Variation und Wandel in der Syntax der alten indogermanischen Sprachen
0128
2015
978-3-8233-7796-2
978-3-8233-6796-3
Gunter Narr Verlag
Carlotta Viti
CC BY-SA 4.0https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de
Dieser Band ist der diachronen Syntax gewidmet, einem relativ unerforschten Bereich innerhalb der Linguistik. In sieben Kapiteln diskutiert die Autorin die syntaktischen Kategorien und Funktionen, die Hierarchie und die Wortfolge des Indogermanischen. Anhand von Fallbeispielen aus dem Lateinischen, Altgriechischen, Vedischen und Hethitischen sowie aus anderen alten indogermanischen Sprachen analysiert sie Probleme der syntaktischen Rekonstruktion und die Mechanismen, die dem syntaktischen Wandel zugrunde liegen. Die Überlegungen alter indischer und griechisch-römischer Grammatiker zur Syntax werden mit einbezogen, um Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen alter und neuer syntak tischer Theorie zu erörtern. Darüber hinaus nimmt der Band für die Erklärung verschiedener syntaktischer Strukturen Bezug auf Prinzipien der Semantik, der Pragmatik, der Informationsstruktur sowie der Kontaktlinguistik, und kann so auch einen Beitrag zu einem interdisziplinären Ansatz für die historische Linguistik leisten.
<?page no="0"?> Carlotta Viti Variation und Wandel in der Syntax der alten indogermanischen Sprachen <?page no="1"?> Variation und Wandel in der Syntax der alten indogermanischen Sprachen <?page no="2"?> Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 542 <?page no="3"?> Variation und Wandel in der Syntax der alten indogermanischen Sprachen Carlotta Viti <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. 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Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2.2.1 Wortarten in der griechisch-römischen Tradition . . 40 2.2.2 Wortarten in der indischen Tradition . . . . . . . . . . . . . 44 2.2.3 Kriterien für die syntaktische Kategorisierung in den alten idg. Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.3 Die Typologie der Wortarten in den alten idg. Sprachen . . 52 2.3.1 Offene Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2.3.1.1 Das Adjektiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2.3.1.2 Das Adverb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2.3.2 Geschlossene Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2.3.2.1 Proformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2.3.2.2 Konjunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2.3.2.3 Nomenadjunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2.3.2.4 Verbadjunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2.3.2.5 Andere geschlossene Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 7 <?page no="8"?> 2.4 Die Synchronie der Kategorien: systembedingte Implikationen im Bereich geschlossener Kategorien . . . . . . . 96 2.5 Die Diachronie der Kategorien: von der semantischen zur syntaktischen Kategorisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 2.6 Regelmäßiger und unregelmäßiger Wandel der syntaktischen Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 2.7 Externe Faktoren beim Wandel der syntaktischen Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2.8 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . 124 Kapitel III Syntaktische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 3.1 Forschungsfragen zu den syntaktischen Funktionen . . . . . . 127 3.2 Variation der syntaktischen Funktionen im Indogermanischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 3.2.1 Subjekt und Topik: Urindogermanisch als eine topikprominente Sprache? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 3.2.2 Subjekt und Agens: Transparenz der Kasus in den alten idg. Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3.3 Kanonische und nicht-kanonische Strukturen im Indogermanischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 3.3.1 Nicht-kanonische Markierung in der Sprachtypologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 3.3.2 Variation der nicht-kanonischen Markierung in den idg. Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 3.3.2.1 Satz-bedingte Markierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 3.3.2.2 Argument-bedingte Markierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 3.3.2.3 Prädikat-bedingte Markierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 3.3.3 Asymmetrie der nicht-kanonischen Markierung in den alten idg. Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 3.4 Wandel der syntaktischen Markierung im Indogermanischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 3.4.1 Erbschaft und Richtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 3.4.2 Wandel der Empfindungsverben . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 3.4.2.1 Weise des Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 3.4.2.2 Erklärung des Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 3.4.3 Wandel der Witterungsverben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 3.4.4 Wandel der Modalverben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 3.5 Areale Variation der syntaktischen Markierung im Indogermanischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 3.5.1 Areale Variation im Standard Average European vs. alte idg. Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 8 <?page no="9"?> 3.5.2 Eine syntaktische Isoglosse: Argument-Kodierung in nördlichen und westlichen vs. südlichen und östlichen alten idg. Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 3.5.2.1 Norden und Westen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 3.5.2.2 Süden und Osten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 3.5.2.3 Die mittlere Stellung des Lateinischen . . . . . . . . . . . . . 209 3.5.3 Überregionale semantische Faktoren bezüglich der Markierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 3.6 Kanonizität in den alten und in den modernen idg. Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 3.7 System-Dependenz der syntaktischen Funktionen im Indogermanischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 3.7.1 Asymmetrie in der Markierung des ersten vs. zweiten Arguments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 3.7.2 Eine Implikationsskala für das erste Argument . . . . 229 3.8 Aktiv-stative Syntax im Urindogermanischen? . . . . . . . . . . . . 235 3.8.1 Die aktiv-stative Hypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 3.8.2 Kritik der aktiv-stativen Hypothese . . . . . . . . . . . . . . . 240 3.9 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . 244 Kapitel IV Syntaktische Hierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 4.1 Forschungsfragen zur syntaktischen Hierarchie . . . . . . . . . . . 249 4.2 Variation in der Hierarchie der alten idg. Sprachen . . . . . . . 254 4.2.1 Null-Anaphora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 4.2.2 Das Hyperbaton . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 4.2.3 Andere Merkmale der Nicht-Konfigurationalität im Indogermanischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 4.3 Wandel in der Rektion im Indogermanischen . . . . . . . . . . . . . 271 4.3.1 Niedrige Rektionsfähigkeit der alten idg. Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 4.3.2 Genitiv vs. Apposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 4.3.3 Genitiv vs. Dativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 4.3.3.1 Dativus sympatheticus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 4.3.3.2 Dativus commodi / incommodi vs. dativus ethicus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 4.3.3.3 Dativus iudicantis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 4.3.3.4 Verfall der freien Dative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 4.3.4 Genitiv vs. Adjektiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 4.4 Wandel in der Modifikation im Indogermanischen . . . . . . . 305 4.4.1 Unterschiedliche hierarchische Beziehungen zwischen Adjektiv und Nomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 9 <?page no="10"?> 4.4.2 Verstoß gegen das anaphoric island constraint in den alten idg. Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 4.4.3 Späte Entstehung integrierter NP . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 4.4.4 Seltenheit intensionaler Adjektive . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 4.4.5 Verlust adverbialer Adjektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 4.4.6 Zur Frage der Vereinigung attributiver und prädikativer Adjektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 4.5 Wandel in der Satzverbindung im Indogermanischen . . . . . 317 4.5.1 Angeschlossene Strukturen für Relativsätze . . . . . . . 317 4.5.2 Eingebettete Strukturen für Adverbialsätze . . . . . . . . 321 4.5.2.1 Beziehung zwischen Adverbialsatz und Hauptsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 4.5.2.2 Stellung des Adverbialsubordinators im Nebensatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 4.5.3 Nicht-finite Strukturen für Ergänzungssätze . . . . . . . 331 4.5.3.1 Anwendung der Complement Deranking Hierarchy auf die idg. Ergänzungssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 4.5.3.2 Entwickung der Einbettung bei den Ergänzungssätzen der klassischen Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 4.5.4 Absolute Konstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 4.5.4.1 Ursprung der absoluten Konstruktionen . . . . . . . . . . 343 4.5.4.2 Der dativus absolutus des Gotischen, Altkirchenslawischen und Litauischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 4.6 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . 354 Kapitel V Syntaktische Linearität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 5.1 Forschungsfragen zur syntaktischen Linearität . . . . . . . . . . . . 361 5.2 Kritik zur Debatte über die Wortfolge der alten idg. Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 5.2.1 Stilistische und sprachphilosophische Interpretationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 5.2.2 Syntaktische Interpretationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 5.2.3 Funktionale Interpretationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 5.3 Alter, Arealität und Gattung in der Wortfolge der alten idg. Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 5.4 Variation der Linearität in den alten idg. Sprachen . . . . . . . 385 5.5 Wandel der Linearität von den alten zu den modernen idg. Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 5.6 Eine besondere lineare Anordnung: die Wackernagel- Position . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 5.7 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . 409 10 <?page no="11"?> Kapitel VI Syntaktische Rekonstruktion im Indogermanischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 6.1 Forschungsfragen zur syntaktischen Rekonstruktion . . . . . . 411 6.2 (Un)möglichkeit syntaktischer Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . 412 6.2.1 Syntaktische Rekonstruktion und Phylogenese . . . . 412 6.2.2 Rekonstruktion syntaktisch uneinheitlicher Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 6.2.3 Rekonstruktion anwesender und abwesender Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 6.3 Mechanismen syntaktischer Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . 422 6.3.1 Innere und äußere Mechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 6.3.2 Pro und Contra Grammatikalisierung . . . . . . . . . . . . . 426 6.3.2.1 Kritische Stellungnahme zur Grammatikalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 6.3.2.2 Unabhängiger Status . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 6.3.2.3 Gradualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 6.3.2.4 Unidirektionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 6.3.2.5 Tendenzen hinter den Ausnahmen zur Grammatikalisierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 6.4 System vs. Diachronie als Grund des syntaktischen Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 6.4.1 System und Diachronie in verschiedenen linguistischen Bereichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 6.4.2 Ursprüngliche Inhomogenität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 6.5 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . 449 Kapitel VII Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 7.1 Indogermanische Syntax und Allgemeine Sprachwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 7.2 Dialog zwischen verschiedenen syntaktischen Theorien . . . 452 7.2.1 Syntaktische Theorie in der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . 452 7.2.2 Aus formalen Paradigmen syntaktischer Analyse: systemische Korrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 7.2.3 Zwischen Formalismus und Funktionalismus: Implikationsskalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 7.2.4 Aus dem funktional-typologischen Ansatz: Diachronie, Gebrauch, Varietät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 7.3 Intermezzo: Abklärung einiger syntaktischer Prinzipien . . 458 7.4 Motive einer syntaktischen Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . 465 7.4.1 Ursprüngliche und natürliche syntaktische Variation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 11 <?page no="12"?> 7.4.2 Rekonstruktive Praxis der syntaktischen Variation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 7.4.3 Zu einer Untersuchung syntaktischer Isoglossen im Indogermanischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 7.4.4 Syntaktische Strukturen in alten und modernen idg. Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 7.4.5 Mündliche Merkmale der alten idg. Syntax . . . . . . . 471 7.4.6 Relevanz der alten idg. Sprachen für die moderne syntaktische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 12 <?page no="13"?> Abkürzungsverzeichnis ABL = Ablativ ABS = Absolutiv ADESS = Adessiv ADV = Adverb Ahd. = Althochdeutch Aksl. = Altkirchenslawisch Altgr. = Altgriechisch Altengl. = Altenglisch Altir. = Altirisch Altisl. = Altisländisch Altita. = Altitalienisch AKK = Akkusativ AN = Adjektiv-Nomen AOR = =Aorist AP = Adjektivphrase A. P. = Altpersisch Arm. = klassisches Armenisch ART = Artikel Att. = Attisch Aw. = Awestisch C = genus commune Cic. = Cicero CP = Complementizer dt. = deutsch DAT = Dativ DB = Darius ’ Behistun Inschrift Dor. = Dorisch DU = Dual ENKL = Enklitik ERG = Ergativ F = Femininum GEN = Genitiv GER = Gerundium GN = Genitiv-Nomen Got. = Gotisch Hdt. = Herodot Heth. = Hethitisch Hom. = Homer idg. = Indogermanisch IF = Infinitiv IND = Indikativ INDEF = Indefinitpronomen INJ = Injunktiv INESS = Inessiv INSTR = Instrumental Ion. = Ionisch IPF = Imperfekt IPV = Imperativ KAUS = Kausativ KOM = Komitativ KOMP = Komparativ KONJ = Konjunktiv KONN = Konnektiv KSt = Komparativ-Standard Lat. = Latein Let. = Lettisch Lesb. = Lesbisch LIG = Ligatur Lit. = Litauisch Liv. = Livius LOK = Lokativ M = Maskulinum Marian. = Codex Marianus Mt. = Matthäus MED = Medium N = Neutrum NA = Nomen-Adjektiv NE = Neuenglisch NEG = Negation NOM = Nominativ Norw. = Norwegisch 13 <?page no="14"?> NG = Nomen- Genitiv NPAST = Non-Past NPost = Nomen-Postposition NV = Nomen-Verb OBL = casus obliquus OPT = Optativ P āṇ . = P āṇ ini PART = Partitiv PASS = Passiv PERL = Perlativ PF = Perfekt Pl. = Plautus Plat. = Platon PL = Plural PLD = primary linguistic data Port. = Portugiesisch POSS = Possessivmarker PP = Präpositionalphrase PPP = Participium Perfectum Passivum PPRF = Plusquamperfekt PräN = Präposition-Nomen PRÄT = Präteritum PRÄV = Präverb PRS = Präsens PTK = Partikel PTZ = Partizip QUOT = Quotativ REFL = Reflexivum REL = Relativmarker RP = Relativpronomen RV = Rig-Veda SAE = Standard Average European S´ B = S´ atapathabr ā hmana · Sen. = Seneca SG = Singular Skr. = Sanskrit Slaw. = Slawisch SOV = Subjekt-Objekt-Verb Sp. = Spanisch StK = Standard-Komparativ SUP = Supinum SVO = Subjekt-Verb-Objekt Swe. = Swedisch Ter. = Terenz Toch. = Tocharisch TOP.M = Topic Marker Thuk. = Thukydides Umbr. = Umbrisch uridg. = urindogermanisch Ved. = Vedisch VOK = Vokativ VSO = Verb-Subjekt-Objekt Wal. = Walisisch Y. = Yasna Yt. = Ya š ts Zogr. = Codex Zographensis 14 <?page no="15"?> Vorwort Diese Arbeit ist die leicht revidierte Fassung meiner Habilitationsschrift in vergleichender indogermanischer Sprachwissenschaft, die an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Oktober 2011 eingereicht und im April 2012 angenommen wurde. Sie ist aber auch das Ergebnis meiner langjährigen Beschäftigung mit Themen der diachronen Syntax während verschiedener Lehr- und Forschungserfahrungen in Pisa, Bologna, Rom, Leipzig, Jena und Zürich. Für den stimulierenden wissenschaftlichen Dialog und die Freundschaften, die dabei oft auch entstanden sind, möchte ich den Kollegen bzw. Kolleginnen und den Studierenden der genannten Universitäten meinen Dank aussprechen. Ich bedanke mich besonders bei Rosemarie Lühr dafür, dass sie mir beigebracht hat, mit unterschiedlichen alten indogermanischen Sprachen und mit unterschiedlichen linguistischen Theorien zu arbeiten; auch von ihrem DFG-Projekt über Korpuslinguistik und Informationsstruktur in den alten indogermanischen Sprachen, im Rahmen dessen ich angestellt war, habe ich viel profitiert. Ebenfalls sehr dankbar bin ich meinen Kollegen des Klassisch-Philologischen Seminars der Universität Zürich, Ulrich Eigler und Christoph Riedweg: Mit ihrem Sprachgefühl für das Lateinische und das Altgriechische haben sie mir mit vielen Bemerkungen und Hinweisen oft weitergeholfen, und ich schätze es sehr, dass sie sich dafür viel Zeit genommen haben. Außerdem haben mir unsere gemeinsamen Kolloquien geholfen, die Texte der alten idg. Sprachen in einem breiteren literarischen, historischen und kulturellen Kontext anzuschauen; dadurch wurden mir interdisziplinäre Beziehungen auch zu anderen Seminaren der Universität Zürich möglich. Insbesondere habe ich durch die Kolloquien von Michele Loporcaro über die italienische historische Linguistik viel gelernt. Für die Lesung dieser Schrift oder Teilen davon, Korrekturen, Kommentare oder ausführliche Antworten auf meine Fragen über die Sprachen und die linguistischen Themen ihrer Kompetenzen habe ich den folgenden Forschern zu danken: Wolfgang Behr, Viviane Bergmaier, Balthasar Bickel, Carmen Cardelle de Hartmann, Luz Conti, Paola Cotticelli Kurras, Elettra Curetti Scharer, Eystein Dahl, George Dunkel, Christa Dürscheid, Heiner Eichner, Ulrich Eigler, Gisella Ferraresi, Laura Gemelli Marciano, Elvira Glaser, Aaron Griffith, Dag Haug, Heinrich Hettrich, Marianne Hundt, Giorgio Iemmolo, Andreas Jucker, Daniel Kölligan, Ekkehard König, Thomas Krisch, Michele Loporcaro, Rosemarie Lühr, Silvia Luraghi, Martin Meyer, Sergio Neri, Oswald Panagl, Frans Plank, Christoph Riedweg, Alfredo Rizza, Ludwig Rübekeil, Velizar Sadovski, Stefan Schmid, Daniel 15 <?page no="16"?> Schreier, Ilja Ser ž ant, Elisabeth Stark, Olga Timofeeva, Nigel Vincent, Daniel Weiss, Sabine Ziegler, Susanne Zeilfelder, Mirjam Zumstein. Mit meinem Mann, Giampiero Giovacchini, habe ich das Material auch ausdiskutiert: ihm wünsche ich gute Genesung. Schließlich bin ich meinen Eltern dankbar, die mir zu studieren erlaubt haben. 16 <?page no="17"?> Kapitel I Einleitung 1.1 Gegenstand und Zielsetzung der Arbeit Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der synchronen Variation der Syntax der alten indogermanischen (idg.) Sprachen und mit dem diachronen Wandel der Syntax des Urindogermanischen (uridg.). Diese Themen müssen notwendigerweise zusammen betrachtet werden, wenn man davon ausgeht, dass, obwohl nicht jede Variation zu Wandel führt, jeder Wandel das Ergebnis einer Variation zwischen konkurrierenden Strukturen in der Synchronie ist. Eine solche Untersuchung setzt daher auch die Diskussion einiger Probleme der syntaktischen Rekonstruktion sowie der Mechanismen voraus, die dem syntaktischen Wandel zugrunde liegen. Es ist anerkannt, dass die Indogermanistik der Syntax weniger Aufmerksamkeit geschenkt hat als der Phonologie und der Morphologie, obwohl sie der Syntaxforschung bedeutsame Beiträge geliefert hat. Die ihr zustehende Wichtigkeit erhält die Syntax erstmals mit Chomsky und mit dem Generativismus, und so ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jh. eine Blüte neuer syntaktischer Studien zu verzeichnen, auch in anderen theoretischen Rahmen wie dem Funktionalismus und der Typologie (§§ 1.2, 1.3). Auch auf die alten idg. Sprachen können diese modernen Ansätze fruchtbar angewendet werden, indem nun Generalisierungen für die Mannigfaltigkeit der Daten zur Verfügung stehen, die in den traditionellen Grammatiken gesammelt und beschrieben wurden, jedoch oft unerklärt blieben. Außerdem können durch den Vergleich mit nicht-idg. Sprachen Parallelen für Strukturen identifiziert und einbezogen werden, die bislang als grammatische Idiosynkrasien oder als flores rhetoricae bewertet wurden. Allerdings widersetzen sich die Texte der alten idg. Sprachen einigen Annahmen der modernen syntaktischen Ansätze: so können die von Greenberg (1966) identifizierten Korrelationen der Wortfolge nicht vollumfänglich auf die alten idg. Sprachen angewendet werden, ganz im Gegensatz zur Meinung von W. Lehmann (1974), und auch die Hypothese vom Urindogermanischen als einer konsistenten SOV-Sprache wurde bereits angefochten (vgl. Friedrich 1975; Watkins 1976; Clackson 2007: 165ff; Fortson 2010: 154 ff). Die idg. Sprachen, die eine so lange Überlieferung haben und die am häufigsten beschriebenen Sprachen der Welt sind, können somit Beweise oder Widerlegungen der Konzepte der synchronen Linguistik liefern. Wenn ein postuliertes allgemeines Prinzip in den alten idg. Sprachen nicht funktioniert, sollte es verfeinert und auf 17 <?page no="18"?> bessere empirische Grundlagen gestellt werden. Ein Ziel der vorliegenden Arbeit ist es zu zeigen, wie ein gegenseitiger Austausch zwischen Indogermanistik und allgemeiner Sprachwissenschaft aussehen könnte (§ 1.4). 1.2 Verschiedene Ansätze zur Syntax 1.2.1 Syntax bei den Junggrammatikern und den Strukturalisten Die Tatsache, dass der Syntax in der Indogermanistik weniger Gewicht verliehen wurde als anderen grammatischen Bereichen, ist schon daraus ersichtlich, dass viele traditionelle Grammatiken der alten idg. Sprachen nur Lautlehre, Formenlehre und Wortbildung - ohne Syntax - einschließen. Trotzdem sind der Syntax der alten idg. Sprachen auch wichtige Arbeiten gewidmet worden, zuvorderst von Berthold Delbrück, der mit seinen fünf Büchern Syntaktischer Forschungen (1871; 1877; 1878; 1879; 1888) und seiner dreibändigen Vergleichenden Syntax der indogermanischen Sprachen (1893; 1897; 1900) als „ Vater der indogermanischen Syntax “ anzusehen ist (vgl. Crespo & García Ramon 1997). Weitere wertvolle Werke von Junggrammatikern und Strukturalisten zur Syntax - in einem allgemeineren Kontext - sind: Die Syntax des einfachen Satzes im Indogermanischen von Brugmann (1925), die Vorlesungen über Syntax von Wackernagel (1926-1928), die zwei letzten Bände der Indogermanischen Grammatik von Hirt (1921 - 1937, Bd. VI, VII) und - mit Fokus auf spezifische Sprachen - der syntaktische Teil der Deutschen Grammatik von Grimm (1870 - 1898), die Syntax in der Vergleichenden Grammatik der slawischen Sprachen von Miklosich (Bd. IV, 1874), die Sanskrit Syntax (1886) und die Vedische und Sanskrit-Syntax (1896) von Speyer, die Syntax und syntaktische Stilistik der Griechischen Grammatik von Schwyzer (1950) und die Lateinische Syntax und Stilistik von Hofmann und Szantyr (1965). Junggrammatiker und Strukturalisten haben nicht nur zur Datensammlung und syntaktischen Beschreibung beigetragen, sondern auch zur Formulierung einiger Prinzipien, die die synchrone Darstellung der syntaktischen Einheiten und ihren Wandel in der Diachronie erklären können und die die Ursprünge der im 20. Jh. entwickelten syntaktischen Theorien sind. In der Synchronie verstanden die Kenner der alten idg. Sprachen, dass es neben dem von F. De Saussure (1916) postulierten Leitgedanken der Arbitrarität des Zeichens auch ikonische Aspekte der Sprache gibt. Die Ikonizität deutet die Tatsache an, dass es eine gewisse Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Ausdruck und Inhalt gibt. Von Peirce werden mehrere Formen von Ikonizität identifiziert (vgl. Hartshorne & Weiss 1931 - 1958). Die Ikonizität kommt nicht nur in einzelnen Ausdruck-Inhalt-Paaren vor, sondern auch in der Beziehung verschiedener Ausdrücke untereinander in Bezug auf verschiedene Inhalte nach der „ diagrammatischen Ikonizität “ . 18 <?page no="19"?> So ist die Abfolge der Lat. Verben veni vidi vici diagrammatisch ikonisch mit der Abfolge der entsprechenden Ereignisse (vgl. Haiman 1985 a; 1985 b; Pusch 2001). Während Arbitrarität im Lexikon überwiegt, hat Ikonizität eine besondere Beziehung zur Syntax, in der die Bedeutung des ganzen Satzes meistens kompositionell dargestellt ist. Die Ikonizität tritt in den frühen Phasen einer Struktur oder eines Sprachwandels klarer hervor als in den späteren. De Saussure (1916) bemerkte, dass die Wörter mit der Zeit immer arbiträrer werden, sodass ein fast onomatopoetisches Nomen wie Lat. pipio-onis „ Piepvogel, Täubchen “ im Französischen zu pigeon wird, wo die ursprüngliche Motivation weniger ersichtlich ist. Die diachrone Tendenz von ikonischen zu arbiträren Formen kann konsequent mit dem Prinzip der „ Grammatikalisierung “ (grammaticalisation) von Meillet (1912) in Verbindung gebracht werden, wonach autonome, lexikalische Wörter, die ursprünglich eine konkrete Bedeutung haben, später eine abstraktere Funktion entwickeln und zu grammatischen Wörtern werden (vgl. auch Kury ł owicz 1965; zu früheren Hinweisen auf den Wandel von konkreten zu abstrakten Wörtern vgl. Hagège 1993: 170; Heine 2003 a: 575 - 576). Ursprünglich wurde das Konzept der Grammatikalisierung entwickelt, um die Entstehung neuer Formen zu beschreiben, und deshalb betraf sie am Anfang mehr die Morphologie bzw. Wortbildung als die Syntax: nach Meillet werden neue Wörter entweder durch Analogie oder durch Grammatikalisierung gebildet. Aber er zeigte auch Fälle von Grammatikalisierung, bei denen ganze Konstruktionen einbezogen werden, z. B. Verben, die ursprünglich „ fangen “ oder „ fassen “ bedeuteten, dann Besitz ausdrückten und schließlich als Auxiliarverben in analytischen Präteritalformen benutzt wurden. Denn de facto betrifft die Grammatikalisierung eher Wörter in einem bestimmten Kontext als einzelne Lexeme (Traugott 2003). Lato sensu bezeichnet man als Grammatikalisierung die Festsetzung eines ursprünglich freien Phänomens, z. B. einer Wortfolge oder einer Satzverbindung. Indem die Bedeutung eines Wortes dazu neigt, mit der Zeit zu verblassen und genereller zu werden, kann das Wort in mehr Kontexten vorkommen. Am Ende verliert es seine syntaktische Unabhängigkeit und erfordert die Hinzufügung weiterer Begleitwörter. Nach Ch. Lehmann (1985) besitzt Grammatikalisierung die folgenden strukturellen Merkmale: 1) paradigmatization, d. h. die Tendenz grammatikalisierter Formen innerhalb eines Paradigmas angeordnet zu werden; 2) obligatorification, d. h. der zunehmend feste Gebrauch ursprünglich optionaler Formen; 3) condensation, d. h. die Kürzung einer Form; 4) coalescence, d. h. die Fusion naheliegender Formen; 5) fixation, d. h. die Festsetzung einer linearen Anordnung. Obwohl nicht alle möglichen Merkmale der Grammatikalisierung zusammen auftreten müssen, scheint das semantische Verblassen der primäre Faktor zu sein, der phonetische, morphosyn- 19 <?page no="20"?> taktische sowie pragmatische Effekte hat und oft als Metapher oder Metonymie interpretiert werden kann (vgl. Heine 2003 a: 583). Grammatikalisierung wird heute als mächtiger Mechanismus des morphosyntaktischen Wandels anerkannt und hat eine reiche Tradition von Studien hervorgebracht (Givón 1971; Ch. Lehmann 1982; 2002; Heine et al. 1991; Hopper & Traugott 1993; Fischer et al. 2000; Heine & Kuteva 2002; Bybee 2003; Stathi et al. 2010). Sie schließt nicht nur eine zunehmende Zahl von Phänomenen ein, von der Morphologie über die Syntax bis zur Pragmatik (vgl. Bisang et al. 2004), sondern bezeichnet auch den theoretischen Rahmen, der solche Phänomene zu erklären vermag, 1 und der sich als besonders nützlich für das Anliegen dieser Studie erweist, wie wir in Kapitel VI sehen werden. 1.2.2 Syntax im Generativismus 2 Das Interesse des Generativismus an der Syntax besteht darin, dass diese Disziplin mit ihrer Fähigkeit, durch die Rekursivität immer neue Sätze zu bilden, am meisten die Kreativität der Sprache zeigt und deshalb Zugang zum menschlichen Geist erlaubt. Von den zwei grundlegenden Funktionen der Sprache, d. h. Gedanken ausdrücken und kommunizieren, ist die erstere nach Chomsky die wichtigste, besonders wenn man sie als Spiegelung der inneren Welt versteht (language is a mirror of the mind, vgl. Chomsky 1968; 2002: 76 - 77). Ein Beweis dieser angeborenen kognitiven 1 „ Grammaticalicalization ’ as a term has two meanings. As a term referring to a framework within which to account for language phenomena, it refers to that part of the study of language which focuses on how grammatical forms and constructions arise, how they are used, and how they shape the language. [. . .] The term ‚ grammaticalization ‘ also refers to the actual phenomena of language that the framework of grammaticalization seeks to address, most especially the processes whereby items become more grammatical through time. “ (Hopper & Traugott 1993: 1 - 2) 2 In diesem Abschnitt beschränken wir uns - in vereinfachter Weise - auf diejenigen Annahmen des Generativismus, die trotz seiner theoretischen Veränderungen von der früheren Transformationsgrammatik bis zu den neueren Modellen des Minimalismus grundsätzlich beibehalten werden. Gleichfalls werden wir im folgenden Abschnitt § 1.2.3 Herangehensweisen behandeln, die den verschiedenen Forschungstraditionen des Funktionalismus und der Typologie gemeinsam sind. Für einen ausführlichen Vergleich zwischen unterschiedlichen formalistischen und funktionalistischen Perspektiven auf den morphosyntaktischen Wandel, vgl. Fischer (2007). Wenn zudem eine Annahme in einer Forschungstradition mehrmals gebraucht wird, werden wir hier wie in § 1.2.3 ihren frühesten Formulierungen mehr Aufmerksamkeit widmen, wenn die neueren etwas Relevantes zu unserer Argumentation nicht beitragen. Aktuellere Literaturangaben werden wir in § 1.3 vermitteln, wo der syntaktische Wandel und die syntaktische Rekonstruktion behandelt werden, wie auch in den nächsten Kapiteln in Bezug auf spezifische syntaktische Phänomene. 20 <?page no="21"?> Fähigkeiten sei der Spracherwerb, wobei Kinder nach dem Prinzip der poverty of stimulus viel mehr Strukturen bilden können, als sie in ihrer begrenzten Umgebung gehört haben. Außerdem sei die dem Menschen angeborene Prägung der Syntax durch die „ Kompetenz “ (competence) sichtbar, die unbewusste Kenntnis der Sprache, nach der ein Muttersprachler Formen bilden, aussprechen und interpretieren sowie grammatische von ungrammatischen Strukturen unterscheiden kann. Eine solche angeborene Kenntnis müssen die Grammatiken beschreiben. Die Kompetenz wird der „ Performanz “ (performance) entgegengestellt, die den praktischen Gebrauch der Sprache betrifft. Die Termini „ grammatisch “ und „ Grammatikalität “ (grammatical, grammaticality) werden von Chomsky bloß syntaktisch gemeint, d. h. als wohlgeformt und Wohlgeformtheit, unabhängig von Sinn oder Häufigkeit. Die Tatsache, dass Chomskys Satz Colorless green ideas sleep furiously weder sinnvoll noch häufig gebraucht und trotzdem von jedem Englisch-Muttersprachler als wohlgeformter Satz erkannt wird, bestätigt, dass das „ Urteil “ (judgment) des Muttersprachlers über die Wohlgeformtheit eines Satzes auf einer spontanen syntaktischen Kenntnis beruht. Dadurch unterscheidet sich die Grammatikalität vom Begriff der „ Akzeptabilität “ (acceptability), die auch von semantischen oder pragmatischen Gründen bestimmt sein kann und deswegen im Rahmen der Performanz zu verstehen ist. Da Bedeutung und Häufigkeit einer Struktur nicht verantwortlich sind für ihre Grammatikalität, ist die Syntax nach Chomsky unabhängig von Semantik und Pragmatik zu berücksichtigen und als autonom anzusehen. 3 Wegen der Autonomie der Syntax sollte der Linguist sein Feld auf eine homogene Sprachgesellschaft beschränken, mit einem idealen Sprecher und einem idealen Hörer, ohne Berücksichtigung von Flüchtigkeitsfehlern und dialektalen Varianten. Einerseits stimmt diese Einschränkung mit jener wissenschaftlichen Methode überein, nach der z. B. ein Physiker alle möglichen Störfaktoren bei der Erforschung eines Phänomens ausschließt. Andererseits wird die Analyse einer homogenen Sprachgesellschaft von der Hypothese des Innatismus beeinflusst: wenn eine sprachliche Eigenschaft den Menschen angeboren ist, nimmt man an, dass sie immer gleich bleibt, sodass es entbehrlich ist, sie in vielen verschiedenen Sprachen zu untersuchen. 3 „ Despite the undeniable interest and importance of semantic and statistical studies of language, they appear to have no direct relevance to the problem of determining or characterizing the set of grammatical utterances. I think that we are forced to conclude that grammar is autonomous and independent of meaning, and that probabilistic models give no particular insight into some of the basic problems of syntactic structure. “ (Chomsky 1957: 17) 21 <?page no="22"?> Deswegen soll die Untersuchung der Syntax einer Sprache nach Chomsky die Synchronie der Diachronie vorziehen, in der Annahme, dass der Sprecher keinen Zugang zu vorigen Phasen eines Phänomens hat. Wenn Variation in der Synchronie selbst vorkommt, soll sich der Linguist auf die „ Kern-Syntax “ (core syntax) beschränken, d. h. nur diejenigen Phänomene anschauen, die regelmäßig und produktiv sind. Wenn man die Wortfolge des Adjektivs in Bezug auf das Nomen im Englischen bestimmen will, soll er nur die AN Strukturen berücksichtigen, und nicht Strukturen wie court martial, attorney general, president elect, heir apparent, notary public, body politic, da sie markierte Ausdrücke der Bürokratie, Verwaltung, Richtersprache oder Kanzlersprache sind und deshalb die Peripherie des Phänomens darstellen. Für eine solche synchrone Analyse benutzen die Generativisten die introspektiven Beurteilungen des Muttersprachlers und die „ Erhebung “ (elicitation) der Daten, wodurch sie Zugang zur I-language (internalized language) erlangen können. Es ist zwar nur ein indirekter Zugang, aber nach Chomsky ist er jedenfalls zu bevorzugen gegenüber Informationen, die von der Analyse eines Korpus von Texten oder Gesprächen angeboten werden können. Da sie sich nicht für die Häufigkeit einer Form interessieren, ist die Analyse eines Korpus nach vielen Generativisten, besonders in den frühesten Phasen dieser Forschungstradition, entbehrlich. In den letzten Jahren wurden zwar annotierte elektronische Korpora auch in der diachronen generativen Syntax erstellt (vgl. Lightfoot 2002 c: 8 - 9; Jonas et al. 2012: 2), aber meistens nur von verschiedenen Sprachstufen germanischer und romanischer Sprachen, deren Geschichte bekannter ist als bei anderen Sprachen, und die deswegen auch zuverlässigere Primärdaten bieten können. 1.2.3 Syntax im Funktionalismus und in der Sprachtypologie Der generativen Forschungstradition stehen der Funktionalismus und die Typologie gegenüber, nach denen die primäre - wenn auch nicht einzige 4 - Funktion der Sprache Kommunikation ist. Deswegen ist die Syntax laut Funktionalisten und Typologen nicht unabhängig vom Gebrauch, sondern 4 So z. B. Hagège: „ Like every human activity, Lb [= Language Builder; hinzugefügt] is not exclusively goal-directed: besides meeting the need for communication, it also fulfils an aspiration for intellectual and aesthetic self-accomplishment, which defines human societies no less than communication “ . (1993: 40) Andere Ziele als Kommunikation und Ausdruck von Gedanken können wir auch bei einigen Belegen der alten idg. Sprachen feststellen, wie z. B. bei den altpersischen Inschriften der Achämeniden, die oft auf unzugängliche Klippenwände geschrieben wurden und deswegen nicht eigentlich dazu gedacht waren gelesen zu werden; nach Schmitt (2000: 30) hatten sie eher eine Abbildungsfunktion. 22 <?page no="23"?> wird vielmehr von semantischen und pragmatischen Faktoren beeinflusst, die in die sprachliche Kommunikation involviert sind. Eine syntaktische Analyse soll daher der Variation Aufmerksamkeit schenken, sowohl in der Synchronie als auch in der Diachronie. In der Synchronie knüpft Variation an Dialekte, Soziolekte und Idiolekte an (vgl. Weinreich et al. 1968; Labov 2001; Wolfram & Schilling-Estes 2003). In der Diachronie befassen sich Funktionalisten oft mit Sprachwandel und Grammatikalisierung, und zeigen, dass die aktuellste Version einer Struktur eine solche ist, weil sie bestimmte Änderungen in der Zeit erlebt hat, auch wenn sich der Muttersprachler dessen nicht immer bewusst ist. Der Einfluss semantischer und pragmatischer Funktionen auf die Form taucht beim Problem der linguistischen Kategorisierung auf. Funktionalisten verzichten auf eine bestimmte (oder „ diskrete “ ) Festlegung der Kategorien, nach der eine Kategorie aus notwendigen und hinreichenden Eigenschaften besteht, wie schon Aristoteles in seinem Werk περὶ τῶν κατηγοριῶν vorschlug, und wie es heutzutage von den Generativisten verfochten wird. Aus der Perspektive der Generativisten besitzt jede Kategorie eine bestimmte Anzahl von Merkmalen: ein Element ist nur Mitglied der Kategorie, wenn es über alle diese Merkmale verfügt. Fehlt auch nur ein Merkmal der Kategorie, bedeutet das, dass es für die Definition der Kategorie nicht notwendig ist (vgl. Anderson 1999: 126 - 127). Nach dem Funktionalismus hingegen sind die Kategorien „ skaliert “ (scalar), d. h. es gibt ein Kontinuum von Merkmalen, die den verschiedenen Mitgliedern allmählich und teilweise gemeinsam sind. Je mehr Merkmale von einem gewissen Mitglied besessen werden, desto besser ist dieses Mitglied ein Vertreter der Kategorie. Diese Annahme wird besonders von Wittgensteins „ Familienähnlichkeit “ (family resemblance) und von der Prototypentheorie unterstützt, die aus der Psychologie kommt und später auch auf die Sprachwissenschaft angewendet wurde (vgl. Hopper & Thompson 1980; 1984; Lakoff 1987; Taylor 1989; 2002; Croft 1991). Der Prototyp einer Kategorie ist auch dasjenige Mitglied, dem der Sprecher am häufigsten begegnet. Häufigkeit spielt eine besondere Rolle im Funktionalismus und in der Typologie (vgl. Bybee 2003). Ein sprachliches Phänomen kann verschiedene logische Möglichkeiten haben (P & Q, P & -Q, -P & Q, -P & -Q), aber de facto sind nicht immer alle gleich belegt. Z. B. gibt es Sprachen wie das Altgriechische oder das gegenwärtige Englisch, die Reflexivpronomina für alle Personen besitzen. Es gibt Sprachen wie das Altenglische, die kein echtes Reflexivpronomen haben und die solche Funktionen mit Hilfe der Personalpronomina für die 1. und die 2. Person und der demonstrativen Pronomina für die 3. Person ausdrücken. Es gibt auch Sprachen, die ein Reflexivpronomen nur für die 3. Person haben, wie das Lateinische mit dem Reflexivum se. Aber es gibt keine Sprache, die Reflexivpronomina nur für 23 <?page no="24"?> die 1. oder 2. Person und nicht für die 3. Person hat. Das wäre im Prinzip möglich, aber es ist unbelegt, und es gibt eine funktionale Erklärung dafür: nach Comrie (1999) haben Pronomina der 3. Person mehr mögliche referentielle Interpretationen als Pronomina der 1. oder der 2. Person, die nur den Sprecher bzw. den Hörer bezeichnen können. Um eine eindeutige Referenz zu garantieren, ist eine eigene Form für die 3. Person deshalb nützlicher. Ein beliebtes Instrument, mit dem der typologisch-funktionelle Ansatz die unterschiedliche Verteilung der sprachlichen Strukturen darstellt, sind die „ implikationellen Universalien “ (implicational universals), die die Form „ wenn P, dann Q “ haben. In diesem Fall bedeutet es: wenn eine Sprache Reflexivpronomina für die 1. oder 2. Person besitzt, dann hat sie auch Reflexivpronomina für die 3. Person, aber nicht umgekehrt. Nach den implikationellen Universalien können auch Gegenbeispiele existieren. Wichtig ist nur, dass die Tendenz „ mit mehr als zufälliger Häufigkeit “ (with more than chance frequency nach Greenberg 1966) vorkommt. Man kann durch statistische Tests beweisen, dass ihre Verteilung signifikant ist. Wenn die Generalisierung mehr als zwei Elemente betrifft, kann man auch „ Implikationsskalen “ (implicational hierarchies) benutzen (vgl. Croft 2003: 49 ff), die auch wir in dieser Arbeit auf einige syntaktische Phänomene der alten idg. Sprachen anwenden werden. Also untersuchen sowohl Generativisten als auch Funktionalisten Universalien, aber Universalien werden unterschiedlich interpretiert: für Generativisten ist Universalismus an Innatismus geknüpft, für Funktionalisten hat Universalismus eine Beziehung zum Begriff der Häufigkeit. Auch der Ansatz zur syntaktischen Varietät ist in den zwei Forschungstraditionen unterschiedlich: Generativisten wollen die Varietät reduzieren, Funktionalisten wollen sie einfach messen, genau wie es die übliche Praxis der Sozialwissenschaften ist (Bickel 2008). Wenn die Analyse auf eine Sprache beschränkt wird, bevorzugen Funktionalisten Daten aus natürlichen Diskursen und Korpora statt aus der Erhebung bei Muttersprachlern. Typologische Untersuchungen beruhen auf „ Proben “ (samples) von Sprachen, die von genetischen und arealen Standpunkten aus unabhängig voneinander sind (vgl. Song 2001: 17 ff). Auf der Grundlage dieser Methoden haben Typologen festgestellt, dass die modernen westlichen idg. Sprachen, das Standard Average European und besonders das Englische von einem syntaktischen Standpunkt aus von der Mehrheit der Sprachen der Welt abweichen (Haspelmath 2001 a; Giacalone Ramat 2008). Daher können die von der westlichen grammatischen Tradition postulierten syntaktischen Einheiten nicht a priori auf andere Sprachen angewendet werden. 24 <?page no="25"?> 1.3 Syntaktischer Wandel und Rekonstruktion der Syntax Unterschiedliche theoretische Ansätze haben auch unterschiedliche Interpretationen der in den syntaktischen Wandel involvierten Mechanismen. Bahnbrechende Studien der diachronen Syntax im Generativismus wurden von Lightfoot (1979; 1991; 2002 c) im Fahrwasser der chomskyanen fortschrittlichen Änderungen durchgeführt. Lightfoot (1979) folgt der Extended Standard Theory von Chomsky (1965). Den Principles and Parameters von Chomsky (1981) folgt Lightfoot (1991), wie auch die meisten Aufsätze in Kemenade & Vincent (1997), in Batllori et al. (2005) und in Crisma & Longobardi (2009). Der Sammelband von Lightfoot (2002 c) ist vor allem im Rahmen des Minimalismus von Chomsky (1995), worauf sich auch Roberts (2007) bezieht. In Jonas et al. (2012) erscheint ein Dialog über die diachrone Syntax aus den verschiedenen Perspektiven des Generativismus. Nach Lightfoot (1979) verläuft der syntaktische Wandel eher „ katastrophisch “ (catastrophic) als graduell und findet besonders im Spracherwerb und in der Kindersprache statt, in einer Kombination aus Universalien und PLD. Demzufolge sammeln sich die verschiedenen syntaktischen Veränderungen im Laufe der Zeit an, bis die entsprechenden Strukturen so opak werden, dass sie von den Sprechern nicht mehr einfach verstanden werden. An diesem Punkt wird das „ Transparenz-Prinzip “ (Transparency Principle) angewendet, das die Opazität und Komplexität der Syntax auf einmal auflöst und eine völlige Umgestaltung im Sinne neuer deutlicher Strukturen durchführt. Das Musterbeispiel dieses Prinzips sei die Entwicklung der Modalverben im Englischen. Englische Modalverben wie can, may, must, shall und will müssen nach Lightfoot für eine getrennte Kategorie M gehalten werden, weil sie mehrere von den anderen Prädikaten abweichende morphosyntaktische Eigenschaften besitzen, z. B. haben sie keine s- Endung in der 3. Person SG, sie regieren keine Präposition to im Infinitiv, und ihre Formen im Präteritum sind nicht regelmäßig oder aus dem Präsens vorhersagbar. Im Altenglischen hingegen hatten sogenannte premodals wie cunnan, magan, motan, sculan, willan diese Besonderheiten nicht und waren den anderen Verben ähnlicher, sodass damals eine eigene Kategorie M nicht identifiziert werden konnte. Die morphosyntaktischen Änderungen fanden unabhängig voneinander statt, aber sie spielten zusammen und bestimmten die Isolierung der pre-modals von den anderen Prädikaten, bis dann in der Mitte des 16. Jh. plötzlich eine neue Kategorie von Modalverben auftauchte. Eine solche Reanalyse von pre-modals zu modals sei der Effekt des Transparenz-Prinzips. 5 Das Transparenz-Prinzip 5 „ The first part of the story tells of complexity being developed gradually with an increasing number of exception markers. The second part of the story is a sudden, cataclysmic, wholesale restructuring of the grammar whereby the exceptionality is, in a sense, institutionalized and 25 <?page no="26"?> sei daher ein therapeutisches Prinzip, nach der These „ grammars practise therapy, not prophylaxis “ (S. 123; vgl. auch Zipser 2012: 47 ff). Unabhängig davon, ob der sprachliche Wandel vor oder nach dem Vorkommen der Opazität stattfindet, d. h. ob er zur Vermeidung der Opazität oder zur Wiederherstellung der Transparenz neigt, 6 scheint das Transparenz-Prinzip methodologische Schwierigkeiten zu bereiten und einen gewissen Zirkelschluss darzustellen. Einerseits wird das Transparenz-Prinzip nur eingeführt, wenn das Niveau der Opazität oder Komplexität unerträglich wird; vorher können opake Strukturen in der Sprache wohl angenommen werden. Andererseits wird aber die Schwelle der Opazität als unerträglich angesehen, wenn die Restrukturierung stattfindet und das Transparenz-Prinzip eingeführt wird. Es gibt keinen unabhängigen Beweis dafür, wann die Grammatik einer Sprache eine Umgestaltung verlangt, und es gibt keine Methode, um erträgliche von unerträglicher Opazität oder Komplexität zu unterscheiden. Außerdem verstößt das Transparenz-Prinzip gegen die Autonomie der Syntax, auf die sich Lightfoot sowie andere Generativisten beziehen. Wenn das Transparenz-Prinzip in Bezug auf die Berücksichtigung von Deutlichkeit und auf das Verständnis der Sprecher sensibel reagiert, dann kann sein zugrunde liegender syntaktischer Apparat von Bedeutung und Gebrauch nicht unabhängig sein (vgl. Romaine 1981). the derivational complexity is eliminated at a stroke. That is to say, while the pre-modals continue to be distinguished from true verbs, the exception markers as such are eliminated. The new grammar contains a new category, modal, but the derivations are regular and not complicated by the various exception markers. Such a catastrophic reanalysis which has the effect of eliminating derivational complexity is predicted by a principle of grammar prescribing absolute limits to tolerable degrees of derivational complexity or opacity. “ (Lightfoot 1979: 122) 6 Die angeblich prophylaktischen oder therapeutischen Eigenschaften der Sprache sind ein umstrittenes Thema, das auf die Junggrammatiker und auf die Strukturalisten zurückgeht, besonders im Bereich der Phonologie und des Wortschatzes. Die Junggramatiker waren grundsätzlich gegen linguistische Prophylaxis: „ Irgendwelche Anstrengung zur Verhütung eines Lautwandels gibt es nirgends. Denn die Betreffenden haben gar keine Ahnung davon, dass es etwas Derartiges zu verhüten gibt, sondern leben immer in dem guten Glauben, dass sie heute so sprechen, wie sie vor Jahren gesprochen haben, und dass sie bis an ihr Ende so weiter sprechen werden. “ (Paul 1920: 58) Eine Verhütung oder Korrektur des Lautwandels wird hingegen von Gilliéron (1902 - 12) für einige Homonyme wie die Fortsetzer von Lat. gallu „ Hahn “ und cattu „ Katze “ anerkannt, die im Gaskonischen durch den Ersatz anderer Lexeme für den Hahn wie bigey (= Fr. viguier) und azâ (= Fr. faisan) vermieden worden wären. Martinet (1955) schlägt eine Art Kompromiss vor zwischen der Einstellung von Paul und von Gilliéron, wobei prophylaktische oder therapeutische Prinzipien in der Sprache nur für lexikalische Oppositionen, die eine hohe „ funktionelle Belastung “ (rendement fonctionnel) haben, gelten würden, während andere Homonyme häufiger auch zusammenfallen könnten. 26 <?page no="27"?> Eine teilweise Lösung für diese Probleme wird von Lightfoot (1991) angeboten, der auch mehrere Sprachen analysiert (tatsächlich ist die Prinzipien-und-Parameter-Theorie die Antwort des Generativismus auf die Herausforderung des typologischen Vergleichs, vgl. Cook & Newson 1996; Batllori et. al. 2005: 3 ff), obwohl auch in diesem Fall - wie bei Lighfoot (1979) - die Anzahl der analysierten Sprachen gering bleibt und sie vor allem der idg. Sprachfamilie angehören. In dieser Phase des Generativismus hat die internalisierte Sprache des Individuums, im Gegensatz zur E (xternalisierten)-Sprache, einen Wortschatz und eine Grammatik, und die letztere besitzt ihrerseits sowohl Prinzipien als auch Parameter. Die „ Prinzipien “ sind die linguistischen Merkmale, die sich nicht ändern und die der Universalen Grammatik zugewiesen werden, während die „ Parameter “ die in den verschiedenen Sprachen variablen Merkmale sind, wie VO oder OV Wortfolge, obligatorisches Subjekt oder PRO-drop. Bei Lightfoot (1991) besteht der Wandel im Ersatz syntaktischer Parameter, die im Großen und Ganzen dieselbe Rolle wie das von Lightfoot (1979) vorgestellte Transparenz-Prinzip spielen: verschiedene syntaktische Phänomene können mit der Zeit die Grammatik einer Sprache ändern, bis eine radikale Umgestaltung stattfindet und ein neuer Parameter einen alten ersetzt. Z. B. war das Französische einmal eine Sprache, die kein obligatorisches Subjekt benötigte, wie alle alten idg. Sprachen. Als die Regel des obligatorischen Subjekts in die Grammatik eingeführt wurde, durchlief das Französische einen „ parametrischen Wandel “ (parametric change); vgl. auch Roberts (2007: 24 ff). Ein solcher syntaktischer Wandel kann durch eine S-Kurve beschrieben werden (vgl. Aitchison 1980; Kroch 1989; 2001), d. h. ein Wandel fängt langsam an, dann beschleunigt er plötzlich und am Ende nimmt er wieder ab. Auch in diesem Modell aber, das gewissermaßen an einige im 19. Jh. beliebte Interpretationen der Sprache und des linguistischen Wandels als ein organischer Prozess erinnert (vgl. Schleicher 1873), gibt es kein unabhängiges Instrument, um die Geschwindigkeit des Wandels zu messen. So fragen sich Harris & Campbell: „ how rapid is rapid? How do we distinguish a faddish change that catches on fast from the setting of a new parameter which may take a bit more time? “ (1995: 41) Außerdem sind Parameter in dieser Theorie diskrete und binäre Optionen, d. h. eine Sprache muss entweder X oder nicht-X auswählen. Wenn ein Phänomen mehr als zwei Darstellungen hat, wird X in X1 und nicht-X1 unterschieden, sodass komplexe Phänomene durch immer spezifischere Parameter dargestellt werden. Das ergab tatsächlich eine Proliferation der Parameter. Im Funktionalismus wird hingegen angenommen, dass die Geschwindigkeit eines syntaktischen Wandels nicht a priori vorhergesagt werden kann, sondern von den jeweiligen räumlichen und zeitlichen Bedingungen abhängig ist. In ihrer typologischen Studie identifizieren Harris & Camp- 27 <?page no="28"?> bell (1995) drei grundsätzliche Mechanismen des syntaktischen Wandels: Reanalyse, Extension und Entlehnung. Diese können auch andere in der Literatur vorgeschlagene Prinzipien des Wandels wie Grammatikalisierung, Analogie, lexikalische Diffusion einschließen. 7 In der Reanalyse ändert sich die zu Grunde liegende Struktur ohne oberflächliche Darstellung. 8 Die Grammatikalisierung ist nach Harris & Campbell ein Beispiel für die Reanalyse. Extension ist definitionsgemäß die Verbreitung einer Struktur, die auch eine Vereinfachung der Grammatik ergibt. In der Extension ist bei Harris & Campbell die lexikalische Diffusion eingeschlossen. Während Reanalyse und Extension innere Mechanismen des syntaktischen Wandels sind, ist die „ Entlehnung “ (borrowing) offenbar ein äußeres Prinzip. Bei keinem von diesen Prinzipien ist aber der Wandel sprunghaft, sondern graduell und wird von „ explorativen Ausdrücken “ (explorative expressions) antizipiert. Für einen graduellen Wandel plädieren u. a. auch Hagège (1993: 45) und Lass (1997: 140 ff). Man muss aber anmerken, dass nicht alle Forscher damit einverstanden sind, Syntax und syntaktischer Wandel könnten rekonstruiert werden. Ganz im Gegenteil glauben einige Historiolinguisten, besonders diejenigen, die der traditionellen vergleichenden Methode eng folgen, dass der Vergleich zwischen syntaktischen Strukturen verschiedener alter idg. Sprachen keinen Zugang zu ihrer ursprünglichen Struktur im Urindogermanischen erlaubt (vgl. Jeffers 1976 a; Watkins 1976; Harrison 2003; Pires & Thomason 2008; von Mengden 2008). Es könne wohl ein Vergleich zwischen Lauten, Morphemen oder Wörtern verschiedener Sprachen bestehen, aber man könne wegen der Kreativität der Syntax die Sätze nicht vergleichen, und es gebe keine Entsprechung der Lautgesetze in der Syntax. In Übereinstimmung mit Harris & Campbell (1995: 344 ff) nehmen wir aber doch an, dass man die Syntax und den syntaktischen Wandel rekonstruieren kann und dass „ syntaktische Muster “ (syntactic patterns) für eine lange 7 „ Alteration of syntactic patterns takes place by means of specific mechanisms of change. We hypothesize that there are only three basic mechanisms: reanalysis, extension, and borrowing. All three have been much discussed in the literature on diachronic syntax [. . .] Our proposal differs in that we claim that no other mechanisms exist, and that others that have been suggested, such as rule addition and loss, lexical diffusion, changes in phrase structure rules, grammaticalization, contamination, etc., are really just specific instances or consequences of one or a combination of these mechanisms. “ (Harris & Campbell 1995: 50) 8 Die Abwesenheit einer formalen Veränderung in der Reanalyse ist aber in der typologischen Forschungstradition umstritten; nach Hagège (1993: 61 ff) sei das ein Produkt eher des Linguisten als der Sprache. „ Reanalysis will therefore be defined as the operation by which Lbs [= Language Builders; hinzugefügt] cease to analyze a given structure as they did previously, and introduce a new distribution of, and new relations between, the syntactic units that constitute this structure. These innovations are always manifested by changes in the formal substance. “ (S. 62) 28 <?page no="29"?> Zeit bewahrt werden können, auch wenn es keine unmittelbare Kontinuität zwischen den jeweiligen Lexemen gibt. Das ist auch kompatibel mit der Hypothese von Barðdal & Eythorsson (2012), nach der die Rekonstruktion der uridg. Syntax mit Hilfe der Modelle der „ Konstruktionsgrammatik “ (Construction Grammar) dargestellt werden kann. Nach der Konstruktionsgrammatik ist eine Konstruktion eine Paarung von Form und Bedeutung, genau wie ein Lexem (vgl. Goldberg 1995; 2006). Konstruktionen können mehr oder weniger idiomatisch sein, je nachdem ob die Bedeutung des Ganzen der Kombination der einzelnen bestehenden Lexeme entspricht. Aber der Sprecher stellt auf jeden Fall eine Beziehung zwischen einer komplexen Struktur wie z. B. einem interrogativen Satz und einer bestimmten Funktion wie der Frage her. Daher kann das allgemeine Muster dieser Sätze, wenn auch nicht die Sätze selber, im Gedächtnis gespeichert und den folgenden Generationen überliefert werden. Weitere Punkte bezüglich der Herausforderungen bei der Rekonstruktion der Syntax werden wir in Kapitel VI besprechen. 1.4 Syntax in der vorliegenden Arbeit 1.4.1 Theoretischer Rahmen Insofern jede Behandlung der Syntax auch eine gewisse Interpretation der Daten voraussetzt und nicht völlig theorieneutral sein kann, muss man den theoretischen Rahmen erläutern, der der jeweiligen Arbeit zu Grunde liegt. Die vorliegende Arbeit steht dem funktional-typologischen Ansatz näher als dem Generativismus, weil der erstere m. E. der Diachronie und der empirischen Varietät der Daten eine größere Aufmerksamkeit widmet und deswegen auch mit der Tradition der indogermanischen Studien bei den Junggrammatikern kompatibler ist. 9 9 Es ist insbesondere die in den generativen Werken oft ausgedrückte Meinung abzulehnen, nach der eine ernsthafte Syntaxlehre im 20. Jahrhundert erst mit Chomsky beginne ( „ Students of syntactic change have virtually no legacy from the neogrammarians, and for good reasons. The neogrammarians and their contemporaries handed down formidable lists of phonological correspondences related by rules, and discussions of ‚ natural ‘ phonological change [. . .], whereas in syntax the notions of a corresponding form or a diachronic rule made no sense [. . .] Despite Paul, they did not use any concept of abstract formal grammar, with a level of representation distinct from surface structures or with a set of devices to relate one sentence or phrase to another. Also they did not employ recursive rules even for surface structures, and lacked any notion of a ‚ generative grammar ‘ , not just of some particular version distinguishing a more abstract level than surface structure. Therefore they were unable to compare the grammars of different stages and to discuss the possible formal relationships between these grammars “ , Lightfoot 1979: 7 - 9; vgl. auch Anderson 2002: 271 - 72) Diese Annahme ist falsch: wie wir kursorisch in § 1.2.1 gezeigt haben, waren 29 <?page no="30"?> In der Diachronie sind nicht alle Darstellungen eines Wandels vorhersagbar oder durch eine S-Kurve zu erfassen. Auch die von Lightfoot (1979; 1991) emphatisierte therapeutische Macht des Wandels findet in der Praxis oft nicht statt, sodass Sprachen Undeutlichkeiten, Mängel oder Komplexität lange tolerieren können. Deswegen kann man nicht sagen, ob und wann ein Wandel stattfindet: während des Wandels gibt es nicht nur Variation, sondern auch Umkehrbarkeit, indem nicht jeder angefangene Wandel erfolgreich ist. Man kann aber vorhersagen, wie der Wandel vonstatten geht, d. h. wenn ein Wandel vorkommt, können wir mit guter Approximation seine Richtung erraten. Kury ł owicz (1945) verglich den Sprachwandel mit dem Regen, der auch unerwartet sein kann, aber wenn er kommt, immer einer bestimmten Richtung von oben nach unten den verschiedenen Wasserkanälen folgt. Das gilt nicht nur für den Wandel in der Phonologie und in der Morphologie, wie Kury ł owicz meinte, sondern auch für den syntaktischen Wandel. So wird die angeschlossene Satzverbindung des korrelativen Diptychons normalerweise zu einer eingebetteten Satzverbindung (§ 4.5), aber es kann vorkommen, dass eine Sprache das korrelative Diptychon bewahrt, wie im indischen Bereich, wo eine grundsätzlich angeschlossene Struktur sowohl im Vedischen als auch im Hindi-Urdu vorkommt. Die Identifizierung einer möglichen Richtung werden wir bei den analysierten syntaktischen Veränderungen versuchen. Außerdem muss eine syntaktische Rekonstruktion nicht nur die syntaktischen Formen, sondern auch ihre Funktionen untersuchen, und für die alten idg. Sprachen, für die wir keinen Zugang zu Muttersprachlern haben, ist der Vergleich mit den modernen Sprachen sehr hilfreich, auch außerhalb des idg. Bereiches. Für nicht-idg. Sprachen interessierten sich schon die ersten Indogermanisten und Sprachwissenschaftler: es genügt W. von die Beiträge der Junggrammatiker und der europäischen Strukturalisten zur Lehre der Syntax grundlegend. Einer solchen Meinung widerspricht Chomsky selbst, der die definierenden Termini generate und generative als eine Übersetzung des von Humboldt benutzten Wortes erzeugen eingeführt hat (Chomsky 1965: 9) und der seine Theorie als Vereinigung mathematischer Methoden mit dem von Cartesius stammenden rationalistischen Denken versteht (vgl. Chomsky 1966). Tatsächlich haben viele Begriffe, die von einigen Linguisten als neue Entdeckungen vorgestellt werden, eine lange und umfangreiche Forschungstradition in Europa und besonders in den deutschsprachigen Gebieten, wie Hock (1991: 312) richtig erinnert: „ It has been claimed that before the advent of contemporary generative linguistics, hardly any work had been done in (historical) syntax. This claim holds to a large extent for the ‚ school ‘ of linguistics that immediately preceded generativism, namely ‚ American structuralism ‘ . But a goodly amount of syntactic work had been done by earlier ‚ schools ‘ , especially by the neogrammarians. (As a consequence, students of diachronic syntax would be well advised to become familiar with at least some of that work, lest they spend much of their time on reinventing the wheel). “ 30 <?page no="31"?> Humboldt zu erwähnen, der sich unter anderem mit Baskisch und Javanisch beschäftigte. Denn im Allgemeinen ist die Annahme einer Kategorie oder eines linguistischen Prinzips für tote Sprachen zuverlässiger, wenn ihre Gültigkeit anhand von lebenden Sprachen schon bewiesen ist. Diesbezüglich sind Wackernagels Worte sehr einleuchtend, dessen Buch „ Vorlesungen über Syntax mit besonderer Berücksichtigung von Griechisch, Lateinisch und Deutsch “ betitelt ist, d. h. Wackernagel fügt den klassischen Sprachen seine deutsche Muttersprache hinzu: Ich habe Wert darauf gelegt, das Deutsche zusammen mit den klassischen Sprachen zu behandeln, weil wir dadurch den Vorzug geniessen, an unser eigenes, lebendiges Sprachgefühl anknüpfen zu können, und weil es Aufgabe des Grammatikers ist, das Auge nicht bloß für Vergangenes offen zu haben, sondern auch lebendige Gegenwart verständlich zu machen. (Wackernagel 1926: 4) Der Anwendung der Kategorien der lebenden Sprachen auf die alten idg. Sprachen liegt der „ Uniformitarismus “ zugrunde, nach dem die in der Gegenwart wirkenden Prinzipien im Großen und Ganzen dieselben sind wie die Prinzipien, die in der Vergangenheit wirkten ( „ The forces operating to produce linguistic change today are of the same kind and order of magnitude as those which operated in the past “ , Labov 1972 a: 275). 10 Der Uniformitarismus und die Ökonomie können zwar als positive Beweise für die Kategorisierung der alten idg. Sprachen gelten, d. h. wenn ein Phänomen heute belegt ist, kann es auch in der Vergangenheit vorgekommen sein. Als negativer Beweis (argumentum e silentio) hingegen sind sie umstritten und gefährlich, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein heute nicht belegtes Phänomen nicht doch in der Vergangenheit existiert hat (vgl. Janda & Joseph 2003: 30 ff). Das bedeutet allerdings nur, dass die Abwesenheit einer Kategorie in den alten Sprachen schwieriger darzulegen ist als ihre Anwesenheit, aber nicht, dass die Darlegung der Abwesenheit einer Kategorie für die Vergangenheit unmöglich oder uninteressant ist. Ganz im Gegenteil ist es wichtig, in einer Grammatik nicht nur die in der Sprache existierenden Kategorien zu beschreiben, sondern auch Lücken im Sprachsystem. So hat Haspelmath (1993 a) in seiner Grammatik der Lesgischen Sprache richtiger- 10 Einen Hinweis auf den Uniformitarismus können wir schon bei Brugmann finden. In seiner Behandlung der Prinzipien, die dem morphologischen Wandel und der Wortbildung zugrunde liegen, schrieb er, „ dass die ganze uridg. Wortbildung durch keine anderen Kräfte zustande gekommen ist als durch solche, die wir auch in jüngerer Zeit und noch heute überall im Sprachleben wirksam sehen “ (1906: 16). Eine solche Meinung wurde jedoch nicht von allen Junggrammatikern geteilt, und dagegen äußerte sich Wackernagel, nach dem „ die Menschen der Vorzeit viel weniger logisch und abstrakt und demgemäss sprachen als die der Gegenwart “ (1926: 41). 31 <?page no="32"?> weise auch die fehlenden Kategorien berücksichtigt. Tatsächlich korreliert nicht nur das Vorkommen eines Merkmals mit dem Vorkommen eines anderen oder mehrerer anderer Merkmale, sondern auch das Fehlen eines Merkmals korreliert mit dem Fehlen eines anderen oder mehrerer anderer Merkmale, und grundsätzlich sind verschiedene linguistische Merkmale durch eine Reihe positiver und negativer Entsprechungen verbunden. Wir werden unten sehen (§ 2.3.2.4), dass z. B. die Anwesenheit eines detaillierten Systems von Modi mit der Abwesenheit der Hilfsverben und Evidentialen im Indogermanischen korreliert. Das kann von einem diachronen Standpunkt aus auch prädiktiv sein, da der Verfall oder Verlust einer Kategorie Nebenwirkungen auf die Organisation anderer Kategorien hat. Solche Korrelationen setzen die Darstellung der synchronen Syntax einer Sprache als ein System voraus - ein Begriff, der besonders im Strukturalismus und Generativismus beliebt ist. Denn obwohl unsere Arbeit mit dem Funktionalismus und mit der Typologie kompatibler ist, werden auch Beiträge des Generativismus einbezogen, wenn sie uns relevant erscheinen für die Beschreibung oder Erklärung der Daten. 11 Das System der Sprache où tout se tient wurde besonders von de Saussure (1916), Meillet (1921) und Jakobson (1936) postuliert 12 (obwohl Spuren davon schon im Denken der Junggrammatiker auftauchen, vgl. Brugmann 1904: VIII), und es wurde später von Chomsky wieder aufgenommen. Da der Funktionalismus ursprünglich als Reaktion gegen den Strukturalismus entstand, sind Funktionalisten oft skeptisch gegenüber dem Begriff des Systems, wie das folgende Zitat von Bybee et al. illustriert: We do not take the structuralist position that each language represents a tidy system in which units are defined by the opposition they enter into and the object of study is the internal system the units are supposed to create. Rather, we consider it to be more profitable to view languages as composed of substance - both semantic substance and phonetic substance. Structure or 11 Im Allgemeinen sollte der Analyst ohne theoretische Vorurteile den jeweiligen Rahmen auswählen, der eine bessere Interpretation für seine syntaktischen Daten anbietet, so dass die Daten immer den Vorrang haben. Eine Kombination formaler und funktionaler Ansätze in der Analyse der alten idg. Sprachen wurde z. B. von Ferraresi (2005), Ferraresi & Goldbach (2008), Lühr (2010; 2011 a; 2011 b; 2011 c), Ferraresi & Lühr (2010), Bubenik & Luraghi (2010) durchgeführt. 12 „ Les changements linguistiques ne prennent leur sens que si l ’ on considère tout l ’ ensemble du développement dont ils font partie; un même changement a une signification absolument différente suivant le procès dont il relève, et il n ’ est jamais légitime d ’ essayer d ’ expliquer un détail en dehors de la considération de système générale de la langue où il apparaît. “ (Meillet 1921: 11) „ Chaque fait linguistique fait partie d ’ une ensemble où tout se tient. “ (Meillet 1925: 12) Für die Rezeption des Ausdrucks „ système où tout se tient “ , der in der Literatur oft De Saussure falsch zugewiesen wird, während er auf seinen Schühler Meillet zurück geht, siehe Hewson (1990). 32 <?page no="33"?> system, the traditional focus of linguistic inquiry, is the product of, rather than the creator of, substance. (Bybee, Perkins & Pagliuca 1994: 1) In diesem Zitat wird jedoch die Wichtigkeit des Systems unterschätzt. Denn die Anerkennung einer Systematik oder inneren Organisation in der Grammatik setzt nicht voraus, dass dieses System „ ordentlich “ (tidy) ist, und das gilt nicht nur für Sprachen, sondern für alle Systeme, die fast nie ordentlich sind, sondern oft Lücken, Redundanz oder Unklarheit besitzen, und trotzdem besitzen sie auch etwas Gemeinsames, sodass ein Geschehen in einem Bereich Auswirkungen auch auf andere Bereiche hat. In der Phonologie hängt die phonetische Darstellung eines Vokals von der Anzahl der anderen vokalischen Phoneme ab: wenn eine Sprache nur die drei Vokale a-i-u an der Spitze des Dreiecks hat, kann ein / a/ auch von einem [e] dargestellt werden, wie oft im Arabischen. In der Morphologie ist die Funktion z. B. der Kategorie „ Numerus “ davon abhängig, ob die Sprache nur eine Opposition zwischen Singular und Plural wie im Lateinischen hat oder ob sie auch einen Dual wie im Altindischen besitzt; im letzteren Fall ist die Funktion des Plurals beschränkter. In der Syntax wird der Gebrauch der Spaltsätze oder Pseudo-Spaltsätze davon beeinflusst, ob die Sprache eine feste Wortfolge hat oder nicht, da die feste Struktur der Spaltsätze kompatibler mit einer Grammatik ist, in der die Wortfolge auch in anderen Fällen bestimmt ist. Auch bei der Semantik ist die Systemabhängigkeit klar, weil - wie von der Wortfeldtheorie dargelegt (vgl. Schmidt 1973) - die Bedeutung eines Wortes von der Anwesenheit anderer Wörter derselben Taxonomie bedingt wird. Von diesem Standpunkt ist der Begriff des Systems auch mit der typologischen Forschung vereinbar: Greenbergs implikationelle Universalien bedeuten, dass es eine innere Beziehung zwischen verschiedenen Strukturen derselben Sprache gibt, und die Vorhersageleistung, diese Beziehung zu entdecken, würde sicher reduziert, wenn die jeweiligen Strukturen getrennt analysiert würden. Daher wird auch von W. Lehmann (1976 a) die Idee einer systemischen Struktur der Grammatik unterstützt, der den typologischen Ansatz als erster auf die Indogermanistik anwandte: A language is a very intricate system composed of characteristic elements in caracteristic interrelationships. Systems are never replicated exactly in the 5,000 and more languages found today, nor in the many more attested in the past. Accordingly, historical linguists can never expect the same developments from language to language. But they can expect to find comparable entities, comparable interrelationships and comparable changes. Determining and mastering these, and the structures in which they occur, will give us added capabilities as we aim to understand language and expand our control over change in languages. (W. Lehmann 1976 a: 177) 33 <?page no="34"?> Die System-Dependenz linguistischer Phänomene wurde in jüngerer Zeit von weiteren Historiolinguisten wie Lass (1997: 228 - 29) und Hewson & Bubenik (1997; 2006) anerkannt. Unsere Analyse wird also nicht nur die Varietät in der Synchronie der idg. Syntax berücksichtigen, sondern auch mögliche Korrelationen zwischen verschiedenen Strukturen eines linguistischen Systems untersuchen, entsprechend der Annahme, dass eine Sprache eine „ ordentliche Heterogenität “ (orderly heterogeneity, Weinreich et al. 1968: 100) haben kann. 1.4.2 Überblick über die folgenden Kapitel Diese Arbeit beabsichtigt, sowohl den Stand der Forschung zur Syntax in den alten idg. Sprachen darzustellen als auch eine eigenständige Interpretation der syntaktischen Variation und des syntaktischen Wandels in diesen Sprachen anzubieten. Thema unserer Untersuchung sind die syntaktischen Kategorien (§ 2), die syntaktischen Funktionen (§ 3), die syntaktische Hierarchie (§ 4) und die syntaktische Linearität (§ 5). 13 Die Gliederung entspricht der von Dürscheid (2012 a), die Kategorien und Funktionen gleichfalls als syntaktische Basiseinheiten betrachtet, aber natürlich ist das nur eine allgemeine Orientierung: der Inhalt besteht aus den Daten der alten idg. Sprachen und aus den Interpretationen, die solche Daten im Bereich der Indogermanistik bekommen können. Linguistische Grundkenntnisse werden nur wiederholt, wenn sie in der Argumentation eine besondere Rolle spielen und gleichzeitig in der Indogermanistik nicht üblich sind. Ansonsten entwickelt jedes Kapitel etwas Neues und stellt unsere Auffassung der diskutierten Phänomene vor. Anhand der behandelten Fallbeispiele werden wir schließlich in § 6 das Problem der Rekonstruktion der Syntax des Urindogermanischen diskutieren. Die Daten sind vor allem aus denjenigen alten idg. Sprachen entnommen, die früh belegt sind, und die als erste in Originaltexten (d. h. nicht in Übersetzungen) bezeugt sind: Hethitisch, Vedisch, Altgriechisch und Latein. Denn in übersetzten Texten sind die genuinen syntaktischen Merkmale der Originalsprache schwierig zu identifizieren (vgl. W. Lehmann 1976 a: 172). Vertreter der anderen Zweige der idg. Familie werden 13 Moravcsik (2006 a) nimmt an, dass man zu Beginn die linearen und selektiven Eigenschaften (linear and selectional properties) einer Sprache definieren muss, bevor man die syntaktischen Kategorien und Funktionen beschreiben kann. Das gilt zwar für das Englische, wo Kategorien wie Nomina oder Verben und Funktionen wie Subjekt oder Objekt anhand der Wortfolge und der Rektion bestimmt werden können, aber das ist nicht der Fall in den alten idg. Sprachen, in denen Stellung und Rektion nicht festgesetzt sind. In diesen Sprachen müssen Kategorien und Funktionen ganz am Anfang anhand morphologischer Unterschiede identifiziert werden. 34 <?page no="35"?> nach Bedarf ebenfalls beigezogen. Hiermit folgen wir dem von Harris & Campbell vorgeschlagenen Modell des „ intersystemischen Vergleichs “ (Intersystemic Comparison), wo „ Intersystemic should be understood as denoting a number of ideas simultaneously [. . .] The term emphasizes that it is the whole syntactic system that must be compared, not isolated facts. “ (1995: 9) Harris & Campbell haben diese Methode auf verschiedene genetisch und areal unabhängige Sprachen und Sprachfamilien im Geiste der Typologie angewendet. Wir wenden diesen Vergleich auf verschiedene alte idg. Sprachen an. Obwohl ausgezeichnete Studien zum syntaktischen Wandel in den idg. Sprachen existieren, sind sie normalerweise spezifischen Sprachen oder spezifischen Konstruktionen gewidmet, wie z. B. dem Verfall des Infinitivs im balkanischen Sprachbund (Joseph 1983), oder sie untersuchen die dem syntaktischen Wandel zugrunde liegenden Prinzipien wie Reanalyse, Analogie, Extension, Grammatikalisierung (Hock 1991: 309 ff). Es gibt meines Wissens keine Studien, die den Wandel der verschiedenen kategorialen, funktionalen, hierarchischen und linearen Einheiten der Syntax in verschiedenen idg. Sprachen gemeinsam diskutieren. Ein weiteres Merkmal dieser Arbeit ist, dass wir, wo immer möglich, auch diskutieren, wie einheimische Grammatiker der indischen und der griechisch-römischen Tradition die untersuchten Phänomene beschrieben haben und inwiefern diese Beschreibungen einen Einblick in die Syntax der alten idg. Sprachen erlauben. Der Umfang und die Komplexität dieses Themas könnten auf den ersten Blick den falschen Eindruck vermitteln, es sei für eine Monographie zu anspruchsvoll oder zu allgemein und deswegen oberflächlich, und das erfordert eine Beschränkung und eine Rechtfertigung. Zum Ersten bezwecken wir keine erschöpfende Analyse der syntaktischen Phänomene in den verschiedenen alten idg. Sprachen. Das wurde von den ersten Indogermanisten und besonders von Delbrück (1893 - 1900) in seinen sowohl ausführlichen wie umfangreichen Abhandlungen geleistet; heute würde eine neue komparative Syntax der alten idg. Sprachen die spezialisierte Arbeit vieler Forscher erfordern, wie bei dem zurzeit in Vorbereitung befindlichen 5. Band der Indogermanischen Grammatik vom Winter Verlag. 14 Wir stellen hingegen eine partielle Betrachtung der Syntax der alten idg. Sprachen vor, nur auf einige ausgewählte Themen fokussiert, die von der Anwendung neuer syntaktischer Ansätze am meisten profitieren können. Außerdem werden diese Themen hier in unterschiedlichem Maße erörtert: am meisten diskutieren wir das Problem der syntaktischen Funktionen (Kapitel III), das in den letzten Jahren in der Literatur zu größeren Debatten geführt hat, und das auch in der vorliegenden Arbeit die zentrale Rolle spielt. Die Linearität 14 http: / / tinyurl.com/ ps8npkn 35 <?page no="36"?> (Kapitel V) wird hier am wenigsten diskutiert, weil wir sie in einigen Aufsätzen schon betrachtet haben, worauf wir im Text verweisen. Zum Zweiten sind wir überzeugt, dass einige Phänomene besser verstanden werden können, wenn sie aus einer breiten Perspektive analysiert werden, und wenn man sie in Beziehung zu anderen Phänomenen setzt. Ein Zusammenhang ergibt sich zwischen den betrachteten syntaktischen Einheiten, wobei z. B. diejenigen alten idg. Sprachen, die am wenigsten Nomina von Adjektiven unterscheiden und am wenigsten eine Konfiguration für die NP entwickelt haben, auch diejenigen sind, die eine angeschlossene Satzverbindung besitzen. Oft geht es nicht darum, dass eine gewisse Funktion in einer alten idg. Sprache kodiert und in einer anderen nicht kodiert wird, sondern dass nur der locus der Kodierung sich ändert, sodass z. B. eine niedrige Transitivität einer Sprache am Nomen durch einen Kasus obliquus und in einer anderen Sprache am Verb durch das Medium kodiert wird. Auch in diesem Fall würde eine getrennte Analyse der jeweiligen Phänomene eine wichtige Generalisierung übersehen, die eine Berücksichtigung der Phänomene in Konkurrenz zueinander deutlicher erfassen kann. In der Indogermanistik wie in jeder Disziplin gibt es Forscher, die zur Spezialisierung oder zur Generalisierung ihrer Studien neigen. Beide Einstellungen sind nützlich, sie sind sogar komplementär: der breite Zugriff auf ein Problem kann durch eine detaillierte Analyse genauer betrachtet werden, und umgekehrt können die Details einer Untersuchung in Beziehung zu anderen Phänomenen besser beleuchtet werden. Einige Indogermanisten haben aber prinzipiell etwas gegen Studien mit einem breitem Thema, und zwar aus zwei Gründen. Erstens seien zuverlässige Ergebnisse nur erreichbar, wenn man aus den Texten heraus und auf der Basis der genauesten philologischen Analyse argumentiert. Es ist hier deshalb notwendig zu betonen, dass es nicht nur eine Weise gibt, eine wissenschaftliche Arbeit zu den alten Sprachen durchzuführen. Man kann zwar bei der Untersuchung eines Texts im Detail anfangen, und das habe ich übrigens auch in mehreren Aufsätzen getan, in denen ich die jeweiligen Stellen genau gezählt und bei Bedarf statistisch mittels Chi-Test quantifiziert habe (vgl. Viti 2006; 2008 b; 2008 c; 2008 d; 2009 b; 2010 b; 2010 c). Man kann aber auch über allgemeine Probleme und Tendenzen mit ausgewählten Beispielen aus verschiedenen Sprachen sprechen, ohne ihre philologischen Details zu beschreiben und dabei auf die Ergebnisse anderer Forscher verweisen. Damit meinen wir keinesfalls, dass man sie unkritisch als bereits geleistet einfach übernehmen kann (auch die Beispiele dieses Buches beruhen auf meiner persönlichen Lesung der jeweiligen Werke, wenn nicht anderweitig vermerkt), sondern dass man ein anderes Ziel haben kann. Das gilt nicht nur für die Sprachtypologie, in der man sehr viele genetisch und areal unterschiedliche Sprachen anschaut, natürlich nicht in 36 <?page no="37"?> Details und oft nur anhand von sekundärer Literatur, sondern auch für die Historiolinguistik, in denen heute zahlreiche interessante Studien über alte Stufen der germanischen, romanischen oder slawischen Sprachen erschienen sind, die wir in den folgenden Kapiteln zu zitieren die Gelegenheit haben werden und die allgemeine Themen behandeln, ohne aber die Philologie der Texte zu diskutieren. Die meisten Studien von Meillet (1921) und Benveniste (1966) erörtern auch Themen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Außerdem hängt die Wahl einer generalisierenden oder spezialisierenden Herangehensweise vom Typ der Arbeit ab: die Berücksichtigung der philologischen Einzelheiten ist unabdingbar in der Vorbereitung eines Wörterbuches oder einer Übersetzung, wo die Deutung eines Wortes bzw. Texts im Mittelpunkt steht. Doch in einer Arbeit zur vergleichenden Syntax kann sie manchmal auch beiseite gelassen werden, sofern man auf bestimmte Editionen und Interpretationen hinweist - auf diese Weise haben auch Studien, die von generellen Gesichtspunkten ausgehen, ihre Basis letztlich in spezialisierenden Untersuchungen. So sind die frühesten vedischen Texte zwar oft problematisch in ihrer Überlieferung und Interpretation, aber sie wurden tiefgründig untersucht und haben eine reiche philologische Tradition, worauf man seine Argumentation aufbauen kann; für das Rig-Veda greife ich z. B. auf van Nooten & Holland (1994) und auf Geldner (1951) zurück. Auf weitere Editionen und Übersetzungen werden wir im Text und im Literaturverzeichnis hinweisen. Zweitens ist es manchmal so, dass die zur Spezialisierung Neigenden Ausnahmen für jede Generalisierung finden und aufgrund einiger Stellen, zu deren Interpretation kein allgemeiner Konsens existiert, auch auf jede Hypothese verzichten. Natürlich wollen die „ Generalisten “ nicht alles erklären, sie sind sich bewusst, dass stets Ausnahmen gefunden werden können. Sie glauben jedoch, dass immer jene Hypothese zu bevorzugen ist, die mehr erklären kann. Die Anpassung einer Hypothese an 100 % der Daten ist nicht nur utopisch, sondern auch gefährlich, weil sie eine Trennung der Sammlung und Beschreibung der Daten von ihrer Interpretation und Erklärung durch theoretische Prinzipien voraussetzt, wie auch eine Trennung der Indogermanistik von den anderen Wissenschaften, in denen ein relativistischer Ansatz in Bezug auf die Daten und die Bestimmung einer erklärenden Theorie die übliche Praxis ist (vgl. Ringe & Eska 2013: XII-XIII). Manchmal stehen die „ Spezialisten “ neuen Ansätzen skeptisch gegenüber, weil sie allenfalls mögliche Auswirkungen auf die Lehren der Indogermanistik befürchten ( „ reluctance to tackle syntax other than piece-meal led to the result that comparative linguistics aimed at reconstruction remained a unified discipline “ , Winter 1984: 619). Auch in diesem Fall sehe ich keinen Grund, weshalb man die Theorie auf die alten idg. Sprachen nicht anwenden sollte. Die Interdisziplinarität sowie der Beitrag, den die Dialektologie, die Soziolinguistik und die Kognitive Linguistik auch der Indogermanistik 37 <?page no="38"?> anbieten können und umgekehrt, beruht nicht auf der Suche nach Modernität, 15 sondern auf dem Glauben, dass man zur Erklärung eines Phänomen auf etwas anderes, etwas außerhalb des jeweiligen Phänomens Liegendes Bezug nehmen muss. Deswegen folgt diese Arbeit eher der generalisierenden als der spezialisierenden Einstellung. 15 Ein interdisziplinärer Ansatz in Bezug auf die alten idg. Sprachen ist eigentlich nicht modern: er ist eher der Versuch einer Rückbesinnung auf die Ursprünge der indogermanistischen Studien, die - wie oben in § 1.2.1 und § 1.4.1 aufgezeigt - sehr offen auch gegenüber anderen Sprachen und Sprachfamilien waren, wie auch gegenüber anderen Disziplinen wie Anthropologie, Psychologie und Soziologie. 38 <?page no="39"?> Kapitel II Syntaktische Kategorien 2.1 Forschungsfragen zu den syntaktischen Kategorien Syntaktische Kategorien sind sprachliche Einheiten, die Gemeinsamkeiten in der Form oder in der Bedeutung haben, wodurch syntaktische Strukturen beschrieben werden können (vgl. Dürscheid 2012 a: 19). Syntaktische Kategorien können einfach oder komplex sein: im ersten Fall spricht man von Wortarten (parts of speech), wie Nomen und Verb, im zweiten von Phrasen (phrases), Syntagmata oder Satzgliedern, wie NP und VP. Wir werden hier die Wortarten der alten idg. Sprachen diskutieren, um auf die folgenden Forschungsfragen eine mögliche Antwort vorzuschlagen. Als Erstes fragen wir uns, ob und wie weit die Beschreibungen der indischen oder der griechischen Grammatiker auch auf die syntaktischen Kategorien der anderen alten idg. Sprachen und des rekonstruierten Urindogermanischen angewendet werden können und ob die von den alten Grammatikern benutzten Kriterien gemäß der Betrachtung der syntaktischen Kategorien in der modernen linguistischen Theorie noch gültig sind (§§ 2.2, 2.5). Zum Zweiten wollen wir untersuchen, ob und wie weit die syntaktischen Kategorien der alten idg. Sprachen vergleichbar sind mit den syntaktischen Kategorien der modernen idg. Sprachen und des Standard Average European einerseits und mit der Situation anderer nicht-idg. Sprachen andererseits, in denen manchmal eine ganz verschiedene kategoriale Verteilung identifiziert wurde (§ 2.3). Zum Dritten sind wir auf der Suche nach möglichen synchronen und diachronen Beschränkungen, die Generalisierungen hinter der Vielfalt der syntaktischen Kategorien der alten idg. Sprachen erlauben. In der Synchronie fragen wir uns, ob die syntaktischen Kategorien der alten idg. Sprachen dergestalt ein System bilden, dass die Anwesenheit oder Abwesenheit einer Kategorie gewissermaßen vorherzusagen erlaubt, ob andere Kategorien vorkommen oder fehlen (§ 2.4). In der Diachronie machen wir uns die lange Überlieferung der alten idg. Sprachen zunutze, um zu sehen, wie die syntaktischen Kategorien sich ändern, sowohl in ihrem üblichen als auch in ihrem außerordentlichen Wandel (§§ 2.5, 2.6). Änderungen in der Kategorisierung, die durch die interne Geschichte der Sprache erklärt werden können, werden wir auch mit denjenigen kategorialen Änderungen vergleichen, die sich aus dem externen Einfluss anderer Sprachen ergeben, um bestimmen zu können, inwieweit dieser Kontakt das Inventar und die Verteilung der syntaktischen Kategorien der alten idg. Sprachen verändert haben könnte (§ 2.7). 39 <?page no="40"?> Aber zuerst ist es wichtig, die Meinung hinsichtlich der syntaktischen Kategorien in der Antike zu berücksichtigen, denn wie Robins (1966: 19) bemerkt, „ in tracing the genesis, development, and fixation of the word class system of classical grammar in western antiquity, we face problems and controversies very much at the forefront of contemporary linguistics, and at the same time follow the evolution of a categorial support that has upheld and guided some 2000 years of continuous and not inconsiderable linguistic scholarship. “ 2.2 Wortarten in der grammatischen Tradition der alten idg. Sprachen Im idg. Bereich wurde eine echte Theorie der Wortarten nur in der griechisch-römischen (§ 2.2.1) und in der indischen (§ 2.2.2) Tradition von Grammatikern und Philosophen entwickelt, die unterschiedliche Kriterien für deren Kategorisierung erarbeiteten (§ 2.2.3). Andere idg. Sprachen bieten zwar auch Texte an, die auf ein gewisses linguistisches Bewusstsein schließen lassen, wie Übersetzungen, Bilinguen, Glossen oder Wortlisten, aber sie befassen sich immer mit konkreten Problemen, z. B. wie man einen fremden Text, eine seltsame Konstruktion oder ein schwieriges Wort in ihrer eigenen Sprache ausdrücken kann. Sie hatten nie das Ziel, ihren Wortschatz nach bestimmten Prinzipien zu rubrizieren, und sie hatten eigentlich keinen abstrakten Begriff des Wortes. 16 Weder in der klassischen noch in der indischen Tradition wurden aber Phrasen identifiziert. Das hängt wahrscheinlich mit der Tatsache zusammen, dass die hierarchische Struktur des Satzes in den alten idg. Sprachen noch nicht so entwickelt war. Wir werden diesen Punkt in Kapitel IV wieder aufnehmen. 2.2.1 Wortarten in der griechisch-römischen Tradition Im Westen identifizierten schon die Sophisten (5. Jh. v. Chr.) das Nomen ( ὄνομα ) und das Verb ( ῥῆμα ) als μέρη τοῦ λόγου „ Teile der Rede “ . Bemerkungen darüber erscheinen auch bei Platon (5.-4. Jh. v. Chr.), besonders in seinem Dialog Kratylos, der dem Problem der Sprache gewidmet ist, sowie bei Aristoteles (4. Jh. v. Chr.), der die Kategorie der Konjunktion 16 Das Wort wurde in der Antike für die minimale bedeutsame sprachliche Einheit gehalten ( λέξις ἐστὶ μέρος ἐλάχιστον τοῦ κατὰ σύνταξιν λόγου , Dionysios Thrax, TG 11; verbum dico orationis vocalis partem, quae sit indivisa et minima, Varro LL, 10.77). Das Morphem, dem heutzutage ein solcher Status zugewiesen wird, war damals nicht bekannt und wurde erst im Strukturalismus identifiziert. Vgl. Boisson et al. (1994: 11). 40 <?page no="41"?> ( σύνδεσμος ) erkannte. 17 Die älteren Stoiker (4.-3. Jh. v. Chr.) haben den Artikel ( ἄρθρον ) identifiziert, und sie haben wesentliche Beiträge zur Theorie sowohl des Nomens, mit der genauen Unterscheidung zwischen ἰδία ποιότης oder ὄνομα κύριον (nomen proprium) und κοινὴ ποιότης oder ὄνομα προσηγορικόν (nomen appellativum), die allerdings schon bei Aristoteles angedeutet wurde, als auch des Verbs, mit der Bestimmung der verschiedenen Formen der Tempora ( χρόνοι ) geleistet (vgl. Brøndal 1948: 24ff; Robins 1966; Householder 1967; Matthews 1967; 1994). Eine vollständige Liste der Wortarten haben wir schließlich von Dionysios Thrax (2.-1. Jh. v. Chr.) erhalten, der einige Fragmente und besonders ein Werk mit dem Titel τέχνη γραμματική hinterließ, dessen Authentizität aber ziemlich umstritten ist, und vom alexandrinischen Grammatiker Apollonios Dyskolos (2. Jh. n. Chr.), der das vierbändige περὶ συντάξεως schrieb und dem auch drei scripta minora über das Pronomen, das Adverb und die Konjunktion zugerechnet werden. 18 Die beiden stellten eine Liste zusammen, die aus acht syntaktischen Kategorien besteht, d. h. ὄνομα „ Nomen “ , ῥῆμα „ Verb “ , ἄρθρον „ Artikel “ , σύνδεσμος „ Konjunktion “ , μετοχή „ Partizip “ , ἀντωνυμία „ Pronomen “ , πρόθεσις „ Präposition “ , ἐπίρρημα „ Adverb “ . Die Liste der Wortarten des Lateinischen (partes orationis) ist offenbar eine Nachahmung der Liste des Altgriechischen, d. h. nomen, verbum, coniunctio, participium, pronomen, praepositio, adverbium; da Latein keinen Artikel (articulus) hatte, fügten die Römer die Kategorie 17 Nach Basset (1994) aber bedeutete ῥῆμα bei Platon noch nicht „ Verb “ , sondern noch „ Ausdruck “ im Allgemeinen: Es sei „ la désignation non marquée de n ’ importe quelle expression, du mot à l ’ énoncé “ (S. 51). Ein echtes Nachdenken über die Wortarten beginne also erst mit Aristoteles. Dadurch könnte man auch l ’ oubli de Platon (Holtz 1994: 77) in der grammatischen Tradition bis zu Priscian erklären. Sicher ist die Bestimmung des Nomens und des Verbs bei Platon ziemlich implizit ( λόγοι γάρ που , ὡς ἐγᾦμαι , ἡ τούτων [sc. ὀνομάτων καὶ ῥημάτων ] σύνθεσίς ἐστιν „ Sätze sind, glaube ich, die Kombination dieser [sc. Nomina und Verba] “ , Krat. 431 c), während Aristoteles das Nomen und das Verb deutlicher unterscheidet, vgl. § 2.2.3. Aber eine gewisse Inkonsequenz findet man auch bei Aristoteles, der Adjektive für ῥήματα hält, auf dieselbe Weise wie Platon (Robins 1966: 7). Solche Ungenauigkeiten sind nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass damals die Grammatik keine unabhängige Disziplin war, sondern nur eine Dienerin der Philosophie oder der Philologie. 18 Angesichts der fragmentarischen Natur der Quellen ist es schwierig, den Ursprung und die Entwicklung der Wortarten zu bestimmen. Die meisten Forscher denken, dass die Unterscheidung in acht Kategorien zuerst vom alexandrinischen Grammatiker Aristarchos (3.-2. Jh. v. Chr.), dem Lehrmeister von Dionisios Thrax, festgesetzt wurde und in Rom durch die Lehre von Remnius Palaemon unter der Julisch- Claudischen Dynastie übernommen wurde (vgl. Robins 1966: 4; Holtz 1994: 80). 41 <?page no="42"?> der Interjektion (interiectio) hinzu, damit sie die Anzahl der acht Kategorien des Altgriechischen erreichen konnten. 19 Diese Rubrizierungen spiegeln die linguistische Realität des Altgriechischen und des Lateinischen gut wider und finden wesentliche Bestätigungen auch in vielen anderen Sprachen. So ist es denn auch kein Zufall, dass das Nomen und das Verb die ersten Kategorien sind, die ab dem 5. Jh. mit den Sophisten einen eigenen syntaktischen Status in der griechischen Tradition bekommen haben. Denn sie sind die Wortarten, die in den klassischen Sprachen und im Allgemeinen in den alten idg. Sprachen von einem formalen Standpunkt aus am meisten unterschieden werden können. Das Nomen flektiert nach Genus ( γένος , genus), Numerus ( ἀριθ μός , numerus) und Kasus ( πτῶσις , casus), während das Verb nach Numerus ( ἀριθμός , numerus), Person ( πρόσωπον , persona), Tempus ( χρόνος , tempus), Modus ( ἔγκλισις , modus) und Diathese ( διάθεσις , genus verbi) flektiert. Nomen und Verb sind auch die einzigen Kategorien, die heutzutage als universal betrachtet werden, so dass jeder mutmaßliche Gegenbeweis (wie das bekannte Beispiel des Nootka, vgl. § 2.2.3) sich nach einer vertieften Untersuchung als falsch oder unvollkommen erwiesen hat, vgl. Schachter & Shopen (2007: 11). Andererseits ist es auffällig, dass das Adjektiv keinen Stellenwert in der Klassifikation des Altgriechischen und des Lateinischen erhalten hat; 20 die Wörter, die unseren Adjektiven entsprechen, sind in diesen Sprachen in der Kategorie der ὀνόματα bzw. nomina eingeschlossen, mit der Bezeichnung ὄνομα ἐπιθετικόν oder nomen adjectivum, wo ἐπιθετικόν bzw. adjectivum 19 Der Terminus articulus wird zwar von den römischen Grammatikern benutzt, aber er bezeichnet das Pronomen. M. Terentius Varro unterscheidet die articuli von den Nomina (nominatus): Während nominatus ein Eigenname (nomen) oder ein Gattungsname (vocabulum) sein können, können articuli finiti oder infiniti sein, je nachdem ob sie Demonstrativpronomina wie hic oder Indefinitpronomina wie quis bezeichnen: Prima pars casualis dividitur in partis duas, in nominatus scilicet ⟨ et articulos ⟩ , quod aeque finitum ⟨ et infinitum ⟩ est ut hic et quis; de his generibus duobus utrum sumpseris, cum reliquo non conferendum, quod inter se dissimiles habent analogias „ Zuerst wird der Abschnitt mit den Kasus in zwei Teile gegliedert, in den der Begriffswörter und Eigennamen sowie den der Pronomina. Die letzteren sind bestimmt und unbestimmt wie hic „ dieser “ und quis „ wer/ welcher “ ; welche von den beiden Arten du nimmst, sie darf mit der anderen nicht verglichen werden, weil sie untereinander verschiedene regelmäßige Merkmale haben. “ (Varro, LL 10.18). Die Festsetzung der Interjektion am Ende der Liste der acht Kategorien wird nach Holtz (1994: 84 - 89) nicht von der Neuerung dieser Unterscheidung bedingt, sondern von der Tatsache, dass Interjektionen außerhalb des Systems der Wortarten liegen, auf dieselbe Weise wie der Vokativ in Bezug auf die anderen Kasus. 20 Das Adjektiv wurde erst im 18. Jh. vom Nomen getrennt (Brøndal 1948: 25; Boisson et al. 1994: 16). Hier meinen wir eher „ beschreibende Adjektive “ (descriptive adjectives) als „ beschränkende Adjektive “ (limiting adjectives), vgl. Dixon (1982: 3). 42 <?page no="43"?> so viel wie „ zum Beifügen dienlich “ bedeutet. Hier zitieren wir die Definition des Adjektivs vom hellenistischen Grammatiker Dionysios Thrax und von Priscian, der in der byzantinischen Periode (um 500 n. Chr.) wirkte. (2.1) ἐπίθετον δέ ἐστι τὸ ἐπὶ κυρίων ἢ προσηγορικῶν ὁμωνύμως τιθέμενον (Dionysios Thrax, TG 12) adiectivum est, quod adicitur propriis vel appellativis (Priscian, Inst. Gram. 2.28) „ Das Adjektiv ist, was zu Eigennamen oder Gattungsnamen hinzugefügt wird. “ Die gemeinsame Kategorisierung des Adjektivs und des Nomens können wir auch bei dem römischen Grammatiker M. Terentius Varro (116 - 27 v. Chr.) ausmachen, der in zwei ähnlichen Formulierungen seines Werks De lingua latina einerseits die Nomina lectio „ Lesung “ und lector „ Leser “ (2.2) und andererseits die Adjektive docilis „ gelehrig “ und facilis „ leicht “ (2.3) als Beispiele derselben Wortart erwähnt. (2.2) cum verborum declinatuum genera sint quattuor, unum quod tempora adsignificat neque habet casus, ut ab lego leges, lege; alterum quod casus habet neque tempora adsignificat, ut ab lego lectio et lector; tertium quod habet utrunque et tempora et casus, ut ab lego legens, lecturus; quartum quod neutrum habet, ut ab lego lecte ac lectissime „ Da es vier Gattungen von formal veränderbaren Wörtern gibt, eine, die Tempora anzeigt und keine Kasus hat, wie leges ‚ du liest ‘ und lege ‚ lies ‘ von lego ‚ ich lese ‘ ; eine zweite, die Kasus hat und keine Tempora anzeigt, wie lectio ‚ Lesung ‘ und lector ‚ Leser ‘ von lego; eine dritte, die beides hat, sowohl Tempora als auch Kasus, wie legens ‚ lesend ‘ und lecturus ‚ lesen werdend ‘ von lego; und eine vierte, die keines von beidem hat, wie lecte ‚ auserlesen ‘ und lectissime ‚ auserlesenst ‘ von lego. “ (Varro, LL 6.36; betont) (2.3) ea (sc. verba) dividuntur in partis quattuor: in unam quae habet casus neque tempora, ut docilis et facilis; in alteram quae tempora neque casus, ut docet facit; in tertiam quae utraque, ut docens faciens; in quartam quae neutra, ut docte et facete „ Die Wörter werden in vier Abschnitte aufgeteilt: in einen, der Kasus und keine Tempora einschließt, wie docilis ‚ gelehrsam ‘ und facilis ‚ leicht ‘ ; in einen, der Tempora und keine Kasus hat, wie docet ‚ er lehrt ‘ und facit ‚ er macht ‘ ; in den dritten, der beides umfasst, wie docens ‚ lehrend ‘ und faciens ‚ machend ‘ und den vierten, der keines von beidem enthält, wie docte ‚ auf gelehrige Weise ‘ und facete ‚ auf gewitzte Art ‘ . “ (Varro, LL 10.17; betont) Wir werden in § 2.3.1.1 sehen, wie Adjektive in den alten idg. Sprachen weder morphologisch noch syntaktisch von Nomina abgetrennt werden können. Vorerst genügt es zu bemerken, dass diese fehlende Unterschei- 43 <?page no="44"?