lithographien ergänzt wurde. In dasselbe Jahr fällt auch eine Besprechung in Nr. 108 der Jenaischen Literatur-Zeitung „Zur Grammatik der Mongolischen Sprache von J. J. Schmidt“. 1836 bringt er in Nr. 226 derselben Zeitung eine Besprechung zu „Versuch über die tatarischen Sprachen von W. Schott“. Demselben Sprachgebiet gelten seine ersten Veröffentlichungen in der ab 1837 erscheinenden Zeitschrift zur Kunde des Morgenlandes, als deren Mitarbeiter er namentlich aufgeführt wird. Bd. I dieser Zeitschrift (Z. f. K. M.) bringt von ihm: „Einiges über die mongolische Poesie“. „Übersetzung der mandschu-mongolischen Grammatik aus dem San-hô-piu-lan“. Bd. II. Z. f. K. M.: „Entzifferung einer altmongolischen Inschrift“. „Eine Abhandlung über den Namen Türken“. „Versuch einer mordwinischen Grammatik“. Mit diesem letzten Werke reihte er sich ein in die Zahl der Begründer der finnisch-ugrischen Sprachwissenschaft, der er auch späterhin wichtige Erkenntnisse vermittelte. Bd. III. Z. f. K. M.: „Mandschu-sinesische Grammatik nach dem San-hi-pian-lan“. „Sing-li-tschin-thsinan, die wahrhafte Darstellung der Naturphilosophie (1. Teil) aus dem Mandschuischen übersetzt“. Bd. IV. Z. f. K. M.: „Vergleichung der beiden tscheremissischen Dialekte“. In die Jahre 1836 bis 1846 fällt die Herausgabe des „Ulphilas“, eine dreibändige Arbeit, die er mit Pfarrer Löbe unternahm, angeregt durch Jacob Grimms „Deutsche Grammatik“ und dem begeisterten Wollen der damaligen Zeit folgend, vaterländische Altertümer wieder lebendig zu machen. Der Titel des Werkes lautet: Veteris et Novi Testamenti Versionis Gothicae fragmenta quae supersunt ad fidem Codd. castigata Latinitate donata adnotatione critica instructa cum glossario et grammatica linguae Gothicae coniunctis curis ediderunt H. C. de Gabelentz et Dr. J. Loebe. Die Bearbeitung des ersten Bandes, den Text enthaltend, haben beide Verfasser gemeinsam vorgenommen, im zweiten Band, dem Wörterbuch, bearbeitete Hans Conon die erste Hälfte, im dritten Bande, der Grammatik, schrieb er den syntaktischen Teil derselben. Jacob Grimm widmete diesem Werk bereits 1836 im Göttinger Gelehrten Anzeiger eine umfangreiche, zum Teil ein wenig kritische Besprechung. Dieses Werk leitete auf dem Gebiet der germanistischen Forschung eine wahre Hochflut von Neuerscheinungen ein, auf ihm beruht die gesamte heutige Kenntnis des Gothischen. Im Zusammenhange damit schrieb Hans Conon 1835 in Nr. 61 der Jenaischen Literatur-Z eitung eine eingehende Besprechung der Maßmannschen Ausgabe der „Skeireins“. In der Neuen Jenaischen Literatur-Zeitung von 1847, Nr. 117 und 118, lieferte er eine eingehende Besprechung zu dem 1846 erschienenen „Vergleichenden Wörterbuch der Gothischen Sprache“ von Lorenz Dieffenbach. 21 Jahre später entstand der Aufsatz in Pfeiffers „Germania“ 1867, 12. Jahrg., S. 232 bis 234: „Ein Ulphilasfragment in Turin“. Während in dem sich an diese Ulphilasausgabe schließenden Literaturstreit meistens Löbe die Klinge mit gewandter und oft satirischer Feder führte, gab Hans Conon gemeinsam mit Löbe 1860 seine einzige wissenschaftliche Streitschrift heraus unter dem Titel: „Uppströms Codex Argenteus. Eine Nachschrift zu der Ausgabe des Ulphilas“. Zu dieser Schrift schreibt seine Tochter Clementine: „Ich brauchte für eine Correspondenz einen Bekannten in Schweden und fragte den Papa, ob er dort Niemanden hätte. Nein, sagte dieser, ich habe dort Einen gehabt und mit Gabelentz_s001-344AK6.indd 60 12.07.13 16: 22 <?page no="63"?> 61 dem habe ich mich gezankt“. Dieser eine war Uppström, der vorgenannte schwedische Professor. 1844 erschienen die „Grundzüge der syrjänischen Grammatik“. In den Mitteilungen der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft finden sich drei bedeutende Werke Hans Conons. Bd. I dieser Zeitschrift: „Über die Suahelisprache“. Hier beweist er als erster die Zusammenhänge der Bantu- Sprachfamilie, eine für die damaligen spärlich fließenden Quellen nicht hoch genug zu veranschlagende Leistung. In Band V derselben Zeitschrift erschien seine Schrift „Über die samojedische Sprache“. Dieses Werk ist wichtig für die Erforschung der Verwandtschaftsverhältnisse des finnisch-tatarischen Sprachstammes. In Bd. XIII derselben Zeitschrift findet sich seine Abhandlung „Über die formosanische Sprache“. In Hoefers Zeitschrift, Bd. III, hat er „Kurze Grammatik der tscherokesischen Sprache“ geschrieben. 1852 erschienen seine „Beiträge zur Sprachenkunde“, in denen er als ersten eine „Grammatik der Dajak“, als zweiten eine Abhandlung über die Sprache der „Dakota“ und als dritten eine Übersetzung einer portugiesischen handschriftlichen Grammatik von 1669 über das „Kiriri“ veröffentlichte. 1858 erschien seine „Grammatik und Wörterbuch der Kassia-Sprachen“. 1860 der erste Teil der „Melanesischen Sprachen“, 1873 der zweite Teil desselben Werkes, in welchem er als erster 20 Sprachen des melanesischen Sprachstammes behandelt, deren Verwandtschaft nachweist und damit die Kenntnis dieses Sprachstammes begründet. Die Erforschung gerade dieses Sprachgebietes durch Hans Conon ging der geographischen und kolonialen Erschließung dieses Gebietes voraus. Wir haben hier den interessanten Fall, daß Hans Conon aus Sprachproben von Missionaren und Kaufleuten als erster die sprachliche Zusammengehörigkeit dieser Südsee-Insulaner erforscht und bewiesen hat, während der Ethnograph und der Geograph erst Jahrzehnte später diese Nachweisung führen konnte. So ist durch ihn eine Terra nova zuerst durch sprachliche Arbeit erschlossen worden. 1860 gab er „Das Passivum“ heraus, in welchem er 209 [208 + ] Sprachen des gesamten Erdballes auf diese Gestaltung des Verbums untersucht hat. Jedoch geht dieses Werk über den rein grammatischen Rahmen heraus, gibt seine Meinung über das Wesen der Sprache (s. oben) und sollte eine Vorarbeit sein zu einer allgemeinen Grammatik der Sprache. Die Arbeit kennt nur einen einzigen Vorgänger auf dem Gebiete der Sprachwissenschaft, nämlich Wilhelm von Humboldts Werk „Über den Dualis“. Auch für seine malaiischen und melanesischen Forschungen kann nur W. von Humboldts Werk: „Die Kawi-Sprache“ als einziger Vorläufer genannt werden, wenn auch kleinere Grammatiken zum Erlernen der Einzelsprachen schon aus früherer Zeit vorliegen, die jedoch nach Form und Inhalt nicht im geringsten mit Humboldts und Hans Conons Forschungen zu vergleichen sind. 1864 gab er die „Beiträge zur mandschuischen Conjugations-Lehre“ heraus. Aus späterer Zeit stammen noch 2 Aufsätze ebenfalls aus dem Mandschuischen: 1. „Über Ausdrücke für Sterben im Mandschuischen“. 2. „Über Ausdrücke des Könnens usw. im Mandschuischen“. In dem 1866 erschienenen Buch „Über die Sprache der Hazaras und Aimak“ wandte er sich in seinem Alter ebenso wie dem Mandschuischen so hier dem Mongolischen wieder zu, Sprachgebieten, von denen er in seinen Jugendjahren ausgegangen war. Nach seinem Tode wurde durch seinen Sohn Albert v. d. Gabelentz-Linsingen seine Übersetzung der mandschuischen Erzählung „Geschichte der großen Liao“ veröffentlicht. Außerdem stammt eine Reihe sprachlicher Artikel bei Ersch und Gruber aus seiner Feder. Das Werk des Mannes ist weit größer als das, was er veröffentlichte und das, was im vorliegenden über ihn gesagt werden konnte. Eine vollständige Biographie über seine Arbeiten zu liefern wird erst nach genauer Durchforschung seiner Kollektaneen und der sonstigen Druckwerke der Poschwitzer Bibliothek möglich sein. Vor allem fehlt in diesem Aufsatz das gesamte Material, das uns von dem Widerhall berichtet, den seine Arbeit in der wissenschaftlichen Welt gefunden hat. Gerade durch seine über die ganze Erde hingehenden Forschungen ist er zum letzten Universalisten der Sprachwissenschaft geworden, das von ihm Gesammelte aber auch heute noch eine Fundgrube für die neuesten Forschungen für die Totalität der Sprache, seine Methode, sein Ausgangspunkt und seine Z ielsetzung stellt ihn direkt in die Reihe der heutigen Forscher, die den biologischen Gesetzen der Sprache nachgehen. Wie einst Kant von Königsberg aus den gesamten denkerischen Geist des Menschen erkannte und darstellte, so hat Hans Conon v. d. Gabelentz von sei- Gabelentz_s001-344AK6.indd 61 12.07.13 16: 22 <?page no="64"?> 62 nem Studier- und Bibliothekszimmer in Poschwitz aus - er hat keine einzige Reise in exotische Länder unternommen - das Wesen des menschlichen Sprachgeistes der ganzen Welt durchforscht und so die Grundlagen geschaffen, auf denen ein Kommender, ihm Kongenialer, dieses Gebiet des Geistes darstellend fortführen und vollenden kann. Reich fließen die Erinnerungen seiner Kinder nach der Richtung, aus der von ihm, seiner Umwelt, seiner Arbeit für die Familie und deren Besitz noch einiges berichtet werden soll. Clementine Freifrau von Münchhausen schildert ihn folgendermaßen: Er war von mittlerer Statur, hatte dunkelblondes Haar, dunkelblaue, etwas tiefliegende Augen mit strahlend gütigem Blick und oft voll liebenswürdigster Schalkheit. Seine Haltung war schlecht, richtige vorn übergebeugte Haltung des Gelehrten und Kurzsichtigen. Zeit zu einem Scherz hatte er immer, so gut wie Zeit mit einem Kinde zu spielen oder Zeit, eine Frage zu beantworten, kurz: Zeit, jedem einen Gefallen zu tun. Sein Arbeitszimmer ist unverändert geblieben. Die Wände tragen einen grünen Ölfarbenanstrich, Sofa und Stühle sind mit grünem Wolldamast bezogen, vor dem Stehpult, an welchem er später von 8 bis 12 Uhr regelmäßig arbeitete, steht noch der lederne Drehschemel, am Fenster daneben ein geschweiftes Messingtischchen mit aufgetürmten Bergen von Katalogen und anderem. An der schmalen Seite des Sofatisches, ein lederbezogener Großvaterstuhl, an der breiten Seite steht einer, der, einst mit schwarzem Wolldamast bezogen, der Platz des Hausherren ist, in der Ecke des Zimmers ein Mahagonischrank, der unten Zigarren, oben unter Glas allerlei ethnographische Kuriositäten barg. Am Fenster nach dem Wallgraben ist ein zusammengeklappter Spieltisch aus Mahagoni. Der Sofatisch war Arbeitsplatz für die Frauen des Hauses und zugleich Schreibtisch für alle, auch für die Gäste. In seinen Arbeitsstunden wollte er mit Ausnahme der Kinder von niemandem gestört sein, nicht einmal von seiner Frau; sie hat in den ersten Jahren ihrer Ehe daher ein scherzhaft klagendes Gedicht geschaffen: Wer steht dort so stumm am Schreibpult und kratzt sich und redet kein Wort? ’s ist mein geliebeter Ehemann, der schweiget in einem fort. Jetzt holt er die Pfeife und stopft sie voll, geht stumm dabei auf und nieder, Dreht vor dem Spiegel die Locken sich und greift nach den Akten wieder. Er nimmt die Brill’ ab und wischt sie blank und setzt sie am alten Ort, Dann kramt er in seinem Bücherschrank und blättert und redet kein Wort. Wie nett weiß auch Fräulein von Stenglin, nachmalige Frau von Ziegesar, von einem ihrer Besuche in Poschwitz zu erzählen. Sie ist soeben dem kleinen Poschwitzer Kutschwägelchen, welches sie in der Altenburger Post abgeholt hatte, entstiegen und ins Haus gegangen und nun schreibt sie: Auf einmal kommt ein männliches Figürchen hinein, lang und blaß und mager mit etwas wildem Toupet, das ist der Herr und Gemahl, der den Geist mehr soigniert, denn er soll einige 20 Sprachen sprechen, dabei sieht er aber auch recht aus wie ein Gelehrter. Weiterhin schildert sie ihn, wie er mit dem Zeigefinger der linken Hand behaglich die linke Locke seines Haupthaares drehend, freundlich plaudert und für seinen Besuch Zeit zu allem Gespräch und zu jedem Dienst hat, beschreibt seine durchaus nicht elegante und kavaliersmäßige Haltung bei Begrüßungen, sie nennt es: „Er machte sein übliches schiefes Dienerchen.“ „Unbeschreiblich behaglich! Niedlich! Herrlich! “ so jagt ein Ausruf in ihrem Tagebuch den anderen, wenn sie von den Menschen und dem Leben in Poschwitz, von der Altenburger Gesellschaft, die sich hier traf, und dem Altenburger Hof, der oft zu Gaste war, erzählt. Aber gerade die Sprachwissenschaft führte noch viele andere nach Poschwitz. Mag hier die Gemahlin Hans Conons selbst dazu etwa sagen: In Altenburg und bei der Familie - die Mutter Hans Conons, seine Schwestern und seine Schwäger hielten eigentlich nicht viel von dem unprofitablen Sprachstudium - ist Hans Conons wissenschaftlicher Ruf durch 3 Kutschen mit dem königlich englischen Wappen und jede mit 4 Pferden bespannt, begründet worden. Lord Munster, morganatischer Bruder des Königs von England, war eigens nach Altenburg gekommen, um den berühmten Sprachforscher kennenzulernen. Leider war Hans Conon damals nicht zu Hause und so schickte ich dem Lord den Pfarrer Löbe zu, der ja der einzige war, der die Arbeit meines Mannes kannte. Dadurch erst merkten die braven Altenburger, daß der damalige Regierungsrat v. d. Gabelentz nicht bloß eine sprachliche Schrulle besaß, sondern vielmehr einen Namen und ein Können, von dessen Glanz auch etwas auf den Namen Altenburgs fiel. Vor allem aber kamen Freunde der Wissenschaft: Karl Andrée, der Ethnograph; Jülg, der bescheidene Professor aus Innsbruck, dessen polyglottes Nachschlagebuch am Gabelentz_s001-344AK6.indd 62 12.07.13 16: 22 <?page no="65"?> 63 Gabelentz_s001-344AK6.indd 63 12.07.13 16: 22 <?page no="66"?> 64 Poschwitzer Familientisch eine Rolle spielte, wie bei jungen Frauen das Kochbuch; Pott, Indogermanist aus Halle; der Eisenberger Rost, der durch Hans Conons Vermittlung später nach England als Bibliothekar ging; der Akademiker Schiefner aus Petersburg; Professor Wiedemann aus Dorpat; der Missionarssohn Theophilus Hahn, der den Kindern die hottentottischen Schnalzlaute beibrachte; der Orientalist Fleischer; Hermann Brockhaus aus Leipzig; der Akademiker Radloff aus Barnaul in Sibirien; der Forschungsreisende Emil Schlagintweit; Missionar Kölle aus Sierra Leone; Baron Reguli aus Ungarn; Missionar Gützlaff; Missionar Wylie aus Schanghai; der Architekt Kallenbusch; der Japaner Aloshi [? ] Terada; Professor Neumann aus München; der Theologe Luthardt aus Leipzig; Missionar Zwick, bei den Kalmücken und in Tibet tätig; Hering aus Manila; Hellmuth aus Batavia; der Afrikareisende Dr. Falkenstein; das Ehepaar Reinsberg-Düringsfeld, berühmt durch seine Sprichwörtersammlung; Léon de Rosny aus Paris u. a. Brieflicher Verkehr, der ganze Bände füllte und den Hans Conon in allen Sprachen der Welt führte, bestand unter anderem mit dem Sinologen Schott in Berlin; Julien in Paris; Ceriani in Mailand; Alexander und Wilhelm von Humboldt; Julius von Klaproth in Paris und Petersburg, der erste, der Notiz von Hans Conons Forschen im Ausland nahm. Ein häufiger Gast im Hause war der Oheim, Staatsminister Bernhard von Lindenau. Fräulein von Stenglin erzählt von einem solchen Besuch. Sie wundert sich, daß die beiden Herren in ihren Gesprächen nie die Politik berührten. Politisieren und daneben auch Philosophieren waren Stoffe, über die in Poschwitz zu sprechen verpönt war. Über die Originale der Vergangenheit sprachen die beiden und wußten bis in die Nacht hinein unerschöpflich Anekdote um Anekdote zu erzählen, „ohne im geringsten“ - so die Worte Frl. von Stenglins „daran zu denken, wie reichste und beste Originalität am gleichen Tische sitzend von sich selbst nichts ahnte und wußte“. Aber auch den einheimischen Bauern, die zum großen Teil Pächter waren, galt Zeit, Güte, Hilfe und Rat Hans Conons. Wie weit das Vertrauen dieser gerade in den 40er und 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gegen den Edelmann oft so mißtrauischen Bauern ging, zeigt folgendes: Einmal waren die 4 Abgeordneten aus den bäuerlichen Kreisen im Altenburger Landtag gegen eine Sache, die Hans Conon als Präsident vertrat, gewesen und hatten aus ihrer Ablehnung keinen Hehl gemacht. Dennoch stimmten sie in der entscheidenden Sitzung für Hans Conons Antrag. Zur Rede gestellt, gaben sie zur Antwort: „Na, wir konnten doch unsern Präsidenten nicht im Stiche lassen! “ Bis in den Tod hinein und über den Tod hinaus bewies gerade die Bauernschaft ihre Anhänglichkeit. Die Sorge für die Güter nahm auch Zeit in Anspruch, obwohl in den späteren Jahren die Gemahlin die Z ügel der Wirtschaft mehr und mehr in ihre Hände nahm. In Poschwitz kaufte Hans Conon die Friedrichschen Grundstücke, die nach Altenburg zu gelegen sind, er erbaute den Turm und den daranstoßenden Flügel des Schlosses. In Lemnitz errichtete er eine Pächterwohnung. Wie sein Vater hat auch er im Park wertvolle Bäume gepflanzt und eine Kirschplantage angelegt. Während er völlig unmusikalisch war, hatte seine Gattin eine große musikalische Begabung, auch mehrere Kompositionen stammen von ihr; Franz Liszt ist Gast auf dem Schloß Poschwitz gewesen und hat mit ihr musiziert. Wenn auch Hans Conon nie aus den Grenzen Europas heraus kam, so hatten ihn doch Reisen weithin geführt. Als Student war er nach Dänemark und Südschweden gefahren. Später führte ihn sein Weg oft mit der Familie und Freunden nach der Schweiz und nach Italien. Auch das neu erworbene Elsaß wurde von ihm besucht. Außer diesen Reisen nahm er an vielen historischen und philologischen Tagungen teil. 1862 besichtigte er das Kloster auf der Insel St. Lazaro bei Venedig, wo armenische Mönche eine berühmte polyglotte Druckerei betreiben. Die Besucher sahen ein aus Palmblättern bestehendes Manuskript, das mit schwarzer Lackschrift auf rot und goldenem Grunde geschrieben war. Auf Befragen wußten die Mönche nicht die Handschrift zu deuten. Da trat aus der Schar der Besucher Hans Conon hervor, besah sich die Handschrift und erklärte den verdutzten anderen, die eben noch über den kurzsichtigen deutschen Gelehrten gelächelt hatten, daß dies ceylonesisches Pali sei, die heilige Schrift der Buddhisten auf der Insel Ceylon. In Lemnitz erkrankte Hans Conon v. d. Gabelentz im August 1874 an Lungenentzündung, am 4. September schloß er seine Augen zur ewigen Ruhe. Am 7. September wurde er in Windischleuba zuerst auf dem alten Kirchhof, 1892 nach dem Tode seiner Gattin, neben dieser auf dem Rittergutsanteil des neuen Friedhofes beigesetzt. Eine ganze Welt horchte auf, als die Nachricht von seinem Tode bekannt wurde. Neben allen größeren Tageszeitungen und wissenschaftlichen Blättern Deutschlands brachte Rost im „Athenaeum“ eine lange Würdigung des Gabelentz_s001-344AK6.indd 64 12.07.13 16: 22 <?page no="67"?> 65 Verstorbenen für England, in Frankreich die Zeitung „Novelliste de Seine et Marne“, für Rußland „Illustrowana Nedela“ und andere. Tiefer und ehrfurchtsvoller Dankbarkeit sind alle diese unzähligen Nachrufe voll, die aufzuführen eine Unmöglichkeit ist. Deshalb mögen am Schluß die ungedruckten Worte stehen, mit denen die Kinder und die damalige Stiftspröpstin das Wesen Hans Conons uns noch einmal vergegenwärtigen sollen. Denkt euch den gelehrtesten Menschen - das die Worte der Tochter -, der euch im Leben vorgekommen ist, und nun denkt euch einen noch viel gelehrteren! Oder den bescheidensten - und nun einen hundertmal bescheidneren -, den mit dem sachlichsten, unparteilichsten Urteil, der dem Gegner volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen so Verstand als Willen hatte! - und davon den Superlativ; den heitersten - den mit der gleichmäßigsten Stimmung, den gütigsten, freigebigsten, humorvollsten - und nehmt von alledem die Superla tive! Und dann würden die Leute sagen: So was gibt’s ja nicht in einem Menschen, die Frau hat geschwärmt. Natürlich schwärme ich, aber schwärme einmal einer nicht, der dieses goldigste Herz gekannt hat. Und die Worte des Sohnes: Alles Streberhafte, selbst der Schein einer Gunstbewerbung, war dem Papa verhaßt, dienstliche Höflichkeitsbesuche beschränkte er auf das Unerläßliche. Er war ein strenger Aristokrat, hielt wie nur einer auf die guten Traditionen seines Standes, auf die Ehre und das Gedeihen seiner Familie. Aber was man so Höhensinn nennt, das hatte er nicht, vielleicht weil ihm die freie Stellung des Edelmannes hoch genug dünkte. Männer von minder bevorzugter Lebensstellung, deren Charakter, Bildung und Leistungen er achtete, behandelte er naturgemäß als seinesgleichen, Ehrenerweisungen, sie mochten von oben oder von unten kommen, nahm er sehr gelassen hin, vielleicht etwas unbeholfen schüchtern, weil sie ihm zeitweilig einen unbequemen Zwang auferlegten. Regelmäßig fiel ihm die Rolle eines Primus inter pares zu, für die paritas sorgte er, für das Primat sorgten die anderen. Am Schluß mag ein Wort der damaligen Frau Stiftspröpstin, Gräfin Zedtlitz-Trützschler über ihn stehen: „Ja, er hatte Kopf für zehn, aber Herz für hundert! -“ Von seinen 3 Töchtern heiratete die 1836 geborene Pauline Richard von Carlowitz-Maxen, geboren 1817, sie starb 1885, ihr Gatte 1886, beide ruhen an der Seite ihrer Eltern auf dem Friedhof in Windischleuba. Margarete v. d. Gabelentz, geboren 1842, vermählte sich mit Gebhard, Graf von der Schulenburg auf Steimke. Sie starb 1894, ihr Gatte 1897. Deren Sohn Albrecht, 1865 geboren, 1902 verstorben, widmete sich auch dem Sprachstudium und gab die „Sprachwissenschaft“ seines Onkels Georg v. d. Gabelentz in 2. Auflage heraus. Clementine, 1849 geboren, vermählte sich mit Börries Freiherrn von Münchhausen auf Apelern und Windischleuba. Sie hat ausführliche Erinnerungen an ihren Vater und an das Elternhaus hinterlassen. Ihr Sohn, der Dichter Börries, Freiherr von Münchhausen, hat ihrer überragenden Persönlichkeit im Altenburger Hauskalender, Jahrgang 1933, ein bleibendes Denkmal gesetzt, wie auch seinem Großvater Hans Conon v. d. Gabelentz im Jahrgang 1927. [12. Die neue Lemnitz-Münchenbernsdorfsche Linie. Hans Albert v. d. Gabelentz-Linsingen 1834-1892] Der älteste Sohn Hans Conons, Hans Albert v. d. Gabelentz , wurde am 14. November 1834 in Altenburg geboren. Er war als Knabe sehr zart und ist auch in seinem Leben oft kränklich gewesen. Nach der Absolvierung des Altenburger Gymnasiums und kurzem Studienaufenthalt in Jena besuchte er die Forstakademie in Eisenach. Vom Vater hatte er das gütige, stille Wesen geerbt. Von seiner Großmutter, Albertine von Linsingen, ererbte er Schloß und Gut Münchenbernsdorf unter der Bedingung, daß er den Namen Linsingen für sich und seine Nachkommen zu dem seinen fügte. Nach des Vaters Tode erbte er Lemnitz und gründete die Münchenbernsdorfsche Linie des Geschlechtes, die den Namen v. d. Gabelentz-Linsingen führt. Am 8. Mai 1867 heiratete er Margarete von Carlowitz aus dem Hause Oberschöna. Diese Frau wurde ihm die beste und treueste Gefährtin, die bei seiner zunehmenden Kränklichkeit ihm die umfangreiche Führung der Gutsgeschäfte abnahm. 41 Jahre überlebte sie ihren Gatten, der bereits den 5. März 1892 in Weimar starb. Nachdem sie bis zum Kriege die Stellung einer Obersthofmeisterin am Königlichen Hof in Dresden bekleidet hatte, starb sie im fast vollendeten 90. Lebensjahr am 16. Dezember 1933 in Lemnitz. Die Hauptinteressen Hans Alberts v. d. Gabelentz lagen auf forstlichem, naturwissenschaftlichem, geographischem und künstlerischem Gebiete. Daher erbte er aus des Vaters Bibliothek die ethnographische und erdkundliche Abteilung. Schon im Elternhaus wurde er mit Alfred Brehm, Karl Andree und anderen Forschern bekannt, so daß er dann später vornehmlich mit Brehm größere Reisen, auf denen auch sein Bruder Georg Teilnehmer war, unternahm. Für sein geographisches und naturwissenschaftliches Interesse spricht es Bände, daß er seine Hochzeitsreise 1867 zu einer Gabelentz_s001-344AK6.indd 65 12.07.13 16: 22 <?page no="68"?> 66 Forscherreise nach dem damals noch so unkultivierten und halbtürkischen, von Räubern erfüllten Bosnien, Montenegro und Albanien gestaltete. Später wiederholte er diese Reise und besuchte neben dem Balkan Ungarn und Siebenbürgen. In Band XIII, S. 76 ff., der Zeitschrift „Globus“ von 1868 berichtet er lebendig von den Sachsen in Siebenbürgen. Weitere Reisen führten ihn nach Spanien, Marokko, Schweiz, Italien, Griechenland und Konstantinopel. Der Aufsatz „Aus Spanien“, in der Weimarischen Zeitung von 1891, berichtet von einer solchen Reise. Sein naturwissenschaftliches Interesse galt besonders der Vogelwelt. Seine naturwissenschaftlichen Sammlungen befinden sich heute teils im Geraer Stadtmuseum, teils im Museum in Wittenberg. Daß er seines Vaters Werk „Die Geschichte der großen Liao“ herausgab, ist bereits erwähnt. Daß er aber auch ein weiteres Interesse an der sprachlichen Arbeit seines Bruders nahm, beweist ein Artikel im „Globus“ Band V, S. 348 von 1864: „Chinesische Justiz nach einer Schilderung im Roman Gin-P’ing-mei“ aus seiner Feder. Um seine malerische Begabung zu fördern, nahm er in Weimar Unterricht bei dem Schüler Prellers, Professor Hummel, dem Sohn des zu Goethes Z eiten berühmten Musikers. Sehr verschieden von der altmeisterlichen Malerei seines Lehrers, zeichnen sich die von Hans Albert vor allem auf seinen Reisen mit rascher Hand hingeworfenen Aquarelle durch eine aufgelichtete, farbig reizvolle Malweise aus. Sie erregten darum, ausgestellt, Aufsehen in Weimar, doch lag es Hans Alberts bescheidener Art nicht, viel Rühmens von seinem Können zu machen. Das Vertrauen des Großherzogs berief ihn zum Kammerherrn und Oberhofmeister in Weimar, wo Liszt, Lassen, Prof. von Kalkreuth [Kalckreuth + ], Brehm, Goethes Enkel Walther, Gerhard Rohlfs, der Afrikareisende Nachtigal und Stanley und viele andere bedeutende Männer oft und gern Gäste seines Hauses an der Ackerwand waren. Sein Sohn Georg schließt die Erinnerungen an seinen Vater mit den Worten: „Hans Albert war ein Mann, dessen reiche Gaben das Schicksal leider nie recht zur Entwicklung hatte kommen lassen.“ Georg v. d. Gabelentz-Linsingen 70 wurde als ältester Sohn Alberts v. d. Gabelentz am 1. Mai 1868 in Lemnitz geboren. Nach Hausunterricht besuchte er die Gymnasien von Weimar und Jena. 1888 bestand er das Abiturientenexamen. Nach kurzem Studienaufenthalt in Lausanne trat er 1889 als Fahnenjunker in das Ziethen-Husaren-Regiment in Rathenow ein. 1892 wurde er als Attaché zur deutschen Botschaft nach Rom kommandiert. Manche interessante Menschen hat er am Hofe des italienischen Königs und des Papstes kennengelernt: Crispi; Giolitti; von Schlözer; Iswolski; Stanley; Herbert Bismarck u. a. Seine Stellung ermöglichte ihm auf Reisen und Ausflügen Italien kennenzulernen. Vom Herbst 1894 bis 1907 diente er im sächsischen Gardereiter- Regiment. Dresden wurde nun seine Heimat. Sowohl vom König von Sachsen als auch vom Großherzog von Sachsen- Weimar wurde ihm die Kammerherrnwürde verliehen. 2 Jahre war er designierter Nachfolger des Grafen Seebach in der Leitung der sächsischen Hoftheater in Dresden, die er in diesen Jahren führte. 1917 wurde ihm der Titel eines Professors verliehen. Während des Krieges tat er Dienst als Adjutant im Kriegsministerium in Dresden. Schon die eingangs erwähnte Biographie feiert ihn im Titel als Dichter und Schriftsteller. Das Reich der Geschichte, die Welt des Religiösen, das Okkulte und Dämonische, die Gesellschaft, Bürger und Bauern, die Leidenschaft gaben die Quelle und Stoff zu seinen Romanen und Novellen. Aus dem väterlichen Erbe überkam er Schloß und Gut Münchenbernsdorf. Am 17. November 1894 vermählte er sich mit Mary von Loewis of Menar, welche am 27. Oktober 1871 in Dorpat geboren war und am 14. Juni 1930 in Dresden starb. Aus dieser Ehe stammen 2 Söhne. Hans Albert v. d. Gabelentz-Linsingen , geboren 9. September 1895 in Dresden, der bereits 1932, am 10. Juni, verstarb. Er hinterließ aus seiner Ehe mit Elisabeth geborene von Schönberg einen einzigen Sohn Hans Heinrich, geboren den 23. Juni 1922 in Bornitz. Auf diesem beruht die weitere Geschichte der Neuen Lemnitzer Linie, da sein Onkel Wolf Dietrich vorläufig in kinderloser Ehe lebt. Dieser ist verheiratet mit Margarete geborene Engelmann. Walpurgis v. d. Gabelentz-Linsingen, Tochter Hans Alberts, des Begründers der Neuen Lemnitzer Linie, wurde am 17. November 1869 in Lemnitz geboren. Sie vermählte sich am 20. September 1890 mit Henning von Arnim, Königlich Sächsischem Kammerherrn und Oberstleutnant auf Hennersdorf. Hans v. d. Gabelentz-Linsingen wurde als drittes Kind und zweiter Sohn Hans Alberts am 10. April 1872 in Münchenbernsdorf geboren. Er verbrachte wie sein Bruder seine Gymnasialzeit in Weimar und Jena. Bereits als Schüler machte er eine Reise, die ihn bis Venedig führte, als Abiturient schaute er Rom. In München und Dresden studierte er Archäologie und Kunstgeschichte. Nach seiner Doktor- Gabelentz_s001-344AK6.indd 66 12.07.13 16: 22 <?page no="69"?> 67 Promotion „Über die Geschichte der oberdeutschen Miniaturmalerei“ reiste er 1898 mit August und Hermann Thiersch nach Griechenland und Kleinasien, um die Stätten der klassischen Kunst zu erleben. 1899 führte ihn sein Weg durch Italien bis an die Südspitze Siziliens, der Sommer des gleichen Jahres nach Montenegro, Paris, Schweden und Norwegen. Daraufhin studierte er an der Charlottenburger Technischen Hochschule Architektur und habilitierte sich 1901/ 02 in München mit der 1903 veröffentlichten Schrift „Über die mittelalterliche Plastik in Venedig“. Reisen nach Italien, Spanien und Marokko fielen in diese Dozentenjahre. 1908 wurde er vom Großherzog Wilhelm Ernst als Kabinettssekretär nach Weimar berufen, wo er 1910 zum Museumsdirektor ernannt wurde. 1912 vollendete sich ihm als Kunsthistoriker seine schönste Hoffnung, als er an die Spitze des Kunsthistorischen Institutes in Florenz gestellt wurde. Auf einer Studienreise befindlich, überraschte ihn 1914 in Brüssel der Weltkrieg. Im Kriege stand er u. a. 1917 im Dienst der deutschen Gesandtschaft in Bern, nach 1918 lebte er auf dem ihm aus dem väterlichen Erbe zugefallenen Gute Lemnitz. In den Jahren nach dem Kriege kämpfte er um die Rückgabe des Florenzer Kunsthistorischen Institutes, 1923 gelang es ihm, das Institut für Deutschland zurückzugewinnen, allerdings musste ein Schweizer als Leiter eingesetzt werden, der nun wieder durch einen Deutschen ersetzt ist. 1925 unternahm er eine Reise nach Mexiko zum Studium der altmexikanischen und spanischen Kolonialkunst, 1928/ 29 reiste er durch Vorderindien von Ceylon bis zum Fuße des Himalaya. Das Ergebnis dieser Reise ist sein Buch über indische Kunststätten „Steinerne Wunder“. Am 1. April 1930 wurde er zum Burghauptmann der Wartburg ernannt, die nun sein Wohnsitz ist. Sein reiches literarisches Schaffen gilt zumeist der Kunstgeschichte, doch auch die Welt seiner Reisen entsteht in seinen Büchern, wie auch die Geschichte der Burg und ihrer Sammlungen, deren Hüter und Hauptmann er ist. 1922 gab er die „Ahnentafel und Stammtafeln der Familie v. d. Gabelentz“ heraus [Wiederabdruck in diesem Band - Hrsg.]. Er ist der Vorsitzende des Geschlechtsverbandes der Familien v. d. Gabelentz-Linsingen und v. d. Gabelentz. [13. Georg v. d. Gabelentz 1840-1893] Die Poschwitzer Linie wurde fortgeführt durch den zweiten Sohn Hans Conons, Hans Georg Conon v. d. Gabelentz . Er wurde am 16. März 1840 in Poschwitz geboren. Auf ihn war das Sprachentalent des Vaters übergegangen. Bereits als Knabe lernte er neben Italienisch und Holländisch Neuseeländisch und Chinesisch. Als 17jähriger erarbeitete er sich, dem Beispiel seines Vaters folgend, die Beispiele und Anmerkungen zu Abel Rémusat, „La grammaire chinoise“. Des Vaters Studierstube war seine Kinderstube, mit des Vaters Werk sein Kinderspiel verwoben. Nie wieder sind Kinder so spielend und Sprachen-Rätsel ratend in die Welt der Völker und ihrer Z ungen, ihre Geschichte und ihr Wesen hineingewachsen, selten haben Kinder eines Hauses solche Gelegenheit gehabt, mit den berühmtesten Forschern und Gelehrten ihrer Zeit, die wochenlang Gäste der Eltern waren, bekannt zu werden und Bereicherung und Förderung zu aller geistigen Arbeit in so reicher Fülle zu empfangen. Nach beendeter Schulzeit auf dem Altenburger Gymnasium ging er nach Jena, um Rechtswissenschaft zu studieren. Als Frankone war er ein froher, lebenslustiger Student, der auf der Kneipe und auf der Mensur seinen Mann stand. Im Gegensatz zu seinem Bruder Hans Albert war er von überragender Körpergröße und Stärke, 2,08 Meter lang, sein Gesicht zeigte starke, männliche Züge. Die Güte des Vaters war ihm als Erbteil ebenso zugefallen wie seinem Bruder. Er hat mit seinem gütig starken Herzen allein so manches Leid seines Lebens überwinden können. Nach der Sitte seiner Z eit umrahmte ein prächtiger Vollbart sein Gesicht. Als er mit einem Examen seine Studien beendet hatte, trat er in den sächsischen juristischen Dienst. So in Leisnig, wo er, begeistert für die geschichtliche Vergangenheit dieses Städtchens - die Burggrafen von Leisnig waren ja auch die Lehnsherren des Geschlechtes über den ehemaligen Besitz Windischleuba und Nobitz gewesen - einen Geschichts- und Altertumsforschenden Verein gründete. Die Mitteilungen dieses Vereins, Heft IV von 1876 enthalten aus seiner Feder „Eine Urkunde vom Jahre 1442 über die Schankgerechtigkeit im Gasthof zu Fischendorf “. Am 26. April 1865 hat er in der Altenburger Altertumsforschenden Gesellschaft einen Vortrag über exotische Spielkarten gehalten. Er besaß eine für damalige Zeiten größte und wertvollste Spielkartensammlung. 1871 und 1872 war er bei der Straßburger Präfektur Dezernent, 1873 wurde er Assessor beim Bezirksgericht in Dresden. Auch er mußte wie sein Vater zuerst im juristischen Dienst stehen, wenn auch sein Herz nicht diesem, sondern der Sprachwissenschaft gehörte. Dies zeigen besonders eindringlich seine Briefe aus diesen Jahren an seinen Vater. Gabelentz_s001-344AK6.indd 67 12.07.13 16: 22 <?page no="70"?> 68 Gabelentz_s001-344AK6.indd 68 12.07.13 16: 22 <?page no="71"?> 69 1872 vermählte er sich mit Freiin Alexandra von Rothkirch-Trach. In dieser Ehe wurden zwei Söhne geboren: Albrecht und Wolf Erich. 1891 ging er eine zweite Ehe ein mit Gertrud Adelheid Marie, Freiin von Oldershausen. Aus dieser Ehe stammt der 1892 geborene Hanns-Conon. Nach dem Tode seines Vaters erbte er Poschwitz, wo aber seine Mutter den Witwensitz hatte und die Verwaltung des Gutes in ihren Händen behielt. Er baute sich darum auf dem Gut seines Bruders in Lemnitz sein Berghaus, das von Wäldern und Bergen umgeben dem in der Großstadt Lebenden Zufluchtsstätte und frohe Heimat war. Alles in diesem Hause, die Gesamtanlage, wie jede Einzelheit bis zum Türbeschlag hatte seine eigene Note. Hier konnte er Ruhe und Stille genießen, aber auch hier leuchtete bis in die spätesten Nachtstunden hinein die Lampe im Studierzimmer des rastlos arbeitenden Mannes. Noch im Richteramt stehend vollendete er die Übersetzung eines chinesischen metaphysischen Werkes „Thaikhi-thu“, die er 1876 mit Erklärung herausgab. Dies wurde zum Anlaß, daß er 1878 als außerordentlicher Professor der orientalischen Sprachen nach Leipzig berufen wurde. Er hat am Schluß dieses Werkes geschrieben: Möchte eine wohlwollende Aufnahme des gegenwärtigen Versuches mir die Hoffnung geben, daß auch meine Hände berufen seien, jenes Feld - er meinte die chinesische Sprache - zu bebauen. Nun hatte dieses Hoffen erste ersehnte Erfüllung gefunden, denn von Kind an bereits war ja die Liebe zur Sprachwissenschaft in ihm gewachsen und unter der Führung des Vaters in geordnete Bahnen gelenkt worden. Georg v. d. Gabelentz beschreibt in dem Bericht über seinen Vater dieses sein Werden sub auspiciis patris selbst: Als ich in meinem 8. Jahre Englisch lernte, fragte ich den Vater einmal, ob nicht im Englischen immer ‚th‘ für deutsches ‚d‘ stünde. Das bejahte er natürlich und nun sagte er mir, was man Lautverschiebungen nenne. 12 oder 13 Jahre alt mochte ich sein, als er mir erlaubte, Eichhoffs Vergleichung der Sprachen von Europa und Indien zu lesen. Ein Jahr später gab er mir Bopps Vergleichende Grammatik. Er gab keine Anleitung, beantwortete aber gern Fragen, gab meinen Interessen und Wünschen höchstens die Richtung, die ihm dienlich schien. Als ich eine Sprache nach seiner Methode aus Texten zu erlernen wünschte, gab er mir die Genesis in Grebo und einige Anleitung zur Anlage von Kollektaneen. 16 Jahre alt ließ er mich neuseeländische Texte lesen und den Abriß einer Grammatik verfassen. Da ich Chinesisch zu lernen wünschte, schenkte er mir zum 18. Geburtstage Rémusats ,Eléments [Élémens + ]‘. Später gab er mir Juliens Ausgabe und Übersetzung des Meng-tsi und dessen ‚Exercices pratiques‘. Von Sprachphilosophie gab er nur wenig, unter a nderem Humboldts Kawi-Werk. Es sei besser, als allgemeine Werke zu lesen, eine neue Sprache zu lernen, wie z. B. das Arabische … So sehen wir, wie ex fundamento der Bau heranwuchs, wie schon der Knabe und der Jüngling sich in der Methode des Vaters schulte, um später als Universitätsprofessor und Forscher den reinen Quellbach der Jugend zum tragenden Strom werden zu lassen. In diese Leipziger Professorenzeit fällt auch der fünfte Orientalistenkongreß 1886 in Wien, der ihm damals, - 1881 hatte er seine berühmte Chinesische Grammatik erscheinen lassen -, viel Ehre und Anerkennung bei den Teilnehmern dieses Kongresses aus allen Völkern und Ländern erbrachte. 1889 wurde er als ordentlicher Professor nach Berlin berufen, wo er 1 Jahr nach dem Tode seiner Mutter bereits am 10. [11. + ] Dezember 1893 starb. Er liegt auf dem Begräbnisplatz im Poschwitzer Park begraben. Erst nach seinem Tode wurde offenbar, welcher Reichtum an Wissen und Können mit diesem Manne viel zu früh zu Grabe getragen worden ist. Das Hauptgebiet seiner Forschung war die chinesische Sprache, deren Anteil an der Bibliothek, wie auch der Anteil an der koreanischen und japanischen Bibliothek in Poschwitz zum größten Teil von ihm stammt. Das wichtigste Werk auf diesem Gebiet ist die in Leipzig 1881 erschienene „Chinesische Grammatik mit Ausschluß des niederen Stiles und der heutigen Umgangssprache“. Aber nicht nur grammatikalischen Studien widmete er sich, die Geschichte Chinas, die chinesische Literatur, die Philosophen Konfuzius und Laotse und andere wurden durch ihn für die deutsche wissenschaftliche Welt erschlossen. Er hat in weit größerem Umfange als sein Vater seine Forschungen auch in ausländischen Z eitschriften veröffentlicht. Dadurch trug er zur steigenden Achtung des deutschen Gelehrten gerade in England viel bei. Aus seiner Feder stammen 33 Veröffentlichungen aus dem chinesischen Sprachgebiet 71 . 5 Veröffentlichungen zeugen von seiner Arbeit in der japanischen Sprache 72 . Er hatte sich natürlich auch wie sein Vater mit der Mandschu-Sprache beschäftigt. Aus dieser hat er den chinesischen Roman „Gin-Ping-mei“ übersetzt. Seine Übersetzung ist in Paris 1879 erschienen. Ein deutscher Verlag forderte etwa 50 Jahre später die deutsche handschriftliche Übersetzung dieses Romans zur Herausgabe, hat sie aber von einem anderen ohne Wissen der Familie bearbeiten und veröffentlichen lassen. Handschriftliche Kollektaneen zeigen, daß er an der grammatikalischen Er- Gabelentz_s001-344AK6.indd 69 12.07.13 16: 22 <?page no="72"?> 70 forschung dieser Sprache weiter gearbeitet hat, vor allem liegt ein umfangreiches Deutsch-Mandschu-Wörterbuch im Manuskript vor 73 . Das Forschungsgebiet der melanesischen Sprachen von seinem Vater begonnen, hat er mit A. B. Meyer fortgesetzt. Hier liegt besonders viel handschriftliches Material in der Bibliothek. Es liegen 5 gedruckte Veröffentlichungen vor 74 . Von sonstigen asiatischen Sprachen hat er Koreanisch, Mongolisch, Nikobarisch, Kolarisch, Kuki, nach den handschriftlichen Funden auch die Kassia-Sprache durchforscht 75 . Die afrikanischen Sprachen, über welche er veröffentlicht hat, sind: Namaqua und Kunama, jedoch hat er im Zusammenhang mit seinen baskischen Studien sich auch mit Koptisch, Tuareg und Berberisch befaßt. Für letzteres hat er als erster die Zusammenhänge zwischen Berberisch und Baskisch aufgedeckt und damit für die vorindogermanische Sprachforschung wertvolle Aufhellung erbracht 76 . Nach den Neuerwerbungen für die Bibelsammlung, amerikanischer Zeitschriften u. a., in Poschwitz zu urteilen, hat er sich mit einer ganzen Reihe von Indianersprachen beschäftigt, aus dieser Arbeit liegt aber nur eine Veröffentlichung über die Kri-Sprache vor 77 . Die Erforschung des Baskischen hat er in reichem Maße getrieben und die Bibliothek in Poschwitz durch umfängliche und reichhaltige Druckwerke vermehrt. Eine grammatikalische Bearbeitung scheint er aber nicht in den Vordergrund gestellt zu haben, außerdem gehört dieses Gebiet zu der Sprache, der er sich am Ende seines Lebens erst zuwandte. Nach den handschriftlichen Aufzeichnungen, die sich mit baskisch-berberischer Lautvergleichung befassen, hat sich sein Interesse wohl hauptsächlich damals auf die sprachlichen Zusammenhänge des vorindogermanischen baskischen Volkes und der nordafrikanischen Berber gerichtet. Der Tod nahm ihm die Feder aus der Hand, als er diese seine Arbeit im Manuskript vollendet hatte 78 . Wie die nach 1874 liegenden Sanskrit-Werke der Poschwitzer Bibliothek zeigen, wie auch ein handschriftliches Zend- Vokabular, ist er auch in der Indogermanistik zu Hause gewesen. Aus diesem Gebiet liegt allerdings nur eine Besprechung zu Miklosichs zwölfbändigem Werk über die Zigeuner vor 79 . Die Gedanken seines Vaters führten ja auch bereits über eine sich in der Darstellung von Einzelsprachen ausmündenden polyglotten Darstellung hinaus zu einer den gesamten menschlichen Sprachgeist umfassenden allgemeinen Grammatik. Georg v. d. Gabelentz versuchte nun dieses von Hans Conon Begonnene zur Vollendung zu bringen. In mehreren Aufsätzen über vergleichende Syntax und Satzstellung, Stoff und Form der Sprache kam er dann zu der Herausgabe des berühmten Werkes „Die Sprachwissenschaft“, die 1891 erschien. Auch innerhalb der ostasiatischen Sprachforschung suchte er das verbindende Band in der Erforschung der einzelnen Sprachen zu ergründen. Seinem Vater und Friedrich Pott wurde er der bedeutendste Biograph, während über ihn noch keiner der Fachgelehrten eine Würdigung geschrieben hat 80 . Auch im Rahmen dieses Aufsatzes ist es nicht möglich gewesen, vor allem auch den gesellschaftlichen Beziehungen und seinem Verkehr mit den führenden Männern seiner Zeit nachzugehen, ebenso die Bedeutung, die seine wissenschaftliche Arbeit hatte, in vollem Umfange darzustellen und von der Würdigung, die er im In- und Auslande gefunden hatte, zu sprechen, da das Material hierfür noch nicht vollständig durchgearbeitet werden konnte. Erwähnt sei nur seine Ernennung zum ordentlichen Mitgliede der Königl. Sächs. Gesellschaft der Wissenschaften in Leipzig vom 2. Februar 1885 und der Königl. Preuß. Akademie der Wissenschaften vom 16. August 1889, welche die Unterschriften Theodor Mommsens, Emil du Bois-Reymonds und ErnstCurtius’ trägt. Abschließend zu dem Leben der beiden Sprachforscher der Familie sei darauf hingewiesen, daß die aus den Kreisen der Landedelleute entstammenden Brüder von Humboldt, Hans Conon und Georg v. d. Gabelentz die biologische Erforschung der Sprache in den Vordergrund stellten im Gegensatz zu den anderen Sprachgelehrten, die, aus der städtischen Intelligenz stammend und dem Leben mehr und mehr entfremdet, Anatomisten und Atomisten der Sprachforschung genannt werden müssen. Ernst Alexander Hans Conon Albrecht v. d. Gabelentz 81 wurde am 9. Oktober 1873 in Dresden geboren, wo sein Vater Georg v. d. Gabelentz als Assessor am Bezirksgericht tätig war. Seine Schulzeit verbrachte er in Jena, das damals noch nicht von moderner Industrie durchsetzt ein rechtes Studenten- und Schülerparadies war, und in Chemnitz. Nur die Ferien führten ihn aufs Land. Weniger war Poschwitz das Reiseziel als das vom Vater erbaute Lemnitzer Berghaus, dem er die Liebe bis in die letzten Jahre seines Lebens bewahrte. Den 20jährigen Gymnasiasten traf der Tod des 1893 verstorbenen Vaters schwer, das väterliche Erbe in Poschwitz, welches er nunmehr antrat, war fast eine zu große Bürde für die jungen Schultern. Gabelentz_s001-344AK6.indd 70 12.07.13 16: 22 <?page no="73"?> 71 Auch er wollte, wie seine Vorfahren es über ein Jahrhundert gehalten hatten, sich dem juristischen Studium widmen, jedoch trat er kurz vor dem Referendarexamen zur Ableistung des einjährigen Militärdienstes beim Königl. Sächs. Karabinier-Regiment in Borna ein. Dort hängte er plötzlich den juristischen Beruf an den Nagel, erwählte die Offizierslaufbahn, die ihm mehr zusagte, und wurde 1897 aktiver Leutnant bei den Karabiniers. Trotz guter Aussichten auf Avancement schied er als Oberleutnant aus dem aktiven Dienst, um frei von allen amtlichen und sonstigen Bindungen sein Leben gestalten zu können. Am 19. Mai 1903 vermählte er sich mit Olga, geborene von Helldorff, aus dem Hause Gleina, geboren am 14. Dezember 1875 in Zeitz, wo ihr Vater damals Landrat war. Der Einzug des jungen Paares in Poschwitz wurde durch ein großes Bauernreiten gefeiert. Diese ständische Ehrung wurde nur dem Herzogshause und hauptsächlich der Familie v. d. Gabelentz und deren Deszendenz erwiesen, so auch den Töchtern der Familie von Münchhausen auf Windischleuba, deren Mutter Clementine eine geborene v. d. Gabelentz war. In Poschwitz zog nun neues Leben ein. Auch mußte die Bewirtschaftung des Gutes, das durch die Verpachtung sehr gelitten hatte, neu geregelt werden. Das Gut selbst wurde 1912 durch den Ankauf des Graichenschen Bauerngutes in Remsa vergrößert. Von 1905 bis 1911 wurden die Obstplantagen nach dem Vorbild süddeutscher Anlagen, vor allem wie sich solche in der Rheinebene von Heidelberg bis Mannheim südwärts finden, angelegt, die eine weit größere Bodenausnutzung gewährleisten, da ja der fruchtbare Poschwitzer Boden auch unter den Bäumen neben der Obsternte reiche Ernten an Körnern und Hackfrüchten bringt. Diese Anlage war für die Gegend erstmalig. Sie umfaßte etwa 2000 Apfelbäume und an 500 Kirschbäume. Inzwischen ist sie erheblich weiter ausgebaut und vorbildlich für Anlagen gleicher Art geworden. Freilich hat Albrecht v. d. Gabelentz jahrzehntelang nur die Sorgen um die Plantagen gehabt und den Erfolg der jetzt in voller Tragfähigkeit stehenden Anlage nicht ernten können; um so größer ist sein Verdienst für den wirtschaftlichen Aufbau des Gutes, als er die Lasten für denselben trug, um den Nachkommen die Ernte seiner Selbstlosigkeit zugute kommen zu lassen. Am 16. September 1906 wurde er zum Herzogl. Sachsen-Altenburgischen Kammerherrn ernannt, im August 1909 wurde er Diensttuender Kammerherr Ihrer Hoheit der Frau Herzogin, Weihnachten 1913 erhielt er den Rang des Hofchargen. In diesem Hofdienst hat er zusammen mit dem Herzogspaar schöne große Reisen innerhalb Deutschlands wie auch nach Norwegen und Spanien unternommen. An Hofjagden und -festen erlebte er die letzte Glanzzeit des höfischen Lebens in Deutschland. Mit vielen berühmten Persönlichkeiten der Vorkriegszeit kam er dadurch zusammen, aber ebenso führte ihn sein Amt zu Land und Leuten des Herzogtums. Als Amtsvorsteher für die Kirchspiele Windischleuba und Bocka, wie auch als Mitglied des Kirchen- und Schulvorstandes in Windischleuba war er eine Reihe von Jahren tätig. Am 25. Oktober 1912 wurde er zum Direktor des Lindenau-Museums ernannt. Der Krieg traf ihn auf dem Krankenlager, daher konnte er nicht mit seinem Regiment ins Feld rücken. Erst im September 1914 führte er eine leichte Munitionskolonne nach Flandern. Dort lag er im Winter 1914 bis 1915 an der Ypernfront in der Nähe des Städtchens Dadizeele. 1915 zwang ihn sein altes Nierenleiden, in die Heimat zurückzukehren. 1916 führte er ein halbes Jahr eine schwere Munitionskolonne in der Gegend von Lille. Jedoch war seine Gesundheit so angegriffen, daß er den Dienst an der Front nicht mehr leisten konnte. Von Herbst 1916 bis in die Z eit der Revolution hinein war er im Generalkommando Dresden tätig. Als Rittmeister der Reserve schied er aus dem Heer aus. Mit der Revolution wurde das Herzogtum Sachsen- Altenburg zu einem Kreise Groß-Thüringens. Um für das alte Heimatland die Tradition zu retten und ihr eine Stätte zu bereiten, setzte Albrecht v. d. Gabelentz bei der damaligen Gebietsregierung es durch, daß das herzogliche Schloß nicht Finanzamt, Gerichts- oder Verwaltungsgebäude wurde, sondern dass in seinem Hauptteil ein Landesmuseum errichtet werden konnte, zu dessen Leiter man ihn ernannte. Der Einrichtung desselben, das heute ein Hauptanziehungspunkt für alle Besucher Altenburgs ist, hat er sich mit viel Liebe und Hingabe unterzogen. Viele Sammlungen im Schloß hat er zum Teil selbst zusammengetragen, andere aufgestellt und geordnet, Spezialsammlungen, wie der vorgeschichtlichen und dem Skatmuseum, die Aufstellung ermöglicht. Im Lindenau-Museum ist ihm die Konservierung der Sammlung früh-italienischer Meister und deren würdige Unterbringung zu danken, aber auch die Anschaffung neuerer Gemälde und Sammlungen. Aus den Sorgen des Alltags flüchtete er gern in die Gefilde der Kunst, zu der er sich schon seit seiner Jugend hingezogen fühlte. Eine wertvolle Abteilung kunstgeschichtlicher Werke in der Poschwitzer Bibliothek, die von ihm angeschafft wurden, zeugen von diesem seinem Studium, Gabelentz_s001-344AK6.indd 71 12.07.13 16: 22 <?page no="74"?> 72 noch mehr aber die zahlreichen Sammlungen von Kunstwerken jeder Art, die die Räume im Poschwitzer Schloß schmücken. Besonders hervorzuheben ist sein Interesse an Sammlungen jeder Art, die die Heimatgeschichte Altenburgs betreffen. Neben kunstgewerblichen Erzeugnissen sind es Möbel, Trachten, Einrichtungs- und Gebrauchsgegenstände des Altenburger Bauernhauses, zahlreiche Bilder, die Land und Leute illustrieren, und eine umfangreiche Buch- und Schriftensammlung Altenburgica enthaltend. Mit gleicher Liebe versenkte er sich in die Naturgeschichte der Pflanzen und Tiere, die geologischen Formen der Heimat waren ihm vertraut. So wurde er nicht nur der Tradition seines Hauses, sondern auch seinem Herzen folgend, eifriges Mitglied der Geschichts- und Altertumsforschenden Gesellschaft des Osterlandes in Altenburg, zu deren Vorsitzenden er 1919 berufen wurde. Dieses Amt hat er bis zum Tode bekleidet. Durch die schweren Nachkriegsjahre führte er die Gesellschaft bis in die anbrechende neue Zeit. Ihm widmete sein Vetter, Freiherr von Münchhausen, die eingangs erwähnte Würdigung seiner Persönlichkeit, deren Schlußzeilen lauten: So wird Albrecht v. d. Gabelentz uns allen immer als das Vorbild eines Vorsitzenden im Gedächtnis bleiben … in seiner Herzensgüte und Geschicklichkeit. Freilich wird ihm an Vielseitigkeit und Herzensgüte so leicht keiner gleichen können. 1932 überfiel ihn in Lemnitz, wo er in dem Berghaus seines Vaters seit Jahren ständig einige Sommermonate verbrachte, ein Blasenleiden, das unendlich schwere Krankheit und schmerzhafte Operationen im Gefolge hatte, aber nicht mehr behoben werden konnte. In starker, fast übermenschlicher Geduld hat er sein letztes Lebensjahr durchkämpfen müssen, bis ihn am 21. Mai 1933 der Tod erlöste. Aus dem Dunkel seiner Leidenstage flüchtete er sich in das Trostwort des hoffenden Glaubens: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein, wie die Träumenden.“ Dieses Wort hatte er sich als Text zur Ansprache an seinem Sarge erwählt mit dem ausdrücklichen Wunsch: „Wenn ich begraben werde, laßt alles Rühmen sein! “ Neben der Seite seines Vaters wurde er auf dem Begräbnisplatz im Poschwitzer Park zur letzten Ruhe gebettet. Wolf Erich v. d. Gabelentz, 2. Sohn Georgs v. d. Gabelentz aus 1. Ehe, ist 1884 geboren und 1914 gestorben. Hanns-Conon Martin Albert Burghard [Burchard + ] v. d. Gabelentz, Sohn Georgs v. d. Gabelentz aus 2. Ehe, wurde am 10. November 1892 geboren. Da seine Mutter bereits 1904 starb, leiteten sein Bruder Albrecht und sein Vormund Graf von der Schulenburg die Erziehung. Nach Beendigung der Schulzeit und kurzem Studium wurde er im Weltkrieg Leutnant d. R. beim Königlich Sächsischen Garde-Reiter-Regiment. Er hat den gesamten Weltkrieg mitgemacht. Nach seinem Ausscheiden aus dem Militärdienst und kurzem Studium in Heidelberg, wo er, wie sein Bruder Albrecht, bei den Saxo-Borussen aktiv war, erlernte er die praktische Landwirtschaft, wechselte aber dann, durch die Inflation gezwungen, in den kaufmännischen Beruf über. Seit einer Reihe von Jahren ist er in dem Verlag Georg Thieme in Leipzig an leitender Stelle tätig. Auch er besitzt den Gabelentzischen Sammlertrieb - Illustrierte Bücher, Graphik und moderne Malerei. In die Öffentlichkeit trat er mit einer in ihrer Vollständigkeit einzigartigen Z usammenstellung: „Holzschnittfolgen und illustrierte Bücher des flämischen Künstlers Frans Masereel“ anläßlich dessen Ausstellung in Mannheim 1929 und Leipzig 1931. Er ist der stellvertretende Vorsitzende des Geschlechtsverbandes. Die jetzige Besitzerin von Poschwitz und zugleich die erste Besitzerin des Gutes in seiner Jahrhunderte alten Geschichte ist Frau Olga v. d. Gabelentz, geborene von Helldorff. In der schweren Z eit des Krieges hat sie den Betrieb des Gutes mit fester und sicherer Hand geleitet, die Sorgen dieser und der kommenden Jahre tapfer und treu getragen und am Wiederaufbau des Besitzes unermüdlich mitgearbeitet. In der bitteren Zeit des Leidens ist sie Tag und Nacht an der Seite ihres Gatten gewesen und hat seine Geduld und seinen Glauben immer wieder gestärkt und erhalten. Und trotz allem, was an Sorge und Arbeit von ihr geleistet werden mußte, hat sie jahrzehntelang übergenug Zeit und Mühe im Dienste des Roten Kreuzes aufgewandt. 1909 gründete sie den Agnes Frauenverein vom Roten Kreuz in Windischleuba, den sie bis 1935 leitete. 1912 wurde sie von der Frau Herzogin zur Vorsitzenden des Agnes Frauenvereins im gesamten Herzogtum Sachsen-Altenburg berufen. In dieser Stellung hatte sie die gesamte Kriegsfürsorge, Lazarettätigkeit und anderes in der Heimat zu regeln. Nach dem Kriege galt es, die bestehenden Organisationen wieder zu festigen, umzubauen, aufzurichten und neu zu gründen. Einzelne Landesvereine schlossen sich zum Landesverband der vaterländischen Frauenvereine vom Roten Kreuz in Thüringen zusammen. In diesem war sie ab 1925 die stellvertretende Vorsitzende. 1934 entstand der Landes- Gabelentz_s001-344AK6.indd 72 12.07.13 16: 22 <?page no="75"?> 73 frauenverein vom Roten Kreuz in Thüringen, in dem alle einzelnen Landesvereine aufgingen. Sie wurde von der Frau Großherzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach, der Vorsitzenden dieses Thüringer Gesamtverbandes, ab 31. Juli 1934 zu ihrer Stellvertreterin berufen. Als Rest ihres alten Agnes Frauenvereins behielt sie den Kreisverein Altenburg-Land. 1935 legte sie im Januar ihre sämtlichen Ämter im Roten Kreuz nieder. Unvergeßlich sind ihr Name und ihre Arbeit mit der Geschichte der Frauenarbeit des Roten Kreuzes, besonders im Altenburgischen, aber auch in ganz Thüringen verbunden. Ihre Tätigkeit wurde sowohl im Kriege als auch in der Nachkriegszeit durch Verleihung von hohen Orden und Auszeichnungen anerkannt. Der Sohn Albrechts und Olgas v. d. Gabelentz ist Georg Heinrich Conon Sebastian v. d. Gabelentz. Er wurde am 20. Januar 1906 in Poschwitz geboren. Schon als Kind erlernte er die englische Sprache, bevor er zur Schule kam. Nach Privatunterricht und späterem Besuch des Altenburger Gymnasiums, das er nach bestandenem Abitur 1924 verließ, studierte er in Heidelberg, München, Genf und Jena Rechtswissenschaft. Als Student lernte er in Genf und in Tours französisches Recht, Kultur und Sprache kennen. 1928 bestand er das Referendarexamen und begann bald darauf seine praktische Ausbildung, die ihn an verschiedene Gerichte und Behörden in vielen Städten Deutschlands führte. In diese Jahre fallen auch größere Reisen nach Südfrankreich, Belgien und Holland. Im Haag besuchte er 1931 die Académie du droit international. In diese Z eit fällt auch seine Erlernung der spanischen Sprache. 1932 bestand er das Assessorenexamen. Nach diesem hat er in Vertretung seines erkrankten Vaters ein halbes Jahr lang die Geschäfte in Poschwitz geführt. Im Herbst 1932 ließ er sich als Rechtsanwalt in Stadtroda nieder. 1935 verlegte er seinen Anwaltssitz nach Altenburg, um seiner Mutter in Poschwitz im Betriebe beistehen zu können. 1937 siedelte er völlig nach Poschwitz über. Außer einer Schiffsreise nach den Kanarischen Inseln ist erwähnenswert eine Studienreise durch Polen, nach Warschau und Krakau. Angeregt durch die Neuordnung der Poschwitzer Bibliothek, deren Abteilungen er nach eigenen Plänen neu anlegte, entschloß er sich zu einer größeren Reise in die ostasiatische Inselwelt, deren Sprachen sein Großvater und Urgroßvater erforscht hatten. Diese Reise begann am 27. Dezember 1936 und führte über Ägypten, Ceylon, Singapore nach Java. Am 21. März 1937 kehrte er wieder in die Heimat zurück. Im Herbst desselben Jahres gab er in der Geschichts- und Altertumsforschenden Gesellschaft in Altenburg einen von Lichtbildern begleiteten Bericht über diese Reise. Er ist der zukünftige Erbe des alten Familiengutes Poschwitz, welches, hart an der Grenze der sich immer mehr ausbreitenden Stadt Altenburg gelegen, bedroht ist, in der Stadt aufgehend seine Selbständigkeit und damit seine eigene Geschichte zu verlieren, ja völlig von städtischen Bauten verschlungen zu werden. Über fünfeinhalb Jahrhunderte durften Schloß und Dorf Poschwitz von einer Hand geführt ihr Eigenleben behaupten, nun nicht in enger, egoistischer Abschließung, sondern als Ausgangspunkt von für Heimat und Volk bedeutsamen Männern und Frauen. Unsere heutige Zeit hat wieder Ehrfurcht vor solch jahrhundertealter und geschlossener Verbundenheit von Menschen und Boden, weil sie erkannte, daß gerade in dieser Verbundenheit die tiefste Quelle zu allem Kommenden, das mächtig und stark in der Z ukunft stehen soll, liegt. Möge darum Schloß und Dorf Poschwitz fernerhin sein ihm geschichtlich gewordenes Eigenrecht und seine Selbständigkeit bewahren dürfen. Denn wie Deutschlands heutiges Sein bestimmt ist durch das Neben- und Miteinander kleiner und großer Gebiete, deren vielfach geartete geschichtliche Entwicklung den Reichtum des deutschen Volkes und seines Landes schuf, so darf auch heute noch ein kleines Dörfchen, das wie Poschwitz auf so reiche Vergangenheit zurückschauen darf, sein Recht behaupten, das in der Z ukunft zu bleiben, was es dereinst war, und als geschlossenes Ganzes nun nicht als bedeutungsloser Ortsteil in der Stadt zu verschwinden, sondern weiter zu bestehen. Die Herren v. d. Gabelentz haben durch ihr Leben und ihren Weg durch die Geschichte dieses Recht für sich und ihr Dorf gewiß auch für die heutige Zeit erworben. 14. Anhang [5. Die ersten 100 Jahre] Die in den ersten 100 Jahren nach 1273 bezeugten Glieder der Familie v. d. Gabelentz lassen sich zunächst nicht einhellig in bestimmte verwandtschaftliche Beziehungen bringen. Theodoricus (Dietrich I.) de Gabelence tritt 1273, wie schon oben gesagt, als erster der Familie urkundlich genannt, als Zeuge bei einer Stiftung für die Kirche von Crimmitschau auf. Von ihm darf angenommen werden, daß er damals das Stammgut Gablenz besaß. Gabelentz_s001-344AK6.indd 73 12.07.13 16: 22 <?page no="76"?> 74 1317 wird ein Dietrich von der Ungewissheit urkundlich als Zeuge erwähnt 15 . Da Ungewiß, ein Dorf und Rittergut in der Nähe von Crimmitschau, später zum Familienbesitz derer v. d. Gabelentz gehörte, kann hier wohl mit Recht vermutet werden, daß es sich um einen Sohn Dietrichs I. bzw. um ihn selbst handelte. Der Name des Geschlechtes war in den damaligen Zeiten noch nicht eine ein für allemal festgelegte Kennzeichnung eines Mannes. Es wird für frühere Jahrhunderte häufig beobachtet, daß, je nach dem Besitzstand, ja zuweilen nach dem Wohnort die Bezeichnung des Zunamens sich ändert 16 : In einer Urkunde von 1291, im Staatsarchiv zu Dresden befindlich 17 , werden zwei weitere Glieder der Familie erwähnt, Heinrich und Hartung von Gabelence. Sie haben Zinsen in Kleinlöhmichen und Gablenz gehabt. Hartung erscheint noch einmal 1299 als Zeuge auf einer Urkunde im Staatsarchiv zu Dresden. Inzwischen war 1301 die Herrschaft Crimmitschau in den Besitz der Herren von Schönburg gekommen. Die Schweinsburg war das Schloß von Crimmitschau. Ericus de Gabelence wird in einer Urkunde Friedrichs von Schönburg vom 30. November 1305 als dessen Burgmann auf der Schweinsburg genannt 18 . Dessen Vater war Dietrich v. d. Gabelentz nach einer Urkunde von 1349 17 . Das verwandtschaftliche Verhältnis von Dietrich, Heinrich und Hartung läßt sich nicht ausmachen. Nach Knauth „Prodrom. Mißn.“ lebte 1321 auf Gablenz ein George v. d. Gabelentz. Er soll, wie bei Hörschelmann „Adelshistorie“ S. 144 zu lesen ist, Markgraf Friedrich den Gebissenen aus der Gefangenschaft Markgraf Waldemars von Brandenburg befreit haben. Bei Löber „Ronneburger Chronik, Anh. 38“, wird wiederum ein Hartungus de Gabelentz als Zeuge in einer Schenkungsurkunde für den Altar St. Nicolai in Altenburg genannt. Ebenso erscheint wieder ein Heinrich v. d. Gabelentz, der 1340 und 1345 als Z euge auf Schönburgischen Urkunden, im Staatsarchiv zu Dresden befindlich, auftritt. Nach den Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen verkaufte 1315 Heinrich von Gablenz, ein miles des Friedrich von Schönburg, dem Stift Osseg in Böhmen 2 Mark Silber in Stoimitz; dieser Kauf wurde von Bohuslaus von Riesenburg am 10. Februar 1315 bestätigt. Das Auftauchen von Gliedern des Geschlechtes in Böhmen steht wohl im Zusammenhang damit, daß um das Jahr 1280 Agathe von Schönburg den böhmischen Dynasten Bohuslav von Riesenburg ehelichte 19 . Es ist wahrscheinlich, daß neben Ericus v. d. Gabelentz auch andere Glieder der Familie im Dienste der Herren von Schönburg standen, vielleicht die Tochter des Hauses nach Böhmen geleiteten und sich sogar dort ansässig gemacht haben. In Märkers „Burggrafschaft Meißen“, S. 478, werden 2 Brüder Hermann und Dietrich v. d. Gabelentz als Zeugen einer Urkunde vom 7. Mai 1349 aufgeführt, diese Urkunde ist in Riesenburg datiert und behandelt einen Verkauf der Herren Slabke und Bosso von Riesenburg an den Burggrafen Meinher IV. von Meißen. Am 13. Juli 1378 20 wird ein Caspar v. d. Gabelentz als Vasall des Herrn Slavko von Riesenburg urkundlich erwähnt. In den Jahren 1393 und 1394 20 wird Peter v. d. Gabelentz als Zeuge einer Schuldurkunde des Herrn Borso von Riesenburg genannt, der zu Jansdorf bei Brüx und zu Jorginthein gesessen war. Ferner erscheint in einer Urkunde der Burggrafen Hermann III. und Meinher IV. von Meißen vom 6. Juni 1334 (Märker: „Burggrafschaft Meißen“ a. a. O.) ein Theodoricus (wohl Dietrich II.) de Gabelencz. Dieser verkaufte im Jahre 1351 17 dem Kloster Zelle das Dorf Lutewitz (vermutlich Leutewitz bei Bautzen). Diesen Verkauf bestätigte Otto, Burggraf von Donyn 20 . Die Söhne Dietrichs II. heißen Hermann und Ullrich. Soweit es sich nur um Zeugen auf Urkunden handelt, brauchten diese nicht in Böhmen ansässig gewesen zu sein, sondern konnten auf ihren Gütern im Pleißenlande wohnen. Da sie aber in der dortigen Gegend Eigentum verkauften, an dere wieder Vasallen dortiger Herren genannt werden, darf man wohl behaupten, daß durch die Verbindung der Häuser Schönburg und Riesenburg in dem Jahrhundert nach 1280 Glieder der Familie v. d. Gabelentz nach Böhmen und in dessen Kronländer kamen und dort ansässig waren, deren Spuren aber mit dem Ende des 14. Jahrhunderts vergehen. Im Osterlande wird in einer Crimmitschauer Urkunde vom 2. November 1349 20 auch ein Hans v. d. Gabelentz genannt. Erwähnt sei auch ein Dietrich v. d. Gabelentz, der in den geistlichen Stand getreten war. Er wird 1387 17 als Vormund seiner Schwester Adelheid bezeugt, 1397 wird ein Theodoricus de Gabelentz, Decanus terrae Plisnensis in einer Urkunde des Bischofs Christian von Witzleben zu Naumburg aufgeführt 21 . 1398 kommt ein Dietrich v. d. Gabelentz als Pfarrer zu Ledelow vor 22 . Das Gedächtnis eines Dietrich v. d. Gabelentz ist im St. Georgenstift in Altenburg Dienstag nach Kantate gefeiert worden 23 . Zeitlich muß dieser Dietrich ein Sohn Dietrichs II. gewesen sein. Der schon vorher 1349 erwähnte Hermann v. d. Gabelentz, der außerdem bereits 1314 in einer von Osseg datier- Gabelentz_s001-344AK6.indd 74 12.07.13 16: 22 <?page no="77"?> 75 ten Urkunde des Bohuslav von Riesenburg genannt wird 24 , ist wohl der Vater der im Lehnsbrief von 1376 genannten 3 Brüder Nicolaus, Hermann und Albrecht v. d. Gabelentz gewesen 17 . Er muß eine von Boyndorf zur Frau gehabt haben. Weiteres ist von ihm nicht bekannt. Mit diesem Lehnsbrief von 1376 schließt sich das erste Jahrhundert der Familiengeschichte, zugleich wird das Jahr 1376 der Ausgangspunkt zu einer nunmehr lückenlosen Ahnenreihe in den kommenden Jahrhunderten. [6. Das 2. Jahrhundert] Am Eingang des 2. Jahrhunderts der Geschichte der Familie steht dieser von Kurfürst Friedrich u. a. auch für die 3 Brüder Nicolaus, Hermann und Albrecht v. d. Gabelentz ausgestellte Lehnsbrief. Er ist datiert 1376 Sabb. p. conversionis Pauli (27. Januar) 17 und lautet folgendermaßen: Wir Friedrich, Balthasar und Wilhelm etc. bekennen, daß wir mit vorrate und wohlbedachte mute durch anneme Dienste di vns di gestrengen Hans von Boyndorf, Hans, Hen, Sifrid und Gerhard Stangen, clawes, h’man vnd albrech von Gabelncz dez obg Hans von Boindorf Swestersone manigueldig bisher getan und noch tuen sullnn di sunderliche gunst vnd gnade getan haben in alle dy gute die sy von uns zcu lehene haben wo di glegin sint entsamptlich zcusammen vnd in einandir geligen vnd lihnn in ouch di gnediglich mit dissen briue alzo welch d’ obgnann eyner abeginge ane lehen erbnn daz gut sal lediglich an die andern gefalln. Aus dieser Urkunde wird ersichtlich, daß ein ganzer Verwandtenkreis miteinander belehnt wurde und zugleich unter den Belehnten eine verbürgte Abmachung bei kinderlosem Tode getroffen wurde. Die Urkunde nennt zwar keine Orts namen, so daß sie für den Besitzstand keinerlei Aufschluß gibt. Aufschlußreicher ist aber der Kreis der Verwandten, vor allem für die Frage, warum und wie die Gabelentze aus der Crimmitschauer Gegend ins Altenburger Land ge kommen sind. Die genannten Gabelentze und Stanges sind Neffen des Hans von Boyndorf, der jedenfalls wegen Kinderlosigkeit diesen Lehnsbrief erbat. Die Stanges und Boyndorfs werden schon im Eingang des 14. Jahrhunderts im Altenburger Land gesessen gefunden. Verwandtschaftliche Beziehungen und Erbauseinandersetzungen waren darum wohl die Gründe, daß die Familie v. d. Gabelentz ihren Be sitz neben dem Stammgut Gablenz und den dazugehörigen Gütern auch durch größeren und kleineren Besitz - aus späterer Z eit erfahren wir von solchem Streubesitz, Gasthöfen, Mühlen, Zinsen, Holz usw. - im Altenburger Land mehren konnte. Wieweit der für die Schönburge ungünstige Streit in den Jahren 1372 ff., den sie mit Kurfürst Friedrich hatten, die Herren v. d. Gabelentz berührte und in ihren Entschei dungen betreffs Veränderung und Verlagerung des Besitzes beeinflußte, muß dahingestellt bleiben. Freilich können diese politischen Vorgänge hier auch eine Rolle gespielt haben. Zu diesen 1376 belehnten 3 Brüdern v. d. Gabelentz sei folgendes bemerkt: Nicolaus v. d. Gabelentz wird nach einer Urkunde von 1349 20 als Pfarrer von Tettau erwähnt. Er war dem Maria- Magdalenenkloster in Altenburg wohl durch Aufnahme von Verwandten verbunden. Darum schenkte er 1379 17 diesem Kloster Zinsen von 2 Kretzschen (Gasthäusern) in Saara, um für sich und seine Eltern eine Gedächtnismesse zu erwerben. Hermann III. v. d. Gabelentz ist mit Vorwerk und Mühle zu Löhmigen beliehen gewesen 20 . Er ist wohl identisch mit dem 1385 erwähnten Hermann von Löhmigen, der auch Besitz im heutigen Prisselberg erwarb 20 . Albrecht I. v. d. Gabelentz ist derselbe, der eingangs dieses Aufsatzes in den Urkunden von 1388 und 1389 als Burgmann auf dem Schlosse in Altenburg und damit wohl als erster, uns bekannter Besitzer von Poschwitz erwähnt wird. Nach dem Leisniger Kopialbuch 23 hat er von seinem Vetter oder Oheim Dietrich v. d. Gabelentz 20 Gulden Zins in Linda erkauft. Heinz v. d. Gabelentz wird in einer Urkunde Hermanns von Schönburg 1360 erwähnt. Er wird „der sonstige Vogt“ Hermann von Schönburgs genannt. Nach seinem Sitz Ungewiß heißt er auch Heinz von der Ungewißheit 25 . Albrecht II. v. d. Gabelentz war jedenfalls ein Sohn Albrechts I., wenn auch urkundlich feste Nachweise über diesen Zusammenhang nicht zu bringen sind. Aber es wird anzunehmen sein, daß es dieser Albrecht II. gewesen sein muß, der 1429 das Leibgedinge für seine Gemahlin aufgerichtet hat, denn die Spanne von 53 Jahren zwischen 1376 und 1429 läßt es unwahrscheinlich erscheinen, daß die beiden dort erwähnten Albrechte ein und dieselbe Person sind. 1420 17 wird er am Gründonnerstag von Albrecht, Burggrafen von Starkenberg, mit Grundstücken in Schelditz belehnt. Da ein Vetter Otto v. d. Gabelentz sein Mitbelehnter ist, scheint er keine Brüder gehabt zu haben. Albrecht II. war es wohl auch daher, der im Jahr 1427 20 vom Burggrafen von Leisnig mit dem einen Gute Nobditz (Nobitz) belehnt wurde, welches er erkauft hatte. 1431 26 wird er mit dem Dorf Crudenitz (bei Borna? ) durch Bischof Johannes von Merseburg belehnt. Im Gabelentz_s001-344AK6.indd 75 12.07.13 16: 22 <?page no="78"?> 76 gleichen Jahr wird er auch in einer urkundlichen Notiz des Bergerklosters in Altenburg als „zu Boschwitz“ erwähnt. Es ist dies die erste urkundliche Erwähnung des Besitzes von Poschwitz in der Hand der Familie. 1420 27 hat Landgraf Wilhelm von Thüringen dem gestrengen Albrecht v. d. Gabelentz die Halsgerichte zu Gablenz auf Lebenszeit überlassen. 1423 17 hat Albrecht v. d. Gabelentz Heinz Stange und Heinz von Knau zum Mitbelehnten über Zinsen in Schönau, Linda, Wüstenhain und Meuselsdorf angenommen. Derselbe Albrecht v. d. Gabelentz errichtet 1420 17 zu seiner und seiner Voreltern Seligkeit sein Seelengeräte. In diesem Zusammenhange wird auch einer Gabelentzischen Kapelle bei dem Kloster Unserer lieben Frauen auf dem Berge außerhalb Altenburgs gedacht 27 . Nach Tauchnitz ist im Bergerkloster auch das Familienbegräbnis gewesen. Albrecht II. vereinigte in seiner Hand einen großen Besitz, der auch die reichen Stiftungen ermöglichte. Daß ihn auch der Burggraf Albrecht von Leisnig hochschätzte, zeigt die Tatsache, daß dieser ihm den Entwurf und Abschluß der Eheberedung zwischen Otto, Burggraf Albrechts Sohn, und Gräfin Margarete von Schwarzburg übertrug 28 . Zweimal war Albrecht II. verheiratet, das erste Mal mit Ilse, Tochter Gerhards v. Lohme. 1420 17 wird ihr Leibgedinge aufgerichtet; hier werden Zinsen in Meuselsdorf, Wüstenhain, Blumroda und Schönau genannt. Seine 2. Frau war Ylsse (Elisabeth) aus dem Geschlechte der Schenke von Tautenburg. Ihr wird 1429 17 durch einen Brief des Kurfürsten Friedrich das Leibgedinge auf das Gut Gablenz aufgerichtet. Sie überlebte ihren Gatten und verheiratete sich mit Hildebrand von Einsiedel 1443. Albrecht II. muß zwischen 1434 und 1435 gestorben sein, da 1435 die Belehnung seiner Söhne erfolgte. Bevor wir uns diesen zuwenden, seien noch einmal der schon genannte Otto v. d. Gabelentz auf Löhmigen erwähnt, der nach einer Urkunde von 1416 17 einen Bruder Hermann v. d. Gabelentz gehabt hat. Hans I. v. d. Gabelentz, ältester Sohn Albrechts II., wird 1435 17 mit seinen Brüdern von den Herzögen Friedrich und Sigmund mit Äckern, Holz und Teichen bei Altenburg im Jüdengrund, die von Sifrid Stange erkauft sind, belehnt. Außerdem ist er Besitzer von Crudenitz gewesen 26 . Das Verzeichnis der Erbarmannschaft von 1445 20 nennt Hans v. d. Gabelentz mit seinen Brüdern zu Boschwitz. 1447 20 wird Hans I. in einem ähnlichen Auszug genannt. Er dient den Herzögen zu Sachsen mit 6 Pferden. 1455 17 erkauft er Windischleuba von Hans von Boyndorf. 1480 und 1488 17 erfahren wir eine erste größere umfassende Darstellung des damaligen Besitzstandes aus den Lehnsbriefen, die Herzog Wilhelm erteilte. Genannt werden: Gablenz, Weinberge bei Amorbach und Burgau, das Burglehen zu Crimmitschau, das Burglehen zu Altenburg, das Vorwerk Nobitz, Münsa, Poschwitz, das Holz bei Dränau und das Holz im Spander. Durch einen Teil seiner Güter, Windischleuba und Nobitz, Vasall des Burggrafen von Leisnig, stand er auch bei diesem in hohem Ansehen, vor allem wurde auch von der Burggräfin Johanna sein Rat und Dienst gern begehrt. Ihm hat die Kirchgemeinde Windischleuba ihr Gotteshaus zu verdanken, das er 1492 zu bauen angefangen hat. Aus nicht erklärten Gründen hat er 1483 bis 1494 17 verschiedenen Besitz, vornehmlich in Windischleuba und Nobitz, dem St. Georgenstift, dem Bergerkloster usw. käuflich übereignet. Von ihm wird über einen Freundesdienst berichtet, den er dem Conrad v. Einsiedel leistete. Dieser kehrte 1455 aus 30jähriger türkischer Gefangenschaft heim. Die Seinen nahmen ihn nicht auf, ja selbst seine Gemahlin erkannte ihn nicht wieder. Zu seinem Glück traf er seinen alten Bekannten Hans v. d. Gabelentz auf Windischleuba an, dessen Vermittlung er zu danken hatte, daß ihm wieder Heimat und Recht wurde 29 . Auch Hans v. d. Gabelentz hat wie sein Vater zweimal geheiratet. Seine 1. Frau war eine geborene von Schönberg, seine 2. Frau Ilse von Haubitz, die 1467 und 1481 erwähnt wird 17 . Durch den Kauf von Windischleuba, dessen Schloßneubau Hans I. auch begonnen hat, trat Poschwitz für einige Jahrzehnte in die Rolle eines Nebengutes. Unter ihm ist der Besitz der Familie ständig gewachsen und erstarkt, so daß der Abschluß des 2. Jahrhunderts der Familiengeschichte ein fortwährendes Aufsteigen des Geschlechtes zeigt. 1496 wird Hans I. gestorben sein. Er wird in diesem Jahr noch einmal als Zeuge erwähnt 17 , aber im gleichen Jahre treten seine Söhne Heinrich und Eustachius bereits als Verkäufer auf. Rudolph v. d. Gabelentz, ein weiterer Sohn Albrechts II., wird nur einmal 1450 in einer Prozeßschrift gegen Heinz von Zschepperitz im Kopialbuch im Zeitzer Stiftsarchiv gemeinsam mit seinen Brüdern Hans und Georg genannt. Von Bedeutung ist der andere Sohn, mit dem auch der Name Georg sich in der Familie einbürgert, wie mit dem Namen des Bruders der Name Hans und mit dem Namen des Großvaters der Name Albrecht, nämlich Georg I. v. d. Gabelentz. Von ihm wissen wir, daß er wie sein Bruder Cas- Gabelentz_s001-344AK6.indd 76 12.07.13 16: 22 <?page no="79"?> 77 par in den Jahren 1454 ff. in den Diensten des Deutschen Ordens in Preußen kämpfte und Beziehungen anbahnte, die in kommender Zeit von späteren Gliedern der Familie wieder aufgenommen wurden, dem Geschlechte aber einen ehrenvollen Platz in der Geschichte der Eroberung des deutschen Ostens sicherten und ein neues Reis der Familie im fernen Ostpreußen aufgehen ließen, das freilich nicht wie das Geschlecht der Heimat über die Jahrhunderte dauerte. Außer den schon erwähnten Lehnsbriefen von 1480 und 1488, in denen Georg I. als Mitbelehnter seines Bruders Hans genannt wird, mögen aus Lehnsbriefen von 1463 und 1465 17 noch folgende Besitztitel erwähnt werden: Zinsen zu Frankenhausen, Leitelshayn, Crimmitschau, Hessen, Koltyn, Naundorf, Wallen, Remse, Kallendorf, Burckersdorf, Bandschitz, Fichtenhain, Leesen, Cröbern, Monstorff, Dre na, Gradschütz, Lutschütz, Dreschau, Potisaw, Drenharcz, Scheßlitz, Kratzsch, Ilsitz und Manau. Es ist dies eine wirklich stattliche Zahl von Dörfern, in denen die Herren v. d. Gabelentz neben ihren Hauptgütern Herren einzelner Güter und Besitztümer waren. 1467 17 wurden Hans I. und Georg I. mit dem anderen Gut in Nobitz, das von ihnen von Herrn von Kitscher erkauft wurde, belehnt. 1474 17 belehnte Burggraf Hugo von Leisnig beide Brüder mit Windischleuba. 1477 17 haben beide Brüder das Dorf Gablenz mit oberen und niederen Gerichten usw. an Hans Marsch, Hauptmann zu Altenburg, verkauft. Das Vorwerk Gablenz wird schon 1417, 1457, 1465 und 1470 im Besitz der Familie Stange genannt. 1477 handelte es sich um das Dorf nebst Gerichten. Damit scheidet das alte Stammgut der Familie nach urkundlich bezeugtem 200jährigem Besitz aus diesem aus. Während Hans I. seit 1455 seinen Sitz in Windischleuba hatte, wird Georg I. 1486 20 als zu Poschwitz gesessen aufgeführt. Daß auch Georg I. großes Ansehen genoß, beweist seine Teilnahme an wichtigen Verhandlungen in Göttingen im Gefolge Herzog Erichs von Braunschweig im Jahre 1494 17 . Selbst kinderlos, schenkte er seine Gunst seinen Neffen Heinrich und Georg. Um für diese über seinen Besitz frei verfügen zu können, tat er am 22. September 1498 im hohen Alter den sog. Rittersprung vor dem Oberhofgericht in Leipzig und bewies, daß er in der Macht und Kraft stand, mit einem Schwerte gegürtet, mit Schild, Stiefeln und Sporen, ohne Hilfe auf ein Pferd zu springen und den Stegreif nicht zu rühren 30 . Nach 1500, in welchem Jahre er mit den Neffen Heinrich und Georg über Nobitz und Windischleuba mitbelehnt wurde 17 , wird er nicht mehr erwähnt. Man darf also seinen Tod auf diese Zeit annehmen. Caspar v. d. Gabelentz, ein weiterer Sohn Albrechts II., fiel nach einer Notiz im Königsberger Archiv in den Bundeskriegen des Deutschen Ordens, in dessen Reihen auch sein Bruder Georg I. kämpfte. Albrecht III. v. d. Gabelentz, 1436 27 Prälat und Abt, richtiger Probst des Klosters ad S. Mariam zu Altenburg genannt, wird wohl ein weiterer Sohn Albrechts II. gewesen sein, der ja gerade diesem Kloster reiche Stiftungen machte, eine Kapelle baute usw. Von Schönberg „Nachrichten pp.“ berichtet in Bd. 7 aus einem alten Memoirenbuche des Klosters Bosau, daß dieser „Albrecht v. d. Gabelentz aus dem alten Stammhause bei Crimmitschau anbürtig als ein vornehmer, gelarter und vermögender Herr bey hohen Potentaten Ao. 1436 in sonderbarem Respectu gewessen, auch das Kloster Pforta mit sonderbaren reditibus augiert, sowohl seine Freunde mit stattlichen Landgütern versehen“. Weiteres ist von ihm nicht bekannt. [7. Das 3. Jahrhundert] Ins 3. Jahrhundert der Geschichte tritt die Familie mit den Söhnen Hans I. v. d. Gabelentz. Heinrich v. d. Gabelentz war der älteste Sohn. Er ist vermählt mit Katharina von Canitz 17 . 1498 ist er mit seinem Bruder Georg II. und Oheim Georg I. 37 mit Windischleuba, Nobitz und Zubehör belehnt worden. 1499 17 fand eine Erbteilung zwischen Heinrich und seinem Bruder Georg statt. Gemeinschaftlicher Besitz beider Brüder blieb Gablenz. Hier ist freilich ungeklärt, wie die früheren Verkäufe von Gablenz mit dieser Nachricht in Einklang zu bringen sind, vielleicht handelt es sich um stehengebliebenen Lehnsstamm oder Wiederkaufsrecht. Ferner besaßen die Brüder gemeinsam das Burglehen zu Crimmitschau, Weinberge zu Wöllnitz und Amorbach, das Burglehen zu Altenburg. Alleiniger Besitz Heinrichs waren Zinsen zu Thräna, Altenburg, Drescha usw. Holz zu Thräna, 2 Wiesen nebst dem Rodeland in Wilchwitz und das Kirchlehen zu Windischleuba. Vom Burggrafen von Leisnig wurde er mit dem Gut Windischleuba, wo er sich aufhielt, in dem Jahr 1500 beliehen 17 . Er hat aus seinem Besitz verschiedene kleine Streubesitzteile veräußert. Genannt sei nur, daß er Wilchwitz 17 an Job von Dobeneck verkaufte. 1515 muß er gestorben sein. Seine Ehefrau Catharina lebte, wie die Ratsakten von Altenburg nachweisen, bis 1541 in Al tenburg und besaß dort ein Freihaus auf dem unteren Teil der Johannisgasse, wo das heute verschwundene Margaretengäßchen einmündete. Er hinterließ keine Leibeserben. Gabelentz_s001-344AK6.indd 77 12.07.13 16: 22 <?page no="80"?> 78 Kinderlos verstarb auch sein Bruder Eustachius v. d. Gabelentz im Jahr 1498 17 . Er liegt in Halle im Kloster bei dem Schloß begraben. Er bekleidete das Amt eines Marschalls Herzog Ernsts zu Sachsen, Erzbischofs zu Magdeburg und Halberstadt 32 . Bernhard v. d. Gabelentz, ein weiterer Sohn Hans I., trat, wie einst sein Onkel Georg I., in den Dienst des Deutschen Ordens, in welchem er eine wichtige Rolle gespielt hat. Das Königsberger Archiv berichtet, daß ihn sein Hochmeister an den Grafen Heinrich Reuß von Platten, den Älteren, sandte, um wegen der Wahl des Prinzen Friedrich von Sachsen zum künftigen Hochmeister des Deutschen Ordens zu verhandeln. Bernhard ist 1497 auf einem Feldzug im Dienst des Deutschen Ordens in der Walachei geblieben 17 . Christoph I. v. d. Gabelentz, geb. 1460, ein weiterer Sohn Hans I., war in den geistlichen Stand getreten und hatte neben der theologischen Doktorwürde die eines Domherrn zu Mainz, Meißen und Naumburg erlangt. Er begleitete den Prinzen Friedrich von Sachsen 1494 33 nach Siena, um dessen Studien an der dortigen Hochschule zu fördern. Danach ging er mit ihm auf den Reichstag zu Worms. Vielleicht hat er, der ja 2 Brüder, Bernhard (s. o.) und Hans (s. u.), im Deutschen Orden hatte, die Aufmerksamkeit auf diesen seinen Zögling bei der Wahl des künftigen Hochmeisters gelenkt, eine Wahl, die für den Deutschen Orden die erwünschte Anlehnung an das mächtige Kursachsen brachte. 1501 34 weilt Christoph im Auftrage des Kurfürsten Friedrich III. in Torgau und Erfurt, 1517 20 als Abgeordneter Herzog Georgs von Sachsen auf dem Reichstage zu Worms. 1519 17 wurde ihm vom Bischof Johann von Meißen das Archidiakonat der Niederlausitz verliehen. Diese seine auch ertragreichen Ämter und Würden setzten ihn in den Stand, seinen Brüdern, denen er sowieso sein Erbteil überlassen hatte, in Zeiten wirtschaftlicher Not zu helfen. Vor allem hat er das Meiste zum Bau des Schlosses in Windischleuba aus seinen Mitteln beigetragen. Eine im Schloß von Windischleuba eingemauerte Platte vermeldet folgendes: Hans v. d. Gabelentz etwan dissen Baw angefangen, Christoph sein Son Tumherre zu Mentz und Meißen vollendet anno MDXXXII seines Alters LXXII. Er starb 1535 und wurde im Dom zu Mainz vor dem Altar St. Petri beigesetzt 35 . Seine beträchtliche Hinterlassenschaft fiel endgültig 1542 seinem Neffen Sebastian v. d. Gabelentz nach langjährigen Prozessen zu 36 . Nicht urkundlich unbedingt nachzuweisen ist, ob der 1518, 1522, 1527 usw. genannte Albrecht IV. v. d. Gabelentz, Prior und später Senior im Bergkloster des Benediktinerordens zu Chemnitz, ein Sohn Hans I. war, welcher diesem Kloster einen Kelch schenkte und so persönliches Interesse an diesem Kloster bewies. Georg II. v. d. Gabelentz ist der Ahnherr des Geschlechtes in der Heimat geworden, da seine Brüder Heinrich, Eustachius, Christoph und evtl. Albrecht ohne Leibeserben verstarben, Hans II. aber den ostpreußischen Zweig des Geschlechtes begründete. In der schon erwähnten Erbteilung von 1499 erhielt er als gesonderten Besitz die Obergerichte und das Vorwerk in Nobitz, Vorwerk zu Poschwitz, Holz zu Thräna und im Spanner, das Kirchlehen in Gödern, ein Viertel des Rodelandes in Wilchwitz 17 . Georg II. hatte seinen Wohnsitz in Poschwitz. Das alte Schloß brannte im Jahr 1507 nieder. Bis 1580, dem Jahr des Wiederaufbaues, wohnte die Familie bei Anwesenheit in dem sog. Alten Schaftstallgebäude links neben dem Hoftor. Windischleuba und die übrigen Besitzungen seines Bruders Heinrich kamen nach dessen Tode in seine Hand. Im Jahre 1502 tauschte er mit dem Bergerkloster das Patronatsrecht von Gödern gegen das Patronat von Nobitz ein 17 . Auch von ihm wurden Zinse u. dgl. verkauft. Vor allem ist von ihm zu berichten, daß er 1529 17 das Burglehen zu Altenburg für 200 Gulden an den Kurfürsten Johann von Sachsen verkauft hat. Ebenso muß unter ihm endgültig das alte Stammgut Gablenz aus dem Familienbesitz geschieden sein, da es 1534 in dem ihm von Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen ausgestellten Lehnsbrief nicht mehr erwähnt wird 17 . Aus diesen Verkäufen ist zu ersehen, daß die damalige wirtschaftliche Umgestaltung, die politisch und religiös bedingte Spannung auch das Geschlecht v. d. Gabelentz mit in die Sorgen und Nöte der Zeit hineinzwangen, daß aber doch der wertvollste Besitz erhalten werden konnte, so sehr auch der Verkauf des Altenburger Burglehens und des Stammgutes Gablenz bedauert werden mag. Im Gefolge Herzog Erichs von Braunschweig war Georg II. 1494 bei Verhandlungen des Herzogs mit dem Rat der Stadt Göttingen zugegen 37 . Mit 3 Pferden war er 1513 auf der Hochzeit Johanns von Sachsen zu Torgau 38 , als Vasall des Leisniger Burggrafen war er 1515 im Gefolge der Burggräfin Dorothea von Leisnig bei der Taufe einer Tochter des Herzogs Heinrich von Sachsen 39 . Später erscheint er im Verzeichnis der Erbarmannschaft Kurfürst Friedrichs 17 . Es ist ersichtlich, daß Georg II. wie seine Vorfahren und Brüder Gabelentz_s001-344AK6.indd 78 12.07.13 16: 22 <?page no="81"?> 79 im Ansehen und in Ehren nicht nur an einem Hofe der damaligen Zeit gestanden hat. Aus 3 Ehen - bekannt ist nur der Name der 2. Frau Anna von Deben - blieb von 5 Brüdern nur ein einziger Sohn, Sebastian, der, wie sein Vater Georg, der auch einst als einziger von vielen Geschwistern mit Leibeserben gesegnet war, auch wieder als einziger berufen war, das Geschlecht in der Heimat fortzupflanzen. Georg II. starb 1535 17 . Unter ihm wurde die Reformation in der Kirchgemeinde Windischleuba eingeführt, jedoch hat das Geschlecht, wie wohl auch viele andere Familien, sich erst in späteren Generationen mit der kirchlichen Neugestaltung abgefunden. - Kleiner ist seit 1488 der Heimatbesitz der Familie geworden, aber in der Ferne, in Ostpreußen, entsteht dem Geschlecht neuer Besitz und neue Heimat. Hatten die ersten derer v. d. Gabelentz uns gegrüßt als Führer der ersten deutschen Siedler im neuerworbenen Osterlande, so steht nun zur Z eit der Reformation im deutschen Osten dasselbe Geschlecht in entscheidender geschichtlicher Stunde an der Seite der letzten Hochmeister und des ersten Herzogs von Preußen. Es ist der letzte Sohn Hans’ I., von welchem in folgendem zu berichten ist: Hans II. v. d. Gabelentz 40 . Er trat, der von seinem Oheim gegründeten Tradition folgend, schon bei Lebzeiten seines Vaters in den Deutschen Orden ein. 1492 bis 1495 war er unterster, 1495 bis 1498 oberster Kumpan 41 des Hochmeisters. Am 21. Mai 1498 kommt er als Pfleger in Rastenburg vor, 1500 ist er Hochmeisterlicher Kellermeister und im gleichen Jahr Hochmeister-Statthalter der Vogtei Soldau, 1502 bis 1512 Vogt zu Brandenburg, 1504 inzwischen Hauskomtur zu Ragnit, 1514 bis 1521 Vogt zu Soldau, 1522 bis 1525 Hauskomtur auf der großen Ordensburg Balga. Die Aufzählung dieser seiner Ämter läßt schon erkennen, daß er zu den bedeutenden Gliedern des Ordens gehörte. 1497 zog er mit dem Heerhaufen des Deutschen Ordens in den Krieg gegen die Türken, in welchem sein Bruder Bernhard fiel. 1502 wird ihm die schwierige Aufgabe übertragen, den aufsässigen und untreuen Komtur Werner Spies von Büttesheim der Balley Coblenz des Amtes zu entsetzen; er hat mit diplomatischem Geschick und persönlichem Mut diese Sendung ausgeführt. Von Reich und Kaiser verlassen, mußte der Hochmeister Friedrich von Sachsen mit dem König von Polen auf gütlichem Wege zu verhandeln suchen. Z u solchen Gesandtschaften wurde auch Hans II. 1503, 1506, 1508 verwandt, Verhandlungen, die er im Jahre 1508 mit zu einem glücklichen Ende führen konnte. 1511, nach dem Tode Friedrichs von Sachsen, hat er als einer der 12 Gebietiger des Ordens mit auf die Wahl des Sohnes des Markgrafen Friedrich von Brandenburg, des nachmaligen Hochmeisters Albrecht von Brandenburg, bestimmenden Einfluß genommen. Mit anderen Würdenträgern begrüßte er am 22. November 1512 den in Königsberg einziehenden neuen Hochmeister Albrecht, der Hans II. zu seinem Rat und Vertrauten machte. In dessen Auftrag hat er 1514 in Kopenhagen mit dem König von Dänemark wegen Kriegshilfe verhandelt, 1515 bei dem Kaiser einen Abschied über die Irrungen zwischen Polen und dem Deutschen Orden vermittelt, ebenso im Auftrag des Ordens mit Kurfürst Friedrich dem Weisen verhandelt. Bei dieser Reise besuchte er seine Brüder Heinrich und Georg, zwischen denen Irrungen über Besitz und Rechtsverhältnisse in Nobitz entstanden waren. Diesen Streit konnte er schlichten. Noch einmal besuchte er seine Heimat 1526, um hier sein ihm am väterlichen Erbe zustehendes Recht zu suchen, das ihm Georg II., den er immer in brüderlicher Weise unterstützt hatte, gern einräumte. Daher wird er in den Lehensbriefen von 1534 als Mitbelehnter Georgs II. und 1536 als Mitbelehnter Sebastians I. genannt. Auf dem Landtag in Bartenstein, auf anderen Tagungen des Ordens befindet sich immer wieder Hans II. unter den Gebietigern und den dem Hochmeister zunächst stehenden Ordensgliedern. Als nun Preußens letzter Hochmeister das Ordensland in ein weltliches Herzogtum umwandelte, wurde Hans II. von dem nunmehrigen Herzog Albrecht zum fürstlichen Rat ernannt. An diesem für die Geschichte Preußens und Deutschlands so wichtigen und folgereichen Vorgang hat auch Hans II. einen gebührenden Anteil genommen und damit den Namen seines Hauses mit diesem Geschehen verbunden. Ihm wurde die Verwaltung der nunmehr fürstlichen wichtigen Hauptmannschaften Balga und Brandenburg übertragen. In diesem Amte hatte er 1525 den Aufstand der mißvergnügten Bauern zu dämpfen. Den 11. August 1526 wurde ihm auf Lebenszeit Amt und Gebiet Gilgenburg in Lehen gereicht, auch 1533 ihm und seinen Nachkommen freie Fischerei auf dem See Damerow verliehen. Damit wurde der Besitzstand des Hans II. in Preußen und der von ihm abstammenden preußischen Linie derer v. d. Gabelentz begründet. Nach 1526 muß er sich bald verheiratet haben mit Anna, Tochter Bertholds von Massenbach. In dieser Ehe wurden 2 Söhne, Hans III. und Georg III., und 3 Töchter geboren. Gabelentz_s001-344AK6.indd 79 12.07.13 16: 22 <?page no="82"?> 80 Von dem Zeitpunkt seiner Verheiratung an scheint er ernstlich an den Aufbau und die Sicherung eines Besitzes für sich und seine Nachkommen gegangen zu sein. So erkaufte er die Viertzighubenschen Güter im Amt Gilgenburg, mit denen er 1530 belehnt wurde, 1537 das wüste Gut Klotzwalde und das Gut Klein Koschlau. 1540 starb Hans II. v. d. Gabelentz. Er hinterließ seine Kinder unter der Vormundschaft Friedrichs v. d. Olsnitz und Peters von Kobersee, an deren Stelle später Obermarschall von Borck stand. Mit dem letzteren hat die Witwe, die sich wieder verheiratete, manchen bitteren Streit gehabt. Sie schreibt 1555: „… Ich kann nicht glauben, daß dieser Marschall selig wurdt, es sei denn, daß ihn der Teufel in Hel nicht leiden kundt! “ Es mag fast scheinen, als klinge nach solchen Worten das Lebenswerk Hans II. mit einem Mißton aus. Doch muß man sich vergegenwärtigen, wie das Land Preußen in den Umbruchszeiten nach der Reformation erschüttert und bedrängt durch den übermächtigen Nachbarn Polen auch innerlich im Werden und Gären, wo Recht und Unrecht schwer abzuwiegen ist, unter drückender Spannung stand. Das alles formte die Menschen und ihr Verhältnis zueinander und läßt solche Worte begreiflicher erscheinen. Um so leuchtender und größer steht die Persönlichkeit und das Werk Hans’ II. vor uns, der neben seinem Bruder Christoph wohl der größte Sohn Hans’ I. ist. Hans III. v. d. Gabelentz, der älteste Sohn Hans II., war geboren zwischen 1526 und 1530. 1549 stand er in Diensten des Herzogs Christoph von Württemberg. Er kehrte aber zurück, um das Recht auf seinen Besitz, den ihm sogar der Herzog schmälern wollte, zu suchen und zu sichern. Erst am 13. Dezember 1555 verlieh Herzog Albrecht von Preußen Hans III. und dessen Bruder Georg III. gemeinschaftlich das Dorf Altenstedt, Viertzighuben, das wüste Gut Kronau, 4 wüste Hufen bei Marienwalde und das wüste Gut Klotzwalde. Da die Güter größtenteils infolge der fortwährenden Wirren wüst waren, versprach Herzog Albrecht den beiden Brüdern 400 Mark zur Instandsetzung aus dem Amt Neidenburg zahlen zu lassen. Durch Vergleich wurde Hans III. später Alleinbesitzer. Bis 1578 waren beide Brüder auch Mitbelehnte auf den osterländischen Gütern der Familie. Hans III. bekleidete von 1561 bis 1590 ein Landrichteramt in Hohenstein und wurde vom Herzog verschiedentlich zu wichtigen Aufträgen beordert. Er war 2 mal verheiratet. Aus der 1. Ehe mit Dorothea von Kracht wurden ihm 4 Söhne und 2 Töchter geboren. Nur von 2 Söhnen ist Näheres bekannt geworden, nämlich Hans IV. und Christoph. Barbara von Schönaich, seine 2. Frau, gebar ihm 3 Töchter. Hans III. starb 1592. Sein 1591 errichtetes Testament wurde erst 1593 von Herzog Georg Friedrich bestätigt. Georg III. v. d. Gabelentz war der 2. Sohn Hans II. Er hat in Wittenberg studiert, wo er 1559 inskribiert wurde. 1561 war er Hofrat des Herzogs von Preußen. Sein Tod fällt bereits in das Jahr 1562. Hans IV. v. d. Gabelentz, Hans’ III. ältester Sohn, ist um das Jahr 1566 geboren. Er erbte die väterlichen Güter, zu denen durch seine Heirat mit Anna Streschen die Buchwaldschen Güter in Preußisch-Polen kamen. Auch er stand im Hohensteinschen Landrichteramt und war dem herzoglichen Hofe in Königsberg verbunden. Bereits 1595 starb er. Nur 1 Sohn, Hans Georg, blieb am Leben. Da nun seine 5 Schwäger auf Auszahlung der Ehegelder drängten, geriet der Besitz in große Verschuldung, die durch ungünstige vormundschaftliche Verwaltung nicht vermindert wurde. Hans’ III. anderer Sohn, Christoph v. d. Gabelentz, ist 1567 geboren. Er starb 1599 und vererbte sein ihm zugefallenes Gut Klotzwalde den Kindern seines verstorbenen Bruders. Erwähnt sei noch, daß ein weiterer Sohn Hans’ III., Fabian v. d. Gabelentz, im Ausland verschollen ist. Hans Georg v. d. Gabelentz, Sohn Hans’ IV. - Geburtsjahr unbekannt - erhielt 1616 die Erlaubnis, einen Teil seiner Güter zu verkaufen, um die Verschuldung abzustoßen und den Besitz der Buchwaldschen Güter durch Ankauf abzurunden. 1624 verschenkte er mit seiner Frau Dorothea von Perbandt aus ungeklärten Gründen das Gut Klotzwalde an Friedrich von Belinski. 1 Sohn und 1 Tochter wurden ihm geboren. Hans Georg starb wie sein Vater bereits 1628 im besten Mannesalter. Auch ihm war es nicht gelungen, die Verschuldung des Besitzes einzudämmen, doch hat die vormundschaftliche Verwaltung es verstanden, die drohende Veräußerung der Güter aufzuhalten. Christoph Friedrich v. d. Gabelentz, Hans Georgs einziger Sohn, trat in den militärischen Dienst. 1648 war er bereits Rittmeister, bei seinem Tode 1657 königl. schwedischer und polnischer Obristleutnant. 1642 verkaufte er Viertzighuben, 1648 wohl auch einen Teil der Buchwaldschen Güter, da er wegen seines Dienstes sich nicht um die Verwaltung und die Rückführung geordneter Zustände kümmern mochte oder konnte. Aus seiner Ehe mit Anna Magdalene von Rohr und Stein entsprangen nur Töchter. Daher erlosch mit dem Tode Christoph Friedrichs 1657 die preußische Linie v. d. Gabelentz. Im gleichen Zeitraum Gabelentz_s001-344AK6.indd 80 12.07.13 16: 22 <?page no="83"?> 81 1661 erlosch auch der Windischleubaer Zweig der Familie, nachdem dieses Gut mit seinem Schloß 1659 verkauft worden war. Poschwitz blieb und wurde der Ausgangspunkt zu neuer Blüte und neuem Wachstum des Geschlechtes. 15. Anmerkungen 1 Diese Urkunde lautet: Am sunabinde nach Invocavit des nuyn vnde achczigsten Jars zcu Aldenburg in der Barfusser Robinter hat der edel Er Henrich Herre zcu Wida von mynen Jungen Herrn din Lantgrafen in Duringen und Marcgrafen zcu Missen zen rechten Lehene genommen vnd enphangen Wida hus vnd stat mit allin iren czugehorungen vnd hatt globt denselben mynen Herrn den Marcgrafen von Missen vnd iren erbin getruwe vnd gewere zcusine alsß eyn man synen erbeherrn von rechten pflichtig ist zcu sine ane geverde, Daby synt gewest alse geczuge dise nachgeschriben vnsir Herren gehuldte vnd gesworne Man Grave Friderich von Orlamunde Herre zcu Dreußk Albrecht von Bra ndestein Henrich von Wirczeburg Henrich von Kossebude Siverd stange Hencze stange Albrecht v. d. Gabelenz Burglute zcu Aldenburg … 2 Da ferner in der folgenden Zeit das Burglehen Altenburg und Poschwitz immer gemeinsam verliehen wurden, besteht die hohe Wahrscheinlichkeit, daß Albrecht v. d. Gabelentz bereits 1388 auch Besitzer von Poschwitz war. 3 Der Aufsatz beruht zum größten Teil auf einer von Hans Conon v. d. Gabelentz stammenden handschriftlichen Familiengeschichte, die durch seine Nachkommen ergänzt wurde. 4 Vgl. W. Schlesinger: „Die Schönburgischen Lande bis zum Ausgange des Mittelalters“ (ersch. 1938), bes. S. 74, 75 und 81. 5 Vgl. 2 Urkunden mit Wappen von Hans v. d. Gabelentz von 1496 und Georg v. d. Gabelentz von 1497 im Poschwitzer Archiv. 6 Abgedruckt in „Diplom. u. curieuse Nachlese der Historie von Obersachsen“ von Schöttgen und Kreyssig X, 200. 7 W. Schlesinger: „Die Schönburgischen Lande …“, S. 61. 8 Urkunde des Erzbischofs Adelgotus von Magdeburg, Schenkung an das Kloster Nienburg betreffend von 1117. 9 Kopiale des Klosters Nienburg, Staatsarchiv Zerbst. 10 Urkunde des Abtes Arnold von Ballenstedt, 1159, Staatsarchiv Zerbst. 11 Vgl. Archiv für die sächsische Geschichte, Neue Folge, Bd. 3, S. 127. 12 Ledebur a. a. O. 13 Die Burggrafen von Magdeburg waren Grafen von Querfurt, die wiederum eines Stammes mit W. von Ludesburg und Godescalcus de Gabelizo waren (Ledebur a. a. O.). 