> dung der klassischen Grammatiker auch den Befunden der Typologie entspricht. Adjektive sind nicht so häufig sprachübergreifend: seit Dixon (1977) wird anerkannt, dass es Sprachen gibt, in denen Adjektive völlig fehlen, und Sprachen, in denen sie auf eine kleine und unproduktive Klasse beschränkt sind, die Alter ( „ alt “ , „ neu “ ), Dimension ( „ groß “ , „ klein “ , „ lang “ , „ kurz “ ), Wert ( „ gut “ , „ schlecht “ ) oder Farbe ( „ schwarz “ , „ weiss “ , „ rot “ ) bezeichnet. Andere Eigenschaften werden in solchen Sprachen durch Nomina wie in Igbo (Carnochan 1967: 17) oder Verben wie in Yurok (Robins 1967: 221) ausgedrückt, vgl. auch Bhat (1994); Wetzer (1996), Dixon & Aikhenvald (2004). Natürlich sind nicht alle syntaktischen Kategorien gleich relevant für alle Sprachen, und die klassischen Grammatiker hatten schon die Relativität der Wortarten erkannt, nicht nur in verschiedenen Sprachen, sondern auch im System derselben Sprache. Die Tatsache, dass die meisten syntaktischen Kategorien sprachspezifisch sind, war für sie einfach zu verstehen: ein Vergleich zwischen dem klassischen Griechisch, wo der Artikel eine gut entwickelte Kategorie ist, und dem Lateinischen, wo, wie bereits erwähnt, der Artikel fehlt, war genug. Das Bewusstsein der Relativität der Kategorien in einer Sprache zeigen die für „ Partizip “ benutzten Ausdrücke μετοχή und participium, die wörtlich „ teilhabend “ bedeuten, d. h. etwas, was an der Natur sowohl des Nomens als auch des Verbs teilhat und deswegen die Anwesenheit von Nomina und Verben voraussetzt. Denn das Partizip flektiert in den klassischen Sprachen in Genus, Numerus und Kasus wie ein Nomen und in Tempus und Diathese wie ein Verb. 2.2.2 Wortarten in der indischen Tradition Die indische Tradition erkennt weniger syntaktische Kategorien als die griechisch-römische Tradition an, obwohl auch in Indien wie in der klassischen Welt verschiedene Klassifikationen und Definitionen von verschiedenen Grammatikern eingeführt wurden (vgl. Cardona 1988; 1994: 31ff; Alfieri 2009). Im Allgemeinen werden vier padaj ā t ā ni „ Wortarten “ postuliert, und zwar das Nomen (n ā man-), das Verb ( ā khy ā ta-), das Präverb (upasarga-) und die Partikel (nip ā ta-). Der locus classicus für eine frühe Anerkennung dieser Wortarten kommt bei Y ā ska vor, einem zwischen dem 7. und dem 5. Jh. v. Chr. lebenden Grammatiker 21 , der einen Traktat über Etymologie (Nirukta) schrieb. 21 Die Datierung von Y ā ska wie von anderen indischen Autoren ist umstritten, weil die Inder der Chronologie keine große Aufmerksamkeit schenkten, wahrscheinlich wegen ihres zyklischen Begriffs der Geschichte. „ History is the one weak point of Sanskrit literature, being practically non-existent. Not a single systematic chronological record has survived, and so complete is the lack of any data to guide us in this matter that the 44 <?page no="45"?> (2.4) tad y ā ny catv ā ri padaj ā t ā ni das RP: NOM.N.PL vier Wortart(N): NOM.PL n ā m ā khy ā te copasarganip ā t āś ca t ā n ī m ā ni Nomen.Verb(N): NOM.DU und.Präverb.Partikel(M): NOM.PL und diese.diese: NOM.N.PL bhavanti sein: PRS.IND3PL „ Nomen und Verb, Präverb und Partikel, diese hier sind die vier Wortarten, die anerkannt sind. “ (Y ā ska, Nir. 1.1) Die Kategorien des Präverbs und der Partikel werden nach ihren relationalen Eigenschaften in Bezug auf andere Kategorien bestimmt: das Präverb hat eine Verbindung mit dem Verb, während die Partikel nicht verbal verbunden ist. Präverbien und Partikeln werden von P ā n· ini in der Kategorie des avyaya- „ indeklinabel “ vereinigt, d. h. die Wörter die „ sich nicht verändern “ (na viyanti). P ā n· ini, der wahrscheinlich im 4. Jh. v. Chr. das Handbuch As · t · ā dhy ā y ī ( „ acht Kapitel habend “ ) schrieb, postulierte neben den indeklinablen Wörtern die Kategorien des Nomens (subanta) und des Verbs (tin · anta), d. h. diejenigen Wörter, die eine Endung sup oder tin · haben, wie wir in seiner kurzgefassten Definition des pada- „ Wort “ in (2.5) sehen können. (2.5) sup-tin · -antam padam sup-tin · -ending: NOM.N.SG word(N): NOM.SG „ Das Wort hat entweder eine nominale oder eine verbale Endung. “ (P ā n· ini, As · t · . 1. 4. 14) Außerdem identifizierte P ā n· ini in der Analyse der Konstituenten eines Wortes die verbale Wurzel (dh ā tu-) und die nominale Wurzel (pr ā tipadika-), die mithilfe der Affixe oder der Endungen (pratyaya-) Verben bzw. Nomina bilden. Die Möglichkeit verschiedener Rubrizierungen des Lexikons wird explizit von Bhartr ˚ hari im 5. Jh. n. Chr. betont, dem Autor des V ā kyapad ī ya „ (Traktat über) Satz (v ā kya-) und Wort (pada-) “ . Schon dieser Titel zeigt, dass von den indischen Grammatikern keine mittelbare Kategorie für das Syntagma zwischen dem Niveau des Wortes und dem des Satzes erwogen wurde. Am Anfang des dritten Buches des V ā kyapad ī ya sagt Bhartr · hari: dates of even the most famous Indian authors like P ā n · ini or K ā lid ā sa are still subject to controversy. Y ā ska ’ s data cannot therefore be determined with absolute certainty. One can arrive at a relative date only by bringing together the isolated pieces of information supplied by archeological finds, literary references, and accidental mentions of known historical or political events. This evidence, however, is not conclusive, and is differently interpreted by various oriental scholars. “ (Sarup 1927: 53 - 54) 45 <?page no="46"?> (2.6) dvidh ā kai ś cit padam· bhinnam· zweifach einige: INSTR.M.PL Wort(N): NOM.SG geteilt: NOM.N.SG caturdh ā pañcadh ā pi v ā vierfach fünffach.und oder „ Die allgemeine Kategorie des Wortes wird von einigen in zwei Teile, in vier Teile oder in fünf Teile geteilt. “ (Bhartr · hari, V ā k. 3.1.1) Die Unterscheidung von zwei Kategorien ist wie bei P ā n· ini diejenige zwischen subanta, die nominale Endungen haben, und tin · anta, die mit verbalen Endungen versehen sind; vier Kategorien werden unterschieden, wenn man auch die Präverbien (upasarga-) und die Partikeln (nip ā ta-) wie bei Y ā ska hinzufügt. Eine fünfte Gruppe (karmapravacan ī ya-) besteht aus indeklinablen Wörtern, die eine syntaktische Beziehung zu Nomina haben und die unseren Präpositionen oder Postpositionen entsprechen. Zwei grundsätzliche Ähnlichkeiten bestehen zwischen der indischen und der griechisch-römischen Tradition. Zum einen ist der kategoriale Unterschied zwischen Nomen und Verb auch in Indien stark ausgeprägt. Hier schließt das Verb alle Wörter ein, die nach k ā la- „ Tempus “ , artha- „ Modus “ , upagraha- „ Diathese “ , purus · a- „ Person “ und vacana- „ Numerus “ flektieren. In den Nomina werden nicht nur echte Substantive eingeschlossen, sondern auch Pronomina, Adjektive und Partizipien, d. h. alle grammatischen Kategorien, die nach vacana- „ Numerus “ , k ā raka- „ Kasus “ und (außer Personalpronomina) lin ˙ ga- „ Genus “ flektieren. Auch im Altindischen fehlt der Artikel. Zum anderen vertritt das Adjektiv im Altindischen noch keine eigene syntaktische Kategorie, sondern wird als nähere Bestimmung des Nomens beschrieben. Wie Cardona (1973: 86) schreibt: „ One remarkable feature of P ā n · ini ’ s grammar is this: although it consists of rules for deriving Sanskrit forms and sentences [. . .], no particular provision is made in it for concord between adjectives and nouns qualified by them. “ Auf dieselbe Weise wird das Adverb in Indien als eine nähere Bestimmung des Verbs betrachtet und bekommt keine eigene Kategorie, anders als in Griechenland und Rom, wo es eine Kategorie für das ἐπίρρημα bzw. adverbium gibt, und wo Apollonios Dyskolos dem Adverb sogar ein ganzes Buch widmete, das περὶ ἐπιρρημάτων betitelt wurde. Sowohl das Adverb als auch das Adjektiv werden in Indien vi ś es · aka- „ Qualifikator “ oder vi ś es · an · a- „ Qualifizierung “ genannt, sie sind also zusätzliche Wörter der hauptsächlichen Kategorien Verb und Nomen. 2.2.3 Kriterien für die syntaktische Kategorisierung in den alten idg. Sprachen Wortarten können in verschiedenen Sprachen durch verschiedene Kriterien identifiziert werden, die auf die Morphologie, die Syntax oder die 46 <?page no="47"?> Semantik eines Wortes Bezug nehmen (vgl. Dürscheid 2012 a: 23 ff). Morphologische Kriterien, nach denen man unterscheidet, ob das Wort flektierbar ist oder nicht, und welche flexionelle Endungen es aufweisen kann, sind relevanter für Sprachen, die eine reiche Morphologie haben. Syntaktische Kriterien, nach denen eine Kategorie entsprechend ihren möglichen Stellungen im Satz bestimmt wird, funktionieren besser für Sprachen wie Englisch (Crystal 1967: 42 - 43), die eine feste Wortfolge zeigen. Semantische Kriterien sollten im Prinzip universal sein, da sie auf Bedeutungen wie „ Sachen “ , „ Ereignisse “ und „ Eigenschaften “ beruhen, die in allen Sprachen kodiert werden. Heutzutage gibt es keinen Konsens darüber, welche Kriterien für die Kategorisierung der Wortarten in den Sprachen der Welt am besten benutzt werden können: einige Forscher übernehmen semantische Kriterien wegen ihrer potentiell universalen Anwendung ( „ the semantic virtues of the traditional semantic analysis of syntactic categories appear to be greater than those of the categorial analysis “ , Croft 1991: 40; vgl. auch Brøndal 1948: 33; 65 - 67; 173; Lyons 1966; Clark & Clark 1979; Dixon 1979; Langacker 1987 a; Wierzbicka 1988; 2000; Bhat 1994: 155 - 156), während andere Forscher formale Kriterien für zuverlässiger halten, weil sie weniger vage und besser unmittelbar beobachtbar seien ( „ it is assumed here that the primary criteria for parts-of-speech classification are grammatical, not semantic “ , Schachter & Shopen 2007: 1; vgl. auch Newman 1967: 192ff; van Wyk 1967: 245ff; Lyons 1977: II, 447; Lemaréchal 1989: 29). Die Auswahl der Kriterien für die syntaktische Kategorisierung kann auch die erkennbare Anzahl und den Typ der Kategorien bedingen, die für universal gehalten werden. Diesbezüglich können vier Grundkategorien (Nomen, Verb, Adjektiv und Präposition) identifiziert werden, wie in der Transformationsgrammatik (Radford 1988), 22 drei Kategorien (Nomen, Verb und Adjektiv, vgl. Croft 1991; 2000 a; Wierzbicka 1988), zwei Kategorien (Nomen und Verb, vgl. Dixon 1979; Hopper & Thompson 1984; Langacker 1987 a), eine einzelne Kategorie (Nomen, vgl. Lyons 1966; Heine & Kuteva 2007: 60; 298 ff), bis zur Hypothese, nach der keine universale Kategorie postuliert werden kann (Humboldt 1836; Boas 1911; Sapir 1921: 219; Vendryes 1921: 136ff; Bloomfield 1933: 20; Brøndal 1948: 172 - 173) oder nach der jede kategoriale Unterscheidung in einigen Sprachen fehlt, wie im 22 Innerhalb der vielfältigen Versionen der Generativen Grammatik gibt es auch verschiedene Meinungen zu syntaktischen Kategorien. Nach Bach (1968) gehören nur das Nomen und das Verb zur tiefen Struktur der Sprachen, obwohl wie in § 1.2.2 angedeutet auch in diesem Fall eine solche Annahme auf dem Englischen beruht, wie diese merkwürdige Außage zeigt: „ By saying ‚ sentences ‘ rather than ‚ English sentences ‘ , I intend to suggest that the deep structures of sentences in different languages are identical; that is, I am subscribing to the idea of a universal set of base rules. Most of my arguments are drawn from English and I hope to show that my proposals can be justified purely on the basis of English evidence. “ 47 <?page no="48"?> Fall der austronesischen Sprachen (Lemaréchal 1989: 21ff; Himmelmann 1991; Gil 1994; 2000; Broschart 1997) und einiger nordamerikanischer Sprachen, die zu den Salish-, Wakashan-, Chimakuan- oder Eskimo-Aleutisch-Familien gehören (Whorf 1945; Kuipers 1968; Walter 1981; Kinkade 1983; Jelinek & Demers 1994; contra Jacobsen 1979; Hébert 1983; van Eijk & Hess 1986). 23 M. E. ist die von den alten Grammatikern postulierte Unterscheidung zwischen Nomina und Verben im Grunde richtig, weil sie auf die Dichotomie zwischen Identifizierung und Prädikation Bezug nimmt. 24 Da die alten idg. Sprachen eine artikulierte Morphologie, jedoch eine syntaktisch freie Wortfolge hatten, ist es verständlich, dass die Grammatiker sowohl der griechisch-römischen als auch der indischen Tradition - und deshalb auch die Junggrammatiker und die Indogermanisten, die sich diesen Sprachen widmen - ihre Kategorien normalerweise nach morphologischen Kriterien festsetzen. Ein klares Beispiel dafür haben wir bei Varro gesehen (2.2)-(2.3), der in einer an Logik orientierten Gliederung vier Redeteile für Latein identifizierte: einen Teil mit Kasus (Nomen), einen mit Tempora (Verb), einen mit keinem von beiden (Adverb) und einen mit beiden (Partizip). Doch diverse Kriterien können auch mehr oder weniger für verschiedene Konstruktionen innerhalb derselben Sprache gelten. Bemerkenswerterweise wurden auch von den alten Grammatikern syntaktische und semantische Kriterien verwendet - zumindest für einige Kategorien. Ein syntaktisches Kriterium benutzt schon Apollonios Dyskolos für Präpositionen ( προθέσεις ), Artikel ( προτακτικὰ ἄρθρα , wörtl. „ vorangestellte 23 Die Tatsache, dass Nomina und Verben nicht deutlich unterschieden werden können, bedeutet jedoch nicht, dass eine nominale oder verbale Interpretation der Wörter in diesen Sprachen gleichgültig ist, sondern vielmehr, dass (fast) alle Inhaltswörter einer einzelnen Kategorie angehören, in diesem Fall derjenigen der Verben. Z. B. besitzen die Salish-Sprachen nach Kinkade (1983) nur Verben und Partikel. Ein weiteres Problem für die Identifizierung der syntaktischen Kategorien in der Typologie sind isolierende Sprachen wie Chinesisch, das aber in vorherigen Sprachstufen eine agglutinierende Morphologie hatte (vgl. Martonfí 1977). Dies alles zeigt uns, wie ein linguistischer Begriff fraglich werden kann, wenn er auf andere Sprachen als die indogermanischen, wofür er ursprünglich formuliert wurde, angewendet wird. Im Westen fängt die Suche nach universalen syntaktischen Kategorien schon im Mittelalter an, als z. B. Ockham „ mentale “ Nomina, Verben, Adverbien, Präpositionen und Konjunktionen, aber nicht mentale Partizipien annahm (Boisson et al. 1994: 18 - 19). 24 Ein Beweis dafür ist, dass eine solche Dichotomie sogar von amerikanischen Strukturalisten wie Sapir (1921: 21) anerkannt wurde, der ansonsten eine relativistische Perspektive auf die Grammatik hat: „ There must be something to talk about and something must be said about this subject of discourse. [. . .] No language wholly fails to distinguish noun and verb, though in particular cases the nature of the distinction may be an elusive one. It is different with other parts of speech. No one of these is imperatively required for the life of language. “ 48 <?page no="49"?> Artikel “ ), Relativpronomina ( ὑποτακτικὰ ἄρθρα , wörtl. „ nachgestellte Artikel “ ) und Adverbien ( ἐπιρρήματα ), vgl. (7). Für Präpositionen, Artikel und Relativpronomina ist das syntaktische Kriterium schon in ihrem griechischen Namen implizit, weil sie „ vor “ ( πρό ) bzw. „ unter, nach “ ( ὑπό ) dem Nomen vorkommen. 25 Wir werden in § 5.5 sehen, dass Präpositionen gerade jene Wörter sind, deren Wortfolge in allen alten idg. Sprachen am frühesten festgesetzt wurde. (2.7) προθέσεις γοῦν καλοῦμεν καὶ προτακτικὰ ἄρθρα καὶ ὑποτακτικὰ καὶ ἔτι ἐπιρρήματα , ἃ μᾶλλον ἀπὸ τῆς συντάξεως τὴν ὀνομασίαν ἔλαβεν ἤπερ ἀπὸ τοῦ δηλουμένου „ Denn wir benennen Präpositionen und vorangestellte und nachgestellte Artikel und auch Adverbien, die ihren Namen mehr von der linearen Anordnung als von der Bedeutung bekommen haben. “ (Apollonios Dyskolos, Synt. 9) Apollonios Dyskolos unterscheidet diese Kategorien nach ihrer Stellung und Unabhängigkeit, und dafür vergleicht er die syntaktischen Einheiten des Worts ( λέξις ) und des Satzes ( λόγος ) mit den prosodischen Einheiten der Silbe ( συλλαβή ) und des Lauts ( στοιχεῖον , wörtlich „ Buchstabe “ - der Unterschied zwischen Phonem und Graphem war damals nicht immer klar). Wie es bestimmte Stellungsbeschränkungen im Bereich der Laute gibt, nach denen man im Altgriechischen den Zischlaut vor und nicht nach muta cum liquida haben kann ( σκλ -, σπρ aber * κλσ -, * πρσ - ), so können auf die gleiche Weise bestimmte syntaktische Kategorien nur vorangestellt werden, wie der Artikel und die Präposition, während andere syntaktische Kategorien wie das Relativpronomen und die Modalpartikel ἄν (die sogenannten postpositiven bei Dover 1960: 12) nur nachgestellt werden können. So wie zudem nicht alle Laute gleich unabhängig sind, denn Vokale können auch allein ausgesprochen werden, während Konsonanten immer die zusätzliche Anwesenheit eines Vokals brauchen, um eine wohlgeformte Silbe zu bilden, verlangen auf die gleiche Weise einige syntak- 25 In der gleichen Art lautet die Definition der Präposition und des Artikels bei Dionysios Thrax: πρόθεσίς ἐστι λέξις προτιθεμένη πάντων τῶν τοῦ λόγου μερῶν ἔν τε συνθέσει καὶ συντάξει „ die Präposition ist ein Wort, das vor allen Redeteilen in Komposition und in eine Konstruktion gestellt wird “ (TG 18); ἄρθρον ἐστὶ μέρος λόγου πτωτικόν , προτασσόμενον καὶ ὑποτασσόμενον τῆς κλίσεως τῶν ὀνομάτων . καὶ ἔστι προτακτικὸν μὲν ὁ , ὑποτακτικὸν δὲ ὅς „ der Artikel ist ein mit Kasus versehener Teil der Rede, vorangestellt oder nachgestellt auf die Flexion der Nomina. Es gibt den vorangestellten ὁ und den nachgestellten ὅς“ (TG 16). Solche Definitionen erinnern an die Beschreibung der Stoiker, die die Präpositionen προθετικοὶ σύνδεσμοι „ vorangestellte Konjunktionen “ nannten, während der Artikel und das Relativpronomen ἄρθρα προτασσόμενα und ἄρθρα ὑποτασσόμενα „ vorangestellte bzw. nachgestellte Artikel “ waren. Vgl. Robins (1966: 14); Matthews (1967); Lallot (1994). 49 <?page no="50"?> tische Kategorien wie Artikel, Präpositionen und Konjunktionen immer andere Elemente, während Nomina, Verba, Pronomina und Adverbia auch allein stehen können; nur die letzten vier Kategorien können die Antwort auf eine Frage darstellen. Apollonios Dyskolos (Synt. § 12) erwähnt das Beispiel der Adverbia καλῶς „ gut “ , κάλλιστα „ sehr gut “ und ὑγιῶς „ tüchtig, bravo “ , die einem Schauspieler isoliert zugerufen werden können. Semantische Kriterien wurden in der antiken Welt für das Nomen und das Verb vom indischen Grammatiker Y ā ska (2.8) und vom griechischen Grammatiker Dionysios Thrax (2.9) verwendet. Nach Y ā ska ist das Merkmal eines Verbs die Bezeichnung einer Handlung oder eines Ereignisses (bh ā va-), während das Nomen eine Substanz (sattva-) bezeichnet. (2.8) tatraitan n ā m ā khy ā tayor laks · an · am· pradi ś anti hier.dieses: AKK.N.SG Nomen.Verb(N): GEN.DU Zeichen( Ν ): AKK.SG darlegen: PRS. IND3PL bh ā va-pradh ā nam ā khy ā tam Ereignis-Hauptbedeutung: NOM.N.SG Verb(N): NOM.SG sattva-pradh ā n ā ni n ā m ā ni Substanz-Hauptbedeutung: NOM.N.PL Nomen(N): NOM.PL „ Hier legt man dieses Zeichen für Nomen und Verb dar: das Verb hat ein Ereignis als Hauptbedeutung, die Nomina haben eine Substanz als Hauptbedeutung. “ (Y ā ska, Nir. 1.1) (2.9) ὄνομά ἐστι μέρος λόγου πτωτικόν , σῶμα ἢ πρᾶγμα σημαῖνον , σῶμα μὲν οἷον λίθος , πρᾶγμα δὲ οἷον παιδεία , κοινῶς τε καὶ ἰδίως λεγόμενον , κοινῶς μὲν οἷον ἄνθρωπος ἵππος , ἰδίως δὲ οἷον Σωκράτης „ Das Nomen ist ein mit Kasus versehener Redeteil, der einen Körper oder eine Tätigkeit bezeichnet - einen Körper wie ‚ Stein ‘ , eine Tätigkeit wie ‚ Erziehung ‘ - der mit genereller oder spezifischer Funktion genannt wird - generell wie ‚ Mensch ‘ , ‚ Pferd ‘ , und spezifisch wie ‚ Sokrates ‘ . “ (Dionysios Thrax, TG 12) Also lehren uns die alten Grammatiker mit ihren unterschiedlichen Rubrizierungen zuerst, dass sowohl formale als auch semantische Kriterien für eine angemessene Klassifikation der Wortarten angewendet werden müssen, und dass jede Methode, die nur entweder die Form oder die Bedeutung berücksichtigt, zum Scheitern verurteilt ist. Indem sie nicht nur die Flektierbarkeit eines Wortes oder seine verschiedenen Endungen (Skr. ánt ā s, Altgr. τελευταῖα , Lat. exitus) ins Kalkül ziehen, sondern auch seine Hauptbedeutung und gewissermaßen auch seine Stellung, bestätigen sie die Meinung derjenigen Linguisten, die eine Kombination zwischen formalen und funktionalen Kriterien empfehlen, wie Magnusson (1954: 5 ff), Boisson et al. (1994: 20 ff), Vogel & Comrie (2000). Zum Zweiten weisen die alten Grammatiker darauf hin, dass semantische Kriterien für offene Kategorien 50 <?page no="51"?> passender sind, besonders für das Nomen und das Verb, während syntaktische Kriterien für geschlossene Kategorien geeigneter sind. Es ist kein Zufall, dass die griechischen Grammatiker formale syntaktische Kriterien für Redeteile wie den Artikel, das Relativpronomen und die Präposition verwendeten, deren Anordnung fester ist als bei Nomina und Verben. Indem die Sprachen der Welt sich eher in der Form als in der Bedeutung der Wörter unterscheiden, ist es vorhersagbar, dass die Kategorien, die am meisten durch formale Kriterien identifiziert werden können, auch diejenigen sind, die am wenigsten universal sind. Wir können aber bemerken, dass sogar die bedeutungsvollsten Kategorien der Nomina und der Verben für die Anwendung semantischer Kriterien nicht gleichermaßen geeignet sind, sondern dass das Verb sich weniger als das Nomen dafür eignet. Während das Nomen bei Dionysios Thrax grundsätzlich semantisch bestimmt wird (2.9), beruht bei ihm die Definition des Verbs auf formalen Kriterien (2.10): (2.10) ῥῆμά ἐστι λέξις ἄπτωτος , ἐπιδεκτικὴ χρόνων τε καὶ προσώπων καὶ ἀριθμῶν , ἐνέργειαν ἢ πάθος παριστᾶσα „ Das Verb ist ein kasusloses Wort, das Tempora, Personen und Numeri zeigt, und das eine aktive oder passive Diathese ausdrückt. “ (Dionysios Thrax, TG 13) 26 Indem das Verb unter normalen Umständen ein Ereignis bezeichnet, ist seine Begriffsbildung auch schwieriger als die eines Nomens zu erfassen, das typischerweise die bloße Bezeichnung eines Dings ist. Das stimmt mit den Annahmen einiger moderner Studien über syntaktische Kategorien überein: Most objects come already individuated. The external world spatially isolates objects, and objects move or can be manipulated in space as autonomous entities. Thus, a crucial prerequisite for categorization is already satisfied in most cases without any necessary appeal to cognition, other than our mental receptiveness of this external fact. [. . .] Verbs, on the other hand, are a much more difficult problem from the point of view of categorization. Verbs represent a categorization of events. Events do not come clearly individuated in space or time, in the way that objects can. Thus, 26 Die Termini ἐνέργεια und πάθος müssen nicht semantisch als Bezeichnungen einer Tätigkeit bzw. eines Zustands interpretiert werden, wie Matthews (1967) in Bezug auf die lateinische Wiedergabe von Priscian meint (verbum est pars orationis cum temporibus et modis, sine casu, agendi vel patiendi significativum „ The verb is the part of speech which is inflected for Tense and Mood, but not for Case, and which signifies an action which is performed or an event which is experienced “ , S. 157). Es geht hier eher um Ausdrücke für den grammatischen Unterschied zwischen aktiver und passiver Diathese, wie bei Lallot (1994: 68): „ Le verbe est un mot non casuel, qui admet temps, personnes et nombres, et qui exprime l ’ actif ou le passif “ ). 51 <?page no="52"?> the two basic criteria for individuating objects cannot be used to individuate events. The individuation of events becomes the first problem that must be addressed in this realm of linguistic and cognitive categorization. Because the individuation of events does not ‚ come naturally ‘ , it is likely that there is a strong cognitive element to the individuation of events; that is, the process of isolating a fragment of the causal chain and naming it with a verb involves more cognitive processing than the isolating of an object and naming it with a noun. (Croft 1990: 48) Außerdem wurden diese Kriterien in den verschiedenen grammatischen Traditionen der Antike nicht gleich gepflegt. Neben dem in der Antike allgemein vorherrschenden morphologischen Kriterium werden semantische Kriterien besonders in Indien verwendet, während syntaktische Kriterien in Griechenland zu überwiegen scheinen. Das betrifft nicht nur das Verb, wobei die Bezeichung eines Ereignisses, wie man sie bei Y ā ska findet (2.8), keine genaue Entsprechung in der verbalen Kategorie bei Dionysios Thrax (2.10) hat, sondern sogar das Nomen, das von den beiden Grammatikern im Großen und Ganzen semantisch begründet wird. Während bei Y ā ska das Nomen nur eine Substanz (sattva-) bezeichnet, in Übereinstimmung mit dem ontologischen Ansatz zur Kategorisierung, bezeichnet das Nomen bei Dionysios Thrax sowohl einen Körper ( σῶμα ) als auch eine Tätigkeit ( πρᾶγμα ) wie παιδεία „ Erziehung “ (2.9). Also ist die semantische Basis des Nomens als Bezeichnung eines Dings weniger deutlich bei Dionysios Thrax als bei Y ā ska, sodass es bei Ersterem auch den dem Verb normalerweise zugewiesenen funktionalen Bereich ausdrücken kann. Das kann ein Hinweis darauf sein, dass Wortarten im Altgriechischen grammatikalisierter sind als im Sanskrit, wie wir auf den folgenden Seiten ausführlicher sehen werden. 2.3 Die Typologie der Wortarten in den alten idg. Sprachen Es ist bekannt, dass die syntaktischen Kategorien der klassischen Sprachen nicht auf alle Sprachen der Welt angewendet werden können (le schéma européen des parties du discours n ‘ a pas de validité universelle. Même si ce produit de l ’ esprit grec était une expression adéquate des catégories de ce même esprit, et même si ces catégories convenaient aussi bien au latin et aux langues de l ’ Europe moderne, les auteurs européens ont eu tort d ’ appliquer sans examen préalable les cadres de notre grammaire latine aux langues exotiques, Brøndal 1948: 23; vgl. auch Vogel & Comrie 2000; Ansaldo et al. 2008). Dabei wird aber normalerweise nicht bemerkt, dass die syntaktischen Kategorien des Altgriechischen, des Lateinischen und der modernen idg. Sprachen auch nicht immer für die anderen alten idg. Sprachen gültig sind, wobei die letzteren auffallende Ähnlichkeiten mit vielen nicht-idg. Sprachen in der Kategori- 52 <?page no="53"?> sierung der Wortarten aufweisen. Wir versuchen hier die Typologie der Wortarten in den alten idg. Sprachen zu bestimmen und die Frage zu beantworten, welche syntaktischen Kategorien für das Urindogermanische rekonstruiert werden können, zumindest für den späten Zustand des Urindogermanischen, der der Trennung der verschiedenen Sprachen unmittelbar vorangeht. Die Typologie der Wortarten postuliert normalerweise einen grundlegenden Unterschied zwischen offenen und geschlossenen Kategorien: 27 offene Kategorien haben eine unbeschränkte Mitgliedschaft, d. h. immer neue Lexeme können hinzugefügt werden, und synchron zeigen sie einen ziemlich verschiedenen Gebrauch in Raum und Gesellschaft, während die Mitgliedschaft der geschlossenen Kategorien beschränkter ist. Wir werden sehen, dass die alten idg. Sprachen mit den modernen idg. Sprachen mehr in den offenen Kategorien (§ 2.3.1) als in den geschlossenen Kategorien (§ 2.3.2) übereinstimmen, und dass das Urindogermanische drei offene Kategorien hatte: das Nomen, das Verb und das Adverb. Diese Kategorien hatten auch Unterkategorien, die offenen oder geschlossenen Kategorien unserer modernen idg. Sprachen entsprechen konnten. Die Unterkategorien des Nomens waren das Adjektiv, das Pronomen und das Partizip. 28 Die Unterkategorien des Adverbs waren die Adposition, die Konjunktion und die Partikel bzw. Interjektion. Es ist natürlich nicht immer einfach, zwischen echter Kategorie und Unterkategorie zu unterscheiden, wie Schachter und Shopen erkennen: There is not always a clear basis for deciding whether two distinguishable open classes of words that occur in a language should be identified as different parts of speech or as subclasses of a single part of speech. The reason for this is that the open parts-of-speech classes must be distinguished from one another on the basis of a cluster of properties, none of which by itself can be claimed to be a necessary and sufficient conditions for 27 Obwohl auch weitere Kriterien für die Kategorisierung vorgeschlagen wurden, wie die Gegensätze zwischen flektierbaren und unflektierbaren, vollen und leeren, lexikalischen und grammatischen Wörtern, wird die Unterscheidung nach offenen und geschlossenen Kategorien von den meisten Forschern für zuverlässiger gehalten (vgl. Crystal 1967: 39; Schachter & Shopen 2007). 28 Obwohl Partizipien definitionsgemäß als eine „ mittelbare “ Kategorie in der grammatischen Tradition betrachtet werden, stehen ihre verbalen und nominalen Eigenschaften nicht auf der gleichen Ebene. In den ältesten Sprachstufen der idg. Sprachen sind Partizipien mehr adjektival-nominal als verbal, und ihre wachsende Errungenschaft verbaler Merkmale wie Tempus, Modus und Diathese zeigt ihre Integration im Verbalsystem, die besonders in der späteren Geschichte des Indogermanischen beobachtet werden kann. Diese Verbalisierung ist im Altgriechischen fortgeschrittener, während das Vedische den nominalen Charakter des uridg. Partizips besser bewahrt. 53 <?page no="54"?> assignment to a particular class. And the fact ist that languages vary considerably in the extent to which the properties associated with different open word classes form discrete clusters. Typically there is some overlap, some sharing of properties, as well as some differentiation. (Schachter & Shopen 2007: 4) Die Zuweisung eines Wortes zu einer Kategorie oder Unterkategorie kann zwar manchmal als eine bloße Frage von Terminologie erscheinen, aber das ist nicht eigentlich so, denn dadurch können wir die Tatsache beschreiben, dass Adpositionen und Konjunktionen als Unterkategorien des Adverbs in den alten idg. Sprachen weniger geschlossen sind als in den modernen. Im Bereich der offenen Kategorien betrifft der kategoriale Unterschied dieser Sprachen besonders Adjektive und Adverbien: während das Adjektiv in den alten idg. Sprachen eine geringere Rolle als in den modernen idg. Sprachen spielte, hatte das Adverb in den ersteren viel mehr Möglichkeiten, weitere Mitglieder aufzunehmen. 2.3.1 Offene Kategorien 2.3.1.1 Das Adjektiv In am stärksten konfigurationellen Sprachen wie dem Englischen können Adjektive nicht allein stehen, sondern brauchen eine leere Form als Unterstützung (the old one vs. *the old); ohne dummy pronoun erlauben sie auch keine Pluralisierung (the red ones vs. *the reds). Dagegen konnte das Adjektiv in seinem substantivierten Gebrauch in den alten idg. Sprachen genau dieselbe Verteilung wie ein Nomen haben. Im folgenden Beispiel aus dem Vedischen haben wir das Wort ś ukrá-, das am häufigsten ein Adjektiv mit der Bedeutung „ hell, klar “ wie in (2.11) ist, das aber auch die Funktion eines Nomens wie in (2.12) haben kann; in diesem Fall ist die Form ś ukr ā h · „ die Klaren “ ein Plural und bezeichnet das heilige Getränk des soma. (2.11) pávam ā na r ˚ tám· br ˚ hác chukrám· jyótir Pavam ā na: NOM Gesetz(N): AKK.SG hoch: AKK.N.SG hell: AKK.N.SG Licht(N): AKK.SG aj ī janat erschaffen: AOR.IND3SG „ Pavam ā na hat das hohe Gesetz, das helle Licht erschaffen. “ (RV 9. 66. 24; Übersetzung Geldner 1951: III, 54) (2.12) ś ukr ā ´ āś íram· y ā cante klar: NOM.M.PL Milchmischung(N): AKK.SG verlangen: PRS.IND.MED3PL „ Die Klaren verlangen nach Milchmischung. “ (RV 8. 2. 10; Übersetzung Geldner 1951: II, 282) 54 <?page no="55"?> Die Möglichkeit substantivierter Adjektive wie in (2.12) weist auf eine im Wesentlichen nominale Funktion auch für einfach modifizierende Adjektive wie (2.11) hin; in diesem Fall würde die adjektivische Interpretation dem Nebeneinander von zwei Substantiven entsprechen: „ das helle Licht “ kommt dem Audruck „ das helle Ding, das Licht “ gleich. Wie Bhat (2000: 47) bemerkt: „ We may have reasons to assume, in the case of languages like Sanskrit, that the strategy used in the structuring of noun phrases is to juxtapose two different referring words (nouns) rather than to modify a referring word by a property word (adjective) as in the case of familiar languages like English; the use of this alternative strategy makes it unnecessary for the former type of languages to have a distinct class of adjectives, and that is the reason why such a distinct class did not get lexicalized in them. “ (Vgl. auch Whitney 1889: § 321; Speyer 1896: 2; MacDonell 1910: 138; Renou 1952: 338; Bhat 1994: 6; 151) Die Situation des Altindischen ist auch für das Urindogermanische anzunehmen, in dem Nomina auch für die meisten Eigenschaftswörter der modernen idg. Sprachen benützt worden sein dürften. 29 Man kann anfechten, dass Nomina und Adjektive sich durch einen morphologischen Standpunkt unterscheiden, da das Genus in Nomina 29 Eine andere Meinung wird von Alfieri (2009) vorgestellt, demzufolge Vedisch außer einer beschränkten Gruppe primärer Adjektive wie āś ú- „ schnell “ oder urú- „ breit “ (13 in seiner Zählung) grundsätzlich eine verb-adjectival language im Sinne von Bhat (1994) sei. Angeblich werden Eigenschaften im Vedischen unter normalen Umständen von Verben kodiert ( „ il vedico codifica, quindi, attraverso radici verbali i significati aggettivali espressi dagli aggettivi delle lingue europee “ , S. 16), und besonders von Verbalwurzeln wie tap „ warm sein “ oder bhr ā j „ glänzen “ , die die typische Funktion der media tantum und der inakkusativen Prädikate ausdrücken ( „ sono le radici verbali indicanti qualità, modi di essere, stati atmosferici, fisici o mentali, in cui il partecipante unico svolge il ruolo di esperiente o paziente, ma non ha funzione agentiva né possiede un controllo consapevole sull ’ azione predicata, ib.). Ich finde Alfieris Studie sehr interessant, und sowohl die Originalität seiner Annahme als auch die detaillierte Analyse der Daten sind beachtenswert, aber ich stimme seiner Interpretation nicht völlig zu. Denn Alfieri schließt von den primären Adjektiven Formen wie vasú- „ gut “ aus, das von der Verbalwurzel vas „ glänzen “ abgeleitet wird, oder wie bahú- „ groß “ , weil die Wurzel bah „ groß sein “ auch im Nomen ba m ̐ has „ Stärke “ und im kausativen Verb ba m ̐ hayate „ verstärken “ vorkommt. Aber diese Wörter werden aus der Wurzel unabhängig voneinander gebildet, was mit dem primären Status von bahúkompatibel ist. Wir haben hier dasselbe Phänomen wie beim Adjektiv purú- „ viel “ , das in Alfieris Gruppe der primären Adjektive aber eingeschlossen ist, obwohl es mit der Wurzel pr ·¯ „ füllen “ verbunden ist. Eine solche Ausschließung sei auch von einem sprachübergreifenden Standpunkt aus außergewöhnlich, weil „ an adjective class always includes items good or bad “ (Dixon 1982: 56), obwohl der typologische Vergleich eine Interpretation der Daten nicht ausschließt, sondern nur bezweifelt, vgl. § 3.8. Im Allgemeinen ist die Beziehung zwischen Adjektiven und Verben im Vedischen eher ein Epiphänomen der üblichen Derivation von verbalen Wurzeln, die in dieser Sprache nicht nur für Adjektive, sondern auch für Nomina typisch ist; Dasselbe gilt u. a. für das Arabische. 55 <?page no="56"?> inhärent ist, während die Adjektive mit einem (expliziten oder impliziten) Nomen im Genus übereinstimmen. Aber zum Ersten haben nicht alle Adjektive eine vollentwickelte Kongruenz im Genus mit dem entsprechenden Nomen: es gibt Adjektive, die nur zwei anstatt drei Endungen haben (Lat. hilaris M/ F vs. hilare N „ froh “ ), und Adjektive, die eine einzelne Endung für alle drei Genus haben (Lat. vetus „ jährig, alt “ ). Wenn ein Adjektiv nur eine Endung hat, kann man eigentlich nicht von Kongruenz sprechen, weil das die einzige verfügbare und nach Genus unveränderbare Form ist, und Adjektive sind in jeder Hinsicht gleich wie Substantiva. Einendige Adjektive beschreiben normalerweise Eigenschaften, die menschliche Referenten betreffen können, wie Delbrück bemerkt: Es gibt eine Klasse von Wörtern, welche zwischen Substantiven und Adjektiven in der Mitte stehen. Man mag sie attributive Substantiva nennen. Den Grundstock derselben bilden Wörter, welche als Attributiva zu Personalbegriffen gefügt werden können. Sie bezeichnen Menschen nach dem Alter, dem Stande, der Beschäftigung, irgendeiner hervorragenden Eigenschaft. Bald sind sie als Substantiva empfunden, und kommen nur ausnahmsweise als Adjektiva vor, bald sind sie mehr adjektivisch, so dass sie von den Grammatikern als Adjektive einer Endung bezeichnet zu werden pflegen. Dem entsprechend ist auch ihre Motionsfähigkeit verschieden. (Delbrück 1893: 420 ff) Im Lateinischen sind diese Adjektive Formen wie vetus „ alt “ , dives „ reich “ , pauper „ arm “ , princeps „ erst “ , compos „ mächtig “ , superstes „ überlebend “ , sospes „ wohlbehalten “ , particeps „ teilhaftig “ . Der nominale Charakter der Adjektive, die in den alten Sprachen menschliche Referenten bezeichnen, stimmt mit Dixons (1977) Behauptung überein, nach der es nicht prototypisch für Adjektive ist, menschliche Neigungen (human propensity) wie „ froh “ , „ klug “ , „ nett “ zu beschreiben. In diesem Fall seien sie bessere Kandidaten für eine nominale Kodierung. 30 Obwohl die einendigen Adjektive nur einen geringen Teil der Adjektive der alten Sprachen ausmachen, erscheinen sie in vielen idg. Sprachen und haben fast dieselben Bedeutungen. Damit sind diese Strukturen wahrscheinlich aus dem Urindogermanischen ererbt. Zum Zweiten ist eine Unterscheidung zwischen Adjektiven und Nomina auch nicht klar im Fall der Adjektive, die eine dreifache Motionsfähigkeit nach Maskulinum, Femininum und Neutrum (oder eine zweifache Motionsfähigkeit nach genus commune und genus neutrum im Hethitischen) 30 Sogar im Englischen und im Deutschen, wo die Funktion der menschlichen Propensität von echten Adjektiven ausgedrückt werden kann, gibt es morphologische Beweise dafür, dass das Adjektiv sekundär in Bezug auf das entsprechende Nomen ist, z. B. angry, verärgert vs. anger, Ärger, vgl. Dixon (1982: 45). 56 <?page no="57"?> haben, da einige Adjektive wie Lat. bonus-bona-bonum „ gut “ einigen Nomina wie lupus „ Wulf “ , rosa „ Rose “ und iugum „ Joch “ ähnlicher sind als anderen Adjektiven wie hilaris-hilare „ froh “ , und Adjektive wie hilarishilare sind ihrerseits einigen Nomina wie civis „ Bürger “ oder mare „ Meer “ ähnlicher. Also flektieren Adjektive nicht homogen nach ihrer syntaktischen Kategorie, sondern nach ihrem Stamm, der gemeinsam mit bestimmten Nomina und daher überkategoriell ist. 31 Würden wir einem bloß morphologischen Kriterium folgen, müssten wir zahlreiche verschiedene syntaktische Kategorien für jeden einzelnen Deklinationsstyp postulieren, was natürlich unvernünftig wäre. Eine Ausweitung der Kategorien haben tatsächlich einige alte Grammatiker durchgeführt, gegen die aber Varro dann polemisierte (2.13). 31 Es mag merkwürdig erscheinen, dass in der Antike Komparativ und Superlativ noch nicht berücksichtigt wurden, um Adjektive von Nomina abzutrennen, obwohl die Steigerung im Prinzip ein gültiges Kriterium für eine solche Unterscheidung wäre, denn Adjektive - und nicht Nomina - sind normalerweise gradierbar. Doch Formen wie ἀνδρειότερος „ männlicher “ und ὀξύτατος „ schnellster “ werden für ein ὄνομα συγκριτικόν (nomen comparativum) und ein ὄνομα ὑπερθετικόν (nomen superlativum), also für zwei Typen von Nomina, bei Dionysios Thrax (TG 14) und Priscian (Inst. Gram. 3.1.1, 3. 3. 18) gehalten, vgl. Robins (1966: 16). Homer belegt gelegentlich die Steigerung von Nomina wie κύντερον wörtl. „ mehr Hund “ (Il. 8.483) oder βασιλεύ τατος „ am meisten König “ (Il. 9.69). Dasselbe geschieht im Altindischen, in dem die Steigerung auch für Eigennamen belegt ist: RV 1.32.5 áhan vr ˚ trám· vr ˚ tratáram· vyàsm ̐ sam índro vájren· a mahat ā ´ vadhéna “ Indra erschlug den Vr ˚ tra, den größten Feind, den Schulterlosen mit der Keule, seiner großen Waffe “ , Übersetzung Geldner 1951: I, 37). Das Nomen vr ˚ trábedeutet auch „ Abwehr, Feind “ . Im klassischen Sanskrit sind Komparative und Superlative sogar für finite Verben möglich: hasis · yati-tar ā m „ er wird noch mehr lachen “ , alabhata-tar ā m „ er erreichte mehr “ (Whitney 1889: § 473 c), obwohl die Belege in Texten selten sind. Der Gebrauch der Steigerung für nicht-adjektivische Wörter ist aber noch verbreiteter, wenn wir statt der Suffixe *-teros und *-tatos des Komparativs bzw. Superlativs die Suffixe *-iyos- und *-istoberücksichtigen, die unmittelbar von der Verbalwurzel abgeleitet werden: man hat aus der Wurzel j ū „ schnell sein “ den Komparativ jáv ī yas- „ schneller “ auf dieselbe Weise, wie man aus der Wurzel yaj „ opfern “ den Komparativ yáj ī yas- „ der am besten opfert “ bildet, vgl. Bhat (1994: 181 - 182); Alfieri (2009: 10). Dies alles hat eine diachrone Erklärung, und zwar ursprünglich waren weder die Suffixe *-teros und *-tatos noch die Suffixe *-iyos- und *-istoeigentlich komparative bzw. superlative Strukturen: während *-teros und *-tatos die Funktion eines lexikalischen Kontrasts ausdrückten (z. B. Latin dexter vs. sinister), waren *-iyos- und *-istoeher intensive Formen (Benveniste 1935: 84 - 85). Die ursprünglich unterschiedliche Semantik solcher Suffixe verdeutlicht ihr Nebeneinander in einigen alten idg. Sprachen wie im Altgriechischen und im Vedischen, wie auch die Tatsache, dass die Steigerung bei einigen alten Grammatikern für ein eher derivatives als flexivisches Verfahren gehalten wurde. Bei Varro stehen Komparative für eine Vergrößerungsform (genus augendi) auf der gleichen Ebene wie Deminutive (genus minuendi): ab albo albius genau wie a cista cistula (LL 8.52). 57 <?page no="58"?> (2.13) itaque in eo dissensio neque ea unius modi apparet: nam alii de omnibus universis discriminibus posuerunt numerum, ut Dionysius Sidonius, qui scripsit ea esse septuaginta unum, alii partis eius quae habet casus, cuius eidem hic cum dicat esse discrimina quadraginta septem, Aristocles rettulit in litteras XIIII, Parmeniscus VIII, sic alii pauciora aut plura „ So gibt es hierin eine Streitfrage, die sich nicht nur auf eine Weise stellt: denn einige stellten bezüglich der Gesamtheit aller grammatischen Merkmale einen Zahlenwert auf, wie Dionysius Sidonius, der behauptete, es wären 71. Andere wiederum haben von dem Teilgebiet einen Zahlenwert angegeben, welches die Kasus beinhaltet. Während genau derselbe von diesem Gebiet behauptet, es habe 47 verschiedene Merkmale, führt Aristocles sie auf 14 Buchstaben zurück und Parmeniscus auf 8; so führen andere mehr oder weniger an. “ (Varro, LL 10.10) Unsere Interpretation steht also im Widerspruch zur Annahme einiger Forscher wie Croft (1991; 2000 a), der die Universalität der Adjektive am meisten betont, auch wenn sie dieselbe morphologische oder syntaktische Kodierung wie Nomina haben. 32 Er zitiert Beispiele aus dem Swahili und aus dem Quechua, wo ein Adjektiv dieselben morphologischen Zeichen wie ein Nomen bekommt. In diesen Fällen sei das Wort polysem, mit einer primären adjektivischen Funktion und einer durch Null-Konversion abgeleiteten nominalen Bedeutung, und man hätte „ the analysis of adjectival inflections as being functionally distinct from nominal inflections, even in those cases in which they are phonologically identical. “ (1991: 74) 33 Diese Behauptung scheint mir nicht richtig, weil die Anerkennung einer Kategorie nicht a priori vorausgesetzt werden kann, sondern sie muss unbedingt formal gerechtfertigt werden. Funktionale Unterschiede sind nicht genug, um eine Kategorie zu postulieren, sonst würden sie uns zu einer Proliferation der Kategorien führen. Man könnte z. B. eine universale Kategorie der Lokation oder Richtung einführen, weil diese räumlichen 32 „ It is commonly argued [. . .] that in many languages adjectives are identical to nouns because they use the same inflections for case, number and gender as nouns. Although in many languages this is true, the inflections always refer to the object possessing the quality, not the quality itself - that is, the adjectival inflections ‚ agree ‘ with the noun (or refer to the object named by the noun if the noun itself does not inflect). This is most striking when an adjective stands alone with its inflections. In these cases, the resulting construction does not denote a quality; instead, it denotes the object that possesses the quality. “ (Croft 1991: 72) 33 Nach Croft (1991) bekommt ein Adjektiv hinzugefügte Merkmale, wenn es seine primäre attributive Funktion verliert und einen referentiellen oder einen prädikativen Gebrauch wie ein Nomen bzw. ein Verb zeigt. Das wurde schon von Kuryl ˉ owicz (1932) angeführt, der eine Beziehung zwischen der Ableitung und dem Ausdruck einer nicht-primären Funktion für ein Wort ausmachte: „ Si le changement de la fonction syntaxique d ’ une forme (d ’ un mot) A entraîne le changement formel de A en B (la fonction lexicale restant la même), est fonction syntaxique primaire celle qui correspond à la forme-base, et fonction syntaxique secondaire celle qui correspond à la forme dérivée. “ (S. 42) 58 <?page no="59"?> Begriffe in allen Sprachen ausgedrückt werden müssen, und ihre Funktion ist nicht dieselbe wie die der Nomina, denn räumliche Ausdrücke sind relational und bezeichnen eigentlich kein Objekt, sondern sie beschreiben, wo ein Objekt ist. Man könnte auch eine universale Kategorie für die Konjunktion postulieren, weil keine Sprache auf die Äußerung getrennter Sätze beschränkt ist, sondern alle Sprachen irgendwie die Funktion der Verknüpfung eines Diskurses organisieren müssen. Aus dieser Perspektive könnte auch das Asyndeton als die Null-Darstellung der universalen Kategorie der Konjunktion erfasst werden. Nun ist es aber klar, dass Adpositionen und Konjunktionen nicht universal sind, und der Grund dafür ist genau der, dass einige Sprachen nicht über eigene Formen für deren Funktionen verfügen. Dasselbe sollten wir für das Adjektiv anerkennen. 34 Die Gemeinsamkeit des Nomens und des Adjektivs im Indogermanischen kann auch durch die Tatsache bewiesen werden, dass das eine oder das andere in verschiedenen Sprachen das Merkmal der Definitheit bekommen kann. Definitheit, die in Pronomina inhärent ist, und die viele Sprachen an Nomina durch den Artikel bezeichnen, wird in anderen Sprachen am Adjektiv dargestellt. In den baltischen, slawischen und germanischen Bereichen hatte das Adjektiv eine entweder indefinite oder definite Flexion, letztere durch ein i-Suffix. Z. B. ergibt das litauische Adjektiv (b ū dvardis) die Ausdrücke gêr-as vaîkas „ gutes Kind “ vs. geràs-is vaîkas „ das gute Kind “ (vgl. Senn 1966: 163; Schmaltstieg 1987: 299ff; Ambrazas 1997: 142ff; für Slawisch vgl. Vondrak 1912: 470 ff). Das zeigt uns auch, dass Nomen und Adjektiv in den alten idg. Sprachen nicht gleich homogen sind. Während Sprachen wie Altindisch und Hethitisch über- 34 Aus demselben Grund bin ich von Wierzbicka (1988) nicht überzeugt, die schreibt: „ Nouns do differ in meaning from adjectives, not just core nouns from core adjectives, but, probably, all nouns from all adjectives, and the two classes differ in a systematic, largely predictable manner. “ (S. 466) Die Tatsache, dass im Englischen z. B. sick ein Adjektiv und cripple ein Nomen ist, hänge davon ab, dass cripple einen permanenten Zustand bezeichnet und deswegen von Zeitstabilität charakterisiert wird, die typisch für Nomina ist. Die adjektivische Kodierung von blind und deaf resultiere daraus, dass von außen eine Person einfacher mit cripple als mit blind oder deaf identifiziert werden kann, und daher eine Kategorisierung anbiete, die auch typisch für Nomina ist. Ich denke aber, dass, selbst wenn solche und ähnliche (manchmal forcierte) Beispiele für Englisch gelten sollten und auch wenn eine Funktion für den Prototyp der Nomina und der Adjektive sicher besteht, man nicht alles in der Sprache aus einer funktionalen Perspektive erklären kann. Wenn eine syntaktische Kategorie grammatikalisiert ist, verliert sie zumindest synchron Teile ihrer ursprünglichen Motivation. Daher scheinen uns die Interpretationen von Wierzbicka (1988) und Croft (1991) ein falscher Versuch zu sein, die westliche Kategorisierung auf alle Sprachen anzuwenden. Einen solchen Versuch kann man aber schon aufgrund der alten idg. Sprachen anfechten. 59 <?page no="60"?> haupt keinen formalen Unterschied zwischen diesen zwei Wortarten haben 35 und Sprachen wie Latein und Altgriechisch nur minimale morphologische Unterschiede in bestimmten Kasus oder bei bestimmten Adjektiven zeigen, ist die Markierung der Definitheit am Adjektiv im Altisländischen, Altkirchenslawischen und Litauischen u. a. eine auffälligere Unterscheidung von Nomina. 36 Das ist eine Neuerung, die auf einen ursprünglich anaphorischen Gebrauch zurückgeht: Lit. geràs-is vaîkas bedeutete am Anfang „ das Kind, das gute “ , wobei die ursprünglich pronominale Form - idie Verteilung einer Gelenkpartikel hatte (Hill 2013). Wir werden in § 4 sehen, dass diese Sprachen ziemlich früh auch Einbettung in der Nominalphrase und im Satz entwickeln, während die Sprachen, bei denen Adjektive und Nomina formal ähnlicher sind, auch diejenigen sind, die am meisten eine appositive Verbindung bewahren. Es besteht also ein Zusammenhang zwischen syntaktischen Kategorien und syntaktischer Hierarchie. 2.3.1.2 Das Adverb Das Adverb wird üblicherweise für eine „ Abfallkorb-Kategorie “ (wastebasket category) gehalten, da es verschiedene und heterogene Funktionen hat, wie Raum (hier, da), Zeit (gestern, immer), Art (langsam, bitter), Grad (sehr, wenig), Modalität (vielleicht, wahrscheinlich): „ The label adverb is often applied to several different sets of words in a language, sets that do not necessarily have as much in common with one another, either notionally or grammatically, as, say, the subclasses of nouns or verbs that may occur in the language “ (Schachter & Shopen 2007: 19 - 20). Die Heterogenität der Adverbien wurde schon von den griechischen Grammatikern erkannt, die diese Kategorie nicht nur ἐπίρρημα , sondern auch πανδέκτης „ all-Empfänger “ (sc. μερισμός „ Redeteil “ ) in der Stoiker-Tradition nannten. 37 Eine solche Heterogenität hat mit 35 Das betrifft vor allem das Hethitische, das keine Steigerung hat. Keine Steigerung belegen auch das klassische Armenisch und das Tocharische. 36 Die morphologischen Unterschiede zwischen Adjektiven und Nomina in diesen Sprachen sind nicht auf die definite Flexion des Adjektivs beschränkt; Auch die indefinite Flexion kann besondere Endungen zeigen, die der Flexion der Pronomina näher sind als denjenigen der Nomina. Z. B. hat ein altisl. Adjektiv wie reiðr „ verärgert “ den AKK.SG reiðan und den DAT.SG reiðum, während ein Nomen wie hestr „ Pferd “ den AKK.SG hest und den DAT.SG hesti hat. 37 Der Terminus ἐπίρρημα muss als Modifikator des Verbs und nicht als „ Beiwort “ oder „ Nebenwort “ interpretiert werden. Die letzte Interpretation hängt von einer missverstandenen Äquivalenz zwischen dem Altgr. ῥῆμα und dem Lat. verbum, das üblicherweise sowohl „ Verb “ als auch „ Wort “ bedeutet, ab. Diese Ambiguität erscheint zwar ursprünglich auch bei ῥῆμα (vgl. LSJ p. 1569), aber in der griechischen grammatischen Tradition ist „ Wort “ eher ὄνομα . 60 <?page no="61"?> der Tatsache zu tun, dass die Adverbien in den alten idg. Sprachen normalerweise viele verschiedene lexikalische Quellen haben und oft von der Erstarrung ursprünglich flektierender Nominal- oder Pronominalformen abgeleitet werden. Hier wollen wir nur zwei Punkte hervorheben: zum Ersten können viele Formen, die in den modernen idg. Sprachen zu geschlossenen Kategorien gehören, in den alten idg. Sprachen weder morphologisch noch syntaktisch von Adverbien unterschieden werden. Zum Zweiten ist die Funktion der Adverbien trotz ihrer natürlichen Vielfältigkeit in den frühen Stufen der idg. Sprachen relativ homogener in der Bedeutung von Raum, Zeit und Art als in den späten. Die ursprüngliche adverbiale Funktion der Präpositionen ist besonders offensichtlich im Indoiranischen (vgl. Speyer 1886: 113ff; Delbrück 1888: § 12; Kent 1950: § 268 - 271; García Ramón 1997; Hettrich 2002 a; Schneider 2010; Casaretto 2011) und im Hethitischen (Starke 1977; Francia 2002; Hoffner & Melchert 2008: 294 ff). In den folgenden vedischen Beispielen kommt die Lokalpartikel 38 ádhi „ oben, über, an “ (GR 44 - 46) einmal als Präposition (2.14) und einmal als Adverb (2.15) vor. (2.14) ví bhr ā jante rukm ā ´so ádhi b ā hús · u PRÄV erglänzen: PRS.IND.MED3PL Schmuckstück(M): NOM.PL an Arm(M): LOK.PL „ Die Schmuckstücke erglänzen an ihren Armen. “ (RV 8. 20. 11; Übersetzung Geldner 1951: II, 323) (2.15) ní gavyávó ’ navo druhyáva ś ca PRÄV rindergierig: NOM.M.PL Anu(M): NOM.PL Druhyu(M): NOM.PL und s · as · t · íh· ś at ā ´ sus · upuh· s · át · sahásr ā / s · as · t · ír v ī r ā ´ so sechzig hundert entschlafen: PF3PL sechs tausend sechzig Mann(M): NOM.PL ádhi s · ád· duvoyú noch sechs ehrerbietig „ Die rindergierigen Anu ’ s und Druhyu ’ s, sechzig hundert sechs tausend sechzig und noch sechs Männer sind ehrerbietig entschlafen. “ (RV 7. 18. 14; Übersetzung Geldner 1951: II,197) In (2.14) ist die präpositionale Bedeutung von ádhi m. E. klar, weil sie unmittelbar neben dem Nomen vorkommt und das Nomen im Lokativ flektiert ist, der im Rig-Veda (neben anderen Kasus, vgl. § 4.3.1) mit dieser Lokalpartikel verbunden sein kann: in diesem Fall verhält sich ádhi b ā hús · u 38 Der Terminus „ Lokalpartikel “ (local particle) ist von Horrocks (1981) Studie über räumliche Ausdrücke im homerischen Griechisch übernommen und wird als Oberbegriff für Präposition/ Postposition, Adverb oder Präverb benutzt, also ohne Verpflichtung zur morphosyntaktischen Interpretation. 61 <?page no="62"?> „ an den Armen “ wie eine echte PP. 39 In (2.15) ist die adverbiale Funktion auch eindeutig, weil es kein Nomen in einer syntaktischen Beziehung mit ádhi gibt. Aber es gibt oft doppelsinnige Stellen, wo die Kriterien der Wortfolge und der Rektion nicht übereinstimmen, wie in (2.16). (2.16) sasarpar ī ´r abharat t ū ´ yam ebhyó ’ dhi ś rávah · Sasarpar ī (F): NOM bringen: IPF.IND3SG bald dieser: DAT.M.PL über Ruhm(N): AKK.SG p ā ´ñcajany ā su kr ˚ s · t · ís · u bezüglich.fünf.Völker: LOK.F.PL Stamm(F): LOK.PL „ Die Sasarpar ī brachte diesen gar bald Ruhm über die Stämme der fünf Völker. “ (RV 3. 53. 16; Übersetzung Geldner 1951: I, 394 - 95) Hier haben wir einen nominalen Ausdruck im Lokativ (p ā ´ñcajany ā su kr ˚ s · t · ís · u „ über die Stämme der fünf Völker “ ), der von der Lokalpartikel ádhi als Präposition regiert werden kann, aber er ist der Lokalpartikel nicht adjazent, was eher für eine adverbiale Funktion spricht. Während Geldner diesen Ausdruck als eine PP wiedergibt, schließt Grassmann (1873: 45) die Stelle innerhalb der adverbialen Belege von ádhi ein. Dieselbe Mehrdeutigkeit betrifft das Adverb und die Konjunktion im Altindischen, wie Whitney (1889: § 1131) bemerkt: „ The conjunctions, also, as a distinct class of words, are almost wanting “ (vgl. auch Speyer 1886: 337ff; Delbrück 1888: 472ff; MacDonell 1916: § 180; Renou 1952: 374 ff). Die Funktion der Verknüpfung verschiedener Sätze wird eher von Adverbien wie áth ā , táth ā , tátas geleistet, die von pronominalen Quellen abgeleitet sind und wörtlich so viel wie „ auf diese Weise, daher, und dann “ bedeuten, deren ursprüngliche Bedeutung aber manchmal zum bloßen Koordinator „ und “ verblasst. Die folgenden Stellen illustrieren diese zwei Funktionen bei dem Wort áth ā , dem Grassmann (1873: 32) die Funktion eines zeitlichen Adverbs „ dann “ (2.17) und die logische, anreihende Funktion einer Konjunktion „ und “ (2.18) zuweist; seine Interpretation stimmt mit der hier angeführten Übersetzung von Geldner (1951) überein. (2.17) god ā ´ íd reváto mádah · / / rinderverschenkend: NOM.M.SG PTK Reich: GEN.M.SG Rausch(M): NOM.SG áth ā te ántam ā n ā m· vidy ā ´ma sumat ī n ā ´m dann du: GEN vertraulichste: GEN.F.SG erfahren: OPT1PL Gnadenbeweis(F): GEN.PL „ Rinderverschenkend ist der Rausch des Reichen. / Dann wollen wir deine vertraulichsten Gnadenbeweise erfahren. “ (RV 1.4.2 - 3) 39 Contra Hettrich (1991), gemäss welchem ádhi im Rig-Veda adverbial gemeint ist in allen seinen Belegen unabhängig von der Wortstellung. 62 <?page no="63"?> (2.18) m ū rdh ā ´ divó n ā ´bhir agníh · pr ˚ thivy ā ´ Haupt(M): NOM.SG Himmel(M): GEN.SG Nabel(F): NOM.SG Agni(M): NOM Erde(F): GEN.SG áth ā bhavad arat ī ´ ródasyoh · und.werden: IPF.IND3SG Lenker(M): NOM.SG Welt(N): GEN.DU „ Das Haupt des Himmels, der Nabel der Erde ist Agni, und er ward der Lenker beider Welten. “ (RV 1.59.2) Die Entscheidung für den Gebrauch eines Adverbs oder einer Konjunktion wird vom Kontext bedingt. In (2.18) verbindet áth ā zwei Sätze, die in derselben Stanze und in demselben Vers stehen und die auch die Argumente gemeinsam haben: in beiden ist Agni, der Gott des Feuers, das Subjekt, und das Dualnomen ródas ī „ die zwei Welten “ des zweiten Satzes resümiert die Referenten der Nomina dyaú- „ Himmel “ und pr ˚ thiv ī ´- „ Erde “ des ersten Satzes. Anhand solcher diskursiver Kontinuität wird der Gebrauch einer koordinierenden Konjunktion „ und “ erwartet. Aber die Situation ist ganz anders in (2.17), wo die von áth ā getrennten Sätze nicht nur in verschiedenen Versen, sondern auch in verschiedenen Stanzen stehen und unabhängige Eigenschaften in Bezug auf Argumente, Zeitreferenz und illokutionären Akt haben. Denn der erste Satz drückt eine atemporale Situation aus, während der zweite Satz einen Wunsch des Sprechers äußert. In diesem Fall gibt eine adverbiale Bedeutung von áth ā wie „ dann, daher, zudem “ die semantische und syntaktische Trennung der zwei Sätze besser wieder. Die hier für áth ā illustrierten Anwendungen gelten auch für eine Reihe von anderen adverbialen Partikeln, sowohl im Vedischen als auch in anderen alten idg. Sprachen. Sogar die echten Koordinatoren wie Indoiranisch utá, Altgriechisch καί , Lateinisch et, Altisländisch ok können ebenso „ und “ wie „ auch “ bedeuten, während die konjunktionalen und die adverbialen Funktionen in den modernen idg. Sprachen normalerweise von zwei getrennten Wortarten ausgedrückt werden. Ähnlich schwanken viele Wörter des Altindischen und besonders des Vedischen zwischen der Funktion einer Interjektion oder Partikel einerseits und der Funktion eines Adverbs andererseits, sodass dieselbe Form als unterschiedliche Kategorie in verschiedenen Übersetzungen erscheint. Das hängt mit der Tatsache zusammen, dass Interjektionen und Partikeln im Altindischen oft noch transparent sind und deshalb ihre Ableitung von Adverbien noch erfassbar ist (obwohl Adverbien nicht die einzige Quelle der altindischen Partikeln sind: ihnen liegen auch mehr oder weniger abgeschnittene Versionen von Nomina oder Pronomina zugrunde und sogar bloße Schallwörter). Whitney (1889: § 1122) schließt in der Gruppe der miscellaneous adverbs auch asseverative particles ein wie an ˙ gá, hánta, kíla, khálu, tú, und MacDonell (1916: § 180) spricht von conjunctive and adverbial particles. Z. B. kann die Partikel evá, die von einem Pronominalstamm abgeleitet wird, eine adverbiale Funktion mit der Bedeutung „ auf diese 63 <?page no="64"?> Weise “ (2.19) haben, aber sie kann auch als eine bekräftigende Partikel mit der Bedeutung „ also, wahrlich, wirklich, in der Tat “ funktionieren (2.20) (vgl. GR 301 - 302). (2.19) ś úna ś cic chépam· nídita m ̐ sahásr ā d y ū ´ p ā d Ś . selbst Ś : AKK angebunden: AKK.M.SG Tausend: ABL Pfahl(M): ABL.SG amuñco á ś amis · t · a hí s · áh · / ev ā ´ smád losmachen: IPF.IND2SG hergerichtet: NOM.M.SG denn er: NOM.SG so.uns: ABL agne ví mumugdhi p ā ´ śā n hóta ś Agni(M): VOK PRÄV losmachen: IPV2SG Fessel(M): AKK.PL Hotr ˚ (M): VOK.SG cikitva ihá t ū ´ nis · ádya kundig: VOK.M.SG hier PTK niedersitzend: GER „ Selbst den Ś úna ś Chépa, der um ein Tausend angebunden war, hast du von dem Pfahle losgemacht, denn er war schon (für das Opfer) hergerichtet. So nimm doch auch von uns die Fesseln, o Agni, kundiger Hotr ˚ , dich hier niedersetzend. “ (RV 5.2.7; Übersetzung Geldner 1951: II, 4) (2.20) ev ā ´ tv ā ´m indra vajrinn átra ví ś ve also dich: AKK Indra(M): VOK mit.der.Keule: VOK.M.SG hier alle: NOM.M.PL dev ā ´sah · suháv ā sa ū ´ m ā h · / mah ā ´m Gott(M): NOM.PL die.sich.gern.rufen.lassen: NOM.M.PL Helfer(M): NOM.PL groß: AKK.M.SG ubhé ródas ī vr ˚ ddhám r ˚ s · vám· beide: NOM.N.DU Welt(N): NOM.DU erstarkten: AKK.M.SG Recke(M): AKK.SG nír ékam íd vr ˚ n · ate vr ˚ trahátye PRÄV einzig: AKK.M.SG PTK wählen: PRS.IND.MED3PL Vr ˚ trakampf(N): LOK.SG „ Also erwählen dich, Indra mit der Keule, nunmehr die Götter alle, die Helfer, die sich gern rufen lassen, (und) beide Welten, (dich) den großen, erstarkten Recken als einzigen im Vr ˚ trakampf. “ (RV 4.19.1; Übersetzung Geldner 1951: I, 443) In (2.19) wird ein Vergleich geäußert: wie Agni einmal den angebundenen Ś úna ś Chépa entfesselte, „ auf dieselbe Weise “ (evá) soll er jetzt den Anrufenden entfesseln; hier ist evá ein Adverb, das an der Grenze zwischen den zwei verglichenen Sätzen steht. Dagegen ist evá in (2.20) ganz am Anfang des Lieds und kann deswegen keine komparative Funktion ausdrücken; es ist eher eine anspornende Partikel. Obwohl die Adverbien der alten idg. Sprachen oft mehreren syntaktischen Kategorien der modernen idg. Sprachen entsprechen, d. h. neben echten Adverbien auch Präpositionen, 40 Konjunktionen und Partikeln, ist es 40 Obwohl Präpositionen im Indogermanischen unflektierbar sind (außer im Irischen, vgl. § 5.5), sind sie nicht immer unveränderbar. Z. B. zeigen sie im Altgriechischen Anastrophe, wenn sie ihrer nominalen Ergänzung nachgestellt werden: ἀπὸ γλώσσης „ von der Zunge “ (Il. 1.249) vs. νεῶν ἄπο „ von den Schiffen “ (Il. 2.210). 64 <?page no="65"?> nicht immer der Fall, dass alle echten Adverbien der modernen idg. Sprachen in der adverbialen Kategorie der alten idg. Sprachen eine Entsprechung finden. In den modernen idg. Sprachen werden Adverbien als Modifikatoren von Verben, Sätzen, Adjektiven oder weiteren Adverbia gedacht, d. h. sie können alle offenen syntaktischen Kategorien außer Nomina modifizieren. In den alten idg. Sprachen aber waren die modifizierenden Funktionen des Adverbs beschränkter: sie konnten meistens als Modifikatoren des Verbs funktionieren, mit der typischen Bedeutung von Raum, Zeit und Art. Damals war die semantische Funktion des Adverbs noch relativ transparent und erkennbar, während die spätere Generalisierung der Adverbien in der Modifikation einer wachsenden Anzahl von Kategorien auch mit einer gewissen Opazität einhergeht. Als Modifikatoren der Adjektive (Dt. sehr froh) und der weiteren Adverbia (Ita. molto velocemente) konnten Adverbia natürlich nicht gelten, da diese Funktionen von den morphologischen Verfahren der Steigerung ausgedrückt wurden: Lat. laetissimus, celerrime. Als Modifikatoren des Satzes waren Adverbia in den alten idg. Sprachen auch weniger üblich als in den modernen idg. Sprachen. Es gab zwar Satzpartikeln, die mehr oder weniger direkt auf eine adverbiale Quelle zurückgehen konnten (vgl. Kroon 1995), aber im Allgemeinen wurde die auf den Satz angewendete Modalität ursprünglich durch die reiche Verbalflexion der Modi ausgedrückt. Satz-Adverbien wie sicher, vielleicht oder wahrscheinlich sind untypisch für das Indoiranische, das Realität und Irrealität durch die Opposition zwischen Indikativ einerseits und Konjunktiv und Optativ andererseits darstellt. Z. B. sind das Lateinische und das Altgriechische alte idg. Sprachen, in denen man zwar mehrere Satz-Adverbia findet, es sich aber um transparente und neu gebildete Formen handelt. Der adverbiale Begriff „ vielleicht “ wird im Lateinischen durch Adverbien wie forte, fortasse, forsan, forsitan ausgedrückt, die erstarrte Formen des Nomens fors „ Zufall, Schicksal “ ggf. mit Partikeln sind. Die zugrunde liegende Nominativform fors in forsan / forsitan stellt das Subjekt eines ursprünglichen Hauptsatzes dar mit der Bedeutung „ es sei der Fall, (dass) “ . Im Altgriechischen kann man das Experimentieren mit verschiedenen Verfahren beobachten, um Modalität auszudrücken: auch in dieser Sprache, wie im Vedischen, konnte das Nebeneinander von Konjunktiv und Optativ modale Neigungen darstellen, oft mit der Verstärkung von verschiedenen Partikeln und besonders mit ἄν , der Modalpartikel schlechthin im Altgriechischen. Aber man findet auch das Adverb ποῦ , das zum einen „ irgendwo “ und zum anderen auch „ vielleicht “ bedeutet. Kombinationen zwischen ποῦ und Partikeln sind auch belegt wie δήπου „ vielleicht “ . Daher gab es im Altgriechischen viel mehr Möglichkeiten als im Lateinischen, die Modalität auszudrücken, da Latein nicht nur ärmer an Modi war (der Optativ hinterließ nur Spuren im Altlateinischen, z. B. siem, sies, siet, die später als Konjunktive uminter- 65 <?page no="66"?> pretiert wurden, vgl. Sabanééva 1996; Müller-Wetzel 2001; De Melo 2007), sondern auch einen sparsameren Gebrauch modaler Partikeln zeigte. 41 2.3.2 Geschlossene Kategorien Noch mehr als das Adjektiv und das Adverb betreffen die Unterschiede zwischen alten und modernen idg. Sprachen in ihrer syntaktischen Kategorisierung die geschlossenen Kategorien, die in den alten idg. Sprachen weniger zahlreich waren. Damit stimmen die alten idg. Sprachen mit vielen nicht-idg. Sprachen überein, in denen geschlossene Kategorien wie Proformen, Auxiliaren und Konjunktionen eine geringe Rolle oder überhaupt keine Rolle spielen. Z. B. hat das klassische Arabisch drei Wortarten, d. h. Nomen, Verb und Partikel oder Adverb (Hamzé 1994). Diese Wortarten werden auch dem Yokuts (Newmann 1967: 183 ff) und dem Yurok (Robins 1967: 215 ff), zwei einheimischen Sprachen Kaliforniens, zugewiesen, sowie dem Nord-Sotho, einer Niger-Kongo-Bantusprache, gesprochen in Südafrika (van Wyk 1967: 260 ff). Eine ähnliche Situation gilt für das Igbo, eine Niger-Kongo-Sprache Nigerias, in welchem Nomen, Verb, Partikel und Interjektion identifiziert werden (Carnochan 1967: 7). Nur zwei Kategorien hat das Bilin, eine kuschitische Sprache Eritreas (Palmer 1967). Besonders stark synthetische Sprachen, die reiche Flexionsmöglichkeiten besitzen, können auf Konfigurationen verzichten, die aus zu geschlossenen Kategorien gehörigen Formen bestehen ( „ Closed word classes tend to play a more prominent role in analytic languages than they do in synthetic languages. This is because much of the semantic and syntactic work done by the members of closed 41 Im Allgemeinen scheinen neue adverbiale Ausdrücke wie „ vielleicht “ und „ wahrscheinlich “ für die Modifikation des Satzes im Altgriechischen und im Lateinischen früher und mehr vertreten zu sein als in anderen alten idg. Sprachen. Dabei können auch die Faktoren der Gattung eine gewisse Rolle spielen und besonders die Redekunst ( τέχνη ῥητορική , ars oratoria). Die Redekunst ist zwar in allen Gesellschaften und in allen Sprachen vorhanden, und Beispiele davon erscheinen schon bei Homer, aber ihre Strukturierung als ein von bestimmten Tropoi charakterisiertes literarisches Genus wurde vor allem im klassischen Griechisch und im Lateinischen entwickelt, auch im Zusammenhang mit den juridischen Verfahren der athenischen Demokratie und der römischen Republik: in der Kunst des Überzeugens ist es sehr wichtig, Verpflichtung und Modalität explizit auszudrücken. In § 4.5 werden wir sehen, dass dieselben Faktoren auch die Entstehung eines komplizierten Systems von Unterordnung in den klassischen Sprachen begünstigt haben, denn Unterordnung erlaubt, einen Gedanken im Hintergrund besser darzustellen. Obwohl es immer gefährlich ist, linguistische Phänomene durch außerlinguistische Faktoren erklären zu wollen, kann die Sprache manchmal nicht einfach von den Sprechern und ihrer Weltanschauung getrennt betrachtet werden (über den Einfluss nicht-linguistischer Faktoren auf die Gestaltung einer Sprache siehe Malkiel 1968: 28 ff). 66 <?page no="67"?> word classes in analytic languages is done instead by affixes in synthetic languages “ , Schachter & Shopen 2007: 23). Wir werden sehen, dass das auch für die alten idg. Sprachen gilt. Innerhalb der geschlossenen Kategorien erwähnen Schachter & Shopen u. a. Proformen (§ 2.3.2.1), Konjunktionen (§ 2.3.2.2), Nomenadjunkte (§ 2.3.2.3) und Verbadjunkte (§ 2.3.2.4). 2.3.2.1 Proformen Proformen sind Wörter geschlossener Kategorien, die unter bestimmten Umständen andere Wörter offener Kategorien oder größere Konstituenten wie Phrasen oder Sätze ersetzen können. Α us ökonomischen Gründen besitzt jede Sprache mindestens einige Proformen, und die alten idg. Sprachen sind keine Ausnahme mit ihren traditionell rekonstruierten Personal-, Demonstrativ-, Reflexiv-, Interrogativ-, Indefinit- und Relativpronomina (vgl. Delbrück 1893: 460 ff). Wir werden nicht alle diese Kategorien diskutieren, sondern nur diejenigen, bei denen - von einem syntaktischen Standpunkt aus - die meisten Unterschiede zu den modernen idg. Sprachen bestehen. Denn es scheint, dass einige Proformen, die in den modernen idg. Sprachen üblich sind, im Urindogermanischen entweder fehlten oder noch nicht grammatikalisiert waren, sondern von einer Mannigfaltigkeit noch transparenter lexikalischer Quellen vertreten waren. Brøndal (1948: 39) fragt sich, warum die alten Grammatiker neben pro Nomina ( ἀντινωμία , nomen vicarium) nicht auch pro Verben und andere grammatische Alternativformen identifiziert hatten: „ Si les pronoms, comme on dit, remplacent les noms, pourquoi ne pas compter aussi avec des ‚ proverbes ‘ par ex., et ranger ceux-ci et ceux-là dans une classe supérieure de mots de remplacement? “ Es handelt sich hier jedoch nicht um einen Mangel an Einsicht der alten Grammatiker, sondern um einen Mangel in den alten Sprachen selber. Dem Urindogermanischen fehlte tatsächlich, was Schachter & Shopen (2007: 31) als verbale Proformen (pro-verbs, z. B. Engl. John fell down, but Jill didn ’ t), adjektivische Proformen (pro-adjectives, z. B. Engl. John is kind, but Jill isn ’ t) oder adverbiale Proformen (pro-adverbs, z. B. Engl. John runs fast, but Jill not so) bezeichnen. Erstens hat das mit der Substantivierung der Eigenschaftswörter (§ 2.3.1.1) und mit den beschränkten Möglichkeiten der adverbialen Modifikation im Urindogermanischen (§ 2.3.1.2) zu tun, wie auch mit der Tatsache, dass Urindogermanisch keine Hilfsverben hatte (§ 2.3.2.4), die in vielen Sprachen wegen ihrer generellen Bedeutung benutzt werden, um Verben oder VP zu resümieren. Zweitens weisen die begrenzten Ressourcen der Proformen darauf hin, dass sie ursprünglich nur referentielle Ausdrücke resümieren konnten, indem sie ihre deiktische oder anaphorische Funktion noch transparent darstellten. Denn Nomina bezeichnen außersprachliche Referenten, während Verben zumindest in 67 <?page no="68"?> ihrer prototypischen Bedeutung von Ereignissen eigentlich keinen Referenten bezeichnen. In ähnlicher Weise haben Proformen von Ortsausdrücken einen konkreten Referenten, woraus sie eine zeitliche Bedeutung durch die übliche from space to time-Metapher (vgl. Haspelmath 1997 b) entwickeln, während Proformen von modalen Adverbien, die keinen Referenten bezeichnen, auch seltener sind. Drittens hat die Beschränkung der Proformen mit dem größeren Umfang der Null-Anaphora in den alten idg. Sprachen zu tun, wobei jede Konstituente - sogar das Verb - weggelassen und aus dem Kontext verstanden werden konnte (vgl. § 4.2.1). Das hat eine Beziehung zum grundsätzlich oralen Register der alten idg. Sprachen: trotz ihrer geschriebenen Überlieferung waren die meisten Texte der alten idg. Sprachen für einen oralen Anlass gedacht, wie man in den vedischen Hymnen, in den homerischen Epen, im klassischen Theater oder in den nordischen Sagen sehen kann; sogar die philosophischen Überlegungen Platons sind in Dialogen verfasst, also in einer Gattung, die einen mündlichen Austausch voraussetzt. Beim Sprechen kann man mehr Informationen unausgesprochen lassen, die die am Sprechakt Teilnehmenden aus der Situation erfassen können. Die Abwesenheit solcher Proformen, die man normalerweise in den modernen idg. Sprachen findet, trägt zur geringen Rolle der geschlossenen Kategorien im Urindogermanischen bei. Dasselbe gilt für „ Satz-Proformen “ (pro-sentences, Schachter & Shopen 2007: 31), d. h. Wörter wie „ ja “ oder „ nein “ , die als Antworten auf Fragen (mots de réponse) verwendet werden und die deshalb einen ganzen Satz ersetzen. In Bezug auf die Frage „ Hast du den Apfel gegessen? “ bedeutet die Antwort „ ja “ den Satz „ Ich habe den Apfel gegessen “ und die Antwort „ nein “ den Satz „ Ich habe den Apfel nicht gegessen “ . Wir können vermuten, dass dem Urindogermanischen Satz-Proformen fehlten, weil die alten idg. Sprachen weder für „ ja “ noch für „ nein “ grammatikalisierte Verfahren hatten: die Antwort bestand aus der (völligen oder partiellen) Wiederholung der vorangehenden Frage, mit Negation im Fall der negativen Satz- Proform. Das Wiederholungsverfahren erscheint noch heutzutage in einigen idg. Sprachen wie im Keltischen. Im Irischen besteht die Satz-Proform aus der Wiederholung des Verbs der Frage mit demselben grammatischen Tempus: auf die Frage An dtuigeann tú? „ Verstehst du? “ antwortet man Tuigeann „ Ja “ , wörtl. „ ich verstehe “ , oder Ní thuigeann „ Nein “ , wörtl. „ ich verstehe nicht “ . Das ist ein archaisches Merkmal des Irischen, das wegen seiner peripheren Lage in der Indogermania oft sehr konservativ ist, aber dieses Muster war damals viel weiter verbreitet. Es gibt zwar schon alte idg. Sprachen, die ein spezifisches Merkmal positiver Polarität entwickeln, normalerweise aus mehr oder weniger transparenten deiktischen Quellen. Das Lateinische hat ita, wörtl. „ so, auf diese Weise „ oder sic „ ib. “ Ähnlich hat das Altindische neben der opaken Form ā m „ ja “ auch den Ausdruck táth ā , wörtl. „ auf diese Weise “ , der als allgemeine Bestätigung funktionierte. Es ist 68 <?page no="69"?> aber bemerkenswert, dass sogar jene Sprachen, die eine grammatikalisierte Struktur für die positive Satz-Proform hatten, auch die Wiederholungsstrategie benutzen konnten. Das Altisländische hat z. B. sowohl ein „ ja “ (já) als auch ein „ nein “ (nei), aber in Texten sind diese Formen selten, und die Wiederholung der Frage ist die gewöhnliche Form der Antwort: auf die Frage Hvart er hann hér? (PTK ist er hier) „ Ist er hier? “ antwortet man Hann er hér „ Er ist hier “ . Dasselbe passiert im Altgriechischen, wie folgende Stelle aus einem Dialog von Platon zeigt: (2.21) S Ω : ἀλλ᾽ ἄρα , ὦ Μέλητε , μὴ οἱ ἐν τῇ ἐκκλησίᾳ , οἱ ἐκκλησιασταί , διαφθείρουσι τοὺς νεωτέρους ; ἢ κἀκεῖνοι βελτίους ποιοῦσιν ἅπαντες ; MEL: κἀκεῖνοι. S Ω : πάντες ἄρα , ὡς ἔοικεν , Ἀθηναῖοι καλοὺς κἀγαθοὺς ποιοῦσι πλὴν ἐμοῦ , ἐγὼ δὲ μόνος διαφθείρω· οὕτω λέγεις ; MEL: πάνυ σφ όδρα ταῦτα λέγω . „ SOKR: Aber, o Meletos, verderben nicht etwa die in der Gemeinde, die Gemeindemänner, die Jugend? Oder machen auch diese alle sie besser? MEL: Auch diese. SOKR: Alle Athener also machen sie, wie es scheint, gut und edel, mich ausgenommen; ich aber allein verderbe sie. Meinst du es so? MEL: Allerdings, gar sehr meine ich es so. “ (Platon, Apol. 25 a; Übersetzung Schleiermacher 1990: II, 23) Hier stellt Sokrates zwei Fragen an Meletus, und in beiden Fällen ist Meletus ’ Antwort positiv, aber er benutzt eigentlich kein „ ja “ . Eher wiederholt er das erste Mal ein Pronomen (das mit der Konjunktion καί „ und, auch “ verschmolzen ist, wörtl. „ auch jene “ ) und das zweite Mal ein Verb. Nun hatte das Altgriechische wohl eine synchron opake Form für „ ja “ zur Verfügung ( ναί ), die auch in Platons Dialogen gebräuchlich ist, jedoch das Wiederholungsverfahren nicht verdrängt hat. Wir können deshalb die Wiederholung als positive Satz-Proform, um auf die Frage nach einer Information zu antworten, auch für das Urindogermanische rekonstruieren, wobei man feststellen kann, dass der Terminus yes/ no question für die Situation der alten Sprachen nicht taugt. Im idg. Bereich erlebten auch Satz- Proformen eine Grammatikalisierung: in den meisten modernen idg. Sprachen ist die Wiederholung unmöglich in dieser Funktion. Auch die Negation als Merkmal der negativen Satz-Proformen, ist in den alten idg. Sprachen nicht homogen, sondern zeigt eine große Variation, wahrscheinlich wegen ihrer inhärent kontrastiven Funktion, die von Haus aus immer neue und verstärkte Formen ergibt. Die Varietät der Negation kann entweder die Form oder die Bedeutung betreffen. 69 <?page no="70"?> In der Form gibt es erstens einfache Negationen wie Ved. ná und Aksl. ne (< uridg. *né) oder verstärkte Negationen wie Ved. néd (< *ná íd) und Lat. non (< *ne oinom). Zweitens gibt es verschiedene mögliche Stellungen: meistens ist die Negation dem Verb unmittelbar vorangestellt, aber sie kann auch vom Verb getrennt und an den Anfang des Satzes gestellt werden; die Stellung am Anfang des Satzes ist üblich im Vedischen (vgl. Gonda 1951). Drittens kann die Negation mehr oder weniger formell mit dem Verb verbunden sein: in den meisten Sprachen bewahrt sie ihre morphologische Identität, aber einige Sprachen entwickeln auch verschmolzene Formen negativer verbaler Ausdrücke. Im Lateinischen sind diese integrierten Negationen nur mit gewissen besonders häufigen Verben wie nescio „ ich weiß nicht “ , nequeo „ ich kann nicht “ oder nolo „ ich will nicht “ (< ne volo) zu beobachten, wie auch mit wenigen lexikalisierten nominalen, pronominalen oder konjunktionalen Ausdrücken wie nefas „ Frevel “ , neuter „ keiner von beiden “ oder neque „ und nicht “ , aber im Litauischen ist die Integration des negativen Morphems ne mit Verben, Adjektiven und Adverbien (aber nicht mit Nomina) völlig grammatikalisiert, z. B. valgyti „ essen “ vs. nevalgyti „ nicht essen “ , geras „ gut “ vs. negeras „ nicht gut “ . Phonologische Änderungen erscheinen in einigen mit Vokal beginnenden Formen wie n ė ra „ er/ sie ist nicht, sie sind nicht “ (< ne yra) oder nesu „ ich gehe nicht “ (< ne esu), vgl. Senn 1966: 479; Ambrazas 1997: 667 ff. Weiterhin kann die Vielfalt der Negationen durch die Funktionen bedingt werden. Einige Sprachen haben zwei verschiedene Negationen, je nachdem ob der Satz eine Aussage oder ein Verbot ausdrückt: das passiert im Hethitischen, das natta (oft geschrieben als das Akkadogramm UL) für verneinte Aussagesätze und l ē für Verbote hat. Spezialisiert für Verbote war die uridg. Negation *m ē ´, die im Altgr. μή , Ved. m ā ´, Arm. mi, Toch. B m ā , Alb. mo-s verwendet wird. Das Lateinische, das für Verbote ne (vgl. Got. n ē und Altir. ní) wie auch transparente Strukturen wie cave oder noli + IF benutzt, hat unterschiedliche Negationen im Bereich der Unterordnung: Nebensätze, die eine darauffolgende Situation in Bezug auf den Hauptsatz beschreiben, werden entweder durch ne oder ut non verneint, je nachdem ob sie finale oder konsekutive Funktionen ausdrücken. Außerdem kann die Kombination von zwei oder mehr Negationen verschiedene Bedeutungen haben: im Lateinischen ist nur eine Negation pro Satz erlaubt, sonst gelten zwei Negationen als eine Aussage: vidi neminen „ ich sah niemanden “ . Der Satz Non vidi neminem wäre entweder ungrammatisch oder würde bedeuten „ ich sah jemanden “ wie im Deutschen, Englischen und Französischen. In anderen Sprachen wie im Altgriechischen hingegen können mehrere Negationen in demselben Satz vorkommen, ohne die Bedeutung von negativ zu positiv zu ändern. In diesem Fall ist die Anhäufung der Negation optional: Altgr. οὐκ εἶδον οὐδένα mit verbaler Negation und negativem Indefinitpronomen kann dieselbe Bedeutung wie 70 <?page no="71"?> der Satz εἶδον οὐδένα . 42 Es gibt natürlich pragmatische Unterschiede, z. B. einen stärkeren oder schwächeren Kontrast, aber von einem bloß semantischen Standpunkt aus können die beiden dieselbe propositionale Situation bezeichnen. Es gibt auch idg. Sprachen, in denen die kumulative Negation obligatorisch ist: das geschieht im Slawischen und im Baltischen, z. B. Polnisch Nie widzia ł am nikogo (NEG ich.sah niemanden) „ ich sah niemanden “ (vgl. Vondrak 1912: 606 - 607; Vaillant 1977: 193 ff). Hier ist die Negation sowohl auf dem Verb als auch auf dem indefiniten Pronomen kodiert. Die einfache Negation des Lateinischen ist zwar bezüglich der Prinzipien der Logik konsequenter, nach der zwei negative Operatoren einer Bestätigung entsprechen, aber sie war nicht die einzige Möglichkeit, wenn man die Texte durchschaut, die eher die Umgangssprache darstellen, wie z. B. Plautus. Vgl. Orlandini & Poccetti (2008). (2.22) iura te non nociturum esse homini de hac re nemini „ Schwör, dass du von nun an keiner Menschenseele schaden willst. “ (Pl. Mil. 1411; Übersetzung Rau 2008: IV, 129) Denn in der Alltagssprache wird Redundanz eher toleriert. Dieselbe Situation wie im Lateinischen erscheint in nicht-standardisierten Varianten des modernen Englisch (vgl. Labov 1972 b), in denen die kumulative Negation gewöhnlich ist, wie auch im Altenglischen (Kemenade 2000). Da die kumulative Negation auch in älteren oder niedrigen Varianten sogar derjenigen Sprachen, die die einfache Negation danach grammatikalisierten, identifiziert werden kann, können wir sie auch für das Urindogermanische rekonstruieren. In diesem Fall rekonstruieren wir aber eher die optional doppelte Negation des Altgriechischen als die obligatorisch doppelte Negation der baltischen und slawischen Sprachen, die in ihrer Notwendigkeit bereits eine fortgeschrittene Grammatikalisierung darstellt. Darin stimmt das Urindogermanische mit den meisten nicht-indogermanischen Sprachen überein, wo die doppelte Negation ebenfalls häufiger ist: It is ironic that the cross-linguistic investigation reveals a picture that is almost opposite to the older prejudice against the ‚ illogical ‘ type NV-NI [negative verb - negative indefinite; hinzugefügt]. The typological per- 42 Etymologisch ist Verneinung im Altgr. οὐκ εἶδον οὐδένα eigentlich dreimal ausgedrückt, insofern als neben dem negativen Indefinitpronomen οὐδένα die verbale Negation οὐκ nach Cowgill (1960) auf die verstärkte negative Struktur *né h 2 óyu k w id „ nie im Leben “ zurückgeht. Nachdem *né verloren geht, wird die negative Funktion vom Nomen *h 2 óy-u „ Lebenskraft “ ausgedrückt (vgl. Ved. ā ´yu, Aw. ā ii ū wie auch seine Ablautsform *h 2 éy-ubei Lat. aevum, Altgr. αἰών , αἰεί ), hier verschmolzen mit dem klitischen Indefinitpronomen k w id, auf eine ähnliche Weise wie bei Fr. ne . . . pas > pas im Jespersens Zyklus der Negation. 71 <?page no="72"?> spective leads to a rather dramatic change of our world view: what used to be regarded as the norm of correct thinking turns out to be a rather rare phenomenon in some peripheral areas such as southern Africa, northern Australia, and the extreme west of Eurasia. The fact that speakers of Latin, English, French, and German, all V-NI languages, were extremely successful economically, militarily, and culturally has meant that the general preference for the type NV-NI has gone unnoticed for a long time. (Haspelmath 1997 a: 202) 2.3.2.2 Konjunktionen Obwohl Konjunktionen in allen alten idg. Sprachen belegt sind und deshalb auch dem Urindogermanischen besonders im Bereich der Koordination zugewiesen werden können, hatten sie ursprünglich eine ganz andere Verteilung als in den modernen idg. Sprachen. Erstens wird der Bereich der Koordination in den modernen idg. Sprachen in erster Linie vom konjunktiven Koordinator „ und “ , dem disjunktiven Koordinator „ oder “ und dem adversativen Koordinator „ aber “ vertreten. Nach Mauri (2008) ist das Standard Average European eine „ and-but-or area “ , und wie Haspelmath (2007: 48) bemerkt, sind der kausale Koordinator „ denn “ und der konsekutive Koordinator „ so “ marginal und werden oft für keine echte koordinierende Struktur gehalten. Zweitens kann derselbe Koordinator in den modernen idg. Sprachen normalerweise verschiedene syntaktische Kategorien verknüpfen: „ In English, a very wide range of constituents may be connected in this way: nouns and noun phrases, verbs and verb phrases, adjectives, adverbs, prepositions, clauses, etc. “ (Schachter & Shopen 2007: 47), und das verstößt gegen die Situation vieler anderer Sprachen der Welt: „ In a good many other languages, on the other hand, coordinating conjunctions (or at least those that are the translation equivalent of and) are used primarily, or exclusively, to connect nouns and noun phrases. “ (ib.) Z. B. hat Igbo zwei verschiedene kopulative Konjunktionen mit der Bedeutung „ und “ , d. h. nà und ka, aber nur die erste kann Nomina und NP verbinden (Carnochan 1967: 22 - 23). Drittens haben die Koordinatoren der modernen idg. Sprachen die bloße syntaktische Funktion der Verknüpfung und drücken keine zusätzliche semantische Bedeutung aus: „ At least for the Indo-European languages, it seems that they all have a coordinator comparable to and, which has just the combinatory value without any further specification of the particular relation holding between the members of the coordination “ (Dik 1968: 272). Keine dieser drei Bedingungen gilt im eigentlichen Sinne für die Koordinatoren der alten idg. Sprachen. Anders als im Standard Average European hatte die Koordination in den alten idg. Sprachen normalerweise keinen dreiteiligen Bereich zwischen „ und “ , „ oder “ und „ aber “ . Einerseits wurde die Funktion von „ aber “ oft 72 <?page no="73"?> implizit gelassen und vom kontrastiven Kontext erfasst: im früheren Vedisch und im Altpersischen gibt es z. B. kein „ aber “ (vgl. Kent 1950: 92; Renou 1952: 374 ff). Wenn eine explizite Form für „ aber “ existiert, wird sie von neuen, transparenten Strukturen ausgedrückt wie Altgr. ἀλλά und Arm. ayl (erstarrte Form von ἄλλος bzw. ayl „ ein anderer “ ), wie Lat. sed (aus dem Ablativ des Reflexivpronomens *s(w)ed „ für sich, ohne “ , IEW 882) und wie Got. afar, Ahd. avar (ursprünglich „ abermals, wiederum, von neuem “ , vgl. Skr. ápara- „ hinterer, späterer, folgender, anderer “ , IEW 54). Wir vermuten, dass auch das Urindogermanische keine fest grammatikalisierte Struktur für „ aber “ besaß, sondern dass Asyndeton und lexikalischer Gegensatz genug waren, um die adversative Beziehung zu bezeichnen, optional von adverbialen Lexemen für Verschiedenheit oder Ausschließung verstärkt. Dieses Fehlen könnte damit zusammenhängen, dass die adversative Funktion kognitiv markiert ist: die Konjunktion „ und “ kann auch kontrastiv interpretiert werden, während die Konjunktion „ aber “ nur kontrastiv ist (vgl. Payne 1985: 6 - 17). Daher ist es auch verständlich, dass „ aber “ im Diskurs weniger häufig vorkommt und auch weniger Gelegenheiten hat, sich zu etablieren. Außerdem ist die kontrastive Bedeutung von „ aber “ geeignet für den Gebrauch immer neuer und expressiver Formen, wie wir in § 2.3.2.1 für die Negation gesehen haben, und das ist auch ein Hindernis für die Etablierung einer grammatikalisierten Form. Andererseits wurden die kausalen und die konsekutiven Beziehungen in den alten idg. Sprachen üblicherweise von Koordinatoren dargestellt. Während Deutsch denn, Englisch for, Französisch car am Rand der Koordination stehen und oft durch kausale Subordinatoren wie „ weil “ oder „ da “ ersetzt werden, wird die kausale Beziehung in den alten idg. Sprachen unter normalen Umständen durch Koordination statt Unterordnung ausgedrückt. Z. B. wird im Vedischen die kausale Funktion viel häufiger durch den Koordinator hí als durch den Subordinator yád ausgedrückt (Hettrich 1988: 791 - 803; Viti 2008 a), und ähnlich wird eine Ursache oft durch die Koordinatoren z ī des Awestischen (Jackson 1892: § 739; Reichelt 1909: § 732) und avahyar ā diy des Altpersischen (Kent 1950: 173; 205) bezeichnet. Der Letztere bedeutet „ deshalb, aus diesem Grund “ und ist die erstarrte Kombination aus dem Pronomen avahya „ dieses “ (GEN.N.SG) und der Postposition r ā diy, die auf den Lokativ der Form r ā d (Skr. r ā dh „ glücklich zum Ziele kommen, zurecht machen “ ) zurückgeht, d. h. die Situation des Kausalsatzes ist schon vollkommen, wenn die Situation des Hauptsatzes geschieht, da die kausale Beziehung auch faktisch (factual) ist. Auch die konsekutive Beziehung, die anders als die finale faktisch ist, wird in den alten idg. Sprachen oft von Adverbien oder Koordinatoren wie Vedisch áth ā wörtl. „ auf diese Weise “ , Awestisch a θ a „ id. “ (Reichelt 1909: § 731) ausgedrückt oder auch von subordinierenden Konjunktionen, die aber auf einer ursprünglich koordinierenden Quelle beruhen, wie Altgriechisch 73 <?page no="74"?> ὥστε „ sodass “ und klassisches Armenisch minc ’ ew „ id. “ , in denen die Koordinatoren τε bzw. ew noch transparent sind. 43 Auch wenn wir nur die konjunktiven Koordinatoren für „ und “ berücksichtigen, kommen große Unterschiede zwischen alten und modernen idg. Sprachen vor. Der Gebrauch verschiedener Koordinatoren für verschiedene syntaktische Kategorien erscheint deutlich im Hethitischen, in dem die Koordinatoren nu, š u und ta nur für Sätze und nie für Satzglieder oder Nomina benutzt wurden (vgl. Friedrich 1960: 155ff; Hoffner & Melchert 2008: 390 ff). Die Etymologie dieser Konnektoren ist auch ziemlich klar: š u und ta stellen die Pronominalstämme *sóbzw. *tódar, während nu verwandt mit Ved. nú „ jetzt “ , Altgr. νῦν und Lat. nunc „ id. “ ist, wie auch mit *newo- „ neu “ (Skr. náva-, Altgr. νέ (F) ος , Lat. novus, Aksl. n ŏ v ŭ , Lit. naujas, vgl. IEW 769 - 770). Die ursprüngliche Bedeutung dieser Koordinatoren war also „ und das, und dann, und jetzt “ , die für die Satzverbindung geeigneter waren als für die Koordination von Nomina oder jedenfalls einzelner Wörter; für die letzteren verwendet Hethitisch morphologisch leichtere Formen wie die klitischen - a- oder - ya-, „ die keinen Forstschritt in der Handlung bedeuten “ (Friedrich 1960: 155). Widmer (2009) vergleicht die Verknüpfung des Konnektors nu mit der der enklitischen Partikel - (y)a und - (m)a und findet heraus, dass der erstere Topik und Fokus verbindet, die nicht in demselben Satz stehen und eine informationale Reihung und Begebenheit ausdrücken, während - (y)a und - (m)a eher als Fokalpartikel verwendet werden. Im Allgemeinen ist der Wandel von zeitlichen Adverbien zu Satzadverbien und Konjunktionen sprachübergreifend üblich (vgl. Brinton 1996); z. B. hat das Mohawk (Irokese) einen Satz-Konnektor tahnu, der aus der Diskurspartikel tá: und aus dem nú: wa „ jetzt “ besteht (Mithun 2003: 569). Die klassischen Grammatiker betrachteten zwar die Konjunktion als einen bloß syntaktischen Operator (Arist. ὁ [. . .] σύνδεσμος ἓν ποιεῖ τὰ πολλά „ die Konjunktion macht viele Ausdrücke zum einen einzelnen Ausdruck “ ), aber das hängt damit zusammen, dass Aristoteles sich für Logik interessierte und deswegen nur die kombinatorische Funktion der 43 Ein koordinierender Urprung wurde auch für die lateinische konsekutive Konjunktion ut vorgeschlagen (Hamp 1982; contra Ehrenfeller 1995), und zwar aufgrund des Vergleichs mit dem Indoiranischen uta „ und “ wie auch der Tatsache, dass der negative Konsekutivsatz die zusammengesetzte Konjunktion ut non hat, die weniger grammatikalisiert ist als die negative Form des finalen Satzes ne. Der Unterschied zwischen negativen Konsekutivsätzen und negativen Finalsätzen sei ein Hinweis darauf, dass die konsekutive Konjunktion ut nur ein Homophon der finalen Konjunktion ut hat, für die der Ursprung vom Relativstamm *k w óhingegen anerkannt wird. Es ist bedeutsam, dass der Konsekutivsatz im Lateinischen anders als der Finalsatz keiner consecutio temporum folgt und deshalb zumindest synchron eine parataktische Verteilung mehr hat als der Finalsatz. 74 <?page no="75"?> Konjunktionen berücksichtigte. In Texten finden wir eine ganz andere Situation. Der älteste Koordinator, den man rekonstruieren kann, ist uridg. *k w e, der den unbetonten und nachgestellten Formen τε des Altgriechischen, - que des Lateinischen und ca des Indoiranischen zugrunde liegt. Synchron haben diese Konjunktionen eine besondere Beziehung zu Nominalia (Gonda 1954; 1957): Koordination von komplexen Satzgliedern, Verben oder Sätzen ist nicht unmöglich, aber relativ selten, wie Dunkel (1982) durch eine Zählung des bisyndetischen Koordinators τε bei Homer beweist. Nach Klein (1985) ist die bevorzugte Verteilung von *k w e mit Nominalia nur ein Epiphänomen ihrer älteren Bildung im Vergleich zu den betonten Koordinatoren. Klein stellt die Hypothese auf, dass ursprünglich der Koordinator *k w e sowohl Nomina als auch Verben oder Sätze in seinem Umfang haben konnte, und zwar auf dieselbe Weise wie Englisch and. Die synchrone Spezialisierung von *k w e mit Substantiven (und besonders mit einzelnen Substantiven, die keinen Modifikator zeigen) hänge damit zusammen, dass die Verknüpfung einzelner Substantive sich einfacher ins Gedächtnis einprägt, während längere Konstituenten und besonders Sätze sich nicht so gut etablieren. Diese Interpretationen sind nicht notwendigerweise inkompatibel: Klein kann Recht haben, was die Diachronie der Konjunktion *k w e angeht, d. h. im Urindogermanischen hätte diese Form möglicherweise auch die Funktion eines Satz-Koordinators. Aber synchron in den Sprachen, die beide besitzen, ist klar, wie Gonda (1954; 1957) und Dunkel (1982) zeigen, dass die Funktion der Koordinatoren der Substantive für *k w e üblicher ist. Dagegen wird die Satzverbindung vorwiegend von betonten und vorangestellen Koordinatoren wie Vedisch utá, Altgriechisch καί und Lateinisch et vertreten, deren Bildung später ist. Es ist also möglich, dass die alten idg. Sprachen verschiedene Ressourcen für Satz-Koordination und Nomen-Koordination hatten, wie es heutzutage in vielen nicht-idg. Sprachen der Fall ist. Außerdem hat Dunkel (1982) contra vorherige Annahmen dargelegt, dass in verschiedenen idg. Sprachen der monosyndetische Koordinator *k w e ursprünglich viel häufiger vorkommt als seine bisyndetische Darstellung, und dass ein Wandel vom monosyndetischen zum bisyndetischen *k w e stattfindet. Das stimmt mit der Tatsache überein, dass die meisten alten idg. Sprachen ursprünglich keine polyrhematischen Koordinatoren wie „ sowohl . . . als auch “ , „ entweder . . . oder “ , „ weder . . . noch “ hatten, denn solche Ausdrücke, die man in den modernen idg. Sprachen findet, setzen eine gewisse Grammatikalisierung der koordinierenden Merkmale voraus. Wenn zwei Konstituenten verbunden wurden, konnten die alten idg. Sprachen den Konnektor wiederholen, wie Hethitisch - a- . . . - a für „ sowohl . . . als auch “ oder l ē . . . l ē für „ weder. . . noch “ (Friedrich 1960: 155), aber diese Wiederholung blieb optional und offen für ein gewisses Experimentieren. 75 <?page no="76"?