14 Ein Vorgang, der in der Geschichte der amerikanischen Kolonisation vielfach bis in die Jetztzeit beobachtet wurde. 15 Mitt. d. Gesch. u. Altertumsforsch. Ges. d. Osterlandes V, 55. 16 Ein Vorgang, der bei der Familie des oben erwähnten Godescalcus ständig zu beobachten ist: Kakelinge - Querfurt - Ludesburg - Gabelizo! 17 Urkunden, Urkundenabschriften und Akten im Poschwitzer Archiv. 18 Vgl. Schöttgen und Kreyssig: „Diplomatoria“ II, 512; „Dipl. … Nachlese“ X, 203. 19 W. Schlesinger: „Die schönburgischen Lande …“, S. 24 und Cod. dipl. Morav. IV, 240. 20 Urkunden im Staatsarchiv zu Dresden. 21 Urk. bei Kreyssig: „Beiträge …“ II, 166. 22 Altenb. Kirchengall., S. 260. 23 Stiftsrechnung im Staatsarchiv zu Gotha. 24 Mitteil. des Vereins f. Geschichte der Deutschen in Böhmen. 7. Jahrg. S. 190/ 191. 25 Schöttgen und Kreyssig: „Diplom. …“ II, 514. Urkunden im Staatsarchiv Dresden. 26 Lehnbuch im Prov.-Archiv in Magdeburg. 27 v. Schönberg: „Nachrichten pp.“, Vol. I u. II. Kopialbuch im Staatsarchiv Dresden. 28 Schöttgen und Kreyssig: „Dipl. …“ I, 268 B. 29 Ersch und Gruber: „Enzyclop.“ XXXII, 351. 30 Receß-Buch des Oberhofgerichtes 1493 bis 1501. 31 Urkunde im Kopialbuch des Altenburger Archivs. 32 Vgl. von Mülverstedt: „Herren von Kotze“. 33 Fabricii: „Orig. Sax.“, S. 840. 34 Akten im Allg. Archiv in Weimar. 35 Helwich: „Nobilitas eccles. Mogunt“. 36 Oberhofgerichtsarchiv zu Dresden. Nr. 2185/ 86, u. a. O. 37 G. Schmidt: „Göttinger Urkundenbuch“, S. 376. 38 Allg. Archiv Weimar. Reg. BB fol. 83. 39 Leisniger Kopialbuch im Staatsarchiv Dresden. 40 Über ihn hat Hans Conon v. d. Gabelentz in den Mitteilungen der Gesch. u. Altertumsforsch. Ges. d. Osterlandes, Bd. 4, S. 14 ff., einen Aufsatz veröffentlicht; die Geschichte der preußischen Linie ist geschildert von G. A. von Mülverstedt, 1855, im Poschwitzer Archiv./ Das Folgende ist ein Auszug aus diesen Darstellungen und enthält daher keinerlei Hinweise auf Urkunden- und Aktenmaterial. 41 „Kumpane“ war eine Schar ausgezeichneter junger Ordensleute zum persönlichen Dienst und in dauernder Nähe des Hochmeisters, aus denen die künftigen Führer des Ordens herangebildet wurden. 42 Staatsarchiv in Weimar. 43 Coelestini: „Historia Comitiorum Anno MDXXX Augustae celebratorum“, Bd. 4, Ende. 44 Vgl. Meyner: „Nachrichten von Altenburg“, S. 268. 45 Altenburger Staatsarchiv. C I XI A I. 46 Vgl. von Schönberg: „Nachrichten …“, Bd. II. 47 Würdtwein: „Dioec. Mogunt“ I, 9. 48 Kirchenbuch Windischleuba. 49 Grimmenser Album von M. Lorenz. 50 Müller: „Annalen des Hauses Sachsen“, S. 217, 238. 51 Akten im gem. Archiv zu Weimar. 52 Fleischmann: „Beschreibung des Augsburger Reichstages“, S. 113. 53 Altenburger Staatsarchiv. XLV. Ba I. 54 Pfarrarchiv Windischleuba. 55 Nach Eckardts hist. Vorarbeiten zum „Reiter auf dem fahlen Roß“. Gabelentz_s001-344AK6.indd 81 12.07.13 16: 22 <?page no="84"?> 82 56 Altenb. Staatsarchiv. Cl XIV Landesarchiv 4. B. c. 2. 57 Urk. im Archiv zu Heukewalde. 58 Hans Georg, der 3. Sohn Wolf Albrechts I., wird später im Zusammenhang mit der Lemnitzer Linie behandelt werden. 59 Müller: „Annales des Hauses Sachsen“, S. 475. 60 Lemnitzer Kirchenbuch. 61 Holzer: „Monatsblätter“, Bd. 35, S. 180. 62 v. Weber: „Archiv f. sächs. Geschichte“, 2. Bd., S. 230 und 235. 63 Hörschelmann: „Adelshistorie …“, S. 145. 64 Großbockedraer Kirchenbuch. 65 König: „Biographisches Lexikon aller Helden und Militär- Personen, welche sich in preußischen Diensten berühmt gemacht haben“. Berlin 1789. 2. Teil, S. 1 und 2. 66 Ein Brief Friedrichs des Großen an ihn befindet sich im Poschwitzer Archiv. 67 Vgl. Franz Schmidt: „Hans Carl Leopold v. d. Gabelentz“ im vorliegenden Heft. Vgl. weiter zu seinem Leben usw.: „Neuer Nekrolog der Deutschen“, Jahrg. 1831, Bd. 1, S. 214 ff., Ersch und Grubers „Encyclopaedie“, Bd. 52, S. 27 ff. Akten in Poschwitz. 68 „Catalogue d’une collection de médailles antiques romaines impériales de H. C. de Gabelentz“. Altenburg 1830. 69 Die Leisniger Altertumsforschende Gesellschaft wurde durch seinen Sohn Georg, der dort im Amt stand, gegründet, Hans Conon war Ehrenmitglied derselben. 70 Ottomar Enking: „Georg v. d. Gabelentz, zum 60. Geburtstag des Dichters“, Leipzig 1928. 71 „Thai-Kih-Thu des Tscheu-Tsi, Tafel des Urprinzipes mit Tschinthi’s Kommentare nach dem Hoh-Pih-Sing-Li, chinesisch mit mandschuischer und deutscher Übersetzung, Einleitung und Erklärung“. Dresden 1876. „Die Geschichte und die Aufgabe der chinesischen Grammatik“ in Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (Z. D. M.), Bd. 33, 1878. „Beitrag zur Geschichte der chinesischen Grammatiken und zur Lehre von der grammatischen Behandlung der chinesischen Sprache“ in Z. D. M., Bd. 32, S. 601 bis 664. (Rezensiert in „China Review“, Bd. 8.) „Chinesische Grammatik mit Ausschluß des niederen Stiles und der heutigen Umgangssprache“, Leipzig 1881. „On a new Chinese Grammar“. in Abh. des 5. Internat. Oriental. Kongresses 1881, erschienen 1882. „Anfangsgründe der chinesischen Grammatik mit Übungsstücken“, 1883. „Zur grammatischen Beurteilung des Chinesischen“ in der Internat. Zeitschr. f. Sprachwissenschaft (I. Z. S.), Bd. I, 1884. „Über Sprache und Schrifttum der Chinesen“ in I. Z. S., Bd. II, 1884. „Some additions to my Chinese grammar.“ in Journ. of the China Branch of the Royal As. Soc., Bd. XX, 1885. Besprechung zu F. Hirth: „China and the Roman orient.“, Leipzig. „On transscription“ in China Review 1883. „Beiträge zur chinesischen Grammatik, die Sprache des Kuang- Tsi“ in Abh. der Königl. Sächs. Ges. d. Wiss., Bd. X, 8. 1888. „Ein Probestück von chinesischem Parallelismus“. „Stand und Aufgabe der chinesischen Lexikographie“ in Z. D. M., Bd. 30, S. 587 ff. „Vorbereitendes zur Kritik des Kuan-Tsi“ in Ber. der Königl. Ges. d. Wiss. in Berlin 1892, Bd. X. „The Style of Kuang-Tsi“ in China Review. „Zur Lehre vom vergleichenden Adverbialis im Altchinesischen“ in Ber. der Königl. Ges. d. Wiss. in Berlin, 1893, Bd. 27. „Besprechung zu Wells-Williams ,Syllabic dictionary of the Chinese languages‘“ in Bibliographische Anzeigen. Besprechung zu B. I. Eitel: „Feng-Shui: Or the rudiments of natural science in China! “ London 1873, in Bibliographische Anzeigen. Besprechung zu B. I. Eitel: „Chinese dictionary“ in Bibliographische Anzeigen. Besprechung zu W. Henkel: „Chinesische Sprache und Literatur“ in Bibliograph. Anzeigen. Proben aus Victor von Strauß: „Schi King, Übersetzung mit Text und Analyse“ in Z. D. M., Bd. 32, S. 153 f. Besprechung zu Victor von Strauß: „Schi King, Kanonisches Liederbuch der Chinesen“ in Göttinger Gel. Anzeiger, 1880, S. 225 ff. „Konfuzius und seine Lehre“, Leipzig 1888. „Confucius and his teaching“ in China Review. „Kung-Fu-Tse“ und „Lao-Tse“ in Ersch und Grubers Enzyklopädie. „The life and teaching of Lao-Tse“ in China Review. „Das Taoistische Werk Wen-tsi“ in Ber. d. Königl. Ges. d. Wiss. in Berlin 1887. „Über den chinesischen Philosophen Mek-Tik“ in Ber. d. Königl. Ges. d. Wiss. in Berlin, 1888. „Robber Tschik, a satirical chapter from Tschouang-tsi“ in China Review. „Der Räuber Tschik, ein satirischer Abschnitt aus Tschuang-Tsi“ in Abh. der Königl. Sächs. Ges. d. Wiss., 1889. „Über die Verwendung des Rechenbrettes, besonders des chinesischen, zur Darstellung beliebiger Zahlensysteme“. „Über Sprache und Schrifttum der Chinesen“ in Unsere Zeit, Leipzig 1884, XI. 72 „Katalog der japanischen Bücher Hans Conons v. d. Gabelentz in Poschwitz“ in Z. D. M., Bd. 16, S. 532 ff. „Über eine Eigentümlichkeit des japanischen Z ahlwortes“ in Zeitschr. f. Völkerpsych. u. Sprachw., Bd. 7, S. 111 f. Besprechung zu F. A. Junker von Langegg: „Japanische Teegeschichten“. Besprechung zu Leon de Rosny: „Kami yo no maki histoire de dynastie divine publiée en Japonais“. Besprechung zu A. Severini: „Notizie di Astrologia Giaponese, racolte da libri originali“, Genf 1874, in Bibliographische Anzeigen. (Eine handschriftliche altjapanische Grammatik, datiert Berlin 1890, ist nicht veröffentlicht worden.) 73 „Katalog von Mandschu-Büchern in Hans Conons Bibliothek in Poschwitz“ in Z. D. M., Bd. 16, S. 532 ff., 1862. „Aus dem Roman Gin-ping-mei, Auszüge“ in Globus, Bd. 3, S. 71 ff. Gabelentz_s001-344AK6.indd 82 12.07.13 16: 22 <?page no="85"?> 83 „Gin-ping-mei“, aus Mandschu übersetzt und veröffentlicht in Revue orient. et améric., Paris 1879. (Von seiner grammatikalischen und lexikalischen Forschung zeugen folgende handschriftliche Werke: „Anfangsgründe der Mandschu-Grammatik“ von 1886; „Sammlung mandschurischer Worte für verschiedene Kategorien“; „Wörterbuch Deutsch- Mandschu“.) 74 „Beiträge zur Kenntnis der melanesischen, mikronesischen und papuanischen Sprachen, als erster Nachtrag zu H. C. v. d. Gabelentz: ,Die melanesischen Sprachen in 2 Bänden‘“, gemeinsam mit A. B. Meyer in Abh. d. Königl. Sächs. Ges. d. Wiss., Bd. 19, 1882. „Einiges über das Verhältnis des Mafoor zum Malaiischen“, gemeinsam mit A. B. Meyer in Bijdr. tot de Taal-, Landen Volkenkunde van Nederlandsch Indie, Haag 1873. Besprechung zu R. H. Codrington: „The Melanesian languages“ in Journ. of the Roy. As. Soc. of Gr. Brit. a. Ireland, Bd. 18, F. 4, London. Besprechung zu G. W. Parker: „Grammar of the Malagasy Language“ in Lit. Bl. orient. Phil., Leipzig 1883. Besprechung zu J. J. N. de Groot: „Het Kongsiwezen van Borneo“, 1885. (Reiches handschriftliches Material über 30 melanesische Sprachen, eine ungedruckt gebliebene Darstellung der Mafoor-Sprache in Neu-Guinea und ein handschriftlich ergänztes „Hollandsch-Maforsch-Wordenboek“ von Hasselt zeugen von der rastlosen Arbeit auf diesem Gebiete, das für die Erschließung der deutschen Kolonien so ungeheuer wichtig war.) 75 „Zur Beurteilung des koreanischen Schrift- und Lautwesens“. Ber. d. Königl. Ges. d. Wiss. in Berlin, Bd. 33, 1892. „Koreanische Sprache“ in Ersch und Grubers Enzyklopädie. „König Midas im mongolischen Gewande“ in Globus, Bd. 14, S. 248 f. „Einiges über die Sprache der Nikobaren-Inseln“ in Abh. d. Königl. Sächs. Ges. d. Wiss., 1885. „Kolarische Sprachen“ in Ersch und Grubers Enzyklopädie. „Kuki (Volk und Sprache)“ in Ersch und Grubers Enzyklopädie. „Spuren eines ausgebildeten Konjugationssystems im Dajak“ in Z. D. M., Bd. 14. (Handschriftlicher Auszug aus W. Pryse: „An introduction to the Khasia language“, 1885.) 76 Besprechung zu Köhlers „Nama-Forschungen“, 1893. „Kunama-Sprache“ in Ersch und Grubers Enzyklopädie. (Handschriftlich liegt ein Koptisch-Tuareg-Berber-Wörterbuch vor.) 77 „Die Kri-Sprache“ in Ersch und Grubers Enzyklopädie. 78 „Baskisch und Berberisch“ in Ber. der Königl. Ges. d. Wiss. in Berlin, Bd. 91, 1893. 79 Besprechung zu Miklosich: „Über die Mundarten und Wanderungen der Zigeuner“, Wien 1881, in 12 Bänden, in Lit. Centralbl. f. Deutschland, Leipzig 1880, Nr. 48. 80 „Ideen zu einer vergleichenden Syntax (Wort- und Satzstellung. Chin., Mandsch., Jap., Sanskrit u. a.)“ in Z. f. Völkerpsych. u. Sprachw., Bd. 6, S. 376 bis 384, 1869. Forts. dieses Aufsatzes in Bd. 8 das. „Zur chinesischen Sprache und zur allgemeinen Grammatik“ in I. Z. S., Bd. 3, 1886. „Stoff und Form in der Sprache“ in Abh. d. Königl. Sächs. Ges. d. Wiss., 1889. „Die Sprachwissenschaft, ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse“, Leipzig 1891. Die 2. Aufl. desselben Werkes wurde 1901 durch den Neffen des Verfassers, Albrecht Graf von der Schulenburg, besorgt. Besprechung zu Hyde Clarke: „Researches in prehistoric and protohistoric comparative philology“, London 1875, in Lit. Centralbl. f. Deutschland, Leipzig 1875, Nr. 51. „China, Japan und die isolierten Völker Nordasiens“ in Z. D. M., wissenschaftl. Jahresber. über die morgenländischen Studien, Suppl.-Bd. zu Bd. 33, S. 97 ff., 1878. „Die ostasiatischen Studien und die Sprachwissenschaft“ in Unsere Zeit, 1881, II. [Wiederabdruck in diesem Band] „Die Lehre von der Transskription“ in I. Z. S., Bd. II, 2., 1885. „Antrittsrede in der Preußischen Akademie der Wissenschaften“ in Ber. ders., 1890. „Handbuch zur Aufnahme fremder Sprachen“, 750 der wichtigsten Worte der primitiven Sprachen nach Kategorien geordnet und im Auftrag des Auswärtigen Amtes herausgegeben, 1892. „Hans Conon v. d. Gabelentz als Sprachforscher“ in Abh. der Königl. Sächs. Ges. d. Wiss., 1886. „Friedrich Pott“ in Allg. deutsche Biographie. 81 Vgl. Börries, Frhr. von Münchhausen: „Albrecht v. d. Gabelentz“ in Mitt. d. Gesch. u. Altertumsforsch. Ges. des Osterlandes, Bd. 14, S. 217 ff., und Georg v. d. Gabelentz: „Kammerherr Albrecht v. d. Gabelentz auf Poschwitz“ in Sachsen-Altenb. Hauskalender, 1934. Gabelentz_s001-344AK6.indd 83 12.07.13 16: 22 <?page no="86"?> 84 Gabelentz_s001-344AK6.indd 84 12.07.13 16: 22 <?page no="87"?> 85 Clementine v. Münchhausen geb. v. d. Gabelentz (1849-1913) H. Georg v. d. Gabelentz. Biographie und Charakteristik (1913) Inhaltsübersicht I. Elternhaus, Gymnasium, Universität 88 II. Das Juristenleben (Dresden, Leisnig, Leipzig, Chemnitz). Sprachstudien 99 III. Im Elsass 108 IV. Heirat. Dresden. Professor in Leipzig 114 V. Berufung nach Berlin. Lemnitzer Haus. Zweite Ehe. Tod 124 VI. Nachtrag 1 141 VII. Nachtrag 2 156 VIII. Nachtrag der Herausgeberin 166 Komplette neue Abschrift von Annemete v. Vogel Vorbemerkung Von den vier Geschwistern Georg v. d. Gabelentz’ stand ihm seine neun Jahre jüngere Schwester, Clementine v. Münchhausen geb. v. d. Gabelentz, besonders nah. Sie teilte seine sprachlichen Interessen mit ihm, war ständige Ansprechpartnerin für seine neu entwickelten Gedanken, sie hat bis zu seinem Tode Briefe mit ihm gewechselt. Sie war auch die letzte Überlebende der Geschwister. Aus ihrer Feder ist die vorliegende Beschreibung seines Lebens erhalten, die sie erst unmittelbar vor ihrem Tode im Januar 1913 abschloss, mit Buchschmuck versah und binden ließ. Bis auf geringe Abweichungen habe ich mich bei meiner Abschrift an das Manuskript 1 gehalten, habe allerdings einige Abbildungen zusätzlich eingefügt, um das Erzählte zu veranschaulichen. Sie sind jeweils durch einen • gekennzeichnet; die anderen Bilder sind im Original enthalten. Der Übersicht halber habe ich Abschnittseinteilungen vorgenommen; die von der Autorin über jede Handschriftseite gesetzten Stichworte wurden gesammelt den Abschnitten vorangestellt. Angaben im laufenden Text, die sich nicht im Original finden, stehen in eckigen Klammern. Annemete v. Vogel, Januar 2013 1 Manuskript bei Oda v. Wedemeyer, geb. v. Ditfurth. Ich danke meiner Cousine für die Bereitstellung des Werkes. • Bild links: Clementine v. Münchhausen an ihrem Schreibtisch im „Tabulat“ in Windischleuba Foto: Familienbestand Gabelentz_s001-344AK6.indd 85 12.07.13 16: 22 <?page no="88"?> 86 Gabelentz_s001-344AK6.indd 86 12.07.13 16: 22 <?page no="89"?> Gabelentz_s001-344AK6.indd 87 12.07.13 16: 22 <?page no="90"?> 88 I. Elternhaus, Gymnasium, Universität Buppstoß - Gott lieber haben als den Vater - Vogelhecke. Wiesel - Mit Margarete - Auf der Lemnitzer Treppe - Tante Lu als Robinson Crusoe - „Ein guter Kerl“ - Schielen und Stottern - Ungeschick und Zerstreutheit - Körperlänge - Steigers Unterricht und Wagners - Das Kopfkissen ist eine Hexe - Gymnasium zu Altenburg. Das Sofa - Schulgeschichten - Schulabgang - Die englische Rede - Exerzieren und Reiten - Beim Mäuse-Ausräuchern - Die Schlittschuhe. Nach Jena - Erzbischof und Hofpoet - „Der Mensch hat Interessen.“ - Die v. Hahn aus Kurland - Leipziger Universität - Bei Dähne mit Pauline - Marbach. Kurt Koseritz - Das Alfurische - Die Sammlung von Hausnummern - In der Pachterswohnung - Er lehrt mir Jus [Hausangestellte, s. S. 157, 158 in diesem Band] einst sehr ärgerlich räsonirt, hatte der Junge geraten: „Mußt Buppstoß machen.“ Ueber alles liebte er unseren Vater. Als dieser sich müht, ihm auseinander zu setzen, wie man den lieben Gott über Alles lieben müsse, fragt der Junge: „Auch mehr wie dich? “ Und auf des Vaters „gewiß“ kommt die bestimmte Antwort: „Das kann ich ja gar nicht, jemanden lieber haben wie Dich.“ Es war interessant, wie früh ihm ein treffendes, wenn auch ungewöhnliches Wort zu Gebote stand. Als die Mama dem Kleinen ein Pfeffermünzplätzchen giebt, meint er „mein Mund wird mir ganz neu! “ Unendlich gutherzig und für sich bescheiden, wie er zeitlebens blieb, zeigte er sich auch als Junge. Es war von Lemnitz aus eine große Fußtour unternommen. In Schwarzburg (? ) sind die Gasthöfe überfüllt. Man läßt sich zum Nachtquartir Stroh in eine überdeckte aber an den Seiten offne Kegelbahn schütten. Nachts liegt der Junge unruhig, und Pastor Wagner 3 , der auch nicht zum besten schläft, fragt: „Georg, frierst du etwa? “ Antwort: „Ach nein, ich möchte bloß gern eine Zudecke haben.“ Den Unterricht erhielt Georg zunächst durch die Hauslehrer Besser und Steiger. Hr. Besser hatte in seiner Stube 3 Gustav Edmund Wagner (1806-1890) war Pfarrer in Windischleuba von 1834 bis 1871, danach Hofprediger in Altenburg. Er war außerordentlicher und später geheimer Consistorialrat, Dr. theol. und erhielt das Comthurkreuz des Ernestinischen Hausordens. Sein Sohn Edmund Artur Wagner (1836-1899) übernahm die Pfarrstelle seines Vaters in Windischleuba von 1871 bis zu seinem Tode 1899. Hans Georg v. d. Gabelentz Mein geliebter Bruder Georg war das vierte Kind unsrer Eltern und ist am 16. März 1840 in Poschwitz geboren. Er war also 6 Jahre jünger wie unser Bruder Albert. - Ich aber, die ich als einzig Ueberlebende von uns Geschwistern über ihn berichten soll, bin erst 1849 geboren, also in Beziehung auf Georgs Kindheit fast ebensosehr wie bei Albert 2 auf Erzählung Anderer angewiesen. So berichtete die Mama wie des Papas Onkel, der sächsische Minister Lindenau, einst den Dreijährigen gefragt habe, wobei die Antworten in der klaren Kinderstimme und ein wenig sächsisch singend erfolgten. „Nun, mein Junge, wie heißt du denn? “ - „Doch Jorg.“ - „Und wie alt bist du denn? “ - „Doch drei Jahr! “ - „Junge, du siehst ja weder Vater noch Mutter ähnlich. Wie siehst du denn aus? “ - „Doch schön! “ War er eigensinnig oder über etwas verdrießlich, so strafte, tröstete und kurirte er sich selber durch ein Mittel eigenster Erfindung. Er machte „Buppstoß“, was wohl Kopfstoß heißen sollte. Kniete auf den Fußboden, stemmte die Hände vorn auf und schlug mit der Stirne ein paar mal energisch auf den Boden. Dann stand er auf und war heiter und zufrieden. Die Mama erzählte, er hätte in jenen Jahren stets blaue Flecke an der Stirne gehabt. Denn bis der eine vergangen war, hatte doch stets ein neuer Kummer einen neuen Kursus von Buppstößen nötig gemacht. Er war aber so überzeugt von dieses Mittels Unfehlbarkeit, daß er es vorkommenden Falles auch andern empfahl. Und als die - mit den andern Leuten nicht gerade verträgliche - Oteit 2 Clementine v. Münchhausen verfasste auch über Albert v. d. Gabelentz eine „Biographie und Charakteristik. 1910“. Handschriftliche Abschrift: Familienbestand Rechts: Erste Seite des Manuskripts, Handschrift von Clementine v. Münchhausen Gabelentz_s001-344AK6.indd 88 12.07.13 16: 22 <?page no="91"?> Gabelentz_s001-344AK6.indd 89 12.07.13 16: 22 <?page no="92"?> 90 eine Vogelhecke angelegt, die aber nach seinem Fortgang bald aufgelöst wurde. Es war in der sog. grauen Stube, in der Nordwestecke des alten Poschwitzer Hauses. Dunkel besinne ich mich noch auf die Wirtschaft, mit alle dem Getier im Sommer nach Lemnitz überzusiedeln. Dort hausten die Vögel in einer durch Bindfadennetze abgetrennten Fensternische im 2. Stock in dem großen Eckzimmer mit Blick ins Tal und in den Garten. Längere Zeit hatte Georg auch ein Wiesel, das er sich Gott weiß wo gefangen und leidlich gezähmt hatte. Es wohnte in Poschwitz in der Kammer links am Ende des Ganges nach dem Wallgraben zu, die von der 1848er Einquartierung her die „Soldatenkammer“ hieß, bis die Mama den Namen unschön fand und sie in „Teichkammer“ umtaufte. Aber eines Tages hatte das Tierchen eine dicke Geschwulst am Kopfe seitwärts. Man wußte nicht, war es von einer Wespe gestochen oder hatte es sich selbst verletzt, wenn Georg es allein ließ und es sich unter der Tür durchzudrängen suchte, ihm nach, - es ging ein. Von den Preposlöchern und Spielen mit Albert habe ich bei diesem berichtet. In den Z eiten, wo Albert von Hause war, schloß Georgsich besonders an die um 2 Jahr jüngere Schwester Margarete an, indeß Pauline, 4 Jahr älter und als Mädchen früher reifend, sich mehr mit Albert zusammenhielt. Mit Margarete hatte Georg sich eine Sprache erfunden, in der er Lossa hieß. Sie schrieben sich auch Briefe darin und legten sie auf die „Post“, d. h. versteckten sie in einer Ritze zwischen Mauer und Treppe, rechts, wenn man ins Turmzimmer des 2. Stocks in Poschwitz geht. In Lemnitz spielten sie ein Spiel, hinter das ich als Kind nicht ganz gekommen bin. Es war damals, wohl um den Zug abzufangen, eine Tür angebracht, auf halber Höhe der Treppe, die in den zweiten Stock führt. Diese Tür hatte von oben nach unten gehend ein Gelenk, um ganz an die Wand zurückgeklappt zu werden. Schlug man sie blos halb zurück, so bildete sich dahinter ein stockfinstrer Winkel, in dem die Beiden mit einer Passion hockten, die nur ein Kind ganz verstehen kann. Sie hatten Ruten dort, mit denen sie über harmlos Vorbeigehende herfielen, und hatten einen Zettel an die Tür geklebt, auf dem die Hausbewohner mit ihren erdichteten Namen standen, und Buch darüber geführt wurde - ob aber, wie oft der Einzelne vorbei ging, oder wie viel Rutenstreiche gelungen war ihm zu geben, das weiß ich nicht mehr. Ich glaube, die Streiche wurden sehr nach Gunst und Gaben ausgeteilt, manchmal pro forma, manchmal anders. In Poschwitz war damals der Teich noch sehr beliebt. Es waren ein paar Kähne darauf, man lieferte sich Seeschlachten. Einmal hatte Tante Lu sich von Georg und Margareten auf die Insel übersetzen lassen, um dort das Haus zu zeichnen. Das Warten war aber den beiden langweilig geworden, sie hatten sich einen Wink gegeben und waren heimlich abgefahren. Tante Lu hatte aber für die Rolle eines Robinson Crusoe nicht die erforderliche Neigung gehabt, und die Sache etwas tragisch genommen - soweit das bei ihrer großen Güte möglich gewesen. Solche übermütigen Streiche waren aber bei der strengen Poschwitzer Erziehung doch eine große Ausnahme. Und besonders bei Georg war die unendliche Herzensgüte doch die hervorragendste Eigenschaft. Mit wahrer Rührung erzählte Pastor Wagner noch Anfang der 70er Jahre, wie einst der Hauslehrer Besser - nicht eben zornig, aber doch nötig gefunden habe, Georgen eine leichte Ohrfeige zu geben, und wie der Junge als einzige Antwort - Bessers Hand festgehalten und geküßt habe! „Ein guter Kerl! Ein guter Kerl“ wiederholte Wagner mit jener Betonung des „ein“, die dem Wort so viel Gewicht giebt. Georgs ungewöhnliches, rasches Wachstum brachte allerhand gesundheitliche Störungen mit sich. Als größerer Junge bekam er eines Tages einen Widerwillen gegen alles warme Essen. Dr. Göpel, unser grundgescheuter Hausarzt, riet, dem nachzugeben, und der Junge hat etwa 1 Jahr lang sich von belegten Butterbröden genährt, die er in fabelhafter Größe und Anzahl vertilgte. Andre Störungen wurden leider nicht als gesundheitlich betrachtet, sondern von der Mama einfach als üble Angewohnheiten gerügt, - nämlich eine bei Angegriffenheit hervortretende Neigung, mit dem linken Auge nach außen zu schielen, und gelegentliches Stottern, was ihm zeitlebens blieb, und von dem er später beobachtet hatte, daß es schlimmer wurde, resp. sich überhaupt blos einstellte, wenn er den Eindruck hatte, daß ihm ohne Wohlwollen zugehört wurde. Einen richtigeren psychologischen Instinkt muß ich in Beziehung hierauf der Großmama Linsingen zuerkennen, in deren Briefen an die Mama ich ums Jahr1850 die Mahnung finde, doch einmal Georgen gar nicht mehr zu tadeln, wenn er stottere, - mit der Begründung: „Schlimmer als es ist, kann es nicht werden.“ Eine zuweilen hervortretende, - dann aber auch große - Zerstreutheit, sowie gelegentliches Ungeschick in den Gabelentz_s001-344AK6.indd 90 12.07.13 16: 22 <?page no="93"?> 91 Gabelentz_s001-344AK6.indd 91 12.07.13 16: 23 <?page no="94"?> 92 Händen möchte ich auch auf Rechnung nervöser Störungen schieben, wie sie wohl durch das ganz ungewöhnliche Wachstum veranlaßt wurden. So entsinne ich mich, wie Georg einmal beim Öffnen von des Papas Vorzimmertür eins jener großen altertümlichen Tintenfässer, die nur eine große Hand in der Mitte umklammern kann, gegen jene - weißlackierte - Tür goß, - ein unbeschreiblicher Anblick! Und wie betreten der arme Junge darüber war. Und noch lange geneckt wurde er mit einer Geschichte, wo Herr Besser ihn schickt, zur Andacht die Bibel zu holen, und er zurückkommend mit einem noch unangezündeten Talglicht in der Hand in bescheidner Zufriedenheit bemerkt: „Ich habe auch gleich die Lichtputze mitgebracht! “ Daß für solche Zerstreutheit Albert das Wort „Dunsen“ erfunden und daß Georgs Kosename „Dudel“ auch gelegentlich in „Dunsemann“ verändert wurde, hat er selbst berichtet in „Poschwitzer Leben“. Er hat zwei mal mit Scharlach gelegen, das das erste Mal, 1849, nicht heraus kam. Das 2. mal muß 1853 oder 54 mit mir zusammen gewesen sein. Auch an Steinbeschwerden hat er schon als etwa 15jähriger Junge einmal gelitten. Dann blieb er frei davon bis gegen sein 50tes Jahr. Seine Länge trug ihm manche Erlebnisse ein. Als Altenburger Schüler klagte er, daß die Gassenkinder ihn mit dem Rufe „Lange Latte“ verfolgten. Auf der Leipziger Universität hieß er „Gabelboom“. In seinen späteren Jahren hatte ihn ein Berliner Bube amüsiert, der mit bewunderndem Augenaufschlag bemerkt hatte: „Aber da oben muß es kalt sein! “ Und in einer Kirche in Oberitalien - ca. 1860 - war im Gedränge ein empörter Küster zu ihm getreten: „Es ist nicht erlaubt auf die Stühle zu steigen! “ Auf Herrn Besser folgte als Hauslehrer ein Hr. Steiger, über den Georg selbst berichtet hat. Er war ein hübscher fröhlicher Mensch, wohl sehr oberflächlich, denn dieser Art waren auch die Kenntnisse, die er Georg beigebracht, - allerlei kleine hübsche Paradestückchen, ohne solide Grundlage. Als Steiger ging, stellte es sich heraus, - die Eltern baten Wagner Georg zu prüfen - daß er nicht die erforderliche Reife fürs Gymnasium hatte, die nach seinem Alter ihm zukam. • Schloss Poschwitz mit Teich und Insel 1842. An das Haus wurde später ein Turm angebaut. ThStA Bild rechts: Ecarté war ein damals beliebtes Kartenspiel für zwei Teilnehmer. Die Vorrichtung aus Papier hat mehrere bewegliche Schieber. Gabelentz_s001-344AK6.indd 92 12.07.13 16: 23 <?page no="95"?> 93 Gabelentz_s001-344AK6.indd 93 12.07.13 16: 23 <?page no="96"?> 94 Wagner unternahm während des Winterhalbjahrs, das Versäumte mit ihm nachzuholen, was bei diesem Prachtexemplar von Lehrer mit Leichtigkeit gelang. Von Georg aber erzählte er später mit Lachen, wie die Zerstreutheit den hervorragend Befähigten gelegentlich überkommen habe, und er - Wagner - da als letztes Mittel das Buch in der Hand erhoben habe, als wollte er’s dem Jungen an den Kopf werfen, - dann sei dieser mit tiefem Luftschnappen zusammengefahren - und habe die Antwort gewußt. „Ein guter Kerl! “ Mit mir besinne ich mich in jener Zeit auf ein Spiel von Georgs eigenster Erfindung. Er muß wegen irgend einer leichten Krankheit zu Bett gelegen haben, - in der Kammer hinter der grauen Stube war es, und ich durfte ihn besuchen und wurde zu ihm ins Bett gelegt. Da umgab mich aber sofort ein Märchendasein. Denn Georgs Kopfkissen, schmal und lang, aus einem Kinderbett, war eigentlich eine Hexe, konnte ganz merkwürdig plötzlich durch die Luft fliegen und verschwand zu Zeiten spurlos. Und am Fußende des Bettes war überhaupt der Eingang direkt in die Hölle. Ich brauchte nur unter die Zudecke zu gucken, die Georg mit ausgestreckten Füßen straff spannte, da sah ich ganz unten in der Mitte deutlich ein helles Pünktchen, da gings hinein. Und wenn ichs auch nicht glaubte, so genoß ich doch die Schauer des Unheimlichen. Und nun ist Wagners Unterricht vorbei, und Georg kommt Ostern aufs Altenburger Gymnasium. Er wohnte in einem großen Mansardenzimmer beim Weißgerber Karl Zeisig, der Oteit ältestem Sohn, in einem wohl längst abgebrochnen Hause mit Einfahrt an der Burgstraße, dem Turm der Unterkirche gegenüber. Unten war eine große zweifenstrige Stube und die Werkstatt, nach hinten eine kleine dunkle Küche. Ich besinne mich, daß ich Georg dort einmal besucht habe. Die Mama hatte ihm neben Tisch und Bücherregal und Riesenbett auch ein Sofa mitgegeben, schwarz lackirt, in geraden Empireformen, nicht bis zur Erde gepolstert, aber unterhalb des Polsters mit Stofffalbel, - ich sehe den blaugrünen weißlich geblümten Kattun noch vor mir - mit Falbel bis zur Erde reichend versehen. Auf dem Regal standen die Schulbücher - und unter dem Sofa lagen die Schmöker. Aber darunter darf man sich beileibe keine Hülfsmittel denken, wie sie dem modernen Schüler ein verständnisvoller Händler liefert. Das gabs damals noch nicht. Georgs Schmöker habe ich in dicker und schweinslederner und foliantenhafter Erinnerung. Und wie ich bei ihm saß, griff er unter das Sofa, zog ein paar dicke Wälzer halb vor, schob sie wieder darunter und sagte mit dem ihm schon damals eignen gemessenen Vortrag: „Das muß man sagen, die Mama versteht es doch, einen Schüler mit Allem zu versehen, was er nötig hat! Da besuchte mich neulich der Direktor,“ - er machte nun Herrn Köhlers wohlwollenden Baß nach - ,Sehen Sie, mein lieber Gabelentz, das freut mich, kein verbotnes Hülfsmittel auf Ihrem Bücherregal! ‘ (Unters Sofa sah er nicht).“ Aus der französischen Stunde erzählte er, wie da einmal der Lehrer sich versprochen hätte und gesagt: „Il fallerait dire“ so und so. „Da rief ich aber mit Stentorstimme: Il faudrait! ! “ - Auch eine Schulepisode, bei der Georg einen der Lehrer getreu nachmachte, war die Geschichte mit dem anonymen Brief. Ein Lehrer berichtet, wie Jemand „einen anonühmen Brief erhalten hat, welchen der Absönder nicht unterzeuchnet hatte, so daß er also nücht wüssen konnte, von wem er ühn erhalten hatte.“ Es ist schade, aber nicht zu ändern, daß meinem Kindergedächtnis sich hauptsächlich solcher Unsinn eingeprägt hat. Neben seinen Schularbeiten hat Georg schon auf dem Gymnasium Chinesisch getrieben, ich entsinne mich, mit welch zärtlicher Liebe er allein den Namen Abel Rémusat aussprach, dessen Werk er wohl hauptsächlich benutzte. - Mit Margareten mußte er sich aber auch etwa zur selben Zeit in das finnische Nationalepos des Kalevala vertieft haben. Ich höre ihn noch mit Freude an dem fremdartigen Klang das Wort „We-inamö-inen“ [Väinämöinen] aussprechen. Die Schularbeiten litten nicht unter alledem. Er war der einzige unter den Gymnasiasten, der in schöner fließender Hand auch die dazu wenig geeigneten griechischen Buchstaben flott im Zusammenhang schrieb - allerdings auch mit Freude hervorhob, daß der Lehrer ihm die Neuerung durchgehen ließe. Von seinen Schulfreunden besinne ich mich nur auf einen, Droysen. All dieses liegt vor Margaretens im Jahr 1860 stattgehabter Verheiratung zurück. Beim Abgang vom Gymnasium hielt Georg eine Rede über Shakespeares Julius Caesar. Man hatte zwischen einer griechischen und einer englischen Rede geschwankt, der Direktor aber für letztere entschieden, weil ein tadelloses Englisch (natürlich nicht auf dem Gymnasium erlernt oder zu erlernen! ) auf dem Gymnasium seltener sei. In unserem Hause war von 1857 bis Herbst 59 eine Engländerin, Elisabeth Foster, aus Doncaster, die kein Wort Deutsch konnte, als Erzieherin. Eine hübsche, fröhliche Achtundzwanzige- Gabelentz_s001-344AK6.indd 94 12.07.13 16: 23 <?page no="97"?> 95 rin. Da hatten wir Geschwister gut Englisch lernen können. Georg übte den Vortrag bei ihr und ich weiß noch, wie sie ihn das eigentümliche englische r üben ließ in dem Schlußsatz der Rede, dem Zitat: „Yet Brutus says, he was ambitious, and Brutus is an honourable man.“ Mit Georgs raschem Wachstum hing zu jener Zeit eine besonders schlaffe Körperhaltung zusammen. Das sollte durch Exerzieren gebessert werden, und der damalige Feldwebel, später Steuerkontrolleur Jäger, der Mann von unsrer langjährigen Jungfer Clara Zänker, kam dazu ein paar mal die Woche nach Poschwitz und ließ Georg marschiren. Doch glaube ich, ist es nur kurze Zeit geübt worden. Auch Reitstunden hat Georg damals genommen, und es war sehr ergötzlich, wenn er - ohne Pferd - uns die Stellung des Reiters vormachte, die Beine steif, die Hacken herabgedrückt, und dazu den Reitlehrer nachmachte: „So! - So! Noch besser! Es muß eine durchaus natürliche Körperhaltung sein! “ - Georg nutzte überhaupt damals öfters in gutmütiger Selbstironie die Eigenart seines überlangen Körpers aus zu allerhand groteskem Scherz. - Es war ein Mäusejahr wie noch nie! Wochenlange Trockenheit hatte die Vermehrung begünstigt, und der Rasen vorm Poschwitzer Hause Gabelentz_s001-344AK6.indd 95 12.07.13 16: 23 <?page no="98"?> 96 war dicht durchzogen mit wunderlichen Hieroglyphen verschlungener Mäusechausseen. Alle Welt nahm den Kampf auf gegen das Ungeziefer. Der legte Gift, Jener stellte Fallen. Und in Poschwitz probierte man das Ausräuchern. Ich weiß nicht, wovon das Feuer gemacht wurde, und den Rauch trieb man in die Gänge. Da stellten sich nun die überraschendsten unterirdischen Verbindungen heraus. An irgendeiner entfernten Stelle quoll plötzlich Rauch aus dem Boden, und die Mama rief: „Schnell, eins hierher und das Loch zugehalten! “ Bald standen wir alle mehr oder wenig sperrbeinig auf zwei rauchenden Mäuselöchern. Aber es waren mehr Löcher da als Füße. Da warf sich Georg zur Erde und hielt zwei weitere Löcher mit den Händen zu! Natürlich möglichst weit entfernte, und die ganze Arbeit kam ins Stocken, so mußten wir über den Anblick lachen. Noch in ihren letzten Jahren erzählte die Mama, wie in jener Zeit Georg sich zu Weihnachten Schlittschuhe gewünscht und sie eine seiner Stiefelsohlen aufgezeichnet und das Muster in ein großes Leipziger Geschäft gebracht, „bitte Schlittschuhe für dieses Maß! “ Und da hätte der Verkäufer gemessen, gelächelt und milde bemerkt: „Das ist wohl ein Irrtum. So große Füße gibt’s gar nicht! “ Ostern 1859 ging Georg nach Jena, wo er ins Corps der Franken eintrat. Sein erster Brief an mich dankt für Paukbinden, die ich nach seinen Angaben und auf seinen Wunsch genäht hatte aus alten Seidentüchern, die die Mama hergab. „Ich selbst bin zwei mal glücklich in den Bandagen los gewesen“. - Eine Mode, die ein paar Jahre früher unter uns Geschwistern aufgekommen war, uns „Sie“ zu nennen, zieht sich längere Jahre durch unseren Briefwechsel fort, indeß die anderen Geschwister bald wieder davon abgekommen waren. Auch ich schrieb etwa seit 1863 wieder „Du“, Georg hat aber das „Sie“ bis etwa 1867 fortgeführt. Bei den Hoftagen der Franken bekleidete Georg die doppelte Würde des Erzbischofs und Hofpoeten. Er genoß in vollen Z ügen das übermütige studentische Treiben der kleinen Universität. Oft unsäglich harmlose Kindereien, von denen er erzählte. So ein Indianerspiel, wo sie sich auf einer Insel in der Saale gelagert, - in Schlafröcken, - ein Feuer angezündet, sehr viele Friedenspfeifen geraucht und statt Mokassins in Morgenschuhen herumgelaufen seien. Dem Papa sagte er: „Darauf kannst Du dich verlassen, wenn irgendwo eine Dummheit gemacht wird, bin ich allemal dabei! “ Es mag aber des überschäumenden Lebens in jener Zeit reichlich viel geworden sein, denn - mit der ihm eigenen harmlosen Offenheit erzählte Georg es selbst - wie er nach Jahren auf der Bahn mit ein paar Jenenser Professoren wieder zusammentrifft, kennen die ihn natürlich gleich wieder, und der eine erzählt: „Ja, wir haben uns damals manches mal über Sie unterhalten! Ich habe aber immer gesagt: ‚Nein, der Gabelentz geht nicht unter, der Mensch hat Interessen‘.“ Bei den Franken waren zu jener Zeit viele Kurländer, vornehm, witzig und wild. Ein Brincken, - der auch einmal nach Poschwitz kam, war ein Hüne an Kraft und überaus händelsüchtig. Georg machte ihn nach, in der scharf accentuirten Redeweise seines Landes: „Lieberrchen, was sehen Sie mich so an? Winschen Sie vielleicht, daß ich Sie soll legen auf die Ärrde? “ Eine Armbewegung, und der andre liegt, - und steht wieder auf. Und wieder die freundliche, leidenschaftslose Frage: „Lieberrchen, wie kjönnen Sie aufstehen, wenn ich Sie habe gelegt auf die Ärrde? Winschen Sie vielleicht, daß ich Sie noch mal lege auf die Ärrde“, u. s. w. - Vor den Richter geführt wegen Nachtwächter-Prügelns hatte Brincken, immer fein und höflich, gesagt: „Ich habe nun Nachtwächter geprügelt um 12, um 1, um 2 und um 3, und immer haben Sie mich bestraft. Ich bitte Sie, wann soll ich denn Nachtwächter prügeln! “ Ernsterer Art war, was Georg über andre Kurländer, Herren v. Hahn, erzählte. Ein solcher hatte ihm von einer unheimlichen Sage berichtet, der zufolge alle männlichen Glieder seiner Familie durch Pferde ums Leben kommen müßten. Es sei vor Jahren auf dem Hahnschen Gute ein junges, unbändiges Pferd gewesen, das jeden abwarf, der es reiten wollte. Von vorüberstreifenden Z igeunern erbietet sich ein junger Bursch, das Tier zu bändigen. Die Hahns nehmen es an, aber auch ihn wirft das Pferd ab und tötet ihn durch einen Hufschlag vor den Kopf. Da sei ein altes Zigeunerweib aus dem Haufen vorgetreten und habe das Haus verflucht: So wie ihr Enkel sollten von nun ab sie alle umkommen! Und seitdem - mit dem einen gingen die Pferde durch, ein andrer stürzte und wurde geschleift, ein dritter stieg auf kein Pferd und in keinen Wagen, aber ein vorübergehendes Tier schlug nach ihm, daß er starb, - und nun waren sie fatalistisch geworden und ritten und jagten und kutschirten wie früher auf gut Glück. Aber durch Pferde umkommen taten sie alle. Gabelentz_s001-344AK6.indd 96 12.07.13 16: 23 <?page no="99"?> 97 Auf die tolle Jenenser Zeit folgte Leipzig und damit ein plötzliches energisches Aufraffen. Georg hatte sich in einem alten hohen Hause der Petersstraße eingemietet, wo ich ihn einmal mit den Eltern besucht habe. Das Haus war seltsam schiefwinklig gebaut. Stube und Kammer etwa so [s. Zeichnung] an einem dunklen engen Vorplatz gelegen. Die Kammer so eng, daß Georgs Bett sie ungefähr ausfüllte. „Wenn ich die Stiefel anziehe, muß ich allemal die Stubentür aufmachen, damit ich das Bein ausstrecken kann,“ erzählte er lachend. Entsprechend billig wird diese Höhle wohl gewesen sein, und Georg nahm aus einer Schublade ein dickes Paket - es waren quittirte Jenenser Rechnungen! „Sieh mal, Papa, das hab ich in diesem Vierteljahr geschafft! “ Je einfacher er in dieser Zeit lebte, desto größer war natürlich die Freude über eine gelegentliche Unterbrechung. Und diese wurde ihm öfters durch unsere liebe splendide Schwester Pauline, die 1862 aus China zurückgekehrt, öfters Besorgungsfahrten nach Leipzig unternahm, die sie für die jeweiligen Teilnehmer (auch ich zählte öfter dazu) sehr genußreich zu gestalten wußte. Eine Depesche bestellte Georg auf den Bairischen Bahnhof oder zur Mittagsstunde zu Dähne, einem vortrefflichen Restaurant in einem Keller am Markt. Da stellte Pauline dann ein feines Menü von ein paar Gängen zusammen, besprach mit Georg die Wahl der Weine, wobei sie nur auf die Feinheit und gar nicht auf den Preis sah, - und wir waren - Georg mit seinem sprudelnden liebenswürdigen Witz obenan - eine überaus fröhliche Tafelrunde. Kam man dann herauf in das blendende Tageslicht und das wirre Marktgewühl, so wars wie auf einem andern Planeten. - In jenen Leipziger Tagen war Georg nicht aktiv, hielt sich aber zu den „Meißnern“, wo sich die Freundschaft mit dem witzigen späteren Anwalt Marbach machte und verkehrte viel und freundschaftlich mit dem gleichfalls dort studirenden Kurt Koseritz, Sohn von der Mama Cousine und später lange Jahre Minister in Dessau. Dieser schrieb mir über jene Zeit: „ Georg arbeitete stetig und fleißig, unter Strömen täglicher und nächtlicher Teeportionen, an seinem ihm vom Vater aufgegebenen Wörterbuch einer bisher unbekannten Südsee-Insulanersprache. Eines Tages kam Georg strahlend auf die Kneipe. Er hatte eine Entdeckung gemacht, nämlich endlich herausbekommen, was gewisse Endungen an offenbaren Hauptworten seiner dunkelfarbigen Sprache zu bedeuten hätten: Daß diese Unmenschen die Hauptwörter conjugierten! eben durch Anhängen einer das Perfekt oder Futur bedeutenden Endung. Diese Entdeckung erregte uns allesammt so lebhaft und freudig, daß selbst der sonst schon so solide gewordene Georg, allgemein im Meißner Corps ,der lange Vetter‘ genannt, - weil ich ihn immer so hieß - an diesem Abend ,nicht weiter schrieb‘, sondern sich ebenfalls blau trank und auf dem Nachhauseweg unter meiner sachverständigen Leitung sogar noch einige ihm bisher in seiner Sammlung fehlende Hausnummern erbeutete.“ Soweit Koseritz. Ich bemerke dazu, daß es sich um die Sprache der Haraforos oder Alfuren handelte. Der Papa aber wird ihm die Bearbeitung jener Sprache sicher nicht • Clementine v. d. Gabelentz als Mädchen ThStA Gabelentz_s001-344AK6.indd 97 12.07.13 16: 23 <?page no="100"?> 98 „aufgegeben“ haben, das lag seiner Art ganz fern. Er mag etwa gesagt haben: „Höre, das scheint eine ganz närrsche Sprache zu sein, die könntest Du Dir eigentlich einmal ansehen.“ Weiteres Zureden war bei ihm ausgeschlossen. Die „Sammlung von Hausnummern“ habe ich noch gut in der Erinnerung. Georgs Größe machte es ihm leicht, zu den meist nicht gar zu hoch angebrachten Blechschildern hinauf zu langen, und ein geübter Griff mit dem darunter geschobnen Hausschlüssel vermehrte die Sammlung um ein Stück. Im kleinen, schwerwiegenden Studentenkoffer brachte er sie mit nach Poschwitz, wo sie manches Jahr im „Kefter neben der grauen Stube“ (und dem Turmzimmer) sich herumgetrieben haben. Im Jahr 1862 kam Georg auf längere Zeit nach Poschwitz, um sich auf sein erstes juristisches Examen vorzubereiten. Die Mama hatte ihn für diese Zeit - und wohl schon früher - aus der grauen Stube fort und herüber in die Pachterwohnung quartirt. Dort waren im ersten Stock mehrere große Räume. Am Ende des langen Ganges lag quer vor mit Fenstern nach Hof und Garten die Käsekammer. Dieser zunächst eine große - ich glaube dreifenstrige - Stube wurde Georgen als Wohnzimmer eingeräumt, neben dieser eine schmalere, - ich glaube aber noch zweifenstrige - als Kammer. Scheuerdielen und weißgetünchte Wände, - ein rührend einfaches Quartier! Und bei geöffnetem Fenster Kuhstallduft und Fliegen, - als auch ich wieder einmal meine Stube hatte hergeben müssen, schrieb mir Georg: „Tröste Dich, man hat in Poschwitz kein bleibend Quartier! “ Diese Zeit und die Stunden in der Pachterwohnung stehen mir noch in lebhafter Erinnerung. Ich entwischte so oft ich konnte meiner damaligen wenig beliebten Erzieherin und steckte bei Georg. Ich sehe ihn noch beim Einrichten. Ein Haufen alter Folianten lag noch auf der Erde und harrte des Ordnens. Ich schlug den einen und andern auf, und da ich Georg, anders wie sonst, in diese Bücher vertieft fand und daß er keine Z eit für mich hatte, so versuchte ichs, ihn wenigstens in ein Gespräch über jene Bücher und seine Studien zu verwickeln. Und auf diese Fragen gab er Antwort. Ich machte so nebenher einen kleinen juristischen Kursus bei ihm durch, und er sagte mir später, daß ihm das indirekt bei seinem Examen geholfen hätte, „denn wenn ich Dir etwas klargemacht hatte, so mußte es doch zuvor mir ganz klar gewesen sein.“ Gabelentz_s001-344AK6.indd 98 12.07.13 16: 23 <?page no="101"?> 99 II. Das Juristenleben (Dresden, Leisnig, Leipzig, Chemnitz). Sprachstudien Der Sühnetermin - „Als Dame von Bildung -“ - Im geographischen Verein - Den Arm ausgesetzt - Leisnig - Die Wandmalerei. Mirus - Der Altertumsverein in Leisnig - Der Schreiber. Der Schnelläufer - Der „unbefangene Accessist“ - Albin Seebachs Ritt. Japanisch - Art seines Arbeitens. Der Krieg - Einquartierung - „Ein jrüner Junge! “ - 1866 - König Johann als Jurist - König Johanns Heimkehr - Alberts Verlobung - Hr. v. Seltzer - „Die Molken finden schon ihre Liebhaber.“ - Mühlmann - Koppel - Die Japaner in Leipzig - Chemnitz - Sanskrit. Sprachstudien - „Nächsten Sonntag lern ich Schwedisch.“ - Andree, Vater und Sohn - Andrees Urteil über Georg - Seine Aussöhnung mit dem Sohne - Georg über seine Begabung und Aussichten - Reise nach Schweden - Der König. Der Fabrikant - „Ein gewisser Georgenkultus.“ - In Siebenbürgen - In der hohen Tatra an die Z eit des früheren Mittelalters, wo jenseits der Elbe die Slawen gesessen hatten und diesseits die Deutschen! Georg wohnte in dieser Zeit „bei der Frauenkirche“ Nr. 5, doch ist dies nicht seine große Wohnung gewesen. Im selben Brief mit obiger Sühnegeschichte erzählt er: „Heute Abend werde ich im geographischen Verein über Centralamerika zu hören bekommen, und vielleicht halte ich selbst in vier Wochen einen Vortrag ‚über die Völkerschaften Siebenbürgens‘.“ Dieser geographische Verein, dessen Vorsitzender und wohl auch Stifter der bekannte Ethnograph Carl Andree war, der Verfasser der damals viel gelesenen „Geographischen Wanderungen“, vereinigte Alles in sich, was von Entdeckungsreisenden etwa den Weg nach Dresden nahm, resp. zu Vorträgen dorthin eingeladen wurde, bot also stets eine Fülle von Anregung. Auch Albert besuchte die Sitzungen stets mit, wenn er Georg in Dresden aufsuchte. Und Georg war es natürlich lieb, in diesem Verkehr in fortlaufender Verbindung zu bleiben mit dem Z weige der Wissenschaften, dem doch bei ihm in erster Linie das Herz gehörte. Einen Unfall hatte er in jener Zeit. Bei Glatteis auf abschüssiger Straße ausgeglitten, hatte er sich den rechten Arm im Schultergelenk ausgesetzt und ein Band gerissen. Es war ihm gelungen, den Arm sofort wieder selbst einzurenken, aber zu Hause beim ausziehen des Paletots rutschte er wieder herab und ein längeres Tragen im Verband half zwar, doch blieb eine Schwäche zurück, und er hat den Arm später noch ein oder zwei mal bei geringfügigem Anlaß aufs Neue ausgesetzt. Der Herbst 1865 sah Georg in der Civilabteilung. Und der Spätherbst brachte seine Versetzung an das Amtsgericht Leisnig. Der erste Brief von dort ist vom 11. Dezember datirt. Die Leisniger Zeit war eine besonders hübsche für Georg. Sein direkter Vorgesetzter, Eisenbeiß mit Namen, eine von Nach bestandenem ersten juristischen Examen kam Georg zunächst nach Dresden, und zwar als sog. Accessist, denn in Sachsen gab es diese Vorstufe zum Referendar, - und in die Bagatellabteilung des Amtsgerichts. Er schrieb mir unterm 5. Februar 1864: „Unsere Kundschaft besteht aus den Bauern der hiesigen Umgegend, und Injurienkla gen sind bei uns der gangbarste Artikel. Da kann man denn die Theorie von den Schimpfreden gründlich studiren. Wenn Einer den Andern, - meist Eine die Andre - verklagt, so wird zuerst ein Sühnetermin anberaumt“ u. s. w. „Vorgestern hatte ich einen Mann und eine Krämersfrau ,zur Sühne‘. Die Frau hatte den Mann geohrfeigt, durchgeschüttelt und zum Hause hinausgeworfen. Ich stellte dem Beleidigten vor, daß sich doch in der Regel ein Mann von einer Frauensperson nicht so behandeln lasse, und daß man, wenn Einem so etwas passirt, doch lieber davon still ist. Umsonst! Jetzt zur Fra u: ,Sie haben zugegeben, daß Sie den Mann so schlecht behandelt haben. Wenn Sie sich nicht vergleichen, so kann das noch eine recht schlimme Geschichte für Sie werden! ‘ usw. Wieder umsonst! Jetzt fiel nämlich die Person über den unglücklichen Kläger her und malträtirte ihn mündlich in einer mehr ergötzlichen als feinen Weise und ,trieb mit Entsetzen Spott‘, wie Schiller so schön sagt. Natürlich keine Ahnung von Versöhnung. Da mache ich mir den Spaß, die Person bei der Eitelkeit zu packen: ,Als Dame von Bildung werden Sie mir zugeben, daß es das beste ist, sich einer so lästigen Sache möglichst rasch zu entledigen u. s. w.‘ Da hättest Du das geschmeichelte Gesicht und die Versöhnlichkeit sehen und die gewählten Redensarten hören sollen! An ihr la g es jetzt nicht mehr, daß kein Vergleich zustande kam.“ Interessant war, was Georg bei derartigen Sühneterminen beobachtet hatte, daß es nämlich als besonders kränkendes Schimpfwort empfunden wurde, wenn das Adjektiv „über-elbsches“ hinzugefügt wurde, - ein letzter Nachklang Gabelentz_s001-344AK6.indd 99 12.07.13 16: 23 <?page no="102"?> 100 Gabelentz_s001-344AK6.indd 100 12.07.13 16: 23 <?page no="103"?> 101 Anderen etwas gefürchtete Persönlichkeit, liebte ihn zärtlich, suchte ihn sich als Begleiter auf Spazierwegen in die entzückende Umgebung, und die beiden, - der eine ebenso kurz und dick wie der Andre lang und dünn, - waren eine so charakteristische Gruppe auf den Leisniger Wegen, daß ein talentvoller junger Anstreicher, der in einem Gartenrestaurant unten am Flusse die Wand eines Glashäuschens al fresco bemalte, nichts besseres gewußt hatte, als mit dem malerischen Leisniger Felsenschloß im Hintergrunde vorn auf dem herabführenden Wege die Beiden lustwandelnd als Staffage hinzustellen. Mit ein paar Strichen, aber charakteristisch in Gang und Haltung. Ich habe es selbst gesehen, Georg führte uns hin, als wir ihn einmal dort besuchten. Eine große Rolle spielte in dem damaligen Leisnig der Advokat Mirus, der reichste Mann des Städtchens, der vor den Toren der alten Burg seine stattliche Villa hatte, deren tadellos gehaltner Garten sich in parkartige Anlagen den Burgberg hinab verlor. Dort hatte er eine Ritterfigur in schwarzer Rüstung aufgestellt, wie im Begriff, die Treppe von einem alten Ausfallspförtchen her herabzusteigen. Die Rüstung war geschwärzt, wohl um das Rosten zu verhindern. Die Stellung von vollster Natürlichkeit. Georg regte in Leisnig die Gründung eines Altertumsvereins an. Man wollte ihn zum Vorsitzenden machen. Er lenkte aber die Wahl auf den dortigen Superintendenten Haan, in der richtigen Erwägung, daß ein dort dauernd Angestellter die richtigere Persönlichkeit sei. Mit rührender Freude berichteten nun seine Briefe, wie wöchentlich Bauern, die zum Markte oder zu Terminen hereinkämen, dieses und jenes Stück den jungen Sammlungen schenkten, für die vorläufig ein alter Schrank auf dem Amtsgericht (im alten Schlosse) zur Verfügung gestellt war. Leisnig barg damals zwei Originale. Das eine ein uralter armer Schreiber am Amtsgericht, mit dem der beliebte Witz, ihn sein eignes Todesurteil abschreiben zu lassen, bestens geglückt war, und dessen einziger Passion, dem Rauchen, Georg durch häufige Cigarrengeschenke entgegen kam. Mit zärtlicher Rührung erzählte er, wie alle Welt gewetteifert hatte, das - ich glaube 60jährige Dienstjubiläum des Alten so feierlich und festlich wie möglich zu gestalten. Das andre Original war ein kleiner Handwerker, wohl schon Fünfziger, der ein berühmter Schnelläufer war, auf den Wetten gemacht und gewonnen wurden. Mit wem oder was man ihn aber um die Wette laufen ließ, habe ich vergessen. Wenn man ihn fragte, wie er nur so rasch laufen könne, sagte er im schönsten Sächsisch: „Ja, sähnse, da hab ich nu meinen Stock, mit dem geh ich. Un da geh ich nun so! “ Und da hielt der Mann den Stock mit beiden Händen waagerecht vor sich, machte zwei oder drei Schritte - und einen Sprung! Und in diesem Wechsel von Gehen und Springen - und mit dieser Haltung des dringend nötigen Spazierstocks leistete das Männchen das Wunderbare! Irre ich nicht, so war auch in Leisnig - doch mag es auch Chemnitz gewesen sein - der „unbefangene Accessist“, wie die älteren Herren einen jungen Kunstbeflissenen nannten, dessen respektlosen Übermut und Talent zum Karrikaturenzeichnen die Vorgesetzten mit Kopfschütteln, wenn auch oft mit heimlichem Vergnügen sahen. Ich glaube, er war aber ein Leichtfuß, und es ist nicht viel aus ihm geworden. Die Lage von Leisnig ist entzückend. Die Mulde umspült von drei Seiten den Fuß eines steil abfallenden weißgrauen Felsens, auf dem das malerische alte Schloß thront, in dem zu jener Z eit das Amtsgericht und andre Büroräume untergebracht waren. Eine alte Leisniger Tradition erzählte, daß Albin Seebach, unseres Vaters Vetter, später russischer Gesandter in Paris, als junger Leutnant infolge einer Wette einen Fußpfad heruntergeritten sei, der an jenem Felsen in gerader Linie zur Mulde hinabführte. Ich bin ihn geklettert und kann für Steilheit und Ungangbarkeit einstehen! Eine lustige Geschichte kursirte damals auf den sächsischen Gerichten: Am Zuchthaus in Z wickau war an Stelle des bisherigen etwas schlaffen Direktors eine neue Kraft angestellt, ein recht energischer Herr. Auf dem Transport dorthin trifft ein Verbrecher einen Bekannten und Berufsgenossen, der eben von dort entlassen ist, und dieser sagt: „Du wärscht dich ooch wundern, das is gar nich mehr das alte gemiedliche Zwicka.“ Unterm 7. Mai 1866 schreibt mir Georg: „Das Japanische habe ich jetzt wieder tüchtig in Angriff genommen. Die Zeit dazu muß ich mir freilich stehlen. Ich habe mir eine kleine Weckeruhr für 1 rt. [Taler] 10 ngr. [Neugroschen] geka uft (= 4 Mark), die neben meinem Bette hängt, und wenn ihre Kolleginnen hübsch sittsam Vier vom Turme herabrufen, einen nicht zu duldenden Skandal verursacht. Die Zeit, die ich so gewinne, wird mit Unterbrechung des Teetrinkens und Pfeifenanzündens den Sprachstudien gewidmet. Langsam genug komme ich freilich vorwärts, weil ich, um recht vollständige Collektaneen zu haben, ganze Sätze oft 3-4 mal abschreibe, und weil ich, um das deutsche Äquivalent einer japanischen Vokabel aufschreiben zu können, in der Regel den Weg durch Gabelentz_s001-344AK6.indd 101 12.07.13 16: 23 <?page no="104"?> 102 Gabelentz_s001-344AK6.indd 102 12.07.13 16: 23 <?page no="105"?> 103 drei bis vier Wörterbücher und Sprachen durchlaufen muß (- Chinesisch, Japanisch, Russisch, Englisch, Deutsch).“ [Silhouette von Georg v. d. Gabelentz. Scherenschnitt von Clementine v. Münchhausen] Das Jahr 1866 brachte den Krieg ins Land. In Poschwitz wurden Massenquartiere für plötzliche Einquartierung hergerichtet. Georg schreibt mir am 21. Juni: „Die erste Einquartierung haben wir nun gehabt, preußische Landwehr, Husaren und Infanterie. Die Leute, Alle schon den gesetzteren Jahren und Viele den besseren Ständen angehörend, benahmen sich, - das muß ihnen auch ihr Feind nachsagen, - musterhaft, gegen Jedermann höflich und bescheiden, für Alles dankbar. Meist appellirten sie, wenigstens die Gemeinen, an die Teilnahme der Einwohner und das ,Ich habe zu Hause wohl Weib und Kind‘ konnte man in allen Tonarten hören. Einer erhielt auf dem Marsche die Nachricht, daß seine Frau sich mit seinen drei Kindern aus Verzweiflung den Tod im Wasser gesucht und gefunden hatte. Der Unglückliche soll hingestürzt sein wie ein Toter, und war wahnsinnig, als er von der Ohnma cht erwachte. Die Leute hatten also ein Recht auf Mitleid, und wenn sie künftig wieder erzählen, was sie uns tausendmal versicherten: wie hier in Sachsen ihnen mehr Liebes und Gutes widerfahren sei, als irgendwo im eignen Vaterlande, so werden sie hoffentlich nicht vergessen, welchem Gefühle sie das zu verdanken haben. Unsre Einquartierung, 952 Mann, rückte gestern Vormittag hier ein und heute früh wieder aus. Ich hatte einen blutjungen Berliner Gardeleutnant von Tiedemann, der von der Linie zur Landwehr kommandirt war. Das wären die schreibbaren Neuigkeiten. Eine Menge Details müssen mündlicher Mitteilung vorbehalten bleiben.“ Die mündliche Mitteilung enthielt eine überraschende Szene. Georg war, um seinem Leutnant das Suchen der Wohnung abzunehmen, auf den Marktplatz gegangen, und hatte sich dem Obersten vorgestellt, Leutnant v. T. sei bei ihm einquartiert. Der Oberst, sichtlich guter Menschenkenner, hatte den langen Referendar mit dem edlen Profil und der Gelehrtenhaltung mit Einem Blick taxiert - und sich vertraulich zu ihm beugend gesagt: „Noch ein rechter jrüner Junge! Den nehmen Sie man ordentlich vor! “ Was Georg veranlaßte, den jungen Burschen, als er in nachlässiger Haltung bei ihm eintrat, scharf anzulassen, er habe sich zu melden! Da Georg auch eine zeitlang die Militärsachen unter sich gehabt hatte, waren ihm die dabei üblichen Formen des Verkehrs geläufig. Der kleine Leutnant hatte sich stramm hingestellt, gemeldet, Georg hatte gedankt, und alles war im besten Frieden gegangen. Am 1. Juli schreibt Georg: „Zu ernsteren wissenschaftlichen Arbeiten fehlt mir die innere Ruhe; die Amtsgeschäfte müssen aber ihren ungestörten Fortgang nehmen, und es ist jetzt, wo unser unglückliches Land schon genug leiden muß, doppelt ernste Pflicht eines Jeden von uns, die Geschäfte in ungestörtem Fortgange zu erhalten, mögen ihm auch dieselben angesichts der großen Zeitereignisse noch so kleinlich erscheinen.“ Am 6. Juli 1866: „Stimmung ist gedrückt, man sieht sich schon im Kreise um, ehe man ein Wort über Politik wagt, und ist versucht, in jedem unüberlegten Wort ein Freibillett nach Spandau zu erblicken, - so mütterlich glaubt man sich überwacht! - Unsere sächsischen Truppen sollen sich nach den mündlichen Berichten von preußischen Augenzeugen so fürchterlich wild und mutig, so grimmig geschla gen haben, daß man den feinen, gemütlichen, höflich-pedantischen Sächser nicht mehr kannte. In Hemdärmeln haben sie sich in die feindlichen Reihen gestürzt und mit Bayonett und Säbel mehr gemetzelt als gefochten.“ Georg war, wie wohl jeder Sachse jener Tage, Verehrer bis zur Schwärmerei des alten Königs Johann. - In Dresden erzählte er, daß man auf dem Amtsgericht keinen Tag sicher sein könne, daß nicht der König herein käme und nach der Begrüßung sage: „Na, nun machen Sie mal weiter! “ Und wenn der junge Beamte dann seine Sache nicht richtig machte, ihn unterbrach und - mit seiner vollkommenen Gesetzeskunde - die Verhandlung selbst weiter- Gabelentz_s001-344AK6.indd 103 12.07.13 16: 23 <?page no="106"?> 104 führte. - Sommers in Pillnitz konnte man den König schon früh um 6 Uhr im Walde antreffen, wie er auf einer Bank sitzend Akten studirte. Er ließ sich vom Dresdner Oberappellationsgericht die Akten der wichtigeren Prozesse stets zuschicken und hatte sich in einen braunen Ueberzieher extra große Taschen machen lassen, um dies Lesematerial auf Spaziergängen mitzunehmen. - Als er den neu eingerichteten Telegraphen besichtigt und zu sehen wünscht, wie das Telegraphiren gemacht wird, depeschirt der Beamte: „S. Majestät der König ist soeben da und besichtigt das Telegraphenbüro.“ Es kommt eine Antwort zurück, die der König zu hören verlangt. Der Beamte wird verlegen, am Ende sagt er, der Kollege habe geantwortet: „Der muß auch seine Nase in alles stecken! “ Der alte Johann hatte gelacht und gemeint: „So unrecht hat der Mann nicht.“ Nun war der November 1866 herangekommen und hatte den König in sein Land zurückgeführt, das eine zeitlang daran verzweifelt war, ihn wieder zu sehen. Georg schrieb: „Zu einem pomphaften Einzuge waren die Dinge nicht a ngetan. Aber darüber sind Alle einig, daß Liebe und Ehrfurcht der Untertanen sich selten ungekünstelter und wärmer geäußert habe als hier.“ Der König hatte aber den Abend in Dresden gesagt: „Wer mir heute alles um den Hals geflogen ist, - das weiß ich nicht mehr! “ Denn der Bahn entlang, besonders in der Gegend von Pillnitz, Hosterwitz u. s. w., wo die königliche Familie im Sommer weilt, hatten auf jeder Station die Bauern in hellen Haufen gestanden, den König zu begrüßen, - und wenn ein Obersachse Jemanden gern mag, so genirt er sich nicht, es zu zeigen. Im November desselben Jahres berichte ich ihm aus Wolfsburg, wo ich von Steimke aus zu Besuch gewesen: „Sie sprachen von Wissenschaft, und daß man bei Dir nur anzutippen brauchte, so ließest Du sie strömen, und ich erzählte, wie Du Mandschu in drei Tagen gelernt hättest.“ Unendlich groß war Georgs Freude, als Albert sich am 14. November mit Marga Carlowitz verlobte. Er bittet, daß Einer von uns ihn in Leisnig besuchen und Näheres erzählen möge. „Alle anderen Gefühle kann man bequem mit sich herumschleppen; Freude aber allein zu tragen ist eine Last! “ Ende November bekam Georg den Titel Aktuar. - Aus seinen Briefen geht leider nicht hervor, wann ein andrer preußischer Offizier, ein Leutnant v. Seltzer, bei ihm in Quartier gelegen hat. Es muß dies längere Zeit gedauert haben und Seltzer, ein etwas schwermütig aussehender stiller Mensch mit herabgewulsteter Stirn über starken geraden schwarzen Brauen, ein passionirter aber nicht virtuoser Violinspieler, der uns gelegentlich auch in Poschwitz besucht hat, also Seltzer hatte eine geradezu schwärmerische Neigung zu Georg gefaßt und, als er endlich hatte scheiden müssen, in 2 Tagen ihm einen Brief und zwei Depeschen geschickt, - besuchte ihn auch später noch gelegentlich von Chemnitz aus. Im Februar 1867 finde ich in Georgs Briefen die Nachricht, daß ihn energisch aufgetretene aber zum Glück schnell gebesserte Hämorrhoiden heimgesucht hätten und er deshalb statt des Schreibtisches sich ein Stehpult auf der Expedition habe bauen lassen. Im März desselben Jahres rede ich Georg in einem Briefe als „Referendar“ an. Es schloß sich in seiner dienstlichen Tätigkeit nun jene Zeit an, wo er ein Jahr an einem Appellationsgericht zu auditoriren hatte. Er hoffte auf Dresden, dort war indes kein Platz, und so schrieb er mir, - da er sich nun um Leipzig bewarb, „ist in Leipzig nichts los, so lerne ich in der Oberlausitz (Bautzen) oder im Erzgebirge (Z wickau) ein Stück sächsischen Vaterlandes mehr kennen, und überall will ich meinem Grundsatze treu bleiben - dem einzigen, den ich streng befolge - von jedem Topfe die Sahne für mich abschöpfen, - die Molken finden schon ihre Liebhaber.“ Der Juni 1868 fand ihn in der Tat in Leipzig. - Wie obiger Ausspruch lehrt, es war ein großer Glückshunger in Georg, zusammenhängend mit seiner Weichheit. Es mußte jedes Ding eine gute Seite haben, und wenn er die übeln Seiten hätte mit Coulissen zudecken müssen. Ich sehe, daß ich aus seiner Dresdener Zeit zweierlei nachholen muß, was ich anfänglich glaubte in seinen zweiten Dresdener Aufenthalt verlegen zu müssen. Das eine war das Verhältnis zu seinem direkten Vorgesetzten, Assessor Mühlmann, der ihn mit Vorliebe dazu benutzte, solche junge Juristen, die nicht recht gut tun wollten, zu erziehen. Georg erzählte mir sein Verfahren hierbei: „Ich nehme mir den betreffenden unter vier Augen vor und bin heillos scharf, schenke ihm gar nichts, stelle ihm alle Konsequenzen vor. Und dann tue ich, als sei nichts gewesen, bin vor dritten überhaupt stets gut mit ihm, und - die Hauptsache - zeige, daß ich ihm vertraue! “ - Und nach ein paar Monaten geschah es dann wohl, daß Mühlmann sagte: „Hörn Sie mal, Gabelentz, aber der X, der macht sich ja ganz famos, fleißig und ordentlich, und was er schreibt hat Hand und Fuß, - den könnten Sie mir wohl herübergeben. Ich habe da nämlich den Y, - der Mensch bummelt, hat keine rechte Lust zur Sache, gibt sich keine Mühe - - “, Gabelentz_s001-344AK6.indd 104 12.07.13 16: 23 <?page no="107"?> 105 und nun konnte Georg sein bewährtes Verfahren bei einem zweiten schwarzen Schafe anwenden! Freilich gab es auch solche, denen gegenüber auch sein pädagogisches Talent nichts auszurichten vermochte. Auch in jene erste Dresdener Zeit fällt Georgs Freundschaft mit Franz Koppel, einem jungen Schriftsteller, und dessen sehr reicher, hübscher und gelehrter Braut Irene Schäuffelen, der er lateinische Stunden geben mußte und deren grammatikalische Sicherheit er mir - vergeblich - als Muster hinstellte, da er häufig mit ihr irgendeinen Schriftsteller gelesen, nicht um von dem Inhalt Kenntnis zu nehmen, sondern um jedes Wort nach seinen grammatikalischen Eigenschaften zu bezeichnen. Koppel schrieb damals an einem Roman „Zwei Brüder in Jesu“, in dem er die furchtbaren Erlebnisse, die seine Schwester in einem rheinischen Kloster gehabt, als Episode einflocht. Er ist später, - ich denke im Mai 1867 - erschienen. - Koppels Ehe wurde später geschieden. Er besaß nicht die Charakterfestigkeit, um seiner Frau dauernd zu imponiren. Sie fand einen Anderen - und er fand es ganz begreiflich! - Sie war überaus kräftig, - hatte ihren Bräutigam aufgehoben und durchs Zimmer getragen, - und sehr „vernünftig“, wie ihre Mutter betonte, da das wohl sehr reiche Mädchen bei einem Aufenthalt in Venedig „nur“ einen Korallenschmuck, - allerdings von hervorragender Schönheit, gekauft hatte. Das Jahr in Leipzig sollte Georg noch ein hübsches Erlebnis bringen. In einem dortigen Lokal trat - unter Führung eines mit einer Japanerin verheirateten Holländers - eine japanische Akrobatentruppe auf, die Georg natürlich lebhaft interessirte. Nach Schluß der Vorstellung war er zu den Leuten getreten, und die verschiedenen Leipziger Z eitungen berichteten mit unverhohlenem Vergnügen, wie sich „ein junger hiesiger Jurist“ mit den gelben Freunden fließend in ihrer Sprache unterhalten habe. Nach Ablauf des in Leipzig verbrachten Jahres, - das für Georg natürlich ebenso wie früher auch die fröhlichen Dinnerpartien mit unsrer Schwester Pauline bei Dähne gebracht hatte, und das ihn Sonnabend auf Sonntag fast regelmäßig nach Poschwitz führte, so daß unser Briefwechsel aus jener Z eit wenig ausgiebig ist, - also nach Ablauf der Leipziger Zeit kam Georg nach Chemnitz, einer ihm als rußigen Fabrikstadt nicht gerade angenehmen Stadt, in der er indes in seiner optimistischen Art sich das beste herauszusuchen verstand. Besonders gern verkehrte er im Hause des Obersten v. Abendroth, eines liebenswürdigen, witzigen und vielseitig gebildeten Mannes. Bei einer Abendrothschen Gesellschaft mit musikalischen Aufführungen hatte auf dem Programm gestanden: Bei einigen der Stücke werden mehrere Personen mitwirken, damit’s schneller geht! Es rückte nun die Zeit seines zweiten juristischen Examens heran. Am 4. April 1869 schreibt er mir: „Gestern habe ich um die Specimina angehalten.“ Und am 3. August: „Mit meinem Specimen bin ich ziemlich fertig.“ Uebrigens war auch von Chemnitz die Bahnverbindung günstig genug, um ihm häufige sonntägliche Besuche in Poschwitz zu gestatten. Auf den Bahnfahrten nahm er irgendein sprachwissenschaftliches Buch vor. Irre ich nicht, so hat er gerade zwischen Chemnitz und Altenburg allmählich die berühmte - und nicht so ganz einfache! - Sanskritgrammatik des Inders Panini durchstudiert, die er stets als ein Muster klarer Systematik pries. Mit Passion übte er hierbei, wie überhaupt bei jeder Gelegenheit seine Sprachwerkzeuge. Das Sanskrit hat verschiedene Consonanten, - irre ich nicht d und n, - die wir bloß in einer Aussprache kennen, in zwei- oder gar dreifacher Form, - auch natürlich mit andren Zeichen geschrieben, - je nachdem man bei ihrer Aussprache die Zunge weiter vorn oder mehr nach hinten anlegt. Da übte Georg nun das d oder n zuerst ganz vorn zwischen den Zähnen auszusprechen, und dann allmählich mit der Zunge immer weiter am Gaumen zurück zu gehen, bis er sie völlig im Bogen nach hinten umlegte. „Nächsten Sonntag lern ich Schwedisch“, sagte er einmal, als er in den Sommerferien eine Reise nach Schweden vorhatte. Er nahm den Sonntag ein schwedisches Buch her, und auf der Reise tat neben seiner erstaunlichen Begabung seine ebenso große Ungenirtheit das Uebrige. Er sprach nur mit Schweden, sprach vom ersten Tage an nur schwedisch, - wenn nicht gut, dann schlecht, - aber es ging überraschend schnell vorwärts, und als er eine Woche im Lande war und in einem Städtchen dem Conzert des Gesangvereins beiwohnt und nachher mit den Sängern zusammensitzt und einer den Fremden leben läßt, - da dankt er flott in schwedischer Sprache! Im Dezember 1869 machte Georg in Dresden sein zweites Examen. Mit der Z wei. Man hatte ihm eigentlich die Eins geben wollen, es aber unterlassen, da es im Lande zuviel Anstoß geben würde, wenn diese seltne Zensur an einen Adligen käme! In Dresden gelang es ihm diesmal, eine von ihm lange angestrebte Aussöhnung in die Wege zu leiten zwischen dem Ethnographen Karl Andree und dessen einzigen Soh- Gabelentz_s001-344AK6.indd 105 12.07.13 16: 23 <?page no="108"?> 106 ne, Richard, dessen Heirat mit einer katholischen Polin ihm der Vater nicht verzeihen wollte. - Andree hielt große Stücke von Georg, liebte ihn in geradezu väterlicher Weise. Ich finde in einem Brief, den ich am 19. Juni 1867 an Georg schrieb, daß Andree sich in Poschwitz über ihn äußerte: „Ihr Sohn Georg ist doch ein prächtiger Mensch. Ich kenne ihn nun seit 10 Jahren, habe ihn in Dresden fast täglich gesehen (als Georg den Arm ausgefallen hatte, hatten die beiden Andrees, Vater und Sohn ihn auch fast täglich besucht) und kann wohl behaupten, daß Niemand ihn so gut kennt wie ich, - seine Eltern natürlich ausgenommen. Sein Charakter ist so rein, er hat einen so feinen Begriff von Ehre und doch nichts Krankhaftes dabei. Da waren wir einmal tüchtig aneinander gekommen über dem Corpus juris, und ich hatte ihm gesagt, sein Vater würde mir gewiß Recht geben in meiner Ansicht. Er ging da nn nach Poschwitz, und Sie gaben mir auch wirklich Recht. Als er wieder zurück kam, war sein erster Gang zu mir, um mir das zu sagen. Das nenne ich doch“ u. s. w. - Aber je freundschaftlicher Andree, der Vater, sich Georg gegenüber stellte, desto peinlicher war Diesem, der auch dem Sohn befreundet war, das Zerwürfnis. Wiederholt hatte er dem Vater zugeredet, doch sich mit der vollendeten Tatsache abzufinden, die wirklich liebenswürdige Schwiegertochter doch endlich einmal kennen zu lernen, bisher stets vergeblich, bis er mir am 26. Dezember 1869 schrieb, er habe Andree endlich einer Versöhnung nicht abgeneigt gefunden und gleich an den Sohn geschrieben, um diesem das Weitere anheim zu geben. „Ich wäre glücklich, wenn es mir gelänge, das heillose Zerwürfnis endlich zum Ausgleiche zu bringen; früher schien dies rein unmöglich.“ Wie energisch der Neunundzwanzigjährige dem alten, berühmten und auch recht selbstgefälligen Herrn ins Gewissen geredet hatte, das erzählte er in Poschwitz mündlich: „Ich habe ihm zuletzt zugesagt: ,Und was ist das Ende davon? Wenn Sie einmal tot sind, so haben Sie nicht einmal einen Sohn, der hinter Ihrem Sarge hergeht.‘“ Diese energische Art, wo es sich um ernste Dinge handelte, war bei Georgs sonstiger Weichheit besonders überraschend und deshalb wohl auch besonders wirkungsvoll. Derselbe Brief, in dem Georg Obiges schrieb, brachte auch die Nachricht von dem glücklich bestandenen Examen. „Du glaubst nicht, welche Last mir mit dem Satansexamen von dem Herzen gefallen ist. Endlich kann ich einmal wieder mit gutem Gewissen mich dem widmen, wozu ich nun ein mal prädestinirt bin, und ich schmiede Pläne über Pläne, um meine Studien zweckmäßig einzurichten. Viel Zeit habe ich freilich noch immer nicht; aber ich habe gelernt, die Viertelstunde auszunutzen, und habe über dies, nunmehr, da ich das Examen hinter mir habe, die Füglichkeit, jederzeit dem Staatsdienste mit Anstand den Rücken zu kehren. Fast Alle, die mich beurteilen können, nennen es unverantwortlich, daß ich für 550 rt. [Taler] (1650 Mark! ) jährlich die schönste Zeit meines Lebens der Wissenschaft entziehe, um zu tun, was hundert Andere auch tun können. Ich habe jetzt wieder in Dresden von meinen besten Freunden Vorwürfe über Vorwürfe in die ser Richtung zu hören bekommen. Uebrigens scheint jetzt wieder einige Aussicht für mich, nach Dresden zu kommen, und für diesen Preis wollte ich gerne noch ein paar Jahre staatsdienern, - man muß mich nur nicht zu lange warten lassen. Da hast Du so, was mir dermalen durch den Kopf geht. Dies Jahr beschließe ich als Assessor, und ich ha be noch kein Jahr mit demselben Titel beschlossen, mit dem ich es angefangen habe; was wird nun das Jahr 1870 aus mir machen? “ Der Sommer 1870 brachte Georg zunächst die lange ersehnte Reise nach Schweden. Er schrieb und erzählte entzückt über Land und Bewohner. Auf einer Wanderung bittet er um Erlaubnis, einen Gutspark zu besehen. Als Antwort führt man ihn ins Haus. Die anwesende Erzieherin entschuldigt die eben ausgefahrene Herrschaft, führt ihn überall herum und setzt ihm am Ende einen Imbiß von allerhand Früchten vor. - Bei einem der königlichen Landsitze wendet er sich mit ähnlicher Frage an einen älteren Herrn, der liebenswürdig selbst die Führung übernimmt. In den Zimmern hängen zahlreiche Landschaften, die der König selbst auf seinen Reisen gemalt hat. Der Führer fragt Georg um sein Urteil. Dieser meint bescheiden, daß er von Malerei wenig verstünde, doch schienen ihm die Bilder gut zu sein. „Da ß ich ihm kein Trinkgeld geben konnte, merkte ich ja sehr rasch. Nach dem respektvollen zur Seite treten der Begegnenden hielt ich ihn für eine Art Hofmarschall oder so was. Am Ende verabschiede ich mich mit bestem Danke. Und frage dann einen Mann, der da steht, mit wem ich da eigentlich eben gesprochen habe. Da sagt der: ,Det war Kungen! ‘“ König Oskar hatte selbst den Führer gemacht. - Nun sah es aber am Horizont der Politik unsicher aus, Georg eilte zurück. Den letzten Tag auf schwedischem Boden traf er - vermutlich in einem Kaffeegarten - mit einem schwedischen Fabrikanten mit Familie, - eine allerliebste erwachsene Tochter dabei, - zusammen, der ihn auf seinen schönen Landsitz mit herausnahm. Als besprochen wurde, Gabelentz_s001-344AK6.indd 106 12.07.13 16: 23 <?page no="109"?> 107 ob überhaupt noch ein Dampfer nach Deutschland gehen würde, hatte der Fabrikant erklärt: „Wenn Sie nicht mehr nach Deutschland durch kommen, so drehen Sie einfach um und warten den Krieg in unserm Hause ab.“ Gretchen Abendroth, - später meiner Schwägerin Marga Schwägerin, - die uns einmal in Poschwitz besuchte, - aber von ihrer Heimat Wenigenauma aus sehr häufig in Alberts Haus in Lemnitz verkehrt und Albert sehr lieb gewonnen hatte, - sagte mir damals in ihrer treuherzigen Art: „Ich glaube, in Eurer Familie besteht ein gewisser Georgenkultus.“ Georg war eben ohne jede Spur von nervöser Reizbarkeit, also in dieser Beziehung bequemer zum Verkehr als Albert. Und hierdurch glich sich für den Verkehr innerhalb der Familie der Unterschied zwischen den Brüdern wieder aus, der im geselligen Verkehr Alberten einen gewissen Vorteil über Georg gab, insofern Albert sich besser hielt, nie zerstreut war, vielseitiger und gewandter, indes Georg sich leicht in Fachgespräche vertiefte, und vergaß, daß er dozirte. Aber Georgs Charme von Kindlichkeit, die Eigenschaft, daß er Kinder - und Hunde! - bloß anzusehen brauchte, um sie zu sich heranzulocken, - es war eben ein Charme, den er hatte, und der verwandte reine und gütige Seelen wie magnetisch zu ihm hinzog. Dieser Charme war uns Allen genau bekannt, und so fanden wir jenes schwedischen Herrn Einladung einem Bekannten von wenigen Stunden gegenüber auch durchaus natürlich und begreiflich. Da ich meinem anfänglichen Vorsatz, Georgs Reisen für sich zu behandeln, nun einmal untreu geworden, will ich hier eine Episode aus seiner siebenbürgischen Reise nachholen, die ich ausführlich in Alberts Biographie behandelt habe. Sie fuhren - ich weiß nicht warum bei Nacht - durch die hohe Tatra. Man hatte sie vor dort streifenden Räuberbanden gewarnt. Ein Schlafen war in dem stoßenden federnlosen Wagen ohnehin ausgeschlossen. Wie sie etwa auf der Paßhöhe sind, - rundherum dichter Wald, - ertönt in der Nähe ein Pfiff - und ihr Kutscher pfeift eine Antwort - und dunkle Gestalten treten aus dem Walde und beginnen mit dem langsamer fahrenden Kutscher ein Gespräch in walachischer Sprache. Albert, dem ich diese Erzählung verdanke, sagt nun: „Das ist Verrat. Der Kutscher spielt mit den Kerlen unter einer Decke. Mach Dein Gewehr schußfertig,“ - er selbst war schon mit dem seinen beschäftigt, „und beim ersten Z eichen von Feindseligkeit schießt Du den Kutscher nieder, nimmst die Zügel und haust auf die Pferde. Ich halte uns derweile die anderen vom Leibe.“ Und Georg, indes er seine Waffe bereit macht, bemerkt trocken mit seiner weichen, wohlwollenden Stimme: „Das walachische Idiom klingt doch am schlechtesten von allen romanischen Sprachen.“ Er hatte jene prachtvolle Kaltblütigkeit der Langschädel, der blonden Haare und der langen Oberschenkel, - kurz der reinen germanischen Rasse, - in extra hohem Maße. - Gabelentz_s001-344AK6.indd 107 12.07.13 16: 23 <?page no="110"?> 108 III. Im Elsaß In den Elsaß - Briefe aus dem Elsaß - Aus dem Elsaß - Das Recht im damaligen Elsaß - Gehaltsverhältnisse im Elsaß - Die Familie Jacquinot - Die Sachsen im Elsaß - Nach dem Badischen - Tempora mutantur - Sehnsucht nach den Poschwitzer Sonntagen - Schatten und Lichtseiten der Zeit - Das neue Volkslied - Die „Schweschtern“ - Die Friedensfeier - Kritik der Predigt - Zeitungsberichte - Elsässische Beamten - Georgs Aussichten, Schultzes Urteil - Schultzes Urteil über Georg - Aussichten - Das schwedische Zitat - Wir besuchen Georg im Elsaß - Die Büroräume - Die Maires und der Unteroffizier - Eine Stunde lang geflucht - Die Bittstellerin - Fahrten um Mühlhausen - Der Bericht des Präfekten - „Eine Schande ist eine solche Antwort nicht -“ - Seine Abschiedsfeier - Abneigung gegen die „Strammheit“ - Der Reisende ohne Halstuch - Sein gutes Französisch - In den Cafés deutschen Sache prinzipiell und offen Feind, uns doch trefflich unterstützen, sobald wir uns in Sachen der allgemeinen Wohlfahrt und Ordnung an sie wenden. Sie tun dies eben aus Interesse für das Gemeinwohl, und sie sind mir eigentlich die Liebsten.“ D. 16. Februar. „Die Zeit meiner Selbstherrschaft ist gestern mit der Rückkehr des Kreisdirektors abgelaufen; und er prüfte Alles, was ich gemacht hatte, und siehe da, es war sehr gut.“ (Jene Zeit im Elsaß war für Georg, der bis dahin stets in der Justiz tätig gewesen, das erste Arbeiten im Verwaltungs fache. Komplizirt wurde allen aus dem alten Deutschland dorthin gegangenen Herren die Arbeit dort noch weiter durch die Tatsache, daß ja der Frieden noch nicht geschlos sen war. Der Elsaß war also noch gar nicht definitiv deutsch, nur de facto, nicht de jure, und welches Recht galt da nun? ! Wie Georg mir erzählte, hatte jeder nach bestem Gewissen gehandelt - und nach dem Recht, das er von daheim mit gebracht! Die Baiern nach dem bairischen Landrecht, die Rheinländer nach dem Code Napoléon und so weiter! Es war eben Kriegszustand, und es war auch so gegangen. Das Beste hatte wohl der gute Wille, die Gewissenhaftigkeit und Tüchtigkeit der Einzelnen tun müssen). Georg fährt fort: „Meinen sächsischen Gehalt beziehe ich fort, daneben er halte ich pro Tag vier Thaler Diäten. Meine neuerdings in den Elsaß beförderten sächs. Kollegen erhalten auch nicht mehr, die bairischen dagegen 6 rt. und die preußischen 8 rt. Diese freilich beziehen keinen Gehalt, weil sie im Vaterlande keine Anstellung hatten. In Folge dessen habe ich Koseritzen, als er mich über seine zu erwartende pekuniäre Stellung fragte, ge sagt: das richte sich nach der Größe des Landes, aus dem Einer stamme, er werde wahrscheinlich 7 ngr. 5 d. (75 d.) täglich erhalten.“ (Koseritz war Anhaltiner). „Von einer Fixation der Gehalte kann erst nach dem Friedensschlusse die Rede sein; Nun war der Elsaß wieder deutsch geworden. Und Georg gehörte zu den zahlreichen Juristen aus allen Gegenden Deutschlands, die sich zum Dienst in den Reichslanden mel deten, - doch war der Friede noch nicht geschlossen. Unterm 28. Jan. 1871 schreibt er mir zum ersten Mal aus Straßburg, und am 12. Februar ist er bereits in Mühlhausen, wo er den mit Arbeit überhäuften und überarbeiteten Kreis direktor Schulz entlasten resp. bei einem mehrwöchigen Urlaub vertreten soll. Ich könnte fast Georgs sämmtliche Briefe jener Zeit von a bis z abschreiben, will mich indeß mit den interessantesten Partien daraus begnügen. Mühlhausen d. 12. Febr. 1871. „Gestern hat der Kreisdi rektor einen dreitägigen Urlaub angetreten, und nun sitze ich da und dirigire Kreis, so gut es gehen will. Und ich denke, es soll gehen, wenn mir auch manchma l der Kopf etwas raucht. Was Letzteres anbelangt, so bin ich derselbe, - leider auch manchmal mein Ofen, der wärmste Freund, den ich im Au genblick bei mir habe. Ein gewaltiger Unterschied besteht zwischen meinem hiesigen Dienste und dem, den ich von zu Hause her gewöhnt bin. Dort wußte ich von Zeit zu Zeit: jetzt bin ich fertig, bin mein eigener Herr; die Abendstunden der Woche und die Sonntage waren frei von Geschäften. Hier ist das anders: Die dringlichen Geschäfte jagen einander, und ein heute früh um 7 mir ein gehändigtes Telegramm belehrte mich, daß dem General von Treskow vor Belfort selbst mein Sonntagmorgenschlummer nicht heilig ist! - Nur ein Teil der Bauernschaft scheint uns geneigt zu sein. Auch muß man Wohlwollensäußerungen seitens Einzel ner stets mit Vorsicht hinnehmen, da oft unlautere Motive zu Grunde liegen und überdies Menschen, die allzuschnell dem Neuen huldigen, nie verläßlich sind. Wir haben aber auch unter den hiesigen industriellen Größen eine Anzahl allge mein geachteter und einflußreicher Männer, die, obschon der Gabelentz_s001-344AK6.indd 108 12.07.13 16: 23 <?page no="111"?> 109 jetzt weiß man ja noch nicht einmal, was aus Elsaß-Lothringen werden wird.“ D. 19. Februar. „Wenn man, wie ich, einen Andern aus seinem Neste verdrängt hat, so gewährt es eine Art wehmütiges Interesse, den Spuren des Vorgängers nachzuforschen -“ (Georg wohnte, da Kreisdirektor Schulz seine Familie noch nicht nachkommen lassen, damals bei diesem in einem Zimmer der französischen Präfektur). „Der französische Unterpräfekt hier war ein Baron Jacquinot; Reliquien in den Gesellschafts zimmern bewiesen, daß der Mann Familie gehabt habe, und das Meublement meines Privatzimmers, das sich u. A. durch die Abwesenheit eines Stiefelknechtes auszeichnete, bewies, daß ich die Erbschaft einer Dame angetreten hatte. Welcher Dame? Ein paar unverfängliche Schriftstücke in einem Wand schrank bezeichneten Mlle Antoinette de Jacquinot als meine Vorgängerin. Mehr freilich, a ls daß sie Unterricht in der Geographie Frankreichs und keinen Stiefelknecht gehabt hat, weiß ich noch heute nicht von ihr, und damit will ich mich auch beruhigen.“ D. 8. (? ) Febr. 1871. „Schon wieder Pascha, liebe Clemenz, mit der Macht über, aber auch der Verantwortlichkeit für ei nen Kreis von etwa 120,000 Seelen! - Vor etwa 8 Tagen ist dem Präfekten“ (v. d. Heydt-Colmar) „einer meiner Chemnitzer Kollegen und Freunde als Dezernent beigegeben worden, und nun hatte ich die Freude, diesen vom Präfekten als ,den entschieden bedeutendsten und tüchtigsten unter seinem Per sonale‘ loben zu hören. Du weißt, daß ich Schanz in Straßburg empfohlen hatte. Also wieder ein Beispiel dafür, wie gut wir Sachsen angeschrieben stehen. Die Kollegen aus anderen Län dern werden im allgemeinen weniger gerühmt und müssen desha lb durch den Genuß höherer Diäten schadlos gehalten werden. Suum cuique! “ D. 3. März. (Georg machte einen Ausflug mit zwei Of fizieren, Hauptleuten der in Mühlhausen garnisonirenden sächsischen Batterie). „In Chalange sahen wir den Schwarzwald und das alte Deutschland so in der Nähe, daß es uns hinüber zog. Der Fährendienst dort ist originell. Eine kleine, mit Bretterboden überbaute Sandbank bezeichnete zeither die Grenze zwischen Frankreich und Deutschland. Auf der einen Seite dieser Bank legt nun die Elsässer, auf der anderen die ba dische Fähre an und letztere führt Geschirr und Insaßen an das rechte Rheinufer. Welcher Unterschied zwischen Hüben und Drüben! Hier ,verfluchter Preuß‘ und mürrische Blicke, - dort jubelnd herziges Grüßen, wenn sich ein Deutscher Waffenrock zeigt; soviele Leute am Wege, soviele freiwillige Wegweiser. Der Versuchung, bis Badenweiler vorzudringen mußten wir wegen der vorgerückten Zeit widerstehen. Wir fuhren durch Neuenburg nach dem nahen, übera us freundlichen Städtchen Müllheim, genossen hier den Anblick des Schwarzwaldes, des sen höchster Punkt, der Blauen, noch mit Schnee bedeckt war, noch einmal recht aus der Nähe, und versenkten uns dann, wie es Männern geziemt, im ,Schwane‘ in das Studium des Mark gräflers. Von den Jahrgängen 1834 bis 1869 probirten wir vier. Einige wohlwollende Einwohner gaben uns bezüglich der Wahl der Sorten die nötigen Anweisungen. Hinsichtlich der Quan tität aber folgten wir lediglich unsern eignen Anschauungen. Als wir Abends um ½ 8 den Heimweg antraten, war herrlicher Mondschein. Herr v. Löben, der die Rosse lenkte, erwarb sich unsterbliche Verdienste, denn in Ansehung des Umschmeißens ließ er es bei zwei, a llerdings an Vollendung streifenden Ver suchen bewenden. Gegen 10 Uhr langten wir in Mühlhausen an; ich ging gleich zu Bett, nicht ohne zuvor mein schwarzes Innere durch etwas Kreide ausgeweißt zu haben.“ D. 23. März. „Tempora mutantur, et nos mutamur in illis! Das hätte mir vor einem Jahre Jemand sagen sollen, daß ich noch den Geburtstag des Königs von Preußen mitfeiern würde. - Ich befand mich inmitten von badischen Stabsoffizieren, und ich empfehle Jedem, der ein Fest con gusto mitmachen will, gleich mir sich süddeutsche Nachbarn zu suchen. - Als ich Abends um 7 (auf der Rückkehr von Güningen) auf dem hie sigen Bahnhofe anlangte, hörte ich im Gedränge dicht neben mir Einen dem anderen zuflüstern: Comment oses-tu parler ainsi en présence de l’autorité? Voilà un cochon! Ich entnahm daraus, daß man mich hier als autorité und a ls cochon be zeichne, und ging mit diesem stolzen Bewußtsein nach Hause. - Wenn wir nur Frieden behalten; hier verfolgt man die Nachrichten von Paris mit großer Spannung: wie, wenn der rote Pöbel obsiegte, und dann den Frieden nicht anerkennen wollte? Dumm genug ist er dazu. Heute sind es zwei Monate, daß ich im Elsaß bin. Wie schnell ist mir die Zeit vergangen, und wie lang kommt sie mir doch vor, wenn ich durchdenke, was ich derweile Alles durch lebt habe. Ob mir heute noch die friedliche Bagatellstube in Chemnitz behagen würde? Ich weiß es nicht; aber das weiß ich, daß ich etwas darum geben würde, wenn ich meine Poschwitzer Sonntage haben könnte! Das Leben im Hotel, die stun denlangen Dinés, der fortwährend wechselnde Umgangskreis, in dem ich mich bewege, die Beschränkung meines geselligen Verkehrs auf Leute, deren Keiner von hier ist, deren Keiner hier bleiben will, endlich das Gemisch der Sprachen und Dia lekte, die ich um mich herum höre: Fra nzösisch, allemannisch, niederrheinisch und das verfluchte schnarrende Märkisch: das Gabelentz_s001-344AK6.indd 109 12.07.13 16: 23 <?page no="112"?> 110 Alles macht meine Existenz mehr der eines Reisenden, als der eines fest sitzenden Beamten ähnlich. Heute schließt man sich gemütlich aneinander, um morgen durch ein Kommandowort wieder auseinander gerissen zu werden, das ist die Kehrseite. Dafür aber welche Fülle des Interessanten. Ein Beispiel, wie Volkslieder entstehen, erlebte ich gestern. Ich war auf dem Bahnhof um einigen bekannten, nach der Heimat durchreisenden Ulanenoffizieren Lebewohl zu sagen. Die Waggons waren mit Reisern, Fähnchen u. dgl. geschmückt; Aufschriften wie: ,Eilgut zu Muttern‘, ,Liebesgaben für deut sche Frauen und Jungfrauen‘ fehlten nicht, und aus und vor einem der Wagen ertönte ein gut zusammengesetzter Männerchor. Als ein paar Lieder abgesungen waren, trug Einer allein in einer bekannten Marschmelodie ein gereimtes Produkt vor, offenbar in seiner eigenen Werkstätte geschmiedet, und ganz besonders für den vorliegenden Fall: Heimkehr der Landwehrula nen, gemacht. Die Schlußreime wiederholten die Uebrigen unisono. ,Ja, det is use Poet! ‘ sagten sie mir hernach. Das Lied schloß: ,Und auf der Brust da trägt er den Landwehrpasseport,‘ und die Zuhörerschaft schien es gut zu finden. Das Lied braucht nun bloß noch ein paarmal gesungen zu werden, um in dem Kreise, für den es gemacht ist, auswendig gekannt zu sein, und wenn es auch anderen gefällt, so kann es in einem Dezennium seinen Platz in einem Soldatenliederbuche erhal ten.“ Den 21. Apr. 1871. - „Wie habe ich mich und wie haben Andre sich geschüttelt bei der Lektüre des Kutschkeliedes! “ Den 19. Mai 1871. „Der alte Polizeikommissar Tietz in St. Louis, Canton Güningen, hat Recht, wenn er sagt: ,‘t wird üm mer doller; jetzt kriegen die Leute schon Vertrauen.‘ Neulich mußte ich zwei Jesuiten empfangen, heute gar eine Nonne. Die ,Schwäschter‘ - das ist hier die Anrede, - trug mir eine Frage vor, die sie selbst wohl auch hätte lösen können, es mochte ihr wohl mehr daran liegen zu erfahren, wie wir uns den religi ösen Erziehungsanstalten gegenüber verhalten würden. Einer solchen, dem Kloster zu Lutterbach, gehört sie an. An geistlichen Anstalten für Herren und für Damen fehlt es hier nicht: wir haben im Kreise allein zwei Jesuitenhäuser, ein Trappistenkloster - schweigende Mönche -, und wohl alle Mädchen schulen auf den Dörfern befinden sich in den Händen von ,Schwäschtern‘. Ordnung und Reinlichkeit herrscht, wo sie walten, das muß man ihnen lassen. Bei jedem Besuche, den ich dem hiesigen Gefängnisse abstatte, ist es mir eine Freude, sie in ihrem rastlos emsigen und doch so stillem Schaffen zu beobachten.“ D. 14. Juni 1871. „Auf die Nachrichten über Radloffs Besuch bin ich sehr gespannt. Für den Papa muß es doch höchst ineressant gewesen sein, endlich einmal authentisches Mandschu zu hören.“ D. 23. Juni 1871. (auf Folioblatt), um „wenigstens im For mat zu entgelten, was Dein letzter Brief an Seitenzahl geleistet hat, Du musterhafte Schwester! Man hat Ehrenjungfrauen und auch ordentliche Jungfrauen: Dich sollte man zur korres pondirenden Jungfrau ernennen. Sonntag feierten wir auch hier das Friedensfest. Früh Gottesdienst: ein einheimischer reformirter Geistlicher predigte in sehr ,neutraler‘, wie mir schien taktvoller Weise. Sein Publikum bestand nur aus der Garnison und aus der Handvoll Deutscher Beamter, - nicht ein Einheimischer! Und unter den Zuhörern war das Urteil ein sehr geteiltes. Die Einen waren meiner Meinung, die Anderen sagten, die Rede sei nicht erhe bend sondern deprimirend gewesen: nur von dem Elend des Krieges, nichts von der Größe der Erfolge u. s. w. Ich ha be den Mann in Schutz genommen: soll man einem Elsässer zumu ten für diesen Krieg zu schwärmen, oder einem Geistlichen, Gefühle zu deklamiren, die nicht die seinen sind? und wenn man den Frieden feiert, was heißt das anders als sagen: Gott sei Dank, daß der Krieg zu Ende ist! Indiskret war, was er von Plünderungen und anderem Unfug sprach; hätte ein Lands mann unserer Garnison an seiner Stelle gestanden, so würde dieses Punktes schwerlich Erwähnung geschehen sein. Leider aber hat der Mann nicht Unrecht. Ein Anderes ist eben, was unsere Kriegsberichte melden, und ein anderes, was man ge legentlich zu hören bekommt, wenn eine Gesellschaft preussischer Krieger im vertrauten Kreise ihr ,benedicite‘ vergißt. Wa s offiziell und offiziös gelogen wird, übersteigt alle Begriffe. Die Erfolge des Krieges waren glücklicherweise derart, daß über sie im Wesentlichen nicht gelogen zu werden brauchte; was aber drum und dran hängt, die lieblichen Idyllen, die man uns vorerzählt hat: davon könnt Ihr getrost die eine Hälfte für er funden halten, ohne darum an die andere Hälfte zu glauben. Schade um die schönen Illusionen! Ich lese die Augsburger Allgemeine und einige Elsässische Zeitungen. Jene bestrebt sich wahr zu sein, und unsere inlän dischen Offiziösen dürfen nicht lügen, sondern müssen sich daran genug sein lassen, zu sagen, was ihnen paßt und zu verschweigen, was ihnen bedenklich vorkommt, die norddeut schen Offiziösen ziehen dann dies Gebräu über Zucker ab: und das gute Publikum jenseits des Rheines kann schließlich einen Deutschen Bea mten im Elsaß sich gar nicht anders vorstellen, als an jedem Arme einen neugewonnenen Landsmann schlep - Gabelentz_s001-344AK6.indd 110 12.07.13 16: 23 <?page no="113"?> 111 pend. Freilich ist auch Alles, was wir Pioniere des Deutschtums tun, ganz wundervoll: wir sind lauter Prachtexemplare der Weisheit, des Taktes und der Mäßigung, und die Leute empfinden die Segnungen deutscher Ordnung nach allen Di mensionen! Ja wohl! Der ehrliche Wille ist da. Aber wo findet man gleich die Beamten zu Schocken, die fähig wären, sich in ein paar Monaten in ein ganz heterogenes Verwaltungssystem hinein zu arbeiten, die Verstand genug hätten zu sehen wie man ihnen übel will, und Geduld genug, die Lust zur Sache und das Wohlwollen dabei nicht zu verlieren? Da kommen dann die guten Leute von Drüben herüber in das neu erschlos sene Paradies, und wenn sie sich ein paarmal die Finger und ein paarmal den Mund verbrannt haben, so gehen sie wieder oder werden auch wohl gegangen. - Was von Abenteurernatur in mir steckt, das ist jetzt eine meiner schätzenswertesten Ei genscha ften. Es ist nicht lange her, daß ich meinem Freunde v. Welck, damals in Vesoul, schrieb: ich überließe es Anderen, ihr Lieblingsplätzchen sans-soucis zu nennen, - das meine würde ich eher Qui - vive taufen. - Uebrigens hat meine Broschüren- und Flugblattsammlung bedeutende Fortschritte gemacht, und sie enthält bereits viel Confiscirliches.“ D. 4. Juli 1871. „Am Freitag fuhr Dr. Schultze nach Colmar und Straßburg, und ich hatte ihm aufgegeben, ein bischen für mich zu sondiren, ob ich Aussicht hätte Kreisdirektor zu wer den. Schultze hat dies vielleicht noch mehr treulich besorgt und mir gestern das Resultat mitgeteilt: Kreisdirektor könnte ich wohl werden, wenn ich mich dazu melden wollte; Neu-Brei sach und vielleicht noch ein Kreis im Oberelsaß sowie etwa ein halbes Dutzend im Niederelsaß und in Lothringen seien jetzt zu besetzen, und mir könnte es kaum fehlen; ein tüchtigerer Kreisdirektor als so mancher a ndere würde ich gewiß werden. Und nun sagte er mir zum ersten Male, wie er mich taxirt, in einer Weise, die mich sehr überraschte: ,Ein Geist wie der Ihrige muß sich in jeder Stellung bewähren; betreffs Ihrer darf man nicht fragen: welchem Posten genügt der Mann? sondern: welcher Posten genügt ihm? Der Geh. Reg. Rat Wiese hat mich schon gefragt, ob Sie nicht Professor werden wollten und es nicht begriffen, als ich das verneinte. ( - Wiese ist Referent für das Hochschulwesen im Berliner Ministerium). Eine Kreisdi rektorstelle kann Ihnen auf die Dauer nicht genügen. Sie haben da zuviel mit kleinen Fragen ohne allgemeines Interesse zu tun. Es wäre schade, wenn Sie Ihre Kräfte daran wenden wollten. Mir scheint, wenn Sie in der Verwa ltung bleiben wol len, so ist Ihr Platz an einer Oberbehörde, nicht blos an einer Präfektur, sondern gleich an der Elsaß-Lothringenschen Landesregierung. Von da aus können Sie dann einmal ins Reichsministerium kommen. Ein mir vorgesetzter Mann, den ich nicht nennen kann (der Präfekt? oder Generalgouverneur? ) war ganz meiner Meinung, als ich jetzt mit ihm sprach.‘ Daß Schultze, der sehr viel Selbstbewußtsein hat und die Bedeutung einer Kreisdirektion im annektirten Land gewiß nicht unterschätzt, nur so etwas sagt, gewissermaßen sich für mich eine Ambition macht, von der ich selbst nicht geträumt hatte: das mußte mich wohl wundern; und es hat mich gera dezu erschreckt. Wie soll ich in der kurzen Zeit für einen Wirkungskreis herangereift sein, wie man ihn in Sachsen geheimen Regierungsräten überträgt? Hat man maßgebenden Ortes wirklich vor, mich in dieser Weise zu befördern: so beruht das a uf Ueberschwenglichkeiten, und die Enttäuschung muß folgen. Da sitze ich dann, - sans comparaison - zwischen verschiedenen Heuhaufen: Kreisdirektor, Regierungsdezernent, sächsischer Assessor und, last, not least! Die alte Heimat mit Allem, was mir lieb ist. Nicht zu vergessen des guten Wiese mit der Berliner Professur - Kreisdirektor in einer anmutigen Ge gend des neuen Reichslandes zu sein, draußen herumzufahren - twåmannings med min u. s. w. -: das hätte für mich einen großen Reiz. Jetzt brauche ich nur zuzugreifen, und zaudere. Wahr ists, die lästigen kleinen Geschäfte bilden die Majorität. Aber gerade in ihnen kann ein Kreisbeamter viel zur Aussöh nung mit den neuen Zuständen wirken, und kaum irgendwo fällt die Persönlichkeit eines Beamten so ins Gewicht, wie hier. Dann aber gilt auch das Wort Ca esars: Lieber in einem Dorfe der Erste, als in Rom der Zweite! Hat man mich aber für eine höhere Carriere bestimmt, dann in Gottes Namen! Vielleicht bewahrheitet sich zum zweiten Male das Wort des Oberamt manns Flad; man hat mich einmal ins Wasser geworfen, und ich bin durchgewatet; wirft man mich nun in ein tieferes Wasser, so lerne ich am Ende noch das Schwimmen. Und allenfalls bleibt mir auch dann noch eine (? ) Kreisdirektorsstelle offen, wenn ich darum anhalte. Das Ganze beruht auf diskreten Mit teilungen und hängt noch in der Schwebe. Ich bitte Euch, es demgemäß zu behandeln, mir aber Eure Ansicht auszusprechen. Ein Definitivum wird vor Oktober nicht eintreten. - Entsinnst Du Dich noch, wie wir vor meiner Abreise sangen ,An den Rhein, an den Rhein, geh nicht an den Rhein! ‘ Da bin ich nun, zwei Meilen weit vom Rhein, und Prä fekt und Genera lgouverneur vertreten Nixenstelle an mir, und es werden mir Avancements vorgemalt, von denen die Nixen nicht einmal etwas verstehen, und - wie heißt gleich die letz te Strophe vom Liede? - Nun gleichviel! Daß ich Euch nicht durchgehe, wißt Ihr ja; die Frage ist nur, wann ich vom Rheintale nach Haus kehren werde.“ Gabelentz_s001-344AK6.indd 111 12.07.13 16: 23 <?page no="114"?> 112 (Das schwedische Zitat in obigem Briefe bedarf einer Erklärung. Es ist aus der Frithjofssaga, die Georg nach seiner ersten schwedischen Reise mir geschenkt und mit mir gelesen hatte, und bedeutet „zusammen mit meiner - “ eine Anspielung auf Georgs nachmalige Frau, die er kurz zuvor, bei den Truppendurchzügen auf dem Altenburger Bahnhof Erfrischungen verteilend, zum erstenmale gesehen und deren hervorragende Schönheit schon da einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte). Zwischen diesem letzten Briefe und dem nächstfolgenden liegt eine Reise, die die Eltern mit mir unternahmen, bei der wir auch Georg in Mühlhausen aufsuchten, mit ihm allerhand Fahrten in die Umgegend machten und auch seinen liebenswürdigen Kreisdirektor Schultze kennen lernten. Im mündlichen Verkehr kam allerhand zu Tage, was Georg der Post nicht [hatte] anvertrauen mögen. Als wir durch die Straßen von Mühlhausen gingen, zeigte er mir schmalere Gassen und sagte halblaut, daß es die Eltern nicht hörten: „In diese da dürfen wir Deutschen nach Einbruch der Dunkelheit nun nicht hinein, man würde doch immer einen gelegentlichen Schuß aus dem Fenster riskiren.“ In Schultzes Büreauräumen sahen wir denn auch die Stätte von Georgs Wirksamkeit, ein mäßig großes Z immer zu Anfang eines Ganges mit Blick nach dem Garten heraus. Schultzes Büreau lag am letzten Ende jenes Ganges, die Fenster so niedrig, - alles Parterre, - daß es ein Leichtes war, von dort in den Garten zu springen. Als wir mit Georg schwatzten, flog plötzlich durchs offene Fenster eine Hand voll Sand herein. Und ihr nach sprang Dr. Schultze. „Das ist mein Mittel, wenn Ihr Herr Sohn gar zu fleißig ist,“ erklärte er den Eltern, „dann ist dies das Signal, daß er zu mir in den Garten kommt, und dann ringen wir erst eine Weile mit einander, - sonst wärs ja nicht auszuhalten.“ In der Tat sagte Georg später, wie Alle, die er darüber gesprochen, von den dortigen Deutschen ihm bestätigt hätten: „ein paar Jahre Lebenskraft und Gesundheit haben wir in jenem aufreibenden Lande zurück gelassen.“ Besonders ärgerlich war der passive Widerstand, den die gut französisch gesinnten Maires der kleinen Landstädtchen der Deutschen Verwaltung entgegensetzten, „Maires, die, wenn man ihnen eine Verordnung zuschickt, anzufragen pflegen, ob denn dieselbe auch ausgeführt werden solle,“ schildert Georg sie unterm 16. Sept. 1871 - Bei der Arbeitsüberhäufung hatte Georg einen Unteroffizier zur Hülfe hinter sich stehen, den er als das Urbild dienstlichen Ernstes schilderte. Dieser schob ihm von links ein Schriftstück nach dem anderen hin, Georg sah es durch, schrieb eine Verfügung zum Ausarbeiten für die Sekretäre an den Rand, und der Unteroffizier zog es von rechts weg und legte ein neues an die Stelle. So war die Arbeit auch eines Tages eine Stunde lang schweigend und emsig gegangen. Oder doch nicht so ganz schweigend? Auf einmal bricht der Mann hinter Georgs Rücken in schallendes unstillbares Gelächter aus. „Ich war doch so nervös, daß ich zusammen fuhr! - ,Was haben Sie? ‘“ Und da habe sich der Mann entschuldigt, aber er hätte nicht länger ernsthaft bleiben können, ob der Herr Assessor denn nicht wisse, daß er seit einer Stunde ununterbrochen halblaut geflucht habe! Und Georg hatte keine Ahnung davon. Wer ihn aber kannte, wird sichs gut vorstellen können, die weiche, wohlwollende tiefe Stimme, der in solchen Augenblicken plötzlich hervorbrechende gut sächsische Dialekt, - für gewöhnlich sprach Georg völlig bühnenmäßig reines Deutsch, - und nun in ununterbrochener Folge Reden wie: „Na, was ist denn das wieder? Der Maire von Wässerling! Was mag denn dem Schweinehund nun wieder eingefallen sein“ u. s. w. Aber auch andre Erlebnisse kamen vor. Ziemlich entrüstet erzählte Georg, unter der französischen Herrschaft möchten ja nette Zustände geherrscht haben. Als es galt um die Zurücknahme einer - natürlich nötigen und wohlerwogenen - Maßregel zu petitioniren, - schickte man dem jungen Beamten dazu eine junge hübsche und elegante Dame zu. Georg empfing sie zwar, da ihm die Sache aber von Anfang an nicht gefiel und stark nach aufgestellter Falle aussah, so machte er sofort die Eingangstür hinter ihr wieder auf, „so daß die Sekretäre jedes Wort hören konnten.“ Einen Stuhl hatte er der Dame anbieten müssen. Mit dem war sie ihm allmählich näher gerückt, hatte am Ende, wie im selbstvergessenen Z ureden, ihm die Hand aufs Knie gelegt, - kurz, er war sehr wenig erbaut gewesen! Irgend eine dienstliche Veranlassung hatte Georg eines Tages hinaufgeführt zu dem unweit Mühlhausen auf dem Öhlenberge gelegenen Trappistenkloster. Der joviale kluge Abt, ein Holländer van der Meulen, hatte sich gut mit ihm unterhalten, und unsrer Mutter Vorliebe und Interesse für Klöster kennend, nahm uns Georg den einen Nachmittag dort hinauf. Einen andern Nachmittag fuhren wir nach dem wunderhübschen altertümlichen Gebweiler, einen dritten nach Wässerling, einen vierten nach Thann mit entzückender Kirche von Erwin v. Steinbach erbaut. Nach nicht ganz achttägigem Aufenthalt verließen wir Mühlhausen. Gabelentz_s001-344AK6.indd 112 12.07.13 16: 23 <?page no="115"?> 113 Aber auch Georgs Aufenthalt dort sollte nicht mehr lange währen. Unterm 16. November 1871 schreibt er mir. „Der Bericht des Präfekten (v. d. Heydt) lautete seiner Erzählung und meiner Erinnerung nach etwa dahin: Ich sei vermöge meiner weitumfassenden Kenntnisse, meines außerordentlichen Verstandes und meiner großen persönlichen Liebenswürdigkeit ein Mann, der jedem Kollegium zur Zierde gereichen werde. Für ein solches halte er mich aber meinen Anlagen nach für mehr geeignet, als für die Exekutivverwaltung, d. h. für die Stellung eines Kreisdirektors. Schultze, mit dem ich die Sache nachträglich besprach, versicherte mich, er habe sich in seinem Berichte über mich ganz so ausgesprochen, wie seiner Zeit mir ins Gesicht, (und wie ich es Euch damals geschrieben habe), nur womöglich noch günstiger. Wie er das fertig gebracht hat, verstehe ich nicht. - Seltsam, daß Ihr immer besorgter um mich seid, a ls ich. So jetzt die gute Mama mit meinen elsässischen Aussichten. Innerhalb der nächsten 8 Tage hoffe ich mir in Straßburg Auskunft zu erholen. Möglich, daß diese, mehr oder weniger verblümt, dahin lautet: „Sie haben Ihre Haut zu Markte getragen, Ihre Kräfte daran gesetzt, als es galt, die Dinge wieder in Gang zu bringen; Sie haben das Feld bestellen helfen, schönen Dank, Bundesbruder! Jetzt geht die Ernte an, da brauchen wir Sie nicht mehr dazu! “ Ist das der Sinn der Antwort, dann brauche ich mich nicht zu grämen, wenn ich dem Reichsdienste den Rücken kehre! Eine Schande ist eine solche Antwort nicht, wenigstens nicht für den, der sie empfängt! “ Georgs Vermutung sollte sich bestätigen. Es wurden binnen kurzer Zeit sämtliche Nichtpreußen aus dem Reichsdienst im Elsaß entfernt. Nur einige Baiern behielt man dort, (- wie man im übrigen Deutschland sagte, weil es nötig erschien, denen noch etwas den Hof zu machen). Georgs Abschiedsfeier in Straßburg zeigte, daß er viele warme Freunde zurückließ. Von allen auf ihn ausgebrachten Toasten erzählte er sei der hübscheste - der seines ersten Sekretärs, Siquet, gewesen, eines hervorragend tüchtigen und brauchbaren jüngeren Mannes, der im Namen seiner Untergebenen ihm gedankt und alles Gute gewünscht hatte. Von diesem Siquet - und in Verbindung damit von dem den Mittel- und Süddeutschen so wenig sympathischen Wesen der Preußen - erzählte Georg: „Ein Wort, das mir so la ng zum Halse heraushängt, das ist ,stramm‘. Was soll nicht alles mit der verfl. Strammheit gemacht werden, und wie gründlich versagt sie manchmal! Da war der Sekretär Siquet, ein Prachtmensch, glaubst Du, ich hätte es durchsetzen können in der ersten Zeit, daß der Kerl anders vor mir stand als kleinen Finger an der Hosennaht? Na, zuletzt hat ers eingesehen! Ist ja ein Unsinn! So lange Einer in dienstlicher Haltung vor mir steht, kann ich überhaupt nicht erwarten und nicht verlangen, daß er mir - die Wahrheit sagt und seine freie Meinung.“ - Ich möchte in diese rein historisch zu haltende Niederschrift keine auf die Gegenwart (ich schreibe im Oktober 1910) bezüglichen Betrachtungen einflechten. Aber nachdem in all den Jahren die deutschen Sympathien im Elsaß so wenig zugenommen haben, - nachdem die preußischen Sympathien im übrigen Deutschland, besonders in Mittel- und Süddeutschland, so zurückgegangen sind, liegt der Gedanke nahe: wie weit mag wohl an dieser großartigen Unbeliebtheit jenes deutschen Stammes schuld sein - eben jene Strammheit, die das im militärischen Dienst Erforderliche auf alle Civilverhältnisse ausdehnt, jene selbstzufriedene Art, die andre Meinung nicht hören, jene kulturelle Rückständigkeit, die nichts hinzulernen will! Mit der gewissen norddeutschen Schwerfälligkeit hatte Georg überhaupt keine Geduld. Einmal kam er, halb lachend, halb ärgerlich von der Bahn. Es war ein bitter kalter Wintertag, schneidender Ostwind. In Georgs Abteil hatte ein Norddeutscher dem Dialekt nach gesessen, der unaufhörlich gehustet und kein Halstuch um gehabt hatte. Georgen fällt ein, daß er einen alten dicken Wollschal im Handkoffer hat, er holt ihn heraus und sagt dem Fremden, er möge das - völlig wertlose - Ding annehmen und sofort umtun, es sei unverantwortlich von ihm, mit solchem Husten u. s. w. Schließlich hat ers denn auch durchgesetzt, daß der Mann den Schal annahm, - aber mit welchen Umständen und nach wie langem Herumkomplimentiren! Im Elsaß hatte er ein paar mal französisch sprechen müssen, da hatten die Leute über seine elegante Aussprache gestaunt und gefragt, wenn er Französisch so gut könne, weshalb er es dann so gar nie spräche, außer wenn ihn eben ein Stockfranzose anders nicht verstand. Da hatte er nicht ohne heimliche Malice geantwortet, eben deshalb - er fürchte sich im Elsaß seine gute Aussprache zu verderben! - Denn das dortige Französisch ist hart und garstig, das Deutsche wurde damals dort auch in den Städten recht viel gesprochen, - freilich dieses wieder nur in dem starken alemannischen Dialekt. Da hatte Georg dann öfter beobachten können, daß bei seinem Eintritt in ein Café noch das ganze Gespräch deutsch war, aber sobald seine auffallende lange Figur bemerkt wurde eilig ins Französische umschlug. Gabelentz_s001-344AK6.indd 113 12.07.13 16: 23 <?page no="116"?> 114 Wenig erfreulich war uns, als unser Vetter zweiten Grades, Paul Seebach, in Chemnitz Georgs Kollege wurde. Seebach war einer der zahlreichen Kinder [erstes von 13 Kindern] von des Papas Vetter Camillo Seebach, dem langjährigen gothaischen Minister. Ein begabter aber haltloser Mensch hatte er - ich weiß nicht was für dumme Geschichten gemacht und nach Amerika flüchten müssen. Nach ziemlich rasch eingetretener Verjährung kam er zurück, und des Vaters Einfluß verschaffte ihm eine Anstellung im Königreich Sachsen, in Chemnitz. Er hatte, naiv und verwandtschaftlich, Georgen gleich aufgesucht und dieser war anfänglich wenig erbaut, gerade dieses Exemplar seiner weiteren Familie dort zu sehen. Seebach hatte sich möglichst an ihn angeschlossen, Georg ihm aber gelegentlich in seiner vernichtend ruhigen Weise die Meinung gesagt: „Ich will Dir sagen, Seebach, wie Du bist: Du bist ein Mensch ohne Charakter, ohne Herz und ohne Ehrgefühl.“ Und Seebach hatte geantwortet: „Ich glaube, mit dem Herzen da tust Du mir Unrecht.“ Worin Georg ihm später auch beistimmte. Als aber der wirklich Begabte überraschend rasche Carrière machte, meinte unser Bruder Albert: „Na ja, es wird mehr Freude sein bei den Räten im Oberappellationsgericht über einen Seebach, der Buße tut, als über zehn gerechte Gabelentze, die der Buße nicht bedürfen.“ Nicht klar ist mir, ob es im Elsaß war, daß Georg die Bekanntschaft eines deutschen Juristen italienischer Abkunft, namens Marogna, gemacht hat. Ich habe den Herren nie gesehen, ihm aber von Ferne eigentlich mistraut. Er hatte Georg erzählt, daß er Beziehungen habe zu einer sehr hochstehenden Dame, mit ihr nicht direkt korrespondiren könne und Georgen gebeten die Briefe zu vermitteln. Ich habe Ich sehe, daß ich aus Georgs Chemnitzer Z eit etwas nachholen muß. Es muß schon damals gewesen sein, daß er in nahezu aphoristischer Form in die von Lazarus und Steinthal herausgegebene Zeitschrift (irre ich nicht „Blätter zur Kunde des Morgenlandes“, aber mir ist der Titel nicht ganz klar) seine „Ideen zu einer vergleichenden Syntax“ einschickte, die Steinthal „epochemachend“ nannte! Er war nicht umsonst früh aufgestanden! Und wo seine Bibliothek und Z eit nicht ausreichte, war ja Poschwitz zur Hand. Ich bekam Auftrag, in Brugsch’ egyptischer Grammatik nachzusehen, wo die alten Egypter Subjekt und Prädicat hingestellt hätten, was bald getan war. • Camillo v. Seebach 1808-1894; • Paul v. Seebach 1837-1873 Fotos: Familienbestand IV. Heirat. Dresden. Professor in Leipzig „Ideen zu einer vergleichenden Syntax“ - Paul Seebach - Marogna. Mosel. Welck - Georgs Verlobung - Hochzeit. In Dresden - Bei Victor v. Strauß. Urteil über Steinthal - Dresdner Verkehr - Georgs Arbeitsfähigkeit - Dienstlicher Verkehr - Albrecht geboren - Albrechts Taufe - Eine Professur? - Arbeit am Sing-li - Die „Ideen zu einer vergleichenden Syntax“ - Sprachen von Neu-Guinea - Teza - „il Campanile“ - Die Italienerin aus Ronneburg - Seine Hand in Gips - Mankiewicz - Der getäuschte Attaché - Professor in Leipzig - Schott schreibt - Besuch bei Schott und Steinthal - Weitere Studien - Endlich als Professor nach Leipzig - Schwierigkeiten der Antrittsvorlesung - Die zweimal verwertete Schönheitslinie - Georg besucht uns in Göttingen - Universitätsfragen - Aussichten der Sprachwissenschaft - Freude über die Uslarschen Bücher - Pläne für Windischleuba - Die chinesische Grammatik - Vergleich zwischen Sanskrit u. Chinesisch - Ich habe mich gesorgt, daß er einseitig würde - Die Zahl 13. Philosophische Lektüre - Juristische Reminiszenzen - Erfolge - Bericht über Albrecht - Ueber Wolf Erich. „Die Sprachwissenschaft“ - Der Canadier - Poschwitzer Jubiläum. Berlin Gabelentz_s001-344AK6.indd 114 12.07.13 16: 23 <?page no="117"?> 115 immer dabei den Verdacht gehabt, daß die Dame ein Vorwand und Marogna ein Spion war, der Georgs Diskretion und Unverdächtigkeit ausnutzte, - Gott verzeih mirs, wenn ich ihm unrecht tu, sagt Gretchen vom Mephisto. Zu den Chemnitzer Freunden gehörten noch ein auffallend kleiner Hr. v. d. Mosel und der witzige grundgescheute v. Welck, mein Brautführer bei Georgs Hochzeit. Im Herbst 1871 war Georg zu Besuch in Poschwitz. Und an des Papas Geburtstag, dem 13. Oktober, teilte er ihm mit, daß er den Wunsch habe, um die Hand Alexandras v. Rothkirch-Trach anzuhalten. Er ging zu mündlicher Besprechung zu ihrem Vormund, unserm Onkel Med. Rat Göpel, und es wurde verabredet, daß er am nächsten Tage, der ein Sonntag war, nach Altenburg in die Schloßkirche gehen solle. Fände er Alexandra dort, so solle dies das Jawort bedeuten. Er fand sie mit der Mutter in der Kirche und die Verlobung wurde veröffentlicht. Leider hatte die noch sehr junge Braut wohl mehr - sei es der eigenen Eitelkeit, so früh schon sich zu verloben - sei es dem Einfluß ihrer weltklugen Mutter nachgebend, - als aus wirklicher Neigung ihr Jawort gegeben. Nach den traurigen Ereignissen der späteren Jahre erinnerten wir uns daran, wie sie als Braut häufig absichtlich rücksichtslos gegen ihn war und kamen zu dem Resultat, daß sie damals ihren Schritt bereute, selbst nicht die Energie fand die Verlobung aufzulösen, aber wohl gehofft haben mag, Georg dazu zu veranlassen. Sie rechnete dabei nicht mit seiner philosophischen Langmut und nicht mit seiner blinden großen Liebe, die durch Geduld und Güte Gegenliebe zu erringen hoffte. Am 17. Okt. 1872 war die Hochzeit. Nach einer kurzen Reise an die Riviera zog das junge Paar in Dresden ein, wohin Georg im Lauf des Frühjahrs wieder versetzt war. Seine Briefe, in jener Z eit naturgemäß mehr an die Braut gerichtet, weisen vom 5. Jan. bis 25. Juni eine Lücke auf. Im Januar ist er noch in Mühlhausen und weiß noch nicht, wann er in die Heimat zurück kehren wird. Und im Juni hat er in Dresden die künftige Familienwohnung gemietet. Derselbe Brief berichtet von der Bekanntschaft mit Viktor v. Strauß & Torney, dem Uebersetzer des Schi-King, je- Alexandra v. Rothkirch-Trach • Schlosskirche Altenburg Gabelentz_s001-344AK6.indd 115 12.07.13 16: 23 <?page no="118"?> 116 nes uralten Liederbuches der Chinesen. Das junge Paar zog in Strauß’ Nähe und der Verkehr ward ein reger. Schon der nächste Brief vom 2. Juli berichtet: „an dem alten Victor v. Strauß habe ich einen ganz prächtigen Freund gewonnen. Die Abende, die ich in seinem Hause verbringe, er und ich lange Pfeifen rauchend, seine Frau daneben mit ihrer Handarbeit, - sind wirklich urgemütlich. - Steinthals Charakteristik der hauptsächlichen Typen des Sprachbaus habe ich nun glücklich durchgelesen, mit großem Interesse, mit Bewunderung des darin entwickelten Scharfsinns, aber ohne eigentliche Befriedigung. Er ist der ächte Berliner: ,In Bealin macht man es so; und wenn man es irgendwo anderst macht, so macht man’s falsch! ‘ Das übersetzt er für seinen Zweck so: ,Wir Semiten und Indogermanen stehen obenan, folglich ist der Bau unserer Sprachen der vollkommenste, folglich ist eine Sprache, die es anders macht, als Sanskrit oder Arabisch, ein Ding minderer Gattung.‘ So wird dieser semitische Indogermane bornirt.“ Auch mit andren und dem Ehepaar Köppel ward der Verkehr wieder aufgenommen, und der Briefwechsel mit dem in Mühlhausen zurückgebliebenen Marogna ging weiter. Bald kam auch noch eine weitere Familie in den engeren Verkehrskreis des jungen Paares, diesmal Verwandte, der langjährige russische Gesandte in Paris, Albin Seebach, unseres Vaters rechter Vetter, zog als alter Herr mit seiner klugen liebenswürdigen Frau, einer Tochter des Kanzlers Gfen Nesselrode, nach Dresden, und sie und die alten Exzellenzen Strauß waren häufig zusammen Gäste des jungen Paares. Es ist mir nicht klar, ob es bei diesem Dresdener Aufenthalt oder schon bei dem früheren war, wo Georg, wie wir Geschwister alle eigentlich ein Langschläfer, von seinem Chef wegen Spätkommens auf das Amt ermahnt wurde. Er hatte geantwortet damit: Seine Akten seien in Ordnung, es bliebe nie etwas liegen bei ihm, obgleich er (er war ein überaus rascher Arbeiter) eben so viel zu tun hatte wie seine Kollegen. Der Chef hatte aber gemeint, es ginge doch nicht wegen der anderen Herren, die sich so einbildeten, Georg bekäme nicht genug Arbeit zugewiesen. Darauf hatte Georg, dessen Geduld nicht überall lange vorhielt, entgegnet: „Dann bitte ich mir mehr Arbeit zuzuweisen, damit ich hier nicht müßig sitze.“ Darauf der Chef, der vielleicht auch nicht unbegrenzt geduldig war: „Das kann geschehen.“ Und Georg bekam ein größeres Ressort als die Anderen. - Und - brachte sich eine sprachwissenschaftliche Arbeit mit aufs Amt, weil ihm doch noch freie Zeit über blieb! Auch eine andre Erzählung, sicher aus Dresden, weiß ich nicht zu datiren. Georg hatte, wenn es einen extra Verstockten zu befragen gegolten, sich anfänglich absichtlich bequem und etwas gebeugt hingesetzt. Dann aber, wenn er gefunden hatte, daß es nötig sei dem Kerl zu imponiren, sich allmählich zu seiner ganzen Länge aufgerichtet und dadurch ein Erschrecken hervorgerufen, das dem Verhör zu statten kam. - Im Elsaß hatte er gelegentlich andre Saiten aufgezogen. Es war eine Volkszählung oder etwas Ähnliches angeordnet. Er war persönlich in ein paar der ersten Mühlhäuser Familien gegangen, hatte einen auszufüllenden Fragebogen mitgenommen und die Sache erklärt. Höflich, aber natürlich sehr zurückhaltend hatte ihn die Familie, - denn die Damen waren auch zugegen, - aufgenommen. Da hatte er sich am Ende an eine derselben gewendet, und sie gebeten die Arbeit zu übernehmen, „puisque les mains les plus belles sont ordinairement les plus habiles.“ Das war denn auch gut aufgenommen worden. Am 9. Oktober [1873] wurde Georgs erster Sohn in Dresden geboren. Da auch ich mich inzwischen verheiratet hatte und im nächsten Frühjahr meinem ersten Wochenbett entgegensah, so teilte uns Georg die Geburt mit in einer Depesche des Inhalts: „Kommen Dir einen Jungen“, worauf wir am nächsten 20. März ja auch in der Lage waren zu antworten: „Kommen Dir einen Jungen nach.“ - Es war dieses das • Albin Graf Seebach 1811-1884, Bruder von Camillo v. S.; • Marija Gräfin Seebach, geb. Gräfin Nesselrode 1820-1888, Frau von Albin Fotos: Familienbestand Gabelentz_s001-344AK6.indd 116 12.07.13 16: 23 <?page no="119"?> 117 Jahr (nicht Kalenderjahr allerdings) in dem unseren Eltern vier männliche Enkel geboren wurden: Im Frühjahr 1872 Hans Gabelentz, Alberts jüngster Sohn, im Herbst [1873] neben Georgs Ältesten unsrer Schwester Margarethe Schulenburg Jüngster [1872]. Bei der Taufe geschah das Seltene, daß drei Urgroßmütter Gevatter standen, und daß diese drei Schwestern (wenn auch die eine Stiefschwester) waren. Von dem Urgroßvater Seebach hatte nämlich die älteste Tochter einen Rothkirch-Trach in Schlesien geheiratet und war die Mutter von Alexandras Vater geworden, die dritte unseren Großvater Gabelentz, und die fünfte den Buchdruckereibesitzer Pierer, Herausgeber des Conversationslexikons, deren einzige Tochter die Gattin ihres Stiefvaters Rothkirch wurde. Unter den Pathen waren aber auch die Pathen von des Täuflings Mutter: Herzog Ernst von Altenburg und die Großfürstin Alexandra von Rußland. Der Januar 1872 brachte Georg die Versetzung von der Criminalin die Bagatellabteilung, sehr zu seiner Freude. Aber das Jus war eben doch nicht sein eigenstes Lebenselement. Unterm 18. März 1874 schreibt er mir: „Den Bürea udienst bekomme ich immer mehr satt. Geringer Gehalt, schlechtes Avancement, das hat man dafür, daß man 8 Stunden täglich sich pro bono publico - fürs gute Publicum - abmüht. Gelingt es mir mich in der Gelehrtenwelt bekannter zu machen als ich heute bin, so kannst Du mich noch umsatteln und auf einem Katheder der Leipziger Universität stehen sehen. Deutschlands größte Hochschule hat ja noch keinen Lehrstuhl der chinesischen Sprache, freilich kommt es dabei mit auf den Gehalt an, denn ewig mit 900 rt. [Thaler] fürlieb nehmen ist wider meine Grundsätze. Aber was gewänne ich an Zeit, und was könnte ich dann schaffen! Der Plan ist eben noch ein unreifer, aber er geht mir doch schon recht im Kopfe herum.“ Am 23. April 1874. „Wa rum ich lieber Profals Assessor sein möchte? Vor allem weil ich in der Studierstube mehr leisten würde wie auf dem Büreau, weil ich es fühle ,qu’on revient toujours à ses premiers amours‘, und daß ich mich mit der Jurisprudenz doch nur im Wege einer Vernunftheirat eingelassen habe, ohne daß die Partie irgendwie eine glänzende wäre.“ Im selben Briefe berichtet Georg über das Fortschreiten einer chinesisch-philosophischen Arbeit, das Sing-li, „etwa Wesen und Wirkung“. „In zwei, drei Jahren hoffe ich die Arbeit druckfertig zu haben, eine Ausgabe von Text, mandschuischer und deutscher Uebersetzung mit umfänglichen sprachlichen und sachlichen Commentaren, Register und Glossar, - ein Buch, das als erste Einleitung in das Studium der chinesischen Literatur nützlich werden soll. - Dir scheint mein Vortragstalent bedenklich zu sein. Nun freilich ,I am no orator, as Brutus is‘ aber wo ich bisher öffentlich zu reden gehabt habe, hat man mich gern gehört. Gewiß würde ich eine Professur nur unter günstigen pekuniären Bedingungen annehmen, - allein, habe ich mir erst meine Sporen verdient, so kann ich eine Anfrage beim hiesigen Kultusministerium schon riskiren; denn daß es nicht ,nobel‘ ist, wenn Deutschlands größte Universität keinen Lehrstuhl des Chinesischen hat und keinen für die wilden Sprachen - vulgo vergleichende Sprachwissenschaft besitzt, - das wird den Leuten wohl einleuchten.“ Am 17. Mai 1874. „Von meiner Syntax-Arbeit („Ideen zu einer vergleichenden Syntax“) habe ich den ersten Teil, 37 Seiten, im Drucke durch korrigirt. Die Redaktion hat sie a uf 2 Hefte verteilt, und die Separatdrucke werde ich wohl erst erhalten, wenn die ganze Abhandlung erschienen ist. Diese wird wohl über 80 Seiten füllen. Hoffentlich erweckt sie Kritiken, einerlei ob bei- oder abfällige; verteidigen will ich sie schon, und eine kleine Polemik könnte der Sache nur förderlich sein, würde ihr die Aufmerksamkeit des Publikums zuwenden. Eins gebe ich Jedem preis: Die Anordnung, oder, wenn es besser klingt, Unordnung der Kapitel.“ Am 4. Jan. 1875. „Jetzt, um die Jahreswende, bin ich amtlich so sehr beschäftigt, daß ich gegenüber allen linguistischen Beschäftigungen Diät halten muß. Sonst studire ich rüstig weiter. Das Schicksal hat mich auf Neu-Guinea geworfen. Professor Böhtlingk in Jena bat mich, die Collectaneen des russischen Reisenden Baron Miklucho-Ma clay herauszugeben. Einer meiner hiesigen Freunde besitzt anderes, reiches Material für einen Dialekt der eben erst erforschten Insel, das arbeite ich nun durch, - immer nur auf meinem Büreau -, um später etwas zu veröffentlichen. - Teza in Pisa ist mir ein lieber Freund geworden, ganz wie er es dem Papa war.“ (Unser geliebter Vater war am 3. Sept. 1874 gestorben). „Er muß ein ganz prächtiger Mann sein; ich gäbe etwas darum, wenn ich ihn persönlich kennen lernte! Leider kann ich hier, ohne die Poschwitzer Bibliothek, nur selten seine zahlreichen Nachfragen beantworten.“ - Professor Teza hatte sich, ich weiß nicht mehr in welcher Angelegenheit an den Papa gewendet, der ihm - wohl neben anderem Material - auch einmal meine Lepcha-Arbeiten mit geschickt hatte. Das hatte den Italiener so amüsirt, daß der Papa ihm nachher auch noch eine Photo von mir wenigstens zur Ansicht hatte schicken müs- Gabelentz_s001-344AK6.indd 117 12.07.13 16: 23 <?page no="120"?> 118 sen. Georgs Wunsch, den liebenswürdigen lebhaften Südländer persönlich kennen zu lernen, ging einige Jahre später in Erfüllung. Es war auf dem Orientalistencongreß in - irre ich nicht Turin, es mag aber auch Florenz gewesen sein. Georg war hingereist und hatte sofort von den Italienern den Namen il Campanile - der Glockenturm - bekommen. Er erfährt, daß Teza anwesend und fragt nach ihm. „Ecco il Teza! “ „Ecco il Gabelenze! “ rufts, - und, da sich die Sache auf den Stufen eines Universitätsgebäudes abspielt, - mit einem Jubelruf springt der überaus kleine Teza ein paar Stufen höher und fällt von dort Georgen auf gleicher Höhe um den Hals zu zärtlichster Begrüßung! Derartige auswärtige Kongresse hat Georg außerdem wohl nur noch einen in Holland - ich glaube im Haag - besucht. Er war dort in einem Privathause einquartirt, ein altes hohes Gebäude mit enger steiler Treppe aus weißgescheuertem Holz und mit so niedriger Decke, daß er sie nur auf allen Vieren kriechend ersteigen konnte. Aber seine weißen Glacéhandschuhe waren rein geblieben! - Da ich eben bei Reiseerinnerungen bin, so mag hier nachgeholt werden, daß - wohl 1860 - beide Brüder in einem oberitalienischen Städtchen in einer kleinen Gastwirtschaft der bildhübschen dunkeläugigen Wirtin um die Wette die Cour machen und italienisch radebrechen mit einem Eifer, wie ihn eine gute Sache allein giebt. - Als sie aber zwischendurch zufällig ein paar deutsche Worte wechseln und die Stadt Gera erwähnen, bricht die Wirtin im reinsten Thüringisch los: „Ach, sind die Herrschaften da bekannt? Ich bin ja aus Ronneburg! “ Ich kehre zurück zu der Dresdener Z eit. Der gesellige Verkehr wurde aus finanziellen Gründen nicht zu einer Vorstellung am Hofe ausgedehnt. Doch konnte eine so auffallende Schönheit wie Alexandra nicht unbemerkt bleiben. Und so hat sie einmal, als im Hoftheater zu einem mildtätigen Z wecke Bilder gestellt wurden, die Germania dargestellt, wozu ihre Größe und hellblondes Haar sie besonders geeignet machten. Viel Spaß machte es Georg, der daheim höchstens wegen der Höhe seiner Handschuhnummer geneckt worden war, daß ein Dresdner Bildhauer die tadellose Regelmäßigkeit seiner Hände bewundert und eine davon in Gips abgegossen hatte. Er hatte das mit Folgendem begründet: Wenn Georg seine Hand ruhig und mäßig gestreckt hinlegte und man dann durch die Längsachse jedes Fingers eine Linie zöge, so würden diese Linien in der Verlängerung alle fünf in Einem Punkt zusammen laufen. Eine große Stadt wie Dresden birgt auch gelegentlich etwas zweifelhafte Existenzen. So war - irre ich nicht durch eben jene lebenden Bilder, Alexandra bekannt geworden mit einer eben so bildschönen Brünetten, der Frau eines Bankiers Mankiewicz, einer geborenen Wienerin. Es kam zu einem Verkehr zwischen den Familien. Erst später hörte Georg allerhand abenteuerliches. Mankiewicz, in das schöne Mädchen bis zum Wahnsinn verliebt, war auf alle Bedingungen eingegangen, die ihr Vater, ein Wiener Jude, gestellt hatte. Und dieser hatte in den Ehekontrakt die sonderbare Klausel aufgenommen, daß Mankiewicz, falls er später wünschen sollte die Ehe zu lösen, dem Schwiegervater ein Reuegeld von einer Million (Mark oder Thaler? ) zahlen solle! Mark oder Thaler, er hatte vorgezogen sie nicht zu zahlen. Aber die Ehe blieb kinderlos, die Frau hatte einen schlechten Ruf und ihr ungezügeltes Wesen wurde auf körperliche Zwitterbildung geschoben. Alles das erfuhr Georg aber erst viel später. Z unächst genossen sie unbefangen den ganz unterhaltenden Verkehr. Eine eben so hübsche, noch unverheiratete Schwester der Mankiewicz kam zu Besuch und war eines Tages Georgs Tischdame, als er bemerkt, daß sein Gegenüber, ein junger Attaché, dem die Schönheit wohl auch gut gefiel, vorsichtig unter dem Tisch mit den Füßen eine Verbindung herzustellen sucht. Natürlich ist das Erste, was ihm begegnet, einer von Georgs stets weit ausgestreckten Füßen, und er fängt an, diesen zart und liebevoll zu streicheln - mit seinen Füßen. Georg ist aber so liebenswürdig wieder, und Alles geht gut bis zur „Gesegneten Mahlzeit“, wo Georg dem Unglücklichen zuflüstert: „Danke auch schön, daß Sie meinen Fuß so nett gestreichelt haben.“ Die Dresdener Z eit brachte Georg auch zwei japanische Bekannte, namens Terada, der aber bald heim reiste, und Imai. Seine Sprachstudien gingen weiter, er wurde bekannter. Im Mai 1875 berichtet er von einer Büchersendung, Geschenk von der Redaktion des Literarischen Centralanzeigers in Leipzig, nebst Bitte, Anzeigen darüber zu schreiben und die Bücher als sein Eigentum zu betrachten. Und im März 1876 ist seine Promotion zu der in Leipzig neu gegründeten Professur der ostasiatischen Sprachen im Gange und seine Habilitationsschrift über das Thai-Ki-tuh, die Tafel des Urprinzips, eine chinesische grundlegende philosophische Schrift, gedruckt. Brockhaus schreibt ihm darüber: „Ueber den Inhalt Ihrer Schrift erlassen Sie mir jedes Urteil, denn die Begriffe Yen und Yang sind mir von jeher ein Gräuel gewesen, und Tschu-hi Gabelentz_s001-344AK6.indd 118 12.07.13 16: 23 <?page no="121"?> 119 hat mich nicht günstiger dafür gestimmt. Aber Ihre Bearbeitung der grammatisch-syntaktischen Fragen scheint mir sehr gelungen und zweckentsprechend zu sein: auf der feineren Kenntnis der Partikeln beruht ja alle sichere Interpretation chinesischer Texte.“ Und Georg schreibt mir: „Schott, dem ich zuvor ausdrücklich geschrieben, Tadel bekomme mir besser als Lob, er möchte ja recht rücksichtslos und scharf urteilen, schrieb mir gestern: ,Was nun Ihre Arbeit über den Thai-Ki-thu betrifft, oder Ihre Auslegung desselben, so kann ich nach gewissenhafter Lesung mit gutem Gewissen versichern, daß mir auf diesem Gebiete etwas so Verdienstli ches selten vorgekommen ist. Man kann über Nebensächliches etwas andrer Meinung sein, aber das Wesentliche wird jede gerechte Beurteilung unberührt lassen müssen. Ich bedaure also, Ihnen die Freude nicht ma chen zu können, die ein ungünstiger Wahrspruch nach Ihrem Geständnis bewirken würde.‘“ Georg fährt fort: „Meine Promotion erfährt übrigens eine kleine Verzögerung dadurch, daß der mit Leitung des Geschäftlichen betraute Procancellar der Fakultät auf 14 Tage verreist ist. Bin ich erst Doktor, so scheint die Professur nur noch eine Frage der Zeit, abhängig davon, wann der Minister 6000 M. flüssig machen kann.“ Am 17. Mai 1876 schreibt Georg: „Ich war vor acht Tagen in Berlin um Prof. Schott zu besuchen. Der alte, noch sehr frische Herr ist ganz Liebe und Freundschaft für mich und sehr einverstanden mit meinen Bestrebungen. Prof. Steinthal, den ich auch besuchte, ein kleiner, höchst geistvoller, aber ätzend scharfer Jude, bot mir seine ,Charakteristik der hauptsächlichsten Typen des Sprachbaus‘, ein klassisches, vom Papa und mir gleich hoch gestelltes Buch an: ,Geben Sie es hera us, - es soll Ihnen ganz gehören, ich überlasse es Ihnen, machen Sie daraus, was Sie wollen, - ich wüßte sonst Keinen, in dessen Hand ich es legen möchte.‘ Um meine Professor-Aussichten steht es noch ziemlich faul. Tritt keine Vakanz ein, zu Deutsch, stirbt nicht etwa ein Mitglied der Fakultät, so kann sich die Sache bis zum Zusammentritte des nächsten Landtags 1878 hinausziehen.“ Am 21. Juni 1876. „Meine Gerichtsferien werde ich mit Alberts in Lemnitz und Münchenbernsdorf verbringen, - möglichst ruhig, da ich einer Erholung nach all den Strapazen bedarf. Gehäufte Amtsgeschäfte und dann das Bangen und Bangen um die Leipziger Affaire haben mich doch etwas angegriffen, und darum treibe ich es auch jetzt mit dem Studiren nicht allzu hitzig.“ Am 17. Mai 1877 ist er noch immer in Dresden. Er schreibt: „Mir kommt für meine Studien der Dispens von den Nachmitta gs-Büreaustunden sehr zu statten und ich arbeite tüchtig vorwärts.“ Er schreibt für Lazarus-Steinthals Zeitschrift eine Anzeige des Friedr. Müllerschen Buches „Grundriß der Sprachwissenschaft“, für die Zeitschrift der deutsch. morgenländ. Ges. eine Revue der chinesischen Grammatiken. „Bunter können“, schreibt er, „die Grammatiken einer und derselben Sprache nicht aussehen, als die zwanzig chinesischen. Die Aufgabe eine so absonderliche Sprache in den Rahmen einer Grammatik zu fassen, oder richtiger den grammatischen Rahmen für sie zu erfinden, ist eben eine ungeheuer schwierige. - Eine unschätzbare Acquisition habe ich am alten I. J. Hoffmann in Leiden gemacht; der alte Mann, unter den Japanologen etwa das, was Julien unter den Sinologen war, hat mich wunderbar ins Herz geschlossen. - Nächstes Jahr findet der interna tionale Congreß der Orientalisten in Florenz statt. Die Italiener haben mich dazu zum Delegirten ernannt und ich werde wohl hingehen.“ Am 1. Okt. 1877. - „am 24. d. Mts wird unser Landtag eröffnet, der dies mal für mich von ganz besondrem Interesse ist.“ Dies bezog sich auf die endliche Bewilligung seiner Professur, die er bald darauf antreten konnte. Am 6. Mai 1879 schreibt er mir: „Ich lese chinesische Grammatik dreistündig vor 3 Zuhörern und außerdem noch zweistündig privatissime zu Haus vor einem einjährig Freiwilligen, der gern in den Kursus mit eintreten möchte. Drei meiner neuen Zuhörer wollen die Consulats Karrière ergreifen, und sind mir daher auch für die nächsten 2-3 Jahre sicher. Von meinen Veteranen aus dem vorigen Semester sind nur noch zwei in Leipzig, nette, eminent begabte und fleißige junge Sprachforscher, die sehr häufig bei und mit mir verkehren. - Daß T. O. Weigel eine große chinesische Gra mmatik von mir zu haben wünscht, schrieb ich Dir wohl schon. - Meine Antrittsvorlesung macht mir viel Arbeit. Es ist ein heikeles Ding. Die Sprachwissenschaft in meinem Sinne wird von denen, welche jahraus jahrein indogermanische Laute vergleichen, nicht recht verstanden und eher angestaunt als anerkannt. Hier eine Verständigung herbei zu führen ohne Empfindlichkeiten zu reizen kommt mir geradezu wie ein Kunststück vor. Im Gespräche ist mir in dieser Richtung schon Manches gelungen; da konnte ich aber auch in leichterem Tone und unbefangener vorgehen. Wie sich die Sache auf dem Katheder der Aula ausnehmen wird, weiß der Himmel. Was sagst Du zu beifolgender Verwertung der Schönheitslinie à deux mains? Ich verfiel darauf durch folgende Schlußfolgerung: Eine Schönheitslinie muß nach beiden Seiten hin schön sein. Der untere Teil eines griechischen Profils ist schön: Gabelentz_s001-344AK6.indd 119 12.07.13 16: 23 <?page no="122"?> 120 sollte die Natur diese Linie nicht auch umgekehrt verwendet haben? Korrigierst Du die Zeichnung, so daß Nase und Oberlippe der Mutter erwas kleiner werden, so wird das Kinn des Kindes um so hübscher. Unser Kunsthistoriker, der berühmte Professor Springer, war ganz entzückt von der Sache und wünschte einen Aufsatz von mir darüber; aber ich war mich ,hiete! ‘ “ (Citat aus Sommers Rudolstädter Geschichten in „E narrscher Traum“) [Ich werde mich hüten.] Georgs nächster Brief brachte uns eine große Freude: die Anmeldung eines Besuches in Göttingen, wo wir damals - im Mai 1879 - lebten. Dieser Besuch verlief wunderhübsch. Georg machte in unserem Hause die persönliche Bekanntschaft Rudolphs von Ihering, dessen „Geist des römischen Rechts“ ein von ihm hoch verehrtes Buch war, eine Bekanntschaft, aus der sich eine interessante Korrespondenz entwickelte. Und bei einem kleinen Abendessen, das wir ihm zu Ehren gaben, hatte er alle Herzen gewonnen, - hatte auch die beiden geistvollsten Damen zu Nachbarinnen bekommen, die mir nachher von ihm vorschwärmten, Lenchen v. Bobers und die Hofrätin Meißner, Tochter Franzens v. Kobell. Am 17. Mai 1880 schreibt er mir über Universitäts- und damit zusammen hängende Fragen. „Meine beiden ältesten Zuhörer, Grube aus St. Petersburg und Uhle aus Sachsen, machten ihr Doktorexamen, Chinesisch als Hauptfach, - und bestanden glänzend. Beide wollen sich ha bilitiren, Beide vermutlich in Leipzig; für Uhle aber, der wenig eigenes Vermögen hat, will ich zunächst mit Dr. Rosts Hülfe ein Unterkommen in England suchen. Grube wird zunächst Neuchinesisch, Tibetisch und Mongolisch lesen und vermutlich für alle drei Fächer Zuhörer finden. Leipzig wird so die Hauptuniversität für allgemeine Sprachwissenschaft und soll dies unserem Plane nach immer noch mehr werden. Mit der Zeit wollen wir auch über Sprachen von anderen Stämmen lesen. Es gilt, endlich der Sprachwissenschaft in Humboldts und des Papas Sinne volle Geltung zu verschaffen. Die Indogermanisten mit ihren Lautvergleichungen bildeten sich ein, Linguisten par excellence zu sein. Solange Schleicher und Curtius dominirten, konnten sie den Schwarm der klassischen Philologen an sich fesseln. Solange das Sanskrit als älteste Spra che des Stammes eine unbestrittene Herrschaft ausübte, übte es eine mächtige Zugkraft aus. Alles das ist jetzt anders geworden. Die Indogermanistik macht eine wunderbare Mauser durch und rupft nachgerade mit wahrer Lust sich selbst ihre glänzendsten Federn aus. Sanskrit ist nicht mehr alleinige Wortführerin, und der Born seiner Literatur ist schon so weit erschöpft, daß die unermüdlichen Herausgeber schon oft recht fades Zeug mit abdrucken lassen. Mit den semitischen Studien steht es kaum besser. Auszubauen und zu berichtigen giebt es natürlich noch allerwärts; viel Neues aber kann, außer in den Keilschriften Assyriens, nicht mehr zu holen sein. Meine Kollegen klagen über die sichtliche Abnahme des orientalischen Interesses; mich aber entmutigt das gar nicht. Junge Leute werden immer lieber im frischen Grün weiden als auf dem Stoppelacker Aehren lesen.“ Am 12. Dez. 1880. „Denke Dir den Triumph. Eben hatte mir Börries die schönen Uslarschen Bücher geschenkt“ (eine Seltenheit, die Georg sich wünschte), „als die Berliner Bibliothek darum an Köhler schrieb. Da seht Ihr, was für Cabinetsstücke das sind. Von meiner chinesischen Grammatik habe ich drei Blätter Bürstenabzüge erhalten; den ersten Korrekturbogen erwarte ich täglich. Das Buch wird prächtig ausgestattet. - Meine Antrittsvorlesung wird nun in einiger Zeit in der Brockhausschen Revüe „Unsere Zeit“ erscheinen, Gabelentz_s001-344AK6.indd 120 12.07.13 16: 23 <?page no="123"?> 121 erweitert und abgeändert, sodaß aus der Gelegenheitsrede ein Essay geworden ist.“ Am 19. Mai 1881. (Wir hatten im September 1880 Windischleuba gekauft). „Der Bau scheint rüstig fortgeschritten zu sein, und mein Lieblingsgedanke, in dem ich mich oft wiege, ist Euch darin leben und hausen zu sehen, Euer Nachbar und wohl auch einmal Euer Gast zu sein auf ein paar Tage. Denn wohnen, mich einleben muß ich einmal in dem alten Gabelentzschen Gemäuer. Und wenn die Einrichtung fertig ist und Heiligenbilder und alte Schränke noch irgendwo für dritte Personen Platz lassen, so braucht Ihr nur zu winken und ich komme! “ (Der Plan wurde bestens ausgeführt. Georg wählte sich „das Zimmer mit der schönsten Aussicht“, die nach ihm benannte, hoch oben im Mittelbau belegene Professorenstube. Und da anfänglich auf einen zweiten Zugang zur Kammer Bedacht genommen wurde, so ließ mein Mann diese zweite Tür extra hoch und oben spitz zulaufend in die Fachwerkswand, nach der sog. linken Bodenkammer zu, machen). - „Als Publikum lese ich vor einem zahlreichen Auditorium eine gemeinverständliche Schilderung der chinesischen Sprache und Literatur und werde a llemal beim Beginn und am Schluß mit lauten Ovationen (nach hiesiger Sitte Getrampel) begrüßt.“ Am 30. Sept. 1881. „Die Abfassung meiner Grammatik eilt mit Riesenschritten ihrem Ende zu, und auch der Druck wird brav beschleunigt. Es wird aber auch Zeit, denn ich werde nachgerade der Sache herzlich müde und sehne mich nach andrer Arbeit. Jetzt empfinde ich an dem Buche die schwachen Seiten lebhafter als die starken; hoffentlich wird das anders, wenn es erst wohlgebunden fix und fertig auf meinem Tische liegt und mir andere Leute angenehme Dinge darüber sagen.“ Lemnitz d. 24. Aug. 1881. - „Da ein Koffer - erst vorgestern - eintra f - habe ich, Mangels eines Anderen, fleißig Sanskrit gelesen, ein großes Stück in die herrliche Nalas-Episode der Mahâbhârata hinein. Man kann sich kaum etwas Lieblicheres und Farbenprächtigeres denken als dieses Epos im Epos, aber auch kaum einen stärkeren und reizenderen Gegensatz als den zwischen dem wortkargen, scharfpointirten Chinesisch mit seinen wie Keulenschläge wirkenden Einsilblern und dem üppig malenden, redseligen Sanskrit, mit seinen hochschwellenden, volltönigen Formen. Und wie verschieden ist die philologische Arbeit! Hier fast Alles Gedächtniswerk, - dort fast Alles Sache des logischen Denkens, Beides ja in seiner Art sehr leicht und sehr schwierig, einander ergänzend, und wie lohnend, wenn man Beides besitzt! Für mich sind König Nalas und seine Damayantî eine wa hre Arznei gewesen gegenüber der aufreibend einseitigen Verstandesarbeit der letzten Monate.“ Leipzig d. 16. Jan. 1885. „Es war ein wunderhübscher Gedanke von Dir, mir so einen schönen ausführlichen Brief zu schreiben, einmal wieder so recht wie vor zwanzig Jahren! Wir könnten einander eigentlich so Etwas öfter leisten, unsere Mittel erlauben uns das. - Dir ist um meine Vielseitigkeit - Universalität nennst Du es gar, - bange; mir kann eher bange werden vor allzugroßer Zersplitterung. Davon merkst Du nichts, weil Du meine Artikel im Literar. Centralblatt, in Ersch und Gruber u. s. w. nicht zu sehen bekommst. Nun will ich Dir ein paar Sprachen aufzählen, die ich innerhalb der letzten Jahre mehr oder minder ausführlich betrieben habe: Kabylisch, Kaffrisch, Karne, Kassia, Karaibisch, Kamilaroi, Ketschua, Kirânti, Kiriri, Kolh und Sa ntal, Karnatta. Das ist doch immer etwas, und eben fallen mir noch Gorontalo und Nankowry - Nikobarisch ein. Ich zähle nach, nehme Kolh und Santal wie billig zusammen, und siehe da, es sind dreizehn.“ (Diese Zahl spielte in Georgs Leben eine auffallende Rolle. „Wenn ich etwas zu zählen unternehme, wird’s allemal dreizehn,“ erzählte er mir als junger Jurist. „Wieviel Akten habe ich druchgearbeitet? Wieviel habe ich noch daliegen? - allemal wenn ich zähle sinds dreizehn! “) „Du nennst das Chinesische“ (er arbeitete damals an seiner großen Grammatik) „eine anspruchsvolle Geliebte. Denke dir eher ich wäre ein Türke und das wäre meine Favorite. Die Hübscheste, Geistreichste, Interessanteste ist sie jedenfalls, und auch die Mitgift ist noch immer besser als bei den Anderen. Offen gestanden, muß ich mehr schreiben als mir lieb ist; gilt es a ber das Chinesische, so ist mir das Schreiben eine Lust. Die Sprache selbst ist so vielseitig und von jeder Seite betrachtet interessant - On revient toujours à ses premiers amours. Die letzte Zeit habe ich wieder fleißig Kuno Fischers Geschichte der neueren Philosophie gelesen. Aber ich habe nicht übel Lust, überhaupt mehr geschichtliche Lektüre zu treiben. Zu Weihnachten hat mir Sanny Strauß’s berühmte Geschichte Ulrichs von Hutten geschenkt, die wir in Lemnitz zusammen lesen wollen. Du siehst also, mit der Vereinseitigung ist es nicht so arg.“ Leipzig d. 16. Mai 1885. - „Vorhin kam mir eine juristische Reminiszenz, und das passirt mir jetzt öfter als seit Jahren, ich weiß selbst nicht warum. Es hat sich in den sieben Jahren, seit ich dem Richteramte Vale gesagt habe, so vielerlei von Grund aus geändert, daß ich mich schwer in die jetzige Gabelentz_s001-344AK6.indd 121 12.07.13 16: 23 <?page no="124"?> 122 Gabelentz_s001-344AK6.indd 122 12.07.13 16: 23 <?page no="125"?> 123 Rechtspflege hineinfinden kann, und das prickelt mich einigermaßen.“ Leipzig d. 3. Dezember 1885. - „Ich habe aus China hübsche Sachen bekommen: eine glänzende Besprechung meiner kleinen chinesischen Grammatik“ (er hatte neben der großen eine kleine verfaßt für Anfänger) „in der China Review, die Ernennung zum korrespondirenden Mitgliede der China Branch of the Royal Asiatic Society in Shanghai, endlich, von einem ehemaligen Zuhörer, ein chinesisches Bilderwerk in acht Heften, das in künstlerischer Ausführung Alles mir bisher bekannte seiner Art übertrifft. Bei der R. As. Soc. habe ich mich sofort durch einen Aufsatz: Some additions to my Chinese grammar, gelöffelt. - Neulich war meine Schwiegermutter hier. Wir gingen zusammen ins Café français, Sanny mit argen Unterleibsschmerzen. Meine Schwiegermutter wünschte von mir einen Klapphornvers 4 , und ich dichtete: ,Drei Knaben saßen im Café, Der einen tat der Bauch so weh, Noch gräßlicher der Andre litt, Er hatt’ die Schwiegermutter mit.‘“ Leipzig, d. 13. Sept. 1886. - „Albrecht ist munter, arbeitet mit mir Lateinisch und Griechisch und macht mir mit seinem klugen scharfen Geiste, seinen verständigen wissenschaftlichen Fragen und dann wieder mit seiner kindlichen Gemütsfrische und Zärtlichkeit viel Freude.“ Leipzig d. 16. Mai 1888. - „Gern hätte ich als Geburtstagsgeschenk einen kleinen niedlichen Confucius beigefügt; der ist aber noch nicht versandtfähig, und so mußt Du Deine fieberhafte Ungeduld noch etwas mäßigen. Wir haben wieder Sorgen mit unserm armen Jungchen, der vielleicht einer zweiten bösen Operation wegen Drüsengeschwulstes entgegen geht. Helfe der Himmel! Der liebe kleine Wurm ist ein rührender Patient mit seiner freundlich heiteren Art, wie er jede kleine Freude hinnimmt. Hoffentlich entschädigt ihn sein späteres Leben für eine so schwere Kindheit.“ 4 Damals beliebte vierzeilige Spottverse. - Diese Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Der im Juni 1884 geborene arme Wolf Erich ist Idiot geblieben. Durch Georgs Briefe ziehen sich rührende Berichte über kleine anscheinende Fortschritte des armen Kindes, deren Langsamkeit er natürlich sehen mußte, über deren Geringfügigkeit er sich aber jahrelang täuschte. - Lemnitz d. 25. Sept. 1888. „Wir hatten bis heute herrliches Wetter, ich leider seit acht Tagen argen Hexenschuß, der mir das Spazierengehen und Arbeiten gleichermaßen erschwert. Trotzdem habe ich fleißig weiter geschrieben an einem Buche: „Die Sprachwissenschaft, ihre Aufgaben, Methoden und Errungenschaften“, dessen Ende ich freilich noch nicht absehe. Es scheint aber gut werden zu wollen; wem ich Proben daraus mitteile, wünscht mir Glück dazu. - Voriges Jahr korrespondirte ein canadischer Gelehrter mit mir über Kindersprachen. Ich teilte ihm die wunderliche Spra che mit, die sich Alberts Georg gemacht hatte.“ (Nicht viel über ein Jahr alt, hatte er den Mond, da er das Wort nicht recht aussprechen konnte, als „Mum“ bezeichnet, was er sehr tief aussprach. Als er nun eines Abends eine Menge Sterne am Himmel entdeckte, rief er fröhlich und überrascht - und mit ganz hoher Stimme - „Mim, Mim, Mim! “) „Jetzt schickt er mir eine Abhandlung: The Development of Language by Horatio Hale, Toronto (Canada) 1888. Darin ist nach einer sehr schmeichelhaften Einleitung mein Brief ‚in his own happily worded English‘ abgedruckt. Der Canadier kennt wirklich Europas übertünchte Höflichkeit.“ Zwischen diesem Briefe und dem nächstfolgenden war eine kürzere Pause als leider sonst in jener Zeit Mode geworden: Georg lud uns am 6. Nov. zum 14. nach Poschwitz ein, wo er das Jubiläum des 500jährigen Besitzes feierte und gern möglichst alle Gabelentze versammeln wollte. Leider waren wir durch Bauarbeit in Apelern und ich noch extra durch schlechte Gesundheit am Teil nehmen verhindert. Gabelentz_s001-344AK6.indd 123 12.07.13 16: 23 <?page no="126"?> 124 V. Berufung nach Berlin. Lemnitzer Haus. Zweite Ehe. Tod Die Berliner Berufung - Abschied aus Leipzig - Das Lemnitzer Haus - Der Herbst 1889 - In Berlin - Fortsetzung seiner Briefe - Erstes Diner. Berliner Stimmungen - Ein Japaner in Poschwitz - Tätigkeit im Garten - Der Archipel - Gesundheitliches - Besuch in Göttingen - Essen bei Bobers - Fahrt nach Parensen - Lenchen Bobers schreibt - Verlobung und Hochzeit - In Poschwitz tätig - Wohnverhältnisse in Poschwitz - Bau des Berghäuschens - Felsentreppe und Gartenhalle - Die Inschrift von den Osterinseln - Gute Rezensionen - Die Osterinsulaner - Gertrud - Die koreanischen Hefte - Georg und die Indogermanisten - Was nicht in das Prokrustesbett paßt - Bericht aus Poschwitz - Herbst 1892 - Der Mama Tod - Umbau in Poschwitz. Hans Conon geboren - Urteil über die Mama - Der Löschke Flucht - Der Löschke frühere Flucht - Gesundheitliches - In Wildungen - Poschwitz und Hans Conon - Sein Buch über das Baskische - Poschwitzer Einrichtung - Wandsprüche in der „Halle“ - Sein letzter Brief - Sein Tod meiner Vermögenslage. Recht schwer wird mir aber doch der Abschied von Leipzig und Sa chsen. Die Frische des Dreißigers habe ich doch nicht mehr; ich begreife, was es heißt: Mein Lied ertönt der unbekannten Menge, Ihr Beifall selbst macht meinem Herzen bang! Und ganz das alte Leipziger Lied mag ich auch den Berlinern nicht vorsingen, und so giebt es allerhand vorzubereiten. Die Reise nach Schweden habe ich aufgegeben, erstens wegen Alberts Krankheit, zweitens weil mir Lemnitz Erholung und Berlin Anregung genug bieten wird, und drittens aus allgemeiner Tugendhaftigkeit. Morgen halte ich meine voraussichtlich letzte Leipziger Vorlesung. Dann habe ich Nachmittags noch einen Doktoranden Chinesisch zu examiniren. Uebermorgen fahre ich mit Albrecht Schulenburg na ch Lemnitz.“ Der Aufenthalt in Lemnitz fand nicht im dortigen alten Gutshause statt. Georg hatte sich bald nach des Papas 1874 erfolgtem Tode dort ein Häuschen gebaut [1884, Hrsg.], nach eigenem, überaus bequem und gemütlich erdachtem Plane. Es lag auf dem schmalen Stück Land, was oben auf dem Berge den Gutsgarten vom Walde trennt, hatte von den an verschiedenen Seiten angebrachten Veranden die reizendste Aussicht und war besonders behaglich zu bewohnen durch die eigne Art, wie die Zimmer gruppirt waren. Die Treppe mündete auf einen kleinen Vorplatz, der etwa 5/ 7 eines Achtecks darstellte. Und von diesem Achteck wurde fast jede Seite durch eine Türe gebildet, indeß die Zimmer, unter einander meist nicht durch Türen verbunden, lange ruhige Wände hatten, und um dieses in der Mitte liegende Achteck sich herum gruppirten. Georg verbrachte mit seiner Familie die Ferien größtenteils dort, genoß die schöne Luft und die herrlichen weiten Waldspaziergänge und hatte auch allezeit Platz für Inzwischen war an Georg ein Ruf nach Berlin ergangen. Durch den Tod des Sinologen Prof. Schott war die Professur des Chinesischen an der Universität erledigt, zugleich sollte Georg aber auch an dem orientalischen Seminar Vorträge halten. Der Ruf war ehrenvoll, aber die Sache zog sich infolge der Abwesenheit von allerhand maßgebenden Persönlichkeiten noch monatelang hin. Am 2. Juli 1889 schreibt mir Georg. „Du bist ungeduldig, den Ausgang meiner Berliner Angelegenheit zu erfahren. Ich auch. Es ist immer noch so etwas wie ein Mauserzustand, - nicht im Sinne des Mausergewehres, aber auch zum totschießen; ich meine ein Zustand, wo die Vögel nicht singen und die Professoren nicht schreiben. - - Statt am 6., hat erst am 27. Juni die Classenabstimmung über meine Wahl stattfinden können, die denn auch, was fast unerhört ist, einstimmig für mich ausgefallen ist. Nun wird aber die noch nötige, in ihrem Ergebniss nicht mehr zweifelhafte Abstimmung der Gesamt-Akademie erst in der nächsten Sitzung, am 25. d. Mts. geschehen, dann die Sache dem Ministerium, von diesem dem Kaiser zur Bestätigung vorgetragen werden und endlich meine formelle Berufung erfolgen.“ Am 31. Juli 1889. - „Meine Berliner Angelegenheit ist am 25. d. Mts. wieder um einen Schritt vorwärts gerückt. Das Plenum der Akademie ist dem Classenbeschlusse beigetreten, ich bin zum Mitglied gewählt und habe gestern meinen Lebenslauf an das Ministerium eingesandt, worauf Immediatbericht an den Kaiser und nach seiner Genehmigung meine Berufung erfolgen wird. Es wäre undankbar, wenn ich die günstige Wendung nicht als das hinnehmen wollte, was sie ist. Die höchste Auszeichnung, die ein Gelehrter von Seinesgleichen erwarten kann und für den Rest meines Lebens eine wesentliche Besserung Gabelentz_s001-344AK6.indd 124 12.07.13 16: 23 <?page no="127"?> 125 Logirgäste, zu denen in jener Zeit besonders häufig unser Schwestersohn, Albrecht Gf Schulenburg, gehörte, dessen sprachliche Interessen und Talente Georg mit großer Freude pflegte und der später gleichfalls als Privatdozent in München sprachwissenschaftlich tätig war, bis ihn, als er eben einen Ruf als ordentlicher Professor nach Göttingen erhalten hatte, ein allzu früher Tod dahinraffte 5 . Der Herbst 1889 brachte endlich die Uebersiedlung nach Berlin, - zugleich aber einen schweren Abschnitt in Georgs Leben. Unser Bruder Albert, der durch Jahre einen zunehmenden Verdacht mit sich herum getragen hatte, beschloß endlich Gewißheit zu erlangen, die ihm durch ein offenes Geständnis von Georgs Frau auch wurde. Er gab ihr Frist bis zu Ende des Monats (November) Georgen selbst das Geständnis ihrer Untreue zu wiederholen, da er andernfalls genötigt sei, ihm selbst davon Mitteilung zu machen. Die Scheidung ward eingeleitet, aber erst nach einem Jahre perfekt, da Georg in jener Z eit aus Leipzig fort und an die Berliner Universität kam, und die Berliner Gerichte derartig mit Arbeit überhäuft waren, daß zwischen den einzelnen Terminen Zeiträume von drei Monaten lagen. Das Weihnachtsfest dieses Jahres verlebte Georg bei uns in Windischleuba. Berlin brachte ihm eine erfreuliche Tätigkeit, begabte eifrige Zuhörer, die sich wohl alle inzwischen einen Namen in der wissenschaftlichen Welt gemacht haben. Besonders lieb war ihm unter diesen Albrecht Schulenburg, unsrer Schwester Margarete zweiter Sohn, ein ungemein für Sprachen begabter Kopf, dessen fließende chinesische Conversation mit einem Mitglied der Gesandtschaft, - im Chinesisch des nördlichen China gehalten, - Georg besonders amüsirte, da er selbst, der die Sprache im Canton-Dialekt erlernt, sich mit dem Herren nur schriftlich verständigen konnte. Am 29. Dez. 1890 schreibt er mir: „Ich weiß gar nicht, ob es gut ist, noch in den oberen Gymnasialklassen Religionsunterricht zu geben. Das Nötige hat doch Jeder vor der Confirmation gelernt,“ (hier rechnete Georg freilich mit Wagnerschem Unterricht und - unbewußt - wohl auch mit Gabelentzischem Gedächtnis), „und wenn es dann an die Augsburgische Confession und an die Kirchengeschichte geht, so üben die jungen Köpfe unreife, sehr negative Kritik. Zudem 5 Bleistiftanmerkung von Clementines Mann, Börries v. Münchhausen: „In Folge von Syphilis“. ist die Kirchengeschichte gerade das Gegenteil von erbaulich: viel schmutzige Wäsche, und nicht immer die beste Seife.“ Ich muß hier doch nachholen, was ich in dem Bestreben mich über Georgs erste Frau auszuschweigen bisher unerwähnt ließ, daß diese ein paar Jahre früher zum Katholizismus übergetreten war. Georg hatte ihr in der Zeit der vorhergehenden Kämpfe, - ihre Mutter faßte die Sache nur von der äußerlichsten Seite auf, - treu zur Seite gestanden und mit ihr die Bücher gelesen, die ihr der katholische Caplan geliehen. Sein Werk über die Sprachwissenschaft war in jener Zeit im Druck. Am 2. Jan. 1891 schreibt er mir: „Ich meinerseits werde nachwievor von Zeit zu Zeit in Gestalt von Druckbogen bei Dir antreten. Du bist eine dankbare Leserin, und ein bischen geht es mir doch mit meinen Büchern, wie Heine’n mit seinen Versen, ich träume von Engeln die um mich her sitzen und sie loben. Du bist so einer! Morgen Abend kehre ich nach Berlin zurück. Hoffentlich finde ich dort eine neue Sendung koreanischer Bücher vor. Die Sprache ist sehr schwierig, reizt mich aber sehr.“ Am 12. Febr. 1891. „Gestern gab ich meine zweite Gesellschaft, ein Souper zu 13 Personen, dazu Gebhard (unser Schwager Schulenburg), der aus Braunschweig extra hergekommen war, er und Neffe Ludwig v. Wangenheim (Sohn unseres Vetters Albrecht) die einzigen Nichtgelehrten. Dabei allgemeines Wohlgefallen, natürlich die anregendste Unterhaltung: der Geograph v. Richthofen, gütiger Leiher des Silbers und des Bedienten, - die Historiker v. Treitschke, Curtius und Lenz, die Indianisten Weber und Geldner, die Sprachforscher Joh. Schmidt und Grube, der Theolog Harnack, vielleicht der Interessa nteste von Allen. Hier herrscht eine seltsame Stimmung; man hat gar nicht Köpfe genug zum Schütteln. Wechsel in den obersten Ämtern, daß es nur so hin- und herflattert, selbst Goßler wackelnd, der Kaiser je länger je mehr sein eigenes Gesamtministerium, Kanzeler und Minister mehr ausführende Organe, man wird an Napoleon I. erinnert: Moi seul, je sais ce que j’ai à faire. Dabei einstimmige Bewunderung von dem vielseitigen, ernsten und tiefen Sinne und dem riesigen Willen.“ Am 4. März 1891. „Fahre morgen, den 5., zum 25jährigen Stiftungsfeste meines Altertumsvereins nach Leisnig. - Mein Buch soll in 3-4 Wochen zur Ausgabe gelangen.“ Am 25. März 1891. „Bei mir jetzt,“ (in Poschwitz) „außer Albrecht, ein Japaner, der eifrig in der Bibliothek studirt. - Im Garten viel getan, noch viel mehr zu tun, aber Unterbrechung der Arbeiten wegen Nachwinters. Daß Börries sich auf ein Gabelentz_s001-344AK6.indd 125 12.07.13 16: 23 <?page no="128"?> 126 ägyptisches „Schloß“ (Türschloß! ) „ebensogut verstände, wie auf das Windischleubaer“ (Gebäude! ) „hatte ich nicht erwartet. Mon divorce a été définitivement prononcé! S. s’est soumise. Elle a eu un rendezvous avec le petit le 23. Tout allait à merveille.“ Berlin d. 30. Apr. 1891. „Mein Buch wird nun wohl in nächster Woche herausgegeben werden und, wenn die Anzeichen nicht trügen, sehr bald vergriffen sein. Zur zweiten Auflage habe ich schon eine Menge Nachträge und Verbesserungen. Hoffentlich hält es, was es verspricht, und wird mir zur Goldgrube. Gerade in diesem Jahre kann ich eine solche sehr gut gebrauchen, denn der Pachtwechsel kostet mich viele Tausende. Albrecht Schulenburg ist bei mir, und ich habe meine Freude an ihm, er die seine an seinen Fortschritten im Seminar. In Poschwitz habe ich massenhaft gepflanzt, zumal Buntblättriges und Buntblühendes; es muß eine Pra cht werden. Der Archipel wird nun wohl auch bald fertig ausgegraben sein, aber besser erst in zwei Jahren bepflanzt werden. Gelingt die Anlage, so wird sie die Perle des Gartens.“ - Der „Archipel“ war der Name, den Georg einer von ihm angelegten kleinen Wasser- und Insellandschaft mit einer Anzahl von verbindenden Brücken gab, die er in einem früheren Teich, jetzt Sumpf im alten Teile des Parkes neben dem Stadtweg belegen anlegte. Uns erschien die Anlage, besonders da sie in einen so großen Park hinein gesetzt wurde, nicht großzügig genug. Der verfügbare Raum hätte nicht in so viele Kleinigkeiten zerlegt werden dürfen, die in der Art, wie sie sich drängten, ihn noch enger erscheinen ließen als er war. Es war mir in gewisser Weise psychologisch aber interessant: Georg hat nie uns gegenüber gesagt, daß er hier eine Nachahmung der chinesischen Gärten mit ihren wunderlichen Miniaturlandschaften beabsichtige, - die chinesischen Werke, die er studirte, waren auch wohl meist die ohne Illustrationen, wenn schon die Poschwitzer Bibliothek Werke beider Art in reicher Fülle enthielt, - aber ich habe die Ueberzeugung, daß es die fast ausschlißliche Beschäftigung mit Erzeugnissen des chinesischen Geistes war, wie Georg sich ihr seit einer Reihe von Jahren hingegeben hatte, die ihm selbst unbewußt, hier seinem Geschmack die Richtung gegeben hatte. Am 18. Mai 1891 schreibt er mir wieder aus Poschwitz. „Ich bin seit dem 15ten hier, bei schönem Wetter durch geschwollene Mandeln ans Zimmer gebannt. Derweile draußen der Garten, soweit es die Millionen Maikäfer erlauben, Alles im schönsten Stande, der Archipel seiner Vollendung immer näher rückend. Du wirst Dich doch freuen, wenn Du ihn siehst. Ich kenne kaum etwas Aehnliches, und dabei hat man doch den Eindruck, als könnte es gar nicht anders sein. Die Inseln werden nur um Weniges niedriger als das umliegende Festland. Der Pachtwechsel macht mir Not und wird für dies Jahr viel Geld kosten, das sich allerdings dann leidlich verzinst.“ Georgs Gesundheit fing an ihm gelegentlich Not zu machen. Am 12. Juni 1891 schreibt er aus Berlin: „Seit vorgestern Abend bin ich wieder hier. Mein Absceß vergeht langsam, verlangt aber noch große Vorsicht. Es war eine sehr angreifende Geschichte. Ueber vierzehn Tage fast nur von warmer Milch gelebt, dabei alle halbe Stunden heiße Leinenumschläge mit kilometerlangen Binden an meine rechte Kinnlade befestigt, eine Marter für meinen empfindlichen Kopf. Dazwischen habe ich doch sehr viel für die zweite Auflage vorgearbeitet, Alles in Allem wohl gut 30 Seiten Druck. Anerkennende, zuweilen entzückte Briefe erhalte ich von allen Seiten; an Widerspruch wird es aber auch nicht fehlen. Das viele Neue muß sich eben durchkämpfen und sich nötigenfalls Berichtigung und Zurückweisung gefallen lassen. Bange ist mir darum nicht.“ - Georg war ein durchaus für das Familienleben geschaffener Mensch. Der Wunsch sich wieder zu verheiraten fing an lebhafter hervorzutreten, und die solide Erziehung, wie sie der norddeutsche Adel seinen Töchtern giebt, ließ ihn wünschen sich in dortigen Kreisen umzusehen. Er sprach mit uns darüber. Wir waren noch nicht so lange aus Göttingen fort, daß nicht allerhand dort geknüpfte freundschaftliche Beziehungen noch in voller Wärme bestanden hätten, und so benutzten wir eine kleine Revisionsreise nach Parensen und Moringen, wie wir sie ziemlich jährlich zu machen pflegen, um zuerst in Göttingen alte Freunde aufzusuchen, und luden Georg, der Moringen und Parensen noch nicht kannte, dazu ein. Er kam mit fröhlicher Laune angefahren und machte unsre Besuche mit uns. Bei unsern lieben alten Freunden v. Bobers natürlich vor allen Dingen. Lenchen Bobers war eine jener beiden „klügsten Damen von Göttingen“, die wir ihm ein paar Jahre früher zur Tischnachbarin gegeben hatten. - Mutter Bobers, trotz ihres Alters frisch und unternehmungslustig, lud uns sofort zum nächsten Mittag ein. Einen zweiten Besuch machten wir bei der verwittweten Fr. v. Oldershausen, geb. v. Wangenheim, fanden sie zwar nicht zu Hause, wohl aber ihre jung verwittwete Tochter, deren liebliche Erscheinung sofort auf Georg einen Gabelentz_s001-344AK6.indd 126 12.07.13 16: 23 <?page no="129"?> 127 Gertrud v. d. Gabelentz, geb. v. Oldershausen, verw. v. Adelebsen 1858-1904 Gabelentz_s001-344AK6.indd 127 12.07.13 16: 23 <?page no="130"?> 128 Gabelentz_s001-344AK6.indd 128 12.07.13 16: 23 <?page no="131"?> 129 v. l. Gertrud v. Adelebsen geb. v. Oldershausen, Georg v. d. Gabelentz, Clementine v. Münchhausen geb. v. d. Gabelentz. In Parensen, September 1891 • Parensen 2012 mit dem heutigen Besitzer Ludwig v. Breitenbuch, Urenkel von Clementine v. Münchhausen. Das Haus erhielt einen Anbau, es wurde „um eine Stube“ erweitert, erkennbar an der weißen Linie. Foto: Christoph v. Breitenbuch Gabelentz_s001-344AK6.indd 129 12.07.13 16: 24 <?page no="132"?> 130 tiefen Eindruck machte. Bobers, die von diesem Besuch gehört, luden Frau v. Oldershausen, geb. v. Wangenheim und ihre Tochter für den nächsten Tag mit. Als wir am Vormittag etwas verfrüht uns bei Bobers’ einstellten, führte uns Lenchen ins Eßzimmer, uns die Tischordnung zu zeigen. Georg war zwischen die beiden alten Damen gesetzt. „Wollen Sie ihm nicht lieber an diese Seite Gertrud Adelebsen geben? “ sagte mein Mann. Lenchen Bobers sah ihn einen Augenblick scharf an, sagte blos „capisco“, - und legte die Zettel um. Am Nachmittag hatten wir die Fahrt nach Parensen und zurück geplant. Gertrud kannte es noch nicht. Es machte sich auf völlig unbefangene Art, daß wir sie aufforderten bei dem schönen Wetter die Fahrt im offenen Wagen mitzumachen, und sie sagte in völliger Unbefangenheit fröhlich zu. Wir hatten unsern neuen Apparat mit und machten im Garten von Parensen ein paar Aufnahmen, die noch vorhanden sind. Die Pächterin hatte Gertrud mit einem Rosenstrauß beschenkt. Als bei der Heimfahrt sich eine der Rosen zu entblättern begann, fing Georg ein Blatt auf, nahm mit der ihm eigenen Kaltblütigkeit seine Uhr heraus und legte es hinein, so offenkundig wie möglich. Gertrud in ihrer völligen Ahnungslosigkeit hatte dabei blos sich gewundert, daß Hr. v. d. Gabelentz sich so ein Andenken an ein Münchhausensches Gut aufbewahre! Wir konnten nun nicht gut länger in Göttingen bleiben, ohne allen andern Menschen das klar zu zeigen, - was Gertrud leider noch nicht bemerkt hatte! So nahm man Abschied. Georg war sich wohl klar über seine Gefühle, aber als Gertrud sie erfuhr, kam ihr die Sache zu plötzlich und überraschend, als daß sie sich hätte entschließen können. Am 9. Nov. 1891 schreibt mir Georg. „Mir geht es so làlà. Einen starken Katarrh“ (Georg pflegte den Schnupfen bairisch „Strauchen“ zu nennen und nahm ihn sonderbarerweise ernster, wie andre schwerere Erkrankungen.) „habe ich ziemlich übrstanden, - Anderes auch; das Ueberstehen scheint überhaupt zu meinen Specialitäten zu gehören.“ Aber schon stand eine erfreuliche Wendung seines Looses bevor. Lenchen Bobers, die treue, die unserm Hause sehr nahe stand, hatte ihren stillen Einfluß walten lassen und wenig Tage nach jenem 9. November schrieb sie mir einen frohen Brief, unterschrieben „Deines Bruders getreue Freiwerberin.“ Ich mochte Georg keine Stunde länger als unbedingt nötig weiter sich im „Ueberstehen“ üben lassen. Eine Depesche des Inhalts: „Brief von Lenchen Bobers erhalten, Saat vom September scheint nachträglich zu keimen“ oder so ähnlich ging sofort nach Berlin ab. Telegraphisch stellten wir mit Georg fest, daß ein Brief an Gertrud besser sein würde, als sein überraschendes Erscheinen, und er meldete sich - am 12. Nov. auf den 13ten Nachmittags bei uns in Hannover an. In meines Mannes Stube schrieb er den Brief, - mit einem Papierverbrauch, über den wir noch oft gelacht haben. Denn auf dem ersten Bogen hatte er sich verschrieben, - er, der sich nie verschrieb! - und den zweiten Bogen hatte er auf der letzten Seite zu beschreiben angefangen. Das Jawort kam, Georg fuhr nach Göttingen, und der 15. November brachte uns die Depesche: „Nur ein erstes, dankbares Lebenszeichen von Gertrud und Georg.“ Sein nächster Brief war überglücklich. Wenige Wochen später war die Hochzeit, in Göttingen. Ein überaus fröhliches Fest, die neuen Verwandten entzückt von Georg, in drollig liebenswürdiger Bescheidenheit sich darüber lustig machend, wie ein solcher Gelehrter in ihren durchaus ungelehrten Kreis geraten sei. Beim Einzug in Poschwitz ließen sichs die Bauern nicht nehmen vorzureiten. Georgs revanchirten sich durch einen Ball in unserm Gasthof in Windischleuba am 5. Januar 1892. Am 18ten desselben Monats bestellten sie uns, die wir damals in Hannover waren, zum Rendezvous beim Kronenball in Göttingen. Am 5. März [1892] starb unser Bruder Albert nach langen Leiden. Am 24. März schreibt Georg aus Poschwitz: „Wir kommen jetzt etwas in Verlegenheit mit unserer Berliner Wohnung, die, wie sich hera usstellt, bald zu eng werden wird und sich nicht so gut erweitern läßt, wie gewisse Kleidertaillen, die es wohl nun auch bald nötig haben. Hier giebt es viel Arbeit. Gertruds Zimmer wird eingerichtet. Der Teich ist geschlämmt, die Teichmauer erneuert. Der Archipel und die Felsentreppe werden fertig gestellt. Wahrscheinlich wird auch demnächst das große Gewächshaus nach meinem Plan in ein Gartenhaus umgewandelt. Nebenbei fällt mancher neue Brocken für meine Sprachwissenschft ab.“ Vorstehender Brief bedarf ein paar Ergänzungen. Nach des Papas Testament war Poschwitz der Mama zum Wittwensitz bestimmt. Wo die Mama in so hohem Maße Kräfte, Lebensarbeit und Baarvermögen in die Güter gesteckt hatte, entsprach dies freilich einem Gebot der Billigkeit, bedeutete aber Gabelentz_s001-344AK6.indd 130 12.07.13 16: 24 <?page no="133"?> 131 Gabelentz_s001-344AK6.indd 131 12.07.13 16: 24 <?page no="134"?> 132 doch eine Härte gegenüber Georg. Denn nun hatte Albert zwei Wohnhäuser, in Münchenbernsdorf und Lemnitz, und Georg gar keins. Albert hatte allerdings, wie mir Georg erzählte, bei der brüderlichen Erbauseinandersetzung Georgen angeboten Lemnitz zu übernehmen gegen Zuzahlung eines Kapitales von 30,000 M. Aber Georg war nicht darauf eingegangen. Sein Herz hing an Poschwitz, das, wie er der Familiengeschichte entnahm, überhaupt nach Altenburger Bauernrecht stets auf den jüngsten Sohn vererbt war, er hielt es auch wohl für noch wertvoller. Da er und seine erste Frau fühlen mußten, wie unwillkommen sie der Mama war, so hatte jene ihn schon seit Jahren bei seinen Besuchen zuhause meist nicht begleitet, eher die Kinder mit ihrer jeweiligen Pflegerin einmal zur Sommerfrische hingeschickt. Aber während Georg sich sein Arbeitszimmer in jenen Zeiten in jenem kleinen Zimmer neben der Bibliothek einrichtete, das früher unsres Vaters Schlafzimmer war, bekam das Ehepaar sonst nur eins der ja allerdings überall hübschen und gemütlichen Poschwitzer Gastzimmer als Quartier. Alle diese Umstände kamen wohl zusammen als Veranlassung in Frage, als Georg sich das früher erwähnte Berghäuschen in Lemnitz baute. Er wollte auf Gabelentzischem Boden ein Heim haben, wo er mit den Seinen sein konnte ohne das Gefühl, daß wenigstens Eins von ihnen dort nicht willkommen sei. Pekuniär betrachtet war dieser Bau für ihn ein Unsinn, - ich glaube zwar, daß Albert ihm das Holz dazu geschenkt hat, - ein Unsinn, über den die Mama mit Recht schalt (wenigstens uns gegenüber) ohne sich wohl ganz klar zu machen, daß sie selbst in ihrer offnen Art, eine bestehende Abneigung zu zeigen, zum großen Teil die Veranlassung dazu gegeben hatte. • Münchenbernsdorf, Federzeichnung von Clementine v. Münchhausen Original im Familienbestand Gabelentz_s001-344AK6.indd 132 12.07.13 16: 24 <?page no="135"?> 133 Ganz anders stand die Sache mit Georgs zweiter Frau. Die Mama zog endgültig aus ihren Räumen fort, wohnte zunächst im Sommer in dem großen Zimmer parterre, im Winter oben, zuletzt blieb sie einfach unten wohnen. Gertrud möblirte der Mama früheres Wohnzimmer mit den gedrehten Eichenmöbeln ihrer ersten Aussteuer. Die in Georgs Brief erwähnte Felsentreppe war in ihrer Anlage ursprünglich eine Schöpfung der Mama. Sie führte vom Fußweg nach Altenburg links herab, drehte sich nach links, um am Abhang zu bleiben, und hatte unten rechts einen Ansatz zu einer Grotte mit Steinbank. Ich kann mich eigentlich nicht entsinnen, daß man je da unten, feucht im Schatten, gesessen hätte. Aber Georgs Pietät fristete das Dasein der verfallenden. Den Umbau des ehemaligen Gewächshauses zur Gartenhalle hat er auch ausgeführt. Es ist ein sehr hübscher großen Raum geworden, geschützt und doch luftig, und Gertrud hat im Sommer so zu sagen darin gelebt und hatte stets ihr zweites Spinnrad mit dem Handtüchergarn unten stehen. Denn was sie oben spann war ganz fein zu Tischzeug. Im Mai 1892 schreibt Georg mir wieder aus Berlin. Z unächst etwas über eine Inschrift von den Osterinseln, was insofern auf einer irrigen Ansicht beruhte, als ich selbst unter einige der Bilder Punkte gemacht hatte, - so viel Punkte, wie Male sie sich wiederholten. D. 6. Mai 1892. „Du hast entschieden Recht! Die Schrift der Osterinseln ist eine Bilderschrift und zwar eine, die nicht einmal immer die Wörter zu trennen scheint. Die untenstehenden Punkte sind Zahlenangaben“ u s.w. „Die Osterinsel ist im ganzen polynesischen Gebiete die einzige, die Inschriften aufweist, das ist auffällig; denn stammen die Denkmäler nicht von Polynesiern, von wem stammen sie denn? “ Georgen war hier nicht gegenwärtig, daß auf der Osterinsel auch große Steindenkmäler sich befinden (jene Inschriften sind auf Holztafeln) von einer Gesteinsart, die in ganz Polynesien nicht vorkommt, wohl aber in Südame- • Turmzimmer in Poschwitz mit Sammlungsschrank und gestickten Stühlen. Foto: Familienbestand Das Turmzimmer in Poschwitz mit den von Henriette v. d. Gabelentz geb. v. Linsingen gestickten und meist von H. Conon v. d. Gabelentz vorgezeichneten Möbeln mit beider Stammbaumswappen Originale Bildunterschrift Gabelentz_s001-344AK6.indd 133 12.07.13 16: 24 <?page no="136"?> 134 rika, und die so groß und schwer sind, daß ein Transport auf Kanus ausgeschlossen erscheint und die Osterinsel eher als letzter Berggipfel eines untergegangnen Continents anzusprechen ist. „Neffe Georg (Gabelentz) und Curt O. (Oldershausen, Gertruds Bruder) sind oft des Abends bei uns. Ich habe natürlich viel zu tun und finde immer Neues für die zweite Auflage meines Buches. Jetzt kommen auch die Rezensionen häufiger, alle lobend, oft ganz überschwänglich lobend, nirgends angreifend, berichtigend oder auch nur ergänzend. Aber sie fördern den Vertrieb des Buches; und schließlich hört man es doch immer gern von Neuem, daß man was Gutes geschaffen hat.“ Am 8. Mai 1892. „Also die Punkte waren von Dir? Hmmmm! Es hat einmal wieder gebrummt! Jedoch, an diesen Ton von Jugend auf gewöhnt - - Nun also, da war es mit meiner Weisheit nichts.“ Das „Brummen“ war eine stehende Neckerei Georgs mir gegenüber noch aus meiner Backfischzeit her. Er behauptete, meine Dummheit sei so groß, daß sie zuweilen ein brummendes Geräusch mache. Es brummte z. B. stets, wenn ich ihm nicht oft genug schrieb. Nach vielen Jahren brachte er den alten Scherz hier wieder an. „Von beifolgendem Buch mußt Du doch auch nach altem Brauche ein Exemplar haben. Der Verleger hat mir zehn Prachtexemplare binden lassen. Gestern teilte mir das Auswärtige Amt mit, daß ich zum Danke nächstens 58 koreanische Bücher, 102 Hefte, erhalten soll. Da giebt es wieder viel zu tun; denn die Sprache bietet heillose, zumal theoretische Schwierigkeiten. Die Osterinsulaner sind Polynesier. Ihre Sprache steht den übrigen nicht ferner, als diese unter einander. Ob sie noch Wanderungssagen und Häuptlingsgenealogieen haben, wie die anderen, weiß ich nicht. Waren die Bildhauer und Inschriftenverfertiger anderer Rasse, so müßte man die Meeresströmungen nach deren möglicher Herkunft befragen. Ideographische, in Zeilen geschriebene Texte zu Rezitationen und Gesängen finden sich auch bei den nordamerikanischen Indianern. Solche Schriften sind natürlich nicht entzifferbar; jeder Versuch sie zu enträtseln, wäre Zeitvergeudung. Ich möchte aber wohl bei Euch gewesen sein, als Ihr Euch die Köpfe zerbracht. Wie hübsch die Eigenart der Einzelnen dabei hervortritt! Mein armer Schatz hat wieder böse Tage und zumal böse Nächte, und dabei kommt nun ihre Eigenart erst recht zur Geltung. Ihr könnt loben, soviel Ihr wollt; ein bischen besser a ls all Euer Lob ist der Engel noch immer! Ich muß so oft wieder an jenen 20. September und an den Besuch in der Karspüle [Straße in Göttingen] denken, wie mir da mit einem Male einleuchtete, wo ich mein Glück zu suchen hätte. In Poschwitz war es eine Freude zu sehen, wie sie und Cle (Carlowitz-Hartitzsch geb. Carlowitz-Maxen) einander auf den ersten Blick nahe rückten, und mit Margarethe war es fast noch auffälliger; die war geradezu strahlend über die neue Schwägerin. Et sic de ceteris: Marga, die liebe alte Ziegesar, Große, Pastor Wagners und meine hiesigen Freunde. Gertrud wundert sich über die vielen guten Menschen und begreift gar nicht, was sie alle an ihr haben. Nun habe ich Dir aber viel mehr vorgeschwärmt, als es einem Ehemann im fünften Monate ansteht. Es ist aber auch nur für Dich, und Du freust Dich doch mit, alte gute Schwester.“ Am 16. Mai 1892 erwähnt Georg zunächst nochmals die 102 koreanischen Hefte, „ein Gegengeschenk für mein ,Handbuch zur Aufnahme fremder Sprachen‘. Eine nicht viel größere Sammlung hat das British Museum vor einem Jahre für Tausende erworben; ich komme zu der meinigen gratis! Nun giebt es aber zu tun, denn die Sprache ist heidenmäßig schwer. Rezensionen meiner Sprachwissenschaft sind auch wieder zwei oder drei eingegangen, darunter die erste, von der ich wirklich etwas lerne, von Prof. H. Oldenburg in Kiel (Ztschr. für Deutsche Philologie XXV, Heft 1). Der Indogermanist begreift es nicht, daß ich nicht die Gesetze und Methoden der indogermanischen Forschung mit Haut und Haaren verschluckt und weltbeherrschende, gemeingültige wieder von mir gegeben habe. Verzeihe das pastöse Bild.“ • Gartenhalle in Poschwitz Foto: ThStA Gabelentz_s001-344AK6.indd 134 12.07.13 16: 24 <?page no="137"?> 135 Georg gebrauchte einmal den Ausdruck: „Sie (d. h. die Indogermanisten) wollen eben jede Sprache in das Prokrustesbett der indogermanischen“ (Lautverschiebungsgesetze? oder Grammatik? ) „spannen“. - Beides ist untunlich. Aber wohl ein Irrtum, in den Leute leicht verfallen, die eben nur in ihrem abgeschlossenen Spezialstudium zu Hause sind. Dieses Prokrustesbett ist aber eben für viele andre Sprachstämme ein Unding. Im Lateinischen kann man die Worte eines Satzes durcheinander mischen wie die Spielkarten, ihre flektirten Endungen weisen immer noch jedem seine Stelle an. Das Chinesische, dem die Flexionen fehlen, hat eine so zu sagen eiserne Syntax, die jedem Satzteil seinen unverrückbar festen Platz anweist. Davon braucht freilich ein Indogermanist nichts zu wissen. Ebensowenig von den wunderlichen Infixen, durch die gewisse nordamerikanische Indiander Dinge wie „dürfen, mögen, sollen, wollen“ in die Mitte des Verbums hinein setzen. Ebensowenig von den ganz unverständlich wunderlichen Lautverschiebungsgesetzen, durch die Georg gerade in jenen Jahren das Dunkel erhellte, was bisher über der baskischen Sprache gelegen hatte, und sie den Sprachen der nordafrikanischen Berberstämme zuwies. Wer auf alle nicht-indogermanischen Sprachen die Gesetze anwenden will, die nur aus diesen Sprachen heraus als Gesetze entwickelt worden sind, muß ja in Irrtümer geraten. Aber es giebt leider zu allen Zeiten Gelehrte von der Sorte, die Goethe so genau schildert: Was Ihr nicht tastet, steht Euch meilenfern, Was Ihr nicht wägt, hat für Euch kein Gewicht, Was Ihr nicht münzt, das, meint Ihr, gälte nicht. Am 16. Juni schreibt Georg wieder aus Berlin, berichtet aber über einen Besuch zu Pfingsten in Poschwitz. „Poschwitz präsentirte sich reizend in der Frühlingspracht. Die Mama ziemlich munter, Frl. Boehlke“ (meiner älteren Schwestern Erzieherin, 1849 im Herbst in unser Haus gekommen) „bei ihr; Albrecht im Besitze recht guter Censuren. Felsentreppe und Archipel mit fünf Brücken fertig, ebenso, bis a uf den Anstrich, das Gartenhaus, das wohl im Herbste Gertrud sehr zu statten kommen wird. Ich freue mich, das unbrauchbar gewordene Gewächshaus so zu Ehren gebracht und damit die alte Physiognomie von Poschwitz erhalten, nur aufgefrischt zu haben. Die Büchersendung aus Korea, die mir das Auswärtige Amt schenken will, erwarte ich seit Wochen sehnsüchtig. Derweile bereite ich eine Vergleichung des Tibetischen mit dem Siamesischen vor. Mein ‚Handbuch‘ wird in der Presse gut aufgenommen. - Sonnabend den 25. habe ich in Halle ein Examen abzuhalten, freue mich darauf, meinen alten Freund Droysen wiederzusehen, werde aber nur einen Tag an die Tour wenden. Sonst bin ich immer hier. Führt nun Euch nicht einmal eine große, edle Regung nach Berlin? Dich habe ich an meinem Hochzeitstage zum letzten Male gesehen. Gertrud darf jetzt nicht ohne dringende Ursachen reisen.“ - Das nächste Wiedersehen für uns machte sich ein paar Monate später in Windischleuba, wohin mein Mann und ich zu kurzem Besuch nur kamen, da in Hannover ein großer Haushalt und fünf schulpflichtige Kinder nicht ohne weiteres mobil zu machen, aber auch nicht lange allein zu lassen waren. Was schließlich uns überraschend schnell abreisen ließ, entsinne ich mich nicht mehr. Aber am 4. Sept. 1892 schreibt Georg: „Wir Alle sind ganz Paff über Eure Heim- und plötzliche Abreise. Die Mama, die sonst heute recht aufgeräumt ist, läßt • Henriette v. d. Gabelentz geb. v. Linsingen. 1883 oder 1884 von E. Winterstein gemalt. Von A. v. Vogel aufgenommen im Heimatmuseum Triptis Gabelentz_s001-344AK6.indd 135 12.07.13 16: 24 <?page no="138"?> 136 Euch das sagen und hinzufügen: nun müßtet Ihr es schnell gut machen und eben so plötzlich wieder herkommen; es wäre, mit Winterstein 6 zu reden, jetzt in Windischleuba wie unbemalte Leinwand.“ Wir sollten in der Tat bald wieder kommen! Während der kurzen Michaelisferien mit den Kindern in Apelern gewesen, waren wir eben mit Ferienschluß am 18. Oktober nach Hannover zurückgekehrt, - ich entsinne mich noch, daß ich sehr elend den ganzen Tag gewesen war, - die Rückkehr nach Hannover wurde mir ja immer sehr schwer, - und dazu kam, daß ich in der Nacht von einem unklar gebliebenen Traum erschüttert, in Thränen gebadet am Morgen aufgewacht war, - so lag ich Abends halb besinnungslos von nervösem Kopfweh auf der Chaiselongue, als eine Depesche gebracht wurde, die den Tod der Mama - ganz unerwartet und sanft an Altersschwäche - meldete. Ich reiste natürlich, ebenso wie mein Mann, sofort nach Windischleuba zurück, habe aber die Mama nicht wiedergesehen. Georg hatte am Morgen unseres Ankunftstages den Sarg schon schließen lassen. So ist meine letzte Erinnerung an sie der unsäglich wehmütige Ausdruck, mit dem sie mir nachblickte, als wir uns wenige Wochen vorher von ihr verabschiedeten und ich ihr beim Hinausgehen von der schon geöffneten Tür aus noch ein letztes mal zunickte. Georg mußte nun bald nach Berlin zurück, ließ aber Gertrud in Poschwitz, wo ihre noch jugendlich rüstige Mutter ihr Gesellschaft leistete. Sein nächster Brief vom 8. November berichtet über eine bauliche Veränderung in des Papas Z immern, die er wohl schon länger gewünscht, aber bei Lebzeiten der Mama nicht hatte ausführen mögen, Fortnahme der halben Wand zwischen Wohn- und Vorzimmer, einsetzen eines Rundbogens an dieser Stelle und Umtausch einiger Oefen. Am 10. November meldete eine Karte, daß ein gesunder Junge glücklich geboren sei. Zur Taufe konnten wir leider nicht nach Poschwitz kommen, meine Gesundheit war in jener Z eit gar nicht gut und besonders meine Nerven völlig herunter infolge gehabter Aufregungen. In Beziehung auf allerhand Unklarheiten in Aeußerungen der Mama, aus denen dann Fragen bei der Erbauseinandersetzung entstanden, schrieb mir Georg am 31. Jan. 1893. „Wie mir es gegangen ist, weißt Du! Früher habe ich es 6 Erhard Ludewig Winterstein (1841-1919), Maler. Er hat Personen der Familie v. d. Gabelentz gemalt, auch das große Portrait von Georg, das in Leipzig hängt. oft bitter empfunden; jetzt ist es begraben; denn gut gemeint hat es die arme alte Mama doch immer. Sie hatte nicht immer eine glückliche Hand. Einmal wie sie in bester Absicht einen sehr verfehlten, verletzenden Brief an die alte Konsistorialrätin Wagner geschrieben hatte und darauf eine sehr gereizte Antwort erhielt, sagte ich ihr: ,Du bist ein Teil von jener Kraft, Die stets das Beste will und oft das Böse schafft.‘ Das gefiel ihr, sie hat es gleich an die Wagner geschrieben. Es sich oder Andern leicht zu machen, war ihr nicht gegeben. Aber sich selbst hat sie am Allermeisten gequält, und wie hat sie sich um uns gesorgt. Die härteren Züge sind in meiner Erinnerung ganz verschwunden; ich sehe das arme wehmütige alte Gesicht, das in der letzten Zeit oft so kindlich war. Vielleicht bin ich auch jetzt gerade weicher als sonst gestimmt, obschon im Uebrigen die Aussicht a uf die garstige Steinoperation nichts weniger als deprimirend auf mich wirkt. Es kommt aber doch viel zusammen. Seit acht Tagen bin ich Strohwittwer. Unter uns hatte ein Kind den Keuchhusten, da riet der Arzt Gertrud dringend, Hans-Conon in Sicherheit zu bringen vor einer Ansteckung, die in seinem Lebensalter tödlich sein würde. Sie ist also nun in Göttingen bei ihrer Mutter, schreibt mir täglich und Gott Lob immer nur Gutes. Die beiden lieben Schätze vermisse ich aber doch. Eine andre Flucht, ohne mein Wissen und Wollen, hat die Löschke mit Wölfchen bewerkstelligt, eigentlich eine Entführung. Sie wollte und sollte mit ihm nach Klein-Klitzschmer bei Delitzsch zu ihrer Schwester gehen, bis der Junge nach Langenhagen gebracht würde. Da erfahre ich, daß sie seit drei Wochen in Dresden bei der Hänel-Clauß sitzt! “ (Georgs erste Frau hatte sich mit einem Herren dieses Namens wieder verheiratet.) „Jetzt handelt es sich darum, das Kind hera us zu bekommen. Erstens muß ich für alle Fälle marschbereit sein, ehe ich in die Klinik gehe; und zweitens darf ich dann durch keinerlei Sorgen und Widerwärtigkeiten gestört werden. Lägen bei mir die Dinge anders, so würde ich mit der schärfsten Zange zugreifen.“ Der obige Satz erfordert eine Erläuterung. „Wölfchen“, Wolf-Erich - war das zweite Kind aus Georgs erster Ehe, ein armer Idiot, dessen Geburt die kurz vorher zum Katholizismus übergetretene Mutter als einem besonderen „Gnadengeschenk der allerseligsten Jungfrau“, wie sie es uns gegenüber bezeichnete, entgegen gesehen hatte! Sie hatte sich im allgemeinen wenig genug um das arme Kind bekümmert, es lag ihr aber wohl daran, einen Grund zu weiterem Verkehr mit Georg, resp. zu weiteren Anzapfungen Gabelentz_s001-344AK6.indd 136 12.07.13 16: 24 <?page no="139"?> 137 Gabelentz_s001-344AK6.indd 137 12.07.13 16: 24 <?page no="140"?> 138 Georgs zu haben, und sie hatte alle möglichen Versuche gemacht, das Kind in die Hände zu bekommen, unter Andern war sie eines Tages mit ihrem Anwalt, einem berüchtigten Leipziger Sozialdemokraten, unerwartet nach Poschwitz gekommen und hatte versucht, zu Georg zu dringen, indeß die Löschke, des Kleinen Wärterin, eine tüchtige aber exzentrische Person, da sie die Mutter von fern erkannt hatte, Hals über Kopf mit dem Kinde im Wagen geflüchtet war und quer über die nassen Wiesen mit durchweichten wollnen Schuhen in großer Aufregung auf einmal bei uns in Windischleuba einrückte. - Mein Mann war verreist. - Ich machte ihr und dem Kinde ein gemütliches Quartier, sorgte für trockenes Zeug und sagte unseren drei Mannsleuten, sie möchten sich für alle Fälle in der Nähe halten. Und die drei Burschen nahmen die Schultern zurück und reckten sich in den Hüften. Wir brauchten aber ihre Dienste nicht und nicht die Zugbrücke, die ich an jenem Tage schmerzlich vermißt habe. Das Kind war eben doch wohl nur Vorwand gewesen. - Haenel-Clauß war der Name des zweiten Mannes, den die Geschiedene geheiratet hatte, der sie aber bald zur Wittwe machte, oder damals wohl schon gemacht hatte. Georg fährt fort: „Ein Testament habe ich auch errichten müssen; also du siehst: Für Beschäftigung ist gesorgt. Das Gute bei der Sache ist, - nächst dem was ich jetzt in Göttingen und sonst Liebes auf der Welt habe, - daß ich große Püffe leidlich vertrage, - sie erfrischen mich gewissermaßen. Ich schlafe darum nicht weniger gut, esse mit großem Appetite und arbeite wissenschaftlich mit Lust und Erfolg.“ Im März sollte nun jene Operation vorgenommen werden, von deren Bevorstehen Georg in dem Brief vom 31. Januar mir berichtete. Der bis dahin so rüstige, bis auf gelegentlichen tüchtigen „Gabelentzischen“ Schnupfen vollkommen gesunde Mann hatte sich im Laufe des letzten Jahres in seinem Aeußeren verändert. An die Stelle der gesunden, doch mäßigen Fülle des beginnenden Fünfzigers war eine aufgeschwemmte Korpulenz getreten, die gesunde leicht gebräunte Gesichtsfarbe war einem Rot gewichen, wie es wohl nach einem Spaziergang in heißer Sonne eintreten möchte, so daß mich Georgs verändertes Aussehen überraschte, ohne daß ich doch eine nahe Gefahr ahnte. Am 10. März schrieb mir Gertrud aus Wildungen, wohin sie sich mit Georg begeben hatte, da dort Dr. Marc die Zertrümmerung von zwei etwa erbsengroßen Blasensteinen bei ihm vorzunehmen beabsichtigte. Am 14. März teilte mir eine Karte Gertruds mit, daß die Operation vorüber und ganz leicht, in zwanzig Minuten beendet gewesen sei. Und am 23. März 1893 dankt mir Georg - noch von Wildungen aus - doch schon in einem langen fröhlichen Briefe für meinen Geburtstagsglückwunsch. „Wildungen ist reizend, muß es zumal im Sommer sein. Und unsre kleine Gesellschaft, ein Justizrat aus Arnstadt, ein Graf Wallwitz aus Dresden und ein alter netter Engländer mit Frau und Tochter, konnten wir uns gar nicht besser wünschen. Meine Arbeiten haben natürlich ruhen müssen, sollen erst in Göttingen wieder aufgenommen werden. Für die nächste Zeit wird mir wohl Ruhe auferlegt sein wegen des unvermeidlichen Blasenkatarrhs. Die Dresdener Sache ist noch in der Schwebe; hoffentlich werden die Schuldigen gestraft, und ich kann endlich Wölfchen nach Langenhagen bringen. Wann aber, wissen die Götter und die Dresdener Gerichte. Aus Poschwitz erhalte ich gute Nachrichten. Mein Zimmer bald fertig, das Parket im Eßzimmer aufgefrischt, die Gallerie nach dem Holzstalle in bester Arbeit, im Garten viel schönes Neues a ngepflanzt. Alles dies werde ich nun wohl frühestens zu Pfingsten sehen.“ Einen ausführlichen Bericht über seines Jüngsten Aeußeres, im selben Briefe, schließt Georg mit dem Ausruf: „Was gerate ich da nun gleich ins Schwatzen, wo es den kleinen Spätling gilt! “ Am 22. Juli schreibt er mir „aus der Trübsal des Strohwittwertums heraus, vor Allem um zu wissen, wie Dirs geht. Du hast mich noch nie so lange auf einen Brief warten lassen, wenn ich Dir etwas Neues aus meiner Feder geschickt habe, und ich denke, diesmal ist es etwas recht Gutes gewesen, wenn es auch nur ein Bericht über Forschungsergebnisse und der Vorläufer eines ganzen Buches sein soll.“ Das Buch war das über die baskische Sprache, deren Verwandtschaft mit den nordafrikanischen Berbersprachen Georg - allerdings auf Grund von in dem Bereich der indogermanischen Sprachen völlig unerhörten Lautverschiebungsgesetzen - nachwies. Er fährt fort: „In der fachgenössischen Welt scheint die Sache zunächst verdutzend, zum Teil, da ein Schock mehr ist als ein Dutzend, shocking gewirkt zu haben, als ein ketzerischer Angriff gegen das Dogma von den unverbrüchlichen Lautgesetzen. Solche Heischesätze, die sich auf ein beschränktes Erfahrungsgebiet stützen, und selbst da noch Vieles unerklärt lassen, kann ich in der Seele nicht leiden, und kommt es zur zweiten Auflage Gabelentz_s001-344AK6.indd 138 12.07.13 16: 24 <?page no="141"?> 139 meiner Sprachwissenschaft, so wirst Du davon noch mehr lesen. Letzten Sonntag habe ich Frau, Kind und Leute nach Poschwitz gebracht und behelfe mich hier mit einem geborgten Offiziersburschen. Wir hatten nämlich kurz vor unserer Abreise noch unsere Köchin, die sich als eine Erzschwindlerin entpuppt, Knall und Fall entlassen müssen und waren seitdem zu den Essenszeiten in Restaurants herumgezogen. In Poschwitz ist und wird noch viel geschaffen, um das alte Haus wieder sauber und wohnlich zu machen. Als Sommereßzimmer dient jetzt die alte Hausflur, ,die Halle‘, wie sie fortan heißt. Ihr werdet Euch wundern, wie hübsch sie sich dazu macht. Urbehaglich verspricht mein Doppelzimmer zu werden mit dem Bogen und dem großen Kachelofen. - Das winkelige Zimmer im zweiten Stock, das Du Dir als Mädchen eingerichtet hattest, wird nun gedielt und ta peziert und dann offiziell das ,Fräuleinzimmer‘ für etwaigen Nichtenbesuch. - Albrecht hat in der Mama Räumen sein Heim aufgeschlagen. Als Kinderstube dient, solange Hans Conon so klein ist, das Stübchen im Winkel neben dem Eßzimmer sammt der Garderobe; später, so Gott will, soll die alte Kinderstube sammt Zubehör wieder zu ihrem Rechte kommen. Besonders hübsch ist es hinter dem Hause geworden: Die kleine Gallerie nach dem Torfstalle zu, davor ein großer sauberer Sandplatz mit Bäumen und Rabatten am Teichufer. Was sagst Du zu folgendem Sinnspruche, der u. A. die Wand der Halle schmücken soll: Wann Eens ’en Annern eechal äwos iewel nimmt, Kee Wunner, wann ’en’s Assen nich bekimmt. Und dann noch ein paar andere, alle von meiner Mache: Gute Küche, guter Keller, Volle Gläser, volle Teller, doch bei Allem tun das Beste Freundliche Wirte, heitre Gäste. Was mir gehört, ist doch nicht mein, Ruft Gott mich ab, so wird es Dein. Muß meinen Erben Verwalter sein; Hab doppelt Grund mich dran zu freun. Wenns uns nur behagt, - Ihr seid nicht gefragt! Letzteres gilt nun aber gerade Euch nicht; auf Euer Urteil sind wir gespannt, nur müßt Ihr wieder hübsch loben, wie damals beim Gartenhaus. So. Nun erzähle mir aber auch bald etwas von Euch, und dann kommt recht bald nach Windischleuba und eßt recht oft in unserer Halle.“ Schon zwei Tage später erhielt ich wieder einen Brief. „Gestern war ich bei Frau v. Lipperheide, und nun weiß ich, wie leidend Du Dich fühlst. Du hast ihr geschrieben, bei Dir pflege der Winter zu verderben, was der Sommer gut gemacht habe. Dann solltest Du aber auch dem Winter aus dem Wege und nach dem Süden gehen. Mag es Dir auch noch so schwer ankommen, - denke, Du kehrtest recht gestärkt heim, was wäre das für ein Gewinn! Deine Mense ist nun auch reif, die Schönheiten einer Reise im Süden zu genießen und Dir eine Stütze zu sein; im Ha use ist sie es ja schon längst. Wie reizend ist das Mädchen herangeblüht. Frau v. L. zeigte mir eine ganz entzückende Photographie von ihr und Börries jun., der sich nun auch schon recht männlich ausnimmt. Besonders aber gefiel mir ein Bild von Dir en face. Es ist zugleich mittelbar, dem Ausdrucke nach, das beste Bild vom Papa, eine Art berichtigender Kommentar zu seinen Bildern. Du mußt mir eins schenken, sollst dafür ein Gruppenbild von Gertrud und mir haben, das wir machen ließen, nachdem ich mich meines Kinn- und Backenbartes entledigt hatte. Vielleicht erinnert es Dich an die Zeit, wo wir noch auf Sie-Fuß miteinander standen, und wo ich Dir die garstigen Briefe vom Brummen und Du mir die boshaften Antworten mit den ägyptischen Ochvalben [Hieroglyphen? ] schriebst. Mir wa r es wunderlich, Teile meines Gesichts wiederzusehen, von denen ich vor fast einem Vierteljahrhundert, wie ich glaubte, auf immer Abschied genommen hatte. • Doppelzimmer in Poschwitz 1904, an der Wand drei der Kindergemälde (Georg, Clementine, Margarethe), der Bogendurchgang und der Kachelofen rechts Foto: ThStA Gabelentz_s001-344AK6.indd 139 12.07.13 16: 24 <?page no="142"?> 140 Gertrud hat es erst Thränen gekostet; jetzt hat sie sich drein gefunden. Albrecht neckt uns oft, wie wir Beiden immer und immer wieder auf Parensen zu sprechen kommen. Ich glaube, es ist kein Tag vergangen, wo wir es nicht getan hätten. Da habt Ihr etwas Gutes gestiftet, was wir Euch zeitlebens weder vergessen noch vergelten können. Wir hatten Beide nicht geglaubt, daß es noch soviel Glück für uns in der Welt geben könnte. Gott erhalte es uns und lasse es Euch entgelten. Einsame Zeiten, wie ich eben eine habe, lenken immer meine Gedanken in die Vergangenheit zurück, fast ausschließlich in das Reich der heiteren Bilder. Und wenn sich dann etwas von Wehmut beimischen will, so hilft die Zukunft mit ihren Aufgaben und Hoffnungen mich wieder auffrischen. Freitag bis Montag denke ich wieder in Poschwitz zu verbringen und Freitag über acht Tage vollends meine Ferien anzutreten. Kommt Ihr nur recht bald nach Windischleuba; wir sehnen uns beide danach. Ade für heute, Du alte gute Schwester. Möge sich Dein Befinden bald bessern. Die besten Grüße an Börries und die Kinder. Von Herzen Dein treuer Bruder GvdGabelentz.