> Koordinatoren waren nicht nur mit verschiedenen syntaktischen Kategorien verbunden, sondern sie konnten manchmal auch verschiedene Bedeutungen haben. Das gilt sogar für die älteste und grammatikalisierteste koordinierende Struktur *k w e. Das synchrone Nebeneinander der unbetonten Form *k w e und eines betonten Koordinators wie et im Lateinischen, καί im Altgriechischen und utá im Indoiranischen kann dem Gegensatz entsprechen, der in vielen Sprachen der Welt als „ natürliche Koordination “ (natural coordination, vgl. Wälchli 2005) und „ gelegentliche Koordination “ (accidental coordination) erscheint. Die natürliche Koordination involviert Wortpaare, die eine begriffliche Einheit im Erfahrungsbereich einer Sprachgesellschaft darstellen, wie „ Vater und Mutter “ oder „ Himmel und Erde “ . Dagegen kommen die Mitglieder einer gelegentlichen Koordination in demselben Kontext vor, ohne derselben begrifflichen Kategorie anzugehören, wie „ Der Lehrer und sein Sohn “ , die keine automatische Beziehung miteinander haben. Sprachübergreifend wird die Funktion der natürlichen Koordination oft von Asyndeton oder von prosodisch und morphologisch leichten Formen ausgedrückt, während die gelegentliche Koordination ein explizites und auffälligeres Merkmal braucht. In den alten idg. Sprachen zeigen die Texte des Altindischen, des Altgriechischen und des Lateinischen, dass die Funktion der natürlichen Koordination besonders von der klitischen koordinierenden Konjunktion *k w e übernommen wurde. Dagegen werden monoglottisch betonte Koordinatoren häufiger für die gelegentliche Koordination verwendet, die die ursprüngliche Bedeutung „ und dann “ haben (für eine quantitative Analyse der Daten, vgl. Viti 2006; 2010 a; Orlandini & Poccetti 2007). Den funktionellen Unterschied kann man in den folgenden Beispielen aus dem Altgriechischen sehen. (2.23) ἥ οἱ βρῶσίν τε πόσιν τε / παρτιθεῖ „ die ihm sein Essen und Trinken / vorsetzt “ (Hom. Od. 1.191 - 92; Übersetzung Voß 1943 b: 8) (2.24) ἔχων πήληκα καὶ ἀσπίδα καὶ δύο δοῦρε „ mit Helm und Schild und zwoen Lanzen bewaffnet “ (Hom. Od. 1.256; Übersetzung Voß 1943 b: 9) Da Ved. utá, Altgr. καί , Lat. et die klitischen Koordinatoren ca, τε bzw. - que diachron verdrängen, ist es verständlich, dass sie synchron auch die natürliche Koordination ausdrücken können. Die klitischen Formen hingegen erscheinen seltener im Bereich der gelegentlichen Koordination, was auf einen echten funktionellen Unterschied zwischen den beiden Serien von Koordinatoren hinweist. Die in der Sprachtypologie übliche Opposition zwischen natürlicher und gelegentlicher Koordination ist also auch für die alten idg. Sprachen relevant. 76 <?page no="77"?> Dieselben funktionellen Prinzipien können in den alten idg. Sprachen auch dem unterschiedlichen Gebrauch des Asyndetons und eines expliziten Koordinators zugrunde liegen. Das ist der Fall im Hethitischen, wo asyndetische Satzglieder normalerweise eine enge begriffliche Verbindung darstellen, während ein expliziter Koordinator auch der Funktion der gelegentlichen Koordination entspricht. Friedrich (1960: 154) erwähnt die folgenden Beispiele des Asyndetons: atta š anna š „ Vater und Mutter “ , LUGAL SAL.LUGAL „ König und Königin “ , ERÍN ME Š AN Š U.KUR.RA ME Š „ Fußtruppen und Wagenkämpfer “ , arah ˘ zen ēš ant ū r ēš „ ausländische und einheimische “ , mallanzi h ˘ arranzi „ sie mahlen und zerstoßen “ , adanna akuuanna „ zu essen und zu trinken “ . Obwohl die Opposition zwischen natürlicher und gelegentlicher Koordination zur Zeit Friedrichs noch nicht identifiziert war, interpretierte dieser Forscher solche Wortpaare in der gleichen Art wie das, was heutzutage für natürliche Koordination gehalten wird; in Bezug auf atta š anna š sagt er: „ Vater und Mutter (= Eltern) “ ; in Bezug auf LUGAL SAL.LUGAL „ König und Königin, das Königspaar “ . Hoffner & Melchert (2008: 401 ff) berücksichtigen Asyndeton eher zwischen verschiedenen Sätzen als zwischen verschiedenen Satzgliedern, aber die zitierten Beispiele für Satzglieder gehen in dieselbe Richtung: ezzan GIS-ru „ Stroh (und) Holz “ , GUD UDU „ Vieh (und) Schafe “ . Also darf der Vergleich zwischen den alten idg. Sprachen und dem Standard Average European im Bereich der Koordination nicht so hoch eingeschätzt werden, weil Koordinatoren in den beiden Bereichen eine sehr unterschiedliche Verteilung haben. In den alten idg. Sprachen erlaubte die Verbindung von Wörtern oder Sätzen viel mehr Variation in Asyndeton, lexikalischer Wiederholung und Gebrauch grammatischer Konnektoren. Einerseits hatte das Asyndeton einen viel breiteren Umfang in den frühesten Sprachstufen des Indogermanischen (Viti 2010 a), andererseits waren Koordinatoren den Adverbien viel ähnlicher, und wie von Dunkel (1979; 1982) gezeigt konnte die Iteration der Präverbien dieselbe Funktion wie eine koordinierende Konjunktion haben. Wegen ihrer oft noch transparenten adverbialen Funktion hatten die Konjunktionen der alten Sprachen auch eine ziemlich freie Stellung, und sie konnten auch selektive Beschränkungen in Bezug auf die verknüpften Elemente haben, während in den modernen idg. Sprachen Adverbien und Koordinatoren meistens morphologisch und syntaktisch voneinander unterschieden werden. Der Koordination der alten idg. Sprachen scheinen viele nicht-idg. Sprachen wie das Cayuga oder das Mohawk ähnlich zu sein, in denen Asyndeton und Intonation übliche Verfahren für die Verbindung sind (Mithun 1988; 2003). Mit diesen nicht-indogermanischen Sprachen haben die alten idg. Sprachen eine grundsätzlich mündliche Kultur gemeinsam. Die Verknüpfung in einer oralen Kommunikation ist oft asyndetisch oder mindestens noch nicht so grammatikalisiert, weil die Intonation zur Verfügung steht, und weil 77 <?page no="78"?> außerdem viele Informationen implizit gelassen und über den breiteren außersprachlichen Kontext erschlossen werden können. Die Möglichkeit einer impliziten und vom Kontext erfassbaren Kodierung haben wir oben (§ 2.3.2.1) bei den Proformen der alten idg. Sprachen beobachtet, die wie Konjunktionen oft eine Variation zwischen betonten und klitischen Formen zeigen (§ 5.6). Das hat mit der Tatsache zu tun, dass neben Adverbien auch Pronomina häufige lexikalische Quellen der Konjunktionen sind und dass der adverbiale Ursprung einer Konjunktion schließlich oft auf die erstarrte Form eines Pronomens oft zurückgeht. Das ist für eine Menge vedischer Konnektoren typisch, wie z. B. átra, átha, ádha, ā ´d, evá, evám, tátas, táth ā , tád, die zwar für Satzverbindungen benutzt werden können, ihre adverbiale Funktion jedoch noch deutlich zeigen und zu verschiedenen Stämmen vom Demonstrativpronomen gehören. Natürlich sind Konnektoren nicht in allen alten idg. Sprachen gleich konservativ. Während Hethitisch und Indoiranisch die adverbiale Funktion der Konjunktionen am meisten bewahren, erscheint eine gewisse Grammatikalisierung der Konnektoren im Altisländischen, dem die dreiteilige Koordination einer modernen europäischen Sprache zugewiesen wird: „ Wie im Neuhochdeutschen ist kopulative und disjunktive Koordination zu unterscheiden: Die verbreitetsten Konnektoren sind ok ‚ und ‘ , en ‚ aber, und ‘ sowie eða ‚ oder ‘“ (Nedoma 2006: 126). Anders als die meisten alten idg. Sprachen besitzt Altisländisch sogar feste Ausdrücke für die zweigliedrige nicht wiederholte Koordination bei Formen wie bæði . . . ok „ sowohl . . . als auch “ , annattveggja . . . eða „ entweder . . . oder “ , hvárki . . . né „ weder . . . noch “ . Außerdem hat es polyrhematische Konnektoren, sowohl in Koordination als in Unterordnung, wie því at, af því at, fyrir því at, með því at „ weil “ , die eine Kombination zwischen pronominalen Formen (því „ dieses “ : DAT.N.SG), der Konjunktion at „ dass “ und verschiedenen Präpositionen sind. Das könnte darauf hinweisen, dass die Ursprünge der Koordinatoren des Standard Average European in den ältesten Stufen eher in den germanischen als in den romanischen Sprachen zu suchen sind. 2.3.2.3 Nomenadjunkte Nomenadjunkte sind nach Schachter & Shopen (2007: 40 ff) jene Wörter, die eine phrasale Konstituente zusammen mit dem Nomen bilden wie Artikel, Quantifikatoren, Klassifikatoren und Rollenmarker (d. h. Kasusmarker, Diskursmarker und Adpositionen). Die meisten dieser Wortarten fehlten oder waren beschränkt in den alten idg. Sprachen. Die Zugehörigkeit der Kasus, der Präpositionen und der Artikel zu derselben Kategorie der Nomenadjunkte erklärt, warum ein Wandel im Kasussystem oft einen Einfluss auf das System der Präpositionen oder der Artikel hat. Z. B. hatte das homerische Griechisch keinen echten bestimmten Artikel, denn die 78 <?page no="79"?> Formen ὁ , ἡ , τό funktionierten mehr wie Demonstrativpronomina 44 , und gleichzeitig waren PP noch nicht voll entwickelt, da Präpositionen oft ihre adverbiale Bedeutung bewahrten. Im klassischen Griechisch hingegen findet man sowohl den bestimmten Artikel - das Altgriechische ist tatsächlich die erste idg. Sprache, in der der bestimmte Artikel belegt ist - als auch echte PP, wo Präposition und Ergänzung nebeneinanderliegen. Besonders häufig ist der Wandel vom Gebrauch der Kasus zum Gebrauch der Präpositionen, der auch das Thema einer interessanten Studie von Hewson & Bubenik (2006) ist. Zuerst verstärken die Präpositionen die Bedeutung eines Kasus, ohne einen spezifischen Kasus auszuwählen: man kann ein und dieselbe Präposition mit mehr als einem Kasus finden. Normalerweise drückt das Nebeneinander von zwei Kasus den Kontrast zwischen einer statischen Bedeutung und einer dynamischen Bedeutung aus, wie im Fall des Kontrasts zwischen dem Dativ-Lokativ und dem Direktiv im Althethithischen (Hoffner & Melchert 2008: 260 ff), zwischen dem Ablativ und dem Akkusativ im Lateinischen (Hofmann & Szantyr 1965: 214 ff) oder zwischen dem Dativ und dem Akkusativ in den germanischen Sprachen. Doch weitere, subtilere Funktionen können durchaus vorkommen, besonders im Altgriechischen (vgl. Luraghi 2003 b; Bortone 2010) und im Altindischen (Gaedicke 1880; Speyer 1886: 113 ff; 1896: 24 ff; Delbrück 1888: 432 ff). Später wird die Kombination zwischen einer Präposition und einem Kasus immer enger, sodass eine gewisse lokale Beziehung nicht mehr vom Kasus allein, sondern von der ganzen Gruppe - Präposition und Kasus gemeinsam - ausgedrückt wird. Schließlich kann der Kasus auch verfallen, wenn die Beziehung zwischen Kasus und Präposition völlig vorhersagbar wird. Das geschah in der Geschichte aller idg. Sprachen, wie Meillet (1921) und neulich Hewson & Bubenik gezeigt haben: „ The lack of case contrasts in the PP leads to the redundancy of the prepositional case itself, which may lead to ist disappearance “ (2006: 361). Dagegen werden die Kasus besser bewahrt, wenn sie auch allein, ohne die notwendige Begleitung der Präpositionen benutzt werden können: „ The retention of prepositionless usage, not only of Genitives and Datives, but also of Instrumentals and Locatives, is an observable factor in the retention of nominal case “ (ib.; vgl. auch Blake 2001: 175ff; Kulikov 2006; Heine 2009; Sato 2009). 45 44 Wir zitieren die Worte von Meillet, der in seinem Aperçu dem Phänomen der création de l ’ article ein ganzes Kapitel widmete: „ La langue homérique ignore l ’ article. Sans doute le démonstratif qui a fourni l ’ article grec est fréquent chez Homère, et plusieurs constructions rappellent l ’ usage fait ensuite de l ’ article, ainsi τὰ πρῶτα A 6 “ , und trotzdem „ Chez Homère, ὁ a une valeur démonstrative souvent forte, toujours appréciable. Dans la plupart des cas, ὁ sert à renvoyer à une notion connue soit par ce qui vient d ’ être indiqué soit par la situation. “ (1948: 180) 45 Natürlich muss man im Wandel von der Reduzierung oder dem Verlust der Kasus zur Verstärkung oder Entstehung der Präpositionen zwischen verschiedenen Kasus 79 <?page no="80"?> Weniger deutlich ist hingegen der Nexus zwischen dem Verfall der Kasus und der Entstehung des Artikels. Denn die Funktion des Artikels, d. h. die Bezeichnung der Definitheit, 46 wird eigentlich nicht von Kasus ausgedrückt, und umgekehrt wird die Funktion der Kasus, d. h. die syntaktische Beziehung eines Nomens mit dem Verb in einem Satz, nicht vom Artikel ersetzt. Es gibt Sprachen wie das klassische Griechisch, wo der Kasus sowohl durch den Artikel als auch durch das Nomen dargestellt wird, und Sprachen wie das Italienische, wo weder der Artikel noch das Nomen eine Kasusmarkierung haben. Mindestens für die alten idg. Sprachen ist m. E. die Beziehung zwischen Artikel und Kasus aber gültig: die alten idg. Sprachen, die mehr Kasus bewahren, haben keinen Artikel, und umgekehrt erscheint der Gebrauch des bestimmten Artikels besonders in denjenigen Sprachen, wo der Synkretismus am weitesten fortgeschritten ist. Die Schwelle ist im Indogermanischen die Anzahl von 6 Kasus 47 : der bestimmte Artikel fehlt in den alten idg. Sprachen, die 8 Kasus (wie und verschiedenen Präpositionen unterscheiden. Die am frühesten verfallenden Kasus sind diejenigen, die eine adverbiale Bedeutung ausdrücken. Abstraktere Kasus wie Nominativ und Akkusativ hingegen konnten auch in mehr Kontexten vorkommen (alle Prädikate außer einigen Impersonalia verlangen ein implizites oder explizites Subjekt, und das direkte Objekt ist häufiger als das indirekte Objekt oder andere Oblique), und ihre Häufigkeit ist auch ihr Schutz vor dem Verfall. Auf dieselbe Weise haben nicht alle Präpositionen dieselben Chancen, einen Kasus zu ersetzen. Die Präpositionen, die ihre lokale oder direktionale Bedeutung bewahren, sind normalerweise auch prosodisch und morphologisch voller und zeigen eine ähnliche Verteilung wie echte Adverbien. Ein Unterschied zwischen primären und sekundären Präpositionen wird in der Grammatik verschiedener idg. Sprachen explizit anerkannt. Im Altgriechischen können die sogenannten „ unechten Präpositionen “ (Schwyzer 1950: 533 ff) wie ἄνευ „ ohne “ oder ἕνεκα „ wegen “ nie als Präverbien erscheinen. Ein ähnlicher Unterschied kommt im Vedischen vor (Delbrück 1888: 470). Im Altirischen wird der Genitiv nur von den unechten Präpositionen regiert (Thurneysen 1946: 495 ff); Denn der Genitiv ist eine transparente Spur der ursprünglich possessiven Struktur. Hewson & Bubenik (2006) identifizieren einen Kontrast zwischen echten und unechten Präpositionen auch in der späteren Geschichte der idg. Sprachen: Im Iranischen brauchen die echten Präpositionen wie bar „ auf “ keine Ez ā fe-Konstruktion, das typische Merkmal der Modifikation, die im Mitteliranischen entsteht; Aber die Ez ā fe ist notwendig in den längeren unechten Präpositionen wie azabar „ oben “ . In einigen romanischen Sprachen wie im Italienischen ergeben nur die häufigsten Präpositionen verschmolzene Formen zusammen mit dem Artikel, die sogenannten preposizioni articolate. 46 Definitheit ist nur eine - wenn auch wahrscheinlich die wichtigste - der Funktionen, die dem bestimmten Artikel zugewiesen werden. Daneben wurden auch Vertrautheit und Individualisierung vorgeschlagen (vgl. Krámský 1972: 19ff; Himmelmann 1997: 34 ff). 47 Der schulischen Tradition folgend (vgl. Bornemann & Risch 1978: 26ff; Rubenbauer & Hofmann 1995: 25 ff) schließen wir in der Anzahl der Kasus auch den Vokativ ein, obwohl er keine syntaktische Funktion bezeichnet (siehe § 3.2.2). 80 <?page no="81"?> Hethitisch und Indoiranisch), 7 Kasus (Altkirchenslawisch und Litauisch) und 6 Kasus (Latein) haben. Dagegen existiert der Artikel in den Sprachen, die 5 Kasus (klassisches Griechisch, Albanisch und Keltisch) oder 4 Kasus haben (germanische Sprachen). Eine Ausnahme ist das klassische Armenisch, das 7 Kasus und den bestimmten Artikel hat. Doch das ist wahrscheinlich die Folge der ausgeprägten Tendenz dieser Sprache zur Grammatikalisierung der Definitheit, die im idg. Bereich am weitesten entwickelt ist - mit seinem deutlichen Unterschied zwischen einer hic-Deixis (so-Form), einer iste-Deixis (do-Form) und einer ille-Deixis (no-Form) - und die auch viel festgesetzter als im Lateinischen ist: „ Bei den Demonstrativpronomina (und den damit enger zusammenhängenden Lokaladverbien) gibt es im Arm. drei verschiedene Stämme für drei verschiedene, von der Sprechsituation abhängige und im ganzen äußerst streng auseinandergehaltene Deixisarten, die zu einem festgefügten System zusammengeschlossen sind, wie es in keiner der älteren idg. Sprachen sonst zu finden ist, und von denen eine Vielzahl von Einzelformen gebildet werden “ (Schmitt 2007: 119). Ein weiterer Beweis der besonders profilierten Deixis und Definitheit des klassischen Armenisch ist der präpositionale Akkusativ mit definiten direkten Objekten, der in anderen alten idg. Sprachen unmöglich ist (vgl. 3.3.2.2.1). Die Grammatikalisierung des bestimmten Artikels, der auf verschiedene demonstrative Quellen zurückgeht, 48 kann sich morphologisch oder syntaktisch zeigen. Der erstere Fall erscheint besonders im nachgestellten Artikel des Altisländischen, der durch ein flektierendes Morphem und deswegen mit dem Nomen gebunden ausgedrückt wird (hestr-inn „ das Pferd “ ). Den zweiten Fall kann man im Artikel des klassischen Griechisch sehen, der auch mit generischen Nomina vorkommen kann. Nach Greenbergs (1978) cycle of definiteness entwickelt sich der generische Gebrauch des bestimmten Artikels erst spät, wenn die Funktion der Definitheit des 48 Der Wandel von einer Form des distalen Demonstrativpronomens zum bestimmten Artikel durch Kontext-Expansion und lautliche Erosion ist sprachübergreifend sehr verbreitet (vgl. Dryer 1989; Harris & Campbell 1995: 341 - 42; Himmelmann 1997; Diessel 1999: 128 - 29; Heine & Kuteva 2002: 109 - 11; Rijkhoff 2002: 185 - 94). Die Entstehung des unbestimmten Artikels ist im Indogermanischen normalerweise später als die des bestimmten Artikels, obwohl das nicht die einzige Möglichkeit ist: Einige neoiranische Sprachen haben nur den unbestimmten Artikel, von einer Form des Numerals „ eins “ abgeleitet (Krámský 1972: 110 ff). Das ist eine übliche lexikalische Quelle für den unbestimmten Artikel, die man auch im modernen Griechisch findet (M.SG ένας , F.SG μια / μία , N.SG ένα ), in dem er sich erst in den nachklassischen Sprachstufen entwickelt. Diese Quelle hat auch massive Parallelen nicht nur im Indogermanischen (Fr. un vom Lat. unus; Engl. a/ an von one; Hindi (optional) ek vom Altind. ekáusw.), sondern auch in vielen anderen unverwandten Sprachen wie im Hebräischen oder im Tahitianischen (vgl. Dryer 2005 b). 81 <?page no="82"?> ursprünglichen Demonstrativums verblasst ist. 49 Die lange Anwesenheit eines vorangestellten Artikels ( ὁ ἵππος ) hat die griechische Sprache davon abgehalten, in neuerer Zeit den nachgestellten Artikel zu übernehmen, der eine typische Eigenschaft des Balkansprachbundes ist. Obwohl der Zusammenhang zwischen Kasus und Artikel für die alten idg. Sprachen im Großen und Ganzen richtig ist, ist er doch indirekt und wird durch die Wortfolge und wahrscheinlich auch durch prosodische Verfahren übermittelt. Jene Sprachen, die eine größere Anzahl von Kasus haben, haben oft auch eine freiere Wortfolge, da schon die Kasus die syntaktische Funktion des Nomens im Satz kodieren (vgl. Neeleman & Weerman 2009; Siewierska & Bakker 2009). 50 Deshalb kann Definitheit bzw. Indefinitheit auch durch verschiedene Wortfolgen ausgedrückt werden. Normalerweise ist eine Sequenz „ bestimmt - unbestimmt “ die bevorzugte Wortfolge im Satz im Indogermanischen. 51 Wenn aber eine gewisse Wortfolge in einer Sprache verfestigt wird, dann braucht man eine explizite Markierung der Definitheit. Eine mögliche Beziehung lässt sich an der Tatsache ausmachen, dass das Lateinische oder das Altenglische eine freie Wortfolge und keinen Artikel haben, während das Französische oder das Englische eine festere Wortfolge und einen Artikel haben. Für diese Sprachen können wir dieselben Prinzipien annehmen, die Krámský (1972) in Bezug auf die slawischen Sprachen postulierte, die (mit Ausnahme des Bulgarischen und des Makedonischen) keinen Artikel haben: If the [. . .] Slavic languages have no article it does not mean that they are unable to express the category of determinedness vs. indeterminedness. The expedient for this expression is the position of the word in sentence which can express both determinedness and indeterminedness as for example in 49 Das Vorkommen des bestimmten Artikels mit generischen Nomina wie auch mit Eigennamen ist im klassischen Griechisch nicht obligatorisch, sondern von pragmatischen Faktoren bedingt (vgl. Napoli 2009). Es ist jedenfalls bedeutsam, dass im Griechischen generische Nomina den bestimmten Artikel bekommen können, während das in Sprachen, in denen diese Kategorie nicht so grammatikalisiert ist, unmöglich ist. 50 Die Korrelation ist aber nicht bidirektional: Nicht alle Sprachen, die wenige Kasus haben, haben auch eine feste Wortfolge. Altgriechisch ist ein Beispiel dafür: es hat weniger Kasus als Hethitisch, aber seine Wortfolge ist viel freier als im Hethitischen. Das ist ein Hinweis darauf, dass die meisten linguistischen Generalisierungen und zwar diejenigen, die in diesem Buch vorgeschlagen werden, nur in eine Richtung funktionieren. 51 Allerdings können Nominalsätze auch die umgekehrte Sequenz darstellen, vgl. RV 1.4.2 god ā ´ íd reváto mádah · in (2.17); Hier hat das vorangestellte Adjektiv god ā ´ „ rinderverschenkend “ die Funktion des Prädikats und ist fokussiert. Da Kopula- Sätze markierter sind als Sätze mit einem verbalen Prädikat, haben sie auch eine markierte Wortfolge. Über die manchmal schwierig zu interpretierende Wortfolge der Nominalsätze vgl. Bhat (1994: 176 - 178). 82 <?page no="83"?> Czech: Kniha le ž í na stole ‚ The book is on the table ‘ and Na stole le ž í kniha ‚ There is a book on the table ‘ (= On the table is a book). The free word order in Slavic languages makes possible the full use of functional sentence perspective for the aims of expressing the opposition determination vs. indetermination. (Krámský 1972: 191) Dieselbe Komplementarität zwischen der Abwesenheit des Artikels und der Flexibilität der Wortfolge wird von Krámský auch für das Finnische vorgeschlagen, in dem die definite NP wie im Slawischen vor dem Verb steht, und seine Beobachtung wurde auch von Chestermann (1991: 142 ff) in einer kontrastiven Studie zur Definitheit im Finnischen und im Englischen bestätigt. Der Vergleich mit den modernen Sprachen beleuchtet die Verteilung des Artikels in den alten idg. Sprachen und zeigt auch, dass der Artikel sprachübergreifend ein Rarum ist ( „ Definitartikel im engeren Sinne - also grammatische Elemente, die sich syntaktisch und semantisch so verhalten wie die so bezeichneten Elemente in westeuropäischen Sprachen - gibt es nur in wenigen Sprachen “ , Himmelmann 1997: 5). Also ist auch das Fehlen des Artikels im Urindogermanischen ebenso wie die Abwesenheit der Satz-Proformen (§ 2.3.2.1) ein wesentlicher Unterschied zum Standard Average European und eine Gemeinsamkeit mit vielen nicht-indogermanischen Sprachen. 2.3.2.4 Verbadjunkte Verbadjunkte bilden eine phrasale Konstituente mit dem Verb und sind Verbalpartikeln (auch Präverbien genannt) wie Dt. auf in aufhören und Hilfsverben wie Dt. sein, haben, können (Schachter & Shopen 2007: 40 ff). Die Zugehörigkeit der Verbalpartikeln und der Hilfsverben zu derselben Kategorie der Verbadjunkte ist auch darin begründet, dass beide dieselbe Funktion des Aspekts ausdrücken können. Wie Nomenadjunkte waren in den alten idg. Sprachen auch Verbadjunkte abwesend oder selten. Es ist bekannt, dass Verbalpartikeln im Urindogermanischen noch nicht entwickelt waren. Das homerische Griechisch und das Indoiranische u. a. belegen sie in der Form von räumlichen Adverbien mit einer stativen oder direktionalen Funktion. In der Tmesis konnten sie allein und entfernt vom Verb stehen, mit dem sie keine lexikalisierte Kombination ergaben ( „ à l ’ origine le préverbe était indépendant du verbe et pouvait en rester séparé; il l ’ est encore plus ou moins en indo-iranien. [. . .] Une tendance générale dans toutes les langues aboutit à souder le préverbe au verbe; mais la langue grecque ancienne, surtout la langue homérique, présente encore de nombreux cas où la soudure n ’ est pas faite “ , Meillet & Vendryes 1979: 199 - 200; vgl. § 2.3.1.2). Der Gebrauch verbaler Partikeln mit einer perfektivierenden Funktion, die wir im klassischen und nachklassischen Griechisch und in den germanischen Sprachen finden, ist eine Neuerung, die in den slawischen Sprachen (vgl. Vaillant 83 <?page no="84"?> 1977: 30 ff) ein besonders produktives Verfahren der Wortbildung ist, z. B. Altkirchenslawisch biti „ schlagen “ vs. u-biti „ töten “ . Die Entstehung der Hilfsverben ist auch monoglottisch: obwohl dieselben oder ähnliche Prädikate wie „ sein “ oder „ haben “ in den verschiedenen idg. Sprachen benutzt werden, ist das eine unabhängige Drift, 52 die nicht auf die idg. Sprachfamilie beschränkt ist. Denn Hilfsverben zeigen die Grammatikalisierung besonders häufiger Verben, die einen geringen semantischen Inhalt besitzen und deshalb für eine Expansion in mehreren Kontexten geeignet sind (Kuteva 2001). Einige alte idg. Sprachen bewahren den ursprünglichen Zustand gut und zeigen keine oder wenige Hilfsverben wie das Vedische, das Altgriechische und auch das Lateinische, in dem die Verben esse und habere zumindest bis zur späten Periode ihre Bedeutung von Existenz / Zugehörigkeit bzw. Besitz ausdrücken (über gelegentliche Vorläufer periphrastischer verbaler Strukturen in diesen Sprachen siehe Drinka 2013). Dementsprechend fehlen Hilfsverben auch in der Tradition der klassischen und der indischen Grammatiker ( „ le concept de verbes auxiliaires était inconnu de l ’ antiquité “ , Brøndal 1948: 27). In anderen alten idg. Sprachen hingegen funktionieren einige Prädikate bereits als Auxiliare und verlangen eine nicht-finite Form des Verbs. Das passiert z. B. im Hethitischen, im Altisländischen und im klassischen Armenisch. 53 Das Altisländische, in dem der Infinitiv auch einen vielfältigen Gebrauch hat, belegt mehrere analytische Strukturen für das Perfekt (ek hefi kallat „ ich habe gerufen “ ; ek em farinn „ ich bin gefahren “ ), das Futur (ek mun mæla „ ich werde sprechen “ ), das Passiv (ek em/ verð kallaðr „ ich werde gerufen “ ) und für verschiedene Modalausdrücke (ek vil/ kann/ skal sigla „ ich will/ kann/ soll segeln “ ), vgl. Gordon (1956: 313 - 14); Faarlund (2004: 127 ff); Nedoma (2006: 108 ff); Barnes (2008: 152 ff). Das Nebeneinander des Hilfsverbs und des Vollverbs stellt die Neigung zur syntaktischen Analyse dar, deren Abwesenheit im Urindogermanischen von der reichen Morphologie des Verbs ersetzt wurde: denn „ in languages that lack auxiliaries, the equivalent meanings are often expressed by verbal affixes “ (Schachter & Shopen 2007: 43). Es ergibt sich also eine gewisse Konkurrenz zwischen Modi und Tempora einerseits und Hilfsverben andererseits, sodass die Verteilung der Modi und der Tempora in den Sprachen umgekehrt proportional zu der Verteilung der Hilfsverben sein kann. Die alten idg. Sprachen, die mehr Modi und 52 Drift ist hier wie bei Sapir (1921) gemeint, d. h. als ein Wandel, der unabhängig in verschiedenen Sprachen vorkommt. 53 Das bedeutet nicht, dass Hilfsverben in diesen Sprachen in der Argumentstruktur des Satzes gleich integriert sind. Das periphrastische Perfekt des klassischen Armenisch zeigt das logische Subjekt im Genitiv und bewahrt deshalb noch die ursprünglich adnominale possessive Struktur: nora ē bereal (er: GEN ist getragen) „ er hat getragen “ , vgl. Benveniste (1952). 84 <?page no="85"?> Tempora haben, haben oft auch keine oder wenige Hilfsverben und periphrastische Verbalformen, und diesbezüglich ist Altgriechisch das typischste Fallbeispiel. Das Altgriechische zeigt 6 Modi ( ἔγκλισις „ Neigung, Umbiegung “ ), wovon 4 finit und 2 infinit sind. Die finiten Modi sind der Indikativ ( ὀριστική , z. B. 1SG παιδεύ ω „ ich erziehe “ , 2SG παιδεύ εις ), der eine wirkliche Tätigkeit bezeichnet (modus realis), der Konjunktiv ( ὑποτακτική , z. B. παιδεύ ω , παιδεύ ῃς ) mit der Funktion eines Wollens, der Optativ ( εὐκτική , z. B. παιδεύ οι μι ) mit der Funktion eines Wünschens, der Imperativ ( προστακτική , z. B. παίδευ ε ) für ein Gebot oder Verbot, im letzteren Fall mit der prohibitiven Partikel μή . Außerdem könnte man für das homerische Griechisch (und für das Indoiranische, vgl. Hoffmann 1967) auch den Injunktiv hinzufügen, der von einem formalen Standpunkt aus ein Präteritum ohne Augment ist. Die nicht-finiten Modi sind der Infinitiv ( ἀπαρέμφατον , z. B. παιδεύ ειν ) und das Partizip ( μετοχή , z. B. παιδεύ ων , παιδεύ ουσα , παιδεῦ ον ), vgl. Duhoux (2000), Malter (2004). Bemerkenswert ist das Nebeneinander des Konjunktivs und des Optativs: das Altgriechische und das Indoiranische sind diejenigen alten idg. Sprachen, in denen die beiden ererbten Modi am besten bewahrt sind (im Tocharischen und im Albanischen, in denen der Konjunktiv ebenfalls vom Optativ unterschieden ist, werden diese Kategorien oft durch erneuerte Strukturen ausgedrückt). Die anderen alten idg. Sprachen hingegen haben das uridg. Modalsystem vereinfacht und zeigen manchmal Spuren der verlorenen Modi in lexikalisierten Verbalformen. Die Grammatikalisierung des lateinischen Konjunktivs ist besonders deutlich in seinem Gebrauch als typischer Modus der Nebensätze, sogar in faktischen Nebensätzen wie den konsekutiven (wahrscheinlich in Analogie zu Finalsätzen, die von einem semantischen Standpunkt aus unfaktisch und deshalb für eine nichtindikative Kodierung auch geeigneter sind). 54 Vereinfachungen erscheinen zwar auch in der Geschichte des Griechischen und der indoiranischen Sprachen (das klassische Sanskrit hat nur den Optativ, das Mitteliranische und das moderne Griechisch haben nur den Konjunktiv), aber in den ältesten Stufen dieser Sprachen waren beide Modi produktiv. Wie Bybee et al. (1994: 213) bemerken, „ Mood contrast is meaning bearing “ , und einen funktionalen Unterschied kann auch die Konkurrenz zwischen Konjunktiv 54 Die Benennung ὑποτακτική ( ἔγκλισις ) zeigt aber, dass auch im Altgriechischen der Konjunktiv zumindest in der Sichtweise der Grammatiker alexandrinischer Zeit für den typischen Modus der Unterordnung gehalten wurde. Im Allgemeinen ist es immer schwierig, die Auffassung eines Phänomens in einer alten Sprache von den grammatischen Beschreibungen späterer Epochen zu trennen. Dieses Problem ist besonders virulent in der indischen grammatischen Tradition, in der die Ungenauigkeit der Chronologie eine zusätzliche Komplikation ist (siehe Fußnote 21). 85 <?page no="86"?> und Optativ ausdrücken. Nach Delbrück (1888: § 172; 1897: 365 ff) bezeichnet der Konjunktiv einen Willen und der Optativ einen Wunsch, und die Wahl zwischen diesen Modi hängt auch von der grammatischen Person, vom Prädikat und vom Kontext ab (vgl. Wackernagel 1926: 232; für eine neue Interpretation des vedischen Konjunktivs siehe auch Tichy 2006). Das Altgriechische ist auch sehr reich an Tempora ( χρόνοι ), von denen es in dieser Sprache sieben gibt: im Aktiv haben wir Präsens ( ἐνεστώς , z. B. παιδεύ ω ), Imperfekt ( παρατατικός , z. B. ἐ παίδευ ο ν ), Aorist ( ἀόριστος , z. B. ἐ παίδευ σα ), Futur ( μέλλων , z. B. παιδεύ σω ), Perfekt ( παρακείμενος , z. B. πε παίδευ κα ), Plusquamperfekt ( ὑπερσυντέλικος , z. B. ἐ πε παιδεύ κειν ), Perfektfutur ( τετελεσμένος μέλλων , z. B. πε παιδευ κὼς ἔσομαι ). Alle diese Verbformen sind synthetisch, flektierend und fusional, ohne genaue Grenzen zwischen Person und Numerus. Die einzige Ausnahme ist das Perfektfutur Aktiv ( πε παιδευ κὼς ἔσομαι „ ich werde erzogen haben “ ), aber erstens ist diese Form sehr selten, und zweitens ist das entsprechende Passiv noch synthetisch ( πε παιδεύ σ ομαι „ ich werde erzogen sein “ ). Das Hethitische zeigt die entgegengesetzte Situation zum Altgriechischen. Im Nominalsystem ist der Synkretismus der Kasus im Altgriechischen mit dem Verlust der drei adverbialen Kasus des Ablativs (zusammengefallen mit dem Genitiv), des Lokativs und Instrumentals (beide zusammengefallen mit dem Dativ) fortgeschritten. Dagegen bewahrt das Hethitische die idg. nominale Morphologie sehr gut: abgesehen von der Abwesenheit des Femininums, die in der Literatur als ein archaisches Merkmal oder eine Neuerung noch umstritten ist (vgl. § 3.8), hat das Hethitische 8 Kasus (plus einen Direktiv im Althethitischen), d. h. alle Kasus, die für das Urindogermanische rekonstruiert werden (Starke 1977; Hoffner & Melchert 2008: 64 ff); diese konservative Situation ist nur noch im Indoiranischen belegt. Dementsprechend erscheint der Artikel im Altgriechischen, aber nicht im Hethitischen, vgl. § 2.3.2.3. Außerdem ist das Hethitische eine der wenigen idg. Sprachen (sogar mehr als das Indoiranische), in denen die heteroklitischen -r/ -n-Nomina produktiv sind. Das Verbalsystem hingegen erscheint seit den ältesten Sprachstufen des Hethitischen dramatisch vereinfacht. 55 Das Hethitische hat nur zwei Modi 55 Hier folgen wir der traditionellen Rekonstruktion, nach der das Verbalsystem des Altgriechischen und Indoiranischen, insbesondere der von diesen Sprachen belegte Unterschied zwischen Aorist und Perfekt, vom Urindogermanischen ererbt und im Anatolischen wie auch in anderen Genera wie Italisch, Baltisch, Slawisch, Germanisch, klassischem Armenisch und Keltisch reduziert wurde (vgl. Szemerényi 1990: 230 ff) - das bedeutet natürlich nicht, dass alle Verbalkategorien des Altgriechischen und des Indoiranischen vom uridg. Alter sind, weil einige davon wie z. B. das Futur spät und wahrscheinlich monoglottisch gebildet wurden. Nach einer alternativen Hypothese hingegen spiegelt das anatolische Verbalsystem eine archaische Sprachstufe, als das Urindogermanische von wenigen verbalen Kategorien charakterisiert 86 <?page no="87"?> (Indikativ und Imperativ) und zwei Tempora (Präsens und Präteritum), vgl. Oettinger (1979). Das Hethitische ist tatsächlich diejenige alte idg. Sprache, in der die Vereinfachung des Verbalsystems am stärksten fortgeschritten ist, und das könnte m. E. im Zusammenhang mit der Tatsache stehen, dass das Hethitische auch die einzige alte idg. Sprache ist, für die wegen der Konkurrenz zwischen synthetischen und analytischen Formen sowohl Hilfsverben als auch Serialverben belegt sind. Das hethitische Verb hark „ haben “ drückt nicht nur Besitz aus, sondern es ist auch ein echtes Hilfsverb, das resultative und präteritale Funktionen hat, ähnlich dem Verb habeo des Spätlateinischen (Boley 1984). Serialverben sind wie Hilfsverben periphrastische Strukturen: sie sind häufig und semantisch generische Prädikate wie „ nehmen “ , „ gehen “ , „ kommen “ , die zusammen mit einem Vollverb in einer Sequenz benutzt werden. Vorausgesetzt wird eine fugenlose Juxtaposition der beiden Komponenten - im prototypischen Fall geht damit eine prosodische Verschmelzung einher - mit einem einzelnen Akzent (vgl. Lord 1993; Sebba 1994; Durie 1997; Pawley & Lane 1998; Aikhenvald & Dixon 2006). 56 Serialverben sind besonders gebräuchlich in Afrika, Ostasien und Neuguinea, und Dixon (2006 a: 338) meint, dass sie keine entsprechende Struktur in Europa haben. Diese Annahme ist aber nicht völlig korrekt und scheint nur auf dem Standard Average European zu beruhen, während andere Sprachen am Rande Europas klare Beweise von Serialisierung aufzeigen. Weiss (2012) hat Serialverben im Russischen identifiziert und einem finno-ugrischen Substrat zugewiesen. Im Hethitischen erkennen Hoffner & Melchert (2008: 324 ff) die Serialverben p ā i- „ gehen “ und uwa- „ kommen “ . Dass gerade diese Verben im Hethitischen vorkommen, ist verständlich, denn „ kommen “ und „ gehen “ funktionieren ja sogar im Deutschen und Englischen beim Imperativ in Verbpaaren, vgl. Dt. Komm spiel mit mir! , Geh kauf dir ein Eis! Die hethitischen Serialverben sind eine Neuerung im Bereich des Indogermanischen. Aber das Phänomen der Analyse ist in dieser Sprache nicht auf das Hilfsverb hark und auf die Serialverben p ā i und uwabeschränkt. So war, wobei die morphologisch artikulierten Verbalsysteme des Altgriechischen und des Indoiranischen innovative Erweiterungen seien (zur Diskussion des anatolischen Verbs im Vergleich mit dem Verb der anderen alten idg. Sprachen vgl. Jasanoff 2003; Clackson 2007: 129 ff). 56 Das Fehlen eines expliziten Konnektors ist nach Hopper (2008) eine zu starke Beschränkung. Sie erlaube nicht, die funktionellen Gemeinsamkeiten zwischen den typischen Serialverben und den Konstruktionen vieler europäischer Sprachen zu begreifen, in denen die Verbindung zwischen zwei Prädikaten ein einzelnes Ereignis bezeichnet und trotzdem eine koordinierende Konjunktion „ und “ zeigen muss. Demzufolge hält Hopper auch das englische Hendiadyoin take NP and für eine aufkommende seriale Struktur. 87 <?page no="88"?> Zeilfelder (2003: 106): „ Eine Reihe von semantischen Nuancen drückt das Hethitische durch verbale Periphrasen aus, z. T. durch zwei finite Verben, z. T. aber auch durch Verben, die sich semantisch den Hilfsverben annähern und den Formen des Infinitivs oder Supinums “ . Zeilfelder erwähnt die folgenden Periphrasen: d ā i-/ tiya- ( „ setzen, legen, stellen “ ) + supinum „ mit etwas beginnen; dabei sein, etwas zu tun “ , a š nu- ( „ herrichten “ ) + inf. I „ mit etwas fertig sein “ , zinna- ( „ beendigen “ ) + inf. I „ etwas beenden, mit etwas aufhören “ , tarh ˘ ( „ besiegen “ ) + inf. I oder finites Verb „ etwas können, imstande sein, etwas zu tun “ , š anh ˘ - ( „ suchen “ ) + inf. II „ versuchen, etwas zu tun “ . Ein Beispiel dafür haben wir in der Apologie Hattusilis III. gefunden (2.25). (2.25) [(nu-kán)] LÚ KÚR ÍD Ma-ra-a š š a-an-da-an za-a-i[ š dann-PTK Feind Marassanda-Fluß: AKK überschreiten: PRÄT3SG (nu KUR URU K)]a-n[(i-e š wa-a)]l-ah ˘ -h ˘ i-e š -ki-u-wa-an da-a-i š und Land Kanes heimsuchen: SUP setzen: PRÄT3SG UR [ U (wa-al-)]ah ˘ -h ˘ [i-e š -(ki-u-)]wa-an da-a-i š heimsuchen: SUP setzen: PRÄT3SG „ Dann überschritt der Feind den Marassanda-Fluß und begann das Land Kanes heimzusuchen, [ebenso] begann er die St[adt . . .] heimzusuchen. “ (KUB I 1 + II 5 - 7; Übersetzung Otten 1981: 11) Also verweist das Hethitische darauf, dass jene Sprachen, die wenige Modi und Tempora besitzen, oft mehr Hilfsverben und periphrastische Verbalformen entwickeln. 57 Ein Wandel von Synthese zu Analyse findet im Verbalsystem der Sprachen statt, weil der Aspekt häufig als Tempus reanalysiert wird (vgl. Heine & Kuteva 2007: 90 - 91), sodass immer neue Formen für die Funktion des Aspekts benutzt werden. Am Anfang bezeichnen die grammatischen Tempora keinen Kontrast zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, sondern einen Unterschied zwischen Perfektiv und Imperfektiv. Während der perfektive Aspekt eine umfassende, globale Sicht des Vorgangs ausdrückt, wird der Vorgang im Imperfektiv (sowohl in der Verlaufsform als auch im Habituell) als in fieri betrachtet (vgl. Comrie 1976; 1985). Im Urindogermanischen gab es eine Beziehung zwischen Aoriststamm und Perfektiv einerseits und Imperfektiv und Präsensstamm andererseits, und diese Situation ist im Altgriechischen 57 Eine weitere Strategie zur Markierung der Modalität kann in den Modalpartikeln identifiziert werden. Lühr (2001) untersucht, in welcher Weise eine Sprache wie das Hethitische, das so arm an Modi ist, die Funktion der Modalität ausdrücken kann, und findet heraus, dass das sehr reiche Inventar an Partikeln für diese Funktion als Alternative zu den Modi verwendet werden kann. 88 <?page no="89"?> noch gut bewahrt (Prevot 1935; Meillet & Vendryes 1979: 197ff; Rijksbaron 2002; Lorente Fernández 2003). 58 Vgl. (2.26). (2.26) αὐτὰρ ἔπειτ᾽ αὐτοῖσι βέλος ἐχεπευκὲς ἐφιεὶς / βάλλ ( ε ) „ Doch nun gegen sie selbst das herbe Geschoß hinwendend, / traf er. “ (Hom. Il. 1.51 - 52; Übersetzung Voß 1943 a: 4) Das Verb βάλλω „ werfen, treffen “ bezeichnet per se einen punktuellen Vorgang, aber in diesem Kontext wird Apollons Werfen als eine durative Situation dargestellt, die neun Tage dauert, und deswegen haben wir das (injunktive) Imperfekt. Wenn Aspektformen zu Tempusformen werden, wie im Fall des modernen Griechisch, wo der Aorist ein echtes Präteritum geworden ist, drückt man die aspektuelle Funktion durch periphrastische Strukturen aus, die auffälliger und deutlicher sind; nach Meillet (1909) sind Hilfsverben und ähnliche Konfigurationen plus commode à manier. 59 Auf den ersten Blick könnte ein Einwand gegen die Beziehung zwischen Verlust der Modi oder Tempora und Entwicklung der Hilfsverben oder 58 Die Entwicklung von Aspekt zu Tempus betrifft normalerweise mehr den perfektiven Aspekt als den imperfektiven Aspekt, denn die erwähnten Verfahren des Hilfsverbs „ haben “ und der Präverbien sind Merkmale der Perfektivität. Die Funktion des imperfektiven Aspekts wird besser bewahrt, sodass der Präsens-Stamm in vielen idg. Sprachen sowohl den imperfektiven Aspekt als auch das gegenwärtige Tempus (hic et nunc-Präsens) bezeichnet. Z. B. bedeutet das altisländische ek mæli sowohl „ ich spreche “ als auch „ ich bin am Sprechen “ (Progressiv). Das wird durch die unterschiedliche konzeptuelle Struktur des Präteritums und des Präsens bedingt: Im Präsens ist die Interpretation des hic et nunc nur ein kleiner Teil des Bereichs der Gegenwart, und darum konnte sie die anderen Bedeutungen des Aspekts nicht einfach ersetzen. 59 Die Entwicklung von Perfektiv zu Präteritum wird durch den Begriff des Resultativs vermittelt: Das Resultativ beschreibt eine Situation, die schon vollzogen ist, aber es setzt nicht voraus, dass das Subjekt auch der Ausführende dieser Situation ist. Das wird im Substandard-Deutschen durch die Verben kriegen und bekommen ausgedrückt, die in der Alltagssprache einiger Mundarten als eine Form der Perfektivität verwendet werden. Ein Satz wie Er kriegt das Auto repariert hat zwar die perfektive Bedeutung, dass das Auto schon repariert wurde, aber er bedeutet nicht, dass der Referent des Subjekts Er selber das Auto reparierte (Glaser 2010). Perfektive Verbalformen bekommen eine resultative Funktion, und resultative Verbalformen bekommen auch in den alten idg. Sprachen eine präteritale Funktion: Es ist bekannt, dass der lateinische Satz habeo scriptam litteram mit Kongruenz in Genus, Numerus und Kasus zwischen Nomen und Partizip, immer noch die resultative Bedeutung hat, dass ich einen geschriebenen Brief bekomme, während der italienische Satz ho scritto una lettera ohne Kongruenz schon ein Präteritum bezeichnet (vgl. Harris & Ramat 1987). Schließlich sind Hilfsverben in den romanischen Sprachen am vielfältigsten: Loporcaro (2007) identifizierte neben dem Gebrauch von zwei Hilfsverben (wie im Französischen) und von einem einzelnen Hilfsverb (wie im Spanischen) auch ein dreifaches System von Hilfsverben, besonders in den Dialekten. 89 <?page no="90"?> anderer periphrastischer Ausdrücke bezüglich des Vedischen erhoben werden. Das Vedische ist sehr reich an Tempora und Modi, ähnlich wie das Altgriechische. Es hat 7 Tempora: Präsens (lat · bei P ā n· ini), Imperfekt (lan · ), Aorist (lun · ), Perfekt (lit · ), Plusquamperfekt, Futur (lr ˚ t · ) und Konditionalis (d. h. eine augmentierte Form des Futurs, lr ˚ n · ). Es hat auch 5 Modi: neben dem Indikativ gibt es den Konjunktiv (let · ), den Optativ (lin · ), den Imperativ (lot · ) und den Injunktiv; der letztere verfällt im klassischen Sanskrit (die Modi, die in den alten idg. Sprachen nicht finit sind, d. h. Partizip und Infinitiv, sind im Vedischen mehr Nomina als Verben). Trotzdem entwickelt das Vedische analytische Verbalformen wie das periphrastische Futur und das periphrastische Perfekt. Das periphrastische Futur (lut · bei P ā n· ini) besteht aus einem nomen agentis im Nominativ und dem Verb „ sein “ : d ā t ā ´smi „ ich werde geben “ , wörtl. „ ich bin Geber “ (d ā t ā ´ asmi). Das periphrastische Perfekt ist eine Konfiguration, die mit einem nomen actionis im Akkusativ und dem Perfekt des Verbs „ sein “ oder „ machen “ gebildet wird: ā s ā ´m cakre „ ich habe gesessen “ , wörtl. „ ich habe eine Sitzung gemacht “ (vgl. Whitney 1889: § 942ff; 1069ff; Delbrück 1877; 1888: 273ff; Speyer 1896: 45 ff). Diese Kategorien stimmen mit der Situation des Altgriechischen überein, wo das Perfektfutur Aktiv die einzige analytische Form des ganzen Verbalsystems war. Es ist bedeutsam, dass Perfekt und Futur dieselben Anfangspunkte für die Entwicklung der Analyse in den zwei Sprachen unabhängig voneinander sind. Anhand ihrer ähnlich guten Bewahrung der uridg. Tempora und Modi kann es seltsam erscheinen, dass das Altindische anders als das Altgriechische periphrastische Verbalformen verwendet, aber in der Praxis ist das nicht so. Erstens können die Glieder dieser periphrastischen Strukturen im Altindischen eine ziemlich freie Anordnung haben und von anderen Wörtern getrennt werden ( „ The connection of the noun and auxiliary is not so close that other words are not occasionally allowed to come between them “ , Whitney 1889: § 1072), was eine niedrige Grammatikalisierung der Periphrasen darstellt. Zweitens sind die periphrastischen Verbalformen in den ältesten Sprachstufen des Altindischen extrem selten belegt; sie verbreiten sich im klassischen Sanskrit, wo aber eine Vereinfachung der Modi mit dem Verlust des Konjunktivs einhergeht. Deshalb kann auch im Altindischen eine Synergie zwischen Modusverlust und Verbalanalyse beobachtet werden. Besonders deutlich ist der Zusammenhang zwischen dem Verlust des Konjunktivs und der Bildung des periphrastischen Futurs, da die Funktion des Wollens ursprünglich sowohl dem Konjunktiv als auch dem Futur zugrunde liegt (vgl. Bybee et al. 1994: 254 ff). Deswegen stellen das Futur und der Konjunktiv in den Sprachen der Welt häufig dieselben Formen dar, und zur Vermeidung der Redundanz fehlt dem Altgriechischen und dem Lateinischen eine Form für das Futur des Konjunktivs. Drittens ist die Situation des altindischen Verbalsystems viel weniger konservativ als die 90 <?page no="91"?> des altgriechischen Verbalsystems. Die Formen des Imperfekts, des Aorists und des Perfekts sind zwar im Vedischen wie im Altgriechischen bewahrt, aber ihre Funktionen sind schon in den ältesten Sprachstufen des Indoiranischen verdunkelt. Es ist traditionell anerkannt, dass Imperfekt, Aorist und Perfekt keinen Begriff von Aspekt im Vedischen ausdrücken, sondern schon temporale Bedeutungen haben (Delbrück 1877; 1888: 279ff; Renou 1925; Thieme 1929). Das Imperfekt und der Aorist unterscheiden sich in Bezug auf die Distanz vom Sprechakt: der Aorist entspricht einem näheren Präteritum, das Imperfekt einem entfernten Präteritum, und deswegen werden sie von den indischen Grammatikern als adyatana „ das Heute (adya) bezeichnend “ und an-adyatana „ das Nicht-Heute bezeichnend “ beschrieben. Das widerspricht sogar dem etymologischen Ursprung dieser Tempora - das Imperfekt wird vom Präsensstamm gebildet, und deshalb sollte es im Prinzip ein näheres Präteritum bezeichnen - und beweist die neue Gestalt des altindischen Verbalsystems. Oft werden das Imperfekt, der Aorist und das Perfekt in den Texten durcheinandergebracht. Es kann zwar sein, dass viel von dieser funktionalen Unbestimmtheit von den späteren Beschreibungen der indischen Grammatiker herrührt und dass einige Funktionen in Bezug auf Aspekt oder Aktionsart auch im Verbalsystem des Vedischen identifiziert werden können (vgl. Viti 2007: 104ff; Dahl 2010), doch Aspekt und Aktionsart sind jedenfalls viel deutlicher im Altgriechischen als im Altindischen. Das könnte erklären, warum die Entstehung einer festen Konfiguration mit einem Hilfsverb in der Geschichte des Altgriechischen später stattfindet als in der des Altindischen. Die Tatsache, dass das Altindische die Formen, aber nicht die Funktionen der Tempora deutlich bewahrt, zeigt, wie man vor dem Verlust einer Kategorie eine leere Kategorie hat ( „ Si une catégorie peut durer longtemps sans avoir un sens, elle ne se crée pas sans que ce soit pour exprimer un sens défini “ , Meillet 1931: 11). Leere Formen sind Beweise einer späten Stufe. 2.3.2.5 Andere geschlossene Kategorien Wenn man bezweckt, das Inventar der syntaktischen Kategorien des Urindogermanischen zu rekonstruieren, muss man diejenigen Kategorien, die nicht rekonstruiert werden können, weil sie wahrscheinlich in der Ursprache gleich von Anfang an nicht existierten, wie im Fall des Artikels und der Hilfsverben, von jenen Kategorien unterscheiden, die nicht rekonstruiert werden können, weil nur ihre Form verändert und erneuert wurde. Die im Urindogermanischen vermutlich abwesenden Kategorien sind diejenigen, deren Funktionen durch alternative Verfahren ausgedrückt wurden. Wie oben gesagt wurde die Funktion der Hilfsverben, d. h. Aspekt, Tempus oder Modalität, durch die reiche verbale Morphologie kodiert, und die Funktion des Artikels, d. h. Bestimmtheit, durch eine flexible Wortfolge 91 <?page no="92"?> (§§ 2.3.2.3, 2.3.2.4). Abwesend waren auch Existentialien (existentials), d. h. Konfigurationen mit semantisch leeren pronominalen oder adverbialen Ausdrücken wie Dt. es gibt, Engl. there is, Fr. il y a, für die die einzelne Kopula des Verbs „ sein “ genug war (Benveniste 1950). Dementsprechend gab es im Urindogermanischen keine Spaltsätze (cleft sentences), die aus einem Existential und einem Relativsatz bestehen. 60 Spaltsätze drücken den „ starken “ oder „ kontrastiven “ Fokus aus, d. h. sie stellen einen Gegensatz zwischen einem Referenten und anderen möglichen Kandidaten fest: im Spaltsatz „ Es war Johannes, der das Buch genommen hat “ wird festgestellt, dass Johannes anstelle anderer Personen das Buch genommen hat, während der informationelle Inhalt des Relativsatzes, d. h. dass jemand das Buch genommen hat, vorausgesetzt wird (Chafe 1976: 37; Hedberg 2000; Delahunty 2001; Lambrecht 2001). Spaltsätze sind gebräuchlich in Sprachen, die eine ziemlich feste Wortfolge haben: wenn die Bewegung einer Konstituente zur Anfangsstellung nicht so grammatisch oder natürlich ist, benutzt man mit Hilfe zusätzlicher Wörter eine Konfiguration, die zu geschlossenen Kategorien gehört. Es ist kein Zufall, dass Spaltsätze im Englischen und im Französischen häufiger sind als im Deutschen, Spanischen oder Italienischen, in denen die Wortfolge freier ist (Miller 1996; Doherty 2001). Aus demselben Grund können wir vermuten, dass die Abwesenheit der Spaltsätze im Urindogermanischen davon abhängt, dass ihre fokalisierende Funktion durch die alternativen Mittel der Wortfolge vollzogen wurde. Die Funktion des kontrastiven Fokus wurde in den alten idg. Sprachen von der Stellung am Anfang des Satzes ausgedrückt, in einer prosodisch und pragmatisch markierten Stellung, für die deshalb kein besonderer Spaltsatz nötig war; andere Fokus-Typen, die keinen Kontrast ausdrücken, sondern nur eine neue Information anzeigen, wurden normalerweise am Ende des Satzes platziert (§ 5.4). Dieselbe Wortfolge kann man auch in präsentativen Sätzen finden, die ein fokussiertes Subjekt einführen. Wenn ein neuer Charakter in altisländischen Texten vorgestellt wird, steht sein Name ganz am Anfang des Satzes: Ingólfr hét maðr Norr œ n „ Ein norwegischer Mann 60 Dasselbe gilt aber nicht für Pseudo-Spaltsätze (pseudo-cleft sentences), die mittels eines Relativsatzes gebildet werden (z. B. „ Was Johannes gelesen hat, (das) war ein Buch “ ). Da Relativsätze in allen alten idg. Sprachen belegt und für das Urindogermanische auch rekonstruierbar sind (vgl. Hettrich 1988), können im Urindogermanischen Pseudo-Spaltsätze auch vorkommen, und in vedischen Ś atapathabr ā hman · a u. a. sind sie häufig. Das zeigt, dass Spaltsätze und Pseudo-Spaltsätze verschiedene Entwicklungen in der Geschichte einer Sprache haben können, obwohl sie normalerweise als ähnliche Strukturen betrachtet werden, und zudem, dass Pseudo-Spaltsätze trotz ihres Namens diachron primär sind. Zu den pragmatischen Unterschieden zwischen Spaltsätzen und Pseudo-Spaltsätzen im Diskurs vgl. Prince (1978); Collins (1991). 92 <?page no="93"?> hieß Ingolf “ (Libellus Islandorum 1). Es ist bedeutsam, dass im idg. Bereich das Altirische diejenige Sprache ist, in der Spaltsätze am meisten grammatikalisiert sind: is mise adúirt é „ ich bin derjenige, der es sagte “ (Mac Eoin 1993: 137; Mac Coisdealbha 1998: 65ff; 143 ff). Denn im Altirischen ist die Wortfolge (in diesem Fall VSO) relativ fester als in anderen alten idg. Sprachen. Ganz anders ist die Situation bei den Interjektionen, d. h. bei den Wörtern, die keine syntaktische Verbindung mit den anderen Wörtern des Satzes haben, und die als ein Satz per se gelten können. Selten gibt es Übereinstimmung bei den Interjektionen der alten idg. Sprachen, und deswegen ist es sehr schwierig, mit Sicherheit die Struktur einer Interjektion des Urindogermanischen zu rekonstruieren; ein Beispiel dafür ist uridg. *wai (Heth. uwai, Aw. vaii( ō i), Arm. vay, Lat. vae, Let. vai, Got. wai, Engl. woe, Wal. gwae, Altir. fáe, vgl. Fortson 2010: 150; Beekes 2011: 250). Das bedeutet aber nicht, dass es dem Urindogermanischen an Interjektionen mangelte, denn Interjektionen sind universal: „ It is perhaps true that apart from nouns and verbs, interjections - those little words, or ‚ non-words ‘ , which can constitute utterances by themselves - are another word class found in all languages “ (Ameka 1992: 101). Ihre Nicht-Übereinstimmung in den alten idg. Sprachen hängt damit zusammen, dass Interjektionen sich wegen ihres ausdrucksvollen Wertes früher und schneller als andere geschlossene Kategorien erneuern. Das erinnert uns daran, dass sich nicht alle Kategorien mit derselben Geschwindigkeit erneuern und wir daher all jene Ansätze mit Vorsicht beurteilen sollten, die ein festes Tempo des Wandels vorschlagen, wie die Constant Rate Hypothesis (Kroch 1989; 2001) oder bezüglich des Wortschatzes die Glottochronologie (Swadesh 1951; 1972; Gudschinsky 1956; Hymes 1960; Dyen 1973; Embleton 1986), die gerade auch in der Indogermanistik bzw. Historiolinguistik (Tischler 1973; Watkins 1990: 291ff; Fox 1995: 279 ff) sowie in der Allgemeinen Linguistik (Campbell 2003: 264) angefochten wurde. Vorerst müssen also jeder Sprache Interjektionen zugewiesen werden, selbst wenn sie von der grammatischen Tradition einer alten Sprache nicht erkannt worden sind. Wie wir gesehen haben, wurden interiectiones „ Einschaltungen “ innerhalb der Kategorien der Redeteile des Lateinischen, aber nicht des Altgriechischen und des Altindischen eingeschlossen, obwohl die altindischen und besonders die altgriechischen Texte an Interjektionen und Diskurspartikeln reich sind. 61 61 In der grammatischen Tradition des Altgriechischen wurden Interjektionen innerhalb der Kategorie des Adverbs als ἄλογοι berücksichtigt, d. h. außerhalb der vernünftigen Rede ( λόγος ). Im engeren Sinne wurde diese Benennung nur auf die unveränderbaren Wörter beschränkt, die einem ganzen Satz gleichkommen können; lato sensu aber konnten sie auch weitere Partikeln einschließen (vgl. Boisson et al. 1994: 26 - 29; Holtz 1994: 84 - 88). 93 <?page no="94"?> Auch wenn Interjektionen in einem Korpus nicht oder kaum vorkommen, muss man annehmen, dass ihre Abwesenheit bzw. Seltenheit von der geschriebenen Sprache und vom gehobenen Stil bedingt sein kann (vgl. Schachter & Shopen 2007: 57). Die Rekonstruktion einer geschlossenen Kategorie im Fall nicht-übereinstimmenden Formen ist besonders umstritten für das Reflexivpronomen. Zum einen haben die meisten idg. Sprachen eine Pronominalform *se-/ s(e)we-, die sowohl betonte als auch unbetonte Varianten haben kann (vgl. IEW 882; Petit 1999). Diese Form war ursprünglich auf die dritte Person beschränkt, weil die erste und die zweite Person für die reflexive Funktion die entsprechenden Personalpronomina verwendeten, wie man z. B. im Lateinischen, im homerischen Griechisch und im Gotischen sehen kann. In den slawischen und baltischen Sprachen hingegen wurde *se-/ s(e) weauf alle drei Personen generalisiert (vgl. Vaillant 1977: 179 - 80). Außerdem hat *s(e)weim Litauischen verschiedene Varianten des Reflexivpronomens (sangr ąž inis į vardis, vgl. Senn 1966: 189 - 90; Geniu š ien ė 1987) aufgrund verschiedener syntaktischer Funktionen: Hier sind sowohl sav ę s als auch savo Genitive, aber sav ę s kommt als Ergänzung des Verbs oder der Präpositionen vor (2.27 a), während savo die attributive Funktion des Besitzes ausdrückt (2.27 b). (2.27 a) jis patrauk ė k ė d ę prie sav ę s er: NOM ziehen: PRÄT3SG Stuhl(F): AKK.SG zu sich: GEN „ Er hat den Stuhl zu sich gezogen. “ (2.27 b) jis atn ėšė savo knyg ą er: NOM bring: PRÄT3SG REFL.POSS.GEN Buch(F): AKK.SG „ Er brachte sein Buch. “ Zum anderen benutzen andere Sprachen wie klassisches Armenisch, Indoiranisch (Kulikov 2007), Tocharisch (Hackstein 2003 a) und Albanisch für die Reflexivität nominale Verfahren und besonders Nomina, die „ Körper “ , „ Seele “ oder „ Person “ bedeuten. In ihrer Grammatik der albanischen Sprachen sprechen Newmark et al. (1982: 265) über reflexive nouns wie vetja „ Person, selbst “ : i dhimset vetja „ Er bemitleidet sich selbst. “ Das Hethitische hat die reflexive Partikel - za- (vgl. Boley 1993; Oettinger 1997; Hoffner & Melchert 2008: 362 - 64), die aber keine Pronominalform darstellt und eine komplexe Semantik auch jenseits der Reflexivität hat (2.28), neulich untersucht in einer interessanten Studie von Cotticelli Kurras & Rizza (2013). Und die keltischen Sprachen haben kein Reflexivpronomen, sondern benutzen das entsprechende Anaphoricum für die Funktion der Reflexivität (Thurneysen 1946: § 485), ebenso wie das Altenglische (vgl. Keenan 2002). 94 <?page no="95"?> (2.28) A-BU-YA-an-na-a š -za m Murš i-li-i š IV DUMU HI.A Vater mein uns REFL Mursili: NOM 4 Kinder m Hal-paš u-lu-pí-in m NIR.GÁL-in m Ha-at-tuš i-li-in f DINGIR ME Š -IR-in-na Halpasulupi: AKK Muwatalli: AKK Hattusili: AKK Massanauzzi: AKK und DUMU[(.SAL-an)] h ˘ a-a š -ta Tochter: AKK zeugen: PRÄT3SG „ Mein Vater Mursili zeugte uns vier Kinder: den Halpasulupi, den Muwatalli, den Hattusili und Massanauzzi, eine Tochter. “ (KUB I 1 + I 9 - 11; Übersetzung Otten 1981: 5) Aufgrund einer solchen Unstimmigkeit behaupten einige Forscher wie Puddu (2005; 2007), dass das Urindogermanische kein Reflexivpronomen gehabt habe und die verschiedenen idg. Sprachen ihre eigenen Reflexivmerkmale unabhängig entwickelt hätten ( „ Indo-European maybe had no dedicated primary reflexive strategy, just like Hittite and the Celtic languages. This statement cannot be definitely proven but, on the basis of our analysis, it seems to be highly probably “ , 2007: 261). Puddu hat die Aufmerksamkeit richtigerweise auf die Tatsache gelenkt, dass das Reflexivpronomen *se-/ s(e)wein einigen alten idg. Sprachen wie im Altgriechischen nur für die sogenannten „ anders-gerichteten Situationen “ (other-directed situations, vgl. König & Siemund 2000) benutzt wird, d. h. für Tätigkeiten, die man normalerweise an anderen Leuten ausführt (extroverted predicates bei Haiman 1983). Das ist typischerweise der Fall für Prädikate von gewaltsamen Tätigkeiten ( „ töten “ , „ zerstören “ ), Gefühlen ( „ lieben “ , „ hassen “ ) und Mitteilungen ( „ jdm. sagen “ ). Dagegen sind „ nicht-anders-gerichtete Situationen “ (non-otherdirected situations) diejenigen, die man unter normalen Umständen auf sich selbst richtet, wie im Fall der Verben „ waschen “ oder „ kämmen “ (introverted predicates bei Haiman 1983; vgl. auch Faltz 1985). Wie Puddu (2005) bemerkt, wurden die letzteren ursprünglich nicht durch das Reflexivpronomen *se-/ s(e)weausgedrückt, sondern durch das Medium, das auch für die Funktion des reziproken Pronomens verwendet wurde (vgl. Kemmer 1993; Kaufmann 2004). Denn diejenigen Sprachen, die verschiedene Formen für Reflexivum und Medium besitzen, benutzen diese für verschiedene Funktionen, d. h. das Reflexivum für other-directed situations und das Medium für non-other-directed situations. Daher aber vermuten wir, dass gerade diese Markiertheit der Subjekt- Koreferenz in other-directed situations ein Grund dafür sein könnte, dass ihre Kontexte weniger häufig im Diskurs vorkamen und deshalb ihre Formen auch weniger Gelegenheiten hatten sich festzusetzen. Zudem sind diese außerordentlichen Situationen besonders geeignet, hinzugefügte und verstärkte Formen zu bekommen, wie man am häufigen Gebrauch der Intensifikatoren in der Geschichte der idg. Sprachen sehen kann (König & Siemund 1999; 2005). Ein Beispiel dafür ist das klassische Griechisch, in 95 <?page no="96"?> dem das ursprüngliche Reflexivpronomen ἕ durch den Intensifikator αὐτός verstärkt wird in der Form ἑαυτόν „ sich selbst “ (für Latein vgl. Lühr 2011 d). Daher stimme ich bezüglich der Annahme eines späteren Ursprungs des Reflexivpronomens nicht mit Puddu (2005) überein, denn ich glaube, dass die Form für die markierte Funktion des echten Reflexivums (d. h. Subjekt- Koreferenz bei other-directed situations) oft erneuert wird. Deshalb folgt aus der Abwesenheit einer gemeinsamen Form innerhalb der alten idg. Sprachen nicht zwingend, dass zu Beginn keine Reflexivform verfügbar gewesen wäre. Die Form *se-/ s(e)we-, die in mehreren Zweigen des Indogermanischen belegt ist, hat große Chancen, als die ursprüngliche Form (oder eine der ursprünglichen Formen) des uridg. Reflexivpronomens identifiziert zu werden. Ein weiterer Beweis dafür ist, dass auch jene Sprachen, die Nominalia wie „ Person “ , „ Körper “ oder „ Seele “ für die Reflexivität grammatikalisiert haben, die Form *se-/ s(e)wemarginal zeigen. Das Altindische hat neben den Reflexivformen tan ū ´ - „ Körper, selbst “ und ā tmán- „ Seele, selbst “ auch die Pronominalform svayám „ selbst “ (eine indeklinable Verstärkung von *swe-, die für alle Personen gebraucht wird) und die Adjektivalform svá- „ eigen “ , die auch für alle Personen gilt, jedoch auf die attributive Funktion der Reflexivität beschränkt ist (vgl. Altgr. ἑός , Lat. suus, Aksl. svoj ĭ ). Ähnlich hat das klassische Armenisch neben der Form anjn „ Person, selbst “ auch iwr, eine um - r erweiterte und auf *s(e)wezurückgehende Form (Meillet 1913: § 76), die in dem folgenden Beispiel gleich zweimal vorkommt. (2.29) ew gitac ’ Yisows y-ogi iwr, und erkennen: AOR.IND3SG Jesus: NOM in-Geist: LOK.SG REFL: GEN.SG t ’ e aynpês xorhin i sirts iwreanc ’ dass auf.diese.Weise denken: PRS.IND3PL in Herz: LOK.PL REFL: GEN.PL „ Und Jesus erkannte in seinem Geiste, dass sie so in ihren Herzen denken. “ (Mc. 2.1.8; Übersetzung Schmitt 2007: 207) 2.4 Die Synchronie der Kategorien: systembedingte Implikationen im Bereich geschlossener Kategorien Die typologische Analyse der syntaktischen Kategorien erlaubt uns zu erkennen, ob sie im Indogermanischen in einem System organisiert sind, d. h. ob man anhand der Anwesenheit oder Abwesenheit einer Kategorie auch das Vorkommen oder das Fehlen anderer Kategorien vorhersagen kann. Vor der Entdeckung implikationeller Universalien wurde eine solche Frage entweder gar nicht gestellt oder erhielt eine negative Antwort, wie bei Magnusson (1954): 96 <?page no="97"?> The different parts of speech seem to be quite independent of each other. [. . .] Thus the absence of articles and prop-words in Latin does not prevent that language from having adjectives and prepositions, although these classes have in common the expression of only one category, and though German has no prop-words, it has the other three classes. Both Latin and German also have a large number of pronouns, which class is closely related to propwords and articles. Similarly the absence (or at any rate the almost total absence) of prepositions in Finnish is compatible with the presence of adverbs and conjunctions. Nor does the existence of one sub-class of a part of speech seem to have any influence on that of another sub-class. (Magnusson 1954: 112) Mit der Typologie hingegen und besonders bei Hengeveld (1992) wird das Problem der Systematizität syntaktischer Kategorien wieder angesprochen, und schließlich werden Korrelationen im Bereich offener Kategorien identifiziert, obwohl es hier eigentlich nicht darum geht, ob eine Sprache eine gewisse Kategorie besitzt, sondern ob in einer Sprache eine offene Kategorie für eine Funktion - die prädikative Funktion - verwendet werden kann. So lautet Hengevelds Predicate Hierarchy: (2.30) Verb > Nomen > Adjektiv > Adverb. D. h. die Prädikation wird häufiger durch eine Kategorie ausgedrückt, die links in der Implikationsskala steht, und rechtsseitige prädikative Ausdrücke setzten linksseitige prädikative Ausdrücke voraus: z. B. wenn eine Sprache die prädikative Funktion durch ein Nomen darstellt, muss sie diese Funktion auch durch ein Verb darstellen können, aber nicht umgekehrt. Wir können versuchen, diese Methode auf die alten idg. Sprachen anzuwenden, die mit ihren mannigfaltigen Möglichkeiten, Adpositionen, Konjunktionen und Proformen zu verwenden, zur Systematizität der geschlossenen Kategorien beitragen können. Diesbezüglich schlagen wir folgende Implikationsskala vor: (2.31) Konjunktion > Adposition > Artikel. Auch in diesem Fall sagt die Implikationsskala voraus, dass eine Sprache, wenn sie eine rechtsseitige Kategorie hat, auch die linksseitigen Kategorien hat, aber nicht umgekehrt. Die alten idg. Sprachen, die den (bestimmten) Artikel haben, wie das Altisländische, das Altirische und das klassische Griechisch, haben auch grammatikalisierte Präpositionen und Konjunktionen. Die alten idg. Sprachen, die grammatikalisierte Adpositionen haben, haben auch Konjunktionen, während sie den Artikel entweder haben (wie eben im Altisländischen, Altirischen und klassischen Griechisch) oder auch nicht haben, wie im Altkirchenslawischen und Litauischen. Die alten idg. Sprachen, die keine grammatikalisierten Adpositionen haben, sind homerisches Griechisch, Vedisch, Hethitisch und 97 <?page no="98"?> Tocharisch (für den Unterschied zwischen höherer und niedrigerer Grammatikalisierung bei Adpositionen, wie auch bei Artikeln und Konjunktionen, siehe unten). Im homerischen Griechisch, im Vedischen und im Hethitischen werden Adpositionen noch nicht deutlich von Adverbien unterschieden (§ 2.3.1.2), während im Tocharischen oft umstritten ist, ob eine Lokalpartikel eine Postposition oder ein sekundärer Kasus ist, weil Kasus-Endungen auch am Ende einer ganzen Phrase statt des einfachen Wortes stehen können. Diese Sprachen haben zwar Konjunktionen, aber keinen Artikel. 62 Die in (2.31) vorgeschlagene Implikationsskala gilt nur für die alten idg. Sprachen und hat keinen Anspruch auf universale Gültigkeit im typologischen Sinn, für die eine genaue Sprachprobe notwendig wäre. Wenn wir aber im WALS nachschlagen, können wir einige Hinweise darauf finden, dass (2.31) vielleicht auch außerhalb des Indogermanischen nützlich sein kann, um die Verteilung der geschlossenen Kategorien vorherzusagen. Dafür vergleichen wir die im WALS verfügbaren Beschreibungen des bestimmten Artikels (Dryer 2005 a) und der Adpositionen (Dryer 2005 c). Dryers (2005 a) Probe enthält 620 Sprachen (100 %), von denen nur eine Minderheit (216 = 35 %) einen echten bestimmten Artikel wie im Englischen und anderen europäischen Sprachen hat, d. h. einen Marker für Definitheit, der vom Demonstrativpronomen formal unterschieden ist und der zumindest in einigen Kontexten obligatorisch vorkommt. Die anderen Sprachen besitzen unterschiedliche, aber jedenfalls wenig grammatikalisierte Marker für Definitheit, die manchmal den optionalen Gebrauch eines Demonstrativpronomens zeigen, wie im Ojibwa (Algonkin), manchmal aber auf jede explizite Form für Definitheit verzichten und diese Funktion völlig mittels des Kontextes ausdrücken, wie im Cherokee (Irokese). Letzteres betrifft 243 Sprachen, also 39 % der Fälle. 63 Dryers (2005 c) Untersuchung 62 Die Implikationsskala (2.31) betrifft nicht die Ausbreitung anderer geschlossener Kategorien als Konjunktionen, Adpositionen und Artikel. Einige dieser anderen Kategorien wie Platzhalter sind sogar seltener als Artikel. Über die Beziehung zwischen Artikeln und Hilfsverben kann man nichts sagen: Es gibt Sprachen mit Artikel und ohne Hilfsverben (klassisches Griechisch), Sprachen mit Hilfsverben und ohne Artikel (Hethitisch), Sprachen mit beiden (Altisländisch) und Sprachen mit keinen von beiden (frühes Vedisch). Die Tatsache, dass hier keine Korrelation festgestellt werden kann, ist verständlich, weil Artikel und Hilfsverben Spezifikatoren des Nomens bzw. des Verbs sind, und Nomina und Verba sind in den idg. Sprachen gleich primär. 63 Die Gesamtheit der 243 Sprachen ohne bestimmten Artikel enthält sowohl 198 Sprachen, die bei Dryer (2005 a) weder den bestimmten noch den unbestimmten Artikel haben, wie das Hindi, als auch 45 Sprachen, in denen der bestimmte Artikel zwar fehlt, aber der unbestimmte Artikel vorkommt, wie Türkisch. Es ist aber merkwürdig, dass Dryer, wiewohl er Sprachen, die nur den unbestimmten Artikel haben, berücksichtigt, nichtsdestoweniger den entgegengesetzten Fall jener Sprachen 98 <?page no="99"?> zur Verteilung der Adpositionen hingegen schließt 1185 Sprachen ein (100 %), von denen nur 30 Sprachen (= 2.5 %) überhaupt keine Adpositionen aufweisen. Solche Sprachen sind besonders in Nordamerika und Australien belegt - ein Beispiel dafür ist das Yidiny (Pama-Nyungan). Schon aus diesen Zahlen geht klar hervor, dass Sprachen ohne bestimmten Artikel (39 % der Fälle) relativ häufiger sind als Sprachen ohne Adpositionen (2.5 % der Fälle). 64 Das stimmt mit der Implikationsskala in (2.31) überein, in der die Adposition das implicatum und der Artikel das implicans ist. Wir können auch einen Abgleich der Analyse des Artikels und der Adpositionen machen: wenn die Implikation in (2.31) zuverlässig ist, dann erwarten wir, dass einerseits diejenigen Sprachen, die keine Adpositionen haben, auch keinen bestimmten Artikel haben und dass andererseits jene Sprachen, die einen bestimmten Artikel haben, auch Adpositionen haben. Tatsächlich gehen die untersuchten Phänomene in diese Richtung, obwohl es, wie es in der Typologie fast immer der Fall ist, eher um Tendenzen eines statistischen Universals als um die Gesetze eines absoluten Universals geht. Innerhalb der 30 Sprachen (100 %), die nach Dryer (2005 c) keine Adpositionen haben, haben nur 3 Sprachen (10 %) einen bestimmten Artikel, also hält die Korrelation Adposition > Artikel in 90 % der Fälle. Das Yidiny, das keine Adpositionen hat, hat auch keinen bestimmten oder unbestimmten Artikel. Innerhalb der 216 Sprachen (100 %), die nach Dryer (2005 a) einen bestimmten Artikel haben, gibt es nur 4 Sprachen (1.8 %), die keine Adpositionen haben, also ist die Korrelation Adposition > Artikel von diesem Standpunkt aus in mehr als 98 % der Fälle gültig. Z. B. hat das Tariana (Arawakan, gesprochen in Brasilien) sowohl einen bestimmten Artikel als auch Postpositionen. 65 nicht einschließt, die den bestimmten Artikel haben, aber den unbestimmten entbehren. Denn das ist im Indogermanischen der häufigste Fall, wie man am klassischen Griechisch sieht. 64 Eine gewisse Vorsicht bei der Interpretation der Ergebnisse ist natürlich angebracht, weil die Sprachen in der Probe des Artikels (Dryer 2005 a) und die in der Probe der Adpositionen (Dryer 2005 c) nicht immer überlappen. Wenn Informationen über die Anwesenheit bzw. Abwesenheit des Artikels oder der Adpositionen in den nichtüberlappenden Sprachen in den Erklärungen der Proben nicht verfügbar waren, habe ich sie in den vom WALS empfohlenen Grammatiken nachgeschlagen. Die Tatsache aber, dass beide Untersuchungen von demselben Forscher (Matthew Dryer) durchgeführt wurden, lässt darauf vertrauen, dass die Daten homogen betrachtet wurden. 65 Die 3 Sprachen in Dryers (2005 c) Probe der Adpositionen, die ausnahmsweise keine Adpositionen aber einen bestimmten Artikel haben, sind Kayardild (Tangkik, gesprochen in Australien), Kutenai (isoliert, gesprochen in Kanada) und Oneida (Irokese, gesprochen im Nordosten der Vereinigten Staaten). Die 4 Sprachen in Dryers (2005 a) Probe des Artikels, die ausnahmsweise einen bestimmten Artikel aber keine Adpositionen haben, sind Kayardild, Kutenai, Oneida und Zoque (Mixe-Zoque, gesprochen in Mexico). 99 <?page no="100"?> Diese Ergebnisse stimmen mit dem Eindruck überein, den wir bekommen, wenn wir statt der Abwesenheit der Adpositionen im engen Sinne - wie bei den 30 Sprachen von Dryer (2005 c) - eher die Abwesenheit grammatikalisierter Adpositionen berücksichtigen. Das wäre auch der Methode ähnlicher, der wir oben in Bezug auf alte idg. Sprachen wie frühes Vedisch, homerisches Griechisch und Hethitisch gefolgt sind, wobei man natürlich nicht sagen kann, dass sie eigentlich keine Adpositionen haben, sondern dass ihre Adpositionen eher die Verteilung der Adverbien haben als der Adpositionen anderer idg. Sprachen, die sowohl in der Rektion als auch in der Stellung fest sind. Dadurch können wir auch die Adpositionen agglutinierender Sprachen wie des Finno-Ugrischen und des Altaischen miteinbeziehen. Finno-Ugrisch und Altaisch werden zwar von Dryer (2005 c) der Sprachengruppe mit Postpositionen zugeordnet, und das ist auch richtig, weil die Grammatiken dieser Sprachen klar von Postpositionen sprechen (vgl. Karlsson 1999: 222ff; Göksel & Kerlsake 2005: 214 ff). Aber wenn wir die Bildung und den Gebrauch dieser Postpositionen anschauen, können wir auch feststellen, dass sie ganz anders sind als die Adpositionen des Standard Average European. Im Finno-Ugrischen und im Altaischen zeigen die Adpositionalphrasen eine klare nominale Bildung, wie wir in den folgenden Beispielen sehen können: (2.32) Estnisch (Finnougrisch; Hagège 2010: 47) ta tööta-s kiriku see-s (s)he worked-IPF.3SG church.GEN inside-INESS „ (S)he worked in(side) the church. “ (2.33) Türkisch (Altaisch; Hagège 2010: 48) bahçe-nin iç-i-n-de garden-GEN inside-3POSS-LIG-INESS „ In the garden “ In diesen Beispielen wird der räumliche Ausdruck „ in X “ nicht einfach durch eine Phrase kodiert, die aus einem Nomen und einer Adposition besteht, sondern durch eine morphosyntaktisch komplexere Struktur, die auch eine konkrete Bedeutung bewahrt, d. h. „ in der Innenseite von X “ , wobei X in den Genitiv wie in einer echten possessiven Konstruktion flektiert wird. Das ist besonders klar im Beispiel (2.33), in dem die komplexe Postposition içinde auch ein possessives Morphem enthält: hier ist der Ausdruck „ im Garten “ wörtlich als „ des Gartens in seiner Innenseite “ wiedergegeben, basierend auf der Postposition iç, die auf ein Nomen zurückgeht. Die agglutinierende Morphologie macht die Beziehung zwischen den Bestandteilen des räumlichen Ausdrucks transparent. Außerdem werden im Finno-Ugrischen viele lokative oder direktionale Funk- 100 <?page no="101"?> tionen, die die modernen idg. Sprachen durch Adpositionen kennzeichnen, eher durch Kasus ausgedrückt: Finnisch z. B. hat sechs lokale Kasus, d. h. Inessiv, Elativ, Illativ, Adessiv, Ablativ, Allativ (vgl. Karlsson 1999: 107 ff). Diese Kasus können zur Postposition hinzugefügt werden, und es gibt oft eine etymologische Beziehung zwischen lokalen Kasus und Postpositionen, wobei der Kasus für eine erodierte Form der Postposition gehalten werden kann. Neben der Struktur kiriku sees „ in der Kirche “ (2.32) berichtet Hagège (2010: 47) auch die Variante kiriku-s (Kirche: GEN-INESS). Diese komplexen Adpositionen des Finno-Ugrischen und des Altaischen erinnern uns an einige Postpositionen des Hethitischen, „ deren Abgrenzung gegen die Adverbia und Präverbia [. . .] fließend “ ist (Friedrich 1960: 129). Nicht nur kann „ das Hethitische [. . .] die syntaktischen Verhältnisse, die wir durch Präpositionen bezeichnen, oft durch Kasusformen allein (ohne Postposition) zum Ausdruck bringen “ (ib.) (diesbezüglich drückt die Entstehung des Direktivs im Althethitischen z. B. aruna „ zum Meere “ vs. aruni „ im Meere “ den Ausdruck der räumlichen Beziehungen sogar genauer aus als im Indoiranischen), vielmehr können in dieser Sprache auch viele Postpositionen den Genitiv regieren, der ursprünglich den Besitzer bezeichnete. Die Postposition hanti „ gegen “ (< *h 2 nt-i, vgl. Skr. ánti „ bevor, vor “ , Altgr. ἀντί , Lat. ante, Arm. end, IEW 48 - 49) ist ursprünglich der Lokativ des Nomens h 2 nt- „ Vorderseite, Gesicht “ ; der Ausdruck „ Gesicht von X “ , mit X im Genitiv, wird zum Ausdruck „ vor X “ , mit X noch im Genitiv (vgl. Luraghi 1990 b). Viele Postpositionen, die im Mittel- oder Neu-Hethitischen den Dativ-Lokativ regieren, regierten im Althethitischen den Genitiv: das ist der Fall bei ā ppan „ hinter, nach “ , i š tarna „ zwischen “ , katta, kattan „ unter “ , peran „ vor “ (Hoffner & Melchert 2008: 297 ff). Die Tatsache, dass man im Althethitischen einen Ausdruck wie LUGAL-wa š peran (König: GEN vor) „ vor dem König “ hat und im Neuhethitischen die entsprechende Form LUGAL-i peran mit der Ergänzung im Dativ statt im Genitiv, zeigt, dass die ursprünglich possessive Beziehung der Konstruktion mit der Zeit verblasst und zu einer Darstellung der räumlichen Ausdrücke wird, die mit dem Dativ-Lokativ gebildet werden. Das stimmt auch überein mit dem Verfall des Direktivs, der vom Dativ-Lokativ ersetzt wird. Außerdem erinnert das oben beschriebene Nebeneinander von komplexer Adposition und flektiertem Nomen im Estnischen (kiriku see-s vs. kiriku-s „ in der Kirche “ ) an die Situation des Tocharischen, in dem die sekundären Kasus, die eine konkrete Bedeutung ausdrücken, sich oft wie Postpositionen verhalten und manchmal auch formal von ihnen abgeleitet sind. Im Tocharischen A ist der sekundäre Kasus Komitativus -a śś äl verwandt mit dem Adverb ś la „ zusammen “ (Toch. B ś ale / ś le), das auch als Adposition benutzt werden kann (vgl. Kölver 1965; Carling 2000; Pinault 2008: 470). Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass das Tocha- 101 <?page no="102"?> rische wegen des Kontakts mit dem Mongolischen auf die ererbte idg. fusionale Morphologie teilweise verzichtet und zunehmend eine agglutinierende Gestaltung erwirbt. Die Postpositionen des Mongolischen werden von Hagège (2010: 48 - 49) genau wie die des Türkischen beschrieben, das zu derselben altaischen Sprachfamilie gehört. Es ist bedeutsam, dass agglutinierende Sprachen wie das Finno-Ugrische und das Altaische keinen bestimmten Artikel haben, in Übereinstimmung mit der Implikationsskala in (2.31). Das zeigt, wie ein Kontinuum zwischen der strikten Abwesenheit einer Kategorie wie bei Dryers (2005 c) 30 Sprachen ohne Adpositionen und einem kaum grammatikalisierten Gebrauch derselben Kategorie in anderen Sprachen besteht, weil beide Fälle denselben funktionalen Prinzipien folgen. Wie Dryer (2005 a) richtigerweise zwischen einem echten bestimmten Artikel wie dem des Englischen und einem Demonstrativpronomen unterscheidet, das eine andere Form als der Artikel hat und syntaktisch freier ist, kann man ebenso zwischen echten Adpositionen wie denen der modernen idg. Sprachen und räumlichen Ausdrücken unterscheiden, die eine konkretere Bedeutung zeigen und auch eine freiere Verteilung haben. Sowohl Finnisch als auch Altaisch haben jedoch Konjunktionen, die tatsächlich der höchste Punkt unserer Implikationsskala (2.31) sind. Sprachen, in denen Konjunktionen ganz und gar abwesend sind, sodass die ganze Verknüpfung von Wörtern, Phrasen oder Sätzen auf asyndetischen Verfahren beruht, sind kaum zu finden. Stassen (2005) erwähnt das Awtuw, eine Sepik-Sprache, gesprochen in Papua-Neuguinea, in dem Asyndeton zumindest für die nominale Koordination obligatorisch ist. In den meisten Sprachen kommt das Asyndeton eher als ein marginales Verfahren neben einer mehr oder weniger expliziten Markierung vor, am meisten neben einer koordinierenden Konjunktion „ und “ , die in vielen Sprachen, besonders in Afrika, auch gleich dem komitativen Marker „ mit “ entspricht (vgl. auch Stassen 2000; 2003). Wenn wir aber die Abwesenheit grammatikalisierter Konjunktionen berücksichtigen, d. h. die Abwesenheit von Wörtern einer geschlossenen Kategorie, die die grammatische Funktion der kopulativen Koordination ohne Rücksicht auf die Bedeutung der verbundenen Nominalia ausdrückt und deren Gebrauch wie im Fall der meisten europäischen Sprachen zumindest in einigen Kontexten obligatorisch ist, dann kommt eine viel größere Anzahl Sprachen zusammen. Wie wir in § 2.3.2.2 gesehen haben, berichtet Mithun (1988; 2003: 567 ff) über mehrere Fälle von einheimischen amerikanischen Sprachen, in denen Juxtaposition und Intonation die typischen Verfahren der Verknüpfung sind, neben unterschiedlichen Diskurspartikeln, die aber noch eine transparente adverbiale Bedeutung zeigen ( „ in many languages there are no grammaticized coordinating constructions whatsoever, and in many others the constructions that do exist can be seen to have evolved surprisingly recently “ , 2003: 567). Die Neuentstehung der 102 <?page no="103"?> Konjunktionen in diesen Sprachen geht auf Entlehnungen aus europäischen Sprachen zurück: da Satz-Konnektoren normalerweise an den Grenzen des Satzes vorkommen, sind sie auch einfach identifizierbar und abtrennbar. Es ergibt sich, dass in jenen Sprachen, in denen grammatikalisierte Konjunktionen fehlen, auch Adpositionen und Artikel nicht grammatikalisiert oder sogar abwesend sind, und das stimmt nochmals mit der Implikationsskala (2.31) überein. Denn die Funktionen, die im Standard Average European der Artikel und die Adpositionen ausdrücken, werden in vielen Sprachen Nordamerikas durch andere Strukturen gekennzeichnet. Sogar in denjenigen Sprachen, denen von den Grammatikern und daher auch von Dryer (2005 a) explizite Marker für Definitheit zugewiesen werden, ist das Verhältnis solcher Marker in Texten ganz anders als das des bestimmten Artikels in den Sprachen Europas. Z. B. hält Dryer das Kyuquot (Wakashan) für eine Sprache, die ein Affix für Definitheit hat, aber Jacobsen (1979) und Mithun (1999: 61 ff) bemerken, dass solche Marker für Definitheit in den Wakashan-Sprachen immer fakultativ und im Diskurs sogar selten sind: The primary function of the article could be analyzed [. . .] as an optional specifier of syntactic structure, that is, a marker of argument status. It appears most often in contexts of potential ambiguity. Some words, like ł a · pxu · ‚ fly ‘ usually occur as predicates, so on the rare occasions when they function as arguments, the article would always appear to alert listeners to their unexpected role. Some stems, like ba ʔ as ‚ house ‘ , usually occur as arguments, so they would be assumed to be arguments without overt specification. Other stems, like ‚ burn/ fire ‘ , fall at various places along the continuum between the two extremes, serving sometimes as predicates, sometimes as arguments. When serving as arguments, they would occur sometimes with, sometimes without the article, depending on the potential for misinterpretation of their syntactic function in a particular context. (Mithun 1999: 62 - 63) Also haben wir in diesen Sprachen in Bezug auf den Ausdruck der Definitheit eine entgegengesetzte Situation als im Standard Average European. In den meisten europäischen Sprachen ist der Artikel unter normalen Umständen obligatorisch mit definiten Nomina, und die Variation besteht darin, dass er in einigen Sprachen auch auf andere als die der Definitheit zugrunde liegenden Bereiche ausgedehnt werden kann (§ 2.3.2.3), z. B. kommt der hoch grammatikalisierte Artikel des Italienischen auch mit generischen Nomina vor. Dagegen ist der Artikel in vielen nordamerikanischen Sprachen unter normalen Umständen fakultativ und hat eher die Verteilung eines Demonstrativpronomens. In diesem Fall ist die Abwesenheit eines Markers der Definitheit die übliche Situation, die auch außerhalb einer unbestimmten Interpretation verwendet werden kann. 103 <?page no="104"?> Dasselbe betrifft die Adpositionen, die in denjenigen Sprachen auch kaum entwickelt sind, die keinen grammatikalisierten Gebrauch der Konjunktionen zeigen. Adpositionen dienen dazu, periphere von primären Partizipanten zu unterscheiden, sodass normalerweise primäre Partizipanten wie das Subjekt und das Objekt ohne Adposition vorkommen. Aber in vielen Sprachen Nordamerikas besteht die Unterscheidung zwischen primären und nicht-primären Partizipanten darin, dass die Nominalia für die primären Partizipanten im Verb durch Applikative koindiziert werden, während die Nominalia für nicht-primäre Partizipanten keine applikative Kodierung bekommen (vgl. Mithun 1999: 207ff; Peterson 2007). Bekanntlich drücken die Sprachen Nordamerikas am Verb die meisten grammatischen Angaben aus, die nicht nur die zeitlichen, aspektuellen und modalen Merkmale des verbalen Ereignisses betreffen, sondern auch den syntaktischen, semantischen oder pragmatischen Status der Partizipanten; die Nomina hingegen zeigen wenig Morphologie. Sie sind also „ Ereignisdominierte Sprachen “ (event dominated languages) im Sinne von Capell (1965), „ in which the verb is complicated. All sorts of differences are made in tense, mood, reference; subject, object, indirect object may all be involved in the affixes attached to the verbal stem. A language of this type will often pay very little attention to the noun - there will be no system of classification, number and case may not be provided for in terms of inflection at all. “ (S. 452) Vgl. § 3.8. 66 Außerdem können primäre Partizipanten in vielen Sprachen Nordamerikas von sekundären Partizipanten durch die flexible Wortfolge unterschieden werden, weil Erstere normalerweise dem Verb nahe liegen und auch eine vordere Stellung im Satz besetzen. Also bestätigen diese Sprachen die Implikation (2.31) mit ihrem kaum grammatikalisierten Gebrauch nicht nur der Konjunktionen, sondern auch und noch mehr der Adpositionen und der Artikel. Nachdem die Implikationsskala (2.31) auch eine gewisse Unterstützung durch den typologischen Vergleich bekommen hat - natürlich mit allen möglichen Vorbehalten, die in einer nur skizzierten Analyse wie hier notwendig sind - , müssen wir uns fragen, warum die Verteilung der Konjunktionen, der Adpositionen und der Artikel so ist. Im Prinzip könnten diese Kategorien sich auch anders verhalten, und tatsächlich zeigt 66 Der Unterschied zwischen Ereignis-dominierten Sprachen und „ Objekt-dominierten Sprachen “ (object dominated languages), bei denen das Nomen dasjenige ist, das die meisten grammatischen Informationen kodiert, während das Verb morphologisch einfach bleibt, kann auch eine Parallele zur Situation einiger alter idg. Sprachen sein, wobei wir manchmal eine gewisse Arbeitsteilung zwischen Nomen und Verb feststellen können. In § 2.3.2.4 haben wir gesehen, dass die reiche Morphologie des Urindogermanischen im Verb im Altgriechischen bewahrt wird, aber im Nomen im Hethitischen, und auch im nächsten Kapitel werden wir weitere Fälle für diese Arbeitsverteilung im Ausdruck der syntaktischen Funktionen diskutieren (§ 3.6). 104 <?page no="105"?> das Vorkommen von Fällen, die gegen die Implikationsskala verstoßen, dass es, von einem strukturellen Standpunkt aus, nichts Unrichtiges gibt in einer Sprache wie dem Kayardild, die keine Adpositionen, aber einen bestimmten Artikel hat. Wenn also die große Mehrheit der Sprachen der Welt der Implikationsskala in (2.31) folgt, muss ein Grund dafür bestehen, und die Belege der alten idg. Sprachen können vielleicht dazu beitragen, ihn herauszufinden. Meiner Meinung nach sind Adpositionen sprachübergreifend häufiger als Artikel, weil, wie wir in § 2.3.2.3 gesehen haben, sowohl Adpositionen als auch Artikel eine gewisse Komplementarität zu den Kasus haben: die alten idg. Sprachen, die reicher an Kasus sind, haben normalerweise keine grammatikalisierten Adpositionen und keinen Artikel. Aber wie gesagt: die Beziehung zwischen Kasus und Adpositionen ist direkt, da beide dieselben lokalen oder direktionalen Funktionen kodieren, während die Beziehung zwischen Kasus und Artikel nur indirekt ist und von der Wortfolge vermittelt wird - die Sprachen, die reich an Kasus sind, haben auch eine freiere Wortfolge, wodurch sie die Definitheit eines Nomens ausdrücken können. Es kann also erwartet werden, dass die direkte Beziehung zwischen Kasus und Adpositionen in den Sprachen der Welt auch häufiger grammatikalisiert wird. Die relative Verteilung der Konjunktionen und der Adpositionen in der Implikationsskala (2.31) kann ebenfalls erklärt werden: Konjunktionen sind m. E. sprachübergreifend häufiger als Adpositionen, weil die beiden oft aus derselben lexikalischen Quelle eines Adverbs stammen, wie wir in § 2.3.1.2 gesehen haben, aber sie zeigen damit auch eine verschiedene Grammatikalisierung. Konjunktionen werden in starkem Maße von semantischen oder pragmatischen Faktoren bedingt, je nachdem ob der Sprecher eine bestimmte Beziehung zwischen zwei Sätzen oder Satzgliedern ausdrücken will, oder ob er die eine oder die andere der verknüpften Konstituenten in den Vordergrund stellt. Wie Sweetser (1990: 76 ff) illustriert, ist eine Analyse der Konjunktionen als logische Operatoren sogar in den Sprachen wie dem Englischen unbefriedigend, in denen sie einen eher syntaktisch als semantisch bedingten Gebrauch haben (vgl. auch Moeschler 1996). A simple analysis of conjunctions as logical operators will prove far too weak to explain the ambiguities in their usage, or to account for the fact that ambiguities between domains are to be observed equally in simple conjunction (and disjunction) and complex lexical conjunctions such as therefore or although. Not only must conjunctions be given a more complex lexicalsemantic analysis, but their contribution to sentence semantics must be analyzed in the context of an utterance ’ s polyfunctional status as a bearer of content, as a logical entity, and as the instrument of a speech act. (Sweetser 1990: 76) 105 <?page no="106"?> Dagegen wird die Verwendung der Adpositionen von der Syntax bedingt, indem sie ihrer nominalen Ergänzung einen Kasus zuweisen. Obwohl auch die Verteilung der Adpositionen vom Kontext beeinflusst werden kann, besonders im Fall, wenn sie mehr als einen Kasus regieren, ist das nur ein winziger Teil der expressiven Möglichkeiten der Konjunktionen, für die Sweetser jeweils verschiedene semantische und pragmatische Interpretationen auf der „ Sachverhaltsebene “ (content domain), auf der „ epistemischen Ebene “ (epistemic domain) und auf der „ Sprechaktebene “ (speech act domain) identifiziert. Indem pragmatische Funktionen universaler sind als syntaktische Funktionen, ist auch nachvollziehbar, dass Konjunktionen sprachübergreifend häufiger als Adpositionen grammatikalisiert sind. 2.5 Die Diachronie der Kategorien: von der semantischen zur syntaktischen Kategorisierung Wenn man Hengevelds (1992) Unterscheidung zwischen „ flexiblen “ (flexible), „ spezialisierten “ (specialized) und „ rigiden “ (rigid) Sprachen 67 auf die idg. Sprachen anwendet, kann man sagen, dass die alten idg. Sprachen in ihren Wortarten flexibler sind als die modernen idg. Sprachen. Für eine solche Flexibilität ist die Rubrizierung der indischen grammatischen Tradition eine zuverlässigere Beschreibung als die der griechischrömischen Tradition, denn in der letzteren werden zahlreichere Kategorien identifiziert, obwohl das Altindische mehr morphologische Unterschiede besitzt als das Altgriechische und das Lateinische. Z. B. benutzt P ā n· ini den allgemeinen Terminus avyaya (wörtl. „ unveränderbar “ ) für alle unflektierten Wörter, die unseren Adverbien, Adpositionen, Konjunktionen und Interjektionen entsprechen. Wie Deshpande hervorhebt, „ a study of the Vedic padap ā t · ha and the pr ā ti śā khyas, in addition to P ā n · ini, convinces us of the fluidity of the early grammatical categories. “ (2002: 244) 67 Nach Hengeveld (1992) haben „ spezialisierte “ Sprachen bestimmte Kategorien für jede syntaktische Funktion, sodass die formalen Grenzen zwischen Verben, Nomina, Adjektiven und Adverbien wie im Englischen ziemlich einfach identifiziert werden können. „ Flexible “ Sprachen kombinieren zwei oder mehr Funktionen in einer einzigen Kategorie; Hengeveld erwähnt das Beispiel des Quechua, wo die Funktionen der Nomina, Verben und Adjektive nur von einer Kategorie ausgedrückt werden. „ Rigiden “ Sprachen fehlen eine oder mehrere Kategorien, deren Funktionen durch alternative formale Verfahren dargestellt werden wie im! Xû, einer in Namibia und Angola gesprochenen Khoisan-Sprache, die nach Hengeveld keine eigene Kategorie für Adjektive und für Adverbien besitzt. Diese Unterscheidung kann auch verschiedene Konstruktionen innerhalb derselben Sprache betreffen. Dementsprechend ist das Urindogermanische rigid in Bezug auf Hilfsverben und Artikel, flexibel in Bezug auf Nomina und Adjektive, spezialisiert in Bezug auf das Verb. 106 <?page no="107"?> Auf den ersten Blick könnte man denken, dass diese „ Fluidität “ eigentlich das Ergebnis einer ungenauen Beschreibung ist, weil die Syntax nicht im Mittelpunkt der Interessen der indischen Grammatiker stand. Denn die indischen Grammatiker waren seit der Zeit der ersten Überlegungen zu den heiligen Texten (die ved ā n ˙ ga „ Glieder der Vedas “ ) mit der Phonetik ( ś iks · ā ), der Morphologie (vy ā karan · a) und der Etymologie (nirukta) am meisten beschäftigt. 68 Wir können aber behaupten, dass ihre syntaktische Kategorisierung nicht von einer mangelhaften grammatischen Tradition abhängt, sondern dass sie eine Spiegelung der eigentlich ungenauen Verteilung der syntaktischen Kategorien im Altindischen war. Der gemeinsame Terminus avyaya für Adverbien, Adpositionen, Konjunktionen und Interjektionen erfasst die Tatsache, dass Adpositionen, Konjunktionen und Interjektionen im Altindischen oft noch ihren adverbialen Ursprung oft zeigen. Eine Form wie Skr. sahá kann sowohl allein wie ein echtes Adverb „ zusammen “ stehen als auch ein Nomen (im Instrumental) wie eine echte Postposition „ mit “ verlangen, und das gilt für die meisten Wörter, die von den Grammatikern in der Gruppe der Adpositionen eingeschlossen werden: der adverbiale Gebrauch ist normalerweise auch möglich. Dasselbe passiert oft im Hethitischen. Dagegen haben wir im Lateinischen und im Altgriechischen (außer bei Homer, der mit der konservativen Situation des Vedischen übereinstimmt) oft verschiedene Wörter für präpositionale und adverbiale Funktionen. Z. B. ist die Präposition „ mit “ auf Lateinisch cum, aber das Adverb „ zusammen “ ist una. Im Altgriechischen ist „ mit “ σύν (mit DAT) oder μετά (mit GEN), während „ zusammen “ durch das Adverb ὁμοῦ , ἅμα (das aber auch eine unechte Präposition mit DAT sein kann) und κοινῇ ausgedrückt werden kann. Dasselbe finden wir im Altisländischen. Daher ist es nachvollziehbar, dass die griechischen und römischen Grammatiker, aber nicht 68 Die Vedas wurden sowohl in kontinuierlichen Texten ( sa ṁ hit ā p ā t · ha ) als auch in Wort für Wort analysierten Texten (padap ā t · ha) überliefert; Während die ersteren die verschiedenen sandhi-Phänomene bezeichneten, signalisierten die letzteren Wortgrenzen und manchmal auch Morphem-Grenzen. Das Altindische ist die einzige alte idg. Sprache, die sogar die postlexikalischen phonologischen Regeln im äußeren sandhi graphisch bezeichnet. Einige Phänomene des äußeren Sandhi werden auch im Altirischen graphisch unterschieden, wie im Fall der Lenition und der Nasalisierung, aber das ist nur eine verblasste Darstellung der detaillierten Behandlung der indischen Grammatiker. Für diese phonetische Ausführlichkeit gibt es auch einen außersprachlichen Grund, der mit der religiösen Weltanschauung der Inder zu tun hat: In Indien können Hymnen und Gebete von den Göttern nur erhört werden, wenn sie völlig fehlerfrei ausgesprochen werden, während sie im Fall einer ungenauen Aussprache dem Redner sogar schaden können. Eine Parallele zu dieser Situation kann man in der arabischen Welt beobachten, in der Vokale nur in religiösen Schriften bezeichnet werden, in denen eine richtige Aussprache wichtiger ist, während andere (nicht-schulische) Texte ein konsonantisches Schriftsystem benutzen. 107 <?page no="108"?> die indischen, eine eigene Kategorie für die Präposition postulierten. Also berücksichtigen wir die indische Beschreibung der syntaktischen Kategorien als gewissermaßen originalgetreuer in Bezug auf die Kategorisierung des Urindogermanischen. Die detaillierte Kategorisierung der griechisch-römischen Grammatiker ist nicht ursprünglich, sondern das Ergebnis einer langen und komplizierten Überlegung. Es ist bekannt, dass es für die Identifizierung solcher Kategorien eine hitzige Debatte gab ( „ nous devinons que le système des huit parties du discours, avant d ’ être ainsi adopté définitivement par la grammaire latine, avait fait l ’ objet, tant en pays grec que latin, d ’ infinies discussions entre les spécialistes “ , Holtz 1994: 81), wobei die Philosophen eine Reduzierung der Kategorien bezweckten, während die Grammatiker eine zahlreichere Rubrizierung bevorzugten. Dagegen wird nicht bemerkt, dass diese Überlegungen mit der Zeit zu einem Zuwachs der Kategorien führten, dem Prozess der Grammatikalisierung entsprechend, die eine Entwicklung der geschlossenen Kategorien voraussetzt. Am Anfang wurden weniger syntaktische Kategorien postuliert: Platon erkannte nur das Nomen und das Verb als grundlegende Elemente an, mit denen man Sätze ( λόγοι ) bilden konnte, Aristoteles erkannte drei an, die Stoiker vier, bis zu den acht Kategorien der Kaiserzeit (§ 2.2.1). Obwohl natürlich die Bedeutung einer Kategorie wie der Konjunktion in einem System mit drei Kategorien wie dem von Aristoteles anders ist als die in einem System mit acht Kategorien wie dem von Dionysios Thrax, ist es jedenfalls bedeutsam, dass die Konjunktion von den Grammatikern früher anerkannt wurde als der Artikel und die Präposition, die sich auch in der griechischen Sprache später entwickelten. 