“ Wie schaffensfroh und voller Pläne war er noch! Und am 10. Dezember traf uns wie ein Schlag eine kurze Karte seiner Schwiegermutter: sein Zustand sei hoffnungslos, das Ende stündlich zu erwarten. In der Nacht vom 10ten zum elften Dezember verschied er, nachdem eine erneute große Operation, jetzt in der Seite, keine Rettung hatte bringen können. Die furchtbare Aufregung dieser Stunden zerstörte zugleich eine neue Hoffnung, die Gertrud aufgegangen war. - - Ich habe absichtlich im Vorstehenden einen sehr vollständigen Auszug aus Georgs Briefen gegeben, da ich ihn ja gar nicht besser schildern könnte, als er sich selbst darin - völlig unbeabsichtigt - schildert: seine unendliche Herzensgüte, sein scharfer Verstand, sein heiterer Sinn und Glückesdurst stehen auf allen Zeilen. Gabelentz_s001-344AK6.indd 140 12.07.13 16: 24 <?page no="143"?> 141 VI. Nachtrag 1 Citronen und Essensgewohnheiten - Philosophie. Mit dem Papa - „Der würde bersten“ - Redeweise - Witz - Beim Kegeln - Wie der Papa kegelte - Kindererinnerungen. Das „Klimafieber“ - Verhältnis zu Albert und Pauline - Zu Margareten und mir - Schwedische Lieder - „Das Brautpaar“ - Georgs Schönheitssinn und Idealismus - Seine scharfen Kritiken - Georg über Religion - Seine Okarina - Georg kritisirt mich - Winterstein malt Georg - Die Mauthnerschen Parodieen - Georg im Verkehr mit Kindern - Georg über Windischleuba - Ueber Windischleuba - Georgs Lernbereitschaft - Ger trud als Wittwe - Charakteristik Gertruds - Georg über Gertrud - Toast auf Clementine Carlowitz’ Hochzeit - Toast auf meinen Mann - Toast auf Börries - Die Steininschrift - Toast zu Christa Carlowitz‘ Taufe - Toast zu Christas Taufe - Das Gedicht aus Carlsbad - Der Aufsatz über den Nachtwächter - Altertümliche Redensarten - Tante Lus Urteil über Georg - Schnitzbank und Drehbank - Schachfiguren. Gospiel - Die Spielkartensammlung - Des Papas Stiefelknecht - Freude am Dialekt - Georg liest meine Niederschrift - Frl. Boehlkes Mängel - Georgs Eingreifen - Die Photos der Geköpften - Die Phrenologin Gräfin Krockow - Prinz Albrecht, Georg und Plüskow - Ueberall nötige Nachträge Sonst war sein Verhältnis zu unserm geliebten einzigen herrlichen Vater das innigste, was sich denken läßt. Die Mama klagte freilich bei seinen Besuchen: „Georg, Du absorbirst den Papa ja ganz.“ Aber das war stärker wie er. Seine sprachlichen Interessen drängten nach Mitteilung, und wo hätte er besseres Verständnis finden können als bei dem, der sie ihm vererbt hatte! Später sagte er mir: „ich weiß von vielen meiner sprachlichen Gedanken absolut nicht zu sagen, ob ich sie selber zuerst gefaßt oder vom Papa schon gehört habe“. Ja, einmal nach des Papas Tode sagte er mir geradezu: „Der Papa weiß alles, was ich arbeite.“ Auch zu unserer Mutter hat er diese selbe in ihrer Bestimmtheit überraschende Aeußerung getan. Leider hielt wohl sie, eben so gut wie mich, eine Art Scheu zurück, näher zu fragen, auf welche Weise Georg diese Gewißheit gekommen sei. Von dem, wie ich überzeugt bin, Seebachschen Erbteil der Visionen ist auch er, wie ich glaube, nicht ganz frei gewesen. Er erzählte mir von einer, die er zuweilen hatte, daß ein großer Mann mit stieren Blicken sich über ihn beugte. Ich lernte leider erst viel später auf derartige Dinge achten, ahnte damals nicht, daß es eine Wissenschaft gäbe, die sich damit beschäftigt. Seine große geistige Regsamkeit machte ihn natürlich in seinen jungen Jahren sehr gesprächig dort, wo er, wie im Familienkreise, sich gehen lassen konnte, ohne unbescheiden zu erscheinen. - Die von uns allen zärtlich geliebte „Tante“ Ferber, die Jugendfreundin meiner Mutter, schreibt hierüber einmal an eine ihrer Cousinen, - der Brief ist vom 22. Juni 1865: „Die Gabelentz klagt über das vorlaute Wesen von Georg; lieber Gott, der würde bersten, wenn er nicht sprechen dürfte.“ Albert aber klagte, daß Georg, wenn er Je- Im Nachstehenden will ich nun noch allerhand Tatsächliches aus seinem Leben nachholen, was ich teils mit ihm zusammen erlebte, teils mündlich von ihm erfuhr, will möglichst chronologisch erzählen, wenn sich auch diese Ordnung nicht überall wird - sei es festhalten, sei es feststellen - lassen. Ich gehe in die Kinderjahre zurück. Daß er einmal ein ganzes Jahr lang kein warmes Essen anrühren mochte, habe ich schon früher erzählt. Ich hole hier nach, was ich auch aus Berichten der Mama weiß, daß er schon als ganz kleiner Junge mit Leidenschaft Citronen aß! Konnte er eine erwischen, so drückte er sie zusammen und sog sie aus. Dies muß entschieden das gewesen sein, was ein verständiger Arzt einst „einen Schrei der Natur“ nannte. Die Steinbeschwerden, an denen er als Schüler litt, haben vielleicht schon damals sich vorbereitet. Im späteren Leben war er allezeit bedacht, sich nicht an bestimmte Gewohnheiten zu binden und dadurch von ihnen abhängig zu werden. So erzählte er mir noch in seinen letzten Jahren, daß er grundsätzlich von Zeit zu Zeit mit Kaffe oder Thee, mit Zwieback oder Brödchen beim ersten Frühstück abwechsele, um sich nicht zu fest an etwas Bestimmtes zu gewöhnen. Als junger Jurist studirte er mit lebhaftem Interesse allerhand philosophische Schriften, besonders Hartmanns „Philosophie des Unbewußten“. Auf der Universität war er ein begeisterter Hörer Kuno Fischers gewesen, der damals noch in Jena war. Seine philosophischen Interessen waren die einzigen, die der Papa nicht mit ihm teilte, ja eigentlich ungern sah und wiederholt ablehnte mit der Wendung: „Damit lockt man keinen Hund hinterm Ofen vor.“ Gabelentz_s001-344AK6.indd 141 12.07.13 16: 24 <?page no="144"?> 142 mandem eine wissenschaftliche Auseinandersetzung hielt, derart von seinem Thema hingenommen sei und auf das, was in seiner Nähe sich abspielte, unaufmerksam, blind und taub, „wie ein Hahn, der balzt.“ Wie er aber nun sprach? Zunächst tadellos reines - was man nennt Bühnendeutsch. Auch die dem Obersachsen sonst nicht eignende bühnenmäßige Aussprache des g, z. B. in Worten wie Wagen nicht „Wahchen“ zu sagen, hatte er sich, doch erst Ende der sechziger Jahre, angeeignet. Im Tonfall muß in den Familien viel mehr vererben, als man gemeinhin beobachtet. Bei Georgs erster Hochzeit war mein Brautführer einer seiner Jugendfreunde, ein grundgescheuter, witziger Herr v. Melck, der sonderbarerweise aber nie in Poschwitz gewesen war. Als ich dem beim Diner irgend eine Sache erzählt hatte, legte er auf einmal Messer und Gabel hin, - ich möchte die Bemerkung entschuldigen, aber „wie lächerlich ähnlich sprechen Sie Ihrem Bruder Georg.“ Glaubte Georg indessen bei den Z uhörern abweichende Ansichten oder Mangel an Wohlwollen herauszufühlen, dann störte ihm das die zwanglos und frisch quellende Rede und er begann zu stottern. Besonders in seinen jüngeren, zwanziger Jahren war seine Rede oft sprudelnd von Witzen, vom gewöhnlichen Wortspiel anfangend. Auch in fremden Sprachen flossen ihm die Kalauer zu, so auf einer Schulenburgischen Hochzeit die französischen gegenüber der aus Belgien stammenden Braut. - Oder in seinen Briefen! Er schrieb, daß er mir feurige Kohlen aufs Haupt sammeln wolle und sprach dann von meinem „feurigen Kohlkopf “. Meinen Mann nannte er wegen seiner roten Haare „den alten guten Schwager mit dem rötlich strahlenden Gipfel.“ Eine oft überraschende kindliche Drolligkeit war ihm eigen. Albert und Frau waren auf 14 Tage nach Poschwitz gekommen, hatten noch 14 Tage zugegeben - und noch 8 Tage - erklärten nun aber wirklich heimkehren zu müssen, indeß wir Alle zuredeten. Diesmal blieben sie fest, wir Alle hatten alle unsere Gründe erschöpft, - da kam Georg mit einem neuen Argument: „Nur wenn’s noch was hülfe, - aber Ihr kommt ja doch immer wieder! “ Alberts mußten nach Hause, sonst hätte dieser Grund durchgeschlagen! Mit wissenschaftlich nachdenklicher Miene stellte er einmal die Betrachtung an: „Was im Garten die Mistbeete sind, das sind im Gesichte die Warzen.“ Sein Gleichmut war köstlich, erwachsen aus philosophischem Nachdenken auf dem Boden eines hervorragend glücklich veranlagten Temperamentes. Desto komischer berührte es, wenn er gelegentlich sich stellte, als ob er maßlosem Zorn verfallen sei. So besinne ich mich auf eine Szene in Poschwitz beim Kegeln. An der unteren Seite des Turnplatzes stand damals, etwa von 1861 oder 62 an bis Anfang der 70er Jahre, ein sog. Baumelkegelschub, auf dem wir alle passionirt gern spielten. Brett und Pfahl und Ruhestand der Kugel standen im besten Verhältnis zu einander, nur der rechte Eckkegel stand reichlich nahe der Pfahllinie, so daß er eine ziemlich scharf geradlinig geworfene Kugel erforderte, - die dann leicht am Pfahl abprallte. Dieser Kegel stand allein, und Georgen lag es ob ihn zu holen. Er warf - drei Kugeln - und alle drei vorbei. Statt nun aber beschämt die Kugel seinem Nachfolger in die Hand zu drücken, schnitt er ein Gesicht, drehte sich nochmals zum Spiel und warf sie in direkter Linie mit aller Gewalt auf den Kegel, der natürlich über den halben Turnplatz flog. „Warte! ! “ - Unser geliebter Vater, der immer mit spielte, hatte eine ganz bestimmte Art sich dabei hinzustellen. Das Fußstehen, was so Viele durch breitbeinige Stellung herstellen, machte er, indem er den einen Fuß weit vorsetzte und in die Kniekehle dieses Beines das Knie des hintenstehenden einlehnte. Die Stellung war sehr charakteristisch. Man hätte nie denken sollen, daß die Gelehrsamkeit eines Mannes sich auch in seinen Knieen auszudrücken vermöchte. Wir alle hatten es wohl im Stillen beobachtet. Da sagte Georg mit seiner zärtlichen Schalkhaftigkeit: „Wenn der Papa kegelt, da stellt er allemal den rechten Vorderfuß vor den linken Hinterfuß.“ Niemand freute sich mehr über diesen Ausspruch, als der Papa selber! Einmal kam die Rede auf Kindererinnerungen und wie weit Der und Jener zurückdenken könne. Der Eine wußte etwas aus seinem vierten Lebensjahr, der Andre aus dem Dritten. Da sagte Georg todernst: „Ich kann mich überhaupt noch auf meine Taufe besinnen! “ Die Mama ging in die Falle und sagte: „Aber Georg, was willst du denn davon noch wissen? “ „Doch! “ war die Antwort, „da hab ich nachher mit meinen Paten Whist gespielt.“ Was wir Poschwitzer Kinder alle aber an unserem Elternhause hatten, das konnte Keiner wärmer, tiefer und dankbarer empfinden als Georg. Freilich fällt es Solchen dann im späteren Leben nicht leicht, wenn sie sich nun in anderen Häusern zurecht finden sollen, - oder mit Solchen vertragen, die in solch andrer Luft ihre ersten Eindrücke gewonnen haben. In Beziehung hierauf sagte Georg einmal: „Wir Poschwitzer Kinder müssen, wenn wir von Haus kommen, alle erst ein Klimafieber durchmachen.“ Gabelentz_s001-344AK6.indd 142 12.07.13 16: 24 <?page no="145"?> 143 Ich möchte im Anschluß hieran, sein Verhältnis zu seinen Geschwistern im Einzelnen durchgehen und gehe dem Alter nach. Mit Albert war das Verhältnis so brüderlich innig wie möglich, blieb sich auch durch alle die Jahre gleich, wozu übrigens auch Alberts Frau in Loyalität und Korrektheit nur beitrug. Georgs erste Frau mußte wünschen, ihn, den blind Vertrauenden, möglichst von seinen vielleicht scharfsichtigeren Geschwistern zu lösen. Doch ist dies ihr Albert gegenüber nie gelungen. Aus diesem treuen brüderlichen Zusammenhalten entsprang dann scharfer Tadel, wenn es irgendwo anders hergegangen war. So konnte Georg nie die Stelle in Fontanes „Archibald Douglas“ hören: „was meine Brüder dir angetan, es war nicht meine Schuld“, ohne „unglaublich unanständige Gesinnung! “ zu bemerken. Mit Pauline, der überaus gutherzigen, heiteren lebensfrohen Frau sich nicht gut zu stehen, wäre ein Kunststück gewesen. Ihre theologischen Interessen und Studien lagen ihm allerdings wohl noch ferner, als ihr schon seine sprachwissenschaftlichen, aber das hinderte nicht das herzlichste geschwisterliche Verhältnis. - Margarethe war in ihren Mädchenjahren Georgs treuste Kameradin gewesen. Sie heiratete aber 1860, - wohl noch ehe er auf die Universität kam oder bald danach, und war dann durch Haushalt, Kinder und Kränklichkeit viel in Anspruch genommen, auch, ähnlich wie Pauline, keine Freundin davon lange Briefe zu schreiben. Aber ihre große Gewissenhaftigkeit war doch Ursache, daß Georg ihr seinen Aeltesten auf längere Jahre anvertraute, daß er dort in der gesunden Landluft mit Margaretens gleichaltrigem Jüngsten zusammen unterrichtet wurde. - Von 1860, wo eben Margarete heiratete, bis zu meiner Verheiratung 1873, - also durch volle 13 Jahre, - war ich nun das einzige von den Geschwistern, das einzige jugendliche Wesen, das Georg bei seinen häufigen Besuchen im Elternhaus dort regelmäßig vorfand. Ich hing mit zärtlicher Liebe an ihm, teilte seine sprachwissenschaftlichen Interessen, - was Wunder, daß uns eine ganz besonders innige Freundschaft verband! Wie ich als 16jähriges Mädchen eine Sammlung von allen möglichen Schriftproben in ein Buch zusammen trug, war es Georg, der um die Wette mit dem Papa mir den Tisch voll fremdländischer Manuskripte, voll Exemplare aus der Bibelsammlung packte, - denn auf Vorschlag des Papas wurde, soweit Evangelienübersetzungen vorhanden waren, immer dieselbe Stelle genommen, die anfängt: „Da brachten sie Kinder zu ihm.“ Georg war es, der mir die Frithjofssage schenkte und mir an ihr Schwedisch lehrte, der von seinen beiden schwedischen Reisen mir mehrere Bände nordischer Volkslieder mitbrachte und sie unermüdlich sang, die etlichen 20 Verse von Her Peders Sjöresa waren ihm nicht zuviel! Seine Lieblinge darunter waren: En gång i bredd med mig. Vallevan han seglar. Så tager jag min bössa. Konungen han vaknade i högan loft låg. Har du en vän som dig är Kjär. Lef väl, så vil jag säga. • Clementine v. d. Gabelentz, etwa 16-jährig Foto des Gemäldes: Familienbestand Gabelentz_s001-344AK6.indd 143 12.07.13 16: 24 <?page no="146"?> 144 Von Dänischen Fast Olufra nu ibland storfolket är. Der gingo tvaa jungfrur paa vägen der fram. Und von den Faröern das großartige: Olufra sittur i Kirkjuni. Wie wir da einmal den ersten Vers gesungen hatten, - es hat eine Melodie von tiefster Schwermut und feierlichem Ernst, - sagte ich: „Man hörts ihm nicht an, daß der erste Vers eine Aufforderung zum Tanz enthält! “ (Sogar mit der Mahnung, die Schuhe nicht zu sparen! ) „Ja“, entgegnete Georg mit überraschendem Ernst, - „aber: Gud mag randa om vi dricka onnur joul [jólöl]! “ Gott mag wissen, ob wir das nächste Julbier noch trinken! - Wenn er an den Sonntagen nach Poschwitz kam und ich hörte den Wagen rollen, lief ich ihm immer die Treppe herunter entgegen; drei Stufen auf einmal kam er sie herauf, und wenn ich ihm dann irgendwo auf halber Höhe um den Hals flog, da hörte man’s wohl gelegentlich unten aus der Halle von einem der Leute schmunzelnd „das Brautpaar! “ - Ich dachte mir nun freilich meinen zukünftigen Mann wieder anders, da mir von den Backfischjahren mein jetziger Mann im Sinn lag, - aber Georg sprach es gelegentlich alles Ernstes aus, daß er die Geschwisterehe, wie sie in den alten ägyptischen Königsfamilien üblich gewesen sei, durchaus hübsch fände und mich gleich genommen haben würde! Ein Meister war er in der Zeiteinteilung. Dienstlich in seinen juristischen Zeiten ziemlich angespannt, nutzte er in der freien Zeit auch die Minuten aus. Da konnte man auch wohl einmal von ihm den Seufzer hören: „Wenn ich Alberts Zeit hätte! “ Ueberaus groß war sein Schönheitssinn und sein Idealismus. Die wirklich hervorragende Schönheit seiner ersten Frau war es, wodurch sie - schon als Sechzehnjährige - auf ihn einen tiefen Eindruck gemacht hatte. Er war geneigt, aber auch befähigt die unangenehmen und ihm entgegenstehenden Dinge eher zu übersehen als ihnen zu Leibe zu gehen. Was ihm in seinen wissenschaftlichen Arbeiten durchaus nicht eignete, eine gewisse Bequemlichkeit, ja Phlegma, ließ ihn bei geschäftlichen und häuslichen Dingen gern, wie früher der Mama, so später seiner Frau freie Verfügung überlassen. Sein glückliches, in dieser Hinsicht durchaus leichtlebiges Temperament fand sich leicht mit Allem ab, wie denn auch seine große Weichheit und Herzensgüte ihn - seinem scharfen Verstande sogar zuweilen zum Trotz - dem Einflusse zugänglich machten, der eben gerade in seiner Umgebung der vorherrschende war. Eine merkwürdige Ausnahme von seiner sonstigen Weichheit und Milde fand aber statt bei seinen gelegentlichen wissenschaftlichen Kritiken. Da konnte er oft rücksichtslos scharf sein und sich sogar sichtlich seiner Schärfe freuen, vielleicht, weil er sie auch hier seiner Natur abringen mußte. Wiederholt hat er mir dann derartige Kritiken möglichst wortgetreu wiedererzählt. Ich besinne mich aber nur auf eine wegen des darin enthaltenen überraschenden Wortspiels. Ein Inder namens Nisitakanya hatte ein sprachwissenschaftliches Werk geschrieben, wohl ohne genügende Vorkenntnisse, jedenfalls wissenschaftlich minderwertig. Georg sollte es kritisiren und hatte die kurze tadelnde Besprechung geschlossen mit: „O Nisitacuisses! “ In religiöser Beziehung stand er dem Dogma ablehnend gegenüber. Er sagte einmal: „Religiosität ist ein Talent.“ Ein andermal aber: „Es giebt ja Menschen, die es fertig bringen ohne Religion zu leben, - ich gehöre nicht darunter.“ Vom neuen Testament sagte er: „Ich würde gern alle Episteln dran geben, wenn wir dafür eine zweite Bergpredigt haben könnten.“ Und einmal: „Schon Paulus hat das verdammte Dogmatisiren nicht lassen können! “ Durchaus unsympathisch waren ihm - die Engel wegen ihrer Darstellung als Flügelwesen. „Sechs Glieder - sind ja Insekten! “ meinte er ärgerlich wegwerfend. Er hatte Talent zur Musik und zum Zeichnen. Letzteres hat er auf der Schule wohl zu ein paar Köpfen, später nur ganz selten zu gelegentlichen Karikaturen angewendet. vgl. zu S. 95, 145. In der Musik ist er später auf dem bescheidenen Instrument, der Okarina, eine zeitlang ausübend gewesen. Seine erste Frau war ganz unmusikalisch, und da er vom Elternhause her gewöhnt war Musik zu hören, so suchte er sich im eignen Heim diesen armen Ersatz. Wenn ich die Wahrheit sagen soll - es klang gar nicht gut! Und er war doch glücklich darüber! Und der Mama, deren feines Gefühl aus den unschönen Tönen das geistige Darben heraushörte, kamen bei den gelegentlichen kleinen Melodien, die er zu spielen sich eingeübt hatte, die Thränen in die Augen. - Eine zeitlang hat er sich, wohl durch wissenschaftliche Bekannte angeregt, genauer mit dem Buddhismus beschäftigt. Er hat mir dessen Lehren zwar nie vorgetragen, aber erzählte gelegentlich: „Du kannst mirs glauben, es leben heute in Europa viele Kryptobuddhisten.“ Gabelentz_s001-344AK6.indd 144 12.07.13 16: 24 <?page no="147"?> 145 Einmal verfiel er darauf mich, die ich damals Anfang der zwanziger Jahre war, zu charakterisiren: „Du bist anders, wie andre Frauen. Du weißt weder, noch zeigst du, was hübsch an Dir ist, und hast Humor und Schaffenskraft, die Frauen meist abgehen.“ Ein andermal meinte er nachdenklich: „Ich möchte wohl wissen wozu Du das meiste Talent hast? Bist musikalisch, zeichnest, dichtest, hast Sprachtalent“ (er behauptete sogar einmal mehr wie er selber! ) „wozu hast Du nun das meiste? “ Ich lachte und meinte: „Am Ende zur guten Kameradschaft! “ Und da nickte er: „Das könnte sein! “ Lebhaft steht mir noch in der Erinnerung des armen Wolf Erichs Taufe. Sie fand in Leipzig statt und unter den Gevattern war die jugendliche Königin Olga von Griechenland, der Mutter Jugendfreundin, in Person anwesend. Sie war eine russische Prinzeß, Tochter des Großfürsten Konstantin und der Prinzeß Alexandra von Altenburg, die ihrerseits wieder Jugendfreundin der Frau v. Rothkirch war, Georgs Schwiegermutter. - Eine sehr fröhliche Zeit hatten wir zusammen, als um das Jahr 1883 oder 84 die Mama den Maler Winterstein nach Poschwitz kommen ließ um Georg zu malen. Das große Kniestück, wo vor dem langen Manne auf dem Tisch das winzige weiße Hündchen sitzt, das mein Mann ihm damals - nach dem Tod eines andern vierfüßigen Lieblings - geschenkt hatte, ist ganz vortrefflich und sprechend ähnlich. Georg hat darauf den halb gespannten Ausdruck, wie er ihn haben konnte im Augenblick, ehe er selbst einen seiner feinen Witze vom Stapel ließ, oder im Augenblick, wo ein andrer zu solch einem Witze überzuleiten im Begriff stand, den er mit seiner schnellen Kombinationsgabe schon voraus ahnte. Diese letzteren Witze aber waren alle von - Felix Mauthner! Die Mama hatte mir gesagt: „Solange Winterstein Georg malt, mußt Du täglich herauf nach Poschwitz kommen und Georg unterhalten, damit das Bild einen hübschen Ausdruck bekommt.“ Ich traute aber meiner Unterhaltungsgabe allein nicht so viel Gutes zu und brachte die allerliebsten Mauthnerschen Parodieen mit, die damals kürzlich erschienen und Georgen zum Glück noch unbekannt waren. Georg Ebers: „Blaubeeren - Isis“, Berthold Auerbach: „Walpurga, die thaufrische Amme“, Gustav Freytag: „Die Vorfahren“, - „Mrl hieß das Mädchen - “ wie haben wir über das alles gelacht! Ein ganz reizendes Talent hatte Georg mit Kindern zu verkehren. Die unseren hingen, wenn er da war, an ihm wie die Kletten. Auf jedem der endlos langen Oberschenkel saßen ihrer zwei, - und das fünfte, das jeweilig zu spät gekommen, kletterte hinter ihm auf den Stuhl und schlang die Arme um seinen Hals. Große Freude hatte er zunächst über unseren Kauf von Windischleuba. Die Wiederherstellungsbauten verfolgte er mit lebhaftem Interesse. Mir klingt noch seine öfter gestellte lustige Frage in den Ohren nach: „Habt Ihr denn inzwischen wieder einen kleinen Erker gekriegt? “ Und von der Pietät, mit der mein Mann jede Erinnerung an die Z eit des Gabelentzischen Besitzes erhielt und wieder zu Ehren brachte, sagte er wiederholt: „Kein Gabelentz könnte mit größerer Pietät vorgehen.“ Aber mit der Zeit fing allerdings an doch ein gewisses Bedauern Platz zu greifen, daß es nun eben - kein Gabelentz war, in dessen Hände das schöne alte Gut gekommen war. - Die Mama hatte uns in jener Zeit schon einmal gesagt: „Windischleuba, das müßte Börries • Hans Conon v. d. Gabelentz, Bleistiftzeichnung seines Sohnes Georg, ca. 1868 Kopie: Familienbestand Gabelentz_s001-344AK6.indd 145 12.07.13 16: 24 <?page no="148"?> 146 Gabelentz_s001-344AK6.indd 146 12.07.13 16: 24 <?page no="149"?> 147 Eurer Mense schenken, und die müßte dann Alberts ,Georgel‘ heiraten, daß das Gut wieder ,in die Familie‘ käme! “ Und einige Jahre später, als ich eben Georg erfreut einen neuen Kauf oder Tausch berichtet hatte, mit denen mein Mann in jahrelangem planmäßigen Vorgehen die anfänglich zum Teil recht zerstreuten Grundstücke abgerundet hat, da kam zu meinem buchstäblich sprachlosen Erstaunen die Antwort: „Ja, ich habs auch Albrecht gesagt: Windischleuba, das bleibt nun eine Aufgabe für Dich und Deine Nachkommen, das zurückzuerwerben. Und je schöner Ihr“ (dies zu mir) „es zurecht macht, je besser Ihr es arrondirt, desto besser für uns! “ - - Wir werden ja wohl alle zu Egoisten sobald wir Kinder haben, - falls wirs nicht schon früher von selber gewesen sein sollten, - aber ich gestehe, daß ich den schmerzlichen Eindruck dieser Rede nie verwunden habe. Windischleuba, in dem meines Mannes bedeutendste Lebensarbeit steckt, Windischleuba, an dem mein ganzes Herz hängt, - unseren Kindern zu misgönnen, - es war zu bitter. Und die völlig ahnungslose Naivetät dieser Unglücksrede ist mir bei einem so klugen und sonst so zartfühlenden Manne ein stetes Rätsel geblieben. - Anläßlich seiner Scheidung war auch zur Sprache gekommen, wie seine Frau, zwar schlau und weltgewandt, aber durchaus unwissenschaftlich und talentlos, seine wissenschaftliche Bedeutung ja gar nicht habe würdigen können, aber dafür allerhand kleine Aufmerksamkeiten und Galanterieen des täglichen Lebens bei ihm vermißt habe und daß dies beigetragen habe, sie ihm zu entfremden. Nun wollte Georg in seiner bescheidenen Art, die alle Tage bereit war zu lernen und sich selber in die Schule zu nehmen, auch diesen Fehler sich abgewöhnen und hatte Gertrud gesagt, sie solle sich nur gehörig von ihm bedienen lassen, er wolle das. Und Gertrud, in schlichter Gewissenhaftigkeit, nahm ihn nun beim Worte in einer Art, die rührend und komisch zugleich war. Ich war in Poschwitz in Mamas Parterrezimmer, das Paar kam vom Garten herein, wo die Wege vom Regen durchweicht waren. „Ach Georg, Du holst mir wohl andere Stiefel und Strümpfe,“ sagte Gertrud. Und Georg holte das Verlangte von oben, zog aus, zog an, knöpfte zu! Nicht eben flink oder geschickt, - Gertrud allein hätte es wahrscheinlich in der halben Zeit fertig gebracht, aber es sollte nun einmal so sein, und sie sah mit einem Gemisch von Zärtlichkeit und Schelmerei über den Rücken des Knieenden herüber mich an. Ein so spätes Glück, - und sie waren glücklich wie die Kinder an einem Sommertag, - und ein so kurzes! Und als es ein Ende gefunden, da ging eine wunderliche Veränderung mit der jungen Frau vor. Oder vielmehr - eine Veränderung, die keine war im äußeren Verhalten, und die doch Schlüsse herausforderte auf eine tiefgehende Erschütterung, die sich im Inneren abgespielt hatte. Sie blieb die gleich heitere, kindlich lächelnde Frau wie bisher, spann oben an ihrem Tischzeug, im Gartenhaus an ihren Handtüchern wie bisher, aber es war wie eine unsichtbare Mauer um sie, durch die keine Teilnahme hinein, keine Wärme heraus konnte. Mir - und wohl noch Vielen - tat das unbeschreiblich leid, aber die unsichtbare Gewalt war auch eine unüberwindliche. - Ich konnte es nicht lassen, nach Gertruds am [6. 11. 1904] erfolgten Tode ihren ältesten (Stief-) bruder, den Besitzer von Oldershausen, einmal darauf anzureden, obgleich wir uns gar nicht näher kannten. Ich sagte ihm, dieses Fernbleiben hätte mir so leid getan, ich hätte es vielleicht nicht richtig angefangen mit Gertrud, aber ich müßte ehrlich gestehen, daß sie mir völlig unverständlich gewesen sei. Und da kam als Antwort ein Lächeln und ein Kopfschütteln und die Worte: „Mir auch! “ - Ehe Gertrud sich mit Georg verlobte, sprach Helene Bobers mit uns über ihre Art, die auch damals, wo sie als Wittwe ihres ersten Mannes in Göttingen lebte und ihr Töchterchen erster Ehe mit 3 Jahren wieder verloren hatte, den Leuten in Göttingen in ähnlicher Weise aufgefallen war. Mit dem stets gleichen strahlenden Lächeln sprach Gertrud da über Mann und Kind, - „man meint immer, sie wären nur eben ins Nebenzimmer gegangen“, sagte Helene Bobers. Und als man in Göttingen darüber gesprochen hatte, ein wie unsäglich schweres Loos die Arme gertoffen habe, die nun zum zweiten male verwittwete, da war von andrer Seite die schroffe Antwort gekommen: „ach, lassen Sie doch, die ist ja unverletzlich! “ So blieb ihr das Mitleid fern! Sie hielt sich nach Georgs Tode eine Gesellschafterin, wechselte aber mehrfach mit den Persönlichkeiten. Etwas länger blieb bei ihr ein Frl. v. d. Osten, die wir aus Hannover kannten. Und diese hat mir - mehrere Jahre nach Gertruds Tode - den Schlüssel zu ihrem eigenartigen Wesen gegeben. Ich fragte: „War sie fühllos, oder war die Art sich zu geben aus Verbitterung entsprungen? Und die Osten sagte: „Sie war verbittert.“ Links: Georg v. d. Gabelentz 1883/ 84, Gemälde von Erhard Ludewig Winterstein Standort: Universitätsbibliothek Leipzig, Privatbesitz. Foto in der Originalhandschrift der Biographie Gabelentz_s001-344AK6.indd 147 12.07.13 16: 24 <?page no="150"?> 148 Gertrud hatte ihren Wittwensitz in Poschwitz, gab ihn aber später auf, zog nach Göttingen und baute sich dort ein Haus, in dem sie aber nicht lange mehr gelebt hat. Auch sie war im Grunde ohne geistige Interessen. Georg sprach aber einmal mit mir über seinen Berliner gelehrten Verkehr außerhalb des Hauses, eine Frage beantwortend, die ich natürlich nie ausgesprochen haben würde: „Ich habe dort außerm Hause mehr geistige Anregung als ich bewälti gen kann, da ist mirs daheim lieb mich auszuruhen und ein h eiteres Gesicht zu sehen.“ Gertruds sonnige Heiterkeit war überhaupt seine Wonne. „Du glaubst nicht, wie oft sie einen Satz anfängt mit: „Georg, ich freue mich“, sagte er mir einmal. Ich bin mit der eigentlichen Biographie zu Ende, will nun aber noch ein paar Gedichte Georgs, zumeist Toaste, hier eintragen, sowie sonst noch ein paar hierher gehörige Abschriften. Es folgt hier zunächst ein Toast, den Georg bei der Hochzeit unsrer Nichte Clementine Carlowitz-Maxen mit ihrem Vetter Hans Carlowitz-Hartitzsch ausbrachte. Sie wurde am 4. Juli 1876 in Poschwitz gefeiert und ebenso, wie bei unsrer Hochzeit (am selben Tage 3 Jahre vorher) war ein prachtvoller heißer Sommertag und man aß an einer mächtigen Hufeisentafel im Freien auf dem Turnplatz. Auf eines Teiches Spiegelbahn Da rudern ihrer Zwei im Kahn. Sie gondeln hin, Sie gondeln her, Sie eine Dame, er ein Herr. Sie gondeln in die Quer und Läng, Sie die Cousine, er der Cousäng. Die Nixen raunen in Teiches Naß: „Paß auf, daraus wird noch etwas.“ Sie rudern hin, sie rudern her, Ihr ist nicht leicht, ihm ist so schwer. So sitzen sie und schaun sich an, Und flüstern blos und schweigen dann. Der böse Nix im Teiche spricht: „Das ist der Anfang, sagt ihrs nicht? “ Doch er zu ihr: „Ich wäre froh, Wenn es zeitlebens bliebe so. Ein andrer Kahn, ein festrer Kahn, Eine andre Bahn, eine weitre Bahn. Doch ich mit Dir und Du mit mir, Allüberall wie heut und hier.“ Was sie gesagt, ich weiß es nicht, Doch Nix zu Nix im Teiche spricht Frohlockend: „Siehst Du, sagt ichs doch! Das Gondelpaar, es lebe hoch.“ - Die Verlobung war auf dem Heydaischen Teich zustande gekommen. - Der nächste Toast wurde im Jahre 1882 in Windischleuba gehalten. Das hatte mein Mann vor 2 Jahren gekauft, angefangen es wiederherzustellen, und im April dieses 82ten Jahres waren wir endlich dort eingezogen. Zum Geburtstag meines Mannes, den 25. Juli, gaben wir ein kleines Diner, nur Familie und die alten Freunde meines • Clementine v. Carlowitz-Maxen 1858-1945, Tochter von Georgs Schwester Pauline v. Carlowitz-Maxen, geboren in Macao, China, gestorben im Internierungslager auf Rügen Foto: Familienbestand Gabelentz_s001-344AK6.indd 148 12.07.13 16: 24 <?page no="151"?> 149 Elternhauses. Es wurde noch in der sog. großen Kinderstube in der Töchteretage gegessen, - oder doch schon in der Jagdstube? Nein, im Eßzimmer, das zu Metens Taufe fertig gemacht war. Anderwärts schafften noch überall die Handwerker. Georgs Toast lautete: Könnten wir mal diese Mauern beleben, Ihnen Stimme und Sprache geben, Was für wunderliche Geschichten Wüßten sie wohl uns zu berichten! Alte Geschichten, manche schaurig, Viele lustig, einige traurig, Dann die traurigste von allen: Wie sie veräußert, verwaist und verfallen, Wie man zerstört und geplündert am Ende Türm und Zimmer, Erker und Wände, Wie, was vormals ein Prunksaal gewesen, Diente zum Aufenthalt duftigen Käsen, Wie man sinnig zu guter Letzt, Den Schweinestall neben das Schloß gesetzt, Und wie das alte Gemäuer dabei Grämlich und runzlig geworden sei. Habens ja alle noch selber sehn Greisenhaft grau und wackelig stehn, Bis daß ein neuer Besitzer kam, Rüstig das Werk in die Hände nahm; Glätten alle die Runzeln und Falten, Stopfte alle die Risse und Spalten. Da wird gebaut und restaurirt, Gedielt, getäfelt und tapeziert, Und die Türen so groß und schön, Daß ich selber hindurch kann gehen. Möbel, daß man sich drüber wundert, Seit Karl dem Großen aus jedem Jahrhundert, Kurz gar Vielerlei und Viel, Aber Alles „im strengsten Stil“. Dies und Andres dahin Gehöriges Leistet mein lieber Schwager Börries. Und aus den grauen Ruinen flugs Munteres neues Leben erwuchs. Zwar sagte so Mancher ganz kürzlich noch: „Mein lieber Münchhausen, bedenken Sie doch! Sie sind zu eifrig, das kenne ich, Aber was nicht geht, das geht eben nich! “ Doch unbeirrt hat er fertig gebracht, Was sein rötlich strahlender Gipfel erdacht. Und schließlich ist es auch er gewesen, Der mich gelehrt in den Steinen zu lesen. Zwar treibe ich seit 4 Jahren schon Die Sprachwissenschaft als Profession, Heiße Magister, heiße Doktor gar, Bin Professor, - mit mäßigem Honorar, - Verstehe Chinesisch und lese Japanisch, Spreche etwas Italienisch und Spanisch, Bin Autorität im Alifurischen Und nicht ganz ohne im Mandschurischen, Und hab ichs mal satt und ist mir nicht wohl, So genieße ich Kassia und spreche Kolh. Hab auch mit Entziffern in meinem Leben Nicht ohne Erfolg mich abgegeben. Vor Dir aber, Schwager, muß ich mich neigen, Du bringst Steine zum reden und Zweifler zum Schweigen, Erzählst von den Boindorfen und Stangen, Als wärst Du mit ihnen in die Schule gegangen, Und entzifferst durch kluges Zusammensetzen Einen alten Georg von der Gabelenteczen. Als dessen Namenserbe eben Laß ich von Herzen hoch Dich leben. • Windischleuba 2007 Gabelentz_s001-344AK6.indd 149 12.07.13 16: 24 <?page no="152"?> 150 Der absonderliche Name bedarf einer Erklärung: In dem sog. Wohnzimmer waren als Steinsitze in die Fenster eingemauert einzelne Stücke eines alten Steines. Wir ließen sie herausnehmen und bei der Zusammensetzung ergab sich die eben einem gewidmete Inschrift. Nun war aber das E in altertümlicher Weise in Form einer im Spiegel gesehenen 3, so Ɛ geschrieben, das Z aber genau wie eine 3. - Der Gabelentzische Name wurde aber früher Gabelentze geschrieben; auf unsrem Stein steht nun GABELENT Ɛ З - Gabelentez. Es scheint klar, daß hier ein Fehler des Steinmetzen vorliegt, der sicher des Schreibens und Lesens unkundig war und am Schluß das z und e vertauschte. - Georgs nächster Toast war wieder durch Cle Carlowitz veranlaßt, deren Verlobung er so hübsch geschildert hatte. Nun war sie schon mehrere Jahre verheiratet, und nach drei Söhnen war endlich - aber verfrüht und während eines Besuches bei Cle’s Eltern, die damals in Poschwitz lebten - das ersehnte Töchterchen geboren, - eine Tatsache, von der wir in Windischleuba die erste Kunde erhielten, als früh um 7 der Mama langjähriger Diener, Kleemann, angestürzt kam und um einen Vorrat Erstlingswäsche bat, die unsere 1 ½ Jahre vorher geborene Jüngste längst verwachsen hatte. Bei der Taufe stand Georg Gevatter und hielt nachstehenden Toast: Es pflegt mit dem Gevatterstehen Ganz wie mit andern Dingen zu gehen: Fehlt es an Uebung einige Zeit, Verliert man die Geläufigkeit, Und geht’s ans Toasten, nicht ohne Graus Tritt man aus der Passivität heraus. Heut muß ich reden, denn allerwärts Geht über der Mund, wenn voll das Herz. Und da ich rede, wie neu belebt Sich ein freundliches Bild des Vergangenen erhebt, Und in dies freundliche Bild gemalt Ist ein Sonnenstrahl in Kindesgestalt. Denk ich dran, heute noch fühle ich mich Als Oheim und Pate ganz fürchterlich. Die Kleine übte wohl Zaubermacht, Hat ins alte Haus neues Leben gebracht, Und da sie heranwuchs und kriegte Verstand Und sich für sie eine Heirat fand, Hat sie uns nachmals von Zeit zu Zeit Mit niedlichem neuen Leben erfreut Und dem alten Paten, eh er sichs denkt, Ein niedliches neues Patchen geschenkt. Der knüpft mit hoffendem Sinn sodann Die Zukunft an die Vergangenheit an, Und in das Bild der Zukunft malt Er ’nen Sonnenstrahl in Kindesgestalt; Und wenn das Kind dies Bild erreicht, Aufs Haar es seiner Mutter gleicht. Den Trinkspruch hab ich mir ausgedacht, Daß der Mutter werde ein Hoch gebracht. (Zum 22. Nov. 1883). Das nächste - und letzte - Gedicht Georgs, das ich mitzuteilen habe, ist kein Toast. Es ist entstanden im Jahr 1890 in Carlsbad, wohl im Frühjahr. - Die schwersten Tage seines Lebens lagen wohl hinter ihm, aber die Wunden hatten noch keine Zeit gehabt sich zu schließen. Er war körperlich leidend und seelisch in einer an sich ja begreiflichen, aber bei seiner sonstigen gleichmäßigen sonnigen Heiterkeit ihm selber wie anderen ungewohnten gedrückten Stimmung. Das Gedicht lautet: Durch die Herbstesnebel dringt Heller Sonnenschein und bringt Letzten Sommerkuß der Erden, Mir allein wills Winter werden. Winterlich ist mir zu Sinn, Alles welkt und weht dahin, Und von meines Sommers Glücke Blieb Erinnrung nur zurücke. Draußen bunte Herbstespracht, drinnen kalte Winternacht; Und ich weiß, auf einen solchen Winter pflegt kein Lenz zu folgen. Eines wünschte ich mir noch: Wäre meinem Leben doch, Meinem öd verwaisten Leben, Auch ein milder Herbst gegeben. Schiene mir doch auch einmal Noch ein warmer Sonnenstrahl, Ließ mirs gar zu gern auf Erden Wieder recht behaglich werden! - Nun, die Sonne hat ihm noch einmal geschienen, - aber wie kurz nur hat er sich ihrer freuen können! Nachdem ich in die Niederschrift über Albert seinen Aufsatz über den „Nachtwächter“ eingetragen habe, will ich hier doch auch den Georgs über dasselbe Thema einfügen. Gabelentz_s001-344AK6.indd 150 12.07.13 16: 24 <?page no="153"?> 151 Der Nachtwächter. Es war eine laue sternenklare Juninacht, eine jener Nächte, die uns in südlichere mildere Regionen versetzen zu wollen scheinen. Sanft glitt ein leiser Westwind über die Haide dahin, als wollte er nicht die Blätter und Blüten erzittern machen, die er im Vorübereilen küßte, als fürchtete er, die Fläche des Weihers zu kräuseln, auf welcher die silberne Sichel des wachsenden Mondes sich spiegelte. Hie und da vernahm man das Summen eines Nachtkäfers, unstäte Fledermäuse jagten, in Zickzacklinien flatternd, ihrer Nahrung nach, und geräuschlos schwebten Eulen, segelten Nachtschwalben dem nahen Gehölze zu - - - - - - - Der Leser ahnt, daß ich über den Nachtwächter schreiben will. In der Tat, eine Nacht wie die geschilderte war es, in der das Folgende sich zutrug. Daß freilich Alles, was ich über Fledermäuse, Käfer und Nachtgeflügel erzählt habe, so buchstäblich in Wahrheit beruhe, will ich nicht beschwören, denn ich befand mich damals in einer großen Stadt, und nicht am Waldessaume beim Weiher auf der Haide. Auch fielen Mond- und Sternenschein zu jener Z eit für mich weniger ins Gewicht, weil Leipzig, - das ist die Stadt, von der ich rede, - schon längst mit Gasbeleuchtung versehen ist. Ich hatte mit mehreren Freunden einen vergnügten Abend verlebt, der sich bis gegen zwei Uhr des folgenden Morgens hin ausdehnte. Einsam wandelte ich meiner ziemlich entlegenen Behausung zu; ich schlug den direktesten Weg ein, und noch heute verstehe ich nicht, warum manche Menschen behaupten, es sei dies nicht auch der geradeste Weg gewesen. Ich fühlte jene Heiterkeit des Gemütes in mir, die den Weisen nie verläßt; zu den bösen Menschen, die keine Lieder haben, gehöre ich nicht: was Wunder also, wenn meine Jünglingsbrust zum Gesange schwoll, wenn ich mit Stentorstimme das herrliche Lied erschallen ließ: : / : Leise, leise! Kein Geräusch gemacht - Bei der Nacht! : / : Und der Windmüller malt, wenn der Wind weht u. s. w. Ja, und so weiter! Hätte ich nur weiter singen können! Da aber tauchten zwei jener Männer des Dunkels mit Horn und Spieß auf - - - - - - „Versucht Ihr wohl, mich diesmal festzuhalten? “ - dachte ich, und munter förderte ich die Schritte; sie aber strebten mir nach, wie einem holden hehren Ideale! Weh mir! Schon waren sie mir zur Seite! Es folgte eine Szene, die man erlebt haben muß, um sie zu verstehen, eine Szene voll von ergreifender Wirkung. „Fassen Sie sich! “ sagte der Eine. „Ihr guten Leute, wenn Ihr mich nur nicht gefaßt hättet“, seufzte ich. Mein Nachbar zur Linken bot mir mit dem Anstand, den er hatte, den Arm; der zur Rechten ergriff meine Hand, warm und herzlich, wie die eines alten, langentbehrten Freundes, und nun entführten sie mich nach jenem fürchterlichen Orte, wo Polizeikommissarien die giftgeschwollnen Bäuche blähen! Lasciate ogni speranza, voi ch’intrate! Das Verhör war kurz. Jene angeborene Bescheidenheit, vermöge deren ich so gerne unter dem Schleier der Anonymität erscheine, lernte ich bald überwinden, mein Einwand aber, daß ich ja gerade durch meinen Gesang das Publikum zur Wahrung der nächtlichen Ruhe ermahnt hätte, schien nur auf wenige, zarter besaitete Gemüter Eindruck zu machen. Nachdem ein kurzes Protokoll über den Vorgang aufgenommen und von mir auf Vorlesen genehmigt, auch mitunterfertigt worden, entließ man mich. Einer aber meiner zwei tutenden Freunde schloß sich mir auf meinem Heimwege an; der Mann schien etwas auf dem Herzen zu haben. Bald unterbrach er das Schweigen, um mir zu danken, daß ich mich so schön hätte arretiren lassen. „Sie glauben das nicht, hören Sie“, sagte er, „da sind viele, viele Herren nicht so gut wie Sie! “ Ich verstand ihn, - der Treffliche erblickte eine persönliche Begünstigung darin, daß ich ihn nicht geprügelt hatte. Gerührt drückte ich ihm die Hand. „Wollen wir noch Eins singen? “ „Na hören Sie, jo nich, jo nich! “ erwiderte er und verschwand. Jene merkwürdige Nacht war nur der Anfang meines Märtyrertums. Es folgte eine Einladung zu seiner Magnifizenz dem Herrn Rektor der Universität, dieser mußte ich meinerseits folgen, und nach einer kurzen Unterredung stellte mir Magnifizenz einen geschlossenen Raum im Hinterhause des Universitätsgebäudes auf zwei Tage zur Verfügung. Hier also verlebte ich achtundvierzig Stunden in traulich beschaulicher Weise, dank der Sorgfalt des Karzerwärters, der alle störenden Einwirkungen, - dummer weise rechnete er auch hierzu meine Freunde, - von mir fern zu halten wußte. Ich meditirte, ich träumte mit offenen Augen: was Wunder, daß vor allen anderen Gebilden der Phantasie Nachtwächtergestalten mich umgaukelten. Stunden wie diese wirken merkwürdig auf den Menschen ein, sie läutern die Anschauungen, oft sind sie bestimmend fürs Leben. Und wenn ich es heute wage, in der Nachtwächterfrage mitzureden, so ist es jene erste Zeit, die mich dazu berechtigt; ihre Früchte sind es, die ich dem Leser biete. Die Geschichte läßt uns über den Ursprung der Nachtwächter im Dunkeln, und auch ihr Name bietet keinen Fingerzeig zur Erklärung. Wir Studenten nannten sie in familiär neckischer Weise: „Nachtochsen“: allein diese Bezeichnung paßt nicht, weil jeder Ochse zwei Hörner hat. Einhorn wäre passender. Auch fleht ja der Psalmist: „Behüte mich vor den Einhörnern! “ Wer weiß, ob nicht auch er bei Nacht zu singen liebte? Doch dies beiläufig. Gewiß ist, daß wir es mit einem uralten Institute zu tun haben. Und weiter glaube ich als feststehend ansehen zu dürfen, daß von jeher nur Männer Nachtwächterposten bekleidet haben. Mitglieder des Vereins für bürgerliche Gleichstellung der Frauen könnten mir das Beispiel von der Errettung des Kapitols entgegen halten, wie sie es denn wirklich bereits getan haben. „Meine Damen“ war die Antwort, „das Argument schlägt nicht durch; die kapitolischen Gänse waren wirkliche Gänse, - ich meine genießbare! “ Und damit war der Disput zu Ende. Gabelentz_s001-344AK6.indd 151 12.07.13 16: 24 <?page no="154"?> 152 Charakteristisch ist, daß Nachtwächter immer nur sporadisch auftreten. Wir haben ganze Ortschaften, die nur von Webern, nur von Bergleuten bewohnt sind: wie kommt es, daß es keine aus Nachtwächtern bestehenden Gemeinden giebt? Der Beruf ist ja ein einträglicher, die damit verbundene Einnahme eine sichere! Kein Lehrer der Volkswirtschaft hat diese Frage zu lösen gewagt. Ich aber meine, es ist weise eingerichtet, daß dem nicht so ist. Gesetzt, in einem fruchtbaren Jahre vermehrte sich die Zahl unsrer Nachtwächter aufs Doppelte: wo bliebe da die persönliche Sicherheit? Gedenke nur einer jener wonnigen Nächte, wo der Himmel mit Sternen geblümt und die Erde in Grau gehüllt ist. Dir wird es in der Klause zu eng, zu schwül; Du eilst hinaus, atmest neues Leben, stehst in einer neuen Welt, denn wie verändert erscheint jetzt das Bekannte. Da schallt Dir ein widerliches „Tuh“ ins Ohr, oder es packt Dich gar mit Riesengewalt und fragt Dich, wo Du herkommst, wo Du hinwillst, wer Du seiest. Wehe Dir, wenn Du die Cigarrentasche mit der Legitimation zu Hause gelassen hast! Es braucht auch nicht gerade ein Legitimationspapier in dem Etui zu sein, jedenfalls führe letzeres bei Dir. Gelingt es Dir nicht, den Mann des berufsmäßigen Mistrauens zu beruhigen, dann ade Naturgenuß und Mondscheinschwärmerei: Es heftet sich an Deine Sohlen Das gräuliche Geschlecht der Nacht! Der Nachtwächter traut bei Tage Niemandem, denn da schläft er; und bei Nacht hält er nur den für einen Ehrenmann, der ihm zuschnarcht, wenn er an seinem Hause vorübergeht. Man soll ihm darum nicht zürnen: es ist ja menschlich, die Lebensanschauung dem Berufe anzupassen. Und wahrlich ich, der ich ein Opfer des Nachtwächterinstituts geworden bin, habe, ich wiederhole es, sitzender Weile mich mit diesem Institute ausgesöhnt; je länger, je eingehender ich für und wider erwog, desto mehr lernte ich jene Bestimmung der alten Greifswalder Universitätssatzungen zu billigen, vermöge deren „wer einen Nachtwächter totschlägt, zu strafen ist, wie wenn er einen Menschen umgebracht hätte.“ Lieber Leser, lasse diese Z eilen nicht umsonst an Dich gerichtet sein: sie sollen dich verstehen, fühlen lehren, was ich in bedrängter Lage geistig entwickelt, durchdacht und ermittelt habe. Sie sollen Dich lehren gleich mir anzuerkennen: Die Nachtwächter sind eigentlich auch Menschen. d. 5. Juni 1870 Das obige Zitat aus den Greifswalder Satzungen erinnert mich daran, welche Freude Georg überhaupt hatte an allerhand absonderlichen altertümlichen Ausdrücken und Redewendungen. So hatte er in einem alten juristischen Werke den Satz gefunden: „Denn die Biene ist ein wilder Wurm“, - wohl in Beziehung auf das erlaubte Einfangen eines herrenlosen Schwarmes, so an einer anderen Stelle die Vorschrift: „ein Richter soll sitzen auf seinem Stuhle gleichwie ein grimmiger Kater und haben ein Bein geschlagen über das andere.“ Und so hatte er entdeckt, daß das formenfreudige Mittelalter, so wie es die Ritter als gestrenge und ehrenfeste anredete, die Ratsherren als hochedle und wohlweise, auch dem Scharfrichter eine schöne Anrede gegönnt hatte, nämlich „guter und nutzbarer.“ Seitdem war ich häufig die „gute und nutzbare Schwester“, wenn ich Georgen irgend etwas besorgen sollte. Aus Jena aber, wo anscheinend allerhand studentischer Unsinn besonders reich in Blüte stand, erzählte er von der dort extra gegründeten Verbindung Carceria, der die jeweils Eingespundeten angehörten, und deren Farben waren Braun - Weiß - Schwarz, das hieß Bier - Unschuld - Rache! Wenn es auch nicht ein erschöpfendes Urteil ist, was unsre geliebte Tante Lu über Georg fällte, denn sie bespricht • Luise v. d. Gabelentz 1814-1901, genannt „Tante Lu“, jüngste Schwester von Georgs Vater Hans Conon Foto: Familienbestand Gabelentz_s001-344AK6.indd 152 12.07.13 16: 24 <?page no="155"?> 153 an der betreffenden Stelle eigentlich nur uns Poschwitzer Geschwister, wie sie uns in der Kinderstube zu Anfang der 1850er Jahre kennen gelernt hat, so will ich die wenigen Zeilen doch hier noch hersetzen. „Georg war auch schon unter der Hofmeisterzucht, ich konnte ihn nicht so viel haben, wie ich gewünscht hätte. Das war von klein auf ein allerliebster, wunderlicher, aber sehr gutmütiger Kauz. Größer wie Jungen seines Alters sonst sind, war er schon damals. Zu welcher Größe er es bringen wollte, das hat er ja bewiesen, denn er gehörte zu den seltenen Ausnahmegestalten, - wo er auch hinkam, mußte er durch seine Größe auffallen und imponiren. Die langen Glieder, die wußte er als Junge oft nicht zu regieren, das gab ihm so etwas Eigentümliches. Seine Mutter ärgerte sich und lachte zugleich, wenn er so angestorcht kam, - da sie ihm aber auch imponirte, - da wurde er verlegen, und die Sache wurde nicht besser. Sein Papa, der ihn sehr liebte, was der Junge reichlich erwiderte, - pflegte oft zu sagen: ,Was aus dem Jungen wird, das bin ich begierig, ein Original jedenfalls. Möge er nur ein gutes Original werden.‘ Und Frau Henriette darauf: ,Ich bin recht froh, wenn er kein „Dutzendmensch“ wird, es soll mich freuen, wenn er etwas „Eigenartiges“ wird! ‘ Und das ist er geworden, der liebeswürdige, geliebte Georg, der uns leider zu früh entrissen wurde.“ In Georgs Kindheit beschäftigte er sich sehr gern mit allerhand mechanischen Basteleien. Eine Schnitzbank, die er fleißig benutzte, stand ums Jahr 1856 mitten in unsrer Kinderstube. Später hatten ihm die Eltern eine Drehbank machen lassen, ein schön geglättetes Stück von rötlichem Holze. Die hatte er drüben im Obergeschoß der Pachterwohnung stehen, und der liebe alte Gählert [Diener] war mindestens eben so selig darüber wie Georg selber. Sie müßte eigentlich noch irgendwo in Poschwitz stehen. Verschenkt worden ist sie wenigstens sicher nicht. Auf ihr gedachte Georg sich ein Schachspiel zu drehen, in großen Dimensionen, - seiner eignen Größe angemessen. Die Figuren Eichenholz, solide und schwer. Ich besinne mich, daß zwei Türme fertig geworden sind und eine Königin. Die Türme etwa so und die Königin zu unserm Ergötzen in einer Art von Crinoline oder Reifrock, wie sie damals Mode waren, der durch egale horizontale Furchen sehr komisch wirkte. Die Figuren haben noch manches Jahr im Kefter neben der grauen Stube gelegen. Georg ist aber ein passionirter Schachspieler gewesen wie Albert. Wohl aber wandte er sich bei seinem Interesse für alles Ostasiatische eine Z eitlang, - es mag um 1878 herum und in den folgenden Jahren gewesen sein, eifrig dem Gospiel zu. Dies ist nicht mit dem Kinderspiel Go bang zu verwechseln. Es wird zwischen zwei Personen gespielt auf einer großen durch Linien in Quadrate abgeteilten Tafel, mit linsenförmigen schwarzen resp. weißen Steinen, deren jeder Spieler ein ganzes Säckchen voll hat. Sieger ist, wer den Andern zu umzingeln versteht; es werden aber, wie beim Mühlespiel, die Steine einzeln und abwechselnd gesetzt, und zwar auf die Kreuzungspunkte der Linien. Kenner behaupten es sei noch feiner als Schach, jedenfalls giebt es in seiner Heimat eine ganze Literatur darüber. Ich habe es nie wirklich gespielt, Georg hat es nur einmal mir gezeigt, ich glaube aber, daß meine Beschreibung richtig sein wird. Sein Leben hindurch, aber mit besondrem Eifer in seinen zwanziger und dreißiger Jahren, behielt Georg Interesse für seine Spielkartensammlung, die manches Interessante von älteren und ausländischen Spielen enthält. Eines der ersten Werke seiner Schnitzkunst war ein Stiefelknecht aus einem kräftigen gegabelten Ast, den er dem Papa vielleicht noch in den 50er Jahren zum Geburtstag gearbeitet hatte. Es war ein köstlich ungefüges Ding, das gleich hätte aus einem prähistorischen Funde stammen können. Dazu war der Baum wohl ohne Rücksicht auf spätere Verwendbarkeit gewachsen, vielleicht auch das Messer nicht ganz scharf oder des Jungen Kräfte nicht ganz ausreichend gewesen. Kurz, das Ding war zwar zu gebrauchen, aber herzlich plump und lag auch nicht fest. Heute zum ersten mal kommt mir der Gedanke, daß ein alltäglicherer Stiefelknecht dem Papa vielleicht bequemer gewesen wäre. Aber er hat in Poschwitz zeitlebens keinen andern wieder benutzt als den, den ihm sein Junge - Gott weiß mit wie viel Liebe - gearbeitet hatte! Leider ist das Stück in den Jahren nach des Papas Tode verschwunden, worüber Georg mit Recht sehr ärgerlich war. Georg hatte viel Verständnis für alles Volkstümliche, Dialekt, Redensarten u. dgl. So erzählte er mit Vergnügen von einer Szene, die er 1870 oder 71 im Elsaß beobachtet hatte: bairische Truppen hatten einen Zug französischer Kriegsgefangenen eskortirt. An einem Haltepunkt war Essenspause gewesen. Die braven Baiern hatte getreulich auch für die Gabelentz_s001-344AK6.indd 153 12.07.13 16: 24 <?page no="156"?> 154 ihrer Obhut anvertrauten Feinde gesorgt, - aber auch darauf gehalten, daß diese sich für das Empfangene gehörig bedankten. - Wie in den Kriegsjahren im Einzelnen die Verständigung von Volk zu Volk gegangen ist, darüber möchte es der Mühe lohnen eine wissenschaftlich gehaltene Zusammenstellung zu machen, ehe es zu spät ist, sie würde manches Interessante ergeben. Die Baiern damals hatten ihren Unterricht in der Höflichkeit gegeben mit den Worten: „Wie sågt’s? Marschi sågt’s! “ Also: wie sagt Ihr? Merci sagt Ihr! - Manches Jahr später, in seiner Berliner Zeit, geht Georg an einem Droschkenhalteplatz vorüber. Ein Schimmel, gelangweilt und hungrig, hat sich zur Seite gedreht und rauft Laub von einem Alleebaum. Der Kutscher dreht ihn herum und kehrt zum Schwatz mit seinem Kollegen zurück. - Der pflichtvergessene Schimmel aber sofort zu seinem Baume. Und wie ihn sein Herr zum zweiten male zurecht stellt, geschieht es mit der Ermahnung: „Schimmel, ick sage Dir, nimm Dir zusammen! “ Ich möchte noch aus meinen ganz persönlichen Erinnerungen eine Sache nachtragen, wo ich Georgs Eingreifen einen sehr wohltätigen Einfluß auf meine Erziehung und Wohlbefinden verdanke. Bei meinen älteren Geschwistern war durch längerere Jahre Erzieherin gewesen eine Hamburgerin, Frl. Minna Boehlke, eine tüchtige und gewissenhafte, wenn auch wohl weder durch Heiterkeit noch durch Geist hervorragende Dame, die auch später mit meiner Mutter in Verbindung blieb und ihr seiner Z eit ihre jüngere Schwester Elisabeth für mich empfahl. Im Frühjahr 1860 kam diese in unser Haus, kurz vor der Verheiratung meiner Schwester Margarete, bei deren Aussteuer sie in jener nähmaschinenlosen Zeit eifrig und geschickt half, indeß mein Unterricht bis nach der Hochzeit nicht eben sehr genau genommen wurde. So konnte es geschehen, daß meine Schwester Margarete, die wohl bald sich ein Urteil über die neue Hausgenossin gebildet haben würde, sie im Verkehr mit mir wenig zu beobachten Gelegenheit fand. Frl. Boehlke wohnte im 2. Stock, dort waren auch die Stunden. Und die Poschwitzer Begriffe von guter Erziehung ließen es ausgeschlossen erscheinen, daß Unsereins sich bei den Eltern beschwerte. Frl. Boehlke war aber in vielen Beziehungen weniger als ihre Schwester. Französisch, das sie in längerem Aufenthalt in Angoulûme fließend sprechen gelernt, sprach sie mit schlechtem, harten Akzent. Englisch konnte sie viel weniger als ich, die ich es in 2 Jahren bei einer Engländerin, die kein Wort Deutsch konnte, natürlich gut gelernt hatte, und sprach es namentlich so falsch aus, daß meine Diktate von Fehlern wimmelten, da ich meist absolut nicht raten konnte, was all die verkehrt ausgesprochnen Worte bedeuten sollten! Das alles war schon schlimm. Aerger aber war, daß sie mir ihre Unwissenheit verhehlen wollte, was doch natürlich vorbei glückte, - und das ärgste war ihre Ungerechtigkeit, die gelegentlich mich tadelte, wenn Fleury Wagner, meine Mitschülerin, die Schuld hatte - und auch gar nicht leugnete. Diese lachte sie zum Danke aus, - und ich widmete ihr die erste (oder zweite) gründliche Abneigung meines Lebens. - Nun hatte ich aber schon mit 12 Jahren die Gewohnheit, allerlei niederzuschreiben, was mich beschäftigte. Und darunter war auch eine Charakteristik und Kritik Frl. Boehlkes zu Papier gebracht worden. - Was ich nun sonst so aufschrieb, gab ich allemal in den Ferien Georgen zu lesen. Dieses wollte ich für mich behalten. Es war aber aus Versehen unter anderen Schriftsachen geblieben; wie ichs ihm fortreißen wollte, hielt er’s fest und lief damit zur Mama. Ich sehe die Szene noch. In der Bibliothek wars, wir standen vor dem großen Schreibtisch in der Mitte, Georg hielt mein Paket Schriften in der Hand und ich beobachtete sein Gesicht, wie er las, - denn mit dem Lob war man sparsam uns Kindern gegenüber, - aber das Lächeln zuckte Georg leicht um die Lippen. Und auf einmal trat an Stelle des gütigen halb amüsirten Ausdrucks der des gespannten Aufmerkens: „Was ist das! ? “ Und fort war er. - Und nach einigen Monaten verließ Frl. Boehlke unser Haus, und am Morgen ihrer Abreise sagte mir die Mama vertraulich: „Singe aber heute nicht so laut auf den Treppen, der Leute wegen, weißt Du.“ Da wurde mir klar, wie genau sie Bescheid wußte. Aber weiter ging nach damaligen Erziehungsgrundsätzen die Offenheit der Dreizehnjährigen gegenüber nicht. Es muß im Jahr 1867 gewesen sein, daß im Sommer die Mama den Photographen Könitzer aus Neustadt a/ Orla nach Lemnitz kommen ließ zu allerhand Aufnahmen. Da verfiel Georg auf einen übermütigen Gedanken: „Du mußt dastehen mit meinem abgeschnittnen Kopf unterm Arm.“ Gesagt, getan, ich stemmte den Arm in die Seite, Georg kauerte möglichst hinter mir, - was von ihm noch zu sehen war, mußte der Photograph nachher fortretouchiren, - und die tolle Aufnahme wurde gemacht. Ich verlangte aber dann noch eine zweite, löste mir rasch die umständliche Frisur mit den vielen gesteckten Puffen auf, kniete meinerseits hin, und Georg hielt meine Haare straff nach oben und zeigte noch obendrein mit der andern Hand wie triumphirend auf meinen Kopf hin. Die Bilder, gute Cabinetgröße, aber nicht scharf, müssen noch in Poschwitz liegen. Gabelentz_s001-344AK6.indd 154 12.07.13 16: 24 <?page no="157"?> 155 In seiner Dresdner Zeit hatte Georg auch eine Gräfin Krockow kennen gelernt, eine kluge etwas exzentrische Dame. Er machte ihr nach, wie sie über eine andre Dame geurteilt hatte, diese sei sonst zwar nett, „aber wissen Sie - keine Spur von weiblicher Anmut“, und dazu hätte sie mit ausgespreizten Fingern und zuckenden hochgehobnen Ellenbogen jedenfalls ihrerseits auch keine Spur von weiblicher Anmut entwickelt. Sie war Phrenologin und hatte Georgen eines Abends in einer Theegesellschaft auch phrenologisch untersucht, allerhand Gutes gefunden, aber am Ende ihm Eines nur unter vier Augen sagen wollen. Georg hatte schon gedacht, Wunder was Gefährliches da herauskommen würde, die Gräfin hatte aber nur ihm mitgeteilt, daß er ganz außerordentlich ehrgeizig sei. Auf einem Altenburger Hofball, der etwa Ende der 70er oder Anfang der 80er Jahre gewesen sein mag, - irre ich nicht war es anläßlich Herzog Ernsts Silberhochzeit, - sein Schwiegersohn, der baumlange Prinz Albrecht von Preußen, war anwesend, und der Kaiser hatte zum Gratuliren den Major v. Plüskow, den derzeit längsten Offizier in der Armee, hingeschickt, - da trat Prinz Albrecht zu mir mit den Worten „Heute freue ich mich, da bin ich einmal nicht der Größte, sondern sogar der Drittgrößte. Eben habe ich mich mit Ihrem Bruder gemessen.“ Plüskow aber und Georg waren, kaum daß sie einander erblickt, auf einander zugegangen und hatten sich selber bekannt gemacht und gemessen. Plüskow war der größte, aber der Unterschied zwischen ihm und Georg ein nur geringer. Gabelentz_s001-344AK6.indd 155 12.07.13 16: 24 <?page no="158"?> 156 VII. Nachtrag 2 Die Mama spielt das Klavier „auf den Verkauf “ - Der Mama Finderglück - Das „Koptische“ Manuskript - Poschwitzer Dienstboten. Friedrich - Sophie Meinert - Rosine Zeisig geb. Taube - Der Oteit Kinder - Christian Böhnert. Gählert. Kleemann - Des Papas „subtiler Selbstmörder“ - Isa Bülow über den Papa - „Landschaftsmalerei.“ Labyrinthe - „Alopax.“. Lehrdichsdorf - „Alte Erbstücke ehren“ - Der Hofknix - „blos-Weibsen“ - Sentenzen Georgs - Der Eltern Verkehr mit dem Altenburger Schlosse - Ein Fest in Poschwitz - Verkehr mit dem Schlosse - Eine Maskerade - Eine andre Maskerade - Das Büro mit der Büste - Das Büro in der Polonaise - Die „wirkl. Geh. Oberhoftrödelmeisterin“ - Die Oberhoftrödelmeisterin bedankt sich - Die Windischleubener Wärmflasche - Der Bildertausch - Ronge gegen Wagner - Wagners Verdruß - Die Beichte ohne Reue - Einladungen zum 13. Oktober - Die Mama pflegt Margareten - Die Mama komponirt am Krankenbett - Die Musik als Rettung - „Theetischkonversation“ - Die ruhigen Schweine. Papamphi - Der Schubkarren mit dem Braurecht. Mein Kochbuch - Scherze von Georg - Die Trukhsnasus - Wahlsprüche. Bild mit v. Stumpfeld - Der Mama Schreiben - Gedichte von Georg Spielst es auf den Verkauf! Es war eigentlich alt und abgespielt, aber man kann das mit dem Anschlag ja machen. Und der Käufer schmunzelte und meinte: Ein schöner Ton! “ Pastor Wagner in seinem Aufsatz über den Papa erwähnt „den, den Frauen eignen Spürsinn“, der der Mama geholfen habe, allerhand seltne Manuskripte aufzustöbern. Sie hatte in der Tat ein großes Talent hierfür, hatte auch ihre ganz bestimmten Regeln für den Verkehr mit Antiquaren. „Wenn ich ein ausländisches Manuskript im Fenster gesehen habe, frage ich natürlich nach Meißner Tassen, und wenn ich Porzellan will, nach einem alten Schranke.“ Sie war gut dabei gefahren. Und ein guter Stern führte sie gelegentlich zu etwas ganz Seltenem. „Hier habe ich Luthers Reiselöffel“, sagte der Trödler Freygang, „wenn der die gnädige Frau interessirt“. Ob er sie interessirte! Aber sie stellte sich zweifelnd. Da verwies Freygang sie an Steckner, den Inhaber eines der größten damaligen Modegeschäfte, der kenne den Löffel, sei auch der Familie Ammerbach verwandt, die direkt von Luther abstamme und ihm, Freygang den Löffel verkauft habe. - Die Mama nahm also den Löffel mit zu Steckner. Der schlug die Hände überm Kopfe zusammen: „Den Löffel haben die verkauft? “ Und schrieb der Mama auf ihre Bitte eine Bescheinigung, daß der Löffel echt sei. - Jetzt ist er in meinem Besitz. Des Papas Wunsch seit Jahren war ein koptisches Manuskript. Eines Tages findet die Mama ein Manuskript in fremder Schrift, das der betr. Antiquar als koptisch bezeich- Ich bin im Wesentlichen mit meiner Arbeit zu Ende. Es geht Einem aber eigen mit diesem Z urückschauen in die Vergangenheit: Wie in einem dunklen Zimmer man sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnt und dann ein Gegenstand nach dem andern deutlich und immer deutlicher hervortritt, so strömen mir auch, je länger ich an diesen 4 Aufsätzen über Eltern und Brüder schreibe, noch so manche Einzelheiten zu, die ich der Vergessenheit entreißen möchte. Wenn man der letzte aus einer Generation ist, so fängt man an, das eigne Gedächtnis wie das Unicum eines alten Manuskriptes zu achten. Der Aufsatz über die Mama war längst fertig und eingebunden, als mir noch Nachträge dafür einfielen, ja auch von Anderen zugingen. Ich schrieb in das fertige Buch, was noch auf den Seiten Platz hatte und als der Platz gefüllt war, sagte ich mir, die 4 Bücher seien doch als ein Ganzes zu betrachten, - und ehe ich z. B. die Geschichte von dem Besuch des Droschkenkutschers fortließe, sei es besser, sie anderwärts aufzuheben. So kamen in das inzwischen auch eingebundene Buch über den Papa diese auf die Mama bezüglichen Nachträge. Und nun ist auch dieses gefüllt und ich trage hier weiter ein, was mir eben einfällt. In den „Fliegenden Blättern“ hatte uns eine Szene zwischen zwei Pferdehändlern, Vater und Sohn, amüsirt, wo ein Pferd vorgeführt werden soll und der Sohn im Aufsteigen heimlich fragt: „Soll ich das Pferd reiten auf den Kauf oder auf den Verkauf ? “ Einige Z eit nachher war die Mama in einem Leipziger Klaviergeschäft, als ein Käufer hereintrat, der ein Instrument zweiter Hand erstehen wollte, aber selbst nicht spielen konnte. „Ich bot mich an“, erzählte die Mama, „mir fiel der Pferdejude ein, und ich dachte: Rechts: • Rosine Zeisig, geb. Taube, genannt „Oteit“ Bild: Familienbestand Gabelentz_s001-344AK6.indd 156 12.07.13 16: 24 <?page no="159"?> 157 Gabelentz_s001-344AK6.indd 157 12.07.13 16: 24 <?page no="160"?> 158 net. Sie kauft es also und bringt es dem Papa mit. Hier muß man sie aber selbst erzählen hören. „Koptisch! ? Nein, guter ponpon, das ist äthiopisch! ! “ - „Nun, für den Fall habe ich mich vorgesehen, der Mann nimmt es zurück, wenn Du es nicht willst.“ „Behüte! Ich werde doch das Ding nicht wieder hergeben! “ Na, und was war mein Dank? Acht Tage tat er den Mund nicht auf, sondern guckte blos in sein äthiopisches Manuskript.“ Das Bild von Poschwitz, wie es zu den Zeiten der Mama war, würde nicht vollständig sein, wollte ich nicht einer Anzahl treuer Dienstboten gedenken, die zum Teil lange Jahre dort gewesen sind. Vor meiner Zeit oder bis in meine frühste Kindheit hinein war da ein Diener Friedrich - seinen Nachnamen weiß ich nicht, ein Original. Er hatte, wie die Mama erzählte, eine Sonnenbraut und eine Regenbraut. Letztere wohnte im Dorfe und war bei schlechtem Wetter bequem zu erreichen. Erstere gab Gelegenheit zu einem hübschen Spaziergang über Land. Ob Friedrich je eine von ihnen geheiratet hat, weiß ich nicht. Gegen den Kirchgang zum sonntäglichen Gottesdienst sträubte er sich, da ihm Wagners Predigten peinlich waren, - „allemal meint er mich! “ hatte er der Mama geklagt. In seinen Mußestunden studirte er Französisch. Im Parterre des Poschwitzer Hauses befand sich an etwas verborgner, aber zugiger Stelle eine Tür, deren Offenstehen sich den Geruchsnerven leicht störend bemerklich machte. Die Leute aber, die den kleinen Raum aufsuchten, waren oft säumig, sie beim Verlassen ordentlich zu schließen, trotz der Mama häufigem Schelten. Eines Tages geht sie auch ärgerlich hin, die offenstehende selbst zuzumachen, da fällt ihr daran eine Inschrift auf: Affectionné! Sie forscht nach: „wer in aller Welt hat das angeschrieben? “ Da meldet sich Friedrich, stolz - bescheiden: „Ich, gnädge Frau, es ist französisch und heißt zugetan! “ - Vierundzwanzig Jahre als Köchin war bei uns die Sophie, von der Mama angelernt jedes Diner zu kochen, die später den Maurermeister Meinert heiratete, der als Hausmeister in die Pachterwohnung gesetzt wurde. Sie war aber nicht ganz zuverlässig und verführte in dieser Stellung öfter die Mägde zu Unredlichkeiten. - Der Oteit, die auch 24 Jahre im Hause war, habe ich schon sonst gedacht. Ihre erste Stelle als 14jähriges Mädchen war an dem berühmten „Musenhofe von Löbichau“ gewesen, wo der Stallmeister v. Hardenberg, ein alter Junggeselle, ein Frl. v. Dieskau als Hausdame gehabt hatte. Diese hatte das Kind angelernt, und die Greisin sang noch Lieder aus jener Zeit und meinte „ich hatte eine schöne Stimme, ja, wenn die ausgebildet wäre! “ Ihre Hauptgeschichte war, wie am selben Tage sie das Unglück hat eine kostbare chinesische Schüssel zu zerbrechen, und das Frl. v. Pistorius, eine junge Gehülfin der Dieskau, eine braune Küchenschüssel. Die Pistorius verschweigts, indeß die Oteit weinend ihr Misgeschick beichtet. Und Frl. v. Dieskau regierte patriarchalisch und weise: Frl. v. Pistorius bekam eine Ohrfeige und die Oteit einen „Laubthaler“ [Münze mit Zweigen mit Laub]. - Ich habe sie nur als alte Frau gekannt, sie starb 74 Jahre alt (oder 78? ) als ich 11 war. Da waren die scharfen freundlichen Augen und die feine gerade Nase das Einzige, was einen Rückschluß erlaubte. Aber da sie damals „das Schloßröschen“ genannt wurde, mag sie wohl schön gewesen sein. Von ihrem wunderlichen Mann hat sie sich bald scheiden lassen müssen. Ihr ältester Sohn war Lohgerber in Altenburg, die Tochter Sidonie Verkäuferin im Landgeschäft einer Tante Lommer, der jüngste Sohn, der Mutter Liebling, Alexander, lebte als Tischler in New-York. Sie hatte dann den Beruf als Waschfrau ergriffen, war bei meines ältesten Bruder Geburt zur Mama gekommen und von dieser dabehalten worden. - Auch lange Jahre war der Gärtner Christian Böhnert in Poschwitz. Er hatte sich später irgend einer etwas schwärmerischen Sekte angeschlossen und noch nach Jahren die Mama einmal aufgesucht. - Vom alten Gählert habe ich schon bei Albert erzählt. Die treuste Seele, aber ein Umstandsrat, der einen raschen Menschen zur Verzweiflung bringen konnte. Es war ein Cabinetstück der Oteit, ihn nachzumachen wie er den Tisch deckte und krummbeinig niederkauerte um zu visiren, ob alle Gläser in einer Linie ständen. Wohl über 24 Jahre ist auch Kleemann in Poschwitz gewesen, er kam um 1872 herum als Kutscher zu uns, ein schwarzhaariger Gesell, groß aber kurzhalsig, mit dichten geraden Brauen, die über der Nase zusammen gewachsen ihm einen finsteren Ausdruck gaben, mit tiefer brummiger und nuscheliger Sprache. Die Mama behielt ihn später als Diener und Faktotum. Wir Alle waren der Ansicht, daß sein Moralkodex so ungefähr darin bestand, daß er keinem Andern erlaubte die alte Frau zu bestehlen, aber da die Mama die letzten Jahre nichts anschrieb, so war ihm nichts zu beweisen, und auf seine Art sorgte er sonst wirklich gut für sie. - Einmal war meine Schwester Margarete auf nur drei Tage nach Poschwitz gekommen. Den ersten Mittag lud die Mama uns natürlich herüber. Den zweiten Mittag wir ebenso natürlich alle Poschwitzer Gabelentz_s001-344AK6.indd 158 12.07.13 16: 24 <?page no="161"?> 159 nach Windischleuba. Den dritten Mittag, - zugleich den letzten von Margaretens Anwesenheit, erwarteten wir, daß die Mama uns wieder einladen würde, aber sonderbarer weise war es unterblieben. Wie sie nun die Kücheneinkäufe mit Kleemann bespricht, sagt sie: „und fünf Rebhühner.“ - „Und sieben Rebhühner“ entgegnete Kleemann. „Nein, Kleemann, fünf! “ - „Aber für Münchhausens.“ - „Die sind ja nicht eingeladen, Kleemann! “ - „Die kommen doch! “ Und die Mama schickte uns eine verspätete Einladung und erklärte uns nach Tische, als Kleemann heraus war, wem wir sie zu verdanken hätten. - Man konnte aber auch erleben, daß Kleemann nach einem Stadtwege, der Besorgungen und Einladungen zu einem von der Mama ihren kleinen gemütlichen Mittagessen hatte vereinigen sollen, ihr folgendermaßen rapportirte. „Nu, Exzellenz, ich war beim Herrn Hofprediger, aber der konnte nu nich kommen, da bin ich beim Herrn Doktor Stade gewesen, der wird die Ehre haben, un de Hasen, die de Freiern hatte die toogten nischt, ich hab aber ne scheene Gans mitgebracht, und die Frau von Stenglin hatte Dienst, da hab’ ichs der Frau von Stieglitz gesagt, die will ooch kommen, ja un der Lachs bei Kamprad war ausgegangen, aber Zander war gut, den habch gleich mitgebracht.“ - Es war alles gut und recht. Wer aber nicht mitangesehen hatte, wie es allmählich so geworden war, für den hatte das vollendete Ganze einen gewissen Reiz der Originalität. Dieser zunächst Georg gewidmete Aufsatz wird mir mehr und mehr zu einem Sicherheitsventil für eine Anzahl Kleinigkeiten, die ich in den früheren Niederschriften über die Eltern und Albert einzufügen vergaß. So weiß ich nicht, ob ich erzählte, wie der Papa von seinen jägerischen Erfolgen berichtete, - er war fast nie auf die Jagd gegangen überhaupt, - aber doch einmal hatte er einen Hasen geschossen. „Das war aber blos ein subtiler Selbstmörder“, setzte er erklärend hinzu. Wenn wir aßen, wie nur lang aufgeschossene Kinder mit tadellosem Magen essen können, meinte der Papa schmunzelnd: „Na, Gott segne Deine Studia.“ Lange nach seinem Tode erzählte noch Margas [M. v. d. Gabelentz, geb. v. Carlowitz, Frau von Albert v. d. G.] Schwester, Isa Bülow, bewundernd von seiner vollkommenen Liebenswürdigkeit und unzerstörbaren guten Laune. Er war Abends bei Alberts in Lemnitz gewesen und man hatte geskatet. Da habe der Papa geradezu ausgesuchtes Unglück gehabt. Immer die schlechtesten Karten, aus denen selbst so ein guter Spieler wie er nichts machen konnte, aber seine Laune blieb sich völlig gleich, heiter und ebenmäßig. Am Ende lächelt ihm das Glück. Er hat ein sogenanntes unverlierbares Spiel in Händen und spielt es. Aber siehe da, das Gegenspiel sitzt so ungünstig wie möglich, und das unverlierbare Spiel geht herum! „Jeder hätte sich da doch geärgert. Aber der Papa lachte blos, daß das Unglück ihn auch hierbei noch verfolgte.“ Während der Sitzungen im Landtage vertrieb er sich, wenn die Reden ihn langweilten, die Zeit damit, mit einem Bleistift allerhand Linien auf das vor ihm liegende Löschblatt zu zeichnen, häufig gekrümmte zahlreiche Parallelen, regellos an einander gefügt zu einem rätselhaften Muster, etwa in dieser Art u. s. w. Georg nannte dies „des Papas Landschaftsmalereien“. Der Gedanke in Poschwitz ein Labyrinth anzulegen hat ihn längere Zeit beschäftigt. Es ist nie ausgeführt worden, aber eine Anzahl Entwürfe dazu, die er teils kreisförmig, teils quadratisch geplant hatte, sind von seiner Hand noch in Poschwitz vorhanden und bekam ich als Kind gelegentlich zum Spielen, wo ich dann versuchte mit einem Stäbchen die Wege nachzufahren, die man zum Centrum oder von da heraus einzuschlagen hatte. Als Probe kühner Etymologie zitirte der Papa - und zwar mit möglichst raschem Sprechen - die Worte: „Alopex, pix, pax, pux, Fuchs.“ Zu uns Kindern sagte er wohl, statt „das hat Alles seine Gründe“, „das hat alles seine geweißten Schubsäcke“. Die geweißten Schubsäcke galten aber für unwiderleglich. Die Mama erzählte aus ihrer frühen Jugend, daß ihr der Gedanke an Grundbesitz und Schaffen auf und für solchen stets besonders lieb gewesen sei. Da hätte sie sich ein ganzes Dorf ausgedacht, dem sie den Namen „Lehrdichsdorf “ gegeben hätte, und in dem sie nun die erdenklichsten Anlagen und Verbesserungen einrichtete. - Als Albert heiratete, übergab sie Marga ein sorgfältig geschriebenes Inventar von Lemnitz. Auf dessen erster Seite hatte sie den selbstverfaßten Vers geschrieben: Gabelentz_s001-344AK6.indd 159 12.07.13 16: 24 <?page no="162"?> 160 Alte Erbstücke ehren, Das Inventar mehren, Nicht glänzend, doch solid durchaus, So hielten wirs in unserm Haus. Und wird Euch dies zu Nutz gereichen, So gehet hin und tut desgleichen. Amüsanter Weise besinne ich mich nur auf Eins, was mir die Mama selbst und sorgfältig gelehrt hat, - einen tadellosen Hofknix nach ganz alter Schule mit gerade gehaltnem Oberkörper. (Von meinen Kindern kann ihn Mete besonders porträtgetreu nebst meiner Handhaltung nachmachen! ) In Altenburg in der Tanzstunde mußte ich den Oberkörper neigen, eventuell dabei sogar den geöffneten Fächer theatralisch - es sieht übrigens graziös genug aus, - an die Brust legen, - das entsetzte die Mama. „Bühne! Aber nicht Hof! “ Und nun ward geübt, tief und immer noch tiefer, - es war nachher ein Sport von mir, daß ich in der tiefsten Stellung beliebig lange aushalten konnte, - und dann eben so gerade wieder in die Höhe, ohne daß der Oberkörper einen Augenblick aus der senkrechten Haltung gekommen wäre. Und nun eine meiner ersten Hofgesellschaften, ein Abend beim freundlichen alten Herzog Joseph von Altenburg. Die Mama begrüßte ihn, und ich neben ihr versinke nach Vorschrift, - und der alte Herr lächelt, sehr gütig, und mit mehr Anerkennung als Schalkhaftigkeit im Tone sagt er zur Mama: „das ist noch die gute alte Schule! “ Die Mama hatte einen scharfen Blick und unbestechlich sicheres Augenmaß. Das war ihr seiner Zeit beim großen Poschwitzer Bau gelegentlich zu statten gekommen in Fällen, wo dem Baumeister eine Unachtsamkeit widerfahren war. Die Mama hatte die Sache ganz vergessen gehabt. Als aber anläßlich Paulines Hochzeit die Bauern vorgeritten waren und die Eltern sich durch einen Ball bei den Leuten revanchirten, war einer der Gäste damals bei jener Szene auf dem Bau dabei gewesen und hatte die Mama daran erinnert: „Wissen Sies denn nicht mehr, wie damals die Sache nicht gerade war, der Maurermeister hatte’s nicht gesehen, un Sie sahens? Nu, mr hun uns alle gewunnert. Mr sagten: „Wenn mrs bedenkt, s is doch immer blos Weibsen.“ Ich will hier einige Sentenzen zusammen stellen, die Georg im Jahr 1880 infolge eines verlorenen Vielliebchens „schmiedete“, wie er selbst es nannte, denn er hatte die Arbeit - ein auf Kommando geistreich sein - wohl bald satt bekommen. [Abdruck in „Worte“, S. 327-329, in diesem Band] Residenzschloss Altenburg. Blick in den Schlosshof Gabelentz_s001-344AK6.indd 160 12.07.13 16: 24 <?page no="163"?> 161 Ich füge hier eine zu andrer Zeit gemachte Niederschrift ein, die sich auf die jüngeren Ehejahre meiner Eltern bezieht und neben ein paar Wiederholungen doch auch noch Einiges ergänzt, was ich an andrer Stelle einzufügen vergaß. - Meine Gewohnheit ohne Konzept zu schreiben hat eben auch ihre Mängel! - Der Verkehr zwischen dem Altenburger Schlosse und Poschwitz muß überhaupt in jenen Jahren, wo die Eltern noch jünger waren, ein reger und warmer gewesen sein. Die Mama erzählte gelegentlich Details. So z. B. sei Herzogin George so voll Interesse für den Poschwitzer Bau gewesen, daß sie auch eine Leiterpartie nicht gescheut habe um Alles zu besehen. Ihre sehr schönen, sehr kleinen Füße seien aber überaus empfindlich gewesen, und sie hätte sich in ihrem Schuhzeug eigentlich immer erst wol gefühlt, wenn es gar nicht mehr neu gewesen sei. So sei sie einmal in Poschwitz vorgefahren und habe die Mama an den Wagen kommen lassen, ihrer Einladung auszusteigen aber standhaft widerstanden und endlich ihren Fuß vorstreckend der Mama den Grund zugeflüstert: „Ich habe ja kapute Stiefel an und müßte mich vor dem Lakaien genieren.“ Auch früher, zur Zeit von Herzog Joseph, wurde gute Nachbarschaft mit Poschwitz gehalten. Frau v. Ziegesar, damals noch Frl. v. Stenglin, schreibt darüber z. B. unterm 14. Juli 1838. „Als ich in den herrschaftlichen Garten kam, sah ich den Gabelentzischen Diener und vermutete gleich, daß es mir gelte! und richtig: eine sehr herzliche Einladung zum Nachmittage, wo sie noch Einige gebeten. Die Herrschaften hatten schon den Wunsch geäußert dabei zu sein; ich sagte es also. Mit vieler Freude griff die Herzogin zu, noch dazu mit 170 Fingern, denn 17 Menschen wurden 6 Uhr Nachmittags von 12 Pferden hingezogen. Ich bekam etwas Angst deshalb, doch sie war so freundlich, ja glücklich; die Tafel so zum Brechen voll, so köstlich arra ngirt, daß - hatte sie neulich gemeint als wir fort waren, sie heute noch in Seligkeit schwimmen muß, mit dem Gefühle des vollkommen réussirt-seins.“ - „Die Gabl. war selig bei ihrem vollen Tische! Superbe war es! Die Engländerin behauptet, in Deutschland noch nicht so gegessen zu haben! “ Soweit Ottilie v. Stenglin. Auch freundnachbarliche Hülfe ward eben so unbefangen erbeten wie angeboten. Unter den Briefen der Oberhofmeisterin Jülie v. Stenglin findet sich eine Bitte um Spargel oder sonst irgend ein feines Gemüse, der Hofgärtner habe keinen mehr, und es sei das Einzige was - irre ich nicht, ein Kranker unter dem Schloßpersonal genießen dürfe. So entsinne ich mich, daß die letzten Poschwitzer Erdbeeren aufs Schloss geschickt wurden, als die Mama hörte, daß der kranke Prinz Moritz nach welchen verlangt habe. Neben aller Etikette ging doch auch viel harmlose Fröhlichkeit einher. So entsinne ich mich von Maskenfesten auf dem Schlosse folgendes von der Mama gehört zu haben. Das Eine mal hatten sie und der Papa ihre Kostüme vor einander geheim gehalten. Der Papa, damals überaus schlank, ja mager, hatte die Rolle eines fetten italienischen Quaksalbers und Marktschreiers gewählt. Die Korpulenz war hergestellt durch eine rot überzogne Weste aus steifer gewölbter Pappe, und jeder Westenknopf öffnete eine kleine Schublade, in der Bonbons versteckt waren, jedes mit einem Scherzgedicht für irgend einen guten Freund umwickelt. Die Mama, - so groß wie ich und eben so breitschulterig, erschien schneeweiß - im Wickelkissen! Der Papa hatte sie bald herausgefunden, zieht aus der betr. Schublade das betreffende Bonbon und steckt es ihr - o Dreistigkeit! vorn in den Wickelbund. Schon darüber war die Mama entrüstet, als sie aber vollends die Verse las, in denen ihr eine unbekannte Handschrift mit gutmütigem Spotte anriet, doch den Herrn Gemahl von dem unfruchtbaren Sprachstudium zu nützlicheren Beschäftigungen zu lenken, ward sie ganz ernstlich böse und „es hätte ihr den Abend verdorben“, erzählte sie noch als alte Frau. Auf einer anderen Maskerade erschien der Papa als alte Frau mit einem Tragkorb (Kiepe) mit Harlekin auf dem Rücken. Er hatte sich von der Taille abwärts als Frau kostümirt, war dann mit dem Oberkörper in einen Tragkorb geschlüpft, dessen Boden herausgeschnitten war, und war oben als Harlekin gekleidet, der mit seinen bunten Armen lustig herumfuchtelte, indes vorn am Tragkorb ein ausgestopfter Oberkörper das alte Weib fortsetzte, dessen Arme, wie um den Korb zu stützen, daran nach hinten herum gelegt und befestigt waren. Und die Mama - sie erschien als Büro! Sog. Cylinderbüro mit halbrunder Klappe, (die bei dem wirklichen Möbel sich ins Innere zurückschiebt) und mit einer Büste oben drauf. Das Büro hatte der Buchbinder aus Pappe über einem leichten Lattengerüst hergestellt und mit dunkelbraun marmorirtem Papier beklebt, und innen waren zu beiden Seiten Griffe angebracht um das übrigens ganz leichte Ding beim Gehen ein wenig aufheben zu können. Die Mama war eine halbe Stunde vor Anfang des Festes zur Oberhofmeisterin v. Stenglin geschlüpft, wohin das Möbel schon früher in der Dunkelheit eingeschmuggelt worden war, war dort hineingekrochen und von da zu ebe- Gabelentz_s001-344AK6.indd 161 12.07.13 16: 24 <?page no="164"?> 162 ner Erde, - das war erwünscht! - herüber ins Schloß gewandert und hatte sich im Saal an eine Wand gestellt. Ihr Kopf war schneeweiß gepudert, Gesicht, Hals und Haar, und mit einem weißen Tuche drapirt. Wie schön mag das klassisch regelmäßige Profil sich ausgenommen haben! Ich fragte: „fiel denn das neue Möbel Niemandem auf ? “ - „Nun, ein paar warfen wol einen erstaunten Blick darauf, aber mehr auch nicht.“ Und nun ertönten die ersten Klänge der Polonaise, und wie sich die Paare zum Zuge ordnen, - da wird auf einmal auch das Büro an der Wand lebendig und schiebt sich in die Reihen und marschirt mit! Man kann noch heute lachen, wenn man sich diese Sensation ausmalt. Der Mama Passion für Käufe bei Antiquaren und ihr Finderglück von allerhand interessanten Dingen bei Solchen hatte auch zu Folge, - das muß in der Zeit um 1848 gewesen sein, - daß sie eines Tages von Herzog Joseph unterzeichnet eine in aller Form ausgestellte Ernennung zur „geheimen Oberhof-Trödelmeisterin mit der Exzellenz“ erhielt! Sie mußte sich dafür bedanken und beschloß dies zu einem Scherz zu benutzen. Ein lustiges Verzeichnis ihrer vorrätigen Waaren ward aufgestellt: „Ein Messer ohne Heft, an dem die Klinge fehlt, eine Zahnbürste, nur wenig gebraucht“ u. dgl., und der Anzug ward entsprechend geordnet. Wie, weiß ich nicht, nur erzählte die Mama, daß sie dazu den Riesenhut aufgesetzt hätte, der von ihrer Mutter stammt und den ich jetzt besitze. Sie fuhr, so ausgestattet, zuerst zur Stenglin, die ihre helle Freude hatte, aber sagte, „ich gebe Ihnen einen Lakai mit, Henriette, wenn Sie über den Schloßhof gehen, - die Schildwache läßt Sie ja nicht herein! “ Mancherlei Scherze und Neckereien gab es auch zwischen Poschwitz und der Windischleubener Pfarre. Pastor Wagner hatte über kalte Füße auf der Kanzel geklagt. Die Eltern wollten ihm gern Teppich und Wärmflasche dorthin stiften, scheuten aber den unvermeidlichen Dank am Kirchweihfest von der Kanzel. Die Mama ließ nun vom Klempner zwei kniehohe fast halbkreisförmige Gefäße herstellen und da sie die kränkliche Pastorin kannte, die nie zur Zeit fertig wurde, so verabredete sie mit der Besitzerin des 2ten Windischleubener Rittergutes, unsrer lieben alten „Madam“ Kuhe, daß sie das sonntägliche Füllen der Flaschen übernehmen wolle. Die Flaschen aber wurden übersandt mit einem Brief, in dem der Text angegeben war, mit dem der Dank von der Kanzel abzustatten sei, wie folgt: „Wenn die Sonn’ aus ferner Hemisphäre Beleuchtet unser Vaterland der quere, Dann weicht der Sommer und der Winter naht, Und jeder friert, der keinen Ofen hat. Auch ich bin in Arkadien geboren Und hab mit Euch gesungen und gefroren. Da hilft kein Lied von Demme und von Reche, Ich lobe mir die Wärmflasche von Bleche. Gestiftet hat sie Herr v. d. Gabelentz (mit verbindlicher Verbeugung nach seinem Platze) Der Teppich ist von seiner Gemahlin, Excellenz, (2. Verbeugung) Und das heiße Wasser wird jeden Morgen Madam Kuhe geborne Mahe besorgen. (3. Verbeugung) Dank sei den edlen Gebern, doch eins ist noch vonnöten, Fängt sie an zu rosten, so lassen Sie sie wieder löten.“ - • Henriette v. d. Gabelentz, geb. v. Linsingen Alte Kopie. Foto im Familienbestand Gabelentz_s001-344AK6.indd 162 12.07.13 16: 24 <?page no="165"?> 163 Ein andrer Scherz war folgender: Pastor Wagner hatte sich malen lassen, - von keinem großen Künstler. Der Herr hatte gemeint, ein Pfarrer müsse etwas Weiches und Mildes im Gesicht haben und hatte aus Wagners prächtig knorrigem Originalkopf ein süßliches, weichliches Wesen gemacht, das den ganzen Menschen veränderte und allen Urteilsfähigen, die Wagner kannten, sehr misfiel. Und nun hatte er auch noch das Unglücksbild in seinem eignen Studirstübchen aufgehangen! Vergeblich hatte die Mama räsonnirt, er blieb dabei, das Bild sei gar nicht so schlecht und hänge da ganz gut! - Da fällt der Mama bei einem großen Reinemachen auf dem Boden eine Lithographie von Johannes Ronge in die Hände, einem s. Zt. viel genannten, heute vergessenen katholischen Agitator, der eine Art Neukatholizismus gründen wollte, und sofort steht ihr Plan fest. Das Bild und eine genaue Instruktion wandert zur allzeit getreuen hold und gewärtigen Madam Kuhe, die zu allen Stunden in der Pfarre aus und einging und am besten den Augenblick abpassen konnte zur Ausübung des geplanten Attentates. Ein paar Tage vergehen. Ronges Bild, eben so groß wie Wagners, hatte mit diesem vertauscht unbemerkt dagehangen, da entdeckt der Pfarrer den Frevel! Es muß in der aufgeregten Zeit von 48, 49 gewesen sein, oder kurz nachher, er witterte einen boshaften Streich eines „Roten“ und ward ebenso erzürnt wie seinerzeit die Mama über Herzog Josephs Tintenwischer mit dem Pferde. Vergeblich forschte, fragte er, die Kuhe hatte Verschwiegenheit versprochen, Andre wußten nichts, er wollte die Angelegenheit der Polizei übergeben. Nach diesem Spatz sollte nun aber doch nicht mit Kanonen geschossen werden, Madam Kuhe wandert nach Poschwitz und erzählt, was für ein Unglück sie in der Mama Auftrag angerichtet habe. Die Mama beschloß unter diesen Umständen, den Pfarrer zu beruhigen und schickte ihm ein Gedicht, das ich versuchen will zusammen zu bringen. „Wer wird denn die große Glocke gleich schlagen? Die ganze Gemeinde ist alarmirt, Auf allen Gassen hört man es fragen: Wißt Ihr denn, was in der Pfarre passirt? Ein grausiger Frevel ist dort begangen Man mauste des Pfarrers Bild von der Wand Und hing, die Freveltat zu verstecken, Ein anderes Bildnis in dessen Stand. Ich wills nur gestehen, ich bin es gewesen, Ich steckte Ihr Conterfei in den Sack, Der süßliche Ausdruck, das mättliche Wesen Waren gar zu sehr nach meinem Geschmack. Die leer gewordene Stelle zu füllen, Das hätte ein Spiegel vielleicht verricht’, Doch auch der Dieb hat moralische Grillen Und duldet das eitele Selbstbeschauen nicht. Und fragen Sie wie ich es angefangen, Daß mir der Tausch der Bilder gelang? - Ich kann auf dem Weg noch zu Mehrerm gelangen! Meine Reue war kurz, Ihr Wahn sei lang.“ Regelmäßig zu des Papas Geburtstag, d. 13. Oktober, wurden seine beiden besten Freunde, Wagner und Loebe, zu Tisch gebeten. Und regelmäßig gab es an dem Tage Mockturtlesuppe, die die Mama eigenhändig bereitete und auch bei großen Gelegenheiten dem Koch nicht überließ. Einmal • Blick von der Kanzel in der Kirche zu Windischleuba Foto: Gabriele Prechtl Gabelentz_s001-344AK6.indd 163 12.07.13 16: 24 <?page no="166"?> 164 war versäumt, die Herren vorher einzuladen. Die Mama nahm, - am Morgen des Geburtstages selbst, - 2 Briefbogen, schrieb auf jeden das Datum und in die Mitte ein großes ? Damit wurde ein Bote losgeschickt. Nach 1½ Stunde waren die Antworten zurück. Loebe, der feine etwas pedantische Gelehrte, schrieb: „Heute wäre ich auch ohne das ? nach Poschwitz gekommen.“ Wagner hatte gleichfalls blos oben das Datum eingetragen und auf des Blattes Mitte saß ein großer [gezeichneter Tintenklecks]. „Man sieht ordentlich, wie er ihn groß gemalt hat“, sagte die Mama lachend. Als Margarete, von einem unfähigen Arzte anfänglich auf Schwindsucht behandelt, an einem schweren Nervenfieber darniederlag, - 1869, die Mama also fast 56 Jahr alt, - ist die Mama 3 Wochen lang nicht zu Bett gegangen. Sie pflegte Margarete Tag und Nacht, verließ das Krankenzimmer nur um eigenhändig in der Küche mit Salzsäure den Extrakt aus rohem Fleisch herzustellen, und lag nachts auf der Chaiselongue ohne die Brille abzusetzen, damit sie jeden Augenblick nach dem Thermometer sehen und danach - es war Herbst - den Ofen bedienen konnte. Als sie nach schweren Wochen endlich Margareten in gesicherter Rekonvaleszenz zurücklassen konnte und nach Poschwitz zurückgekehrt des Papas Schwager, Medizinalrat Göpel, von allem berichtete, hatte dieser in seiner trockenen Art nur erwidert: „Na ja, Margarete ist gerettet, - nun kommen Sie dran! “ (Es erfolgten dann ihre ersten schweren Nierenkoliken). Interessant für das Gegebene, Unwillkürliche des künstlerischen Schaffens ist, daß eine der schönsten Melodien, der Jubelgesang „Höret die Kunde“ aus Ruth, die die Mama komponirt hat, ihr in jenen bangen Stunden an Margaretens Krankenlager gekommen ist. Ein andres Mal warf sie sich freilich auch wieder der Musik mit voller Absichtlichkeit in die Arme, als Ablenkung gegen die aufreibenden Münchenbernsdorfer Geschichten. Ich glaube, das muß 1862 gewesen sein. Der Papa war verreist, also fehlte sein beruhigender Z uspruch, und es war ein Schreiben, irre ich nicht von einem Anwalt der Großmama, eingelaufen, das die Mama in solche Aufregung versetzte, daß sie ununterbrochen ruhelos durch die Zimmer auf und ab wanderte. Alle Geschwister waren längst von Haus, ich, damals 13jährig, natürlich außer Stande, einen Einfluß auszuüben. Da hatte Onkel Göpel in seiner derben Art zur Mama gesagt: „Und nun machen Sie sich etwas zu tun, sonst werden Sie noch ganz verrückt, halb sind Sies schon.“ Da habe sie denn mit aller Willenskraft sich ins Komponiren vertieft, erzählte die Mama, der ich auch diese Geschichte verdanke. Der Mama tiefgründiges Wesen und schwerer Sinn machte sie ganz unfähig zu dem leichten auf der Oberfläche bleibenden Gespräch, wie es in der Geselligkeit üblich ist. Ihre Schwiegermutter, heiter, klug, gewandt und unbefangen, war Meisterin darin, und die Mama sagte dann: sie kann, was mir so ganz fehlt, die „leichte Theetischkonversation“ machen. Von ihrer Schlagfertigkeit habe ich schon so manches Beispiel erzählt, ich hole hier noch einen scharfen Witz nach. In Altenburg wohnte Ende der 60er Jahre unterhalb des Schloßgartens ein Fleischer, in dessen Hof wir bei den Stadtfahrten stets etliche fette Schweine sahen, die sichs wohl sein ließen, unwissend, zu welchem Loose sie dort aufgespart wurden. Als nun die Ereignisse von 66 kamen, da ward eine Rede unsrer lieben alten Herzogin in Altenburg weiter erzählt: „Ich fühle mich so sicher unter preußischem Schutz! “ „Ja,“ sagte die Mama, - „Fleischer Rothe seine Schweine fühlen sich gewiß eben so sicher unter dem seinen Schutz.“ Dem Papa lagen naturgemäß allerhand gelehrte Scherze näher. Beim Skat verfehlte er bei passender Gelegenheit selten die Feststellung: „It in villas.“ Zuweilen kam auch eine griechische Wendung, - Küchengriechisch! Und wenn er sichs hatte schmecken lassen, und man wollte ihm noch zureden, so erklärte er bündig: „Papamphi! “ Von dem leichtgläubigen Herrn v. Oppel wußte er noch die schöne Geschichte, daß ein Spaßvogel ihn einst veranlaßt hatte, auf einer Auktion einen alten Schubkarren zu erstehen, der dem Stadtfernen nachher nett im Wege gestanden haben mag. Aber der Ratgeber hatte geflüstert: „Den Schubkarren dürfen Sie nicht fortlassen. Die Leute wissen nicht, wie wertvoll er ist. Auf dem Schubkarren ruht ein Braurecht.“ Mir tiefer Rührung erfüllt mich stets aufs Neue der Gedanke, daß mein Vater, dieser gelehrte Mann, der am Tage in den entlegensten Studien arbeitete, - während meines Brautstandes ein Kochbuch für mich zusammen geschrieben hat! Die Mama, am Tage bei der Aussteuer tätig, war Abends natürlich zu müde zum schreiben und sagte: „Conon, eigentlich könnte ich Dir einige Rezepte diktiren. Das Kind (das war allezeit mein Name) muß doch die Rezepte mitbekommen, die gerade hier im Hause Mode sind.“ Gabelentz_s001-344AK6.indd 164 12.07.13 16: 24 <?page no="167"?> 165 Und so geschah es. Und allerhand spezifische Poschwitzer Gerichte kamen herein: Die berühmte Mockturtlesuppe, die von durchgeriebenem Kalbfleisch, die Gänseleberpastete, der Plumpudding, die eingemachten Wallnüsse und Quitten, die Apfelbaignets, der Geschwindkuchen und der „Blechbüchsenkuchen“, der die Zutaten der Poschwitzer Herrschaftsstollen auf die Maße gebracht, daß der Kuchen gerade eine ganz große Brodtrommel füllte, enthielt. Ein paar Worte von Georg fallen mir noch ein. Von kaputen Handschuhen meinte er einst: „Da sind die Finger à jour gefaßt.“ Vor irgend einem nicht taktfesten Trinker: „Betrunken sein ist keine Kunst, aber mit Anstand betrunken sein.“ Als ich mit 15 und 16 Jahren mit allem Eifer Schiffsbau und Seewesen studirte, meinte er: „Du dürftest Dich doch jetzt eigentlich nur in Mattrosa kleiden.“ Einen allerliebsten Rebus hatte er sich ausgedacht: EG [die beiden großen Buchstaben dicht aneinander gezeichnet]. Er ist eigentlich nicht zu raten, so einfach er ist. Die Lösung ist: Gerechtsame, - G rechts am E. - Mit Jubel entdeckte und rezitirte er einst eine Stelle, irre ich nicht aus dem Z endawusta, wo sich Zarathustra, - wir sprachen ihn „-tuschtra“ aus - bei Ahuramazda erkundigt, was er tun solle, wenn sich eine Trukhsnasus auf seine Stirn setzte. Es war durchaus nicht festzustellen, was eine Trukhsnasus sei. Wir nahmen aber sofort an, daß sie wahrscheinlich brummte und bestimmt stäche. Und Ahuramazda antwortet und nennt ein oder zwei Gebete, die der Gläubige sprechen soll, mit dem trostreichen Zusatz: „Alsdann wird sich diese Trukhsnasus von Deiner Stirn auf Deine linke Wange setzen.“ Dieser Platzwechsel scheint dem Propheten aber nicht zu genügen. Er fragt wieder: „Schöpfer der mit Körper begabten Welten, Reiner! Wenn sich diese Trukhsnasus auf meine linke Wange setzt, was soll ich dann tun? “ Und es werden ihm neue Gebete vorgeschrieben, welche eine Versetzung der Trukhsnasus auf des Propheten Nase zur Folge haben sollen! Noch lange nach dieser Entdeckung hieß bei uns jedes unbeliebte Insekt eine Trukhsnasus. Als Wahlspruch schrieb mir Georg ins Torturbuch: 7 αἰὲν ἀριστεύειν καὶ ὑπείροχον ἔμμεναι ἄλλων Für sein Handeln hatte er sich besonders zur Regel gemacht, was er oft betonte und auch tatsächlich meist durchführte, das „suaviter in modo, fortiter in re.“ 7 Es handelt sich um einen Vers aus der Ilias, 6. Gesang, Vers 208. „Immer der erste zu sein und vorzustreben vor andern“. Übersetzung von Johann Heinrich Voss, 1781. Leider ist, soviel ich weiß, ein Bild von Georg nie nach Poschwitz, oder auch nur in seinen Besitz gekommen. In Jena studirte mit ihm ein Hr. v. Stumpfeld, der - vermutlich an Fettsucht krank - aber so auffallend dick war, wie Georg auffallend lang. Ich entsinne mich, daß er erzählte, er habe sich mit Stumpfeld zusammen photographiren lassen wollen oder sollen, glaube auch, daß der Plan ausgeführt wurde, habe das Bild aber nie gesehen. Eine eigentümliche Gewohnheit meiner Mutter möchte ich noch nachtragen. Sie hielt beim Schreiben den rechten Zeigefinger hoch gestellt, so daß das vorderste Gelenk nach innen gebogen war. Und als ob diese auf dem Klavier so sicheren Hände auf dem Papier sich unsicher fühlten, - sie ließ ihre linke Hand mit schreiben! Stemmte den steil gestreckten, - auch vorn etwas übergebognen - Mittelfinger der Linken gegen den Daumen der Rechten und begleitete so jede Zeile. Ich habe eben versucht, nur 3 Worte so zu schreiben, es ist mir unmöglich! Unter alten Papieren finde ich noch folgende 2 Gelegenheitsgedichte Georgs, leider ohne Datum, doch wohl aus der Leisniger oder Chemnitzer Zeit. Gedichte von Georg. 1. Geehrte Herren! Eegentlich Ziemt mirs, zu geben gelegentlich dem scheidenden Kollegen Zu Ehren ein Lebenszeechen. Ich kenne Müllern nam’tlich Zwar meistenteils nur amtlich, Allein geschäftlich habn mer Geteilet Freud und Jammer. Nun denn! ich weiß, wie tüchtig Und schnell er eingericht’t sich. Hat man doch selbst in Zwicke Anerkannt sein Geschicke Und ihm gesandt in den vorigen Wochen viele Konfirmatorien. Schon glaubt‘ ich, der wird sehr jung Kommen in ein Dikasterium, Beklag, daß man ihn versetzt hat, In solch ein Nest wie Jöstadt, In einen Ort, wo Jeder Ist Hausierer oder Weber entweder, Wo jedes Kind, das man gebärt, Die Volkszahl um ein Tausendstel vermehrt, Wo man im Juni noch Feuer macht Und die Füchse sich sagen gute Nacht, Wo nur das böhmische Bier verrät, Daß man auf gesittetem Boden steht, Gabelentz_s001-344AK6.indd 165 12.07.13 16: 24 <?page no="168"?> 166 Und wo seit einigen Monden erscht Die ununterbrochne Geschäftszeit herrscht. Und für das Alles will man ihn trösten Durch Gehaltserhöhung und Umzugskösten. Wohlan! Es werd ihm zu teil heut Unser herzinnigliches Beileid. Möchte er bald wieder wohnen In angenehmeren Regionen! Doch käme er gar als Assessor Hierher, wärs um so besser. Und somit reiben wir miteinander Auf Wiedersehn einen Salamander. 