69 Außerdem war die Zugehörigkeit eines Wortes zu einer Kategorie am Anfang nicht so klar. Das Pronomen wurde von Dionysios Thrax (hellenistische Periode) nach einem morphologischen Kriterium als eine Darstellung des Artikels betrachtet, weil ihnen derselbe Stamm zugrunde liegt, während Dionysios von Halikarnass (Kaiserzeit) das Pronomen innerhalb der Kategorie des Nomens einschließt, weil beide in denselben syntakti- 69 Wir müssen hier den Vorbehalt äußern, dass die unterschiedliche Erkennung der Wortarten bei den klassischen Grammatiken nicht nur von diachronen Faktoren und von der Grammatikalisierung der geschlossenen Kategorien abhängt, sondern auch von der Gattung ihrer Werke. Von Plato haben wir kein den grammatischen Kategorien explizit gewidmetes Traktat wie bei Aristoteles oder Dionysios Thrax, sondern literarische Dialoge, die das Thema nicht vollständig behandeln. Immerhin scheinen die syntaktischen Kategorien auch in der nachklassischen Tradition mit der Identifizierung der Adjektive und der Numeralia zuzunehmen, sodass in moderner Zeit dem Lateinischen zehn Kategorien zugewiesen wurden (vgl. Matthews 1967: 153 - 54). 108 <?page no="109"?> schen Kontexten vorkommen können. 70 Die Präposition wurde bei der älteren Stoa (4. - 3. Jh. v. Chr.) als ein Artikel rubriziert, weil sie regelmäßig vor dem Nomen steht, aber sie ist eine Konjunktion bei der jüngeren Stoa (1. - 3. Jh. n. Chr.), weil sowohl Präpositionen als auch Konjunktionen unflektierbar sind (vgl. Matthews 1994: 29ff; Brandenburg 2005: 62 ff). Also sind die acht klar getrennten syntaktischen Kategorien, die uns von Autoren wie Dionysios Thrax und Apollonios Dyskolos überliefert sind, auch eine Neuerung, die den späteren Zustand der klassischen Sprachen beschreibt, die aber viele frühere und differenzierte Überlegungen voraussetzt. Dasselbe geschieht in Rom, wo wir eine Vermehrung von Varros vier Kategorien (§ 2.2.3) zu Priscians acht Kategorien beobachten können. Apollonios Dyskolos war z. B. der Ansicht, dass nicht alle Kategorien ursprünglich seien, sondern einige Kategorien „ älter “ ( πρεσβύτεροι ) als andere, vgl. (2.34). (2.34) πρόδηλον δ’ ὅτι καὶ τὸ ἀντί τινος παραλαμβανόμενον μεταγενεστέραν θέσιν ὁμολογεῖ < τοῦ μετά τινος >. καὶ εἰ τὸ ἄρθρον μετὰ ὀνόματος καὶ ἡ ἀντωνυμία ἀντ’ ὀνόματος , δέδοται ὅτι τὸ συνυπάρχον ἄρθρον τῷ ὀνόματι πρεσβύτερόν ἐστι τῆς ἀντωνυμίας „ Es ist einleuchtend, dass was für ein andres gebraucht wird, späteren Ursprungs ist (als was mit einem andern steht); und wenn der Artikel mit dem Nomen und das Pronomen für dasselbe steht, so wird damit zugestanden, dass der mit dem Nomen zugleich seiende Artikel älter ist als das Pronomen. “ (Apollonios Dyskolos, Synt. 1.24; Übersetzung Buttmann 1877: 13) Natürlich ist Apollonios ’ Urteil unrichtig, da der Artikel später als das Pronomen entstanden ist, und das legt nun genau dar, dass die ursprüngliche Situation des Artikels zu Apollonios ’ Zeit (2. Jh. n. Chr.) nicht mehr deutlich war. Dementsprechend interpretiert er die homerischen Stellen, die keinen Artikel hatten, als Beispiele der Ellipse (2.35). 70 Pronomina werden in der klassischen grammatischen Tradition in ihrer eher anaphorischen als deiktischen Form berücksichtigt; Nach Dionysios Thrax „ ist das Pronomen ein Wort, das statt eines Nomens gebraucht wird und das die Person zeigt “ ( ἀντωνυμία ἐστὶ λέξις ἀντὶ ὀνόματος παραλαμβανομένη , προσώπων ὡρισμένων δηλωτική , TG 17). Seit der Zeit der Junggrammatiker ist hingegen klar, dass normalerweise die deiktische Funktion diachron früher als die anaphorische von Pronomina ausgedrückt wird. Bréal (1897: 207 - 208) behauptete sogar, dass wegen ihrer ursprünglich deiktischen Funktion Pronomina universal seien, und auch neuerdings werden Demonstrative für phylogenetisch sehr früh entstandene Kategorien in den Sprachen gehalten (Diessel 2005: 24) - was mir überzeugend scheint, da die Zeigefunktion auch früh in der Kommunikation der Kinder auftaucht. Dagegen behaupten Heine & Kuteva (2007: 87), dass Demonstrative einer linguistisch relativ späten Schicht angehörten, der vierten in ihrer Darstellung, und zwar nach Nomina, Verben und Adjektiven/ Adverbien. 109 <?page no="110"?> (2.35) προδήλως οὖν κἀκεῖνο λείπει ἄρθρῳ μῆνιν ἄειδε θεά { Α 1}, τὴν Ἀχιλλέως οὐλομένην μῆνιν „ Augenscheinlich fehlt der Artikel auch in μῆνιν ἄειδε θεά (Hom. Il. 1.1), d. h. den verfluchteten Zorn, o Göttin, des Achilleus ’ . “ (Apollonios Dyskolos, Synt. 1.118) Außerdem gab es im Urindogermanischen keine eigene Form, die allen Mitgliedern einer syntaktischen Kategorie wie dem Nomen oder dem Verb gemeinsam war, sodass die syntaktische Kategorisierung kein entscheidendes Kriterium für die Flexion war. Einerseits war die Flexion einer Kategorie in mehrere lexikalische Gruppen zerlegt, d. h. in die verschiedenen Deklinationen und Konjugationen, die sich als Unterklassen verhalten und für die syntaktische oder morphosyntaktische Informationen völlig irrelevant sind. Das bedeutet nicht, dass diese lexikalischen Klassen eine Art von morphology by itself à la Aronoff (1994) darstellen, demgemäß eine Struktur als bloßes Material für eine wohlgeformte Wortbildung ohne offenbare Funktion gebraucht wird. Denn solche morphologischen Unterschiede sind zwar synchron nicht immer transparent, aber wir können vermuten, dass sie ursprünglich semantische Funktionen widerspiegeln. Die höhere Relevanz semantisch-lexikalischer Kriterien erscheint noch in den restlichen Gruppen einer Kategorie: -r/ n-Heteroklita haben normalerweise unbelebte Referenten wie Heth. w ā tar witena š „ Wasser “ , ēš h ˘ ar i š h ˘ ana š „ Blut “ , uttar uddana š „ Wort, Sache “ , Altgr. ἧπαρ ἥπατος „ Leber “ , οὖθαρ οὔθατος „ Euter “ , Lat. femur feminis „ Oberschenkel “ ; -s-Stämme sind auch meistens Neutra, wie Altgr. γένος „ Geschlecht “ und Aksl. nebo „ Himmel “ ; Verwandtschaftsnomina haben oft ein - r- Suffix, wie Skr. pit r ˚ ́ - „ Vater “ , m ā t r ˚ ́ - „ Mutter “ , svásr ˚ - „ Schwester “ (vgl. Szemerényi 1990: § 7). Verba Stativa hatten den typischen Vokal -ē < *eh 1 , wie Lat. iac ē re „ liegen “ , pend ē re „ hängen “ , tac ē re „ still sein “ , rub ē re „ rot sein “ , cand ē re „ glänzend weiß sein “ , liquet „ es ist klar “ , man ē re „ bleiben “ , sed ē re „ sitzen “ . Andererseits konnte dasselbe Morphem in verschiedenen Kategorien gebraucht werden, wenn sie eine semantische Funktion gemeinsam hatten. Z. B. wurde die Form *eh 1 im Indogermanischen nicht nur für intransitive stative Verben wie Lat. iaceo gebraucht, sondern auch für Denominalia wie Heth. mar š ezzi „ es ist falsch “ zum Inkohativ mar š e š zi und für eine Reihe außerpräsentischer Bildungen wie das Futur im Altgr. σχήσω „ ich werde haben “ zum Aorist ἔσχον , πιθήσω „ ich werde gehorchen “ zu ἐπιθόμην , μαθήσομαι „ ich werde lernen “ zu ἔμαθον , ἐνισπήσω „ ich werde sagen “ zu ἔνισπον und für den - ( θ ) η markierten Aorist Passiv, z. B. ἐχάρην „ ich habe mich gefreut “ zu χαίρω , ἐμάνην „ ich wurde wahnsinnig “ zu μαίνομαι , Hom. νεμεσσήθη „ er wurde verärgert “ , sodass die gemeinsame Funktion 110 <?page no="111"?> einer geringen Transitivität und Agentivität den grammatischen Unterschied zwischen verschiedenen Tempora oder Modi überwiegt. 71 Diese Funktion entspricht der des Mediums, wie schon der Zürcher Wagner (1950) anerkennt und wie später auch andere Forscher in verschiedenen alten idg. Sprachen untersucht haben (vgl. Jasanoff 1978; Kümmel 1996). Das allgemeine Hauptmoment bei den ē -Verba (und auch bei den altindogermanischen Perfecta) scheint mir die mediale Bedeutung zu sein. [. . .] Man kann einwenden, dass sich die aoristische Funktion des thematischen Aorists wenig mit der Zustandsbedeutung der ē -Verba des Germ., Balt., Slav. und Lateinischen verträgt. Aber es sind eben nicht die Aspektverhältnisse, die in den Vordergrund gestellt werden dürfen, sondern der mediale Charakter, der ganz bestimmten Verbalbedeutungen innewohnt. Die Aspektverhältnisse differieren von Sprache zu Sprache. Die zuständlichpräsentische Bedeutung der ē -Verba ist nicht das Primäre (lat. tac ē re, sil ē re). Primär ist das Auftreten der ē -Bildung bei Verben, die an sich mediale Bedeutung haben. Das ē -Suffix war an keine Aktionsart gebunden, sondern an die Wortbedeutung (z. B. σχη - , lat. hab ē re etc.). (Wagner 1950: 66) Obwohl die semantische Basis für die meisten Wortarten nicht mehr erfassbar ist und besonders die produktiven Kategorien opak sein können, gibt es Hinweise darauf, dass verschiedene Bildungen auf verschiedene Lexeme angewendet wurden. Also scheint das System der Deklinationen und Konjugationen der alten idg. Sprachen ähnliche Funktionen in einer semantischen Organisation des Wortschatzes auszudrücken wie die Typologen den Klassifikatoren (classifiers) zuweisen, d. h. Strukturen, die ein Lexem nach einigen Eigenschaften seines Referenten wie Belebtheit, Geschlecht, Menschlichkeit, Anzahl, Form oder Größe sortieren (vgl. Aikhenvald 2000). Klassifikatoren, die z. B. in den Bantusprachen und in den sinotibetischen Sprachen vorkommen, haben eine besondere Verbindung mit Quantifizierung und mit Numeralia, und werden mit Konstruktionen wie Dt. zwei Glas Milch oder Engl. three head of cattle verglichen. Normalerweise wird eine Beziehung zwischen den Klassifikatoren und dem grammatischen Genus der idg. Sprachen festgestellt (Corbett 1991: 136 - 137; Luraghi 2009), weil beide für Kongruenz verantwortlich sein 71 Die Grammatikalisierung des -( θ ) η -Suffixes setzt zwar auch eine verbreitete Verwendung mit Prädikaten voraus, die von anderen Aktionsarten charakterisiert sind, aber die ursprünglich stative Funktion dieses Suffixes ist noch klar. In Bezug auf die - η -Aoriste schreibt Chantraine (1961): „ Ces aoristes exprimant l ’ état sont bientôt entrés dans le système passif, mais à l ’ origine ils ne sont pas essentiellement passifs “ (S. 166), und außerdem „ L ’ aoriste en -θην participe à tous les emplois de l ’ aoriste en -ην et exprime d ’ abord l ’ état; il concurrence ainsi l ’ aoriste moyen “ (S. 168). 111 <?page no="112"?> können. 72 Auf indirekte Weise aber, anhand des Zusammenhangs zwischen Genus und Deklinationen, können wir Deklinationen wie auch Derivationsverfahren nach ihren verschiedenen semantischen Funktionen im funktionalen Bereich der Klassifikatoren mit einbeziehen. 73 Wie Klassifikatoren bringen auch Deklinations- und Konjugationssysteme zwar eine semantische Anordnung in einer Kategorie mit sich, andererseits machen sie jedoch den Wortschatz von einem formalen Standpunkt aus vielfältig, sodass verschiedene lexikalische Unterklassen innerhalb einer Kategorie mit der Zeit auch ihre Identität mehr oder weniger bewahren und getrennte Schicksale erleben können. Nicht nur die verschiedenen Kategorien entwickeln sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, sondern auch verschiedene Lexeme sind innerhalb derselben Kategorie nicht gleich schnell im Wandel. Im Laufe der Zeit verzichtet die Flexion auf die semantisch-lexikalischen Kriterien und folgt eher den formalen Kriterien der Zugehörigkeit zu einer Kategorie. Dann gibt es eine homogenere Flexion für alle Mitglieder einer Kategorie, und man kann eine klare kategorielle Unterscheidung besser rechtfertigen. 2.6 Regelmäßiger und unregelmäßiger Wandel der syntaktischen Kategorien Diachron sind alle Transkategorisierungen im Prinzip möglich. Das Altgriechische hat z. B. eine emphatische Partikel τῆ , die man auf Deutsch mit „ Da! Wohlan! “ übersetzen könnte, und diese ergibt einerseits ein Demonstrativpronomen τῆνος „ jener “ im Dorischen und andererseits ein Verb, das nur im Imperativ τῆτε erscheint, und das so viel wie „ nehmt! schaut mal! “ bedeutet (vgl. Schwyzer 1950: 579; 1953: 550, 613, 799). Dieser Imperativ ist bei dem Komiker Sophron von Syrakus (5. Jh. v. Chr.) belegt, vgl. (2.36). 72 „ Declensional classes and the organization of paradigms is usually independent of classifier systems. However, noun class and declension correlate in languages with morphological gender assignment, e. g. Indo-European languages such as Latin, Lithuanian, or Russian “ (Aikhenvald 2000: 262, wo noun class als Genus gemeint wird). 73 In Bezug auf die Schrift können Klassifikatoren Parallelen zu den unausgesprochenen Determinativen des Hethitischen anbieten, wie das Zahlwort I für Männernamen, SAL ( „ Frau “ ) für Frauennamen, D (=DINGIR „ Gott “ ) für Götternamen, URU ( „ Stadt “ ) für Städtenamen oder GI Š ( „ Holz “ ) für Holzgegenstände. Das ist eine Neuerung des Hethitischen, die vom Sumerischen übernommen wurde. Über die linguistischen Prinzipien, die einem Schriftsystem zugrunde liegen können, vgl. Dürscheid (2012 b), die auch der Keilschrift und der Hieroglyphenschrift des Hethitischen und anderer Sprachen des alten Nahen Ostens Aufmerksamkeit widmet. 112 <?page no="113"?> (2.36) τῆτέ τοι κορῶναι ἐντι „ Kommt schon, ihr! Es sind Krähen. “ (Sophron, Fr. 156) Ähnlich ergibt das altgriechische Adverb δεῦρο „ hier “ ein Verb, auch hier einen Imperativ, nämlich δεῦτε „ schaut hier! “ oder „ kommt hierher “ (2.37). (2.37) δεῦτε , φίλοι , καί μ’ οἴωι ἀμύνετε „ Kommt, o Freund ’ , und beschützt mich Einzelnen! “ (Hom. Il. 13.481; Übersetzung Voß 1943 a: 219) In der Praxis aber sind einige Transkategorisierungen viel häufiger als andere. Es ist bekannt, dass (Voll)verben häufiger die Quellen als die Ziele eines Wandels sind. Von diesem Standpunkt aus ist der Wandel von Partikel zu Verb sicher markierter als der Wandel von Verb zu Partikel, der z. B. im Französischen voici und voilà von vois ici „ schau hier “ bzw. vois là „ schau da “ vorkommt. Dieser Wandel von Verb zu Partikel ist auch im Altgriechischen belegt, in den Formen ἄγε und ἄγετε , die eigentlich die 2. Person SG bzw. PL des Imperativs des Verbs ἄγω „ ich leite “ sind, die aber auch als emphatische Partikel „ denn, wohlan! “ funktionieren (2.38). (2.38) ἀλλ’ ἄγετε , κλητοὺς ὀτρύνομεν „ Auf denn, erlesene Männer entsenden wir! “ (Hom. Il. 9.165; Übersetzung Voß 1943 a: 140) Dasselbe gilt für die Imperativformen des Verbs φέρω „ ich bringe “ , d. h. φέρε für die 2SG und φέρετε für die 2PL, die auch Partikeln sind. Verben können auch andere geschlossene Kategorien wie Präpositionen ergeben, z. B. Italienisch tranne, die synchron „ außer “ bedeutet, die aber vom Imperativ des Verbs trarre „ ziehen, entnehmen “ (plus partitives Klitikon) kommt. Auch Nomina sind normalerweise die Quelle eines Wandels der syntaktischen Kategorien und ergeben oft Präpositionen. Das involviert besonders Ortsnamen wie das lateinische Nomen casa „ Hütte “ , das im Französischen zur Präposition chez „ bei “ wird, oder auch Namen von Körperteilen, wie man in komplexen präpositionalen Ausdrücken wie Ita. a capo di „ am Kopf, oben “ , ai piedi di „ am Fuße, unten “ sehen kann (vgl. Svorou 1994; Heine 2009). Im Bilin (Kuschitisch) sind sowohl Adverbien als auch Präpositionen eigentlich erstarrte Formen von Nomina, und die Präpositionen regieren immer den Genitiv (Palmer 1967: 208 - 209), was auf eine ursprünglich possessive Struktur hinweist, wie bei den oben erwähnten Fällen des Altaischen (2.33) und des Hethitischen, vgl. § 2.4. Solche sprachübergreifend üblichen Änderungen tauchen schon in den alten idg. Sprachen auf. Ortsnamen und besonders Namen von äußeren Orten liegen oft dem Adverb „ draußen “ oder der Präposition „ aus “ zugrunde: das lateinische Adverb foris „ draußen “ (Ita. fuori) ist eine 113 <?page no="114"?> erstarrte Form des Nomens foris „ Tür “ ; das litauische Adverb lauke „ draußen “ ist der Lokativ des Nomens laukas „ Feld “ . In § 2.4 haben wir auch gesehen, dass das semantische Verblassen auch von Adverbien zu Kasusmarker leiten kann, die sogar grammatikalisierter als Präpositionen sind, wie im Fall des Tocharischen. Solche syntaktischen Änderungen von offenen Kategorien mit einer konkreten Bedeutung (meistens Nomina und Verba, aber manchmal auch Adjektive und Adverbien) zu geschlossenen Kategorien mit einer abstrakten Bedeutung (besonders Präpositionen, Artikeln, Partikeln, Konjunktionen und Interjektionen) sind eine Darstellung der Grammatikalisierung, die zuerst von Meillet (1921) postuliert wurde, vgl. § 1.2.1. Man muss aber auch für jene Fälle eine Erklärung vorschlagen, die gegen die Unidirektionalität der Grammatikalisierung verstoßen, wie die Entwicklung eines Verbs aus einer Partikel einerseits ( τῆ ) in (2.36) und aus einem Adverb andererseits ( δεῦρο „ hier “ ) in (2.37). 74 Denn obwohl Adverbien eine offene Kategorie sind und deswegen mit ihrer Verbalisierung gegen den für die Grammatikalisierung typischen Wandel von lexikalischen zu grammatischen Wörtern nicht eigentlich verstoßen, sind sie nicht normalerweise formale Quellen für Verben. Ein Wandel von Adverb zu Verb wird auch bei Heine & Kuteva (2007: 83 ff) nicht erwähnt, die als sprachübergreifend typische Grammatikalisierung die Entwicklung von Adverbien zu Adpositionen, von Adverbien zu Demonstrativen, von Adverbien zu Subordinatoren und von Adverbien zu Tempusmarkern betrachten. Meiner Meinung nach können diese ungewöhnlichen Änderungen des Altgriechischen von Adverb zu Verb und von Partikel zu Verb sowohl syntagmatisch als auch paradigmatisch erklärt werden. Syntagmatisch erscheint die Partikel τῆ regelmäßig neben einem Imperativ schon bei Homer, z. B. Κύκλωψ , τῆ , πίε οἶνον , ἐπεὶ φάγες ἀνδρόμεα κρέα „ O Kyklop, da, trinke Wein, nachdem Du menschliches Fleisch gegessen hast “ (Od. 9.347). Daher konnte sie auch als Ausdruck der manipulativen Funktion reanalysiert werden, und tatsächlich wird diese Partikel durch einen Imperativ in literarischen Übersetzungen wiedergeben, so Voß (1943 b: 119): „ nimm, Kyklop, und trink eins “ . Der Gebrauch von τῆτε ist also ein ähnliches Phänomen wie das vom Jespersen-Zyklus beschriebene für die Negation, wobei eine Struktur, die am Anfang nur zur Verstärkung einer gewissen Funktion benutzt wurde, später zum einzelnen Ausdruck dieser 74 Die erstere Entwicklung ist so selten, dass LSJ (p. 1786) τῆτε nicht als Imperativ interpretiert, sondern als eine aberrante Form des Adverbs τῆδε „ hier “ , aus dem Demonstrativstamm des Pronomens ὁ , ἡ , τό mit enklitischer Partikel -δε , analysiert. In diesem Fall würde man aber eine Idiosynkrasie durch eine andere Idiosynkrasie lösen, und außerdem wird die imperative Funktion von τῆτε vom oben zitierten Schwyzer (1950: 579; 1953: 799), wie auch von Wackernagel (1926: 71 - 72), bewiesen. 114 <?page no="115"?> Funktion wird (da in unserem Fall ein Verb neben τῆτε vorkommt, und Verben im alten Indogermanischen flektiert werden, bekommt τῆτε auch Flexionmarker). Paradigmatisch kann der Wandel von Partikel zu Verb bei τῆτε , wie auch der Wandel von Adverb zu Verb bei δεῦτε , durch die spezifische Beziehung zwischen ihrer Quelle und ihrem Ziel erklärt werden, die eine deiktische Funktion gemeinsam haben. Deixis wird vom proximalen Adverb δεῦρο „ hier “ und von der distalen Partikel τῆ „ dort “ vorausgesetzt, und im Allgemeinen haben alle Partikeln eine semantische deiktische Komponente (vgl. Wilkins 1992). Außerdem liegt Deixis auch in Demonstrativpronomina und im Imperativ, einem Modus, der typischerweise gebraucht wird um den Hörer anzusprechen: der Imperativ ist in der zweiten Person weniger markiert als in der ersten und dritten Person; auch in unserem Fall dienen beide Ziele τῆτε und δεῦτε als Beispiele für den Imperativ in der zweiten Person. Also sind auch die Ausnahmen zur Direktionalität der Grammatikalisierung nicht willkürlich. Vielmehr gewinnt die semantische Beziehung zwischen einer Gruppe innerhalb der möglichen lexikalischen Quellen (Partikeln und Adverbien mit einer deiktischen Funktion) und einer Gruppe innerhalb der möglichen lexikalischen Ziele (Pronomina und Verben mit einer deiktischen Funktion) die Oberhand über die allgemeinere Beziehung zwischen Partikeln als Vertretern geschlossener Kategorien einerseits und Verben als Vertretern offener Kategorien andererseits. Denn jede syntaktische Kategorie beruht auf gewissen semantischen Merkmalen, deren Relevanz noch in den mehrfachen Deklinationen und Konjugationen der alten idg. Sprachen erscheint (§ 2.5). Wenn ein Wort noch transparent ist, können die zugrunde liegenden semantischen Merkmale, die spezifisch für ein Lexem oder eine Unterklasse sind, auch das bloß grammatische Kriterium der Zugehörigkeit zu einer allgemeinen Kategorie überwiegen. Während also entgegengesetzte Veränderungen von einem Imperativ zu einer Partikel wie in (2.38) häufiger sind, wäre es schwieriger, einen Wandel zu erfassen, der von einer deiktischen Partikel zu einer Verbalform führt, die nicht im Imperativ steht. In diesem Fall ist der semantische Unterschied zwischen der Quelle und dem Ziel so groß, dass eine kategoriale Reanalyse so gut wie unmöglich zu sein scheint. Außerdem kann die Berücksichtigung des ganzen Systems der altgriechischen Sprache den ungewöhnlichen Wandel von Partikel zu Verb erklären. Im Altgriechischen sind Partikeln besonders produktiv ( „ das Altgriechische ist unter den indogermanischen Sprachen die an Partikeln reichste “ , Kieckers 1926: 131). Obwohl die griechischen Grammatiker den Partikeln keine eigene Kategorie gewidmet, sondern sie innerhalb der Konjunktionen eingeschlossen haben, haben sie die Partikeln in verschiedene Gruppen unterteilt, je nachdem ob sie „ verbindend “ ( συμπλεκτικοί ) 115 <?page no="116"?> wie μέν , δέ oder „ ausfüllend “ ( παραπληρωματικοί ) wie ἀρ , γε waren (vgl. Denniston 1996; Rijksbaron 1997). Wer immer mit altgriechischen Texten vertraut ist, ist sich auch der Häufigkeit und der Flexibilität dieser Partikel bewusst (vgl. Bonifazi 2012), die oft in anderen Sprachen unübersetzt gelassen werden, in denen die lexikalischen Verfahren fehlen, um ihre subtilen pragmatischen Nuancen auszudrücken. Aufgrund ihrer Produktivität kann man verstehen, dass Partikeln wie τῆ im Altgriechischen auch Quellen des Wandels sein können. Damit meinen wir natürlich nicht, dass ein Wandel von Partikel zu Verb für das Altgriechische innerhalb der ganzen Indogermania einmalig ist, sondern nur, dass in Sprachen, in denen Partikeln eine geringere Rolle spielen, ein solcher Wandel weniger plausibel wäre. 75 Der Fall der griechischen Partikeln erinnert uns auch an das Prinzip der Voraktivierung (priming), das aus der Psychologie und Neurologie stammt und später auch auf die Sprachwissenschaft angewendet wurde. In der Neurologie erlebt die Versuchsperson mehrere Reize und wird dann gebeten, bestimmte Urteile in Bezug auf einen Test zu geben. Ihre Antworten hängen von den vorangehenden Reizen ab (vgl. Kandel et al. 2000). Innerhalb der Sprachwissenschaft fand die Voraktivierung zuerst eine Anwendung auf die Phonologie: z. B. ergibt der Verlust eines Konsonanten eine Ersatzdehnung vor allem in Sprachen, in denen die Länge phonologisch ist, wie im Altgriechischen, und die Assimilierung von Konsonanten in Geminaten erscheint vor allem in Sprachen wie im Italienischen, die schon Geminaten haben, vgl. Kiparsky (2003). Aber die Voraktivierung kann auch für die Morphologie und die Syntax relevant sein: in unserem Fall, wenn eine Sprache sehr reich an Partikeln ist, können die Partikeln auch weitere Verwendungen finden - im Vergleich zu Sprachen, in denen die Partikeln selten sind. Also kann die Erklärung des unregelmäßigen Wandels von Partikel zu Verb im Altgriechischen auch in anderen Bereichen der Sprachwissenschaft und allgemein in anderen Wissenschaften eine Bestätigung finden (weitere Überlegungen bezüglich der Richtung des syntaktischen Wandels und der Ausnahmen zur Unidirektionalität der Grammatikalisierung werden in §§ 6.3.2.4, 6.3.2.5 dargelegt.) 75 Ein anderer Fall sind die von Benveniste (1958) identifizierten Verba delokutiva wie Lat. negare „ nec sagen “ , autumare „ autem sagen, argumentieren “ , salutare „ salutem alicui dicere “ , die auch in den modernen idg. Sprachen ziemlich häufig sind, vgl. Fr. remercier „ merci sagen “ , Dt. bejahen „ ja sagen “ , Engl. to welcome „ welcome sagen “ . Nach Haspelmath (2004 a: 29 - 31) sind Delokutiva kein echtes Gegenbeispiel zur Grammatikalisierung, das sich durch einen natürlichen Sprachwandel entwickelt, sondern sie sind metalinguistische Ausdrücke, die aus einem bewussten Gebrauch heraus und oft auch in gebildeten Gesellschaften entstehen ( „ if speakers know their language also in a written form, even affixes can become sufficiently salient to serve as the basis for a delocutive conversion process “ , S. 30). 116 <?page no="117"?> 2.7 Externe Faktoren beim Wandel der syntaktischen Kategorien In der Entwicklung von offenen zu geschlossenen Kategorien spielen auch externe Faktoren eine wesentliche Rolle. Externe Faktoren sind aber im syntaktischen Wandel schwieriger zu identifizieren als interne Faktoren, weil sie die Berücksichtigung vieler historischer, ökonomischer, sozialer oder kultureller Situationen voraussetzen, die für die frühen Stufen der idg. Sprachen nicht immer klar sind. Die lange Debatte über einige zwischen dem Urindogermanischen und den einzelnen Sprachen hypothetisch angenommene Einheiten wie das „ Italo-Keltische “ , das heute normalerweise von den Spezialisten abgelehnt wird, ist ein Beweis dafür, dass die Forscher oft nicht genau bestimmen können, wie weit die strukturelle Ähnlichkeit zwischen alten idg. Sprachen naheliegender Genera dem arealen Kontakt oder einer gemeinsamen Erbschaft vom Urindogermanischen zugewiesen werden muss. Es ist bekannt, dass, obwohl die Entlehnung am meisten den (non-basischen) Wortschatz betrifft (Meillet 1925: 33 ff), jedes strukturelle Merkmal aus jedem Bereich der Grammatik entliehen werden kann und dass der Einfluss einer Sprache auf eine andere Sprache unterschiedliche Effekte haben kann, je nachdem ob eine linguistische Einheit verlorengeht, hinzugefügt oder verändert wird (vgl. Weinreich 1977; Moravcsik 1978; Thomason 2001; Matras 2009). Wir können einige Beobachtungen, die aus der Kontakt-Linguistik und aus der Dialektologie stammen, auf das Inventar der syntaktischen Kategorien der alten idg. Sprachen anwenden, wenn auch nur in skizzierter Form, denn die syntaktische Entlehnung ist in der Indogermanistik kaum untersucht. Zum Ersten kann der externe Kontakt die natürliche Entwicklung einer syntaktischen Kategorie in einer alten idg. Sprache hemmen, sodass die interne Gestaltung dieser Kategorie besser bewahrt wird, während sie in anderen verwandten Sprachen normalerweise verändert wird. Es ist m. E. kein Zufall, dass sich die geschlossenen Kategorien im Altgriechischen mehr entwickelt haben als im Altindischen, denn die dravidischen Sprachen, mit denen das Altindische immer in enger Verbindung stand, sind auch arm an geschlossenen Kategorien und an Konfigurationen. Für das Proto-Dravidische werden nur Nomina und Verba rekonstruiert, und auch in den belegten dravidischen Sprachen gibt es keine Steigerung, die Adjektive von Nomina oder Verben unterscheiden kann, und auch keine spezifische Form für Adverbien, Artikel oder Konjunktionen: „ The functions that we ordinarily associate with such parts of speech are commonly performed by nouns and verbs; a survey of the various daughter languages reveals that verbs bear most of the burden of these functions “ (Steever 1998: 19). Es gibt im Dravidischen auch kein spezifisches Wort für die Negation, die eher von der 117 <?page no="118"?> verbalen Morphologie ausgedrückt wird, wobei ein Verb sowohl eine positive als auch eine negative Form hat, vgl. § 3.8.2. Dementsprechend kann die komplizierte Morphologie des Dravidischen auch teilweise verantwortlich dafür sein, dass das Altindische seine synthetische Kasus- Markierung mit 8 Kasus bewahrt und die Tendenz zum Synkretismus und zur Analyse anderer alter idg. Sprachen lange zurückgehalten hat. Die dravidischen Sprachen stimmen zwar nicht immer in Anzahl und Typ ihrer Kasus überein, aber sie können jedenfalls durch die Kasus viele syntaktische Funktionen ausdrücken, die in den modernen idg. Sprachen durch PP umschrieben werden. Im ganzen dravidischen Bereich werden sogar 20 Kasus anerkannt, die sich in den einzelnen Sprachen teilweise unabhängig entwickelten (Andronov 2003: 119 ff). Das alte Tamil belegt 8 Kasus, d. h. Nominativ, Akkusativ, Dativ, Genitiv, Lokativ, Soziativ, Instrumental und Equativ-Ablativ, wobei der Equativ einen Vergleich ausdrückt ( mayil-i ṉ „ wie ein Pfau “ ), vgl. Steever (1998: 80 - 81). Nicht nur im Fall des Altindischen kann ein externer Kontakt die Bewahrung der grammatischen Kasus begünstigt haben. Auch die anderen alten idg. Sprachen, in denen die Kasus besser erhalten sind, d. h. Hethitisch (8 Kasus), Tocharisch (8 dem Toch. A und dem Toch. B gemeinsame Kasus, obwohl nur 3 davon vom Urindogermanischen ererbt sind 76 ), klassisches Armenisch (7 Kasus), Litauisch (7 Kasus) und Altkirchenslawisch (7 Kasus), liegen in der Nähe von anderen, nicht-idg. Sprachen, die ein reiches Kasus- Inventar besitzen. Das Hethitische wurde wahrscheinlich einerseits vom Hurritisch beeinflusst, gesprochen bis zum Ende des 2. Millenniums im Mitanni-Reich im östlichen Anatolien, und andererseits vom Sumerischen, das zur Zeit des hethitischen Reiches (1600 - 1200 v. Chr.) zwar bereits ausgestorben war, das aber (ähnlich wie das Akkadische) als Sakralsprache und Kultursprache immer noch ein großes Prestige hatte und als solche innerhalb und außerhalb Anatoliens noch lange erhalten blieb. Das Sumerische (Isolat) hatte 10 Kasus (Absolutiv, Ergativ, Genitiv, Dativ, Lokativ, Ablativ, Komitativ, Terminativ, Direktiv, Äquativ), die sowohl am Nomen als auch am Verb durch Verbalpräfixe markiert wurden, vgl. Poebel 1923: 58 ff.; Falkenstein 1959: 37 ff.; Edzard 2003: 33 ff. Wir werden sehen, dass Sumerisch Hethitisch auch in anderen Bereichen der Syntax beeinflusst, besonders in der Entwicklung einiger ergativer Strukturen (§ 3.8.1). Ergativ 76 Toch. A und Toch. B haben die primären Kasus des Nominativs, des Akkusativs (üblicherweise „ obliquen “ genannt, weil er als Basis der sekundären Kasus gebraucht wird) und des Genitivs gemeinsam, wie auch die sekundären Kasus des Lokativs, des Ablativs, des Allativs, des Perlativs und des Komitativs, die eher als Postpositionen funktionieren (vgl. § 2.4). Dazu hat das Toch. B auch den Vokativ (primär) und den Kausal (sekundär), während das Toch. A den Instrumental (sekundär) besitzt. Für eine ausführliche synchrone Beschreibung und diachrone Erklärung solcher Formen siehe Carling (2000) und Pinault (2008: 462 ff). 118 <?page no="119"?> war auch das Hurritische, das das Hethitische neben dem reichen Kasusinventar auch in der Wortfolge der klitischen Elemente mitgeprägt hat (§ 5.6). Das Urartäische, die einzige bekannte verwandte Sprache des Hurritischen, das in Urartu, im Gebiet um den Vansee, vom 9. bis 7. Jh. v. Chr. gesprochen wurde, und dem auch 9 Kasus zugewiesen werden (Absolutiv, Ergativ, Genitiv, Dativ, Direktiv, Komitativ, Ablativ, Ablativ- Instrumental und Lokativ, vgl. Wilhelm 2004 b: 127), war ein mögliches Substrat für das später belegte klassische Armenisch. Außerdem war klassisches Armenisch in Kontakt mit den Kaukasus-Sprachen, deren Kasusinventare bekanntlich groß sind, und das Slawische mit dem Finno-Ugrischen. Das Finnische, das bis zu 15 verschiedene Kasus einschließen kann, beeinflusst auch die reiche Kasus-Morphologie des Baltischen: das Altlitauische bewahrte nicht nur die meisten Kasus des Urindogermanischen (außer dem Ablativ, der wie im Altkirchenslawischen und im Altgriechischen mit dem Genitiv zusammengefallen ist), sondern fügte auch den Illativ, den Allativ und den Adessiv hinzu, die im modernen Litauisch entweder verschwunden oder auf einzelne erstarrte Ausdrücke beschränkt sind, die aber im Finnischen wie in § 2.4 erwähnt noch produktiv für lokale oder direktionale Beziehungen bleiben (vgl. Johanson 2009: 500). Nach Hagège (1993: 122 - 23) ist dieses Phänomen ein sequential borrowing, d. h. die Entlehnung eines syntaktischen Musters aus einheimischem linguistischen Material, denn die Formen der hinzugefügten adverbialen Kasus des Altlitauischen waren ererbte Postpositionen bzw. Suffixe. Das Tocharische wurde vom Mongolischen diesbezüglich beeinflusst: das Khalkha-Mongolische hat 9 Kasus, d. h. Nominativ, Genitiv, Dativ-Lokativ, Akkusativ, Ablativ, Instrumental, Komitativ, Kasus Indefinitus und Höhenkasus. Den Kasus Indefinitus gebraucht man statt des Akkusativs, wenn ein generischer Referent bezeichnet wird, z. B. in Redensarten. Der Höhenkasus antwortet auf die Frage „ bis wohin? “ , z. B. öwdög-tsö „ bis an die Knie “ (Poppe 1951: 57ff; 65). Eine weitere Komplexität der nominalen Morphologie des Mongolischen besteht darin, dass es neben der „ einfachen Deklination “ mit 9 Kasus auch eine „ doppelte Deklination “ gibt, wobei ein Nomen zwei verschiedene Kasus-Endungen gleichzeitig annehmen kann: z. B. kann man von axa „ älterer Bruder “ nicht nur axī g (AKK) oder axa-tai (KOM), sondern auch axa-tai-g (älterer.Bruder-KOM-AKK) „ einen, der mit dem älteren Bruder ist “ , „ einen zusammen mit dem älteren Bruder “ (Poppe 1951: 68) ableiten. Der Ausdruck eines so spezifischen Kasus wie des Höhenkasus oder des Equativs ist nur möglich in einer Sprache, die ein großes Kasus-Inventar besitzt. Ich finde es bedeutsam, dass alle diese nicht-idg. Sprachen und Sprachfamilien wie Finno-Ugrisch, Altaisch, Hurro-Urartäisch, Sumerisch und Dravidisch, die die zahlreichen Kasus einiger alter idg. Sprachen wie Baltisch, Slawisch, klassisches Armenisch, Anatolisch und Indoiranisch 119 <?page no="120"?> begünstigt haben können, auch eine agglutinierende Morphologie haben. Die agglutinierende Morphologie bewahrt die Transparenz eines Wortes am besten, wovon die einzelnen Bestandteile einfach identifiziert und manchmal abgetrennt werden können. Der übliche Austausch durch Postpositionen geht mit dieser Trennung konsequent einher. Zum Zweiten kann der externe Kontakt die natürliche Entwicklung einer syntaktischen Kategorie in einer alten idg. Sprache beschleunigen, und das ergibt normalerweise den Verfall oder den Verlust der ererbten morphologischen Kodierung (vgl. Trudgill 2001) und die Übernahme einer aus geschlossenen Kategorien bestehenden Konfiguration. Außerdem wird Analysis oft von der Entstehung expliziter Formen für eine gewisse Funktion begleitet, die in vorherigen Sprachstufen auch implizit gelassen und aus dem Kontext interpretiert werden konnte. Wir haben in § 2.3.2.2 gesehen, dass in der Geschichte des Indogermanischen oft Konjunktionen erschaffen oder erneuert wurden, während früher das Asyndeton einen viel breiteren Umfang hatte. Phänomene wie die Vereinfachung der Morphologie und die Entstehung periphrastischer Konstruktionen finden besonders in Ballungsgebieten statt, in denen man den sogenannten social network effect (Milroy 1992) beobachten kann: der Wandel verbreitet sich am meisten in denjenigen Gesellschaften, in denen man normalerweise lockere und oberflächliche Beziehungen mit vielen verschiedenen Gruppen von Leuten hat: The prerequisite for such spread of linguistic innovation is a network structure which includes peoples with loose ties to many social groups but strong ties to none; that is, a typically urban characteristic. But, in populations with dense, multiplex social networks involving frequent and prolonged contact among the members of small peer groups across many social contexts, these close ties promote greater resistance to the adoption of linguistic innovations. (Joseph & Janda 2003: 62 - 63) Es gibt eine gewisse Beziehung zwischen Kontakt und Stadt einerseits und Kontakt und Analyse andererseits. Konfigurationen wie Präposition + NP, Auxiliar + Verb und Konjunktion + Satz sind transparenter und regelmäßsiger als synthetische Strukturen wie Kasus oder monorhematische Tempora und Modi, und Transparenz und Regelmäßigkeit werden oft im Kontext von Kontakt, Bilinguismus und Diglossie bevorzugt. 77 77 Strukturelle Vereinfachungen sind aber sprachübergreifend nicht die einzige Folge eines linguistischen Kontakts: Kuteva (2008) zeigt, dass Kontakt manchmal Akkretion statt Attrition auslöst, wobei eine Sprache aufgrund des Kontaktes neue, redundante morphosyntaktische Ausdrücke entwickelt, die Kuteva frills „ Rüschen “ nennt; als Beispiel dafür erwähnt sie den Fall des Ngemba (einer Mbam-Nkam-Sprache Kameruns), die Relativsätze durch fünf morphosyntaktische Segmente kodiert, die teilweise ererbt und teilweise durch Kontakt erworben sind. 120 <?page no="121"?> Die Effekte der Ballungsgebiete auf den Wandel der syntaktischen Kategorien betreffen besonders drei alte idg. Sprachen, nämlich Hethitisch, Altgriechisch und Latein. Hethitisch, das mehrere analytische Strukturen für das Verb belegt (§ 2.3.2.4), gehört dem Sprachbund des alten Anatoliens und Mesopotamiens an (vgl. Watkins 2001; Rizza 2008; Yakubovich 2009), zusammen mit Sprachen wie dem Sumerischen, dem Akkadischen, dem Hurritischen, die trotz ihrer unterschiedlichen Perioden mindestens in bestimmten Kontexten wie im Ritual auch nach ihrem Aussterben nebeneinander gebraucht und noch lange bewahrt wurden. Die hethitischen Texte benutzen regelmäßig sowohl sumerische als auch akkadische graphische Zeichen, und die Entlehnung eines Schriftsystems spiegelt ein gemeinsames kulturelles Milieu wider. Daher zeigt auch das Hethitische die Korrelation zwischen Analyse und Serialisierung einerseits sowie Kontakt-Sprachen andererseits, obwohl solche Konfigurationen meistens auf den verbalen Bereich dieser Sprache beschränkt bleiben. Die Grammatikalisierung der geschlossenen Kategorien des Altgriechischen - diesmal im Bereich des Nomens - kann etwas mit der Tatsache zu tun haben, dass das Altgriechische in der hellenistischen Periode (3. - 2. Jh. v. Chr.) eine echte Verkehrsprache war, gesprochen von Leuten, die aus verschiedenen Ländern kamen und verschiedene Muttersprachen hatten. Als das Altgriechische die offizielle Sprache der Kultur und der Verwaltung im ganzen östlichen Mittelmeerraum wurde, reduzierte sich die Vielfalt der griechischen Dialekte auf die κοινή , die auch in anderen grammatischen Domänen als den syntaktischen Kategorien dramatische Veränderungen repräsentiert: in der Phonologie gibt es den Verlust des Unterschieds zwischen kurzen und langen Vokalen. In der Morphologie werden die Deklinationen und Konjugationen regularisiert, der Dual verschwindet, und der Dativ ist auch im Verfall. In gleicher Weise hat das Lateinische, die andere globale Sprache des alten Indogermanisch, seine meisten Änderungen in der Zeit der großen Eroberungen in Italien und im Mittelmeerraum (3. - 2. Jh. v. Chr.) erlebt, als eine Masse Sklaven mit unterschiedlichen sprachlichen Hintergründen in Rom zusammenströmte. In dieser Zeit gibt es z. B. die Monophthongierung der Diphthonge, die das Lateinische der Inschriften vom klassischen Lateinisch oft unterscheiden. In der Syntax wird die Kongruenz der Tempora festgesetzt und der Gebrauch der Unterordnung entwickelt, nach der das Tempus und der Modus des Verbs im Nebensatz vom Tempus und Modus des Verbs im Hauptsatz bedingt wird. Obwohl der Kontakt mit anderen Sprachen oder mit anderen dialektalen Varianten derselben Sprache wichtig für das Verständnis jedes Wandels ist, sind Kontakt-Faktoren für Verkehrssprachen wie das Altgriechische und das Lateinische oder für Sprachen, die einem Sprachbund angehörten, wie das Hethitische, sogar entscheidend. Die Tatsache, dass die modernen idg. Sprachen oft idiosynkratische grammatische Merkmale im 121 <?page no="122"?> Vergleich zur Mehrheit der Sprachen der Welt aufweisen, ist wahrscheinlich eine Erbschaft des Griechischen und Lateinischen in ihren klassischen und nachklassischen Perioden, die durch ihr Prestige in der Literatur, im rationalen Denken und im Recht das Standard Average European geprägt haben. Ein externer Kontakt kann auch dem Erwerb früher abwesender Kategorien einer Sprache zugrunde liegen. Z. B. hatten Personalpronomina im Indogermanischen keine Unterschiede in der Bezeichnung der Höflichkeit (politeness), und im Westen werden unterschiedliche pronominale Formen für den Angesprochenen nach seiner sozialen Stufe, wie Fr. tu vs. vous, erst seit dem Mittelalter gebraucht (vgl. Heine & Kuteva 2007: 334). Viel früher jedoch wird Höflichkeit, hier durch nominale Formen, im Indischen kodiert. Im klassischen Sanskrit ist das Adjektiv bhávat- „ selig, heilig “ üblich für die Funktion des Pronomens der zweiten Person, und weitere Nominalia wie ā ´rya- „ edel “ , ā ´yus · mat- „ langlebig “ , mah ā bh ā ga „ hochglücklich “ werden als Formen der Anrede verwendet. Diese Neuerung wird m. E. vom Kontakt mit anderen asiatischen Sprachen begünstigt, in deren Grammatik Höflichkeit eine prominente Kategorie ist. In einem großen Gebiet Asiens, das die dravidischen Sprachen, die Munda-Sprachen, die sinotibetischen Sprachen, das Koreanische, das Japanische usw. umfasst, wird der Hörer normalerweise durch ehrende Namen wie „ Meister “ , „ Großvater “ , „ Onkel “ angeredet, während der Sprecher sich selbst mit bescheidenen Namen wie „ Sklave “ oder „ Armer “ bezeichnet. In solchen Fällen sind Personalpronomina eigentlich Nomina, die ihre konkrete lexikalische Bedeutung bewahren, sodass auch die Identifizierung einer pronominalen Kategorie für diese Sprachen umstritten ist. Deshalb spricht man von „ Vermeidung der Pronomina “ (pronouns avoidance) aus Gründen der Höflichkeit (Helmbrecht 2005). Obwohl Höflichkeit im Altindischen nicht so grammatikalisiert ist, ist es verständlich, dass die Pronomina dieser Sprache wenig geschlossen sind und mehrere Ähnlichkeiten mit Nomina haben, zumindest im Vergleich mit den anderen alten idg. Sprachen. Das ist ein weiterer Grund dafür, dass geschlossene Kategorien im Altindischen nicht so entwickelt sind. 78 78 Der Ausdruck der Höflichkeit ist nur eines der zahlreichen Beispiele dafür, wie der areale Kontakt mit den anderen Sprachen des indischen Subkontinents den syntaktischen Aufbau des Altindischen umgestaltet hat. Der tausendjährige Austausch zwischen Indoarischem und Dravidischem hat zwar viele linguistische Gemeinsamkeiten beiderseits bewirkt, doch während im Wortschatz die Entlehnungen aus Sanskrit zum Dravidischem viel häufiger sind als umgekehrt, ist die Syntax der dravidischen Sprachen im Kern dieselbe geblieben und hat sogar einen wesentlichen Einfluss auf das Indoarische gehabt. Die ersten grammatischen Beschreibungen der Sprachen Indiens haben mehr die vom Sanskrit zum Dravidischen gerichteten Einflüsse betont und aus Prestigegründen gerechtfertigt (Beames 1879: 10 - 11), 122 <?page no="123"?> Traditionell werden zur Erklärung eines Sprachwandels normalerweise externe Faktoren internen Faktoren gegenübergestellt. Das kann methodologisch auch richtig sein, wenn man der Einfachheit halber ein Phänomen per se ohne andere mögliche Interferenzen untersuchen will. Aber man muss sich bewusst sein, dass diese Trennung ein fiktives Modell ist, und nicht nur weil in der Wirklichkeit interne und externe Faktoren schwierig zu unterscheiden sind, sondern - was noch wichtiger ist - weil die beiden oft dieselben Effekte haben. Dorian (1993) erwähnt den Fall einiger in den Vereinigten Staaten gesprochenen Varianten des Deutschen, in denen das Hilfsverb sein von anderen Hilfsverben wie haben oder tun ersetzt wird. Das scheint auf den ersten Blick ein Einfluss aus dem Englischen zu sein, aber eine tiefere Analyse zeigt, dass mehrere deutsche Dialekte auch in Deutschland diese Struktur entwickelt haben (vgl. auch Lass 1997: 172 ff). Ähnlich ist die Vielfalt der Kasus im hethitischen Nominalsystems eben keine große Änderung der ursprünglichen Situation, und die Entstehung analytischer und expliziter Strukturen im hethitischen Verbalsystem beschleunigt nur eine Tendenz, die auch in anderen idg. Sprachen früher oder später durch eine unabhängige Drift à la Sapir umgesetzt wird. Deshalb stimme ich mit Heine & Kuteva (2003; 2005) überein, dass beim Wandel eine Synergie zwischen internen und externen Kräften besteht, die sie contact-induced grammaticalization nennen. Die Möglichkeit desselben Effektes innerer und äußerer Faktoren ist auch relevant für die Einschätzung der Ursache eines ungewöhnlichen Wandels. So schreibt Thomason (2003: 688): „ Contact between languages (or dialects) is a source of linguistic change whenever a change occurs that would have been unlikely, or at least less likely, to occur outside a specific contact situation. “ Diese Annahme ist richtig, wenn man meint, dass innere Erklärungen, wenn sie verfügbar sind, äußeren Erklärungen gegenüber im Prinzip bevorzugt werden (vgl. § 6.3.1). Die Annahme scheint mir jedoch dann unrichtig zu sein, wenn man die Ursache eines idiosynkratischen Merkmals außerhalb vom Sprachsystem sucht, das per se zur Konsistenz neigen würde. Diese Sichtweise des angeordneten Systems, die so oft den Daten widerspricht, ließ einige Forscher die Auffassung des Systems selber ablehnen (§ 1.4.1). Wir müssen hingegen annehmen, dass Sprachen auch obwohl die Tradition einiger dravidischer Sprachen wie des Tamils eine so reiche und hochgeehrte Literatur vorweisen kann. Das aber hängt lediglich mit der Tatsache zusammen, dass die Effekte auf den Wortschatz auffälliger sind als die auf die Grammatik, und dass die Syntax damals auch weitgehend unerforscht war. Es ist heute allgemein anerkannt (Thomason & Kaufmann 1988: 139 ff), dass die Syntax der neuindischen Sprachen vom Dravidischen stark geprägt wurde, z. B. im zunehmenden Gebrauch der nicht-kanonischen Strukturen mit Dativ-Experiens (§ 3.5.2.2), in der Entwicklung der Konverben statt finiter Nebensätze (vgl. Tikkanen 1987) oder auch in der Wortfolge (§ 5.3). 123 <?page no="124"?> eine interne Entwicklung zur Abweichung und Idiosynkrasie ohne externe Einflüsse haben können. Die Notwendigkeit einer Anerkennung der inneren Inkonsistenz werden wir in § 3.8 erneut diskutieren. 2.8 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Wir haben hier die syntaktischen Kategorien der alten idg. Sprachen in Synchronie und Diachronie betrachtet. Wir haben gesehen, dass es zwar einen großen Unterschied zwischen Nomina und Verben gab, wie die Grammatiker der Antike einstimmig bemerkten (§§ 2.2.1, 2.2.2), dass jedoch die anderen syntaktischen Kategorien in den alten idg. Sprachen weniger unterschiedlich waren als in den modernen. Adjektive waren eine Unterkategorie innerhalb der Nomina (§ 2.3.1.1), und das Adverb hatte die meisten Überlappungen mit anderen Kategorien: es konnte manchmal auch als Adposition, Konjunktion oder Partikel bzw. Interjektion funktionieren (§ 2.3.1.2). Daher ist die Anzahl geschlossener Kategorien in den alten idg. Sprachen beschränkter als in den modernen idg. Sprachen, und besonders Adpositionen und Konjunktionen waren nur schwach entwickelt, weil sie ihre ursprünglich adverbiale Bedeutung noch zeigten (§ 2.3.2). Also können wir die in § 2.1 gestellte Frage, ob und inwieweit die Beschreibung der syntaktischen Kategorien, die wir von den griechischrömischen und indischen Grammatikern bekommen haben, auch auf andere alte idg. Sprachen und auf das rekonstruierte Urindogermanische angewendet werden kann, so beantworten, dass nur die indische Rubrizierung mit ihren wenig zahlreichen und flexibler bestimmten syntaktischen Kategorien für die frühesten Stufen anderer idg. Sprachen und vermutlich auch für das Urindogermanisch für getreu gehalten werden kann (§ 2.5). Die griechisch-römische Kategorisierung hingegen ist einerseits das späte Ergebnis einer langen Debatte zwischen verschiedenen Grammatikern und Philosophen, andererseits spiegelt sie die spezifische Situation des klassischen Griechisch (mehr als des Lateinischen) wider, wo geschlossene Kategorien grammatikalisierter waren als in anderen idg. Sprachen. Die Kriterien, die in der Antike für die Kategorisierung verwendet wurden (§ 2.2.3), sind aber noch heute gültig aufgrund ihrer Rücksicht sowohl auf die Form als auch auf die Bedeutung der Kategorien. Neben den beherrschenden morphologischen Kriterien ist der Gebrauch semantischer Kriterien für offene Kategorien und syntaktischer Kriterien für geschlossene Kategorien, deren Stellung im Satz fester ist, bemerkenswert. Semantische Kriterien werden jedenfalls in der indischen Tradition öfter benutzt als in der griechischen, und das stimmt gut mit der niedrigen Grammatikalisierung der geschlossenen Kategorien im Altindischen überein. 124 <?page no="125"?> Die Situation der syntaktischen Kategorien in den alten idg. Sprachen findet wesentliche Parallelen in vielen nicht-idg. Sprachen, die reich an morphologischen Unterschieden und arm an geschlossenen Kategorien sind, und in denen der Unterschied zwischen verschiedenen Kategorien oft nicht so eindeutig ist (§ 2.3). Wie Schachter & Shopen (2007: 4) bemerken, „ in certain other languages [. . .] nouns and verbs, or nouns and adjectives, or verbs and adjectives, may have very much more in common than they do in English “ . Auf die Frage, wie das alte Indogermanisch im Vergleich zu anderen Sprachen steht, geben wir die ziemlich unerwartete Antwort, dass vom Standpunkt der syntaktischen Kategorien die alten idg. Sprachen vielen nicht-idg. Sprachen ähnlicher sind als den modernen idg. Sprachen, die einen hoch grammatikalisierten Gebrauch der Kategorien zeigen. Die Tatsache, dass das Standard Average European sich wegen des Gebrauchs des Artikels, des analytischen Perfekts, der einfachen Negation usw. so oft anders als die Mehreit der Sprachen der Welt verhält (vgl. Haspelmath 2001 a), scheint mir ihre Wurzel nicht nur in den ersten Völkerwanderungen des europäischen Kulturkreises im Frühmittelalter zu haben, wie normalerweise angenommen wird, sondern auch (und vielleicht noch mehr) im Altgriechischen und im Lateinischen, die als Linguae francae der Antike viele Änderungen zur Analyse im Bereich der syntaktischen Kategorien schon antizipierten. Die ähnliche Kategorisierung in den alten idg. Sprachen und in vielen nicht-idg. Sprachen könnte damit zusammenhängen, dass sie eine meistens mündliche Überlieferung gemeinsam haben, in welcher der Gebrauch der syntaktischen Kategorien erheblich von pragmatischen Verfahren mittels Intonation und Wortfolge geprägt wird. Synchron haben wir untersucht, ob man innerhalb des in Raum und Zeit scheinbar heterogenen Bereichs der geschlossenen Kategorien eine gewisse Systematizität identifizieren kann, sodass einige geschlossene Kategorien weniger basisch als andere sind und durch ihre Anwesenheit in einer Sprache auch die Anwesenheit der basischeren vorhersagen lassen. Wir haben vorgeschlagen, dass im Indogermanischen Konjunktionen basischer als Adpositionen sind und dass Adpositionen basischer als Artikel sind, nach einer Implikationsskala, die auch eine typologische Unterstützung bekommt (§ 2.4). Diachron haben wir den Wandel von offenen zu geschlossenen oder von morphologisch kodierten zu syntaktisch kodierten Kategorien analysiert (§§ 2.3, 2.5), wie z. B. vom Gebrauch der Kasus zum Gebrauch der Präpositionen, vom Gebrauch der Modi oder Tempora zum Gebrauch der Hilfsverben, von Adverbien zu Verbalpartikeln. Ein üblicherweise nicht untersuchter Wandel, den wir hier analysiert haben, betrifft die Proformen (§ 2.3.2.1), die ursprünglich weniger zahlreich und meistens auf Nomina oder Sätze beschränkt waren. Mit der Zeit nimmt das Inventar der Proformen zu, und ihre Verwendung wird auch spezifischer. Wir haben aber 125 <?page no="126"?> gesehen, dass die Änderungen der syntaktischen Kategorien in den alten idg. Sprachen manchmal eine unerwartete Direktionalität aufweisen, wie etwa von Partikel zu Verb im Altgriechischen (§ 2.6). Auch für diese Fälle haben wir eine mögliche Erklärung vorgeschlagen, die eher spezifisch für die jeweilige Konstruktion bzw. Sprache ist. Außerdem spielen interne Faktoren in der Gestaltung der syntaktischen Kategorien in den alten idg. Sprachen mit externen Faktoren zusammen (§ 2.7): wir haben gesehen, dass der sprachliche Kontakt, der insbesondere Verkehrsprachen wie Altgriechisch und Latein betrifft, oder der sich in Ballungsgebieten wie im alten Anatolien entwickelte, oft eine Vereinfachung der ererbten syntaktischen Formen und eine Zunahme neuer transparenterer periphrastischer Strukturen mit sich bringt, die aus geschlossenen Kategorien bestehen. Es ist nicht einfach zu bestimmen, wann eine geschlossene Kategorie, die in den alten idg. Sprachen unbelegt oder nur durch unverwandte Formen belegt ist, für das Urindogermanische rekonstruierbar ist. Man kann m. E. eine geschlossene Kategorie für das Urindogermanische dann ausschließen, wenn sie nicht nur monoglottische Strukturen hat, sondern ihre Funktion auch mit Alternativstrategien ausgedrückt werden konnte. Z. B. kann kein Hilfsverb für das Urindogermanische rekonstruiert werden, weil die Funktion des Aspekts von der reichen verbalen Morphologie ausgedrückt wurde. Ebenso kann dem Urindogermanischen kein Artikel zugeschrieben werden, weil die freie Wortfolge die Funktion der Definitheit darstellte. Dagegen gingen andere, meistens monoglottisch geschlossene Kategorien wie Interjektionen einfach verloren (§ 2.3.2.5). Die hier diskutierten syntaktischen Kategorien sind auch relevant für das Verständnis der Probleme der syntaktischen Funktionen, der syntaktischen Hierarchie und der Wortfolge, die wir in den folgenden Kapiteln betrachten werden. Wir werden sehen, dass die (im Nominalsystem) ziemlich hohe Grammatikalisierung der geschlossenen Kategorien des Altgriechischen möglicherweise einen Zusammenhang mit der Tatsache hat, dass Altgriechisch einen weithin grammatikalisierten Gebrauch der Kasus hat (§ 3) und auch früh festgesetzte hierarchische Strukturen zeigt (§ 4). Dagegen sind jene Sprachen, die am wenigsten Artikel und Adpositionen entwickeln oder die am wenigsten zwischen Nomen und Adjektiv unterscheiden, auch diejenigen Sprachen, in denen Rektion und Dependenz wenig entwickelt sind. 126 <?page no="127"?> Kapitel III Syntaktische Funktionen 3.1 Forschungsfragen zu den syntaktischen Funktionen Syntaktische Funktionen wie „ Subjekt “ (subiectum, ὑποκείμενον ) und „ Prädikat “ (praedicatum, κατηγόρημα ) wurden von den klassischen Grammatikern eigentlich noch nicht anerkannt: Aristoteles, der eine erste Anschauung davon hatte, verstand darunter eher logische als linguistische Einheiten, und Syntaktiker wie Dionysios Thrax und Apollonios Dyskolos ignorieren sie völlig; in der westlichen Tradition geht die Anerkennung der syntaktischen Funktionen auf die Scholastik und Modistik zurück (13. - 14. Jh., vgl. Vineis & Maierù 1994: 134; 151). Denn trotz der typischen Beziehungen zwischen Subjekt und Nomen bzw. zwischen Prädikat und Verb müssen syntaktische Funktionen von syntaktischen Kategorien unterschieden werden mittels des Begriffs der Relationalität bzw. Nicht-Relationalität, und das wurde erst in moderner Zeit, besonders von Chomsky, herausgearbeitet. Syntaktische Kategorien sind nicht relational, weil sie ohne Rücksicht auf den Satz oder Kontext anerkannt werden können; so ist der Ausdruck das Pferd immer eine NP. Dagegen sind syntaktische Funktionen relational, weil sie nur anhand eines bestimmten Satzes identifiziert werden: das Pferd ist kein Subjekt per se, sondern kann nur das Subjekt eines Satzes wie das Pferd läuft sein. 79 Relationalität kann ein Grund für die späte Anerkennung der syntaktischen Kategorien sein, denn andere relationale Einheiten der syntaktischen Hierarchie wie Kopf oder Ergänzung wurden in der Sprachtheorie auch erst in moderner Zeit identifiziert, und eine ähnliche Situation gilt für einige syntaktische Kategorien wie Präpositionen und Artikel, die in ihrer Beziehung zum Nomen relationaler als andere Kategorien sind und auch später in der grammatischen Tradition anerkannt wurden (§ 2.2). So wie sich die am spätesten identifizierten syntaktischen Kategorien auch in der Sprache selber - unabhängig von der grammatischen Überlegung - am spätesten entwickelt haben (§ 2.5), so darf auch die späte Anerkennung der 79 „ The notion ‚ Subject ‘ , as distinct from the notion ‚ NP ‘ , designates a grammatical function rather than a grammatical category. It is, in other words, an inherently relational notion. We say, in traditional terms, that in (1) [sincerity may frighten the boy] sincerity is an NP (not that it is the NP of the sentence) and that it is (functions as) the subject-of the sentence (not that it is a Subject). Functional notions like ‚ Subject ‘ , ‚ Predicate ‘ are to be sharply distinguished from categorial notions such as ‚ Noun Phrase ‘ , ‚ Verb ‘ , a distinction that is not to be obscured by the occasional use of the same term for notions of both kinds. “ (Chomsky 1965: 68) 127 <?page no="128"?> syntaktischen Funktionen keinesfalls als mangelhafte Überlegung der alten Grammatiker betrachtet werden. Sie hängt vielmehr damit zusammen, dass syntaktische Funktionen - wie relationale Einheiten generell - eine gewisse Hierarchie voraussetzen, und die syntaktische Hierarchie, wie wir in Kapitel IV diskutieren werden, war damals viel weniger entwickelt als in den modernen idg. Sprachen. Ein weiterer Grund für die späte Anerkennung der syntaktischen Funktionen besteht darin, dass sie von semantischen oder pragmatischen Bedeutungen oft schwer zu unterscheiden sind. Einerseits stellt das Subjekt, d. h. das Nominal, das in den alten idg. Sprachen durch den Nominativ gekennzeichnet wird und die verbale Kongruenz auslöst, unter normalen Umständen das Agens dar, d. h. den belebten Referenten, der eine Handlung durchführt; andererseits stimmt das Subjekt normalerweise auch mit der Topik überein, d. h. dem Gegenstand, um den sich der Diskurs dreht ( „ The prototype of subject represents the intersection of agent and topic, i. e. the clearest instances of subjects, cross-linguistically, are agents which are also topics “ , Comrie 1989: 107). Solche semantischen und pragmatischen Funktionen sind auch relational, da das Agens und die Topik nur syntagmatisch identifiziert werden können. Dasselbe gilt für das direkte Objekt, das in den alten idg. Sprachen durch den Akkusativ ohne Adpositionen gekennzeichnet wird und typischerweise einerseits auch der semantischen Funktion des Patiens entspricht, d. h. des (oft unbelebten) Referenten, der von der Handlung bewirkt wird, und andererseits der pragmatischen Funktion des Fokus, d. h. der Information, die über die Topik ausgesagt wird (bzw. der Funktion der sekundären Topik nach Givón 1984 und Dalrymple & Nikolaeva 2011). Anhand der Polyfunktionalität der syntaktischen Funktionen stellen wir uns daher die folgenden Forschungsfragen: Wie weit spiegelt das Subjekt in den alten idg. Sprachen die Funktionen der Topik und des Agens wider, und im Allgemeinen: wie weit entsprechen die grammatischen Kasus im alten Indogermanischen den semantischen Rollen und den pragmatischen Beziehungen? (vgl. §§ 3.2.1, 3.2.2, 3.3.3, 3.4.2) Wie unterschiedlich sind in den alten idg. Sprachen die Strukturen der sogenannten „ nicht-kanonischen Markierung “ (non-canonical marking, s. u.) des Subjekts und des direkten Objekts, d. h. der Fälle, in denen das primäre und das sekundäre Argument des Satzes nicht durch den Nominativ bzw. Akkusativ gekennzeichnet wird? (vgl. § 3.3.2) Warum wurden die nicht-kanonischen Strukturen benutzt, d. h. was für eine Antwort können die alten idg. Sprachen auf die in der heutigen Literatur umstrittene Frage anbieten, ob die nicht-kanonischen Strukturen verwendet wurden, um syntaktische Funktionen zu unterscheiden oder zu identifizieren? (§ 3.3.3) 128 <?page no="129"?> Wie weit hängt die nicht-kanonische Markierung von der jeweiligen Konstruktion bzw. von der jeweiligen Sprache ab, und wie ändert sich eine solche Markierung im Indogermanischen mit der Zeit (§ 3.4) und im Raum (§ 3.5)? Wie verschieden sind die alten und die modernen idg. Sprachen in der Markierung der syntaktischen Funktionen, und welche grammatischen Phänomene könnten den Unterschied bedingt haben? (vgl. § 3.6) Können wir hinter der Variation und dem Wandel der nicht-kanonischen Strukturen eine Systematizität feststellen, die die Darstellung einer syntaktischen Funktion im Indogermanischen gewissermaßen vorhersagen lässt? (vgl. § 3.7) Welche Rolle spielen die Faktoren eines äußeren Kontakts, und wie weit können sie die vorhersagbaren Tendenzen in der Entwicklung der kanonischen Markierung beeinflussen? (vgl. §§ 3.2.1, 3.3.2.1, 3.3.2.2, 3.5.2.2) Welche Auswirkungen haben die kaum grammatikalisierten Strukturen des Subjekts und des direkten Objekts auf die Rekonstruktion der uridg. Syntax? Wie zuverlässig ist die Rekonstruktion des Urindogermanischen als einer topikprominenten Sprache oder einer aktiv-stativen Sprache? (vgl. §§ 3.2.1, 3.8) Wegen ihrer Relationalität erlauben die syntaktischen Funktionen die Beschreibung mehrerer Phänomene der sowohl nominalen als auch verbalen Syntax, die mit den in den anderen Kapiteln diskutierten Themen der Kategorien, der Hierarchie und der Wortfolge verbunden sind. So ist es z. B. bedeutsam, dass sich die Nicht-Übereinstimmung zwischen syntaktischen Kategorien und syntaktischen Funktionen (und daher die Erkennbarkeit eigenständiger syntaktischer Funktionen) für das Prädikat früher entwickelt als für das Subjekt. Nominalsätze, in denen ein Nomen oder ein Adjektiv die Funktion des Prädikats haben (jedoch nicht eine PP - offenbar wegen der relativ späten Entwicklung der Phrasen, vgl. § 4), sind in allen alten idg. Sprachen belegt und mit Sicherheit auch dem Urindogermanischen zuzuweisen (Benveniste 1950). Die Fälle hingegen, in denen eine Verbalform statt eines Nomens das grammatische Subjekt des Satzes ist, wie im Englischen mit einem Gerundium (Swimming is a pleasure), mit einem Infinitiv (To receive a postcard is nice) oder mit einem ganzen Satz (That he could do the job was known to anyone), fehlen in den frühesten Stufen der idg. Sprachen und können für das Urindogermanische nicht rekonstruiert werden. Damals konnten Gerundien und Infinitive nur Adjunkte sein (normalerweise mit temporaler bzw. zweckhafter Funktion), und Ergänzungssätze werden im System der Unterordnung des Indogermanischen erst spät entwickelt (vgl. § 4.5.3). Also bewahrt das Subjekt seine Beziehung zum Nomen mehr als das Prädikat seine Beziehung zum Verb. Das stimmt mit der Tatsache überein, dass in der grammatischen Tradition der syntaktischen Kategorien das Nomen seine prototypische Bedeutung, ein Ding 129 <?page no="130"?> zu bezeichnen, besser bewahrt als das Verb seine prototypische Bedeutung, ein Ereignis zu bezeichnen: wir haben in § 2.2.3 gesehen, dass für das Verb eher formale als semantische Kriterien verwendet wurden, während die semantische Beschreibung des Nomens noch lange üblich blieb. Wir werden in diesem Kapitel sehen, dass das Prädikat in stärkerem Maße als die Argumente auch die Auswahl einer kanonischen oder nicht-kanonischen Struktur bedingt. 3.2 Variation der syntaktischen Funktionen im Indogermanischen 3.2.1 Subjekt und Topik: Urindogermanisch als eine topikprominente Sprache? Auch nachdem im Mittelalter der Begriff des Subjekts in der westlichen grammatischen Tradition erkannt wurde, wurde es noch über Jahrhunderte oft ungenau für den Gegenstand einer Prädikation gehalten und daher mit der Topik verwechselt (vgl. Sandmann 1954; Lambrecht 1994: 118). Der Unterschied zwischen Subjekt und Topik erschien in der Indogermanistik zuerst mit Havers (1926) berühmter Studie über den nominativus pendens, der in vielen alten idg. Sprachen belegt ist, z. B. Ager rubicosus et terra pulla, materina, rudecta, harenosa, item quae aquosa non erit, ibi lupinum bonum fiet „ Rötlicher Boden und schwarze, brettharte, steinige, sandige Erde, ebenso Land, das nicht wasserreich ist - dort werden die Lupinen gut gedeihen. “ (Cato, Agr. 34; Übersetzung Flach 2005: 130). Die Folgen solcher synchron idiosynkratischer Strukturen für die Rekonstruktion der Syntax des Urindogermanischen wurden aber vor allem von W. Lehmann (1976 b) dargelegt, demzufolge das Urindogermanische eine echte topic-prominent language im Sinne von Li & Thompson (1976) gewesen ist. Da die Annahme, dass Urindogermanisch bzw. einige alte idg. Sprachen topikprominent waren, in der Historiolinguistik häufig auftaucht (vgl. Fischer 2004: 207 in Bezug auf die germanischen Sprachen), ist es wichtig, genauer anzuschauen, was Li & Thompson (1976) für eine topikprominente Sprache hielten, um bestimmen zu können, inwieweit eine solche Hypothese für die uridg. Syntax aufgestellt werden kann. Li & Thompson (1976) zeigen erstens, dass Subjekt und Topik in verschiedenen Sprachen ganz unterschiedliche Rollen spielen. Im Vergleich zu subjektprominenten Sprachen wie dem Deutschen und auch dem Standard Average European, in denen das Subjekt anhand morphosyntaktischer Kriterien eindeutig gekennzeichnet wird, gibt es Sprachen wie das Lahu (3.1), bei denen eine solche Identifizierung nicht einfach ist und der 130 <?page no="131"?> pragmatische Begriff der Topik für die Strukturierung des Satzes relevanter ist. (3.1) Lahu (Tibetobirmanisch; Li & Thompson 1976: 462) h ɜ chi tê pê ʔ ō dà ʔ jâ field this one classifier rice very good „ This field (topic), the rice is very good. “ Hier ist h ɜ „ Feld “ kein Subjekt, sondern die Topik, die als Ausgangspunkt für die folgende Aussage genommen wird: in dieser Aussage ist ō „ Reis “ eher das Subjekt der Prädikation dà ʔ jâ „ ist sehr gut “ . Nach diesem Muster werden die Sätze in topikprominenten Sprachen so organisiert, dass ein allgemeiner Begriff zuerst eingeführt wird, und danach eine Aussage über spezifischere Dinge steht, die im Rahmen des erwähnten generellen Begriffs besser identifiziert werden kann. Ein solches Muster ist sprachübergreifend ziemlich häufig: es erscheint z. B. im Caddo, einer in Oklahoma gesprochenen Sprache, in der Chafe (1976: 51) topics as premature subjects identifiziert. Zweitens wurde gezeigt, dass Topik und Fokus sich auch in der Diachronie unterscheiden, wobei die Funktion der Topik im Vergleich zu der des Subjekts primär ist. In der Ontogenese taucht in der Kindersprache die Topik früher auf als das Subjekt: sogar in Sprachen wie dem Englischen, das eine sehr grammatikalisierte Position für das Subjekt hat, wurden bei Kindern Sätze aufgenommen wie Salt, I tasted it in this food (Gruber 1967 a; Keenan & Schieffelin 1976), und zahlreiche solche Strukturen können im CHILDES Database 80 festgestellt werden. In der Phylogenese illustrieren Li & Thompson (1976: 484), dass subjects [. . .] essentially grammaticalized topics sind, und der Wandel von einem ursprünglichen Topikmarker zu einem Subjektmarker im ! Xun (Khoisan, vgl. Heine 2009: 466) sowie in verschiedenen Bantu-Sprachen (Morimoto 2009) wurde bereits beschrieben. Dementsprechend fechten einige Forscher sogar den universalen Status des Subjekts an, den sie lediglich der Topik zuweisen wollen (vgl. Hagège 1978; Martinet 1985; Lazard 1994; Kibrik 1997; LaPolla 2006). Anhand des diachronen Vorranges der Topik nimmt W. Lehmann (1976 b) an, das Indogermanische habe einen Wandel von topikprominenter Sprache zu subjektprominenter Sprache erlebt. Er begründet seine Hypothese mittels Daten aus dem frühen Vedisch und aus dem Hethitischen, wozu er im Großen und Ganzen auf Justus (1976) verweist. W. Lehmann stellt fest, dass in diesen Sprachen der Satz oft verschiedene Nominalia für das grammatische Subjekt und für die Topik enthält, die sich nach linearen und hierarchischen Kriterien unterscheiden: die Topik wird stets vor das 80 http: / / childes.psy.cmu.edu/ data/ 131 <?page no="132"?> Subjekt gestellt und folgt keinen „ Selektionsbeschränkungen “ (selectional restrictions) im Verhältnis zum Prädikat, während das Subjekt in die Argumentstruktur des Satzes eingebunden ist. Die Natur des Urindogermanischen als einer topikprominenten Sprache sei für die fehlende Kongruenz des nominativus pendens und ganz allgemein für die lockere, appositive Satzverbindung verantwortlich, die man oft in den frühesten Texten der alten idg. Sprachen findet, während die in den modernen germanischen Sprachen stark ausgeprägte Funktion des Subjekts am deutlichsten in ausfüllenden Strukturen mit leeren Pronomina erscheint, z. B. Dt. es regnet vs. Lat. pluit. The recognition that topic-prominent languages must be distinguished from subject-prominent languages clarifies further one of the difficult problems of early Indo-European syntax, while supporting the view that Proto-Indo- European in its earliest stages was a topic-prominent language. Yet in the course of three millennia, from such a topic-prominent language, subjectprominent languages have developed. Subjects are expected for most sentences in Classical Latin and Greek, as well as Classical Sanskrit, and certainly in late dialects like Germanic. The subjects are first introduced as amplifications of the person markers in the verb. The subject itself then becomes more prominent, eventually reducing the importance of the verbal person marker, which then may be lost, as for the most part in the modern Germanic dialects. (W. Lehmann 1976 b: 454) Außerdem stellt W. Lehmann eine Synergie zwischen dem Wandel von Topik zu Subjekt und dem Wandel von SOV zu SVO (vgl. § 5) fest, sowie eine Beziehung zu anderen grammatischen Phänomenen wie Passivierung und Reflexivierung, die in typischen topikprominenten Sprachen fehlen und die deswegen nach diesem Forscher auch im Urindogermanischen abwesend sind. Unter den belegten alten idg. Sprachen ist die Trennung zwischen Topik und Subjekt nach Justus (1976) besonders deutlich in den hethitischen Relativkonstruktionen, in denen die Topik auch in anderen Kasus als im Nominativ vorkommen kann. In (3.2) enthält der vorangestellte Relativsatz, der durch das Relativpronomen (kuit) gekennzeichnet ist, den nominalen Kopf ( āšš u „ Gut “ ), der im folgenden Hauptsatz durch ein Demonstrativum (ap ē danda) resümiert wird. (Für den hethitischen Relativsatz vgl. Ch. Lehmann 1984: 123ff; für andere Fälle von casus pendens im Hethitischen vgl. Luraghi 1990 a: 92 ff). (3.2) KASKAL-za ku-it a-a š š u ú-tah ˘ -h ˘ [u-un] Feldzug: ABL welches: AKK.N.SG Gut(N): AKK.SG bringen: PRÄT.IND1SG a-pé-e-da-an-da a-li š š i-ya-nu-un jener: INSTR.N.SG ausstatten: PRÄT.IND1SG „ Welches Gut ich von den Feldzügen heimbrachte, damit stattete ich (sie, sc. die Tempel) aus. “ (CTH 1; Übersetzung Neu 1974: 15) 132 <?page no="133"?> Fast vierzig Jahre, nachdem W. Lehmann (1976 b) seine Hypothese des Urindogermanischen als einer topikprominenten Sprache postuliert hat, steht heute natürlich mehr Literatur zur Verfügung, um die Beziehung zwischen Topik und Subjekt in den ältesten Stufen der idg. Sprachen besser zu beurteilen. Einerseits ist es heute klar, dass Topikalisierungen, die in der Argumentstruktur des Satzes nicht integriert sind, in vielen alten idg. Sprachen üblich waren. Sie sind sowohl in Texten als auch von Grammatikern mehrmals belegt. In Bezug auf das Altpersische schreibt Schmitt (2004: 737): „ a striking feature of Old Persian syntax and stylistics is the frequent use of a sentence-initial (so-called) casus pendens (usually an absolute nominative), which is resumed by a demonstrative pronoun [. . .] or adverb “ , wie in (3.3). Vgl. auch (3.72). (3.3) Vi š t ā spa man ā pit ā hau Par θ avai ā ha Vi š t ā spa(M): NOM ich: GEN Vater(M): NOM.SG jener: NOM.M.SG Parthien: LOK sein: PF3SG „ Mein Vater Hystaspes, er war in Parthien. “ (DB 2.93 - 94) Dieses Muster kann man durchgängig in kaum hierarchischen Satzstrukturen beobachten, die typisch für ein mündliches Kommunikationssystem sind. W. Lehmann (1976 b) hat also ganz richtig gezeigt, dass das Fehlen der Kongruenz beim casus pendens und anderen versetzten Strukturen der alten idg. Sprachen kein Anakoluth ist, sondern ein syntaktisches Muster widerspiegelt, das sprachübergreifend üblich ist. Andererseits evoziert die Rekonstruktion des Urindogermanischen als echte topikprominente Sprache doch auch einige Probleme. Wenn Topikprominenz lato sensu als appositive Verknüpfung gemeint ist, die in einer Sprache neben syntaktisch eingebetteten Strukturen optional benutzt werden kann, dann kommt sie auch in den modernen idg. Sprachen vor, und besonders in der Umgangssprache sind sie häufig. Z. B. erlaubt der toskanische Dialekt des Italienischen nicht nur topikalisierte Nomina (la tua amica l ’ ho vista ieri „ deine Freundin, ich habe sie gestern gesehen “ ), sondern auch topikalisierte Verben (im Infinitiv, z. B. mangiare mangia poco „ Was Essen betrifft, isst er/ sie wenig “ ) und sogar topikalisierte Adjektive (bella è bella „ Was das Schöne betrifft, ist sie schön “ ).Solche Topikalisierungen waren unmöglich in den alten idg. Sprachen, wahrscheinlich wegen der in § 3.1 erwähnten Referentialität des Nomens: wie Kategorien anders als Nominalia ursprünglich kein Subjekt sein konnten, so waren sie gleichermaßen von der Position der Topik verbannt. 81 In diesem Fall können wir eine 81 Das kann auch der Grund dafür sein, dass im Toskanischen nur topikalisierte Nomina ein pronominales Resumptivum im Satz verlangen, während kein Resumptivum bei topikalisierten Verben und topikalisierten Adjektiven vorkommt. Denn ein pronominales Resumptivum setzt normalerweise einen Referenten voraus, und Referenten werden von Nomina besser bezeichnet als von Verben oder Adjektiven. Das 133 <?page no="134"?> Zunahme der Topikalisierung vom Lateinischen zum Toskanischen beobachten. Daher erscheinen solche Topikalisierungen als nicht spezifisch genug für das alte Indogermanisch im Vergleich zu anderen Sprachen, und sind eher typisch für ein linguistisches Register als für eine Sprache. Wenn man hingegen Topikprominenz stricto sensu interpretiert, als eine Art syntaktischer Gestaltung der Argumente im Satz, die typisch für das Lahu (3.1), das Chinesische oder das Japanische ist, dann ist sie nicht gültig, weil diese Sprachen völlig verschiedene Kongruenzsysteme haben. Bickel (1999; 2000; 2004) vergleicht verschiedene indoarische und tibetobirmanische Sprachen im Himalayagebiet und bemerkt, dass nur in den letzteren ein obliques Experiens das syntaktische Pivot des Satzes sein kann (3.4). (3.4) Belhare (Tibetobirmanisch; Bickel 2004: 93) cia a-niûa tiu-t-uŋ tea.NOM 1SG.POSS-mind.NOM like-NPT-3[SG]O-1SG.A „ I like this tea. “ 82 Während das Nominal cia „ Tee “ , das die semantische Rolle des Stimulus hat, hier die erste Stellung im Satz wie eine echte Topik bekommt, wird das 1.SG Experiens in eine genitivale Form degradiert und trotzdem am Verb koindiziert. Um „ dieser Tee schmeckt mir “ zu sagen, sagt das Belhare also etwas wie „ dieser Tee schmecke mir “ , wobei das Verb sowohl mit dem Stimulus (-u-) als auch mit dem Experiens (ŋ ) kongruiert. Solche Strukturen sind im Indogermanischen unmöglich. Sogar in denjenigen idg. Sprachen, in denen die Darstellung des primären Arguments des Satzes in einem obliquen Kasus in Strukturen wie Dt. es gefällt mir am produktivsten erscheint, ist ausschließlich der Nominativ Auslöser der verbalen Kongruenz, wobei er in diesem Fall das sekundäre Argument bezeichnet (§§ 3.3, 3.4). In den alten idg. Sprachen stellt das Subjekt also eine schon grammatikalisierte Funktion dar: es gibt eine große Asymmetrie zwischen dem Subjekt einerseits, das sowohl durch den Nominativ als auch durch die Kongruenz des Verbs identifiziert wird, und den anderen syntaktischen Funktionen andererseits, die nur durch Kasusendungen bezeichnet werden. Diese Asymmetrie ist schon in der Definition des Nominativs implizit: der Terminus casus nominativus des Lateinischen und ὀνομαστικὴ πτῶσις des Altgriechischen bedeuten wörtlich „ Kasus des Nomens schlechthin “ , wie wir in § 3.2.2 sehen werden. Um den Wandel von Topikprominenz zu zeigt, wie nicht alle Topikalisierungen in einer Sprache gleich versetzt sind. Wenn ein versetztes Nominal kein Resumptivum bekommt (z. B. la tua amica ho visto ieri), ist es kontrastiv gemeint, sowohl im Toskanischen als auch im Standard-Italienischen. Das Italienische gehört also zu den Sprachen, die in der Terminologie von Kiss (1998) einen + kontrastiven identifikationalen Fokus haben, anders als das Deutsche. 82 NPT = non-past. 134 <?page no="135"?> Subjektprominenz im Urindogermanischen zu erklären, musste W. Lehmann (1976 b) an die Entwicklung der Person-Markierung denken, die angeblich die ursprüngliche Funktion der Kongruenz mit versetzten Konstituenten hatte. ( „ We may assume that an important step towards the prominence of subjects in Indo-European is the introduction of personal endings on verbs “ , S. 454). Da aber die Person-Markierung des Verbs im rekonstruierten Indogermanischen schon festgestellt wurde, wie W. Lehmann selber gesteht, und da die idg. personalen Endungen des Verbs nicht eindeutig auf eigenständige Pronomina zurückgehen können - wie es hingegen im Fall der (agglutinierenden) Bantu-Sprachen ist (vgl. Givón 1976) - , kann der Ursprung des Indogermanischen als eine topikprominente Sprache mit begleitender Entwicklung vom pronominalen Resumptivum zum Kongruenzmarker nicht endgültig bewiesen werden. Insgesamt, wenn wir Stärken und Schwächen der Topikprominenz für das Urindogermanische vergleichen, können wir also erstens vermuten, dass die alten idg. Sprachen und das rekonstruierbare Urindogermanische schon mehr subjektprominent als topikprominent waren, während sie aber vergleichsweise mehr topikorientiert waren als die meisten modernen idg. Sprachen, zumindest in deren standardisierten Varianten. Zweitens geschah der Wandel von hoher zu niedriger Topikprominenz unabhängig in den verschiedenen idg. Sprachen, und die Relikte der alten topikalisierten Strukturen sind nicht in allen Sprachen gleich sichtbar. Drittens können in den alten idg. Sprachen wie im Hethitischen und Altpersischen, in denen die Topikprominenz auffälliger ist, auch Kontaktfaktoren miteinbezogen werden. Der so produktive Gebrauch topikalisierter Relativkonstruktionen im Hethitischen wie auch des casus pendens im Altpersischen könnte vom Kontakt mit semitischen Sprachen wie dem Akkadischen mitgeprägt worden sein. Im Perserreich gab es mindestens vier offizielle Sprachen: neben dem Altpersischen und dem Elamischen (isoliert) wurden die Dokumente von Regierung und Verwaltung auch in Akkadisch und Aramäisch - beides semitische Sprachen - geschrieben. Im Akkadischen sind Phänomene von nominativus absolutus oder casus pendens häufig (vgl. Huehnergard 2000: 212; 224 - 25; Hasselbach 2013: 141 - 42). Sogar die Topikalisierung des Infinitivs am Anfang des Satzes ist möglich, ähnlich dem oben erwähnten Beispiel aus dem Toskanischen, was hingegen untypisch für die alten idg. Sprachen und für das Urindogermanische war. 83 83 Das ist der sogenannte „ absolute Infinitiv “ oder „ paronomastische Infinitiv “ des Semitischen, wobei ein Infinitiv vor einem finiten Verb, das von derselben Wurzel gebildet wird, in einer Art figura etymologica vorkommt. Mit der Wurzel prs „ scheiden, entscheiden “ , die in der grammatischen Tradition des Akkadischen benutzt wird, um die verschiedenen verbalen Muster zu illustrieren, hat der paronomastische Infinitiv die typische Struktur par ā sum iprus (scheiden: IF scheiden: PRÄT3SG.M) „ Was das 135 <?page no="136"?> Die Tatsache, dass topikalisierte nominale Strukturen schon im Indogermanischen existierten, jedoch durch äußeren Kontakt besonders in einigen alten Sprachen bewahrt wurden, ist ein Beispiel für die contact-induced grammaticalization (vgl. Heine & Kuteva 2003; 2005), die wir auch in § 2.7 im Bereich der syntaktischen Kategorien beobachtet haben. 3.2.2 Subjekt und Agens: Transparenz der Kasus in den alten idg. Sprachen Die Probleme der Überlappung zwischen Subjekt und Agens bestehen eher darin, dass erstens semantische Rollen wie Agens, Patiens, Experiens, Stimulus, Benefaktiv usw. anhand ihrer abstrakten Natur schwierig festzusetzen sind, und tatsächlich gibt es keine Übereinstimmung hinsichtlich genauer Anzahl und Typen der semantischen Rollen (vgl. Gruber 1967 b; 2001; Fillmore 1968; Abraham 1971; Wierzbicka 1980; Chomsky 1981; Jackendoff 1983; Rauh 1988; Dowty 1991; McRae et al. 1997; Primus 2009). Zweitens ist die Beziehung zwischen semantischen Rollen und syntaktischen Funktionen in verschiedenen Sprachen mehr oder weniger direkt und transparent, je nachdem welche und wie viele semantische Rollen von derselben syntaktischen Funktion ausgedrückt werden können (Hjemslev 1935; Jakobson 1936; Givón 1997). Im Deutschen ist die Beziehung zwischen Subjekt und Agens ziemlich indirekt und opak, weil das Subjekt auch die Funktion des Experiens (hier fühle ich mich gut) oder des Patiens (der Brief wurde geschrieben) ausdrücken kann. Das ist typisch für die modernen idg. Sprachen und für das Standard Average European. Wie Haspelmath bemerkt: „ The subject comprises a wide variety of semantic roles, i. e. SAE subjects go far beyond the agent role, expressing also experiencers (as in I like her), possessors (as in I have it), even recipients (I got it) and locations (The hotel houses 400 guests). “ (2001 b: 55; vgl. auch Heine 2009: 466 - 468) Die Beziehung zwischen syntaktischen Funktionen und semantischen Rollen war aber in den alten idg. Sprachen und deshalb auch im Urindogermanischen transparenter, weil die zahlreichen Kasus auch einen spezifischen Gebrauch der syntaktischen Funktionen zuließen. Als ein Beweis dafür kann das ursprüngliche Fehlen des Passivs gelten: erstens wird das Passiv in den alten idg. Sprachen unterschiedlich dargestellt, sodass durch Scheiden betrifft, schied er “ (vgl. Cohen 2006). Diese Struktur, die auch in anderen alten semitischen Sprachen wie dem Aramäischen (Degen 1969: 116 - 17), dem Ugaritischen (Sivan 1997: 123 - 24), dem biblischen Hebräisch (Kim 2009) und dem Phönizischen (Wevers 1950) belegt ist, wird auch für das Proto-Semitische rekonstruiert (Lipi ń ski 2001: 424). Das Experimentieren mit unterschiedlichen Wiedergaben des paronomastischen Infinitivs, die in der Übersetzung der Septuaginta verwendet werden, zeigt die Schwierigkeiten eine Struktur auszudrücken, die dem Altgriechischen fremd war (vgl. Callaham 2010). 136 <?page no="137"?> die vergleichende Methode keine passive Form für das Urindogermanische rekonstruiert werden kann (vgl. Delbrück 1897: 432 - 439). Zweitens wird die Funktion des Passivs, d. h. die Topikalisierung des Patiens statt des Agens, in den alten Sprachen durch alternative Verfahren wie das Medium und die Wortfolge, besonders durch die Anfangsstellung, ausgedrückt (§§ 5.4, 6.2.3). Das weist darauf hin, dass der Nominativ für andere semantische Rollen als das Agens ursprünglich wenig zugänglich war. Die höhere Transparenz der syntaktischen Funktionen ergibt sich auch aus der Benennung der Kasus, die in der indischen, griechischen und römischen Tradition überliefert wird (vgl. Blake 2001: 18ff; 2009: 13 - 16; 18 - 20; Butt 2006: 13 ff). Kasus Sanskrit 84 Altgriechisch Latein NOM kartr ˚ ὀνομαστική nominativus GEN γενική genetivus DAT samprad ā naδοτική dativus AKK karmanαἰτιατική accusativus VOK κλητική vocativus ABL apad ā na- - ablativus INSTR karan · a- - - LOK adhikaran · a- - - Die semantische Basis der syntaktischen Funktionen ist besonders sichtbar in der Benennung der adverbialen Kasus: Skr. samprad ā na- (wörtl. „ Empfang, Ziel “ ) ist eine Nominalisierung von der Wurzel d ā „ geben “ und hat dieselbe Bedeutung wie Altgr. δοτικὴ πτῶσις und Lat. casus dativus; Skr. apad ā na- (wörtl. „ Quelle “ ) kommt aus derselben Wurzel mit dem Präfix apa- (Altgr. ἀπό ), was Entfernung bedeutet, wie Lat. ablativus von aufer ō (sexto casu, qui est proprius Latinus nach Varro LL 10.62); Skr. karan · abedeutet „ Instrument “ (vgl. Hettrich 2002 b), Skr. adhikaran · abedeutet „ Standort “ . 84 Der Vokativ und der Genitiv waren nach den indischen Grammatikern keine Kasus, wohl aus verschiedenen Gründen: Der Vokativ hat keine syntaktische Funktion im Satz, der Genitiv ist der adnominale Kasus par excellence, und deshalb konnte er nicht wie die anderen Kasus behandelt werden, die vom Verb abhängig sind. Eine weitere Methode, den Kasus zu benennen, war in Indien eine Ordnungszahl, nach der der Nominativ pratham ā - „ die erste “ ist (sc. vibhakti- „ Verteilung, Kasus “ ), der Akkusativ dvit ī y ā - „ die zweite “ , der Instrumental tr ˚ t ī y ā - „ die dritte “ , der Dativ caturth ī - „ die vierte “ , der Ablativ pañcam ī - „ die fünfte “ , der Lokativ saptam ī - „ die siebte “ ; In der Ordnungszahl wurde auch der Genitiv eingeschlossen (er war s · as · t · h ī - „ die sechste “ ), während der Vokativ noch nicht in dieser Liste war. Er bekam aber die Bezeichnung sam· bodhana- „ Aufwachen “ . Die idiosynkratische Stellung des Vokativs innerhalb des Paradigmas ist in den Sprachen üblich, since „ more often than not the vocative exhibits unusual morphology or phonology, or is not a case form at all “ (Daniel & Spencer 2009: 634). 137 <?page no="138"?> In Indien scheint aber die semantische Funktion der Kasus transparenter als in Griechenland und in Rom zu sein, wie man an der Benennung des Nominativs und des Akkusativs sehen kann. Skr. kartr ˚ - und karmansind ein nomen agentis und ein nomen actionis aus der Wurzel kr ˚ „ machen, tun “ und bedeuten „ Macher, Agens “ bzw. „ Tat, Ergebnis, Objekt, Patiens “ . Die klassischen Definitionen des Nominativs (nominativus bzw. ὀνομαστική ) und des Akkusativs (accusativus bzw. αἰτιατική ) hingegen haben nichts mit den Begriffen des Agens und des Patiens zu tun. 85 Außerdem ist der Name des „ Kasus “ in Indien k ā raka, das nochmals aus der Wurzel kr ˚ abgeleitet wird und deshalb die Kasus als Ausdrücke einer Tätigkeit bezeichnet. Auch die moderne Kasusgrammatik erkennt ihre Abhängigkeit von P ā n· inis Theorie der k ā raka an (vgl. Rocher 1964; Dowty 1989; Gildea & Jurafsky 2002; Butt 2009: 33). Dagegen verweisen die klassischen Ausdrücke πτῶσις und casus (wörtl. „ Fall “ aus dem Verb πίπτω bzw. cado „ ich falle “ ) auf bloß formale Eigenschaften der Kasus, die für Abweichungen vom Nominativ gehalten wurden. Daher können wir behaupten, dass zumindest im Altgriechischen die grammatischen Kasus, die die primären Partizipanten des Satzes bezeichnen, semantisch schon ziemlich opak waren - der Fall des Lateinischen ist komplizierter, weil die grammatische Terminologie dieser Sprache oft direkt vom Altgriechischen entliehen ist, aber das sagt nichts darüber aus, ob ebendiese grammatischen Prinzipien auch für das Lateinische relevant waren; wir werden dieses Thema in § 3.5.2.3 diskutieren. In Kapitel II haben wir gesehen, dass das Verfahren der indischen Grammatiker die rekonstruierbaren syntaktischen Kategorien des Urindogermanischen besser widerspiegelt als das der griechischen Grammatiker. Dasselbe gilt für die syntaktischen Funktionen und die Kasus, die im Urindogermanischen eher semantisch als syntaktisch waren: nach Meillet (1964: 358), le cas auquel sont mis les compléments ne dépend pas du verbe, mais seulement du sens à exprimer. 86 85 Während die Bedeutung des Nominativs als „ Kasus des Nomens “ klar ist, ist die Benennung des Akkusativs umstritten. Wahrscheinlich ist der lateinische Terminus accusativus oder accusandi casus (wörtl. „ Kasus des Anklagens “ ) eine falsche Übersetzung von Varro aus dem Altgriechischen, wobei αἰτιατική nicht mit dem Verb αἰτιᾶσθαι „ anklagen “ (Lat. accuso) in Beziehung steht, sondern eher mit dem Nomen αἰτιατόν „ das Bewirkte “ , das ein Pendant zu αἴτιον „ das Bewirkende “ ist (vgl. Wackernagel 1926: 19; Matthews 1994: 45; Blake 2009: 16). 86 Es muss aber bemerkt werden, dass P ā n· inis k ā rakas trotz ihrer höheren semantischen Transparenz im Vergleich zu den Kasus des Altgriechischen und Lateinischen nicht für generalisierte semantische Rollen gehalten werden können, wie hingegen in der heutigen linguistischen Theorie oft behauptet wird (vgl. Kiparsky 2002). Es genügt, die Häufigkeit des Passivs im klassischen Sanskrit zu berücksichtigen, wobei das Agens durch den Nominativ ausgedrückt wird, um feststellen zu können, dass man keine Eins-zu-eins-Beziehung zwischen indischen Kasus und semantischen Rollen 138 <?page no="139"?> Wie das Altindische hat das Althethitische ein reiches Kasusinventar und deswegen auch eine transparente Wiedergabe der semantischen Rollen. In seiner Studie der dimensionalen Kasus postuliert Starke (1977), dass das Althethitische den Lokativ und den Terminativ, die durch die Morpheme - i bzw. - a gekennzeichnet werden, nur mit Nomina von unbelebten Referenten ( „ Sachklasse “ ) verwendet, während der Dativ nur mit Nomina von belebten Referenten ( „ Personenklasse “ ) vorkommt. Obwohl es wahrscheinlich nicht um eine grammatische Opposition geht, wie Starke (1977) meint, sondern um eine von pragmatischen Faktoren beeinflusste Tendenz (Hoffner & Melchert 2008: 257 ff), ist die semantische Rolle hinter dem Dativ des Althethitischen noch sichtbar. In dieser Sprache kommt der Dativ meistens mit zwei Gruppen von Verben vor, d. h. mit Verben des Gebens und mit verba dicendi, die menschliche Referenten voraussetzen, oder jedenfalls mit Prädikaten, womit er die Rolle des Empfängers oder des Benefaktivs erfüllen kann (Nowicki 2002: 72). Auch das Tocharische hat mit seinen zahlreichen Kasus mehrere Möglichkeiten, die semantische Funktion der Argumente auszudrücken: hier werden der Komitativ und der Instrumental normalerweise für belebte bzw. unbelebte Referenten benutzt. In passiven Ausdrücken kann der Instrumental aber nur verwendet werden, wenn das Agens belebt ist, ansonsten erscheint der Perlativ. Carling (2000: 78 ff) zeigt ausführlich, wie die Wahl eines lokalen Kasus im Tocharischen oft vom Typ des Referenzobjekts abhängt. Die semantische Basis der Kasus ist weniger deutlich im ärmeren Kasusinventar des Altgriechischen. Conti (2002) identifiziert zwar die Grundbedeutung des homerischen Akkusativs im Begriff der „ Gerichtetheit “ , die sowohl konkret als Richtung in einer Bewegung als auch abstrakt als Bezeichung des Affizierten oder des Resultats umgesetzt werden kann, aber sie stellt auch klar fest, dass dieser Kasus „ fließende Funktionen “ hat, „ die semantisch durch mehrere Faktoren bestimmt werden “ (S. 15). Im Altgriechischen können wir also schon die Anfänge der breiten Polysemie der syntaktischen Funktionen des Standard Average European erkennen. Außerdem können wir in der Behandlung der Kasus in der westlichen grammatischen und theoretischen Überlegung eine Änderung beobachten, die besonders das direkte Objekt betrifft, die aber nicht nur auf die Terminologie beschränkt ist, sondern wahrscheinlich auch einen linguistischen Wandel darstellt. Bei den griechischen und römischen Grammatikern wurde der Akkusativ für einen „ schiefen “ Fall ( πλαγία πτῶσις , casus obliquus) gehalten im Gegensatz zum Nominativ, dem „ geraden “ Fall ( εὐθεῖα πτῶσις , ὀρθὴ πτῶσις , casus rectus), also wurde das direkte Objekt nicht anders als das indirekte Objekt und die anderen Obliquen betrachtet. hat. Gegen die Interpretation der k ā rakas als semantische Rollen argumentieren auch Blake (2001: 65) und Butt (2006: 17 ff). 139 <?page no="140"?> Das entspricht der in § 3.2.1 erwähnten formalen Asymmetrie zwischen dem Nominativ und allen anderen Kasus, die keine Verbalkongruenz auslösen können. Die moderne Theorie der Kasus hingegen unterscheidet zwischen „ grammatischen “ , „ abstrakten “ oder „ strukturellen “ Kasus einerseits und „ semantischen “ , „ konkreten “ oder „ inhärenten “ Kasus andererseits (vgl. Blake 2001: 57ff; Butt 2006: 46ff; Haspelmath 2009: 508), d. h. heutzutage werden das Subjekt und das direkte Objekt oft zusammen betrachtet und den anderen Kasus gegenübergestellt. Das ist ein Hinweis darauf, dass in der Kasustheorie für den Akkusativ mit der Zeit eine besondere Beziehung mit dem Nominativ statt mit den obliquen Kasus erkannt wurde, und das hat m. E. etwas mit der zunehmenden Entwicklung der Transitivität und der Konfigurationalität von den alten zu den modernen idg. Sprachen zu tun, die wir ausführlicher in Kapitel IV erörtern werden. Wenn man die grammatische Tradition einer Sprache in Betracht zieht, ist es übliche Praxis, ihre theoretischen Probleme auszudrücken, z. B. wie eine gewisse Definition nicht alle Facetten eines syntaktischen Phänomens erfassen kann oder wie die Beschreibung einer syntaktischen Funktion in einer gewissen Sprache ungeeignet für die entsprechende Funktion in einer anderen Sprache ist (vgl. Malchukov & Spencer 2009: 7 - 8). Das ist zwar richtig, weil z. B. der Akkusativ in einer Sprache mit sechs Kasus wie dem Lateinischen und in einer Sprache mit fünf Kasus wie dem Altgriechischen nicht dieselbe Funktion haben kann: wenn die Kasus in Systemen organisiert sind, wie Hjemslev (1935) und Jakobson (1936) zeigen, dann wird der Umfang eines Kasus notwendigerweise von den anderen Kasus bedingt. Gleichzeitig müssen wir jedoch annehmen, dass die Definitionen der Grammatiker ihre linguistischen Anschauungen der Sprache darstellen, und deshalb kann die verschiedenartige Taxonomie des Akkusativs und des direkten Objekts in der Antike und in der modernen Theorie auch Aufschluss über eine geänderte linguistische Situation geben, in diesem Fall über die wachsende Transitivität. Die Änderung der paradigmatischen Beziehungen des Akkusativs gegenüber den anderen Kasus kann damit angefangen haben, dass der Akkusativ häufiger als die anderen obliquen Kasus ohne Präposition gebraucht wurde. So werden Genitiv, Dativ und Ablativ seit dem Spätlateinischen durch Präpositionalphrasen ersetzt. Dieser Prozess beginnt schon im klassischen Lateinisch, in dem die Funktion der Quelle oder Ursache eher mit ā / ab plus Ablativ als mit dem bloßen Ablativ ausgedrückt wird. Dagegen blieb der Akkusativ oft ohne Konkurrenz zu PP und wurde deshalb von bloßen Wörtern bzw. Phrasen ohne Präpositionen wie dem Nominativ dargestellt. 87 87 Das Endresultat der Annäherung des Akkusativs an den Nominativ erscheint in den romanischen Sprachen, in denen die heutige Grundform normalerweise nicht vom lateinischen Nominativ, sondern vielmehr vom Akkusativ herrührt. Dazu haben aber 140 <?page no="141"?> 3.3 Kanonische und nicht-kanonische Strukturen im Indogermanischen 3.3.1 Nicht-kanonische Markierung in der Sprachtypologie Ein weiteres Zeichen für Transparenz der syntaktischen Funktionen in den alten idg. Sprachen kann anhand der Häufigkeit der „ nicht-kanonischen Markierung “ (non-canonical marking) identifiziert werden, welche besonders in den letzten Jahren viel zur Debatte beigetragen hat, und zwar sowohl in der Allgemeinen Linguistik (vgl. Aikhenvald et al. 2001; Bhaskararao & Subbarao 2004; Naess 2007; de Hoop & de Swart 2009 a) als auch in Studien über einige alte idg. Sprachen und über das rekonstruierte Urindogermanische (vgl. Bauer 2000; Barðdal 2001; 2009; 2011; Eythórsson & Barðdal 2005; Barðdal & Eythórsson 2009). Da aber dieser Begriff in der traditionellen Indogermanistik nicht üblich verwendet wird, und da er außerdem im Mittelpunkt der Argumentation dieses Kapitels steht, soll er hier näher betrachtet und von der „ kanonischen Markierung “ (canonical marking) unterschieden werden. In Nominativ-Akkusativ-Sprachen wie dem Indogermanischen bedeutet die kanonische Markierung, dass ein Satz mit einem zweistelligen Prädikat auch eine transitive Struktur bekommt. Das primäre Argument des Satzes hinsichtlich Menschlichkeit, Agentivität, Definitheit oder Topikalität ist auch das grammatische Subjekt: es wird mit dem Nominativ und mit der verbalen Kongruenz unabhängig von seiner semantischen Rolle kodiert. Der Satz Das Kind (Agens) isst die Äpfel (Patiens), der eine Tätigkeit bezeichnet, wird genauso gebildet wie der Satz Das Kind (Experiens) mag die Blumen (Stimulus), der eine Empfindung beschreibt. Auf dieselbe Weise ist das sekundäre Argument des Satzes auch das grammatische Objekt: es wird mit dem Akkusativ kodiert, unabhängig von seiner semantischen Rolle, und es löst dabei im Indogermanischen keineswegs verbale Kongruenz aus. In der nicht-kanonischen Markierung werden diese Bedingungen nicht eingehalten: das Nominal, das in höchstem Maße einen menschlichen, bestimmten und topikalen Referenten hat, ist durch einen obliquen Kasus gekennzeichnet, und die morphosyntaktischen Merkmale auch phonetische und morphologische Faktoren beigetragen. Es ist bekannt, dass die Endung - m des lateinischen Akkusativs schon in nichtstandardisierten Varianten des Altlateinischen meistens unausgesprochen gelassen wurde und dass bei den konsonantischen Stämmen die Form des Akkusativs länger als die des Nominativs war und deshalb auch mehr Chancen hatte bewahrt zu werden (vgl. Posner 1996: 119 - 120). 141 <?page no="142"?> des grammatischen Subjekts werden einem anderen Nominal zugewiesen, wie im Satz Dem Kind (Experiens) gefallen die Blumen (Stimulus). Alternativ kann das Experiens das einzige Argument eines unpersönlichen Satzes sein, z. B. mich friert. 88 Im Allgemeinen hängt die Wahl zwischen kanonischer und nicht-kanonischer Markierung besonders von drei Faktoren ab: 1) dem Typ der Nominalia, je nachdem ob sie einen belebten, menschlichen oder spezifischen Referenten bezeichnen; 2) dem Typ der Prädikate, die mehr oder weniger agentive und willensmäßige Handlungen beschreiben können; 3) dem Typ des Satzes, der eine hohe oder niedrige Transitivität ausdrücken kann, je nachdem ob er einen perfektiven bzw. imperfektiven Aspekt, eine Realisbzw. Irrealis-Modalität oder eine positive bzw. negative Polarität ausdrückt (vgl. Hopper & Thompson 1980; Tsunoda 1985; Onishi 2001 a; Haspelmath 2001 b; Kittilä 2002). Die Verwendung einer nicht-kanonischen Markierung nach dem Typ der betreffenden Nominalia lässt sich weiter in zwei Subtypen unterscheiden. Im ersten Subtyp wird die nicht-kanonische Markierung von den lexikalisch-semantischen Eigenschaften der Nominalia bedingt, im zweiten von ihrer Stellung im pragmatischen Kontext. Die lexikalisch bedingte nicht-kanonische Markierung des direkten Objekts (differential object marking), die zuerst von Bossong mit besonderer Berücksichtigung der neuiranischen Sprachen (1985) und der romanischen Sprachen (1991; 1997 a) diskutiert wurde, kommt normalerweise für das Patiens oder den Stimulus vor, die in Silversteins (1976) Belebtheitshierarchie hoch oben rangieren 89 88 Die Erwartung einer Entsprechung zwischen Subjekt und Topik ist implizit in einigen Definitionen wie „ logisches Subjekt “ , „ obliques Subjekt “ oder „ quirky subject “ für nicht-nominative Experiens enthalten (vgl. Bhaskarao & Subbarao 2004). Eigentlich sind diese Definitionen nicht richtig: Der Ausdruck „ obliques Subjekt “ ist eine contradictio in adiecto, denn wenn einer NP die Merkmale des Nominativs und der verbalen Kongruenz fehlen, kann sie kein Subjekt sein. Der Ausdruck „ logisches Subjekt “ stellt Begriffe zusammen, die auf verschiedenen Ebenen der Semantik und der Syntax stehen. In ahnlicher Weise ist die Terminologie von „ kanonischer “ und „ nicht-kanonischer “ Markierung auch nicht ganz genau, weil sie auf der Voraussetzung beruht, dass die Kodierung des Agens und des Experiens mit denselben morphosyntaktischen Verfahren die Regel ist, d. h. sie erachtet die Strukturierung des Satzes des Standard Average European als normal. Wenn man aber die nicht-idg. Sprachen betrachtet, ist es klar, dass die nicht-kanonische Markierung in deren Grammatik sehr häufig ist und viele Prädikate und syntaktische Strukturen betrifft. Allerdings wollen wir die üblichen Definitionen nicht ändern, und deshalb behalten wir Termini wie „ oblique Subjekte “ und „ (nicht-)kanonische Markierung “ hier bei. 89 Silversteins Belebtheitshierarchie lautet wie folgt: First / second person pronouns > third person pronouns > proper nouns > common nouns of human beings > common nouns of animate, non-human beings > common nouns of inanimate beings > mass nouns (Croft 2003: 128 ff). 142 <?page no="143"?> (vgl. auch Lazard 1994; Aissen 1999; 2003; Brugé & Brugger 1996; Heusinger & Kaiser 2005; Öztürk 2005; de Swart 2007; Malchukov 2008). Ein typisches Beispiel für die differentielle Objekt-Markierung erscheint im Spanischen, wo menschliche Objekte die Präposition a selegieren (3.5 a), während nichtmenschliche Objekte durch bloße Nominalia vertreten sind (3.5 b). (3.5 a) Veo a la chica „ Ich sehe das Mädchen. “ (3.5 b) Veo un coche „ Ich sehe ein Auto. “ Obwohl die differentielle Markierung häufiger für das zweite Argument (O nach Dixon 1994: 6 ff) als für das erste Argument (A/ S) des Satzes untersucht wurde, kann auch A/ S nach seinen lexikalischen Eigenschaften verschiedene Markierungen bekommen. Die „ differentielle Subjektmarkierung “ (differential subject marking, vgl. de Hoop & de Swart 2009 b) besteht darin, dass das Nomen einer unbelebten Sache grammatisch die Stellung des Subjekts nicht besetzen kann (3.6), sondern es wird in einen obliquen Kasus degradiert. (3.6) Japanisch (Woolford 2009: 23) *kagi-ga doa-o aketa key-NOM door-ACC open „ The key opened the door. “ Wenn die Kasus-Markierung dagegen nur auf dem Kontext beruht, kann jedes Nominal im Prinzip kanonisch oder nicht-kanonisch erscheinen, unabhängig vom belebten oder unbelebten Status seines Referenten. Entscheidend ist in diesem Fall die Interpretation eines partiellen oder völligen Referenten: während der Akkusativ für eine ganze oder bestimmte Quantität benutzt wird (3.7 a), ist das entsprechende Nominal nicht-kanonisch markiert, wenn nur ein Teil oder eine unbestimmte Menge des Referenten bezeichnet wird, wie im folgenden Beispiel aus dem Italienischen: (3.7 a) Ho mangiato il dolce ich.habe gegessen den Nachtisch „ Ich habe den Nachtisch gegessen. “ (d. h. den ganzen Nachtisch) (3.7 b) Ho mangiato del dolce ich.habe gegessen von.dem Nachtisch „ Ich habe (einen Teil von dem) Nachtisch gegessen. “ 143 <?page no="144"?> Das Patiens ist in beiden Sätzen von demselben Nomen (dolce „ Nachtisch “ ) vertreten, das deshalb nicht wegen seiner lexikalischen Eigenschaft kanonisch oder nicht-kanonisch markiert ist - verantwortlich für seine Markierung ist hier der Kontext. Dasselbe gilt für das primäre Argument des Satzes: im Italienischen werden die preposizioni articolate benutzt (d. h. Portmanteau-Morpheme, die aus Präposition und Artikel bestehen), um eine partitive Interpretation des Subjekts auszudrücken (3.8 b). (3.8 a) i ragazzi sono arrivati die Jungen sind angekommen „ Die Jungen sind angekommen. “ (d. h. alle Jungen) (3.8 b) Sono arrivati dei ragazzi sind angekommen von.den Jungen „ Einige Junge sind angekommen. “ (d. h. nicht alle) 90 Die Wahl einer nicht-kanonischen Markierung kann auch von Prädikaten abhängen, die keine echte Kontrolle oder Absichtlichkeit des Agens oder des Experiens voraussetzen, oder die nur einen geringen Einfluss auf das Patiens haben. Die folgenden Beispiele bezeichnen eine ähnliche propositionale Situation, aber sie stellen sie durch eine nicht-kanonische (mir) und kanonische (ich) Kodierung des Experiens dar. Im ersten Fall wird diese Situation als ein spontanes Ereignis, das außer Kontrolle des Sprechers liegt, beschrieben, während der zweite Fall eine gewisse Absichtlichkeit voraussetzt. (3.9 a) Mir fiel eine Idee ein. (3.9 b) Ich denke daran. Wie im Fall der Nomen-bedingten Markierung kann auch die Verbbedingte Markierung obligatorisch oder fakultativ sein. In den meisten Sprachen Europas bevorzugen Prädikate eine obligatorische kanonische oder nicht-kanonische Markierung. Z. B. verlangen die Verben folgen und warten auf Deutsch obligatorisch einen Dativ bzw. eine auf-PP. Aber in anderen Sprachen kann dasselbe Prädikat kanonisch oder nicht kanonisch markiert werden, je nachdem ob es eine absichtliche oder zufällige Tätigkeit bezeichnet. Im Russischen kann das Prädikat „ brechen “ sowohl einen Willensakt als auch ein unabsichtliches Ereignis beschreiben, wenn es 90 Während das definite Subjekt (i ragazzi) die unmarkierte SV Wortfolge bevorzugt (3.8 a), ist die VS Variante im Italienischen üblicher mit indefiniten Subjekten (dei ragazzi) und mit thetischen Sätzen, die eine neue Information anzeigen, wie in (3.8 b). 144 <?page no="145"?> ein Akkusativ-Objekt regiert, wie in (3.10 a), während nur Unabsichtlichkeit in der nicht-kanonischen Markierung (3.10 b) gemeint ist; die letztere zeigt die reflexive Form - sja. Russisch (Malchukov 2006: 345) (3.10 a) ja slomal zub I.NOM broke.3SG tooth.ACC „ I broke (my) tooth. “ (3.10 b) u menja slomal-sja zub to me broke.3SG-REFL tooth.NOM „ I have a tooth broken. “ Der dritte Faktor für die Wahl einer nicht-kanonischen Markierung ist der Typ des ganzen Satzes in Bezug auf Aspekt, Modalität oder Polarität. Es ist typisch für die finno-ugrischen Sprachen, dass das direkte Objekt eines transitiven Verbs in einem negativen Satz von einem Partitiv ersetzt wird, wie im Beispiel (3.11). (3.11) Finnisch (Finno-Ugrisch; Karlsson 1999: 71) emme juo olutta NEG: 1PL drink beer: PART „ We do not drink beer. “ Das ist natürlich eine vereinfachte Beschreibung der nicht-kanonischen Markierung, weil die Kriterien oft miteinander vermischt sind und daher eine außerordentliche Variation ergeben. Z. B. zeigt B ł aszczak (2009), dass im Polnischen die Genitiv-Kodierung des logischen Subjekts eines verneinten Satzes sowohl von der Negation als auch von der Beziehung zwischen Kasus und Aspekt abhängen kann. Im Bereich der Nomenbedingten Markierung stimmen die Kriterien von Belebtheit, Menschlichkeit, Definitheit und Spezifität nicht immer überein und können in verschiedenen Sprachen auch unterschiedlich relevant sein, wobei im Spanischen die nicht-kanonisch markierte Struktur von Belebtheit bedingt werden kann, während im Hindi und im Türkischen eher Definitheit für eine nicht-kanonische Struktur entscheidend ist. Im Bereich der Prädikatbedingten Markierung gibt es Sprachen, die eine gewisse Bedeutung nur durch eine kanonische Struktur (Engl. I like cats) oder nur durch eine nichtkanonische Struktur (Ita. mi piacciono i gatti) ausdrücken, wie auch Sprachen, in denen dieselbe Bedeutung von beiden Markierungen dargestellt werden kann, wie im Deutschen ich mag Katzen vs. mir gefallen Katzen oder im Litauischen a ś megstu katinus vs. man patinka katinai. Also dienen die Begriffe der kanonischen und nicht-kanonischen Markierung nicht nur dazu, zwischen verschiedenen Sprachen zu unterscheiden, auch wenn sie eng verwandt sind, sondern sie sind auch nützlich, um verschiedene 145 <?page no="146"?> Strukturen innerhalb derselben Sprache zu erkennen. Trotz ihres nur schematischen Charakters ist die Unterscheidung zwischen Nomenbedingter, Prädikat-bedingter und Satz-bedingter Markierung hinreichend, um die Beziehungen zwischen semantischen Rollen und syntaktischen Funktionen in den alten idg. Sprachen zu untersuchen. 3.3.2 Variation der nicht-kanonischen Markierung in den idg. Sprachen 3.3.2.1 Satz-bedingte Markierung Die Satz-bedingte Markierung der Nominalia betrifft den Gebrauch des Genitivs statt des Nominativs oder des Akkusativs für das intransitive Subjekt bzw. direkte Objekt in negativen Sätzen, der in den slawischen Sprachen (Vondrak 1912: 595 - 96; Vaillant 1977: 76 - 78; Gasparov 2001: § 17; Lunt 2001: § 23) und in den baltischen Sprachen von den alten Urkunden bis heute regelmäßig belegt ist. In den folgenden Beispielen aus dem Litauischen ist die negative Polarität des Satzes der Auslöser für die Verwendung des Genitivs mit dem Patiens (3.12). (3.12) ne-turiu laiko NEG-haben: PRS.IND1SG Zeit(M): GEN.SG „ Ich habe keine Zeit. “ Die Kodierung der Hauptpartizipanten im Genitiv wird aber nicht von der bloßen Form der Negation bedingt, sondern von der Funktion der Negation als Satz-Operator. Wenn der Skopus der Negation auf einzelne Konstituenten ausgedehnt wird, die kleiner als der ganze Satz sind, findet man die kanonische Kodierung des Nominativs und des Akkusativs für das Subjekt bzw. direkte Objekt, wie in (3.13). (3.13) ji ne syk į gyn ė ž mog ų nuo sie: NOM NEG Mal(F): AKK.SG verteidigen: PRÄT3SG Mensch(M): AKK.SG von tamsos ir melo ž v ė ri ų Dunkelheit(F): GEN.SG und Falscheit(M): GEN.SG Bestie(M): GEN.PL „ Nicht einmal verteidigte es (sc. das Buch) den Menschen vor Dunkelheit und Falschheit der Bestien. “ (Justinas Marcinkevic ˇ iu š , Tekanc ˇ ios up ė s vienyb ė ) Das Buch, das im Litauischen ein Femininum (knyga) ist und deswegen von einem femininen Pronomen (ji) resümiert wird, bezeichnet an dieser Stelle das erste im Litauischen geschriebene Buch, d. h. Martynas Ma ž vyda š’ berühmten Katechismus. Der Autor sagt, dass dieses Buch „ nicht einmal “ - d. h. vielmal - den Mensch vor der Verrohung verteidigte: die Negation ne dehnt ihren Umfang nur auf syk į „ Mal “ aus und hat keinen Einfluss auf die Polarität des ganzen Satzes. Dementsprechend wird das Objekt ž mog ų im 146 <?page no="147"?> Akkusativ kodiert und nicht im Genitiv ž mogaus, der im Litauischen in einem negativen Satz erwartet würde. Genitiv-Objekte in verneinten transitiven Sätzen scheinen viel häufiger als Genitiv-Subjekte in verneinten intransitiven Sätzen zu sein. Im Altkirchenslawischen kann die Negation nur in existentialen Sätzen ein Genitiv- Subjekt verlangen, besonders mit der unpersönlichen Struktur ne byti, z. B. ne ˇ st ъ istiny v ь ń em ь „ Es gibt keine Wahrheit (istiny, GEN) in ihm “ (vgl. Huntley 1993: 174). Wenn die Kopula nicht Existenz, sondern ein attributives Verhältnis ausdrückt, steht das Subjekt des verneinten Satzes eher im Nominativ als im Genitiv, z. B. ne be ˇ t ъ sve ˇ t ъ „ Er war nicht das Licht (sve ˇ t ъ , NOM) “ . Ein Nominativ-Subjekt wird auch von verneinten intransitiven Verben verlangt. 91 Eine ähnliche Verteilung findet man auch in den modernen slawischen und baltischen Sprachen, in denen Genitiv-Subjekte oft in Verfall sind, während Genitiv-Objekte produktiv bleiben (vgl. Koptjevskaja-Tamm & Wälchli 2001: 660). Der breitere Umfang der Genitiv-Objekte als der Genitiv-Subjekte in verneinten Sätzen ist nachvollziehbar, weil die Negation im Satz normalerweise die Funktion des Fokus ausdrückt (vgl. Givón 1979: § 3) und im Diskurs rhematische direkte Objekte natürlicher sind als rhematische Subjekte, sodass sogar das Subjekt eines thetischen Satzes von einem semantischen Standpunkt aus als einem direkten Objekt äquivalent berücksichtigt wird (vgl. Sasse 1987; Basilico 1998; 2003; Rosengren 1997; Lambrecht 1994: 137ff; 2000). Da der genetivus pro accusativo, der im Baltischen und Slawischen grammatikalisiert ist, im Finnischen regelmäßig ist (3.11), werden diese Strukturen üblicherweise für eine Neuerung des Balto-Slawischen gehalten, die vom Einfluss der finno-ugrischen Sprachen herrührt, und Koptjevskaja-Tamm & Wälchli (2001) ordnen sie daher innerhalb der linguistischen Merkmale ein, die dem zirkumbaltischen Areal gemeinsam sind. Wir müssen aber bemerken, dass, obwohl die von der Negation bedingte nicht-kanonische Markierung in keinem Bereich des Indogermanischen außer im Baltischen und Slawischen den Status einer kategorialen Regel erreicht, diese Struktur doch gelegentlich auch in anderen idg. Sprachen in ihren frühen Urkunden belegt ist. Schwyzer (1950: 102) berichtet Beispiele aus dem Gotischen und aus dem Altgriechischen (3.14) und schreibt: „ Der Partitiv an der syntaktischen Stelle eines Nominativs ist im Negativsatz ein 91 Die Verteilung der Genitiv-Subjekte in verneinten Sätzen wird normalerweise dem Typ des intransitiven Prädikats zugewiesen (Existenz-Kopula vs. andere intransitive Prädikate), aber sie kann auch vom Typ des Subjekts bedingt werden. Huntley (1993: 174) sagt, dass der Nominativ statt des erwarteten Genitivs mit relativen und indefiniten Pronomina erscheint, z. B. ne ˇ st ъ kto miluj ę (nicht.ist jemand: NOM gnädig: NOM) „ Es gibt niemanden Gnädigen “ . Der Anfangspunkt der Reanalyse vom Genitiv-Subjekt zum Nominativ-Subjekt seien also (einige) Pronomina. 147 <?page no="148"?> seltener Rest aus indogermanischer Zeit “ (vgl. auch Brugmann 1911: 611 - 13; Conti 2008: 106 - 109). (3.14) ἀλλ’ οὔ πῃ χροὸς εἴσατο aber nirgends Haut(F): GEN.SG sehen: AOR.IND.MED3SG „ Aber nirgends wurde von der Haut sichtbar. “ (Hom. Il. 13.191) Anhand der Beweise im Altgriechischen können wir vermuten, dass die Satz-bedingte nicht-kanonische Markierung der baltischen und slawischen Sprachen keine einfache syntaktische Entlehnung aus dem Finno-Ugrischen ist, sondern die vom Kontakt begünstigte Etablierung eines Musters, das schon im alten Indogermanischen vorkam. Dasselbe Muster werden wir auch bei einigen Fällen der Nomen-bedingten Markierung finden (§ 3.3.2.2.2). Es geht hier also m. E. um einen Fall von contact-induced grammaticalization, wobei interne und externe Faktoren (wenn auch nicht in gleichem Maße) in dieselbe Richtung gehen. Dieselbe Erklärung haben wir bei der guten Bewahrung der morphologischen Kasus und bei der Abwesenheit des bestimmten Artikels im Baltoslawischen gesehen, die gleichfalls vom Einfluss der finnischen Sprachen begünstigt wurden (§ 2.7). Eine Beziehung besteht zwischen der Tatsache, dass die baltischen und slawischen Sprachen wie auch das Finnische besonders reich an Kasus sind, und der Tatsache, dass der Gebrauch des Genitivs für nicht-kanonische Subjekte oder Objekte im Fall der negativen Polarität genau in diesen Sprachen grammatikalisiert wird. Reichtum an Kasus erlaubt mehr Möglichkeiten im Ausdruck der syntaktischen Funktionen und eine transparentere Wiedergabe der semantischen Rolle in kaum transitiven propositionalen Situationen. 3.3.2.2 Argument-bedingte Markierung 3.3.2.2.1 Lexikalische Bedingungen Innerhalb der lexikalisch bedingten Markierung besteht die differentielle Markierung des Patiens, die heute in mehreren romanischen Sprachen und Mundarten erscheint (3.5), in den alten idg. Sprachen hingegen selten. Der Fall der Postposition -r ā mit bestimmten belebten Patiens im Neupersischen (vgl. Lazard 1982; Bossong 1985; Haig 2008) ist ein relativ spätes Phänomen, das keinen Vorläufer im Altpersischen oder im Awestischen findet, und auch Dativ- oder PP-Strukturen für direkte Objekte mit menschlichen Referenten kommen in den indischen Sprachen wie Hindi und Bengali erst ähnlich spät vor; im Altindischen erscheinen sie nicht. Einzelne Fälle von differential object marking können wir im klassischen Armenisch identifizieren, wo der Gebrauch einer Präposition vorkommt, und im Altkirchenslawischen sowie im Tocharischen, wo ein besonderer Kasus ver- 148 <?page no="149"?> wendet wird. Wie wir in § 2.3.2.3 gesehen haben, stehen Kasus und Präpositionen für die Darstellung der syntaktischen Funktionen oft in Konkurrenz zueinander. Wegen ihrer verschiedenen Form kann man aber sagen, dass die Verfahren des klassischen Armenisch, des Altkirchenslawischen und des Tocharischen für die differentielle Objektmarkierung voneinander unabhängige Neuerungen sind, die auch verschiedenen Prinzipien folgen, d. h. Definitheit im klassischen Armenisch und Menschlichkeit oder Männlichkeit im Tocharischen und Altkirchenslawischen. Im klassischen Armenisch werden definite Patiens durch die Präposition z-, die traditionell nota accusativi genannt wird (Meillet 1913: § 92), wie in (3.15) markiert. (3.15) ew ekin p ’ owt ’ anaki, ew gtin z-Mariam und kommen: AOR.IND3PL eilends und finden: AOR.IND3PL z-Maria: AKK ew z-Yous ē p ’ ew z-manowk-n edeal i msowr und z-Joseph: AKK und z-Kind: AKK.SG-ART gelegt in Krippe: AKK.SG „ Und sie kamen eilends, und sie fanden Maria, Joseph und das Kind, gelegt in einer Krippe. “ (Luc. 2.16) Die Bestimmtheit des von der nota accusativi markierten Nomens manowk „ Kind “ erscheint in seinem nachgestellten bestimmten Artikel - n. Außerdem wird die nota accusativi auf Eigennamen (Mariam, Yous ē p ’ ) angewendet, wie auch auf andere inhärent definite Lexeme wie Pronomina. Im Altkirchenslawischen hingegen wird die Funktion des direkten Objekts von der Form des Genitivs statt des Akkusativs ausgedrückt, wenn das direkte Objekt ein maskulines Nomen ist und einen männlichen Referenten bezeichnet. Nomina von Frauen und von unbelebten Sachen bekommen den Akkusativ (die Situation für Tiere ist variabler nach deren Geschlecht und auch nach ihrer Ansiedlung im Text als dem menschlichen Bereich mehr oder weniger nah). (3.16) ona ž e abije ostav ĭš a korab ĭ i ot ĭ ca svoego sie und sogleich verlassend Schiff: AKK und Vater: GEN ihr „ Und nachdem die beiden das Schiff und ihren Vater verlassen haben “ (Mt. 4.22, Zogr.) Der lexikal-bedingte Gebrauch des genetivus pro accusativo im Fall der Nomina von Männern ist ein beständiges Merkmal der Grammatik der slawischen Sprachen, auch wenn es nach Thomason & Kaufmann (1988: 249 - 50) letztendlich auf ein uralisches Substrat zurückgeht. Heutzutage wird es auf immer mehr Nomina generalisiert, wie Comrie (1989: 196) bemerkt: „ In looking back to the emergence of the genitive-like accusative in Slavonic languages, it seems that an even more rigorous socially-based distinction existed in the early period, namely that the new form was used only for male, adult, freeborn, healthy humans, i. e. not for women, children, slaves, or cripples “ (vgl. 149 <?page no="150"?> auch Miklosich 1874: 495ff; Gasparov 2001: § 14.2; Lunt 2001: 143 - 144). Semantische Erwägungen haben grammatische Folgen auch im Tocharischen, in dem nur Nomina von menschlichen Referenten die Endung - m im Singular des Kasus Obliquus haben können, der dem Akkusativ der anderen idg. Sprachen entspricht: OBL.SG Toch. B en ˙ kwem· , Toch. A on ˙ kam· „ Mann “ vs. OBL.SG Toch. B yakwe, Toch. A yuk „ Pferd “ (vgl. Pinault 2008: 474 ff). Eine lexikalisch-bedingte Struktur für die differentielle Markierung des Subjekts erscheint im Hethitischen. Wenn ein neutrales Nomen, das oft auch einen unbelebten Gegenstand bezeichnet, zum Subjekt des Satzes wird, kann es ein spezielles ablativales Suffix - anza < *-anti bekommen, z. B. m ā n-an-za-kan seh ˘ unanza-pat tam āš zi „ wenn ein körperliches Bedürfnis (seh ˘ unanza) ihn (-an-) belästigt “ (CTH 262 1.33 - 34). Die Form seh ˘ unanza stellt hier das Neutrum seh ˘ ur- „ Urin “ in der Funktion des Subjekts dar. Eine ähnliche Situation erscheint im folgenden Beispiel (3.17), entnommen aus Patri (2007: 21), das dem Problem der syntaktischen Ausrichtung in den Sprachen Anatoliens gewidmet ist: hier wird das Neutrum tuppi- „ Tafel “ zu tuppianza. (3.17) nu=smas m ā hhan kas tuppi-anza anda wemizzi CONN=vous dès.que cette: NOM tablette: NOM PRÉV attendre: PRS.IND3SG „ dès que cette lettre (litt. ‚ tablette ‘ ) vous attendra “ (Mas ¸ at Höyük 75/ 13) Dieses Phänomen wird von einigen Forschern als eine Darstellung gespaltener Ergativität interpretiert (vgl. Garrett 1990; Hoffner & Melchert 2008: 66ff; Fortson 2010: 172 - 174), weil das Suffix - anz(a) die Neutra, die die Funktion des Subjekts eines transitiven Verbs haben, von anderen Neutra, die entweder Objekt oder Subjekt eines intransitiven Verbs sind, unterscheidet. Wie aber Zeilfelder (i. E.) bemerkt, wird - anz(a) nicht auf alle subjektale Neutra generalisiert, und deswegen kann es nicht als ein flexioneller Marker der Ergativität angesehen werden, was einen obligatorischen Gebrauch voraussetzen würde; es sei eher ein derivationales Morphem, das optional verwendet wird, um einen Begriff zu individualisieren. Das kann einen unvollendeten Versuch der anatolischen Sprachen darstellen, erneut die uridg. Abneigung gegen unbelebte Subjekte auszudrücken. Eine ähnliche Situation passiert im Spätlateinischen, aber gelegentlich auch im Alt- und klassischen Latein, wenn man Autoren analysiert, die in einer einfachen und schmucklosen Prosa schreiben (vgl. Cennamo 2001; Rovai 2007), diesmal durch flexionelle Verfahren. (3.18) nec omnibus annis eodem uultu uenit aestas aut hiems, nec pluvium semper est uer aut umidum autumnum „ Nicht in jedem Jahre läßt sich der Sommer oder Winter auf dieselbe Weise an; nicht immer ist das Frühjahr regnerisch, die Herbstzeit feucht. “ (Columella, RR 1.23; Übersetzung Richter 1981: 23) 150 <?page no="151"?> Hier ist das Verb ein intransitives Prädikat (est . . . umidum „ er ist feucht “ ), dessen Argument autumnus „ Herbst “ (M) einen unbelebten Referenten hat. Daher bekommt dieses untypische Subjekt die Form des Akkusativs autumnum, die von einem bloß formalen Standpunkt aus auch ein Neutrum sein könnte. Obwohl die Nicht-Nominativ-Kodierung für inagentive Subjekte keine Systematizität im Lateinischen erreicht, ist ihre okkasionelle Anwesenheit jedenfalls ein bedeutsames Zeichen semantischer Unterscheidung in Bezug auf Belebtheit, die in älteren Sprachstufen des Urindogermanischen linguistisch relevant waren. 3.3.2.2.2 Kontextuelle Bedingungen Ein altes Merkmal des Urindogermanischen ist wahrscheinlich auch die kontextbedingte Markierung der Nominalia, da sie in vielen verschiedenen Sprachen mit denselben Strukturen vorkommt, d. h. mit dem Unterschied zwischen Akkusativ und Genitiv nach der Interpretation des Ganzen bzw. des Teils. Das gilt sowohl für das Objekt als auch für das Subjekt, wie die folgenden Beispiele aus dem Altgriechischen (3.19) und aus dem Litauischen (3.20) illustrieren: (3.19 a) τῷ σε χρὴ δόμεναι καὶ λώϊον ἠέ περ ἄλλοι / σίτου „ Darum mußt du mir auch mehr Speise geben als andre. “ (Hom. Od. 17.417 - 18; Übersetzung Voß 1943 b: 234) (3.19 b) εἰσὶ γὰρ αὐτῶν i καὶ παρὰ βασιλέϊ τῶι Περσέων ἐνθεῦτεν θηρευθέντες i „ Einige solcher Tiere, die dort gefangen wurden, kann man am persischen Königshof sehen. “ (Hdt. 3.102; Übersetzung Feix 1988: I, 455) 92 (3.20 a) u ž pinigus pirkau duonos ir cukraus für Geld(M): AKK.PL kaufen: PRÄT1SG Brot(F): GEN.SG und Zucker(M): GEN.SG „ Für das Geld kaufte ich Brot und Zucker. “ (K ę stutis Pukelis, Leiskit į t ė vyn ę : tremtini ų atsiminimai) 92 Wir können feststellen, dass die nicht-kanonische Markierung des logischen Subjekts im Altgriechischen auf den einfachen Satzes beschränkt ist, während zusätzliche anaphorische Ausdrücke kanonisch durch den Nominativ kodiert werden: in (3.19 b) sind αὐτῶν und θηρευθέντες koreferent und trotzdem unterscheiden sie sich im grammatischen Kasus. Ein ähnliches Phänomen erscheint im Beispiel (3.72) aus dem Altpersischen, in dem das logische Subjekt im Instrumental steht und mit einem Nominativ-Partizip koreferent ist. 151 <?page no="152"?> (3.20 b) ir š tai at ė jo draug ų nurodytu und da ankommen: PRÄT3 Freund(M): GEN.PL angegeben: INSTR.M.SG adresu Adresse(M): INSTR.SG „ Und da kamen einige Freunde an der angegebenen Adresse an. “ (Mikhail Erenburg & Viktoria Sakait ė , Gyvyb ę ir duon ą ne š anc ˇ ios rankos) Wie beim Gebrauch des Negation-bedingten Genitivs (§ 3.3.2.1) ist auch in diesem Fall der partitive Genitiv in den verschiedenen alten idg. Sprachen unterschiedlich grammatikalisiert. Im Baltischen ist er zu einer grammatischen Regel geworden, offenbar durch den Einfluss der finno-ugrischen Sprachen, in denen der Partitiv bei Subjekten oder direkten Objekten, die eine unbestimmte Quantität bezeichnen, regelmäßig ist (Karlsson 1999: 101 ff). Der genetivus pro accusativo bzw. nominativo kommt im Litauischen nicht nur bei Stoffnamen vor, die wegen ihrer Bedeutung für eine partitive Interpretation geeignet sind, wie in (3.20 a) bei duonos „ Brot “ statt des Akkusativs duon ą und bei cukraus „ Zucker “ statt des Akkusativs cukr ų , sondern auch mit Nomina von menschlichen Referenten, wie in (3.20 b) bei draug ų „ Freunde “ statt des Nominativs draugai. In letzterem Fall wird die partitive Bedeutung vom präsentativen Kontext begünstigt, ähnlich dem italienischen Beispiel (3.8 b). Im Altgriechischen sind diese Gebrauchsarten zwar möglich, aber sie bleiben immer optional, in Konkurrenz zum Akkusativ und zum Nominativ für unbestimmte direkte Objekte bzw. Subjekte. Besonders der genetivus pro nominativo ist selten, sodass Schwyzer (1950: 102) diese Struktur für eine griechische Neuerung hält, die erst seit dem 5. Jh. v. Chr. belegt ist. Auch im Lateinischen kann man sowohl kanonische als auch nicht-kanonische Markierungen des direkten Objekts finden, sogar in demselben Text, wie in (3.21): (3.21 a) eo aquam addito „ Gib Wasser (AKK) dazu. “ (Cato, Agr. 37) (3.21 b) aquae paulatim addito „ Gib nach und nach Wasser (GEN) dazu. “ (Cato, Agr. 74) Bennett (1914: 35) zeigt auch Beispiele, in denen der genetivus partitivus mit einer Art appositiven Akkusativs konkurriert: farinae L. IIII paulatim addito „ Gib nach und nach 4 Pfund Mehl dazu “ (Cato, Agr. 76) vs. de ervo farinam facito libras IIII „ Aus Erve stelle 4 Pfund (libras, AKK) Mehl (farinam, AKK) her “ (Cato, Agr. 109). Der erstgenannte Gebrauch, der den Akkusativ für das Ganze und den Genitiv für den Teil darstellt, ist häufiger als der letztgenannte, in dem der Stoffname farinam und das Nomen des Maßes libras appositiv verbunden werden. Das stimmt mit dem allgemeinen Verfall der appositiven Strukturen überein, die in der Geschichte des Lateinischen und 152 <?page no="153"?> anderer alter idg. Sprachen allmählich von eingebetteten Konstruktionen wie dem Genitiv ersetzt werden; diesen Punkt werden wir in § 4.3.2 wieder aufnehmen. Deshalb ist der Gebrauch präpositionaler Strukturen für die partitive Funktion in den romanischen Sprachen (3.7 b) wahrscheinlich ein syntaktisches Erbmerkmal aus dem Lateinischen, wenn auch unterschiedlich kodiert durch analytische bzw. synthetische Quellen, 93 während der im Romanischen erscheinende (3.5 a) Gebrauch obliquer oder präpositionaler Strukturen für menschliche Objekte, eine Neuerung ist, weil er im Lateinischen fehlt. Optionale genetivi partitivi kommen u. a. auch im Altisländischen vor, während sie in anderen alten idg. Sprachen wie dem klassischen Armenisch sehr selten sind, in dem ihre Funktion vom Ablativ mit der Präposition i „ in “ ausgedrückt wird. Schwieriger zu beurteilen ist die Entstehung der genetivus partitivus für die Funktion des Subjekts, wie in (3.19 b) und (3.20 b). Im Lateinischen wird diese Konstruktion normalerweise nicht gebraucht, in Übereinstimmung mit der Seltenheit von Genitiv-Subjekten im Altgriechischen. Daher muss sich die Konstruktion des Litauischen (3.20 b) durch den finnischen Einfluss etabliert haben, genau wie im Fall des Genitivs in verneinten Sätzen. Ich denke jedoch, dass die partitiven Subjekte des Litauischen auch ein Fall von contact-induced grammaticalization sein könnten, d. h. der Kontakt mit dem Finnischen hat einen Gebrauch verstärkt, der, wie das Altgriechische belegt (3.19 b), schon im Indogermanischen möglich, wenn auch selten war. Die Tatsache, dass eine Struktur relativ spät belegt ist, bedeutet nicht unbedingt, dass sie auch spät entstanden ist (vgl. Janda & Joseph 2003: 15 ff). Außerdem zeigt Conti (2008: 98 ff), dass genetivale partitive Subjekte im Altgriechischen synchron zwar ein seltenes Phänomen sind ( „ se trata de un fenómeno esporádico “ , 2010 b: 4), dass sie aber durch die ganze Geschichte der Sprache seit Homer belegt sind ( „ durante un amplísimo período de tiempo “ , ib.), und deswegen plädiert sie bei dieser Struktur für einen uridg. Ursprung (vgl. auch Conti 2008: 109; 2009: 203; Nachmanson 1942). Das seltene Vorkommen eines partitiven Subjekts in den alten idg. Sprachen kann also einfach damit zusammenhängen, dass das typische Subjekt einen bestimmten und vollständigen Referenten hat. Da sie im Diskurs von Haus aus seltener vorkommen, hatten partitive Subjekte im Indogermanischen auch weniger Chancen, sich ohne Hilfe eines externen Kontaktes zu etablieren, wie die verneinten Subjekte in § 3.3.2.1. Möglicherweise benötigen grammatikalisierte unspezifische oder partitive Subjekte eine gewisse Konfigurationalität, wie man sie im Standard Average European findet, weil 93 Wie wir in § 6.2 diskutieren werden, kann man manchmal die Syntax rekonstruieren, falls sie dasselbe syntaktische „ Muster “ in Sinne von Harris & Campbell (1995) darstellen, selbst wenn die verglichenen Lexeme unterschiedlich und nicht verwandt sind. 153 <?page no="154"?> in vielen nicht-idg. Sprachen unspezifische Subjekte wie im Satz „ ein Mann ist ins Büro eingetreten “ sogar ungrammatisch sind (vgl. Givón 1979: 26 ff). Obwohl also der optionale Gebrauch der partitiven Subjekte seine Wurzel schon im Indogermanischen hat, ist es doch auch bedeutsam, dass dieses Phänomen im Indogermanischen jedenfalls weniger ausgeprägt ist als in anderen Sprachfamilien wie z. B. im Finno-Ugrischen. Eine mögliche Erklärung dafür ist die Tatsache, dass die syntaktische Funktion des Subjekts größtenteils schon auf den ältesten Stufen des Indogermanischen grammatikalisiert war. Das gilt nicht für alle syntaktischen Funktionen: wir haben in § 3.2.2 gesehen, dass das direkte Objekt genau wie ein Casus Obliquus behandelt wurde und dass die Funktionen des Lokativs und des Dativs ihren semantischen Rollen noch besser entsprachen. Das Subjekt hingegen, das am deutlichsten durch Kasus und verbale Kongruenz gekennzeichnet wurde, emanzipierte sich früh von seinen semantischen und pragmatischen Funktionen, und genau dies beschränkt die Möglichkeit partitiver Subjekte. 3.3.2.3 Prädikat-bedingte Markierung Prädikate, die normalerweise in nicht-kanonischen Strukturen vorkommen, haben eine besondere Beziehung zu Impersonalia und werden manchmal mit ihnen identifiziert (vgl. Bauer 2000: 93 ff). 94 Stricto sensu gibt es einen formalen Unterschied zwischen echten Impersonalia und anderen Prädikaten nicht-kanonischer Strukturen: während echte Impersonalia wie Lat. pluit oder Dt. mir ist kalt kein Subjekt haben, erscheint ein Subjekt in Strukturen wie mir gefällt etwas, wie man an der Variation Singular/ Plural sehen kann (mir gefällt dieses Kleid vs. mir gefallen diese 94 Impersonalia haben definitionsgemäß keine Bezeichnung der grammatischen Person, sondern sind in der vorgegebenen dritten Person des Singulars flektiert, z. B. Lat. tonat. Benveniste (1946) anerkannte, dass die dritte Person eigentlich die non person ist, indem sie keinen Bezug zum Sprecher oder zum Hörer erfordert, sondern einen vom Sprechakt abwesenden Teilnehmer bezeichnet. Wie Lambert (1997: 296) sagt, le mot [sc. impersonnel] désigne l ’ absence ou l ’ effacement du sujet (ou premier actant) là où on l ’ attend. Auch wenn eine Sprache keine PRO-drop-Sprache ist, sondern ein obligatorisches Subjekt verlangt, wie im Deutschen es regnet, ist das Pronomen es kein referentielles Subjekt, sondern ein leeres Subjekt (Engl. empty subject, Fr. pronom vide) oder ein bloßer Platzhalter (place holder), vgl. Bayer (2004). Die Form der Impersonalia ist ziemlich heterogen, wie man anhand von Lamberts (1997: 298 ff) Unterschied zwischen lexikalischen und morphologischen Impersonalia sehen kann. Lexikalische Impersonalia werden von defektiven Verben vertreten, wie Lat. pluit oder tonat. Morphologische Impersonalia beruhen auf Verben, die ein vollentwickeltes Paradigma haben, jedoch in der dritten Person auch eine unpersönliche Verwendung erlauben, wie Lat. accidit „ es geschieht “ oder dicitur „ man sagt “ , die vom regelmäßigen Paradigma von accido bzw. dico extrapoliert sind. 154 <?page no="155"?> Kleider). Diese unterschiedliche argumentale Struktur bedingt auch ein unterschiedliches syntaktisches Verhältnis: in Konstruktionen mit Nominativ und Obliquus wie mir gefällt etwas kann auch der Obliquus bei einigen syntaktischen Tests wie Reflexivierung und Anhebung den Status des Subjekts zeigen (§ 3.4.2.2), was für echte Impersonalia nicht der Fall ist. Lato sensu aber können auch Impersonalia im Begriff der nicht-kanonischen Markierung eingeschlossen werden, weil erstens sie am selben semantischen Bereich teilhaben: jene Prädikate, die von den Junggrammatikern als Beispiele der Impersonalia identifiziert wurden (vgl. Brugmann 1904), d. h. Witterungsverben, Empfindungsverben und Modalverben, stimmen im Großen und Ganzen mit den Prädikaten der nicht-kanonischen Markierung überein, die in der Typologie unterschieden werden (vgl. Aikhenvald et al. 2001) und in ähnlicher Weise die Funktion einer Degradierung des Agens ausdrücken. 95 Zweitens kann dasselbe Prädikat in einer Sprache ein Impersonal (d. h. ohne Subjekt), hingegen in einer anderen Sprache der Auslöser einer nicht-kanonischen Struktur mit grammatischem Subjekt sein, wie die folgenden Beispiele illustrieren: (3.22) man skauda galv ą ich: DAT wehtun: PRS.IND3SG Kopf: AKK „ Mir tut der Kopf weh “ . Der litauische Satz und seine deutsche Übersetzung stimmen im Ausdruck des Experiens im Dativ (man, mir) überein. Aber der Stimulus ist im Deutschen im Nominativ (der Kopf) und im Litauischen im Akkusativ (galv ą ) wie eine Art accusativus respectus, also ist der Stimulus nur im Deutschen das grammatische Subjekt, während es im Litauischen ein echtes Impersonal ist. 96 Wegen ihrer Ähnlichkeiten werden wir hier also die Impersonalia im Weiteren als eine der Darstellungen der nicht-kanonischen 95 In unpersönlichen Strukturen kann das Agens entweder einfach fehlen oder nur im Hintergrund bleiben. Nach Moreno-Cabrera (1990) können Impersonalia nicht nur „ unkontrollierte Ereignisse “ (uncontrolled events, d. h. Sätze ohne Agens), sondern auch einige „ kontrollierte Ereignisse “ (controlled events) umfassen. Die ersteren werden von Witterungs- und Empfindungsverben vertreten; die letzteren sind der Impersonalpassiv und die man-Sätze. Es gebe eine Skala der Impersonalität (Witterungsverben > Verben der physischen Empfindungen > Verben der psychischen Empfindungen > Modalverben), nach der das Ereignis mehr oder weniger als ein spontanes Phänomen beschrieben wird. 96 Eigentlich erlaubt das Lit. Prädikat skaud ė ti „ weh tun “ neben dem üblichen AKK- Stimulus auch einen NOM-Stimulus, und nach Schmalstieg (1987) besteht ein semantischer Unterschied zwischen den beiden Ausdrücken. Die Form man skauda galv ą mit AKK-Stimulus bedeutet „ that some outside agency was bringing pain to the head “ , die Form man skauda galva mit NOM-Stimulus hingegen „ the head indeed is causing pain to the sufferer “ (S. 212). 155 <?page no="156"?> Markierung betrachten. Die erste Gruppe der Impersonalia, die Brugmann (1904: 625) in den alten idg. Sprachen identifizierte, besteht aus Verben für „ Naturerscheinungen “ : (3.23) Skr. vársati „ es regnet “ , Altgr. ὕει „ id. “ , Got. rigneiþ „ id. “ , Aksl. d ъž dit ъ „ id. “ , Lit. lyti „ id. “ ; Altgr. νείφει „ es schneit “ , Lat. ninguit „ id. “ , Lit. snigti „ id. “ ; Skr. stanáyati „ es donnert “ , Lat. tonat „ id. “ , Ahd. donarot „ id. “ , Aksl. gr ь mit ь „ id. “ , Lit. griaud ė ti „ id. “ ; Lit. zaibuoiti „ es blitzt “ . Die zweite von Brugmann (1904: 629) diskutierte Gruppe besteht aus Verben, die „ eine Affektion des Leibes oder der Seele “ bezeichnen, wie im Deutschen ihn hungert oder ihn dürstet (Ahd. inan thurstit) anstatt er hungert, er hat Hunger bzw. er dürstet, er hat Durst. Bei Empfindungsverben ist das Experiens menschlich, während der Stimulus oft unbelebt ist, sodass diese Prädikate in gewissem Sinne mit „ invertierten Strukturen “ verglichen werden können. 97 (3.24) Skr. ná m ā sramat „ nicht ergreife mich Ermüdung “ ; Lat. me pudet „ ich schäme mich “ , me piget „ es tut mir Leid “ , me paenitet „ ich bereue “ ; Got. huggreiþ mik „ mich hungert “ , þaúrseiþ mik „ mich dürstet “ ; Lit. man š alta „ mich friert “ , man norisi „ ich habe Lust “ . Wie man anhand der Beispiele sehen kann, erscheint das Bewirkte der Empfindungsverben entweder im Akkusativ, wie im Lateinischen me pudet, 97 Die inverse Darstellung der Argumente bei den Empfindungsprädikaten wird von Bossong (1997 b) betont: „ Le cadre valenciel prototypique du verbe bivalent, c ’ est l ’ action qui part d ’ un actant animé et qui va vers un autre actant neutre à cet égard. Le cadre actanciel des verbes d ’ action fournit le prototype des verbes bivalents, c ’ est lui qui forme le noyau sémantique autour duquel se constituent les relations actantielles les plus diverses. Dans ce champ, les verbes de perception forment un groupe à part bien délimité, avec une spécificité sémantique nettement perceptible: avec ces verbes-là, il n ’ y a pas d ’ action qui parte d ’ un actant animé; c ’ est plutôt l ’ inverse puisque c ’ est lui qui subit l ’ expérience. Le vecteur sémantique verbal est interverti: au lieu d ’ être le point de départ du processus décrit par le verbe, l ’ actant animé devient le point d ’ arrivée. Dans le cadre général de la bivalence, les verbes de perception posent donc un problème de nature sémantique. “ (S. 259) Empfindungsverben sind innerhalb der Auslöser nicht-kanonischer Strukturen diejenigen, worüber es die umfangsreichste Literatur gibt. Die Debatte wird von der semantischen Komplexität dieser Verben begünstigt, denn es existieren viele verschiedene Subtypen in der Kategorie der Empfindungsverben. Onishi (2001 a: 25 ff) unterscheidet darin eine Klasse von ein- oder zweistelligen Prädikaten mit affiziertem S (oder A) wie „ jmd. kalt sein “ , „ Kopfschmerzen haben “ , „ traurig sein “ , „ überrascht sein “ und eine Klasse von zweistelligen Prädikaten mit einem kaum agentiven A (oder S) und einem kaum affizierten O wie „ sehen “ , „ wissen “ , „ gefallen “ , „ folgen “ , „ helfen “ , „ scheinen “ . Außerdem unterscheidet er innerhalb der ersten Klasse zwei weitere Gruppen, eine für physiologische Zustände wie „ hungrig sein/ werden “ , „ krank sein/ werden “ , „ schwitzen “ , „ zittern “ und eine für Gefühle und psychologische Erfahrungen wie „ verärgert sein/ werden “ oder „ sich schämen “ . 156 <?page no="157"?> oder im Dativ, wie im Litauischen man š alta. Eine eventuell hinzugefügte Information (z. B. „ etwas bereuen “ ) kann durch weitere oblique Kasus dargestellt werden. Trotz ihrer verschiedenen lexikalischen Quellen können diese nicht-kanonischen Strukturen in verschiedenen alten idg. Sprachen auffällig ähnlich sein: der lat. Satz me paenitet eius ist ganz genau gleich gebildet wie der Satz aus dem Altisländischen mik iðrar þess „ ich bereue es “ (ich: AKK bereuen: PRS.IND3SG dieser: GEN.N.SG). Im folgenden lateinischen Satz, in dem das Prädikat me fallit mit einem Akkusativ-Experiens vorkommt, ist der Stimulus eine komplexe NP: (3.25) Num me fefellit, Catilina, non modo res tanta tam atrox tamque incredibilis, verum, id quod multo magis est admirandum, dies? „ Was I not right, Catiline, both in the seriousness of the plot, beyond belief in its ferocity though it was, and - a much more remarkable feat - in the date? “ (Cic. Cat. 1.7; Übersetzung MacDonald 1977: 39) Wir haben die englische Übersetzung wiedergegeben, um den Unterschied zwischen kanonischer und nicht-kanonischer Markierung besser zu zeigen, weil das moderne Englisch eine typische kanonische Sprache ist, in der unbelebte Nomina als Subjekt problemlos vorkommen können, während das Deutsche viel freier in der Darstellung nicht-kanonischer Strukturen ist. Das deutsche Prädikat mir entgeht etwas setzt ein obliques Experiens und einen Nominativ-Stimulus ähnlich dem lateinischen Prädikat me fallit voraus (auch wenn mit unterschiedlichen Kasus), oder auch wie im Italienischen mi è sfuggito qualcosa, während das englische Prädikat to miss, not to be right, to be wrong das Experiens im Nominativ nach einer kanonischen Markierung ausdrückt. Die akkusative Markierung des Experiens ist im Lateinischen weniger häufig als die dative Markierung, wie beim Prädikat mihi placet, das sowohl ein Nominal (3.26) als auch einen Satz (3.27) als Stimulus haben kann. (3.26) lepide hercle adsimulas. Iam in principio id mihi placet „ Gad, sir, it ’ s lovely the way you pretend. You pick up the part to perfection. “ (Pl. Poen. 1106; Übersetzung Nixon 1932: 111) (3.27) hac re mihi placet, si tibi videtur, te ad eum scribere et ab eo praesidium petere, ut petisti a Pompeio me quidem adprobante temporibus Milonianis „ Therefore I am in favour, if you agree, of your writing to him and requesting him to provide you with a body-guard, as you requested Pompey to do, very rightly as I thought, in the Milo period. “ (Cic. Att. 9.7 b; Übersetzung Shackleton Bailey 1999: 41) Auch in diesem Fall kann man den Unterschied zwischen der lateinischen nicht-kanonischen Markierung mihi placet und der englischen kanonischen Markierung I am in favour sehen. Eine weitere Klasse von Prädikaten, die oft nicht-kanonische Strukturen im Indogermanischen bedingt, bezeichnet 157 <?page no="158"?> modale Urteile oder Einschätzungen von Möglichkeit, Geeignetheit, Notwendigkeit usw., wie Deutsch es geschieht, es gelingt, es ist möglich, es ist notwendig (3.28). Vgl. Brugmann (1904: 625). 98 (3.28) Altgr. δοκεῖ μοι „ es scheint mir “ , δηλοῖ μοι „ es ist mir klar “ ; Lat. decet „ es ziemt sich “ ; necesse est „ es ist notwendig “ ; Lit. man reikia „ ich muss, ich brauche “ , man rupi „ ich sorge “ . Mit Modalverben herrscht die nicht-kanonische Markierung auch im Englischen, wie der folgende Vergleich mit dem Lateinischen illustriert: sowohl das Original als auch die Übersetzung verwenden unpersönliche Strukturen. (3.29) nam iniusta ab iustis impetrari non decet, iusta autem ab iniustis petere insipientia est. „ It would be unfitting, of course, for unjust favours to be obtained from the just, while looking for just treatment from the unjust is folly. “ (Pl. Am. 34; Übersetzung Nixon 1916: 9) Eine abstrakte Bedeutung erscheint auch bei den Prädikaten, die nach Onishi (2001 a: 34) possession, existence and lacking beschreiben. Possessive Strukturen entwickeln oft metaphorische Bedeutungen und werden auch als Hilfsverben oder Modalverben benutzt. Schon Meillet (1924) bemerkte die Abwesenheit eines gemeinsamen Verbs „ haben “ in den alten idg. Sprachen. Wenn es vorkommt, wie im Falle des Lateinischen habeo, des Altgriechischen ἔχω , des klassischen Armenischen ownim oder des Litauischen tur ė ti, ist es eine spätere und unabhängige Entwicklung, die in der Ursprache keine Struktur hatte (vgl. auch Benveniste 1960; Hagège 1993: 63 ff). Anstatt des Verbs „ haben “ verwendete das Urindogermanische eine nicht-kanonisch markierte Konstruktion mit dem Verb „ sein “ , in der 98 Onishi (2001 a: 31 ff) identifiziert verschiedene Subtypen solcher Prädikate, d. h. verbs of wanting, e. g. „ want “ , „ expect “ , verbs of necessity/ obligation, e. g. „ need “ , „ should “ , „ must “ , verbs of capability/ possibility, e. g. „ can “ , „ may “ , „ be easy/ difficult “ , verbs of trying/ success/ failure, e. g. „ try “ , „ be successful “ , „ fail “ , verbs expressing evidential meanings, e. g. „ seem “ , „ be clear “ . Wir schließen in dieser Gruppe auch diejenigen Prädikate ein, die nach Onishi (2001 a: 33 ff) ein Geschehen (happening) bezeichnen. In den alten idg. Sprachen waren aber nicht alle Modalverben gleich grammatikalisiert, und besonders im Vedischen waren Verben von epistemischer Modalität kaum entwickelt. Das stimmt mit den allgemeinen Veränderungen von deontischer zu epistemischer Modalität überein (vgl. Foley & Van Valin 1984: 213ff; Hopper & Traugott 1993: 79 - 80; Bybee et al. 1994: 177 ff), aber in diesem Fall gibt es auch einen spezifischen Grund, der mit der reich flektierenden Verbalmorphologie des Vedischen einen Zusammenhang hat: Reichtum an grammatischen Modi kann im Vedischen die modalen Funktionen ausdrücken, für die in anderen Sprachen Hilfsverben gebraucht werden, vgl. § 2.3.2.4. 158 <?page no="159"?> das (normalerweise unbelebte) Besessene im Nominativ steht, während der menschliche Besitzer durch einen obliquen Nominal ausgedrückt wird, z. B. Lat. mihi est aliquid. Als Obliquus kann der Dativ wie im Hethitischen (3.30), im Altkirchenslawischen 99 , im Lettischen und im Lateinischen 100 u. a. erscheinen, oder auch der Genitiv wie im Altindischen (3.31). (3.30) ammuk tuppi e š zi ich: DAT Tafel(N): NOM sein: PRS.IND3SG „ Ich habe eine Tafel. “ 99 In der entsprechenden Struktur des Aksl. m ь ne ˇ k ъ niga est ъ (ich: DAT Buch: NOM ist) „ ich habe ein Buch “ ist das vorangestellte Pronomen m ь ne ˇ als ein dativus possessoris zu verstehen, der im Altkirchenslawischen am frühesten belegte Ausdruck für den prädikativen Besitz, und nicht als ein (morphologisch gleicher) Lokativ. Die lokative Struktur des Besitzes taucht im ostslawischen Bereich auf, wie im Russischen mit der Präposition u „ bei “ : u men ’ a kniga (bei ich: AKK (ist) Buch: NOM) „ ich habe ein Buch “ ; Das ist der possessiven Struktur des Finnischen ähnlich (Finn. minulla on kirja, ich: ADESS ist Buch) und deshalb wird es traditionell einem finno-ugrischen Substrat zugewiesen. Wie in anderen alten idg. Sprachen hat sich die transitive Konstruktion mit dem Verb ime ˇ ti „ haben “ im Slawischen später als die intransitive mit Dativ entwickelt (vgl. Huntley 1993: 176 ff). 100 Die mihi est-Struktur des Lateinischen kann auch in nicht-possessiven Funktionen vorkommen, wie z. B. mihi est legendum „ ich muss lesen “ , die eine deontische Modalität darstellen, und die aus einer Dativ-NP für das Agens, einer Nominativ- NP für das Patiens, aus der dritten Person des Verbs sum „ sein “ und aus einer nominalen Form des Verbs wie einem Verbaladjektiv in - ndobestehen. Die Etymologie des Gerundivs in -ndus, so wie der Adjektive in -bundus, -cundus und letztlich des Suffixes - nd-, kann eine ursprüngliche stative Bedeutung zeigen (vgl. Risch 1984; Magni 2011), und die stative Funktion dieser Adjektive entspricht dem intransitiven Gebrauch der ganzen Struktur. Tatsächlich interpretiert Bauer (2000: 241) die mihi est- Struktur sowohl in possessiven als auch in deontischen Bedeutungen als ein Relikt der ursprünglich intransitiven Syntax des Urindogermanischen (vgl. § 3.8.1). Sie bemerkt, dass eine gerundive Struktur wie tempus legendarum epistularum, „ die Zeit Briefe zu lesen “ keine Rektion voraussetzt, sondern Kongruenz, und das beweise ein niedriges Niveau der Transitivität. Die transitive Entsprechung des Gerundivs ist das Gerundium (tempus legendi epistulas), das trotz seiner gemeinsamen - nd-Form eine völlig verschiedene Syntax hat, weil es eine Rektion mit einer Akkusativ-Ergänzung darstellt. Im Laufe der Zeit verfällt die nominale Syntax des Gerundivs, während das Gerundium mit seiner verbalen Syntax im Spätlateinischen immer häufiger und flexibler wird, so dass es verschiedene Kasus und verschiedene Präpositionen zeigt, z. B. ad persequendum Hebraeos (Gregor von Tours). Obwohl auch das Gerundium am Ende verfällt und vom Infinitiv ersetzt wird, widersteht es mehr als das Gerundiv, und das illustriert das immer grössere Gewicht der Transitivität in der Geschichte des Lateinischen ( „ Whereas mihi est constructions are non-transitive and therefore fit a language system where transitivity is not a grammatical feature, the replacement of mihi est by habeo illustrates the emergence of transitivity in possessive constructions and therefore fits the general development in Indo-European languages, which have become increasingly nominative since the Proto-Indo-European period “ , Bauer 2000: 195). 159 <?page no="160"?> (3.31) mama pustakam asti ich: GEN Buch(N): NOM.SG sein: PRS.IND3SG „ Ich habe ein Buch. “ Ziemlich umstritten ist die Entwicklung verschiedener obliquer Kasus für den Besitzer im Indogermanischen. Nach Bauer (2000: 193) ist der Dativ der ursprüngliche Kasus solcher Strukturen, weil der possessive Genitiv eher den attributiven als den prädikativen Besitz ausdrückt; im prädikativen Besitz hat er eigentlich die Funktion der Zugehörigkeit. Es ist aber auch möglich, dass beide possessive Strukturen einen Ursprung im Indogermanischen haben. Denn diese Strukturen bestehen in einigen Sprachen nebeneinander, wie Bauer (2000: 171 ff) selber erkennt. Z. B. kennt das Altgriechische sowohl den Dativ als auch den Genitiv des Besitzers, und im Vedischen ist neben dem Genitiv auch der Lokativ für den Besitzer belegt. Wenn in den modernen Sprachen verschiedene possessive Strukturen im Gebrauch sind, haben sie normalerweise auch verschiedene Bedeutungen, da der Begriff des Besitzes eine komplexe Semantik hat (vgl. Seiler 1983; Heine 1997). Außerdem behauptet Bauer (2000: 173 - 74), dass im Altindischen die Generalisierung des Genitivs des Besitzers in prädikativen possessiven Konstruktionen vom Verfall des Dativs begünstigt wurde. Das ist plausibel, denn der Dativ, der im Altpersischen als verloren gilt, verfällt auch im Mittelindischen (vgl. Pischel 1981: 289) und schön im klassischen Sanskrit wird in mehreren Gebräuchen ersetzt. Speyer (1886: § 82) zeigt, dass Verben wie vi-kr ī „ verkaufen “ und ks · am „ verzeihen “ mit anderen obliqui (LOK bzw. GEN) gebildet werden, und dass Adjektive wie priya- „ lieber “ und ucita- „ angenehm “ statt des alten Dativs oft den Genitiv selegieren: „ In these and similar instances it is not the use of the dative which should be noticed, but the faculty of employing in a large amount of cases instead of it some other case, mostly a genitive or a locative “ (S. 60). Der Genitiv des prädikativen Besitzes kann also einer von diesen Fällen sein, in denen der Genitiv sich im Altindischen auf Kosten des Dativs verbreitet. Außerdem, insofern der Genitiv des Besitzers ursprünglich nicht Besitz ( „ X hat Y “ ), sondern Zugehörigkeit ( „ Y gehört zu X “ ) ausdrückte, besteht möglicherweise zwischen dieser Verwendung des Genitivs in possessiven Strukturen und der Zunahme des Passivs in der Geschichte des Altindischen eine Beziehung, obwohl diese zwei Phänomene normalerweise nicht miteinander verbunden werden. Zugehörigkeit drückt den Besitz nicht von dem Standpunkt des Besitzers aus, sondern von dem des Besessenen, d. h. Zugehörigkeit ist eher patiensals agenszentriert, und offenbar ist das Patiens auch im Passiv im Mittelpunkt. Das Passiv wird vom Vedischen zum klassischen Sanskrit immer häufiger benutzt, und vom klassischen Sanskrit zu den mittelindischen Sprachen noch öfter. Ein 160 <?page no="161"?> Beweis dafür ist die Verwendung des Passivs mit intransitiven Verben oder mit dem Imperativ, die in den anderen idg. Sprachen sehr selten (für Latein vgl. Bergh 1975; Mellet et al. 1994: 260 - 61) oder unbelegt ist, die im klassischen Sanskrit aber ein regelmäßiger Ausdruck ist. Das intransitive Prädikat „ ich gehe “ ist im Sanskrit nicht nur gacch ā mi (Aktiv), sondern auch may ā gamyate, ein echtes Passiv, das wörtlich „ es wird von mir gegangen “ bedeutet, mit dem Agens im Instrumental. Im Imperativ ist das Passiv wahrscheinlich als indirekte und höfliche Form für einen Befehl gemeint. Tatsächlich ist der wachsende Gebrauch des Passivs im Altindischen ein Vorläufer der Entstehung der Ergativität in den neoindischen Sprachen, und in dieselbe Richtung geht der wachsende Gebrauch des Genitivs der Zugehörigkeit in possessiven Strukturen. Die possessive mihi est aliquid-Struktur konnte in den alten idg. Sprachen auch mit einer negativen Polarität ausgedrückt werden, wie das lateinische Prädikat mihi deest „ mir fehlt “ in (3.32). (3.32) verbum mihi deest, Quirites, cum ego hanc potestatem regiam appello, sed profecto maior est quaedam „ I fail to find the proper word, Romans, when I call such power kingly, but assuredly it is something far greater. “ (Cic. Agr. 2.35; Übersetzung Freese 1930: 409) Auch in diesem Fall steht die lateinische nicht-kanonische Struktur verbum mihi deest gegen die kanonische Struktur I fail to find the proper word der englischen Übersetzung. Mit der negativen Polarität des Prädikats „ nicht haben, fehlen, mangeln “ wird aber die nicht-kanonische Markierung in den modernen idg. Sprachen besser bewahrt als mit der positiven Polarität des Prädikats „ haben “ , vgl. Ita. mi manca qualcosa „ mir fehlt etwas “ , Sp. me falta tiempo „ ich habe keine Zeit “ . Die spezifischen Lexeme sind in diesen Sprachen zwar unterschiedlich, aber das nicht-kanonische Muster ist eindeutig dasselbe. Denn negative Kontexte sind normalerweise syntaktisch konservativer als die positive Polarität (vgl. Givón 1979: 121 ff). Während die oben erwähnten nicht-kanonischen Strukturen von den spezifischen semantisch-lexikalischen Eigenschaften des Prädikats bedingt waren, kann das unpersönliche Passiv aus vielen Verben gebildet werden, wie im Deutschen es wird getanzt oder im Italienischen si balla (vgl. Lambert 1997: 333). In den alten idg. Sprachen wurde diese Funktion von medialen Formen ausgedrückt, die im Lateinischen (Joffre 1995: 169 ff), Keltischen, Hethitischen und Tocharischen von einer r-Endung charakterisiert wurden, vgl. Yoshida (1990). Im folgenden Beispiel aus dem Lateinischen (3.33) kommen drei unpersönliche Passive vor: 161 <?page no="162"?> (3.33) BAL. Quid agitur, Calidore? CAL. Amatur atque egetur acriter. „ How goes it, Calidorus? “ „ I ’ m in agony, in love, and insolvent. “ (Pl. Ps. 273; Übersetzung Nixon 1932: 179) 101 In einigen idg. Sprachen wird die Funktion des unpersönlichen Passivs durch man-Sätze ausgedrückt, die eine gewisse Konfigurationalität voraussetzen, denn die Wörter man des Deutschen oder on des Französischen haben keine referentielle Funktion, sondern stellen eine fortgeschrittene Grammatikalisierung des Wortes „ Mann “ (Fr. homme) dar, das zurzeit nur ein Platzhalter ist (vgl. Moreno-Cabrera 1990; Lambert 1997: 296 - 97). Nicht alle konfigurationellen Sprachen haben man-Sätze; das moderne Englisch besitzt keine. Und nicht allen nicht-konfigurationellen Sprachen fehlen man-Sätze: das Awestische hatte man-Sätze (vgl. Reichelt 1909: § 716), obwohl Indoiranisch keine typisch konfigurationelle Sprache ist. Die Beziehung zwischen man-Sätzen und Konfigurationalität ist eine Tendenz und eine Frage von Häufigkeit, die einseitig wirkt: eine konfigurationelle Sprache kann man-Sätze haben oder nicht, das ist im Prinzip unvorhersagbar, aber wenn man-Sätze erscheinen, dann hat die jeweilige zumindest einige konfigurationelle Strukturen entwickelt. Bedeutsamerweise zeigt das Awestische schon wichtige Merkmale der Konfigurationalität. Z. B. waren die Vorläufer der Ez ā fe-Struktur im Awestischen schon entwickelt (3.34), als das Relativpronomen yaein Nomen mit einem Attribut verband (vgl. Reichelt 1909: 370 - 371). (3.34) upa t ą m c ˇ ar ə t ą m y ą m dar ə g ą m PRÄV dieser: AKK.F.SG Rennbahn(F): AKK.SG RP: AKK.F.SG lang: AKK.F.SG „ Auf der langen Rennbahn “ (Yt. 19.77) 101 In diesem Gespräch zwischen dem Kuppler Ballio und dem Jungen Calidorus könnte das Lateinische sehr wohl auch die entsprechenden aktiven Verben benutzen agis, amo und egeo. Die Wahl des unpersönlichen Passivs muss deshalb eine Bedeutung haben: Hier wird die Situation des jungen Calidorus nicht als etwas dargestellt, in dem er eigentlich tätig ist, sondern als etwas, das ihm passiert, das ihn befällt und das er erlebt. Der adulescens ist bei Plautus ein fauler Junge, der seine Zeit sich beklagend und Geld suchend verbringt, um seine Geliebte vom Kuppler zu befreien. Die Anhäufung unpersönlicher Passive erlaubt es dem Dichter, die Inaktivität dieses Charakters auszudrücken. Also kann eine Diathese auch aus pragmatischen Gründen ausgewählt werden. Fleischmann (1990: 19 ff) hat dargelegt, dass die Kategorie des Tempus in Texten oft von ihrer referentialen Funktion, eine Zeit zu bezeichnen, befreit und zu pragmatischen Zwecken wiederaufbereitet wird. Dasselbe kann für andere verbale Kategorien wie Modus oder Diathese gelten. 162 <?page no="163"?> Diese Struktur, eine Art „ Gelenkpartikel “ (Himmelmanns 1997: 159 ff), ist eine Neuerung des Iranischen, die nicht nur im Awestischen, sondern auch im Mittelpersischen (vgl. Haider & Zwanziger 1984) und teilweise schon im Altpersischen belegt ist, vgl. Gaum ā ta hya magu š „ Gaum ā ta der Mager “ (DB 1.44). 3.3.3 Asymmetrie der nicht-kanonischen Markierung in den alten idg. Sprachen Nachdem wir die nicht-kanonische Markierung in den alten idg. Sprachen beschrieben haben, können wir bemerken, dass dieses Phänomen zwar häufig belegt ist, dass aber nicht alle möglichen Typen nicht-kanonischer Markierung das gleiche Gewicht hatten. Ich sehe hier eine große Asymmetrie zwischen dem gewöhnlichen Gebrauch nicht-kanonischer Strukturen, die vom Prädikatstyp (§ 3.3.2.3) abhängen, und der Seltenheit nichtkanonischer Strukturen, die vom Nomenstyp (§ 3.3.2.2) und besonders vom Satztyp (§ 3.3.2.1) bedingt sind. Alle alten idg. Sprachen besitzen Prädikate, die nicht-kanonisch markierte Argumente verlangen. Diese Prädikate stimmen im Großen und Ganzen in ihrer Semantik von Witterungsverben, Empfindungsverben, Modalverben und possessiven Verben überein, und mit ihnen ist die nichtkanonische Markierung meistens obligatorisch. Das muss ein Erbmerkmal der Grammatik des Urindogermanischen sein. Für die uridg. Herkunft der obliquen Subjekte bei Empfindungsprädikaten plädieren Barðdal & Eythórsson (2009), die ausführlich zeigen, wie diese Prädikate besonders in den germanischen Sprachen eine konsistente morphosyntaktische Kodierung haben. Dagegen sind nicht-kanonische Verfahren, die vom Typ der Nomina und vom Typ des Satzes abhängen, zwar belegt, aber ihre Verteilung unterliegt starken Beschränkungen, sowohl in verschiedenen Sprachen als auch in verschiedenen Konstruktionen derselben Sprache. Die lexikalisch bedingte Markierung der Nomina (§ 3.3.2.2.1) ist noch begrenzter als ihre Kontext-bedingte Markierung (§ 3.3.2.2.2). Um den Gebrauch der nicht-kanonischen Konstruktionen der alten idg. Sprachen zu erklären, müssen wir also die möglichen Faktoren bedenken, weshalb die Nomen- und Satz-bedingte Markierung im Vergleich zur Prädikatbedingten Markierung im indogermanischen Bereich so wenig verbreitet war. Die in den alten idg. Sprachen geringere Ausbreitung der Satz-bedingten nicht-kanonischen Markierung der Argumente, wobei Subjekte oder Objekte verneinter Sätze durch einen Casus Obliquus ausgedrückt werden können, hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass die Angaben einer irrealen Modalität, die Auswirkungen auf den ganzen Satz haben, im Indogermanischen eher am Verb als an Nomina kodiert wurden. Durch 163 <?page no="164"?> einen anderen Modus als den Indikativ konnte das Urindogermanische verschiedene modale und evidentiale Funktionen kodieren (§ 2.3.2.4). 102 Außerdem konnte in den alten idg. Sprachen der unterschiedliche Umfang (Skopus, Engl. scope) der Negation entweder in Bezug auf den ganzen Satz oder auf einzelne Konstituenten von der Bewegung des Negationsmarkers ausgedrückt werden. Da die Negation eine syntaktisch unabhängige Partikel (*né) war und da die alten idg. Sprachen eine hohe Flexibilität der Wortfolge erlaubten, gab es viele Möglichkeiten, den genauen Skopus der Negation darzustellen. Wir haben in § 2.3.2.1 gesehen, dass die Negation normalerweise vor dem Verb oder am Anfang des Satzes stand, wenn der ganze Satz in ihren Skopus fiel, aber im Fall eines beschränkteren Skopus konnte sie auch direkt vor die negierte Konstituente gestellt werden, wie im Beispiel (3.13). Dagegen ist die Negation in den finnischen Sprachen eigentlich keine Partikel, sondern ein verneinendes Verb, das anstelle des Hauptverbs flektiert wird, z. B. von mennä „ gehen “ hat man en mene „ ich gehe nicht “ , et mene „ du gehst nicht “ , ei mene „ er geht nicht “ usw., wobei das Hauptverb mene fest steht und die Negation in den verschiedenen Personen konjugiert wird (vgl. Karlsson 1999: 69 ff). Deshalb hat die Negation im Finnischen weniger lineare Ausdrucksmöglichkeiten als in den alten idg. Sprachen: im Finnischen muss sie dem Verb benachbart sein, und in jedem Fall ist ihr Skopus auf den ganzen Satz ausgedehnt. Die Ausdrucksmöglichkeiten der negativen Polarität werden in dieser Sprache von den unterschiedlichen Kasus der abhängigen Nominalia sozusagen „ kompensiert “ . Ähnlich hat das Fehlen grammatikalisierter Verfahren für die Nomenbedingte nicht-kanonische Markierung wie das differential object or subject marking in den alten idg. Sprachen eine Beziehung zu der Tatsache, dass die geringe Transitivität dieser Propositionen eher vom Prädikat kodiert wurde. 103 Auch dieser Wahl liegt das Ökonomieprinzip zugrunde: da sowohl Verba als auch Nomina syntaktische Informationen ausdrücken 102 Evidentialität, mittels der der Sprecher die Quelle und Zuverlässigkeit seiner Information betont (vgl. Aikhenvald 2004), ist in den idg. Sprachen normalerweise nicht grammatikalisiert. Eine Ausnahme ist der Admirativ des Albanischen, der Fremdbezeugtheit und indirekte Rede darstellt. In jüngeren Untersuchungen wurden aber Evidentialitätsstrategien auch in anderen idg. Sprachen und besonders im Lateinischen identifiziert (vgl. Orlandini 1996; 2005; Cuzzolin 2010); z. B. setzt der Gebrauch des Pronomens ipse „ selbst “ mit einigen verba sentiendi wie video „ ich sehe “ oder audio „ ich höre “ voraus, dass das Subjekt eine Nachricht persönlich erfahren hat. 103 Die Tatsache, dass oblique Subjekte von den Eigenschaften des Prädikats bedingt werden, war auch den indischen Grammatikern bewusst. Sogar in der dravidischen grammatischen Tradition, die wesentlich vom Sanskrit abhängt, wurde der morphologische Kasus kriya-nimitta genannt, wörtl. „ vom Verb entschieden “ (vgl. Amritavalli 2004: 1). 164 <?page no="165"?> können, bevorzugen die Sprachen oft nur eine solcher Strategien. Es wurde in der Typologie auch festgestellt, dass die Sprachen oft entweder eventdominated oder object-dominated sind (Capell 1965), je nachdem ob sie das Prädikat oder die Argumente mit den meisten grammatischen Angaben beladen, vgl. § 2.4. Obwohl die alten idg. Sprachen eine reiche Morphologie sowohl für das Verb als auch für das Nomen besitzen und deswegen eigentlich weder für event-dominated noch für object-dominated zu halten sind, ist es wohl nachvollziehbar, dass ihre Ressourcen nicht in allen Konstruktionen gleichermaßen benutzt werden, und tatsächlich ist die concept domination in der Typologie eher als Kontinuum denn als echte Dichotomie gedacht. 104 Die Arbeitsteilung der nominalen und der verbalen Morphologie für die Darstellung der (nicht)-kanonischen Strukturen im Indogermanischen werden wir unten in § 3.6 fortsetzen. Im Bereich der Nomen-bedingten nicht-kanonischen Markierung wurden die kontextuellen Bedingungen einer partitiven Interpretation häufiger auf das direkte Objekt als auf das Subjekt angewandt, und das ist die natürliche Folge eines universalen pragmatischen Phänomens, wobei partitive Subjekte ähnlich wie verneinte Subjekte im Diskurs selten sind. Lexikalische Bedingungen von Menschlichkeit oder Belebtheit wurden hingegen mehr für das Subjekt als für das direkte Objekt benutzt, aber diesmal handelt es sich um ein sprachspezifisches Phänomen des Indogermanischen: wir können behaupten, dass das differential subject marking älter als das differential object marking ist. Das differential subject marking spiegelt das Prinzip der Belebtheit wider, nach dem Nomina von belebten und unbelebten Referenten eine unterschiedliche Verteilung im Satz haben, und die letzteren in der Funktion des Subjekts ursprünglich im Urindogermanischen unerwünscht waren (§ 3.3.2.2.1). Dafür gibt es auch morphologische Hinweise: die Gleichheit des Nominativs und des Akkusativs bei Neutra wird traditionell so interpretiert, dass Neutra ursprünglich keinen Nominativ verfügbar hatten, da sie kaum die Funktion des Subjekts ausdrücken konnten ( „ Das Neutrum, welches im Allgemeinen Personen nicht bezeichnete, war nicht geeignet, den thätigen Träger oder Mittelpunkt einer Handlung zu bilden. Es wird daher ursprünglich als Nominativ nicht vorgekommen sein “ , Delbrück 1893: 189; vgl. auch Meier-Brügger 2010: 321 ff). Dagegen gibt es keine Hinweise darauf, dass das Urindogermanische das differential object marking kodierte, weil dieses Phänomen in verschiedenen idg. Sprachen durch unterschiedliche und spät entstandene 104 Die Komplementarität zwischen verschiedenen Strukturen für den Ausdruck einer Funktion ist nicht auf Nomina und Verben beschränkt. Z. B. wird die Funktion der Definitheit im Türkischen entweder durch die nominale Morphologie (mit einer besonderen Akkusativ-Endung für das definite direkte Objekt) oder durch den unbestimmten Artikel bir (vgl. Krámský 1972: 169 ff) ausgedrückt. 165 <?page no="166"?> Strukturen belegt ist. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass das Urindogermanische wegen seines Mangels an grammatikalisierten Adpositionen (§ 2.3.1.2) für das differential object marking, das üblicherweise aus dem festen Gebrauch einer Adposition mit belebtem Patiens besteht (Sp. veo a Maria), ursprünglich keine Form zur Verfügung hatte. Denn das differential object marking kann im Prinzip auch durch morphologische Verfahren ausgedrückt werden, wie im Altkirchenslawischen durch den Gebrauch des Genitivs statt des Akkusativs mit Nomina von männlichen Referenten (3.16) oder im Tocharischen durch verschiedene Formen des Akkusativs für belebte und unbelebte Nomina. Da diese Strukturen im idg. Bereich vereinzelt vorkommen, muss die Seltenheit des differential object marking eine andere Erklärung bekommen, und die besteht wahrscheinlich darin, dass das differential object marking das Prinzip der Transitivität widerspiegelt, nach dem ein Unterschied zwischen mehr oder weniger prototypischen Objekten dargestellt wird, und Transitivität und Rektion sind in den modernen idg. Sprachen weiter entwickelt als in den alten (vgl. § 4). 105 Man kann sich fragen, warum Unterschiede zwischen verschiedenen Subjekten oder verschiedenen Objekten gleich zu Anfang kodiert werden sollten, und darüber gibt es sogar innerhalb derselben Forschungstradition keinen Konsens. Nach Comrie (1989: 124 ff) ist der präpositionelle Akkusativ dazu da, das Patiens vom Agens zu unterscheiden: da menschliche Referenten typischerweise als Subjekte erscheinen, könne die Anwesenheit eines weiteren menschlichen Partizipanten im Prinzip eine gewisse Ambiguität in der Interpretation des Satzes erbringen. 106 Diese Erklärung wird im 105 Im Prinzip könnte man denken, dass die differenzielle Objektmarkierung auch durch deklinationsklassen- oder genusspezifische Kasussynkretismen gegeben wird (z. B. in Form eines Zusammenfalls von Akkusativ und Nominativ bei einigen Substantiven) und dadurch vielleicht doch für ältere als hier angenommene Sprachstufen anzusetzen wäre. Diese Hypothese scheint mir aber unwahrscheinlich zu sein, weil diejenigen alten idg. Sprachen, in denen die differenzielle Objektmarkierung erst entsteht, d. h. Tocharisch, klassisches Armenisch und Altkirchenslawisch, reiche Kasusinventare haben und weniger morphologische Vereinfachung im Nominalsystem erleben als andere Sprachen, in denen keine differenzielle Objektmarkierung erscheint. 106 Während klar ist, was ein typisches Subjekt ist, ist die Festsetzung des typischen direkten Objekts in der Literatur umstritten, und das stellt auch infrage, was ein typischer transitiver Satz ist. Nach Comrie (1989) bezeichnet das typische direkte Objekt einen unbelebten oder unbestimmten Referenten. Nach Hopper & Thompson (1980) hingegen ist der Referent des typischen direkten Objekts bestimmt und oft auch belebt. Das hängt auch von der jeweiligen Sprache ab und kann mittels Analyse einer ausgiebigen Serie transitiver Sätze aufgezeigt werden. Z. B. behauptet Naess (2006: 322), dass im Eskimo ein unbelebtes und unbestimmtes Patiens das Antipassiv verlangt, so dass der Satz eher intransitiv als transitiv ist. Da aber in den alten idg. Sprachen kein Antipassiv und keine Inkorporation existiert, können Nomina von unbelebten und unbestimmten Referenten hier wohl als direkte Objekte eines 166 <?page no="167"?> Rahmen der Optimalitätstheorie von Aissen (1999; 2003) übernommen, die auch die erste Formalisierung der nicht-kanonischen Markierung durchführt. Dementsprechend würde ein direktes Objekt morphologisch markiert und dadurch vom Subjekt unterschieden, wenn es bezüglich Menschlichkeit oder Definitheit klar ausgewiesen ist, was untypisch für seine Funktion ist ( „ The higher in prominence a direct object, the more likely it is to be overtly case-marked [. . .] it is those direct objects which are most in need of being distinguished from subjects that get overtly case-marked “ , Aissen 2003: 3). Umgekehrt wird das Subjekt morphologisch markiert und dadurch vom direkten Objekt unterschieden, wenn es in der Implikationsskala der Belebtheit und Definitheit auf einer niedrigen Stufe rangiert, wobei seine semantischen und pragmatischen Merkmale mit seiner syntaktischen Funktion inkonsistent sind. Das wird von mehreren Sprachen mit gespaltener Ergativität wie dem Dyrbal unterstützt, in denen die morphologisch markierte ergative Ausrichtung für Nomina benutzt wird, die in der Belebtheitshierarchie niedriger rangieren, während Pronomina der akkusativen Ausrichtung folgen. Von diesem Standpunkt aus seien das differential subject marking und das differential object marking Spiegelbilder voneinander: „ exactly what is marked for objects is unmarked for subjects “ (Aissen 2003: 438; vgl. auch de Swart 2005; Lee 2009; Woolford 2009). Eine solche Erklärung für die nicht-kanonische Markierung stößt aber auf einige Schwierigkeiten. Im Allgemeinen kommt die nicht-kanonische Markierung auch mit einstelligen Prädikaten aus, die nur intransitive Strukturen ergeben können, für die deshalb eine Vermeidung der Ambiguität zwischen Subjekt und Objekt nutzlos wäre. Sprachübergreifend findet die Annahme, dass das differential subject marking für unbelebte oder unbestimmte Subjekte verwendet wird, mehrere Gegenbeispiele, weil sich nicht alle Sprachen mit gespaltener Ergativität wie das Dyrbal benehmen. Z. B. wird der Ergativ im Hindi auf klar ausgewiesene Subjekte angewendet, die in typisch transitiven Sätzen mit perfektivem Aspekt und telischer Aktionsart vorkommen, in denen also keine Ambiguität mit dem Objekt besteht (vgl. de Hoop & Narasimhan 2009). Auch das Türkische, das mit seinem Gebrauch des differential object marking für prominente direkte Objekte auf den ersten Blick am besten Aissens (1999; 2003) Aussage zu folgen scheint, widerspricht ihr in der Tat, weil es auch nominalisierte transitiven Satzes betrachtet werden, und tatsächlich kann man in der Geschichte des Indogermanischen einen Wandel beobachten, wobei die Definitheit des direkten Objekts mit ihrem begleitenden perfektiven Aspekt durch zusätzliche Mittel und besonders durch Präverbien gekennzeichnet wird, was auf den markierten Charakter dieser Strukturen hinweist. Für die alten idg. Sprachen scheinen also Nomina von unbelebten oder unbestimmten Referenten für die Funktion des direkten Objekts bessere Kandidaten zu sein als belebte oder bestimmte Nomina. 167 <?page no="168"?> Strukturen besitzt, in denen prominente Subjekte explizit das differential marking bekommen (vgl. Kornfilt 2009). Im spezifischen Fall der alten idg. Sprachen war der Gebrauch verschiedener Kasus (NOM vs. AKK) genug, um zwei belebte Nomina zu unterscheiden. Die andere Hypothese, die weniger Verfechter als die erste hat, besteht darin, dass die nicht-kanonische Markierung des Subjekts und des direkten Objekts die Funktion der „ Signalisierung “ der semantischen Funktion der Argumente hat. Zu dieser Perspektive passt die nicht-kanonische Markierung mit einstelligen Prädikaten, weil ein Obliquus nur dazu da sei, eine nicht-agentive Rolle zu signalisieren. Ähnlich können dadurch die Gegenbeispiele der Sprachen wie des Hindi, des Türkischen oder des Vafsi (Neuiranisch), die in einigen Konstruktionen non-distinctive oder over-distinctive Ausrichtungen haben (Arkadiev 2009), auch erklärt werden, weil Ambiguität, Redundanz und generell Disfunktionalität kein Problem von Anfang an sind, ganz im Gegenteil sind sie völlig kompatibel mit einer heterogeneren Darstellung der semantischen Rollen. Eine Erklärung der nicht-kanonischen Markierung als bloße Identifizierung (statt Unterscheidung) der Funktion eines Arguments kann Unterstützung auch in den Daten der alten idg. Sprachen finden. Wie in § 3.2.2 antizipiert, bewahrten die Kasus in den alten idg. Sprachen ihre ursprüngliche semantische Rolle ziemlich gut. Natürlich war diese semantische Transparenz in verschiedenen Sprachen und auch in verschiedenen diachronen Stufen derselben Sprache nicht immer gleich, aber im Allgemeinen konnten die Kasus der alten idg. Sprachen ihren semantischen Inhalt oft noch zeigen und manchmal subtile Nuancierungen aufweisen, die vom Standpunkt der modernen idg. Sprachen aus nicht einfach zu verstehen sind. Ein Beispiel dafür bieten die alten Grammatiker an. Siehe die folgende Behauptung des römischen Grammatikers Charisius (4. Jh. n. Chr.), der eine archaisierende Tendenz favorisiert und deshalb alte Ausdrücke besonders untersucht und belegt: (3.35) Quanti, cum interrogamus nec emimus; quanto, cum emptam rem quaerimus „ Quanti (wie viel) wird benutzt, wenn wir nach dem Preis fragen, aber nicht kaufen; quanto (wie viel) wenn wir nach einem Ding fragen, das wir schon gekauft haben. “ (Charisius, Ars Grammatica 2) Bemerkenswert ist die Tatsache, dass ein semantischer Unterschied bei einer interrogativen Proform belegt ist, d. h. einer geschlossenen Kategorie, die im Prinzip weniger transparent ist als die offene Kategorie der Nomina. M. E. kann die von Charisius bezeugte unterschiedliche Semantik von quanti und quanto eine mögliche Erklärung darin finden, dass der Ablativ als typische Bezeichung einer Quelle oder Entfernung auch geeignet dafür ist, Bezug auf das schon geschehene Ereignis des Kaufens zu nehmen. Diese Hypothese kann von einigen lexikalisierten Gebräuchen des Kasus bei Verben des Geltens, Wertens und Kaufens weiter unterstütz werden, die in 168 <?page no="169"?> den traditionellen Grammatiken beschrieben, aber nicht erklärt werden. Erstens wird eine allgemeine Wertangabe im Lateinischen durch den genetivus pretii ausgedrückt, während der Ablativ für eine bestimmte (durch ein Substantiv und ggf. ein Numeral bezeichnete) Wertangabe benutzt wird: magni, parvi aestimare „ hoch bzw. gering schätzen “ vs. denariis tribus aestimare „ auf drei Denare schätzen “ (vgl. Rubenbauer & Hofmann 1995: 157 - 58). Die Bedeutung einer bestimmte Wertangabe ist auch kompatibler mit dem schon geschehenen Ankauf, den die Ablativform quanto nach Charisius bezeichnet, während eine Einschätzung weniger spezifisch bleibt, wenn der Ankauf noch nicht stattgefunden hat. Zweitens kommt der Ablativ häufiger als der Genitiv bei dem Adverb contra „ zur Erwiderung, zurück “ vor (vgl. Bennet 1914: 355 - 56), z. B. Pl. Mil. 1076 contra auro alii hanc vendere potuit operam „ Er konnte diesen Dienst für Gold zurück verkaufen “ . Lat. contra setzt auch voraus, dass ein Handelgeschäft schon geschehen ist, und stimmt deshalb mit der Semantik von quanto überein. 107 Also besteht die Antwort der alten idg. Sprachen auf die Debatte über die Funktionen der nicht-kanonischen Markierung nach meiner Meinung darin, dass das differential subject marking und das differential object marking, die in der Synchronie manchmal für Spiegelbilder gehalten werden, verschiedenen diachronen Stufen zugewiesen werden müssen. Diese Hypothese ist m. W. nicht vertreten in der Literatur, in der die Forscher normalerweise für eine einzelne der zwei vorgeschlagenen Erklärungen der nicht-kanonischen Markierung plädieren, d. h. Unterscheidung vs. Signalisierung der semantischen Rolle, oder ansonsten eine Kombination der beiden bevorzugen (Naess 2006; 2007: 153ff; Malchukov & de Swart 2009). 108 Wir haben aber gesehen, dass das differential subject marking im 107 Nach den Grammatiken wird der Ablativ bei Verben des Geltens, Wertens und Kaufens auf einen älteren Gebrauch des Instrumentals zurückgeführt (Bennet 1914: 353 ff). Das würde aber die oben erwähnten Strukturen von quanti vs. quanto, von allgemeiner vs. bestimmter Wertangabe und vom Adverb contra nicht erklären. Jedenfalls können in einer Sprache wie Latein, in dem der idg. Instrumental mit dem Ablativ zusammengefallen ist, Überlappungen zwischen den funktionellen Bereichen dieser Kasus wohl bestehen, die auch von den Junggrammatikern angedeutet werden. So z. B. Delbrück über die Ausbreitung des Ablativs auf Kosten anderer adverbialer Kasus im Italischen: „ Die Verschmelzung mit dem Instr. erfolgte sehr früh. [. . .] Sie wurde begünstigt durch die formelle Verwandschaft, denn der Abl. endigte bei den o-Stämmen auf od, ed, der Instr. auf o, e und dem entsprechend bei den übrigen Stämmen. Ferner durch Berührungen des Sinnes, indem die beiden Kasus von altersher in dem Begriff hetu (Ursache) zusammentrafen. “ (1893: 195; betont) 108 So vereinigt Naess discrimination und indexing als Erklärungen der nicht-kanonischen Markierung: „ Case marking has both discriminatory and indexing aspects, but as integrated parts of their overall function rather than as in principle distinct functions. It seems that the case markers in these languages function to discriminate, not between subjects and objects, but between the participants of a fully transitive situation. In other words, the discriminatory 169 <?page no="170"?> Indogermanischen ein älteres Verfahren ist, wobei Nomina von unbelebten Referenten in der Funktion des Subjekts unerwünscht waren und deswegen auch formal in einen Obliquus degradiert wurden. Dasselbe gilt für das zweite Argument des Satzes: indem es durch einen Obliquus statt des Akkusativs gekennzeichnet wurde, konnte es seine semantische Rolle auch besser ausdrücken. Deswegen finden wir Strukturen wie Altisl. hann kastar beinum „ er wirft Knochen “ (Barnes 2008: 36), wo das Nomen bein „ Knochen “ (N) nicht in den Akkusativ, sondern in den Dativ (Plural) flektiert wird, der hier eigentlich die Funktion des Instrumentals hat. Das später entwickelte differential object marking hingegen setzt eine ziemlich fortgeschrittene transitive und konfigurationale Syntax voraus. Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass eine synchrone Opposition in der Grammatik besser diachron verstanden werden kann. 3.4 Wandel der syntaktischen Markierung im Indogermanischen 3.4.1 Erbschaft und Richtung Die Annahme, dass Impersonalia und andere nicht-kanonisch markierte Strukturen aus dem Urindogermanischen ererbt sind, beruht nicht auf den lexikalischen Quellen dieser Strukturen. Nach Bauer (2000: 99) ist *sneyg wh „ schneien “ das einzige unpersönliche Verb, das in vielen idg. Sprachen lexikalisch bewahrt wird, während andere Witterungsverben einzelsprachlich sind, und ungefähr dasselbe gilt für Empfindungsverben und andere Prädikate, die in nicht-kanonischen Strukturen vorkommen können. Die Erbschaft kann vielmehr anhand ihrer Syntax hypothetisiert werden, da die syntaktische Struktur mit einem Verb in der dritten Person des Singulars und einem Nullargument (im Fall der Witterungsverben und des unpersönlichen Passivs) oder einem obliquen Argument (im Fall der Empfindungsverben, der Modalverben und der possessiven mihi est-Struktur) in verschiedenen Sprachen belegt ist, vgl. Barðdal & Eythórsson (2009). Das ist ein Beweis des Prinzips, nach dem der lexikalische Wandel schneller als der syntaktische Wandel vor sich geht. Der konservative Charakter der nichtkanonischen Markierung kann auch anhand ihrer arealen Verteilung function of case is here semantic rather than syntactic: the ergative and accusative casemarkers discriminate between semantic Agents and Patients rather than between syntactic subjects and objects. “ (2007: 166) Nach Malchukov & de Swart (2009) ist das Zusammenspiel zwischen der Funktion der Unterscheidung und der der Signalisierung verantwortlich für gewisse Asymmetrien und split-patterns in der nicht-kanonischen Markierung und in ihrer Beziehung zu Ausrichtungssystemen. 170 <?page no="171"?> angenommen werden, wie unten in § 3.5.1 diskutiert. Diese Strukturen bezeugen unter normalen Umständen eine kohärente diachrone Richtung des Wandels von nicht-kanonisch zu kanonisch, wobei, wenn eine Sprache sowohl eine kanonische als auch eine nicht-kanonische Markierung für eine bestimmte Proposition besitzt, die nicht-kanonische Variante normalerweise älter ist ( „ There is a well-established diachronic tendency for oblique experiencer arguments to acquire behavioral subject properties “ , Haspelmath 2001 b: 75). Wie dieses Zitat zeigt, ist eine solche Richtung besonders klar für Empfindungsverben, die wir hier deshalb als erste in ihrem Wandel beschreiben (§ 3.4.2). Nicht immer demselben Weg folgen aber andere Prädikate wie Witterungsverben (§ 3.4.3) und Modalverben (§ 3.4.4). 3.4.2 Wandel der Empfindungsverben 3.4.2.1 Weise des Wandels Der Wandel von der nicht-kanonischen zur kanonischen Markierung kann am besten in der Geschichte des Englischen beobachtet werden, das heutzutage diejenige idg. Sprache ist, die die kanonische Markierung am ausgeprägtesten verwendet, jedoch in früheren Stufen reich an nicht-kanonischen Strukturen war. Das zeigt eine Studie von van der Gaaf (1904) mit dem aufschlussreichen Titel The transition from the impersonal to the personal construction in Middle English. Van der Gaaf untersucht die sogenannte methinks-construction, in der das Verb in der dritten Person Singular flektiert wird und das Argument in einem Kasus obliquus steht. Diese Struktur wird im Altenglischen für viele Prädikate belegt, die diesem Argument den Dativ oder den Akkusativ zuweisen: neben Altengl. lician „ gefallen “ (mit DAT), haben wir z. B. wel, bet beon „ wohl, besser sein “ (mit DAT), eglian „ quälen, plagen “ (mit DAT), listan „ gelüsten, gefallen “ (mit AKK), þyncan „ dünken, scheinen, erscheinen “ (mit DAT). Diachron wird der Obliquus des Experiens vom Nominativ ersetzt. Dieselbe Neigung zum Ersatz der Impersonalia findet auch in anderen idg. Sprachen durch eine unabhängige Drift in Sapirs Sinne statt. 109 Es ist in der Literatur aber 109 Ein weiteres Beispiel für den Wandel von nicht-kanonischen zu kanonischen Strukturen ist das Französische. Eine nicht-kanonische Struktur wie il me plaît, vom Verb plaîre, wird von der kanonischen Struktur j ’ aime (oder verstärkt j ’ adore) verdrängt und wird de facto nur im festen Ausdruck s ’ il vous plaît „ bitte “ bewahrt, ganz genau wie Engl. to please, das heute vom kanonischen Prädikat I like ersetzt wird und in lexikalisierten Ausdrücken wie please „ bitte “ bestehen bleibt. Auch in negativen Kontexten hat das Französische die kanonischen Strukturen generalisiert: Il ne me plaît pas ist selten und wird eher von je n ’ aime pas oder je déteste ersetzt. In der syntaktischen Struktur des Satzes ist das Französische also vom Muster des Lateinischen und der anderen romanischen Sprachen entfernt und spürt den Einfluss der germanischen 171 <?page no="172"?> umstritten, ob es um eine abrupte oder graduelle Änderung geht, und auch hinsichtlich ihrer Erklärung gibt es keinen Konsens. Für die Hypothese eines abrupten Wandels wird im Rahmen des Generativismus plädiert, nach dem die ältere nicht-kanonische Markierung ab einem bestimmten Punkt von den neuen kanonischen Strukturen ersetzt wird. Das ist die Meinung von Lightfoot, demzufolge durch die Anwendung des Transparenz-Prinzips (1979: 229 ff) oder durch einen parametrischen Wandel (1991: 128 ff) in der Mitte des 16. Jh. ein massiver Verfall der Impersonalia stattfindet. Angeblich werden in dieser Zeit eine Reihe Bedingungen gleichzeitig umgesetzt: erstens verschwinden mehrere unpersönliche Prädikate wie agrisan „ schaudern, fürchten “ , aþreotan „ verdrießen “ und belimpan „ betreffen, angehören “ aus der Sprache, zweitens bekommen viele Impersonalia ein leeres Subjekt it, und drittens wird die vor das Verb gestellte NP als Subjekt interpretiert. Diese Beschreibung ist auch kompatibel mit der Hypothese derjenigen Forscher, nach denen verschiedene syntaktische Strukturen zwar koexistieren können, aber der Ersatz regelmäßig fortschreitet, wie in der S-Kurve von Kroch (2001), vgl. § 1.3. Eine tiefere Berücksichtigung der Daten scheint aber darauf hinzudeuten, dass der Wandel der syntaktischen Markierung in der Geschichte des Englischen nicht abrupt geschieht, sondern das Ergebnis einer synchronen Variation ist, wobei persönliche und unpersönliche Strukturen oft nebeneinander stehen. Van der Gaaf (1904) zeigt, dass die unpersönlichen Strukturen des Alt- und Mittelenglischen sehr heterogen sind, 110 sodass dasselbe Prädikat mit mehr als einem Kasus gebildet werden kann. Z. B. verlangt Altengl. hreowan sowohl den Dativ (hit him ne hreowþ „ Er trauert nicht um das “ ) als auch den Akkusativ (hreaw hine swiðe „ Er trauerte so um Sprachen wie dem Englischen. Die Situation war anders im Altfranzösischen, als nicht-kanonische Strukturen noch gewöhnlich waren. Der syntaktische Wandel hat wahrscheinlich angefangen, nachdem Paris das Epizentrum des Französischen wurde. In der Zeit des Nebeneinanders der langue d ’ oc und der langue d ’ oïl hatte auch der Süden Frankreichs eine prestigevolle linguistische und literarische Tradition, und die vom Lateinischen ererbte nicht-kanonische Struktur war offensichtlicher, wie auch die freie Wortfolge. 110 Van der Gaaf (1904: 40) unterscheidet grundsätzlich vier Konstruktionen, die er mit verschiedenen Buchstaben benennt: Der A-Typ ist die oben erwähnte methinksconstruction mit einem obliquen Argument. Im B-Typ ist es von einem bloß formalen Standpunkt aus unmöglich zu bestimmen, ob das Argument im Nominativ oder in einem Obliquus steht. Der C-Typ besteht aus einem unpersönlichen Verb und aus einer präpositionalen Ergänzung, z. B. it happened to us. Der D-Typ schließlich hat ein Nominativ-Argument, z. B. I like. Er anerkennt auch unterschiedliche Stufen der Unpersönlichkeit (S. 2), wobei neben echten Impersonalia wie it rains und echten persönlichen Verben wie I like mehrere Varianten von quasi-impersonal verbs existieren. Zu den letzten gehöre auch die methinks-construction. 172 <?page no="173"?> ihn “ ), und noch mehr Variation hat seine mittelenglische Entsprechung rewen (S. 5 - 6; 61 - 64). Die nicht-kanonische Struktur me is lever „ mir ist lieb “ koexistiert mit der kanonischen Struktur I have lever über Jahrhunderte: „ This, however, they did in a friendly spirit, for instead of each maintaining its individual character and fighting it out to the bitter end, they influenced one another, thus giving rise to blendings “ (S. 44). Einige Prädikate wie hyngrian „ hungern “ , þyrstan „ dürsten “ , scamian „ sich schämen “ wiersa beon „ schlimmer werden “ wurden während des ganzen altenglischen und mittelenglischen Gebrauchs sowohl unpersönlich als auch persönlich benutzt. Wie die Quellen sind auch die Zielpunkte des Wandels unterschiedlich: van der Gaaf (1904: 39) beschreibt Änderungen nicht nur vom Obliquus zum Nominativ, sondern auch vom Obliquus zu einer präpositionalen Struktur, z. B. von me seems zu it seems to me, die noch unpersönlich bleibt. Neben dem Verlust der methinks-Struktur gibt es auch Verben, die zuerst persönlich und erst später unpersönlich gebildet wurden, wie remembren „ sich erinnern “ und besonders repenten „ bereuen “ (wegen des Einflusses des altfranzösischen reflexiven Verbs repentir). Es gibt diatopische Varietät, z. B. ist die methinks-Struktur in den nördlichen Dialekten des Englischen häufiger, und auch Gattungen spielen eine wichtige Rolle, da Dichtung konservativ ist: bei einigen Dichtern bleibt die methinks-Struktur bis ins 19. Jh. erhalten. Im Allgemeinen zeigt die Beschreibung von van der Gaaf eine sehr komplizierte Verteilung der unpersönlichen Strukturen in der Zeit, die auch von lexikalischen Faktoren bedingt ist, 111 und diese Interpretation wurde in einer jüngeren Studie durch zusätzliche Daten von Allen (1995) bestätigt. Eine ähnliche Situation finden wir im Lateinischen, das im Vergleich mit anderen idg. Sprachen relativ reich an Impersonalia ist, in dem aber seit den ältesten Sprachstufen mehrere persönliche Strukturen für Empfindungsverben (zumindest mehr als für Witterungsverben oder Modalverben) belegt sind. Bennet (1910: 9) widmet diesem Phänomen eine Rubrik, betitelt „ verbs ordinarily impersonal used in Early Latin as personal “ . Auch in diesem Fall können wir feststellen, dass hinter der Drift, die von nicht-kanonischen zu kanonischen Strukturen leitet, synchron eine Konkurrenz besteht, und hier kann man noch nicht externe Faktoren miteinbeziehen, die hingegen für das Mittelenglische wegen des Kontakts mit der normannischen Kultur 111 Diese „ Konfusion “ kommentiert van der Gaaf mit seinem üblichen Humor: „ The fourteenth and fifteenth centuries may, with regard to English syntax, be called a period of confusion. The process of evolution was, as we have seen, steadily going on; new constructions were making their appearance - at first only sporadically, but little by little they gained a firm footing, and became recognized idioms. At the same times the older forms continued to be used, so that in many cases the same thought might be expressed in two ways which, in point of form, were diametrically opposed to each other. Altogether the language was in an unsettled state, and a bewildered Anglo-Saxon might well exclaim: „ Loo what scholde a man in thyse dayes now wryte? “ (1904: 143) 173 <?page no="174"?> als eine plausible Erklärung für unerwartete Änderungen in der syntaktischen Markierung gelten können. Das Lateinische ist also ein Beweis dafür, dass in der Entwicklung von persönlichen und unpersönlichen Strukturen die Varietät und manchmal auch die Inkonsistenz ein inhärentes Prinzip der Sprache ist. Im Lateinischen können unterschiedliche Markierungen für dasselbe Prädikat sogar in demselben Satz vorkommen, wie in (3.36) für pudet „ es beschämt “ . (3.36) Ita nunc pudeo atque ita nunc paueo atque ita inridiculo sumus ambo. Sed ego insipiens noua nunc facio: pudet quem prius non puditum umquamst „ Wie schäm ich mich jetzt und wie fürcht ich mich jetzt und wie wird man uns beide verspotten! Doch ich Narr, hier was Neues zu tun: mich schämen, der früher doch niemals sich hat geschämt! “ (Pl. Cas. 877 - 78; Übersetzung Rau 2007: II, 275) Neben den unpersönlichen Formen pudet und puditum est, die im Lateinischen für dieses Prädikat regelmäßig sind, belegt hier Plautus die persönliche Form pudeo, flektiert in der 1. Person Aktiv. Eine andere Variante desselben Prädikats erscheint bei Terenz (3.37). Nochmals geben wir eher die englische als die deutsche Übersetzung an, weil das Englische wegen seines im Vergleich zum Deutschen stärkeren Gebrauchs der kanonischen Markierung die Auswahl unterschiedlicher Strukturen für dasselbe Prädikat am deutlichsten illustriert. (3.37) non te haec pudent? „ Do you have no shame? “ (Ter. Ad. 754; Übersetzung Barsby 2001: 339) In (3.37) bekommt das Experiens te den Akkusativ, wie es regelmäßig für pudet der Fall ist, aber das Verb steht nicht in der erstarrten 3. Person Singular, sondern es stimmt im Plural mit dem Stimulus haec „ diese Dinge “ überein. Es geht um eine persönliche, jedoch nicht-kanonisch markierte Struktur, weil eine Kongruenz zwischen Verb und Subjekt besteht, während das grammatische Subjekt nicht das prominenteste Argument des Satzes ist. Im Altlateinischen hat also das Prädikat „ sich schämen “ zumindest drei Konstruktionen. 112 Die Alltagssprache der alten Komödie stimmt mit den kanonisch-markierten Strukturen der Empfindungsverben überein, die im 112 Es gibt zusätzlich die Struktur idne te pudet? (Pl. Epid. 107), die ähnlich wie (3.37) durch das Experiens im Akkusativ strukturiert ist, obwohl das Subjekt id in diesem Fall mehr ausfüllender Ausdruck als referentielles Pronomen ist. Natürlich ist es schwer zu sagen, wann ein neutrales Pronomen, wie haec in (3.37) oder id hier, noch ein Argument oder nur ein expletives Subjekt ist. Hier ist die argumentale Funktion sicher weniger offenbar mit id, das den Gebrauch eines Verbs in der 3. Person SG wie bei echten Impersonalia verlangt, als mit haec. Außerdem ist das Pronomen is-ea-id im Lateinischen weniger deiktisch als hic-haec-hoc. 174 <?page no="175"?> Spätlateinischen und in den romanischen Sprachen auftauchen, vgl. Löfstedt (1911); Väänänen (1967). Die neuen Strukturen sind aber nicht auf das Altlateinische beschränkt: in der silbernen Latinität, die auch nachklassische Varianten zeigt, wird von Seneca die Form misereor in der 1. Person SG (3.38) anstatt der unpersönlichen Form me miseret verwendet. In dieser Textstelle könnte auch der Parallelismus mit den anderen Verben eine Rolle spielen, die ebenfalls in der 1. Person SG flektiert sind. (3.38) hunc promereor, illi reddo; huic succurro, huius misereor „ To this man I do a service, to that one make return; this one I succour, this one I pity. “ (Sen. De Vita Beata. 