2. Die dortige Anfrage betreffs p. Müllers Anverlangen Um Hülfsverfahren ist allhier Erst heute eingegangen. Und teilt man dienstergebenst mit, Wasmaßen aus gewissen Ursachen solchem Suchen man Zu fügen zögern müssen. Man meinte nämlich, von den drei Amtsbräuchlich anerkannten Voraussetzungen sei zur Zeit Die erste nicht vorhanden. Obzwar man diese Ansicht nun Verschiedentlich bestreitet, So ward man doch von folgenden Erwägungen geleitet: Zuvörderst schien im Hinblick auf Tatsachen, die zu nennen Wir uns ob der Notorität Vielleicht entbrechen können, Die gegnerische Ausführung In ihren Grundgedanken Insonderheit, soviel des Rechts Natur betrifft, zu schwanken. Nicht minder dürfte einerseits Darüber, daß im alten Kontrakte Solches nicht berührt Ein Zweifel kaum obwalten, Sowie denn andernteils dafür, Daß Kläger sich im Rechte Befind’t Artikel Tausendacht Und siebzig sprechen möchte. Die dortige Behörde woll’ Sothanem nach die beiden Parteien nun verständigen, Beziehentlich bescheiden. ------- Nach den in Georgs Niederschrift enthaltnen Korrekturen ist auch dies Gedicht unzweifelhaft von ihm. Auch die Freude an dem altnordischen Kurialstil entspricht ganz seiner Art. Ich möchte vermuten, daß dieses Gedicht den Anteil darstellt, den er an einer poetischen Gerichtsverhandlung genommen hat, kann es aber doch nicht sicher behaupten. Etwa aus der Chemnitzer Zeit erzählte er, es habe ein gewandter Anwalt eine Klage in Versen eingereicht. Der Gegner wollte sich nicht lumpen lassen und antwortete in Versen. Bei der mündlichen Verhandlung faßt ein witziger junger Herr auch das Protokoll in Versen ab und der Richter sein Urteil desgleichen. Und nun hätte der Unterlegene sich wohl beruhigt, aber an hoher Gerichtsstelle ward beschlossen: „Der Mann muß appelliren, den Spaß müssen die alten Herren in Dresden auch haben.“ Und auch die Berufungsschrift ging in Versen mit den Akten ans Oberappellationsgericht. Dort hätten sie nun ihre helle Freude gehabt - aber doch in Prosa entschieden. Und am Ende heißts: „Ja, was machen wir? Eine Nase müssen die alle doch bekommen! “ Und da fügte man milde hinzu: „Im Uebrigen wäre zu wünschen, daß die Herren - ihr unzweifelhaftes poetisches Talent künftig anderweit verwerten.“ VIII. Nachtrag der Herausgeberin Als Herausgeberin der obigen Schrift „H. Georg v. d. Gabelentz. Biographie und Charakteristik“ von Clementine v. Münchhausen möchte ich zur Ergänzung drei kurze Texte anfügen, die das Bild von Georg v. d. Gabelentz vervollständigen können: 1. von Clementine v. Münchhausen selbst, 2. von ihrer Schwägerin Margarethe v. d. Gabelentz, geb. v. Carlowitz und 3. von „Tante Lu“, der Schwester ihres Vaters, Hans Conon v. d. Gabelentz. 1. Dem in zwei roten Lederbänden gesammelten Briefwechsel zwischen den beiden Geschwistern 8 stellt Clementine eine Kurzbiographie ihres Bruders von wenigen Seiten vor- 8 Georg v. d. Gabelentz. Briefe von und an seine Schwester Clementine, verehelichte v. Münchhausen, 1856-1893. Standort: Oda v. Wedemeyer, geb. v. Ditfurth, Urenkelin von Clementine v. Münchhausen. Gabelentz_s001-344AK6.indd 166 12.07.13 16: 24 <?page no="169"?> 167 an. Darin gibt sie folgende Beschreibung von Georgs erster Ehe: Im Herbst 1872 verheiratete Georg sich zum ersten Male. Die Wahl war leider keine glückliche. Die noch sehr jugendliche - achtzehnjährige - Braut hatte als heranwachsendes bildschönes Mädchen in oft monatelangen Besuchen die Einflüsse des sittenlosen Petersburger Hofes erfahren, und ihre schlaue und weltgewandte Mutter verstand es zwar, - besser wie später die Tochter -, den Schein zu wahren, entbehrte aber die inneren Eigenschaften, die einem solchen Einfluss hätten die Waage halten können. Georg aber, wie bei einer so durch und durch wahren und vornehmen Natur wohl häufig, war nicht geneigt, an Lügen und Betrug bei anderen zu glauben und blieb sehr lange blind. Dazu kam, daß seine wissenschaftlichen Arbeiten ihn vielfach ganz hinnahmen, die durchaus oberflächliche Frau aber bloß langweilten. Später erzählte er mir, es sei ihm allerdings aufgefallen, dass befreundete Damen ihm wiederholt Romane zu lesen empfohlen oder geradezu geliehen hätten, in denen allen sich dieselbe Pointe wiederholte: Ein gelehrter Mann, der von seiner Frau hintergangen wird - ohne dass ihm doch der Gedanke dabei gekommen sei, das geschähe, um ihn aufmerksam zu machen. Leider stand er in seiner arglos gutherzigen Art mehr als er selbst wohl ahnte unter dem Einfluss dieser Frau, der es naturgemäß auf ein paar Unwahrheiten mehr nicht ankam. Sie versuchte die ganze Familie unserer Mutter, uns drei Schwestern, unsere Schwägerin Marga, geb. Carlowitz, gegeneinander zu verhetzen. Das scheiterte zwar in den meisten Fällen an dem guten Einvernehmen, das von lange her zwischen uns bestand, aber Georgen suchte sie doch von den seinen, die sie a ls scharfsichtiger fürchten musste, allmählich immer mehr abzudrängen. Unser Bruder Albert hatte längst Verdacht geschöpft und scharf beobachtet. Endlich gelang es ihm durch gewandte Fragestellung der tiefgesunkenen Frau ein Geständnis ihrer Schuld zu entlocken. Die Scheidungsklage ward im Herbst 1889 eingereicht, die Scheidung im darauffolgenden Spätsommer ausgesprochen. Im November 1891 verlobte Georg sich anderweitig mit Gertrud, geb. v. Oldershausen, der Witwe v. Adelebsen. Ende Dezember fand die Hochzeit in Göttingen statt. 2. Während Clementine den Namen der untreuen Ehefrau ihres Bruders in diesem Bericht nicht ausspricht und die Ereignisse nur knapp zusammenfasst, schildert Georgs Schwägerin, Margarethe v. d. Gabelentz geb. v. Carlowitz, Ehefrau des Bruders Albert, in ihren Memoiren, die bisher in der Öffentlichkeit nicht bekannt sind, das Drama der ersten Ehe Georgs und seinen Tod in folgendem Text 9 eindrucksvoll und emotionsgeladen: 9 Erinnerungen der Margarethe v. d. Gabelentz, geb. v. Carlowitz, Oberhofmeisterin König Friedrich Augusts III. von Sachsen, Manuskript in Familienbesitz, abgeschrieben von Friedrich Wilhelm v. Schlutterbach, Nachfahr von Albert und Margarethe v. d. Gabelentz. • Gesammelte Originalbriefe Georg v. d. Gabelentz - Clementine v. Münchhausen Gabelentz_s001-344AK6.indd 167 12.07.13 16: 24 <?page no="170"?> 168 In der damaligen Zeit (1889) trat ein Ereignis ein, welches für unsere Familie im höchsten Grad peinlich war. Mein Schwager Georg hatte sich mit seiner bildhübschen jungen Cousine Alexandra von Rothkirch-Trach, deren Mutter eine Pierer war, verheiratet. Das hübsche liebenswürdige Mädchen, sie war erst 18 Jahre alt, hatte ihn geblendet. Auch uns gefiel sie gut. Meine Schwiegereltern sahen aber diese Heirat sehr ungern. Besonders meine Schwiegermutter war außer sich. Ohne einen bestimmten Grund angeben zu können, hatte sie eine unausgesprochene Abneigung gegen Sanny, der sie in keiner Weise traute. Die Zukunft sollte ihr vollkommen recht geben. Albert und ich gaben uns Mühe, das Verhältnis freundlicher zu gestalten, wurden aber damit schroff abgewiesen. Immer sagte meine Schwiegermutter, sie sei überzeugt, dass Sanny ihrem Mann nicht treu sei. Beweise konnte sie nicht vorbringen, es war aber wie eine Ahnung. Nach dem Tod meines Schwiegervaters war ja Georg Besitzer von Poschwitz, wo die Mutter allerdings ihren Witwensitz behielt. Da kam es uns doch hart vor, dass er seine Frau nicht ins Haus bringen sollte. Freilich hätte Sanny selbst auch nichts weniger gewünscht, als ein Leben unter den Augen der strengen Schwiegermutter. Der arme Georg, er bekleidete damals eine Professur für ostasiatische Sprachen in Leipzig, sehnte sich aber nach einem Sommeraufenthalt für die Ferienzeit. Da legte sich Albert ins Mittel und schenkte ihm einen Bauplatz in Lemnitz oberhalb des Gartens und es entstand das hübsche Berghaus, welches ja Hans [v. d. Gabelentz-Linsingen] nun von den Erben erwarb. Wenn wir im Sommer auf Wochen in Lemnitz weilten, so entwickelte sich ein sehr reger Verkehr zwischen uns und den Geschwistern und ich ka nn nur staunen über die große Schlauheit, mit der Sanny es verstand, mir Sand in die Augen zu streuen, mich vollkommen zu blenden. Es lag mir ja auch der Gedanke so gänzlich fern, dass eine Frau, die glücklich zu sein schien, strafbare Verhältnisse unterhielt. Schließlich bekam Albert doch Beweise ihrer Untreue in die Hand. Was Freunde sich zuraunen, erfährt die Familie stets zuletzt. Wir waren natürlich ganz außer uns, dass der bisher unbefleckte Name unserer Familie so in den Schmutz gezogen worden war. Albert fuhr sofort nach Berlin, wohin Georg übergesiedelt war - Sanny war noch in Leipzig - um dem armen betrogenen Gatten die Augen zu öffnen. Eine sehr schmerzliche Aufgabe. Georg war eine so reine, harmlose Natur, dass er einen solchen Grad von Verderbtheit und Hinterlist nicht glauben konnte. Albert bestand aber darauf, dass Sa nny aus der Familie ausgestoßen würde. Sie selbst leugnete den wiederholten Ehebruch gar nicht. So wurde die Scheidung vollzogen. Die Frau durfte auch den Namen nicht mehr tragen. Aus der Ehe stammte außer Albrecht, der zu einem gescheiten, prächtigen, liebenswürdigen Mann heranwuchs, noch ein armer blödsinniger Junge. Er wurde in Leipzig geboren und seine Taufe seinerzeit mit einem gewissen Pomp gefeiert. Die Taufhandlung vollzog der bekannte und berühmte Domherr Professor Luthardt, und die Königin von Griechenland, die als junge Großfürstin von Rußland und Tochter einer Prinzess von Altenburg die Spielgefährtin von Sanny gewesen, stand persönlich Gevatter. Ich selbst wohnte der Taufe nicht bei, aber Albert mit seiner Mutter und Schwestern. Der arme Junge stellte sich a ls hoffnungslos blöde heraus und kam später in eine Anstalt, in der er erst vor wenigen Jahren starb. Die Mutter soll „Wölfchen“ einige Male dort besucht haben. Zwei Jahre später heiratete mein Schwager eine junge Witwe, Gertrud von Adelebsen, geb. von Oldershausen. Von Leipzig aus war er einem Ruf als ordentlicher Professor und Mitglied der Akademie der Wissenschaften an die Universität nach Berlin gefolgt … Es war das Jahr 1893 ein bewegtes für mich gewesen, hatte mir nach vielen Schmerzen auch Freuden gebracht. Ein großer Schmerz war der Tod meines Schwagers Georg. Nach einer kurzen Krankheit starb er in Berlin am 10. Dezember und der Tod riss ihn aus der vollen Arbeitsfreudigkeit und dem vollen Glück an der Seite seiner zweiten Frau heraus. Ich eilte gleich nach Poschwitz, wo er bestattet werden sollte und kann die traurigen Eindrücke, die ich dort erhielt, nie vergessen. Ich fand im Haus außer dem a lten Dienerehepaar keinen Menschen. In einem kalten, unbehaglichen Zimmer sah ich voll trüber Gedanken im Geist alle die lieben Menschen, die Poschwitz früher zu einem so heiteren und geistvollen Mittelpunkt gemacht. Der Leichnam kam in der Nacht an. Ich hörte den Wagen vorfahren und die Tritte der Männer, welche den Sarg in das Haus brachten und aufstellten. Wie fröhlich hatte der gute Georg es im Herbst verlassen, voller Pläne wie er sein geliebtes Heim ausschmücken wollte. Ich hatte ihn bei der Taufe der kleinen Hertha Arnim, deren Pate er war, zum letzten Mal so heiter und sonnig gesehen. Wir hatten uns nah gestanden und sein Tod riss eine neue Lücke in mein Leben. Rechts: • Titelseite der „Erinnerungen“ von Luise v. d. Gabelentz gezeichnet von ihrer Nichte Clementine v. Münchhausen Original: Familienbestand Gabelentz_s001-344AK6.indd 168 12.07.13 16: 24 <?page no="171"?> 169 Gabelentz_s001-344AK6.indd 169 12.07.13 16: 24 <?page no="172"?> 170 Rechts: Luise v. d. Gabelentz, Erinnerungen. Gebundenes Manuskript. Aufgeschlagen ist die Titelseite des zweiten Bandes: Mariane v. d. Gebelentz, geb. v. Seebach und das Poschwitzer Haus Original im Familienbestand So blieb ich denn allein mit dem Sarg, bis Albrecht kam, der noch so jung war. Gertrud war sehr elend und musste in Berlin bleiben. Dort besuchte ich sie später im Winter und erfreute mich an dem niedlichen kleinen Hanns-Conon, über den der gute Georg so beglückt gewesen war. Gertrud gab die Wohnung in Berlin auf und zog zunächst ganz nach Poschwitz, wo ihr der Witwensitz zustand. Das Verhältnis zu ihrem Stiefsohn Albrecht war zuerst ein recht herzliches, kühlte sich aber später sehr ab. Er war ja Besitzer, weilte - bei den Reitern in Borna eingetreten - in der Nähe und kam oft nach Poschwitz. Da blieben Reibereien nicht aus. Zuletzt zog Gertrud, die dort nie so ganz warm geworden, wieder in die alte Heima t Göttingen. Sie ließ sich dort eine Villa bauen, doch noch bevor diese fertig war, starb sie. Albrecht nahm sich in liebevoller Weise des jungen Halbbruders an und er und Olga suchten in jeder Weise ihm das Vaterhaus zu ersetzten. 3. Eine andere wichtige Quelle für alle Familienzusmmenhänge sind die „Erinnerungen“ 10 von Luise v. d. Gabelentz (1814-1901), genannt Tante Lu, jüngste Schwester des Vaters Hans Conon v. d. Gabelentz. Sie war ein Original der Familie, unverheiratet und hatte die Gabe des zweiten Gesichtes. Sie schildert ausführlich Georgs Ehen und Familie. Hier ein kleiner Auszug daraus: Der Name Rothkirch-Trach hat unserer Familie in dieser Generation viel Leid und Schande gebracht. Denn Dorchen Schwarzenfels-Rothkirch-Trach und Sanny von Rothkirch waren ja Geschwisterkinder und schon das Engste mit uns verwa ndt, ehe unser geliebter Georg die unheilvolle Verbindung mit ihr antrat. Von dieser Ehe zu sprechen, das wird mir schwer, aber Geschehenes kann man nicht wegleugnen. Georg, der geliebte, herrliche, geistig hochbegabte Georg, ein Gelehrter wie sein sprachberühmter Vater, gutmütig und voller Vertrauen an die Menschheit, körperlich ein Riese, der, weil er selber so ehrlich und gut war, niemanden Schlimmes zutrauen konnte, er verliebte sich sterblich in die mit allen Reizen der Jugend geschmückte Cousine Sanny! Seine Eltern waren gar nicht mit der Wahl einverstanden. Sie sahen gleich ein, dass das gefallsüchtige leichtfertige Mädchen keine Frau 10 Luise v. d. Gabelentz: Erinnerungen. Ca. 600 Seiten. Manuskript, Maschinenschrift, mit Buchschmuck von Clementine v. Münchhausen. Standort: Otto Frhr. v. Blomberg, Nienfeld, Urenkel von Clementine v. Münchhausen. für unsern Georg sein würde. Dass sie nicht fähig sei ihn zu schätzen, wie er es verdiene, und dass kein Glück in dieser Ehe blühen würde. Sie wollten aber dem glühenden Wunsch des Sohnes nicht entgegen sein und gaben - widerstrebend zwar - aber doch ihre Einwilligung. … Zu Sannys Entschuldigung - wenn es eine Entschuldigung für schlechten Lebenswandel und vielfachen Ehebruch geben kann - ist dies, dass sie sehr jung war und eine andere Liebe im Herzen trug, nur auf Zureden ihrer Mutter ihr Jawort gab. … Mein unglücklicher vortrefflicher Neffe musste den Irrthum schwer büssen. - … Nach 18jähriger Ehe wurde das Band gelöst, das die beiden vereinigt ha tte. • Luise v. d. Gabelentz, genannt „Tante Lu“ (1814-1901) Foto: Familienbestand Gabelentz_s001-344AK6.indd 170 12.07.13 16: 24 <?page no="173"?> 171 Gabelentz_s001-344AK6.indd 171 12.07.13 16: 24 <?page no="174"?> Seitenhintergrund rechts: Das Berghaus von Georg v. d. Gabelentz in Lemnitz, Nordseite Gabelentz_s001-344AK6.indd 172 12.07.13 16: 24 <?page no="175"?> Georg v. d. Gabelentz in Lebenszeugnissen Die Gabelentz-Ausstellung 2010 in Berlin: Norbert Fries Begrüßungsworte 175 Michael Wolf Altenburg und Georg v. d. Gabelentz 179 Annemete v. Vogel Aus der Gabelentz-Ausstellung 2010 185 Klaus-Dieter Mertens Das „Berghäuschen“ von Georg v. d. Gabelentz 223 Otto Frhr. v. Blomberg Die Familien v. d. Gabelentz und v. Münchhausen 226 Gabelentz_s001-344AK6.indd 173 12.07.13 16: 25 <?page no="176"?> 174 Gabelentz_s001-344AK6.indd 174 12.07.13 16: 25 <?page no="177"?> 175 Norbert Fries, Humboldt-Universität zu Berlin Begrüßungsworte zur Eröffnung der Ausstellung: „Georg von der Gabelentz. Seine Familie und seine Werke“ am 14. 7. 2010 in Berlin Schon meine Positionierung neben dem lebensgroßen Abbild von Hans Georg Conon von der Gabelentz, liebe Anwesende, versinnbildlicht die Wichtigkeit des Anlasses unserer Zusammenkunft - die Größe des mit dieser Ausstellung Geehrten! Die Ausstellung, zu deren Eröffnung ich die Ehre und Freude habe, Sie heute an der Humboldt-Universität zu begrüßen, widmet sich dem persönlichen Umkreis von Georg von der Gabelentz. Bei seiner Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften, die 1889 mit seinem Ruf als ordentlicher Professor an diese Universität einherging, schloss Georg von der Gabelentz seine Antrittsrede mit den Worten: Neigung und Schicksal haben mich bisher dahin geführt, an sehr verschiedenen Punkten des Globus linguarum Umschau zu halten. Oft nur sehr flüchtige Umschau, aber - das hat die Landstreicherei für sich - überall anregende. In wieweit ich fernerhin der einen oder anderen dieser Anregungen folgen werde, das hängt nur zum kleinsten Theile von meinem Willen ab. 1 Diese Bemerkung deutet darauf hin, dass Georg von der Gabelentz selbst persönlichen Umständen nicht unerheblichen Einfluss auf sein wissenschaftliches Engagement zuschrieb. 1 Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften 1890, XXXIV. Vgl.: Grube, Wilhelm (1905): „Gabelentz, Hans Georg Conon von der“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 50, 548-555. [Onlinefassung: http: / / www.deutsche-biographie.de/ sfz19687.html]; Wiederabdruck in diesem Band. Die hier ausgestellten Artefakte sind Zeugnisse, die das Wechselspiel von effektiver geistiger Vagabondage und persönlichen Umständen erahnen lassen. Eine Vagabondage, welche ja schon den Vater Hans Conon von der Gabelentz bekannt gemacht hatte. Dieser war übrigens der Erste, der 1873 in seiner Arbeit über die melanesischen Sprachen Hinweise auf die Sprachen von Ambrym geliefert hatte, auf jene Sprachen der Neuen Hebriden im Westpazifik, welche zur Zeit Objekt eines umfangreichen Forschungsprojektes am sprachtypologischen Lehrstuhl meines Instituts und dem Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft Berlin sind. Ein Leben lässt sich nicht in eine Ausstellung pressen - uns ist bewusst, meine Damen und Herren, dass hier lediglich einige wenige Artefakte und geistige Resultate dafür herhalten müssen, ein Leben zu illustrieren, dessen Spuren in unserer heutigen Gegenwart in ganz unterschiedlichen Bereichen wie Sternschnuppen aufzuleuchten scheinen. Ich will die nicht mit Sprachwissenschaft Beschäftigten unter Ihnen nicht langweilen mit entsprechenden Ideen des hier Geehrten, der durchaus über weitere als nur für den akademischen Bereich wichtige Kompetenzen verfügte. Dass er solche Kompetenzen als für die wissenschaftliche Forschung notwendig erachtete, zeigt seine auf einer dieser ausgestellten Tafeln nachlesbare Forderung, dass „zum Scharf- und Tiefsinne des Forschers […] die Gestaltungskraft des Künstlers kommen [sollte]“. 2 2 v. d. Gabelentz, Georg (1901): Die Sprachwissenschaft, ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse, 2. Aufl., Leipzig, 76. Links: Plakat der Ausstellung Entwurf: Micol Barichello v. Seebach Gabelentz_s001-344End2.indd 175 17.07.13 16: 18 <?page no="178"?> 176 So ist übrigens auch dieser mein Standort hier nicht zufällig gewählt - in vielleicht kurioser Weise mag meine schmächtig erscheinende Figur im Verhältnis zu dieser originalgroßen Abbildung Georg von der Gabelentz’ auf eine weniger bekannte Fähigkeit desselben verweisen: nämlich Begriffe in Form von Bildern zu verdeutlichen. Sie werden diese Fähigkeit in einigen der hier gezeigten Ausstellungsstücke entdecken können. Doch ich will, einem gleichfalls hier nachlesbaren Ratschlag Georg von der Gabelentz’ folgend, nicht wissender erscheinen, als ich bin, denn: Nie verräth sich der Unwissende schmählicher, als wenn er zu wissen scheinen will, wo er nicht zu wissen braucht. Wir haben diese Ausstellung dem Engagement zahlreicher Personen zu verdanken, insbesondere: Dr. Kennosuke Ezawa, Annemete von Vogel und Micol von Seebach für die Ausstellungsgestaltung und die großzügige finanzielle Unterstützung, Elke und Leopold von der Gabelentz für die Beratung und Materialbeschaffung, Dr. Joachim Emig, dem Direktor des Thüringischen Staatsarchivs Altenburg, für die Materialbereitstellung, Dr. Esther von Richthofen und Dagmar Oehler von der hiesigen Universität für die Mitorganisation. Zu danken für ihre Mitarbeit haben wir ferner Ursula Leyk und Prof. Dr. Xiaohu Feng. Ich freue mich zudem, Frau Dr. Susanne Buschmann vom Chinesischen Kulturzentrum Berlin und aus Altenburg Herrn Oberbürgermeister Michael Wolf begrüßen zu können. Ihnen, meine Damen und Herren, eine konstruktive Entdeckungsreise in dieser Ausstellung wünschend, übergebe ich nun das Wort dem nächsten Redner. Rechts: Marmordenkmal von Wilhelm v. Humboldt vor dem Hauptgebäude der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6. Bildhauer: Paul Otto, 1882. Im Hintergrund rechts das Denkmal von Theodor Mommsen. Gabelentz_s001-344AK6.indd 176 12.07.13 16: 25 <?page no="179"?> 177 Gabelentz_s001-344AK6.indd 177 12.07.13 16: 25 <?page no="180"?> 178 Gabelentz_s001-344AK6.indd 178 12.07.13 16: 25 <?page no="181"?> 179 Michael Wolf, Oberbürgermeister der Stadt Altenburg Altenburg und Georg v. d. Gabelentz * mälde im Schlossmuseum hat die Szenerie festgehalten und zeigt den charismatischen Kaiser in prachtvoller Pose. Für Thüringen und Sachsen gleichermaßen bedeutsame Ereignisse wie der sächsische Prinzenraub 1455 erfolgten in Altenburg und der große Reformator Martin Luther hinterließ ebenfalls Spuren in der Stadt. Gemeinsam mit seinem Freund Georg Spalatin, dem „Steuermann der Reformation“, diente Altenburg bildlich gesprochen als „Versuchsfeld“ für die Reformation. Die Reformation war es auch, die das Ende der klösterlichen Macht einläutete und zur Säkularisierung der Anlagen führte. Heute ist Altenburg eine von vier thüringischen Lutherstädten und steht so in einer Reihe mit Eisenach, Erfurt und Schmalkalden. Ich könnte Ihnen noch über weitere großartige Ereignisse und Entwicklungen berichten, so z.B. die Entwicklung des Skatspiels durch geistige Größen, die Altenburg als „Skatstadt“ weltbekannt gemacht hat. Schon immer zeichnete sich Altenburg durch eine engagierte Bürgerschaft aus. Das geistig-politische Klima der Stadt wurde von Persönlichkeiten wie Johann Friedrich Pierer, Friedrich Arnold Brockhaus, Leopold v. d. Gabelentz und Bernhard August v. Lindenau geprägt. Letzterer übereignete seine grandiosen Kunstsammlungen der Stadt sowie dem Schloss und lässt auch heute noch Altenburg zum Mekka für Kunsthistoriker werden. Gerade das 19. Jahrhundert strahlt mit seiner Residenzkultur bis in die heutige Zeit und vermittelt stadtbildnerisch einen ganz besonderen Charme. Bedeutende Komponisten wie Johann Sebastian Bach und Johann Ludwig Krebs wirkten in Altenburg genauso wie der bekannte Naturwissenschaftler Alfred Brehm. Die Familie v. d. Gabelentz nimmt vor diesem Hintergrund eine ganz besondere und vorrangige Stellung ein, ihre Bedeutung beschränkt sich nicht auf ein Mitglied der Familie. Seit Jahrhunderten war ein Z weig der Die Stadt Altenburg kann sich glücklich schätzen, eine ganze Reihe bedeutender Persönlichkeiten und auch Ereignisse in Verbindung mit ihrem Namen bringen zu können und so ihren Bekanntheitsgrad in Fachkreisen und darüber hinaus zu mehren. Altenburg war und ist eine kulturell reich geprägte Stadt, die noch heute über eine Vielzahl repräsentativer Bauten in nahezu allen Stilen und Epochen verfügt. Und wo historische Bausubstanz ist, da sind Geschichte und Geschichten zu entdecken - so auch in Altenburg. Die Stadt war in der Vergangenheit zeitweiliger Aufenthaltsort deutscher Könige und Kaiser. 976 wird die Stadt erstmals urkundlich erwähnt - von keinem Geringeren als Kaiser Otto II. Kein Geringerer als Friedrich I. Barbarossa beförderte in großzügiger Weise die Entwicklung der Stadt. Nicht zuletzt ihm verdanken wir unser Wahrzeichen - die Roten Spitzen, welche als Doppelturmanlage des Augustiner-Chorherrenstifts heute noch bestehen. Barbarossa selbst soll der Weihe des Klosters 1172 in Altenburg beigewohnt haben. Die Roten Spitzen sind die Überreste der Klosteranlage, die nicht nur als sakraler, sondern auch als Machtbau das Stadtbild prägte. Das Kloster selbst, steinernes Symbol des kaiserlichen Machtanspruchs, war mit vielfältigen Rechten ausgestattet und entwickelte sich damit zum größten und reichsten Kloster des „Pleißenlandes“. Ebenfalls in die Herrschaftszeit von Kaiser Barbarossa fällt die Belehnung Otto von Wittelsbachs 1180 mit Bayern, die in Altenburg erfolgte. Ein Ge- Links: Blick auf das Rathaus am Altenburger Markt, im Hintergrund die Roten Spitzen * Aus der Ansprache zur Eröffnung der Gabelentz-Ausstellung am 14. 7. 2010. - Hrsg. Gabelentz_s001-344End2.indd 179 17.07.13 16: 18 <?page no="182"?> 180 Gabelentzschen Familie im Altenburger Raum ansässig und bekleidete hochrangige Ämter in fürstlichen Diensten. Aber damit nicht genug - auch in den Geisteswissenschaften haben Mitglieder der Familie Hervorragendes geleistet und geschaffen, was bis in unsere Zeit ausstrahlt, noch Bestand hat und für aktuelle und künftige Forschungsansätze die Basis bildet. Und das ist genau das Außergewöhnliche. Historische Leistungen zurückliegender Epochen und ihrer Persönlichkeiten sind immer wieder Gegenstand von Analysen und Bewertungen. Stets baut eine neue Generation auf dem auf, was die vorherige geschaffen hat. Dass aber eigenständige Leistungen von Persönlichkeiten über Zeit- und Ländergrenzen hinweg als gleichermaßen bedeutend, richtungsweisend und genial eingeschätzt werden - diesen Anspruch können nur wenige Größen für sich in Anspruch nehmen. Georg v. d. Gabelentz ist unstreitig einer von ihnen. Handelte es sich doch bei ihm um die glückliche Fügung eines begnadeten Talents, welches in einem großzügigen und weitsichtigen Elternhaus die angemessene Förderung erhielt. So steht Georg v. d. Gabelentz nicht etwa im Schatten seines sprachlich hochtalentierten Vaters Hans Conon v. d. Gabelentz, er trat aus diesem durch eigenständige analytische Arbeiten weit heraus und gelangte durch andersartige, auch philosophisch geprägte Herangehensweisen zu neuen, die Sprachwissenschaften im Allgemeinen befördernden, Ergebnissen. Es ist für uns jedoch überwältigend zu wissen, dass man einem Altenburger und seinen Leistungen noch heute weltweite Achtung und Anerkennung zollt, man sich länderübergreifend mit seinen Forschungen, seinen Erkenntnissen und Herangehensweisen auseinandersetzt und Impulse für gegenwärtige Aufgabenstellungen aufnimmt. Es liegt zehn Jahre zurück, dass anlässlich der Ausrichtung des 3. Ost-West-Kolloquiums für Sprachwissenschaft des Instituts für Asien- und Afrikawissenschaften sowie des Instituts für deutsche Sprache und Linguistik der Humboldt-Universität zu Berlin in Oppurg und Altenburg eine Gabelentz-Konferenz stattfand. Im Rahmen des 200-jährigen Jubiläums der Humboldt-Universität zu Berlin findet nunmehr erneut eine Gabelentz-Konferenz statt. Die Inhalte sind - damals wie heute - höchst anspruchsvoll und vermitteln auf besondere Weise die Bedeutung Georgs v. d. Gabelentz für die heutigen sprachwissenschaftlichen Arbeiten und deren Spezialisierungen. Ich freue mich, Ihnen im Rahmen dieser Konferenz und dieser Ausstellung das Altenburger Land und insbesondere die Stadt Altenburg als langjährige Wirkungsstätte des Georg v. d. Gabelentz näherbringen zu können. Eine gelungene Ergänzung zum Besuch der familiengeschichtlichen Ausstellung oder der Gabelentz-Konferenz wäre die Erkundung des heimatlichen Umfelds der Familie v. d. Gabelentz. Deshalb möchte ich Sie recht herzlich einladen, die Stadt Altenburg zu besuchen und die vielfältigen Angebote zu nutzen. Die liebenswerte Kulturstadt im Herzen Mitteldeutschlands bietet eine beeindruckende Geschichte, wie ich am Beispiel bedeutender Persönlichkeiten schon zu vermitteln versucht habe. Ich rufe Sie auf, in Altenburg Einrichtungen wie das Residenzschloss mit dem Schloss- und Spielkartenmuseum, das Lindenau-Museum, das Naturkundliche Museum Mauritianum oder das produzierende Mehrspartentheater zu besuchen, die markanten historischen Gebäude auf sich wirken zu lassen oder die Altenburger Bauernkultur mit den reich geschmückten Vierseithöfen im Umland zu erleben. Wir würden uns freuen, Sie in der malerischen Kultur- und Residenzstadt Altenburg begrüßen zu dürfen. Vielen Dank. Gabelentz_s001-344AK6.indd 180 12.07.13 16: 25 <?page no="183"?> 181 Vor dem Hause Poschwitz wird eine Szene dargestellt, wie sie im Jahre 1873 gewesen sein könnte, alle Personen lebten zu diesem Zeitpunkt: die Familie v. d. Gabelentz ist mit Ehepartnern sowie der Familie nahestehenden Personen gemalt. Gemälde von Erhard Ludewig Winterstein (1914) Erhard Ludewig Winterstein (1841-1919) hatte im Laufe der Jahre nahezu alle Mitglieder der Familie porträtiert und konnte so nachträglich dieses Bild schaffen. Standort: Apelern, bei Familie v. Münchhausen Foto: Micol Barichello v. Seebach Gabelentz_s001-344AK6.indd 181 12.07.13 16: 25 <?page no="184"?> 182 Gabelentz_s001-344AK6.indd 182 12.07.13 16: 25 <?page no="185"?> 183 Personen von links: 1. Margarethe v. d. Schulenburg, geb. v. d. Gabelentz *1842 †1894, Tochter von Hans Conon v. d. Gabelentz und Henriette v. Linsingen (13. u. 15.) 2. Gebhard Graf v. d. Schulenburg auf Steimke *1823 †1897, Ehemann von Margarethe v. d. G. (1.) 3. Hans v. Carlowitz-Maxen *1856 †1917, Sohn von Pauline u. Richard v. Carlowitz-Maxen (11. u. 6.) 4. Clementine v. Carlowitz-Maxen *1858 †1945, Tochter von Pauline u. Richard v. Carlowitz-Maxen (11. u. 6.) 5. Clementine v. Münchhausen, geb. v. d. Gabelentz *1849 †1913, jüngste Tochter von Hans Conon u. Henriette v. d. Gabelentz (13. u. 15.), Ehefrau von Börries v. Münchhausen (8.) 6. Richard v. Carlowitz-Maxen *1817 †1886, Ehemann von Pauline v. d. G. (11.) 7. Albrecht Friedrich v. Münchhausen *1798 †1880, Vater von Börries v. M. (8.) und Anna (12.) 8. Börries v. Münchhausen *1845 †1931, Ehemann von Clementine v. d. G. (5.) 9. Margarethe v. d. Gabelentz-Linsingen, geb. v. Carlowitz *1844 †1933, Ehefrau von Hans Albert v. d. G. (10.), Königl. Sächs. Oberhofmeisterin 10. Hans Albert v. d. Gabelentz-Linsingen *1834 †1892, ältester Sohn von Hans Conon und Henriette v. d. G. (13. u. 15.), Ehemann von Margarete (9.) 11. Pauline v. Carlowitz-Maxen, geb. v. d. Gabelentz *1836 †1885, Tochter von Hans Conon und Henriette v. d. G., Ehefrau von Richard v. C.-M. (6.) 12. Anna v. Münchhausen *1841 †1921, Tochter von Albrecht (7.), Schwester von (8.) 13. Hans Conon v. d. Gabelentz *1807 †1874, Ehemann von Henriette v. Linsingen (15.), Vater der 5 Geschwister 14. Luise v. d. Gabelentz (Tante Lu) *1814 †1901, Schwester von Hans Conon (13.) 15. Henriette v. d. Gabelentz, geb. v. Linsingen *1813 †1892, Ehefrau von Hans Conon (13.), Mutter von Georg (16.) und seinen 4 Geschwistern (1., 5., 10. und 11.) 16. Hans Georg Conon v. d. Gabelentz, *1840 †1893, Sohn von Hans Conon und Henriette v. d. G. (13. u. 15.) 17. Luise v. Borries, starb 90-jährig, erzog die Kinder von Albrecht v. Münchhausen (7.) nach dem Tode der Mutter Clementine, geb. v. Carlowitz 1848 18. Mariane Auguste v. d. Gabelentz, geb. v. Seebach *1784 †1876, Mutter von Hans Conon v. d. G. (13.) und Luise v. d. G. (14.), ꝏ 1803 mit Hans Carl Leopold v. d. G. *1778 †1834 19. Diener Kleemann Fotos: Micol Barichello v. Seebach 1 2 3 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 4 19 Gabelentz_s001-344AK6.indd 183 12.07.13 16: 25 <?page no="186"?> 184 Gabelentz_s001-344AK6.indd 184 12.07.13 16: 25 <?page no="187"?> 185 Annemete v. Vogel Aus der Gabelentz-Ausstellung 2010 in Berlin Vom 15. 7. bis zum 14. 8. 2010 fand in Verbindung mit der Internationalen Gabelentz-Konferenz (9.-10. 8. 2010) eine Ausstellung „Georg von der Gabelentz. Seine Familie und seine Werke“ im Lichthof des Hauptgebäudes der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) statt. Die Veranstalter waren die Ost-West-Gesellschaft für Sprach- und Kulturforschung e.V. (gegr. 2000 in der HU), das Institut für deutsche Sprache und Linguistik HU und das Thüringische Staatsarchiv Altenburg (im Folgenden: ThStA). Die Ausstellungsleitung hatte Annemete v. Vogel. Zur Ergänzung der biographischen Texte im vorliegenden Band werden hier ausgewählte Inhalte der Ausstellung vorgestellt. Darüber hinaus werden eine Reihe von Fotos, Zeichnungen, Gemälden und Dokumenten gezeigt, die bei direkten und indirekten Nachfahren G. v. d. Gabelentz’ und in Institutionen erhalten sind, mit denen die Familie v. d. Gabelentz engere Verbindungen hatte, unter anderem dem Lindenau-Museum in Altenburg. Inhaltsübersicht 1. Ausstellungseröffnung 2. Die Familie von Georg v. d. Gabelentz in Übersichtstafeln 3. Generation seiner Großeltern 4. Seine Spielkartensammlung 5. Generation der Eltern 6. Die Polyglotte Bibliothek in Poschwitz 7. Die Geschwister mit ihren Nachkommen 7a. Hans Albert v. d. Gabelentz-Linsingen und seine Frau Margarethe, geb. v. Carlowitz 7b. Pauline v. Carlowitz-Maxen und ihr Mann Richard 7c. Margarete Gräfin v. d. Schulenburg und ihr Mann Gebhard 7d. Clementine Freifrau v. Münchhausen und ihr Mann Börries 7e. Georg v. d. Gabelentz, seine Ehefrauen und seine Söhne 8. Lebenslauf und Testament 9. Ruhestätten und Gutshäuser der Familie 10. Das Berghaus Bild links: Nach einem kleinen Archivfoto im Thüringischen Staatsarchiv Altenburg (ThStA) wurde eine Standfigur von Georg v. d. Gabelentz hergestellt, die vom Absatz bis zum Scheitel genau 209 cm misst, seine tatsächliche Größe. Der junge Georg v. d. Gabelentz blickt den Besucher an, dahinter eine originale Tür aus seinem „Berghäuschen“. An der Klinke Schlüssel und Schere, die Insignien der Amtsstube, oben in der Mitte seine Initialen GG in stilisierter Form mit Krone und Gabel seines Wappens, von ihm selbst entworfene eiserne Türbeschläge. Die eigene Form der Tür gestattete dem Besitzer, aufrecht hindurchzugehen. Foto: Micol Barichello v. Seebach Gabelentz_s001-344AK6.indd 185 12.07.13 16: 25 <?page no="188"?> 186 Hauptgebäude der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6 Lichthof der Humboldt-Universität zu Berlin mit der Gabelentz-Ausstellung Gabelentz_s001-344AK6.indd 186 12.07.13 16: 25 <?page no="189"?> 187 Michael Wolf, Oberbürgermeister der Stadt Altenburg Dr. Joachim Emig, Direktor des Thüringischen Staatsarchivs Altenburg (†2012) Annemete v. Vogel, Leiterin der Ausstellung 1. Ausstellungseröffnung Besucher der Ausstellung Fotos: Micol Barichello v. Seebach und Annemete v. Vogel Gabelentz_s001-344AK6.indd 187 12.07.13 16: 25 <?page no="190"?> 188 2. Die Familie von Georg v. d. Gabelentz in Übersichtstafeln Die neue Technik der Fotografie wird in einer Collage angewendet: Einzelfotos werden zu einem Familienbild zusammengesetzt. Es zeigt die Familie v. d. Gabelentz Anfang der 1860er Jahre, nicht ganz vollständig. Dafür können auch Personen doppelt abgebildet werden, z. B. die Dame mit Baby vorn links, die wohl identisch ist mit Margarethe in der oberen Reihe. Oben v. l.: Clementine, Georg, Margarethe, Pauline, chinesische Amme der Familie v. Carlowitz. Unten v. l.: Margarethe mit Kind, Hans Conon, Henriette, Hans und Clementine v. Carlowitz ThStA Rechts: Nachkommentafel von Georg v. d. Gabelentz bis 2011. Erstellt von Elke v. d. Gabelentz Graphik: Micol Barichello v. Seebach 188 Gabelentz_s001-344AK6.indd 188 12.07.13 16: 25 <?page no="191"?> 189 Hans Georg Conon * 1840 † 1893 Ernst Alexander Hans Conon Albrecht * 1873 † 1933 Direktor von Schloß- und Lindeau-Museum Altenburg ⚭ 1903 Olga Henriette von Helldorff * 1875 † 1946 Hanns-Conon Martin Albert Burchard * 1892 † 1977 Direktor des Lindenau- Museums Altenburg ⚭ 1948 Erna Frieda Jurke, verw. Schröer * 1919 † 2012 Leopold Felix Georg * 1949 Dipl. Indologe ⚭ 1971 Elke Lutter * 1948 Dipl. Indologin Ulrike * 1974 ⚭ 2004 Bernd Souvignier * 1967 Ineke v.d. Gabelentz * 2006 Arvid v.d. Gabelentz * 2007 Jorik v.d. Gabelentz * 2009 Vincent Artur v. d. Gabelentz * 2011 Bernhard * 1976 ⚭ 2010 Ewelina Nentwig * 1975 Hans Conon Maximilian Wolfgang-Erich * 1884 † 1914 (unverheiratet gest.) Georg Heinrich Conon Sebastian * 1906 † 1954 Jurist (letzter Besitzer von Poschwitz, unverheiratet gest.) ⚭ 2. Ehe 1891 Gertrud Adelheid Marie, Freiin v. Oldershausen verw. v. Adelebsen * 1858 † 1904 ⚭ 1. Ehe 1872 ⚮ 1891 Alexandra, Freiin v. Rothkirch und Trach * 1854 † 1925 Nachkommen des Hans Georg Conon von der Gabelentz (Poschwitzer Linie) Gabelentz_s001-344AK6.indd 189 12.07.13 16: 25 <?page no="192"?> 190 Rechts: Gabelentzsche Vorfahren von Georgs Vater, Hans Conon v. d. Gabelentz, mit ihren Geschwistern und Eheleuten Aus: Ahnentafel und Stammtafeln der Familie von der Gabelentz. Bearbeitet von Dr. phil. Hans von der Gabelentz- Linsingen Lemnitz 1922 Familienbestand In der untersten Reihe steht Hans Conon zwischen seinen sechs Schwestern, jeweils mit Ehepartnern. In der Reihe darüber Hans Conons Vater, Hans Carl Leopold v. d. Gabelentz, der keine Geschwister hatte. Dessen Vater Wilhelm Ludwig ist einer von vier Geschwistern usw. Alle Generationen werden im Aufsatz von Theodor Dobrucky ab S. 49 in diesem Band behandelt. Hans Conons Nachkommen werden auf der Nachfahrentafel am Ende dieses Buches gezeigt: S. 342/ 343. Gabelentz_s001-344AK6.indd 190 12.07.13 16: 25 <?page no="193"?> 191 Gabelentz_s001-344AK6.indd 191 12.07.13 16: 25 <?page no="194"?> 192 3. Generation seiner Großeltern Oben: Eltern der Mutter, Henriette v. d. Gabelentz: August Heinrich v. Linsingen (1764-1817) Albertine v. Linsingen geb. v. Cornberg (1781-1869) Fotos der Gemälde: Familienbestand Brieftext: Can His dear image from our memorij depart? Long as the vital Spirit moves the heart, shall His remembrance last; sacred and undecayed: and in what ever realm your fate, my Child, may be assign’d, oh ! ! may this faint sketch recall His virtues to your mind. Kann sein liebes Bild aus unserem Gedächtnis verschwinden? So lange, wie der lebendige Geist das Herz bewegt, soll die Erinnerung an ihn dauern; heilig, ehrend und unzerstört: und in welches Königreich dein Schicksal, mein Kind, auch immer dich verschlägt, oh! ! möge diese zarte Zeichnung seine Tugenden in dein Gedächtnis zurückrufen. Übersetzung und Fotos: Annemete v. Vogel Gemälde, 1824 von Georg Friedrich Reichmann (1798- 1853) gemalt, mit Albertine v. Linsingen und ihrer in Ipswich, England, geborenen Tochter Henriette, verh. v. d. Gabelentz. Das große Ölgemälde hängt heute in der Osterburg in Weida, Thüringen. Ein Foto davon wurde bereits von Clementine v. Münchhausen in den Biographien Henriettes und Albertines verwendet. Albertine hält in der Hand ein Medaillon mit dem Bildnis ihres verstorbenen Ehemannes, August Heinrich v. Linsingen, der zur Z eit Napoleons in der Hannoverschen Armee in England diente. Henriette, im weißen Spitzenkleid, weist auf das Bild ihres Vaters. Auf dem Tisch liegt ein Brief mit lesbarem englischen Text. (s. Details links) Gabelentz_s001-344AK6.indd 192 12.07.13 16: 25 <?page no="195"?> 193 Hans Carl Leopold von der Gabelentz (1778-1831), Minister und Kanzler des Herzogtums Altenburg, war in 1. Ehe mit Philippine v. Baumbach (1771-1802) verheiratet. Doska, die Tochter aus dieser Ehe, wanderte 1849 mit ihrer Familie nach Amerika aus. Die zweite Frau war Mariane v. Seebach (1784-1876). Aus dieser Ehe stammen fünf Töchter und der Sohn Hans Conon, der Vater von Georg v. d. Gabelentz. Hans Carl Leopold erfand mit Freunden zusammen das Skatspiel, das von Altenburg aus die ganze Welt erobert hat. Bilder oben rechts: Eltern des Vaters, Hans Conon v. d. Gabelentz: Hans Carl Leopold v. d. Gabelentz Gemälde von Ludwig Doell (1789-1863) um 1823 Lindenau-Museum Altenburg Mariane v. d. Gabelentz geb. v. Seebach Gemälde von F. Wolfram 1851 Lindenau-Museum Altenburg Das Lindenau-Museum Altenburg Foto: Gabriele Prechtl Bernhard August v. Lindenau (1779-1854), Onkel des Vaters, Staatsmann, Sternforscher und Kunstsammler. Er lebte im Pohlhof, Altenburg und stiftete das Lindenau- Museum. Dort steht seine Bronzebüste. Der Pohlhof in Altenburg Gabelentz_s001-344AK6.indd 193 12.07.13 16: 25 <?page no="196"?> 194 4. Seine Spielkartensammlung In der Familie Gabelentz bestanden vielerlei Bezüge zur Spielkartenstadt Altenburg. Georg eiferte dem Sammlergeist seines Vaters nach: Er besaß die für damalige Zeiten größte und wertvollste Spielkartensammlung; sie wurde nach dem 2. Weltkrieg von der Sowjetunion beschlagnahmt. - Dass Georg v. d. Gabelentz sich auch künstlerisch betätigte, zeigen seine eigenhändigen Entwürfe für Spielkarten in Form von Scherenschnitten. Entwürfe für Spielkarten von Georg v. d. Gabelentz ThStA Gabelentz_s001-344AK6.indd 194 12.07.13 16: 25 <?page no="197"?> 195 Altes chinesisches Spiel mit Stäben, aus der Spielkartensammlung Original: Familienbestand, Foto: Elke v. d. Gabelentz Weitere Entwürfe für Spielkarten von Georg v. d. Gabelentz ThStA Gabelentz_s001-344AK6.indd 195 12.07.13 16: 25 <?page no="198"?> 196 5. Generation der Eltern Der in die USA ausgewanderte Familienzweig: Dorothea (Doska) v. d. Gabelentz, die älteste Tochter von Hans Carl Leopold v. d. Gabelentz aus 1. Ehe, wanderte 1849 unter dramatischen Umständen mit ihrem Mann, Pastor Justus Jakob Balthasar Hoppé (der Accent aigu hat sich in Amerika bald verloren) und sieben Kindern in die USA aus. Ihre Nachfahren leben heute über viele Staaten der USA verstreut und haben alle zwei Jahre Familientreffen, zu denen bis zu 200 Personen kommen. Der Kontakt nach Deutschland ging verloren, wurde jedoch 2000 wiederhergestellt. Ein Beispiel der Nachkommen: Familie Michael Hoppe 2009 in Minnesota, USA Foto: Familie Hoppe Bilder links: Justus Jakob Balthasar Hoppé (1799-1861) Dorothea (Doska) Auguste Hoppé geb. v. d. Gabelentz (1801-1855) Bilder bei Familie Hoppe in den USA Louise Constanze v. d. Gabelentz, „Tante Lu“ 1814-1901, die jüngste der sechs Schwestern Hans Conons v. d. Gabelentz, auf deren Aufzeichnungen als wichtige familiengeschichtliche Quelle zurückgegriffen wird. Bild: Familienbestand Gabelentz_s001-344AK6.indd 196 12.07.13 16: 25 <?page no="199"?> 197 Die Eltern von Georg v. d. Gabelentz als Brautpaar 1831 Henriette von Linsingen Ölgemälde in der Osterburg, Weida (Thüringen) Hans Conon v. d. Gabelentz Alte Kopie nach Ludwig Doell, heute im Lindenau-Museum Altenburg Gabelentz_s001-344AK6.indd 197 12.07.13 16: 25 <?page no="200"?> 198 6. Die Polyglotte Bibliothek in Poschwitz Fotos: Familienbestand Das später von seinem Sohn Georg übernommene Arbeitszimmer von Hans Conon v. d. Gabelentz, „die Stube des Papa“, wie seine Tochter Clementine zu den Bildern schreibt, wird von Th. Dobrucky detailliert beschrieben (s. S. 62 in diesem Band). Ergänzend werden hier Hans Conons Brille, eine Uhr wie die über seinem Stehpult, die wenigen, noch erhaltenen Karteikästen, Karteikarten und einige wichtige Bücher gezeigt. Ein großer Teil der Bücher der einstmals 20 000 Bände umfassenden, bekannten Polyglotten Bibliothek ist nach 1945 nach Russland transportiert worden, wo heute gelegentlich in antiquarischen Angeboten das Exlibris der Gabelentzschen Bibliothek auftaucht. Georg v. d. Gabelentz hatte die Bibliothek vor allem um Ostasiatisches erweitert. Gabelentz_s001-344AK6.indd 198 12.07.13 16: 26 <?page no="201"?> 199 Bilder rechts: Exlibris der Poschwitzer Bibliothek ThStA Wiener Rahmenuhr. In einem Fenster bewegt sich die Sonne als Pendel, eine Hand trägt die Uhr. Familienbestand. Hans Conons Brille Familienbestand Gabelentz_s001-344AK6.indd 199 12.07.13 16: 26 <?page no="202"?> 200 Karteikarten der Poschwitzer Polyglotten Bibliothek. Nur ein kleiner Teil der Karteikästen und -karten ist erhalten geblieben. ThStA Fotos: Elke v. d. Gabelentz Gabelentz_s001-344AK6.indd 200 12.07.13 16: 26 <?page no="203"?> 201 Das bekannte Werk von Hans Conon v. d. Gabelentz und Julius Löbe: ULFILAS. F. A. Brockhaus, Leipzig, 1846 Die von Hans Conon v. d. Gabelentz und Julius Löbe in drei Bänden herausgegebene gotische Bibel des Bischofs Wulfila mit dem Exlibris-Zettel „aus der bücherei/ v.d.gabelentz-poschwitz“. (Ausführliche Darstellung bei Dobrucky, s. S. 60 in diesem Band) rechts: Titelseite desselben Buches ThStA Dichtergrüße aus dem Osten. Japanische Dichtungen. Übertragen von K. Florenz in Tokyo. „Dem Andenken Georg’s von der Gabelentz gewidmet.“ 1. Aufl. 1894 C. F. Amelangs Verlag, Leipzig/ T. Hasegawa, Tokyo Familienbestand. Gabelentz_s001-344AK6.indd 201 12.07.13 16: 26 <?page no="204"?> 202 7. Die Geschwister mit ihren Nachkommen Porträts der fünf Geschwister gemalt von F. Wolfram (Maler von Albert und Pauline unbekannt), ca. 1851, Lindenau-Museum 3 Fotos oben: Lindenau-Museum oben v. l.: Albert, Pauline, Margarethe unten: Clementine Gabelentz_s001-344AK6.indd 202 12.07.13 16: 26 <?page no="205"?> 203 Bilder oben: Hans Conon v. d. Gabelentz und Henriette v. d. Gabelentz. Gemälde von F. Wolfram 1850 Lindenau-Museum Fotos: Lindenau-Museum unten: Georg Hans Georg Conon, genannt Georg, war der mittlere von fünf Geschwistern, eigentlich sechs. Die Schwester Walpurgis, geb. 1838, starb bereits mit einem halben Jahr und wird später oft nicht mehr erwähnt. Die Geschwister Hans Albert, Pauline, Walpurgis, Georg, Margarethe und Clementine wurden 1834, 1836, 1838, 1840, 1842 und 1849 geboren. Den Brüdern widmet Th. Dobrucky in seinem Aufsatz in diesem Band längere Passagen im Gegensatz zu den Schwestern, zu denen hier einige Ergänzungen eingefügt werden. Gabelentz_s001-344AK6.indd 203 12.07.13 16: 26 <?page no="206"?> 204 7a. Hans Albert v. d. Gabelentz-Linsingen und seine Frau Margarethe, geb. v. Carlowitz Albert erbte von seiner Großmutter Albertine v. Linsingen, unter Umgehung von deren einziger Tochter, seiner Mutter Henriette, das Schloss und Gut Münchenbernsdorf unter der Bedingung, dass er zu seinem eigenen Familiennamen auch den Namen Linsingen mit führen sollte. So begründete er die neue Linie v. d. Gabelentz- Linsingen. Seine Frau, Margarethe von Carlowitz, die er 1867 heiratete, überlebte ihn 41 Jahre. Sie bekleidete als Witwe 15 Jahre lang das Amt der Oberhofmeisterin am Königlichen Hof in Dresden. Dort hatte sie die Aufgabe, die sechs Kinder des Kronprinzen und späteren Königs Friedrich August III. von Sachsen (1904-1918) zu erziehen und ihnen die Mutter zu ersetzen, die wegen einer Affäre des Landes verwiesen worden war. Sie schrieb Memoiren und starb 1933 im Alter von fast 90 Jahren in Lemnitz. Jüngster Sohn von Albert: Hans v. d. Gabelentz-Linsingen (1872-1946), Burghauptmann der Wartburg Foto: Familienbestand Die Oberhofmeisterin Margarethe v. d. Gabelentz Foto: Familienbestand Münchenbernsdorf, heute abgerissen Foto: Familienbestand Bilder links: Hans Albert v. d. Gabelentz- Linsingen (1834-1892). Margarethe v. d. Gabelentz-Linsingen, geb. v. Carlowitz (1844-1933). Die Bilder hängen heute in der Osterburg in Weida. Gabelentz_s001-344AK6.indd 204 12.07.13 16: 26 <?page no="207"?> 205 7b. Pauline v. Carlowitz-Maxen und ihr Mann Richard Pauline hatte ein ungewöhnliches Leben an der Seite ihres 19 Jahre älteren Mannes, Richard v. Carlowitz-Maxen (1817-1886), Gründer der erfolgreichen Handelsfirma Carlowitz & Co. In China und Deutschland baute er ein Handelsimperium auf, das Niederlassungen in Shanghai, Hongkong und weiteren chinesischen Städten und in Hamburg hatte und im Rahmen des aufblühenden Ostasienhandels Waren zwischen Europa und Asien beförderte. Pauline folgte nach ihrer Heirat 1855 mit 19 Jahren ihrem Mann nach China. Dort wurden die beiden Kinder Hans und Clementine geboren. Früher als ihr Mann kehrte Pauline nach Deutschland zurück, damit die Kinder in Altenburg ihre Schulausbildung erhalten konnten. Richard v. Carlowitz, der später Königlich Preußischer und Königlich Sächsischer Konsul in China wurde und sich sehr für die Kultur und die Menschen in Asien interessierte, hat immer wieder Bücher für Hans Conon und Georg v. d. Gabelentz aus China und anderen asiatischen Ländern besorgt. Die Kisten waren dann monatelang auf dem Schiff unterwegs und wurden in Poschwitz mit Ungeduld erwartet. Carlowitz kehrte wenige Jahre vor seinem Tod nach Altenburg zurück. Richard und Pauline v. Carlowitz 1861 in Canton Foto: ThStA Gabelentz_s001-344AK6.indd 205 12.07.13 16: 26 <?page no="208"?> 206 7c. Margarete Gräfin v. d. Schulenburg und ihr Mann Gebhard Georg v. d. Gabelentz’ Schwester Margarethe (auch Margarete, die Schreibung wechselt in den Quellen) heiratete den 19 Jahre älteren Grafen G ebhard v. d. Schulenburg aus Steimke bei Wolfsburg. Die Frau ihres Bruders Albert, Margarethe v. d. Gabelentz, schreibt über den Schwager Schu lenburg: In ihm verkörperte sich der ,Preußische Junker‘. Reiten, Jagen, einen frischen Trunk und einen guten W itz, das liebte er. Aber dazu kam auch ein innerlich vornehmer Charakter und ein sogar sehr weiches Gemüt. - Ihre Schwiegereltern übertrugen der 19-jährigen Margarethe, die sie für zu verlässig hielten, das Finanzwesen der F amilie, so dass sie ihrem Mann das Geld zuteilen musste. Georg gab eine Reihe von Jahren seinen eigenen Sohn Albrecht in ihre Hand zur Erziehung mit Margarethes gleichaltrigem Sohn Gebhard. Ihr Sohn, Albrecht Graf v. d. Schu lenburg (*1865), ist später als Herausgeber der 2. Auflage von Georgs Hauptwerk „Die Sprachwissenschaft“ bekannt geworden. Er war Schüler Georgs und hatte in engem Kontakt mit ihm gestanden. Er starb bereits 1902 unverheiratet. Bild oben links: Pauline v. Carlowitz (1836-1885) Bild oben: Aqui, die chinesische Amme der Carlowitz-Kinder 2 Fotos: ThStA Bild links: Die Kinder Hans und Clementine v. Carlowitz-Maxen Foto: Familienbestand Gabelentz_s001-344AK6.indd 206 12.07.13 16: 26 <?page no="209"?> 207 Bild oben links: Margarete v. d. Schulenburg und Lise v. Ditfurth, mittlere Tochter von Clementine v. Münchhausen Foto: Familienbestand Bild Mitte links: Margarete Gräfin v. d. Schulenburg, geb. v. d. Gabelentz (1842-1894) Foto: ThStA Bild unten links: Ehepaar v. d. Schulenburg. Gemälde von E. L. Winterstein (s. S. 181) Bild rechts: Titelseite von „Die Sprachwissenschaft“, 2. Aufl. 1901 Gabelentz_s001-344AK6.indd 207 12.07.13 16: 26 <?page no="210"?> 208 7d. Clementine Freifrau v. Münchhausen und ihr Mann Börries Clementine v. Münchhausen geb. v. d. Gabelentz, Georgs jüngste Schwester, die zu ihm ein besonders enges Verhältnis hatte, interessierte sich außer für Sprachen, Musik, Zeichnen und Dichten für verschiedene, im Elternhause vorkommende Fächer wie Jura, Philosophie, Theologie, Geographie, Völkerkunde, Medizin, Dendrologie, Genealogie und Heraldik. Sie entwickelte ein vom Bild ausgehendes System zum Auffinden der Namen zu Wappen und zeichnete selbst etwa 14.000 Wappen. - In ihrer Schrift „Hellsehen und Verwandtes“ sammelte Clementine Berichte und Erfahrungen aus dem Bereich der Parapsychologie. Schließlich verfasste sie Biographien über ihre Brüder, ihre Eltern und die Großmutter Linsingen. Sie hatte das Glück, in ihrem Ehemann einen Gleichgesinnten in Bezug auf Kunst und Geschichte zu finden. Sie teilten die Begeisterung für alte Möbel und Architektur, Textilkunst des Mittelalters und anderer Epochen und Kunstgewerbe jeglicher Art. 1880 kauften sie das Gut Windischleuba bei Altenburg, zu dem ein Renaissance-Wasserschloss gehörte (von 1450 bis 1659 Besitz der Herren v. d. Gabelentz, seit 1978 Jugendherberge). Bei der zehn Jahre dauernden Restaurierung legte das Ehepaar Münchhausen, soweit möglich, strenge, vom Historismus der Zeit beeinflusste Maßstäbe an. Sie richteten die Räume im Stile vergangener Epochen ein und nahmen entsprechend auch die textile Ausgestaltung vor. Clementine v. Münchhausen, geb. v. d. Gabelentz (1849-1913) und Börries v. Münchhausen (1845-1931), der „rote Münchhausen“, wegen seiner Haarfarbe Porträts bei Familie v. Münchhausen in Apelern Gut Windischleuba im Winter Foto: Gabriele Prechtl Gabelentz_s001-344AK6.indd 208 12.07.13 16: 26 <?page no="211"?> 209 Clementine betrieb nun gemeinsam mit ihrem Mann Textilforschung in großem Umfang. Sie rekonstruierte und veröffentlichte mittelalterliche Sticktechniken, arbeitete viele wichtige Stücke nach und wandte alte Techni ken auf phantasievolle eigene Entwürfe an. Die Erforschung alter Techniken un d das Sammeln historischer Muster drängte bald den Zweck, Windischleu ba auszustatten, in den Hintergrund. Es entstand eine stattliche Sammlung, die bis heute im Familienbesitz erhal ten ist und auf Ausstellungen gezeigt wird. Annemete v. Vogel erstellte einen Katalog dazu. Die letzten Jahre ihres Lebens verbrachten Münchhausens auf dem Rittergut Apelern bei Hannover, das sie 1886 vom Hannoverschen Staatsminister Alexander v. Münchhausen (1813-1886) erbten. Dort ruht Clementine neben ihrem Mann in der Gruftkapelle der Familie v. Münchhausen. Stickerei von Clementine v. Münchhausen: Motiv aus der Manessischen Liederhandschrift, Nr. 21 der Sammlung Clementine v. Münchhausen ca. 50 Jahre alt Foto: Familienbestand Münchhausensches Gutshaus Apelern, Graftseite Foto: Christine Siebert Dichter Börries v. Münchhausen, das älteste der fünf Kinder von Clementine und Börries v. Münchhausen sen. Foto: Familienbestand Gabelentz_s001-344AK6.indd 209 12.07.13 16: 26 <?page no="212"?> 210 7e. Georg v. d. Gabelentz, seine Ehefrauen und seine Söhne Lindenau-Museum Altenburg Foto: alte Postkarte Alexandra, geb. v. Rothkirch-Trach Foto in der originalen Georg v. d. Gabelentz-Biographie von Clementine v. Münchhausen in diesem Band Albrecht v. d. Gabelentz Foto: ThStA Gabelentz_s001-344AK6.indd 210 12.07.13 16: 26 <?page no="213"?> 211 Sein Sohn Hanns-Conon v. d. Gabelentz, „Der Leser“, Holzschnitt von Conrad Felixmüller 1934 Lindenau-Museum Altenburg Georg v. d. Gabelentz und seine Ehefrauen, Alexandra, geb. v. Rothkirch- Trach und Gertrud, geb. v. Oldershausen, verw. v. Adelebsen, werden an anderen Stellen des Bandes vorgestellt. Seine Söhne Albrecht und Hanns- Conon haben sich große Verdienste um die Stadt Altenburg erworben: Der Sohn aus 1. Ehe, Albrecht v. d. Gabelentz (1873-1933), erfährt eine ausführliche Würdigung durch Th. Dobrucky in diesem Band. Er war Initiator und Direktor des Schlossmuseums Altenburg sowie Direktor des Lindenau-Museums Altenburg. Der Sohn aus 2. Ehe, Hanns-Conon v. d. Gabelentz (1892-1977), war ebenso Direktor des Lindenau-Museums Altenburg (1945-1969). Er förderte Künstler wie Conrad Felixmüller (1897-1977) und Frans Masereel (1889-1972) und führte das Museum zu internationalem Rang. 1967 wurde er zum Ehrenbürger der Stadt Altenburg ernannt. Seine Frau Erna v. d. Gabelentz, geb. Jurke, verw. Schröer (*1919) starb am 21. 6. 2012. Georg v. d. Gabelentz 1886 Foto im Original seiner Biographie von C. v. Münchhausen in diesem Band Gertrud, geb. v. Oldershausen Foto: Familienbestand Gabelentz_s001-344AK6.indd 211 12.07.13 16: 26 <?page no="214"?> 212 8. Lebenslauf und Testament Anfang des handgeschriebenen Lebenslaufs von Georg v. d. Gabelentz ThStA Transkription des handgeschriebenen Dokuments (Entwurf eines Dokumentes) Original im ThStA Altenburg, Familienarchiv v. d. Gabelentz, Nr. 906, Bl. 51-52 Lebenslauf. Ich, Hans Georg Conon v. d. G. bin am 16. März 1840 zu Poschwitz bei Altenburg als zweiter Sohn, viertes Kind des damaligen herzogl. S. Altenburgischen Reg. u. Kammerraths Hans Conon v. d. G. und dessen Ehefrau Henrietten geb. Freiin von Linsingen geboren und gleich meinen Eltern, evangelisch-lutherischer Confession. Meine Kindheit erlebte ich im elterlichen Hause und wurde hier von Hauslehrern und Gouvernanten unterrichtet, bis ich, Ostern 1855 im Gymnasium zu Altenburg aufgenommen wurde. Hier bestand ich Ostern 1859 die Abiturientenprüfung und bezog nunmehr zunächst die Universität Jena, dann, Michaelis 1860 die Universität Leipzig als Student der Rechts- und Cameralwissenschaften. Nachdem ich Michaelis 1863 mein erstes juristisches Examen vor der Facultät zu Leipzig bestanden, betheiligte ich mich an einer von meinem Bruder unternommenen dreimonatigen Jagd- und Studienreise nach Ungarn, Siebenbürgen und der Bukowina, trat dann als Accessist in das K. GAmt [Amtsgericht] Dresden ein, bestand 1865 die damals noch gesetzlich erforderliche zweite Juristische Prüfung und wurde hierauf am 1. October dess. J. als Hülfsreferendar u. Richter, am 1. Nov. 1866 als Referendar am K. GAmte Leisnig angestellt. Gabelentz_s001-344AK6.indd 212 12.07.13 16: 26 <?page no="215"?> 213 Ende des handgeschriebenen Lebenslaufs von Georg v. d. Gabelentz ThStA / Hier habe ich damals einen noch bestehenden Geschichts- und Alterthumsverein ins Leben gerufen./ [wurde gestrichen] Auf mein Ansuchen wurde mir 1867 - 1868 behufs meiner weiteren juristischen Ausbildung das Auditoriat am K. App. Ger. Leipzig bewilligt und ich sodann am K. Bez. Ger. Chemnitz angestellt. Gegen Ende 1869 bestand ich vor dem K. Justizministerium zu Dresden das Assessorexamen. Nach Ausbruch des Krieges, 1870, bewarb ich mich um eine Verwendung in der Verwaltung der von den deutschen Truppen besetzten Landestheile und wurde hierauf commissarisch im Januar 1871 als Decernent an der Praefectur zu Straßburg, dann als Adlatus und Stellvertreter des Unterpräfecten, nachmaligen Kreisdirectors zu Mülhausen i. Elsaß angestellt. Im März 1872 kehrte ich in meine frühere Stellung nach Chemnitz zurück, wurde aber bald darauf an das Königl. Bez. Ger. Dresden versetzt. Nachdem ich im Jahre 1876 mit ei nem Buche: „Thai-kih-thu, des Čeu-tsÏ Tafel des Urprinzips“ die philos. Doctorwürde an der Universität Leipzig erlangt hatte, wurde ich Ostern 1878 als außerordentlicher Professor der ostasiatischen Sprachen auf einen deshalb neu gegrün deten Lehrstuhl an der genannten Hochschule berufen und s päter, im Jahre 1882 zum ordentl. Honorarprofessor, 1885 zum ordentl. Mitgliede der K. S. Ges. d. Wiss. [Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften] ernannt. / Den internationalen Orientalistencongressen zu Florenz, 1878, Berlin, 1881, Leiden, 1883, und Wien 1886 habe ich als Prä sident bez. Vicepräsident theils den ostasiatischen, theils den o ceanischen Sectionen beigewohnt./ [wurde gestrichen] Gabelentz_s001-344AK6.indd 213 12.07.13 16: 26 <?page no="216"?> 214 Seit 1872 bin ich mit Alexandra Freiin von Rothkirch- Trach verheirathet und habe aus dieser Ehe zwei Söhne im Alter von sechszehn und fünf Jahren. Nach dem Tode meines Vaters, am 3. September 1874, gingen dessen zwei Rittergüter Poschwitz und Lemnitz zunächst in meines Bruders und meinen ungetheilten Besitz. Infolge eines später zwischen uns Brüdern getroffenen Abkommens habe ich Poschwitz allein übernommen. Meine Liebhaberei für fremde Sprachen reicht in sehr frühe Zeiten zurück und wurde durch das Beispiel meines verewigten Vaters und dessen Art, auf meine Gedanken und Interessen einzugehen, mächtig gefördert. Schon als Knabe und Gymnasiast habe ich mehrere europäische und außereuropäische Sprachen, darunter Grebo, Akra, Chinesisch, Neuseeländisch und Samoanisch getrieben und seitdem, freilich mit Unterbrechungen, diese Studien fortgesetzt und ausgedehnt. Andere Interessen, zumal für Philosophie, Geschichte, Länder- und Völkerkunde, dann auch für das Civilrecht und zeitweilig für Volkswirthschaft und Politik, kamen, zum Theil durch meine dienstlichen Aufgaben ge…[? ], dazwischen und haben mich oft lange Zeit hindurch in Anspruch genommen. - Mein sprachwissenschaftliches Streben bewegt sich vorzugsweise in der von W. v. Humboldt vorgezeichneten, auch von meinem verewigten Vater verfolgten Richtung. Dabei hat mich von früh an das Chinesische ganz besonders gefesselt wegen seines absonderlichen Baues, seiner angeblich entsetzlichen Schwierigkeiten und wegen des Alters, Reichthums und der Selbständigkeit seiner Literatur. Schriftstellerisch bin ich zum ersten Male im Jahre 1860 mit einem Aufsatze über Spuren eines ausgebildeteren Conjugationssystems im Dayak, dann wiederholt in der Z tschr. d. DMG. [Deutschen Morgenländischen Gesellschaft], im Globus, und in der Ztschr. f. Völkerpsych. u. Sprachwiss. aufgetreten. Mein erstes Buch war das obengenannte Thai-Kih-Thu. Dann folgten 1881 Chinesische Grammatik mit Ausschluß des niederen Stiles und der heutigen Umgangssprache 1883 Anfangsgründe der chines. Gramm. und 1883 Beiträge zur Kunde der melanes. papuanischen und mikrones. Sprachen (in Gemeinsch. mit A. B. Meyer). 1888 Beiträge zur chines. Gramm. - Die Sprache des Čuang-TsÏ. Andere sprachwiss. u. sinolog. Arbeiten habe ich in den Sitzungsber. d. K. S. Ges. d. Wiss., in Ersch u. Gruber’s Allgem. Encyklopädie, in Techmer’s Internat. Z tschr. f. allgem. Sprachwissensch., in le Lotus, im Journal of The R. As. Soc. [Royal Asiatic Society] of Gr. Brit. & Ireland, in der China Review, im J. China Br. R. As. Soc. [Journal of the China Branch of Royal Asiatic Society], in der Tijdschr. der Bat. Genootsch. [Tijdschrift van het Bataviaasch Genootschap] und in den Akten der internationalen Orientalistencongresse zu Florenz und Berlin veröffentlicht. Das königl. Institut für Sprachen-, Länder- und Völkerk. f. Niederl. Indien, die Société Ethnograph. zu Paris, die Peking Oriental Society und die China Branch of the R. As. Soc. haben mich in die Z ahl ihrer correspondierenden Mitglieder aufgenommen. Leipzig, d. 29. Juli 1889 Dr. H. G. C. vd Gtz Der Lebenslauf sollte vermutlich zur Bewerbung in Berlin dienen. Er zeigt, welche Stationen in seinem Leben Georg v. d. Gabelentz selbst für wichtig hielt. Entgegen den Editionsprinzipien wurden doch zwei ursprünglich gestrichene Stellen dieses Konzeptes aufgenommen, da sie interessante Informationen enthalten. Das Testament von 1893 bildet eine direkte Ergänzung zum Lebenslauf, da hier die Jahre ab 1890 kurz dargestellt werden. Bei der vollen Namensnennung der Söhne ist beim jüngsten Sohn die Schreibweise an die der Brüder angeglichen, im Taufschein wie auch auf dem Grabstein steht: Hanns-Conon. - Hrsg. Gabelentz_s001-344AK6.indd 214 12.07.13 16: 26 <?page no="217"?> 215 Erste Seite des Testamentes von Georg v. d. Gabelentz von 1893 Transkription des Testamentes (Erste Seite des 8-seitigen Dokumentes. Original im ThStA Altenburg Familienarchiv v. d. Gabelentz, Nr. 915 Bl. 1r) Mein letzter Wille. Im Namen Gottes! Seit ich im Jahre 1890 mein Testament bei dem Herzoglichen Amtsgerichte zu Altenburg hinterlegt, ist meine erste Ehe gelöst, eine zweite, glückliche von mir geschlossen worden, mein lieber Bruder und meine gute Mutter verstorben, und hat sich meine Familie um ein Kind vermehrt. Dies bestimmt mich, mein voriges Testament hiermit außer Wirksamkeit zu setzen und stattdessen meinen letzten Willen nochmals kund zu geben, wie folgt: 1. Zu meinen Erben ernenne ich unter den hiernach anzugebenden Bestimmungen und Festsetzungen: 1., meine liebe Ehefrau, Gertrud geb. Freiin von Oldershausen; 2., meine drei Söhne, und zwar aus erster Ehe a., Ernst Alexander Hans Conon Albrecht, b., Hans Conon Maximilian Wolfgang-Erich, aus zweiter Ehe c., Hans Conon Martin Burchard Albrecht. 2., Bezüglich meiner lieben Frau hat es bei dem zu bewenden, was betreffs ihres Wittwensitzes und des ihr aus meinem Nachlasse zukommenden jährlichen Geldbetrages in unserem Ehevertrage bestimmt ist … … Berlin, am 27. Januar 1893 Nachtrag am 2. Februar 1893 Gabelentz_s001-344AK6.indd 215 12.07.13 16: 26 <?page no="218"?> 216 9. Ruhestätten und Gutshäuser der Familie Friedhof Windischleuba und Gruftkapelle Apelern Kirche zu Windischleuba. Aquarell von Clementine v. Münchhausen 1880 ThStA Gruftkapelle v. Münchhausen in Apelern. Bereits zu Clementines Lebzeiten plante ihr Mann mit ihr zusammen ihre Gruftkapelle in Apelern, eine Kopie der 1130 in Regensburg erbauten romanischen Taufkapelle. Dort ruht Clementine neben ihrem Mann. Gabelentz_s001-344AK6.indd 216 12.07.13 16: 26 <?page no="219"?> 217 Friedhof Lemnitz Auf dem Lemnitzer Friedhof Gabelentz_s001-344AK6.indd 217 12.07.13 16: 26 <?page no="220"?> 218 Gutshäuser in Poschwitz und Lemnitz Zeichnungen von Clementine v. Münchhausen aus: „Henriette v. d. Gabelentz geb. v. Linsingen. Biographie und Charakteristik“, von C. v. Münchhausen, geb. v. d. Gabelentz 1907, Manuskript im Familienbestand Gabelentz_s001-344AK6.indd 218 12.07.13 16: 26 <?page no="221"?> 219 Windischleuba. Aquarell von Clementine v. Münchhausen ThStA Gabelentz_s001-344AK6.indd 219 12.07.13 16: 26 <?page no="222"?> 220 Das Berghaus Im Jahre 1884 erbaute Georg v. d. Gabelentz für sich und seine Familie in Lemnitz bei Triptis in Thüringen ein Ferienhaus auf Gabelentzischem Boden, neben dem Gut seines Bruders Albert. Dessen Frau Margarethe v. d. Gabelentz und Georgs Schwester Clementine v. Münchhausen berichten in ihren Aufzeichnungen lebhaft und anteilnehmend über dieses Haus (s. S. 124, 132 und 168 in diesem Band). Die Entwürfe für das Gebäude hat Georg selbst gezeichnet, ebenso gestaltete er die Türbeschläge, die zum Teil die Verwendung der Zimmer bildhaft angeben, einem Fachmann für Sprachen angemessen. Charakteristisch ist die oben spitz zulaufende Form der Türen, die sich bei den Fenstern wiederholt und deren Vorteil sofort einleuchtet, wenn man erfährt, dass der Eigentümer gut über zwei Meter groß war. Das Haus ist heute noch bestens erhalten und bewohnt, und so konnten wir den Besuchern der Berliner Ausstellung ein originales Türblatt zeigen, dem eine lebensgroße Figur des jungen Georg v. d. Gabelentz gegenüberstand. Plan III: Ganz Fachwerk, 12 : 10 m Eventuell Treppenthurm 2 m tief in das Haus hineingerückt, darin Hausthür auf der Nordseite, sodaß Abtritt links davon mittels doppelter Thüren abgeschlossen wird. Hausflur auf Kosten der Küche um 1 m erweitert. Bilder rechts: Eigenhändige Entwürfe für das Berghaus von G. v. d. Gabelentz (s. auch S. 222) Kopien bei Klaus-Dieter Mertens, Lemnitz Gabelentz_s001-344AK6.indd 220 12.07.13 16: 26 <?page no="223"?> 221 Das Berghaus, wie es sich dem heutigen Besucher zeigt: Berghaus von Süden. Unter jedem Giebel bildet das Fachwerk eine dreizinkige Gabel wie im Wappen derer von der Gabelentz. Front von Osten Foto: Yvonne Lieder Haustür Ostseite Beschläge der Haustür nach Osten: Chinesische Drachen an der Klinke, rechts ineinander verschlungen die Jahreszahl 1884, das Gründungsjahr des Hauses, links Georgs Initialen GG ornamental stilisiert, darüber die Adelskrone, unten die dreizinkige Gabel. Gabelentz_s001-344AK6.indd 221 12.07.13 16: 27 <?page no="224"?> 222 Durch einen schmalen Eingangsflur gelangt man in einen vieleckigen Mittelflur, von dem aus Türen in alle Zimmer gehen. Die Türbeschläge wurden vom Hausherrn Georg v. d. Gabelentz entworfen. Gabelentz_s001-344AK6.indd 222 12.07.13 16: 27 <?page no="225"?> 223 Klaus-Dieter Mertens Das „Berghäuschen“ von Georg v. d. Gabelentz in Lemnitz * Kürzlich hatte ich einen Traum. Es klopfte an der Haustür, ich öffnete, vor mir stand ein vornehmer Herr mit Stirnglatze; ich stand zwei Treppenstufen höher, unsere Augenpaare befanden sich etwa in einer Horizontalen. Er hielt seine hölzerne Visitenkarte in einer Größe von etwa 30 x 40 Zentimetern in der Hand. Mein Blick schweifte auf die Visitenkarte, da sprach er auch schon zu mir: ,Dies ist mein Haus und doch nicht mein. Wer nach mir kommt, kann’s auch nur leihn, und wird’s dem Dritten übergeben, er kann’s nur haben für sein Leben. Den Vierten trägt man auch hinaus; sag, wem gehört nun dieses Haus? ‘ (Alte bayrische Hausinschrift) Dann war der Traum auch schon zu Ende. Es war aber kein Traum: Ich hielt die hölzerne Visitenkarte in meiner Hand, worauf mit großen Buchstaben stand: G v d G No. 8 Altenburg Georg von der Gabelentz! * Ansprache in der Gabelentz-Ausstellung am 10. 8. 2010 während der Internationalen Gabelentz-Konferenz 2010 in der HU Berlin. Der Verfasser wohnt: Am Forsthaus 32, 07819 Lemnitz (Stadt Triptis). Klaus Mertens mit der „hölzernen Visitenkarte“ Gabelentz_s001-344AK6.indd 223 12.07.13 16: 27 <?page no="226"?> 224 Eigentlich habe ich mit den „Gabelentzen“ gar nichts zu tun. Ich bin zu ihnen gekommen wie der Hund zu seinen Flöhen. Die Geschichte möchte ich Ihnen gern erzählen: Von Hause aus bin ich Chirurg. 1981 musste ich mich in Triptis durch Umzug als Landarzt niederlassen. Der Förster, Johann Herzog, bewohnte das „Forsthaus“ in Lemnitz. Er hatte im Gesicht hässliche Warzen, die ich ihm entfernen sollte. Nach der Operation sagte ich zum Förster, dass er nächste Woche zum Fädenziehen in die Praxis kommen möchte. Er bat mich, nach Lemnitz zu kommen, da er nächste Woche kein Fahrzeug hätte. Ich fuhr zum ersten Mal ins „Forsthaus“ nach Lemnitz. - Mich begrüßte ein wunderschönes Fachwerkhaus; der Zaun war grün gestrichen, die Eingangstür war grün gestrichen, die Fensterläden waren grün gestrichen; das konnte nur das „Forsthaus“ sein. Ich klingelte, wurde hereingebeten, ich betrat nach dem Eingangsflur einen achteckigen Flur, blieb stehen, schaute mich um, sah fünfeckige hohe Türen und dachte bei mir: „Dies Haus möchte ich gern haben.“ - Dann baute ich ein anderes Haus in Triptis und verlor dieses durch meine Scheidung 1988. Auf der Suche nach einem Domizil kam das „Forsthaus“ wieder in Erinnerung. Ich ging zum Bürgermeister der Gemeinde Lemnitz und fragte ihn, ob ich das kaufen könnte. „Das kannste sofort haben“, antwortete er mir. - Dann hat sich der Bürgermeister die Wirbelsäule gebrochen, war ein Vierteljahr im Krankenhaus, anschließend zur Kur, bis 1989 die Wende kam. Da kam er zu mir und sagte: „Wenn du das Haus haben willst, müssen wir uns beeilen, denn im Mai 1990 sind Kommunalwahlen, dann bin ich bestimmt kein Bürgermeister mehr.“ So haben wir den Kauf legal 1990 im April abgeschlossen. Das „Forsthaus“ war bewohnt: Parterre wohnte eine alleinstehende Mieterin und oben der Förster mit seiner Tochter Hilde. Ich bewohnte mit der Simona und unseren beiden Kindern eine kleine Zweiraum-Komfortwohnung unter dem Dach, und wir waren glücklich. Im November 1991 verstarb die Mieterin in der unteren Etage. Dann erst wurden wir mit der Problematik der Sanierung konfrontiert. Simona brachte hervorragende Gedanken zur Sanierung ein, und ich versuchte, diese zu realisieren. Im Frühjahr 1992 wurde das Haus unter Denkmalschutz gestellt, obwohl hier noch keiner Georg v. d. Gabelentz kannte. Erst Herr Eberhard Hetzer, ein sehr engagierter Denkmalpfleger mit einem großen Wissensschatz und vielen klugen Gedanken, hat herausgefunden, dass das „Forsthaus“ nicht das Forsthaus, sondern das „Berghäuschen“ ist, das Sommerdomizil von Georg v. d. Gabelentz. Die Sanierung schritt voran. Immer auf der Suche nach alten historischen Dingen durchwühlten wir sämtliche Grobmüllhaufen und Hexenfeuer in Leubsdorf und Umgebung. Eines Tages entdeckten wir auf dem Hexenfeuer in Leubsdorf eine alte Tür mit wunderschönen Beschlägen. Die Türblätter wurden gerichtet und in der Kunstschmiedewerkstatt meines Schwagers entdeckten wir erst, welch ein Juwel wir gerettet hatten: die hintere Eingangstür des Schlosses Lemnitz, das dem Bruder von Georg v. d. Gabelentz gehört hatte und heute unbewohnt und fast verfallen ist. Auf der Tür befanden sich acht bis zehn verschiedene Lackschichten - die Ornamente waren nicht mehr zu erkennen, die Wasserschenkel verfault. Wir ließen die Tür fachgerecht sanieren und bauten diese in die Hofseite des „Berghäuschens“ ein. Viele Interessenten, Literaturfreunde und Besucher aus allen Erdteilen waren zwischenzeitlich unsere Gäste, um die Wirkungsstätte des großen Gelehrten kennenzulernen. - Auch die Schwiegertochter von Georg v. d. Gabelentz, Erna v. d. Gabelentz († Juni 2012), mit ihrem Sohn Leopold v. d. Gabelentz konnten wir in Lemnitz begrüßen und erfreuen. Dr. Kennosuke Ezawa und Frau Annemete v. Vogel (Nachfahrin der Familie v. d. Gabelentz) widmeten sich der Aufarbeitung der Historie. Viele Dinge sind schon erforscht worden; viele Dinge um das Haus warten noch auf eine Entdeckung. Und sollte man mich eines Tages auch aus dem Haus tragen, so bin ich glücklich, das „Berghäuschen“ gefunden zu haben, und bin glücklich darüber, die Gabelentzens tangiert zu haben. Eberhard Hetzer († 2009) bei einem Lemnitzer Gabelentzfest Gabelentz_s001-344End2.indd 224 17.07.13 16: 18 <?page no="227"?> 225 Gebet eines Pfarrers aus dem Jahr 1882 (Das „Berghäuschen“ wurde 1884 erbaut.) Für das neue Jahr Herr, setze dem Überfluss Grenzen und lasse die Grenzen überflüssig werden. Lasse die Leute kein falsches Geld machen und auch das Geld keine falschen Leute. Nimm den Ehefrauen das letzte Wort und erinnere die Männer an ihr erstes. Schenke unseren Freunden mehr Wahrheit und der Wahrheit mehr Freunde. Bessere Beamte, Geschäfts- und Arbeitsleute, die wohl tätig, aber nicht wohltätig sind. Gib den Regierenden ein gutes Deutsch und den Deutschen eine gute Regierung. Und sorge dafür, dass wir alle in den Himmel kommen - aber nicht sofort. Amen. Haustür des Berghauses nach Norden, die restaurierte ehemalige Schlosstür. Bild unten: Beschläge der ehemaligen Schlosstür Historische Aufnahme der Freitreppe zum Schloss Lemnitz. Die Haustür mit Blick zum Tal entspricht im Design der früheren hinteren Eingangstür. Über der Tür das Gabelentz-Wappen. Foto: ThStA Gabelentz_s001-344AK6.indd 225 12.07.13 16: 27 <?page no="228"?> 226 Otto Frhr. v. Blomberg Die Familien v. d. Gabelentz und v. Münchhausen * Jeden Morgen, wenn wir Geschwister unser Kinderzimmer in Nienfeld verließen, kamen wir an dem vertrauten ovalen Ahnenbild vorbei, das einen freundlichen älteren Herrn mit Brille und mit einer merkwürdigen Barttracht, die aus seinem Kragen herauswuchs, zeigte. „Das ist Conon Gabelentz, der viele Sprachen konnte und so gerne Schokolade aß.“ Mit dieser Erklärung unseres Vaters war eigentlich alles gesagt. Er hatte es verstanden, uns seinen Urgroßvater mit einfacher und kindgerechter Erklärung vertraut und sehr geliebt zu machen. Allein schon wegen der Schokolade. Später half uns diese Erklärung zur Motivation beim Lernen der unvermeidlichen Vokabeln. Hans Conon v. d. Gabelentz (1807-1874) war der Großvater unserer Großmutter Anna Margarethe Frfr. v. Blomberg (1882-1960) geb. Freiin v. Münchhausen. Wie kam es zu der Annäherung der beiden Familien v. d. Gabelentz und v. Münchhausen und was hatte Conon damit zu tun? Das Städtchen Altenburg in Sachsen-Altenburg war berüchtigt für seine fast unbegrenzt kartenspielenden Bewohner. Da nimmt es nicht wunder, wenn der damalige Kanzler des Ländchens, Hans Carl Leopold v. d. Gabelentz (1778- 1831) es ebenso mit seinen Freunden tat. Glücklicherweise war er so ordentlich, alles in einer Kladde festzuhalten. Hans Conon v. d. Gabelentz Original: Familienbestand. * Otto Freiherr von Blomberg, Nienfeld b. Hannover, ist der älteste Sohn von Hans-Georg Freiherr von Blomberg, ältester Sohn von Anna Margarethe (genannt Mete) Freifrau von Blomberg, geb. Freiin von Münchhausen. Der vorliegende Text entspricht seinem kurzen persönlichen Bildvortrag auf der Internationalen Gabelentz-Konferenz am 9.- 10. 8. 2010 an der Humboldt-Universität zu Berlin. - Hrsg. Gabelentz_s001-344AK6.indd 226 12.07.13 16: 27 <?page no="229"?> 227 Hier notierte er am 4. 9. 1813 auch das erste Mal den Begriff „Scat“. Leopold und seine Kladde wurden zur Gründungslegende der weltweiten Skatspielerschaft und von deren Verbänden. In dieser berühmten Kladde soll auch notiert sein, dass er es mit Verwandten aus den Familien v. Lindenau und v. Münchhausen spielte. Sofern es kein Irrtum ist, muss offen bleiben, um welche Münchhausens es sich handelte. Erst 20 Jahre später, als Leopolds Sohn Hans Conon sich auf Freiersfüße begab, näherte sich die Familie v. Münchhausen. Es begab sich, so um 1830, dass in dem strengen Altenburger Stift zwei bildhübsche Backfische saßen, die vor schwärmerischer gegenseitiger Zuneigung beschlossen, dass ihre Kinder dermal einst doch heiraten könnten. Es waren Clementine v. Carlowitz (*1815) aus Dresden und Henriette Grace v. Linsingen aus Hannover, die 1813 in Ipswich geboren war, wo ihr Vater Major in der napoleonbedingten deutschen Legion in England war. Beide heirateten kurz nacheinander. Henriette 1833 mit 20 Jahren den 26-jährigen Hans Conon v. d. Gabelentz auf Poschwitz und Clementine 1836 mit 21 Jahren den 38-jährigen Albrecht Friedrich v. Münchhausen, Königlich Hannoverschen Landdrost und Landschaftsrat auf Moringen, Oberdorf und Parensen. Die beiden jungen Frauen blieben natürlich in engem Kontakt und zwischen Hannover und Poschwitz wechselten zahllose Briefe, zwischen denen immer häufiger auch die Geburtsanzeigen der Kinder waren. Große Freude und tiefes Leid tauschten sie aus. Henriette v. d. Gabelentz hatte sechs Kinder, von denen fünf groß wurden, und Clementine v. Münchhausen hatte in nur dreizehn Ehejahren zehn Geburten, wovon fünf Kinder überlebten und nur drei groß wurden. Sie starb tragischerweise erst 33-jährig 1848 an einer Blinddarmentzündung. 1 Der Kontakt zwischen den Familien blieb natürlich bestehen und als Henriette v. d. Gabelentz im Mai 1849, nur ein halbes Jahr nach dem Tode Clementines, ihr jüngstes Kind bekam, nannte sie es nach ihrer Freundin Clementine. Die Jahre gingen ins Land und als Börries v. Münchhausen, der jüngste Sohn Clementines, 1873 Clementine v. d. Gabelentz, die jüngste Tochter Henriettes, heiratete, erfüllte sich wunderbarerweise die Prophezeiung bzw. das Versprechen aus dem Altenburger Stift. Die Familien v. Münchhausen und v. d. Gabelentz hatten zusammengefunden. 1 Familienarchiv Nienfeld Links: Henriette v. d. Gabelentz, geb. v. Linsingen 1813-1892 Rechts: Clementine v. Münchhausen, geb. v. Carlowitz 1815-1848 Bilder: Familienbestand Gabelentz_s001-344End2.indd 227 17.07.13 16: 18 <?page no="230"?> 228 als Allianzwappen, ist es üblich, dass sie einander zugeneigt sind, und dass sich die Wappentiere anschauen. Die Figur im Wappen ist in diesem Falle drehbar 4 . Aber auch Clementine v. d. Gabelentz konnte mit berühmten Münchhausenschen Vorfahren aufwarten. Über ihre Mutter Linsingen sowie deren Mutter Cornberg gelangt man auf direktem Wege zu Dorothea Sophie Ernestine und Marie Wilhelmine Elisabeth v. Münchhausen, den Schwestern des Carl-Friedrich Hieronymus v. Münchhausen auf Bodenwerder (1720-1797) aus der schwarzen Linie Rinteln-Bodenwerder. Er ist der weltbekannte Münchhausen auf der Kanonenkugel, und ich möchte hier die Gele- 4 Schöler, Eugen (1992): Fränkische Wappen erzählen Geschichte und Geschichten, Verlag Degener, Schwabach Das Foto zeigt Börries als Heidelberger Studenten. Er war durchtrainiert aus dem Kriege 1870/ 71 zurückgekehrt, und als er Clementine vormachen konnte, dass er durch seine gefalteten Hände springen konnte, gab es eigentlich keinen Grund mehr für sie, „nein“ zu sagen! ! 2 Börries v. Münchhausen entstammte der weißen Linie der Münchhausens und hatte so bedeutende Vorfahren zu bieten wie den ebenfalls Börries auf Apelern, den Baumeister der Weserrenaissance, der mit Heilwig Büschen aus Oldendorf verheiratet war, und dessen Sohn Ludolf, den Gelehrten, der u. a. als einer der bedeutendsten Büchersammler seiner Zeit berühmt ist 3 . Er war mit Anna v. Bismarck verheiratet. An den zwei Exlibris unseres Brautpaares Börries v. Münchhausen und Clementine v. d. Gabelentz lassen sich gut die beiden „redenden“ Wappen erklären (Mönch und Gabel) mit Schild, Helm, Helmzier, Spruch und Elternwappen. Auch ist hier sehr schön die Courtoisie berücksichtigt oder, wie Clementine es später nannte, die Höflichkeit der Wappentiere: Werden Ehewappen gemeinsam dargestellt 2 Langer, Emmy: Großvater Börries v. Münchhausen (1845- 1931) wie ich ihn kannte, Rosenthal Juli 1932, Manuskript im Familienarchiv Nienfeld 3 Bei der Wieden, Brage (1993): Außenwelt und Anschauungen Ludolf v. Münchhausens, Hannover Börries v. Münchhausen sen. Foto: Familienbestand Brautbild Börries und Clementine v. Münchhausen, Altenburg 1873 Foto: Familienbestand Gabelentz_s001-344End2.indd 228 17.07.13 16: 18 <?page no="231"?> 229 und dann im Geschirr? Das eingefrorene Horn des Postillions? Gut vorstellbar. Gleich nach seiner Ankunft geht es mit dem Herzog in den Türkenfeldzug bis vor die Festung Otschakoff. Hier flogen unter Feldmarschall Münnich die Kanonenkugeln, die Münchhausen nutzte, um die Festung auszukundschaften! Hier halbiert sich das Pferd am Stadttor, hier zieht er sich am Zopf aus dem Sumpf! Zurück in Petersburg, er wird besonders positiv hervorgehoben, da er lesen und schreiben kann, ist Protegé der Herzogin Biron von Kurland, der mächtigsten Frau im Russischen Reich nach der Zarin, und wird in Riga stationiert. Dort geht er mit befreundeten deutschen Gutsbesitzern auf die Jagd und wir haben Anlass, hier die Jagdgeschichten mit Enten, Hasen und Kirschkernhirsch zu verorten. genheit nutzen, einige Worte zu seiner Ehrenrettung und zu dem ärgerlichen Titel „Lügenbaron“ zu sagen. Wir wissen mittlerweile genau über seinen spannenden Werdegang Bescheid, nicht zuletzt durch die erst jetzt geöffneten Archive in Russland. Er wird 1720 geboren und als er drei Jahre alt ist, stirbt sein Vater. Die Mutter gibt ihn mit 13 als Pagen an den Hof von Wolfenbüttel. Mit 17 meldet er sich freiwillig für Pagendienste bei Prinz Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, der in Petersburg Anna Leopoldowna (geborene Prinzessin von Mecklenburg), die designierte Zarin von Russland, heiratet. Dazu ist eine eiskalte dreimonatige Winterreise von Wolfenbüttel nach St. Petersburg notwendig. Haben hier seine Schneegeschichten ihren Ursprung? Das Pferd am Kirchturm, der Wolf, erst hinter dem Schlitten Exlibris des Ehepaares Münchhausen-Gabelentz Original: Familienbestand Gabelentz_s001-344AK6.indd 229 12.07.13 16: 27 <?page no="232"?> 230 Er heiratet die Tochter eines Jagdfreundes, Jacobine v. Dunten. Als die Zarin weggeputscht wird und mit ihrem braunschweigischen Ehemann nach Sibirien verbannt wird, verdunkelt sich auch für Münchhausens die Sonne, wie er seiner Mutter schreibt, und er geht nach Bodenwerder zurück. Dort lebt er eine sehr glückliche, aber leider kinderlose Ehe mit Jacobine. Großen Kummer bereiten ihm ihr Tod und die schockierende Veröffentlichung wunderlicher Geschichten unter seinem Namen in London. Nur ca. 7 davon sind tatsächlich auf ihn zurückzuführen. Zu allem Überfluss fällt er in seinen letzten Jahren auch noch auf die Heiratsschwindlerin Bernhardine v. Brünn herein und es folgen hässliche Prozesse. In einem gegnerischen Advokatenschreiben taucht dann als Beschimpfung zum ersten Male der Begriff des „Lügenbarons“ auf. Dieser leider so eingängige Begriff findet seinen Weg in die Welt und macht ihn so berühmt, dass mit der Münchhausiade eine ganze Literaturgattung nach ihm benannt ist, ebenso wie mit dem Münchhausen-Syndrom eine psychische Erkrankung nach ihm heißt. Das ist umso unglaublicher, als Hieronymus v. Münchhausen von Zeitgenossen als besonders wahrheitsliebend bezeichnet wird. Er konnte eine Lüge nicht ertragen. Ertappte er jemanden in Gesellschaft etwas neben der Wahrheit, erzählte er eine dermaßen übertriebene Geschichte „oben drauf “, dass der Schwindler bei seinem Schwindel ertappt war 5 . 5 Münchhausen, Albrecht Friedrich von (1872): Geschlechtshistorie des Hauses derer von Münchhausen von 1740 bis auf die neueste Zeit, Hahn’sche Hofbuchhandlung, Hannover Hieronymus von Münchhausen auf Bodenwerder nach dem Ölgemälde in Bockstadt bei Aug. Herm. v. Münchhausen. Aufnahme v. Fischer & Ludwig, Leipzig, Nordstr. 11. Foto: Familienbestand Gerlach Adolph Frhr. v. Münchhausen Foto eines Ölgemäldes: Familienbestand Gabelentz_s001-344AK6.indd 230 12.07.13 16: 27 <?page no="233"?> 231 „Seine“ Geschichten sind in alle Sprachen der Welt übersetzt und er genießt gerade im osteuropäischen Bereich eine besondere Verehrung, zum einen, weil er in russischen Diensten stand, zum anderen aber auch, weil er in seinen Geschichten immer aus verzweifelten oder unübersichtlichen Situationen einen listenreichen Ausweg findet. Sich selbst am Zopf a us dem Sumpf zu ziehen, ist das sprichwörtlichste Beispiel 6 . Als weiterer bedeutender Münchhausen ist natürlich ein Vetter des Hieronymus zu nennen, Gerlach Adolph v. Münchhausen (1688-1770), hannöverscher Kanzler sowie Gründer und großer Förderer der Universität Göttingen. Auch er aus der schwarzen Linie. Wie kam es zu „schwarz“ und „weiß“? Als im Jahre 1183 der erste Münchhausen im Kloster Loccum als Zeuge eine Urkunde unterschrieb, begann die lange Reihe, die heute die Nummer 1000 schon lange hinter sich hat. 7 6 von Boetticher, Manfred (2006): „Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen und der ‚Kaiser in der Wiege‘“, in: Herrschaftspraxis und soziale Ordnungen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Hannover, 497-512 7 von Lenthe, Gebhard/ Mahrenholtz, Hans (1976): Stammtafeln der Familie von Münchhausen, Teil 2 (Textband), Rinteln (= Schaumburger Studien 36) Münchhausen war eine kleine Siedlung des Klosters Loccum bei Winzlar westlich des Steinhuder Meeres. Heute ist es wüst gefallen. Dem Rembertus folgte Giselher mit der Nr. 2, dem folgte Rembertus II. mit seinem Bruder Conrad. Rembertus II hatte zwei Söhne, Giselher II und Justacius, Nr. 5 und Nr. 6. Diese beiden Brüder sind die Vorfahren aller später existierenden Münchhausens. Der besseren Unterscheidung halber hat man die Linien als schwarz und weiß bezeichnet. Kommen wir aber zurück zu unserem Brautpaar. Sie leben in glücklicher Ehe bis zu Clementines Tod 1913. Ihre fünf Kinder sind: Börries, Clementine (v. Breitenbuch), Hans-Georg, Elisabeth (v. Ditfurth) und Anna Margarethe (v. Blomberg). Vater Börries erbt, kauft und übernimmt 7 Güter: Moringen, Oberdorf, Parensen, Windischleuba, Apelern, Remeringhausen und Nienfeld. Der älteste Sohn Börries ist kein glänzender Schüler, wird aber der bedeutendste Balladendichter seiner Zeit. Meine These ist, dass es, wenn man ein großer Dichter werden will, nicht unbedingt hinderlich ist, vorher ein schlechter Schüler gewesen zu sein. Zumindest fördert es das Dichten von Anfang an! Erste Gedichte und Balladen erscheinen dann auch schon zu Schülerzeiten. Die Hauptschaffensperiode liegt zwischen 1900 und Ein Ausschnitt aus der obersten Reihe der Ahnentafel im Vorsatz dieses Buches zeigt, dass zweimal das Ehepaar Georg Otto v. Münchhausen und Sibille Wilhelmine v. Reden aufgeführt sind, die Eltern des Hieronymus Carl Friedrich v. Münchhausen auf Bodenwerder. Eine Schwester von ihm heiratete Carl v. Cornberg, die andere Georg Wilhelm v. Freytag. Die Schwiegereltern der Frauen sind in der Wappenreihe immer den Eltern benachbart zu finden. Die Kinder der beiden, Carl L. W. v. Cornberg und Sofie Ch. W. v. Freytag sind die Eltern von Albertine v. Cornberg, Mutter der Henriette v. Linsingen, Großmutter von Clementine und Georg v. d. Gabelentz. Ahnentafel: Familienbestand Gabelentz_s001-344AK6.indd 231 12.07.13 16: 27 <?page no="234"?> 232 1920. Zu Lebzeiten verkauft er mehr Bücher als Goethe bis heute! Ein kleines Markenzeichen ist sein Komma: Börries, Freiherr von Münchhausen. Er setzt sich damit von seinen vielen Börries-Vorfahren ab und begründet es sprachwissenschaftlich. Er promoviert in Leipzig zum Dr. iur. und bekommt den Dr. phil. ehrenhalber von der Universität Breslau. Er wird Domherr zu Wurzen, nimmt als Königlich Sächsischer Gardereiter am 1. Weltkrieg teil und übernimmt vom Vater die Güter Windischleuba, Parensen, Moringen und Oberdorf. Er heiratet Anna verw. Crusius geb. v. Breitenbuch. Sie haben einen gemeinsamen Sohn Börries, der leider 1934 tödlich mit dem Auto verunglückt. Als sich die russischen Truppen 1945 nähern, setzt er seinem Leben in Windischleuba ein Ende. „Auch im Tode ein Freiherr“, wie Moritz Jahn in seiner späteren Ausgabe der Münchhausenschen Gedichte schreibt. Zeit seines Lebens hat er sein Interesse und seine Begabung für Sprache und Dichtung als Erbe seiner Mutter und seines Großvaters, Hans Conon v. d. Gabelentz, hergeleitet 8 . In seiner bis heute berühmtesten Ballade „Die Lederhosen-Saga“ setzt er seinem Großvater ein liebevoll humoristisches Denkmal: „... Ja - Geschlechter kommen, Geschlechter gehen, Hirschlederne Reithosen bleiben bestehen“. 8 Münchhausen, Börries, Frhr. v. (1933): „Meine Ahnen“, in: Münchhausen, B., Frhr. v.: Die Garbe, Deutsche Verlagsanstalt, Berlin/ Stuttgart Geschwister Münchhausen mit ihrer Erzieherin Emmy Langer, genannt „Langé“; v. l. Lise (Elisabeth), Langé, Börries, Mete (Anna Margarethe), Mense (Clementine), Hans Georg Foto: Familienbestand Börries, Frhr. v. Münchhausen jun. Ölbild von Wilhelm Kricheldorff 1910. Historisches Museum am Hohen Ufer, Hannover Seitenhintergrund rechts: Detail aus dem handgeschriebenen Lebenslauf von Georg v. d. Gabelentz ThStA Gabelentz_s001-344End2.indd 232 17.07.13 16: 19 <?page no="235"?> Georg v. d. Gabelentz in Wissenschaft und Forschung Manfred Taube Georg v. d. Gabelentz - seine Herkunft und seine Zeit 235 Christina Leibfried Georg v. d. Gabelentz, der Begründer der Leipziger Sinologie 253 Klaus Kaden Die Berufung Georg v. d. Gabelentz’ an die Berliner Universität 271 Mechthild Leutner Sinologie in Berlin 291 Joachim Emig † Das Familienarchiv v. d. Gabelentz im Thüringischen Staatsarchiv Altenburg im Thüringischen Staatsarchiv Altenburg 311 Gabelentz_s001-344AK6.indd 233 12.07.13 16: 27 <?page no="236"?> 234 Schloss Poschwitz, Parkseite 2004 Gabelentz_s001-344AK6.indd 234 12.07.13 16: 27 <?page no="237"?> 235 Manfred Taube Georg von der Gabelentz - seine Herkunft und seine Zeit * Am 21. Juni 1878 schrieb das Königlich Sächsische Ministerium des Cultus und öffentlichen Unterrichts zu Dresden an die Philosophische Fakultät zu Leipzig: Mit allerhöchster Genehmigung hat das Ministerium des Cultus und öffentlichen Unterrichts auf den Bericht der philosophischen Facultät zu Leipzig vom 14./ 20. Februar 1877 1 den Bezirksgerichtsassessor Dr. phil. Hans Georg Conon von der Gabelentz zu Dresden zum außerordentlichen Professor für ostasiatische Sprachen in der philosophischen Facultät der Universität Leipzig vom 1. Juli 1878 an ernannt und verordnet hierdurch, die Letztere wolle den Dr. von der Gabelentz … zu der ihm übertragenen Professur … gewöhnlicher Maßen in Pflicht nehmen und ihn zu der vorschriftsmäßigen Antrittsleistung anhalten. 2 - Dieses Schreiben ist die Geburtsurkunde der ersten sinologischen Professur an einer deutschen Universität, deren Traditionen bis in die Gegenwart fortdauern. Anlässlich des 100. Jahrestages dieses Ereignisses veranstaltete die Sektion Afrika- und Nahostwissenschaften der Karl-Marx-Universität gemeinsam mit dem Z entralen Rat für Asien-, Afrika- und Lateinamerikawissenschaften der DDR im September 1978 ein internationales Symposium, welches in erster Linie der kritischen Würdigung des wissenschaftlich in vie- * Erstveröffentlichung in: Jahrbuch des Museums für Völkerkunde zu Leipzig 34 (1982): 16-36. 1 UAL PA 487, Bl. 183. 2 UAL PA 487, Bl. 181. - Dem Namen nach hatte ein „Ordinariat für ostasiatische Sprachen“ schon seit 1846 existiert, doch sein Inhaber, Hermann Brockhaus (1806-1877), war in erster Linie Indologe und hat nur ganz sporadisch sinologische Lehrveranstaltungen abgehalten. Erst nach seinem Tode (5. 1. 1877) wurden Ost- und Südasien im Lehrbetrieb getrennt: Ernst Windisch (1844-1918) übernahm 1877 die Indologie, während Georg v. d. Gabelentz ein Jahr darauf die neue Professur für ostasiatische Sprachen erhielt. ler Hinsicht bahnbrechenden Werkes von Georg von der Gabelentz gewidmet war. 3 Im Rahmen dieses Symposiums wurde am 21. 9. 1978 im Bach-Saal des Altenburger Schlosses der folgende Vortrag gehalten, dessen leicht korrigierte und ergänzte Fassung im Folgenden abgedruckt ist. 4 Nachdem wir uns in den vergangenen Tagen mit dem wissenschaftlichen Werk von Georg von der Gabelentz beschäftigten, bietet sich heute dieser Saal der „Altenburg“ geradezu an, einiges zu sagen über die gesellschaftliche Umwelt, die Familie, die Herkunft dieses Mannes, den wir in dieser Woche ehren. Seinen Namen, „Bach-Saal“, hat dieser Raum erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts bekommen, zum Gedenken an Musikabende, die Johann Sebastian Bach 1739 hier veranstaltete, und auch die heutige Ausgestaltung, im Neorenaissancestil, mit den Historienbildern zur sächsischen Geschichte, ist nicht so sehr alt: Am Anfang des 20. Jahrhunderts, 1905, wurde dieser Saal rekonstruiert und neu eingerichtet, nachdem im Jahr zuvor sein gesamtes Inventar durch einen Brand zerstört worden war. 5 Aber dieser 3 Die wissenschaftlichen Vorträge dieses Symposiums sind abgedruckt in: Richter, E./ Reichardt, M. (Hrsg.) (1979). 4 Bedanken möchte ich mich für ihre Unterstützung bei Frau Prof. Dr. R. Drucker und Frau Prof. Dr. Schwendler vom Universitätsarchiv Leipzig, bei Frau Gudrun Goeseke von der Bibliothek der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft in Halle/ Saale, bei Frau Erna v. d. Gabelentz, Altenburg (Schwieger tochter Georgs v. d. G.), bei Frau Annemete v. Vogel (Urenkelin von Clementine v. Münchhausen geb. v. d. Gabelentz) und bei den Mitarbeitern des Altenburger Lindenau-Museums, des Staatsarchivs Weimar (Außenstelle Altenburg, Schloss), des ehem. Volkseigenen Gutes „Gartenbau“ Altenburg-Poschwitz und des Internats der Erweiterten Oberschule im Schloss Windischleuba (ehemals Besitz der Familien v. d. Gabelentz und v. Münchhausen, heute Jugendherberge). 5 Dehio, G. (1965): 8. Gabelentz_s001-344AK6.indd 235 12.07.13 16: 27 <?page no="238"?> 236 Raum ist doch Bestandteil einer Burg, die zwar nicht in ihren Renaissance-Fassaden, aber doch in ihren Grundmauern auf ein ehrwürdiges Alter zurückblicken kann. Die älteste Befestigung an dieser Stelle stammt aus dem 7. oder 8. Jh., aus einer Zeit, da hier noch keine germanischen Stämme wohnten. Sie wurde vielmehr von Westslawen angelegt, und auf dieses einst geschlossene slawische Altsiedelgebiet deutet auch die Tatsache, dass in dem fruchtbaren Lößhügelland im Norden Altenburgs etwa 80 % aller Siedlungsnamen slawischer Herkunft sind. 6 (Auch „Poschwitz“, der Name des Stammsitzes der Gabelentz’schen Familie, ist vermutlich altsorbisch als „Ort der Leute eines Boś“ zu deuten). 7 Erst im 10. Jh. wurde dieser Gau Plisni Bestandteil des damaligen deutschen Reiches, und erst im 12. Jh. entstand bei dieser als Königspfalz genutzten Burg eine deutsche Kaufmanns- und Handwerkersiedlung; aber noch bis ins 14. Jh. (1327) wurde vor Gericht die slawische Sprache gebraucht. 8 Grundlage der deutschen Siedlung war der Fernhandelsweg von Leipzig nach Süddeutschland (via imperii), der hier bei Windischleuba die Fernhandelsstraße von Niedersachsen nach Prag (den so genannten Peter-und-Pauls- Weg) kreuzte. - Das Mittelalter brachte diesem Gebiet eine ziemlich wechselhafte staatliche Entwicklung: Im 13. Jh. wurde das Altenburger Land Teil des wettinischen Staates, zunächst unter den Markgrafen von Meißen, im 15. Jh. - bei der wettinischen Hauptteilung - kam es zum ernestinischen Kurstaat, wurde im 17. Jh. selbständiges Fürstentum, bald darauf Herzogtum Sachsen-Coburg-Altenburg, später Sachsen-Gotha-Altenburg und schließlich (ab 1826) Sachsen-Altenburg. Entscheidend für die Entwicklung der Stadt war, dass sie nur selten als Residenz diente, so dass sie sich auch nicht zu einer kleinfürstlichen Hof- und Beamtenstadt entwickeln konnte wie z. B. Gotha oder Weimar. Der landesherrliche Einfluss kam nur in gemilderter Form zur Geltung, 9 und der Absolutismus war nicht so negativ spürbar wie in 6 Diese und die folgenden historischen Bemerkungen vor allem nach Das Altenburger Land (1974). 7 Prof. Dr. G. F. Meyer, Berlin, hält es für möglich, dass der Name eher als „Boden-Ort“ zu erklären sei (vgl. russ. počva) (mündliche Mitteilung). 8 Der entsprechende Erlass von Friedrich dem Strengen, Markgrafen zu Meißen, bezog sich ebenso auf das Leipziger Gebiet; auch Leipzig geht ja zurück auf eine sorbische Siedlung etwa aus dem 7. Jh. 9 Trotz der Errichtung einer ständigen Garnison (1703). manchen anderen deutschen Kleinstaaten. So konnte sich ein wirtschaftlich verhältnismäßig selbständiges Bürgertum herausbilden, wenn es auch nicht so gefördert wurde wie beispielsweise in Leipzig. 10 Trotzdem begann sich der Charakter der Stadt allmählich zu ändern: Etwa zwischen 1815 und 1830, mit dem aufkommenden Kapitalismus, wandelte sie sich langsam zur Industriestadt, und diese Industrialisierung hatte ein erheblich größeres Selbstbewusstsein ihrer Bürger zur Folge, als es im Allgemeinen in den kleinstaatlichen Residenzen der Fall war. So zeigten sich schon in dieser Zeit in der politischen Haltung des Bürgertums starke demokratische Tendenzen: Die von der Pariser Juli- Revolution von 1830 ausgehende Bewegung hatte die Einführung einer Landesverfassung zur Folge, die den Weg zur konstitutionellen Monarchie öffnete. Und die Revolution von 1848/ 49 war in Altenburg mehr als sonst in Thüringen von demokratisch-republikanischen Strömungen geprägt, wobei auch schon die entstehende Arbeiterklasse die kleinbürgerlichen Demokraten nachhaltig unterstützte. 