24; Übersetzung Basore 1932: 161) Hier hat das Englische mit dem Prädikat to pity unweigerlich eine kanonische Struktur, und dasselbe gilt für Dt. ich habe Mitleid, Fr. j ’ ai pitié, Ita. ho pietà usw., die mit dem Gebrauch des Hilfsverbs eine Beziehung zwischen Analyse und kanonischer Markierung darstellen. Senecas Ausdruck misereor hingegen ist zwar persönlich, doch durch seine Flexion ins Deponens wird die geringe Transitivität des Satzes ausgedrückt. Das ist demjenigen Verfahren ähnlich, nach dem die romanischen Sprachen die niedrige Transitivität der Empfindungsprädikate mittels pseudoreflexiver Verben ausdrücken wie Ita. mi pento „ ich bereue “ , mi vergogno „ ich schäme mich “ (vs. die periphrastische Struktur des Fr. j ’ ai honte), wobei eine Reflexivform vorkommt, die kein Patiens ist (Gianni si pente / *pente se stesso „ Johannes bereut “ vs. Gianni si odia / odia se stesso „ Johannes hasst sich / hasst sich selbst “ ). Auch in diesem Fall scheint das Nebeneinander vieler unterschiedlicher Strukturen im Lateinischen eher einen graduellen als einen plötzlichen Wandel aufzuzeigen, nach dem die syntaktischen Varianten diachron mit ungleicher Geschwindigkeit verfallen oder sich verbreiten. Außerdem macht die Vielfalt der belegten Strukturen m. E. die Hypothese einer Diglossie fragwürdig, wie sie im Generativismus manchmal vorgeschlagen wird, wonach die Variation durch den Gebrauch zweier Grammatiksysteme durch einen einzigen Sprecher bedingt sei (vgl. Radford 1988; Batllori et al. 2005: 2 ff). Sonst müssten wir an die Umschaltung zwischen mehreren Grammatiken denken, was auch von einem generativistischen Standpunkt aus weder eine elegante noch eine ökonomische Lösung wäre. 3.4.2.2 Erklärung des Wandels Noch problematischer als das „ Wie “ ist das „ Warum “ des Wandels von nicht-kanonisch zu kanonisch markierten Empfindungsprädikaten. Grundsätzlich wurden dazu in der Literatur drei verschiedene Hypothesen vorgeschlagen, die auf der Morphologie, der Syntax oder der Semantik/ Pragmatik beruhen (für weitere Hypothesen vgl. Barðdal & Eythórsson 2009). 175 <?page no="176"?> Nach der morphologischen Hypothese seien der Verfall der Kasus-Unterschiede und die Festsetzung der Wortfolge die Ursache des Wandels. Als die Endung des Dativs verloren ging oder nicht mehr erkannt wurde, sei auch das Nomen des Experiens, das von Anfang an vor dem Verb stand, als Subjekt missverstanden worden. Die Änderung der verbalen Kongruenz sei die logische Folge. Diese Erklärung passt zum Germanischen, wo der Kontrast zwischen den kanonischen Strukturen des Englischen und den nicht-kanonischen Strukturen des Isländischen einen möglichen Zusammenhang mit dem Verfall bzw. der Bewahrung der Kasus in diesen Sprachen hat. Da das Englische die am meisten untersuchte Sprache ist, ist diese Hypothese auch diejenige, die in verschiedenen theoretischen Bereichen mehr Verfechter hatte, von der traditionellen Historiolinguistik (van der Gaaf 1904: 3; 25ff; Jespersen 1927: § 11.2) über den Generativismus (Lightfoot 1979: 229 ff) bis zur Typologie (Harris & Campbell 1995: 84 - 85; vgl. auch die Diskussion in Lambert 1997: 325 ff); nach Harris & Campbell ist der Wandel in der Darstellung des Experiens ein Beispiel linguistischer Reanalyse. 113 Nach der syntaktischen Hypothese, die zuerst von der Relationalen Grammatik vorgeschlagen wurde, ist das Experiens der nicht-kanonischen Strukturen ein zugrunde liegendes oder tieferes Subjekt (underlying, deep, initial subject), das auf der oberflächigen Ebene in den Status eines direkten oder indirekten Objekts degradiert wurde, vgl. Perlmutter (1983). Ein Beweis dafür seien die behavioral properties des Experiens, d. h. sein Verhalten wie ein echtes Subjekt in syntaktischen Konstruktionen wie Reflexivierung, Anhebung und Kontrolle bei Infinitiven. Eine ähnliche Hypothese wurde in der Historiolinguistik neuerdings besonders im Feld der germanischen Sprachen verfochten (vgl. Eythórsson & Barðdal 2005; Barðdal & Eythórsson 2009), wenn auch in einem anderen, der Konstruktionsgrammatik näheren theoretischen Rahmen. Barðdal behauptet, dass das oblique Nominal in Strukturen wie Dt. mir gefällt oder Isl. mér líkar alle syntaktischen Tests für Subjekt-Status besteht. In ihrem Beispiel „ das ist so verächtlich, daß man das Auge davon abwenden muß, um_ nicht übel zu 113 Auf Grundlage der „ covariation of case marking and word order “ (Harris & Campbell 1995: 85) können verschiedene Ansätze die morphologischen Faktoren des Kasus- Verlustes oder die syntaktischen Faktoren der zunehmend festen Wortfolge als Ursache des Wandels mehr oder weniger betonen. Morphologische Faktoren wurden besonders von den ersten Historiolinguisten postuliert (van der Gaaf 1904: 3), während die Wortfolge im Mittelpunkt moderner Syntaktiker steht, wie bei Lightfoot ( „ This syntactic change seems not to have been caused by earlier semantic or phonetic changes. It was a consequence of the rigidification of the SVO word order. The Transparency Principle requires structures to be analysable in most transparent fashion and the principle apparently exerted sufficient force to bring about the re-analysis despite morphological and semantic restraints. “ 1979: 239) 176 <?page no="177"?> werden “ (Barðdal & Eythórsson 2009: 3) ist das implizite Argument des Prädikats des Infinitivsatzes ein Dativ (jdm. übel sein), und es wird ausgelassen unter Identität mit dem Subjekt des übergeordneten Satzes man. Diese Möglichkeit der Ellipse hat das Experiens eher mit dem Subjekt als mit dem direkten Objekt gemeinsam. Eine semantisch-pragmatische Hypothese wird von Haspelmath (2001 b) angeboten. Zuerst würden nicht-kanonische Strukturen aus metaphorischen Verwendungen einiger Verben entstehen, die wörtlich eine Bewegung oder eine Kraftübertragung beschreiben und deshalb regelmäßig ein direktes Objekt voraussetzen. Z. B. bedeutete das englische Verb worry (Altengl. wyrgan) ursprünglich „ erwürgen “ und verlangte ein direktes Objekt mit der Funktion des Patiens. Mit der Zeit hat sich die Bedeutung des Verbs verändert in „ sich Sorgen machen “ , die an diesem Punkt ein Experiens voraussetzt, aber die Form des Prädikats ist gleich geblieben und hat eine oblique Ergänzung. Sodann wird das Experiens als Topik des Satzes interpretiert, indem es einen menschlichen Referenten hat, während der Stimulus entweder belebt oder unbelebt sein kann. Wegen der typischen Überlappung zwischen Topik und Subjekt wurde die Topik dieser nicht-kanonischen Strukturen immer mehr als ein echtes Subjekt betrachtet, zuerst in den behavioral properties der Kontrolle bei Reflexivierung und Satzverbindung und danach auch in den coding properties der Kasus und der verbalen Kongruenz. Die semantisch-pragmatische Hypothese findet Unterstützung in der Etymologie der Empfindungsverben und ist m. E. auch die überzeugendste, um die Daten der alten idg. Sprachen zu erklären, während mir die morphologische Hypothese die schwächste dafür zu sein scheint. Ich glaube, dass man zwischen dem Verlust der Kasus oder der Festsetzung der Wortfolge einerseits und der Entstehung kanonischer Strukturen andererseits keinen direkten Zusammenhang herstellen kann, weil kanonische Markierungen auch in idg. Sprachen vorkommen, die reich an Kasus sind oder eine freie Wortfolge haben. Wir werden in § 3.5.2.2 sehen, dass kanonische Strukturen im Altindischen und im Hethitischen vorherrschen, die acht Kasus haben, wie auch im Altgriechischen, das durch eine extrem freie Wortfolge charakterisiert ist, und jedenfalls hat auch das Altgriechische mit seinen fünf Kasus eine reichere nominale Flexion als das Isländische mit seinen vier Kasus. Aber die morphologische Erklärung des Wandels von unpersönlichen zu persönlichen Strukturen bereitet sogar für das Englische Schwierigkeiten, wofür sie zuerst postuliert wurde. Die Analyse von van der Gaaf (1904), worauf sich die meisten späteren Verfechter dieser Hypothese beziehen, schließt systematisch diejenigen Stellen aus, in denen das Experiens nach dem Verb platziert wurde, meistens wenn ein Adverb die erste präverbale Stellung besetzt. In diesen Fällen fehlten die Bedingungen für eine mögliche Ambiguität, da die oblique Ergänzung 177 <?page no="178"?> auch nach dem Verfall des Kasus durch ihre postverbale Stellung erkennbar gewesen sei ( „ In the case of normally constructed sentences I have purposely excluded those in which the verb comes first, as these could not be instrumental in bringing about the transition: the noun or pronoun would have continued to be regarded as a complement, as a direct or an indirect object of the verb “ , S. 36). Das ist ein methodologischer Fehler, weil man die Daten vernachlässigt, die gegen seine Erklärung verstoßen. Nach Seefranz-Montag (1984) weisen die Texte auf einen Zeitunterschied zwischen Reanalyse der obliquen Subjekte, Kasus-Verlust und Feststellung der Wortfolge hin, sodass sie, von einem philologischen Standpunkt aus, auch nicht innerhalb einer Ursache- und Wirkungskette interpretiert werden können (vgl. auch Eythórsson 2002: 202 ff). 114 Seefranz-Montags (1984) Überlegung kann auch als Kritik an der syntaktischen Hypothese des Wandels im Ausdruck der Empfindungsprädikate aufgefasst werden, denn sie schreibt: „ The change of ‚ subjectless ‘ constructions is a consequence of historical changes in the functional and coding properties of the grammatical relation ‚ subject ‘ : The gradual acquisition of syntactic and morphosyntaktic subject properties by experiencer arguments of impersonal verbs is proportial to the establishment of grammatical relations in a language “ (S. 546). Die Subjekt-Merkmale werden vom Experiens also erst mit der Zeit erworben: wir haben hier wohl eine Änderung, die aber keine demotion, sondern eher eine promotion ist. In ihrer Analyse der subject-like obliques im Germanischen berücksichtigen Eythórsson & Barðdal (2005) keine coding properties in Keenans (1976) Sinne, sondern nur die behavioral properties des Subjekts bei Reflexivierung, Konjunktion-Reduktion, Verb-Umstellung, Kontrolle und Anhebungen (vgl. auch Faarlund 2004: 154; Fischer 2004; Sigurðsson 2004). Dem könnte man zustimmen, weil der Nominativ und die verbale Kongruenz mit obliquen Nominalia definitionsgemäß inkompatibel sind und weil behavioral properties sich bekanntlich früher als kodierende Eigenschaften etablieren, wie Cole et al. (1980) und neulich Fedriani (2009) in Bezug auf die Empfindungsprädikate des Lateinischen dargelegt haben. Da aber das Subjekt trotz seiner semantischen und 114 Gegen die morphologische Hypothese verwehrt sich auch McCawley (1976), die zuerst eine gemeinsame Semantik von geringer Transitivität bzw. Volitionalität in den unpersönlichen Strukturen des Altenglischen identifizierte und auch Parallelen eines Wandels von intransitiven zu transitiven Konstruktionen in anderen nicht-idg. Sprachen anbot. Nach McCawley genügt die bevorzugte Stellung des obliquen Arguments vor dem Verb und ihrer potentiellen Ambiguität mit dem anderen Argument nicht, um den Wandel von unpersönlichen zu persönlichen Strukturen zu erklären, weil man eher daran denken sollte, warum von Anfang an das oblique Argument vor das Verb gestellt wird. Die Antwort darauf sei, dass das oblique Argument die Topik des Satzes sei, also übereinstimmend mit Haspelmaths (2001 b) Hypothese. 178 <?page no="179"?> pragmatischen Basis grundsätzlich ein Konstrukt der Syntax ist, müssen die grammatischen Merkmale des Kasus und der Kongruenz in größerem Ausmaß berücksichtigt werden, nach denen ein Nominal, das nicht im Nominativ steht und keine Kongruenz mit dem Verb auslöst, von einem morphosyntaktischen Standpunkt aus kein Subjekt sein kann. Diese morphosyntaktischen Merkmale sind für das Urindogermanische deutlich rekonstruierbar, und bei den nicht-kanonischen Strukturen sind sie auch die einzigen obligatorischen Eigenschaften. Selbst in denjenigen idg. Sprachen wie dem Isländischen und dem Irischen, die reicher an nichtkanonischen Strukturen sind, kann das Experiens nie die verbale Kongruenz auslösen (vgl. Sigurðsson 2004; Noonan 2004). Sprachübergreifend hingegen kommen die Merkmale des Nominativs und der verbalen Kongruenz nicht immer zusammen einher (Hagège 1993: 114 ff): wir haben in § 3.2.1 gesehen, dass im Tibetobirmanischen das Empfindungsprädikat auch mit dem obliquen Experiens in Kongruenz steht (3.4). Bickel (2004) stellt fest, dass, während die Wahl des spezifischen obliquen Kasus für das Experiens von arealen Faktoren bedingt wird, sein syntaktisches Verhältnis von genetischen Faktoren abhängt und dass ein starker Gegensatz besteht zwischen dem Tibetobirmanischen und dem „ Indo-European principle that dative experiencers are excluded from agreement-controlling pivothood (subjecthood) “ (S. 91). Anders als die coding properties sind die behavioral properties in den alten idg. Sprachen oft optional und zeigen eine große Variation: sogar eng verwandte Sprachen wie Deutsch und Isländisch, die auch dieselbe Anzahl Kasus haben, sind sehr verschieden in Bezug auf argument licensing, wobei das Deutsche viel beschränkter ist als das Isländische (vgl. Bayer 2004). Diese Variation ist oft eher pragmatisch als syntaktisch bedingt, d. h. in den idg. Sprachen kann das Experiens sich wegen seiner semantischen und diskursiven Prominenz als das Pivot des Satzes verhalten, doch ist das nicht immer der Fall. So schreibt Noonan (2004: 77) über oblique Subjekte im Irischen: „ Non-nominative subjects have been shown to lack the properties of canonical nominative subjects in Irish. These arguments may possess some control properties, but these appear to be pragmatically, not syntactically based. “ Im Indogermanischen hängt die höhere Relevanz des Kasus und der verbalen Kongruenz für die Bestimmung des Subjekts bei Empfindungsprädikaten teilweise auch von praktischen Gründen ab, weil Keenans (1976) behavioral properties für das Subjekt die Analyse komplexer Konstruktionen voraussetzen, die in den verschiedenen alten idg. Sprachen schwierig zu vergleichen und für das Urindogermanische oft auch unmöglich zu rekonstruieren sind. Denn komplexe Sätze haben weniger Möglichkeiten, im Gedächtnis gespeichert und deshalb diachron bewahrt zu werden. Bei Koordinaten kann jedes Argument des ersten Satzes im zweiten elliptisch gelassen werden, und nicht nur das oblique Experiens, wie Conti (2009: 193; 2010 a: 259 ff) für das Altgriechische und Luraghi 179 <?page no="180"?> (2010 b: 261) für das Hethitische feststellen. Ergänzungssätze, die Kontexte für Kontrolle und Anhebungen auch aufweisen können, sind später als Relativsätze und Adverbialsätze im Indogermanischen entstanden (§ 4.5.3). In ähnlicher Weise ist der Infinitiv, der im Lateinischen und Altgriechischen schon eine vollentwickelte Verbalform ist, noch ein nomen actionis im Altirischen und Vedischen. Reflexivstrukturen, ein weiterer Test für den Subjektstatus, sind in den alten idg. Sprachen so unterschiedlich belegt, dass einige Forscher sogar ihre Anwesenheit im Urindogermanischen in Zweifel ziehen (§ 2.3.2.5). Auch wenn die Morphologie des Reflexivums *se-/ s(e)we aus dem Urindogermanischen ererbt ist, wird seine Syntax oft monoglottisch bestimmt. Im Isländischen beschränkt sich der Umfang des Reflexivums nicht nur auf den einfachen Satz, sondern kann - besonders in der indirekten Rede - auch mit dem Subjekt eines übergeordneten Satzes verbunden sein (vgl. Maling 1984; Faarlund 2004: 123 - 126). Diese Situation kann man auch im Lateinischen finden (Bertocchi & Casadio 1980; Bertocchi 1986; 1989; Fruyt 1987; Benedicto 1991), aber es ist überhaupt nicht üblich in den alten idg. Sprachen, in denen das Reflexivpronomen unter normalen Umständen das Subjekt (oder jedenfalls ein topikales Nominal, vgl. Humbert 1972: 62; Everaert & Anagnostopoulou 1997) des einfachen Satzes als Beziehungswort auswählt. Isländisch und Latein sind auch innovativ im Gebrauch des accusativus cum infinitivo, der in anderen alten idg. Sprachen wie dem Altindischen ungewöhnlich ist und der eine besondere Beziehung zu long distance reflexives hat (Viti 2009 a; 2010 d). Das Isländische könnte also auch innovativ im syntaktischen Verhältnis der obliquen Subjekte von Empfindungsprädikaten sein, die oft anhand reflexiver Strukturen bestimmt werden. Außerdem wird traditionell anerkannt, dass das Isländische wie auch das Gotische durch ihre verbreitete Verwendung des Dativs für das direkte Objekt eine wesentliche Neuerung bewirkt haben. Delbrück (1893: 281) schreibt, „ dass die einzelnen germanischen Dialekte im Gebrauch des Dativs bei Verben vielfach abweichen, und dass der Akkusativ im Laufe der Zeit dem Dativ Boden abgewonnen hat “ (vgl. Delbrück 1893: 293 - 94). Dasselbe gilt für das Baltische (Schmalstieg 1987: 205 ff). Es ist also möglich, dass dativische Subjekte sich in diesen Sprachen auf dieselbe Weise wie dativische Objekte diachron vermehrt haben. Im Allgemeinen können Phänomene von Reflexivierung und Koreferenz-Beziehungen, bei denen das oblique Experiens der controller ist, dadurch erklärt werden, dass die anaphorischen Beziehungen des Reflexivpronomens sprachübergreifend von Faktoren wie Menschlichkeit und Volitionalität bedingt werden. Indem ein prototypisches reflexives Prädikat in Sinne von König & Siemund (2000) eine absichtliche Tätigkeit des Subjekts gerichtet auf sich selbst beschreibt, ist zu erwarten, dass das Bezugswort eines Reflexivums auch das Experiens sein kann, das in der 180 <?page no="181"?> Implikationsskala der Belebtheit und Topikalität höher steht als der Stimulus. Für Koreferenz in Satzverbindungen können wir dieselbe Erklärung annehmen, die für Fälle von fehlender Kongruenz in Genus und Numerus vorgeschlagen wurde, d. h. Kongruenz ist in der engen Domäne des Satzes syntaktisch bestimmt, hingegen semantisch oder pragmatisch in den lockeren Domänen des Diskurses (vgl. Corbett 1991; 2000; 2006). Auch in diesem Fall kann das prominenteste Argument des Satzes bezüglich Menschlichkeit und Topikalität durch eine unabhängige Drift in Sapirs Sinne als syntaktisches Subjekt in den verschiedenen Sprachen reanalysiert werden. Nach Barðdal & Eythórsson (2009: 4 - 5) wird der Annahme, dass das oblique Experiens wegen seiner Menschlichkeit, Definitheit und Topikalität auch graduell die formalen Eigenschaften eines echten Subjekts erwirbt, von denjenigen Strukturen widersprochen, in denen kein Nominativ besteht. Denn im Isländischen können bei einigen Empfindungsprädikaten sowohl das Experiens als auch der Stimulus durch oblique Kasus gekennzeichnet werden: „ Argument structure constructions with Acc- Acc, Acc-Gen and Dat-Gen, for instance, constitute a problem for the Topicality Hypothesis. Obviously, no swapping of arguments within the argument structure can be assumed to have taken place for argument structure constructions where there is no nominative. “ (Barðdal & Eythórsson 2009: 5) Hier sprechen wir nicht über einen Austausch in Topikalität zwischen Experiens und Stimulus, weil beide Nominalia den morphologischen Kasus haben können, den ihre semantische Rolle verlangt. Da der Nominativ in den früheren Stufen des Indogermanischen eine ziemlich direkte Beziehung zum Agens hatte, ist nachvollziehbar, dass es, wenn eine Proposition kein Agens einschließt, auch keinen Nominativ im Satz gibt. Auf ähnliche Weise meinen wir eigentlich nicht einen Wandel von Objekt zu Subjekt, wenn wir für die semantisch-pragmatische Erklärung der Markierung der Empfindungsprädikate plädieren, weil das direkte Objekt eine transitive Syntax voraussetzt, die im Urindogermanischen noch kaum entwickelt war (vgl. § 4). Wir haben in § 3.2.2 gesehen, dass das direkte Objekt in den belegten Sprachen noch kein Gegenpart des Subjekts war, sondern durch und durch ein Obliquus auf derselben Ebene wie die adverbialen Kasus, und dass es ursprünglich das Patiens ziemlich transparent darstellt. Also haben wir es hier mit einem Wandel von einer semantischen Rolle, die für das jeweilige Prädikat typisch ist, zu einer syntaktischen Funktion zu tun. 3.4.3 Wandel der Witterungsverben Nicht alle Prädikate aber begünstigen den Wandel zu einer kanonischen Markierung auf dieselbe Weise. Witterungsverben bleiben diachron normalerweise Impersonalia, und das ist vorhersagbar, da solche Handlungen keinen echten Partizipanten haben, sondern spontane Prozesse der Natur 181 <?page no="182"?> beschreiben. Es ist kein Zufall, dass die Linguisten, die Impersonalia wie Witterungsverben untersucht haben, von der diachronen Tendenz zu persönlichen Strukturen nicht überzeugt sind. Siehe die folgende Behauptung von Lambert (1997: 303 - 304): „ L ’ histoire des langues atteste autant d ’ évolutions de l ’ impersonnel au personnel, que du personnel à l ’ impersonnel. Surtout, les deux constructions, avec sujet et sans sujet, peuvent coexister assez longtemps (comme c ’ est le cas dans l ’ histoire de l ’ anglais). Il est probablement erroné de supposer que l ’ impersonnel est nécessairement un archaïsme. “ Lambert erinnert daran, dass viele Impersonalia des Altfranzösischen, auch ausserhalb der Witterungsverben, von regelmäßigen persönlichen Verben des Lateinischen kommen, wie z. B. il me souvient von Lat. subvenio. Wie im Deutschen oder Französischen, wo Witterungsverben obligatorisch ein leeres Subjekt mit der Funktion eines Platzhalters bekommen, können auch die alten idg. Sprachen ein explizites Subjekt mit Witterungsverben benutzen, obwohl ein solcher Vorgang immer optional und selten blieb. Seine Optionalität ist auch an der Tatsache ersichtlich, dass das hinzugefügte Subjekt nicht pronominal, sondern lexikalisch war: indem Nomina eine offene Kategorie vertreten, bieten sie mehr Möglichkeiten als Pronomina in Ersatz oder Wahl. Die gewählten Nomina bezeichneten entweder Götter, die für atmosphärische Phänomene verantwortlich gehalten wurden, wie in den Beispielen (3.39) - (3.40) aus dem Altgriechischen, oder Elemente der Natur z. B. Himmel, Wolken oder Erde, wie in (3.41) aus dem Altkirchenslawischen und (3.42) aus dem Vedischen. (3.39) ὗε δ᾽ ἄρα Ζεὺς / συνεχές , ὄφρα κε θᾶσσον ἁλίπλοα τείχεα θείη „ Während herab Zeus regnete, schneller ins Meer die umflutete Mauer zu wälzen. “ (Hom. Il. 12.25; Übersetzung Voß 1943 a: 194) (3.40) Ζεὺς δ᾽ ἄμυδις βρόντησε καὶ ἔμβαλε νηῒ κεραυνόν „ Und nun donnerte Zeus; Der hochgeschleuderte Strahl schlug schmetternd ins Schiff. “ (Hom. Od. 12.415; Übersetzung Voß 1943 b: 168) (3.41) oblak ъ d ъž dit ъ „ Die Wolke regnet. “ (3.42) v ā ´to v ā ´ti „ Der Wind weht. “ Man könnte im Prinzip auch denken, dass Witterungsverben mit Göttern als Subjekten ursprünglich waren und sie später durch unpersönliche subjektlose Ausdrücke ersetzt wurden, als die alte Religion und die animistische Interpretation der Welt immer weniger wichtig wurden. Die Konkurrenz zwischen unpersönlichen Ausdrücken wie (3.23) und persönlichen Ausdrücken wie (3.39) - (3.42) wäre von diesem Standpunkt aus keine Frage der Sprache, sondern der literarischen Gattung. Deshalb war Brugmann (1904: 625) im Zweifel, ob persönliche oder unpersönliche 182 <?page no="183"?> Strukturen älter sind, und andere Indogermanisten behaupteten sogar, dass es sich um einen Wandel von persönlichen zu unpersönlichen Subjekten handle ( „ Die persönliche Ausdrucksweise, in der deutlich die Gottheit als handelnd bezeichnet wird, war wohl die ältere Art “ , Kieckers 1926: 6). Auch nach Hofmann und Szantyr „ scheinen die sog. Witterungsimpersonalien (meteorologische Verba) nicht idg. Alters zu sein “ (1965: 415), wegen der Anwesenheit persönlicher Strukturen wie Skr. devo vars · ati oder Altgr. ὁ θεὸς ὕει „ der Gott regnet “ . Natürlich muss man die echten Impersonalia von jenen Fällen unterscheiden, in denen eigentlich eine Naturerscheinung der Götter beschrieben wird. Die letztere ist häufig bei Homer, der die Götter als aktive Teilnehmer der Geschichte darstellt, und im Vedischen, in dem Naturgewalten wie Wasser oder Feuer vergöttert werden. Normalerweise wird aus dem Kontext klar, ob wir die Gottwerdung einer Naturgewalt oder die bloße Beschreibung eines atmosphärischen Phänomens haben. Aber die mit einem expliziten Subjekt versehenen Witterungsverben kommen in der Geschichte des Altgriechischen nicht nur bei Homer vor, sondern auch später im klassischen Griechisch, obwohl sie natürlich immer weniger häufig als die entsprechenden Wetterverben mit Impersonalia sind. Daher handelt es sich wahrscheinlich nicht um eine Reduzierung der persönlichen Strukturen, die einen wachsenden Laizismus darstellen, wie die Junggrammatiker behaupteten. Denn die Namen des Gottes oder der Naturgewalt in Fällen wie (3.39) - (3.42) werden nicht von einem Adjektiv oder Genitiv modifiziert, und verhalten sich deshalb wie fixierte Ausdrücke, ähnlich wie der bloße Platzhalter es des Deutschen. Der einzige Unterschied zu Sprachen wie dem Deutschen ist, dass sie in den alten idg. Sprachen nur fakultativ sind. Außerdem sind Strukturen wie (3.39) - (3.42) nicht die einzige Möglichkeit, bei der Witterungsprädikate mit einem Argument verbunden werden. Das Altgriechische belegt auch einen transitiven Gebrauch solcher Verben, wie in (3.43), vgl. Schwyzer (1950: 72): (3.43) ἑπτὰ δὲ ἐτέων μετὰ ταῦτα οὐκ ὗε τὴν Θήρην , ἐν τοῖσι τὰ δένδρεα πάντα σφι τὰ ἐν τῇ νήσῳ πλὴν ἑνὸς ἐξαυάνθη „ Nun blieb sieben Jahre lang der Regen in Thera aus. Während dieser Zeit verdorrten alle Bäume auf der Insel mit Ausnahme eines einzigen. “ (Hdt. 4.151; Übersetzung Feix 1988: 613) Hier regiert das unpersönliche Prädikat οὐκ ὗε „ es regnete nicht “ ein Akkusativ-Nominal, τὴν Θήρην , das das unberegnete Land bezeichnet. Alternativ könnte man auch in diesem Fall an eine persönliche Struktur ( Z εύς ) οὐκ ὗε τὴν Θήρην mit implizitem Subjekt denken: „ Zeus beregnete Thera nicht sieben Jahre lang “ . Jedenfalls kann die Stelle in (3.43) zeigen, wie das Altgriechische durch ein Akkusativ-Objekt (und möglicherweise durch ein Nominativ-Subjekt) versucht, eine Argumentstruktur an die 183 <?page no="184"?> ursprünglich unpersönlichen und synchron anomalen Formen der Witterungsverben anzupassen. Im Allgemeinen kann man nicht vorhersagen, ob eine Sprache persönliche Strukturen oder leere Subjekte entwickeln wird, sondern man kann nur sagen, dass, wenn eine Sprache einen Wandel im Ausdruck der grammatischen Person oder des Subjekts im Bereich der Witterungsverben hat, ein solcher Wandel von unpersönlichen zu persönlichen Strukturen oder vom impliziten zum expliziten Subjekt verläuft und nicht umgekehrt. Daher sind Witterungsverben eigentlich keine Ausnahmen für die Richtung von nicht-kanonischen zu kanonischen Strukturen: sie belegen einen solchen Wandel nur seltener als Empfindungsverben. Die Anwesenheit obligatorischer leerer Subjekte scheint mir einen Zusammenhang mit der Anwesenheit des bestimmten Artikels zu haben. Auch in diesem Fall ist die Beziehung einseitig, d. h. wenn eine Sprache dummy subjects besitzt, dann hat diese Sprache auch den bestimmten Artikel; das ist im Deutschen, Englischen oder Französischen zu sehen. Wenn eine Sprache dagegen den bestimmten Artikel besitzt, kann man nicht vorhersagen, ob diese Sprache auch einen Platzhalter haben wird; so haben Altisländisch, Italienisch und Spanisch den bestimmten Artikel, aber kein dummy subject. Die Korrelation ist beschrieben in (3.44): (3.44) bestimmter Artikel > obligatorisches leeres Subjekt. Diese Implikationsskala sagt voraus, dass es keine (oder sehr wenige) Sprachen gibt, die keinen bestimmten Artikel, aber ein dummy subject besitzen. Im Litauischen und Altindischen fehlt der bestimmte Artikel und es gibt auch kein obligatorisches leeres Subjekt. Diese Beziehung zwischen dummy subject und bestimmtem Artikel kann eine Erklärung in der Tatsache finden, dass dummy subjects grammatikalisierte Pronomina voraussetzen, und grammatikalisierte Pronomina sind auch die typischen Quellen des bestimmten Artikels. Außerdem ist die Grammatikalisierung der Pronomina in dummy subjects stärker als in bestimmten Artikeln, da erstere nur erstarrte Pronominalformen darstellen, während letztere noch mit morphologischen Unterschieden versehen sein können. Diese Implikation gilt aber nur für die idg. Sprachen und für andere Sprachen, in denen Pronomina die Quelle der Artikel sind. Wenn eine Sprache ihre Artikel von nicht-pronominalen Formen bildet, ist ein solcher Wandel natürlich nicht vorauszusetzen. 3.4.4 Wandel der Modalverben Der Wandel der Modalverben steht im Widerspruch zu dem der Empfindungsprädikate, da erstere normalerweise Impersonalia bleiben oder sogar neue unpersönliche Strukturen entwickeln. Dieser Unterschied wird von Bauer (2000: 121) richtig erkannt, die mehrere Fälle beschreibt, bei 184 <?page no="185"?> denen ein ursprünglich persönliches Modalverb des klassischen Lateinisch später als unpersönlich strukturiert wird - im Gegensatz zu der oben erwähnten Tendenz von nicht-kanonisch zu kanonisch. Z. B. wird debeo „ ich muss “ mit der Zeit als debet + Infinitiv „ man muss “ gebildet, wie in (3.45). (3.45) sanguinem emittere [. . .] de capite debet „ Man soll Blut von dem Kopf freilassen. “ (Mul. 33) Ähnlicherweise erlaubt possum „ ich kann “ auch die Konstruktion potest + Infinitiv „ es ist möglich “ , z. B. quantum potest, und valeo „ ich bin gesund, ich kann “ erscheint in der Struktur valet + Infinitiv. Der Wandel zu Impersonalia betrifft auch die Verben habeo „ ich habe “ und facio „ ich mache “ , wenn sie keine oder weniger konkrete Bedeutungen bewahren, sondern als Hilfsverben funktionieren, z. B. habet in bibliotheca [. . .] librum „ there is a book in the library “ (Vopisc.). Wie Bauer (2000: 127) beobachtet, wird der unpersönliche Gebrauch dieser Verben in den romanischen Sprachen weiterentwickelt, wo man transitive Strukturen wie Fr. il fait chaud „ es ist warm “ oder Ita. fa freddo „ es ist kalt “ findet. Deswegen sind unpersönliche Verwendungen der Modalverben auch in denjenigen Sprachen belegt, die sonst arm an Impersonalia sind, wie im Englischen. Obwohl das Englische normalerweise persönliche Strukturen für Empfindungsverben (I am ashamed, I repent, I am cold, I am hungry) hat, hat es die nicht-kanonische Markierung für einige Modalverben wie it seems, it appears, it occurs, it behoves, it fits, und in älteren Sprachstufen gab es noch mehr solche Formen. Z. B. klingt das Impersonal to beseem „ es ziemt sich “ heute archaisch und wird nur in literarischen Texten benutzt wie in der folgenden Übersetzung des Beowulf in einer gehobenen Variante des modernen Englisch: Sorrow not, sage! It beseems us better/ friends to avenge than fruitlessly mourn them (Beo. XXI, 2 - 3, Eliot 1910: 44 - 45). 115 In seiner Studie der Entwicklung von unpersönlichen zu persönlichen Strukturen behandelt van der Gaaf (1904: 146 ff) auch eine Gruppe von vier Prädikaten, die ausnahmsweise im Altenglischen und frühen Mittelenglischen nur persönlich waren, jedoch später eine unpersönliche Konstruktion zeigen, d. h. azen „ schulden “ (NE owe), deynen „ sich ziemen “ , þarf „ dürfen “ und repenten „ bereuen “ ; drei davon sind Modalverben. Die methinks-Struktur verschwindet auch bei mehreren Modalverben wie happen, lakken „ benötigen “ (NE lack) und neden „ bedürfen “ (NE need), vgl. van der Gaaf (1904: 122 ff). Eine ähnliche Situation werden wir unten für das Altgriechische sehen, das normalerweise auch einen sehr beschränkten Gebrauch nicht-kanonischer 115 Der ursprüngliche Text im Altenglischen ist: Ne sorga, snotor guma! sélre bið aéghwaém / þæt hé his fréond wrece, þonne hé fela murne. 185 <?page no="186"?> Strukturen hat, jedoch unpersönliche Formen von Modalverben wie δοκεῖ μοι , δηλοῖ μοι und ἔοικε zeigt (§ 3.5.2.2). Daher muss man, obwohl Impersonalia in den alten idg. Sprachen nur als Relikt vorkommen, klar zwischen verschiedenen unpersönlichen Strukturen unterscheiden, da nicht alle derselben Entwicklung folgen, sondern sogar gegensätzliche Richtungen aufweisen können. Eigentlich gestalten nur Empfindungsverben diachron persönliche Strukturen, während Modalverben das Gegenteil tun und Wetterverben grundsätzlich immer gleich bleiben. Aufgrund der Tatsache, dass Empfindungsverben mehr Mitglieder haben, während Witterungsverben und Modalverben normalerweise lexikalisch beschränkter sind, kann man einen Wandel von unpersönlichen zu persönlichen Verben im Allgemeinen konstatieren. In seiner typologischen Analyse fragt sich Onishi (2001 a: 3): „ It would be interesting to find out how canonical markings have developed from non-canonical markings, and, possibly, vice versa. “ Modalverben sind ein Gegenbeispiel zur Direktionalität des Wandels von nicht-kanonischer zu kanonischer Markierung. Die unterschiedliche Entwicklung von Witterungsverben, Empfindungsverben und Modalverben verweist darauf, dass der syntaktische Wandel nicht unabhängig von semantischen Berücksichtigungen verfährt und dass die Syntax schließlich nicht autonom ist. Während aber der Wandel von Impersonalia zu persönlichen Strukturen keine besondere Erklärung erfordert, da es weniger Impersonalia gibt und man erwarten muss, dass sie mit der Zeit in Analogie zu allen anderen Verben strukturiert werden, ist hingegen eine Erklärung notwendig für die Bewahrung der Impersonalia bei Modalverben, da sie einer sprachübergreifend gewöhnlichen Drift widerstehen. Meiner Meinung nach liegt der Grund darin, dass Modalverben einen breiteren syntaktischen Umfang (scope) als Empfindungsverben haben. Empfindungsverben stellen eine physische oder psychische Affektion dar, sodass nur ein Partizipant der propositionalen Situation davon betroffen ist. Dagegen bezeichnen Modalverben abstrakte Operatoren wie Möglichkeit, Notwendigkeit oder Bedarf (vgl. Foley & Van Valin 1984), die nicht auf einen bestimmten Partizipanten beschränkt sind, sondern auf den ganzen Satz angewendet werden. Es ist deshalb nachvollziehbar, dass Modalverben auch von einem formalen Standpunkt aus eine feste Flexion in Person und Numerus haben, die von den spezifischen Partizipanten nicht bedingt wird. 186 <?page no="187"?> 3.5 Areale Variation der syntaktischen Markierung im Indogermanischen 3.5.1 Areale Variation im Standard Average European vs. alte idg. Sprachen Die Diachronie der Empfindungsprädikate kann auch von der Areallinguistik bestätigt werden. Bossong (1997 b) beschreibt die Darstellung des Experiens in den Sprachen Europas als Gegensatz zwischen généralisation und inversion, welche im Großen und Ganzen der kanonischen bzw. nichtkanonischen Markierung entsprechen, aber natürlich keine strikte Dichotomie sind, sondern eine breite Reihe mittelbarer Formen voraussetzen. Bossong zieht zehn Empfindungsverben ins Kalkül, und dabei insbesondere drei Kognitionsprädikate (verbes de cognition), „ sehen “ , „ vergessen “ und „ sich erinnern “ , vier Wahrnehmungsprädikate (verbes de sensations corporelles), „ kalt sein “ , „ Hunger haben “ , „ Durst haben “ , „ Kopfschmerzen haben “ und drei Emotionsprädikate (verbes de réactions psychiques), „ froh sein “ , „ bedauern “ und „ gefallen “ . Dadurch entdeckt er, dass généralisation und inversion eine sehr verschiedene areale Verteilung haben. Im germanischen Bereich gibt es einen großen Unterschied zwischen dem Isländischen und den anderen germanischen Sprachen, besonders den festländischen skandinavischen Sprachen. Während das moderne Isländisch eine auffällige Reihe nicht-kanonischer Strukturen hat, die vom Altisländischen ererbt wurden, z. B. mér líkar vel við X „ es gefällt mir “ (vgl. Andrews 2001; Barðdal 2001; Bayer 2004: 53ff; Fischer 2004; Woolford 2009: 21 ff), haben das Norwegische und das Schwedische die généralisation des primären Arguments des Satzes verallgemeinert, z. B. Norw. jeg liker X, Swe. jag tycker om X. In den keltischen Sprachen setzt das Irische das Muster der inversion fort und widersteht damit dem Einfluss des Englischen. Dagegen zeigen die britannischen Sprachen wie das Walisische und besonders das Bretonische einen größeren Einfluss ihrer nationalen Sprachen - des Englischen bzw. Französischen - und sie haben auch mehrere Strukturen der généralisation. Innerhalb der romanischen Sprachen haben das Italienische, das Spanische und am meisten das Rumänische nichtkanonische Strukturen, während das Französische und das Portugiesische kanonische Strukturen ausdehnen. Sogar das Prädikat „ gefallen “ (Fr. X me plaît, Port. X me agrada) wird zumindest in der Alltagssprache von der généralisation immer mehr ersetzt (Fr. j ’ aime X, Port. gosto de X). Die inversion taucht am Rande Europas auf, wie im Färöischen, Polnischen, Russischen, Litauischen, in nicht-idg. Sprachen wie im Finnischen, Estnischen, Lezgian und anderen Sprachen des Kaukasus. Dagegen erscheint die généralisation im Zentrum Europas, und tatsächlich ist die gleiche Darstellung des Experiens und des Agens ein typisches Merkmal des Standard Average 187 <?page no="188"?> European. In diesen Sprachen, „ ni le sujet ni l ’ objet n ’ ont gardé la moindre trace de leur sémantisme primitif; la construction subjecto-objectale offre un cadre purement formel pour mettre en rapport deux arguments nominaux, rien de plus. C ’ est là un moule de pensée particulièrement typique des langues européennes. “ (Bossong 1997 b: 292) Die Verteilung der kanonischen und nicht-kanonischen Strukturen, die Bossong (1997 b) für die Sprachen Europas beschrieben hat, spiegelt ein eher areales als ererbtes Phänomen wider, wie auch Haspelmath (2001 b: 54) anerkennt. Denn die Markierung des Satzes in den keltischen Sprachen stimmt syntaktisch mit den nicht-kanonischen Strukturen des Finnischen und der kaukasischen Sprachen überein, mit denen sie keine genetische Beziehung haben, während die kanonische Markierung der meisten germanischen Sprachen der Markierung des Ungarischen entspricht. Andererseits vermittelt eine solche areale Verteilung auch wichtige diachrone Angaben, weil die Peripherie eines linguistischen Gebietes normalerweise konservativer ist als die Mitte: eine linguistische Gemeinsamkeit zwischen zwei oder mehr Sprachen ist wahrscheinlich eine gemeinsame Bewahrung, wenn die Sprachen geographisch entfernt voneinander sind, und eine gemeinsame Erneuerung, wenn die Sprachen geographisch näher liegen (Harrison 2003: 237 - 238). In diesem Fall kann man den älteren Status der nichtkanonischen Strukturen annehmen, die am Rand der heutzutage belegten indogermanischen Sprachen angesiedelt sind, im Vergleich zum stark kanonisch geprägten Zentrum der indogermanischen Familie. Denn die nicht-kanonischen Strukturen der Peripherie betreffen kein produktives Muster, sondern nur Relikte, und Relikte sind besonders wichtig für die Rekonstruktion älterer Sprachstufen: „ La grammaire comparée doit se faire en utilisant les anomalies - c ’ est-à-dire les survivances - bien plus que les formes régulières [. . .] les formes anomales portent témoignage d ’ états de langue plus lointains. “ (Meillet 1931: 194) An diesem Punkt kann man sich fragen, wie die areale Verteilung der syntaktischen Markierung in den alten idg. Sprachen war. Wir werden unten sehen, dass es im Indogermanischen wesentliche Änderungen in der Sprachgeographie der Empfindungsprädikate gab. 3.5.2 Eine syntaktische Isoglosse: Argument-Kodierung in nördlichen und westlichen vs. südlichen und östlichen alten idg. Sprachen 3.5.2.1 Norden und Westen Die westliche Peripherie, die nach Bossong (1997 b) heutzutage die nichtkanonische Markierung ausgiebig belegt, war schon in der Antike reich an nicht-kanonischen Strukturen, sodass wir in diesem Gebiet wenig Änderungen beobachten können - mit Ausnahme des Englischen, in dem der 188 <?page no="189"?> Ersatz der nicht-kanonischen Markierung durch die kanonische heute im Indogermanischen am weitesten fortgeschritten ist. Es genügt, einige Zeilen der Angelsächsischen Chronik zu lesen, um die Häufigkeit nichtkanonischer Prädikate im Altenglischen festzustellen (3.46). (3.46) r ē owli ċ þing h ē dyde, and grausam: AKK.N.SG Ding(N): AKK.SG er: NOM tun: PRÄT3SG und r ē owlicor him ġ elamp. H ū r ē owlicor? grausam: NOM.N.SG.KOMP he: DAT befallen: PRÄT3SG wie grausam: NOM.N.SG.KOMP Him ġ eyfelade and þæt him he: DAT krank.werden: PRÄT3SG und das: NOM.N.SG he: DAT strangl īċ e e ġ lade stark: ADV plagen: PRÄT3SG „ Ein grausames Ding tat er, und ein noch grausameres befiel ihn. Wie grausam? Er wurde krank, und das plagte ihn stark. “ (ChronE. Jahr 1087) An dieser Stelle wird über den Tod Wilhelms des Eroberers berichtet. Das Prädikat ġ elamp, vom Verb ( ġ e)limpan „ geschehen, befallen “ , ist in der dritten Person flektiert und kongruiert mit dem Nominativ-Stimulus (r ē owlicor „ grausameres Ding “ ) statt mit dem Experiens (him, im Dativ). Dieselbe nicht-kanonische Markierung haben wir bei der Struktur þæt him e ġ lade, wo das neutrale Pronomen þæt, das den unbelebten Stimulus bezeichnet, das Subjekt des Prädikats e ġ lian „ plagen “ ist. Eine echte unpersönliche Struktur haben wir bei him ġ eyfelade, in der kein Nominativ-Subjekt erscheint: das Dativ-Experiens kommt hier neben dem Präteritum des Verbs yfelian „ krank werden “ vor. Eine ähnliche Situation lässt sich für die anderen alten germanischen Sprachen feststellen, besonders für das Altisländische (3.47), ebenso für die keltischen Sprachen wie das Irische (3.48). (3.47) hvárt er honum líkar vel e đ r illa ob er: DAT.SG gefallen: PRS.IND3SG wohl oder schlecht „ Ob es ihm gefällt oder nicht “ (vgl. Barnes 2008: 262) (3.48 a) dhubhaigh aige blacken: PPRF at: 3SG.M „ He became depressed. “ (vgl. Noonan 2004: 67) (3.48 b) tá grá aige di be: PRS love at: 3SG.M to: 3SG.F „ He loves her. “ (Noonan 2004: 69; vgl. auch McCloskey 1996) Im Irischen können nicht-kanonische Strukturen nicht nur ein verbales Prädikat darstellen (3.48 a), sondern auch Strukturen mit der Kopula und ein abstraktes Subjekt wie in (3.48 b), das wörtlich „ es gibt Liebe auf ihm für sie “ bedeutet. In beiden Fällen kommen flektierte Präpositionen vor. Die 189 <?page no="190"?> nicht-kanonische Markierung haben neben dem Germanischen und Keltischen auch das Baltische und Slawische, die doch immerhin nördlich und westlich dem Gebiet des alten Indogermanischen angehören, verglichen mit Tocharisch, Indoiranisch, klassischem Armenisch und Anatolisch. Dank seiner reichen Nominalmorphologie ist das Litauische eine Sprache, in der der Nominativ und der Akkusativ ihre eigenen semantischen Rollen des Agens bzw. Patiens noch ziemlich transparent bewahren und wo andere oblique Kasus Partizipanten bezeichnen, die in der propositionalen Situation als Experiens, Instrument, Quelle, Ziel usw. involviert sind. In (3.49) wird das Experiens vom Dativ man „ mir “ ausgedrückt, vgl. Senn (1966: 423); Schmalstieg (1987: 220 ff); Ambrazas (1997: 600); für Slawisch vgl. Vondrak (1912: 579 ff). Auch in diesem Fall erlaubt das Deutsche eine nicht-kanonische Struktur (es tut mir leid), während im Englischen nur die kanonische Entsprechung (I ’ m sorry, I feel bad) grammatisch ist. (3.49) man gaila, kad taip atsitiko mir tut.leid dass so geschehen: PRÄT.IND3 „ Es tut mir leid, dass es so geschah. “ Indem diese Sprachen die nicht-kanonische Markierung für Empfindungsprädikate hatten, ist vorhersagbar, dass sie auch für Witterungsverben und Modalverben nicht-kanonische Strukturen besaßen. 3.5.2.2 Süden und Osten Altgriechisch Im Gegensatz zum Litauischen ist das Altgriechische eine Sprache, die einen eher syntaktischen als semantischen Gebrauch des Nominativs und (in geringerem Maße) des Akkusativs hat. Das können wir sehen, wenn wir Bossongs (1997 b) Reihe von Prädikaten, die ein Experiens verlangen, miteinbeziehen. Im Altgriechischen ist „ ich sehe “ ὁράω , βλέπω , δέρκομαι oder θεάομαι (mit AKK-Stimulus); „ ich erinnere mich “ ist μιμνήσκομαι , ἀναμι μνήσκομαι (mit AKK- oder GEN-Stimulus); „ ich vergesse “ ist λανθάνομαι (mit GEN-Stimulus); „ es ist mir kalt “ ist ῥιγόω ; „ ich habe Hunger “ ist πεινάω (mit GEN-Stimulus); „ ich habe Durst “ ist διψάω (mit GEN-Stimulus); „ ich habe Kopfschmerzen “ ist ἀλγέω τὴν κεφαλήν mit dem accusativus respectus; „ ich bin froh “ ist χαίρω , εὐτυχέω oder εὐδαιμονέω ; „ ich bedauere, es tut mir leid “ ist λυπέομαι , ἄχθομαι , ὀλοφύρομαι ; „ ich mag “ ist ἥδομαι (mit DAT- Stimulus) oder ἀρέσκει μοι . Fast alle diese Strukturen verlangen ein Nominativ-Experiens, das mit dem Verb in der Person übereinstimmt (obwohl das Experiens natürlich implizit gelassen und auch nur von der verbalen Kongruenz ausgedrückt werden kann). Wie Bossong (1997 b) bemerkt, ist es kein Zufall, dass der generelle und abstrakte Begriff des Subjekts, so wie 190 <?page no="191"?> wir ihn in unseren europäischen Sprachen kennen, aus der klassischen grammatischen Tradition kommt: „ Le grec ancien comme le grec moderne montre une prépondérance très marquée de la généralisation. La langue dans laquelle ont été conçus originairement les concepts de la tradition grammaticale de l ’ occident a eu depuis toujours des ‚ sujets ‘ très généraux et abstraits. “ (Bossong 1997 b: 275) „ Mögen “ ist in dieser Gruppe das einzige Prädikat, das eine Variation in der Markierung des ersten Arguments zeigt: neben der Struktur mit einem Nominativ-Experiens ( ἥδομαι , Z. B. Hdt. 1.69 Λακεδαιμόνιοι δὲ ἀκηκοότες καὶ αὐτοὶ τὸ θεοπρόπιον τὸ Κροίσῳ γενόμενον ἥσθησάν τε τῇ ἀπίξι τῶν Λυδῶν „ Die Lakedaimonier, die von dem Orakel, das Kroisos zuteil geworden, gehört hatten, freuten sich über das Ankommen der Lyder “ ) gibt es auch die nicht-kanonische Kodierung mit einem Nominativ-Stimulus und einem obliquen Experiens bei ἀρέσκει und auch bei ἁνδάνει . Diese zwei Prädikate haben normalerweise ein Dativ-Experiens ( ἀρέσκει / ἁνδάνει μοί τι „ mir gefällt etwas “ , z. B. Hom. Il.1.24 ἀλλ’ οὐκ Ἀτρεΐδῃ Ἀγαμέμνονι ἥνδανε θυμῷ „ Das aber gefiel Agamemnon, dem Sohn des Atreus, im Herzen nicht “ ; Hdt. 8.58 κάρτα τε τῷ Θεμιστοκλέϊ ἤρεσε ἡ ὑποθήκη „ Dieser Vorschlag gefiel Τ hemistokles sehr “ ), aber sporadisch ist auch ein Akkusativ-Experiens belegt, z. B. Eur. Hipp. 185 οὐδέ σ᾽ ἀρέσκει τὸ παρόν „ Dir gefällt das Nahe nicht “ . Die nicht-kanonische Markierung verlangt regelmäßig auch das Empfindungsprädikat μέλει „ es kümmert mich “ , womit das Experiens im Dativ steht, während der Stimulus entweder ein Nominativ (Hom. Il. 6.492 - 93 πόλεμος δ᾽ ἄνδρεσσι μελήσει / πᾶσι , μάλιστα δ᾽ ἐμοί , τοὶ Ἰλίῳ ἐγγεγάασιν „ Der Krieg wird den Männern allen gebühren, die Ilios ’ Feste bewohnen, und mir am meisten “ ) oder ein Genitiv sein kann (Soph. Ph. 1036 θεοῖσιν εἰ δίκης μέλει „ Falls die Götter sich um Gerechtigkeit kümmern “ ), vgl. Conti (2009: 185ff; 2010 a: 254 ff). Die höhere Variabilität der Syntax des Stimulus im Vergleich mit der des Experiens wird in § 3.7.1 diskutiert. Die nicht-kanonische Markierung der Empfindungsprädikate „ mögen “ und „ sich kümmern “ widerspricht aber nicht Bossongs (1997 b) Anschauung, nach der das Altgriechische im Großen und Ganzen die kanonischen Strukturen bevorzugt, da Relikte der alten nicht-kanonischen Markierung mehr oder weniger überall im idg. Bereich vorkommen. Das passiert z. B. im homerischen Griechisch, das syntaktisch konservativer als das klassische Griechisch ist und in dem die Kasus ihre semantische Basis besser bewahren. Dementsprechend gibt es auch bei Homer einige Fälle, in denen ein Nomen einen syntaktisch unerwarteten Kasus zeigt, wie in (3.50): (3.50) ἱδρώσει μέν τευ τελαμὼν ἀμφὶ στήθεσφιν ἀσπίδος ἀμφιβρότης , περὶ δ’ ἔγχε ï χεῖρα καμεῖται „ Das Leder der Schildriemen um eure Rippen soll schwarz werden vor Schweiß, die Hand sich steif um den Speerschaft krampfen. “ (Hom. Il. 2.389; Übersetzung Schrott 2010: 47) 191 <?page no="192"?> In diesem Fall scheint das Nomen die „ Hand “ das Subjekt des Prädikats κάμνω „ müde werden “ zu sein, und deshalb sollte es im Nominativ χείρ und nicht im Akkusativ χεῖρα stehen. Die Interpretation als accusativus respectus, der sich anderen ähnlichen Stellen anpassen kann, 116 ist hier ausgeschlossen, weil es kein anderes verfügbares Subjekt im Satz gibt. Einige Kommentare denken zwar an ein indefinites Subjekt τις „ einer “ oder ἕκαστος „ jeder “ , vgl. Leaf (1900: I, 78): „ 2.388 τευ virtually = ἑκάστου , at least for purposes of translation, as in 355. We must in the next line supply τις as subject to καμεῖται . “ Das scheint aber eine Normalisierung zu sein, die wegen der Seltenheit indefiniter Subjekte im Diskurs (vgl. § 3.3.2.2.2) auch kaum wahrscheinlich ist. Diese interpretativen Probleme verschwinden, wenn man das Phänomen der nicht-kanonischen Markierung und besonders der differential subject marking miteinbezieht. Da „ die Hand “ ein unbelebter Referent ist, ist sie von einem semantischen Standpunkt aus ein besseres Patiens (und ein noch besseres Instrument) als ein Agens, und deswegen ist sein Nomen im Akkusativ kodiert, wie mehrere alte idg. Sprachen beweisen (§ 3.3.3). Das ist natürlich nicht immer der Fall bei Homer: in demselben Text kommt auch ein unbelebtes Subjekt vor, nämlich τελαμών „ Schildriemen, Tragband “ , und das beweist, dass die Funktion des Subjekts in dieser Sprache seit ihren ältesten Urkunden ziemlich abstrakt ist, sodass es verschiedene Nomina mit verschiedenen semantischen Rollen bekommt. 117 Das Auftauchen nicht-kanonischer Strukturen wie χεῖρα 116 Ein accusativus respectus kann z. B. die Struktur bei Hom. Il. 5.354 erklären: τὴν μὲν ἄρ᾽ Ἶρις ἑλοῦσα ποδὴνεμος ἔξαγ᾽ ὁμίλου / ἀχθομένην ὀδύνῃσι , μελαίνετο δὲ χρόα καλόν „ Iris nahm und enttrug sie windschnell aus dem Getümmel, ach, vom Schmerze betäubt, und die schöne Haut so geröthet “ (Übersetzung Voß 1943 a: 79). Obwohl das Verb μελαίνετο auch kein explizites Subjekt hat, kann sein Subjekt mit dem direkten Objekt des vorangehenden Satzes ( τήν ) koreferent sein: „ Sie wurde schwarz in Bezug auf ihre schöne Haut “ (vgl. Chantraine 1953: 47). Der implizite Subjekt-Wechsel in den koordinierten Sätzen (Iris-Aphrodite) wäre kein unüberwindliches Problem, weil die Satzverbindung bei Homer kaum grammatikalisiert ist. 117 Der generalisierte Gebrauch des Subjekts bei Homer hat teilweise auch mit seiner narrativen Technik zu tun, wobei unbelebte Referenten und abstrakte Begriffe personifiziert werden können. Z. B. vergleicht Homer in Il. 3.33 ff die Angst des Paris vor der griechischen Armee mit der eines Mannes, der eine Schlange gesehen hat: ὑπό τε τρόμος ἔλλαβε γυῖα „ das Zittern (NOM) ergriff ihm die Knie (AKK) da unten “ , ὦχρός τέ μιν εἷλε παρειάς „ die Blässe (NOM) erfasste ihm (AKK) die Wangen (AKK) “ ; die Nomina Abstrakta von Seelenzuständen, die im Nominativ stehen, werden hier als aktive Kräfte dargestellt, wie auch ihre Tätigkeitsprädikate λαμβάνω „ ich ergreife “ und αἱρέω „ ich erfasse “ zeigen. Der Akkusativ wird hingegen für den Ausdruck des menschlichen Experiens benutzt wie auch, in einer Art doppelten Akkusativs, für seine affizierten Körperteile (vgl. § 4.3.2). Da die Nominativ-Kodierung von unbelebten und abstrakten Referenten im homerischen Griechisch aber nicht auf Personifizierungen beschränkt ist, wie wir im Beispiel (3.50) gesehen haben, kann dieses Phänomen nicht auf bloß literarische Faktoren zurückgeführt werden, 192 <?page no="193"?> καμεῖται ist aber ein Zeichen dafür, dass das homerische Griechisch die geregelte Kodierung des klassischen Griechisch noch nicht völlig erreicht und mit den Sprachen der westlichen Peripherie der Indogermania (§ 3.5.2.1) manchmal übereinstimmt. 118 Die kanonische Markierung des Altgriechischen ist besonders auffällig und häufig bei Witterungsverben. Ich finde es bedeutsam, dass die meisten Beispiele der (relativ seltenen) Witterungsverben mit einem expliziten Subjekt, die in den Beschreibungen der Impersonalia in den alten idg. Sprachen aufgelistet werden (vgl. Delbrück 1900: 23ff; Brugmann 1904: 625), aus dem Altgriechischen kommen ( Ζεὺς ὕει „ Zeus regnet “ , Ζεὺς ἀστράπτει „ Zeus blitzt “ , Ζεὺς βρόντησε „ Zeus donnerte “ ). Bedeutsam ist auch, dass das Altgriechische, wie in (3.43) illustriert, bei solchen Verben ein Akkusativ-direktes Objekt für das von der Witterung affizierte Land belegen kann, als ob sogar diese inhärent valenzlosen Verben im Rahmen eines transitiven Satzes gebildet werden sollten. Dasselbe Phänomen können wir bei Modalverben ausmachen, vgl. (3.28). Einerseits sind unpersönliche Modalverben im Altgriechischen belegt, sowohl deontisch gemeint ( δεῖ μοί τινος / δεῖ μέ τινος „ ich habe Bedarf an etwas “ ) als auch epistemisch: δοκεῖ μοι „ es scheint mir “ , δηλοῖ μοι „ es ist mir klar “ und ἔοικε „ es scheint, es ziemt sich “ kommen in Texten häufig vor; so benutzt Platon oft das Impersonal κινδυνεύει (wörtl. „ es gibt Gefahr, Risiko “ , von κίνδυνος ) mit der modalen Bedeutung „ es kann sein “ . Die Sprache der Philosophie hat wohl auch jene Konstruktionen begünstigt, die Wahrscheinlichkeit, Überzeugung und im Allgemeinen Evidentialität ausdrücken. Der Gebrauch unpersönlicher Modalia wie δοκεῖ μοι in einer ansonsten kanonischen Sprache wie im Altgriechischen ist nachvollziehbar wegen der in § 3.3.2.3 und § 3.4.4 illustrierten Beziehung zwischen Modalprädikaten und unpersönlichen Strukturen. Andererseits hat aber das Altgriechische auch kanonische Strukturen für Modalprädikate, was nur typisch ist für Sprachen, die einen entwickelten Gebrauch der Kanonizität haben. Im Bereich der alten idg. Sprachen sind die kanonisch-markierten sondern muss vor allem durch die linguistischen Prinzipien erklärt werden, die der nicht-kanonischen Markierung auch der anderen alten idg. Sprachen zugrunde liegen. 118 Wenn eine oblique Struktur als Subjekt verwendet wird, kann das morphologische Auswirkungen haben, auch außerhalb des Altgriechischen. Im Altlateinischen hat der Nominativ lac „ Milch “ eine Variante lacte „ Milch “ , was traditionell durch eine Analogie zum Genitiv lactis erklärt wird (vgl. Ernout 1953: 40) oder durch die Entwicklung eines Neutrums auf - i (*lakti > lacte wie *mari > mare, Benveniste 1935: 76). Es kann aber auch sein, dass die Form lacte, wörtlich ein Ablativ, in der Sprache häufiger war als der Nominativ, insofern als Nomina von unbelebten Referenten die Funktion des Subjekts im Diskurs selten ausdrücken, und deswegen statt der Nominativ-Form lac gelegentlich vorkommt. 193 <?page no="194"?> Modalia des Altgriechischen eine Seltenheit und wahrscheinlich auch eine Neuerung. Neben der erwarteten unpersönlichen Struktur φανερόν ( ἐστιν ) ὅτι „ es ist klar, dass “ hat dieses Prädikat auch eine persönliche Verwendung φανερός εἰμι mit Partizip, ähnlich dem Engl. I appear to, vgl. (3.51). (3.51) οἱ δ᾽ αὐτῶν ἐπ᾽ Ἀμμωνίους ἀποσταλέντες στρατεύεσθαι , ἐπείτε ὁρμηθέντες ἐκ τῶν Θηβέων ἐπορεύοντο ἔχοντες ἀγωγούς , ἀπικόμενοι μὲν φανεροί εἰσι ἐς Ὄασιν πόλιν , τὴν ἔχουσι μὲν Σάμιοι τῆς Αἰσχριωνίης φυλῆς λεγόμενοι εἶναι „ Der Teil des Heeres, den er gegen die Ammonier geschickt hatte, zog mit Führern von Theben aus davon. Bis zur Stadt Oasis, die von Samiern, wie man sagt, aus der Phyle Aischrionie bewohnt wird, sind sie ohne Zweifel gekommen. “ (Hdt. 3.26; Übersetzung Horneffer 1971: 193) Es wird nicht gesagt „ es ist klar, dass sie . . . kamen “ , sondern wörtlich „ sie sind klar als gekommen “ . Dieser Struktur kann auch die Tatsache zugrunde liegen, dass Altgriechisch einen extrem flexiblen Gebrauch des Partizips hat. Eine ähnliche Situation können wir bei dem Prädikat τυγχάνω „ ich bin zufällig oder gerade “ beobachten, das eine Weise des Geschehens beschreibt. „ Geschehen “ ist ein Prädikat, das Onishi (2001 a: 33 ff) in seiner Untersuchung der nicht-kanonischen Markierung zuordnet und das in den Sprachen normalerweise von einer unpersönlichen Struktur ausgedrückt wird, z. B. Dt. jdm. ist etwas passiert, Ita. mi è accaduto, mi è successo. 119 Im Altgriechischen hingegen hat das Prädikat τυγχάνω neben dem erwarteten unpersönlichen Gebrauch ( τυγχάνει μοί τι „ es geschieht mir etwas “ ) eine sogar häufigere persönliche Konstruktion, nochmals mit einem Partizip, die den Inhalt des Geschehens spezifischer macht (3.52). (3.52) ἀλλ᾽ ἐμὲ πρὶν ἀπέπεμψε : τύχησε γὰρ ἐρχομένη νηῦς ἀνδρῶν Θεσπρωτῶν ἐς Δουλίχιον πολύπυρον „ Aber mich sandt ’ er zuvor: denn ein Schiff thesprotischer Männer ging zu dem weizenreichen Dulichion. “ (Hom. Od. 14.334 - 335; Übersetzung Voß 1943 b: 190) Altgr. τυγχάνω verhält sich also wie Engl. happen, das die persönliche Struktur auch ziemlich früh erwirbt (vgl. van der Gaaf 1904: 122 - 124), und tatsächlich kann der homerische Satz in (3.52) eine natürliche Wiedergabe im Englischen finden ( „ a ship happened to go there “ ). Das ist ein modernes 119 Es besteht auch eine semantische Beziehung zwischen Prädikaten des Geschehens und Modalverben, die eine epistemische Beurteilung ausdrücken ( „ es geschieht “ > „ es kann sein, es ist möglich “ > „ es scheint “ ), und als ein epistemisches Modalverb kann auch τυγχάνω verwendet werden. So beschimpft Hektor Diomedes in Hom. Il. 8.163: γυναικὸς ἄρ᾽ ἀντὶ τέτυξο „ wie ein Weib erscheinst Du! “ , wobei das persönlich gebildete Verb τέτυξο (PPRF.INJ.MED2SG) eher eine Beurteilung ausdrückt. 194 <?page no="195"?> Merkmal des Altgriechischen, das es der hoch transitiven Syntax des Standard Average European ähnlich macht. Hethitisch Für Impersonalia halten Hoffner & Melchert (2008: 249 - 250; 281; 334; 344) im Hethitischen einige Witterungsverben wie tith ˘ ā i „ es donnert “ , einige Zustands- und Empfindungsverben wie š e š zi „ es reift “ , id ā lawe š zi „ es wird schlecht “ und einige Modalverben wie ā ppai „ es ist fertig, es ist zu Ende “ und ki š ari „ es geschieht “ (vgl. auch Patri 2007: 101 ff). Da Witterungsverben und Modalverben sogar in den meisten kanonischen Sprachen sprachübergreifend unpersönlich gebildet werden, werden wir die Analyse hier die Markierung der Empfindungsprädikate fokussieren. 120 Manchmal zeigt dasselbe Empfindungsprädikat eine syntaktische Variation zwischen kanonischer und nicht-kanonischer Markierung, wie im Fall der Verba des Krankseins und des Befürchtens. Das Prädikat nah ˘ (h ˘ )- „ Angst haben “ hat eine nicht-kanonische Struktur z. B. in KBo 21.90 n[(ah ˘ i=mu)] par(a) š ni UR.BAR.RA-ni (fürchten: PRS3SG=mich/ mir Leopard: DAT Wolf: DAT) „ ich habe Angst vor dem Leoparden und dem Wolf “ , vgl. Patri (2007: 114 - 116). Ein Beispiel der kanonischen Markierung erscheint für dieses Prädikat in KUB 8.65: nah ˘ mi=u š (fürchten: PRS1SG=sie: AKK.PL) „ ich habe Angst vor ihnen “ . Die letztere Struktur mit Nominativ- Experiens erscheint später und ist seit dem Neuhethitischen belegt. 121 Eine noch größere Variation haben Verben des Krankseins wie i š tark- und irmaliya-, für die Zeilfelder (2004) vier grundsätzliche Konstruktionen identifiziert, und zwar eine unpersönliche mit nur AKK-Experiens (i š tarkiyazzi kuinki, erkranken: PRS.IND3SG jemand: AKK, „ jemand wird krank “ , KBo V 4 I 38), eine persönliche mit nur NOM-Experiens ( SAL Ga šš uliyawiya š i š tarkiat, Ga šš uliiauiia: NOM erkranken: PRÄT3SG, „ Ga šš uliiauiia erkrankte “ , KBo IV 6 I 24), eine nicht-kanonische mit NOM-Stimulus, AKK-Experiens und Verb im Aktiv (kappin DUMU-an 120 Ausgeschlossen sind auch die „ morphologischen Impersonalia “ (vgl. Lambert 1997) wie Heth. h ˘ alz ā i oder úit = Lat. dicitur bzw. accidit, weil sie nur den unpersönlichen Gebrauch eines Verbs darstellen, das ansonsten eine produktive persönliche Bildung hat. Morphologische Impersonalia, die oft für das unpersönliche Passiv verwendet werden, kommen in den meisten Sprachen vor und sind deswegen für die Identifizierung einer syntaktischen Isoglosse nicht ausreichend. 121 Die Struktur l ē =ta n ā h ˘ i „ Hab keine Angst “ des Althethitischen wird von Hoffner & Melchert (2008: 250) für einen unpersönlichen Gebrauch gehalten: n ā h ˘ i sei ein 3. Person-Präsens und das pronominale Klitikon - ta stehe im Akkusativ, weil sowohl Dativ-Klitika mit einer reflexiven Funktion als auch die Verbindung zwischen l ē und dem Imperativ selten seien. Ein dativaler Ausdruck ist hingegen für nah ˘ h ˘ möglich nach Luraghi (2010 b: 260). 195 <?page no="196"?> HUL-lu GIG GIG-at, klein: AKK.SG Knabe: AKK.SG böse: NOM.SG Krankheit: NOM.SG krank.sein: PRÄT3SG, „ Den kleinen Knaben befiel böse Krankheit “ , KBo IV 12 I 5) und eine nicht-kanonische mit NOM- Stimulus, AKK-Experiens aber Verb im Medium (nu-war-an idalu š GIG-a š i š tarakkiyatat, KONN-QUOT-ihn böse: NOM.SG Krankheit: NOM.SG krank.machen: PRÄT.IND.MED3SG, „ eine schlimme Krankheit hat ihn erkranken lassen “ ). Ähnlich beweist Luraghi (2010 b), dass Empfindungsprädikate im Hethitischen in mehreren verschiedenen Konstruktionen vorkommen können, persönlich und unpersönlich, kanonisch und nicht-kanonisch. Einerseits kommen NOM-Experiens in dieser Sprache oft bei intransitiven Verben vor, wie die Anwesenheit eines pronominalen Klitikons im Fall eines nicht-nominalen 3. Person-Subjekts aufzeigt; 122 Luraghi zitiert für diese Struktur Verben wie anda impai- „ in Sorge sein “ , karpiya-, kartimmiya- „ verärgert sein “ , katkattiya- „ zittern “ , ki š tanziya- „ Hunger haben “ , lazziya- „ gesunden “ , du š kiya- „ sich freuen, fröhlich sein “ , warsiya- „ genießen “ . Andererseits kann die Nominativ-Kodierung des Experiens auch transitive Empfindungsprädikate charakterisieren, die den Akkusativ des Stimulus regieren, wie im Fall von š ak- „ wissen “ , au š - „ sehen “ und ilaliya- „ wollen “ ; in diesem Fall zeigt die Abwesenheit pronominaler Klitika, dass das Experiens genau wie ein Agens dargestellt wird. Im Allgemeinen: „ Nominative coding of experiencers is common in Hittite, and involves different types of verb “ (Luraghi 2010 b: 255). Dagegen sind die unpersönlichen, nicht-kanonischen Strukturen mit Akkusativ-Experiens seltener: „ The accusative construction [. . .] is limited to a small number of verbs in Hittite “ (Luraghi 2010 b: 258). 123 Häufiger als das AKK-Experiens wird aber das DAT-Experiens von den Empfindungsprädikaten des Hethitischen selegiert: diesbezüglich illustriert Luraghi (2010 b) persönliche Strukturen, in denen das DAT- Experiens neben einem NOM-Stimulus erscheint, wie bei den Prädikaten a šš iya- „ lieb, angenehm sein, gefallen “ und pugg(a)- „ verhaßt sein, nicht 122 Über die Beziehung zwischen pronominalen Klitika und gespaltener Ergativität im Hethitischen siehe Luraghi (1990 a) und Garrett (1990). 123 Das seltene Vorkommen des AKK-Experiens im Hethitischen spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass die Forscher sich nicht einig sind, ob diese Sprache echte Impersonalia hatte. So bemerkt Friedrich (1960: 131): „ Wie weit das Hethitische unpersönliche Verba besaß, ist nicht ganz klar “ , weil einige anscheinend unpersönliche Verben auch eine Gottheit als implizites Subjekt voraussetzen können, und das betrifft nicht nur Witterungsverben, sondern auch Verben des Krankseins. Hoffner & Melchert (2008: 249) sagen auch, dass Strukturen mit Akkusativ-Experiens zweifelhaft sind oder erst spät vorkommen, und für einige Beispiele (S. 325 - 26) stellen sie in Abrede, dass es sich um ein Impersonal handelt. Das weist darauf hin, dass Propositionen, die bei anderen alten idg. Sprachen durch Impersonalia ausgedrückt werden, im Hethitischen oft persönlich gebildet werden. 196 <?page no="197"?> gefallen “ , sowie auch bei unpersönlichen Konstruktionen, z. B. im Ausdruck m ā n LUGAL-i a šš u (S. 260), der dem Lat. si regi placet entspricht. Über die relative Häufigkeit von NOM- und DAT-Experiens äußert sich Luraghi (2010 b) nicht, und das war auch nicht das Ziel ihrer Studie, die eher die morphosyntaktische Varietät der Empfindungsprädikate des Hethitischen zeigen wollte, und ihren möglichen Beitrag zu der schwierigen Frage der uridg. Ausrichtung. Ihre Analyse vermittelt aber den Eindruck, dass die Empfindungsprädikate mit DAT-Experiens weniger typisch für das Hethitische sind als die mit NOM-Experiens, die neben den jeweiligen transitiven und intransitiven Verben auch zahlreiche (deverbale oder denominale) Adjektive mit prädikativer Funktion in einem Kopula- oder Nominalsatz einschließen können, z. B. pittuliyawant- „ bekümmert “ (< pittuliya- „ Einschnürung, Enge, Angst “ ). Um diesen Eindruck zu bekräftigen, habe ich zuerst alle Empfindungsprädikate im Friedrich (1991) abgesucht, was 45 grundsätzliche Formen ergeben hat, 124 und dann ihre syntaktischen Konstruktionen bei Tischler (1977-), Puhvel (1984-), Kloekhorst (2007) und dem online-Chicago Hittite Dictionary 125 recherchiert. Daraus ergibt sich erstens, dass die Empfindungsprädikate mit NOM-Experiens (36 Formen) tatsächlich viel häufiger sind und zwar nicht nur als diejenigen mit AKK-Experiens 124 Die analysierten Formen sind die folgenden: 1. allaniya- „ schwitzen “ ; 2. armaniya-/ irmaniya-/ armaliya-/ irmal(l)iya- „ erkranken “ ; 3. ar š ana-/ ar š aniya- „ erregt sein, sich ärgern, beneiden “ ; 4. a šš -/ a šš iya- „ für jdn. lieb sein, angenehm sein “ ; 5. au( š )- „ sehen “ / au( š )- + -za- „ erfahren, träumen “ ; 6. i š p ā i- „ sich (mit Essen) sättigen “ ; 7. ni(n)k- „ sich (mit Trinken) sättigen “ ; 8. h ˘ a š ( š )ik(k)- „ sich sättigen (allgemein) “ ; 9. i š tama š - „ hören “ ; 10. i š ta(n)h ˘ - „ kosten, schmecken “ ; 11. idalawe š - „ jdm. schlecht werden “ ; 12. ig ā i- „ frieren “ ; 13. ilaliya- „ begehren “ ; 14. anda impai- „ in Sorge sein “ ; 15. i š tark- „ erkranken “ ; 16. h ˘ ā - „ glauben, für wahr halten “ ; 17. h ˘ atuke š - „ erschreckt werden “ ; 18. h ˘ addule š - „ gesund werden “ ; 19. kallare š - „ jdm. unheilvoll werden, schlimm werden “ ; 20. appan kappuw ā i- „ sich kümmern um “ ; 21. karpiya-/ karpe š - „ zornig sein/ werden “ ; 22. kartimmiya-/ kartimme š - „ zürnen, zornig werden “ ; 23. katkattiya- „ zittern “ ; 24. ki š tanziya- „ hungern “ ; 25. genzu d ā - „ Mitleid haben “ / genzu h ˘ ar(k)- „ lieben “ / genzuw ā i- „ Rücksicht nehmen auf, Mitleid haben “ ; 26. kuwaya- „ fürchten “ / kuwayata- „ Gegenstand der Sorge sein, am Herzen liegen, besorgt sein “ ; 27. lah ˘ lah ˘ h ˘ iya- „ erregt sein, bekümmert sein “ ; 28. lazziya- „ wieder gesund werden “ ; 29. lelaniya- „ wütend werden “ ; 30. mal ā i- „ gutheißen, einverstanden sein “ ; 31. malik(k)- „ schwach werden “ ; 32. nah ˘ (h ˘ )- „ fürchten “ ; 33. nakke š - „ jdm. schwer werden, drückend werden “ ; 34. appan p ā i-/ kattan appa p ā i- „ sorgen für, sich kümmern um “ ; 35. pa š kuw ā i-/ arh ˘ a pa š kuw ā i- „ vernachlässigen, vergessen “ ; 36. pe š iya- „ ignorieren, vergessen “ ; 37. pugg(a)- „ verhaßt sein “ ; 38. šā - „ grollen, zürnen, haßen “ ; 39. š ak(k)-/ š ek(k)- „ wissen, kennen, erfahren “ ; 40. tarra- „ müde werden “ / tar(r)iya- „ sich bemühen, sich anstrengen “ ; 41. du š kiya- „ sich freuen, fröhlich sein “ ; 42. u š k- „ sehen “ / meh ˘ ananda u š k- „ vermissen “ ; 43. uwa- „ sehen “ ; 44. war š -/ war š iya- „ sich beruhigen, sich besänftigen, zufrieden sein “ / katta war š iya- „ sich mit etwas zufrieden geben, sich mit etwas begnügen “ ; 45. werite š - „ sich ängstigen “ . 125 http: / / ochre.lib.uchicago.edu/ eCHD/ 197 <?page no="198"?> (3 Formen), sondern auch als diejenigen mit DAT-Experiens (6 Formen). Die Anzahl der kanonischen Strukturen würde gesteigert, wenn man die deverbalen oder denominalen Empfindungsadjektive in einem Kopula- oder Nominalsatz mit prädikativer Funktion zu den jeweiligen Verben hinzufügen würde, welche ebenfalls ein NOM-Subjekt voraussetzen, wie ki š tuwant- „ hungrig “ (neben ki š tanziya- „ hungern “ ) und kanir(u)want-/ kane šš (u)want-/ kaninant- „ durstig “ . Zweitens erlauben die Verben, die normalerweise ein obliques Experiens haben, marginal oft auch ein NOM-Experiens, wie z. B. bei idalawe š - „ schlecht werden “ und bei den oben erwähnten Krankheitsprädikaten, während für Empindungsprädikate mit typischem NOM-Experiens eine oblique Wiedergabe unüblich ist. Drittens ist die Gruppe mit AKK- oder DAT-Experiens semantisch einheitlicher als die mit NOM-Experiens, welche auf viel mehr Erfahrungsbereiche hin verallgemeinert werden, wie wir in § 3.5.3 besser sehen werden. Die letzteren finden wir nicht nur bei Empfindungsprädikaten wie appan kappuw ā i- „ sich kümmern um “ (3.53) oder appan genzuw ā i- „ Mitleid haben “ (3.55), die ein gewisses Bewusstsein voraussetzen und sich deswegen den typischen Funktionen des Nominativs annähern (man kann sie auch in Imperativsätzen finden: n-an-za EGIR-an kappuwi „ kümmere dich um ihn! “ , KUB VII 8 II 4; n-an genz ū wa genzu[wai] “ habe Mitleid mit ihm! “ , AoF 8: 96), sondern auch mit Verben von kaum kontrollierbaren physischen und psychologischen Empfindungen wie „ schwitzen “ (allaniya-) in (3.54) bzw. „ sich ärgern “ (ar š ana-, karpiya-, kartimmiya-, lelaniya-, s ā h ˘ -) in (3.55). An der letzten Stelle stehen drei Empfindungsprädikate ( šā nzi, arh ˘ a pa š kuwanzi, appa genzuwa š i), und alle sind kanonisch markiert. 126 (3.53) D UTU-u š -za D IM-a šš -a LUGAL-un EGIR-pa kappuwer Sonnengott-NOM-REFL Wettergott: NOM-und König(C): AKK.SG sich.kümmern: PRS.IND3PL „ Der Sonnengott und der Wettergott kümmern sich um den König. “ (KUB XXIX 1 III 6) (3.54) mah ˘ h ˘ an-ma AN Š U.KUR.RA ME Š allaniyanzi wenn-aber Pferd: NOM.PL schwitzen: PRS.IND3PL „ Wenn aber die Pferde schwitzen “ (KBo III 2 Rs. 26) 126 Wie in (3.55) ersichtlich, bedeutet das Verb (arh ˘ a) pa š kuwaeigentlich „ ablehnen, vernachlässigen, ignorieren “ und nur im übertragenen Sinne „ vergessen “ . Die letztere Bedeutung kommt z. B. in KBo 4.2 III 44 vor: nu-kan a š i memiyan arh ˘ a-pat pa š kuwanun „ ich vergaß völlig diese Sache “ . Dem Hethitischen fehlen also grammatikalisierte Verfahren für das Prädikat „ vergessen “ sowie auch für sein Antonym „ sich erinnern “ . Diesbezüglich ist die nächste hethitische Entsprechung das Verb kappuw ā i-, wörtl. „ zählen “ , das mit der Reflexivpartikel auch „ Rechnung tragen, beachten “ bedeutet. 198 <?page no="199"?> (3.55) antuh ˘ š an-(a)z kuin DINGIR ME Š šā nzi Mensch(C): AKK-PTK welcher: AKK.C.SG Gott: NOM.PL zornig.sein: PRS.IND3PL n-anš an arh ˘ a pa š kuwanzi n-an appa zik-pat KONN-ihn-PTK vernachlässigen: PRS.IND3PL KONN-ihn hinter du: NOM-PTK D UTU-u š genzuwa š i Sonnengott: VOK Mitleid.haben: PRS.IND2SG „ Welchen Menschen die Götter zürnen und verwerfen, nun den, Sonnengott, bemitleidest du. “ (KUB XXXI 127 I 47) Natürlich dürfen wir nicht überrascht sein, die ältere und vom Urindogermanischen ererbten nicht-kanonische Markierung auch im Hethitischen gelegentlich zu finden, und in diesem Sinn ist Luraghis (2010 b) Studie der in dieser Sprache gebrauchten Strukturen mit obliquem Experiens wichtig, genauso wie die entsprechenden Untersuchungen von Conti (2008; 2009; 2010 a; 2010 b) für das Altgriechischen. Es ist aber auch wichtig zu bemerken, dass im Hethitischen die kanonische Markierung der syntaktischen Funktionen im Allgemeinen bevorzugt wird wie auch im Altgriechischen und in anderen südlichen und östlichen alten idg. Sprachen, und dass das oblique Experiens des Hethitischen weniger geläufig ist als das NOM- Experiens im Vergleich zu der von Bossong (1997 b) analysierten Situation im Keltischen, im Germanischen, im Baltischen und im Slawischen. Für Erfahrungsbereiche, die in den Sprachen der westlichen und nördlichen idg. Peripherie typischerweise von einem Obliquus oder von einer PP ausgedrückt werden, haben wir im Hethitischen meistens den Nominativ. Ein Prädikat psychologischer Empfindung wie „ träumen “ , das im Hethitischen au š - „ sehen “ mit NOM-Experiens und mit der reflexivisierenden Partikel za heißt, verlangt im Altisländischen ein AKK-Experiens und oft auch einen AKK-Stimulus: mik dreymdi draum „ ich träumte einen Traum “ . Während eine physische Erfahrung wie „ dursten “ im Hethitischen durch einen Ausdruck wie kaninante š - „ durstig sein “ und NOM-Experiens wiedergegeben wird, sagt das Altirische is ítu/ tart do X „ es ist Durst (ítu)/ durstig (tart) zu X “ . Solche unpersönliche oder präpositionale Verwendungen, die im Hethitischen nur residual sind, sind in den alten keltischen und germanischen Sprachen der normale Ausdruck der Empfindungen. Altindisch Für Vedisch wird in der Literatur oft eine Stelle aus dem rigvedischen Lied des Spielers zitiert, hier berichtet in (3.56), in dem das Experiens des Prädikats tap „ leiden “ im Akkusativ steht. Diese Stelle ist auch deshalb interessant, weil das Gerund, das im Prinzip mit dem grammatischen Subjekt koreferent ist, hier mit dem obliquen Nominal, das das Experiens 199 <?page no="200"?> bezeichnet, koindiziert wird und daher als ein Beweis des Subjekt-Status des Obliquus gelten kann (vgl. Tikkanen 1987: 147ff; Hook 1985; Hock 1990; Davison 2004: 161). (3.56) stríyam· dr ˚ s · t · v ā ´ya i kitavám· i tat ā p ā nyés · ā m· Frau(F): AKK.SG sehen: GER Spieler(M): AKK.SG peinigen: PF3SG.anderer: GEN.M.PL j ā y ā ´ m ̐ súkr ˚ tam· ca yónim Ehefrau(F): AKK.SG wohlbereitete: AKK.M.SG und Lage(M): AKK.SG „ Es peinigte den Spieler, als er das Eheweib und das wohlbereitete Lager anderer sah. “ (RV 10. 34. 11ab; Übersetzung Geldner 1951: III, 185) Der Spieler (kitavám, AKK) bereut seine Abhängigkeit vom Spiel, wofür Zeit und Geld verzehrt wird, indem er die wohlgeordnete Familie und das Vermögen der anderen sieht. Aufgrund dieses Beispiels 127 könnte man den falschen Eindruck gewinnen, dass Vedisch und im Allgemeinen Altindisch die nicht-kanonische Markierung für Empfindungsprädikate verwendet. Aber in der Tat, wie Hock (1990) bewiesen hat, ist es nicht so, und ein Grund für die Ubiquität dieser Stelle in der Behandlung der Empfindungsprädikate des Vedischen besteht gerade darin, dass anderswo die nicht-kanonische Markierung in dieser Sprache unüblich ist. Natürlich können Beispiele der vom Urindogermanischen ererbten nicht-kanonischen Markierung in kaum transitiven Propositionen auch im Altindischen vorkommen, aber wie im Fall des Altgriechischen und des Hethitischen sind sie nur Relikte und bleiben synchron unproduktiv. Im klassischen Sanskrit können nicht-kanonische Konstruktionen auch die Situation mittelindischer Sprachen widerspiegeln, d. h. der Muttersprachen der Sprecher bzw. Schreiber dieser Werke, die wie unten illustriert eine andere Argumentkodierung der Empfindungsprädikate entwickeln. Die Beispiele in (3.57) zeigen einige altindische Entsprechungen der Empfindungsverben, die von Bossong (1997 b) für die modernen Sprachen Europas untersucht wurden. (3.57 a) pa ś y ā mi „ ich sehe “ (3.57 b) smar ā mi „ ich erinnere mich “ (3.57 c) vi-smar ā mi „ ich vergesse “ (3.57 d) śī ye „ mir ist kalt “ (3.57 e) ks · udhy ā mi „ ich habe Hunger “ (3.57 f) tr ˚ s · y ā mi „ ich habe Durst “ 127 Ein ähnliches Beispiel erscheint in RV 10. 34. 10 a: j ā y ā ´ tapyate kitavásya h ī n ā ´ „ Die Frau des Spielers härmt sich verlassen “ . Hier steht das Prädikat tap „ jdn. peinigen “ im Passiv tapyate, wobei der Nominativ-Experiens (j ā y ā ´ „ Frau “ ) die Transformation vom direkten Objekt des entsprechenden transitiven Satzes darstellt, also konsistent mit der AKK-Kodierung des Experiens im Aktiv in (3.56). 200 <?page no="202"?> (3.59 b) S ī t ā yai R ā mo rocate S ī t ā : DAT R ā ma: NOM strahlen: PRS.IND3SG „ S ī t ā gefällt R ā ma. “ Das Verb rocate (3.59 b), ein Medium von der Wurzel ruc, bedeutet synchron sowohl „ strahlen, glänzen “ (vgl. Lat. lux, Altgr. λευκός , Arm. lois, Ahd. loug) als auch „ gefallen, mögen “ : „ jdm. gefallen “ , bedeutet also wörtlich „ für jdn. strahlen “ , wobei das Experiens eine ähnliche Funktion hat wie ein dativus iudicantis (§ 4.3.3). 129 Die lexikalische Transparenz des Verbs rocate und das Nebeneinander der Bedeutungen „ gefallen “ und „ strahlen “ beweisen, dass diese nicht-kanonische Struktur des Dativ-Experiens im klassischen Sanskrit noch nicht grammatikalisiert war. Noch mehr Ausdrücke für das Gefallen können wir im Vedischen finden, z. B. „ lieben, wünschen, wollen, ersehnen “ (is · , kam, lubh, van, va ś , v ā ñch, ven), „ süß, angenehm oder liebenswürdig sein “ (svad, mr ˚ d· ), „ geniessen, zufrieden sein, froh sein “ (uc, kan/ k ā , jus · , tr ˚ p, pr ī , bhuj, mad, mud, ran, ram, v ī , hr ˚ s · ) - in allen diesen Fällen steht das Experiens im Nominativ. Die syntaktische Form des Stimulus ist hingegen variabler als die des Experiens in altindischen Empfindungsverben: viele dieser Prädikate (z. B. ks · údhyati „ er hat Hunger “ , tr ·´s · yati „ er hat Durst “ , rámate „ er ist froh “ ) sind intransitiv und verlangen keinen expliziten Stimulus. Eine Variante existiert für die Bedeutung „ froh sein “ , die nicht nur das Medium rámate oder hars · ate, sondern auch einen Nominalsatz mit dem Adjektiv sukhinverwenden kann: sah · sukh ī „ er ist froh “ . Die beiden Strukturen sind nicht immer sinngleich, denn das Verb rámate bezeichnet eine temporäre Situation, „ sich gut fühlen “ , während der Nominalsatz mit dem Adjektiv sukhineinen ständigen Zustand von Glückseligkeit bedeutet. Auch in der Typologie wird dargelegt, dass Adjektive und Verben sprachübergreifend benutzt werden, um Kontraste zwischen permanenten und momentanen Eigenschaften auszudrücken (vgl. Croft 1990). Die anderen Empfindungs- 129 Wörter für „ Licht “ und „ Brennen “ sind im Vedischen übliche lexikalische Quellen für Empfindungsprädikate, wenn auch mit entgegengesetzten metaphorischen Bedeutungen. Während für die Wurzel ruc das Glänzen als Gefallen positiv gemeint ist, wie in (3.59 b), so bezeichnet die oben erwähnte Wurzel tap (ursprünglich „ brennen “ ) hingegen vielmehr negativ „ quälen “ im Aktiv und „ leiden, Schmerz empfinden “ in unpersönlichen oder passiven Ausdrücken (3.56) - (3.58). In der späten vedischen Literatur bedeutet tap dann auch „ absichtlich unter Schmerzen leiden, Askese üben “ , manchmal mit dem internen Objekt tápas- „ Wärme, Qual, Selbstpeinigung “ . Die verschiedenen Bedeutungen einer positiven oder negativen Empfindung können sogar für dasselbe Prädikat in verschiedenen Sprachstufen des Altindischen bezeugt sein, wie im Fall der Wurzel ś uc (vgl. GR 1400): im Rig-Veda bedeutet ś uc wörtlich „ leuchten, strahlen, glänzen “ und bildlich „ herrlich, ausgezeichnet sein “ ; im klassischen Sanskrit hingegen erwirbt sie die Bedeutung „ leiden, bedauern “ , wie in (3.57 i). 202 <?page no="203"?> verben haben entweder einen Akkusativ-Stimulus (im Fall von pá ś yati „ sehen “ , ś ócati „ bedauern “ , iccháti „ mögen “ ) oder eine Alternanz zwischen Akkusativ und Genitiv (smárati „ sich erinnern “ , ví-smarati „ vergessen “ ), wie wir in § 3.7.1 noch näher diskutieren werden. Nach dem Wandel von den ursprünglichen nicht-kanonischen Strukturen des Urindogermanischen, wie man sie besonders am Beispiel des Keltischen, Germanischen, Baltischen und Slawischen rekonstruiert, zu den kanonischen Strukturen - belegt vom Vedischen und vom klassischen Sanskrit - erlebte das Indische seit seinen nachklassischen Varianten einen erneuten Wandel, diesmal rückwärts zur nicht-kanonischen Markierung. Das Prädikat „ gefallen “ , das im Sanskrit eine Variation zwischen kanonischer (3.59 a) und nicht-kanonischer (3.59 b) Markierung aufweist, wird im Hindi regelmäßig nicht-kanonisch gebildet (3.60). (3.60) Siit ā -ko Ram pasand h ɛ Sita-DAT Ram: NOM gefallen: PTZ ist „ Sita gefällt Ram. “ Die Ausdrücke des Altindischen (3.59 b) und des Hindi (3.60) für dieses Empfindungsprädikat stimmen zwar weder im Wortschatz noch in der Morphologie überein: dem synthetischen Prädikat rocate des Altindischen steht im Hindi die periphrastische Struktur pasand h ɛ gegenüber, die aus einem Partizip und der Kopula besteht und die wörtlich „ ist gefallend “ bedeutet, und im Dativ gibt es von einem formalen Standpunkt aus keine direkte Kontinuität, da das klassische Sanskrit eine Kasus-Endung hat, das Hindi hingegen die Postposition - ko. Doch die Syntax mit einem Dativ- Experiens und einem Nominativ-Stimulus bleibt dieselbe und ist ein weiterer Beweis für die Tatsache, dass der syntaktische Wandel langsamer ist als der lexikalische Wandel. Während aber der Wandel von nicht-kanonischer zu kanonischer Markierung die Analogie einer relativ kleinen Gruppe von Prädikaten zu den mehrheitlichen Tätigkeitsverben der typischen transitiven Sätze darstellt und in vielen verschiedenen Sprachen häufig unabhängig voneinander vorkommt, ist der rückgängige Wandel von kanonischer zu nichtkanonischer Markierung, die heutzutage im Hindi und anderen neuindischen Sprachen erscheint (vgl. Klaiman 1980; Onishi 2001 b; Arora & Subbarao 2004; Dasgupta 2004; Davison 1985; 2004; Mahajan 2004; Mistry 2004; Wali 2004; Yadava 2004), sprachübergreifend unüblich und deshalb benötigt er eine Erklärung. Als Grund dafür führen die Forscher den externen Kontakt des Indischen mit den dravidischen Sprachen an, in denen die nicht-kanonische Markierung immer vorherrschend war (vgl. Amritavalli 2004; Jayaseelan 2004; Lakshmi Bai 2004; Subbarao & Bhaskarao 2004; Rani & Sailaja 2004). Tatsächlich wird die oblique Markierung des Experiens mit Prädikaten wie „ jdm. gefallen “ für eines der auffälligsten 203 <?page no="204"?> arealen Merkmale des südostasiatischen Sprachbundes gehalten (vgl. Masica 1976; 1991: 346ff; Sridhar 1979; Verma & Mohanan 1990). Statt eines bloß externen Kontakts können wir aber die nicht-kanonische Markierung der neuindischen Sprachen als einen weiteren Fall von contactinduced grammaticalization interpretieren, weil der oblique Ausdruck des Experiens schon ein urindogermanisches Merkmal war, und sowohl Erbschaft als auch Kontakt können für das gelegentliche Vorkommen der nichtkanonischen Markierung wie in (3.56) und (3.58) im Altindischen verantwortlich sein. Das bedeutet natürlich nicht, dass innere und äussere Faktoren auf derselben Ebene liegen müssen: hier ist wahrscheinlich Kontakt wichtiger als Erbschaft, nicht nur wegen der Seltenheit der nicht-kanonischen Markierung im Vedischen, sondern auch weil die neuindischen Sprachen, die das Dativ-Experiens am häufigsten zeigen, auch diejenigen sind, die geographisch dem Kontakt mit dem Dravidischen eher ausgesetzt waren. Arora & Subbarao (2004) berichten über den Fall des Konkani und des Dakkhini, zweier indoarischer Sprachen, die aber jahrhundertelang einen intensiven Kontakt mit Kannada und Telegu hatten und die deswegen einen Prozess von dativization und gleichzeitig degenitivization im Bereich der Empfindungsprädikate zeigen. Denn seitdem im Mittelindischen der Dativ verfällt, benutzen die indoarischen Sprachen eher den Genitiv, der eigentlich Zugehörigkeit bedeutet (vgl. § 3.3.2.3). Die Dativ-Kodierung hat sich jedoch im Bereich der Modalverben verbreitet: Hindi mujhe j ā n ā h ɛ (mir gehen: IF ist) „ ich muss gehen “ ist dem lateinischen Ausdruck mihi eundum est ähnlich, wenn auch mit einer anderen Nominalisierung (Infinitiv statt Gerundiv). Klassisches Armenisch Die Darstellung des Experiens im Armenischen wurde meines Wissens noch nie untersucht, daher können hier nur vorläufige Bemerkungen darüber gemacht werden. 130 Ich habe mich jedoch entschieden, diese kleine 130 Nicht untersucht wurden Empfindungsprädikate und im Allgemeinen die (nicht-) kanonische Markierung auch im Tocharischen. Der in Toch. unpersönliche Gebrauch des Prädikats „ müssen “ mit dem Genitiv des logischen Subjekts (vgl. Carling 2000: 12) lässt nicht viel über die allgemeine Darstellung der syntaktischen Funktionen erkennen, da Modalverben sogar in Sprachen wie dem Englischen und Altgriechischen, die am häufigsten kanonische Strukturen besitzen, oft unpersönlich gebildet werden. Aufschlussreicher ist das Prädikat „ Angst haben “ , das sprachübergreifend mehr syntaktische Variation zeigt, und das im Tocharischen kanonisch markiert ist. Die Toch. Wurzel pärsk- (< Proto-Toch. *pärksk- < Urindg. * pr ˚ K-s ḱ e/ o , mit germanischen Parallelen wie Got. faurhts und Ahd. furhten > Dt. fürchten, vgl. Pinault 2008: 200; 437) wird kanonisch flektiert mit einem Nominativ-Experiens: Toch. B pr ā skau „ ich habe Angst “ (PRS.KONJ1SG), das ganz am Anfang des „ Lieds für den 204 <?page no="205"?> Rubrik hier einzuschließen, weil ich den Eindruck habe (gegründet auf verschiedenen Grammatiken und Chrestomathien wie Meillet 1913, 1936, 1962, 1977, Jensen 1959, 1964, Minassian 1976, Schmitt 2007), dass das klassische Armenisch eine stark ausgeprägte kanonische Markierung der syntaktischen Funktionen hat, wobei das Experiens auf dieselbe Weise wie das Agens dargestellt wird - und das ist bedeutsam für seine areale Stellung. Seit seiner klassischen Zeit (5. Jh. n. Chr.) unterlag das Armenische einem wesentlichen Einfluss nicht nur des verwandten Iranischen (Hübschmann 1875; Benveniste 1957; Bolognesi 1960; Solta 1960) sondern auch verschiedener Sprachen des Kaukasus (vgl. Deeters 1926; 1927; Gippert 2005). Von den kaukasischen Sprachen hat das klassische Armenisch u. a. den Vorgang der Reduplikation übernommen, die aus der Wiederholung des ganzen Wortes besteht (xor-xor-at „ Grube “ aus xor „ tief “ ), während im Indogermanischen normalerweise nur der erste Konsonant der Wurzel (oder seltener der wurzelanlautenden Konsonantengruppe) mit Vokal e oder i wiederholt wird. Nun ist bekannt, dass die Sprachen des Kaukasus unabhängig von ihrer unterschiedlichen genetischen Gruppierung die nicht-kanonische Markierung des Experiens haben: „ La dominance de l ’ inversion y est un trait aréal important et généralement reconnu. C ’ est un trait qui est indépendant des relations génétiques; il comprend les trois (ou quatre) familles linguistiques autochtones du Caucase sans exception. “ (Bossong 1997 b: 281) 131 Es ist auch nachvollziehbar, dass die nicht-kanonische Markierung, die ein Tod “ (Toch. B 298, vgl. Pinault 2008: 15 ff) vorkommt: arai srukalyñe cisa nta kca m ā pr ā skau (PTK Tod: NOM du: PERL irgendwie INDEF: OBL NEG Angst.haben: PRS. KONJ1SG) „ O Tod, ich habe Angst vor nichts mehr als vor Dir “ . Bemerkenswerterweise zeigt pärskdas Suffix - sk-, das (ganz anders als in den inchoativen Ableitungen der anderen idg. Sprachen) im Tocharischen ein morphologisches Merkmal der Transitivität ist, besonders ersichtlich im kausativen Paradigma des Toch. B. Also scheint das Tocharische der hier vorgeschlagenen Isoglosse bezüglich einer Verteilung der kanonischen oder nicht-kanonischer Markierung in östlichen bzw. westlichen alten idg. Sprachen nicht zu widersprechen, obwohl man natürlich mehr Material von anderen Empfindungsprädikaten braucht. Außerdem, da dieselbe kanonische Markierung auch für das Altindische typisch ist, von dem tocharische Texte oft Übersetzungen oder immerhin Einflüsse zeigen, können wir nicht genau sagen, wie weit das Nominativ-Experiens des Tocharischen ein genuines Muster ist oder eher eine syntaktische Entlehnung vom Sanskrit: Im Altindischen ist das Prädikat „ Angst haben “ (bh ī ) auch kanonisch: bibhémi „ ich habe Angst “ (PR.IND1SG). Dieselben interpretativen Probleme bestehen im Prinzip auch für das klassische Armenisch, bei dem aber Empfindungsprädikate anders als im griechischen Original manchmal kodiert werden (siehe unten). 131 Der oblique Ausdruck des Experiens taucht auch im Türkischen auf, wenn er auch nicht so auffällig ist wie in den kaukasischen Sprachen. Im Türkischen haben kanonische und nicht-kanonische Strukturen im Großen und Ganzen das gleiche Gewicht ( „ Le turc est le représentant d ’ une structure moyenne “ , Bossong 1997 b: 280). 205 <?page no="206"?> archaisches Merkmal der Syntax vieler Sprachen ist, in einem Gebirgsland wie im Kaukasus vorherrscht. Wenn also das klassische Armenisch eine andere Argumentstruktur hat, kann das nicht dem äußeren Kontakt zugewiesen werden, und deshalb ist es besonders relevant für die Rekonstruktion der Markierung der syntaktischen Funktionen und für die Bestimmung unserer Isoglosse im Bereich der Indogermania. Wie bei anderen östlichen idg. Sprachen ist jedoch auch für das klassische Armenisch das gelegentliche Vorkommen der alten nicht-kanonischen Strukturen zu erwarten. Tatsächlich ist ein unpersönlicher Gebrauch für das Prädikat „ schmerzen “ belegt: inj c ’ au ē (ich: DAT schmerzen: PRS.IND3SG) „ es schmerzt mich “ , z. B. Prov. 23.35 harkan ē in zis ew inj óc ˇ ‘ c ‘ aw ē r. áypn ar ˙ n ē in zis ew óc ˇ ‘ git ē i „ sie schlugen mich, aber es tat mir nicht weh; sie prügelten mich, aber ich fühlte es nicht “ , während das griechische Original hier ein (implizites, aber durch die verbale Kongruenz deutliches) NOM-Experiens hat: τύπτουσίν με , καὶ οὐκ ἐπόνεσα , καὶ ἐνέπαιξάν μοι , ἐγὼ δὲ οὐκ ᾔδειν . Ansonsten überwiegt aber die kanonische Struktur mit dem Nominativ-Experiens im klassischen Armenisch, wie wir es bei mehreren semantisch unterschiedlichen Empfindungsprädikaten finden können. 132 Das erscheint am häufigsten bei den Prädikaten „ sehen “ (tesanem) und „ hören “ (lsem), die auch einen Akkusativ-Stimulus verlangen, z. B. Ew ibrew lowaw t ’ agawor-n z-ays 133 amenayn (und als hören: AOR. IND3SG König: NOM.SG-ART z-dieses: AKK.SG alles) „ und als der König dieses alles hörte “ (P ’ avstos Buzand 4.5). Im Altgriechischen hingegen regiert das Verb κλύω „ ich höre “ , das mit Arm. lsem etymologisch verwandt ist, eine Genitiv-Ergänzung, also werden diese Prädikate im klassischen Armenisch sogar mehr als im Altgriechischen an die transitive Struktur angepasst. Die kanonische Markierung der Prädikate „ sehen “ und „ hören “ ist verständlich, weil diese Empfindungen, die auch als Quelle einer Information aufgefasst werden, oft den Ausdruck einiger Prädikate des 132 Das betrifft auch andere Schmerzempfindungsprädikate ausser c ’ au ē des klassischen Armenisch. Z. B. hat das Lexem erknem „ ich liege in Wehen, ich kreiße “ eine persönliche Struktur mit Nominativ-Experiens, wie im berühmten Lied von Vahagns Geburt, erkn ē r erkin, erkn ē r erkir, erkn ē r ew covn cirani „ in Wehen lag der Himmel, in Wehen lag die Erde, in Wehen lag auch das purpurne Meer “ . Hier steht das Verb erkn ē r „ er/ sie liegt in Wehen “ (IPF.IND3SG) in Kongruenz mit dem Nominativ- Subjekt erkin „ Himmel “ , und die Struktur wird für die weiteren Subjekte erkir „ Erde “ (NOM) und cov „ Meer “ (NOM, hier mit nachgestelltem Artikel) wiederholt. Die verschiedene Argumentstruktur der zwei Prädikate c ’ au ē und erknem kann auch mit ihrer unterschiedlichen Auffassung der Empfindung zusammenhängen, weil die Wehen zum Gebären führen, und deswegen setzt das Prädikat erknem eine höhere Agentivität voraus als das Prädikat c ’ au ē . 133 Das Demonstrativpronomen ays „ dieser “ zeigt hier die nota accusativi, das armenische Merkmal der Definitheit, vgl. § 3.3.2.2.1. 206 <?page no="207"?> Wissens wiedergeben (gitem „ ich weiß, erkenne “ , vgl. Altgr. οἶδα , Ved. véda, Lat. video < idg. weyd / wid „ erblicken “ , vgl. LIV 665 - 667) und Prädikate von Kenntnis wie xorhim „ ich denke “ , karcem „ ich denke, meine “ , c ˇ anac ˇ ‘ em „ ich erkenne “ , imanam „ ich verstehe “ eine gewisse Kontrolle voraussetzen, die von Haus aus für transitive Propositionen typisch ist. Die kanonische Markierung mit dem Nominativ-Experiens erscheint aber auch bei anderen Prädikaten, die physische Empfindungen oder Zustände wie auch körperliche Bedürfnisse beschreiben, wie aytnowm „ ich schwelle “ , bazmanam „ ich wachse “ , bazmac ‘ owc ‘ anem „ ich vermehre “ , bowrem „ ich dufte “ , do ł am „ ich zittere “ , erazim „ ich träume “ , hiwcanim „ ich nehme ab, sieche “ , hototim „ ich rieche “ , c ˇ a š akem „ ich koste “ , yagenam „ ich sättige mich “ , o łǰ anam „ ich gesunde “ , orcam „ ich erbreche mich “ , sarsim „ ich bebe “ , sartnowm „ ich werde überdrüssig “ , p ‘ c ˇ ‘ em „ ich hauche “ , k ‘ a ł c ‘ nowm „ ich hungere “ . An der folgenden Stelle kommen drei Prädikate physischer Empfindung (wenn auch metaphorisch gemeint) vor, nämlich „ hungrig sein “ , „ durstig sein “ und „ satt sein “ : (3.61) erani or k ‘ a ł c ‘ eal ew carawi ic ‘ en glückselig: NOM.PL RP: NOM.PL hungrig und durstig sein: PRS.KONJ3PL ardarowt ‘ ean, zi nok ‘ a yagesc ‘ in Gerechtigkeit: GEN.SG denn sie: NOM.PL sättigen: AOR.KONJ.MED/ PASS3PL „ Glückselig, die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten, denn sie werden gesättigt werden. “ (Mt. 5.6) Das Partizip k ‘ a ł c ‘ eal „ hungrig “ (vom Verb k ‘ a ł c ʻ nowm , Altgr. πεινῶ ) und das Adjektiv carawi „ durstig “ erscheinen (unflektiert) 134 in einem Kopulasatz, der vom Nominativ-Relativpronomen or eingeführt wird; die kanonische Markierung ist jedenfalls an der verbalen Kongruenz deutlich. Der Nominativ wird auch für das (explizite) Subjekt des anderen Prädikats yagesc ‘ in benutzt, eine medial-passive Form des Verbs yagim „ ich bin satt “ . Eine ähnlich kanonische Struktur finden wir auch bei Empfindungsprädikaten, die psychologische Zustände und abstrakte Gefühle wie Freude, Trauer oder Hoffnung ausdrücken: amac ˇ‘ em „ ich schäme mich “ , ambartawanim „ ich bin stolz “ , aysaharim „ ich bin besessen “ ( δαιμονίζομαι ), ateam „ ich hasse “ , barkanam „ ich ergrimme “ , gar š im „ ich verabscheue “ , gt ‘ am „ ich erbarme mich “ , diwaharim „ ich bin besessen “ , erknc ˇ ‘ im „ ich fürchte mich “ , zayranam „ ich erzürne mich “ , zar ˙ acanim „ ich verirre mich “ , zarmanam „ ich wundere mich, bin erstaunt “ , z łǰ anam „ ich bereue “ , zc ˇ‘ arim „ ich bin unzufrieden, verärgert “ , ə ndarmanam „ ich wundere mich “ , xndam „ ich freue mich “ , xr ˙ ovem „ ich werde verwirrt “ , kamim „ ich will, wünsche “ , hac ˇ im „ ich bin 134 Das Adjektiv wird im klassischen Armenisch nicht flektiert, wenn es in einem Kopulasatz erscheint und unmittelbar vor der Kopula steht. In diesem Fall zeigt nur die Kopula die Kongruenz, vgl. § 4.4.3. 207 <?page no="208"?> zufrieden “ , hamberem „ ich ertrage, leide “ , hogam „ ich mache mir Sorge “ , yi š atakem „ ich erinnere mich “ , yowsam „ ich hoffe “ , naxanjim „ ich beneide “ , o ł ormim „ ich habe Mitleid “ , paknowm „ ich staune (vor Furcht) “ , ǰ anam „ ich bemühe mich “ , sgam „ ich habe Kummer “ , sirem „ ich liebe “ , txrim „ ich werde traurig “ , trtmim „ ich bin betrübt “ , c ‘ ankanam „ ich begehre “ , c ‘ ncam „ ich freue mich “ , p ‘ ap ‘ agem „ ich wünsche “ . Diese Prädikate können auch im Imperativ gebraucht werden, der ein üblicher Test für subjecthood ist: c ‘ ncac ‘ē k ‘ ew owrax lerowk ‘ (sich.freuen: AOR.IPV2PL und froh werden: AOR.IPV2PL) „ Freut euch und frohlocket “ (Mt. 5.12). Die folgende Stelle enthält das Prädikat „ fürchten “ : (3.62) ew p ‘ ar ˙ k ‘ Tear ˙ n cagec ‘ in ar ˙ nosa, und Herrlichkeit: NOM.PL Herr: GEN entstehen: AOR.IND3PL um sie: LOK.PL ew erkean erkiw ł mec und fürchten: AOR.IND.MED3PL Furcht: AKK.SG groß: AKK.SG „ Und die Herrlichkeit des Herrn entstand um sie, und sie fürchteten sich mit grosser Furcht. “ (Luc. 2.9) Nicht nur verlangt das Armenische erknc ˇ ‘ im „ ich fürchte mich “ ein Nominativ-Subjekt, hier implizit (und deswegen kommt es auch im Imperativ vor in Luc. 2.10 mi erknc ˇ ‘ ik ‘ „ Fürchtet euch nicht! “ ), sondern es erlaubt auch neben dem intransitiven Gebrauch einen transitiven - anders als seine griechische etymologische Entsprechung δείδω , womit nur eine präpositionale Ergänzung möglich ist ( δείδω ἀμφί τινι , περί τινος , ὑπέρ τινος ). 135 Der Gebrauch in (3.62) liegt zwischen intransitiv und transitiv, weil das Akkusativ-Nomen erkiw ł „ Furcht “ ein inneres Objekt darstellt, das jedoch im klassischen Armenisch nicht so häufig vorkommt. Außerdem hat das klassische Armenisch wie das Altgriechische auch einige Modalverben mit einer persönlichen Struktur, z. B. karawtanam „ ich brauche, bedarf “ , karem „ ich kann “ , mart ‘ em „ ib. “ , 136 wie auch eine kanonische possessive Markierung mit dem Verb ownim „ ich habe “ , das dem Altgr. ἔχω und dem Heth. h ˘ arkentspricht. 135 Das Verb erknc ˇ ‘ im entspricht aber im Gebrauch dem Verb φοβέω im griechischen Original des Evangeliums, das lautet: καὶ δόξα Κυρίου περιέλαμψε αὐτούς , καὶ ἐφοβήθησαν φόβον μέγαν (Luc. 2.9). Die transitive Argumentstruktur des Altgr. φοβέω hängt zusammen mit seiner ursprünglichen Bedeutung „ in die Flucht schlagen “ , die bei Homer die einzige Lesung (im Aktiv) ist, vgl. LSJ 1946. 136 Natürlich sind auch unpersönliche Modalia im klassischen Armenisch belegt, z. B. e ł ew „ es geschah “ (AOR.IND3SG von linim „ ich werde “ ), d ē p e ł ew „ es ziemt sich “ , mart ‘ ē „ es ist möglich “ , pakas ē „ es fehlt “ (aus pakas „ fehlend “ ). Dasselbe gilt für unpersönliche Witterungsverben wie se ł aj „ es regnet “ . Es ist immerhin bedeutsam, dass für Modalprädikate, die in den meisten Sprachen die unpersönliche oder nichtkanonische Struktur zeigen, das klassische Armenisch auch einige kanonische Strukturen erlaubt, die anderswo normalerweise ungrammatisch sind. 208 <?page no="209"?> 3.5.2.3 Die mittlere Stellung des Lateinischen Die Stellung des Lateinischen in Bezug auf die Markierung der syntaktischen Funktionen scheint umstrittener als die der anderen alten idg. Sprachen zu sein. Das Lateinische wird auch von Bossong (1997 b: 267 - 69) berücksichtigt, obwohl dieser Forscher die Formen des Experiens vor allem im Romanischen analysiert. Für die heutige Situation postuliert Bossong einen Unterschied zwischen dem Rumänischen einerseits und den anderen romanischen Sprachen andererseits: während die letzteren im Allgemeinen die généralisation bevorzugen, hat das Rumänische viele Belege der inversion. Bossong interpretiert die Situation des Rumänischen als eine Neuerung, die möglicherweise durch den arealen Kontakt mit den slawischen Sprachen bedingt ist. 137 Daher sei das Lateinische eine Sprache mit kanonischer Markierung der syntaktischen Funktionen und stehe dem Altgriechischen nahe. Diese Hypothese kann man sicherlich für die Spätantike und das Mittelalter übernehmen, als das Lateinische die offizielle Sprache des Imperiums, der katholischen Kirche und der Kultur im ganzen Europa war - wir haben gesehen, dass schon mit dem mittelalterlichen Latein wie auch mit dem κοινή -Griechisch die ersten Zeichen der sprachlichen Gemeinschaft auftauchen, die heute im Standard Average European festzustellen sind. Hingegen ist für die frühesten Sprachstufen des Lateinischen die Situation nicht so klar. Die kanonische Markierung überwiegt zwar für viele Empfindungsverben, wie Bossong (1997 b: 266) illustriert: Lat. Empfindungsverben wie algeo „ mir ist kalt “ , esurio „ ich habe Hunger “ , sitio „ ich habe Durst “ , gaudeo oder laetor „ ich bin froh “ , memini oder reminiscor „ ich erinnere mich “ , obliviscor „ ich vergesse “ , video „ ich sehe “ haben normalerweise das Experiens im Nominativ. Aber es gibt auch Varianten zwischen den kanonischen und den nicht-kanonischen Strukturen, wie capitis dolorem habeo bzw. caput mihi dolet „ ich habe Kopfschmerzen “ . Neben den Verben timeo, metuo und vereor, die im klassischen Latein eine kanonische Struktur mit Nominativ-Experiens haben, belegt das Altlateinische für das Verb vereor auch einen unpersönlichen Gebrauch mit Akkusativ-Experiens, vgl. Hofmann & Szantyr (1965: 416). Der Stimulus steht hier im Genitiv (3.63). (3.63) si tui veretur te progenitoris „ Wenn du dich vor deinem Vater fürchtest “ (Accius, fr. 76 Ribbeck) 137 „ Il ne s ’ agit pas là d ’ un archaïsme que le roumain aurait conservé du latin, étant donné que dans cette langue la dominance de la généralisation est très nette. On peut supposer que le type du roumain résulte des effets d ’ un substrat, mais c ’ est purement spéculatif. “ (Bossong 1997 b: 268) 209 <?page no="210"?> Außerdem gibt es Empfindungsprädikate, die nur eine nicht-kanonische Struktur erlauben, wie me paenitet „ ich bereue “ , me miseret „ ich habe Mitleid “ , me piget „ es tut mir Leid “ , me pudet „ ich schäme mich “ , me taedet „ mich erfasst Ekel “ , mihi libet „ es gefällt mir “ , mihi placet „ ich finde für gut, stimme dafür, beschließe “ . Das letztere kommt in festen Ausdrücken des Altlateinischen mit einer richterlichen oder religiösen Bedeutung vor, z. B. senatui placere ut, si dis placet, aber es wird auch im klassischen Latein in frei gebildeten Strukturen verwendet, vgl. Cic. Div. 1. 49. 110 ut doctissimis sapientissimisque placuit. Das Prädikat „ gefallen “ kann nicht nur einen Dativ verlangen, sondern auch ein Akkusativ-Experiens bei den Prädikaten me delectat und me iuvat. (3.64) hermathena tua valde me delectat et posita ita belle est, ut totum gymnasium ἡλίου ἀνάθημα esse videatur „ Deine Hermathena macht mir viel Freude, steht außerdem so hübsch, dass das ganze Gymnasium gleichsam der Sonne geweiht zu sein scheint. “ (Cic. Att. 1.10; Übersetzung Kasten 1959: 27) Die nicht-kanonische Markierung mit dem obliquen Experiens ist auch regelmäßig für die zwei Empfindungsprädikate interest und refert „ es liegt in jmds. Interesse “ : das Experiens steht im Genitiv, wenn es ein Nomen ist (Petri interest „ es ist Peter wichtig “ ) oder in der femininen Form eines Pronomens (mea interest „ es ist mir wichtig “ ). Im letzteren Fall bezieht sich der Ablativ wahrscheinlich auf das implizite Nomen res „ Sache “ . Wie wir in § 3.7.2 sehen werden, ist der Genitiv in den alten idg. Sprachen zwar üblich für den Stimulus der Empfindungsprädikate, doch für das Experiens ist er selten. Er kommt in Sprachen wie dem Altisländischen vor, in denen die nicht-kanonische Markierung üblich ist, aber in Sprachen wie dem Altgriechischen, dem Vedischen, dem Hethitischen und dem klassischen Armenisch, die eine ausgeprägte kanonische Markierung besitzen, ist der Genitiv für das Experiens so gut wie unbelegt. Das ist ein Hinweis darauf, dass das Lateinische die kanonische Markierung nicht vollständig verallgemeinert hat. Eine Bestätigung der lateinischen nicht-kanonischen Markierung kann auch außerhalb der Gruppe der Empfindungsverben gefunden werden, wie bei Modalverben, für die unpersönliche Formen im Lateinischen viel häufiger als für andere alte idg. Sprachen belegt sind. Wie Bauer (2000: 94) bemerkt, „ Latin is one of the Indo-European languages where impersonal verbs are still well represented. “ Impersonalia sind extreme Fälle von nicht-kanonischer Markierung, und deren Gewicht im Lateinischen sieht man nicht nur in der Bewahrung alter Ausdrücke wie (de)decet „ es ziemt sich (nicht) “ , licet „ es ist erlaubt “ oder oportet „ es gebührt sich “ (d. h. lexikalische Impersonalia nach Lambert 1997), sondern auch im unpersönlichen Gebrauch sonst persönlicher und regelmäßiger Prädikate wie iuvat „ es 210 <?page no="211"?> freut “ von iuvo, constat „ es ist bekannt “ von consto, praestat „ es ist besser “ von praesto, und noch apparet „ es ist offenbar “ , evenit, accidit „ es ereignet sich “ , fallit, fugit, praeterit „ es entgeht “ (d. h. morphologische Impersonalia nach Lambert 1997). Der Unterschied zwischen der typischen kanonischen Markierung des Altgriechischen und der oft nicht-kanonischen Markierung des Lateinischen erscheint auch im Bereich der Witterungsverben. Die persönlichen Ausdrücke der Witterungsverben wie Altgr. Ζεὺς βροντῇ „ Zeus donnert “ oder Lat. Iuppiter tonat „ id. “ wurden von dem römischen Grammatiker Priscian (5. - 6. Jh. n. Chr.) für künstliche Bildungen der Prosopopöie gehalten (Constr. 17.117 ff), möglicherweise weil solche Ausdrücke seinem muttersprachlichen Urteil fremd waren. Außerdem bekommen die seltenen Belege eines expliziten Agens für Witterungsverben im Lateinischen eher einen obliquen als einen direkten Kasus, und besonders einen Ablativ, der die semantische Rolle des Instruments bezeichnet: der Instrumental hat typischerweise unbelebte Referenten. 138 Ein bekanntes Beispiel dafür ist der Satz si hominem fulminibus occisit „ wenn die Blitze (ABL) einen Mann (AKK) töten “ (Leges Regiae, P. Fest. 178). 139 Siehe auch (3.65). (3.65) et in Palatio lapidibus pluit. id prodigium more patrio nouendiali sacro, cetera hostiis maioribus expiata „ Auch auf dem Palatium regnete es Steine. Dieses Zeichen der Götter wurde nach Vätersitte durch ein neuntägiges Opferfest, die übrigen durch voll ausgewachsene Opfertiere gesühnt. “ (Liv. 30.38.9 - 10; Übersetzung Hillen 1974 - 2000: 575; vgl. auch Liv. 7.28.7.2 und 35.9.4.1) 138 Quintilianus identifiziert den Instrumental in seiner Sprache: Er fragt sich, ob es nicht angebracht wäre, einen septimus casus anzuerkennen für Strukturen wie percussi „ ich stieß mit der Lanze durch “ , die keine echte ablativale Bedeutung haben (Quaerat etiam, sitne apud Graecos vis quaedam sexti casus et apud nos quoque septimi. Nam cum dico hasta percussi, non utor ablativi natura; nec, si idem Graece dicam, dativi. Inst. Or. 1. 4. 26). Der lateinische Instrumental wird von Quintilianus anhand des unterschiedlichen Synkretismus der Kasus in den klassischen Sprachen hypothetisiert: der Ablativ, der im Lateinischen die Funktion des Instruments ausdrückt, ist im Altgriechischen mit dem Genitiv verschmolzen, obwohl das Instrument im Altgriechischen durch den Dativ gekennzeichnet wird. 139 Im Prinzip könnte man diese Stelle auch mit einem impliziten Subjekt interpretieren ( „ wenn er (sc. Jupiter) einen Mann mit Blitzen tötet “ ) - im Rahmen der in der Antike üblichen animistischen Darstellung von Naturerscheinungen - und tatsächlich wurde diese Struktur auch von den ersten Philologen wie folgt normalisiert: si hominem fulmen Iovis occisit (vgl. Hofmann & Szantyr 1965: 116). Wie jedoch in § 3.4.3 diskutiert, ist es besser, die nicht-kanonisch kodierten Witterungsprädikate der alten idg. Sprachen syntaktisch zu erklären als durch außerlinguistische Faktoren der uridg. Weltanschauung. 211 <?page no="212"?> Da Strukturen wie lapidibus pluit mit den Kasusregeln und der Kongruenz des klassischen Lateinisch inkonsistent waren, wurden sie in der eleganten Prosa von Cicero normalisiert: das explizite Argument der Witterungsverben wird als ein ablativus absolutus dargestellt, d. h. jene Form des Ablativs, die ursprünglich für solche Fälle verwendet wurde, bleibt bestehen, aber sie wird für einen peripheren Partizipanten des Satzes benutzt (3.66). (3.66) itaque in nostris commentariis scriptum habemus: „ Iove tonante, fulgurante comitia populi habere nefas. “ „ Deshalb finden wir auch in unsern Augural-Texten aufgezeichnet: ‚ Wenn Iuppiter donnert und blitzt, ist es nicht erlaubt, Versammlungen des Volkes abzuhalten. ‘“ (Cic. Div. 2. 42. 14; Übersetzung Schäublin 1991: 173) Somit können wir feststellen, dass die ältesten, ursprünglichen Ausdrücke des Lateinischen häufig nicht-kanonisch gebildet waren und dass in der Markierung der syntaktischen Funktionen das Lateinische eher mit den keltischen, germanischen, baltischen und slawischen Sprachen als mit dem Altgriechischen, dem Hethitischen, dem klassischen Armenisch und dem Indoiranischen übereinstimmt. Die nicht-kanonischen Strukturen des Lateinischen sind zwar relativ weniger gebräuchlich als die des Altisländischen oder des Altirischen, sodass das Lateinische sozusagen eine mittlere Stellung zwischen nördlichen und westlichen alten idg. Sprachen einerseits und östlichen und südlichen alten idg. Sprachen andererseits in Bezug auf die Markierung der syntaktischen Funktionen einnimmt. Es ist daher wichtig, die Unterschiede zwischen Lateinisch und Altgriechisch in diesem Bereich festzuhalten wie auch die syntaktischen Gemeinsamkeiten des Lateinischen mit der nordwestlichen Peripherie der Indogermania. Tatsächlich hob Meillet die linguistische Trennung zwischen dem Altgriechischen und dem Lateinischen hervor: Dans l ’ ensemble, l ’ « italique », dont le latin est une partie, a la plupart de ses traits caractéristiques anciens en commun avec le celtique et souvent aussi le germanique. S ’ il offre avec le grec certaines concordances, c ’ est en général là où le grec est d ’ accord avec le celtique et le germanique. Mais tandis que le grec concorde souvent avec une langue du type sat ǝ m comme l ’ arménien, le latin est à tous égards loin des parlers orientaux. Par tous ses traits, il remonte aux mêmes types de parlers indo-européens que représentent le celtique et le germanique, et par plusieurs, il s ’ éloigne du groupe que continue le grec. (Meillet 1928: 15) Das ist natürlich ohne Verpflichtung zur „ italo-keltischen Einheit “ , die heute von den Forschern für unzuverlässig gehalten wird. Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass die von Meillet berücksichtigten Gemeinsamkeiten zwischen dem Lateinischen und den westlichen idg. Sprachen, welche 212 <?page no="213"?> Phonologie, Morphologie und Wortschatz betreffen, in der Verteilung der Impersonalia auch eine Entsprechung im Bereich der Syntax haben. 3.5.3 Überregionale semantische Faktoren bezüglich der Markierung Der Standardliteratur zufolge ist die Grammatik des Experiens in den Sprachen und oft sogar in derselben Sprache heterogen (vgl. Patri 2007: 117), wobei diese semantische Rolle von unterschiedlichen syntaktischen Ausdrücken, persönlich oder unpersönlich, und mittels verschiedener Kasus dargestellt wird. Ebenso wird konstatiert, dass die Empfindungsprädikate des „ Sehens “ , des „ Wissens “ und des „ Wollens “ häufig die kanonische Markierung mit dem Nominativ-Experiens und dem Akkusativ-Stimulus bevorzugen (Bossong 1997 b: 261; Luraghi 2010 b: 252); eine ähnliche Situation gilt für das Prädikat „ hören “ , wie wir in Bezug auf das klassische Armenisch diskutiert haben. 140 Außerdem steht das Prädikat „ gefallen “ im Mittelpunkt der meisten Studien über die nicht-kanonische Markierung (vgl. Verma & Mohanan 1990), woraus man schließen kann, dass dieses Prädikat oft nicht-kanonisch markiert ist. Diese Erkenntnisse können auch von den hier untersuchten alten idg. Sprachen bestätigt werden, in denen die Prädikate „ wissen “ , „ sehen “ und „ hören “ sogar in der nordwestlichen Peripherie der Indogermania, die unter normalen Umständen die nicht-kanonische Markierung bevorzugt, meistens kanonisch gebildet werden: im Altisländischen verlangen sjá „ sehen “ , heyra „ hören “ , kenna „ kennen “ , vita „ wissen “ regelmäßig ein Nominativ-Experiens. Andererseits kann das Prädikat „ gefallen “ sogar in denjenigen Sprachen nicht-kanonisch markiert werden, die am meisten kanonische Strukturen besitzen, wie im Heth. a šš iya-, Skr. ruc (3.59 b), Altgr. ἀρέσκει / 140 Wenn aber die Argumente der Prädikate „ sehen “ und „ hören “ in einer Sprache unterschiedlich markiert sind, wird „ sehen “ häufiger als „ hören “ transitiv gebildet. Während z. B. Altgr. ὁράω“ ich sehe “ einen Akkusativ-Stimulus regiert, ist der Stimulus bei ἀκούω „ ich höre “ im Genitiv ausgedrückt. Dieses Phänomen, das Parallelen in vielen anderen Sprachen hat, hängt m. E. mit der unterschiedlichen Evidentialität dieser Prädikate zusammen: die Informationsquelle von „ hören “ , die weniger direkt ist als die von „ sehen “ , wird auch weniger an die transitive Struktur des direkten Objekts angepasst. Diese indirekte Evidentalität kann auch durch PP in einer Sprache ausgedrückt werden: z. B. erlaubt das Italienische nur ein direktes Objekt mit „ sehen “ (ho visto Maria „ ich habe Maria gesehen “ vs. *ho visto di Maria), während mit „ hören “ auch die Präposition di möglich ist (ho sentito Maria „ ich habe Maria gehört “ ist grammatisch wie ho sentito di Maria „ ich habe von Maria gehört “ , obwohl die beiden nicht synonym sind); im letzteren Fall ist eine indirekte Informationsquelle vorausgesetzt, wobei ich etwas über Maria von jemand anderem erfahren habe. 213 <?page no="214"?> ἁνδάνει μοι , Lat. mihi libet, me delectat, ähnlich wie im an nicht-kanonischen Strukturen reichen Altirischen is maith la X: is maith limm in grían (ist gut: NOM mit.mir ART Sonne: NOM) „ ich mag die Sonne “ . 141 Im Allgemeinen läßt sich besser sagen, welche Prädikate meistens nichtkanonisch markiert sind als umgekehrt, da im syntaktischen Wandel, der von nicht-kanonisch zu kanonisch markierten Empfindungsprädikaten verläuft, die neue kanonische Struktur auf immer mehr Prädikate angewandt wird, unabhängig von ihrer Bedeutung. Neben dem Prädikat „ gefallen “ gibt es meiner Meinung nach eine Gruppe von Prädikaten, die im ganzen Bereich der alten idg. Sprachen und über deren regionale Unterschiede hinaus der syntaktischen Generalisierung der Argumentstruktur am meisten widersteht, und zwar Prädikate von negativen Empfindungen wie „ sich fürchten “ , „ krank sein “ , „ Unglück haben “ oder „ leiden “ . Es ist bedeutsam, dass sogar die am meisten kanonisch-markierten Sprachen wie das Altgriechische, das Hethitische, das Vedische und das klassische Armenisch genau für diese Prädikate ein obliques Experiens verlangen. Prädikate von positiven Empfindungen wie „ hoffen “ , „ sich freuen “ , „ Glück haben “ , die im Prinzip ebenfalls mögliche Kandidaten für die kanonische Markierung wären, werden in diesen Sprachen in der Tat anders betrachtet. 142 Bei solchen Verben ist zwar für den Stimulus der Dativ gebräuchlich, besonders im Slawischen ( „ der Dat. bezeichnet dasjenige, was man will, wünscht, hofft, glaubt “ , Miklosich 1874: 592, z. B. Aksl. dobromu ž itiju nade ˇ jachu se „ sie hofften auf ein gutes Leben “ ), aber nicht für das Experiens, wobei die Struktur noch persönlich und kanonisch markiert bleibt. Trotz ihrer unterschiedlichen Markierung stimmen Hethitisch und Latein in der Möglichkeit eines nicht-kanonischen Ausdrucks für das Prädikat „ sich fürchten “ überein: me veretur „ ich fürchte mich “ des Altlateinischen wird mit seinem 3. Person Verb und seinem Akkusativ-Experiens genau wie nah ˘ i=mu des Hethitischen gebildet. 143 Auch das Tocharische erlaubt neben seiner üblichen Nominativ-Kodierung des Experiens bei dem Prädikat „ sich fürchten “ (siehe Fußnote 130) auch eine alternative Struktur mit einem Genitiv-Experiens, wie in der folgende Stelle aus der 141 Dasselbe gilt für das semantisch nahe Adjektiv „ lieb “ (Heth. a šš u-, Ved. ś ivá-, Altgr. φίλος , Lit. mielas), die oft ein Dativ-Experiens verlangen (Vgl. Delbrück 1893: 295 - 96). Die hethitische Form haben wir am Anfang des Anitta-Texts: nepi š -zaš ta D I Š KURunni a šš u š e š ta „ Dem Wettergott des Himmels war er (sc. Anitta) lieb. “ (KBo III 22 2). 142 Natürlich meinen wir die Normaldarstellung eines Prädikats, weil aus dichterischen Gründen jedes Prädikat im Prinzip durch die archaischer klingende nicht-kanonische Markierung ausgedrückt werden kann. Aus diesem Grunde sind die folgenden Beispiele (3.67) und (3.68) aus Prosa-Texten entnommen. 143 Im Heth. nah ˘ i=mu kann jedoch das Klitikon von einem formalen Standpunkt aus sowohl Akkusativ als auch Dativ sein. 214 <?page no="215"?> Übersetzung des indischen Pun · yavanta-J ā taka ins Tocharische A (vgl. Sieg 1944: 4 ff): tsras · i śś i m ā praski nas · (stark: GEN.PL NEG Angst: NOM sein: PRS. IND3SG) „ Die Starken haben keine Angst. “ Dasselbe gilt für die Situation des Leidens und Bereuens, wie bei Vedisch tap „ Schmerz empfinden “ (3.56)-(3.58). Die lateinischen Ausdrücke me piget „ es tut mir leid “ und me miseret „ ich habe Mitleid “ finden eine nahe Entsprechung auch im Hethitischen (3.67). (3.67) [(nu-mu m Ar-ma- D U-a š ) k(u-it i š -h ˘ a-na-a š an-tu-uh ˘ š a-a š KONN-mir Arma-datta: NOM weil Blut(N): GEN.SG Mann(C): NOM e-e š -ta)] nam-ma-a š LÚ Š U.GI-an-za [(e-e š -ta) sein: PRÄT.IND3SG weiter-er: NOM Greis: NOM sein: PRÄT.IND3SG n(a-a š -mu-kán ú-wa-ya ? -at-ta-at) n(a-a)]n ar-h ˘ a da-a-li-ya-nu-un KONN-er: NOM-mir-PTK leid.tun: PRÄT.IND3SG KONN-ihn weg lassen: PRÄT.IND3SG „ Weil <vielmehr> Arma-datta ein Blutsverwandter war, ferner ein Greis war, tat er mir leid, und ich ließ ihn frei. “ (KUB I 1 + III 25 - 26; Übersetzung Otten 1981: 19) Das Prädikat úwaya- „ leidtun “ verlangt einen Obliquus, hier durch das Klitikon - mu „ mich “ oder „ mir “ ausgedrückt, während der Stimulus im Nominativ (a š ) steht. Die Semantik einer negativen Empfindung 144 144 Man beachte aber, dass nicht alle Prädikate negativer Empfindungen per se ein obliques Experiens verlangen, sondern nur diejenigen, die spontane Wahrnehmungen und wenig Kontrolle bezeichnen. Das können wir auch in der Apologie Hattusilis III. feststellen, aus der auch die Stelle (3.67) entnommen ist, und wo verschiedene Empfindungsprädikate das Experiens unterschiedlich markieren: „ Als da die Leute die Gewogenheit der I š tar, meiner Herrin, mir gegenüber und meines Bruders Gunst sahen, da beneideten sie (ar š anier, PRÄT.IND3PL) mich. Und Armadatta, der Sohn des Zid ā und dann auch andere Leute begannen mir Schwierigkeiten zu machen, und sie wollten mir übel (h ˘ uwappir, PRÄT.IND3PL). Für mich stand es ausgesprochen ungünstig (arpa š atta, PRÄT.IND3SG), und mein Bruder Muwatalli zitierte mich zum ‚ Rade ‘“ (KUB I 1 + I 30 - 36; Übersetzung Otten 1981: 7). Anders als ar š aniya- „ beneiden “ und h ˘ uwap(p)- „ hassen “ ist das Empfindungsprädikat arpa šā i- „ ungünstig werden, zum Mißerfolg werden “ mit einem obliquen Stimulus - mu unpersönlich gebildet. Denn während das Experiens „ Hass “ und „ Neid “ gegen Andere empfindet, was mit einer transitiven Argumentstruktur gewissermaßen kompatibler ist, wird die Situation des „ ungünstig Werdens “ vom Experiens nur passiv erlebt. Außerdem müssen wir bemerken, dass bei ar š aniya- „ beneiden “ die Syntax des Stimulus in dieser Stelle nicht eindeutig ist. Dieses Prädikat ist normalerweise intransitiv, und dementsprechend verlangt es ein Subjekt-Klitikon im Ausdruck n-a š ar š aniyat (KUB XIX 65 III 14). An unserer Stelle gibt es aber kein Klitikon, so dass auch eine transitive Lösung möglich wäre, obwohl das pronominale Klitikon - mu, das grammatisch sowohl Akkusativ als auch Dativ sein kann, nicht zur Interpretation beiträgt. Nach Craig Melchert (p. K.) ist es besser, ar š aniyafür ein intransitives Prädikat zu halten und gleichzeitig eine gewisse Flexibilität im Gebrauch der hethitischen Klitika anzuerkennen, weil die Grenzen zwischen unakkusativen und 215 <?page no="216"?> erscheint bei fast allen Prädikaten des Hethitischen, deren Experiens durch einen Obliquus oder eine PP nicht-kanonisch markiert wird. Ein Beispiel dafür ist idalawe š - „ schlecht werden, sich verschlechtern “ : nu wizzi apedani UNš i-pát idalawe š zi „ es wird geschehen, es wird diesem Mann schlecht gehen “ (KBo III 1 + IV); nušš i-kan ZI-za anda HUL-we š [ta „ sie wurde bekümmert “ (KUB XXXVI 35 I 25). Dasselbe gilt für h ˘ atuke š - „ erschreckt werden “ (z. B. m ā n ANA EN KARA Š . . . h ˘ atuki š zi „ wenn einem Feldkommandeur (die Situation) schrecklich wird “ , KUB VII 58 + 18 - 19) und für kallare š - „ unheilvoll werden “ : takku-za ÉLLAG UDU-a š tetan ki š a apedani UNš i kallare š zi „ wenn die Niere das tetan eines Schafes scheint, wird es diesem Mann unheilvoll ergehen “ (KUB IV 1 IV 29). In einer kanonischen Struktur ist kallare š anders gemeint und bedeutet ein ungünstiges Zeichen in der Wahrsagung, z. B. MU Š EN.HI.A gallare š ki[r „ Die Vögel zeigten Unheil an “ (KUB V 6 III 22), nu UZU NÍG.GIG.HI.A kallare š du „ mögen die Eingeweide unheilvoll werden “ . Prädikate des „ Krankseins “ zeigen eine auffällige nicht-kanonische Markierung überall in den alten idg. Sprachen. Die in (3.46) besprochene Stelle aus der Angelsächsischen Chronik, in der der Tod Wilhelms des Eroberers dargestellt wird, enthält die Prädikate ( ġ e)limpan „ geschehen, befallen “ , yfelian „ krank werden “ und e ġ lian „ plagen “ , die das Nomen des Erkrankten als Dativ-Experiens haben. Eine ähnlich unpersönliche Struktur für die Darstellung des „ Krankseins “ finden wir auch im klassischen Armenisch, das viel ärmer an nicht-kanonischen Strukturen ist als das Altenglische (3.68). (3.68) ew k ‘ anzi apakaneal ē r marmin-n iwr und weil beschädigt: NOM.SG sein: IPF.IND3SG Körper: NOM.SG-ART sein.eigen i c ˇ ‘ arac ˇ ‘ ar c ‘ awoc ‘ , or patahec ‘ in nma in grausam Schmerz: ABL.PL RP: NOM.PL befallen: AOR.IND3PL er: DAT.SG i Parsic ‘ a š xarhi-n yar ˙ a ǰ k ‘ an z-eawt ‘ n am in Perser: GEN.PL Land: LOK.SG-ART früher als z-sieben Jahr: AKK.SG „ Und weil sein eigener Körper von grausamen Schmerzen beschädigt war, die ihm im Land der Perser vor sieben Jahren befallen hatten “ (Moses Khorenatsi 2.30) Der häufige Gebrauch des obliquen Experiens und des Nominativ-Stimulus bei den Prädikaten negativer Empfindungen oder Zustände sogar in Sprachen wie dem Hethitischen oder dem klassischen Armenisch, die ansonsten am meisten die Funktion des grammatischen Subjekts auf verschiedene Empfindungsprädikate ausgedehnt haben, weist darauf hin, dass diese unergativen Verben auch in anderen Sprachen nicht fest sind. Somit wäre diese Stelle eine Darstellung solcher Flexibilität. 216 <?page no="217"?> Prädikate diejenigen sind, die die nicht-kanonischen Markierung am längsten bewahren. Das steht nicht im Widerspruch zu den Prädikaten negativer Empfindung, die in diesen Sprachen ein Nominativ-Experiens verlangen, wie z. B. Arm. trtmim „ ich bin traurig, betrübt, niedergeschlagen “ , weil diese Formen die diachron zunehmende kanonische Markierung generalisieren: wir müssen eher jene Fälle erklären, die sich dem Wandel von nicht-kanonischen zu kanonischen Empfindungsprädikaten nicht anpassen, oder die sich ihm später anpassen als andere Formen. Während Verben des Krankseins wie i š tarkneben dem Nominativ im Hethitischen auch einen Obliquus als Experiens verlangen (m ā n-mu i š tarkzi kuwapi „ wenn mich irgendwann Krankheit befiel “ , Hatt. I 44), sind die Prädikate „ gesund sein, gesund werden “ (h ˘ addule š - oder lazziyaim Medium, oft durch das Sumerogramm SIG 5 bezeichnet) regelmäßig mit einem NOM-Experiens in dieser Sprache verbunden: m ā n-a š h ˘ attul ēš zi kuwapi „ wenn er wieder genest “ (KUB XXII 70 Rs. 46); [irm]ala SIG 5 -attari „ wenn der Patient genest “ (KUB VIII 19 I 14). Diesem Gebrauch des obliquen Experiens und des Nominativ-Stimulus bei Prädikaten negativer Empfindungen liegen wahrscheinlich auch kognitive oder kulturelle Faktoren zugrunde, weil Krankheiten, Leid oder Unglück oft als personifizierte Kräfte der Natur erscheinen, die das Leben der Menschen auf gefährliche Art beeinflussen. Es genügt, einige Hymnen der Atharvaveda zu lesen, um diese Auffassung aktiver, willensmäßiger, böser Entitäten zu erkennen, die in den alten idg. Sprachen überall belegt ist. Gefühle von Freude, Hoffnung und anderen positiven Einstellungen wurden weniger dem Einfluss externer Kräfte zugeschrieben. 145 Ohne die möglichen außerlinguistischen Faktoren zu diskutieren, ist für uns die besondere Verteilung negativer Empfindungsprädikate wichtig als ein weiterer Beweis dafür, dass der Wandel von nicht-kanonischen zu kanonischen Strukturen weder abrupt noch regelmäßig war, sondern dass dieser Wandel stark von den semantisch-lexikalischen Merkmalen der jeweiligen Prädikate bedingt war. Außerdem wird unsere Hypothese, dass Prädikate negativer Empfindung häufiger nicht-kanonisch markiert bleiben als ihre Entsprechungen positiver Empfindungen, von der Anwesenheit typologischer Parallelen unterstützt: wie in § 1.4.1 diskutiert, bekommt die Annahme einer Funktion in den toten Sprachen eine höhere Validierung, wenn sie auch für moderne Sprachen bewiesen ist. Hagège (1993: 93 ff) berichtet Fälle aus mehreren Sprachen wie dem Moore (einer Niger-Kongo Sprache, gesprochen in Burkina Faso) und dem Usan (einer Madang-Sprache, gesprochen in Neu- 145 Eine Ausnahme ist wie gesagt das Prädikat „ gefallen “ , das sprachübergreifend auch ein obliques Experiens begünstigt. Normalerweise wird hier der syntaktische Wandel von nicht-kanonischer zu kanonischer Markierung von einem semantischen Wandel zu „ erfreuen “ begleitet (Engl. please). 217 <?page no="218"?> guinea), in denen Empfindungsprädikate unterschiedliche morphosyntaktische Strukturen haben, je nachdem ob sie positive oder negative Zustände bezeichnen. Im Moore selegiert das Verb tár(à) „ haben, besitzen “ das Nomen des Experiens als grammatisches Subjekt mit Ausdrücken positiver Empfindungen oder Qualitäten, z. B. à tárà rá ōō d ō (er hat Mut) „ er ist mutig “ ; mit negativen Zuständen hingegen wird der Stimulus zum Subjekt und vor dem Verb gestellt, z. B. s ũ kíir n tár à (Eifersucht TOP.M hat ihn) „ er ist eifersuchtig “ . Die letztere Struktur ist auch die typische für Prädikate wie „ Hunger oder Durst haben “ . Da negative Empfindungen wie physische Bedürfnisse oder Krankheiten eine niedrige Kontrolle des Experiens voraussetzen, werden sie auch kaum von transitiven Strukturen ausgedrückt, wie in § 3.3.1 illustriert, für die Volitionalität ein wichtiger Faktor ist. 146 3.6 Kanonizität in den alten und in den modernen idg. Sprachen Obwohl ebenso wie die meisten modernen Sprachen Europas auch einige alte idg. Sprachen wie Altgriechisch, Hethitisch, Vedisch und klassisches Armenisch normalerweise die kanonische Markierung benutzen, können wir feststellen, dass die kanonischen Strukturen in diesen Sprachen nicht immer vergleichbar sind. Kanonische Strukturen in einer modernen idg. Sprache wie dem Englischen bedeuten, dass genau dieselbe Struktur für Tätigkeitsverben wie für Empfindungsverben oft benutzt wird. Nichts unterscheidet im Englischen von einem formalen Standpunkt aus Tätigkeitsverben wie I write, I go, I play tennis von Empfindungsverben wie I like, I have a headache, I feel tired: alle verlangen dieselbe Wortstellung und dieselbe verbale Kongruenz zwischen dem Verb und einem expliziten Subjekt. Für diese Sprachen kann man also wirklich zu Recht sagen, dass Empfindungsverben durch und durch kanonische Strukturen verwenden. In den alten idg. Sprachen hingegen stimmt die Bildung der Empfindungsverben mit der der Tätigkeitsverben nicht völlig überein, auch wenn beide den Nominativ für das Experiens verlangen. Denn Empfindungsverben haben normalerweise das Medium, wie im Altgriechischen δέρκομαι und θεάομαι „ ich sehe “ , μιμνήσκομαι „ ich erinnere mich “ , λαν θάνομαι „ ich vergesse “ , im Altindischen rámate „ er ist froh “ , im Hethiti- 146 Auch in für uns vertrauteren Sprachen haben Wörter negativer bzw. positiver Eigenschaften unterschiedliche Grammatikalisierungspfade: Claudi (2006) findet heraus, dass die ersteren viel häufiger als die letzteren die Quelle eines Intensifikators im Deutschen und in anderen Sprachen Europas sind, wie beim Adjektiv wahnsinnig im Sinne von „ sehr gut “ im Satz Die Party war wahnsinnig, oder wie der Gebrauch von Engl. crazy im Ausdruck crazy good (= very good). 218 <?page no="219"?> schen armaniya- „ erkranken “ , kartimmiya- „ zürnen, grollen “ , úwaya- „ leidtun “ , im klassischen Armenisch erknc ˇ‘ im „ ich fürchte mich “ , sarsim „ ich zittere (aus Furcht) “ , aysaharim „ ich bin besessen “ , kamim „ ich will “ . Dasselbe gilt für die Deponentia des Lateinischen, z. B. laetor „ ich bin froh “ , reminiscor „ ich erinnere mich “ , obliviscor „ ich vergesse “ . Es ist bekannt, dass in einer Sprache das Medium eher für Situationen benutzt wird, die kaum transitiv sind, in denen das Subjekt kein echtes Agens ist und wenig Kontrolle über die Handlung hat (Kemmer 1993; Klaiman 1991; Allan 2003). 147 Das Reflexivum, das in mehreren modernen idg. Sprachen statt des alten Mediums die Degradierung des Agens ausdrückt (vgl. Solstad & Lyngfelt 2006), wird im Hethitischen auch mit Empfindungsprädikaten verwendet: du š k- und du š kiya- „ sich freuen, fröhlich sein “ werden meistens mit der Reflexivpartikel - za benutzt, und wie oben ausgeführt bedeutet au š - „ sehen “ mit der Reflexivpartikel „ an sich sehen, erleben, erfahren, träumen “ . Die geringe Transitivität der Empfindungsprädikate kann auch durch die Ableitung ausgedrückt werden, besonders durch Suffixe auf *ē -, * - ye/ o- und *-sk ’ -. Die ē -Verben bezeichnen einen Zustand und sind besonders häufig im Lateinischen, z. B. algeo „ mir ist kalt “ , gaudeo „ ich bin froh “ , video „ ich sehe “ , doleo „ ich leide “ (vgl. § 2.5); dieselbe ē -Bildung erscheint in Impersonalia wie me piget „ es tut mir leid “ , me paenitet „ ich bereue “ , me placet/ libet „ ich finde für gut, es gefällt mir “ . Das Suffix - ye/ o, das normalerweise auch einen Zustand oder eine Eigenschaft bedeutet, wird oft für Denominalia mit verschiedenen Bildungen benutzt. Im Altindischen haben wir ks · údhyati „ ich habe Hunger “ (vgl. ks · údh- „ Hunger “ ), tr ·´s · yati „ ich habe Durst “ (vgl. tr ˚ s · -, tr ˚ s · ā -, tr ˚ s · n · ā - „ Durst “ ), krúdhyati „ er ist verärgert “ (vgl. krudh-/ kródha- „ Ärger “ ), kúpyati „ id. “ (vgl. kópa-), Kulikov (2012) hat eine ausführliche Studie des Suffixes - yaim Vedischen durchgeführt und seinen ursprünglichen Wert als Antikausativum bewiesen. Im Altgriechischen ergibt - ye/ o Formen wie ἀλγέω „ ich leide “ (< * ἀλγε -y ω , vgl. ἄλγος „ Leid “ ), θαμβέω „ ich bin überrascht “ (vgl. θάμβος „ Überraschung “ ), πεινάω „ ich habe Hunger “ ( πεῖνα „ Hunger “ ), διψάω „ ich habe Durst “ ( δίψα „ Durst “ ), ῥιγόω „ ich friere “ ( ῥῖγος „ Kälte “ ), χαίρω „ ich bin froh “ ( χάρις „ Gnade “ , Skr. háryati), εὐτυχέω „ ich bin glücklich “ ( εὐτυχή „ Glück “ ), εὐδαιμονέω „ id. “ ( εὐδαίμων „ glücklich “ ). Im Hethitischen gibt es mehrere denominale Empfindungsprädikate mit dem Suffix - iya-, z. B. ar š aniya- „ beneiden “ aus *ar š an(a)- „ neidisch “ . 147 Auch außerhalb der Empfindungsverben können Medialformen Prädikate charakterisieren, die eine besondere Beziehung zur nicht-kanonischen Markierung haben, wie Modalverben, vgl. das Medium des Heth. ki š - „ geschehen “ . Auf alte Perfekte, die auch eine Funktion ähnlich der des Mediums hatten, gehen die Verben des klassischen Armenisch gitem „ ich weiß “ (Altgr. οἶδα ) und ownim „ ich habe “ (Ved. sanóti, Heth. š anh ˘ -) zurück. 219 <?page no="220"?> Außerdem hat Hethitisch einen produktiven Gebrauch besonders des Inkohativsuffixes š k-, das verschiedene Nuancen des imperfektiven Aspekts ausdrückt (progressiv, durativ, habituell, iterativ - vgl. Friedrich 1960: 140ff; Josephson 1986; Cambi 2007) und das bei Empfindungsprädikaten oft erscheint, z. B. ta š kupi š ka- „ klagen, heulen “ , wi š ka- „ id. “ . Auch das Suffix -ā ibildet im Hethitischen denominale Verben und kann Empfindungsprädikate charakterisieren, z. B. genzuw ā i- „ sich erbarmen “ aus genzu- „ Mitleid “ , i š h ˘ ah ˘ ruw ā i- „ Tränen vergießen, weinen “ aus i š h ˘ ah ˘ ru- „ Träne “ . Denominale Empfindungsprädikate sind auch im klassischen Armenisch zahlreich: yagenam „ ich sättige mich “ aus yag „ satt “ , xndam „ ich freue mich “ aus xind „ Freude “ , hac ˇ im „ ich bin zufrieden “ aus hac ˇ „ zufrieden “ , hogam „ ich mache mir Sorge “ aus hog „ Sorge “ (Altgr. μέριμνα ), z łǰ anam „ ich bereue “ aus zi łǰ „ Reue “ , yi š atakem „ ich erinnere mich “ aus yi š atak „ Gedächtnis “ , c ‘ ankanam „ ich wünsche “ aus c ‘ ank „ Wunsch “ . Auch diese denominalen Bildungen bezeichnen eher Zustände als dynamische Prozesse, und deshalb drücken sie ein niedrigeres Niveau von Transitivität aus. Wegen ihrer ähnlichen Funktion treten die denominale Bildung des Verbs und das Medium zusammen auf, wie in den Media des Altgriechischen ἄχθομαι „ ich fühle mich bedrückt “ aus ἄχθος „ Last “ , λυπέομαι „ ich betrübe mich “ aus λύπη „ Betrübnis, Trauer “ , wie im Hethitischen a šš iya- „ gefallen “ aus a šš u- „ gut “ , irmaliya- „ erkranken “ aus irmala- „ krank “ , ki š tanziya- „ Hunger haben “ aus ki š tant- „ Hunger “ (seinerseits von ka š t- „ Hunger “ abgeleitet), wie im klassischen Armenisch erazim „ ich träume “ aus eraz „ Traum “ , zc ˇ ‘ arim „ ich bin unzufrieden “ aus (Präfix zund) c ˇ ‘ ar „ schlecht, böse “ , o ł ormim „ ich habe Mitleid “ aus o ł orm „ Mitleid “ , txrim „ ich werde traurig “ aus txowr „ traurig “ , naxanjim „ ich beneide “ aus naxanj „ Neid “ , hototim „ ich rieche “ aus hot „ Geruch “ . Es ergibt sich also, dass ein Empfindungsprädikat, wenn es im Altgriechischen und im Hethitischen im Aktiv steht, auch denominal sein oder durch ein Suffix, dem typischerweise eine geringe Transitivität zugewiesen ist, abgeleitet werden kann, wie Heth. ar š aniya-, ta š kupiska-, genzuw ā i-. Empfindungsprädikate, die im Aktiv stehen und keine Ableitung dieser Art zeigen, scheinen mir unüblich zu sein. Eine desiderative Bildung liegt dem lateinischen Verb esurio „ ich habe Hunger “ (wörtl. „ ich will essen “ ) zugrunde: dieses Prädikat wird durch Formen beschrieben, die anderswo einen Bedarf oder einen Willen ausdrücken, vgl. empturio „ ich will kaufen “ , micturio „ ich will urinieren “ , sullaturio „ ich möchte ein Sulla werden, ich spiele die Rolle des Sullas “ (vgl. Meillet & Vendryes 1979: 284). Die modale Semantik des Bedürfnisses, das auch einen Zustand bezeichnet, ist durch das desiderative Suffix sichtbar. Daher hatten Empfindungsprädikate und ihre nominalen Ergänzungen eigentlich nicht dieselbe Struktur wie Tätigkeitsverben, auch wenn sie in einigen Sprachen wie dem Altgriechischen, dem Hethitischen, dem Altin- 220 <?page no="221"?> dischen und dem klassischen Armenisch ein Nominativ-Subjekt bekamen. Für die alten idg. Sprachen sehe ich den Unterschied zwischen kanonischer und nicht-kanonischer Markierung eher als eine Frage des locus der Markierung: nicht-kanonische Strukturen wie Lat. me piget „ es tut mir leid “ drücken ihre geringe Transitivität auf dem Nominal me aus, dessen Kasus gegen die Regel des Nominativ-Subjekts verstößt. Dagegen erscheint die geringe Transitivität in den kanonischen Strukturen wie Altgr. λυπέομαι „ ich betrübe mich “ auf dem Verb, in diesem Fall sowohl im Medium als auch in der denominalen Bildung. Wie ein Obliquus im Vergleich zum Nominativ höher in seiner Markiertheit (markedness) 148 für das primäre Argument ist, ist auch das Medium höher in seiner Markiertheit als das Aktivum in der verbalen Flexion, und deswegen wird es für ein zweistelliges Prädikat mit geringerer Transitivität ausgewählt, das weniger typisch als das zweistellige Tätigkeitsverb einer transitiven Proposition ist. Dagegen wird die geringe Transitivität der Empfindungsprädikate von den kanonischen Strukturen der modernen Sprachen Europas oft nicht ausgedrückt. Diese Prädikate können zwar eine denominale Bildung haben, aber die Beziehung zwischen der nominalen Quelle und dem Empfindungsprädikat ist meistens lexikalisiert und wird nicht wie in den alten idg. Sprachen durch produktive derivationale Verfahren gebildet. Im Altgriechischen und im Indoiranischen, die die kanonische Markierung bevorzugen, ist das Medium nicht nur eine lebendige Kategorie, sondern auch formal getrennt vom Passiv (wenn auch nicht in allen Formen des verbalen Paradigmas) und deswegen deutlich identifizierbar: während das Medium sein eigenes Spektrum von Endungen hat, bekommt das Passiv im Altgriechischen das Suffix - ( θ ) η -/ ( θ ) ησ im Aorist bzw. Futur und im Altindischen das Suffix - yaim Präsens und die Endung -iim 3SG Aorist. Auf ähnliche Art ist das Medium in diesen Sprachen formal getrennt 148 Man darf an diesem Punkt die Fachausdrücke „ Markierung “ und „ Markiertheit “ nicht mißverstehen, die auch im Englischen ähnliche Formen (marking vs. markedness) und trotzdem ganz andere Bedeutungen haben. Unter „ Markierung “ versteht man eine morphosyntaktische Kodierung durch Kasus und verbale Kongruenz, die mehr oder weniger kanonisch in Bezug auf den typischen transitiven Satz sein kann, genau wie man im Englischen von (non-)canonical marking spricht. „ Markiertheit “ hingegen bedeutet, dass ein Phänomen weniger häufig oder weniger erwartet ist, wie Medium vs. Aktiv oder Plural vs. Singular. Die formalen Korrelate der Markiertheit sind einerseits defektive Formen oder Phänomene von Synkretismus und andererseits eine zusätzliche Form, wobei, wenn zwei Strukturen sich in der Anzahl der Morpheme unterscheiden, markierte Formen normalerweise morphologisch länger sind (vgl. Croft 2003: 87 ff). „ Markiert “ (marked) kann im Sinne sowohl der (nicht-)kanonischen Markierung als auch der Markiertheit verstanden werden, und wir verwenden diesen Terminus hier auch in beiden Bedeutungen, doch aus dem Kontext sollte es klar sein, welche von beiden gemeint ist. 221 <?page no="222"?> vom Reflexivum, das im Altgriechischen pronominale Formen ( ἑαυτόν ) und im Altindischen nominale Formen (tan ū ´ - „ Körper, selbst “ und ā tmán- „ Seele, selbst “ ) verwendet. Im Allgemeinen sind das Altgriechische und das Altindische diejenigen zwei alten idg. Sprachen, die am meisten Angaben am Verb kodieren. Als sich in der Geschichte des nachklassischen Indisch das System des Genus Verbi änderte und sich das Passiv auf Kosten des Aktivs entsprechend der zunehmenden Ergativität verbreitete, verlor die verbale Morphologie ihre ursprünglichen Ausdrucksmöglichkeiten für die geringe Transitivität, und nicht-kanonische Strukturen wurden gebildet, die in den neuindischen Sprachen am offensichtlichsten sind. In den anderen idg. Sprachen hingegen gibt es normalerweise eine Überlappung zwischen Medium und Passiv, wie im Fall der Deponentia im Lateinischen (videor „ ich scheine “ ist gebildet wie laudor „ ich werde gepriesen “ ) oder zwischen Medium und Reflexiv, wie im Fall der - si-Form des Litauischen (sangr ąž inis veiksma ž odis, z. B. d ž iaugtis „ froh sein “ , gintis „ sich verteidigen “ , vgl. Senn 1966: 251 - 53; Schmalstieg 2000: 47 ff). Das Altirische hat zwar ein Passiv und - innerhalb des Aktivs - eine besondere Flexion für Deponentia (das Passiv ist nicht-promotional, z. B. no-m-charthar, PRÄV-mich-liebe: PASS „ ich werde geliebt “ ), aber es hat kein Reflexivum, wofür die Personalpronomina (und für die dritte Person die Demonstrativpronomina) verwendet werden. Außerdem ist das idg. Medium im Keltischen, Germanischen, Baltischen und Slawischen im Verfall. Die formale Spezifität des Mediums im Altgriechischen und Indoiranischen trägt also zu den Ausdrucksmöglichkeiten des Verbs bei Propositionen geringer Transitivität als „ Ausgleich “ für das oblique Experiens anderer Sprachen bei. 149 149 Im Hethitischen und klassischen Armenisch, in denen die Ausdrucksmöglichkeiten des Verbs viel ärmer als im Vedischen und Altgriechischen sind, ist das Medium jedoch auch produktiv und deutlich identifizierbar. Im klassischen Armenisch, in dem das Medium und das Passiv eine gemeinsame Flexion haben, hat das Medium eine transparente Beziehung zum Aktiv, so dass der - em Konjugation des Aktivs regelmäßig die - im Konjugation des Mediums/ Passivs entspricht. Die reflexive Funktion ist im klassischen Armenisch durch andere (sowohl nominale als auch pronominale) Ausdrücke vom Medio-Passiv unterschieden (vgl. § 2.3.2.5). Im Hethitischen konnte die geringe Transitivität des Satzes neben dem Medium und der reflexiven Partikel - za-, die nach Oettinger (1997) eine affektive Bedeutung ähnlich einem dativus commodi/ incommodi hat, auch durch die h ˘ i-Konjugation kodiert werden. Der heth. h ˘ i-Konjugation, die ähnliche Endungen wie das uridg. Perfekt hatte, wird oft eine mediale Funktion zumindest für ihre ältesten diachronen Stufen zuerkannt, während sie synchron ihre Funktionalität verliert und sowohl mediale als auch aktive und sogar agentive Verben einschließt (vgl. Neu 1968 a; 1968 b; Tischler 1982; W. Lehmann 1993: 218 - 220; Jasanoff 2003; Rose 2006; Cotticelli Kurras & Rizza 2013). Tatsächlich können die hethitischen Empfindungsprädikate die h ˘ i-Konjugation bekommen, wie im Fall von au š - „ sehen “ und i š p ā i- „ sich mit Essen befriedigen “ . Außerdem ist, obzwar im Hethitischen das Medium auch eine passive Funktion 222 <?page no="223"?> Während das Medium eine Situation im Interessengebiet des Subjekts bezeichnet, wie seine indische Benennung ā tmanepadam „ Wort für sich selbst “ (P ā n· . 1. 4. 100; 3.12) treffend beschreibt, und sich deswegen besonders an die Funktion der Empfindungsprädikate anpasst, konnten die typischen Funktionen der Modalprädikate, d. h. Möglichkeit, Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit durch die Modi ausgedrückt werden, die auch eine Einstellung, einen Glauben oder eine Beurteilung kodieren. Es ist verständlich, dass das Altgriechische, das sowohl den Konjunktiv als auch den Optativ bewahrt, oft durch die Form der Modi jene Funktion ausdrückt, die andere idg. Sprachen durch Impersonalia darstellen. Das könnte auch der Grund sein für die Lehre der Schulgrammatiken, die besagt, dass das unpersönliche Passiv im Altgriechischen viel beschränkter ist als im Lateinischen (vgl. Bornemann & Risch 1978: 213). Dem Altgriechischen fehlen unpersönliche passive Ausdrücke für intransitive Verben wie Lat. itur „ man geht “ , und auch bei transitiven Verben kann ein unpersönliches Passiv wie λέγεται „ man sagt “ eine persönliche Umschreibung bekommen, in der das Gesagte zum Subjekt eines accusativus cum infinitivo oder eines von ὅτι eingeführten finiten Ergänzungssatzes wird. Die Zuverlässigkeit der Arbeitsteilung zwischen verbaler und nominaler Morphologie im Ausdruck der kaum transitiven Sätze der alten idg. Sprachen findet Unterstützung im typologischen Vergleich. Die dravidischen Sprachen zeigen bei Empfindungsprädikaten eine Nominativ- Dativ-Alternanz: wenn das Experiens im Dativ steht, hat das Verb seine einfache, nicht-abgeleitete Form (3.69 a). Wenn hingegen das Experiens im Nominativ steht, bekommt das Verb ein oder mehr Suffixe (3.69 b). Kannada (Dravidisch; Amritavalli 2004: 11) 150 (3.69 a) avan-ige koopa ban-tu he-DAT anger come-PST-3SG „ He felt angry. “ (Lit. „ anger came to him. “ ) ausdrücken kann, dieser Gebrauch relativ selten: Das Passiv wird eher von einer Periphrase wiedergeben, die aus dem Partizip und dem Verb e š „ sein “ besteht ( „ The medio-passive form of the verb is not the preferred choice for expressing the passive of verbs that exist in the active. Usually a construction employing the (passive) participle in -antof a transitive verb plus a finite form of the verb „ to be “ is employed “ , Hoffner & Melchert 2008: 304; vgl. auch Friedrich 1960: 111), z. B. DUMU.SAL piianza e š ta „ ein Mädchen war gegeben worden “ . 150 Hier die Abkürzungen dieser Beispiele von Amritavalli (2004): PST = Past; VBLISER = verbalizer; VBLRFL = verbal reflexive. In diesen Sätzen kann man auch sehen, wie die für Dravidisch typische Argumentstruktur mit aus dem Indoarischen entliehenen Lexemen dargestellt werden kann: kopa „ Ärger “ ist ein Wort des Altindischen. Das stimmt mit der Tatsache überein, dass der lexikalische Wandel auch dem äußeren Einfluss ausgesetzter ist. 223 <?page no="224"?> (3.69 b) avanu koop-isi-koND-anu he-NOM anger-VBLISER-VBLRFL-PST.3SGM „ He felt angry. “ (Lit. „ he angered. “ ) Amritavalli stellt einen Zusammenhang zwischen der Nominativ-Dativ- Variation des Experiens und dem Gebrauch der verbalen Derivation im Kannada fest und postuliert, dass die Abwesenheit solcher derivationaler Verfahren ein Grund dafür sein könnte, dass das Englische kein Dativ- Experiens hat: „ The question is why English does not have productive alternations like ‘ an idea came to him; *he idead ’ . Kannada and English seem to differ in their possibilities for deriving verbal predicates. Whereas Kannada regularly allows nominals to be verbalized, English is far more reticent in converting nouns to verb (*he angered / surprised), although it readily relates adjectives to verbs (sharpsharpen). This may perhaps be related to the lack of a morphological causative in English “ (Amritavalli 2004: 13). Diese Situation ist so deutlich im Kannada, weil die agglutinierende Morphologie die Struktur des Prädikats transparent macht, aber wir können hier dieselben Prinzipien beobachten, die in der Variation zwischen der kanonischen Markierung des Altgriechischen, des klassischen Armenisch, des Hethitischen und des Altindischen und der nicht-kanonischen Markierung des Altisländischen, des Altirischen und des Altlitauischen zusammenspielen, obwohl in diesen Fällen die verbale Morphologie neben der Derivation auch die Flexion ausnutzt. 151 Die Sprachtypologie bietet auch weitere Parallelen an. Im Tukang-Besi, einer austronesischen Sprache Indonesiens, kann ein Nominal mit jeder beliebigen semantischen Rolle zum Subjekt des Satzes werden, und die Identifizierung der Funktion des Subjekts wird nicht durch den Kasus angezeigt, der fast unverändbar ist, sondern von einem komplizierten System verbaler Genera (vgl. Donohue 2009). Angesichts der Belege aus mehreren Sprachen wurde die Konkurrenz zwischen nominaler und verbaler Markierung für den Ausdruck der syntaktischen Funktionen auch von formalen Modellen besonders im Rahmen der Optimalitätstheorie beschrieben, wobei Unterschiede in der Prominenz der Argumente im Input eines transitiven Satzes einen Wechsel entweder im Kasus oder in der Diathese im Output auslösen können (vgl. Legendre et al. 1993; Sells 2001; Malchukov 2006). 151 Die alten idg. Sprachen halten dem Vergleich mit dem Kannada sogar besser stand als das Englische, in dem nicht nur Strukturen wie he idead fehlen, wie Amritavalli richtig bemerkt, sondern auch transitive Strukturen wie he had an idea zum Ausdruck des Dativ-Experiens bevorzugt sind gegenüber Strukturen wie an idea came to him. 224 <?page no="225"?> 3.7 System-Dependenz der syntaktischen Funktionen im Indogermanischen 3.7.1 Asymmetrie in der Markierung des ersten vs. zweiten Arguments Obwohl der Begriff der (nicht-)kanonischen Markierung sowohl das Subjekt als auch das direkte Objekt betrifft, haben wir bis jetzt besonders das Subjekt betrachtet, weil in den alten idg. Sprachen die zwei Argumente eines bivalenten Verbs wie das Experiens und der Stimulus nicht dieselben Möglichkeiten haben, eine kanonische Struktur zu bekommen, sondern verschiedenen Pfaden mit unterschiedlicher Geschwindigkeit folgen: das Experiens bekommt früher als der Stimulus eine kanonische Markierung, oder anders gesagt, das Subjekt wird früher grammatikalisiert als das direkte Objekt bei zweistelligen Prädikaten. Wenn wir diejenigen Sprachen berücksichtigen, die eine vorzugsweise kanonische Markierung des Experiens im Nominativ zeigen, wie das Altgriechische, das Vedische, das Hethitische, das klassische Armenisch und wahrscheinlich auch das Tocharische, können wir feststellen, dass sie keine bestimmte Kodierung des Stimulus im Akkusativ haben, sondern dass der erwartete Akkusativ oft neben anderen obliquen Kasus steht. Neben der üblichen Nominativ-Kodierung des Experiens für das Prädikat pärsk- „ sich fürchten “ (vgl. Fußnote 130) hat das Tocharische B sowohl einen Genitivals auch einen Perlativ-Stimulus, die sogar in demselben Text nebeneinander vorkommen. Im Lied für den Tod (Pinault 2008: 15 ff) sagt der Sprecher zuerst k ā ni ś s · eske tañ pr ā skau (warum ich: NOM allein du: GEN Angst.haben: PRS.KONJ1SG) „ warum sollte ich vor Dir allein Angst haben? “ und danach cisa pr ā skau pon prekenne (du: PERL Angst.haben: PRS.KONJ1SG alle Zeit: LOK.PL) „ ich habe Angst vor Dir jederzeit “ . Im ersteren Satz ist der Stimulus durch tañ bezeichnet, den Genitiv SG des Personalpronomen der 2. Person twe; im letzteren Satz wird hingegen die Form cisa, der Perlativ SG desselben Pronomens, für den Stimulus benutzt. Im Altindischen werden sowohl der Genitiv als auch der Akkusativ für smárati „ er erinnert sich “ und ví-smarati „ er vergisst “ benutzt, und ś ócati regiert den Akkusativ in der Bedeutung „ er bedauert “ und den Lokativ in der Bedeutung „ es tut ihm leid “ . Im Altgriechischen regiert μιμνήσκομαι „ ich erinnere mich “ entweder den Akkusativ oder den Genitiv, und dasselbe gilt für ἐπιλανθάνομαι „ ich vergesse “ . Wenn das präfigierte Verb beide Kasus hat, ist der Genitiv normalerweise die ältere Kodierung: λανθάνομαι „ ich vergesse “ wird nur mit dem Genitiv gebildet, und der Akkusativ mit ἐπιλανθάνομαι wird vom Präverb bedingt. Denn Präverbien drücken in den alten idg. Sprachen ein höheres Niveau an Transitivität aus. 225 <?page no="226"?> Auch außerhalb des Bereiches der Empfindungsprädikate wird der Genitiv im Altgriechischen, manchmal neben anderen Obliquen, als Kasus der Ergänzung regelmäßig mit zahlreichen Verben benutzt, wie u. a. „ hören, wahrnehmen, merken “ ( ἀκούω , ep. κλύω , αἰσθάνομαι , συνίημι ), „ anfassen, berühren “ ( λαμβάνομαι , ἅπτομαι , ψαύω , θιγγάνω ), „ streben, begehren “ ( ἐράω , ἐπιθυμέω , ἐφίημαι , γλίχομαι , ὀρέγομαι ), „ schießen nach, zielen “ ( στοχάζομαι , τοξεύω ), „ erlangen, verfehlen “ ( τυγχάνω , ἁμαρτάνω ), „ genießen, essen, trinken “ ( ἐσθίω , πίνω ), „ füllen “ ( πληρόω ), „ teilnehmen “ ( μετέχω , κοινωνέω ) (vgl. Schwyzer 1950: 101 ff). Mit diesen Verben hat der Genitiv oft eine partitive Funktion, und deshalb ist seine Bedeutung noch konkreter als im Fall des Akkusativs, der die partitive vs. vollständige Interpretation oft unspezifisch lässt. Da der Genitiv des Altgriechischen das Ergebnis des Synkretismus von uridg. Genitiv und Ablativ darstellt, ist sein funktionaler Bereich auch entsprechend größer als der des Genitivs im Altindischen, in dem der ursprüngliche Ablativ noch bewahrt ist. Auch im Altindischen erscheint aber der Genitiv als verbale Ergänzung, nochmals als Variante anderer Obliqui, besonders mit Prädikaten, die eine partitive Bedeutung voraussetzen, wie „ teilnehmen “ (bhaj), „ essen, trinken “ (a ś , p ā ), „ genießen “ (tr ˚ p, kan, mad), „ hören “ ( ś ru), „ bemerken, denken, wissen “ (cit, budh, vid), vgl. Speyer (1886: 88ff; 1896: 18 ff); Dahl (2009). Weitere oblique Kasus können auch die Ergänzung eines Verbs ausdrücken, wie der Dativ im Altgriechischen sowie der Dativ, Instrumental, Ablativ und Lokativ im Altindischen. Das ist ein Beweis dafür, dass die alten idg. Sprachen mehr Heterogenität in der Funktion des sekundären Arguments als des primären Arguments des Satzes tolerieren. Wir können daher folgende Implikationsskala vorschlagen (3.70): (3.70) nicht-kanonisches Objekt > nicht-kanonisches Subjekt. Wenn eine idg. Sprache produktive nicht-kanonische Subjekte bei zweistelligen Prädikaten hat, wenn also das primäre Argument des Satzes oft in einem anderen Kasus als dem Nominativ steht, hat sie auch produktive nicht-kanonische Objekte, d. h. das sekundäre Argument des Satzes kann auch in andere Kasus als den Akkusativ flektiert werden. Das ist z. B. der Fall im Altirischen und Altisländischen. Wenn hingegen eine Sprache produktive nicht-kanonische Objekte hat, können wir im Prinzip nicht wissen, ob sie auch für das Subjekt produktive nicht-kanonische Strukturen hat, wie im Lateinischen und Litauischen, oder eben nicht, wie im Altgriechischen und Altindischen. Eine solche Implikation bestätigt die syntaktische Asymmetrie zwischen dem Subjekt und den anderen syntaktischen Funktionen, die seit den ältesten Stufen der idg. Sprachen erkennbar ist. Da das Objekt ein inneres Argument ist, gibt es eine engere syntaktische Beziehung zwischen Prädikat und direktem Objekt als zwischen Prädikat und Subjekt, wie bekanntlich Redewendungen zeigen, die eher Objekt- 226 <?page no="227"?> Verb-Paare als Subjekt-Verb-Paare darstellen (vgl. Bresnan 2001: 10 ff). Deswegen wird der ursprüngliche Kasus der Ergänzung auch diachron besser bewahrt. Dasselbe gilt für den Ausdruck der ausfüllenden Argumente. Es gibt in den Sprachen oft nicht nur ein ausfüllendes Subjekt wie in es regnet, sondern auch ein ausfüllendes Objekt wie in Engl. beat it, wo das Pronomen keinen Referenten bezeichnet. Die Frage einer möglichen Beziehung zwischen diesen Ausdrücken wird von Lambert (1997: 312) gestellt: „ On peut ici se demander si le statut de « sujet vide » du sujet du verbe impersonnel en français, allemand, anglais, est comparable à celui de certains pronoms non référentiables, dans d ’ autres fonctions que celle de sujet, comme anglais go it alone, take it easy, make it up, français l ’ emporter, y arriver, s ’ en aller (où l ’ , y, et en ne sont plus des anaphoriques proprement dits). “ Lamberts Antwort ist negativ: „ En fait, le sujet de l ’ impersonnel n ’ est pas comparable “ . M. E. kann man dennoch auch in diesem Fall eine Implikation postulieren: wenn eine Sprache ausfüllende Subjekte hat, hat sie auch ausfüllende Objekte, aber nicht umgekehrt, d. h. eine Sprache kann ausfüllende Objekte ohne ausfüllende Subjekte haben: (3.71) ausfüllendes Objekt > ausfüllendes Subjekt. Z. B. hat das Italienische kein ausfüllendes Subjekt, aber es kann ausfüllende Objekte haben, in lexikalisierten Ausdrücken wie ce la faccio „ ich kann es schaffen “ oder me la prendo, umgangsprachlich für „ ich bin empfindlich “ . Das geht konsequent mit der Tatsache einher, die wir in § 4 diskutieren werden, nämlich dass Null-Anaphora häufiger für das Subjekt als für das direkte Objekt vorkommen. Die Position der Ergänzung muss mehr als die des Subjekts syntaktisch gesättigt werden. Um den Gebrauch der kanonischen oder der nicht-kanonischen Markierung in einer Sprache vorhersagen zu können, muss man natürlich viele Faktoren miteinbeziehen. Z. B. behauptet Woolford (2009), dass verschiedene Typen von differential subject marking existieren, die auch verschiedenen Mechanismen folgen, sodass man keine einheitliche Erklärung dafür anbieten kann. Das gilt sicher auch für die alten idg. Sprachen, die wegen ihrer nur geschriebenen Überlieferung zusätzliche interpretative Probleme im Vergleich mit den modernen Sprachen bereiten. Es scheint mir aber doch, dass neben dem Medium (§ 3.6) die Kasus der wichtigste Faktor sind, der in den alten idg. Sprachen Einfluss auf die Argumentstruktur des Satzes hat. Während das Medium die Kodierung des Experiens der Empfindungsprädikate stark bedingt, haben die Kasus mehr Einfluss auf die Kodierung der anderen semantischen Rollen. Ein konkreter adverbialer Kasus wie der Instrumental kann statt des erwarteten Nominativs benutzt werden, wenn das jeweilige Nomen aus semantischen oder aus pragmatischen Gründen für die Funktion des Subjekts wenig geeignet ist. Im Altpersischen gibt es eine Tendenz, bei der das Subjekt in den Instrumental degradiert wird, 227 <?page no="228"?> wenn es temporale Angaben ausdrückt, wie wir in (3.72) für das Nomen rauca- „ Tag “ beobachten können. (3.72) Arakadri š n ā ma kaufa hac ā avada š a Arakadri: NOM Name: AKK Berg(M): NOM.SG von davon Viyaxnahya m ā hy ā XIV raucabi š θakatā Viyaxna: GEN Monat(M): GEN.SG XIV Tag(N): INSTR.PL beendet: NOM.N.PL ā ha yadiy udapatat ā sein: PRS.IND3PL als sich.empören: IPF.IND.MED3SG „ Ein Berg mit Namen Arakadri - davon vierzehn Tage des Monats Viyaxna waren dahingegangen, als er sich empörte. “ (DB I. 37 - 38) In diesem Text erwähnt Darius der Große die Empörung von Gaumata dem Magier, der von dem Berg Arakadri stammte und am fünfzehnten Tag des Monats Viyaxna sich gegen ihn auflehnte. Der Ausdruck „ vierzehn Tage waren dahingegangen “ ist wörtlich als „ mit vierzehn Tagen (INSTR) waren dahingegangen “ zu übersetzen: der Instrumental erscheint, wo man einen Nominativ erwartet hätte, der tatsächlich im Partizip θ akat ā „ dahingegangen “ auftaucht. Den Gebrauch des Instrumentals statt des syntaktisch erwarteten Nominativs illustriert auch das Litauische, in dem die Auswahl des Kasus aber eher pragmatisch bedingt ist. Im Litauischen kann dasselbe Nomen entweder im Nominativ oder im Instrumental stehen, je nachdem ob es eine dauerhafte (3.73 a) oder vorübergehende (3.73 b) Eigenschaft des Subjekts bezeichnet. Da Nomina typischerweise einen zeitbeständigen (time stable) Referenten haben (vgl. Croft 1991), signalisiert der Instrumental eine Abweichung von dieser bevorzugten Interpretation ( „ The instrumental is particularly common with the verb b ū ti ‚ to be ‘ when it denotes a change of state or temporary condition “ , Schmalstieg 1987: 254). Somit kennzeichnet das Litauische durch zwei verschiedene Kasus einen Unterschied, der in anderen Sprachen wie im Spanischen durch verschiedene Verben (ser vs. estar) ausgedrückt wird, obwohl der Gegensatz zwischen permanenter und temporärer Zeitreferenz nur ein Teil eines viel komplexeren funktionalen Bereichs im Gebrauch dieser Kasus ist, vgl. Lühr (2002: 23). (3.73 a) mano t ė vas buvo mokytojas ich: GEN Vater(M): NOM.SG sein: PRÄT.IND3 Lehrer(M): NOM.SG „ Mein Vater war Lehrer von Beruf. “ (3.73 b) mano t ė vas buvo mokytoju ich: GEN Vater(M): NOM.SG sein: PRÄT.IND3 Lehrer(M): INSTR.SG „ Mein Vater war eine Zeitlang Lehrer. “ 228 <?page no="229"?> Thomason & Kaufmann (1988: 250) leiten die Konkurrenz zwischen Nominativ und Instrumental, die das Baltische und das Slavische im Allgemeinen charakterisiert, vom Substrat des Uralischen ab. Es ist immerhin bedeutsam, dass solche konkreten Gebrauchsarten des Instrumentals sowohl in einer Sprache wie dem Litauischen belegt sind, die sehr reich an nicht-kanonischen Strukturen ist, als auch in einer Sprache wie dem Altpersischen, das (wie das ganze Indoiranische) die kanonische Markierung bevorzugt. Die Kodierung anderer Funktionen als die des primären Arguments toleriert synchron mehr Variation. Diachron ist das Experiens die Rolle, die sich am frühesten von ihrer semantischen Basis emanzipiert und der syntaktisch homogeneren kanonischen Markierung ausgesetzt wird. 3.7.2 Eine Implikationsskala für das erste Argument Die Variation der Kasus, die in der nicht-kanonischen Markierung oft das erste Argument und sogar noch öfter das zweite Argument eines zweistelligen Prädikats charakterisieren, ist m. E. der entscheidende Hinweis darauf, dass die Funktion der nicht-kanonischen Konstruktionen nicht in der Unterscheidung der Argumente besteht, wie u. a. Aissen (1999; 2003) behauptet; ansonsten wäre die Unterscheidung zwischen dem Nominativ und einem einzelnen obliquen Kasus genug. Vielmehr stehen jedoch der Ergänzung eines Empfindungsprädikats oft mehrere morphosyntaktische Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung, wie wir besonders im Vedischen sehen können. Z. B. kann das Prädikat tr ˚ p „ sich freuen, geniessen, satt werden “ neben dem Genitiv auch den Instrumental, den Lokativ und den Ablativ auswählen, die nicht synonym sind (vgl. Delbrück 1893: 252ff; 314 ff). Das Vorhandensein verschiedener Kasus für ein Argument ist aber kompatibler mit der zweiten Erklärung der nicht-kanonischen Markierung, d. h. dass andere Kasus als Nominativ und Akkusativ die Funktion haben, andere semantische Rollen als das Agens und das Patiens zu signalisieren (vgl. § 3.3.3). Dies bedeutet nicht, dass die Auswahl eines bestimmten Kasus nach dem jeweiligen Prädikat völlig lexikalisiert ist. Ganz im Gegenteil kann die Variation der Kasus, die bei Empfindungsprädikaten selegiert werden, erklärt und deswegen gewissermaßen auch vorhergesagt werden. In diesem Zusammenhang denke ich, dass die Auswahl der Kasus in nichtkanonischen Strukturen der Implikationsskala in (3.74) folgt: (3.74) Dativ-Experiens > Akkusativ-Experiens > Genitiv-Experiens > Andere Kasus. Wenn also eine alte idg. Sprache die semantische Rolle des Experiens durch den Genitiv ausdrückt, kann sie das Experiens auch durch den Akkusativ und den Dativ ausdrücken, während das Gegenteil nicht vorausgesetzt 229 <?page no="230"?> werden kann. Wenn eine Sprache das Experiens durch den Akkusativ ausdrückt, kann sie es auch durch den Dativ ausdrücken, aber nicht unbedingt durch den Genitiv. Andere oblique Kasus oder präpositionale Ausdrücke sind für die Rolle des Experiens noch seltener. 152 Es muss betont werden, dass die Auswahl der jeweiligen Kasus keine direkte Beziehung mit einer persönlichen oder unpersönlichen Struktur hat: unpersönliche Verben können im Prinzip sowohl einen Dativ als auch einen Akkusativ als einziges Argument für das Experiens verlangen (Dt. mich friert, mir ist kalt), und auf dieselbe Weise kann ein Dativ oder ein Akkusativ neben einem anderen Argument, dem NOM-Stimulus, persönlich gebraucht werden (Lat. mihi placet aliquid, me delectat aliquid). Obwohl sie in einer sprachspezifischen Studie besser unterschieden werden sollten, werden sie hier einheitlich behandelt, weil sie, wie von Aikhenvald et al. (2001) in ihrer typologischen Untersuchung bemerkt, im Großen und Ganzen denselben funktionellen Bereich betreffen, und manchmal dasselbe Empfindungsprädikat in einer Sprache persönlich und in einer anderen unpersönlich gebildet wird; das haben wir im Fall des Dt. „ mein Kopf tut weh “ im Vergleich zu seiner litauischen Entsprechung gesehen (§ 3.3.2.3). Diese Implikationsskala hat sowohl synchrone als auch diachrone Folgen. Synchron sind die Sprachen, die das Experiens durch den Genitiv bezeichnen, auch diejenigen, die reicher an nicht-kanonischen Strukturen sind, während die Sprachen, die eine vorwiegend kanonische Argumentstruktur zeigen, keinen Zugang zum Genitiv für das Experiens haben. Genitiv-Experiens sind belegt im Altisländischen, das am meisten nichtkanonische Strukturen besitzt, besonders für Prädikate von Auffassung und Erkenntnis (Sigurðsson 2004), aber sie sind so gut wie unbelegt im Altgriechischen, im Vedischen, im Hethitischen und im klassischen Armenisch, in denen die kanonische Struktur vorherrscht. 153 Wir haben in 152 Die Implikationsskala in (3.74) ist eine andere als die von Fillmore 1968 (Agent > Instrument > Theme) und Jackendoff 1972: 43 (Agent > Location, Source, Goal > Theme), die die Beziehung zwischen θ -Rollen und syntaktischen Funktionen betrachten, und auch eine andere als die Implikationsskala von Woolford 2009: 31 (Ergative > Dative > Accusative > Nominative), die die Möglichkeit eines Kasus beschreibt, morphologisch markiert zu sein. Obwohl sich alle diese Implikationsskalen mit der Topikalität der Argumente beschäftigen, behandeln sie verschiedene syntaktische Phänomene und stimmen deswegen nicht miteinander überein. Der Nominativ wird definitionsgemäß in (3.74) nicht berücksichtigt, weil es sich hierbei um die nicht-kanonische Markierung der Argumente handelt. 153 Man beachte, dass die Implikationsskala (3.74) nur die obliquen Kasus betrifft, die das Experiens der Empfindungsprädikate ausdrücken können, und nicht die nichtkanonische Markierung, die von anderen Faktoren wie Negation oder Partitivität ausgelöst werden, also anders als bei Conti (2009: 186ff; 2010 a). Conti behandelt auch den partitiven Genitiv zusammen mit dem Dativ des Experiens als Darstellung des „ Semisubjekts “ im Altgriechischen, weil beide von einem morphologischen Stand- 230 <?page no="231"?> § 3.5.2.2 gesehen, dass Altgriechisch und Hethitisch die Möglichkeit haben, das Experiens durch den Akkusativ und den Dativ auszudrücken, also besetzen sie nur die ersten beiden Positionen in der Implikationsskala. Das klassische Armenisch hat sogar einen noch beschränkteren Gebrauch obliquer Kasus für das Experiens, weil es nur über das Dativ-Experiens verfügt - all dies natürlich unter dem Vorbehalt, dass wir hier über Tendenzen und produktive Muster sprechen, die gelegentliche Relikte der alten nicht-kanonischen Struktur besonders in der konservativen dichterischen Gattung nicht ausschließen. Außerdem können wir feststellen, dass sogar in den alten idg. Sprachen, in denen die Kodierung des Experiens durch den Genitiv möglich ist, diese Verwendung seltener ist als die des Akkusativs und besonders des Dativs. Im Lateinischen ist das Genitiv-Experiens erlaubt, und das kann als Bestätigung dafür gelten, dass die nicht-kanonische Markierung in dieser Sprache ein größeres Gewicht hat als im Altgriechischen (§ 3.5.2.3). Trotzdem betrifft die Genitiv-Kodierung des Experiens nur die Prädikate interest und refert, während die punkt aus von der erwarteten Nominativ-Kodierung des primären Arguments des Satzes abweichen ( „ tanto el dativo como el genitivo admiten un análisis como semisujeto “ , 2010 a: 269). Wir haben hingegen diese Strukturen getrennt betrachtet, weil sie von ganz unterschiedlichen Faktoren in den alten idg. Sprachen ausgelöst werden: der Genitiv wird vom Typ des nominalen Arguments, insbesondere von seiner pragmatischen Darstellung hinsichtlich Partitivität, bedingt und bleibt in den meisten alten idg. Sprachen optional (§ 3.3.2.2.2), während der Dativ von der verbalen Valenz des Prädikats, in diesem Fall des Empfindungsprädikats, abhängt und davon obligatorisch selegiert wird (§ 3.3.2.3). Dies entkräftet nicht die Untersuchung von Conti, weil es um zwei verschiedene, aber gleichermassen gültige, Analysekriterien geht, die auf die Form bzw. auf die syntaktische Funktion dieser Kasus Bezug nehmen. Interessanterweise aber stellt Conti selber fest, dass die möglichen Referenten des Genitivs und des Dativs als Semisubjekts unterschiedlich sind: „ El dativo presenta dos rasgos característico del sujeto prototípico: la designación de seres humanos y el control sobre la acción verbal, al menos en un cierto grado [. . .] El genitivo, por el contrario, se caracteriza por unas propiedades presentes también en el sujeto, pero no en el sujeto prototípico: la designación de entidades tanto animadas como inanimadas y la expresión del Paciente y de la Causa “ (2010 a: 269), was auch eine getrennte Behandlung dieser nicht-kanonischen Markierung rechtfertigen kann. Ausgeschlossen von der Implikationsskala (3.74) sind auch Oblique, die zwar von der Form des Verbs selegiert werden, die aber nicht die Kodierung des Experiens betreffen. Semantische Rollen, die von anderen Verben als Empfindungsprädikate ausgewählt werden, können wohl den Genitiv darstellen, z. B. das periphrastische Perfekt des klassischen Armenisch, bei dem das logische Subjekt durch den Genitiv gekennzeichnet wird (nora ē gorceal wörtl. „ eius est factum “ = „ er hat gemacht “ ). In dieser ursprünglich possessiven Struktur war das logische Subjekt eher ein Agens, das dieselbe Genitiv-Kodierung wie der Besitzer bekommt (vgl. Benveniste 1952). 231 <?page no="232"?> Akkusativ-Kodierung u. a. für die Prädikate miseret, paenitet, piget, pudet, taedet, fallit, delectat gebraucht wird. Die Dativ-Kodierung, die mit verschiedenen Prädikaten des „ Gefallens “ erscheint, ist im Lateinischen hingegen am produktivsten und am zugänglichsten für Umschreibungen und neue Ausdrücke. Diese Verteilung stimmt auch mit den Daten des Isländischen überein: für die moderne Stufe dieser Sprache legt Barðdal (2004: 109) dar, dass es ungefähr 700 Dativ-Subjekte, 200 Akkusativ-Subjekte und 10 Genitiv-Subjekte gibt (vgl. auch Eythórsson 2002). Diachron können wir erwarten, dass für die Kodierung des Experiens der Genitiv am frühesten verloren geht: seine niedrige Häufigkeit im Diskurs bedingt seinen Verfall. In den romanischen Sprachen wie dem Italienischen wird für das Experiens eine „ Dativ “ -Struktur sehr häufig gebraucht, und das ist nicht auf Prädikate beschränkt, die eine Entsprechung im Lateinischen haben, wie mi piace zu mihi placet, mi dispiace zu mihi displicet, mi duole zu mihi dolet, sondern zeigt auch lexikalische Neuerungen, wie Altitalienisch mi aggrada „ es gefällt mir “ oder Toskanisch mi garba „ id. “ ; das letztere ist ein Denominalverb aus garbo „ Höflichkeit “ , das aus dem Arabischen q ā lab/ q ā lib „ Form, Modell “ entlehnt wurde. Dasselbe Dativ- Muster erscheint auch bei mehreren epistemischen Prädikaten wie mi sembra „ es scheint mir “ . Trotz des Verfalls der Kasus und des möglichen Gebrauchs der klitischen Pronomina als sowohl direkte wie auch indirekte Objekte ist die zugrunde liegende dativale Funktion des Experiens in romanischen Sprachen wie dem Italienischen daran erkennbar, dass diese Ausdrücke durch dieselben Präpositionalphrasen umschrieben werden, die bei Prädikaten wie dare „ geben “ und dire „ sagen “ den Empfänger kodieren: mi piace, mi dà, mi dice sind genau gebildet wie a me piace / dà / dice, a Gianni piace / dà / dice. Prädikate, die im Lateinischen ein Genitiv-Experiens verlangten, werden im Italienischen (manchmal durch semantisch synonyme aber phonomorphologisch nicht verwandte Formen) an die dativale Struktur angepasst, wie bei Lat. Petri interest vs. Ita. a Pietro interessa, Lat. Petri refert vs. Ita a Pietro importa. Eine genitivale Struktur würde die Präposition di verlangen, die jedoch in diesen Kontexten ungrammatisch ist (Ita. *di Pietro interessa, *di Pietro importa). Der Wandel von Akkusativ- Experiens zu Dativ-Experiens fand auch in der Geschichte des Isländischen statt (vgl. Barðdal 2011). Die Tatsache, dass der Dativ der Kasus ist, der am längsten für die Kodierung des Experiens bestehen bleibt, zeigt die prädiktive Potenz der Implikationsskala in (3.74) in der Diachronie. Obwohl diese Implikationsskala die Markierung der Empfindungsprädikate in den idg. Sprachen ziemlich gut beschreibt, gibt es natürlich hier wie bei jeder linguistischen Generalisierung einige Gegenbeispiele, in denen der Dativ nicht der am häufigsten gebrauchte Kasus für das Experiens ist, und solche Gegenbeispiele erfordern ebenfalls eine Erklärung. Zunächst müssen wir aber die nur scheinbaren Gegenbeispiele 232 <?page no="233"?> ausschließen, in denen das Experiens andere Kasus als den Dativ bevorzugt, weil der Dativ in der Sprache - unabhängig von den Empfindungsprädikaten - fehlt oder im Verfall ist. Sprachen wie das Tocharische, das Altpersische, das Mittelindische und das byzantinische Griechisch, in denen der Dativ verfällt, verstoßen nicht gegen die Implikationsskala in (3.74), die natürlich nur unter der Bedingung funktioniert, dass die jeweiligen Kasus in einer Sprache gebräuchlich sind. Für die im Urindogermanischen typischen Funktionen des Dativs verwendet das Tocharische z. B. den Genitiv oder den Allativ. Eine echte Ausnahme ist hingegen das Bengali, in dem das Experiens normalerweise durch den Genitiv gekennzeichnet wird. Nach Dasgupta (2004) sei dieser Kasus kein echter Genitiv, sondern ein sogenannter „ indirekter Kasus “ (indirecte case). Da das Bengali im Plural einen Synkretismus von Genitiv und Dativ hat, könnte man einen ähnlich unbestimmten Gebrauch auch im Singular annehmen: „ We are not forced to describe the Bangla Experiencer Subject Construction as a typologically bizarre genitive subject construction, then. The facts of the language allow us to assume instead an ‘ indirect subject construction ‘ built around the Indirect Case, an archicase consisting of whatever features the Dative and the Genitive have in common. “ (Dasgupta 2004: 131) Natürlich löst eine neue Benennung das Problem nicht: das Bengali besitzt im Singular sehr wohl unterschiedliche Formen für den Genitiv und den Dativ, und im Singular ist es nur der Genitiv, der für die Funktion des Experiens ausgewählt wird. Tatsächlich erkennt Onishi (2001 b) die Möglichkeit des Genitiv-Experiens im Bengali, und dieselbe Situation ergibt sich im Maghadi (vgl. Verma 1990). Das zeigt, dass es nichts strukturell Falsches an einem Genitiv-Experiens gibt, und gleichzeitig macht die Seltenheit dieser Struktur im Vergleich mit dem Dativ- Experiens die Implikationsskala in (3.74) zu einer empirisch validierten Generalisierung im indogermanischen Bereich. Wahrscheinlich ist das von einem idg. Standpunkt aus idiosynkratische Genitiv-Experiens des Bengali vom externen Kontakt mit den tibetobirmanischen Sprachen bedingt. Bickel (2004: 86) zeigt mit Daten aus Belhare, Camling, Kathmandu Newar und Lai, dass die Kodierung des Experiens durch den Dativ (experiencer-as-goal construction) in den tibetobirmanischen Sprachen nicht üblich ist, in denen eher der Genitiv (experiencer-as-possessor) für diese Funktion benutzt wird. Er stellt ebenfalls dar, dass das Genitiv- Experiens auch in einigen neuindischen Sprachen wie Bengali, Assamese und Oriya vorherrscht, die im Osten Indiens gesprochen werden und deswegen auch am meisten dem Einfluss des Tibetobirmanischen ausgesetzt sind. Der Ursprung der Kodierung des Experiens mit dem Genitiv ist eine possessive Struktur, in der das (implizite) Possessum einen Körperteil oder ein Gefühl bezeichnet. Die Variation zwischen Genitiv-Expe- 233 <?page no="234"?> riens und Dativ-Experiens wird von Bickel (2004) arealen Faktoren zugewiesen. 154 Wir können im Übrigen feststellen, dass das Genitiv-Experiens des Bengali und anderer östlicher neuindischer Sprachen dem Indoarischen nicht völlig fremd ist, in dem der Genitiv seit dem Vedischen der häufigste Kasus für den Ausdruck des Besitzes ist (§ 3.3.2.3). Das Hindi wird sogar für eine „ genitive preferring language “ (Arora & Subbarao 2004: 37) gehalten. Obwohl dies eigentlich nicht die Funktion des Experiens betrifft, ist es immerhin bedeutsam, dass der Genitiv im Hindi und anderen neuindischen Sprachen für mehrere Situationen wie Verwandtschaft, Körperteile, abstrakten Besitz verwendet wird, die sprachübergreifend oft von nicht-kanonischen Strukturen ausgedrückt werden. Ein Zusammenhang zwischen dem Genitiv des Besitzes und dem Genitiv des Experiens ist in den neuindischen Sprachen auch daran sichtbar, dass Strukturen mit einem Genitiv-Experiens von muttersprachigen Forschern für grundsätzlich adnominale Formen gehalten werden (vgl. Mahajan 2004: 287: „ The genitive subject constructions are usually nominal “ ), wobei der adnominale Genitiv der typische Ausdruck des attributiven Besitzes ist. Unter verschiedenen Gesichtspunkten spielt daher eine contact-induced grammaticalization in den neuindischen Sprachen im Ausdruck des Experiens eine Rolle, einerseits im seltenen Gebrauch des Genitivs wegen des tibetobirmanischen Einflusses und andererseits in der Ausbreitung des Dativs, für die jedoch das Dravidische der wesentlichste Auslöser ist. Beide sind jedoch schon im Altindischen belegt. Obwohl sie die Verteilung des primären Satzarguments bei Empfindungsprädikaten beschreibt, hat die Implikationsskala in (3.74) keinen Anspruch auf die Darstellung des sekundären Arguments, die wie in § 3.7.1 gezeigt auch synchron heterogener ist. In den alten idg. Sprachen kann das 154 Das Beispiel der tibetobirmanischen Sprachen verweist darauf, dass die Implikationsskala in (3.74) nicht universal ist. Die Tatsache jedoch, dass der Genitiv als Darstellung des Experiens in Haspelmaths (2001 b: 60) typologischer Analyse noch nicht einmal erwähnt wird, kann als Hinweis auf die Seltenheit dieser Struktur bei Empfindungsprädikaten selbst in anderen Sprachen als dem Indogermanischen verstanden werden. Haspelmath unterscheidet drei grundlegende nicht-kanonische Markierungen: In der ersten wird das Experiens wie das Agens markiert (agent-like experiencer), d. h. mit dem Nominativ oder mit der präverbalen Stellung, je nachdem ob die Sprache die syntaktischen Funktionen mit den Kasus oder mit der Wortfolge bezeichnet, z. B. Engl. Sergio hates his teacher. In der zweiten Markierung wird das Experiens wie der Empfänger oder Benefaktiv markiert (dative-like experiencer), z. B. Dt. mir gefällt dieses Buch. In der dritten Markierung wird das Experiens wie das Patiens markiert (patient-like experiencer), z. B. Engl. this problem worries me; in diesem Fall ist die Entsprechung zwischen semantischen Rollen und syntaktischen Funktionen umgekehrt, und das Subjekt vertritt den Stimulus statt das Experiens. 234 <?page no="235"?> Objekt eines Empfindungsprädikats sowohl - wie bei typisch transitiven Sätzen - den Akkusativ auswählen, als auch den Genitiv oder den Dativ: die Auswahl hängt von den lexikalischen Eigenschaften des Verbs ab. Der Implikationsskala entsprechend verhält sich aber m. E. die Kodierung der Argumente eines zweistelligen Prädikats relativ zueinander, d. h. wenn ein gewisses Empfindungsprädikat zwei Argumente verlangt, kann sein sekundäres Argument nur von einem Kasus ausgedrückt werden, der in der Implikationsskala weiter auf der rechten Seite liegt als der Kasus seines primären Arguments. Z. B. wird das Experiens in der nicht-kanonischen Struktur des Lateinischen me pudet alicuius rei „ ich schäme mich für etwas “ durch den Akkusativ gekennzeichnet, während der Genitiv, der in der Implikationsskala (3.74) weiter rechts steht, für den Stimulus gebraucht wird. In der Struktur des Altgriechischen μέλει μοί τινος „ ich kümmere mich um etwas “ steht der Stimulus ebenfalls im Genitiv, während das Experiens vom Dativ ausgedrückt wird. 155 Denn die Implikationsskala in (3.74) spiegelt die Belebtheit oder Topikalität der Argumente wider, die von einem zweistelligen Empfindungsprädikat selegiert werden können: während normalerweise der Dativ für menschliche Referenten benutzt wird und der Akkusativ die sekundäre Topik des Satzes darstellt (vgl. Givón 1984; 2001: I, 473 - 474), funktioniert der Genitiv typischerweise entweder als Modifikator anderer Argumente oder als Ergänzung in PP, die periphere Partizipanten bezeichnen. Es ist daher nachvollziehbar, dass das zweite Argument eines Empfindungsprädikats nicht ranghöher ist als das zweite. 3.8 Aktiv-stative Syntax im Urindogermanischen? 3.8.1 Die aktiv-stative Hypothese Der Befund der Impersonalia in vielen alten idg. Sprachen sowie die Rekonstruktion unpersönlicher Strukturen auch im Urindogermanischen haben einige Forscher zu einer neuen Analyse der uridg. „ Ausrichtung “ (alignment) geführt, wobei anstatt der traditionell rekonstruierten Nominativ-Akkusativ-Ausrichtung Hypothesen einer ergativ-absolutiven Ausrichtung und einer aktiv-stativen Ausrichtung vorgeschlagen wurden. Besonders die letztere ist zurzeit ziemlich beliebt (vgl. Klimov 1974; Schmidt 1977; 1979; Gamkrelidze & Ivanov 1984; Gamkrelidze 1994; W. 155 Keine Ausnahme sind die (allerdings relativ seltenen) Fälle, in denen beide Argumente eines Empfindungsprädikats denselben Kasus auswählen, wie in der lateinischen Struktur Petri interest alicuius rei „ Peter interessiert sich für etwas “ , in der sowohl das Experiens als auch der Stimulus vom Genitiv gekennzeichnet werden, weil hier die relative Rangordnung der Argumente neutralisiert ist. 235 <?page no="236"?> Lehmann 1989 a; 1989 b; 2002; Drinka 1999; Bauer 2000; Rovai 2007). 156 Wir verwenden hier die aktiv-stative Hypothese für das Urindogermanische und versuchen festzustellen, inwieweit sie anhand der oben erwähnten Daten der alten idg. Sprachen zuverlässig ist. Die folgende Beschreibung beruht besonders auf Bauer (2000), in deren Rekonstruktion der uridg. aktiv-stativen Syntax die unpersönlichen Strukturen eine prominente Rolle spielen. In aktiv-stativen Sprachen ist Transitivität keine entwickelte grammatische Kategorie, vielmehr ist die Struktur des Satzes davon abhängig, ob das Prädikat eine Tätigkeit oder einen Zustand beschreibt. Intransitive Prädikate werden auf zwei unterschiedliche Weisen behandelt, wobei das Subjekt der einen wie das Subjekt der transitiven Verben gestaltet wird, und das Subjekt der anderen wie das Objekt der transitiven Verben. Kongruenz ist mehr grammatikalisiert als Rektion, und die syntaktische Verknüpfung zwischen dem Prädikat und seinen Argumenten ist lockerer als in anderen Systemen wie dem Nominativ-Akkusativ oder dem Absolutiv-Ergativ, die auf Transitivität und Rektion beruhen. Darüberhinaus haben viele aktivstative Sprachen die folgenden grammatischen Merkmale: 1) Ein schwach entwickeltes Kasus-System ( „ active languages have little, if any, case marking “ , Bauer 2000: 89). Es besteht ein eher großer Unterschied zwischen Nomina von belebten Referenten wie „ Mann “ und „ Hund “ einerseits und Nomina von unbelebten Referenten wie „ Stein “ und „ Joch “ andererseits. Nomina kommen nur in jenen syntaktischen Funktionen vor, die ihre Bedeutung erlauben, also können belebte Nomina das Subjekt eines aktiven Verbs sein, während unbelebte Nomina Kandidaten für die Funktion des Subjekts der stativen Verben sind. Daneben existiert eine Serie Affixe mit lokaler Funktion, wie auch der Unterschied zwischen inklusiven und exklusiven Pronomina. 2) Eine reiche verbale Morphologie. Die Armut der morphologischen Kodierung der Nomina wird vom Verb kompensiert, das in den aktivstativen Sprachen normalerweise eine extrem komplizierte Flexion hat. Flexion und Ableitung sind für aktive Verben wie „ töten “ und „ legen “ und für stative Verben wie „ sein “ und „ liegen “ verschieden. Stative Verben sind defektiv und schließen grundsätzlich Witterungsverben, Empfindungs- 156 Die Rekonstruktion einer ergativen Ausrichtung für das Urindogermanische, die zuerst von Uhlenbeck (1901) postuliert wurde, um einige synchron inkonsequente Strukturen der alten idg. Sprachen zu erklären, findet heute nur wenige Verfechter, wie z. B. Beekes (2011: 215). Denn das Auftauchen ergativer Ausrichtungen in einigen idg. Sprachen wie im Mittel- und Neu-Indoiranischen und im Hethitischen sind unabhängige Neuerungen und können dem Urindogermanischen nicht zugewiesen werden (vgl. Laroche 1962; Garrett 1990). Im Hethitischen werden ergative Muster wahrscheinlich vom Sumerischen beeinflusst, das eine ergative Sprache ist. Zur weiteren Kritik der Hypothese der uridg. Ergativität siehe Clackson (2007: 176 ff). 236 <?page no="237"?> verben und possessive Strukturen ein. In aktiv-stativen Sprachen gibt es kein Verb „ haben “ , vielmehr kann das Verb „ sein “ auch Besitz ausdrücken. Außerdem gibt es oft einen Unterschied zwischen „ inalienablem “ und „ alienablem “ Besitz, je nachdem ob das Besessene inhärent im Interessengebiet des Besitzers ist oder nicht: Nomina von Verwandten und Körperteilen sind inalienabel, während Nomina von konkreten Dingen normalerweise alienabel sind. Diese Unterscheidung hat eine Beziehung zu derjenigen zwischen Bewegung und Stabilität, die der Opposition zwischen aktiven und stativen Verben zugrunde liegen kann, weil der alienable Besitz voraussetzt, dass das Besessene vom Besitzer bewegt und entfernt werden kann. Außerdem beruht das Verbalsystem der aktiv-stativen Sprachen nicht auf temporalen, sondern auf aspektuellen Unterschieden. 3) Der Unterschied zwischen Nomina und Verben ist nicht eindeutig ( „ In many of these languages the boundaries between nouns and verbs are vague “ , Bauer 2000: 69). 4) Adjektive werden entweder gar nicht gebraucht oder sind sehr beschränkt: in nordamerikanischen aktiv-stativen Sprachen wie im Navajo oder im Tunica werden Eigenschaften wie „ hoch “ oder „ schön “ durch stative Verben ausgedrückt ( „ Whereas ‚ adjectives ‘ in these languages (if present at all) may behave as verbs, stative verbs often convey meanings that are rendered by adjectives in modern Indo-European languages “ , Bauer 2000: 88). Die Unterstützer der aktiven Hypothese behaupten, dass diese formellen Eigenschaften auch in den alten idg. Sprachen vorkommen und deswegen für typische Merkmale des Urindogermanischen gehalten werden müssen. Die Relevanz der semantischen Kategorie der Belebtheit in der Organisation des Lexikons der alten idg. Sprachen wurde schon von Meillet (1948) erkannt. Meillet bemerkt, dass derselbe außersprachliche Referent in mehreren alten idg. Sprachen von verschiedenen Lexemen bezeichnet wird, je nachdem ob er als eine lebende, sich bewegende und vergötterte Kraft oder als ein unbelebter, statischer Gegenstand konzipiert wird. Das „ Wasser “ war belebt als *h 2 ep- (Skr. ā ´pah · , Aw. ap ō , Toch. A, B ā p-, vgl. NIL 311 - 317) und unbelebt als *wed- (Skr. udán-, Heth. watar-, Altgr. ὕδωρ , Lat. unda, Engl. water, NIL 706 - 715). Das „ Feuer “ war belebt als Skr. agní- und Lat. ignis aber unbelebt als Altgr. πῦρ und Umbr. pir. Eine doppelte Bezeichnung besteht oft auch für Nomina von Bäumen, Früchten, Sternen, Körperteilen, Tag und Nacht. Nachdem Belebtheit im Wortschatz des Urindogermanischen weniger wichtig wurde, haben alte idg. Sprachen normalerweise nur ein Element des ursprünglichen Paares bewahrt, obwohl die beiden gelegentlich mit verschiedenen Nuancen nebeneinander stehen, besonders im Altindischen. Außerdem könne der belebt-unbelebte Unterschied nach dieser Hypothese von zweiendigen Adjektiven wie Lat. brevis-breve „ kurz “ bestätigt werden, wie auch von zusammengesetzten Adjektiven wie Altgr. ῥοδοδάκτυλος „ rosenfingrig “ , die keine besondere 237 <?page no="238"?> Form für das Femininum haben (W. Lehmann 1993: 155 - 57). Das Femininum sei also später als das Maskulinum und das Neutrum entstanden (Kury ł owicz 1964: 207). Der Fall des Hethitischen, in dem es kein Femininum, sondern nur die Opposition zwischen genus commune und genus neutrum gibt, sei eher ein Relikt des Urindogermanischen als eine Neuerung, wie auch von Neu (1969), Schmidt (1977) und Beekes (2011: 189) angenommen wird. Der Unterschied zwischen aktiv und stativ tauche auch in den Verben der alten idg. Sprachen auf, wenn dieselbe Situation von zwei Verballexemen bezeichnet wird, je nachdem ob Bewegung oder Stabilität vorausgesetzt wird (vgl. Got ō 1997). Z. B. wird das Verb „ sein “ in den alten idg. Sprachen von den Wurzeln *h 1 es (LIV 241 - 242) und *b h weh 2 (LIV 98 - 101) ausgedrückt: die erstere war statisch und bedeutete bloße Existenz oder Anwesenheit, die letztere war dynamisch und bezeichnete ein Werden. In den meisten idg. Sprachen ging die ursprüngliche Opposition verloren, sodass z. B. im Lateinischen die zwei Formen in demselben Paradigma mit verschiedenen grammatischen Funktionen vereinigt sind: Präsens est vs. Perfekt fuit. Aber das Hethitische bewahre die alte Opposition zwischen Bewegung und Zustand in seinem Gegensatz zwischen der mi-Konjugation und der h ˘ i-Konjugation, die Parallelen in Perfektformen und Mediumsformen anderer alter idg. Sprachen findet (Cambi 2007, vgl. auch § 3.6). Dieser semantische Unterschied kommt auch in verschiedenen modernen idg. Sprachen vor, z. B. in den Doubletten des Deutschen stehen vs. liegen, stellen vs. legen. Bauer (2000: 82) behauptet, dass „ this characteristic presumably is an early feature that survived in a number of Indo-European languages spoken today “ . Weitere angebliche Beweise werden von den Unterstützern der aktivstativen Hypothese hinzugefügt. Wie die aktiv-stativen Sprachen eine undeutliche Unterscheidung zwischen Nomina und Verben haben, hätten die alten idg. Sprachen deverbale Nomina oder denominative Verben, in denen die Grenzen der beiden Kategorien verschwimmen. Den alten idg. Sprachen wie den aktiv-stativen Sprachen könne sogar der Unterschied zwischen inklusiven und exklusiven Pronomina und der zwischen alienablem und inalienablem Besitz zugewiesen werden. Die Möglichkeit einer inklusiven oder exklusiven Funktion wurde von Gamkrelidze & Ivanov (1984) postuliert: der uridg. Stamm *-wey vertritt die erste Person in einigen Sprachen (Heth. wes, Skr. vayám, Got. weis) und die zweite Person in anderen (Lat. vos, Slaw. vy, Skr. vas). Das Altindische belegt denselben Stamm für die beiden Personen in zwei verschiedenen Darstellungen, als betonten Nominativ einerseits und als unbetonten AKK/ GEN/ DAT andererseits. Das könnte damit erklärt werden, dass uridg. *-wey ursprünglich vermutlich eine erste inklusive Person bezeichnete, d. h. einen Ausdruck des Sprechers, der Bezug auf den Hörer nimmt und deswegen auch eine semantische 238 <?page no="239"?> Komponente der zweiten Person einschließt. Der Stamm *-mes hat hingegen nach Gamkrelidze & Ivanov (1984) die exklusive Funktion, da er in allen Sprachen nur die erste Person bezeichnet. Der Unterschied zwischen Alienablem und Inalienablem wurde für das Urindogermanische anhand der Daten u. a. des Altgriechischen postuliert, in dem das Adjektiv φίλος „ geliebt “ nur mit relational Besessenem wie Verwandtschaft oder Körperteilen benutzt wird (vgl. Rosén 1959). Die dem Urindogermanischen zugewiesene aktiv-stative Ausrichtung, die bei Klimov (1974) aus dem typologischen Vergleich mit nicht-idg. Sprachen stammt, wird in der Literatur in mehr oder weniger starken Versionen vertreten. W. Lehmann (2000) behauptet, dass die synchron residualen und ungeklärten Strukturen der Syntax der alten idg. Sprachen diachron Teil eines älteren konsistenten syntaktischen Systems seien. Gamkrelidze & Ivanov (1984) plädieren auch für eine entschieden binäre Ausrichtung, die sowohl die Morphologie als auch die Syntax des Indogermanischen betreffe. Bauer (2000) steht zwar im Fahrwasser von W. Lehmann: sie fokussiert auf eine Reihe syntaktischer Strukturen wie Impersonalia, die mihi est-Struktur und absolute Konstruktionen, die synchron marginal in der Grammatik der alten idg. Sprachen vorkommen und deswegen auf eine ältere und andere Organisation des Satzes hinweisen. Aber ihre Einstellung zur syntaktischen Rekonstruktion ist milder, indem sie nicht leugnet, dass das Urindogermanische schon eine Nominativ- Akkusativ-Syntax entwickelt hat, sondern nur behauptet, dass die Nominativ-Akkusativ-Syntax mit der Zeit immer wichtiger geworden sei, während die aktiv-stative Syntax der früheren Sprachstufen des Urindogermanischen ursprünglich gewesen sei ( „ Note that Proto-Indo-European was a nominative language, but that its nominative characteristics have increased over time; a non-nominative stage is assumed for a very early stage in Proto-Indo- European “ , S. 25). Eine gemilderte Interpretation der rekonstruierten aktivstativen Ausrichtung wird auch von Barðdal & Eythórsson (2009) angeboten, nach denen das Urindogermanische ein split oder fluid aktiv-statives System hatte, in dem auch sprachübergreifend die aktiv-stative Ausrichtung nicht immer von allen oben erwähnten morphosyntaktischen Merkmalen umgesetzt wurde. Die Zuverlässigkeit der Rekonstruktion einer aktiv-stativen Ausrichtung für das Urindogermanische werden wir im folgenden Abschnitt diskutieren: m. E. ist eine aktiv-stative Hypothese - zumindest in ihren strengsten Versionen - nicht glaubhaft und auch ungeeignet, um die marginalen syntaktischen Strukturen der alten idg. Sprachen wirklich zu erklären. 239 <?page no="240"?> 3.8.2 Kritik der aktiv-stativen Hypothese Der starke Punkt der aktiv-stativen Hypothese in Bezug auf das Urindogermanische besteht in den Verben. Impersonalia und andere nicht-kanonische Strukturen tauchen mehr oder weniger in allen alten idg. Sprachen auf und sind in ihrer Semantik den Witterungsverben, Empfindungsverben und Modalverben ähnlich, müssen also auch für das Urindogermanische rekonstruiert werden. Das wird hier nicht bezweifelt. Genauso muss man annehmen, dass possessive Strukturen im Urindogermanischen eher mit dem Verb „ sein “ und einem obliquen Kasus als mit dem Verb „ haben “ und dem Nominativ ausgedrückt wurden, wie schon Meillet (1924) und Benveniste (1960) bemerkten. Darin bestehen die meisten Gemeinsamkeiten mit den aktiv-stativen Sprachen Nordamerikas, die durch solche Merkmale charakterisiert sind. Außerdem waren in den alten idg. Sprachen regelmäßige persönliche Verben ursprünglich mehr aspektorientiert als tempusorientiert, wie das eben gerade in aktiv-stativen Sprachen der Fall ist. Diese grammatischen Merkmale kommen aber nicht nur bei aktiv-stativen Sprachen vor: z. B. ist Aspekt relevanter als Tempus auch in den semitischen Sprachen in ihren frühesten Belegen, die seit ihren ersten Urkunden eine eindeutige Nominativ-Akkusativ-Ausrichtung haben (vgl. Hasselbach 2013). Um eine linguistische Einheit vorzuschlagen, genügt es nicht, dass die jeweiligen Sprachen gemeinsame Merkmale haben, sondern es ist auch notwendig, dass diese Merkmale in anderen Sprachen fehlen oder zumindest weniger häufig sind. Der schwächste Punkt der aktiv-stativen Hypothese betrifft jedoch andere Kategorien als Verben, insbesondere Nomina, sowie auch die Formulierung der Methode. Anders als in den aktiv-stativen Sprachen war die Flexion der Nomina in den alten idg. Sprachen mit acht rekonstruierten Kasus sehr entwickelt. Auch die Dichotomie zwischen genus commune und genus neutrum des Hethitischen muss mit gebührender Vorsicht betrachtet werden, denn der Verlust einer grammatischen Kategorie ist nicht selten in der Geschichte der idg. Sprachen: der Verfall des Neutrums und des Duals ist z. B. häufig. Die Vereinfachung ist noch extremer im klassischen Armenisch, in dem neben dem Dual die ganze Kategorie des Genus verschwindet. In diesem Fall ist der Auslöser wahrscheinlich das Substrat des Urartäischen, das zwar ein reiches Kasusinventar hatte, aber nur zwei Numeri (SG und PL) und kein Genus. Auch für das Hethitische können areale Faktoren die Vereinfachung des Genussystems erklären: das Sumerische, das im alten Nahen Osten vom Ende des vierten Jahrtausends bis zur Mitte des zweiten Jahrtausends als Lingua franca galt, hatte nur einen Unterschied zwischen belebtem und unbelebtem Genus. Für eine innovative Verschmelzung von ererbtem Maskulinum und Femininum wird von Kammenhuber (1969) und Harðarson (1994) das Heth. genus commune gehalten. Auch sprachübergreifend 240 <?page no="241"?