11 In dieser Umgebung wuchs nun Georg v. d. Gabelentz auf - wenn auch nicht in der Stadt selbst, so doch nur wenige Kilometer entfernt, auf dem „Schloss“ Poschwitz. Den Begriff „Schloss“ sollte man hierbei nicht zu ernst nehmen: Es ist ein relativ kleiner, gedrungener Bau auf einem gewaltigen Pfahl rost, der zurückgeht auf eine um 1200 entstandene Wasserburg 12 - mit einem kleinen Park (heute Landschaftsschutzgebiet), der zu einem großen Teil von Hans Conon, dem Vater Georgs, gestaltet worden war. - Poschwitz war damals ein kleiner Gutsweiler, und wie in anderen Dörfern in Altenburgs Umgebung waren auch hier grundherrliche Besitzverhält nisse bestimmend: Die Höfe befanden sich als Erbzinsgüter im Besitz der Bauern, die persönlich frei, aber zu dinglichen Abgaben und Leistungen an den Grundherrn verpflichtet waren. Und diese Grundherren waren hier in Poschwitz seit 10 Anders als in Leipzig ernährte sich ein Teil der Bürger Altenburgs bis ins 19. Jh. vom Ackerbau. 11 So fand im Februar 1849 der Kongress der thüringischen Arbeitervereine in Altenburg statt, und in den Jahren der Reichsgründung und der Sozialistengesetze verfügte die Arbeiterpartei bereits über eine beträchtliche Anhängerschaft. 12 1508 brannte das Gebäude ab, wurde 1580 wieder aufgebaut und 1842-1847 nach Entwürfen von Hans Conon, dem Vater Georgs, durch einen Turm und einen Seitenflügel erweitert (siehe dazu v. d. Gabelentz, G. in: „Geschichte“: 101-111). Zur DDR-Zeit befand sich im Poschwitzer Schloss der Sitz des Volkseigenen Gutes „Gartenbau“, heute steht es leer. Gabelentz_s001-344AK6.indd 236 12.07.13 16: 27 <?page no="239"?> 237 Jahrhunderten 13 Angehörige der Familie von der Gabelentz - der Familie, in welcher Georg 1840 geboren wurde. Für die kulturellen Leistungen von Angehörigen dieses Geschlechts im 19. Jh. ist sicher der Umstand nicht ohne Bedeutung gewesen, dass sie - als Mitglieder des Feudaladels - über genügend Mittel und Muße verfügten, sich mit kulturellen, mit wissenschaftlichen Fragen zu befassen. Allerdings ist dabei nicht zu verkennen, dass die Kriege im 17., in geringerem Maße im 18. Jh. durch Einquartierung, Durchzüge, Plünderungen, Seuchen und Brände nicht nur die Lage der Bauern erheblich erschwerten, sondern dass auch der Landadel geschwächt aus diesen Ereignissen hervorging. Eine Folge davon war, dass es im Altenburger Gebiet nicht zu einer größeren Ausbildung von Gutswirtschaften kam und die Großgrundbesitzungen nur über einen relativ geringen Anteil der landwirtschaftlichen Nutzfläche verfügten. 14 Manche Adelsfamilie, so auch die Gabelentzsche, war durch die wirtschaftlichen Verhältnisse gezwungen, einzelne Teile ihres Besitzes zu verkaufen. Trotzdem reichten die Mittel nicht nur zur Führung eines „standesgemäßen“ Haushalts aus - wobei wir sogar den Begriff „standesgemäß“ hier etwas einschränken möchten: Verschiedene Äußerungen in Briefen und schriftliche Erinnerungen zeigen, dass sich Geist und Lebensstil der Gabelentzschen Familie von dem damals in dieser gesellschaftlichen Klasse üblichen nicht unerheblich unterschied. Am Umgang mit den benachbarten Adligen lag Georgs Eltern nicht allzuviel, und besonders der Vater, Hans Conon, war bestrebt, ihn nicht über das unumgänglich notwendige Maß hinaus auszudehnen - offensichtlich nicht nur aus Gründen der 13 Die erste urkundliche Erwähnung eines Gabelentz (Albrecht II.) „zu Poschwitz“ stammt von 1431, während der Stammbaum des Geschlechtes in ununterbrochener Folge sogar bis ins 14. Jh. zurückreicht (vgl. v. d. Gabelentz-Linsingen, H. 1922). Erwähnt sei aus dieser Reihe Christoph Friedrich (III.) v. d. Gabelentz (1710-1794), der in der deutschen Literaturgeschichte eine kleine Nebenrolle spielte: Er ging 1730 in württembergische Dienste, avancierte hier zum Generalleutnant und Gouverneur der Festung Hohentwiel, war Regimentskommandeur von Schillers Vater und wurde auf diese Weise Taufpate Friedrich Schillers (dessen Taufname vermutlich von ihm gegeben wurde). 14 Durch das Verbot der Teilung von Bauernhöfen blieb im Altenburger Land ein für Thüringen sonst nicht typisches Großbauerntum erhalten, das 1907 im Landratsamtsbezirk Altenburg mit 499 Betrieben 63 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche besaß, während die 16 Großgrundbesitzungen nur über 7,6 % verfügten. Sparsamkeit, sondern weil in dieser Familie andere Werte galten als in vielen anderen gleichen Standes. Besonders deutlich wird dies auch in der Erziehung der Kinder. Dass Georg v. d. Gabelentz sich später gerade darüber ausführlich äußert, spricht dafür, dass die Gepflogenheiten in seinem Elternhaus für ihn bemerkenswert waren, also doch wohl von der Norm abwichen. So schreibt er zum Beispiel über das Gabelentzsche „Hauswesen, das ohne Prunk und Luxus doch keinerlei Behagen vermissen ließ … Verwöhnt wurden wir nicht, weder mit Leckereien noch mit Spielsachen oder Putz. Aber auf sehr gute Nahrung und saubere, zweckmäßige Kleidung und Körperpflege hielt die Mama …“ 15 - Vermutlich hat die etwas bescheidenere Lebensweise der Eltern Georgs mit dazu beigetragen, dass genügend Überschüsse vorhanden waren, um sich auch abseits der großen kulturellen Zentren einer wissenschaftlichen Betätigung widmen zu können. Für die Erfolge bei dieser wissenschaftlichen Arbeit ist jedoch sicher noch ein anderer Grund mit anzuführen, nämlich eine gewisse Weltaufgeschlossenheit, wie sie in den damaligen sächsischen und thüringischen Adelsgeschlechtern keineswegs selbstverständlich war. Die meisten und die bedeutendsten Vertreter der Wissenschaft waren im 19. Jh. Angehörige des Bürgertums, und so führte die Interessiertheit von Mitgliedern der Gabelentzschen Familie an vielen entscheidenden politischen und wissenschaftlichen Problemen ihrer Zeit vom beginnenden 19. Jh. an zu einem engen Kontakt zur fortschrittlichen Bourgeoisie. Und dieser Kontakt befruchtete seinerseits wieder ihre Tätigkeit auf wissenschaftlichem oder allgemein auf kulturellem Gebiet. Nennen möchte ich in diesem Zusammenhang Carl Leopold v. d. Gabelentz (1778-1836) 16 , Georgs Großvater, 15 Aus der von Georg v. d. G. geschriebenen Familiengeschichte; Georgs Schwester Clementine schrieb dazu an den Rand: „Sie (die Mutter) hat uns alle an ihrer Brust genährt, sogar zugleich mit … der jüngsten Tochter des Pastors Wagner, als für diese keine Amme zu finden war …“ 16 Vor allem nach Franz Schmidt (1938); vgl. auch Karl Friedrich Hempel (1833): 214-233, H. Döring: 27-29. - Leopold studierte ab 1793 in Leipzig, später Göttingen die Rechte, er besuchte mit der Postkutsche („Fahrschachtel“ nennt er sie in seinen Briefen) Frankreich (wo er - bereits 1806! - seinen Zopf der neuen Mode opferte), bereiste später Italien und Österreich. Von ihm sind (wenn auch nur in der Kritik des zeitgenössischen Altenburger Theologen Jonathan Schuderoff) materialistische und antikirchliche Anschauungen überliefert, die denen der französischen Enzyklopädisten (speziell des Barons Paul Thiry d’Holbach) recht nahestehen. Gabelentz_s001-344AK6.indd 237 12.07.13 16: 27 <?page no="240"?> 238 der als Vizekanzler und zuletzt als Kanzler des Herzogtums Sachsen-Altenburg tätig war. In den September-Unruhen 1830 unterstützte er die Forderungen der Bürger; er war der Sprecher der Volksmenge, welche (am 14. 9.) vom Herzog die Erfüllung der „dringenden Wünsche der Bürgerschaft Altenburgs“ verlangte. Eine Woche später wurde er zum Kanzler ernannt und leitete nun die Verhandlungen zwischen der Regierung und dem „provisorischen Bürgerausschuß“ über eine neue Stadtordnung und bald darauf über eine Verfassung, die - im April des nächsten Jahres erlassen - trotz aller Mängel eine der fortschrittlichsten im damaligen Deutschland war. Maßgebend beteiligt an der Ausarbeitung dieser Konstitution war Bernhard von Lindenau (Leopolds Vetter 17 ), dem das Altenburger Lindenau-Museum seinen Namen und einen großen Teil seiner Sammlungen verdankt; in diesem Museum wirkten später die Söhne von Georg v. d. Gabelentz als Direktoren, erst Albrecht (Museumsdirektor 1912-1933), später - nach der Zerschlagung des Faschismus - Hanns-Conon (ab 1951), den übrigens Zeit seines Lebens - also auch in den Jahren der Naziherrschaft - eine enge Freundschaft mit dem von den Faschisten verfemten Dresdner Maler Conrad Felixmüller verband. 18 Doch Georgs Großvater, Leopold, ging nicht völlig in seinen politischen Aufgaben auf, sondern zeigte sich auch anderen Seiten des Lebens gegenüber aufgeschlossen: Er besaß eine umfangreiche Münzsammlung, 19 er widmete sich - als Ausgleich zu seiner Schreibtischarbeit - einer gewissen sportlichen Betätigung und gab auch seinem Sohn, Hans Conon, in seinen Briefen entsprechende Hinweise, die mit- 17 Christiane Auguste (1751-1837), die Mutter Leopolds, war eine geborene von Lindenau. 18 Durch immer neue Aufträge - darunter viele Poschwitzer Motive und Familienbilder - sorgte Hanns-Conon v. d. G. (einziges Kind aus Georgs 2. Ehe mit Gertrud von Oldershausen, 1858- 1904, ꝏ 1891) mit dafür, dem von den Nazis als „entartet“ abgestempelten Künstler, der nach 1933 nicht mehr ausstellen durfte, die nötige Existenzgrundlage zu erhalten; der Freundschaft zwischen beiden verdankt das Altenburger Lindenau-Museum die relativ reiche Sammlung von Werken Felixmüllers. Überhaupt unterstützten und förderten Georgs Söhne fortschrittliche Künstler; so veranstaltete z. B. Albrecht (1. Sohn aus Georgs 1. Ehe mit Alexandra von Rothkirch-Trach, 1854-1925, ꝏ 1872) in den 20er Jahren eine Ausstellung mit Werken des belgischen Grafikers und Malers Frans Masereel. 19 Vgl. de Gabelentz, H. C. (1830). unter nicht ganz unmodern wirken: „Du solltest neben der geistigen Ausbildung die körperliche nicht vernachlässigen und mit Fechten und kurzen, aber anstrengenden täglichen Wanderungen einer unbrauchbar machenden Hypochondrie vorbeugen.“ 20 Und schließlich mag nicht unerwähnt bleiben, dass es Leopold v. d. Gabelentz war, der - zusammen mit vier oder fünf anderen Altenburger Bürgern - etwa zwischen 1810 und 1817 das Skatspiel erfand, das sich in den folgenden Jahrzehnten zum beliebtesten und verbreitetsten Kartenspiel der Deutschen entwickeln sollte. 21 Zu dieser Skatrunde gehörte übrigens auch Friedrich Arnold Brockhaus, der Stammvater des bis heute bestehenden Verlags, der 1811 aus Amsterdam nach Altenburg gekommen war 22 und dessen bekanntes „Conversationslexicon“ 23 damals in der Altenburger Hofbuchdruckerei Dr. Pierer 24 hergestellt wurde. - Und diese „Skattradition“ setzte sich in Leopolds 20 Zitiert nach Schmidt, F. (1938): 98 f. (Briefe Leopolds v. d. G. an seinen Sohn 1820-1828, Archiv Altenburg). 21 Hergestellt wurden in Altenburg Spielkarten schon seit dem 16. Jh., zunächst von Handwerkern, doch ab 1832 - nach der Erfindung des Skatspiels - fabrikmäßig in der Druckerei der Gebrüder Bechstein (heute ASS [Altenburger und Stralsunder Spielkartenfabriken], Altenburg, in denen jährlich über 40 Millionen Spiele hergestellt werden). 22 1805 musste F. A. Brockhaus infolge der Kontinentalsperre seine in Amsterdam begründete „Manufakturwarenhandlung“ aufgeben, gründete dafür eine deutsche Buchhandlung, die er 1811 nach Altenburg, 1817/ 18 nach Leipzig verlegte, wohin er (zu Ostern 1818) auch selbst mit seiner Familie zog. 23 Dieses „Conversations-Lexicon mit vorzüglicher Rücksicht auf die gegenwärtigen Zeiten“ war seit 1796 unter Renatus Gotthelf Löbels Leitung bei verschiedenen Leipziger Verlegern erschienen und wurde auf der Leipziger Messe 1808 für 1800 Taler von F. A. Brockhaus erworben, in dessen Firma diese 1. Auflage in den folgenden Jahren, 1809-1811, beendet wurde (8 Bände = 12 Taler); durch Brockhaus erhielt damals das moderne Konversationslexikon seine klassische Form. - Einige Zeit spä ter (1831) kaufte Brockhaus übrigens auch die Gleditschische Buchhandlung auf, in der die ersten Bände der „Allgemeinen Encyklopädie der Wissenschaften und Künste“ von Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber erschienen waren, und sicher te dadurch (später unter der Leitung von Hermann Brockhaus, danach August Leskien) die Publikation der noch fehlenden Bände, an denen - wie schon früher sein Vater - auch Georg v. d. Gabelentz als Autor mitwirkte (erschienen Leipzig 1818-1889). 24 Daneben brachte Dr. Johann Friedrich Pierer auch ein eigenes „Universallexikon oder Vollständiges encyklopädisches Wörterbuch“ heraus (Altenburg 1822-1836, 26 Bände), dem ebenfalls mehrere Neuauflagen beschieden waren. Gabelentz_s001-344AK6.indd 238 12.07.13 16: 27 <?page no="241"?> 239 Nachfahren fort: Von Leopolds Sohn, Hans Conon, wird überliefert, dass er, ehe er schreiben und lesen konnte, bereits die Karten beherrschte, Georg v. d. Gabelentz, unser Sinologe, besaß die zu seiner Zeit größte und wertvollste Spielkartensammlung, und der älteste Sohn Georgs, Albrecht, war es, der 1919 durchsetzte, dass das ehemalige herzogliche Schloss nicht nur als Verwaltungsgebäude genutzt wurde, sondern dass hier das Landesmuseum und im Zusammenhang damit ein Skatmuseum eingerichtet wurde, als deren ersten Leiter man ihn berief. Bei Georgs Vater, dem eben erwähnten Hans Conon 25 , wollen wir noch ein wenig verweilen, denn ohne dessen Einfluss ist das Werk Georgs nicht denkbar; „ich weiß von vielen meiner sprachlichen Gedanken absolut nicht zu sagen, ob ich sie selber zuerst gefaßt oder vom Vater schon gehört habe“, sagte Georg später selbst. 26 - 1807 geboren, fielen Hans Conons erste Lebensjahre in die Zeit der Napoleonischen Kriege, in denen Altenburg als Etappenstadt, zeitweise auch als Armeehauptquartier, eine beachtliche Rolle spielte, so dass die Altenburger Straßen mitunter von Soldaten aus aller Herren Ländern gefüllt waren: Franzosen und Italiener, Russen und Kirgisen, Baschkiren und Finnen. Möglicherweise war es diese Umgebung, die schon den Dreijährigen veranlassten, nach seinem Berufswunsch gefragt, als sein Ziel zu verkünden: „Ich möchte alle Sprachen lernen, die es gibt! “ 27 - Nun, ganz erreicht hat er dieses Ziel mit Sicherheit nicht, aber unter seinen Zeitgenossen gab es wahrscheinlich doch nur wenige, die sich mit so vielen Sprachen befasst hatten wie er. Französisch und Englisch hatte er bereits in seiner Kindheit im Elternhaus gelernt. Während der Schulzeit beschäftigte er sich mit Hebräisch, Arabisch, Türkisch, Persisch, Spanisch und Italienisch, und von Hermann Brockhaus, dem jüngsten Sohn des Verlegers und späteren Leipziger Sanskritisten, mit dem zusammen er die gleiche Klasse im Altenburger Friedrichsgymnasium 25 Der Vorname geht vermutlich auf griech. Konon zurück, den Namen eines Heiligen (Märtyrer in Asien, gestorben 275), den auch einige bekannte griechische Wissenschaftler trugen (Konon der Athener, Konon der Astronom). - Zu Hans Conon v. d. G. siehe Rost, R. (1874); Leskien, A. (1878) (mit Bibliographie); v. d. Gabelentz, G. (1886); Dobrucky, Th. (1938a): 48-71, hier: 52-65 (mit Bibliographie); Böttger, W. (1964). 26 „Biographie Hans Conon“: 159. 27 „Biographie Hans Conon“: 160 (auch zitiert in: v. d. Gabelentz, G. 1886: 219). besuchte, erhielt er damals Rémusats Elémens de la grammaire chinoise mit den Worten: „Weißt du was, Conon, ich habe es satt; nimm du den Rémusat und sag mir, was drin steht! “ 28 - Im Abiturzeugnis hieß es denn auch: „Er hätte noch größere Fortschritte gemacht, wenn er nicht ingenii alacritate zu gewissen anderen Studien abgezogen worden wäre.“ - Trotz seiner sprachwissenschaftlichen Neigungen hat er in Leipzig (ab 1825) und in Göttingen (1828) Recht und Cameralia (etwa unseren Wirtschaftswissenschaften entsprechend) studiert und nie eine sprachwissenschaftliche Vorlesung gehört, sondern sich nur „nebenbei“, vor allem mit dem in Göttingen vorhandenen Material, 29 mit Mandschurisch, Mongolisch und verschiedenen finnischugrischen Sprachen befasst. Seine juristische Tätigkeit, die er nach dem Studium entsprechend der Familientradition aufnahm, hat ihm nie besondere Freude bereitet, und so trat er im öffentlichen Leben seiner Zeit nicht so markant hervor wie der Kanzler Leopold, der in seinen Briefen öfter Hans Conons Abneigung gegen das praktische Leben zu bekämpfen suchte: „Theorie und Praxis sollten als freundliche Dioskuren miteinander wandeln, nicht wie feindliche Pelopiden einander in den Haaren liegen.“ 30 Nichtsdestotrotz hat sich Hans Conon verschiedentlich aktiv an der Seite des fortschrittlichen Bürgertums am politischen Leben beteiligt: Noch in jugendlichem Alter war er unter den Begründern und Herausgebern der ersten politischen Zeitung Altenburgs, der ab 1830 wöchentlich einmal erscheinenden „Altenburger Blätter“, deren erklärte Aufgabe es war, Wünsche der Staatsbürger auszusprechen und Mängel der Gemeinschaftsform zu rügen, daneben natürlich auch für die Einrichtungen und Maßnahmen der Regierung Verständnis zu wecken. Ein Jahr später, 1831, wurde er als Regierungsrat in die Spitzen der Altenburger Behörden berufen - ein Amt, das er bis 1847 innehatte, da er zum Präsidenten des damaligen ständisch aufgebauten Landtages ernannt wurde. 1848 saß er als Vertreter der gesamtthüringischen Staaten im Frank- 28 So „Biographie Hans Conon“ (hier zitiert nach Dobrucky 1938a: 51, hier: 53). 29 Dies betrifft die später von Georgs Schüler W. Grube erstmalig katalogisierte Mongolica-Sammlung, die 1778-1796 vom Mäzen der Göttinger Akademie, dem Petersburger Baron Georg Thomas von Asch (gestorben 1807), erworben wurde. 30 Archiv Altenburg (Briefe Leopolds v. d. G. an seinen Sohn 1820- 1828, auch zitiert von Schmidt, F. 1938: 99). Gabelentz_s001-344AK6.indd 239 12.07.13 16: 27 <?page no="242"?> 240 furter Bundestag, wo er gegen die preußischen Ansprüche und gegen die kleindeutsche Lösung auftrat. 31 Sein Banknachbar in der Paulskirche war übrigens Ludwig Uhland, der den Adligen allerdings erst dann einer Unterhaltung wert erachtete, als er erfuhr, dass er mit dem Herausgeber und Bearbeiter des Ulfilas identisch war. 32 1849 schied Hans Conon auf eigenen Wunsch aus sämtlichen Staatsämtern, präsidierte aber noch bis ins Alter (bis 1870) dem Altenburger Landtag. - Seine Tagebücher und Briefe, die heute hier im Altenburger Schloss aufbewahrt werden (im Thüringischen Staatsarchiv), enthalten zahlreiche Hinweise über die positiven Seiten, aber auch über die Grenzen seiner politischen Einsichten; so lesen wir zum Beispiel: „Ich gehöre nicht zu denen, die von der Verwirklichung des demokratischen Prinzips das alleinige Heil der Staaten erwarten; aber ich kann mich nicht der Überzeugung verschließen, daß der Demokratie die Z ukunft gehört.“ 33 Seine wirkliche Liebe galt jedoch seinen sprachwissenschaftlichen Studien. Auf Schloss Poschwitz schrieb er an seinem Stehpult („das so klein und unbedeutend aussieht, daß es ein Pförtner in einer Fabrik unter seiner Würde hielte, an so einem Pultchen seine Eintragungen zu machen“, schrieb später seine Tochter Clementine) 34 als reiner Autodidakt die ersten deutschen Arbeiten zur mandschurischen und mongolischen Grammatik, zur mongolischen Epigrafik und Literaturwissenschaft; hier erarbeitete er Grammatiken oder grammatische Abrisse für Samojedisch (heute als Nenzisch bezeichnet), Gotisch, Suaheli, Dajak, Dakota, Kaviri, Kasai und Melanesisch, insgesamt für fast 100 Sprachen. Hier bereitete er die Bibelübersetzung des Ulfilas für den Druck vor, hier übertrug er eine mongolische Fassung der Sim . hāsanadvātrim . śati, nach einem Manuskript, das ihm 31 Seine Einstellung zeigt sich auch in vielen Eintragungen in seinem Tagebuch, z. B. am 28. 6. 1866: „Preußen ist seiner Natur nach aggressiv … Die allgemeine Wehrpflicht wird zur allgemeinen Angriffspflicht (falls Preußen die Vorherrschaft erlangt)“ (Archiv Altenburg, zitiert nach „Biographie Hans Conon“: 200); oder - in ganz anderem Zusammenhang - in einem Brief an Georg, in dem er erklärt, die „endlosen Examina“ seien „auch so eine preußische Einrichtung, die mich an Kamaschen (! ) und Corporalstock erinnert“ (Archiv Altenburg, Nr. 892 [Briefe Hans Conons an seinen Sohn Georg 1858-1867], Schreiben vom 7. 2. 1867). 32 „Biographie Hans Conon“: 133 f. 33 „Biographie Hans Conon“: 202 (nach Notizen Hans Conons vom 20. 11. 1866). 34 Nach Dobrucky 1938a: 52 (hier: 53). seine Frau 1862 zusammen mit einigen 30 anderen mongolischen Handschriften aus dem Nachlass des finnischen Altaisten Matthias Alexander Castrén (1813-1852) verschafft hatte. 35 Überhaupt nahmen viele Angehörige der Familie regen Anteil an seinen Arbeiten. Als Beispiel sei nur eine Stelle aus den Aufzeichnungen seiner Tochter Clementine (Georgs jüngerer Schwester) angeführt; es heißt hier: Eines (seiner) Manuskripte (es handelte sich um eine Batta-Handschrift aus Sumatra) ist auf lustige Weise in des Papas Besitz gekommen. Er fand es in einem Auktionskatalog, beschloß, die Familie damit zu überraschen und gab in aller Stille Auftrag, bis zu - sagen wir 10 Talern - darauf zu bieten. Die Mama las aber den Katalog auch, hoffte, der Papa hätte das interessante Buch übersehen, und gab ebenfalls heimlich Auftrag bis - sagen wir 15 Talern. Und Georg, damals Assessor in Chemnitz, bekommt denselben Katalog, beschließt den Papa zu überraschen - und gibt Auftrag, das Buch um jeden Preis zu erstehen! Der Auktionar wird gelacht haben, war aber loyal und schrieb wies stand! 36 - Über Hans Conons Tageseinteilung, die wohl für die uns fast unglaublich anmutende Arbeitsproduktivität nicht ohne Einfluss war, gibt ein exakt über die Jahre geführtes Kalendarium Aufschluss; herausgegriffen sei ein beliebiger Tag: 37 vormittags 8-9 Arabisch, 9-10 Mandschu (die Fächer wechseln natürlich), 10-1 Amt (gemeint ist seine „hauptberufliche“ Tätigkeit als Mitglied der herzoglichen Regierung, die er allerdings nach seinem 40. Lebensjahr nicht mehr ausübte; von 1849 an hatte er den gesamten Vormittag für die wissenschaftliche Arbeit frei). Nachmittags Empfang der Altenburger Hofgesellschaft in Poschwitz, davor und danach gearbeitet; abends mit dem Pfarrer und dem Kantor aus Windischleuba auf dem Plateau (einem Altenburger Lokal) 38 zum Bier. Und diese Abendunterhaltung (natürlich nicht immer mit den gleichen Personen) fand nicht einmal, sondern auch fünfmal in der Woche statt! - „Er machte“, wie einer seiner Biographen schrieb, „die Wissenschaft nie zum Grab aller Behaglichkeit und Lebensfreude.“ 35 Teile der ungedruckten Übertragung veröffentlichte später der Schüler seines Sohnes Georg, Bertold Laufer (1898). Jetzt vollständig publiziert: Gabelentz (2004). 36 „Biographie Hans Conon“: 209 f. 37 Hier zitiert nach Dobrucky 1938b: 73b, hier: 66. 38 Um 1840 am Stadtrand auf herzoglichem Grund und Boden, aber innerhalb der städtischen Flurgrenzen errichtet (Altenburger Heimatblätter, 7. Jg. Nr. 9 [Beilage zur Altenburger Zeitung vom 15. 9. 1938]: 73b. Gabelentz_s001-344AK6.indd 240 12.07.13 16: 27 <?page no="243"?> 241 Die Leipziger Universität verlieh Hans Conon am 21. Juni 1846 den Titel „honoris caussa (! ) philosophiae doctor et bonarum artium magister“, 39 bereits bei ihrer Gründung (ebenfalls 1846) wurde er ordentliches Mitglied der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, Ehren- oder korrespondierendes Mitglied war er an den Akademien in Berlin, Petersburg, Budapest, am Institut d’Afrique und in der Société Asiatique zu Paris. In einer solchen Umgebung ist es kaum verwunderlich, dass auch die Kinder, Georg und seine vier Geschwister, nicht unbeeinflusst blieben von den sprachlichen Interessen des Vaters. Die Erlernung der damals wichtigsten europäischen Sprachen - Französisch, Englisch und Italienisch - bereits in der Kindheit galt in dieser Familie als selbstverständlich. Und da während ihrer Kinderzeit Freunde aus aller Welt das Schloss Poschwitz besuchten, wurden sie spielend mit vielen der berühmtesten Gelehrten ihrer Z eit bekannt. Um hier nur einige zu nennen: Aus Herrnhut kamen die Missionare Heinrich August Jäschke (im Juni 1872; 1817- 1883), dessen Wörterbuch und Grammatik der tibetischen Sprache bis heute verwendet werden, und Heinrich August Zwick, der sich fast 20 Jahre, bis 1823, bei den zentralasiatischen Steppenvölkern aufhielt und dem die Sächsische Landesbibliothek Dresden ihre kalmückischen, mongolischen und wohl auch tibetischen Bestände verdankt; 40 aus Halle der Indogermanist Friedrich August Pott (1802-1887), für den Georg später einen ausführlichen Nachruf schrieb; 41 aus Leipzig der Schulfreund Hermann Brockhaus 42 (1806- 1877) und der Professor für morgenländische Philologie Heinrich Leberecht Fleischer (1801-1888); diese drei - Pott, Brockhaus und Fleischer - hatten gemeinsam mit Hans Conon maßgeblich Anteil daran, dass 1845 in Darmstadt die Deutsche Morgenländische Gesellschaft begründet werden konnte. 43 Ferner gehörten zu den Besuchern Reinhold Rost 39 Archiv Altenburg, Urkunde Nr. 638a. 40 Vgl. Heissig, Walther (1961): XIII; Taube, Manfred (1966): XI f. - Zum Besuch siehe „Biographie Hans Conon“: 67. 41 v. d. Gabelentz, Georg (1888): „Friedrich Pott“, in: ADB, Bd. 26: 478-485. 42 Dritter Sohn von F. A. Brockhaus; seine beiden älteren Brüder Friedrich (1800-1865) und Heinrich (1804-1874) übernahmen das väterliche Druck- und Verlagshaus. 43 Im „Verzeichnis der Mitglieder der D. M. G.“ steht er als „Dr. H. C. von der Gabelentz, Exc., Wirkl. Geh. Rath in Altenburg“ unter Nr. 5 (z. B. in: Pischel, Praetorius, Krehl, Windisch,1895: 2). (1822-1896) aus dem thüringischen Eisenberg, der 1847 auf Hans Conons Vermittlung nach London ging, wo er 1869 head librarian der India Office Library wurde, 44 und der Missionarssohn Theophilus Hahn, der den Kindern - Georg und seiner Schwester Clementine - die Schnalzlaute der afrikanischen Khoi-san-Sprachen beibrachte; 45 der Innsbrucker Mongolist Bernhard Jülg (1825-1886), dessen polyglottes Wörterbuch am Poschwitzer Familientisch eine Rolle spielte wie bei jungen Frauen das Kochbuch, 46 und der Tibetforscher Emil Schlagintweit (1835-1904). 47 Neben den Wissenschaftlern steht aber beispielsweise auch Franz Liszt im Poschwitzer Gästebuch, 48 der mit Hans Conons Gattin Henriette musizierte - Hans Conon selbst war nach Aussage seiner Kinder völlig unmusikalisch. 49 Aber auch viele Wissenschaftler aus dem Ausland arbeiteten zum Teil wochenlang in der umfangreichen und qualitativ einmaligen Bibliothek auf Schloss Poschwitz: der englische Missionar Alexander Whylie (1815-1887), der aus Schanghai als erster Europäer ein Exemplar der „Geheimen Geschichte der Mongolen“ mitbrachte, 50 der Ungar Baron Antal Reguly (1819-1858) 51 und aus Paris Léon de Rosny (1837-1914), der 1879 das von Georg v. d. Gabelentz aus dem Mandschurischen ins Französische übersetzte Kin Ping Mei herausgab. 52 Aus Petersburg weilte der „Akademiker“ Franz Anton Schiefner (1817-1879) längere Zeit in Poschwitz, dem die Gabelentzsche Bibliothek zahlreiche 44 Zu R. Rost siehe Weise, O. (1897); Windisch, E. (1920): 361 f. R. Rost wirkte zusammen mit dem russischen Orientalisten Boris Andreevič Dorn (gestorben 1881) an der Katalogisierung der orientalischen Handschriften und Holzblockdrucke der Petersburger Kaiserlichen Bibliothek mit (siehe Dorn, B./ Rost, R.: 1852). 45 „Biographie Hans Conon“: 63, 184. 46 „Biographie Hans Conon“: 60; gemeint ist wohl die 1845 erschienene „Litteratur der Grammatiken, Lexica und Wörterbücher aller Sprachen der Erde“. 47 „Biographie Hans Conon“: 64. 48 „Biographie Hans Conon“: 68. 49 Eine „Katzenmusik“, wie sie im März 1848 fast allen Gutsherren des Altenburger Gebiets dargebracht wurde, verfehlte daher bei ihm völlig ihren Sinn („Biographie Hans Conon“: 129 ff.). 50 Taube, M. (1974): 459-471; zum Besuch siehe „Biographie Hans Conon“: 65. 51 „Biographie Hans Conon“: 65. 52 L. de Rosny wurde vor allem bekannt als Herausgeber der Revue Orientale et Américaine (I-VIII, Paris 1859-1864). Gabelentz_s001-344AK6.indd 241 12.07.13 16: 27 <?page no="244"?> 242 wichtige Erwerbungen verdankt, 53 und aus Barnaul im Gebiet der südsibirischen Turkvölker kam Friedrich Wilhelm Radloff (Vasilij Vasil’evič Radlov, 1837-1918), dessen zehnbändige Proben der Volkslitteratur der türkischen Stämme bis heute nichts von ihrem Quellenwert verloren haben. Vielen dieser Besucher werden auch die Kinder zahlreiche Anregungen verdanken. Vor allem aber war es der Vater selbst, der ihre Entwicklung nachhaltig beeinflusste. Hans Conons Arbeitszimmer, zu welchem vormittags auf strengen Befehl des Hausherrn kein Gast und nicht einmal seine Frau Zutritt hatten, stand den fünf Kindern jederzeit offen und war so recht ihr Spielzimmer, und es war ihnen Spaß und Spiel, wenn sie vom Vater mit der Übertragung kürzerer Tex te aus fremden Sprachen „beauftragt“ wurden. So war ihnen die Welt des Keltischen, der finnischen, der melanesischen und der Indianersprachen durchaus vertraut. 54 Georgs älterer Bruder, Hans Albert von der Gabelentz- Linsingen 55 (1834-1892), widmete sich später zwar vor allem naturwissenschaftlichen Arbeiten - er besuchte die Forstakademie in Eisenach und nahm - übrigens zusammen mit Georg 56 - an verschiedenen Reisen Alfred Brehms (1829-1884) teil, mit dem die Brüder schon im Elternhaus bekannt geworden waren, 57 und er brachte eine umfangrei- 53 „Biographie Hans Conon“: 62. - Hans Conons enge Beziehungen zu russischen Wissenschaftlern beruhen auf seinem Interesse an altaischen und finnisch-ugrischen Sprachen. In Russland, das damals als einziger europäischer Staat in direktem Kontakt zur Mongolei stand, hatte sich die Mongolistik schon in der ersten Hälfte des 19. Jh. zu einem eigenen akademischen Fach entwickelt, speziell in St. Petersburg und an der Geistlichen Hochschule der russisch-orthodoxen Kirche in Kasan; so erklärt es sich auch, dass die von Hans Conon aus dem Mandschurischen übersetzte Geschichte der großen Liao zuerst in St. Petersburg (1877) erschien (hrsg. von seinem Sohn Hans Albert). 54 „Biographie Hans Conon“ (nach Dobrucky 1938b: 84b, hier: 73). 55 Hans Albert hatte von seiner Großmutter, Albertine von Linsingen, Schloss und Gut Münchenbernsdorf geerbt unter der Bedingung, dass er und seine Nachkommen den Namen Linsingen ihrem eigenen Namen zufügten. 56 Die längste dieser Reisen führte Albert und Georg 1863 für drei Monate nach Ungarn, Siebenbürgen und in die Bukowina. 57 Hans Conon unterstützte Brehms Reisen auch finanziell; schon mit Alfreds Vater, Ludwig Brehm (dem „Vogelpastor“, 1787-1864), war die Familie Gabelentz befreundet; so schickte ihm Hans Conon ausgestopfte Vögel für seine ornithologische Sammlung (Archiv Altenburg, Nr. 704 [Briefe verschiedener Absender an Hans Conon]: Schreiben vom 26. 9. 1843). che naturwissenschaftliche Sammlung zusammen, die sich heute im Stadtmuseum Gera und im Museum Wittenberg befindet. Dass er die Neigung zur Philologie und zu orientalistischen Disziplinen jedoch nie ganz verlor, zeigt seine Arbeit über die „Chinesische Justiz nach einer Schilderung im Roman Gin-P’ing-Mei“, 58 und dafür spricht auch die Tatsache, dass er Hans Conons Übersetzung der Geschichte der großen Liao nach des Vaters Tod bearbeitete und in Petersburg herausgab (1877). Clementine (1849 geboren), Georgs Schwester, deren Notizen uns häufig als Quelle dienten - zwischen ihr und Georg bestand ein besonders inniges Verhältnis (obwohl sie - als die jüngere - bis zu ihrem 17. Lebensjahr den älteren Bruder mit „Sie“ anredete) - war, wie viele ihrer Briefe zeigen, ebenfalls sprachlich außerordentlich interessiert und begabt, hatte aber als Mädchen in der damaligen Z eit keine Möglichkeit, diese Neigungen ernsthaft zu verfolgen. Sie heiratete später einen Börries Freiherrn von Münchhausen auf Apelern. 59 Georg 60 aber, 1840 am 16. März im Poschwitzer Schloss geboren, konnte seinen sprachwissenschaftlichen Ambitionen fast ein Leben lang nachgehen. Über seinen Werdegang schreibt er selbst: Meine Liebhaberei für fremde Sprachen reicht in sehr frühe Zeiten zurück und wurde durch das Beispiel meines … Vaters und durch dessen Art, auf meine Gedanken und Interessen einzugehen, mächtig gefördert. Schon als Knabe und als Gymnasiast habe ich mehrere europäische und außereuropäische Sprachen, darunter Grebo, Akra, Chinesisch, Neuseeländisch und Samoanisch getrieben, und seitdem, freilich mit Unterbrechungen, diese Studien fortgesetzt und ausgedehnt … Mein sprachwissenschaftliches Streben bewegt sich vorzugsweise in der von W. v. Humboldt vorgezeichneten, auch von meinem … Vater verfolgten Richtung … 61 Und in einem vor der Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften gehaltenen Vortrag über seinen Vater 62 heißt es: 58 v. d. Gabelentz-Linsingen, H. A. (1864): 348. 59 1880 erwarb Börries das alte Gabelentz’sche Gut Windischleuba zurück; der Schriftsteller Börries Freiherr von Münchhausen (1874-1945) war Börries’ und Clementines Sohn. 60 Zu Georg v. d. Gabelentz siehe Conrady, A. (1893); Grube, W. (1904); Dobrucky, Th. (1938a): 74-79, hier: 67-70 (mit Bibliographie); Erkes, E. (1953/ 54); Erkes, E. (1959); Böttger, W. (1964). 61 v. d. Gabelentz, G. (1889) (handschriftlicher Lebenslauf). 62 v. d. Gabelentz, G. (1886): 239 f. Gabelentz_s001-344AK6.indd 242 12.07.13 16: 27 <?page no="245"?> 243 Als ich in meinem 8. Jahre englisch lernte, fragte ich ihn (den Vater) einmal, ob nicht im Englischen immer th für deutsches d stünde? Das bejahte er natürlich, und nun sagte er mir, was man Lautverschiebungen nenne … 12 oder 13 Jahre alt mochte ich sein, als er mir erlaubte Eichhoff ’s Vergleichung der Sprachen von Europa und Indien 63 zu lesen … Etwa ein Jahr später gab er mir Bopp’s vergleichende Grammatik in die Hand 64 … Eine eigentliche Anleitung zum Verständnisse gab er mir nicht, eher dann und wann auf Befragen einzelne Erläuterungen. Überhaupt ließ er mir immer die Initiative, ging nur mehr oder weniger auf meine Wünsche und Interessen ein und gab ihnen höchstens die Richtung, die ihm dienlich schien. So mochte er es gern, wenn wir Geschwister einander und ihm selbst Dechiffriraufgaben stellten, und als ich eine Sprache nach seiner Methode aus Texten zu erlernen wünschte, gab er mir die Genesis in Grebo (einer afrikanischen Sprache) und einige Anleitungen zur Anlage von Collectaneen, - das Weitere überließ er mir. Später, etwa in meinem 16. Jahre, liess er mich zu meiner Übung und Unterhaltung einige Seiten neuseeländische Texte mit Übersetzung lesen und darnach den Abriß einer Grammatik verfassen … Von sprachphilosophischen Büchern gab er mir … Humboldt’s Kawiwerk 65 … Von anderen neueren Büchern zur allgemeinen Sprachwissenschaft rieth er mir ab: ,In derselben Zeit, wo Du die lesen würdest, kannst Du eine neue Sprache lernen, und da hast Du mehr davon! ‘ Unter Anderem empfahl er mir zumal das Arabisch … Nach dem in der Gabelentzschen Familie traditionellen Jura-Studium in Jena und Leipzig trat Georg in den sächsischen juristischen Dienst - eine Tätigkeit, die ihm - wie seine Briefe nach Hause zeigen - ebensowenig Freude machte wie seinem Vater. Zunächst arbeitete er in Leisnig, wo er, begeistert für die historische Vergangenheit dieses mittelsächsischen Städtchens an der Freiberger Mulde, 66 einen Geschichts- und Altertumsforschenden Verein gründete - ein Schritt, mit dem er ebenfalls den Spuren seines Vaters folgte, der fast 40 Jahre lang Vorsteher der Geschichts- und Altertumsforschenden Gesellschaft des Osterlandes in Altenburg war. 67 1876 vollendete Georg, damals noch Assessor beim Bezirksgericht Dresden, seine Dissertation, die Übersetzung und Kommentierung des chinesischen Taijitu, 68 die Anlass 63 Frédéric-Gustave Eichhoff 1799-1875 (1867). 64 Franz Bopp 1791-1867 (1833, 2 1857-1861, 3 1868-1871). 65 Wilhelm v. Humboldt 1767-1835 (1836-1839). 66 Die Burggrafen von Leisnig waren die Lehnherren des Gabelentz’schen Geschlechts über den ehemaligen Besitz Windischleuba und Nobitz. 67 In den Mitteilungen und Jahresberichten dieser Gesellschaft nehmen Hans Conons Arbeiten einen umfangreichen Raum ein. 68 v. d. Gabelentz, Georg (1876). zu seiner 1878 erfolgten Berufung als außerordentlicher Professor der ostasiatischen Sprachen nach Leipzig wurde - einer Berufung, die es ihm ermöglichte, sich fast ganz seinen Interessen zu widmen. Allerdings waren seine Bezüge zunächst außerordentlich niedrig - das Anfangsgehalt eines Professor extraordinarius designatus betrug damals etwa 120 bis 150 Mark. 69 Dazu kamen zwar die Vorlesungsgelder, die aber angesichts der in den orientalischen Fächern immer nur geringen Hörerzahl 70 nicht sehr hoch gewesen sein dürften. Dies sind jedenfalls Summen, die bei einer mehrköpfigen Familie gerade zum Notwendigsten reichten und die recht deutlich machen, wie die Herrschenden damals ihr Bildungsprivileg zu wahren trachteten. Ohne die Z uschüsse von zu Hause, die ihm seine Eltern aus den Einnahmen des Poschwitzer Besitzes überwiesen (die in seinem Falle allerdings nicht besonders groß waren), 71 hätte er seine wissenschaftlichen Arbeiten nur schwer durchführen können. Während seiner elfjährigen Leipziger Tätigkeit hatte er vier verschiedene Wohnungen: zuerst im östlichen Zentrum, in der Langen Straße 15, im Leipziger Verlags- und Buchdruckerviertel, nicht weit entfernt von der Firma der 69 Siehe z. B. das Gesuch des Vorstands der Vereinigung der Honorarprofessoren, außerordentlichen Professoren und Privatdozenten an der Universität Leipzig an das Königliche Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichts um Regelung der Gehaltsverhältnisse vom 24. 1. 1908 (Universitätsbibliothek Leipzig, Signatur: Univ. 371q). 70 Zum Beispiel Schreiben Georgs an seine Schwester Clementine vom 6. 5. 1879: „Ich lese chinesische Grammatik dreistündig vor 3 Zuhörern“ (zitiert nach Clementine v. Münchhausens „Biographie Hans Conon“: 44); oder fünf Jahre später in einem Brief an seine Mutter: „Meine japanische Vorlesung habe ich heute mit 4 Zuhörern eröffnet, eine ungewöhnlich hohe Zahl für den Gegenstand“ (Briefwechsel, 29. 4. 1884). Oder Schreiben vom 12. 10. 1889 aus Berlin: Semesterbeginn mit 9 Sinologen und 4 Sprachwissenschaftlern; 3 Wochen später (Schreiben vom 6. 11. 1889) nur noch 3 Sinologen („Letztere kommen zu mir auf mein Z immer, wo alles behaglicher abgemacht werden kann“), dazu 8 für Mandschu. Auch die im Altenburger Archiv (Nr. 903) aufbewahrten Belegbögen weisen kaum mehr als 8 bis 10 Hörer aus. 71 Als Beispiel sei nur ein Brief des Vaters an Georg vom 7. 2. 1867 zitiert: „Du erhieltest … 384.11. - Summa, während Du eigentlich 350.- auf die beiden Quartale Joh. und Mich. und 150.- auf das Quartal Weihnachten zu erhalten gehabt hättest. Wenn es Dir aber recht ist, sollst Du bis auf bessere Zeiten oder mehreren Bedarf 50 gut behalten …“ (Archiv Altenburg, Nr. 892 [Briefe Hans Conons an seinen Sohn Georg 1858-1867]). Gabelentz_s001-344AK6.indd 243 12.07.13 16: 27 <?page no="246"?> 244 ihm befreundeten Familie Brockhaus, 72 deren Angehörige im 19. Jh. mehrfach ihre liberale und demokratische Haltung bewiesen: 1837 unterstützte die Brockhaussche „Deutsche Allgemeine Zeitung“ den Kampf der Göttinger Sieben, 1848 war ihre Stellung sehr eindeutig auf der Seite der progressiven Bourgeoisie, und 1850 waren sowohl der Verleger Heinrich (in der Leipziger Stadtverordnetenversammlung) als auch der Sanskritist Hermann (im akademischen Senat) scharf gegen den Versuch der sächsischen Regierung aufgetreten, durch einen Staatsstreich die alten Stände zu reaktivieren und so das vormärzliche Reaktionssystem wieder herzustellen (Heinrich wurde daraufhin, wie zahlreichen anderen „Renitenten“, das passive Wahlrecht entzogen, gegen Hermann wurde - wie gegen 20 andere Professoren - ein Disziplinarverfahren eingeleitet). 73 Aber auch noch in den 70er Jahren erschienen im Brockhaus-Verlag trotz Verboten und trotz der Zensur manche fortschrittliche liberale und demokratische Schriften. - Der Umgang mit Mitgliedern dieser Verleger- und Gelehrtenfamilie dürfte auch für die liberale Einstellung von Georg v. d. Gabelentz sprechen. Im Oktober 1883 zog Georg in den Schleußiger Weg 3/ 4 (heute Wundtstraße), der vom damaligen Stadtrand an der Pleiße entlang, an der 1867 eingeweihten Pferderennbahn vorbei, 74 nach Schleußig führte, das in jener Zeit noch ein reines Bauerndorf vor der Stadt war. Diesmal lag ganz in der Nähe der Gabelentzschen Wohnung die Braustraße, in der damals (seit 1867) Wilhelm Liebknecht wohnte, bis er 1881 auf Grund des Sozialistengesetzes ausgewiesen wur- 72 Schon damals Salomon-, Ecke Dörrienstraße; in dieser Firma hatte mit der Aufstellung der ersten Schnellpresse bereits 1826 die industrielle Produktion in der Buchherstellung begonnen, und so konnte sie sich nach ihrer Übersiedlung von Amsterdam nach Leipzig zum größten deutschen Druck- und Verlagshaus entwickeln (1821: 180, 1849: 300 Beschäftigte). Nach dem 2. Weltkrieg in Leipzig als „VEB F. A. Brockhaus“ weitergeführt, 1992 Zusammenschluss mit dem 1945 nach Wiesbaden überführten Verlag F. A. Brockhaus. Heute erinnern in Leipzig nur noch ein Denkmal für F. A. Brockhaus im Innenhof des ehem. Verlagsgeländes (heute „Brockhaus-Zentrum“) und zwei Straßennamen an den Verlag („Großer Brockhaus“ neben dem alten Verlag und „Brockhausstraße“ in Schleußig im Leipziger Südwesten). 73 Vgl. Löschburg, Winfried (1959): 314 f., 318. 74 Am Connewitzer Holz vorbei, in dem kurz zuvor, 1866, das neue Wasserwerk in Betrieb genommen worden war, das für die Wasserversorgung der Stadt bis zum Ende der 80er Jahre nicht nur Grundwasser, sondern - fast ohne Aufbereitung! - auch Pleißenwasser lieferte. de - Liebknecht, der zusammen mit August Bebel maßgebend daran beteiligt war, dass sich Leipzig in den 60er und 70er Jahren zu einem Zentrum der Arbeiterbewegung entwickelte - historische Ereignisse, zu denen die Familie Gabelentz, soweit man nach den vorhandenen Unterlagen schließen kann, keinerlei Verbindungen hatte. - Die Wohnung am Schleußiger Weg muss damals fast am Ende der Welt gelegen haben, wenn auch die einige Jahre vor Gabelentz’ Amtsantritt (1876) mit englischem Kapital errichtete Straßenbahn - in jener Zeit noch von Pferden gezogen - den Weg etwas verkürzt haben mag. 75 So ist es nicht verwunderlich, dass schon knapp zwei Jahre später (ab Sommersemester 1885) wieder eine neue Adresse im Vorlesungsverzeichnis steht, diesmal in der Grassistraße. 76 Georg schreibt kurz vor dem Umzug: „Unser neues Quartier verspricht reizend zu werden. Wir sind so gut wie auf dem Lande und haben doch kaum 10 Minuten bis zum Markt, 15 Minuten bis zur Universität …“ 77 Dieses Gelände, bis dahin vom Botanischen Garten der Universität (bis 1877) und von den Feldern oder Wiesen des Schimmel’schen Gutes bestimmt, begann sich in den 80er Jahren zum „Konzertviertel“, zum bevorzugten Wohngebiet der Leipziger Großbourgeoisie zu entwickeln. Zwischen den urwüchsigen Wäldern und Büschen der Überschwemmungslandschaft der Pleißenaue und der Innenstadt, also in unmittelbarer Umgebung der neuen Gabelentzschen Wohnung, muss in jener Zeit, nach den Gründerjahren, ein reger Baubetrieb geherrscht haben. Schon 1883 hatte man mit der Errichtung des neuen „Gewandhauses“ begonnen, dem bald darauf, 1887/ 88, der Bau des Konservatoriums folgte. Noch im gleichen Jahr, in dem das Gewandhaus eingeweiht wurde (1885), finden wir auch Georgs Familie unter den Zuhörern; er schreibt selbst darüber: „Vorgestern hörten wir hier im neuen Gewandhaus Händels herrlichen Judas Maccabäus … Das Gebäude allein ist schon sehenswert; man behauptet, es gäbe keinen schöneren Concertsaal. Und das Publikum ist andächtig wie in der Kirche.“ 78 - Ebenfalls an der Grassistraße auf neuerschlossenem Bauland begann 1886/ 87 der Bau der Leipziger Universitätsbibliothek (Ein- 75 Die Bahn führte damals noch durch die Kochstraße nach Süden, nach Connewitz; der Bau der elektrischen Straßenbahn erfolgte erst 1895, ihn hat Georg also nicht mehr erlebt. 76 Cataster-Nummer 107 B - in diesem Gebiet also damals noch ohne Hausnummern! 77 Briefwechsel, Schreiben Georgs vom 9. 3. 1883. 78 Briefwechsel, Schreiben Georgs vom 5. 12. 1885. Gabelentz_s001-344AK6.indd 244 12.07.13 16: 27 <?page no="247"?> 245 weihung 1891) und im Jahr darauf der Kunstakademie (der heutigen Hochschule für Grafik und Buchkunst), die zusammen mit der Bibliothek projektiert worden war. 79 Der letzte Umzug schließlich (vor dem Wintersemester 1888/ 89) führte wieder ins Zentrum; die neue Wohnung, „An der I. Bürgerschule“ Nr. 4, 80 gehörte zum Universitätsbesitz. 81 Diese I. Leipziger Bürgerschule (die Einweihung war 1804) befand sich auf der Kurtine, auf dem Hauptwall der ehemaligen Moritzbastei, in deren unterirdischen Gewölben der Studentenklub unserer Universität eingerichtet wird. 82 Für diesen mehrfachen Wohnungswechsel war nicht so sehr der Wunsch maßgebend, sich zu verbessern, sondern er erfolgte, weil die Einkünfte für die Miete nicht ausreichten. So schrieb er beispielsweise vom Schleußiger Weg: „Den ganzen Inhalt unserer (alten) Wohnung können wir aber in der neuen nicht unterbringen …“ 83 Und einige Jahre später (1888), nach dem Umzug in die Grassistraße: „Die Engigkeit unseres jetzigen Quartiers ist oft recht empfindlich. Aber es wurde uns ein neues für 1600 M angeboten, also 50 M billiger als die jetzige Wohnung …“ 84 - Wenn wir kurz nachrechnen: 1600 M im Jahr, das entspräche einer Monatsmiete von rund 135 M - eine Summe, die bereits über dem Anfangsgehalt eines außerordentlichen Professors liegt (vom Durchschnittslohn eines Arbeiters nicht zu sprechen). Es wäre also verfehlt, von ernsthaften materiellen Sorgen zu sprechen, so bedrückend für Georg subjektiv seine Lage gewesen sein mag, durch die er sich ständig genötigt fühlte, auf Nebeneinnahmen bedacht zu 79 Die Kunstakademie - bis dahin im Westflügel der Pleißenburg untergebracht - brauchte nach deren Abriss (1897/ 98) ein neues Domizil; die Stadtverwaltung befand sich zu Gabelentz’ Leipziger Zeit noch im Alten Rathaus; die Pleißenburg war noch Sitz der wettinischen Garnison, auf ihrem Gelände wurde erst 1899-1905 das „Neue Rathaus“ (über dem ehemaligen Ostflügel die „Deutsche Bank“) errichtet. 80 Das kleine Straßenstück zwischen Schiller- und Goethestraße (später zur Schillerstraße gerechnet). 81 Vermutlich in dem 1842/ 43 nach Plänen von Albert Geutebrück errichteten Gebäude, das 1943 angloamerikanischen Bomben zum Opfer fiel (siehe dazu Drucker, Renate 1959: 181 f.). 82 Diese I. Bürgerschule war 1804 eingeweiht worden (durch Bombenangriffe im 2. Weltkrieg zerstört). - Der Versuch von etwa 1884, das Gebäude für die Unterbringung der Universitäts bibliothek zu erwerben, scheiterte am Widerstand der Stadt. 83 Briefwechsel, Schreiben Georgs vom 9. 3. 1883. 84 Briefwechsel, Schreiben Georgs vom 1. 1. 1888. sein. 85 Ein Hauptgrund für die Annahme des Angebots der Berliner Universität war für ihn wohl der Umstand, dass er als ordentlicher Professor, vor allem aber als Mitglied der Preußischen Akademie ein höheres Gehalt erhielt. 86 Außer seiner finanziellen Lage 87 machten ihm gerade in der Leipziger Zeit auch familiäre Belastungen zu schaffen: Krankheiten im engsten Familienkreis (die natürlich auch wieder mit Ausgaben verbunden waren) 88 und eine zunehmende Entfremdung zwischen ihm und seiner Frau, die schließlich zur Scheidung führte. - Trotzdem waren die elf Jahre, die Georg v. d. Gabelentz in Leipzig gewirkt hat, die fruchtbarsten seines Lebens. Von wesentlicher Bedeutung dafür war zweifellos, dass er über eine sprachwissenschaftliche und philologische Bibliothek verfügte, die zu ihrer Zeit zu den für diese Fachgebiete am besten ausgestatteten in Deutschland gehörte. Den Grundstock dazu hatte schon sein Vater gelegt, der durch Kauf und durch Austausch mit Kollegen bereits alle wesentlichen Publikationen des In- und des Auslandes zusammengetragen hatte - gelegentlich bekam er auch wichtige Werke durch Vermittlung von Freunden leihweise zum Kopieren zur Verfügung gestellt, so z. B. von der Petersburger Akademie. Welchen Rang schon zu Hans Conons Lebzeiten diese Büchersammlung hatte, veran- 85 Im März 1883 schreibt er z. B. an seine Mutter: „Ein kleines Buch, das ich eben drucken lasse (gemeint sind die ‚Anfangsgründe der chinesischen Grammatik’), soll mir hoffentlich im nächsten Jahr den Preis Stanislas Julien zu 1500 francs einbringen …“ (Briefwechsel, Schreiben Georgs vom 22. 3. 1883). 86 Als Mitglied der Berliner Akademie erhielt er ein Gehalt von jährlich 900 Mark und ein besonderes persönliches Gehalt von jährlich 7000 Mark (also monatlich 75 M und ca. 583 M; Schreiben der Kgl. Akademie der Wissenschaften vom 19. 11. 1889 [Archiv Altenburg, Nr. 907]), als Ordinarius der Berliner Friedrich- Wilhelms-Universität dagegen nur jährlich 2100 M (d. i. monatlich 175 M; Schreiben des Preußischen Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten vom 20. 9. 1889 [Archiv Altenburg, Nr. 907]). 87 Allerdings spielt auch während seiner ersten Berliner Monate in seinen Briefen nach Hause die finanzielle Lage immer noch eine große Rolle; z. B. schreibt er über die „Eröffnung eines neuen naturhistorischen Museums durch die Majestäten, wobei wir Professoren in Talar und Barett zu erscheinen hatten - mich kostet das Amtsgewand 65.00 M“ (Briefwechsel, Schreiben Georgs vom 4. 12. 1889). 88 „Unseren Arzt habe ich um Liquidation gebeten. Er hat mir seine Rechnung auf 190 Mrc. gestellt, was etwa 2 M 50 (Pfg.) für den Besuch ergiebt, also wohl sehr mäßig ist“ (Briefwechsel, Schreiben Georgs vom 1. 1. 1885). Gabelentz_s001-344AK6.indd 245 12.07.13 16: 27 <?page no="248"?> 246 schaulicht folgende Episode, von der seine Tochter Clementine berichtet: 89 Da kam ich eines Morgens in Papas Stube und merkte an seinem strahlenden Gesicht, daß er eine Freude gehabt hatte. Er erzählte: Da habe ich heute einen Brief bekommen aus Wien, von einem Herrn, der fragte nach einem Buch. In Wien hätten sie es nicht, hätten ihn nach Paris verwiesen, die hatten’s auch nicht, verwiesen ihn nach Berlin, die hatten’s wieder nicht, vielleicht wär’s in London, und in London haben sie ihm geschrieben, wenn’s einer hätte, wäre ich’s. Und es ist schon auf der Post. - Ein weiterer Grund für seine bahnbrechenden wissenschaftlichen Leistungen scheint mir seine Aufgeschlossenheit gegenüber seiner Umwelt zu sein, die sich keineswegs auf linguistische Fachprobleme beschränkte, sondern viele Bereiche des Lebens umfasste: „Andere Interessen“, sagt er selbst, „zumal für Philosophie, Geschichte, Länder- und Völkerkunde, dann auch für das Civilrecht und zeitweilig für Volkswirtschaft und Politik, kamen, zum Theil durch meine dienstlichen Aufgaben geweckt, dazwischen und haben mich oft lange Zeit hindurch in Anspruch genommen. Anders als sein Vater zeigte er für musikalische Fragen ausgesprochenes Interesse (wohl ein Erbteil seiner Mutter). Erhalten sind aber auch Zeichnungen von ihm selbst, z. B. ein sehr treffendes Porträt seines Vaters. Und schließlich sei noch ein Brief vom Mai 1885 zitiert: Mein Katarrh verleidet mir alles geistige Arbeiten. Wer mich fragt, was ich in den letzten Tagen fertig gebracht habe, dem kann ich nur mit mädchenhaftem Erröthen ein Spiel Schachfiguren zeigen, das ich nach eigenen Entwürfen aus Würfeln von Eschenholz geschnitzt habe. 90 Wenn Georg v. d. Gabelentz an Pān . ini nicht nur die wissenschaftliche Leistung würdigt, sondern ausdrücklich auch das „Künstlerische“, „was“ - wie er sagt 91 - „keinem Gelehrten fehlen sollte, der nicht nur Steinbrecher sein will, sondern auch Baumeister“, so spricht auch dies für das Gewicht, welches er einer vielseitig gebildeten Persönlichkeit beimaß. 89 „Biographie Hans Conon“ (zitiert nach Dobrucky, Th. 1938a: 60, hier: 58). 90 Briefwechsel, Schreiben Georgs vom 7. 5. 1885. 91 v. d. Gabelentz, Georg (1891): 23 (die 2. Auflage dieses Werkes wurde 1901 von Albrecht v. d. Schulenburg, dem Sohn von Georgs Schwester Margarete, besorgt, der - als Privatdozent für Ostasiatische Sprachen an der Universität München - auch andere linguistische Arbeiten verfasste, z. B. v. d. Schulenburg, A. 1894). Angesichts von Georgs zahlreichen Publikationen während seiner Leipziger Tätigkeit, besonders seiner bahnbrechenden „Chinesischen Grammatik“ 92 , die wichtig genug war, dass noch 1953 eine Neuauflage erschien, war es nur folgerichtig, dass er in Anerkennung seiner Verdienste 1885 zum Ordentlichen Mitglied der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften in Leipzig ernannt wurde und 1889 - bei seiner Berufung an die Berliner Universität - zum Mitglied der Königlich Preußischen Akademie. 93 Zum Korrespondierenden Mitglied wurde er gewählt vom Koninklijk Instituut voor Taal-, Landen Volkenkunde van Nederlandsch Indie im Haag, von der Société d’Ethnographie in Paris, von der Peking Oriental Society und vom North-China Branch of the Royal Asiatic Society of Great Britain and Ireland in Shanghai. Und „den internationalen Orientalistencongressen zu Florenz (1878), Berlin (1881), Leiden (1883) und Wien (1886) habe ich als Präsident bez. Vicepräsident theils der ostasiatischen, theils der oceanischen Sectionen beigewohnt“, schreibt er selbst in einem Lebenslauf. - Trotz dieser offiziellen Anerkennung scheint sein Einfluss auf seine Kollegen nicht das Ausmaß erreicht zu haben, das man bei einem so ausgezeichneten Sprachforscher erwarten sollte, zumal Leipzig damals ein, vielleicht sogar der Mittelpunkt der Linguistik war - erinnert sei nur an die Tätigkeit von Friedrich Karl Brugmann (1849-1919) und Eduard Sievers (1850-1932). An ihm selbst wird diese gewisse Ignorierung nicht gelegen haben, denn er wird von allen, die ihn kannten, als überaus liebenswürdige, geistreiche Persönlichkeit geschildert - von überragender Körpergröße (er war 2,08 Meter groß), aber wohl proportioniert, entsprechend damaliger Mode mit einem gewaltigen Vollbart. 94 Allerdings wird eine gewisse Zurückhaltung oder fast Schüchternheit aus manchen seiner Briefe deutlich; er schreibt z. B. anlässlich eines Vor- 92 v. d. Gabelentz, Georg (1881). 93 Die Ernennungsurkunde trägt die Unterschriften von Theodor Mommsen, Emil Du Bois-Reymond und Ernst Curtius (Archiv Altenburg, Nr. 907). 94 Ein Porträt befindet sich in der Leipziger Universität, welches - von Winterstein 1883/ 84, also zehn Jahre vor seinem Tod, in Poschwitz gemalt - nach den Worten seiner Schwester Clementine „ganz vortrefflich und sprechend ähnlich“ sei. - Ein Zeitgenosse schrieb: „He was, in fact, at one time considered the tallest man in Saxony … among his colleagues of the Royal Society of Berlin there was none who reached him up to his chin“ (Athenaeum, Nr. 2452, London, 23. 12. 1893: 883). Gabelentz_s001-344AK6.indd 246 12.07.13 16: 27 <?page no="249"?> 247 trags „Zur Beurtheilung des Confucius und seiner Lehre“ (am 28. 1. 1888 in Berlin, für ein Honorar von 300 Mark! ): „… viel Ehre, aber doch auch eine große Verlegenheit. Ich will Gott danken, wenn alles vorüber und gut abgelaufen ist.“ - Ein Handicap war für ihn sicher die Tatsache, dass er in Leipzig als außerordentlicher Professor, später (ab 1882) ordentlicher Honorarprofessor, nicht das Recht hatte, in der Fakultät einen Sitz und damit eine Stimme zu beanspruchen. 95 Aber entscheidender war vielleicht - wie Ferdinand von Richthofen im Gutachten für seine Berufung an die Berliner Universität schrieb - der „fernliegende Charakter der von ihm vertretenen Lehrgegenstände“ - mit anderen Worten die Tatsache, dass er ein Fach vertrat, das noch keineswegs allgemeine Anerkennung gefunden hatte. Speziell die Junggrammatiker, deren Hauptwirkungszeit in die Jahre zwischen 1870 und 1890 fiel und die sich gerade erst selbst gegen die Klassische Philologie durchgesetzt hatten, verhielten sich gegenüber so exotischen Sprachen wie dem Chinesischen zunächst ablehnend. Darüber hinaus wichen Georgs wissenschaftliche Ansichten, die er zusammengefasst in seinem 1891 erschienenen fundamentalen Werk über „Die Sprachwissenschaft“ veröffentlichte, in zahlreichen Punkten von der herrschenden Lehrmeinung ab, und mancher seiner Kollegen mag aus diesem Grunde auf einen engeren Verkehr verzichtet haben. So erreichte der gesellschaftliche Umgang mit Fachgenossen und Freunden nicht das Ausmaß wie in seinem Elternhaus. In seinen Briefen nach Poschwitz berichtete er hin und wieder von Besuchen - genannt wurden z. B. der Indologe Otto Böhtlingk (1815-1904), der seit 1885 in Leipzig wohnte, und der Slawist August Leskien (1840-1916), denen er Poschwitzer Erdbeeren vorsetzte, 96 Ferdinand von Richthofen (1833- 1905), mit dem er „beim Sylvesterpunsch“ „eine recht animierte Neujahrsnacht“ hatte; 97 öfter kamen seine Schüler Max Uhle, Wilhelm Grube und Karl Florenz, der ihm später eine Übersetzung japanischer Poesie widmete. Nach seinem Umzug nach Berlin schrieb er zwar nach Hause: „Hier scheint der (gesellschaftliche) Verkehr noch munterer und inniger zu sein als in Leipzig“ 98 - aber lange hat er sich daran nicht erfreuen können. Eine Blasen- 95 Darauf wird in der Ernennungsurkunde des Königlich Sächsischen Ministeriums des Cultus und öffentlichen Unterrichts vom 30. 6. 1882 (UAL PA 487, Bl. 513) ausdrücklich hingewiesen. 96 Briefwechsel, Schreiben Georgs vom 18. 7. 1887. 97 Briefwechsel, Schreiben Georgs vom 1. 1. 1885. 98 Briefwechsel, Schreiben Georgs vom 2. 11. 1889. krankheit machte sich immer stärker bemerkbar, zu der sich nach zwei schweren Operationen im Winter 1893 eine Lungenentzündung gesellte, an welcher er am 11. Dezember 1893, nur 53 Jahre alt, in seiner Berliner Wohnung starb. Mit vielen Ehren wurde er auf dem Begräbnisplatz im Park des Poschwitzer Schlosses beigesetzt. 1945 überführte man ihn in die Grabstätte der Gabelentzschen Familie auf dem so genannten „neuen Friedhof “ in Windischleuba, der im Dreißigjährigen Krieg am Ortsrand als Pestfriedhof angelegt worden war. 99 Zum Schluss soll Georg von der Gabelentz noch einmal selbst zu Worte kommen - mit einem Zitat aus seinen Untersuchungen zur vergleichenden Syntax, welches sich zwar auf eine aktuelle Fragestellung bezieht, aber in gleicher Weise für seine gesamte Arbeit gilt und recht kennzeichnend ist für sein Wesen und seine Haltung: Das Gebiet, auf welches ich mich gewagt, ist noch immer ein wenig besuchtes. Noch immer befaßt sich unsere Sprachvergleichung lieber mit der Anatomie als mit der Psychologie der Sprachen. Ist diese darum weniger wichtig, weniger interessant? Mit Nichten! nur weniger handgreiflich ist sie, und darum prekärer. Das Letztere empfinde ich im vollsten Maße, und ich wünschte, auch meine Leser blieben dessen eingedenk und verhielten sich darum zu meiner Arbeit so kritisch als möglich. Ist meine Ansicht die richtige, dann wohl mir und wohl der Wissenschaft, die einen Gesichtspunkt gewonnen hat, der manche weitere Erkenntnis verheißt. Habe ich aber geirrt, dann hoffe ich auch die Berichtigung meines Irrthumes hervorgerufen zu haben, und dann ist nicht weniger gewonnen; denn die Beseitigung eines Irrthumes wiegt ebenso schwer, wie die Erkenntnis einer Wahrheit. 100 Zitierte Literatur Abkürzungen: ADB Allgemeine Deutsche Biographie, Leipzig. Archiv Altenburg Thüringisches Staatsarchiv Altenburg, Familienarchiv von der Gabelentz. „Briefwechsel“ Briefwechsel Georgs mit seinen Eltern 1845-1892, Archiv Altenburg Nr. 716-720. 99 Dort befinden sich auch die Grabstätten von Hans Conon, von Georgs Schwester Pauline und ihrem Mann, Richard von Carlowitz-Maxen, von Georgs zweiter Frau (Gertrud von Oldershausen), seinem Sohn Hanns-Conon und von verschiedenen Angehörigen der Münchhausen’schen Linie. 100 v. d. Gabelentz, Georg (1875): 337 f. Gabelentz_s001-344AK6.indd 247 12.07.13 16: 27 <?page no="250"?> 248 „Biographie Hans Conon“ Hans Conon von der Gabelentz. Material zu Biographie und Charakteristik, zusammengetragen von Clementine v. Münchhausen geb. v. d. Gabelentz, Abschrift, Archiv Altenburg, Nr. 655. „Geschichte“ Über ein halbes Jahrtausend auf angestammter Scholle. Geschichte der Herren von der Gabelentz, Leipzig, als Handschrift gedruckt, 1938. PA Personalakte. UAL Universitätsarchiv Leipzig. Böttger, W. (1964): „Gabelentz, von der - Hans Conon“, in: Neue Deutsche Biographie, hrsg. von der Histor. Commission bei der Bayer. Akademie der Wissenschaften, Berlin, Bd. 6: 2 f. Bopp, Franz (1833, 2 1857-1861, 3 1868-1871): Vergleichende Grammatik des Sanskrit, S . end, Armenischen, Griechischen, Lateinischen, Litauischen, Altslavischen, Gotischen und Teutschen, Berlin. Conrady, A. (1893): „G. v. d. Gabelentz“, in: Beilage Nr. 303 der Allgemeinen Zeitung, München, 30. 12. 1893 (Nr. 361): 1-5. Das Altenburger Land (1974), Berlin = Werte unserer Heimat. Heimatkundliche Bestandsaufnahme in der DDR, bearbeitet von der Arbeitsgruppe Heimatforschung, Akademie der Wissenschaften der DDR, Institut für Geographie. Dehio, Georg (1965): Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler: Die Bezirke Dresden, Karl-Marx-Stadt, Leipzig, bearbeitet von der Arbeitsstelle für Kunstgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin. Dobrucky, Theodor (1938a): „Die Herren von der Gabelentz“, in: Über ein halbes Jahrtausend auf angestammter Scholle. Geschichte der Herren von der Gabelentz, Leipzig, als Handschrift gedruckt: 11-89; Wiederabdruck in diesem Band. Dobrucky, Theodor (1938b): „550 Jahre v. d. Gabelentz im Altenburger Land“, in: Altenburger Heimatblätter, 7. Jg., Nr. 10 [Beilage zur Altenburger Zeitung vom 15.9.1938]: 73b. Döring, H.: „Carl Leopold v. d. Gabelentz“, in: Ersch, Johann Samuel/ Gruber, Johann Gottfried (Hrsg.) (1851): Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, I. Theil 52: 27-29. Dorn, B./ Rost, R. (1852): Catalogue des manuscrits et xylographes orientaux de la Bibliothèque Impériale Publique de St. Pétersbourg, St. Pétersbourg; reprint Leipzig 1978. Drucker,Renate(1961): „DieUniversitätsbauten1650-1945“,in: Füßler, Heinz (Hrsg.): Leipziger Universitätsbauten, Leipzig, 167-212. 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Gabelentz, Georg (1891): Die Sprachwissenscha ft, ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse, Leipzig. v. d. Gabelentz, Georg (1938): „Einiges über das Poschwitzer Schloß. Seine Baugeschichte und seine Sammlungen“. In: „Geschichte“ (s. o.): 101-111. v. d. Gabelentz, Georg: Familiengeschichte. Handschrift. Archiv Altenburg (s. o.) Nr. 912. de Gabelentz, H. C. (1830): Catalogue d’une collection de médailles antiques romaines impériales, Altenburg. v. d. Gabelentz, Hans Conon (2004): Die Geschichte von Kasna Chan. Ein mong. Erzählzyklus. Nach einer nun verschollenen Hs. übers. Hrsg. von H. Walravens. Wiesbaden (mit Schriftenverzeichnis) = Sinologica Coloniensia 22. v. d. Gabelentz-Linsingen, Hans Albert (1864): „Chinesische Justiz nach einer Schilderung im Roman Gin-P’ing-Mei“, in: Globus. Illustrirte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde, Hildburghausen, Bd. 5: 348-350. v. d. Gabelentz-Linsingen, Hans Albrecht (1922): Ahnenta fel und Stammtafeln der Familie v. d. Gabelentz, [Groitzsch]. Grube, W. (1904): „G. v. d. Gabelentz“, in: ADB, Bd. 50 (246. Lieferung): 548-555 (mit Bibliographie); Wiederabdruck in diesem Band. Heissig, Walther (1961): Mongolische Handschriften, Blockdrucke, Landkarten, Wiesbaden, = Verzeichnis der orientalischen Handschriften in Deutschland, Bd. 1. Hempel , Karl Friedrich (1833): „Hans Carl Leopold v. d. Gablenz“. In: Neuer Nekrolog der Deutschen, Jahrgang 9 (für 1831), Teil 1, Ilmenau: 214-223. v. Humboldt, Wilhelm (1836-1839): Über die Kawisprache auf der Insel Java. Nebst einer Einleitung über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, Berlin; neu hrsg. von H. Nette, Darmstadt 1949. Gabelentz_s001-344AK6.indd 248 12.07.13 16: 27 <?page no="251"?> 249 Laufer, Bertold (1898): „Fünf indische Fabeln“, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, Bd. 62: 283-288. Leskien, A. (1878): „H. C. v. d. Gabelentz“, in: ADB, Bd. 8: 286-288 (mit Bibliographie). Löschburg, Winfried (1959): „Der Widerstand der Universität Leipzig gegen die Reaktivierung der alten Stände in Sachsen im Jahre 1850“, in: Karl-Marx-Universität 1409-1959, Beiträge zur Universitätsgeschichte, Leipzig, Bd. 1, 312-327. v. Münchhausen, Clementine geb. v. d. Gabelentz: Georg v. d. Gabelentz. Biographie und Charakteristik [= Archiv Altenburg, Nr. 918]; neue Abschrift in diesem Band. Pischel, Praetorius, Krehl, Windisch (1895): Die Deutsche Morgenländische Gesellschaft 1845-1895, ein Ueberblick, Leipzig. Richter, Eberhardt/ Reichardt, Manfred (Hrsg.) (1979): Hans Georg Conon von der Gabelentz, Erbe und Verpflichtung, Berlin: Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Sprachwissenschaft, = Linguistische Studien, Reihe A, Arbeitsberichte 53. Rost, R. (1874): „H. C. v. d. Gabelentz“, in: The Athenaeum, London, 12.12. (= Nr. 2459): 789 f. Schmidt, Franz (1938): „Leopold v. d. 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Im Original steht der Name Clementine v. d. Gabelentz statt des Bruders, Hans Georg Conon v. d. Gabelentz. Original im Privatbesitz Heilwig Frfr. v. Seebach, Schaumburg, Urenkelin von Clementine v. Münchhausen Blick auf die Roten Spitzen in Altenburg Gabelentz_s001-344End3.indd 250 22.07.13 09: 46 <?page no="253"?> 251 Georgs Herkunft wird auf dieser Ahnentafel veranschaulicht. In der obersten Reihe werden die 32 Urururgroßeltern aufgeführt, hier verkleinert als Übersicht. Wir vergrößern dar- Ahnentafel unter die ersten acht Wappen: die Namen v. d. Gabelentz und v. Lindenau fallen sofort ins Auge. Die Helme der Ehepaare mit der Helmzier über dem Wappenschild sehen sich an. Gabelentz_s001-344AK6.indd 251 12.07.13 16: 27 <?page no="254"?> 252 Gabelentz_s001-344AK6.indd 252 12.07.13 16: 27 <?page no="255"?> 253 Christina Leibfried Georg von der Gabelentz, der Begründer der Leipziger Sinologie, und ihre Entwicklung zur „Leipziger Schule“ * Die Geschichte des Faches Sinologie 1 an der Universität Leipzig soll von der Ernennung des Indologen Hermann Brockhaus zum Ordinarius für ostasiatische Sprachen im Jahr 1848 über die Besetzung des Extraordinariats für ostasiatische Sprachen 1878 durch den Linguisten und Sinologen Georg v. d. Gabelentz bis zur Gründung des Ostasiatischen Seminars an der Philosophischen Fakultät im Jahr 1914 unter dem Extraordinarius August Conrady dargestellt werden. Dieser Aufsatz betrachtet auch die Gründung des Ostasiatischen Seminars unter der tätigen Mithilfe des Historikers Karl Lamprecht und die Entstehung der Seminarbibliothek, die durch Bombenangriffe am 3./ 4. Dezember 1943 vernichtet wurde. Die Wissenschaftsgeschichte der Leipziger Sinologie wird anhand der Bildung der „Leipziger Schule“ ab etwa 1911 und der personellen Verbindungen der Leip- * Teilwiederabdruck aus: Leibfried, Christina (2006): „Die Etablierung der Sinologie an der Universität Leipzig bis 1914“, in: Hanisch, Ludmila (Hrsg.) (2006), Orient in Akademischer Optik, Beiträge zur Genese einer Wissenschaftsdisziplin, = Orientwissenschaftliche Hefte 20, Halle, 89-121; der Beitrag beruht auf der Magisterarbeit der Verfasserin: „Sinologie an der Universität Leipzig. Entstehung und Wirken des Ostasiatischen Seminars 1878-1947“, = Beiträge zur Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Reihe B, Bd. 1. 1 Es wird der Begriff der Sinologie verwendet, da er am ehesten die zeitgenössische Begrifflichkeit der wissenschaftlichen Beschäftigung mit China und der chinesischen Kultur, Sprache, Geschichte etc. wiederzugeben scheint. ziger Sinologen mit anderen deutschen wie internationalen Vertretern der ostasiatischen Disziplinen charakterisiert. 2 Der 1814 gegründete Lehrstuhl in Paris von Jean-Pierre Abel-Rémusat war die älteste akademische Ausbildungsmöglichkeit für Sinologen in Europa. In Deutschland existierte im 19. Jahrhundert neben der sich herausbildenden akademischen Sinologie ein Konglomerat von chinakundlichen Amateuren und Praktikern. In der Frühphase der wissenschaftlichen Beschäftigung mit China an den Universitäten im deutschen Sprachgebiet gab es vereinzelte, meist kurzzeitige Berufungen, die als Wegbereiter und Vorläufer der Institutionalisierung gelten können. So Heinrich Julius Klaproth, der 1816 durch die Vermittlung Wilhelm von Humboldts eine Professur für orientalische Sprachen in Berlin erhielt, aber von den akademischen Pflichten entbunden wurde, um seinen wissenschaftlichen Arbeiten in Paris nachgehen zu können. 3 Im Jahr 1833 wurde in München Karl Friedrich Neumann zum Professor für Länder- und Völkerkunde sowie für Chinesisch und Armenisch 2 Der vorliegende Aufsatz beruht auf meiner Magisterarbeit (Leibfried, Ch.: 2003). Er stellt eine aktualisierte und erweiterte Zusammenfassung der dort veröffentlichten Forschungsergebnisse vor. Vgl. auch Leibfried, Ch. (2005). Die Darstellung basiert auf Archivalien des Universitätsarchivs Leipzig (UAL) und dem Bestand des Ministeriums für Volksbildung des Sächsischen Hauptstaatsarchivs (SächsHStA) in Dresden. Daneben wurden die Veröffentlichungen der Leipziger Sinologen zur Geschichte ihrer Disziplin in Leipzig, Nachrufe und die kursorische Darstellung der Sinologie in Deutschland von Schütte, Asienwissenschaften, herangezogen sowie Veröffentlichungen zu bestimmten Aspekten des Faches oder zur Geschichte der Sinologie außerhalb Leipzigs. 3 Vgl. Stange, H. (1941): 121 und DBE (1995-2003): 5, 565. Bild links: Urkunde über die Ernennung von Hans Georg Conon v. d. Gabelentz zum ordentlichen Mitgliede ihrer Philologisch-Historischen Classe der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenscha ften. Leipzig, am 11. Februar 1885 - ThStA Gabelentz_s001-344AK6.indd 253 12.07.13 16: 27 <?page no="256"?> 254 ernannt. 4 Zwar hat Neumann sich als Historiker auf sinologischem Gebiet vorwiegend mit Geschichte beschäftigt, er machte sich aber vor allem um den Aufbau chinesischer Bestände in der Münchner und der Berliner Staatsbibliothek verdient. In Berlin wurde 1838 der Theologe und Orientalist Wilhelm Schott zum Extraordinarius für Altaisch, Tatarisch und Finnisch ernannt. Er beschäftigte sich nicht nur mit ost- und zentralasiatischen Sprachen; seine Veröffentlichungen über andere Sprachen überwiegen sogar. 5 Nach der Ostasienexpedition von Ferdinand von Richthofen konnten die preußischen Kolonialbestrebungen mit dem Abschluss des „ungleichen Vertrages“ von Tianjin 1861 einen ersten Erfolg verbuchen. Neben der kolonialen Interessenlage des Deutschen Reiches in China waren es auch archäologische Forschungsprojekte wie die Turfangrabungen, die die Etablierung einer akademischen Sinologie wesentlich förderten. 6 Sie etablierte sich als Fach im philologischen Fächerkanon gegen Ende des 19. Jahrhunderts; die Errichtung von Lehrstühlen erfolgte kurz vor dem Ersten Weltkrieg. 7 4 Zu Neumann vgl. Franke, H. (1970): 110, Walravens, H. (2001) und Pigulla, A. (1999): 136. 5 Wilhelm Schott verfasste die erste systematische chinesische Grammatik, die als Vorläufer der Gabelentzschen gilt. Er hatte wohl offiziell keinen „sinologischen“ Professorentitel inne, doch er beschäftigte sich, neben dem Uigurischen, Siamesischen und dem Estnischen, auch mit sinologischen Themen. Daher stammt vermutlich seine Eigenbezeichnung als „Prof. des Chinesischen und der Tatarischen Sprachen“, die Kaden anführt. In der DBE wird er „Professor der orientalischen Sprachen“ genannt. Vgl. DBE 9, 12, schriftliche Auskunft des Universitätsarchivs der Humboldt-Universität Berlin vom 27. 11. 2001 und Kaden (1993): 11-12. 6 Haenisch, E. (1930): 269. 7 Aus Kolonial- und Handelsinteressen - und damit vergleichbar mit den Gründungsmotiven des Seminars für Orientalische Sprachen (SOS) in Berlin 1887 - entstand die erste planmäßige staatliche, aber zuerst nicht universitäre Professur für Sinologie 1909 am Kolonialinstitut der Freien und Hansestadt Hamburg, dem Vorläufer der Universität Hamburg. Auf sie wurde Otto Franke berufen. Im Jahr 1912 errichtete die Berliner Universität ein Ordinariat und damit den ersten universitären Lehrstuhl für Sinologie, den der Niederländer J. J. M. De Groot einnahm. Das Leipziger Extraordinariat Conradys, welches dieser seit 1897 innehatte, wurde 1922 in ein Ordinariat umgewandelt. Die Universität Frankfurt errichtete 1925 aus Stiftungsmitteln eine weitere Professur, die mit Richard Wilhelm besetzt wurde. Vgl. Schütte, H. (2002): 99 f. Die Vertretung des Ostasiatischen Lehrstuhls durch den Indologen Hermann Brockhaus 1848 bis 1877 Die Leipziger Universität schuf bereits am 1. Juni 1848 durch die Berufung des Indologen und Orientalisten Hermann Brockhaus ein Ordinariat für ostasiatische Sprachen. Doch dieser Lehrstuhl für ostasiatische Sprachen wurde von Brockhaus inhaltlich v. a. als Lehrstuhl für Indologie bzw. Iranistik wahrgenommen; er bot nur sehr vereinzelt Vorlesungen zu sinologischen bzw. ostasiatischen Themen an. Hermann Brockhaus, der am 28. Januar 1806 in Amsterdam geboren wurde, war der dritte Sohn des Buchhändlers und Verlagsgründers Friedrich Arnold Brockhaus und heiratete 1836 die jüngste Schwester Richard Wagners, Ottilie Wagner. Während seiner Schulzeit am Altenburger Gymnasium schloss er mit seinem Klassenkameraden Hans Conon v. d. Gabelentz 8 eine langwährende Freundschaft, die sich aufgrund der gemeinsamen Interessen an nicht nur orientalischen Sprachen auch auf wissenschaftlichen Austausch erstreckte. Nach seinem Studium der orientalischen Sprachen seit 1825, v. a. des Sanskrit und Persischen, in Leipzig, Göttingen und Bonn hielt sich Brockhaus in den Jahren 1829 bis 1835 zu Studienzwecken im Ausland auf. Er studierte in Kopenhagen, Paris, London und Oxford, um sich dann als Privatgelehrter in Dresden niederzulassen. Mit einer schon 1835 in London beendeten Arbeit 9 promovierte er 1838 an der Universität Leipzig. Im folgenden Jahr wurde er als Extraordinarius für orientalische Sprachen an die Universität Jena berufen und veröffentlichte die ersten fünf Bände der aus dem 11. Jahrhundert n. Chr. stammenden Kathâsaritsâgara, Märchensammlung des Sri Somadeva Bhatta aus Kaschmir, auf Sanskrit und Deutsch. 10 Brockhaus erhielt 1841 einen Ruf als Extraordinarius für Sanskrit-Literatur an die Universität Leipzig. Im Jahr 1845 gab er das Schauspiel Prabodha Chandrodaya Krishna Misri Comoedia mit einer lateinischen Übersetzung heraus. Drei Jahre später, zum 1. Juni 1848, erfolgte seine Berufung auf das neu geschaffene Ordinariat für ostasiatische Sprachen. 11 8 Vgl. Leibfried, Ch. (2003): 29 f. 9 Brockhaus (1835). 10 Ein Reprint erfolgte in einem Hildesheimer Verlag 1975. 11 Vgl. UAL, PA SG 62, und UAL, PA 353. Gabelentz_s001-344AK6.indd 254 12.07.13 16: 27 <?page no="257"?> 255 Im September 1843 war Brockhaus zusammen mit dem Leipziger Arabisten Heinrich Leberecht Fleischer 12 und dem Linguisten Hans Conon v. d. Gabelentz, dem Kieler Professor Justus Olshausen und den Hallenser Professoren August Pott und Emil Rödiger einer der sechs Gründerväter der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG), deren Zeitschrift (ZDMG) er in den Jahren 1852 bis 1865 redigierte. 13 Seit dem 1. Juli 1846 gehörte er als ordentliches Mitglied der neu gegründeten Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften an. Daneben wurde er 1860 Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Im Jahr 1850 veröffentlichte er Vendidad Sade, die heiligen Schriften Zoroasters, Yaçna, Vispered und Vendidad, 14 und von 1854 bis 1860 gab er Die Lieder des Hafis. Persisch mit dem Kommentar des Sadi 15 in drei Bänden heraus. In den Jahren 1862 und 1866 erschienen unter seiner Herausgeberschaft die weiteren Bände (6 bis 18) der Märchensammlung des Somadeva in den Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes. 16 Trotz der Benennung seines Lehrstuhls für ostasiatische Sprachen hat Hermann Brockhaus nur sehr wenige Lehrveranstaltungen zur chinesischen Sprache oder Kultur abgehalten, auch wenn er sich in einzelnen Artikeln mit dem Chinesischen auseinandersetzte. 17 Er las laut Vorlesungsverzeichnis im Wintersemester 1845/ 46 über „Elemente der chinesischen Sprache“. Eine weitere Vorlesung findet sich im Sommersemester 1859 mit der Veranstaltung zur „Culturgeschichte von China und Indien“. Dafür wirkte er am 5. März 1876 als Erstgutachter an der Promotion seines Nachfolgers Georg von der Gabelentz mit. 18 Weitere Schüler waren der Indologe und Reli- 12 Heinrich Leberecht Fleischer wurde 1835 als Ordinarius der orientalischen Sprachen an die Theologische Fakultät berufen, 1840 wurde der Lehrstuhl an die Philosophische Fakultät angegliedert. Er begründete die Arabistik-Schule in Leipzig, schlug Brockhaus für Sanskrit vor und gilt als Mentor der deutschen Arabistik. Vgl. Moritz, R. (1991): 10 und DBE 3, 341. 13 Preissler (1995): 5-17. 14 Ein Reprint erfolgte in Hildesheim 1990. 15 Ein Reprint erfolgte in Osnabrück 1969. 16 Vgl. NDB 2, 626-627, und ADB 47, 263-272. Ein Verzeichnis der Arbeiten, die bei der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften veröffentlicht wurden, findet sich in Sachbericht (1898): 4-5. Vgl. auch Hübner, M. (2000): 121. 17 Brockhaus, H. (1852). 18 Vgl. UAL, Phil. Fak. B 128b, Blatt 140. gionswissenschaftler Friedrich Max Müller, 19 der seit 1850 in Oxford wirkte und dort eine Professur erhielt, und der Orientalist Ludolf Krehl, 20 der 1861 Bibliothekar und zunächst außerordentlicher Professor der morgenländischen Philologie in Leipzig wurde. Hermann Brockhaus war 1870/ 71 Dekan der Philosophischen Fakultät, seit dem 31. Oktober 1872 bis zum Wintersemester 1873/ 74 Rektor der Universität Leipzig. Er verstarb am 5. Januar 1877 in Leipzig. Die Konzentration auf die ostasiatischen Sprachen unter Georg v. d. Gabelentz von 1878 bis 1889 Hans Georg Conon von der Gabelentz 21 lehrte von 1878 bis 1889 als erster deutschsprachiger Professor für ostasiatische Sprachen, der diese nicht nur in seinem Berufungstitel führte, sondern sie durchgehend in Lehrveranstaltungen vertrat. Das Leipziger Ordinariat Brockhaus’ wurde 1922 unter August Conrady als dritter sinologischer Lehrstuhl in Deutschland wieder eingerichtet. 22 Georg von der Gabelentz’ sinologisches Hauptwerk ist die Chinesische Grammatik; 23 in ihr wurde diese zum ersten Mal unabhängig von den grammatikalischen Mustern des Lateinischen analysiert. Nach seinem Weggang nach Berlin 1889 veröffentlichte er mit seiner Sprachwissenscha ft 24 ein wichtiges und vorausweisendes Werk der Linguistik. Wie andere zeitgenössische Sinologen und Spezialisten „exotischer“ Sprachen war v. d. Gabelentz Autodidakt in ostasiatischen und Dutzenden anderer Sprachen, in der Sprachwissenschaft dagegen hatte er einzelne Vorlesungen in Leipzig besucht. Gabelentz entstammt einer vielseitig kulturell und intellektuell interessierten Familie des meißnischen Adels mit liberaler Einstellung. Bereits als Jugendlicher hatte Georg v. d. Gabelentz wissenschaftliche Anleitung durch seinen Vater, Hans Conon v. d. Gabelentz, und Zugriff auf dessen sprachwissenschaftliche Literatur. Die polyglotte Bibliothek auf Schloss Poschwitz stellte eine berühmte Sammlung ausge- 19 Vgl. NDB 18, 322-323. 20 Vgl. NDB 12, 732-733. 21 Der Fachliteratur folgend wird er nach seinem Rufnamen als Georg v. d. Gabelentz aufgeführt. 22 Zu den Lehrstühlen siehe auch Anmerkung 7. 23 v. d. Gabelentz, G. (1881). 24 v. d. Gabelentz, G. (1891). Gabelentz_s001-344AK6.indd 255 12.07.13 16: 27 <?page no="258"?> 256 fallener Sprachen dar. 25 Zu seinem 16. Geburtstag schenkte ihm sein Vater die Élémens de la grammaire chinoise von Abel-Rémusat, womit Georg v. d. Gabelentz sein Studium des Chinesischen begann. Ab 1860 studierte er in Jena Rechts- und Kameralwissenschaften, um 1861 nach Leipzig zu wechseln. Neben den rechts- und staatswissenschaftlichen Fächern hörte er einzelne Vorlesungen über Linguistik und Philosophie. Gabelentz trat 1864 in den sächsischen Verwaltungsdienst ein. In den Jahren 1871/ 72 war er in der Präfektur Straßburg kommissarischer Dezernent, seit 1873 Assessor beim Bezirksgericht Dresden. 26 Die ersten Aufsätze Gabelentz’ auf ostasiatischem Gebiet wurden in der ZDMG 1860 und 1862 veröffentlicht. 27 1873 erschien sein Aufsatz „Ideen zu einer vergleichenden Syntax“, der die Ausrichtung seiner linguistischen Interessen offenlegt: Während die meisten Sprachwissenschaftler sich mit Problemen der Laut- und Formenlehre befassten, beschäftigte sich Gabelentz mit den Problemen und dem Vergleich des Satzbaus. Als Syntaxforscher war für ihn das isolierende Chinesisch von besonderem Reiz, und er bewies in weiteren Arbeiten seine These, dass sich die flektierenden Sprachen über das Z wischenstadium der agglutinierenden Sprachen aus den isolierenden Sprachen entwickelt haben. 28 1876 promovierte Gabelentz in Leipzig mit einer Übersetzung des Taijitushuo, einem Kommentar des Philosophen Zhou Dunyi bei Brockhaus und Fleischer. 29 Damit eröffnete er sich den Einstieg in die akademische Laufbahn als Sinologe. Im selben Jahr sandte er eine Eingabe zur „Einrichtung einer Professur der chinesischen, japanischen und mandschurischen Sprachen an der Universität Leipzig“ 30 an das Kultusministerium in Dresden, in der er sich als Kandidat bewarb. Das Ministerium forderte daraufhin am 27. November 1876 ein Gutachten der Philosophischen Fakultät über die Eignung Gabelentz’ an, stellte aber trotz wohlwollender Beurteilung vorerst keine finanziellen 25 Zu der Sammlung an sprachwissenschaftlich relevanter Literatur und exotischen Handschriften sowie den Kunst- und sonstigen Sammlungen auf Schloss Poschwitz siehe Dobrucky, Th. [1938b]. 26 Dobrucky, Th. (1938a): 90, Dobrucky, Th. [1938b]: 76, hier: 67, Erkes, E. (1959): 441 und Conrady, A. (1893): 2. 27 Dobrucky, Th. (1938a): 90, Dobrucky, Th. [1938b]: 76, hier: 67, Erkes, E. (1959): 441 und Conrady, A. (1893): 2. 28 Gasde, H.-D. (1993): 142, und Erkes, E. (1959): 448 f. 29 v. d. Gabelentz, G. (1876). 30 UAL, PA 487, Aufnahme 166. Mittel in Aussicht. 31 Am 14. Februar 1877 schickte die Philosophische Fakultät unter dem Dekan Heinrich Leberecht Fleischer ein positives Gutachten zur Einrichtung der Professur und zum Bewerber: Sie wies auf die von Brockhaus gehaltenen Vorlesungen über das Chinesische hin. Auch fänden die „uralten Kultursprachen des [...] Ostens“ 32 zu Recht Aufnahme in „den Studienkreis der europäischen Universitäten“. 33 Gabelentz wurde schließlich zum 1. Juli 1878 als Extraordinarius für ostasiatische Sprachen an der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig berufen. 34 Nicht unwesentlich zu der Berufung beigetragen haben mag die Verwaisung des Lehrstuhls für ostasiatische Sprachen des Indologen und Orientalisten Brockhaus seit dem 5. Januar 1877 - dessen nomineller, wenngleich nicht inhaltlicher Nachfolger Gabelentz wurde - sowie die Förderung durch die seinem Vater über die Deutsche Morgenländische Gesellschaft verbundenen Leipziger Orientalisten. 35 Damit wurde die 1848 unter Hermann Brockhaus eingerichtete Professur für ostasiatische Sprachen an der Universität Leipzig, die bisher fast nur mit indologischen Veranstaltungen vertreten wurde, v.a. mit sinologischen Themen, aber auch mit anderen zentral- oder ostasiatischen Sprachen und Kulturen gefüllt. Neben klassischem Chinesisch, Mandschurisch und Japanisch lehrte Gabelentz malaiische Sprachen, tibetische und mongolische Grammatik, chinesische Literatur und modernes Chinesisch. 36 Georg v. d. Gabelentz schuf sowohl in der Sprachwissenschaft als auch in der Sinologie wichtige und für die damalige Zeit vorausschauende Grundlagenwerke. Bei seinen Zeitgenossen stieß er vor allem in der Linguistik, die sich auf die Erforschung der indogermanischen Sprachen konzentrierte, auf Widerstände oder Unverständnis. Im Jahr 1881 erschien v. d. Gabelentz’ sinologisches Hauptwerk, die Chinesische Grammatik mit Ausschluß des niederen Stiles und der heutigen Umgangssprache, die erste umfassende Darstellung überhaupt, die nicht auf lateinischen Grammatikmustern basierte. Noch im Jahr 2000 wurde sie als synthetische Grammatik und damit „erste Grammatik der neuen Art, welche in der heutigen Linguistik geradezu die Grundform einer wissenschaftlichen Grammatik 31 UAL, PA 487, Aufnahme 166 f. 32 UAL, PA 487, Aufnahme 168 f. 33 UAL, PA 487, Aufnahme 168 f. 34 UAL, PA 487, Aufnahme 170 f. 35 Richter [u. a.], (1979): 7. 36 [o.V.] Verzeichnis der Vorlesungen. Gabelentz_s001-344AK6.indd 256 12.07.13 16: 27 <?page no="259"?> 257 darstellt“, 37 gewürdigt. Bei anderen bedeutenden Sinologen stieß Gabelentz’ Grammatik nicht einhellig auf Anerkennung. Otto Franke erklärte, die Darstellung sei „ein Werk von echter deutscher Gründlichkeit und Systematik, ein rühmliches Denkmal für seinen Scharfsinn und seinen rastlosen Fleiß, aber doch nichts anderes als eine glänzende Theorie.“ 38 Friedrich Hirth beurteilte die Chinesische Grammatik sehr positiv: „Of all the Chinese grammars so far published this is the most perfect, inasmuch as it unites with the fullness of Premare’s 39 work the scholarly clearness of Schott’s ,Chinesische Sprachlehre‘.“ 40 Die 16 zeitgenössischen Rezensionen internationaler Sinologen fielen „sehr positiv, teilweise sogar enthusiastisch“ aus. 41 In Leipzig wurde sie von Conrady, Haenisch, Wedemeyer und Erkes als Lehrbuch für den Unterricht benutzt. In den 50er Jahren wurde sie mit einem Nachtrag auf Anregung Erkes neu aufgelegt. 1883 gab Gabelentz die Anfangsgründe der chinesischen Grammatik heraus, die stärker für die Arbeit im Unterricht konzipiert waren und die Umgangssprache in einem eigenen Kapitel behandelten. Er scheint auch eine Neubearbeitung seiner Chinesischen Grammatik geplant zu haben, in der seine verschiedenen Nachträge hätten eingearbeitet werden können. 42 Die Universität Leipzig war im 19. Jahrhundert ein Mittelpunkt der Sprachwissenschaft, an der so bedeutende Linguisten wie Eduard Sievers und Karl Brugmann 43 lehrten, 37 In einem Bericht über das III. Ost-West-Kolloquium an der Humboldt-Universität Berlin, vgl. Ezawa, K. (2000). 38 Franke, O. (1911): 196 f. 39 Der Jesuitenpater Joseph Henri-Marie de Prémare (1666-1736) war seit 1698 in China Missionar. 1714 wurde er von Kaiser Kangxi nach Peking gerufen, um dort das Yijing zu erforschen. Er verfasste eine Grammatik zur chinesischen Sprache, welche 1831 unter dem Titel Notitia lingua sinicae in Malacca erschien. Richter [u. a.] (1979): 14. 40 Richter [u. a.] (1979): 13. 41 Kaden, K. (1979): 76. 42 Erkes, E.(1959): 445 f. 1953 erschien die Neuauflage. 1956 veröffentlichte Erkes den Ergänzungsband Chinesische Grammatik. Nachtrag zur chinesischen Grammatik von Georg von der Gabelentz. Erwin von Zach gab 1944 Zum Ausbau der Gabelentzschen Grammatik. Nebst von der Gabelentz’ eigenen ,Additions‘ über das Deutschland-Institut in Peking heraus. 43 Der Germanist Eduard Sievers wurde 1892 als ordentlicher Professor nach Leipzig berufen. DBE 9, 321. Der Philologe Brugmann habilitierte sich 1877 für Sanskrit und vergleichende Sprachwissenschaft. 1882 wurde er Extraordinarius in Leipzig, 1884 Ordinarius in Freiburg. Seit 1887 war er auf dem neuen um die sich die junggrammatische Schule bildete. 44 Trotz der Lehr- und Forschungstätigkeit von Gabelentz zu allgemeiner Sprachwissenschaft und ostasiatischen Sprachen scheint wenig Gemeinsamkeit mit den Junggrammatikern bestanden zu haben: Die damalige Linguistik befasste sich hauptsächlich mit der Erforschung indoeuropäischer - und damit im Gegensatz zum isolierenden Chinesischen - flektierender Sprachen und konnte sich von der Vorprägung durch die klassische Philologie noch nicht lösen. Im Gegensatz zu den Indogermanisten, die sich von der Lautverschiebung ausgehend eher mit morphologischen Fragen befassten, betonte Gabelentz die Bedeutung der Syntax für die Grammatik. Er sah die Methoden der Indogermanisten als durchaus brauchbar an, mahnte aber auch ein Hinausschreiten über deren Erkenntnisse und eine Untersuchung aller Sprachfamilien an. 45 Gleichzeitig machte er seine tolerante Stellung gegenüber den so genannten primitiven Sprachen deutlich. 46 Am 30. Juni 1882 wurde Gabelentz auf Antrag der Philosophischen Fakultät zum ordentlichen Honorarprofessor ernannt. 47 Am 22. Mai 1889 informierte er das Sächsische Kultusministerium, dass ihm das Preußische Kultusministerium „eine Ernennung zum ordentlichen Mitglied der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und Professor der ostasiatischen Sprachen“ 48 mit einem jährlichen Einkommen von 10.000 Mark angetragen habe. Er Lehrstuhl der indogermanischen Sprachwissenschaft in Leipzig einer der bedeutendsten Systematiker der Indogermanistik. Vgl. DBE 2, 163. 44 Diese beschäftigte sich seit ca. 1880 aus positivistischer Sicht mit der historisch vergleichenden Sprachwissenschaft vor allem auf dem Gebiet der Lautlehre und vertrat den widerlegten Grundsatz der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze. Artikel: „Junggrammatiker“, in: Brockhaus in Text und Bild. [CD-Rom] (2000/ 2001) 45 „Daß Völkerkunde und Linguistik eine ebenso sorgfältige Untersuchung aller Sprachfamilien erheischen, wie sie dermalen für den indoeuropäischen Stamm geführt wird, möchte keines Beweises bedürfen. [...] Der indogermanische Sprachstamm scheint [...] nur einen Theil der möglichen Verwandtschaftsverhältnisse und Entwickelungsrichtungen darzustellen.“ Gabelentz (1881): 241. 46 „Und muß denn eine Sprache todt sein, damit sie unser Interesse verdiene? Oder muß ihre Vorgeschichte zugänglich sein, damit ihre Erforschung uns lohne? “ Gabelentz (1881): 241. 47 Vgl. UAL, PA 487, Aufnahme 176 f., und SächsHStA, 10281/ 147, Blatt 12b. 48 SächsHStA, 10281/ 147, Blatt 15a. Gabelentz_s001-344AK6.indd 257 12.07.13 16: 27 <?page no="260"?> 258 deutete an, bei entsprechender Gehaltssteigerung in Leipzig bleiben zu wollen. 49 Im Gegensatz zur preußischen Wissenschaftspolitik, hinter der Friedrich Althoff 50 als treibende Kraft stand, war Dresden nicht bereit, seine Tätigkeit durch ein höheres Gehalt und die Ernennung zum Ordinarius zu honorieren. Tatsächlich verpflichtete sich v. d. Gabelentz bereits am 30. Mai 1889, dem Ruf nach Berlin bei Gewährung des akademischen Extragehaltes von 7.000 Mark neben der gewöhnlichen akademischen Besoldung von 900 Mark als Ordinarius zu folgen. 51 Am 20. September 1889 genehmigte das Ministerium seine Entlassung aus sächsischen Diensten. 52 Die Leipziger Professur der ostasiatischen Sprachen blieb zunächst vakant, bis 1897 August Conrady zum außerordentlichen Professor ernannt wurde. Nach seiner Berufung vom 4. September 1889 zum Ordinarius auf den neu errichteten Lehrstuhl der ostasiatischen Sprachen und der allgemeinen Sprachwissenschaft nach Berlin 53 veröffentlichte Georg v. d. Gabelentz sein zweites Hauptwerk, Die Sprachwissenschaft, ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse, welches 1891 erschien. 54 Der Einfluss von Gabelentz’ Sprachwissenschaft auf Ferdinand de Saussures 55 Cours de linguistique générale bleibt unter Linguisten umstritten und kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Jedenfalls stellt Hutton fest: „Gabelentz was somewhat eclipsed in his lifetime by the Neogrammarians 49 SächsHStA, 10281/ 147, Blatt 15b und 16a. 50 Der Jurist Friedrich Theodor Althoff war von 1882 bis 1907 der führende Verwaltungsbeamte für akademische Angelegenheiten in Preußen. Das „deutsche Wissenschaftswunder“, die Reform des preußischen Unterrichtswesens, wird nach seinem Hauptakteur auch als „System Althoff “ bezeichnet. Vereeck, L. (2001): 31-35; Lischke, R.-J. (1990): 6-11. 51 Kaden, K. (1993): 74. 52 Vgl. UAL, PA 487, Aufnahme 178. 53 Kaden, K. (1979): 75, und Kaden, K. (1993): 75. 54 Haenisch, E. (1960): 554, und Franke, O. (1911): 199. Die Sprachwissenschaft wurde in einer zweiten, verbesserten Auflage 1901 von Graf A. von der Schulenburg herausgegeben und erschien 1969 und 1984 als Neuauflage in Tübingen, der bisher letzte Reprint erfolgte in einer Londoner Reihe 1995. 55 Der Sprachwissenschaftler Saussure studierte in Genf und Leipzig, wo er mit den Junggrammatikern in Berührung kam. Ab 1891 lehrte er in Genf vergleichende und historische Indogermanische Sprachwissenschaft, später auch Sanskrit. Seine Vorlesungen wurden von seinen Schülern als Cours de linguistique générale 1916 herausgegeben und sind für die - vor allem strukturalistische - Linguistik noch von Bedeutung. Vgl. Brockhaus 7, Art. „Saussure“ (1930): 203. [...] For most of the 20th century Gabelentz’ work was not extensively discussed, but claims that he anticipated or influenced Saussure, combined with a new interest in history and the historiography of linguistics, have led to something of a revival.“ 56 Georg v. d. Gabelentz veröffentlichte in Berlin trotz seiner Konzentration auf die vergleichende Linguistik weitere Werke auf sinologischem Gebiet und beschäftigte sich als einer der ersten deutschen Gelehrten mit der koreanischen Sprache. Von 92 Veröffentlichungen lassen sich 33 sinologische nachweisen. 57 Nachdem Georg v. d. Gabelentz 1893 im Alter von erst 53 Jahren verstarb, blieb der Berliner Lehrstuhl zwei Jahrzehnte vakant. Erst 1912 wurde er mit J. J. M. De Groot, der den Ausbau zum Sinologischen Seminar betrieb, besetzt. 58 Georg v. d. Gabelentz wirkte in Leipzig an der Promotion oder Habilitation vieler bedeutender Ostasienforscher mit. Die späteren Professoren der Sinologie Wilhelm Grube und J. J. M. De Groot promovierten in den Jahren 1880 bzw. 1884 bei ihm. Max Uhle, 59 ein weiterer Schüler von ihm, wählte 1880 ein Dissertationsthema aus dem vorklassischen Chinesisch, um sich dann der Amerikanistik zuzuwenden und in Peru als Archäologe zu wirken. 60 Karl Florenz, der seit dem Sommer 1883 Famulus bei v. d. Gabelentz war und auch später in Briefkontakt zu ihm stand, wurde 1891 Professor in Tokio und 1914 erster Ordinarius der Japanologie in Deutschland. 61 Aber auch bei der Habilitation des Tibe- 56 Hutton, Ch. (1995): VI. 57 Vgl. ADB 50, 548-555, und Richter, E. [u. a.] (1979), SächsHStA, 10273/ 29, Blatt 12, 10 f. Eine Bibliographie findet sich bei Kaden, K. (1993): 79; Haenisch, E. (1960): 555. 58 Haenisch, E. (1960): 556. 59 Max Uhle war als Archäologe in Peru, Bolivien, Chile und Ecuador tätig. Der Begründer der peruanischen Archäologie entwickelte als Erster ein Gerüst der chronologisch-historischen Kulturabfolge im Andenraum. Er wurde 1925 Archäologie- Professor in Ecuador und leitete das Archäologische Museum in Quito. 1933 erhielt er einen Ruf als Professor der Archäologie nach Berlin. Vgl. DBE 10, 129; Beyer, L. (2003). 60 Erkes, E. (1959): 443. 61 Karl Florenz studierte u. a. bei Gabelentz Sprachwissenschaft, orientalische und ostasiatische Sprachen. Erst nach seiner Sanskrit- Promotion (mündliche Prüfung bei Gabelentz) 1885 wandte er sich der Japanologie zu und reiste auf Rat seines Studienfreundes, des Philosophen Inoue Tetsujirô, 1888 nach Japan. Dort wurde er 1889 Deutsch-Lektor, 1891 Ordinarius der deutschen Philologie und später auch der vergleichenden Sprachwissenschaften an der Universität Tokio. 1899 erhielt er als erster Ausländer die höch- Gabelentz_s001-344AK6.indd 258 12.07.13 16: 27 <?page no="261"?> 259 tologen Heinrich Wenzel 62 und der Promotion des Kunstwissenschaftlers F. W. K. Müller im Jahr 1888 war Gabelentz beteiligt. Bei Gabelentz promovierten 1882 der Pastor und Missionar in Vorderindien Carl Gustav Nottrott und der Sinologe Franz Moritz Constatius Merz. Der Begründer der tschechischen Orientalistik, Rudolf Dvořák, hatte 1883 Gabelentz als Zweitgutachter bei seiner Promotion. Der Amerikanist und Völkerkundler Eduard Seler, der am Berliner Museum für Völkerkunde tätig war, wählte 1887 Gabelentz zum Doktorvater. Haenisch zählte sich noch 1964 selbst zur über seinen Lehrer Grube vermittelten Gabelentz-Schule der Textarbeiter im Gegensatz zu den „Kulturforschern“ Forke, De Groot und Franke. 63 Einer seiner wichtigsten Schüler war Wilhelm Grube, der sich nach seiner 1880 erfolgten Promotion 1881 ebenfalls in Leipzig habilitierte und 1881/ 82 bereits tibetologische, mandschurische und mongolistische sowie Lehrveranstaltungen zur modernen chinesischen Sprache in Leipzig anbot. 64 Er verfasste mehrere bedeutende Werke zur chinesischen Literatur, übersetzte aber auch aus dem Mandschurischen. Am 12. Dezember 1884 richtete er als Privatdozent für Chinesisch an der Berliner Universität, auf die Veranlassung Althoffs hin, einen Antrag auf die Einrichtung eines praktischen Sprachkurses unter Leitung eines Chinesen an das preußische Kultusministerium. 65 Grube wurde 1892 als unbesoldeter Extraordinarius in Berlin verpflichtet und war Leiter der Ostasiatischen Abteilung des Museums für Völkerkunde in Berlin. Nachdem er Gabelentz nach Berlin gefolgt war, stieß er nach dessen Tod laut Erkes auf unüberwindliche Schwierigkeiten. So erhielt er erst ab 1903 eine ste Ehrung der Universität. 1914-1935 war der Begründer der deutschen Japanologie Ordinarius der Japanologie am Kolonial- Institut Hamburg. Vgl. DBE 3, 354 und UAL, Prom. Akte 1471. Siehe auch: Satô, M. (1995). Vgl. Richter [u. a.] (1979): 9 f. 62 Heinrich Wenzel habilitierte sich im Jahr 1886. Vgl. UAL, PA 1052. 63 Vgl. UAL, Phil. Fak. B 128 b, Führer, B. (2001): 91 f., 98 f., 170, und Haenisch, E. (1965): 7. 64 Schütte setzt die ersten mongolistischen Lehrveranstaltungen überhaupt erst für 1882 bei Grube in Berlin an. Ebenso verlegt er die erste tibetologische Lehrveranstaltung in Deutschland nach Berlin unter Georg Huth. Da sich Huth 1891 in Berlin habilitierte und sich dann erst den Zentralasienwissenschaften zuwandte, erscheint dies fraglich. Schütte, H. (2002): 66 und 68. 65 Lischke, R.-J. (1989): 29. Besoldung für seine Lehrtätigkeit und starb „verbittert“ 1908. 66 Neue Ansätze innerhalb der Leipziger Sinologie unter August Conrady Während der Zeit der Weimarer Republik setzte sich die Binnendifferenzierung des Faches Sinologie, die Spezialisierung in Sprache, Literatur, Philosophie, Geschichte, Religions- oder Kunstgeschichte und Volkskunde, fort. Neben der Beschäftigung mit Spezialgebieten wie mit sprachvergleichenden oder buddhistischen Studien kam es zu einer stärkeren Akademisierung des Faches und einer zunehmenden Ablösung von der anwendungsorientierten Chinakunde. Methodik oder Fragestellungen aus stärker theoriebewussten Fächern wie der Linguistik, der Soziologie oder der Volkswirtschaft wurden übernommen. Die Sinologie erreichte ein methodisches und wissenschaftliches Niveau, welches dem Vergleich mit anderen Fächern standhielt. August Conrady war der Leipziger Protagonist dieses Vorganges. Er vermittelte der Sinologie nicht nur wissenschaftliche Methodik, sondern begründete mit seinem Interesse an sprachgeschichtlichen und -wissenschaftlichen, aber auch religions- und kulturgeschichtlichen wie völkerkundlichen Themen ab 1911 die „Leipziger Schule“, deren Publikationsorgan die Asia Major 67 war. 66 Erkes, E. (1959): 443, Kaden, K. (1993): 77 f. und 80, Franke, O. (1911): 199. 67 Sie wurde 1923 mit dem englischsprachigen „Hirth-Anniversary-Volume“ begründet. In der wichtigen französischen sinologischen Zeitschrift T’oung Pao durften deutsche Sinologen seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr veröffentlichen, und auch die Mitteilungen des Seminars für Orientalische Sprachen und die Ostasiatische Zeitschrift hatten entweder nicht die Möglichkeiten, um als Ersatz einzutreten, bzw. waren auf ostasiatische Kunst konzentriert. Und für die ZDMG endete, wie Haenisch kommentierte, „der Orient eigentlich mit Indien“. Vgl. Haenisch, E. (1965): 5 und 7. Bis 1935 erschienen von der Asia Major zehn Jahrgänge. Daran beteiligt waren auch die Berliner Professoren F. W. K. Müller und Le Coq. Aufgrund der „Machtergreifung“ musste Schindler emigrieren, sein Verlag wurde 1936 liquidiert. Seit 1938 gab es Bemühungen deutscher Sinologen wie Erwin Rousselle und Fritz Jäger, die Zeitschrift fortzusetzen, doch konnte erst 1944 ein einziger Band einer neuen Folge beim Verlag Otto Harrassowitz mit dem Untertitel „Deutsche Zeitschrift für die Erforschung von Ost- und Zentralasien“ erscheinen. Der Kriegsband war durch Fritz Jäger und Willhelm Gundert herausgegeben und Otto Franke zum 80. Geburtstag gewidmet worden. Erst nach dem Krieg konnte Schindler 1949 die Gabelentz_s001-344AK6.indd 259 12.07.13 16: 27 <?page no="262"?> 260 Conrady lehrte seit 1892 als Privatdozent für indische Sprachen und Tibetisch, ab 1895 als Privatdozent für indische und ostasiatische Sprachen in Leipzig. In dem Verzeichnis der auf der Universität Leipzig zu haltenden Vorlesungen findet sich im Sommersemester 1892 eine Einführungsveranstaltung in tibetischer Grammatik festgehalten, 68 die erste angezeigte Veranstaltung in den ostasiatischen Sprachen seit dem Wintersemester 1889/ 90. 69 Seit Sommer 1893 verlagerte er den Schwerpunkt seiner akademischen Tätigkeit auf das Chinesische. Am 21. Mai 1895 beantragte Conrady die Ausdehnung seiner venia legendi auf die ostasiatischen Sprachen bei der Philosophischen Fakultät. 70 1896 erschien seine Monographie Eine indochinesische Causativ-Denominativ-Bildung und ihr Zusammenhang mit den Tonaccenten. Ein Beitrag zu vergleichender Grammatik der indochinesischen Sprachen. Hier verfolgte er einzelne grammatische Erscheinungen durch die indochinesische Sprachfamilie und verglich vor allem das Tibetische, Birmanische, Siamesische und Chinesische. Er stellte fest, dass in allen bekannten indochinesischen Sprachen dieselbe Kausativ-Denominativbildung existiert. Auch fand er heraus, dass sich bei den Sprachen die gleiche Lautverschiebung finde, „bei der die alten stimmhaften in stimmlose Anlaute verwandelt werden“, außerdem gelte in dreien der Hauptzweige dasselbe Tonsystem. Schließlich seien auch „alle indochinesischen Wörter mit ursprünglich stimmlosem Anlaut bzw. alle hochtonigen Wörter überhaupt, alte Präfixformen, und zwar Formen mit präfixhaftem stimmhaftem Anlaut gewesen“. Daher zog er den Schluss, dass die indochinesische Sprachfamilie in „die große Genossenschaft [...] agglutinierenden Sprachen eingereiht ist.“ 71 Herbert Franke betont die Bedeutung der Asia Major in London wiederbeleben. Zunächst unter Schindler, dann unter Walter Simon herausgegeben, wurde ihr Erscheinen aufgrund finanzieller Probleme 1975 eingestellt. Walravens, H. (1997): 6-9, und Schütte, H. (2002): 143. Ab 1990 wurde sie mit einer anderen inhaltlichen Konzeption von Dennis Twitchett in Princeton wiederbelebt als Asia Major, 3. Folge. Seit 1998 wird sie in Taiwan herausgegeben. 68 [o.V.] Verzeichnis der Vorlesungen, 5. 69 Für das Wintersemester 1889/ 90 sind in dem Verzeichnis der Vorlesungen [o.V.], 5, vier Veranstaltungen in chinesischer und japanischer Grammatik, Malaiisch und chinesischer Lektüre angezeigt, die Gabelentz möglicherweise trotz seiner Berufung nach Berlin abhielt. 70 UAL, PA 384, Aufnahme 111. 71 August Conrady, Die indochinesische Causativ-Denominativ- Bildung, 202 f., zit. nach Schmitt, „August Conrady“, 78. „Causativ-Denominativbildung“ Conradys, sie habe in der „vergleichenden Sino-Tibetanistik Epoche gemacht“. 72 Pelliot bemerkt über die damalige Sinologie: „Malgré des comptes rendus élogieux, la sinologie d’alors était trop peu initiée à la linguistique pour apprécier tout ce qu’il y avait de fécond dans la théorie de Conrady, et encore moins en état de discuter ce qu’il pouvait y avoir de contestable dans certains de ses rapprochements.“ 73 Erkes stellt Conradys Tätigkeit als „ebenso vielseitig wie tiefgreifend“ dar. Er habe erst die indochinesische Sprachwissenschaft begründet. 74 Die Fakultät schlug am 19. Juli 1897 den Privatdozenten zur Beförderung zum Extraordinarius vor, die unmittelbar darauf am 6. August 1897 durch das Kultusministerium erfolgte. 75 Diese Professur war nicht etatmäßig, denn erst am 7. Mai 1900 erfolgte seine Einstufung als etatmäßiger Extraordinarius. 76 Ab dem 15. April 1903 nahm Conrady einen dreijährigen Urlaub von seiner Leipziger Tätigkeit, da er als Lehrer für deutsche Sprache und Literatur an die staatliche Hochschule in Peking berufen worden war. 77 Doch schon nach acht Monaten brach er den Aufenthalt ab, da Erbschaftsangelegenheiten seines Onkels zu ordnen waren. 78 Er verfasste einen Bericht über die in Peking gesammelten Eindrücke, den er am 5. April 1905 in der Orientalischen Gesellschaft in München vortrug. 79 In der farbenfrohen Beschreibung setzte er sich entgegen der öffentlichen Meinung, die nach den Ereignissen des Boxerkrieges ein eher negatives Chinabild hatte, für die Chinesen und ihre Kultur ein. 80 Neben der philologischen Forschung des Sinologen entstanden auch völkerkundliche und historische Arbeiten, die sich u. a. mit der Religionsgeschichte, der Kultur- und Literaturgeschichte Chinas befassten, wie Die chinesischen Handschriften- und sonstigen Kleinfunde Sven Hedins in Lou-lan. 72 Franke, Sinologie, 14 f. 73 Pelliot, „Nécrologie. Auguste Conrady“, 130. 74 In der heutigen Linguistik wird statt des Begriffs der indochinesischen Sprachen der Begriff der sinotibetischen Sprachen benützt. Erkes, „August Conrady †“, 145, und id., „August Conrady zu seinem 90. Geburtstag“, 201. 75 Vgl. UAL, PA 384, Aufnahme 113; UAL, PA 384, Aufnahme 115. 76 UAL, PA 384, Aufnahme 120. 77 UAL, PA 384, Aufnahme 122. 78 Erkes, E. (1959): 456. 79 Conrady, A. (1905). 80 Conrady, A. (1905): 13 f. Gabelentz_s001-344AK6.indd 260 12.07.13 16: 27 <?page no="263"?> 261 Die Bearbeitung der Funde 81 hatte Conrady um 1911/ 12 abgeschlossen, jedoch sollte seine Publikation erst 1920 in Stockholm erscheinen. Sie ist durch die Rekonstruktion eines plastischen Bildes der Kultur des westlichsten Vorpostens chinesischer Kultur sein bekanntestes Werk, welches die Theorie der autochthonen chinesischen Kultur weiter erhärtete. Er hatte aus den Fragmenten „ein anschauliches und fesselndes Bild der damaligen Zustände in Lou-lan und der aus ihnen zu erschließenden Handelsverhältnisse zwischen China und Westasien rekonstruiert.“ 82 Bei August Conrady promovierten 1913 sein späterer Schwiegersohn und Nachfolger ab 1947, Eduard Erkes, 83 1914 der langjährige Assistent Karl Lamprechts bzw. Conradys und spätere Professor für ostasiatische Sprachen, André Wedemeyer, der auch seine Habilitation zur Japanischen Frühgeschichte 1924 bei Conrady einreichte. Bernhard Karlgren, 84 der schwedische Sinologe, der seit 1918 den Göteborger Lehrstuhl für ostasiatische Sprachen und Kultur innehatte und ab 1939 das Museum für ostasiatische Kunst in Stockholm leitete, war dank der Vermittlung Sven Hedins Doktorand und Habilitand bei Conrady. 1919 pro- 81 Hertel beschreibt die Funde, die um 252 bis 270 n. Chr. datiert sind, so: „Es sind Fetzen meist amtlicher Schriftstücke auf Papier, kurze Akten auf Holzstäbchen oder Holzklötzchen, [...] etwa der Inhalt eines Papierkorbes. [...] Auf Grund dieses spärlichen und mangelhaften Materials hat der Herausgeber [...] ein lebenssprühendes Kulturbild entworfen. Wir sehen hier, wie sich [...] neben den herrschenden Chinesen Angehörige der verschiedensten Rassen [...] drängen, wie die [...] Heeresmacht ausrückt, den [...] Posten gegen die Hunnen zu schützen, deren Ansturm er schließlich erlag, sehen die Karawanen kommen und gehen, nehmen Teil an den Sorgen des Schuldners, der an die Amtsstelle zitiert wird, wie an denen des Soldaten, der die Behörde um Unterstützung seiner Lieben [...] bittet. [...] Zur Schöpfung eines solchen Gemäldes [...] genügte nicht die unübertreffliche Gelehrsamkeit; dazu bedurfte es außerdem des hellen Blickes und der Gestaltungsgabe des Künstlers und des in warmer Anteilnahme schlagenden Herzens des edlen und guten Menschen.“ Hertel, J. (1926): 13*f. 82 Schmitt, E. (1926): 80, und Erkes, E. (1959): 459. Erich Haenisch bezeichnet diese Abhandlung als „mustergültig“ auf dem Gebiet der Turfanforschung. Haenisch, E. (1960): 266. 83 Am 21. Juni 1917 wurde Eduard Erkes, der 1916 die Tochter Conradys, Anna Babette Conrady, geheiratet hatte, die venia legendi für Chinesisch verliehen. UAL, PA 445, Blatt 53 f., 60 f. und 65. 84 Conrady promovierte und habilitierte Karlgren (1889-1978) bei seinem Besuch in Schweden im Mai 1915. movierte Bruno Schindler zum Priestertum im alten China bei Conrady und nahm die typographischen Probleme bei der Drucklegung seiner Arbeit zum beruflichen Ausgangspunkt als Verleger sinologischer, ostasiatischer und orientalischer Texte. 85 Der österreichische Sinologe und Mongolist, Otto Johann Maenchen-Helfen, der als Sozialdemokrat 1938 in die USA emigrierte, reichte 1923 seine Dissertation bei Conrady ein ebenso wie Gustav Haloun. Letzterer legte eine Arbeit zur Siedlungsgeschichte altchinesischer Clans vor und gilt als einer der „großen Vertreter der ‚Leipziger Schule‘“. 86 Er habilitierte sich in Prag 1926 und wirkte als Privatdozent in Prag, Halle und Göttingen, bevor er 1938 nach Cambridge ging. Chinesische Promovenden Conradys waren Zheng Shoulin, der spätere Gründer der Deguo yanjiuhui in Peking, und der spätere Anglistik-Professor und Schriftsteller Lin Yutang. 87 Auch der Musikwissenschaftler Xiao Youmei 88 erwarb 1919 in Leipzig seinen Doktorgrad mit einer 85 Stresow, G. (1962): 1850. 86 Gustav Haloun promovierte 1923 in Leipzig. 1938 emigrierte er nach Großbritannien, wo er im selben Jahr als Professor für Sinologie nach Cambridge berufen wurde und bei der Neuen Folge der Asia Major Mitherausgeber war. Schubert, J. (1962): 412; Strauss, H. und Röder, W. (Hrsg.) (1983): 454. Führer, B. (2001): 227 f. und 231. 87 Der Schriftsteller und Mittler zwischen Ost und West, Lin Yutang, promovierte Zur Altchinesischen Lautlehre 1923 bei Conrady und Streitberg. Er war im Herbst 1921 nach Leipzig gekommen, wo er Chinesisch, Indogermanische Sprachwissenschaften und Englisch studierte. UAL, Phil. Fak., Prom. 1535. Seit 1923 war er Professor für Englische Philologie an der Universität Peking. Er wurde 1926 auf die schwarze Liste der radikalen Professoren gesetzt. Nach einem Zwischenspiel als Sekretär im Außenministerium der Wuhan-Regierung widmete er sich seit 1927 dem Schreiben. 1930 wurde Lin Cai Yuanpeis Englisch-Sekretär. Er gründete drei Zeitschriften, schrieb über 35 Bücher und wurde später Vorsitzender der Abteilung Kunst und Literatur bei der UNESCO. Müller, G. (1989): 7-47, und Harnisch, Th. (1999): 253-255. 88 Xiao Youmei (Hsiao Yiu-mei Chopin, 1884-1940) studierte Pädagogik, Musikwissenschaft und Komposition. Seine Dissertation wurde 1919 abgeschlossen. Er ging dann nach Berlin, wo er seit 1916 in der Musikwissenschaft immatrikuliert war. 1920 wurde er von Cai Yuanpei an die Beijing Daxue berufen, um 1925 zum Gründungsdekan der Musikabteilung und stellvertretenden Rektor aufzusteigen. Ab 1927 baute er die erste chinesische Musikhochschule (Shanghai guoli yinyue zhuanke xue xiao) auf und leitete diese bis 1940. Gernet, J. (1983): 521, Harnisch, Th. (1999): 170-172, und UAL, Phil. Fak., Prom. 2078. Gabelentz_s001-344AK6.indd 261 12.07.13 16: 27 <?page no="264"?> 262 Geschichtlichen Untersuchung über das chinesische Orchester bis zum 17. Jahrhundert. Der spätere Erziehungsminister Chinas, Präsident der Academica Sinica und Rektor der Peking-Universität, Cai Yuanpei, hatte von Wintersemester 1908/ 09 bis Wintersemester 1912/ 13 in Leipzig vor allem bei Karl Lamprecht, dessen Theorien zur Universität ihn wohl maßgeblich beeinflussten, und Wilhelm Wundt studiert. 89 Darüber hinaus besuchte er ein Seminar Conradys, den er bei der Bearbeitung der Loulan-Funde unterstützte. 90 Conrady war 1896 auch am Rigorosum des Sinologen Berthold Laufer 91 und der Promotion des Medizinhistorikers und Sinologen Dr. med. et phil. Franz Hübotter 92 im Jahr 1912 beteiligt. 93 Ebenso nahm er im Jahr 1896 auch an der Promotion des Buddhismusforschers Junjiro Takakusu über Tsings Record of Religious Practics als mündlicher Prüfer teil. Aufgrund seiner erst 1922 erfolgten Ernennung zum Ordinarius kann vermutet werden, dass er in manchen Fällen inoffizieller Betreuer mancher Promotion war. Als gesichert gelten können dagegen wieder die Promotion des Tomitsu Okasaki aus Tokio 1898 und die Habilitation des Indologen und Buddhismusexperten Friedrich Weller bei Conrady im Jahr 1922 nach seiner 1914 erfolgten Promotion in Leipzig. 94 Conrady hatte bis zu seiner Berufung 29 Dissertati- 89 Laut persönlichem Gespräch mit Dr. Matthias Midell, Universität Leipzig, und Cai Leiluo am 2. Dezember 2004 in Leipzig. 90 Felber, R. (1991). 91 Berthold Laufer promovierte 1897 in Leipzig mit der Edition eines tibetischen Textes. 1898/ 89 und 1901-1904 führte er Forschungsreisen in das Amurgebiet und in China durch. Er wirkte seit 1908 als „Assistant Curator of Asiatic Ethnology“, dann ab 1915 als „Curator of Anthropology“ am Fields-Museum in Chicago. Vgl. UAL, 4803, Blatt 5, und Erkes, E. und Schindler, B. (1916/ 18): 115, und DBE 6, 268; Franke, H. (1968): 8-12, und Kaden, K. (1990). 92 Franz Hübotter hatte bei Grube Chinesisch und Mandschurisch studiert. 1912 promovierte er über das Chan-kuo-ts’e in Leipzig, 1914 habilitierte er sich in Berlin für Medizingeschichte und beschäftigte sich mit orientalischen und asiatischen Sprachen. Nach dem Krieg war er vier Jahre als Arzt in Japan tätig, ab 1925 in China. 1951 wurde er dort zum Tode verurteilt und nach seiner Begnadigung 1953 nach Deutschland repatriiert, wo er chinesische Heilmethoden praktizierte. Neben seiner Tätigkeit als Honorarprofessor der Freien Universität Berlin forschte er zur chinesischen Medizingeschichte. Rall, J. in: NDB 9, 447; Gimm, M. (1967) und Schubert, J. (1962): 411. 93 Franke, H. (1968): 8-12, und Kaden, K. (1990): 31-40. 94 UAL, Phil. Fak. B 128c, und Erkes, E. (1959): 456. onen angeregt. 95 Anhand der genannten Personen werden Ausschnitte der wissenschaftlichen und persönlichen Verbindungen der internationalen wie nationalen Ostasienwissenschaftler mit Leipzigs Sinologie deutlich. Seit etwa 1911 begann sich die „Leipziger Schule“ um den „gründliche[n], bedächtige[n] Linguist[en]“ 96 Conrady herauszubilden. Ihr gehörte nicht nur Eduard Erkes an, sondern auch der spätere Sanskrit-Ordinarius in Leipzig, Friedrich Weller, sowie der Sinologe Bruno Schindler, 97 die beide zusammen die Zeitschrift Asia Major herausgeben sollten. Zu ihr zählten auch der polnische Sinologe Bogdan Richter und der Japanologe André Wedemeyer. Sie wurde später um den Tibetologen Johannes Schubert 98 und den 95 UAL, PA 384, Aufnahme 132. 96 Merkel R. F. (1952): 264. 97 Bruno Schindler, Sinologe und Verleger, studierte in Berlin und Breslau, um von 1907-1910 in England sein Studium fortzuführen. 1910-1912 studierte er bei Conrady und war von 1912-1914 in China. Er promovierte 1919 bei Conrady über Das Priestertum im alten China. Um die Dissertation zu drucken, ordnete er die Abteilung der Spamerschen Druckerei für chinesischen Satz. Er setzte seine Arbeit selbst und gründete 1923 die Zeitschrift Asia Major. Er musste nach 1933 aufgrund seiner jüdischen Abstammung nach Großbritannien emigrieren, wo er ab 1949 die neue Folge der Asia Major herausgab. 1939 übernahm er die Verlagsleitung von Lund Humphries, London, wo er u. a. Grammatiken und Wörterbücher für orientalische und fernöst liche Sprachen herausgab. Stresow, G. (1962); Strauss, H. und Röder, W. (1983): 1032; Demiéville, P. (1964). 98 Johannes Schubert promovierte 1928 in Berlin zur tibetischen Nationalgrammatik. Ab 1930 war er als Bibliotheksrat an der Universitätsbibliothek Leipzig tätig, 1934-1945 hatte er einen Universitätslehrauftrag für Tibetisch und Mongolisch. Seit 1937 war er Mitglied der NSDAP und wurde 1942 als „zuverlässiger Arbeiter“, der sich uneingeschränkt zur NS- Weltanschauung bekenne, eingeschätzt. Ab 1942 war er für die Forschungs- und Lehrgemeinschaft „Ahnenerbe e.V.“ bzw. deren Abteilung Innerasien, das „Sven-Hedin-Institut“, das allerdings als „hohler Zahn im Maul des Tigers Himmler“ galt, als externer ehrenamtlicher Mitarbeiter u. a. bei der Aufarbeitung der Tibetexpeditionen tätig. Versuche Ernst Schäfers und Bruno Begers, ihn als vollen Mitarbeiter zu gewinnen, scheiterten an der Freistellung durch den Direktor der Universitätsbibliothek. Auch der Versuch Schuberts, als Sonderführer der Waffen- SS zum Ahnenerbe abgestellt zu werden, wurde durch seinen Musterungsbefund vereitelt. Laut seiner PA scheiterte die „Annahme einer Fachposition in Verbindung mit einer neuzuschaffenden Professur an der Universität München“, da er nicht vom Bibliotheksdienst befreit wurde. Außer dem Hinweis auf die ihm 1942 angetragene Stelle in München, wo das von der Universität München mitgetragene „Sven-Hedin-Institut“ Gabelentz_s001-344AK6.indd 262 12.07.13 16: 27 <?page no="265"?> 263 späteren Professor für Sinologie in Cambridge, Gustav Haloun, erweitert. Erkes rechnet auch den als Übersetzer von Qu Yuan bekannt gewordenen Steyler Missionar Biallas 99 zur Schule der Leipziger Sinologen um August Conrady. 100 Conrady war damit laut Hertel „der einzige deutsche Sinologe, der eine größere Schule geschaffen hat“. 101 Pelliot sieht Conradys neuen Ansatz in der deutschen Sinologie so: „Au lieu de se borner, comme on l’avait fait souvent avant lui, à paraphraser purement et simplement les commentaires chinois traditionnels, il abordait les textes avec un esprit très tourné vers la sociologie et l’histoire des religions, et il fait école à ce point de vue. Pendant que la sinologie allemande piétinait à Berlin sous la direction de De Groot … Conrady réunissait autour de lui à Leipzig des disciples qui sont pénétrés de ses méthodes.“ 102 Doch gerade aus Berlin und vor allem aus Hamburg, in denen unter De Groot bzw. Franke andere Schwerpunkte gesetzt wurden, kam Kritik an der „Leipziger Schule“. Sie war unter deutschen Sinologen umstritten, ihr bedeutendster Gegner war Otto Franke, der weit stärker auf das moderne China ausgerichtet war und weder englischsprachige Aufsätze in der Asia Major noch Ausländer wie Bernhard Karlgren, einen der bedeutendsten damaligen Sinologen, auf deutschen Lehrstühlen sehen wollte. 103 Besonders an der Person des Schwiegersohns Conradys, Eduard Erkes, entzündete sich Kritik: Sein Beitritt zur SPD 1919 und die Verfechtung seiner sozialistischen und saß, finden sich in der PA keine Hinweise. Der bei Greve angeführte Artikel „Tal der Götter und Dämonen“, der 1943 in der Weltwacht der Deutschen. Zeitung für das Deutschtum der Erde (Dresden) veröffentlicht wurde, fehlt in der Nachkriegsliste seiner Arbeiten. Nach 1945 war er in der Bibliothek tätig, 1950 wurde er, nach mehreren Vorstößen Erkes’, mit einem Lehrauftrag für Tibetisch betraut, 1952 zum Professor mit Lehrauftrag, 1955 zum Professor mit vollem Lehrauftrag, 1960 zum Professor mit Lehrstuhl für Tibetologie ernannt. 1970 erhielt er die Verdienstmedaille der DDR. Vgl. UAL, PA 1112, Blatt 1, 34, 148, 196; BArch Berlin, R 135/ 27, R 135/ 44, R 135/ 46, R 135/ 49, R 135/ 52; Walravens, H. (2004), „Bericht an das ReichsministeriumfürWissenschaft“,102,Greve(1995): 179-199. 99 Pater Franz Xaver Biallas wirkte bis 1936 an der Katholischen Universität in Peking, wo er 1934 die Monumenta Serica gründete. Jäger(1936): 130. 100 Erkes, E. (1959): 459. 101 Hertel, J. (1926): 14*. 102 Pelliot, P. (1925/ 26): 130. 103 UAL, PA 525, Aufnahme 184 f. und 187 f. Franke, O. (1925). atheistischen Weltanschauung in Zeitungsartikeln 104 stieß auf wenig Gegenliebe im nach wie vor eher national-konservativen akademischen Milieu. Die Vertreter der „Leipziger Schule“ veröffentlichten vor allem in der ab 1923 von Conradys Schüler, Bruno Schindler, herausgegebenen Asia Major, die sich zu einer der wichtigsten sinologischen Fachzeitschriften im deutschen Sprachgebiet entwickelte. Daran beteiligt waren die Leipziger Professoren Fischer und Conrady und aus Berlin die Professoren F. W. K. Müller 105 und Le Coq. 106 Die Gründung des Ostasiatischen Seminars der Universität Leipzig 1913/ 1914 Das Interesse für fremde Kulturkreise wie Ostasien wurde an der Universität Leipzig wesentlich durch den Historiker Karl Lamprecht 107 befördert, der die Institutionalisierung 104 Erkes diskreditierte sich in den Augen vieler konservativer Sinologen durch einen Artikel in der Rheinischen Zeitung 1919, in der er einen Vergleich zwischen der Bestrafung des Boxeraufstandes in China und dem seiner Meinung nach zu laschen Umgang mit dem abgedankten Kaiser und anderen „Verantwortlichen“ des Ersten Weltkrieges in Deutschland zog und damit deren Verurteilung befürwortete. Da der Artikel im besetzten Rheinland erschien, reichten die Vorwürfe bis hin zu Hoch- und Landesverrat. Vgl. Rheinische Zeitung, 24. März 1919, bzw. Deutsche Zeitung, 30. Mai 1919. 105 Vgl. Anm. 107; der Direktor des Berliner Völkerkundemuseums und Experte für Turfanforschung, Friedrich Wilhelm Karl Müller, förderte die Asia Major besonders. Walravens, H. (1997): 6, und „Müller, Friedrich Wilhelm Karl“, NDB 18, 382. 106 Der Ethnologe Albert Le Coq bereitete sich auf eine kaufmännische Laufbahn vor. Parallel dazu studierte er Medizin. 1900 wurde er Volontär am Berliner Völkerkundemuseum. Er lernte Arabisch, Türkisch, Persisch und Sanskrit und nahm an drei Turfan-Expeditionen zwischen 1904-1914 teil. Seit 1914 war er Kustos, seit 1923 Direktor der Indischen Abteilung am Museum für Völkerkunde in Berlin. Seine Hauptwerke beschäftigen sich mit den Ergebnissen der Expeditionen, mit Ostturkestan, der buddhistischen Spätantike in Mittelasien und der Kunst- und Kulturgeschichte Mittelasiens. Vgl. DBE 6, 283. SächsHStA, 10273/ 29, Blatt 12. 107 Karl Lamprecht wurde 1891 auf den Lehrstuhl für mittlere und neuere Geschichte in Leipzig berufen und versuchte, die Grundlagenkrise der Geisteswissenschaften angesichts der Herausforderung durch die Naturwissenschaften mit der an die Psychologie angelehnte These von historischen Regelmäßigkeiten, die er als „sozialpsychische Gesetzmäßigkeiten“ und als „Formen kultureller Vergesellschaftung“ beschrieb, zu überwinden. Seine Auffassung von Kulturgeschichte umfasste die Totalität der Erscheinungen in sozialer, wirtschaftlicher, politischer und Gabelentz_s001-344AK6.indd 263 12.07.13 16: 27 <?page no="266"?> 264 der Ostasienwissenschaften als eigenes Seminar befürwortete. 108 Sein besonderes Interesse galt neben den britischen Kolonialkulturen den Kulturen Ostasiens, was unter anderem in den Bemühungen zum Ausbau der Institutsbibliothek mit entsprechenden Beständen und der zeitweiligen Beschäftigung eines japanischen Assistenten zum Ausdruck kam. Seit dem Wintersemester 1903/ 04 behandelte Lamprecht die Verfassungs-, Kultur- und Sozialgeschichte Japans im Vergleich mit den Entwicklungen in Europa. 1906 wurde eine Ostasiatische Abteilung an seinem Seminar für Kultur- und Universalgeschichte eingerichtet, die zuerst ihren Schwerpunkt in japanischer Geschichtsforschung hatte und ab 1909 in die chinesische und koreanische Richtung erweitert wurde. 109 Am 15. Mai 1909 fand die Eröffnung des außerfakultären Instituts für Kultur- und Universalgeschichte statt. Es war im Haus zum „Goldenen Bären“, Universitätsstraße 11, untergebracht. Im 2. Stock befand sich die Bibliothek zur ostasiatischen, vornehmlich japanischen Geschichte. 110 Damit gab es das ostasiatische Zimmer des Instituts für Kultur- und Universalgeschichte und die Grubestiftung 111 als ,Grubezimmer‘ an der Universitätsbibliothek, um die ostasiatischen Wissenschaften zu betreiben. Diesem „Notbehelf “ 112 konnte erst mit der Gründung des Ostasiatischen Seminars 1914 Abhilfe geschaffen werden: Die Universitätsbibliothek erlaubte Ende 1913 die teilweise Überlassung der Grube-Bestände unter der Bedingung einer geistiger Hinsicht. Um seine Deutsche Geschichte entzündete sich 1893 der „Methodenstreit“. Während er im Ausland hohe Anerkennung fand, stand er hier zunehmend in der Isolation. Er hat die Institutionalisierung landesgeschichtlicher Forschung wie die allgemeine Geschichtsforschung durch die Gründung des Instituts für Kultur- und Universalgeschichte und die Gründung der „Versammlung Deutscher Historiker“ vorangetrieben. Vgl. DBE 6, 211 f., und Meyers enzyklopädisches Lexikon, Bd. 14, Art. „Lamprecht“, 580. 108 S. a. Schütte: 103-105. 109 Wedemeyer, A. (1913/ 14): 432 f. 110 SächsHStA, 10230/ 21, Blatt 52. 111 Bei ihr handelte es sich um die Bibliothek des 1908 verstorbenen Prof. Dr. Wilhelm Grube. Nach einem noch vorhandenen, lückenhaften Kartenkatalog umfasste sie etwa 800 Titel in westlichen Sprachen, ca. 300 Sinica sowie etwa 180 japanische, mandschurische, mongolische, tibetische oder zweisprachige Werke. Ein Teil der Bibliothek ist im Krieg verloren gegangen, weshalb bei Jansen lediglich sechs Titel aufgenommen werden konnten. Vgl. Jansen, Th. (2003). 112 SächsHStA, 10230/ 24, Blatt 2a. separaten Aufstellung an das neue Ostasiatische Seminar. Zusätzlich wurde die Bibliothek der Ostasiatischen Abteilung des Instituts für Kultur- und Universalgeschichte mit über 8.000 Bänden vollständig als Depot überlassen, sowie 8.000 Kunstblätter aus chinesischen und japanischen Publikationen als Leihgabe Oskar Münsterbergs. Damit umfasste die Bibliothek 1914 etwa 10.000 ostasiatische und 2.100 europäische Bände, die erwähnten Kunstblätter und über 600 Broschüren, Sonderdrucke u.Ä. Damit gehörte sie im Bereich der japanischen Quellenwerke zu den am besten ausgestatteten in Europa und der außerjapanischen Welt. 113 Das Ostasiatische Seminar wurde mit der Unterstützung Karl Lamprechts gegründet: Am 14. März 1913 beantragte Conrady ein eigenständiges Seminar, welches im ersten Stock der Universitätsstraße 13 eingerichtet werden sollte. 114 Am 28. Mai 1914 gründete das Ministerium offiziell das Ostasiatische Seminar, ernannte Conrady zu dessen Direktor und genehmigte die Assistentenstelle André Wedemeyers ab dem 1. Juni 1914. 115 Daher kann von einer wesentlichen Förderung Conradys durch Lamprecht wie auch von 113 Wedemeyer, A. (1913/ 14): 433 f. 114 „Herr Geheimrat Lamprecht hat in richtiger Erkenntnis dessen, was den hiesigen sinologischen Studien nottut, [...] nicht nur einen Raum zur Verfügung gestellt, dessen Ausmessungen [...] den Anforderungen [...] der Teilnehmerzahl und der Bibliothek genügen, sondern ist zugleich bereit, auch den ostasiatischen Teil der Bibliothek seines Institutes als Depot zu überweisen.“ SächsHStA, 10230/ 24, Blatt 2b und 3a, 181a. 115 Der wiederholte Einsatz Conradys für seinen Assistenten ist bei der inhaltlichen Breite der Professur verständlich und führte zur festen Etablierung der Stelle: Am 16. April 1921 genehmigte das Ministerium, dass Oberassistent Wedemeyer die Stelle zunächst bis zum 31. März 1923 behalten solle. Dies war mit der Auflage verbunden, dass er bis dahin seine Habilitation vollziehe. Vgl. SächsHStA, 10230/ 24, Blatt 35a und 36a. Wedemeyer habilitierte sich jedoch als Privatdozent für Japanologie mit dem ersten Teil seiner Arbeit Japanische Frühgeschichte aufgrund der durch die Inflation gestiegenen Druckkosten erst am 9. Mai 1924, konnte die Stelle aber behalten. Die Habilschrift reichte er am 5. Juli 1923 ein. Wie er 1946 berichtete, fand seine Absicht, sich für ostasiatische Geschichte zu habilitieren, „keine Unterstützung“. 1933 schrieb er, dass Lamprecht und Conrady ihm empfohlen hätten, sich auf eine Habilitation in der Japanologie vorzubereiten, wo sie ihn bei der entsprechenden Professur unterstützen wollten. 1931 wurde er zum Extraordinarius der Japanologie berufen, 1934 zum Extraordinarius der ostasiatischen Philologie. Wedemeyer, A. (1930). Vgl. UAL, PA 78, Blatt 2, 18, 21, 23, 44, 45, 80, 154 und 70. Vgl. SächsHStA, 10230/ 24., Blatt 14. Gabelentz_s001-344AK6.indd 264 12.07.13 16: 27 <?page no="267"?> 265 einer Beeinflussung durch dessen universalgeschichtliche und kulturgeschichtliche Ansätze ausgegangen werden. In der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 1943 wurden das Ostasiatische Seminar und die Bibliothek von 20.000 Bänden in der Universitätsstraße 13 durch Bombenangriffe vernichtet. Trotz schwerer Kriegsverluste beinhalten die Bestände der Universitätsbibliothek Leipzig heute noch Rara aus dem 16. Jahrhundert (8 Titel), 17. Jahrhundert (52 Titel) und 18. Jahrhundert (58 Titel). Die selbständig erschienene westlichsprachige Literatur zu China umfasst insgesamt 2495 Titel; selbständig erschienene Sinica und Schriften zu China in japanischer Sprache bis zum Erscheinungsjahr 1939 belaufen sich auf 1690 Titel. 116 Kurzer Ausblick auf die weitere Entwicklung des Ostasiatischen Seminars von 1914 bis 1947 Die Ernennung August Conradys zum Ordinarius an der Universität Leipzig sollte sich bis 1922 hinziehen. Die Auseinandersetzungen innerhalb der deutschen Sinologie spiegelten sich auch in den Berufungsverhandlungen wider. Schließlich wurde Conrady am 8. August 1922 als Wunschkandidat der Fakultät an oberster Stelle platziert, dahinter mit beträchtlichem Abstand Alfred Forke, Professor am SOS in Berlin, und Erich Haenisch, Extraordinarius für Sinologie und uralaltaische Sprachen an der Universität in Berlin. 117 Am 15. September 1922 teilte das Kultusministerium der Fakultät mit, dass es den planmäßigen Extraordinarius August Conrady zum Ordinarius für ostasiatische Sprachen ernannt habe. 118 Doch es behielt sich dabei vor, den Lehrstuhl bei Erledigung wieder zum Extraordinariat zu degradieren. 119 Die Rückstufung erfolgte nach 1932 nach dem Weggang von Haenisch aus finanziellen Gründen. In der Zeit seines Wirkens als Ordinarius für ostasiatische Sprachen bot Conrady neben dem Schwerpunkt auf der Erarbeitung klassischer chinesischer Texte auch Übungen zur altchinesischen Mythologie, Paläographie, altchinesischen Kulturgeschichte, Kunstgeschichte und Wirtschaftsgeschichte der Zhou-Zeit an. Neben Conradys Veranstaltungen führte auch Erkes seit 1917 Seminare und Vorlesungen 116 Thomas Jansen erfasste in einer Forschungsarbeit der letzten Jahre diese Bestände. Vgl. Jansen, Th. (2003). 117 UAL, PA 384, Aufnahme 132 f., 140 und 144. 118 1922 erfolgte auch Conradys Ernennung zum Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. 119 UAL, PA 384, Aufnahme 150 f. vor allem zu klassischen daoistischen und konfuzianischen Texten, aber auch zur ostasiatischen Kultur oder chinesischen Kunst durch. Daneben bot Friedrich Weller seit dem Wintersemester 1922/ 23 Veranstaltungen zur chinesischen buddhistischen Literatur an. André Wedemeyer bot seit dem Wintersemester 1924/ 25 japanologische Themen an, so dass ein breites Lehrangebot gegeben war. 120 Conrady war besonders die Erforschung der chinesischen Kulturgeschichte wichtig. Doch hat er auch „durch die Entdeckung, daß die [...] Phonetika der chinesischen Schrift zugleich sinnangebende Bestandteile sind, [...] in der chinesischen Paläographie [...] eines der wichtigsten Hilfsmittel der kulturgeschichtlichen Forschung erschlossen“. 121 Die Heranziehung der vergleichenden Ethnologie zur Erkenntnis der altchinesischen Kultur und Gedankenwelt habe Erkes zufolge zu wichtigen Ergebnissen und dem Nachweis der kulturellen „Autochthonie“ Chinas, des altchinesischen Mutterrechts und des Totemismus geführt. 122 Bereits am 4. Juni 1925 verstarb August Conrady. Das Ministerium beauftragte am 27. Juni 1925 Johannes Hertel 123 als stellvertretenden Direktor des Seminars, die Geschäfte zu führen, bis ein Nachfolger ernannt werde. 124 Laut Hertel war Conrady ein „Pionier“ und „eine ausgesprochene Forschernatur“. Diese „innere Notwendigkeit, die im Stoffe liegt [...], führte ihn von einem Kulturgebiet aufs andere, ließen ihn neue Pfade durchs anscheinend undurchdringliche Dickicht bahnen und [...] wissenschaftliches Neuland gewinnen, welches dem Blicke des Sprachforschers, des Philologen und des Historikers Ausblicke von ungewöhnlicher Weite eröffnete.“ 125 Da Schindler bei seiner Emigration den Nachlass Conradys mit nach London nahm, der dann bei einem Luftangriff zerstört wurde, verblieb nur ein sehr kleiner Teil in Leipzig. Er befindet sich im Universitätsarchiv Leipzig, im Nachlass Conrady/ Erkes. Erkes spricht von einem „Unstern“, 126 der über Conradys Nachlass waltete, da er zu seinen Lebzeiten nur wenig veröffentlichte und den meisten Arbeiten des Gelehrten da- 120 [o.V.] Verzeichnis der Vorlesungen, 17-20. 121 Erkes, E. (1925): 146. 122 Erkes, E. (1925): 146. 123 Der Indologe und Iranist Johannes Hertel (1872-1955) promovierte 1897 in Leipzig. Im Jahr 1919 wurde er dort als Professor berufen. Vgl. DBE 4, 648, und Weller, F. (1958). 124 UAL, Phil. Fak. B1/ 14 28 Bd. 1, Aufnahme 10 f. 125 Hertel, J. (1926). 126 Erkes, E. (1959): 461 f. Gabelentz_s001-344AK6.indd 265 12.07.13 16: 27 <?page no="268"?> 266 mit die Diskussion durch die Wissenschaft verwehrt blieb. Weil seine wenigen Publikationen diskutierenswerte neue Thesen und wichtige Ergebnisse vor allem zur Sprachforschung, zur chinesischen Geschichte und Kultur- und Religionsgeschichte brachten, lässt sich der Verlust, den die Leipziger sinologische Schule und die Sinologie an sich durch die Nichtveröffentlichung seiner Manuskripte erlitten hat, nur erahnen. Nach dem Tod Conradys im Jahr 1925 wurde anstelle von Schülern Conradys der weltanschaulich konservativere Hochschullehrer Erich Haenisch als Ordinarius berufen. Er machte sich besonders um den Ausbau der Bibliothek und die Etablierung von chinesischen Lektoren verdient, wechselte aber bereits 1932 nach Berlin. Ein Jahr später entzog das NS-Regime dem Schwiegersohn und Schüler Conradys, Eduard Erkes, die venia legendi aufgrund seiner politischen Überzeugung. 1934 wurde der Historiker und Japanologe André Wedemeyer zum Extraordinarius für ostasiatische Philologie und Direktor des Seminars ernannt. Er leitete das Seminar trotz seines hohen Alters über die Kriegszeit hinaus, bis 1947 Eduard Erkes die Leitung des Seminars als Professor mit vollem Lehrauftrag übernahm. Literaturverzeichnis „Bericht an das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung über die Lage der Sinologie und Japanologie in Deutschland 1942. Aus den Akten des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“ (1997), Reprint in: Martin, H. und Eckhardt, M. (Hrsg.): Clavis Sinica, 93-109. Beyer, Lothar (2003): „Vater der peruanischen Archäologie. Max Uhle promovierte in Leipzig“, in: Universität Leipzig, H. 1, 35-36. Brockhaus 15. Aufl. 1930. Brockhaus 9, 15. Aufl. 1931. Brockhaus in Text und Bild (CD-Rom) 2000/ 2001. Brockhaus, Hermann (1835): Gründung der Stadt Pataliputra und Geschichte der Upakosa, Fragmente aus dem Kathâ Sarit Sâgara des Somadeva. Sanskrit und Deutsch. Leipzig. 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ZDMG = Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. Gabelentz_s001-344AK6.indd 268 12.07.13 16: 27 <?page no="271"?> 269 Briefumschlag, in dem die längs gefaltete Bestallungsurkunde (s. nächste Seite) an den Königlich Sächsischen Professor, Herrn Dr. Georg von der Gabelentz verschickt wurde. Absender: Geheime Kanzlei des Kultus-Ministeriums, Berlin, Behrenstr. 71. Briefträger Müller vermerkt, dass der Adressat z. Zeit nicht in Leipzig, sondern in Lemnitz bei Triptis ist. Poststempel: 21. 9. 89, in Triptis angekommen 24. 9. 89. ThStA Gabelentz_s001-344AK6.indd 269 12.07.13 16: 27 <?page no="272"?> 270 Gabelentz_s001-344AK6.indd 270 12.07.13 16: 28 <?page no="273"?> 271 Klaus Kaden Die Berufung Georg von der Gabelentz’ an die Berliner Universität * 1. Einleitung. Im Jahre 1978 gedachten wir mit einem Symposium in Leipzig der 100. Wiederkehr der Berufung des bekannten Sprachforschers und Sinologen Hans Georg Conon von der Gabelentz zum „außerordentlichen Professor der ostasiatischen Sprachen“ an die Leipziger Universität (1882 „ordentlicher Honorarprofessor“). 1 1985 beging die Humboldt-Universität zu Berlin ihren 175. Jahrestag. Diese beiden Daten waren für uns seinerzeit Anlass zu intensiver Beschäftigung mit dem Entwicklungsweg und der historischen Leistung einiger Persönlichkeiten, die in Deutschland die wissenschaftlichen Grundlagen für die Erforschung der chinesischen Sprache gelegt haben. 2 Insbesondere wurden - teilweise mit Hilfe einiger Studenten - mehrere Archive in der DDR durchforstet (nach West-Berlin durften wir damals noch nicht): * Erstveröffentlichung in: Moritz, Ralf (Hrsg.) (1993): Sinologische Traditionen im Spiegel neuer Forschungen, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 57-90. Der Abschnitt „2. Editionsprinzipien“ im Original (S. 58) wurde beim Wiederabdruck des Aufsatzes herausgenommen und zum großen Teil als Text der allgemeinen Editionsprinzipien für Texte bzw. Textteile übernommen, bei denen es sich um die Abschriften handschriftlicher Originale handelt (vgl. die Endnote des Vorwortes der Herausgeber). Die Abschnitte, die danach folgen, wurden umnummeriert. - Hrsg. 1 Vgl. Richter, E. u. a. (1979): 7. 2 Vgl. Leutner, M. (1987): 31-42; hier: 291-303. - Auf den 3. Chinawissenschaftlichen Tagen der Sektion Asienwissenschaften am 30.-31. 1. 1979 hatte ich einen Vortrag über Klaproth, Schott und von der Gabelentz und die Anfänge der Sinologie in Berlin gehalten sowie am 30. 5. 1983 ebenfalls auf den Chinawissenschaftlichen Tagen eine Würdigung von Schotts „Chinesischer Sprachlehre“ aus Anlass des 150. Jahrestages seiner Habilitation zum Privatdozenten in Berlin (1832) vorgenommen. Diese Materialien sind noch nicht publiziert. Text der Bestallungsurkunde: Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen etc. thun kund und fügen hiermit zu wissen, daß Wir Allergnädigst geruht haben, den Professor Dr. Georg von der Gabelentz, ordentliches Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, zum ordentlichen Professor in der philosophischen Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität daselbst zu ernennen. Es ist dies in dem Vertrauen geschehen, daß derselbe Uns und Unserem Königlichen Hause in unverbrüchlicher Treue ergeben bleiben und die Pflichten des ihm übertragenen Amtes in ihrem ganzen Umfange mit stets regem Eifer erfüllen und insbesondere alle halbe Jahre ein Kollegium über einen Zweig der von ihm zu lehrenden Wissenschaften unentgeltlich lesen, sowie auch für jedes Semester mindestens eine Privatvorlesung in seinem Fache ankündigen werde, wogegen sich derselbe Unseres Allerhöchsten Schutzes bei den mit seinem gegenwärtigen Amte verbundenen Rechten zu erfreuen haben soll. Urkundlich haben Wir diese Bestallung Allerhöchstselbst vollzogen und mit Unserem Königlichen Insiegel versehen lassen. Gegeben Neues Palais den 4ten September 1889. [runder Hochdruckstempel: ] GUILELMUS D.G.REX BORUSSORUM MARCH.BRANDENB. BVRGGR.NURENB.COM.DE HOHENZOLLERN ETC + [Unterschrift: ] Wilhelm R. Bestallung für den Professor Dr. Georg von der Gabelentz, ordentliches Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, als ordentlichen Professor in der philosophischen Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität daselbst. Für den Minister der geistlichen p. Angelegenheiten. [Unterschrift: ] Herrfurth Links: Urkunde über die Bestallung von Professor Georg v. d. Ga belentz zum ordentlichen Professor in der philosophischen Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin. Den 4. September 1889 ThStA Gabelentz_s001-344AK6.indd 271 12.07.13 16: 28 <?page no="274"?> 272 - Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin, - Archiv der Universität Leipzig, - Archiv der Universität Halle-Wittenberg, - Archiv der Akademie der Wissenschaften, Berlin, - Staatliches Zentralarchiv, Dienststelle Merseburg. Dabei wurde eine größere Anzahl von Dokumenten und Briefen aufgenommen, die fast alle bisher noch unveröffentlicht sind. Immer wieder fehlte die Zeit, sie für den Druck vorzubereiten. 3 Für unser Symposium „Sinologische Traditionen im Spiegel neuer Forschungen“ wollte ich ursprünglich einige der Materialien zu Wilhelm Schott aufbereiten. Ich werde mir das jedoch besser für eine spätere Gelegenheit aufheben. Schott ist schließlich - sinologiegeschichtlich gesprochen - nur „Berli ner“, während Gabelentz sowohl den „Berlinern“ (1889-1893 an der Berliner Universität) als noch mehr auch den „Leipzigern“ (1878-1889 an der Leipziger Universität) gehört. Und wir wollen ja hier Eduard Erkes’, eines „Leipzigers“ gedenken, dessen ich mich übrigens persönlich in großer Dankbarkeit erinnere, da er mir in seinen Vorlesungen in Berlin 1952- 1954 solide Grundkenntnisse der chinesischen Geschichte vermittelt hat (die Nachschriften habe ich heute noch). Bei der Vorbereitung auf dieses Symposium bin ich da her die Materialien zu Georg von der Gabelentz noch einmal durchgegangen, und ich fand, es könnte für die sinologische Allgemeinheit, die hier versammelt ist, von Interesse sein, an Hand von Archivstücken den Prozess der Berufung von der Gabelentz’ von Leipzig (Sachsen) nach Berlin (Preußen) als ordentlicher Professor für Sprachforschung und Sinologie nachzuzeichnen. Es sind dabei einige Intimitäten zu entdecken, da viele der Äußerungen ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, und in mancherlei Hinsicht fühlt man sich ganz an aktuelle Bezüge erinnert. So sehr hat sich die Welt im professoralen Bereich in hundert Jahren nicht verändert! Die im folgenden zitierten Briefe und Dokumente stam men fast alle aus den Akten der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität sowie aus dem Akademie-Nachlass des bekannten Sprachwissenschaftlers Johannes Schmidt 3 Mechthild Leutner hat sich unabhängig von uns kürzlich ebenfalls mit der Geschichte der Sinologie in Berlin beschäftigt. Sie stützte sich für die hier interessierende Zeit vor allem auf das Archiv der Humboldt-Universität und hatte zusätzlich noch Zugang zum Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin. Vgl. Leutner, M. (1987). (1843-1901), der ab 1876 ordentlicher Professor für indogermanische Sprachen an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin war, ab 1884 auch ordentliches Mitglied der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Er hat als Gabelentz’ Fürsprecher einen großen Anteil an dessen Ernennung. 2. Material zum Vorgang der Berufung. Wilhelm Schott (1802-1889) starb nach fast 57-jähriger Tätigkeit an der Berliner Universität am 21. 1. 1889 im Alter von 86 Jahren. Er war 1832 Privatdozent und 1838 - wie er selber sagt - „ao. Prof. des Chinesischen und der Tatarischen Sprachen an der Kgl. Univ. in Berlin“ geworden. Bereits anlässlich seiner Beerdigung wurden in Berlin die ersten Gespräche über die Wiederbesetzung seiner Stelle geführt, in die Georg von der Gabelentz als wichtiger Vertreter der Sinologie und Sprachwissenschaft in Deutschland natürlich einbezogen war. Gabelentz schrieb in diesem Zusammenhang nach seiner Rückkehr nach Leipzig den folgenden Brief an J. Schmidt, der ihn zuvor noch einmal schriftlich zur Meinungsäußerung aufgefordert hatte: Brief von Georg von der Gabelentz an Johannes Schmidt in Berlin betr. Vorschläge für die Neubesetzung des Lehrgebietes Sinologie und ostasiatische Sprachen an der Berliner Universität. Quelle: Archiv der Akademie der Wissenschaften, Berlin, Nachlaß J. Schmidt, Nr. 71, Bl. 1-5. Leipzig, den 7. Februar 1889. Hochgeehrter Herr College! Die Fragen, die Ihr geschätzter Brief vom 5. d. Mts. an mich stellt, wurden schon neulich, als ich zu Schott’s Beerdigung in Berlin war, von einigen Ihrer Herren Collegen mir gegenüber berührt, und ich bin gern bereit, sie nochmals schriftlich nach bestem Wissen und Gewissen zu beantworten. Ich glaube in Ihrem und der Sache Interesse etwas weiter ausholen zu sollen, und stelle Ihnen gern anheim, von meinen Äußerungen jeden Ihnen sachdienlich scheinenden Gebrauch zu machen. Wer zu unmittelbar praktischen Zwecken Chinesisch lernen will, wird sich natürlich in Berlin zunächst an das Orientalische Seminar halten. Der Universitäts-Professor wird also zumeist solche Hörer finden, die entweder wissenschaftliche Sinologen werden, oder durch das Chinesische ihren sprachwissenschaftlichen Gesichtskreis erweitern wollen. Gabelentz_s001-344AK6.indd 272 12.07.13 16: 28 <?page no="275"?> 273 Hierauf und, was im Ergebnisse auf Eins hinauskommt, auf das Bedürfniß der Königl. Akademie der Wissenschaften durfte nun bei der Personalfrage vor Allem Rücksicht zu nehmen sein. In China giebt es eine Menge Missionare, Consulats- und Zollbeamte, die sich nebenbei mehr oder mindere Geläufigkeit im Lesen chinesischer Bücher, auch solchen der höheren Literatur, angeeignet haben und Übersetzungen, geschichtliche oder völkerkundliche Analekten, wohl auch Wörterbücher, praktische oder unpraktische Sprachführer u. dgl. liefern. Ihre Spachkenntniß steht im günstigsten Falle etwa auf dem Standpuncte der mönchischen Latinität zur Blüthezeit der Scholastik, und als Sprachlehrer werden sie vielleicht Bonnen, aber keine Professoren abgeben. Ihr Suchen und Sammeln ist der Wissenschaft höchst willkommen, meiner Meinung nach aber nicht das, was bei der Besetzung eines akademischen Lehrstuhles in erster Reihe zu berücksichtigen wäre. Soll sich die Sinologie den übrigen wissenscha ftlichen Lehrfächern ebenbürtig einreihen, so liegt ihr eine gewaltige philologisch-linguistische Arbeit ob, die auf Seiten des Professors eine entsprechende, und überdies noch, wegen der Eigenart der Sprache und Literatur, eine möglichst gründliche philosophische Schulung voraussetzt. Diesen Anforderungen gemäß kann ich unter allen mir bekannten deutschen Sinologen nur Einen empfehlen: Ihren Privatdocenten Dr. Wilhelm Grube, diesen aber auch auf ’s Allerwärmste. Grube, mir seit mehr als zehn Jahren persönlich genau bekannt, ist ein vielseitig und feingebildeter Mann von außergewöhnlichem Sprachtalent, klarem, scharfem Verstande, reichem sinologischem, linguistischem und philosophischem Wissen und hervorragender Lehr- und Darstellungsgabe, dabei ein durch und durch zuverlässiger, bescheidener und selbstloser Cha rakter, im vollsten und besten Sinne Mann der Wissenschaft. Trotz seines zeitraubenden Dienstes im Museum für Völkerkunde hat er sehr fleißig in seinen Lehrfächern weitergearbeitet. Das Wenige was er veröffentlicht hat, ist vorzüglich; er hat aber noch Vieles handschriftlich liegen, was nur der letzten Handanlegung bedarf, um druckreif zu sein, und ich erwarte zuversichtlich, daß er auf mein Zureden nunmehr mit einem Theile seiner Arbeiten vor die Welt treten werde. Ich meinestheils hoffe zu vermitteln, daß die K. Sächs. Ges. der Wissensch. eine Abhandlung von ihm: „Zur chines. Grammatik: die Sprache des Philosophen Liet-tsì“, herausgiebt. So kurz seine hiesige Docentenlaufbahn, und so jung er damals war, so wird seiner bei uns noch allgemein mit viel Wohlwollen und Anerkennung gedacht. Prof. Arendt gilt für einen der gewiegtesten Kenner der Pekinger Umgangssprache, setzt als solcher selbst Chinesen in Erstaunen und wäre am Seminar schwer zu ersetzen. Seine literarischen Leistungen sind meines Wissens von wenig Belang, und den Eindruck eines wissenschaftlichen Mannes hat er weder bei flüchtiger Bekanntschaft auf mich, noch, daß ich wüßte, auf Andere gemacht, die ihn näher kennen müssen. Mehrfach wurde ich in Berlin auf Dr. F. Hirth angeredet, an den wohl von einigen Seiten gedacht worden war. Ich kenne ihn durch persönlichen Verkehr, zumal aber aus seinen Schriften, näher als Herrn Arendt, würde aber ernstlich Bedenken tragen, ihn für die Professur zu empfehlen. In seinem Buche: China and the Roman Orient hat er einige höchst seltene chinesische Bücher der historisch-geographischen Forschung zugänglich gemacht, d. h. a bgedruckt (wenigstens auszugsweise), übersetzt und sachlich commentirt. In diesen Quellenwerken sind die fremdländischen Namen wohl oder übel in chinesischen Schriftzeichen wiedergegeben, und es wäre leicht thunlich und - selbstredend - wissenschaftlich geboten gewesen, den damaligen Lautwerth jener Schriftzeichen wenigstens annähernd festzustellen: die alten Auslaute m, k, t und p wären dann wieder zum Vorschein gekommen und hätten seine versuchten Identificationen theils bestätigt theils berichtigt. Hirth aber scheint hierauf gar nicht verfallen zu sein, und dies erweckt gegen seine kritische Befähigung ebenso erhebliche Bedenken, wie gewisse Übersetzungsfehler gegen sein grammatisches Urtheil. Über den chinesischen Curialstil, zumal den des Zolldienstes, hat er ein praktisches Handbuch, Aktenstücke mit Erläuterungen u. s. w. und ferner ein Heft: Notes on the Chinese Documentary Style, 1888, veröffentlicht, eine gramma tische Arbeit, die wohl manche für den Praktiker schätzbare Einzelbeobachtungen enthält, aber wieder auf seltsam veraltetem grammatischem Boden steht. Alle eigentlich sprachwissenschaftlichen Gesichtspuncte scheinen ihm fern zu liegen. Unter jenen Sinologen in partibus, unseren literarischen Handlangern und Sammlern, von denen ich vorhin sprach, gebührt dem fleißigen Manne eine ehrenhafte Stelle. Allein dem Gesagten nach muß ich zweifeln, ob ihn seine wissenschaftliche Begabung je zu Höherem befähigen werde. Ich glaube, daß diejenigen Ihrer Herren Collegen, die ihn persönlich kennengelernt, einen ähnlichen Eindruck gewonnen haben. Andere Persönlichkeiten, die etwa noch in Frage kommen könnten, wüßte ich Ihnen nicht zu nennen. Manche unserer Landsleute in China mögen wohl an und für sich noch eher Berücksichtigung verdienen, als Arendt und Hirth. So z. B. Gabelentz_s001-344AK6.indd 273 12.07.13 16: 28 <?page no="276"?> 274 der Missionar Dr. E. J. Eitel in Hongkong, der ein gutes lexikalisches Handbuch des chinesischen Buddhismus und ein vorzügliches kleines chinesisch-englisches Wörterbuch verfaßt hat, und den früheren Missionar Dr. Ernst Faber, einen fleißigen Forscher auf dem Gebiete der altchinesischen Philosophie. Für ihre weitergehende wissenschaftliche Befähigung kann ich aber nicht einstehen. Faber ist wohl ein scharfer Kopf, behandelt aber seine chinesischen Philosophen manchmal ganz wunderlich, mehr homiletisch als exegetisch, mit allerhand erbaulichen Nutzanwendungen auf europäische Zustände. Gute, von Hause aus vielleicht glänzende Begabung, aber mangelhafte Schulung, das ist der Eindruck, den ich von ihm gewonnen habe. Die Berechtigung und Nothwendigkeit der berufsmäßigen, akademischen Sinologie, neben und über jenen freiwilligen Arbeiten a n Ort und Stelle, beruht meines Erachtens zumal auch darin, daß die vielgeschäftige und doch einseitige Routine schlechterdings die Zucht und Aufsicht einer weitsichtigeren, streng methodischen Wissenschaft verlangt, dann aber, von einer solchen Wissenschaft befruchtet und erzogen, ganz andere, solidere Arbeit schaffen wird, als bisher. Darf ich nach meinen Beobachtungen urtheilen, so wird Beides, die Nothwendigkeit und die theilweise Überlegenheit, die tiefere Wissenschaftlichkeit der europäischen Sinologie von unseren Genossen in China freudig anerkannt. Dies, geehrter Herr College, zu beliebiger Verwendung, und somit, in aufrichtiger Hochachtung Ihr ergebenster G. v. d. Gabelentz Auf gesondertem Blatt (Blatt 5): Vertraulich! Ob Ordinariat oder Extraordinariat, dürfte in erster Reihe eine Ehrenfrage sein: Will und darf man in Deutschland auf die Dauer der Sinologie als akademischem Lehrfache geringere Anerkennung zollen, als sie in Frankreich, England, Holland, Italien und Rußland schon längst gefunden hat? Dies wurde meines Wissens schon von der hiesigen Facultät in Erwägung gezogen, als nach dem Erscheinen meiner chinesischen Gram matik, 1881, die Erhebung meiner Professur zu einer ordentlichen in Anregung kam. Wie man mir sagte, scheiterte damals die Sache nur an der principiellen Abneigung einiger älterer Herren gegen die Schöpfung neuer Ordinariate. Inwieweit für Ihre Universität die Frage von praktischer Erheblichkeit sein mag, habe ich nicht zu beurtheilen. Für mein Fach aber muß ich es dringend wünschen, daß ihm durch den Vorgang Berlins auch auf anderen größeren Hochschulen Bahn gebrochen werde. Jedenfalls möchte ich Sie im Interesse der Sache bitten, die Angelegenheit, wenn sie diesmal fehlschlagen sollte, später immer und immer wieder in Anregung zu bringen. Daß Ihr Finanzminister nicht geneigt scheine, die Mittel zu einer ordentlichen Professur zur Verfügung zu stellen, deutete mir schon Sachau an. Er schien aber zu erwarten, daß in diesem Falle die Akademie einspringen werde, um durch einen Beitrag ihrerseits die Stellung des Professors materiell zu verbessern. Sei dem wie ihm wolle, auf jeden Fall ist mir schon unserm Ministerium gegenüber sehr viel an einem Rufe nach Berlin gelegen. Minister von Gerber schätzt seine Professoren nie höher, als wenn er merkt, daß man sie ihm abwendig machen will, und wenn ich diesma l übergangen würde, so brächte mich das voraussichtlich auf alle Zeiten in eine unangenehme Lage. Denn dann weiß er, daß ich ihm nicht davonlaufe, und oekonomisirt auf seine Weise weiter. Also bitte, insoweit nehmen Sie Sich auch meiner Interessen an. Hier ist wohl eine gewisse Solidarität gerechtfertigt. Im Voraus aufrichtigste Dankbarkeit zusichernd, Ihr ergebenster G. v. d. Gabelentz Wenige Tage danach spielte dieser Brief auf einer Sitzung in Berlin eine Rolle, deren Protokoll kein Datum trägt. Mit größter Wahrscheinlichkeit muss es der 9. 2. 1889 gewesen sein, denkbar sind aber auch der nächste oder der übernächste Tag. Das Dokument hat auch keine Unterschrift (möglicherweise ist die zweite Seite verlorengegangen), die Handschrift ist jedoch ohne Zweifel die des damaligen Dekans der Philosophischen Fakultät F. E. Schulze: Protokoll einer Sitzung an der Philosophischen Fakultät der Berliner Universität betr. Wiederbesetzung der Schottschen Stelle Quelle: Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät - Dekanat - Nr. 1461, Bl. 193. Protokoll über die Sitzung der Kommission zur Beratung über die Vorschläge wegen Wiederbesetzung der außerordentlichen Professur für Chinesisch. Herr von Richthofen und Herr Weber stimmen in Folgendem überein. Herr von der Gabelentz wird als der tüchtigste Vertreter des Faches bezeichnet. Gabelentz_s001-344AK6.indd 274 12.07.13 16: 28 <?page no="277"?> 275 Grube, Hirt und Arendt kommen ferner in Frage; obwohl der letztere weniger die wissenschaftliche Seite vertreten kann. Für den Fall, daß man an die Bewilligung eines Ordinariates denken könnte, wäre an von der Gabelentz zu denken. Grube soll wissenschaftlich tüchtig sein, aber nicht viel publiziert. Hirt hat ein Werk von Bedeutung über chinesische Verhältnisse geschrieben vertritt aber nur das moderne Chinesisch als der Umgangssprache. Da von der Gabelentz nur als Ordinarius zu gewinnen sein würde, so könnte derselbe an erster Stelle vorgeschlagen werden mit der Bemerkung, daß man nicht darauf Gewicht legen würde, eine dauernde ordentliche Professur für das Chinesische zu erhalten sondern nur den vorzüglichen Gelehrten zu gewinnen. Herr Sachau rühmt Hirt als Kenner des Chinesischen, während Herr Schmidt einen Brief von Hn. von der Gabelentz vorträgt, welcher mitteilt, daß Hirt weniger Gra mmatiker sei. (Anm.: Mit Hirt ist Friedrich Hirth gemeint. - „… mitteilt, daß …“ steht als Einfügung über der Zeile.) Am 10. 2. 1889 reichte F. v. Richthofen dem Dekan den Entwurf einer Eingabe (wohl an das übergeordnete preußische Ministerium bzw. den Minister v. Goßler selbst) in dieser Angelegenheit ein. Es ist anzunehmen, dass er von der Wiederbesetzungskommission damit beauftragt worden war, auf der Grundlage des Protokolls ein solches Schriftstück anzufertigen. Der Entwurf und das entsprechende Begleitschreiben in Richthofens schwer zu lesender Schrift sind im Archiv erhalten geblieben: Begleitschreiben von F. v. Richthofen zum Entwurf einer Eingabe an das Ministerium Quelle: Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät - Dekanat - Nr. 1461, Bl. 195. Berlin d. 10. 2. 1889 An den Herrn Dekan der Philosophischen Facultät Ew. Spectabilität beehre ich mich hierbei den Entwurf für die Eingabe betreffs der Wiederbesetzung der Professur für chinesische Sprache ganz ergebenst zu übersenden. Derselbe ist von mir verfaßt und von den Herren Johannes Schmidt und Sachau vollständig genehmigt worden. In vorzüglicher Hochachtung Ew. Spectabilität ganz ergebenster F. v. Richthofen Der Entwurf selbst hat folgenden Wortlaut: Entwurf einer Eingabe der Philosophischen Fakultät an das Ministerium betr. Wiederbesetzung der Schottschen Stelle Quelle: Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät - Dekanat - Nr. 1461, Bl. 196-199. J. N. 106 ------------------------------------------------------------------ (Entwurf) Eurer Excellenz beehrt sich die ganz gehorsamst unterzeichnete Facultät, aus Anlaß der durch den Tod des außerordentlichen Professors Dr. Wilhelm Schott erfolgten Erledigung des Lehrstuhls für ostasiatische Sprachen an unserer Universität, Vorschläge für die Wiederbesetzung desselben ehrerbietigst zu unterbreiten. Die Zahl derjenigen, welche sich mit den Sprachgebieten Ost-Asiens, insbesondere des Chinesischen, wissenschaftlich beschäftigen, ist gering. Unter ihnen ragt an erster Stelle Dr. Georg von der Gabelentz hervor, welcher jetzt die Stellung eines ordentlichen Honorarprofessors a n der Universität Leipzig bekleidet. Obgleich derselbe in frühem Lebensalter die Bahnen seines durch rastlose, umfassende und verdienstvolle Arbeit auf sprachwissenschaftlichem Gebiet bekannten Vaters betrat, widmete er sich doch auf dessen Wunsch der juristischen Laufbahn und war als Assessor in Strassburg und Dresden angestellt. Schon damals machte er sich durch mehrere linguistische Arbeiten bekannt, welche in der Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft und anderen Zeitschriften abgedruckt wurden. Erst als für ihn im Jahre 1878 eine besoldete außerordentliche Professur für chinesische Sprache an der Universität Leipzig eingerichtet wurde, konnte er sich, mit Aufopferung einer äußerlich besseren Lebensstellung, ganz seiner Lieblingswissenschaft widmen. Er entfaltete hier eine vorzügliche lehrende und schriftstellerische Thätigkeit. Seine Vorlesungen umfassten die chinesische, die japanische, die mandschurische und die ma layische Sprache, ferner die chinesische Litteratur, im Besonderen die Erklärung der Schriften des Confucius und anderer Philosophen, und Abschnitte der vergleichenden Sprachwissenschaft; auch hat er fortdauernd Uebungen für seine vorgeschrittenen Schüler abgehalten. Seine eigene reine und selbstlose Begeisterung übertrug sich auf diese, und er erfreute sich, trotz des fernliegenden Charakters der von ihm vertretenen Lehrgegenstände, eines bis über 20 Zuhörer sich steigernden Collegienbesuches. Gabelentz_s001-344AK6.indd 275 12.07.13 16: 28 <?page no="278"?> 276 Einen erheblichen Umfang gewann bald die schriftstellerische Thätigkeit von von der Gabelentz. Abgesehen von zahlreichen kleineren Abhandlungen, welche außer dem Chinesischen auch die Sprachgebiete der Melanesier, Mikronesier und Papua-Völker umfaßten, vollendete er sein Hauptwerk: „Chinesische Grammatik mit Ausschluß des niederen Stils und der heutigen Umgangssprache“ (Leipzig 1881, 582 Seiten), welches ihn sofort an die Spitze der Sinologen der heutigen Zeit stellte. Die Grammatik der chinesischen Sprache ist hier auf neuer und durchaus eigenartiger, den genetischen Gesichtspunkt in erster Linie berücksichtigender Grundlage behandelt und, wie keiner der analogen Versuche in deutscher und anderen Sprachen, nach rein wissenschaftlichen Principien aufgebaut. Es folgte 1883 ein kleineres, mehr dem praktischen Bedürfniß Rechnung tragendes Werk „Anfangsgründe der chinesischen Grammatik“ und 1888 eine umfassende Abhandlung „Beiträge zur chinesischen Grammatik“. Dr. von der Gabelentz nimmt nicht nur in Beziehung auf sein engeres Gebiet, in welchem er nur Wenige neben sich hat, sondern auch als wissenschaftlicher Sprachforscher überhaupt eine hervorragende Stellung ein. Sein Name würde unserer Universität zur Zierde gereichen, und das Studium der ostasiatischen Sprachen an derselben würde ohne Zweifel durch ihn auf einen hohen Standpunkt gelangen. Der Zweite, welchen Sie uns zu nennen gestatten, ist Dr. Wilhelm Grube, der erfolgreichste unter den Schülern von von der Gabelentz. Derselbe habilitierte sich 1881 in Leipzig, folgte 1882 einem Ruf nach St Petersburg als Bibliothekar am Ostasiatischen Museum, trat 1883 eine Stellung am hiesigen Museum für Völkerkunde an, welche er noch inneha t, und habilitierte sich 1884 an unserer Universität. Seine Vorlesungen umfassen die chinesische, die mandschurische, die mongolische und die tibetische Sprache. War auch die Zahl seiner Zuhörer stets gering, so hat er doch fast in jedem Semester wenigstens eine Vorlesung halten können. Später minderte sie sich, da er neben der Ausarbeitung seiner Vorlesungen durch seine Stellungen, insbesondere am Museum für Völkerkunde, in außerordentlichem Maß in Anspruch genommen war. Seine Arbeiten zeugen von ernstem wissenschaftlichem Sinn und guter grammatikalischer Vorbildung. Die strengen Anforderungen, welche er selbst an dieselben stellt, haben ihn abgehalten, verschiedene im Manuskript vorbereitete Arbeiten während der Zeit anderweitiger Ueberbürdung der Oeffentlichkeit zu übergeben. Es verdient hervorgehoben zu werden, daß er es bei der Anordnung der ihm a nvertrauten Abtheilung des Museums für Völkerkunde verstanden hat, soweit die Last der Aufgaben es gestattete, das praktische Bedürfniß wissenschaftlichen Principien unterzuordnen. Eventuell würde in diesem Zusammenhang auch noch Dr. F. Hirth zu nennen sein, welcher nach seiner in Rostock vollzogenen Promotion 18 Jahre im chinesischen Zolldienst thätig gewesen ist und einen Theil seiner Zeit auf wissenschaftliche Arbeiten verwendet hat. Von dem praktischen Gebrauch der chinesischen Sprache und ihrer Schriftzeichen ausgehend hat er sich mit gutem Erfolg in die chinesische Litteratur über alte Handelsverbindungen und über Industrieproducte früherer Zeit vertieft und einige rühmliche Werke verfaßt, unter denen das größere Buch „China and the Roman Orient“ (Shanghai 1885, 330 Seiten) und eine Abhandlung über die Geschichte des Porzellans (1887, 74 Seiten) besonders zu nennen sind. So viel Anerkennung der darin sich bekundenden Strebsa mkeit gebührt, ist doch die Facultät der Ansicht, daß Dr. Hirth’s Verdienste mehr auf der praktischen Seite liegen und daß seine ausgezeichnete und anregende Kraft nach dieser Richtung eine nützliche Verwendung finden könnte. Er hat seine Kenntniß der heutigen chinesischen Sprache mit Geschick verwerthet, aber seine Studien und Arbeiten liegen dem sprachwissenschaftlichen Gebiet fern. Es mangelt ihm hierzu die Bekanntschaft mit den anderen ostasiatischen Sprachen, welche allein zu tieferem Einblick und vergleichender Betrachtung zu führen vermag. Auch hat er nicht, wie Dr. Grube, sich als Lehrer zu üben und zu bemühen Gelegenheit gehabt. Auf Grund dieser Auseinandersetzungen glaubt die Facultät, daß durch die Berufung des Dr. von der Gabelentz dem Bedürfniß der Universität weita us am vollkommensten Rechnung getragen werden würde; auch erachtet sie es für gebührend, daß in dem Augenblick, in welchem sich die Vacanz darbietet, einem Sinologen von so hoher Stellung die Wirksamkeit an der ersten Hochschule des Reiches, soweit die Umstände es gestatten, ermöglicht werde. Sie darf sich jedoch der Einsicht nicht verschließen, daß dieser Gelehrte, welcher jetzt im 49sten Lebensjahr steht und bereits eine über ein Extraordinariat hinaus gehende Stellung bekleidet, nur als Ordinarius berufen werden könnte. So wenig wir auch der Ansicht sind, daß gegenwärtig das Bedürfniß für die Begründung eines besonderen Ordinariats für die ostasiatischen Sprachgebiete vorliegt, glauben wir es doch Eurer Excellenz ganz gehorsamst anheimstellen zu sollen, dem Dr. von der Gabelentz persönlich, unter Berufung zu dem Lehrstuhl für ostasia tische Sprachen, die Stellung eines Ordinarius in unserer Facultät anzubieten, ohne Präjudiz betreffs der Aufrechterhaltung einer solchen Stellung für spätere Fälle. Gabelentz_s001-344AK6.indd 276 12.07.13 16: 28 <?page no="279"?> 277 Sollten Eure Excellenz zu diesem Schritt nicht geneigt sein, oder sollten sich der Berufung des Dr. von der Gabelentz anderweitige Schwierigkeiten entgegenstellen, so würde die Facultät Hochdieselben ganz gehorsamst bitten, den Privatdocent Dr. Grube zum Extraordinarius zu ernennen. Würde er auch gegenwärtig noch nicht im Stande sein, seinen Lehrer zu ersetzen, so berechtigt doch der Umfang seiner sprachlichen Kenntnisse, ebenso seine wissenschaftliche Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit zu dem Vertrauen, daß er fähig sein würde, die ihm als einzigem Vertreter eines großen Sprachkreises entwachsenden Aufgaben zu erfüllen. Berlin [Weber Schrader] d. 14. Feb. [F. E. Schulze] 1889 [F. v. Richthofen] Dekan und Professoren der philosophischen Fakultät. (Anm.: Am Ende des 4. Absatzes steht „... ohne Zweifel …“ mit einem Einfügungszeichen zwischen den Zeilen. - Gegen Ende des 6. Absatzes standen ursprünglich vor „... Seite liegen ...“ die Worte „als auf der wissenschaftlichen“, die gestrichen sind. - Am Schluss die eigenhändigen Unterschriften der vier Professoren, daneben und darunter das Datum und der Z usatz in der Handschrift des Dekans F. E. Schulze. Die Klammern um die Unterschriften bedeuten sicher, dass nach Ansicht des Dekans nicht diese Namen, sondern sein Zusatz unter dem Schreiben stehen sollte.) 4 4 Eine Nebenbemerkung sei hier gestattet. Herr Prof. Dr. Wilhelm Matzat, Geograph in Bonn, der in Qingdao aufgewachsen ist und daher auch für die Sinologie ein Interesse hat, machte mich freundlicherweise darauf aufmerksam, dass es offenbar Spannungen zwischen Richthofen und Hirth gegeben haben muss. Richthofen galt nach seinen geographischen Untersuchungen in China in „Deutschland als die höchste Instanz ... in allem, was China betraf “ (vgl. Rudolph, J. 1988: 37). Und er wollte sich diesen Ruf wohl nicht streitig machen lassen. Aber er konnte nicht Chinesisch, und die Gewichte in Berlin wären verschoben worden, wenn man Hirth, der sich zu dieser Zeit gerade länger im Urlaub in Berlin aufhielt (vgl. Hirth, F. 1920: 14-17), die Professur übertragen hätte. Hirth schreibt in seiner in der 3. Person verfassten bissig-sarkastischen Selbstbiographie über diesen Zeitabschnitt (1888-1890): „Die Berliner Geographische Gesellschaft blühte unter dem Vorsitz von Richthofens, und am Orientalischen Seminar lehrte damals noch Prof. Carl Arendt, ... Wilhelm Schott lebte nur noch kurze Zeit. Als Ersatz für ihn trat Georg von der Gabelentz als Professor des Chinesischen an der Berliner Universität ein. Verhandlungen mit dem preußischen Bei der Akademie nahm man sich etwas mehr Zeit, um über die neue Besetzung der durch Schotts Tod vakanten Stelle eines ordentlichen Mitglieds der Philosophisch-historischen Klasse nachzudenken. Ende April 1889 wurde zunächst im engeren Kreis darüber beraten (Archiv der AdW, Sign. II-III, 29, Bl. 71, vom 25. 4. 1889), und am 2. 5. 1889 forderte daraufhin der eine der beiden Sekretäre der Klasse, Theodor Mommsen, alle Mitglieder auf, Vorschläge zu unterbreiten (Archiv der AdW, Sign. II-III, 29, BI. 72). Johannes Schmidt muss über diese Interna genau Bescheid gewusst haben, denn er war selbst an ihnen beteiligt. Sicher war es ein Hinweis von seiner Seite, der Gabelentz dazu veranlasste, in aller Hast am 29. 4. 1889 ein Verzeichnis seiner Schriften zusammenzustellen und ihm zuzusenden: Brief von Georg von der Gabelentz an Johannes Schmidt in Berlin betr. Schriftenverzeichnis Quelle: Archiv der Akademie der Wissenschaften, Berlin, Nachlaß J. Schmidt, Nr. 71, Bl. 6 u. 13-14. Leipzig, a. d. 1. Bürgerschule 4, d. 29. April 1889. Hochgeehrter Herr College! Anbei, so gut ich es in der Eile liefern konnte, das gewünschte Verzeichniß. Daß ich die Besprechungen im Liter. Ctralblatt nicht mit aufgenommen habe, werden Sie billigen. Kultusministerium, von welcher Seite ihm (Hirth - K. K.) die Professur am Orientalischen Seminar an Stelle von Arendt und das Direktorat eines noch abzutretenden Ostasiatischen Museums für Völkerkunde an Stelle von Wilhelm Grube angeboten wurde, auf dessen Berufung nach Leipzig man gerechnet hatte, zerschlugen sich, weil Hirth auf einer ordentlichen Professur für Chinesisch an der Berliner Universität bestand.“ (Hirth, F. 1920: 17) Später ergab sich noch einmal eine ähnliche Lage: „Seine (Hirths - K. K.) aus chinesischen Literaturdenkmälern geschöpften Ansichten über die Geschichte des neuerworbenen Gebietes (Jiaozhou - K. K.) brachte (sic! ) ihn in Konflikt mit dem Freiherrn v. Richthofen, der in verschiedenen die Fragen des Tages berührenden Publikationen gänzlich unhaltbare Behauptungen über jenen Teil des nördlichen China aufgestellt hatte.“ Hirth konnte, wie er schreibt, nicht umhin, in der Öffentlichkeit „seiner Ansicht über die angeblichen chinesischen Sprach- und Literaturkenntnisse des großen Geographen“ Ausdruck zu geben. Wohl wissend, dass er sich dadurch viele Feinde unter den Anhängern v. Richthofens machen musste, trug er geduldig die Folgen, die darin bestanden, dass er seine Kandidatur für eine ordentliche Professur in Berlin aufgeben würde, die in der Folge durch die Berufung de Groots besetzt wurde (1912 Gründung des Sinologischen Seminars - K. K.).“ (vgl. Hirth, F. 1920: 27, vgl. a. Rudolph, J. 1988: 381). Gabelentz_s001-344AK6.indd 277 12.07.13 16: 28 <?page no="280"?> 278 Ich bin neugierig, welchen Verlauf nun die Sache weiter nehmen wird. Sie Alle scheinen mir so wohl zu wollen, nur, wenn ich recht unterrichtet bin, Ihr Finanzminister nicht! Nun scheint er ja auch nachgeben zu wollen. Jedenfalls tausend Dank für die mir bezeigte Gesinnung, die ich von Herzen erwidere, und in der ich bin Ihr ergebenster G. v. d. Gabelentz. Auf gesonderten Blättern (Bl. 13-14): Bücher und Aufsätze von Georg von der Gabelentz EG = Ersch und Gruber’s Encyklopädie LSt = Lazarus und Steinthal’s Ztschr. f. Völkerpsychologie und Sprachwiss. TZ = Techmer’s Internat. Ztschr. f. Sprachwiss. I. Bücher. 1., Thai-kih-thu, des Čeu-tsï Tafel des Urprinzips übers. u. erklärt. Dresden u. Leipzig 1876. 2., Chinesische Grammatik, mit Ausschluß des niederen Stiles u. s. w. Leipzig 1881. 3., Anfangsgründe der chinesischen Grammatik. Leipzig 1883. 4., (mit A. B. Meyer: ) Beiträge zur Kenntniß der melanesischen, mikronesischen und papua nischen Sprachen (Abhandl. d. K. S. Ges. d. Wiss.) 1883. 5., Confucius und seine Lehre. Leipzig 1888. 6., Die Sprache des Čuang-tsi (Abh. K. S. Ges. d. Wiss.) 1888. II. Aufsätze. A., Allgemeine Sprachwissenschaft. 1., Sprachwissenschaftliches. Globus 1874. 2., Zur vergleichenden Syntax. Wort- und Satzstellung. (LSt 1869) 3., Weiteres zur vergleichenden Syntax (LSt 1874). 4., über Fr. Müller’s Grundriß pp. Das. Bd. IX, H. 4. 5., Die ostasiatischen Studien und die Sprachwissenschaft. „Unsre Zeit“ 1878 od. 1879. 6., Das lautsymbolische Gefühl. (Böhtlingk’s Festschrift). 7., Zur Lehre von der Transscription. TZ. II, 2. B., Chinesische Sprache und Literatur. 1., Stand und Aufgaben der chinesischen Lexikographie. ZDMG. XXX, 587 flg. 2., Ein Probestück von chinesischem Parallelismus. LSt X, 2. 3., Beitrag zur Geschichte der chinesischen Grammatiken und zur Lehre von der grammatischen Behandlung der chinesischen Sprache. ZDMG. XXXII, S. 601-664. 4., Über Sprache und Schrift der Chinesen. „Unsre Zeit“ 1880-1889. 5., Zur grammatischen Beurtheilung des Chinesischen. TZ I, 2. 6., Zur chinesischen Sprache und zur allgemeinen Grammatik. TZ III, 1. 7., Das taoistische Werk Wên-tsï. (Ber. d. K. S. Ges. d. Wiss. 1887). 8., Der chinesische Philosoph Mek Tik. (Das. 1888). 9., K’ung-fu-tsi. EG. 10., Lao-tsï. EG. 11., On a new Chinese Grammar. Verh. des Berliner Orientalisten-Congresses. 12., Some Additions to my Chinese Grammar. (J. China Branch RAS. XX). C., Sprachvergleichung. 1., Spuren eines ausgebildeteren Conjugationssystems im Dayak. ZDMG 1859. 2., The Languages of Melanesia. J. R. As. Soc. XVIII, 4. 3., Sur la possibilité de prouver une affinité corporelle entre les langues dites indo-chinoises. (Atti del IV. Congr. internat. d. Orient.). D., Einzelspra chliches. Artikel in EG. über Kabylisch, Kaffrisch, Kamilaroi, Kanaresisch, Karen, Kassia, Kirânti, Kolarische Sprachen, Koreanisch, Kri, Ketschua, Kunama, Kanuri, Kiriri. E., Biographisches. 1., Über Hans Conon von der Gabelentz als Sprachforscher. (Ber. D. K. S. Ges. d. Wiss. 1887 od. 1888.) 2., August Friedrich Pott (Allgem. D. Biographie). Gabelentz_s001-344End2.indd 278 17.07.13 16: 19 <?page no="281"?> 279 Eine verkürzte Abschrift der Publikationsliste für Prof. Dr. J. Schmidt, in der nur die Titel der Arbeiten und bei einigen das Publikationsjahr aufgeführt sind, findet sich auch im Akademie-Archiv unter der Signatur-Nummer II-lII, 29, Bl. 74. Vergleicht man Gabelentz’ eigene Angaben mit der von uns seinerzeit zusammengestellten Personalbibliographie ([2] Kaden; Taube, 1972), so stellt man zahlreiche Fehler in der Liste fest, die sichtbar darauf zurückzuführen sind, dass Gabelentz keine Zeit blieb, die Daten zu überprüfen. Die Titel stimmen oft nicht genau, und unter II. fehlt fast überall das Erscheinungsjahr bzw. wo es genannt ist, ist es teilweise falsch. War es ebenfalls J. Schmidt, der für die Akademie eine Abschrift des für die Einschätzung von Gabelentz wesentlichen ersten Teils des im Rahmen der Universität angefertigten Richthofenschen Gutachtens besorgte? Dieses Dokument hat im AdW-Archiv die Signatur II-III, 29, Bl. 75 (Abschrift ab Beginn des 2. Absatzes „Die Zahl …“ bis zu der Formulierung „... eine hervorragende Stellung ein.“ im 4. Absatz). 5 Jedenfalls war damit genügend Material zusammengetragen, so dass Schmidt (höchstwahrscheinlich ist er der Autor, obwohl das noch nicht mit völliger Sicherheit eruiert werden konnte, aber wer von den Unterzeichneten sollte sonst in Frage kommen? ) am 16. 5. 1889 ein Schreiben abfassen konnte (Archiv der AdW, Sign. II-lII, 29, Bl. 73), in dem Gabelentz als Akademie-Nachfolger von Schott empfohlen wird: Seit dem Tode des Herrn Schott sind die Sprachen, welche weder zum indogermanischen noch zum semitischen Stamme gehören in unserer Akademie so gut wie unvertreten. Die Wichtigkeit dieses Zweiges gelehrter Forschung in einer Zeit, welche durch Knüpfung neuer Beziehungen zwischen Deutschland und den Ländern aller Erdtheile fort und fort neues Sprach-Material herbeischafft und das wissenscha ftli- 5 Einige Stellen in der Abschrift entsprechen nicht dem Original (wegen schwerer Lesbarkeit? ), so „... im früheren Lebensalter ...“ statt „... in frühem Lebensalter ...“ (oder „... im frühen Lebensalter ...“? ), „fortwährend“ statt „fortdauernd“, „Einen wesentlichen Umfang ...“ statt „Einen erheblichen Umfang ...“, „... von Melanesien, Mikronesien ...“ statt „... der Melanesier, Mikronesier ...“, „wenige“ statt „Wenige“, aber auch Verkürzungen: „vdGabelentz“ statt „von der Gabelentz“ und „Dr. v. d. G.“ statt „Dr. von der Gabelentz“, aber keine sinnentstellenden Fehler; in Richter, E. u. a. 1979: 9 wird „Collegiumbesuches“ statt „Collegienbesuches“ gelesen, jedoch ist diese Stelle relativ eindeutig und wird auch von der Abschrift klar gestützt. che Interesse durch praktischen Nutzen in weiteren Kreisen belebt, braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden. Deutschland besitzt auch einen Gelehrten, welcher sich auf diesen Gebieten einen hoch geachteten Namen gemacht hat, Hrn. Georg v. d. Gabelentz in Leipzig, welchen die hiesige philosophische Facultät als Professor für das Fach der ostasiatischen Sprachen dem hohen Ministerium vorgeschlagen hat. Seine Vorlesungen an der Leipziger Universität erstrecken sich über die chinesische, japanische, mandschurische, malayische Sprache, einzelne Theile der allgemeinen vergleichenden Grammatik und über chinesische Literatur, besonders Erklärung der Schriften des Confucius und anderer Philosophen. Auf allen diesen Gebieten hat er sich auch literarisch in grosser Fruchtbarkeit bewährt. Es werden dann fast alle seine Schriften aufgezählt, und weiter heißt es: In Deutschland lebt niema nd, der Sinologie und allgemeine Sprachwissenschaft mit gleicher Gründlichkeit und in ähnlichem Umfange behandelt hätte wie Herr v. d. Gabelentz. Daher beantragen die Unterzeichneten: 1. Gabelentz als ordentliches Mitglied wählen zu lassen, 2. ihm ein jährliches Gehalt von 7000 Mark zu gewähren. Unterschriften: Johannes Schmidt, Dillmann, Tobler, Weber, Sachau, Schrader. Mit der Akademie ging es dann so weiter: - Am 27. 6. 1889 vermerkt das Sitzungsprotokoll der Phil.hist. Klasse unter Punkt 11, dass Gabelentz einstimmig von allen anwesenden Klassenmitgliedern gewählt wurde (AdW Sign. II-III, 29, Bl. 76). - In einem Schreiben vom 26. 7. 1889 wird dem Staatsminister Dr. von Goßler mitgeteilt, dass Gabelentz auf der Gesamtsitzung der Akademie am 25. 7. zum ordentlichen Mitglied gewählt wurde. Es wird ersucht, die Bestätigung des Kaisers und Königs zu erwirken (AdW Sign. II-III, 29, Bl. 77). - In einem Brief der Akademie vom 30.7.1889 an von Goßler wird der Bitte Ausdruck gegeben, Gabelentz 7000 Mark neben seinem Professorengehalt von 900 Mark zu zahlen (AdW Sign. II-III, 29, Bl. 78). - Am 26. 8. 1889 wird vom Ministerium mitgeteilt, dass Seine Majestät am 16.8.1889 die Wahl Gabelentz’ bestätigt hat: Brief des preußischen Kultusministeriums an die Königliche Akademie der Wissenschaften, Berlin, betr. Bestätigung der Wahl von der Gabelentz’ zum Akademiemitglied Quelle: Archiv der Akademie der Wissenschaften, Berlin, Sign. II-III, 29, Bl. 79. Gabelentz_s001-344AK6.indd 279 12.07.13 16: 28 <?page no="282"?> 280 Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal- Angelegenheiten. ------------------------------------------------------------------ Berlin, den 26. August 1889 UIN O 13034 I Auf den gefälligen Bericht vom 30. Juli d. Js. benachrichtige ich die Königliche Akademie der Wissenschaften, daß seine Majestät der Kaiser und König durch Allerhöchsten Erlaß vom 16. August d. Js. die Wahl des ordentlichen Honorar-Professors Dr. Georg von der Gabelentz zu Leipzig zum ordentlichen Mitgliede der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu bestätigen und zugleich zu genehmigen geruht haben, daß demselben aus dem Fonds der Akademie der Wissenschaften ein außerordentliches Gehalt von jährlich siebentausend Mark beigelegt werde. Wegen der an die Generalkasse meines Ministeriums zu erlassenden Zahlungsanweisung ersuche ich die Königliche Akademie der Wissenschaften, mir von der erfolgten Uebersiedelung des p. Dr. von der Gabelentz nach Berlin seinerzeit Mittheilung zu ma chen. In Vertretung Nasse An die Königliche Akademie der Wissenschaften hier. In einem Briefwechsel (AdW Sign. II-III, 29, Bl. 81-83, 85-86) wird deutlich, dass Gabelentz in der ersten Novemberhälfte dann um die Auszahlung seines Gehaltes bangte. Offenbar hatte er angenommen, dass er dieses schon bald mit Wirkung vom 16. 8. in Empfang nehmen könnte. Aber ebenso offenbar war die Andeutung in dem ministeriellen Brief, dass es erst nach der Übersiedlung nach Berlin gezahlt werden würde, und er hatte möglicherweise verabsäumt, seinen Umzug offiziell zu melden. Auf der Rückseite des eben zitierten Briefes steht der Vermerk, dass Gabelentz erst im Oktober nach Berlin übergesiedelt ist; wie aus Bl. 81 hervorgeht, erfolgte der Umzug am 9. 10. 1889. So wurden ihm lt. Anweisung des Ministeriums vom 16. 11. 1889 (AdW Sign. II-III, 29, Bl. 85, Abschrift) die vereinbarten 900 M + 7000 M rückwirkend erst ab 1. 10. 1889 gezahlt. Inzwischen liefen auch die Dinge an der Universität weiter für ihn günstig. Am 18. 5. 1889 fand wohl die entscheidende Unterredung von der Gabelentz’ mit dem Geheimen Oberregierungsrat Dr. Althoff vom Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten statt. Den sich unmittelbar daraus ergebenden Briefaustausch der nächsten Tage konnte ich nicht finden. In Schmidts Nachlass gibt es dann erst wieder einen Gabelentzschen Brief vom 29. 5. 1889: Brief von Georg von der Gabelentz an Johannes Schmidt in Berlin betr. Berufung als ordentlicher Professor nach Berlin Quelle: Archiv der Akademie der Wissenschaften, Berlin, Nachlaß J. Schmidt, Nr. 71, Bl. 7-8. Leipzig, den 29. Mai 1889, Abends. Hochgeehrter Herr College! Auf Ihre gütige Anregung hat mir Herr Geh.Rath Althoff durch Briefe vom 19/ 20 d. Mts. nun auch die ordentliche Professur angetragen. Zuvor hatte er mir gesagt, daß dem zur Zeit noch finanzielle Bedenken entgegenstünden, und demgemäß hatte er bei seiner Unterredung mit mir das Concept der von mir event. einzusendenden bindenden Erklärung entworfen. Das novum, das mir in jeder Hinsicht hochwillkommen ist, schien mir einige Abänderungen in diesem Entwurfe nöthig zu machen, die ich a lsbald in meiner Antwort in Vorschlag brachte. Eine Entschließung hierauf ist mir noch nicht zugegangen. Vorgestern habe ich daher nochmals an Geh.Rath Althoff geschrieben, bin aber noch immer ohne Antwort und fürchte fast, daß er krank oder verreist ist. Bei meinem Ministerium habe ich inzwischen meine Verabschiedung vorbereitet und bin mithin jederzeit in der Lage, mich zur Annahme des mir angetragenen Rufes in der von Althoff gewünschten Weise verbindlich zu erklären, und möchte wenigstens Sie, verehrter Herr College, hierüber nicht im Zweifel lassen, a m Wenigsten mich bei Ihnen dem Scheine einer Lässigkeit aussetzen, die Ihnen gegenüber geradezu Undankbarkeit sein würde. Die bindende Erklärung an das Ministerium werde ich natürlich unverzüglich einsenden, sobald mir von dort aus eine Entschließung zugegangen ist. So schwer mir anfangs der Abschied von Leipzig wurde, so freudig sehe ich nunmehr meinem Eintritte in den neuen, größeren Berufs- und Collegenkreis entgegen. Man ist mir in Berlin von allen Seiten mit so viel Vertrauen und Freundlichkeit entgegengekommen, daß ich das Gefühl des Fremden schnell überwinden werde, und auch für meine wissenschaftlichen Bestrebungen erwarte ich von den Schätzen der Reichshauptstadt und dem Verkehre mit Berufsverwandten vielseitige Anregung. Wie innig ich mich darauf freue, Ihnen näher zu treten, brauche ich Ihnen kaum erst zu sagen. Gabelentz_s001-344AK6.indd 280 12.07.13 16: 28 <?page no="283"?> 281 Mit der Versicherung vorzüglichster Hochachtung und der Bitte, mich auch Ihrer Frau Gemahlin angelegentlichst empfehlen zu wollen, bin ich Ihr ergebenster G. v. d. Gabelentz. Von Interesse ist dann ein formloses Handschreiben (kein Kopfbogen! ) Althoffs an Schmidt, dem eine Teilabschrift der abgeforderten offiziellen Erklärung Gabelentz’ vom 30. 5. 1889 beigegeben ist: Brief des Geh. Oberregierungsrats Dr. Althoff (preußisches Ministerium) an Johannes Schmidt nebst Teilabschrift eines Schreibens von der Gabelentz’ an Althoff betr. Berufung von der Gabelentz’ nach Berlin und damit verbundene Gehaltsfragen Quelle: Archiv der Akademie der Wissenschaften, Berlin, Nachlaß J. Schmidt, Nr. 71, Bl. 9-10. Berlin, 11. Juni 1889. Hochgeehrter Herr Professor! Beifolgend beehre ich mich Ihnen auszugsweise Abschrift einer Erklärung des Hrn von der Gabelentz vom 30. v. M. ganz ergebenst mitzutheilen. Die übrigen von ihm in der Erklärung gestellten Bedingungen sind in der Abschrift weggelassen, weil es sich dabei nicht um die Akademie, sondern um Zusa gen des Ministeriums handelt. Hiernach ist die von Ihnen mit Recht verlangte Sicherheit der Annahme der akademischen Berufung erreicht. Für Ihre freundlichen Bemühungen in dieser Angelegenheit sage ich Ihnen verbindlichen Dank. In vorzüglicher Hochachtung Ihr ganz ergebenster Althoff. Auf gesondertem Blatt (Blatt 10): Abschrift. Leipzig, den 30. Mai 1889. Euer Hochwohlgeboren beehre ich mich, unter Bezugnahme auf die von uns am 18. d. Mts. gepflogene Unterredung und auf Ihren sehr geschätzten Brief vom 19. d. Mts. ganz ergebenst anzuzeigen, daß ich mich hiermit bestimmt und endgültig verpflichte, einem Rufe nach Berlin zum Herbste dieses Jahres, bei gleichzeitiger dauernder Uebersiedlung nach Berlin, unter folgenden Bedingungen Folge zu leisten: 1. Betrag des akademischen Extragehaltes 7000 M. - siebentausend Mark -, neben der gewöhnlichen akademischen Besoldung von 900 M. - neunhundert Mark. pp. gez. Dr. G. v. d. Gabelentz Prof. ord. hon. an d. Universität. An Herrn Geheimen Ober-Regierungsrath Dr. Althoff, Hochwohlgeboren in Berlin. Am 4. 9. 1889 erfolgte dann die offizielle Ernennung Georg von der Gabelentz’ zum ordentlichen Professor an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. In fast gleichlautenden Schreiben des Ministeriums wird das den zuständigen Stellen der Universität mitgeteilt: Brief des preußischen Kultusministeriums an Rektor und Senat der Berliner Universität betr. Ernennung von Gabelentz zum ordentlichen Professor Quelle: Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin. Universitäts-Registratur - Universitätskurator - G2, Bl. 1. I. No. 889 Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten ------------------------------------------------------------------ Berlin, den 20. September 1889 UI. N o 7867 Den Herrn Rektor und den Senat benachrichtige ich, daß Seine Majestät der Kaiser und König mittelst Allerhöchster Bestallung vom 4. September d. Js. Allergnädigst geruht haben, den Professor Dr. Georg von der Gabelentz zu Leipzig, ordentliches Mitglied der Königlichen Aka demie der Wissenschaften hierselbst, zum ordentlichen Professor in der philosophischen Fakultät der hiesigen Friedrich-Wilhelms- Universität zu ernennen. Der Lehrauftrag des Professors von der Gabelentz, welcher angewiesen ist, sein neues Amt zum Beginn des nächsten Semesters zu übernehmen, ist dahin bestimmt worden, daß sich der Genannte an der Vertretung der allgemeinen Sprachwissenschaft zu betheiligen, die chinesische Sprache und Literatur zu vertreten, sowie Vorlesungen über Mandschu, Altjapanisch, Malayisch, Samoanisch und verwandte Sprachen zu halten hat. Zugleich ist vereinbart worden, daß die Mitglieder des Seminars für Orientalische Sprachen an der hiesigen Universität an den Vorlesungen des Professors von der Gabelentz unentgeltlich theilnehmen dürfen. An den Herrn Rektor und den Senat der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität Gabelentz_s001-344AK6.indd 281 12.07.13 16: 28 <?page no="284"?> 282 hier In Vertretung Nasse (Anm.: Handschriftliche Zusätze und Vermerke wurden weggelassen. Die anderen beiden Fassungen sind gerichtet an „Das Königliche Universitäts-Kuratorium“ und an die Philosophische Fakultät, zu finden jeweils unter Universitätskurator - Nr. 324, Bl. 16, bzw. Philosophische Fakultät - Dekanat - Nr. 1461, Bl. 210.) Mehr der Vollständigkeit halber seien noch die restlichen drei Blätter aus der Personalakte Gabelentz wiedergegeben: Quelle: a. a. O., Bl. 2. Königl. Friedrich-Wilhelms-Univers. No. 889 Berlin, den 17. Oktober 1889 1) An den Königl. ordentlichen Professor an der hiesig. Universität, Herrn Dr. von der Gabelentz Hochwohlgeboren Indem ich Ew. pp. in Folge Ihrer Ernennung zum ordentlichen Professor in der hiesigen philosophischen Fakultät anliegend je 1 Exempl. der Universitäts-Statuten, der Statuten der philosoph. Fakultät, der Statuten der Professoren-Wittwen-Versorgungs-Anstalt sowie der sonstigen Reglements pp. übersende, ersuche ich Sie Sich behufs Ihrer eidlichen Verpflichtung am Dienstag den 22/ 10 Vorm. 11 Uhr im kleinen Senatszimmer einfinden zu wollen. Zugleich theile ich Ew. pp. ergebenst mit, da ß eine A. K. O. vom Jahre 1831 einem jeden neu ernannten oder hierher berufenen Professor die Verpflichtung auferlegt, einen Beitrag von 15 M für die hiesige Universitäts-Bibliothek zu erlegen und stelle Ihnen demgemäß anheim, diesen Betrag an die hiesige Universitätskasse abzuführen. der Rektor H. 17/ 10.89 2) Nach dem Abgange der Universitätskasse, auch d. Kasse der Professoren-Wittwen-Versorg. Anstalt zur Kenntnißnahme vorzulegen. Notiert Hke. gef. Kenntniß genommen (? ) 21/ 10.89 Quelle: a. a. O., Bl. 3. (Anm.: Von Gabelentz ausgefüllter Personalbogen, wiedergegeben wird nur das Ausgefüllte.) Hans Georg Conon von der Gabelentz 16. März 1840 Poschwitz. Gymnasium zu Altenburg, S. ev. luth. Tha i-kih-thu, des Čeu-tsï Tafel des Urprinzips. ... 1876 ----- 4. Sept. 1889 Seit 1878 außerordentl., seit 1881 ordentl. Honorarprofessor an der Univers. Leipzig Ordentl. Mitglied der K. Preuß. Akad. d. Wissensch. Quelle: a. a. O., Bl. 4. Verhandelt Berlin den 29 October 1889 Der bisherige Professor in Leipzig Herr Dr. Georg von der Gabelentz evangel. Konfession, durch Allerhöchste Kabinets- Ordre vom 4. September d. Js. zum ordentlichen Professor in der hiesigen philosophischen Fakultät ernannt, leistete heut den vorgeschriebenen Diensteid nach zuvor erfolgter Einweisung auf die Circular-Verordnung vom 26. Oktober 1799, worauf derselbe diese Verhandlung eigenhändig unterschrieben hat. v. p. u. Dr. Hans Georg Conon vd Gabelentz d. n. s. Hinschius Baude (? ) (Anm.: Eigenhändige Unterschrift von Gabelentz.) 3. Einige Materialien aus der Zeit danach. Bei der Durchsicht der Akten fanden sich noch zwei Dokumente, die für die Beurteilung der Persönlichkeit G. v. d. Gabelentz’ von Bedeutung sein können, darunter ein sehr bewegender Brief einige Monate vor seinem zu frühen Tode. Der andere Brief, an Schmidt gerichtet, zeigt seine persönliche Anteilnahme am Geschick seines früheren Schülers Wilhelm Grube, der offenbar lange Zeit zurückgesetzt wurde und an der Universität nicht die verdiente Anerkennung fand: Brief von Georg von der Gabelentz an Johannes Schmidt betr. Ernennung von W. Grube zum ao. Professor an der Berliner Universität Quelle: Archiv der Akademie der Wissenschaften, Berlin, Nachlaß J. Schmidt, Nr. 71, Bl. 11. Gabelentz_s001-344AK6.indd 282 12.07.13 16: 28 <?page no="285"?> 283 Berlin, 16. Juni 1891. Lieber Herr College! Über aller Wissenschaft und Politik habe ich ganz vergessen im Interesse meines Freundes des Dr. Grube mit Ihnen zu reden. Dessen ungefähr gleichaltriger Kollege am Museum für Völkerkunde hat jetzt den Titel Professor bekommen, allerdings auf Grund eines besonderen Anlasses, aber doch einigermaßen auf Unkosten Grube’s. Kürzlich hat nun Althoff mit Richthofen gesprochen und dabei geäußert, wie hoch er Grube schätze, und daß er dessen Ernennung zum ao. Professor gern befürworten würde. Demgemäß habe ich mit Richthofen einen bezüglichen Antrag an die Facultät bei einigen Collegen, deren Geneigtheit wir voraussetzen, in Umlauf gesetzt. Nächster Tage wird er wahrscheinlich auf Ihnen zugehen, und ich möchte ihn Ihnen gleich im Voraus angelegentlichst empfehlen. Grube trägt schwer an seinem Dienste, der ihm heillos viel Zeit raubt. Er bedarf einer Aufmunterung und Anerkennung und verdient sie wahrhaftig auch. In der Art, wie er es verstanden hat, die ostasiatischen Sammlungen organisch zu einer lebendigen Culturgeschichte zu gestalten, steckt an Forscherfleiß, Kenntnissen, Verstand und Geschmack etwa ebensoviel, wie in einem tüchtigen großen wissenschaftlichen Werke. Diese Leistung erregt, wie mir Richthofen sagte, die Bewunderung aller Kenner. Hirschfeld wird natürlich wieder mit seinen stammverwandten Schützlingen kommen; passen Sie auf ! Auf baldiges Wiedersehen! Ihr Gabelentz. Brief von Georg von der Gabelentz an Johannes Schmidt betr. Gesundheitszustand von der Gabelentz’ Quelle: Archiv der Akademie der Wissenschaften, Berlin, Nachlaß J. Schmidt, Nr. 71, Bl. 12. Berlin, den 25. Januar 1893. Lieber Herr College! Seit heute früh sitze ich wieder hier alleine. Bei den unter uns wohnenden Hausgenossen hat ein Kind den Keuchhusten; unser Arzt empfahl, unser baby schleunigst aus dem Bereiche der Ansteckung zu bringen, die in so zartem Alter verhängnißvoll wäre, und so hat sich denn meine Frau über Hals über Kopf mit dem Kinde auf die Reise gemacht. Ich erwarte derweile ärztliche Ordre wegen eines Steinschnittes, - keine vergnügliche Perspective! Seit meiner Ankunft vor drei Wochen bin ich, erst durch einen schmerzhaften Blasenkatarrh und nun im Hinblick auf die Operation, an’s Haus gefesselt. Sie thuen also ein Werk, wenn Sie mir einmal ein paar Abendstunden schenken wollen. Thuen Sie es aber auch! Also auf Wiedersehen. Empfehlen Sie mich, bitte Ihrer Frau Gemahlin bestens. Ihr G. v. d. Gabelentz. Hans Georg Conon von der Gabelentz starb am 10.[11. + ] Dezember 1893 in Berlin an seinem Blasenleiden im Alter von 53 Jahren. In den Akten des Akademie-Archivs werden ein Schreiben eines Sohnes von Gabelentz und die Kopie einer gedruckten Traueranzeige bewahrt (Sign. II-III, 30, Bl. 187 bzw. 188): Blatt 187 12/ 12 93 Ew. Hochwohlgeboren Beehre ich mich ergebenst mitzuteilen, daß gestern Na cht mein Vater, der Herr Professor v. d. Gabelentz sanft entschlafen ist. In vorzüglicher Hochachtung ergebenst A[Albrecht]vdGabelentz Blatt 188 Berlin 1893 December 12. Ich habe die schmerzliche Pflicht den HH. Mitgliedern der Akademie anzuzeigen, dass unser College Hr. von der Gabelentz Sonntag Nachmittag am 10. d. M. verstorben ist. Die Einsegnung vor Überführung der in der Familiengruft in Poschwitz beizusetzenden Leiche nach dem Bahnhof findet morgen Mittwoch 2 Uhr Nachmittags im Trauerhause Kleiststrasse 18-19 statt. Der vorsitzende Secretar A. Auwers 4. Zusammenfassung. Wir haben versucht, auf der Basis der in den Archiven der Humboldt-Universität zu Berlin und der ehemaligen Akademie der Wissenschaften Berlin vorhandenen und bisher noch nicht detailliert bearbeiteten handschriftlichen Originalunterlagen einen wichtigen Abschnitt im Leben des hervorragenden deutschen Sprachwissenschaftlers und Gabelentz_s001-344AK6.indd 283 12.07.13 16: 28 <?page no="286"?> 284 Sinologen Georg von der Gabelentz nachzuzeichnen. Seine Berufung an die Berliner Universität und seine schließliche Ernennung zum ordentlichen Professor bedeutete eine Anerkennung seiner davor an der Leipziger Universität erzielten wissenschaftlichen Leistungen und Erfolge. Es hat sich der Eindruck ergeben, dass Gabelentz in Berlin nicht wenige Freunde und Sympathisanten hatte, allen voran der Sprachwissenschaftler und Indogermanist Johannes Schmidt. Ohne sein tatkräftiges Handeln, seine Unterstützung und Ermunterung hätte es an der Berliner Universität wahrscheinlich nie eine ordentliche Professur - auch wenn es nur für vier Jahre war - für das von Gabelentz vertretene Fachgebiet gegeben. Mit Gabelentz’ Tod brach die zuvor von Schott geschaffene hervorragende Tradition der intensiven wissenschaftlich-theoretischen, linguistischen Beschäftigung mit der chinesischen Sprache (vor allem Grammatik) zunächst ab, ohne dass durch diese Feststellung die diesbezüglichen Leistungen am Berliner Seminar für Orientalische Sprachen herabgesetzt werden sollen und können (vor allem Arendt, Forke, Lessing, Simon). Gabelentz hätte es sicher gern gesehen, wenn W. Grube seinen Lehrstuhl hätte übernehmen können. Aber Grube wurde von den maßgebenden Professoren der Philosophischen Fakultät recht unterschiedlich eingeschätzt, so dass es um seine Person ein teils unwürdiges Gerangel gab, was in den Archiven dokumentiert ist. Er wurde zwar Anfang 1892, also noch zu Gabelentz’ Lebzeiten, zum außerordentlichen Professor berufen, aber im Nebenamt und „unbesoldet“, und erst ab 1903 erhielt er eine Besoldung dafür. Vorerst gab es in Berlin kein sinologisches Ordinariat mehr, bis 1912 mit der Einrichtung des Sinologischen Seminars eine neue Situation entstand. Es hat den Anschein, dass man sich heute auch in China auf Gabelentz besinnt. Sein Erbe ist dort bis jetzt nur ungenügend ausgewertet worden. Es gibt noch keine chinesische Übersetzung seiner „Grammatik“. Dabei ist seine Leistung der von Ma Jianzhong durchaus gleichzusetzen. Gabelentz war sicher, auch wenn er niemals in China war, ein großer Freund der Chinesen, ihrer Sprache, Literatur und Kultur. 6 Seine Berufung als Ordinarius nach Berlin war eine seiner Persönlichkeit würdige Tat. 6 Vgl. die zutreffende Charakteristik Gabelentz’, die M. Leutner herausgearbeitet hat (Leutner, M. 1987: 34-35; hier: 293-294). Anhänge. A. Chronologie der Ereignisse: Es befinden sich die zu erwähnenden Dokumente an folgenden Stellen: HUB Bl. 193-199, 210 in der Akte Philosophische Fakultät - Dekanat - Nr. 1461 (umfasst die Jahre 1883-1890); HUB Personalakte Gabelentz Bl. 1-4 in der Akte Universitäts-Registratur - Universitätskurator - G2; AdW Bl. 1-14 in der Akte Nachlaß Nr. 71 von Johannes Schmidt; AdW Bl. 71-86 in der Akte II-III, 29; AdW Bl. 187-188 in der Akte II-III, 30. 1889 21. 01. Wilhelm Schott gestorben; auf der Beerdigung in Berlin wenige Tage später waren neben Gabelentz offenbar auch zahlreiche Vertreter der Philosophischen Fakultät der Berliner Universität und der Berliner Akademie der Wissenschaften anwesend. 05. 02. Brief von J. Schmidt an Gabelentz (nicht gefunden, aber Gabelentz nimmt darauf am 07. 02. Bezug): Bitte um Vorschläge für die Neubesetzung der Stelle von Schott. 07. 02. Brief von Gabelentz an Schmidt: Vorschläge zur Neubesetzung des vorher von Schott vertretenen Wissenschaftsgebietes, Einschät zungen einiger in Frage kommender Persönlichkeiten in dieser Reihenfolge: Grube, Arendt, Hirth, Eitel, Faber [AdW Bl. 1-4, vertraulicher Anhang Bl. 5]. 09. 02. (oder 10. 02. oder 11. 02.) Sitzung der Kommission der Philosophischen Fakultät zur Wiederbesetzung der Schottschen Stelle (Ergebnis von Gesprächen mit Gabelentz bei Schotts Beerdigung? ): Brief von Gabelentz über Hirth wird verlesen, diskutiert wird über Gabelentz, Grube, Hirth, Arendt [HUB Bl. 193; in der Akte, die chronologisch geordnet ist, befindet sich davor als Bl. 192 ein Schriftstück vom 24. 03. und danach als Bl. 194 eine Zuhörerliste für Grube, von der Quästur ausgestellt am 05. 02., dann folgt als Bl. 195 das Begleitschreiben Richthofens vom 10. 02.]. 10. 02. Richthofen schreibt - offenbar im Auftrag des Dekans der Philosophischen Fakultät - den Entwurf einer Eingabe an das Kultusministerium (den Minister? ) über die Wiederbesetzung der Schottschen Stelle, wobei er die auf der Kommissionssitzung ausgearbeiteten Positionen vertritt und begründet [HUB Bl. 195, 196-199]. 14. 02. Der Richthofensche Entwurf wird vom Dekan und anderen Professoren der Fakultät unterschrieben [HUB Bl. 199]. 25. 04. In der Akademie wird über die Nachfolge von Schott als Akademiemitglied beraten [AdW Bl. 71, Unter- Gabelentz_s001-344AK6.indd 284 12.07.13 16: 28 <?page no="287"?> 285 schriften von Dillmann, J. Schmidt, Tobler, Schrader, Sachau, Weber]. 29. 04. Gabelentz sendet an Schmidt sein Schriftenverzeichnis mit einem Begleitbrief [AdW Bl. 6, 13, 14; vgl. a. AdW Bl. 74]. 02. 05. Mommsen fordert in einem Rundschreiben an alle Mitglieder der Phil.-hist. Klasse zu Vorschlägen für die Nachfolge von Schott als Akademiemitglied auf [AdW Bl. 72, 23 Unterschriften]. 16. 05. Schmidt (? ) empfiehlt Gabelentz in der Akademie [AdW Bl. 73]. 18. 05. Unterredung Gabelentz - Althoff (lt. Brief von Gabelentz). 19. 05. Brief von Althoff an Gabelentz (auf Anregung Schmidts): ordentliche Professur ist möglich (Brief nicht vorhanden, wird aber von Gabelentz erwähnt; dazu spricht Gabelentz noch von einem weiteren Brief Althoffs vom 20. 05., der ebenfalls nicht zu finden war). 29. 05. Brief von Gabelentz an Schmidt: „mir wurde die ordentliche Professur angetragen“ [AdW Bl. 7-8]. 30. 05. Gabelentz erklärt schriftlich gegenüber Althoff, dass er die Professur annimmt und nach Berlin übersiedeln wird. [AdW Bl. 10, Teilabschrift dieses Briefes]. 11. 06. Brief von Althoff an Schmidt mit Auszug aus der Erklärung von Gabelentz vom 30. 05. [AdW Bl. 9 u. 10]. 27. 06. Einstimmiger Vorschlag der Phil.-hist. Klasse, Gabelentz zum Akademiemitglied zu wählen [AdW Bl. 76]. 25. 07. Gabelentz wird von der Gesamtsitzung der Akademie zum ordentlichen Mitglied gewählt. 26. 07. Brief der Akademie an Goßler mit der Bitte um Bestätigung der Akademiewahl durch den Kaiser [AdW Bl. 77]. 30. 07. Brief der Akademie an Goßler: Gabelentz die 7000 Mark jährlich zahlen [AdW Bl. 78]. 16. 08. Kaiser bestätigt die Akademiewahl. 26. 08. Ministerium teilt der Akademie die Bestätigung der Wahl durch den Kaiser mit [AdW Bl. 79]. 04. 09. Ernennung Gabelentz’ zum ordentlichen Professor an der Friedrich-Wilhelms-Universität. 20. 09. Briefe des Ministeriums an Rektor und Senat sowie an das Königliche Universitäts-Kuratorium und an die Philosophische Fakultät der Universität: Bekanntgabe der Ernennung Gabelentz’ und Festlegung seines Lehrauftrags [HUB Bl. 210; Universitätskurator Nr. 324, Bl. 16; Personalakte Gabelentz Bl. 1]. 09. 10. Umzug Gabelentz’ nach Berlin [AdW Bl. 79 verso, 81]. 17. 10. Brief des Rektors an Gabelentz: Aufforderung zur eidlichen Verpflichtung am 22. 10. [HUB Personalakte Gabelentz Bl. 2]. 22. 10. Vereidigung angesetzt. 29. 10. Diensteid tatsächlich durchgeführt [HUB Personalakte Gabelentz Bl. 4]. 01. 11. Brief von Gabelentz an Archivar der Akademie: Gehalt noch nicht gezahlt [AdW Bl. 81]. 03. 11. Brief des Archivars der Akademie an Curtius betr. Gehalt Gabelentz’ [AdW Bl. 82]. 04. 11. Brief des Ministeriums an Akademie wegen Gabelentz’ Gehalt [AdW Bl. 83]. 16. 11. Ministerium weist Kasse der Akademie an, 7000 Mark an Gabelentz zu zahlen [AdW Bl. 85]. 19. 11. Mitteilung der Akademie an Gabelentz, dass das Gehalt gezahlt wird [AdW Bl. 86]. 1891 16. 06. Brief von Gabelentz an Schmidt: befürwortet ao. Professur für Grube [AdW Bl. 11]. 1892 04. 01. Ernennung von W. Grube zum ao. Professor im Nebenamt. 1893 25. 01. Brief von Gabelentz an Schmidt: Krankheit [AdW Bl. 12]. 10.[11. + ] 12. Gabelentz tot [AdW Bl. 188]. B. Die erwähnten Persönlichkeiten: Althoff, Friedrich (19. 2. 1839 Dinslaken, Rheinland - 20. 10. 1908 Steglitz bei Berlin), Jurist, Geh. Oberregierungsrat; 1872 ao. Prof., 1880 o. Prof. für Z ivilrecht in Straßburg, 1882 Vortragender Rat im preußischen Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten, zuständig für das Referat Universitäten, 1897 Ministerialdirektor der Abteilung für Unterrichtsangelegenheiten, 1907 Rücktritt; 1899 Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften. Arendt, Carl (1. 12. 1838 Berlin - 30. 1. 1902 Berlin), Sinologe; 1856-1859 Studium der allgemeinen Sprachwissenschaft in Berlin bei Bopp und Steinthal, 1887 Dozent für Chinesisch am Seminar für Orientalische Sprachen Berlin, 1892(? ) ao. Prof. für Chinesisch ebendort. Auwers, Arthur von (12. 9. 1838 Göttingen - 24. 1. 1915 Berlin), Astronom, Wirklicher Geheimer Oberregierungsrat; 1859 Sternwarte Königsberg, 1862 Sternwarte Gotha, 1866 Prof. für Astronomie an der Berliner Universität, Gabelentz_s001-344AK6.indd 285 12.07.13 16: 28 <?page no="288"?> 286 Astronom der Kgl. Preuß. Akademie der Wissenschaften Berlin und ordentliches Mitglied der Akademie, 1878-1912 Sekretar der Physikalisch-mathematischen Klasse, 1912 geadelt. Curtius, Ernst (2. 9. 1814 Lübeck - 11. 7. 1896 Berlin), Altphilologe, Geheimer Regierungsrat; 1844 ao. Prof. in Berlin und Erzieher des preußischen Kronprinzen, 1855 o. Prof. in Göttingen, 1868 o. Prof. für klassische Philologie in Berlin und Direktor des Alten Museums, 1875-1881 Initiator der Ausgrabungen von Olympia; 1852 und 1868 ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften, 1871-1893 Sekretar der Philosophisch-historischen Klasse. Dillmann, August (25. 4. 1823 Illingen, Württemberg - 4. 7. 1894 Berlin), Theologe, Äthiopist; Studium in Tübingen, 1854 Prof. in Kiel, 1864 in Gießen, 1869 in Berlin; 1877 ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Eitel, Ernst Johann oder Ernest John (1838 Eßlingen, Württemberg - 10. 11. 1908 Adelaide (Australien)), Theologe, Missionar, Sinologe; 1856-1860 Studium in Tübingen, danach Vikar in Mössingen, 1862 Luther. Missionsstation der Baseler Mission in der Nähe von Kanton, 1865 London Missionary Society in Poklo bei Kanton, 1870 Hongkong, dort 1877 Inspector of Schools, Chef der Dolmetscherabteilung und Privatsekretär des britischen Gouverneurs Hennessy, 1882 Herausgeber der „China Review“, 1897 Pensionierung und Übersiedlung nach Adelaide, dort Tätigkeit an der St. Stephen’s Lutheran Church und an der Universität als Lecturer für deutsche Sprache und Literatur; 1871 Promotion in Tübingen, 1877-1883 vierbändiges Wörterbuch des Kantonesischen, auch Spezialist für Hakka und Geschichte Hongkongs. Faber, Ernst (25. 4.1839 Coburg - 26. 9. 1899 Qingdao), Theologe, Sinologe; ab 1857 Studium in Barmen und Tübingen, 1865 Ankunft in China, ev. Missionar in Kanton und im Landesinneren, 1880 Entlassung aus der Rheinischen Mission, später Shanghai, 1898 Qingdao; 1888 Ehrendoktor der Universität Jena, Arbeiten zur altchinesischen Philosophie (Konfuzius, Liezi, Mengzi, Mozi) und Religion. Forke, Alfred (12. 1. 1867 Schöningen, Braunschweig - 9. 7. 1944 Hamburg), Sinologe; 1903 Lehrer für Chinesisch am Seminar für Orientalische Sprachen in Berlin, ausgeschieden 1923, danach Universität Berkeley. Gabelentz, Georg von der (16. 3. 1840 Poschwitz, Sachsen-Altenburg - 10.[11. + ] 12. 1893 Berlin), Sprachwissenschaftler, Sinologe; 1859-1863 Studium in Jena und Leipzig, 1864 sächsischer Staatsdienst, 1876 Promotion in Leipzig, 1878 ao. Prof. in Leipzig, 1882 o. Honorarprofessor in Leipzig, 1889 o. Prof. für Sprachforschung und Sinologie in Berlin; 1889 ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften; Wohnung ab 1. 1. 1890 Kleiststr. 18/ 19, Berlin. Gerber, Carl von (11. 4. 1823 Ebeleben bei Sondershausen - 23. 12. 1891 Dresden), Jurist; nach langer juristischer Lehrtätigkeit (ab 1844, zuletzt ab 1863 in Leipzig) seit 1871 in Sachsen Staatsminister des Cultus und öffentlichen Unterrichts, 1891 sächsischer Ministerpräsident. Goßler, Gustav von (13. 4. 1838 Naumburg/ Saale - 9. 9. 1902 Danzig), Jurist; nach Studium in Berlin, Heidelberg und Königsberg im preußischen Justizdienst, 1879 Unterstaatssekretär, 1881 Staatsminister des preußischen Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal- Angelegenheiten, 1891 Rücktritt; 1877 Mitglied des Reichstages, 1881-1891 Reichstagspräsident, 1899 Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften. Grube, Wilhelm (17. 8. 1855 St. Petersburg - 2. 7. 1908 Berlin), Sinologe; 1880 Promotion bei Gabelentz in Leipzig, 1881 Habilitation in Leipzig, 1881-1883 in St. Petersburg, 1883 Museum für Völkerkunde Berlin, 1884 Habilitation in Berlin, 1892 „unbesoldeter“ ao. Professor für Sinologie, 1903 „besoldeter“ ao. Prof. für chinesische Sprache und Literatur in Berlin. Hinschius, Paul (25. 12. 1835 Berlin - 13. 12. 1898 Berlin), Jurist, Geheimer Justizrat; o. Prof. für deutsches Z ivil- und Kirchenrecht an der Berliner Universität, 1872-1876 im preußischen Kultusministerium, 1889/ 90 Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität. Hirschfeld, Otto (16. 3. 1843 Königsberg - 27. 3. 1922 Berlin), Altphilologe, Hofrat, Geheimer Regierungsrat; Schüler und Mitarbeiter von Theodor Mommsen, 1872 o. Prof. in Prag, 1876 Professor für alte Geschichte in Wien, 1884 Professor für alte Geschichte in Berlin, im Wintersemester 1892/ 93 und im Sommersemester 1893 Dekan der Philosophischen Fakultät; 1884 ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Hirth, Friedrich (16. 4. 1845 Gräfentonna bei Gotha - 8. 1. 1927 München), klassischer Philologe, Sinologe; Studium der klassischen Philologie in Leipzig, Berlin, Greifswald, 1869 Promotion in Rostock, 1869-1888 beim internationalen Seezolldienst unter Sir R. Hart in China (Kanton, Amoy, Shanghai, Hongkong, Taiwan usw.), 1888-1890 Urlaub in Deutschland und den USA, 1895 Abschied vom Z oll und Niederlassung in München, 1902 Ruf auf den neugegründeten Lehrstuhl für Sinologie der Columbia University (New Gabelentz_s001-344AK6.indd 286 12.07.13 16: 28 <?page no="289"?> 287 York), 1917 pensioniert, 1920 Rückkehr über Hamburg nach München; 1897 Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Mommsen, Theodor (30. 11. 1817 Garding, Schleswig - 1. 11. 1903 Charlottenburg), Althistoriker; 1848 Prof. für Rechtswissenschaft in Leipzig, 1850 dort aus politischen Gründen entlassen, 1852 Zürich, 1854 Breslau, 1858 o. Prof. für alte Geschichte in Berlin, 1874-1875 Rektor, 1902 Nobelpreis für Literatur; 1858 ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften, 1874-1895 Sekretar der Philosophisch-historischen Klasse. Nasse, Berthold von (9. 12. 1831 Bonn - 1. 12. 1906 Bonn), Jurist, Geheimer Regierungsrat, Vortragender Rat; 1849-1853 Studium der Rechte in Bonn und Berlin, 1888- 1890 Unterstaatssekretär und Direktor im preußischen Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal- Angelegenheiten, 1890 Oberpräsident in Koblenz, 1905 pensioniert und geadelt. Richthofen, Ferdinand Freiherr von (5. 5. 1833 Carlsruhe, Schlesien - 6. 10. 1905 Berlin), Geograph und Geologe; 1868-1872 Reisen zur geographischen Erforschung Chinas, Japans usw., 1875 in Bonn, 1883 in Leipzig, 1886 in Berlin jeweils Professor für Geologie, 1903-1904 Rektor der Berliner Universität; 1881 korrespondierendes, 1899 ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Sachau, Eduard (20. 7. 1845 Neumünster, Holstein - 17. 9. 1930 Berlin), Semitist, Geheimer Oberregierungsrat; 1869 Professor, 1872 Professor für semitische Sprachen in Wien, 1976 Professor für orientalische Sprachen in Berlin, im Wintersemester 1889/ 90 und Sommersemester 1890 Dekan der Philosophischen Fakultät, 1887 Direktor des Seminars für Orientalische Sprachen; 1886 ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Schmidt, Johannes (29. 7. 1843 Prenzlau - 4. 7. 1901 Berlin), Indogermanist; 1868 Privatdozent, 1873 Prof. für indogermanische Sprachen in Bonn, 1873 in Graz, 1876 in Berlin; 1884 ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Schott, Wilhelm (3. 9. 1802 Mainz - 21. 1. 1889 Berlin), Sprachwissenschaftler, Sinologe; 1832 Privatdozent Berlin, 1838 ao. Prof. des Chinesischen und der tatarischen Sprachen in Berlin; 1841 ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Schrader, Eberhard (5. 1. 1836 Braunschweig - 3. 7. 1908 Berlin), Semitist, Geheimer Regierungsrat; 1863 Professor in Zürich, 1870 in Gießen, 1873 in Jena, 1875 Professor für semitische Philologie in Berlin; 1875 ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Schulze, Franz Eilhard (22. 3. 1840 Eldena bei Greifswald - 29. 10. 1921 Berlin), Zoologe, Geheimer Regierungsrat; Studium in Rostock und Bonn, 1863 Promotion und Habilitation in Rostock, 1865 ao. Prof., 1871 o. Prof. in Rostock, 1873 Graz, 1884 Berlin, Direktor des Zoologischen Instituts, Wintersemester 1888/ 89 und Sommersemester 1889 Dekan der Philosophischen Fakultät; 1884 ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Tobler, Adolf (24. 5. 1835 Hirzel, Schweiz - 18. 3. 1910 Berlin), Romanist; seit 8.7.1867 Professor für Romanistik in Berlin (französische Grammatik), 1890/ 91 Rektor der Berliner Universität; 1881 ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Weber, Albrecht (17. 2. 1825 Breslau - 10. 11. 1901 Berlin), Indologe; 1856 ao. Prof., 1867 o. Prof. für altindische Sprachen und Literatur in Berlin; 1857 ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften. C. Zusammenstellung der für Prof. v. d. Gabelentz von der Berliner Universität angezeigten Vorlesungen: Quelle: Verzeichnis der Vorlesungen, welche auf der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin im … - Semester vom … bis … gehalten werden. - (Berlin (Dr.)), o. J. - Vorhanden im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin 1 2 3 4 5 6 7 8 Ausgewählte Lehren der [allgemeinen] Sprachwissenschaft Sprachwissenschaftliche [Linguistische] Übungen - + 1 - + + 1 - - + - - - 1 - + Anfangsgründe der chinesischen Grammatik Chinesische Grammatik Schilderung der chinesischen Sprache - - - 2 - - - - - - - - - - 1 - - 2 - - - 2 - - Erklärung chinesischer Texte [Chinesische Lectüre] aus dem Kù-wên-p’îng-čù Leben und Lehre des Confucius 1 - 1 1 - - 1 - - - - - - 1 1 - Altjapanische Grammatik Mandschu-Sprache Malaisch 2 1 - - 2 - - - 1 2 3 - - - - 1 2 - - 1 - - - 1 Anm.: WS = Wintersemester, SS = Sommersemester 1 = SS 1890 2 = WS 1890/ 91, 3 = SS 1891, 4 = WS 1891/ 92, 5 = SS 1892, 6 = WS 1892/ 93, 7 = SS 1893, 8 = WS 1893/ 94 Gabelentz_s001-344AK6.indd 287 12.07.13 16: 28 <?page no="290"?> 288 In eckigen Klammern variierende Formulierungen. Angaben in Wochenstunden. Die Lehrveranstaltungen waren alle einstündig, die Zahl 2 bedeutet also z. B. zweimal 1 Stunde in der Woche an verschiedenen Tagen. + heißt Zeitfestlegung nach Vereinbarung, also keine Angaben über die Stundenzahl. Die meisten Vorlesungen sind als „privatim“ oder „privatissime“ (im kleinsten Kreise, für einen kleinen Kreis von Hörern, nicht öffentlich) gekennzeichnet, einige als „öffentlich“ oder „unentgeltlich“. Vorlesungen zu Chinesisch, vor allem aber zu Mandschu und Mongolisch, hielt zur gleichen Zeit auch Dr. Grube, ab Sommersemester 1892 Prof. Grube, außerdem modernes Chinesisch mit praktischen Übungen und Schrifttraining Prof. Arendt am Seminar für Orientalische Sprachen mit jeweils zwei chinesischen Lektoren (Kuei Lin, Pan Fei Sching, Au Fung Tschü, Hsüeh Schen; vgl. Kaden, K., 1990, 31-35). Literatur. Haenisch, Erich (1930): „Sinologie“, in: Aus 50 Jahren Deutscher Wissenschaft: Festschrift für Friedrich Schmidt-Ott, Berlin, 268-274. Haenisch, Erich (1960): „Die Sinologie an der Berliner Friedrich- Wilhelms-Universtität in den Jahren 1889-1945“, in: H. Leussingk (Hrsg.), Studium Berolinense: Aufsätze und Beiträge zu Problemen der Wissenschaften und zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Gedenkschrift der Westdeutschen Rektorenkonferenz und der Freien Universität Berlin zur 150. Wiederkehr des Gründungsjahres der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin, 554-566. Hirth, Friedrich (1920): „Biographisches nach eigenen Aufzeichnungen nebst einem vollständigen Schriften-Verzeichnis von Friedrich Hirth 1869-1921“, = Sonderdruck aus der Zeitschrift Asia, o. O., o. J., = Festschrift für Friedrich Hirth zum 75. Geburtstag (Hirth Anniversary Volume), 51 Seiten. Kaden, Klaus; Taube, Manfred; unter Mitarbeit von Karin Westphal (1979): „Bibliographie für Hans Georg Conon von der Gabelentz“, in: Hans Georg Conon von der Gabelentz: Erbe und Verpflichtung. = Linguistische Studien , Reihe A, Nr. 53, Berlin, 229-242. Kaden, Klaus (1990): „Lehre und Forschung zur chinesischen Sprache am Seminar für Orientalische Sprachen: Ausbildung und Lehrveranstaltungen“, in: Das „Seminar für Orientalische Sprachen“ in der Wissenschaftstradition der Sektion Asienwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. = Beiträge zur Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin, Nr. 25, Berlin: de Gruyter, 31-40. Leutner, Mechthild (1987): „Sinologie in Berlin. Die Durchsetzung einer wissenschaftlichen Disziplin zur Erschließung und zum Verständnis Chinas“, in: Kuo Heng-yü (Hrsg.), Berlin und China: Dreihundert Jahre wechselvolle Beziehungen, Berlin: Colloquium Verlag, 31-55; Wiederabdruck in diesem Band. Richter, Eberhardt; Reichardt, Manfred; Selter, Gerhard; Gaudes, Rüdiger; Reichardt, Shuxin; Taube, Manfred; Herms, Irmtraud: „Hans Georg Conon von der Gabelentz - Erbe und Verpflichtung“ (1979), in: Hans Georg Conon von der Gabelentz. Erbe und Verpflichtung. = Linguistische Studien , Reihe A, Nr. 53, Berlin, 1-58; Wiederabdruck in: Ezawa, K./ Hundsnurscher, F./ v. Vogel, A. (Hrsg.): Beträge zur Gabelentz-Forschung (2013). Tübingen. Rudolph, Jörg-Meinhard (1988): „Auf der Suche nach Kohle und Eisen: Moderne Chinaforschung in Deutschland“, Teil I, in: Das neue China, 15. Jg., Nr. 1, 36-38. Rechts: Umfangreiche Korrespondenz verband Georg v. d. Gabelentz mit aller Welt. Ein Beispiel aus China: Der Missionar Marcus L. Taft bietet dem Professor an, Bücher aus China zu besorgen. Er richtet Grüße an Georgs Ehefrau und die Herren Grube und Uhle aus. Zahlreiche Originalbriefe im ThStA Gabelentz_s001-344AK6.indd 288 12.07.13 16: 28 <?page no="291"?> 289 Gabelentz_s001-344AK6.indd 289 12.07.13 16: 28 <?page no="292"?> 290 Urkunde von Wilhelm, König der Preußen, über die Aufnahme von Georg v. d. Gabelentz als Mitglied in die Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin, den 16. August 1889, u. a. von Theodor Mommsen unterschrieben. ThStA Altenburg, Gabelentzarchiv Nr. 5h 907 1 Gabelentz_s001-344AK6.indd 290 12.07.13 16: 28 <?page no="293"?> 291 Mechthild Leutner Sinologie in Berlin. Die Durchsetzung einer wissenschaftlichen Disziplin zur Erschließung und zum Verständnis Chinas Wilhelm Schott und die Anfänge der Sinologie Im Sommersemester 1833 bot Wilhelm Schott (1802-1889) an der Berliner Universität erstmals Vorlesungen über chinesische Sprache und über „Erklärung ausgewählter Stücke aus chinesischen Philosophen und Historikern mit besonderer Rücksicht auf die Grammatik“ an. Ergänzt um einzelne Vorlesungen zur „Geschichte der Tartarei“, zur politischen und Literaturgeschichte Chinas bestimmten in den folgen den Jahrzehnten die Vermittlung chinesischer Sprache und Grammatik sein Lehrangebot. 1 Doch der später als „Begründer der deutschen wissenschaftlichen Sinologie“ 2 bezeichnete Schott hatte für das Chinesische höchst selten Schüler. Das Interesse, Chinesisch zu lernen, war nicht groß, und ebenfalls gab es Schwierigkeiten, Chinesisch und die Be fassung mit China als eigenständige akademische Disziplin zu finanzieren und zu etablieren. Das galt für die deutschen Universitäten allgemein; trotz dieser allgemeinen Probleme und gewisser Diskontinuitäten hat die Berliner Universität jedoch eine maßgebliche Rolle bei der Etablierung der Si nologie in Deutschland und bei ihrem späteren Ausbau als einer akademischen Disziplin gespielt. Schott hatte 1819 in Halle mit dem Studium der Theologie und der morgenlän dischen Sprachen begonnen. Sein spezielles Interesse für die chinesische Sprache wurde geweckt durch die Betreuung zweier Chinesen, die sich drei Jahre in Halle aufhielten. Als Folge dieser Kontakte und autodidaktischen Studien des Chinesischen entstanden seine Promotionsschrift De indo le linguae Sinica e (Über die Beschaffenheit der chinesischen Sprache) und eine kommentierte Übersetzung von Schriften des „tschinesischen Weisen Kung-Fu-Dsü“ (Konfuzius), mit der er sich im gleichen Jahre 1826 habilitierte. Schotts Bemühungen, Paris, das damalige europäische Z entrum für chinesische Studien mit einem seit 1814 einge richteten Lehrstuhl für Chinesisch, zu Studienzwecken aufzusuchen, scheiterten. Mit dem in Paris lebenden Berliner Orientalisten Julius Klaproth (1783-1835) trug er jedoch nach dem Erscheinen seiner Konfuzius-Übersetzung öffent lich eine Kontroverse aus um die Richtigkeit seiner oder der Klaprothschen Konfuzius-Übersetzung. 3 Schott setzte zunächst in Halle seine allgemeinen Sprachstudien fort; u. a. des Türkischen, Mongolischen, Neupersischen, Finnischen, Japanischen und Mandschurischen, das wegen seiner Buch stabenschrift als leicht erlernbar und als Hilfe bei der Erschließung schwieriger chinesischer Texte angesehen wurde. 4 Als einer der ersten Sprachforscher suchte Schott diese Sprachen als dem ural-altaischen Sprachstamm zugehörig zu bestimmen. 5 Klassifikation und Beschreibung dieser Sprachen waren neben der Befassung mit dem Chinesischen auch Inhalt der Abhandlungen Schotts und waren Gegen stand seiner Vorlesungen, die er nach seiner Aufnahme in die Philosophische Fakultät der Berliner Universität ab 1832 halten sollte. So wurde Schott im Jahre 1838 als außeror dentlicher Professor für Altaisch, Tatarisch und Finnisch ernannt. Chinesisch war und blieb für ihn qua Amt und vom Selbstverständnis her ein „Zweig der morgenländischen Philologie“, Bestandteil der Orientalistik und allgemeinen Sprachwissenschaft. Das traf auch auf den Sprachwissen schaftler Heymann Steinthal (1823-1899) zu, der ebenfalls ab den 1850er Jahren als Privatdozent und außerplanmäßiger Professor Übungen zur chinesischen Sprache anbot. Gabelentz_s001-344AK6.indd 291 12.07.13 16: 28 <?page no="294"?> 292 Die allgemeine Sprachwissenschaft und insbesondere die Befassung mit den orientalischen Sprachen, vor allem mit dem Sanskrit und dem Chinesischen, hatte bei der Zurück drängung theologisch-religiöser Erklärungsweisen seit Anfang des 19. Jahrhunderts eine maßgebliche Rolle gespielt. Die bereits Ende des 18. Jahrhunderts begonnene Lösung der Orientalistik von der Theologie und ihre Einbeziehung in die Philosophische Fakultät verdeutlicht die Abkehr von der Idee eines göttlichen Ursprungs der Sprachen hin zur Annahme der Historizität von Sprache und zur Vergleich barkeit von Sprachen allgemein: Nicht mehr die Suche nach einer „Ursprache“, aus der alle Sprachen hervorgegangen seien, sondern die Sprachen selbst, geordnet nach Sprach stämmen, wurden als Material und Mittel betrachtet, um die Menschheitsgeschichte ergründen und verstehen zu können. Die Sprache und - im nächsten Schritt - die Literatur, nämlich das gesamte Schrifttum eines Volkes, wurden mit Kultur und Gesittung eines Landes gleichgesetzt. Das kenn zeichnet die Entstehung der philologisch-historischen Methode insgesamt, wie auch ihre Anwendung auf China: die Sinologie, wie sie seit den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts explizit verstanden wurde, selbst wenn die Voraussetzungen dieser Entstehung allmählich in Vergessenheit gerieten. Die Suche nach dem Urgrund und der Wahrheit außer halb theologischer Erklärungen lief parallel zu einem entstehenden politischen Interesse des 19. Jahrhunderts, die „abendländische Machtsphäre“ unaufhaltsam in den Orient auszudehnen. So erschienen die gesamten orientalischen Studien „nun wie eine Widerspiegelung dieser Bewegun gen in der politischen Welt: wie dort das politische, so unternahm hier das wissenschaftliche Europa die Eroberung des asiatischen Kontinents.“ 6 Der Orient, einschließlich China, erschien als Ort. „der westliche Aufmerksamkeit, Rekonstruktion und selbst Erlösung verlangte“. 7 Er wurde in der Andersartigkeit im Vergleich zur eigenen Existenz, als „das schlechthin Andere“ 8 , als Gegenwelt zur Einheit und Geschlossenheit des Abendlandes definiert. Die Idee der „Erschließung“ des Orients und Chinas fand ihre explizite, ständig wiederkehrende und nur leicht variierte Formulie rung in den Abhandlungen der Sinologen bis in die 30er und 40er Jahre dieses Jahrhunderts. Sie umfasste zunächst und vor allem die wissenschaftliche Erschließung des Landes, die jedoch je nach unterschiedlichen Standpunkten durch aus der kulturellen, religiösen, wirtschaftlichen, politischen und sogar militärischen Erschließung parallel laufen konnte. Mit der Wortwahl wurden zugleich Aktivität und überlege ner Standpunkt gegenüber dem Objekt China und Chinesen signalisiert - eine Haltung, die in preußisch- und deutschnationalen Strömungen dieser Jahrzehnte verankert war. In Schotts wissenschaftlichen Arbeiten sind diese Tendenzen bereits zu beobachten. Sein Wissenschaftsverständnis entsprach dem der allgemeinen Sprachwissenschaftler und der sich herausbildenden Philologie des 19. Jahrhunderts, das er für das Chinesische umzusetzen suchte bzw. in Bezug auf China modifizierte. Schott wollte die chinesische Literatur erschließen und gleichzeitig die „zum Theil (...) absonderlichsten und verkehrtesten Ansichten von den Tschinesen“ 9 korrigieren. Diese aufklärerische Komponente, nämlich die Zerstörung vorherrschender und als falsch bezeichneter Chinabilder, sollte neben der Erschließung Chinas in den folgenden Perioden bis zur Gegenwart Kennzeichen des Selbstverständnisses akademischer Sinologie bleiben. Für Schott diente das Studium der chinesischen Spra che und Literatur noch der Erlangung von Kenntnissen des mittleren und östlichen Asiens allgemein. 10 Doch gleichzeitig eröffnete ihm Sprache und Schrifttum Zugang zum Reichtum der „Materien und Tatsachen“ der unvergleichlichen großen Geschichtswerke der Chinesen, zur von ihm gleicherweise hochgeschätzten Ethik des Konfuzius. 11 In seiner 1857 erschienenen Chinesischen Sprachlehre mit ihren 1868 veröffentlichten Zugaben, suchte er Regeln und Gesetze der chinesischen Sprache erstmals aus dieser selbst heraus zu entwickeln und damit, wie Gabelentz später urteil te, einen der „absonderlichsten Sprachkörper“ 12 in ein System zu bringen. Neben der Sprache sollten die chinesischen Schriften, die nach Schotts Meinung vielfach nach „seltsamen logischen Prinzipien zusammengedrängt“ 13 waren, verständlich gemacht werden. Sein Verzeichnis der Chinesischen und Mandschu-Tungusischen Bücher und Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Berlin (1840) sollte Einblicke in den chinesischen Staat vermitteln. Eine zwei Jahre später er schienene Topographie der Produkte des chinesischen Reiches, ebenfalls eine Übersetzung chinesischer Materialien, zeigt dabei die Richtung des Interesses an. Schott bemühte sich in diesen Abhandlungen, die überwiegend als Veröf fentlichungen der Berliner Akademie der Wissenschaften gedruckt wurden, durch Analogien zum Bildungsgut deutscher Gelehrter die Anders- und Fremdartigkeit zu vermitteln. Dieses Verfahren diente teils der Feststellung von Gemeinsamkeiten, teils aber auch der Abgrenzung. Schott knüpfte einerseits an von den Jesuiten verbreitete Chinavorstellungen an: die großartige alte Kultur, die hohe Gabelentz_s001-344AK6.indd 292 12.07.13 16: 28 <?page no="295"?> 293 Ethik des Konfuzius, die Verderblichkeit des Buddhismus, der Aberglauben und Betrug beim Volke förderte, der Fleiß und die guten Naturgaben des Volkes. Das faszinierte ihn an China. Andererseits war er gegen die „jesuitische Anbeque mungsmethode“. 14 Er vertrat wie auch Hegel die Auffassung, dass das Land sich in Erstarrung befinde und einer moralischen Wiedergeburt und eines frischeren Lebens bedürfe. Selbstgenügsamkeit und Eigendünkel verhinderten diese Wiedergeburt, zumal eine solche letztlich nur von außen durch kräftigen Einfluss der europäischen Völker erfolgen könne. 15 Denn nach Schotts von Rassenlehren des 19. Jahrhunderts geprägter Überzeugung waren die Völker der mongolischen Rasse im Vergleich zum indisch-europäischen Stamme phantasielos und „materiell“ ausgerichtet. 16 Schotts sprachwissenschaftliche und übersetzerische Leistungen sowie seine enzyklopädischen China-Artikel müssen auf dem Hintergrund der gesamten Wissenschafts organisation des 19. Jahrhunderts gesehen werden. So wurde einerseits mit dem Ankauf der Büchersammlung Carl Neumanns im Jahre 1832 erstmalig seit dem 17. Jahrhundert wieder ein Grundstock chinesischer Schriften in der Königlichen Bibliothek gelegt, und die Gründung der Morgenländischen Gesellschaft 1844 half den Orientalisten aus der Isolation. Andererseits bereitete nach wie vor die Transkription chinesischer Z eichen mangels eines einheitlichen Umschreibungssystems große Probleme, und die autodidaktische Aneignung der Sprache und fehlende Landeskenntnisse führten überdies zur Fehlinterpretation chinesischer Texte. Nicht zuletzt waren auch die Informationen von Europäern über China noch immer gering. Der Sprachforscher Georg von der Gabelentz Georg von der Gabelentz (1840-1893) wurde im Jahre 1889 auf Vorschlag der Philosophischen Fakultät als Nachfolger Schotts berufen. Chinesische Sprache und Literatur sollte den Schwerpunkt seiner Tätigkeit bilden. Gabelentz hatte sich bereits als allgemeiner Sprachforscher und als Spezialist für chinesische Grammatik einen Namen gemacht. An der Leipziger Universität, an der er seit 1878 gelehrt hatte, hat te er eine ähnliche Pionierrolle für das Chinesische gespielt wie Schott in Berlin. Er galt daher der Fakultät, in der Ferdinand von Richthofen eine wichtige Position einnahm, als „fähigste(r) Vertreter“ für die Professur. 17 Gabelentz, ein Autodidakt im Chinesischen wie Schott, hatte im Jahre 1876 mit der Übersetzung eines chinesischmandschurischen Textes promoviert und fünf Jahre später dann sein sinologisches Hauptwerk Chinesische Grammatik veröffentlicht. Dieses Werk von „epochemachende(r) Bedeu tung für die Sinologie“ 18 baute auf dem Schottschen Ansatz der Erklärung der chinesischen Sprache auf und führte in seiner konsequenten Durchführung zu einer vollständigen Reform vorherrschender Grammatikvorstellungen und zu einer radikalen Infragestellung der Ansicht, dass die chine sische Sprache keine Grammatik besitze. Auf der Grundlage des von Gabelentz entwickelten grammatischen Systems der klassischen Sprachform setzten spätere Sinologen wie die Gabelentz-Schüler Wilhelm Grube, August Conrady, Erich Haenischu. a.ihre Sprachstudienfort. Gabelentz’ Berliner Jahre zeigen eine erneute Hinwendung zur allgemeinen Sprachwissenschaft, die in der Publikation seines zweiten Hauptwerkes Die Sprachwissenschaft, ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse (1891) gipfelte. Seine Lehrtätigkeit umfasste hingegen neben Vorlesungen zur allgemeinen Grammatik auch die chinesische Sprache und die Lektüre chinesischer Texte, wobei Sprachvergleiche im Vordergrund standen. Gabelentz sah sich noch in der Tradition eines Wilhelm von Humboldt. Daher bildete Sprache allgemein und die chinesische Sprache im Besonderen für ihn ein Mittel und die Möglichkeit, eine fremde „Gesittung“ und Kultur ken nenzulernen. „Jede Aneignung einer fremdartigen Sprache ist zugleich eine That der Befreiung von so vielen Vorurteilen“. 19 Konsequenterweise vollzog Gabelentz daher die im späten 19. Jahrhundert wesentlich von der Indogermanistik vollzogene Wertung der Sprachen nach höheren und niede ren Kategorien - entsprechend einer höheren und niederen Rasse - nicht mit. 20 Seine Außenseiterstellung im Wissenschaftsbetrieb, der zu dieser Zeit von den Junggrammatikern und Indogermanisten beherrscht wurde, erklärt sich daraus. Die Einsilbigkeit der chinesischen Sprache war für ihn nicht Zeichen primitiver Anlage, genauso wenig wie er indogermanische Sprachen als Ausdruck besonders begna deter Rasse betrachtete. Er suchte vielmehr „in der Vielheit der Völker die eine Menschheit und in der Mannigfaltigkeit ihrer Sprachen die Äußerung einer allgemeinen Anlage“. 21 Nicht das Erschließen von Texten, die philologische Methode, die das Eindringen in die Wissensschätze eines fremden Landes parallel dem wirtschaftlichen und später politischmilitärischen Eindringen auf ihre Fahnen geschrieben hatte, war sein Ziel. Die spätere Auftragsübersetzung eines chine sischen Textes sollte denn auch an seinen wenig ausgebildeten philologischen Fertigkeiten scheitern. Gabelentz_s001-344AK6.indd 293 12.07.13 16: 28 <?page no="296"?> 294 Gabelentz dachte vor allem an China als ältestes Kulturland und an die Menschen dieses Landes, die er verstehen und in die er „eindringen“ wollte. „Man durchbreche die fremdartige Hülle, man dringe ein in den Sinn jener reichen Poesie, in ihre Leidenschaften, ihre Andacht, ihre Sehn sucht, ihren Humor, so wird man bald vergessen, dass man um fast zwei Dritttheile unserer Halbkugel ostwärts gewandert ist. Gar bald lernt unsere Phantasie in die glatten, gelben, schlitzäugigen Chinesengesichter sympathische Züge zeichnen, und was von fern einer hölzernen Puppe glich, entpuppt sich nun als warm fühlender Mensch.“ 22 So ist für Gabelentz China und das chinesische Volk vor allem mit positiven Konnotationen verbunden. Nicht Indolenz und geistige Versumpfung, im 19. Jahrhundert vielfach konstatierte sog. Dekadenzerscheinungen, zeichneten die Menschen Chinas aus, sondern Lese- und Schreibfreudig keit. Und nicht zuletzt besaß China in Konfuzius einen großen Staatsmann und Philosophen. 23 Gabelentz war einerseits noch einem aufgeklärten Humanismus des 18. Jahrhunderts verhaftet, andererseits war er aus familiärer Tradition demo kratischen Ideen verpflichtet, wie sie bereits durch die Vertretung Thüringens in der deutschen Nationalversammlung 1848 durch seinen Vater Hans Conon von der Gabelentz zum Ausdruck gebracht worden waren. Die nach dem Schei tern der ersten bürgerlichen Revolution zu beobachtende Beschränkung auf wissenschaftliche Arbeit teilten Vater und Sohn mit einer größeren Zahl von Gelehrten. Wilhelm Grube: Texterschließung und Volkskunde Wilhelm Grube (1855-1908) verkörpert in mehrfacher Hinsicht die Herauslösung der Sinologie aus der allgemeinen und orientalischen Sprachwissenschaft und ihre Etablierung als eigenständige philosophisch-historische Wissenschaft: Strebte Gabelentz noch nach Erkenntnis der „allgemeinen Menschheit“, so suchte Grube nach den Charakteristika des Nationalcharakters. Betonte Gabelentz die Gemeinsamkeiten, so trat bei Grube erneut die Fremdartigkeit Chinas in den Vordergrund. War für Gabelentz die Sprache Endzweck und Mittel zur Erkenntnis der chinesischen Gesittung, so wollte Grube China vor allem durch seine Literatur philologisch erschließen. Hatte Gabelentz eine Gleichrangigkeit gesehen, so formulierte Grube nun eine aktive Rolle Europas für die Entwicklung Chinas, wie sie Schott bereits angedeutet hatte. Die hier für Grube skizzierten wissenschaftstheoretischen und weltanschaulich-politischen Grundideen sollten dann ab den 90er Jahren für einige Jahrzehnte nicht nur für die Berliner Sinologie kennzeichnend werden. Die einzelnen Vertreter setzten allerdings unterschiedliche inhaltliche und methodische Schwerpunkte und prägten unter dem Einfluss der politischen und allgemeinen Wissenschaftsentwicklung die konkrete Ausbildung des Faches. Grube hatte nach dem Studium der Philosophie und der Sprachwissenschaften mit der Übersetzung einer chinesischen philosophischen Schrift promoviert und sich habilitiert. Auf Fürsprache seines Förderers Gabelentz erhielt er im Jahre 1883 zunächst eine Stelle als Abteilungsleiter am Museum für Völkerkunde in Berlin. 24 Diese Tätigkeit am Museum als erster Fachmann für Ostasien und China war der Beginn jahrzehntelanger enger Kooperation zwischen dem Museum und der Berliner Sinologie. Darüber hinaus förderte sie Grubes Lösung von der Sprachwissenschaft durch die Befassung mit volkskundlichen und volksreligiösen Themen. In den Vorlesungen, die Grube ab Sommer 1885 an der Universität hielt, waren neben der chinesischen, mandschurischen und mongolischen Sprache Religion und Kultus der Chinesen bevorzugte Themen. Die Lektüre klassischer und volksreligiöser Texte nahm insbesondere in seinen späteren Jahren einen breiteren Raum gegenüber sprachwissenschaftlichen Themen ein. Im Jahre 1884 hatte Grube mit einem an das preußische Kultusministerium gerichteten Schreiben, in dem er sich für die Erlernung der chinesischen Umgangssprache bei chinesi schen Lektoren und für längere Landesaufenthalte von Sinologen ausgesprochen hatte, 25 willkommenen Anlass für die spätere Errichtung des Seminars für Orientalische Sprachen gegeben. Doch für ihn als Kenner der klassischen Sprach form fand sich trotz mehrfacher Bemühungen der Philosophischen Fakultät 26 keine besoldete Anstellung. Staatlichen Stellen schien angesichts der Existenz eines mit moderner Gegenwartssprache befassten Seminars die Weiterführung der akademischen Sinologie nach dem Tode von Gabelentz wohl nicht dringend notwendig. Gegenüber der klassischen Philologie hatte sich die Disziplin als philologische Wissen schaft überdies noch nicht ausreichend ausgewiesen. Gabelentz mit seinen Schwierigkeiten, einen chinesischen Text korrekt zu übersetzen, handelte sich ebenso wie Ferdinand von Richthofen mit seinen mangelhaften Chinesisch-Kennt nissen den Vorwurf des Dilettantismus ein. 27 Unter diesen Umständen hatte Grube mit seiner außerplanmäßigen und erst später gering besoldeten Professur für Chinesisch und Mandschurisch (1892) einen schweren Stand. Gabelentz_s001-344AK6.indd 294 12.07.13 16: 28 <?page no="297"?> 295 Grube sah zunächst seine Aufgabe als Sinologe darin, möglichst originalgetreue Übersetzungen ohne Ausdeutungen und Erklärungen vorzulegen, und sprach die Aufgabe der Bewertung philosophischer Texte ausdrücklich nur den Philosophen zu. 28 Von dieser engen Auffassung der Sinologie als eines Zuträgers für andere Wissenschaften ging er jedoch in seinen späteren Werken ab. Er verstand seine 1902 veröffentlichte Geschichte der chinesischen Literatur als eine „Darstellung des geistigen Schaffens der Chinesen“ 29 auf der Grundlage chinesischer Originaltexte. Sie wurde als „gediegenes Hilfsbuch“ 30 und als „feinsinnige philologische Analyse(n) der chinesischen poetischen Formen“ 31 gepriesen. Zeitgenössische Rezensenten erhofften sich davon einen Beitrag zum Verständnis des chinesischen Volkscharakters und einen Abbau veralteter Vorurteile. 32 Diese erste deutsche Gesamtdarstellung chinesischen Schrifttums zeugt zwar allein durch seine Existenz von Grubes Hochschätzung der alten chinesischen Kultur, doch diese Hochschätzung bezog sich nicht mehr auf die chinesische Kultur allgemein, die sich auf keinem Gebiet voll entfaltet habe, und nur noch begrenzt auf die Person des Konfuzi us. China ermangle der Individualität und des Idealismus, das bremse den wahren Fortschritt. 33 Die chinesische Entwicklung werde vom Hang zum Aberglauben und vom „alberne(n) Bildungshochmut und Gelehrtendünkel“ - zwei nationalen Charakterzügen - behindert. Die Aufgabe Euro pas sei es daher, „durch Vorbild und Lehre das schlummernde sittliche Bewusstsein aus seiner Lethargie zu wecken, indem wir das Chinesentum zur Erkenntnis seines besseren Selbst führen und die guten Keime, die in der durch Alter und Tradition geheiligten konfuzianischen Ethik erhalten sind, in wahrhaft christlichem Geist zur Entfaltung und zur Blüte zu bringen“. 34 Aberglauben und Gelehrtendünkel waren Grubes Argumente zur Legitimation der missionarischen zivilisatorischen Aufgabe Europas in China. Dabei sollten einmal das Studium der chinesischen Texte, die als wichtig sowohl für das Verständnis der Vergangenheit als auch der Gegenwart angesehen wurden, da China sich ja in einem Zustand der Erstarrung befinde, und zum anderen die Aneignung klas sischer chinesischer Bildung Mittel zur Durchsetzung dieser Mission sein. „Nur derjenige (hat) Aussicht, seinen Gegner siegreich zu überwinden, der imstande ist, ihn mit dessen eigenen Waffen zu bekämpfen.“ 35 Doch Grube wollte diese Kulturmission auf friedliche Weise erfüllen und übte daher auch Kritik am sog. Sühnefeldzug 1900, an seinen „beklagenswerten und beschämenden Begleiterscheinungen“. 36 Eine solche Modifizierung allgemeiner europäischdeutscher Überlegenheitsvorstellungen in Bezug auf China kann auch bei späteren Sinologen beobachtet werden. Das besondere Verständnis für China und seine Bevölkerung - Gegenstand ihrer jahrzehntelangen Arbeit - konnte dabei in den älteren Schichten des jesuitischen Chinabildes seine Begründung finden. Grubes Beschäftigung mit Volkskultur und Volksreligion wurde durch einen fast zweijährigen Aufenthalt in Chi na in den Jahren 1897 und 1898 befördert. Seine Arbeiten Zur Pekinger Volkskunde (1901) und Religion und Kultus der Chinesen (1910) gehen mit ihren Schilderungen auch des realen Lebens der Pekinger Bevölkerung über philologische Textexegese hinaus. Geschriebenes und Realität zeigen sich dem Sinologen erstmals als Auseinanderstrebendes. Unter schiede von Staats- und Volkskultus werden konstatiert und brechen die Vorstellung von einem einheitlichen China und „den Chinesen“ auf. Doch vor allem wird die Grundtendenz Grubes deutlich, die Existenz und das Nebeneinander meh rerer Religionen, des Buddhismus, Daoismus und des Konfuzianismus und einen fehlenden „religiösen Fanatismus“ 37 aufzuzeigen. Mit der These von der religiösen Toleranz in China und der Unterscheidung verschiedener Religionssys teme wies Grube Jan de Groots Auffassungen von der Existenz eines solchen Fanatismus und dessen Gleichsetzung der religiösen und philosophischen Systeme zurück. Doch genau diese Auffassungen, denen die Legitimation militä rischer Sicherung der christlichen Mission gegen eben diesen Fanatismus parallel lief, sollten sich dann im Jahre 1912 durch die Berufung de Groots als erster Professor speziell für Sinologie durchsetzen. Bemühungen um eine Berufung de Groots bereits im Jahre 1902 scheinen lediglich an dessen eigener Ablehnung gescheitert zu sein. Chinesisch am Seminar für Orientalische Sprachen Am 27. 10. 1887 wurde an der Berliner Universität das Se minar für Orientalische Sprachen (SOS) gegründet. Es dokumentierte das wachsende wirtschaftliche und politische Interesse des Deutschen Reiches an kolonialer Betätigung vor allem in Asien und Afrika. Für den Auswärtigen Reichs dienst sollte ein „Korps linguistisch vorgebildeter Beamten“ geschaffen werden, und darüber hinaus sollten ganz allgemein junge Männer mit sprachlichen und landeskundlichen Kenntnissen für Tätigkeiten in den Kolonien bei fremden Gabelentz_s001-344AK6.indd 295 12.07.13 16: 28 <?page no="298"?> 296 Behörden ausgebildet werden. Es ging - so Eduard Sachau, der erste Direktor des SOS - um die „Vorbereitung deutscher Männer für den Kampf ums Dasein unter fremdartigen Menschen und Einrichtungen“. 38 Chinesische Gegenwartssprache und Realien Chinas gehörten von Anfang an zum festen Lehrplan. Zwar hatte der Staatssekretär im Auswärtigen Amt in seiner Eröffnungsrede betont, dass im SOS Sprachstudium und Wissenschaftlichkeit mit den Anforderungen der Praxis vereinigt werden sollten, 39 doch jahrzehntelang hatten das SOS insgesamt, wie auch die Dozenten für Chinesisch, einen Kampf um die Anerkennung als wissenschaftliche Institution zu führen. Auch in der Sinologie spiegelten sich die Debatten um den wissenschaftlichen Charakter der Befassung mit der gesprochenen und geschriebenen Gegenwartssprache und den Realien wider. Der Stellenwert von nun als klassisch empfundener Sinologie einerseits und der Befassung mit dem modernen China andererseits wurde dabei von den einzelnen Sinologen unterschiedlich definiert. Doch bis zum Jahre 1945 sollte die Befassung mit dem modernen China und mit dem klassischen China auch institutionell getrennt bleiben. In der Praxis wurde diese Trennung allerdings vielfach sowohl von Seiten der Studenten als auch von Seiten der Dozenten überwunden. Studenten strebten sowohl ein Diplom am SOS als auch ei nen Abschluss in Sinologie an der Philosophischen Fakultät an. Auch Dozenten missachteten teilweise die institutionelle und inhaltliche Beschränkung. So bemühte sich beispielswei se Alfred Forke gegen den massiven Widerstand des SOS-Direktors, über die moderne Sprache hinaus Veranstaltungen zu Kultur und zur Philosophie des alten China abzuhalten. 40 Doch das SOS zielte nicht auf die Ausbildung von Sinologen ab. Bis zum Jahre 1912 hatten beispielsweise 48 ehemalige Angehörige und Absolventen des SOS im Bereich Chinesisch eine Anstellung beim Auswärtigen Amt angetreten; sie waren in der Mehrzahl ausgebildete Juristen. Im Jahre 1900 hatte der Professor für Chinesisch nicht allein das Ostasiati sche Expeditionskorps zum sog. Sühnefeldzug in China bei der Ausstattung von Karten unterstützt, 41 sondern in Spezialkursen auch 49 Offiziere für ihren Dienst in China ausgebildet. 42 In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg finden sich in den Diplomlisten des SOS für Chinesisch auch Postbeamte, Ingenieure, Bankbeamte, Kaufleute und später Lehrer für deutsche Schulen in China. Die Mehrzahl der späteren Berli ner Sinologen - angefangen bei Otto Franke, einer der ersten Chinesisch-Studenten des SOS - hatte hier ihr Diplom erworben. Auch Wolfram Eberhard (Diplom 1929), Franz Michael (1930), Wolfgang Franke (1932) und Herbert Franke (1936), die in der bundesdeutschen und US-amerikanischen Sinologie nach dem Zweiten Weltkrieg wichtige und füh rende Rollen spielen sollten, waren Absolventen des SOS. 43 Das zunächst überwiegend als Sprachenschule konzipierte SOS nahm in zunehmendem Maße Realienfächer in den Lehrplan auf. Bis zum Jahre 1914 waren sie vorrangig auf die Vermittlung von Kenntnissen zur Verwaltung der Kolonien und zur besseren landeskundlichen Kenntnis in Bezug auf politische Organisation, Handelsmöglichkeiten und Verkehrsverhältnisse ausgerichtet. Die Realienfächer „Wissenschaftliche Beobachtung auf Reisen“ und „Routen aufnahme“ wollten nicht allein Reisende auf entsprechende Landesaufenthalte vorbereiten, sondern sie auch mit der zweckentsprechenden Art des Sammelns, mit dem Reparie ren und Verpacken von Sammelobjekten 44 vertraut machen. Doch vor allem führte die Betonung dieses Bereichs zu Reiseberichten von erheblichem Informationswert über innerchinesische Verhältnisse. Sie nahmen in den ab 1898 vom SOS jährlich herausgegebenen Mitteilungen des Seminars für Orienta lische Sprachen (MSOS) in der Abteilung I Ostasia tische Studien noch bis zu Anfang der 1920er Jahre einen breiten Raum ein. In der Regel waren sie von ehemaligen Absolventen des SOS verfasst. Mit der Herausgabe der MSOS dokumentierte das SOS nicht allein einen wissenschaftlichen Anspruch. Sie bot darüber hinaus erstmals Sinologen (und Japanologen) ein eige nes Publikationsforum. Die Abhandlungen befassten sich vorrangig mit dem modernen und gegenwärtigen China, doch auch Aufsätze über das alte China und über chinesi sche Literatur sowie deutsch-chinesische Wörterverzeichnisse zu Spezialgebieten wurden aufgenommen. Die institutionell-organisatorische Verankerung des SOS als eigenständiges Seminar hatte bereits in den 1890er Jah ren erstmals zu Überlegungen geführt, das Seminar zu einer völlig von der Universität unabhängigen Handels- und Weltwirtschaftlichen Akademie auszubauen. 45 Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Überlegungen mit der Idee einer selbständigen Fachhochschule für Auslandskunde wieder aufgegriffen. Otto Franke, zu diesem Zeitpunkt Direktor des Sinologischen Seminars, formulierte hier speziell für die Sinologie seine grundsätzlichen Bedenken gegen eine Loslö sung von sog. Nationenwissenschaften und Auslandskunde aus dem universitären Wissenschaftsbetrieb. Er sprach sich vehement gegen die wissenschaftstheoretisch nicht haltbare Konstruktion eines Gegensatzes zwischen einem historisch- Gabelentz_s001-344AK6.indd 296 12.07.13 16: 28 <?page no="299"?> 297 philologisch orientierten Lehrbetrieb der Universität und der Vermittlung gegenwartsbezogener Sprach- und Landeskenntnisse aus. Universitäten sollten wissenschaftlichen und praktischen Aufgaben zugleich dienen. 46 O. Franke sprach sich daher für die Zuordnung der einzelnen Abteilungen des SOS zu den entsprechenden Universitätsseminaren aus, z.B. der Chinesisch-Abteilung zum Sinologischen Seminar. Darüber hinaus befürwortete er eine Integration aller orien talischen Fächer zu einem übergreifenden Orient-Institut. 47 Die Reorganisation des SOS unterblieb jedoch in der Weimarer Republik aus mehreren Gründen. Erst die auf Ex pansion zielende nationalsozialistische Regierung benannte das SOS zur Auslandshochschule an der Berliner Universität um. Die nationalsozialistische Auslandswissenschaft, die die genaue Kenntnis anderer Nationen als wesentliche „Waffe“ zur Erhaltung und zum Ausbau der deutschen Stel lung ansah, 48 setzte somit die kolonialen Traditionen der Vorkriegszeit fort. 49 Im Jahre 1938 wurde das SOS auch formell als Auslandshochschule der Universität eingegliedert, 1940 dann mit der Deutschen Hochschule für Politik zur Auslandswissenschaftlichen Fakultät vereinigt. Chinesisch wurde bis zum Jahre 1945 in der Abteilung Fremdsprachen gelehrt und chinaspezifische Veranstaltungen fanden darüber hinaus in der Abteilung Volks- und Landeskunde statt. Kolonialpolitik und Wissenschaft bei Jan de Groot Jan de Groot (1854-1921), überzeugter Monarchist und antidemokratisch eingestellt, 50 hatte sich bereits vor seiner Berufung nach Berlin im Jahre 1912 in Praxis und Wissenschaftsanschauungen als entschiedener Vertreter der Kolonialpolitik ausgewiesen. Seine Tätigkeit im Kolonialdienst der niederländischen Regierung (1877-1890) bedingten langjährige Südostasien- und China-Aufenthalte, u. a. in Amoy. Seine 1886 veröffentlichten, auf Feldforschungen ba sierenden Studien Les fêtes annuellement célébrées à Emoui (Amoy), mit denen er sich sogleich wissenschaftlich einen Namen machte, hatten der niederländischen Regierung als Direktiven für die Behandlung der für ihre Besitzungen le bensnotwendigen chinesischen Kulis gedient. 51 Doch mehr noch als dieses erste Werk waren sein unvollendet gebliebenes daten- und faktenreiches sechsbändiges Hauptwerk The religious system of China (1892-1910) und die unter dem Eindruck der Boxerbewegung verfasste Schrift Sectarianism and religious persecution in China (1903-1904) Produkte eines europäisch-christlichen Überlegenheitsdenkens, das durch keinerlei Bezüge auf die alte hochstehende Kultur Chinas getrübt wurde. Alfred Forke (1867-1944), de Groots Kollege am SOS, der ebenso wie Grube dem Kollegen in inhaltlicher und metho discher Hinsicht nicht zu folgen vermochte, gewann durch die Werke gar den Eindruck, dass „die chinesische Kultur nicht viel höher steht als die eines etwas fortgeschrittenen Negerstammes“. 52 Und so habe de Groot die chinesische Philologie verachtet, von der Dichtung und Kunst wenig gehalten und für die chinesische Philosophie wenig Sinn gehabt. 53 Für de Groot war der chinesische Staat der intoleranteste und verfolgungssüchtigste Staat der Welt. 54 Chinesische Sitten und Glaubensvorstellungen werden in seinem Hauptwerk durchgängig als verächtlich und lächerlich präsentiert. Begräbnis-, Trauerriten und Ahnenkult seien geprägt von Aberglauben und „philosophische(m) Unsinn“. 55 De Groot identifizierte Ideen und Lebensweisen des Volkes ahistorisch mit dem klassischen konfuzianischen Schrifttum und setzte die unterschiedlichen philosophischen Systeme in der These vom „Universismus“ als einem einheitlichen Prinzip des chinesischen Denksystems gleich. Das lieferte eine Be gründung für die koloniale Behandlung Chinas ähnlich der anderer Kolonien, indem die Idee von einer hochstehenden alten Kultur und Philosophie negiert wurde. Der Begriff des Universismus sollte als ein „bequemes Interpretationssche ma“ in der Folge seinen Beitrag zu einer verflachenden „und in vielen Fällen naserümpfenden Wertung der chinesischen Philosophie“ leisten. Max Webers Idee von der Anpassung der Menschen im Osten an die Welt und Levy-Bruhls Cha rakterisierung einer „primitiven“ Mentalität griffen solche Thesen de Groots auf, und sowohl Emile Durkheim als auch Marcel Mauss diente de Groot als „Hauptgewährsmann“. 56 Für die Vertreter der Philosophischen Fakultät stellte de Groot die ideale Besetzung der Sinologie-Professur dar. Sein Kompendium der chinesischen Religion, insbesondere seine Werke über Feste und Sektenverfolgungen, hätten über die Fachwelt hinaus „aufklärend gewirkt, das eine, weil es auf die schlimmen Folgen hinweist, die einer europäischen Koloni alverwaltung aus der Nichtbeachtung der eigentümlichen chinesischen Lebensformen erwachsen können, das andere, weil es auf Grund von Aktenstücken das auch von der euro päischen Diplomatie bis dahin hochgehaltene Märchen von der religiösen Toleranz der chinesischen Regierung zerstörte“. 57 De Groots staunenswerte Kenntnis der Literatur, seine „vollkommene Beherrschung“ von Schrift- und Umgangssprache und seine Vertrautheit mit dem „für die Europäer Gabelentz_s001-344AK6.indd 297 12.07.13 16: 28 <?page no="300"?> 298 so schwer fassbaren Denken“ wurden überdies hervorgehoben. 58 Doch darüber hinaus mag er mit seiner Ablehnung einer linguistischen Orientierung - Haenisch bezeichnete ihn sogar als „Feind grammatischer Auffassungen“ 59 - die Gewähr einer leichteren Integration in den philosophischhistorisch orientierten Wissenschaftsbetrieb geboten haben. Semester für Semester hielt de Groot die Vorlesung „Kultur geschichte und Volkskunde Chinas“ ab; außerdem machte er Textlektüre, wobei die am SOS erworbenen Sprachkenntnisse als Grundlage vorausgesetzt wurden. Sprache war für de Groot nur noch Mittel zur Erschließung der chinesischen Welt, die sich in den Schriften manifestierte. Der Aufbau ei ner umfangreichen chinesischen Büchersammlung im Sinologischen Seminar, der größten in Deutschland neben denen der Preußischen und der Bayerischen Staatsbibliothek, wurde von ihm daher auch vorrangig betrieben und realisiert. 60 Das SOS: Carl Arendt, Alfred Forke, Wilhelm Schüler Die Dozenten und Professoren des SOS in der kolonialen Periode des Deutschen Reiches waren im Unterschied zu de Groot nicht unbedingt und ohne Einschränkung von einer Kulturmission gegenüber China überzeugt. Carl Arendt, der seit 1887 bis zu seinem Tod im Jahre 1902 am SOS unterrich tete, sein Nachfolger Alfred Forke, der bis 1923 dort lehrte, und Wilhelm Schüler, der seit dem Jahre 1914 bis zu seiner Pensionierung fast zwanzig Jahre als Dozent und Professor arbeitete, bemühten sich vielmehr darum, gegen herrschen de Vorurteile anzuschreiben und Verständnis für China zu zeigen. Seit Gründung des Seminars war zusätzlich zu den deutschen Dozenten stets mindestens ein chinesischer Lek tor beschäftigt. Insbesondere in den Anfangsjahren, als diese kein Deutsch sprachen und ihr gesamter Unterricht auch für die Anfänger nur in Chinesisch abgehalten wurde, kam es häufiger zu Problemen. 61 Carl Arendt (1838-1902) war in Berlin geboren und hatte dort Sprachwissenschaften bei Franz Bopp und Chinesisch bei Heymann Steinthal studiert. Seit 1865 war er als Dolmetscher an der Gesandtschaft in Peking tätig. Zwischenzeitlich verwaltete er das Konsulat in Tianjin; ab 1873 fungierte er als Chefdolmetscher der Gesandtschaft. 1887 wurde er auf Empfehlung des Gesandten Max v. Brandt zum Lehrer und Professor ans SOS berufen. 62 Der „fesselnde und gewissenhafte Lehrer“ 63 hielt vor allem Einführungen in die chinesische Umgangs- und Schriftsprache sowie Vorlesungen zur Landeskunde, zur neueren Geschichte und zur Verwaltungs- und Wirtschaftsstruktur des Landes ab. Sein 1891 vorgelegtes erstes deutsches Handbuch der nordchinesischen Umgangssprache, I. Theil und seine Einführung in die nordchinesische Umgangssprache (1894) dienten Unterrichtszwecken; sie erschienen in der Lehrbuchsammlung des SOS. Beide trugen ihm herbe Kritik ein. Verfechter der These, dass das Chinesische keine Grammatik habe, warfen ihm vor, die Sprache in eine Grammatik zwingen zu wollen. 64 Auch mit dem Unterricht der Realien Chinas wurde zunächst experimentiert. Während in den ersten Jahren die chinesische Geschichte stärker berücksichtigt wurde, nahm ab 1890 die Geographie breiteren Raum ein. Sie wurde von den Hörern als nützlicher empfunden. 65 Alfred Forke (1867-1944), Jurist und Absolvent des SOS, hatte ebenfalls erst in der Pekinger Gesandtschaft und im Generalkonsulat von Shanghai zwölf Jahre gearbeitet, bevor sein Wunsch, sich „einmal ganz dem wissenschaftlichen Stu dium des Chinesischen zu widmen“, 66 mit der Dozentur für Chinesisch realisiert werden konnte. Forkes Lehrtätigkeit brachte es mit sich, dass er Übungsstücke zur chinesischen Grammatik (1908) und ein Sprachlehrbuch Yamen und Pres se, Handbuch der neuchinesischen Schriftsprache (1911) veröffentlichte, doch sein Hauptinteresse galt der chinesischen Philosophie: Sie bildete den Hauptgegenstand seiner Publikationen und war Inhalt mehrerer Vorlesungen im Seminar, deren Durchführung er gegen den Widerstand des Direktors erstritt. Sachau, der Direktor, stellte sich einen Unterricht vor allem auf der Grundlage von Wörter-Sammlungen zum praktischen Gebrauch vor. 67 Forke untersuchte allerdings nicht die kanonisierten konfuzianischen Schriften, die die Jesuiten angezogen hatten. Ihn interessierten Philosophen wie Yang Zhu, Wang Chong, die Sophisten oder Mozi, die als „unabhängige Denker“ ei nen „allen Autoritätsglauben abgeneigten Geist“ gezeigt und sich andererseits von daoistischen oder buddhistischen irrationalen Strömungen abgesetzt hatten. 68 Mit der Haltung dieser Philosophen konnte Forke sich identifizieren; das tat er in seiner philosophischen Abhandlung Die nicht-ideali sierte Wirklichkeit (1930) mit seinem Plädoyer für kritischen Rationalismus und eine materialistische Erklärung der Welt deutlich. 69 Ausgangspunkt seiner Untersuchungen bildeten nach wie vor philologisch-textkritische Übersetzungen. Doch er suchte darüber hinaus eine Gesamtsicht und -analyse chinesischer Philosophie und Weltanschauung zu präsentieren. Seine dreibändige Geschichte der Philosophie (1927-1938) wurde als „Standardbeitrag der deutschen For - Gabelentz_s001-344AK6.indd 298 12.07.13 16: 28 <?page no="301"?> 299 schung“ 70 und als „Meisterwerk“ (E. Erkes) bezeichnet; seine Arbeit The world conception of the Chinese (1925) ist bis heute grundlegend geblieben. Forkes Chinabild ist beeinflusst von Auffassungen eines Zeitalters, „für das die europäische Weltanschauung (…) die Wahrheit schlechthin bedeutete und das in jeder anders gearteten Auffassung nichts als eine Verwirrung erblicken konnte“. 71 So fand Forke keinen Zugang zur chinesischen Musik, die er als abstoßend bezeichnete, zur Architektur, Poesie und Malerei, die ihm manchmal „manieriert und grotesk“ erschienen. Er sah Sparsamkeit und Bedürfnislosigkeit der Chinesen als eine Gefahr für die europäische Konkurrenz an, ebenso konstatierte er fehlenden Mut, Kühnheit, Ritterlichkeit und Patriotismus als Mängel der Chinesen. 72 Doch gleichzeitig hatte Forke eine große Hochschätzung vor der chinesischen Kultur und den Gebildeten des Lan des, deren „Denken und Fühlen von den unsrigen gar nicht so sehr abweicht.“ 73 Entscheidend distanzierte er sich vom „Gewaltakt“ der Besetzung Jiaozhous, der Aufzwingung des Christentums mit Kanonen 74 und der „hochmütige(n) und geringschätzige(n) Art“ der Behandlung der chinesischen Bevölkerung durch deutsche Offiziere und Diplomaten. 75 Er verurteilte die Darstellung von Chinesen als „komische Figuren“ und suchte aufzuzeigen, auf welchen Gebieten auch ein Europäer aus Chinas „reichen Literaturschätzen“ lernen kann. 76 Für Forke war das vor allem die chinesische Philosophie, die er übersetzte und erschloss, seine Übersetzungen chinesischer Dichtung wurden zum Ausgangspunkt der Befassung mit chinesischer Prosa im deutschen Sprachraum. 77 Wilhelm Schüler (1869-1935) hatte zunächst als Pfarrer der deutschen Gemeinde, als Gouvernementspfarrer und Mitglied des Allgemeinen Evangelisch-protestantischen Missionsvereins von 1900 bis 1913 in Qingdao und Shanghai gearbeitet, bevor er im Jahre 1914 zum zweiten Dozenten für Chinesisch ernannt wurde. Er hielt Sprachkurse und Einfüh rungen in Geschichte, Geographie, Wirtschaft und Staatsorganisation Chinas ab. Er verfasste Lehrmaterial zur Literatur- und Umgangssprache, kleinere volkskundliche und geographische Abhandlungen über die Provinz Shandong. Sein Hauptwerk war der Abriss der neueren Geschichte Chi nas unter besonderer Berücksichtigung der Provinz Schantung (1912). Sie wurde von der deutschen Kolonialgesellschaft, Abteilung Qingdao, preisgekrönt. Schülers personenorientierte Darstellung der politischen Ereignisse sucht schwerpunktmäßig die Auseinandersetzung Chinas mit der abendländischen Macht und Kultur im 19. Jahrhundert aufzuzeigen. Diese Auseinandersetzung stellt sich ihm als notwendiges „Aufeinanderprallen“ der Welt des Abendlandes und der Welt des Orients dar. 78 Die deutsche Besitzergreifung Jiaozhous erschien dem Verfasser angesichts der Möglichkeit, dass der „morsche Riesenkörper“ 79 China „in einzelne Stücke zerfallen würde“, berechtigt. Nicht zuletzt sah er wie viele seiner Zeitgenossen im deutschen Aufbau Qingdaos „ein gesunde(s) Vorbild“ für Chinas Ent wicklung. 80 Die Gründung der chinesischen Republik im Jahre 1911 - und hier befand er sich in Übereinstimmung mit zahlreichen Chinakennern dieser Jahre - lehnte er als nur von Nachteil für China ab. Sie schien ihm die Einheit der sozialen und sittlichen Lebensanschauung Chinas, des konfuzianischen Systems, zu bedrohen und damit der von ihm hoch geschätzten Kultur die Basis zu entziehen. Die von ihm als notwendig erachtete Erneuerung Chinas glaubte er durch eine Verbindung der alten sittlich-sozialen Kräfte mit den „tiefsten und reinsten Kräften des abendländischen Geistes“ 81 zu erreichen. Diese Idee teilte er mit seinem Freund und Qingdaoer Kollegen Richard Wilhelm, der Vorstellungen von einer einheitlichen Weltkultur vertrat. 82 Otto Franke und die Hinwendung zur chinesischen Geschichte Die Zeit der Weimarer Republik und insbesondere die Jahre 1923 bis 1931, in denen Otto Franke die Professur für Sino logie innehatte, stellten einen Höhepunkt der wissenschaftlichen Beschäftigung mit China in Berlin dar. Einerseits suchten Sinologen, die sich nach wie vor als Vertreter einer philologisch-historischen Wissenschaft verstanden, durch eine zunehmende Differenzierung bei der Bearbeitung der Materialien Kenntnisse über China zu vertiefen. Anderer seits spezialisierten sich auch Vertreter anderer Disziplinen wie der Medizin, Architektur, Religionswissenschaft und Geographie auf China und bemühten sich um eine Integra tion fachwissenschaftlicher und sinologischer Ansätze und Fragestellungen. Otto Franke (1863-1946) vertiefte seine früheren Ansich ten über Stellung und Selbstverständnis der Sinologie, setzte sich auf hochschulpolitischer und politischer Ebene für den Ausbau des Faches ein und trug auf diese Weise maßgeblich zu einem breiten diversifizierten Lehrangebot und wachsenden Studentenzahlen bei. Franke wandte sich sowohl gegen die etablierte Philologie mit ihrem kulturellen Eurozentrismus, Gabelentz_s001-344AK6.indd 299 12.07.13 16: 28 <?page no="302"?> 300 die die Sinologie als „phantastische Spielereien von verschrobenen Stubengelehrten“ abtue, als auch gegen herrschende politische Kreise, die gar eine Einvernahme der Sinologie durch das „Chinesentum“ befürchteten. 83 Er beklagte die nach 1900 grassierende China-Literatur, die voller „lächerlicher Mißverständnisse und grotesker Phantasien (…) in dem bekannten Tone patriotischer Selbstzufriedenheit und witzelnder Geringschätzung“ sei. Und er wandte sich gegen Vorurteile, die aus „geschichtlicher Unkenntnis, kultureller Einseitigkeit und verletzendem Rasse-Hochmut“ resultierten. 84 Damit sich die Sinologie vom „Dilettantismus“ weg zu einer akademisch und gesellschaftlich anerkannten Disziplin entwickle, einer Disziplin, die auch den Bedürfnissen nach Erklärung gegenwärtiger Entwicklungen nachkomme, hielt Franke zweierlei für notwendig: erstens die Verbindung von klassischer und moderner Sinologie und zweitens eine Dif ferenzierung des Faches, d. h. eine Bearbeitung des Materials aufgeteilt nach verschiedenen Wissensgebieten. 85 Das Erlernen der modernen Gegenwartssprache sollte dabei am Anfang des Sinologiestudiums stehen. Damit wurden erstmals für die Sinologie Forderungen gestellt, deren Berechtigung und Stellenwert bis in die 1970er Jahre hinein innerhalb der Disziplin diskutiert werden sollten. Frankes zweite Forde rung führte in der Folge überdies zu wiederholten Versuchen, die Idee der Universalität des Faches einerseits und die fortschreitende notwendige Spezialisierung andererseits in ihrer wechselseitigen Verbindung zu bestimmen. 86 Otto Franke hatte zunächst in Berlin, Freiburg, Göttingen und Kiel Geschichte und Sanskrit studiert. Das Studium der chinesischen Sprache am gerade neugegründeten SOS eröff nete ihm dann eine Berufsperspektive im Dolmetscherdienst des Auswärtigen Amtes. 87 In den Jahren 1888 bis 1901 war Franke als Dolmetscher in China tätig. Er lernte auf zahlreichen Reisen das Land kennen, erlebte die Reformbewegung des Jahres 1898 mit und nahm an den Verhandlungen nach der Besetzung Jiaozhous durch deutsche Truppen teil. Nach seinem Ausscheiden aus dem Auswärtigen Dienst 1901 bil deten die aktuellen Tagesfragen den Hauptgegenstand seiner wissenschaftlich-journalistischen Tätigkeit bis 1909. In der Hauptsache war Franke jedoch als Legationssekretär der chi nesischen Gesandtschaft in Berlin (1903-1909) tätig; dies und sein Eintreten für und seine Verhandlungen über die Errichtung der Deutsch-Chinesischen Hochschule in Qing dao (1908) entsprachen seinen immer deutlicher formulierten Überzeugungen von der Notwendigkeit deutscher Kulturpolitik in China. Auch die offizielle Politik machte sich allmählich die Auffassung zu eigen, mittels einer gezielten Kulturpolitik den politischen und wirtschaftlichen Einfluss Deutschlands in China gegenüber England und den USA auszubauen. 88 Im Jahre 1909 übernahm Franke die erste deutsche Professur speziell für Sinologie, die am Hamburger Kolonialinstitut eingerichtet worden war. Damit widmete Franke sich zugleich wieder mehr wissenschaftlichen Arbeiten, die nach wie vor mit philologisch-textkritischen Arbeiten identifiziert wurden. Frankes Beschäftigung mit tagespolitischen Fragen wurde in seinen Berliner Jahren ab 1923 angesichts der Situa tion Deutschlands als „Verlierer des Krieges“ und damit auch dem Verlust deutschen Einflusses in China weiter wesentlich reduziert. Neben hochschulpolitischen Aktivitäten widmete er sich nun hauptsächlich der Grundlegung und Abfassung seines Hauptwerkes, der fünfbändigen Geschichte des Chine sischen Reiches (1930-1952), der nach seiner Emeritierung seine gesamte Arbeitskraft galt. Trotz oder auch wegen seiner national gesinnten Haltung und seines „echten vaterländi schen Sinn(es)“ - wie Haenisch es 1943 in einem Gutachten formulierte - blieb Franke den Nationalsozialisten fern. So sah sich der Reichsminister im Jahre 1943 nicht in der Lage, einem Antrag der Philosophischen Fakultät auf Verleihung des Adler-Schildes zu Frankes 80. Geburtstag nachzukom men. 89 Noch im Kriegsjahr 1942 prangerte Franke in versteckter Form nationalsozialistische Weltmachtansprüche an, indem er sowohl den alten chinesischen Anspruch auf Weltherrschaft als auch entsprechende englische Konzeptio nen als reine Machtpolitik verurteilte. 90 Frankes politisches und wissenschaftliches Interesse konzentrierte sich auf kulturgeschichtliche und geschichtliche Fragen: das Werden des chinesischen Staates, die Geschehnisse der Gegenwart und vor allem die Auseinandersetzungen der ostasiatischen Kulturwelt mit dem Abendland, den er als menschheitsgeschichtlichen Vorgang größten Ausmaßes wertete. Ausgangspunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit war das philologische Studium der Quellentexte. Die „philologisch-archäologische Methode“ war für ihn auch Gewähr der Sicherung historischen Denkens gegen Mystizismus und überhistorische Anschauungen, 91 wie sie sich gerade wieder in der Weimarer Republik artikulierten. Die Lektüre vor allem klassischer und historischer, aber auch buddhisti scher Texte bildete daher neben übergreifenden allgemeinen Vorlesungsthemen zur Geschichte, Philosophie und zu den abendländisch-chinesischen Beziehungen den Inhalt seiner Lehrveranstaltungen an der Berliner Universität. Gabelentz_s001-344AK6.indd 300 12.07.13 16: 28 <?page no="303"?> 301 Frankes „bahnbrechende Tätigkeit“ 92 auf dem Gebiet der chinesischen Geschichte bestand vorrangig darin, theoretisch und in seiner praktischen Ausführung von der bis dahin verbreiteten Identifizierung des realen Verlaufs der chinesischen Geschichte mit dem vorliegenden Schriften material wegzukommen. Er erkannte den Quellencharakter und damit auch die politische Intention der Verfasser chinesischer Geschichtswerke, sah die Diskrepanz von Wirklichkeit des historischen Geschehens und seiner Interpretation in den von ihm nun als „Lehrbuch der Staatsethik“ charakterisierten Werken der Frühlings- und Herbstannalen. Über dies suchte Franke die zahllosen Einzeldaten zur chinesischen Geschichte, die ihren Übersetzern bisher als schwer zu ordnende Fülle eines ungeheuren Tatsachenmaterials erschienen waren, zu systematisieren. Statt einer wahllosen Aneinanderreihung von Fakten - höchstens wie bei Schüler verbunden durch die beherrschende Macht von Persönlich keiten - arbeitet er typische allgemeine Charakteristika des chinesischen Geschichtsverlaufs im Vergleich zur europäischen Entwicklung heraus. Die chinesische Geschichte musste nun anders als noch bei Hegel und Ranke als untrennbarer Bestandteil der Weltgeschichte verstanden werden. 93 China war nicht geschichts- und konturlos, sondern hatte lediglich eine vom Abendland unterschiedliche Entwicklung genom men. Während sich im Abendland moderne National- und Rechtsstaaten herausgebildet hatten, hatten sich in China die Idee und der Anspruch des Universalstaates als Teil einer göttlichen Weltordnung bis in die Gegenwart erhalten. Die Idee des Universalstaates, die dem Staat das Primat zusprach, war denn auch für Franke die zentrale und bestimmende Idee der chinesischen Entwicklung, das ordnende und systematisierende Element. Die Darstellung der politischen Entwicklung steht daher im Vordergrund seiner Geschichte. Der konfuzianischen Weltanschauung, die das chinesische Schrifttum dominiert hatte und die bisherigen europäischen Darstellungen der chinesischen Geschichte maßgeblich be einflusst hatte, wird damit der Platz der „Ideologie“ zugewiesen. 94 Aus dieser Sicht wurde die Auseinandersetzung zwischen China und dem Abendland seit dem 19. Jahrhundert zu einem Kampf der europäischen Nationalstaaten, die sich gegen den Anspruch des chinesischen Staates als Universal staat durchzusetzen hatten. 95 Nicht technische Überlegenheit oder Rasseeigenschaften, sondern die Existenz und Bildung von Nationalstaaten war demnach maßgeblicher Faktor für die Überlegenheit gegenüber dem Universalstaat China - so formulierte Franke es im Jahre 1905. 96 Der „Gewaltakt“ der Besetzung Jiaozhous wird aus diesem Blickwinkel erklärbar, 97 doch er führte bei Franke nicht zur Rechtfertigung der Sicht Chinas als eines „Kolonialland(es)“ vom „hochmütigengherzigen Europäerstandpunkt“ aus. 98 Im Jahre 1942 sah sich Franke angesichts des rassisch begründeten Überlegenheitsdenkens nationalsozialistischer Spielart erneut genötigt zu betonen, dass „die Chinesen nicht anders sind als die Menschen unserer Sphären“. 99 Statt des Kampfes der Rassen hatte Franke die „ethische Einheit des Menschengeschlechtes als letztes Ziel“ im Sinn. 100 Differenzierung und Spezialisierung Das breite Lehrangebot über China in der Weimarer Republik wurde u. a. ermöglicht durch einige Privatdozenturen, die Erich Haenisch, Erich Hauer, Erich Schmitt und Walter Simon innehatten. Schmitt und Haenisch gaben Einführun gen in die klassische Schriftsprache. Schmitt las konfuzianische und daoistische Texte und hielt Vorlesungen zur chinesischen Staatslehre. Hauer befasste sich ebenfalls mit dem Konfuzianismus und Daoismus sowie mit seinem Spezialgebiet der mandschurischen Sprache und Geschichte. Er stand methodisch und inhaltlich de Groot nahe. Simon widmete sich vor allem linguistischen Fragen. F. W. K. Müller vom Museum für Völkerkunde, zuletzt Direktor der Ostasiati schen Abteilung des Museums, las buddhistische Texte. Otto Kümmel, der Mitherausgeber der Ostasia tischen Zeitung, vertrat die chinesische Kunst. Johannes Witte in der Theolo gischen Fakultät bot religionshistorische Vorlesungen über China oder Ostasien allgemein an. Georg Wegener von der Handels-Hochschule befasste sich in Forschung und Lehre mit der Volks- und Landeskunde Chinas. Franz Hübotter (1881-1967) hatte sich als erster in Deutschland auf chinesische Medizin spezialisiert. Medizin studium und praktische Tätigkeit als Arzt waren seinen Studien der orientalischen Sprachen und seiner Einarbeitung in chinesische medizinische Texte parallel gelaufen. Im Jahre 1914 hatte er sich für das Fach Geschichte der Medizin an der Berliner Universität habilitiert, 1922 wurde er zum außeror dentlichen Professor ernannt. 101 Seine Übersetzungen chinesischer medizinischer Schriften und vor allem sein Hauptwerk Die chinesische Medizin zu Beginn des XX. Jahrhunderts und ihr historischer Entwicklungsgang (1929) stellten erste Versuche dar, die chinesischen Leistungen auf diesem Gebiet anzuerkennen und zu würdigen. Gerade die chinesische Me - Gabelentz_s001-344AK6.indd 301 12.07.13 16: 28 <?page no="304"?> 302 dizin war seit dem 19. Jahrhundert in der abendländischen Rezeption der Kategorie chinesischen „Aberglaubens“ zugeordnet worden. Hübotter war in den 1920er Jahren und erneut von 1930 bis 1953 als praktischer Arzt in Japan und China, vor allem in Qingdao, tätig. Er eignete sich dort traditionelle medizini sche Praktiken wie Akupunktur und Moxibustion an. Nach Inhaftierung und Ausweisung aus China wurde er 1953 von der Medizinischen Fakultät der Freien Universität zum Honorarprofessor ernannt. Bis Mitte der 1960er Jahre hin ein lehrte er Geschichte der chinesischen Medizin und gab Einführungen in die Akupunktur mit praktischen Übungen. Nach wie vor hatte er sich gegen herrschende Vorurteile gegenüber chinesischer Medizin und Pharmakologie zu er wehren. 102 Hübotter war seinen „eigenen unbeirrten Weg als Wissenschaftler gegangen“, hatte „mit großer Hingabe und zäher Leidenschaft“ an der Erschließung und Würdigung chinesischer Heilkunst gearbeitet und hier eine „einzigartige Vermittlerrolle“ gespielt. 103 Ernst Boerschmann (1873-1949) spielte auf dem Gebiet der chinesischen Baukunst eine ähnliche Pionierrolle wie Hübotter für die chinesische Medizin. Seit 1924 lehrte der ehemalige Militär-Baumeister der ostasiatischen Be satzungsbrigade (1902) das Fach Chinesische Baukunst an der Technischen Hochschule. Seine Hauptwerke Die Baukunst und die religiöse Kultur der Chinesen in zwei Bänden (1911/ 1914), Baukunst und Landschaft in China (1923), Chinesische Architektur (1926) und Chinesische Baukeramik (1927) sind Ausdruck seiner Faszination und Hochschät zung der chinesischen Kultur. Charakterzüge und Weltanschauung, Philosophie und Religion, Schönheitsbegriffe und künstlerisches Empfinden der Chinesen: Dies alles offenbarte sich Boerschmann in der Architektur Chinas. 104 Boerschmann konnte sich mit seinen Vorstellungen in der deutschen China-Rezeption leichter durchsetzen; bereits im 18. Jahrhundert war die Größe chinesischer Bau- und insbesondere der Landschaftskunst gepriesen und von europäischen Baumeistern nachgeahmt worden. An der 1920 gegründeten Deutschen Hochschule für Politik wurden in der Studiengemeinschaft „Außenpolitik und Auslandskunde“ Asien und China mit behandelt. So war im 4. Semester des zweijährigen Studienganges der Bereich „Orient und Asien“ obligatorisch. U. a. hielt Richard Wil helm Vorlesungen über „Ostasien“ und „Geistige und politische Entwicklungen in China“ (1927). Der Generalsekretär des Verbandes für den Fernen Osten, Max Linde, sprach über politische und wirtschaftliche Probleme des Fernen Ostens (1926/ 27), und der spätere Botschafter in China, Oskar Paul Trautmann, dozierte über die weltpolitischen Entwicklungen in Ostasien. Neben diesen Vorlesungen, die sich teilweise an die Anwärter für den Dienst im Auswärti gen Amt wandten, fanden an der Hochschule bis zum Jahre 1933 auch regelmäßig zusätzlich Einzelveranstaltungen zum Thema China statt. 105 Erich Haenisch: Sprachen und klassisches Schrifttum Im Jahre 1932 übernahm Erich Haenisch (1880-1966) die Professur für Sinologie. Damit erhielt das Fach eine neue Ausrichtung, die in der nationalsozialistischen Ära mit ihren Forderungen nach tagespolitisch nutzbarer Wissenschafts produktion auch in der Orientforschung 106 einer politischen Verweigerung gleichkam. Haenisch, der noch unter Grube Chinesisch, Mandschurisch und Mongolisch studiert hatte, lehnte zwar die von Gabelentz vertretene reine Sprachwis senschaft ab, doch nahm die Sprache bei ihm eine ungleich wichtigere Stellung ein, als dies bei Otto Franke der Fall gewesen war. Sein vierbändiger Lehrgang der chinesischen Schriftsprache, der auf der Gabelentz’schen Grammatik auf baute, war das Ergebnis dieses Verständnisses von der Wichtigkeit der Sprachausbildung, und mehrere deutsche Sinologengenerationen sollten ihr chinesisches Sprachstudium mit dem „Haenisch“ beginnen. Sinologie war für Haenisch im engsten Sinne „der Teil der Chinakunde, der seine Erkenntnisse aus dem chinesi schen Schrifttum herleitet“. 107 Grundlage der Sinologie war daher eine fundierte grammatische Ausbildung und eine umfassende Lektüre klassischer Texte: „Das Geheimnis der Sinologie, das sich dem Studenten nur allmählich, langsam enthüllt, (besteht) in ständiger gewissenhafter Lektüre.“ 108 Das klassische Schrifttum Chinas, die reichste Literatur der Welt, war der Schlüssel zum Verständnis des Fernen Os tens insgesamt. Haenischs Interesse und Liebe galt dem alten konfuzianisch bestimmten China. Das neue China, die Republik, deren Beginn er im Jahre 1911 als Deutschlehrer in der Stadt Wuchang miterlebt hatte, zeigte sich ihm als Beginn einer „Periode der Wirren“. 109 Die Gegenwart war nicht Gegenstand seines Interesses, und die Beherrschung der modernen Umgangssprache galt ihm als nebensächlich. So sah er in den Lehrveranstaltungen des SOS lediglich eine Ergänzung zum Universitätsunterricht, die der praktischen Vorbildung für eine Auslandstätigkeit diente. 110 Haenischs Gabelentz_s001-344AK6.indd 302 12.07.13 16: 28 <?page no="305"?> 303 breitgefächerte Sprachkenntnisse waren die Grundlage seines Interesses für polyglotte Literatur, und sie bestimmten auch die Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Die Randgebiete Chinas, das chinesische Kolonialgebiet, bildeten einen Schwerpunkt seiner Arbeiten; im Jahre 1913 hatte er sich über einen der Kolonialkriege der Mandschu habilitiert und bis zu seinem Weggang aus Berlin 1923 hielt er Vorlesungen in diesem Bereich ab. Zugrunde lag dieser Beschäftigung die Idee von China als zentralem Kulturland Asiens, dessen Kolonialisierungsbemühungen auf dem Hintergrund überlegener Kultur durchaus als legi tim begriffen werden konnten. Die mongolische Geschichte des 13. und 14. Jahrhunderts, die Erschließung entsprechender Texte, war ein zweites Arbeitsfeld Haenischs. Die Rekonstruktion der Geheimen Geschichte der Mongolen und ihre Übersetzung (1940/ 1948), wurden zur „Krönung seiner Forschungen“. Einen dritten Schwerpunkt bildete der Konfuzianismus, hier vor allem die Widersprüche zwischen konfuzianischer Ethik und prak tischer Politik in der historischen Entwicklung. 111 „Gefangen vor allem von der Großartigkeit des konfuzianischen Staates“ - so sah es Haenisch selbst -, interessierten ihn die Männer, die „in kritischen Zeiten für ihn eingetreten sind, darunter Gestalten von wahrhaft römischer Größe und preußischer Pflichterfüllung“. 112 Mit diesem Credo grenzte Haenisch sich nicht allein von Frankes Einschätzung des konfuzianischen Staates ab, sondern bestimmte auch seine eigene Position und Haltung gegenüber dem nationalsozialistischen Regime. Konfuziani sche und preußische Tugenden und Pflichterfüllung waren für ihn eins, und so kämpfte er mit Argumenten von konfuzianischer Moral und Tugend gegen nationalsozialistische Unmoral und einen verbrecherischen Krieg. 113 Sein Eintreten für den Sinologen Simon, der wegen jüdischer Herkunft 1935 entlassen wurde, und seine einzelkämpferischen späteren Bemühungen um die Freilassung des in Buchenwald inhaftierten und ermordeten französischen Sinologen Henri Maspero 1944 demonstrierten seine Ablehnung eines Regi mes, dessen Vertreter ihn 1936 wegen seiner jüdischen Kontakte maßregelten 114 und ihm bis 1943 auch die Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften verweigerten. Die Unterscheidung von Sinologie als akademischer Wissenschaft und den China- und Chinesisch-Studien am SOS wurde von Haenisch mit solcher Konsequenz durchge führt, dass die Dozenten des SOS in seinem Beitrag über die Sinologie in Berlin keine Erwähnung finden. Dozenten des SOS in den 30er und 40er Jahren Ferdinand Lessing, Walter Trittel, Max Gerhard Pernitzsch und zuletzt Wolfgang Seuberlich waren neben Wilhelm Schüler in der Zeit des Nationalsozialismus als Dozenten für Chinesisch am SOS beschäftigt. Ferdinand Lessing (1882-1961) hatte in Berlin Jura und orientalische Sprachen studiert und das Chinesisch-Diplom am SOS gemacht (1902-1905), bevor er nach kurzer Tätig keit am Museum für Völkerkunde im Jahre 1907 nach China ging. Dort arbeitete er bis zum Jahre 1925 als Dozent und Professor für Deutsch, später auch für Sanskrit, u. a. an der Deutsch-Chinesischen Hochschule in Qingdao, der Peking- Universität und der Hochschule für Medizin in Mukden. Im Jahre 1912 publizierte er gemeinsam mit W. Othmer den Lehrgang der Nordchinesischen Umgangsspra che, der in den folgenden Jahrzehnten als Lehrbuch an deutschen Univer sitäten benutzt werden sollte. Das qualifizierte ihn u. a. für die Dozentenstelle am SOS, die er 1925 erhielt. Seit 1929 war er gleichzeitig als Kustos und Professor am Völkerkunde- Museum tätig. In diesem Zusammenhang nahm er in den Jahren 1930 bis 1933 an der Großen Forschungsexpedition Sven Hedins teil. Die Studien des Lamaismus, der ihn seit seinen ersten Jahren in China fasziniert hatte, konnte Les sing nun durch Felduntersuchungen in der südlichen Mongolei und insbesondere auch des Yonghegong, des größten Lama-Tempels in Peking, fortsetzen. Z wei Jahre nach seiner Rückkehr aus China ließ Lessing sich zunächst aufgrund seiner Ernennung zum Professor auf Zeit in Berkeley beur lauben. Dies wurde ihm wegen der „hervorragenden kulturpolitischen Wichtigkeit“ und der „Werbung für die deutsche Sache“ 115 auch gewährt, dann jedoch wurde eben wegen Zweifeln an Lessings Wirken für die „deutsche Sache“ seine Rückkehr nach Berlin gefordert. Lessing zog es jedoch vor, in Berkeley zu bleiben. 116 In den USA war er der erste Spezialist, der Tibetisch und Mongolisch anbot und somit zur Etablierung dieser Disziplinen wesentlich beitrug. 117 Walter Trittel (1880-1948? ) hatte in den Jahren 1907 bis 1914 als Verwaltungsbeamter in Jiaozhou gearbeitet. Nach mehrjähriger japanischer Gefangenschaft im Ersten Welt krieg war er in den Dienst der niederländisch-indischen Regierung auf Java getreten. Im Jahre 1926 war der Kolonialbeamte dann zunächst als Lehrer für Malaiisch, Javanisch und Siamesisch ans SOS gekommen. Seit 1932 bis zum Kriegsende unterrichtete er außerdem chinesische Umgangssprache und gab Einführungen in die Geschichte, Geographie Gabelentz_s001-344AK6.indd 303 12.07.13 16: 28 <?page no="306"?> 304 und Religion Chinas. Seine 1927 und 1928 publizierten chinesisch-deutschen Wörterverzeichnisse waren die ersten Spezialwörterbücher zur chinesischen Zivil- und Strafpro zessordnung. Der Direktor des SOS, Franz Alfred Six, bescheinigte Trittel, einem „ehrenamtlichen Mitarbeiter der Reichsführung SS“, in einem Gutachten zwecks Ernennung zum Professor im Jahre 1942 „persönliche Lauterkeit“ und „nationalsozialistische Zuverlässigkeit“. 118 Max Gerhard Pernitzsch (1882-1945) trat im Sommer 1935 die Nachfolge Schülers an. Auch er war Absolvent des SOS, hatte in Peking und Shanghai in den Jahren 1905 bis 1917 als Dolmetscher, später dann im Auswärtigen Amt ge arbeitet und war dann wie Trittel lange Jahre (1920-1935) für die niederländisch-indische Regierung tätig. Seine Veröffentlichungen haben engen Bezug zu seiner Lehrtätigkeit. Einmal handelt es sich um Sprachlehrmaterialien: eine Auswahl moderner chinesischer Prosa stücke (1936) und das Wörterbuch zur Auswahl moderner chinesischer Prosastücke (1942). Zum andern gab er in der Schriftenreihe des SOS der „Kleinen Landeskunde“ den Band China (1940 und 1943 in zweiter Auflage) heraus. Trotz der Anlehnung an deutsch nationales und nationalsozialistisch beeinflusstes Vokabular handelt es sich dabei wesentlich um eine sachliche, faktenreiche Darstellung der chinesischen Entwicklung, in der noch die Hochachtung vor der „Kraft des Chinesentums“ 119 und der chinesischen Kultur zum Ausdruck kommt. Neubeginn und Neuorientierung Mit dem Kriegsende 1945 wurde die personelle Kontinuität der Sinologie durch den Weggang Haenischs nach München und die Auflösung der Auslandswissenschaftlichen Fakul tät, nämlich des SOS, zunächst unterbrochen. Ab Ende der 1940er Jahre nahm die Humboldt-Universität den Lehrbetrieb im Fach Sinologie wieder auf 120 ; die Freie Universität richtete im Jahre 1956 Sinologie als Fach ein. Die Umwandlung einer Ethnologie-Stelle ermöglichte die Berufung von Walter Fuchs (1902-1979), dem die Aufgabe des Neuaufbaus zukam. Nach wie vor war das Fach als Teil der Orientalistik in der Fakultät für Philosophie verankert. Und es waren vor allem die Traditionen der Texterschließung und philologischen Orientierung, an die in den 50er Jahren mit Fuchs und 1961 von seinem Nachfolger Alfred Hoffmann (1911-1997) angeknüpft wurde. Beide hatten Anfang bzw. Ende der 1920er in Berlin Sinologie studiert und ihr Dip lom am SOS gemacht. Sie hatten lange Jahre in China gelebt und gearbeitet und insbesondere Fuchs hatte nach mehr als zwei Jahrzehnten in China eine zweite Heimat gefunden. 121 Fuchs’ Interessen und Arbeitsschwerpunkte waren mit dem alten China verbunden gewesen, vor allem mit der frühen Qing-Zeit (1644-1911) und ihren mandschurischen Quel len. Hoffmann, der sich in den 1930er Jahren um die Übersetzung moderner chinesischer Literatur, u. a. Lu Xuns und Hu Shis, verdient gemacht hatte, widmete sich später vor allem der klassischen Dichtung der Tang- und Song-Zeit (608-1297). 122 Den Schwerpunkt der Lehrveranstaltungen in den 1950er und frühen 1960er Jahren bildeten Einführungen in die klassische Sprache und Textlektüre, doch gleichzeitig fanden bereits Einführungen in das moderne Chinesisch statt. Eine allgemeine Neuorientierung der Sinologie an der Freien Universität wurde ab Mitte der 1960er Jahre einge leitet. Sie ist in den Rahmen bundesdeutscher Diskussionen um ein neues Selbstverständnis des Faches einzuordnen. Diese Diskussionen und die institutionelle Etablierung der Sinologie an den Universitäten stand einmal unter dem Ein fluss der allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Anforderungen, die sich für das Fach aus den aktuellen deutschchinesischen Beziehungen ergaben. Zum anderen wirkte die neue Organisation der Sinologie an den amerikanischen Universitäten als Vorbild. Inhaltlich konnte an Forderungen nach Differenzierung des Faches und nach Einbeziehung des gegenwärtigen China in die Sinologie, wie sie von Otto Franke bereits gestellt worden waren, angeknüpft werden. Wolfgang Franke (1912-2007), Professor für Sinologie an der Universität Hamburg, hatte bereits im Jahre 1951 - in der Tradition seines Vaters Otto Franke stehend - erstmals ein Abgehen von der Sinologie als einer Universalwissen schaft und die Spezialisierung nach verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen: als Historiker, Linguist, Philosoph usw. gefordert. 123 Ende 1959 formulierte der auch mit Sinologen besetzte Ausschuss für Asienforschung des Arbeitskreises für Ost-West-Fragen des Auswärtigen Amtes die neuen An forderungen von Wirtschaft und Gesellschaft an die Asien- Fachleute. Sie sollten dem „nationalen, sozialen und wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozeß“ der Völker Asiens ihr wissenschaftliches Interesse schenken. 124 Im Jahre 1960 erneuerte Wolfgang Franke seine Forderung nach Spezialisierung innerhalb der Sinologie und wies Widerstände innerhalb des Faches gegen eine Aufteilung zurück. Die fehlende Spezialisierung sah er als Grund für das Zurück bleiben deutscher Sinologie hinter dem internationalen wis- Gabelentz_s001-344AK6.indd 304 12.07.13 16: 28 <?page no="307"?> 305 senschaftlichen Standard an. Erneut verwies er überdies auf die Bedeutung der Erforschung des modernen China. Spezialisierung bzw. Differenzierung und Gegenwartsbezogenheit waren seitdem zentrale Begriffe in den nachfolgenden Selbstverständnisdiskussionen des Faches. Ab Mitte der 1960er Jahre zeichnete sich eine erste Um setzung dieser Forderungen, wie sie sowohl vom Wissenschaftsrat als auch von der Deutschen Forschungsgemeinschaft vertreten worden waren, ab. Das Ostasien-Institut an der Ruhr-Universität Bochum beanspruchte dabei Modellcharakter sowohl hinsichtlich der Differenzierung der Sinologie in Geschichte, Sprache und Literatur oder Wirtschaft Chinas als auch hinsichtlich der Gegenwartsbezogenheit des Faches. Dementsprechend sollten in wissenschaftstheore tischer Hinsicht nicht allein die „historisch-philologischen Aspekte der traditionellen Sinologie“ berücksichtigt werden, sondern darüber hinaus die wissenschaftlichen Methoden der jeweiligen Disziplinen Anwendung finden. 125 An der Freien Universität war ebenfalls bereits seit Mitte der 1960er Jahre der Schwerpunkt auf das moderne China und das moderne Chinesisch verlagert worden. Studenten, die im Rahmen der Studentenbewegung politisiert und durch die kulturrevolutionären Ereignisse in China zu dem in höchstem Grade motiviert waren, traten Ende der 1960er Jahre vehement für eine weitergehende Reform und Reorganisation der Sinologie ein. Das Fach wurde ausgebaut, und mit der Schaffung von Stellen vor allem im Wissen schaftlichen Mittelbau wurde zugleich eine Differenzierung der Sinologie angestrebt. Die organisatorische Verankerung des Faches im Fachbereich für Philosophie und Sozialwis senschaften und die inhaltliche Neubestimmung der Sinologie in der Studienordnung markieren ab den 1970er Jahren das neue Selbstverständnis der Sinologie als einer sozialwissenschaftlich orientierten Disziplin. Zitierte Literatur Arendt, Karl: Briefwechsel Arendt-Sachau im Januar 1888, in: Geh. Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. Hauptabteilung, Seminar für Orientalische Sprachen, Karl Arendt, Rep. 208 A, Nr. 49, Bl. 15 ff. Arendt, Karl: Schreiben an Sachau vom 16. 1. 1888, in: Geh. Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. Hauptabteilung, Seminar für Orientalische Sprachen, Karl Arendt, Rep. 208 A, Nr. 49, Bl. 27 ff. 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