> sind Genus-Unterschiede eher das Ergebnis einer Erbschaft als einer gemeinsamen Neuerung ( „ gender [. . .] is a puzzle: most of its tokens are the result of inheritance, and even those need outside help to survive; it is easier to explain its loss than its rise “ , Nichols 2003: 303). Zweitens ist der morphologische Unterschied zwischen Nomina und Verben in den alten idg. Sprachen, anders als in den aktiv-stativen Sprachen, extrem stark und darf keinesfalls vernachlässigt werden. In Kapitel II haben wir gesehen, dass trotz der verschiedenen Rubrizierungen der Wortarten in den römisch-griechischen und indischen grammatischen Traditionen, Verben immer von Nomina unterschieden wurden. Verbalnomina und Verba Denominalia, die von Bauer (2000) als Beweise der zwischen Nomina und Verben ursprünglich verschwommenen Grenzen vorgeschlagen wurden, existieren in den meisten Sprachen der Welt und haben keine besondere Beziehung zu aktiv-stativen Sprachen. Drittens verhalten sich Adjektiva in den alten idg. Sprachen nicht wie Verben, sondern wie Nomina, während sie in den aktiv-stativen Sprachen eine verbale Gestalt haben. Viertens gab es in den alten idg. Sprachen keine systematische Markierung der inklusiv-exklusiv-Opposition oder der alienabel-inalienabel-Opposition. Solche Funktionen können gelegentlich in einer Sprache oder in einem Text linguistisch relevant sein, aber es geht dabei nicht um eine für mehrere Sprachen gemeinsame Strategie. Demzufolge sollten die Kategorien der „ Klusivität “ (clusivity) und der (In) alienabilität vom Urindogermanischen ausgeschlossen werden. Außerdem können die angeführten Beispiele für eine angebliche aktivstative Syntax der alten idg. Sprachen oder des Urindogermanischen auch eine alternative Interpretation bekommen, wenn man ihren vollen Kontext berücksichtigt. Ein oft zitierter Fall ist der intransitive Satz sardam exossatur (Apic. De re coq. 9.10): es wird behauptet, dass das Nomen sardam hier als Subjekt des passiven Prädikats exossatur erwartet werde, dass es aber eher die Endung des Akkusativs als die des Nominativs bekomme, weil es semantisch ein unbelebtes Patiens sei. Es sei also eine Darstellung des „ ausgedehnten Akkusativs “ (extended accusative, vgl. Cennamo 2001; Rovai 2007: 54; 2010: 321). Aber exossatur kann hier ein unpersönliches Passiv sein, das in Apicius ’ Rezepten oft die Funktion eines Befehls ausdrückt. So übersetzt Alföldi-Rosenbaum (1984: 97): „ Entgräte den Fisch “ . Von diesem Standpunkt aus verstößt das Nomen sardam nicht gegen den regelmäßigen Gebrauch des Akkusativs für das direkte Objekt. Aber die Schwäche der aktiv-stativen Hypothese wird m. E. am meisten sichtbar an ihren Rekonstruktionsmethoden und ihrer Fehldeutung der Typologie. Zum einen sind Belebtheit und Bewegung zwar relevante Faktoren für einige aktiv-stative Sprachen wie Lakhota oder Mohawk, aber sie sind keine geeignete Beschreibung der aktiv-stativen Ausrichtung per se. Diese ist wie gesagt von der unterschiedlichen Behandlung der 241 <?page no="242"?> intransitiven Verben bestimmt, die von Kriterien wie Aktionsart, Kontrolle oder Befallenheit, und nicht Belebtheit und Bewegung, abhängt (vgl. Song 2001: 150 ff); die letzteren sind nur häufige Korrelate davon. Wenn man in verwandten Sprachen ein gewisses Merkmal A identifiziert, wie in den alten idg. Sprachen lexikalische Dubletten nach Belebtheit oder Bewegung, kann man auch für ihre Ursprache dieses Merkmal A rekonstruieren, nicht jedoch seine potentiellen Korrelate B, C, D, wie in unserem Fall Marker für alienabel-inalienable, inklusiv-exlusive und aktiv-stative Unterschiede, die keine definierenden Faktoren von A sind. Zum anderen ist der typologische Vergleich zwar hilfreich in der Historiolinguistik, und wir haben auch viele Fallstudien gesehen, in denen das Verhältnis anderer Sprachen zueinander für die Rekonstruktion des Urindogermanischen einleuchtend sein kann. Typologische Parallelen können z. B. die Hypothese einer Rekonstruktion verstärken oder zwischen alternativen Rekonstruktionen auf diejenige verweisen, die sprachübergreifend häufiger und deswegen wahrscheinlicher ist. Manchmal können Parallelen aus lebenden Sprachen die Funktion einiger Strukturen andeuten, die in den alten idg. Sprachen belegt oder rekonstruiert sind, für die aber eine semantische oder pragmatische Motivation opak zu sein scheint. Doch die Rekonstruktion der Stukturen des Urindogermanischen muss in erster Linie mittels der traditionellen vergleichende Methode durchgeführt werden, nicht durch den typologischen Vergleich. 157 157 Eine von der Typologie gestützte Rekonstruktion steht auch hinter der Glottaltheorie von Gamkrelidze & Ivanov (1984). In diesem Fall ist die typologische Seltenheit der Serie stimmlos [p] - stimmhaft [b] - aspiriert stimmhaft [bh], die für das Urindogermanische traditionell rekonstruiert wird, der Anfangspunkt für eine Revision des uridg. Konsonanteninventars. In den Sprachen der Welt sind stimmhafte Laute normalerweise markierter als stimmlose Laute, also ist es ungewöhnlich, dass das Urindogermanische mehr stimmhafte Laute [b, bh] als stimmlose Laute [p] hatte. Ausserdem gebe es wenige sichere Beispiele von Wörtern, die auf ein uridg. b hinweisen (eins ist der Vergleich zwischen Ved. bála- (N) „ Kraft “ , Altgr. βελτίων / βέλτερος „ besser “ , Lat. debilis „ kraftlos, schwach “ , Aksl. bolje „ mehr, besser “ , vgl. IEW 96). Diese Idiosynkrasie wird von Gamkrelidze & Ivanov (1984) dadurch gelöst, dass man die traditionell rekonstruierten stimmhaften Konsonanten als Glottale (und nicht als Plosive) interpretieren sollte: Anstatt von p b bh hätte man p p ’ b, wobei sowohl p als auch b aspirierte Allophone haben könnten. Da glottale Laute seltener als plosive Laute sind, sei die Seltenheit rekonstruierter Wörter wie uridg. *belo- „ Kraft “ verständlich. Wenn jedoch die traditionelle Rekonstruktion in den meisten Fällen ohne Probleme angewendet werden kann, sollte man nicht eine alternative Variante vorschlagen, die zwar mit den Daten der meisten Sprachen der Welt, aber nicht mit den Daten der idg. Sprachen übereinstimmt. Denn auch die Glottaltheorie hat ihre Probleme, deren Diskussion aber nicht hierher gehört (vgl. Dunkel 1981 für Details). Bauer (2000: 15) sagt, nachdem die traditionelle Rekonstruktion des Urindogermanischen schon in der Phonologie durch die Glottaltheorie angefochten wurde, können wir dasselbe auch im Bereich der Syntax machen. Wenn sich aber schon die 242 <?page no="243"?> Außerdem kann eine Sprache durchaus Strukturen haben, die sprachübergreifend selten oder bizarr sind, und wenn sie gut belegt sind, sollte man sie nicht der Mehrheit der Sprachen der Welt anpassen. Z. B. haben einige dravidische Sprachen eine unmarkierte negative Struktur, d. h. eine Struktur, die eine negative Polarität ausdrückt und trotzdem kein explizites negatives Merkmal darstellt, z. B. Altkannada n ō d · idem· „ ich sah “ , n ō d · uvem· „ ich werde sehen “ , n ō d · em· „ ich sehe nicht / ich sah nicht / ich werde nicht sehen “ (Pilot-Raichoor 2010: 268). In dieser Null-Negation, die oft auch verschiedene explizite Allomorpheme hat, werden die persönlichen Endungen direkt an die Wurzel angefügt. Das ist seltsam, weil normalerweise ein negativer Satz markierter als eine Aussage ist, und tatsächlich werden die negativen Konstruktionen des Dravidischen von Typologen im „ Raritätenkabinett “ eingeschlossen. 158 Solche Strukturen erfordern natürlich eine Erklärung: nach Pilot-Raichoor (2010) war der gegenwärtige Marker der positiven Polarität einst ein Zeichen von Tempus, Aspekt oder Modalität, und diese Eigenschaften wurden natürlich häufiger in positiven als in negativen Sätzen ausgedrückt, da eine verneinte Situation zu keiner Zeit stattfindet. Später verblassten die ursprünglichen temporalen Bedeutungen, aber ihre Form erhielt sich und wurde als ein Zeichen der positiven Polarität reanalysiert. Daher zeigt die heutige unmarkierte Form der Negation die ursprüngliche Abwesenheit der temporalen Morpheme, die negative von positiven Sätzen unterscheiden. Idiosynkratische Strukturen wie die OVS Wortfolge des Hixkaryana (Derbyshire 1985), die dreifache Ausrichtung des Georgischen oder die Endoklitika des Udi (Harris 2008) werden von Kindern sogleich ohne Probleme erworben und seit Jahrtausenden weitergegeben, weswegen man annehmen muss, dass es nichts formal Unrichtiges in solchen Systemen gibt. Eine ähnliche Situation kann für die unregelmäßigen Strukturen wie die Impersonalia und die nicht-kanonische Markierung der syntaktischen Funktionen in den alten idg. Sprachen konstatiert werden, die eine semantische oder pragmatische Erklärung in Sinne einer niedrigen Transitivität bekommen können, ohne dass wir sie einem rekonstruierten, innerlich konsistenten System anpassen: wir müssen das Seltsame erklären, nicht normalisieren. Damit meinen wir also, dass die nicht-kanonische Markierung der syntaktischen Funktionen zwar ein vom Urindogermanischen ererbtes Muster ist, wie von Johanna Barðdal und ihren Kollegen ausführlich bewiesen wurde, dass es aber nicht systematisch in Sinne einer echten aktiv-stativen Ausrichtung funktioniert. Soweit wir durch die vergleichen- Glottaltheorie auf schwache methodologische Prämissen stützt, ist natürlich auch jede Theorie zum Scheitern verurteilt, die von der Glottaltheorie unterstützt wird. 158 Vgl. http: / / ling.uni-konstanz.de: 591/ universals/ introrara.html, Rarum nr. 33: „ negation expressed negatively, by omission of material present in affirmative clause “ . 243 <?page no="244"?> de Methode rekonstruieren können, war die nicht-kanonische Markierung immer marginal und von der semantischen Transparenz der obliquen Kasus bedingt. In einigen alten idg. Sprachen wie im Altisländischen und im Altirischen wurde es wahrscheinlich ausgedehnt. 3.9 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen In diesem Kapitel haben wir das Problem der syntaktischen Funktionen in den alten idg. Sprachen diskutiert, und gesehen, dass sie eine ziemlich transparente Entsprechung in den semantischen Rollen hatten. Ein Beweis dafür ist die im Indogermanischen überall belegte nicht-kanonische Markierung der syntaktischen Funktionen, wobei in Situationen geringer Transitivität das primäre Argument des Satzes, d. h. das ranghöchste Nomen hinsichtlich Belebtheit, Menschlichkeit, Definitheit oder Topikalität, von der Funktion des grammatischen Subjekts wegdegradiert und durch andere Kasus als den Nominativ gekennzeichnet wird (§ 3.3). Die nicht-kanonische Markierung, die sprachübergreifend vom Typ der Argumente, des Prädikats und des Satzes bedingt werden kann (§ 3.3.1), wurde in den alten idg. Sprachen unterschiedlich dargestellt: der Typ des Prädikats war viel wichtiger als der Typ der Argumente und die Polarität des Satzes für die Auswahl einer kanonischen bzw. nicht-kanonischen Markierung (§ 3.3.2). Die Prädikate, die am häufigsten eine nicht-kanonische Markierung auslösen konnten, waren Witterungsverben, Empfindungsverben, Modalverben, possessive Strukturen und das unpersönliche Passiv. Trotz ihrer unterschiedlichen lexikalischen Quellen stimmen sie in ihrem syntaktischen Muster im gesamten idg. Bereich überein und deswegen können sie auch dem Urindogermanischen zugewiesen werden (§ 3.3.2.3). Die negative Polarität des Satzes war am wenigsten relevant für die oblique Markierung des Objekts und besonders des Subjekts, sodass sie auch nur in wenigen Sprachen, nämlich in den baltischen und slawischen Sprachen grammatikalisiert wird (§ 3.3.2.1). Die nicht-kanonische Markierung der Argumente konnte sowohl von semantischen als auch von pragmatischen Gründen abhängen. Pragmatisch wurden Nomina, die eine partitive Interpretation hatten, in einigen alten idg. Sprachen auch in Sätzen mit positiver Polarität durch den Genitiv markiert (§ 3.3.2.2.2). Semantisch wurden Nomina von menschlichen oder definiten Referenten in der Funktion des direkten Objekts im Altkirchenslawischen, im klassischen Armenisch und im Tocharischen durch unabhängige Neuerungen mit besonderen Formen nach dem differential object marking kodiert. Andererseits waren Nomina von unbelebten Referenten in der Funktion des Subjekts unerwünscht und in alten idg. Sprachen wie im Hethitischen und 244 <?page no="245"?> im Lateinischen manchmal durch das differential subject marking gekennzeichnet (§ 3.3.2.2.1). In Bezug auf das in der Literatur oft angesprochene Problem, ob die nicht-kanonischen Strukturen benutzt werden, um Argumente zu unterscheiden oder zu identifizieren, verweisen die alten idg. Sprachen hauptsächlich auf die Funktion der Identifizierung. Ein Ergebnis unserer Untersuchung besteht darin, dass das differential subject marking und das differential object marking nicht Spiegelbilder voneinander sind, sondern von Prinzipien verschiedener Natur gesteuert werden und auf zwei verschiedene Sprachstufen zurückgehen: das differential subject marking, dem Belebtheit zugrunde liegt, taucht früher auf und gehört vermutlich der Grammatik des Urindogermanischen an, während das differential object marking eine Darstellung der Transitivität ist und in der Ursprache nicht vorhanden war (§ 3.3.3). Wir haben auch gesehen, wie diese Prädikat-bedingten nicht-kanonischen Strukturen bezüglich der Zeit und des Raumes variieren. Über die Zeit ändern sich nicht-kanonische Strukturen in eine kanonische Markierung, obwohl das nicht gleichermassen für alle Prädikate gilt: der Wandel fängt bei Empfindungsprädikaten und (in geringerem Maße) bei possessiven Strukturen an, die in den ältesten Texten gelegentlich persönliche Konstruktionen darstellen, während Witterungsverben unpersönlich bleiben und Modalverben sogar ihre nicht-kanonischen Strukturen vermehren (§ 3.4). Im Raum haben wir eine syntaktische Isoglosse hinsichtlich der Markierung des Experiens identifiziert (§ 3.5.2), wobei die Darstellung der Empfindungsprädikate in den nördlichen und westlichen alten idg. Sprachen anders als in den östlichen und südlichen alten idg. Sprachen ist. Obwohl kanonische und nicht-kanonische Strukturen in gewissem Maße nebeneinander bestehen, wie im Lateinischen doleo und me piget „ es schmerzt mich “ , im Altindischen ś óc ā mi und m ā m p ī d· ayati „ id. “ , im Altgriechischen χαίρω und ἀρέσκει μοι „ es gefällt mir “ , im Litauischen megstu und man patinka „ id. “ , können wir bemerken, dass die alten südöstlichen idg. Sprachen wie das Altgriechische, das Hethitische, das Altindische und das klassische Armenisch eine kanonische Markierung der Partizipanten generalisiert haben (§ 3.5.2.2), während nicht-kanonische Strukturen häufig im nordwestlichen Teil des idg. Bereiches vorkamen, d. h. im Keltischen, Germanischen, Baltischen und Slawischen, wie sie auch heutzutage im Großen und Ganzen belegt sind (§ 3.5.2.1). Das ist ein wesentlicher Unterschied zu der heutigen Darstellung des Experiens in den Sprachen Europas, die einer Zentrumsvs. Peripherie-Isoglosse folgt. Bedeutsam ist die Situation des klassischen Armenisch, das mit seiner kanonischen Markierung von den vorwiegend nicht-kanonischen Strukturen der kaukasischen Sprachen nicht beeinflusst wurde. Das Lateinische hatte eine mittlere 245 <?page no="246"?> Stellung zwischen diesen beiden Gruppen, aber es war den nordwestlichen Sprachen in Bezug auf die Markierung näher (§ 3.5.2.3). Relikte der älteren nicht-kanonischen Markierung erscheinen natürlich auch in der südöstlichen Peripherie des alten Indogermanischen, und diesbezüglich haben wir gesehen, dass einige Prädikate negativer Empfindung wie „ sich fürchten “ , „ krank sein “ oder „ leiden “ der semantische Nukleus sind, der der Ausbreitung kanonischer Strukturen am längsten widersteht (§ 3.5.3). Auch der Kontakt mit nahe liegenden nicht-idg. Sprachen konnte die Markierung der syntaktischen Funktionen im alten Indogermanisch beeinflussen. Die auffälligsten Beispiele dafür sind der Gebrauch des Genitivs statt des Akkusativs oder (in geringerem Maße) des Nominativs in verneinten Sätzen und in partitiven Kontexten im Slawischen und im Baltischen, der vom Kontakt mit dem Finno-Ugrischen bedingt ist (§§ 3.3.2.1, 3.3.2.2.2), sowie die außergewöhnliche Entwicklung vom Nominativ-Experiens des Altindischen zum Dativ-Experiens der neuindischen Sprachen, für die der Kontakt mit dem Dravidischen am meisten verantwortlich ist (§ 3.5.2.2). Einen weiterer Fall, der in der Literatur normalerweise nicht als Darstellung eines linguistischen Kontaktes betrachtet wird, bei dem aber externe Faktoren die Markierung der syntaktischen Funktionen mitgeprägt haben können, haben wir in der außerordentlich verbreiteten Verwendung topikalisierter Strukturen im Hethitischen, das von Justus (1976) für eine topic prominent language gehalten wurde, wie auch im Altpersischen gesehen. Solche Topikalisierungen können vom Semitischen beeinflusst gewesen sein, in dem Phänomene von casus pendens extrem häufig sind (§ 3.2.1). Den externen Kontakt haben wir hier jedoch als Auslöser einiger innerer Tendenzen interpretiert, die in den alten idg. Sprachen bereits bestanden, also im Sinne einer contact-induced grammaticalization. Auch im Fall der alten idg. Sprachen, die eine kanonische Markierung der syntaktischen Funktionen bevorzugen, wird sie immerhin anders als in den modernen idg. Sprachen dargestellt: in Sprachen wie dem Englischen sind Empfindungsverben genau wie Tätigkeitsverben markiert, sodass kein produktiver formeller Unterschied nach der Semantik des Prädikats besteht, während in der kanonischen Markierung des Altgriechischen, des Altindischen, des Hethitischen und des klassischen Armenisch die niedrige Transitivität des Satzes am Verb durch besondere flexionelle oder derivationelle Vorgänge wie das idg. Medium oder denominale Bildungen gekennzeichnet ist. In der Markierung des Experiens unterschieden sich die nordwestlichen von den südöstlichen alten idg. Sprachen im locus der Markierung, sodass die Tendenz einer gewissen Arbeitsteilung zwischen verbaler und nominaler Morphologie identifiziert werden kann, die auch typologische Unterstützung bekommt (§ 3.6). Hinter der Variation und dem Wandel der nicht-kanonischen Strukturen haben wir eine Systematizität festgestellt. Zum Ersten zeigen die alten 246 <?page no="247"?> idg. Sprachen eine große Asymmetrie zwischen dem primären und dem sekundären Argument des Satzes, weil sogar jene Sprachen, die am häufigsten kanonische Strukturen für das primäre Argument verwenden, für die Variation in der Darstellung des sekundären Arguments viel Raum lassen. In der heterogenen Syntax des Stimulus können auch zwei oder mehr Kasus (natürlich mit semantischen Unterschieden) nebeneinander stehen; z. B. regiert Altgr. μιμνήσκομαι „ ich erinnere mich “ sowohl den Genitiv als auch den Akkusativ, während das Experiens fest im Nominativ steht (§ 3.7.1). Während der Akkusativ ursprünglich eine engere Beziehung mit den anderen obliquen Kasus als mit dem Nominativ hatte, wird er in der späteren Kasustheorie genau wie der Nominativ für einen strukturellen Kasus gehalten, und wir haben diese Änderung in den paradigmatischen Beziehungen des Akkusativs als eine Darstellung der zunehmenden Transitivität der idg. Sprachen interpretiert (§ 3.2.2). Zum Zweiten haben wir eine Implikationsskala für die Argumentstruktur der Empfindungsprädikate in den alten idg. Sprachen vorgeschlagen, wobei der Dativ häufiger als der Akkusativ für das Experiens ausgewählt wird und der Akkusativ häufiger als der Genitiv. Dadurch kann die Darstellung des Experiens in der Diachronie möglicherweise vorhergesagt werden, weil die Kasus, die für das Experiens synchron am seltensten ausgewählt werden, auch diejenigen sind, die für diese Funktion am frühesten verfallen. Der Ersatz von Genitiv- oder Akkusativ-Experiens durch Dativ-Experiens ist häufig belegt (§ 3.7.2). In der Diachronie neigt also die Markierung der syntaktischen Funktionen zu einer immer höheren Abstraktion, und zwar sowohl im Nominalsystem als auch im Verbalsystem. In Nomina können der Nominativ und der Akkusativ mit der Zeit immer mehr semantische Rollen kodieren, sodass ihre ursprüngliche Bedeutung als Agens bzw. Patiens allmählich opak wird. In Verben wird die Kodierung der Person und der Diathese immer homogener. Wir haben auch die Haltbarkeit der „ Aktiv-stativ- Hypothese “ diskutiert. M. E. erlaubt es der Vergleich nicht, eine ursprüngliche aktiv-stative Ausrichtung für das Urindogermanische zu rekonstruieren, wenn man sie als ein konsistentes System versteht, orientiert am Beispiel nordamerikanischer Sprachen. Wenn man hingegen dem Urindogermanischen eine „ fließende Ausrichtung “ (fluid alignment) im Sinne von Barðdal & Eythórsson (2009) zuweist, bei der nicht alle grammatischen Merkmale der typisch aktiv-stativen Sprachen vorkommen, können wir mit dieser Meinung übereinstimmen. Im Allgemeinen haben wir aber hervorgehoben, dass man die idiosynkratischen syntaktischen Strukturen des Indogermanischen nicht dem Muster anderer Sprachen anpassen sollte, nach dem sie regelmäßiger erscheinen würden, weil nicht-kanonische Konstruktionen auch in stark ausgeprägten Nominativ-Akkusativ-Sprachen unabhängig entstehen und erneuert werden können (§ 3.8). Ebensowenig stimmen wir mit der Hypothese überein, dass das Urindogerma- 247 <?page no="248"?> nische eine echte topic prominent language gewesen sei, weil Topikalisierungen, die außerhalb der Argumentstruktur des Satzes stehen, in allen Sprachen vorkommen und deswegen nicht spezifisch für die alten idg. Sprachen waren. In dieser Hinsicht spielen Register-Faktoren die größte Rolle (§ 3.2.1). Gegen die (starken) Versionen der Hypothesen vom Urindogermanischen als einer topikprominenten Sprache oder einer aktiv-stativen Sprache müssen wir anführen, dass zumindest die Funktion des Subjekts trotz seiner semantischen oder pragmatischen Entsprechungen im Urindogermanischen, soweit wir es rekonstruieren können, schon grammatikalisiert war. Obwohl sich in der nicht-kanonischen Markierung ein Obliquus nach syntaktischen Tests wie Reflexivierung, Konjunktion-Reduktion, Verb- Umstellung, Kontrolle und Anhebungen wie ein Subjekt verhält, sind seine behavioral properties in den meisten alten idg. Sprachen eher pragmatisch als syntaktisch bedingt und bleiben oft optional. Die coding property der Kongruenz hingegen ist eindeutig, weil das Verb immer mit dem Nominativ-Stimulus und nie mit dem obliquen Experiens kongruiert, obwohl das letztere in Belebtheit und Topikalität ranghöher ist. Das ist in anderen Sprachen wie dem Tibetobirmanischen nicht der Fall, in dem das oblique Experiens auch die verbale Kongruenz auslösen kann (§§ 3.2.1, 3.4.2). Ein weiteres Zeichen für die frühe Generalisierung des Nominativs außerhalb des Bereiches des Agens ist das Vorherrschen der kanonischen Markierung im ganzen südöstlichen Teil der alten Indogermania, auch wenn es im Altgriechischen, klassischen Armenisch, Hethitischen und Vedischen für eine unabhängige Drift gehalten werden kann. Das Experiens ist diejenige Rolle, die sich wegen der Ähnlichkeit seines Referenten mit dem Referenten des Agens im Indogermanischen am frühesten von ihrer semantischen Basis gelöst und den Ausdruck des Nominativs erworben hat. Andere semantische Rollen wurden erst später grammatikalisiert und in die Funktion des Subjekts integriert. Im folgenden Kapitel werden wir sehen, dass die Auswahl nichtkanonischer Strukturen für die Darstellung der syntaktischen Funktionen eine Beziehung zur Entwicklung der syntaktischen Hierarchie hat. Daraus ergibt sich, dass die alten idg. Sprachen wie das Altisländische, in denen nicht-kanonische Strukturen am häufigsten gebraucht werden, auch am frühesten eingebettete Konstruktionen entwickeln. 248 <?page no="249"?> Kapitel IV Syntaktische Hierarchie 4.1 Forschungsfragen zur syntaktischen Hierarchie Ausschlaggebend für den Begriff der Hierarchie ist die Tatsache, dass einerseits bestimmte Wörter innerhalb des Satzes eine engere Beziehung zueinander haben (und deshalb zusammen eine Phrase bilden), und dass andererseits einige Wörter bzw. Phrasen von einem syntaktischen oder semantischen Standpunkt aus wichtiger als andere für die Interpretation des Satzes sind. Weder die griechisch-römischen noch die indischen grammatischen Traditionen haben die syntaktische Hierarchie berücksichtigt, wahrscheinlich wegen ihrer Abstraktion, 159 und auch in der Indogermanistik ist die Hierarchie der am wenigsten untersuchte syntaktische Bereich. Daher müssen wir diesen Begriff näher beschreiben und erklären, bevor wir ihn auf die alten idg. Sprachen anwenden (§ 4.2), und wir werden es tun durch den Vergleich zwischen konfigurationellen und nicht-konfigurationellen Sprachen, die teils mehr teils weniger eine syntaktische Hierarchie entwickelt haben. In einer typisch konfigurationellen Sprache wie im Englischen sind die syntaktischen Kriterien eindeutiger und deshalb wichtiger als die morphologischen Kriterien, um Kategorien und Funktionen zu identifizieren. Eine Phrase wie a green apple besteht nicht aus Wörtern, die dieselben morphologischen Endungen haben, sondern aus Wörtern, die nebeneinander stehen und in Transformationen nicht getrennt werden können (4.1). (4.1 a) John ate a green apple. (4.1 b) A green apple ate John. (4.1 c) *A green John ate apple. Die Ungrammatikalität der diskontinuierlichen Phrase in (4.1 c) bestätigt das No Crossing Branches Constraint, nach dem, wenn ein Knoten X vor einem anderen Knoten Y steht, dann sowohl X als auch alle seine Nachkommen vor Y stehen müssen (vgl. Radford 1988: 121). Außerdem müssen die Argumente des Verbs in einer konfigurationellen Sprache erfüllt sein: 159 So schreibt Householder (1981: 2) in seinem Kommentar über Apollonios Dyskolos: „ Suppose we consider some of the simplest and most basic grammatical notions: phrase, (subordinate) clause, noun phrase, verb phrase or predicate (phrase), subject, direct object, indirect object, adverbial phrase, prepositional phrase. Not one of these rudimentary notions was available to Apollonius Dyscolus, and yet he managed to express a great many ideas without them which we would express more simply with them. “ 249 <?page no="250"?> „ Null-Anaphora “ , d. h. die Abwesenheit von Pronomina für argumentale Beziehungen, sind verboten, wie illustriert in (4.2). (4.2 a) *ate a green apple. (4.2 b) *John bought a green apple i and ate _ i In (4.2 a) fehlt das Subjekt, und das ergibt einen ungrammatischen Satz im Englischen, in dem es unmöglich ist, syntaktische Argumente wegzulassen (außer in Imperativen und in informalen Registern). Der Fall in (4.2 b) ist sprachübergreifend seltener als der in (4.2 a). Wenn das direkte Objekt eines transitiven Verbs fehlt (z. B. John ate), bekommt es eine generische Interpretation, und das Verb ist ein activity-predicate im Sinne von Vendler (1957), d. h. es bezeichnet eine atelische Situation, die für eine gewisse Zeit getan werden kann (John ate for ten minutes). Dagegen ist in (4.2 b) die Rede von einem bestimmten Apfel: hier ist das Verb telisch, und insbesondere ein accomplishment-predicate, dessen Vorgang in einer gewissen Zeit durchgeführt wird (John ate an apple in ten minutes). In der spezifischen Interpretation ist das direkte Objekt kaum weglassbar, sogar in den PRO-drop- Sprachen; so haben weder das Italienische noch das Spanische die Null- Objekt-Anaphora. 160 Diese Beispiele stellen „ Konfigurationen “ (configurations) dar, d. h. Gruppen von Wörtern, deren Anwesenheit und Stellung notwendig fixiert ist. Typische Konfigurationen des Englischen sind die NP, die aus Artikel und Nomen besteht (the apple), die VP, die aus Hilfsverb und Vollverb besteht (has eaten), die PP, die aus Präposition und Nomen besteht (in ten minutes), und die AP, die aus einem Adverb und einem Adjektiv besteht (very high). Die Phrase wird aus einem mehr grammatischen sowie einem mehr lexikalischen Element gebildet, und besteht aus Kopf und (optional) Spezifizierer, Ergänzung oder Adjunkt (vgl. Fanselow 1987; Radford 1988: 175ff; Dürscheid 2012 a: 114 ff). Das Prinzip der Rektion ist grundsätzlich in der Syntax einer konfigurationellen Sprache vorhanden. Deshalb ist die syntaktische Struktur einer solchen Sprache inhärent hierarchisch. Das kann auch in komplexen Sätzen erscheinen, in denen die enge Verknüpfung der „ Einbettung “ (embedding) gegenüber der lockeren Apposition oder der „ angeschlossenen “ (adjoined) Unterordnung überwiegt. Der erste Einwand gegen die behauptete Allgemeingültigkeit der Konfigurationalität kam von K. Hale (1983), nach dessen Studien die 160 Das Überwiegen impliziter Subjekte über implizite Objekte (vgl. Luraghi 2004) steht in Beziehung zu der Tatsache, dass das Subjekt das am häufigsten ausgedrückte Argument des Satzes ist: Zumindest seit Zipfs (1935) Studien ist klar, dass häufig verwendete Formen aus ökonomischen Gründen auch mehr Chancen haben, gekürzt zu werden, und Auslassung ist der extreme Fall formaler Reduzierung. 250 <?page no="251"?> Konfigurationen des Englischen und der meisten modernen idg. Sprachen nicht relevant für Sprachen wie das Warlpiri sind. Das Warlpiri, eine Pama- Nyungan-Sprache Australiens, hat keine Beschränkung in Bezug auf die Anwesenheit, Stellung oder Vollständigkeit einer Phrase. Zum Ersten sind alle syntaktisch möglichen Wortfolgen von Subjekt, Objekt und Verb in Warlpiri erlaubt, sofern das Hilfsverb an der zweiten Stelle des Satzes steht. Natürlich sind nicht alle Kombinationen gleich akzeptabel in denselben Kontexten, aber alle sind grammatisch, im Unterschied zu ihren englischen Entsprechungen. Dem Hilfsverb kann zwar ein Nomen und sein Modifikator vorangestellt werden, nicht jedoch das Vollverb mit seinem direkten Objekt: das beweist, dass Verb und direktes Objekt keine syntaktische Konstituente in Warlpiri bilden. Zum Zweiten besteht eine freie Wortfolge nicht nur zwischen Hauptkonstituenten, sondern auch zwischen den Gliedern derselben Konstituente: ein Nomen und seine Modifikatoren können im Satz verteilt sein und mit anderen Konstituenten ineinander greifen (4.3). Diese Diskontinuität ist ein klarer Verstoß gegen das no crossing branches constraint. (4.3) kurdu-yarra-rlu ka-pala yalumpu maliki wajili-pinyi wita-jarra-rlu child-DU-ERG PRS-3DU.SUBJ that.ABS dog.ABS chase-NPAST small-DU-ERG „ The two small children are chasing that dog. “ Die mögliche Distanzstellung zwischen einem Nomen (kurdu-yarra-rlu) und seinem Modifikator (wita-jarra-rlu) zeigt, dass die beiden keine gemeinsame NP bilden. Da es keine mittelbare Phrase zwischen dem Knoten des Satzes und den terminalen Knoten der einzelnen Lexeme gibt, wird behauptet, dass Sprachen wie das Warlpiri eher eine „ flache “ (flat) als eine hierarchische Konstituentenstruktur besitzen. Zum Dritten können das Subjekt oder das direkte Objekt oder beide weggelassen und deshalb als implizite Pronomina interpretiert werden. In diesem Sinne ist Warlpiri eine PRO-drop-Sprache für die optionale Anwesenheit nicht nur des Subjekts (4.4 a), sondern auch des Objekts (4.4 b). (4.4 a) maliki ka-pala wajili-pinyi. dog.ABS PRS-3DU.SUBJ chase-NPAST „ (They) are chasing the dog. “ (4.4 b) kurdu-yarra-rlu ka-pala wajili-pinyi. child-DU-ERG PRS-3DU.SUBJ chase-NPAST „ The two children are chasing (it). “ Pronominale Klitika, die die Funktion des Subjekts und des direkten Objekts haben, werden zum an zweiter Stelle stehenden Hilfsverb koindiziert. Nach Jelinek (1984) und Baker (2001 a; 2001 b) vertreten diese Klitika die echten verbalen Argumente, während die Kasus-markierten Nomina 251 <?page no="252"?> eigentlich Adjunkte sind. Die lockere Verbindung zwischen den pronominalen Klitika und den Adjunkt-NP erlaube die freie Stellung der letzteren. Neben Warlpiri wurden in den letzten Jahren viele weitere nichtkonfigurationelle Sprachen und Sprachfamilien anerkannt. Natürlich haben nicht alle dieselben Beschränkungen in Bezug auf die Anwesenheit, Stellung und Vollständigkeit der Konstituenten, sodass man zwischen enger und breiter Nicht-Konfigurationalität unterscheidet, je nachdem ob eine Sprache alle oder nur einige Eigenschaften der Diskontinuität, der fehlenden VP und der Null-Anaphora zeigt. Als Beispiel dafür erwähnt Baker (2001 b: 1434) Dyirbal, Nunggubuyu, Jiwarly (Australien), Alambak, Yimas (Neuguinea), Salish, Uto-Aztekish, Muskogean, Irokese, Algonkin, Lakhota, Klamath-Sahaptian, Quechua (Amerika), Malayalam und Japanisch (Ostasien). In Europa findet man das Ungarische „ and perhaps even German “ (ib.). Nachdem das Deutsche jedoch die einzige dieser Gruppe angehörende idg. Sprache ist und seine „ similarity to the non-configurational type is also the most tenuous “ (p. 1438), scheint die Anwesenheit bzw. Abwesenheit der Konfigurationalität ein Zeichen des syntaktischen Unterschieds zwischen idg. und nicht-idg. Sprachen zu sein (vgl. auch Huck & Ojeda 1987; Bunt & van Horck 1996; Pensalfini 2004). Dieser Unterschied erscheint jedoch in einem milderen Licht, wenn man die alten idg. Sprachen berücksichtigt. Die Phänomene der crossing branches und der Null-Anaphora entsprechen denjenigen Strukturen, die in der rhetorischen Tradition im Bereich des Hyperbatons und verschiedener Typen von Ellipsen eingeschlossen wurden. Ihre eher linguistische als stilistische Aufwertung ist aber ein ziemlich neues Phänomen, indem nämlich in der Historiolinguistik dem Urindogermanischen eine grundsätzlich nicht-konfigurationelle Struktur zugewiesen wurde (vgl. Schäufele 1990; Sigurðsson 1993; Rögnvaldsson 1995; Devine & Stephens 1999; Hewson & Bubenik 2006; Luraghi 2010 a). Devine & Stephens (1999) bemerken, dass der syntaktische Unterschied in der Konstituentenstruktur zwischen typisch konfigurationellen Sprachen wie Englisch oder Französisch und nicht-konfigurationellen Sprachen wie Warlpiri oder Mohawk deutlich wird, wenn die Sprecher der letzteren aufgefordert werden, englische Sätze in ihre Sprache zu übersetzen. Anstatt eines Satzes wie The big dog bit the snake, benutzten sie am häufigsten Strukturen wie Dog bit snake. That dog is big (vgl. Blake 1983). Dagegen gibt es mehrere Ähnlichkeiten zwischen bekannten nicht-konfigurationellen Sprachen wie Warlpiri oder Mohawk einerseits und dem Altgriechischen andererseits ( „ When reading analyses of such languages, the Classicist is liable to experience an eerie feeling of déjà vu, because many features typical of this type of syntax are familiar features of Greek syntax. This is particularly true of Homeric Greek, with its paratactic proclivities “ , Devine & Stephens 1999: 142). Das folgende Beispiel aus dem 252 <?page no="253"?> südlichen Tiwa, einer in Neumexiko gesprochenen Sprache, findet so eine natürliche Übersetzung ins Altgriechische: (4.5) Südliches Tiwa (Kiowa-Tanoan; Devine & Stephens 1999: 149) shimba bi-m ũ -ban seuan-nin all I.saw men πάντας εἶδον τοὺς ἄνδρας Unter diesen Voraussetzungen werden wir uns in diesem Kapitel die folgenden Forschungsfragen stellen: Erstens: inwiefern können die alten idg. Sprachen und das Urindogermanische für nicht-konfigurationell gehalten werden? Wie üblich sind in den alten idg. Sprachen Strukturen wie Null-Anaphora und Hyperbata, die gegen die Anwesenheit bzw. Kontiguität der Glieder einer Phrase verstoßen? In welchen Konstruktionen kommen sie am meisten vor und in welchen Sprachen? Welche Funktion können wir in den Texten der alten idg. Sprachen für Null-Anaphora und Hyperbata im Vergleich mit den konkurrierenden Formen der expliziten Pronomina bzw. der kontinuierlichen Phrasen identifizieren? Welche weiteren nicht-konfigurationellen Merkmale zeigen die alten idg. Sprachen, und welche davon können auch für das Urindogermanische rekonstruiert werden? (§ 4.2) Zweitens versuchen wir, die Entwicklung der syntaktischen Hierarchie im Indogermanischen zu rekonstruieren, mit besonderer Berücksichtigung von Rektion, Modifikation und Einbettung. Wir werden sehen, dass es, obwohl diese hierarchischen Einheiten in den ältesten Texten gewissermaßen schon herausgebildet sind, durchaus Spuren ihrer Zunahme gibt. In Bezug auf die Rektion fragen wir uns, wie die Beziehungen zwischen den Bestandteilen einer VP, einer PP und einer NP in den alten idg. Sprachen waren. Welche Strukturen konnten mit dem Genitiv, der ein deutliches Dependens innerhalb der NP ist, konkurrieren und welche Funktionen lagen einer solchen Konkurrenz zugrunde (§ 4.3)? In Bezug auf die Modifikation versuchen wir die Darstellung der attributiven, prädikativen und adverbialen Funktionen des Adjektivs in den alten idg. Sprachen zu bestimmen. Welche Sprachen entwickeln zuerst eindeutige attributive Strukturen oder eingebettete NP, die aus Nomen und Adjektiv bestehen, und mit welchen formalen Ressourcen? Wie unterschied sich der funktionale Bereich des Modifikators in den alten idg. Sprachen von den modernen? Welche Lösung können die alten idg. Sprachen für das Problem der Vereinigung von attributiver und prädikativer Funktion anbieten (§ 4.4)? In Bezug auf die Satzverbindung fragen wir uns, wie die ursprüngliche Struktur des korrelativen Diptychons in verschiedenen alten idg. Sprachen und in verschiedenen Strukturen derselben Sprache bewahrt wird. Wie können wir die Ähnlichkeiten und die Unterschiede zwischen 253 <?page no="254"?> dem Muster der Relativsätze und dem der Adverbialsätze erklären? Welche Prinzipien liegen dem scheinbar heterogenen Bereich der Ergänzungssätze zugrunde? Können wir einige Verfahren für die Ergänzungssätze identifizieren, die in den verschiedenen alten idg. Sprachen am meisten übereinstimmen und deswegen auch für das Urindogermanische rekonstruiert werden können? Welche kompletiven Strukturen sind dagegen für innovativ zu halten, und welche Sprachen sind am fortgeschrittensten in der Entwicklung der Unterordnung? Neben der Feststellung einiger Tendenzen müssen wir natürlich auch die Ausnahmen für den Wandel in der Satzverbindung berücksichtigen und zumindest eine Erklärung dafür zu geben versuchen (§ 4.5). Doch zunächst sollen hier die Null-Anaphora und das Hyperbaton diskutiert werden, die zum Kern der Nicht-Konfigurationalität gehören. 4.2 Variation in der Hierarchie der alten idg. Sprachen 4.2.1 Null-Anaphora Mehrere Studien haben illustriert, dass die Null-Anaphora des direkten Objekts 161 , die einen Verstoß gegen die Anwesenheit der Argumente darstellt, in den alten idg. Sprachen weder willkürlich noch völlig von einem künstlerischen Stil oder von pragmatischen Faktoren der Topikalität abhängig ist, sondern dass sie wesentlich von der Syntax bedingt wird (vgl. Dressler 1971; Johnson 1991; Keydana 2009; van der Wurff 1997; Luraghi 1997; 2003 a; 2004; 2010 a). Die Verwendung von Null-Anaphorae ist zwar von der Gattung beeinflusst: sie ist besonders häufig z. B. in der Komödie, weil im Gespräch der Referent impliziter Nominalia dank des außerlinguistischen Kontextes einfach wieder aufgenommen werden kann, wie auch in technischen Texten, die eine vorhersagbare Topik und einen schnörkellosen Stil haben. Aber das Vorkommen der Null-Anaphora hängt auch vom Typ der Konstruktion ab, wobei implizite Objekte umso häufiger vorkommen, je enger die syntaktische Verknüpfung zwischen zwei oder mehr Konstituenten ist. Luraghi (1997; 2003 a; 2004) hat nachgewiesen, dass im Altgriechischen und im Lateinischen Null-Objekte regelmässig mit dem participium coniunctum gebraucht werden, und dass sie häufig in den letzten 161 Ab jetzt verstehen wir der Einfachheit halber unter Null-Anaphora nur das Auslassen eines spezifischen direkten Objekts bei einem transitiven Verb, obwohl auch indirekte Objekte und andere Argumente implizit gelassen werden können. Implizite Subjekte sind die unmarkierte Option in den anaphorischen Verfahren der alten idg. Sprachen und benötigen deswegen keine besondere Erklärung. 254 <?page no="255"?> koordinierten Sätzen und in der Antwort auf eine Entscheidungsfrage erscheinen, wo auch der textuelle Zusammenhang deutlich ist. Obwohl die Null-Anaphora in den meisten alten idg. Sprachen vorkommt und deswegen auch dem Urindogermanischen zugewiesen werden kann, zeigen natürlich nicht alle alten idg. Sprachen dieses Phänomen auf dieselbe Weise. Das Altisländische ist wahrscheinlich diejenige idg. Sprache, in der die Null-Anaphora am üblichsten ist (Sigurðsson 1993; Rögnvaldsson 1995; Faarlund 2004: 166 - 68; Nedoma 2006: 131 - 132; Barnes 2008: 241). Wir haben ein Beispiel dafür ganz am Anfang des Libellus Islandorum, der ersten Geschichte Islands, gefunden (4.6): (4.6) Íslendingabók i gørða ek fyrst byskupum Isländerbuch: AKK machen: PRÄT.IND1SG ich: NOM zuerst Bischof(M): DAT.PL órum Þorláki ok Katli, ok sýndak unser: DAT.M.PL Thorlak: DAT und Ketil: DAT und zeigen: PRÄT.IND.ich: NOM _ i bæði þeim ok Sæmundi presti beide sie: DAT.M.PL und Sigmund: DAT Priester(M): DAT.SG „ Das Isländerbuch i machte ich zuerst für unsere Bischöfe Thorlak und Ketil, und ich zeigte (es) i sowohl ihnen als auch Priester Sigmund. “ (Ari þorgilsson, Íslendingabók, Formáli) Das Nominal Íslendingabók „ Isländerbuch “ , das am Anfang des Diskurses topikalisiert ist, hat die Funktion des direkten Objekts sowohl des Verbs gørða „ ich machte “ im ersten Satz als auch des Verbs sýnda „ ich zeigte “ im zweiten Satz; im letzteren wird es jedoch nur implizit ausgedrückt. Die Null-Anaphora ist ebenfalls ziemlich häufig im Altgriechischen und im Lateinischen, wie Luraghi (1997; 2003 a; 2004) ausführlich illustriert. Dasselbe können wir für das klassische Armenisch behaupten, weil wir Stellen finden können, in denen diese Sprache das direkte Objekt weglässt, welches im griechischen Original hingegen explizit vorkommt (4.7). (4.7) ew cnaw z-ordi-n iwr und gebären: AOR.IND.MED3SG z-Sohn(M): AKK.SG-ART REFL: GEN.SG z-andranik i , ew pateac ‘ _ i i xanjarowrs z-Erstgeboren(M): AKK.M.SG und wickeln: AOR.IND3SG in Windel: AKK.PL ew ed z-na i msowr und legen: AOR.IND3SG z-ihn: AKK in Krippe: AKK.SG „ Und sie gebar ihren erstgeborenen Sohn, und sie wickelte (ihn) in Windeln und legte ihn in eine Krippe. “ (Luc. 2.7; Übersetzung Schmitt 2007: 176) Das griechische Original bei Luc. 2.7 lautet: καὶ ἔτεκεν τὸν υἱὸν αὐτῆς τὸν πρωτότοκον , καὶ ἐσπαργάνωσεν αὐτὸν καὶ ἀνέκλινεν αὐτὸν ἐν φάτνῃ . Das Pronomen αὐτόν , dessen deiktische Funktion im neutestamentarischen Griechisch abgeschwächt ist, erscheint im Original zweimal, während in der armenischen Wiedergabe nur sein letztes Vorkommen durch ein 255 <?page no="256"?> explizites Pronomen (z-na) 162 ausgedrückt wird. Während man im Fall einer Übereinstimmung zwischen Original und Übersetzung nicht sicher sein kann, ob die Übersetzung nur eine Nachahmung oder eher ein natürliches Muster in der jeweiligen Sprache darstellt, sind wir im Fall einer Abweichung sicher, dass die Struktur in der Sprache der Übersetzung grammatisch und möglicherweise auch produktiv ist. In anderen alten idg. Sprachen hingegen scheinen implizite Objekte selten zu sein. Für das Altindische behauptet Gaedicke (1880: 278), dass die Ellipse des direkten Objekts kaum zu finden ist, und auch neuerdings legt Keydana (2009) dar, dass der anaphorische Gebrauch von Nullpronomina auf diejenigen Fälle beschränkt ist, in denen die leere Anaphora in unmittelbarer Nähe zu ihrem Antezedens steht ( „ Antezedens eines Nullobjekts ist die nächste im Diskurs vorausgehende NP “ , S. 137); es sei extrem selten für ein Nullobjekt, durch eine intervenierende NP von seinem Antezedens getrennt zu sein. Bedeutsamerweise erläutert Keydana seine Annahme an einem Beispiel (RV 5.80.4), bei dem das Nullobjekt von einem Partizip regiert wird: das ist genau jene Konstruktion, die nach Luraghi (1997; 2003 a) im Lateinischen und Altgriechischen die Null-Anaphora am häufigsten auslöst. Die Stellen, bei denen die Satzverbindung enger ist, sind also diejenigen, bei denen die verschiedenen idg. Sprachen im Gebrauch der Nullobjekte übereinstimmen, und das betrifft sogar Sprachen wie das Vedische, die daran ärmer sind. Wenn wir einen beliebigen vedischen Prosatext heranziehen, z. B. die berühmte Erzählung von Manu und der Flut ( Ś B 1.8.1.1 - 11), in der Manu sich mit einem Fisch unterhält, können wir tatsächlich die Seltenheit der Nullobjekte und ihre Konkurrenz zu betonten und unbetonten Pronomina bemerken: lediglich zwei Beispiele von Nullobjekten haben wir in diesem Text gefunden (4.8), hingegen 25 Beispiele von expliziten pronominalen Objekten, mithin werden hier Null-Anaphorae in 8 % der Fälle verwendet. Von expliziten pronominalen Objekten sind 10 betont (4.9) und 15 unbetont (4.10). (4.8) tám i evám bhr · tv ā ´ samudrám _ i abhyávajah ā ra dieser: AKK.M.SG so pflegen: GER Ozean(N): AKK.SG werfen: PF3SG „ Als er ihn so gepflegt hatte, warf er ihn in den Ozean. “ ( Ś B 1.8.1.5) (4.9) t ā ´ m· ha mánur uv ā ca dieser: AKK.F.SG PTK Manu(M): NOM sagen: PF3SG „ Ihr sagte Manu. “ ( Ś B 1.8.1.9) 162 Siehe die nota accusativi, die auch bei den definiten Nomina z-andranik und z-ordi-n (hier mit zusätzlichem bestimmtem Artikel) erscheint. Über die nicht-kanonische Markierung des direkten Objekts im klassischen Armenisch durch die Präposition zvgl. § 3.3.2.2.1. 256 <?page no="257"?> (4.10) kumbhy ā m m ā ´ gre bibhar ā si Topf(F): LOK.SG ich: AKK.am.Anfang pflegen: PRS.KONJ3SG „ In einem Topf sollst du mich am Anfang pflegen. “ ( Ś B 1.8.1.3) Das Nullobjekt in (4.8) kommt unweigerlich im Fall der engen Verknüpfung zwischen einem finiten Verb (abhyávajah ā ra) und einem Gerundium (bhr · tv ā ´) vor. 163 Betonte und unbetonte Pronomina zeigen eine Beziehung zur Kategorie der grammatischen Person: betonte Pronomina scheinen die dritte Person zu bevorzugen, wie t ā ´m in (4.9), während unbetonte Pronomina am häufigsten in der ersten oder zweiten Person vorkommen, wie m ā in (4.10). 164 Es ist nachvollziehbar, dass die erste und zweite Person, die die Sprechaktteilnehmer bezeichnen und deswegen im Kontext hoch topikal sind, keine besonders explizite Form brauchen. Nullobjekte sind so gut wie unbelegt auch im Hethitischen: Luraghi (2004) legt dar, dass man in solchen Fällen immer ein klitisches Pronomen findet, und bemerkt eine Beziehung zwischen der seltenen Verwendung impliziter Objekte und der Verteilung der Wackernagel-Klitika, die im Hethitischen viel grammatikalisierter sind als in anderen alten idg. Sprachen. Das könnte mit der Tatsache übereinstimmen, dass Hethitisch auch die einzige Sprache ist, die klitische Pronomina für das Subjekt besitzt. Obwohl klitische Subjekte nur in intransitiven Sätzen vorkommen (vgl. Melchert & Hoffner 2008: 280 - 281), ist die Position des Subjekts im Hethitischen immerhin syntaktisch bedingter als in den anderen alten idg. Sprachen, in denen explizite Subjekte nur von pragmatischen Faktoren wie Kontrast oder Nachdruck begünstigt werden. 165 Im Allgemeinen ist die Null-Anaphora des direkten Objekts eine syntaktische Darstellung des breiteren Begriffs der Ellipse, nach der ein Wort oder eine Wortgruppe vom Satz unausgedrückt gelassen werden kann. Die Ellipse hatte in den alten idg. Sprachen einen viel größeren Umfang als in den meisten modernen idg. Sprachen. 166 In den ersteren konnte selbst der Kopf einer Phrase weggelassen werden, wenn seine 163 Das (einzige) andere Beispiel für eine Null-Anaphora in der Erzählung von Manu und der Flut ( Ś B 1.8.1.1 - 11) ist das folgende: 1.8.1.1 yáthedám p ā n · íbhy ā m avanéjan ā y ā háranti „ so wie man (es) heutzutage zum Waschen der Hände bringt. ‘ Das Wort idám ist hier kein direktes Objekt, sondern ein temporales Adverb, das in Verbindung mit der Konjunktion yáth ā steht: „ wie jetzt “ . 164 Hier ist m ā ´gre ein Sandhi für das klitische Pronomen m ā „ mich “ mit dem Adverb ágre „ am Anfang “ . 165 Das explizite Subjekt muss aber auch im Hethitischen referentiell sein. Leere Subjekte sind auch in dieser Sprache unmöglich, z. B. h ˘ urkil „ (es ist) hurkil “ (Hoffner & Melchert 2008: 282). 166 Eine moderne idg. Sprache, die hingegen durchaus Objektellipsen zulässt, ist z. B. das gesprochene Russisch, in dem Objekte nicht nur in koordinierten Zweitkonjunkten weggelassen werden können, sondern auch transphrastisch (Daniel Weiss, p. K.). 257 <?page no="258"?> Bedeutung aus dem Kontext klar hervorging. Siehe die folgende Stelle bei Platon: (4.11) ΣΩ . τέκτονος μὲν ἄρα ἔργον ἐστὶν ποιῆσαι πηδάλιον ἐπιστατοῦντος κυβερνήτου , εἰ μέλλει καλὸν εἶναι τὸ πηδάλιον . ΕΡΜ . φαίνεται . ΣΩ . νομοθέτου δέ γε , ὡς ἔοικεν , ὄνομα , ἐπιστάτην ἔχοντος διαλεκτικὸν ἄνδρα , εἰ μέλλει καλῶς ὀνόματα θήσεσθαι . SO. „ Des Zimmermanns Geschäft also wäre, ein Steuerruder zu machen unter Aufsicht des Steuermannes, wenn das Ruder gut werden soll. HERM. Richtig. SO. Des Gesetzgebers aber, wie es scheint, auch Wörter, wobei er zum Aufseher hätte einen dialektischen Mann, wenn er die Wörter gut bilden soll. “ (Plat. Krat. 390 d; Übersetzung Schleiermacher 1990: III, 421) Statt des Kopfes erscheint hier nur das Dependens, im Gegensatz zu allen Regeln der Rektion und der Konfigurationalität, und zwar zweimal in demselben Satz: νομοθέτου ὄνομα bedeutet „ die Arbeit eines Gesetzgebers ist, einen Namen zu machen “ , wo der Genitiv νομοθέτου von einem impliziten Nomen ἔργον „ Arbeit “ abhängt, das aus dem vorangehenden Kontext resümiert wird. Ähnlicherweise setzt das direkte Objekt ὄνομα „ Name “ das Verb „ machen “ ( ποιῆσαι ) voraus, das auch in einem vorangehenden Satz vorkommt. Das zeigt, dass die Beziehungen zwischen den Gliedern einer Phrase im Altgriechischen nicht so festgesetzt sind. Derartige Ellipsen können zwar von der Gattung des Dialogs begünstigt werden, weil in mündlicher Kommunikation viele Informationen aus dem Kontext erfasst werden können, aber es geht auch um echt syntaktische Faktoren, weil diese Strukturen, insbesondere die Ellipse des Verbs in anderen Konstruktionen als Gapping, in typischen konfigurationellen Sprachen und im Standard Average European ungrammatisch sind. Die traditionelle Erklärung für das Vorkommen eines Nullobjekts außerhalb der engen Verknüpfung, wenn das Antezedens im breiten Diskurs oder sogar im außerlinguistischen Kontext wiederaufzufinden ist, besteht darin, dass der Referent des Nullobjekts zugänglich oder vorhersagbar ist ( „ Da nun der Rest eines Satzes immer noch ein Verständnis, wenn auch mit einiger Hülfe der Phantasie, zulassen muss, so ist klar, und ja auch nie bezweifelt worden, dass nur die minder wichtigen Satztheile fehlen können “ , Delbrück 1900: 116). Das ist auch konsistent mit den neueren pragmatischen Erklärungen der Topikalität und Text-Kontinuität. Dazu können wir feststellen, dass eine Kategorie nur dann auslassbar ist, wenn sie ihre referentielle Bedeutung beibehält, und dass die Null- Anaphora voraussetzt, dass der Sprecher zwischen einem expliziten (be- 258 <?page no="259"?> tonten oder unbetonten) Pronomen und einem impliziten Pronomen wählen kann. Wir haben in § 2.3.2.1 gesehen, dass die Proformen der alten idg. Sprachen meistens eine referentielle Funktion haben. Dementsprechend hat die Möglichkeit eines Nullobjekts eine Beziehung zu der kaum grammatikalisierten Bedeutung der expliziten pronominalen Objekte. Die Frage eines Zusammenhangs zwischen Nullobjekten und Klitika werden wir in § 5.6 wieder aufnehmen. Im folgenden Abschnitt werden wir die Relevanz einer konkreten lexikalischen Bedeutung für nicht-konfigurationelle Merkmale in Bezug auf Hyperbata verfolgen. 4.2.2 Das Hyperbaton Hyperbata, die einen Verstoß gegen die Kontiguität der Glieder einer Konstituenten darstellen, haben die Aufmerksamkeit mehrerer Forscher auf sich gezogen, vgl. Lindhamer (1908); Devine & Stephens (1999); Krisch (1997; 1998; 2002); Markovic (2006); Kozianka & Zeilfelder (im Druck); Schnaus & Chumakova (im Druck). Wie im Fall der Null-Anaphora könnte man zunächst annehmen, dass dieses Phänomen durch stilistische oder metrische Faktoren bedingt ist. Und Dichtung ist zwar für die Sperrung zweier Konstituenten verantwortlich, aber wie bei der Null-Anaphora ist das nicht die ganze Geschichte und nicht einmal ihr relevantester Teil. Zum Ersten sind gesperrte Konstituenten in den modernen idg. Sprachen oft unmöglich, möglich hingegen in den meisten alten idg. Sprachen, auch in der Prosa: obwohl die Abwesenheit einer Struktur in einer toten Sprache noch nicht beweist, dass sie ungrammatisch war, kann man doch annehmen, dass eine mehrmals belegte Struktur auch eine grammatische war. Zum Zweiten war das Metrum in den alten idg. Sprachen nicht immer fest, sondern erlaubte oft Variationen und Ersatzformen, besonders im Vedischen (vgl. Arnold 1905). Schnaus & Chumakova (im Druck) haben entdeckt, dass das Hyperbaton im Vedischen oft nicht wegen des Metrums, sondern trotz des Metrums vorkommt, d. h. die einfache metrische Lösung hätte eine kontinuierliche Struktur begünstigt. Eine ähnliche Situation behaupten wir für das Awestische, in dem das Hyperbaton sowohl die NP (4.12) als auch die VP (4.13) betreffen kann. (4.12) xrumim g ā u š y ā ca ŋ ra ŋ h ā x š blutig: AKK.M.SG Kuh(F): NOM.SG RP: NOM.F.SG grasend: NOM.F.SG varai θ im pan · t ą m azaite von.Gefangenschaft: AKK.M.SG Weg(M): AKK.SG leiten: PRS.IND.MED3SG „ Die grasende Kuh wird auf den blutigen Weg der Gefangenschaft geleitet “ (Yt. 10.38) 259 <?page no="260"?> (4.13) auruuan · t ə m θβā d ā mi δā t ə m ba γō ta š at flüchtig: AKK.M.SG du: AKK D ā mid ā ta(M): AKK Gott(M): NOM.SG schaffen: IPF.INJ3SG „ Der Gott schuf Dich, D ā mid ā ta, als den flüchtigen “ (Y.10.10) In (4.12) wird das Adjektiv xrumim „ blutig “ in demselben Genus, Numerus und Kasus wie das direkte Objekt pan · t ą m „ Weg “ flektiert, das sein nominaler Kopf ist. Trotzdem sind sie von der NP g ā u š y ā ca ŋ ra ŋ h ā x š „ grasende Kuh “ getrennt (hier mit Gebrauch des Relativpronomens als Gelenkpartikel, vgl. Seiler 1960). Dies verweist darauf, dass ein Modifikator versetzt wird, wenn er für die Identifizierung des Referenten des Kopfes nicht notwendig ist, weil der Kopf als bestimmt im Kontext vorausgesetzt wird. Hier drückt das Adjektiv xrumim eine moralische Bedeutung des Referenten des Kopfes aus und deshalb ist es weniger relevant für seine Identifizierung als das Adjektiv varai θ im. Das letztere ist dem Kopf nahgestellt, mit dem es den einheitlichen Begriff „ Weg der Gefangenschaft “ bildet. Der versetzte Modifikator xrumim hat also eine appositive Funktion, während der naheliegende Modifikator varai θ im eine restriktive Funktion hat. In (4.13) zeigt die OSV Wortfolge, dass die Verbalphrase, die aus Verb und direktem Objekt besteht, im Awestischen manchmal vom Subjekt getrennt werden kann. OSV scheint besonders dann üblich zu sein, wenn das direkte Objekt in Silversteins (1976) Implikationsskala der Belebtheit, Menschlichkeit, Spezifizität, Definitheit oder Salienz (siehe Fußnote 89) hoch rangiert. In (4.13) ist das Objekt vom Personalpronomen der 2. Person SG θβā „ dich “ und vom Eigennamen D ā mid ā ta dargestellt, die topikaler sind als das Subjekt ba γō „ Gott “ , ein Gattungsname in Silversteins Sinne. 167 Das bestätigt die lockere Verbindung zwischen Verb und Objekt sowie die Abwesenheit einer festen VP, die wir oben im Fall der Null-Anaphora gesehen haben. Natürlich begünstigen nicht alle alten idg. Sprachen das Hyperbaton gleichermaßen. Das Hyperbaton ist häufig im Lateinischen und im Altgriechischen (Lindhamer 1908; Devine & Stephens 1999; Markovic 2006). Im G āθ ischen und im Vedischen habe ich zahlreiche Beispiele von Hyperbata gefunden, und dasselbe bemerken Kozianka & Zeilfelder (im Druck), die 167 Auch wenn die Stellung des enklitischen Pronomens θβā von Wackernagels Gesetz bedingt ist, folgt seine Trennung vom Verb keiner besonderen syntaktischen Einschränkung und muss deshalb pragmatisch erklärt werden. Jedenfalls ist die diskontinuierliche VP der OSV-Wortfolge nicht nur mit klitischen Objekten zu finden, sondern auch mit betonten Pronomina und mit lexikalischen NP, für die Wackernagels Gesetz nicht gilt, und zwar sowohl im Awestischen wie auch im Vedischen (eine quantitative Studie der OSV-Wortfolge im Vedischen haben wir in Viti 2009 b mit dem Rig-Veda als Korpus durchgeführt, siehe unten). Der Bezug auf Silversteins (1976) Belebtheitshierarchie präzisiert Begriffe wie „ topikal “ oder „ prominent “ , die ansonsten ziemlich vage bleiben würden. 260 <?page no="261"?> einen interessanten Vergleich zwischen Hyperbata im Altindischen und im Hethitischen durchführen, in dem das Hyperbaton fast unbelegt ist. Kozianka & Zeilfelder schreiben, dass die seltenen gesperrten Strukturen im Hethitischen Topikalisierungen betreffen, wobei das gesperrte Element durch Linksversetzung vor den satzeinleitenden Konnektor geschoben wird: „ Der Gesamtbefund ist auf jeden Fall derart, dass Hyperbata im Hethitischen zwar nicht grammatisch unmöglich sind, aber doch auch deutlich so, dass die Sprache eine gewisse Abneigung gegen eine Variationsmöglichkeit erkennen lässt, die in anderen indogermanischen Sprachen reichlich genutzt wird “ (S. 9). Um herauszufinden, welche Funktion das Hyperbaton in den alten idg. Sprachen hatte, und aus welchen Gründen der Sprecher eher eine gesperrte als eine kontinuierliche Konstruktion verwendete, berücksichtigen wir nochmals die vedische Erzählung von Manu und der Flut ( Ś B 1.8.1.1 - 11), die wir in Bezug auf Nullobjekte betrachtet haben. In diesem Prosa-Text gibt es 22 Fälle von Hyperbata (4.14) vs. 39 Fälle von kontinuierlichen Konstituenten (4.15), also kommen Hyperbata in 36 % der Kontexte vor. Das ist eine wesentlich höhere Prozentzahl im Vergleich zu den Null- Anaphorae, die in diesem Text nur in 8 % der Fälle vorkommen, vgl. § 4.2.1. (4.14) y ā ´ am ū ´ r apsv ā ´ hut ī r RP: NOM.F.PL jene: NOM.F.PL Wasser(F): LOK.PL Opferguss(F): NOM.PL áhaus · ī r ghr ˚ tám· dádhi mástv gießen: AOR.IND2SG Schmelzbutter(N): AKK.SG Sauermilch(N): AKK.SG Molken(N): AKK.SG ā míks · ā m Quark(F): AKK.SG „ Jene Opfergüsse, die du in die Wasser gegossen hast, Schmelzbutter, Sauermilch, Molken und Quark “ ( Ś B 1.8.1.9) (4.15) tásya ś r ·´n ˙ ge n ā váh · p ā ´ ś am dieser: GEN.M.SG Horn(N): LOK.SG Schiff(M): ABL.SG Strick(M): AKK.SG prátimumoca hinüberwerfen: PF3SG „ An dessen Horn warf er einen Strick vom Schiff hinüber. “ ( Ś B 1.8.1.5) In (4.14) werden das pronominale Adjektiv am ū ´ h · „ jene “ und sein nominaler Kopf ā ´hut ī h · „ Opfergüsse “ von einem Lokativ (apsú „ in den Wassern “ ) getrennt, der vom Verb áhaus · ī h · „ du gossest “ abhängt. Natürlich können wir anhand eines einzelnen Textes keine endgültigen Schlüsse ziehen, und tatsächlich ist dies keine quantitative Studie zum Hyperbaton im Vedischen. 168 Dennoch kann man anhand dieser Textanalyse drei Tenden- 168 Dieselben Ergebnisse erhielten wir aber aus anderen Texten aus den Ś atapathabr ā hman · a, die wir im Rahmen des von Prof. Dr. Rosemarie Lühr geleiteten 261 <?page no="262"?> zen bemerken: zum Ersten ist die gesperrte Konstituente im Vedischen meistens eine Verbalphrase, die aus direktem Objekt und Verb besteht; andere getrennte Phrasen sind weniger häufig. 169 Zum Zweiten ist das erste gesperrte Element im Vedischen fast immer ein (personales oder demonstratives) Pronomen. 170 Zum Dritten wird das erste gesperrte Element meistens an die erste Stellung des Satzes geschoben, während das zweite Element eine variablere Stellung hat. 171 Jena-Projekts über die Informationsstruktur in den alten idg. Sprachen analysierten, d. h. „ Manu und Man ā v ī“ ( Ś B 1.1. 4. 14 - 17), „ Pur ū ravas und Urva śī“ ( Ś B 11.5.1 ff); „ Wanderung der Arier nach Osten “ (1.4. 1. 10 - 19); „ Cyavanas Wiederverjüngung “ (4.1.5.1 - 16); „ Zurückholung des Kopfes vom Opfer “ ( Ś B 14.1.1.1 - 27), „ Weltschöpfung “ ( Ś B 11.1.6.1 - 11), „ Ke ś in D ā rbhya “ ( Ś B 11.8.4.1 - 6), „ Herabholung des Soma “ ( Ś B 3.2.4.1 - 6; 3.6.2.2 - 15). Vgl. http: / / www.indogermanistik.org/ indogermanistik/ projekte.html). 169 Es gibt 14 gesperrte VP aus 22 Fällen (= 64 %), d. h. 1.8.1.3 bahv ī ´ vái nas t ā ´van n ā s · t · r ā ´ bhavati; 1.8.1.3 kumbhy ā ´m m ā ´gre bibhar ā si; 1.8.1.4 tán m ā n ā ´vam upakalpyóp ā s ā sai; 1.8.1.5 tám evám bhr · tv ā ´ samudrám abhyávajah ā ra; 1.8.1.5 tám· sa mátsya upany ā ´pupluve; 1.8.1.6 áp ī param· vái tv ā ; 1.8.1.6 tám· tú tv ā m ā ´ giraú sántam udakám antá ś chaits ī d; 1.8.1.7 táy ā mitr ā várun · au sám· jagm ā te; 1.8.1.8 t ā ´m· hocatúh · ; 1.8.1.8 tád v ā jajñau tád v ā ná jajñ ā v (zweimal); 1.8.1.9 t ā ´m· ha mánur uv ā ca; 1.8.1.9 t ā ´m m ā yajñé ’ vakalpaya; 1.8.1.9 t ā ´m etan mádhye yajñasy ā ´v ā kalpayan. Zusätzlich gibt es 8 gesperrte NP (= 36 %), wovon 1 aus Adjektiv und Nomen besteht (1.8.1.5 sá yatith ī ´m· tát sám ā m parididés · a), und 7 aus Demonstrativpronomen und Nomen (1.8.1.7 tásyai ha sma ghr · tám páde sám· tis · t · hate; 1.8.1.9 y ā ´ am ū ´ r apsv ā ´hut ī r áhaus · ī r ghr · tám· dádhi mástv ā míks · ā m; 1.8.1.9 s ā ´ te sárv ā sámardhis · yata íti; 1.8. 1. 10 yèyam mánoh · práj ā tir, 1.8. 1. 10 / 1.8. 1. 11 s ā ̀ smai sárv ā sám ā rdhyata; 1.8. 1. 11 et ā ´m· haiva práj ā tim práj ā yate). 170 Das erste Element eines Hyperbatons ist ein Pronomen in 19 aus 22 Fällen (= 86 %), d. h. 1.8.1.3 kumbhy ā ´m m ā ´gre bibhar ā si; 1.8.1.4 tán m ā n ā ´vam upakalpyóp ā s ā sai; 1.8.1.5 tám evám bhr · tv ā ´ samudrám abhyávajah ā ra; 1.8.1.5 tám· sá mátsya upany ā ´pupluve; 1.8.1.6 tám· tú tv ā m ā ´ giraú sántam udakám antá ś chaits ī d; 1.8.1.7 tásyai ha sma ghr · tám padé sám· tis · t · hate; 1.8.1.7 táy ā mitr ā várun · au sám· jagm ā te; 1.8.1.8 t ā ´m· hocatúh · ; 1.8.1.8 tád v ā jajñau tád v ā ná jajñ ā v (zweimal); 1.8.1.9 t ā ´m· ha mánur uv ā ca; 1.8.1.9 t ā ´m m ā yajñé ’ vakalpaya; 1.8.1.9 s ā ´ te sárv ā sámardhis · yata íti; 1.8.1.9 t ā ´m etán mádhye yajñasy ā ´v ā kalpayan; 1.8.1.9 y ā ´ am ū ´ r apsv ā ´hut ī r áhaus · ī r ghr · tám· dádhi mástv ā míks · ā m· ; 1.8. 1. 10 yèyam mánoh · práj ā tir; 1.8. 1. 10, 1.8. 1. 11 s ā ̀ smai sárv ā sám ā rdhyata; 1.8. 1. 11 et ā ´m· haiva práj ā tim práj ā yate. Das erste Element ist ein Adjektiv in 2 aus 22 Fällen (= 9 %), d. h. 1.8.1.3 bahv ī ´ vái nas t ā ´van n ā s · t · r ā ´ bhavati; 1.8.1.5 sá yatith ī ´m· tát sám ā m parididés · a. Das erste Element ist ein Verb in einem Fall aus 22 Stellen (= 5 %), in 1.8.1.6 áp ī param· vái tv ā . 171 Das erste Element einer gesperrten Konstituente steht in der ersten Stellung des Satzes in 15 aus 22 Fällen (= 68 %): 1.8.1.3 bahv ī ´ vái nas t ā ´van n ā s · t · r ā ´ bhavati (hier wird das prädikative Adjektiv vom Verb getrennt); 1.8.1.5 tám evám bhr · tv ā ´ samudrám abhyávajah ā ra; 1.8.1.5 tám· sá mátsya upany ā ´pupluve; 1.8.1.6 áp ī param· vái tv ā ; 1.8.1.7 tásyai ha sma ghr · tám páde sám· tis · t · hate; 1.8.1.7 táy ā mitr ā várun · au sám· jagm ā te; 1.8.1.8 t ā ´m· hocatúh · ; 1.8.1.8 tád v ā jajñau tád v ā ná jajñ ā v (zweimal); 1.8.1.9 t ā ´m· ha mánur uv ā ca; 1.8.1.9 s ā ´ te sárv ā sámardhis · yata íti; 1.8.1.9 t ā ´m etán mádhye yajñasy ā ´v ā kalpayan; 1.8. 1. 10 / 1.8. 1. 11 s ā ̀ smai sárv ā sám ā rdhyata; 1.8. 1. 11 et ā ´m· haiva práj ā tim práj ā yate. Das erste gesperrte Element steht in der zweiten Stellung des Satzes (meistens wegen des Wackernagel-Gesetzes) in 6 aus 22 Fällen 262 <?page no="263"?> Die bevorzugte erste Stellung zeigt, dass das Hyperbaton im Vedischen eher die Bewegung des ersten Elements einer Phrase nach links als - was im Prinzip auch möglich wäre - die Bewegung des zweiten Elements nach rechts ist. Das deckt sich mit der Tatsache, dass in den Sprachen aus pragmatischen Gründen die linke Peripherie des Satzes mehr als die rechte benutzt wird (vgl. Lohnstein & Trissler 2004; Sturgeon 2008; Benincà & Munaro 2011). Die Bevorzugung gesperrter Verbalphrasen im Vedischen ist m. E. ein Hinweis darauf, dass anhand der üblichen Beziehung zwischen direktem Objekt und Fokus das nach links geschobene Element in dieser Sprache meistens fokalisiert ist (oder ansonsten die Funktion einer diskontinuierlichen oder kontrastiven Topik hat, die auch eine pragmatisch prominente Stellung besetzen kann). Das stimmt mit Analysen des Hyperbatons im Altgriechischen von Devine & Stephens (1999) überein, nach denen in dieser Sprache der häufigste Typ des Hyperbatons, den die Autoren „ Y1- Hyperbaton “ 172 nennen, die Funktion des „ starken Fokus plus Rest “ (strong focus plus tail) hat, d. h. das erste Element des Hyperbatons drückt eigentlich nicht neue Angaben aus, was eher typisch für ein weak focus oder informational focus wäre, sondern schließt eine kontrastive Komponente ein. Das zweite Element dieses Hyperbatons hingegen stellt vorausgesetzte Informationen dar, wie im folgenden Satz: πολλὰς ἀρχὰς ἦρξεν [. . .] ὀλίγας ἄρξας ἀρχάς „ Viele Richterämter regierte er, der wenige Richterämter regiert hatte “ (Lys. 20.5). Hier steht das Adjektiv ὀλίγας „ wenig “ , das von seinem Kopf ἀρχάς „ Richterämter “ weggeschoben wird, im Gegensatz zum Adjektiv πολλάς „ viele “ . Dagegen werden die Informationen des Verbs ἄρχω und des direkten Objekts ἀρχάς gänzlich vorausgesetzt: sie sind das tail. Wenn kein starker Fokus oder keine starke Topik erscheint, fehlt im Altgriechischen normalerweise auch das Hyperbaton ( „ In prose Y1 hyper- (27 %), d. h. 1.8.1.3 kumbhy ā ´m m ā ´gre bibhar ā si; 1.8.1.4 tán m ā n ā ´vam upakalpyóp ā s ā sai; 1.8.1.5 sá yatith ī ´m· tát sám ā m parididés · a; 1.8.1.9 t ā ´m m ā yajñé ’ vakalpaya; 1.8.1.9 y ā ´ am ū ´ r apsv ā ´hut ī r áhaus · ī r ghr · tám· dádhi mástv ā míks · ā m; 1.8. 1. 10 yèyam mánoh · práj ā tir. In einem Fall (5 %) kommt das erste gesperrte Element in der dritten Stellung vor: 1.8.1.6 tám· tú tv ā m ā ´ giraú sántam udakám antá ś chaits ī d. 172 Im Geiste der X-Strich-Theorie bestimmen Devine & Stephens (1999: 9 ff) verschiedene Typen von Hyperbata anhand ihrer linearen Stellung. In einer Struktur XP wie τίνα δύναμιν ἔχει „ welche Kraft hat er? “ (Plat. Rep. 358 b) ist das Verb ἔχει der Kopf X , während das Nominalsyntagma τίνα δύναμιν die abhängige YP ist. Ihrerseits besteht YP aus zwei Gliedern, wovon das erste (hier τίνα ) Y1 and das zweite ( δύναμιν ) Y2 genannt werden. Wenn die Struktur XP nicht unterbrochen ist, hat man eine Sequenz YP X ( τίνα δύναμιν ἔχει ) oder X YP ( ἔχει τίνα δύναμιν ). Wenn es Hyperbata gibt, hat man Y1 X Y2. Im Y1-Hyperbaton ist das erste Element der Modifikator (z. B. πολλὰ κατέλιπε χρήματα Andoc. 1.119), während im Y2-Hyperbaton der Modifikator das zweite gesperrte Glied ist ( χρήματα κατέλιπε πολλά ). 263 <?page no="264"?> baton does not normally occur in broad scope structures. Hyperbaton in prose exists to distribute pragmatically nonuniform subconstituents of the noun phrase into their appropriate pragmatically determined syntactic positions, namely Y1 and Y2. Broad scope structures, being pragmatically uniform, do not naturally trigger hyperbaton in prose “ , Devine & Stephens 1999: 58). Die zwei Forscher illustrieren aber auch den im Altgriechischen grundsätzlich optionalen Charakter anderer Hyperbaton-Typen, die im Falle von Kontrast manchmal auch fehlen oder umgekehrt in einer Serie nicht-kontrastiver Kontexte vorkommen können, deren zugrundeliegende pragmatische Prinzipien schwierig festzumachen sind. Während im Altgriechischen und auch im Vedischen das Hyperbaton einen solcherart artikulierten Gebrauch hat, können in anderen Sprachen wie im Hethitischen, die dieses Verfahren am wenigsten besitzen, nur seine typischsten Funktionen von Kontrast und Diskontinuität gesperrte Strukturen auslösen. Dasselbe gilt für das klassische Armenisch, in dem nach Meillet (1913: 121) Konstituenten normalerweise nicht auseinandergerissen werden: „ Die Zerteilung dient dem Nachdruck “ . In den alten idg. Sprachen scheint das Hyperbaton also die natürliche Tendenz darzustellen, den Fokus im Diskurs zu zerteilen, nach dem Prinzip des one chunk of new information at a time (vgl. Chafe 1976; 1987; 1994; Du Bois 1985; Pawley & Syder 2000), das sich auch für weitere Aspekte der syntaktischen Hierarchie als relevant erweisen wird. Normalerweise werden eher die pragmatischen als die semantischen Funktionen des Hyperbatons berücksichtigt, aber unser vedischer Text mit seinem deutlichen Vorzug für gesperrte Pronomina lässt uns vermuten, dass das erste Glied eines Hyperbatons in Definitheit und Referentialität nach Silversteins (1976) Belebtheitshierarchie hoch oben rangiert und deshalb von einem semantischen Standpunkt aus auch vom Kopf unabhängig ist, wie wir im awestischen Beispiel (4.13) gesehen haben. Das ist besonders klar im Fall eines gesperrten direkten Objekts, das seinen eigenen Referenten bezeichnet, aber es kann auch für andere Nominalphrasen gelten. Das Hyperbaton in (4.14) am ū ´ r . . . ā ´hut ī r, das wir mit der Phrase „ jene Opfergüsse “ übersetzt haben, bedeutet eigentlich „ jene, die Opfergüsse “ , wobei das Demonstrativpronomen seine deiktische Funktion bewahrt und eine appositive Verbindung mit dem Nomen hat. Auch in diesen Fällen ist die Korrelation einseitig: selbstreferentielle Ausdrücke wie Pronomina können wohl nicht gesperrt werden (wie im Beispiel 4.15), aber wenn ein Wort gesperrt wird, bezeichnet es normalerweise einen spezifischen Referenten. Eine Bestätigung der semantischen Unabhängigkeit der gesperrten Elemente ist m. E. das Verhältnis derjenigen direkten Objekte, die keinen spezifischen Referenten haben, sondern zusammen mit dem Verb eine generische Tätigkeit bezeichnen. Dieses objet dépolarisé im Sinne von Lazard (1982), das in anderen Sprachen der Welt durch Inkorporation, Auslassung der Endung oder Gebrauch eines besonderen Kasus (Partitiv 264 <?page no="265"?> vs. Akkusativ) ausgedrückt wird, ist im Vedischen nicht von seinem verbalen Kopf getrennt. Das passiert in quasi-formelhaften Ausdrücken wie sá h ā smai v ā ´ cam uv ā da „ er sagte ihm ein Wort “ ( Ś B 1.8.1.2), oder jedesmal wenn ein generisches Objekt gemeint ist, dessen Identität kaum abtrennbar ist vom verbalen Ereignis. So z. B. wenn der Fisch dem Manu sagt: átha kars · ū ´ m· kh ā tv ā ´ tásy ā m m ā bibhar ā si „ Du sollst einen Graben ausheben und mich darin pflegen “ ( Ś B 1.8.1.3), dann hat er keinen spezifischen Graben (kars · ū ´ m) im Auge; und die Tatsache, dass das regierende Verb ein Gerundium ist (kh ā tv ā ´), muss als weiterer Hinweis auf eine in den Hintergrund gestellte Information gewertet werden. Auf dieselbe Weise werden die Bestandteile einer figura etymologica wie Heth. h ˘ anne šš ar h ˘ anna- „ einen Rechtsstreit richten “ oder kupiyatin kup- „ einen Plan planen “ (vgl. Friedrich 1960: 119) in den alten idg. Sprachen nicht getrennt. Im Anitta-Text finden wir h ˘ ullanzan h ˘ ullanun „ ich bekämpfte einen Kampf, ich schlug einen Aufstand nieder “ (Neu 1974: 10-11, Z. 11). In diesem gesamten Ausdruck ist das direkte Objekt entbehrlich, sodass in anderen alten Sprachen wie im klassischen Armenisch der Akkusativ des inneren Objekts unüblich ist. Die Tatsache, dass ein objet dépolarisé im Vedischen nicht im Hyperbaton steht, stimmt auch überein mit der Situation bei einigen nicht-idg. Sprachen wie dem Türkischen, weswegen postuliert wurde, dass generische Objekte innerhalb der VP bleiben, während spezifische Objekte sich außerhalb der VP bewegen (Woolford 2009: 27). Daraus können wir schließen, dass, was man a posteriori für gesperrte Glieder einer syntaktisch einzelnen Struktur hält, ursprünglich getrennt war und genau an jener Stelle lag, an der seine semantischen oder pragmatischen Funktionen es verlangten. Erst später wurde eine Verbindung zwischen Wörtern verfestigt, die einen gemeinsamen Referenten bezeichnen. Ich denke also, dass das Hyperbaton genau wie die Tmesis zu beurteilen ist, die bekanntlich nicht die Abtrennung eines Präverbs vom Verb darstellt, wie ihre falsche Benennung aus τάμνω vermuten lässt, sondern die Unabhängigkeit eines ursprünglichen Adverbs (§ 2.3.2.4). Auf dieselbe Weise ist das Hyperbaton nicht als Sperrung ursprünglich zusammenhängender Wörter zu interpretieren. Die höhere Häufigkeit des Hyperbatons in den alten idg. Sprachen gegenüber den modernen, sogar in der Prosa, hat wahrscheinlich mit der Tatsache zu tun, dass die alten idg. Sprachen an geschlossenen Kategorien ärmer waren als die modernen, wobei Wörter wie Proformen ihre konkrete Bedeutung besser bewahrten und demzufolge auch syntaktisch unabhängig sein konnten. Eine ähnliche Erklärung liegt dem Verlust der Möglichkeiten der Null-Anaphora in vielen modernen idg. Sprachen zugrunde. Obwohl die bevorzugten Kontexte der Hyperbata, d. h. Kontrast und Diskontinuität, genau das Gegenteil der Null-Anaphora sind, die meistens in Situationen von Text-Kontinuität vorkommt, setzen beide die Wahl einer Form voraus, und eine solche 265 <?page no="266"?> Optionalität erscheint definitionsgemäss nur, wenn die Form noch nicht grammatikalisiert ist. Die Null-Anaphora mit ihrem Fehlen eines von unserem Standpunkt erwarteten Wortes ist nur der extreme Fall des Hyperbatons, in dem ein semantisch unabhängiges Wort in einer Entfernung von seinem (zukünftigen) Kopf steht. 4.2.3 Andere Merkmale der Nicht-Konfigurationalität im Indogermanischen Neben der Null-Anaphora und dem Hyperbaton gibt es weitere syntaktische Merkmale, die typisch für nicht-konfigurationelle Sprachen sind, und die Devine & Stephens (1999) auch im Altgriechischen identifizieren. Hier geben wir kurz in (a)-(h) ihre Liste nicht-konfigurationeller Eigenschaften wieder, zusammen mit ihren Beispielen, und danach kommentieren wir sie in Bezug auf andere alte idg. Sprachen und auf das Urindogermanische. a) Adjunkte Lexeme: lexikalische Nominalsyntagmata können unter gewissen pragmatischen Umständen (besonders im Fall von Topikalisierung) an den Rand des Satzes versetzt und von klitischen Pronomina im nuklearen Satz ersetzt werden, wie in (4.16), vgl. Sl ˉ awominski (1988). (4.16) ἥ μιν i ἔγειρε / Ναυσικάαν i εὔπεπλον „ die sie weckte, Nausikaa mit dem schönen Gewande. “ (Hom. Od. 6.48) b) Fehlen von Kongruenz: in nicht-konfigurationellen Sprachen fehlt oft die Kongruenz von Verb und Subjekt, wie im Beispiel (4.17), das oberflächlich als ein Typ von Anakoluth betrachtet werden könnte, dennoch aber mit einer Semantik-bedingten Syntax übereinstimmt, weil der Referent des anaphorischen Singular-Pronomens ὁ im Referenten des vorangehenden Nomens σκόπελοι eingeschlossen ist. Die korrelativen Partikel μέν . . . δέ unterstreichen den Zusammenhang zwischen den beiden Satzgliedern. (4.17) οἰ δὲ δύο σκόπελοι ὁ μὲν οὐρανὸν εὐρὺν ἱκάνει „ Dorthin drohn zween Felsen: der eine berühret den Himmel mit dem spitzigen Gipfel. “ (Hom. Od. 12.73; Übersetzung Voß 1943 b: 159) c) Inkorporation: Inkorporation setzt voraus, dass einem Verb ein Objekt hinzugefügt wird, um ein weiteres, komplexeres Verb zu bilden, wie z. B. das Nomen baby und das Verb to sit in dem neuen Verb to babysit. Inkorporation ist produktiv in den typischen nicht-konfigurationellen Sprachen, die an verbaler Morphologie besonders reich sind. d) Präpositionalsyntagmata: in den nicht-konfigurationellen Sprachen stellen lokative Ausdrücke kein echtes Syntagma dar, sondern bestehen aus lokativen Adverbien. Dasselbe geschieht im homerischen Griechisch (4.18). 266 <?page no="267"?> Vom Standpunkt der Generativen Grammatik setzt die Präposition hier ein Null-Nominalargument voraus (vgl. Horrocks 1981). (4.18) ἀμφὶ δὲ χαῖται / ὤμοις ἀΐσσονται „ Und rings an den Schultern fliegen die Mähnen umher. “ (Hom. Il. 6.509; Übersetzung Voß 1943 a: 107) e) Fehlender Artikel: nicht-konfigurationelle Sprachen haben normalerweise keine echten bestimmten Artikel, sondern ein oder mehrere Demonstrativpronomina. Das erinnert an das homerische Griechisch, wo der Artikel noch die Funktion eines Demonstrativpronomens zeigt. Ein Beweis dafür ist die variable Stellung: im homerischen Griechisch ist die Form ὁ normalerweise vorangestellt, aber sie kann auch nachgestellt werden, wie in (4.19). Dagegen hat der echte Artikel eine feste Stellung. Vgl. Hewson & Bubenik (2006: 63). (4.19) ἀποπέμπειν / ἄνδρα τὸν ὅς κε θεοῖσιν „ den Mann zu senden, der den Göttern . . . “ (Hom. Od. 10.74) f) Nominale Koordination: viele nicht-konfigurationelle Sprachen erlauben keine echte Koordination von Nominalsyntagmata, sondern benutzen Juxtapositionen oder komitative Strukturen. Ähnlich kann im homerischen Griechisch das Präverb σύν „ mit “ wie andere Präverbien als Verbindung zwischen verschiedenen Nominalen verwendet werden (vgl. Dunkel 1979). Dasselbe gilt für den Fall der asymmetrischen Koordination, wie im schema alcmanicum, nach dem ein Verb mit zwei Nominalen im Plural oder Dual übereinstimmt, aber anstatt einer logischen Sequenz NP1 und NP2 V, sind die zwei Nominale getrennt: NP1 - V - NP2, wie in (4.20): (4.20) ἦ μὲν δὴ θάρσος μοι Ἄρης τ’ ἔδοσαν καὶ Ἀθήνη „ Wahrlich, Entschlossenheit hatte mir Ares verliehn und Athene “ (Od. 14.216; Übersetzung Voß 1943 b: 187) g) Parataxis: explizite Koordinatoren sind in den nicht-konfigurationellen Sprachen selten, nicht nur für die Verknüpfung von Nominalsyntagmata, sondern auch für Sätze. Unterordnung wird besonders vermieden. Diese Situation findet Entsprechungen im homerischen Griechisch, in dem Nebensätze nicht so häufig sind wie Koordination. Kompletive Beziehungen, die im Prinzip eine starke Verbindung zwischen Hauptsatz und Nebensatz herstellen, werden oft durch proleptische Strukturen ausgedrückt, wobei ein Nominal schon im Hauptsatz vorausgeht. Der Nebensatz folgt dann wie eine appositionelle, adjunkte Konstituente. (4.21) αὐτὸν δ᾽ οὐ σάφα οἶδα , πόθεν γένος εὔχεται εἶναι „ Aber das weiß ich nicht, von welchem Geschlecht er sich rühme “ (Hom. Od. 17.373; Übersetzung Voß 1943 b: 233) 267 <?page no="268"?> Während das Deutsche hier einen Ergänzungssatz benutzt, hat Homer die proleptische Struktur: „ ich kenne ihn nicht, woher (er) usw. “ . Das maskuline Pronomen αὐτόν ist koreferent mit dem impliziten Subjekt des Verbs εὔχεται im Nebensatz. h) Adverbiale Quantifikation: Quantoren wie alle, einige, wenige, viele usw. beziehen sich selten auf ein Nomen, sondern vielmehr auf ein Verb, und deshalb funktionieren sie ähnlich wie Adverbien (4.5), d. h. diese Sprachen benutzen mehr Adverbien wie hier und da als Pronomina wie dieser und jener. Im Großen und Ganzen stimme ich mit Devine & Stephens (1999) überein, dass das Altgriechische wesentliche Merkmale der Nicht-Konfigurationalität besitzt. Diese Merkmale kommen auch in anderen alten idg. Sprachen vor, und tatsächlich haben wir einige dieser Phänomene in den vorangehenden Kapiteln diskutiert, da die syntaktische Hierarchie auch die Darstellung der syntaktischen Kategorien und der syntaktischen Funktionen betrifft. Die adverbiale Funktion der Postpositionen ist auch im Indoiranischen und Hethitischen gut erhalten (§ 2.3.1.2). Der Artikel fehlt im Tocharischen, Indoiranischen, Hethitischen, Lateinischen, Baltischen und Slawischen während ihrer gesamten Geschichte (§ 2.3.2.3). Parataxis ist am meisten im Hethitischen und im Indoiranischen üblich (Delbrück 1878; Speyer 1886: 79ff; Reichelt 1909: 356ff; Kent 1950: § 290). Obwohl diese Sprachen Unterordnung benutzen, haben sie eine ziemlich lockere Satzverknüpfung, in der die verbundenen Sätze ihre semantische und pragmatische Unabhängigkeit noch darstellen, und in der die Konjunktionen noch ihre ursprünglich adverbiale Bedeutung zeigen (§ 2.3.2.2). Z. B. wird die hethitische Partikel nu normalerweise mit Dt. „ und “ übersetzt, ja sie wird sogar teilweise unübersetzt gelassen, aber sie hat eigentlich immer eine prosekutive Bedeutung „ und jetzt, und dann, und nun “ , nach ihrer etymologischen Quelle *new / nu, von der auch das Adjektiv *néwo/ ah 2 - (NIL 524 - 526) herrührt. Daher können diese nicht-konfigurationellen Merkmale auch dem Urindogermanischen zugewiesen werden. Das Altgriechische ist aber vermutlich eine derjenigen alten idg. Sprachen, die diese nicht-konfigurationellen Merkmale am wenigsten aufweist, oder die am frühesten eine konfigurationelle Syntax errungen hat. Mehrere nicht-konfigurationelle Merkmale, die noch im homerischen Griechisch identifiziert werden können, sind im klassischen Griechisch verschollen. Doch selbst das homerische Griechisch besitzt solche Merkmale in geringerem Maße als andere alte Sprachen. So sind Konstruktionen κατὰ σύνησιν und Phänomene von casus pendens viel beschränkter im Altgriechischen (vgl. Schwyzer 1950: 602 ff) als im Hethitischen und im Altpersischen, vgl. (3.2), (3.3), (3.72). Wir haben auch gesehen, dass das Altgriechische die geschlossenen syntaktischen Kategorien am stärksten entwickelt und die syntaktischen Funktionen durch die diachron spätere kanonische Markie- 268 <?page no="269"?> rung kennzeichnet. Wir werden auf den folgenden Seiten sehen, wie das Altgriechische auch am häufigsten eine spezifische Struktur für die attributive Funktion ausdrückt. Im Altgriechischen können wir mithin die ersten Anzeichen der Konfigurationalität ausmachen, die typisch für die meisten modernen idg. Sprachen sind. In der Hypothese des Urindogermanischen als einer nicht-konfigurationellen Sprache müssen wir einige caveats berücksichtigen. Zum Ersten können einzelne solcher Merkmale auch in anderen Typen von Sprachen vorkommen, die deutlich konfigurationell sind. So sind versetzte Strukturen sehr üblich im Französischen oder im Italienischen, besonders in der Umgangssprache (vgl. § 3.2.1). Devine & Stephens (1999) erkennen diese Möglichkeit an, aber sie behaupten auch, dass das ganze Bündel dieser Merkmale nur für die echten nicht-konfigurationellen Sprachen typisch ist. Wir können jedoch dem Urindogermanischen nicht alle Merkmale der Nicht-Konfigurationalität zuweisen. Abgesehen von marginalen NV-Wortbildungen wie uridg. * ḱ red d h eh 1 „ im Herzen stellen “ (vgl. Ved. ś rád dh ā „ glauben “ , Lat. credo „ id. “ , Altir. cretim „ id. “ ) existiert die Inkorporation in den alten idg. Sprachen nicht und auch nicht im Altindischen, in dem die Komposition am meisten produktiv ist. 173 Wie wir in § 4.2.2 gesehen haben, wurde im Urindogermanischen der Unterschied zwischen generischen Objekten, die in vielen nordamerikanischen Sprachen die Inkorporation auslösen, und definiten Objekten durch die Wortfolge ausgedrückt, wobei generische Objekte stets dem Verb adjazent lagen, während definite Objekte auch vom Verb entfernt und an den Anfang des Satzes gestellt werden konnten. Aufgrund seiner flexiblen Wortfolge brauchte das Urindogermanische keine Inkorporation wie auch kein differential object marking (§ 3.3.2.2.1). Selbst die wichtigsten Merkmale der Nicht-Konfigurationalität wie die Null-Anaphora und das Hyperbaton scheinen im Indogermanischen ein nicht immer einheitliches Phänomen zu sein. Altgriechisch hat beide in hohem Grade. Hethitisch hat die beiden nicht (natürlich nur, wenn wir - abgesehen von Ausnahmen - über den produktiven Gebrauch dieser Strukturen sprechen). Vedisch hat Hyperbata, aber sehr wenige Nullobjekte. Altisländisch ist sehr reich an Nullobjekten, aber eher arm an diskontinuierlichen Konstruktionen in der Prosa. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass ein Vergleich auch durch das Vorkommen unterschiedlicher Gattungen und Textsorten erschwert wird, stellt sich die Frage, 173 Man darf Komposition nicht als Inkorporation missverstehen, da die Inkorporation nur ein sehr beschränkter Typ von Komposition ist, die für die Wortbildung neuer Verben verwendet wird. Als solche erscheint die Inkorporation nur in einigen nichtkonfigurationellen Sprachen, besonders in Nordamerika (Mithun 1984 a; 1986; Sadock 1986), und für das Urindogermanische kann sie nicht rekonstruiert werden. 269 <?page no="270"?> welcher Struktur und welcher Sprache wir also mehr Bedeutung beimessen sollen, wenn wir die (Nicht-)Konfigurationalität des Urindogermanischen rekonstruieren wollen. M. E. war das Urindogermanische keine konsistent nicht-konfigurationelle Sprache, und im Allgemeinen scheint es, dass die Nicht-Konfigurationalität selber kein homogener Bereich ist, sondern dass verschiedene Darstellungen der Nicht-Konfigurationalität in verschiedenen Sprachen auch verschiedene Erklärungen benötigen (vgl. Pensalfini 2004). Wir vertreten zur Hypothese des Urindogermanischen als einer nicht-konfigurationellen Sprache dieselbe Einschätzung wie zu den Hypothesen der Topik-Prominenz (§ 3.2.1) und der aktiv-stativen Ausrichtung für das Urindogermanische (§ 3.8): es besitzt durchaus einige für echt topikprominente Sprachen oder für aktiv-stative Sprachen typische Merkmale, dennoch erscheint es zu forciert, dem Urindogermanischen derart konsistente Systeme zuzuweisen. Außerdem zeigen sogar diejenigen alten idg. Sprachen, die die meisten nicht-konfigurationellen Merkmale besitzen, bereits eine beginnende Konfigurationalität. Wenn wir einen Text in irgendeiner alten idg. Sprache lesen, stellen wir bald fest, dass Hyperbata oder Null-Anaphorae der direkten Objekte im Vergleich zu den entsprechenden kontinuierlichen oder expliziten Strukturen eher marginal sind, sodass wir die Entwicklung der Konfigurationalität im Indogermanischen nur begrenzt rekonstruieren können. Hewson & Bubenik (2006) postulieren korrekterweise, dass die am frühesten entstandene Konfiguration die PP sei, da die Wortfolge der Präpositionen in allen alten idg. Sprachen fester ist als die Wortfolge anderer Konstituenten. ( „ The evidence indicates that the earliest of these configurations to develop was the adpositional phrase (with preposition or postposition), and it is possible, in fact, to follow the evolution of the adposition from what was a somewhat mobile preverb-cum-adverbial-particle in the early texts “ , S. 1; vgl. auch Haug 2009). Besonders spät ist die Entstehung der Nominalphrase, die aus Artikeln plus Nomen besteht. (§ 2.3.2.3). Wie oben in der Diskussion der Null-Anaphora (§ 4.2.1) und des Hyperbatons (§ 4.2.2) antizipiert, können wir die Entwicklung von nicht-konfigurationellen zu konfigurationellen Strukturen dadurch erklären, dass ein Wort, das ursprünglich einer offenen Kategorie angehörte, seine semantische Referentialität und dementsprechend auch seine syntaktische Unabhängigkeit in Bezug auf Stellung und Bewegung verliert. Die Tatsache, dass die Konfigurationalität schon in den ältesten Texten der idg. Sprachen für Adpositionen fortgeschritten ist, hängt m. E. damit zusammen, dass Adpositionen keinen Referenten bezeichnen, sondern die Lage oder Richtung eines Referenten. Als Auslöser der Festsetzung konfigurationeller Strukturen können die Anwesenheit geschlossener Kategorien, die definitionsgemäß keine konkrete Bedeutung haben (§ 2), und die kanonische Markierung gelten, welche eine Grammatikalisierung der seman- 270 <?page no="271"?> tischen Rollen voraussetzt (§ 3). Diese Eigenschaften stimmen nicht immer miteinander überein, z. B. ist das Altisländische fortgeschritten im Gebrauch geschlossener Kategorien wie Präpositionen und Konjunktionen, und doch behält es größtenteils die nicht-kanonische Markierung bei. Parallelen aus anderen Sprachen scheinen trotzdem zu bestätigen, dass die Entstehung der Phrase mit dem Verlust der Referentialität eines ihrer Glieder beginnt. Neben den PP haben auch die aus einem Hilfsverb bestehenden VP normalerweise eine feste Verteilung: es ist vielleicht kein Zufall, dass im Warlpiri gerade das Hilfsverb die einzige Kategorie ist, die eine feste Stellung im Satz haben muss (§ 4.1). Im Italienischen, das unter normalen Umständen kein Hyperbaton erlaubt, sind diskontinuierliche Strukturen für possessive Phrasen möglich, wie in (4.22 a): (4.22 a) Di Paolo ho visto ieri la casa von Paul ich.habe gesehen gestern ART Haus „ Gestern habe ich Pauls Haus gesehen. “ (4.22 b) *Di legno ho visto ieri la casa von Holz ich.habe gesehen gestern ART Haus „ Gestern habe ich das Haus aus Holz gesehen. “ Beide Sätze haben ein komplexes direktes Objekt, das aus einer NP und einer PP besteht, aber sie sind nicht gleich grammatisch. Wenn die genitivale di-Phrase eine possessive Funktion hat und einen Referenten wie in (4.22 a) bezeichnet, ist das Hyperbaton möglich. Wenn hingegen die di-Phrase eine nicht-referentielle Bedeutung wie im genetivus materiae hat (vgl. § 4.3.4), müssen die Komponenten des direkten Objekts nebeneinander stehen. In den folgenden Abschnitten diskutieren wir zwei Aspekte des Hierarchiewandels, und zwar die Entwicklung der Phrase und die Entwicklung der eingebetteten Satzverbindung. Im ersten Fall sind zwei bedeutsame Veränderungen zu behandeln, die in der Geschichte der idg. Sprachen stattfinden: die Veränderung von adjunktorientierter zu ergänzungsorientierter Syntax (§ 4.3) sowie die Veränderung von prädikativ/ adverbial zu attributiv orientierter Modifikation (§ 4.4). 4.3 Wandel in der Rektion im Indogermanischen 4.3.1 Niedrige Rektionsfähigkeit der alten idg. Sprachen Die Tatsache, dass die Nominalphrasen in den alten idg. Sprachen nicht notwendigerweise dem Verb anliegen (im Fall des Hyperbatons der Verbalphrase) und nicht unbedingt anwesend sein müssen (im Fall von Null- Anaphora des Objekts), ist ein Hinweis auf deren niedrige Rektionsfähig- 271 <?page no="272"?> keit und deren eher Adjunktals Ergänzungsstatus. Denn Rektion bedeutet, dass das Verb ein Nomen verlangt, und dass das verlangte Nomen eine bestimmte Form entweder im Kasus oder bezüglich der Stellung haben muss. Eine so festgesetzte Beziehung war aber für die alten idg. Sprachen untypisch, wie schon die Junggrammatiker und die Strukturalisten erkannten ( „ La structure de la phrase indo-européenne est conforme à ce que la morphologie fait prévoir. Comme chaque mot portait en lui-même la marque du rôle qu ’ il jouait, les mots de la phrase étaient autonomes et indépendants les uns des autres. Ils ne se gouvernaient pas entre eux. Le procédé dominant de la phrase indoeuropéenne est l ’ apposition “ , Meillet & Vendryes 1979: 572). Das wurde auch neuerdings von mehreren Historiolinguisten, die für die nicht-konfigurationelle Syntax des Urindogermanischen plädieren, angenommen (vgl. Bauer 1995; 2000; Hewson & Bubenik 2006; Luraghi 2010 a). Die niedrige Rektionsfähigkeit des Urindogermanischen werden wir hier mit Fallbeispielen aus verschiedenen alten idg. Sprachen in Bezug auf die VP, auf die PP und (besonders in den folgenden Abschnitten) auf die NP illustrieren. Die geringe Festsetzung der VP ist dadurch ersichtlich, dass in den alten idg. Sprachen die vom Verb abhängigen Nomina verschiedene Kasus bekommen können, die mit ihren eigenen Bedeutungen zur verbalen Semantik wesentlich beitragen. Das wurde von Hettrich (2011 a) für vedische Transfer- und Bewegungsverben wie aj „ treiben “ und i „ gehen “ nachgewiesen, die den Dativ, den Akkusativ und manchmal auch den Lokativ mit einer direktionalen Funktion regieren können (vgl. auch Hettrich 2007). Dasselbe lässt sich für Prädikate sagen, die eine eher stative Bedeutung ausdrücken. So erlaubt das vedische Verb ks · i „ sicher wohnen, thronen “ den Lokativ, den Genitiv, den Akkusativ oder eine PP für seine Ergänzung, die die beherrschten Länder oder Völker bezeichnet; außerdem kann auch ein intransitiver Gebrauch vorkommen. Solche Optionen sind zwar nicht völlig synonym: mit dem Lokativ bedeutet ks · i „ sicher wohnen, weilen, ruhen “ , mit dem Akkusativ „ herrschen, thronen, walten, beherrschen “ und mit dem Genitiv „ über jemanden oder etwas herrschen, gebieten, verfügen, es besitzen “ . Diese Bedeutungen sind aber in Texten nicht immer einfach zu unterscheiden (vgl. GR 365 - 367), und die jeweiligen Kasus werden nicht von der verbalen Valenz bedingt, um die verschiedenen Aktanten auseinanderzuhalten, sondern drücken autonome Funktionen aus, die im Modell der Dependenzgrammatik (vgl. Tesnière 1959) eher an Zirkumstanten erinnern. Hettrich (1990 a) untersucht, inwiefern man für das Vedische von Rektion und von einem kasuskodierten Unterschied zwischen Aktanten und Zirkumstanten sprechen kann, und findet heraus, dass rektionale Verwendungen im Rig-Veda zwar schon dokumentiert sind (z. B. wird sac „ folgen “ nur mit bestimmten Kasus verbunden wie AKK, INSTR und LOK), jedoch keine idiomatische Kasusauswahl voraussetzen, sondern vielmehr in semantischer Opposition 272 <?page no="273"?> zueinander stehen. Bei sac „ wäre es nicht korrekt, mit verbaler Polysemie und entsprechend gesteuerter Wahl der obliquen Kasus zu rechnen. Stattdessen liegt genau umgekehrt ein Verb mit nur einer Bedeutung vor, das verschiedene, semantisch autonome Kasus regiert “ (Hettrich 1990 a: 98). Diese Situation ist üblich für das Vedische, in dem deshalb die Beziehungen zwischen dem Verb und seinen abhängigen Nominalen nicht so eng zu sein scheinen. Siehe die folgende Stelle aus dem Rig-Veda: (4.23) mádhu v ā ´t ā r · t ā yaté Süßigkeit(N): AKK.SG Wind(M): NOM.PL Gesetzestreuen(M): DAT.SG mádhu ks · aranti síndhavah · / Süßigkeit(N): AKK.SG strömen: PRS.IND3PL Fluss(M): NOM.PL m ā ´dhv ī r nah · santv ós · adh ī h · Süßigkeit(F): NOM.PL uns: DAT sein: IPV3PL Pflanze(F): NOM.PL „ Süßigkeit (wehen) die Winde für den Gesetzestreuen, Süßigkeit strömen die Flüsse. Voll Süßigkeit sollen uns die Pflanzen sein! “ (RV 1.90.6; Übersetzung Geldner 1951: I, 115) Das Prädikat ks · ar „ fließen, strömen “ ist im Vedischen normalerweise intransitiv (GR 363 - 365; MW 327), hier aber regiert es die Akkusativ- Ergänzung mádhu. Eine Interpretation von mádhu als Adverb wäre eine von der Satz-Struktur der modernen idg. Sprachen aus gedachte und deswegen unberechtigte Normalisierung: mádhu ist ein Nomen, das primär die konkrete Bedeutung „ Honig “ hat, und sekundär die übertragene Bedeutung „ Süßigkeit “ (wie in Geldners Übersetzung) oder allenfalls - mit einer adjektivischen, aber nicht adverbialen Funktion - „ süß “ . Tatsächlich ist diese Stelle von Grassmann (1873: 364) bei den transitiven Gebrauchsarten des Prädikats ks · ar „ etwas (AKK) strömen, ausströmen, ergießen “ angesiedelt worden. 174 Daher meinen wir, dass solche Konstruktionen in den modernen idg. Sprachen zwar nicht unmöglich sind, aber dass sie in diesen doch seltener sind als in den alten. Der Satz „ die Flüsse fließen Honig “ kann z. B. im Rumänischen vorkommen: râuri-le curg miere (Fluss: NOM.PL-ART fließen: PRS.IND3PL Honig: AKK.SG). 175 Aber der Muttersprachler neigt dazu, den Akkusativ als ein Adverb zu interpretieren, als ob der Satz eher eine Antwort auf die Frage „ Wie fließen die Flüsse? “ und nicht „ Was fließen 174 Dasselbe Prädikat kann auch den Instrumental regieren, immer noch um die ausgeströmte Substanz zu bezeichnen; in diesem Fall ist die Substanz aber offenbar als ein Instrument dargestellt, womit man etwas (AKK) überströmt, z. B. RV 5.66.5 jrayas ā n ā ´v áram· pr ˚ thv áti ks · aranti y ā ´mabhih · “ sie überholen im Laufen die beiden pünktlich und breit Dahineilenden “ (Übersetzung Geldner 1951: II, 74). Das Prädikat ks · ar kann auch einen ditransitiven Gebrauch haben, mit der Bedeutung „ jemandem (DAT) etwas (AKK) zuströmen “ , besonders mit dem Präverb pári (GR 364). Alle diese Verwendungen waren aber optional und stark vom Kontext bedingt. 175 Ina Condrea (p. K.) 273 <?page no="274"?> die Flüsse? “ wäre. Zu dieser Interpretation trägt der artikellose Gebrauch des Akkusativs miere bei (da es einen unbelebten Referenten hat, kann miere auch nicht durch eine Präposition gekennzeichnet werden, die im Rumänischen in der nicht-kanonischen Markierung verwendet wird). Dies ist jedoch nicht der Fall in (4.23), in dem mádhu seine übliche nominale Funktion hat (vgl. GR 984). Der flexible Gebrauch desselben Prädikats als transitiv oder intransitiv, den wir mehr in den alten als in den modernen idg. Sprachen sehen können, weist auf einen diachron zunehmenden Unterschied zwischen transitiven und intransitiven Prädikaten hin, wie Luraghi (2010 a) darlegt, sowie auf die Verstärkung einer vollentwickelten Kategorie für die Transitivität in der Geschichte des Indogermanischen. Obwohl die griechischen und römischen Grammatiker die Benennungen μεταβατικά und ἀμετάβατα ῥήματα , transitiva vs. intransitiva verba prägten, wurden diese Kategorien in der grammatischen Theorie eigentlich erst im 18. Jh. eingeführt (vgl. Brøndal 1948: 26-27; 39). Da im Altgriechischen und Lateinischen ein Prädikat oft beide Verwendungen haben konnte, war ein solcher Unterschied damals weniger relevant für die Beschreibung der Grammatik. Schon in den alten idg. Sprachen belegen einige Strukturen einen Wandel von intransitiver zu transitiver Benutzung. Für das Lateinische schreibt Woodcock: „ A number of the intransitive verbs which take the dative have transitive synonyms. Others can be used in both an intransitive and in a transitive sense [. . .] A few can be seen becoming transitive in the course of Latin literature “ (1959: 41-42). Das Altlateinische benutzt oft verschiedene Verballexeme mit Dativ- oder Akkusativ-Ergänzungen, z. B. subvenio tibi vs. adiuvo te „ ich helfe dir “ , placeo tibi vs. delecto te „ ich gefalle dir “ , obsto tibi vs. impedio te „ ich verhindere dich “ , noceo tibi vs. laedo te „ ich schade dir “ , impero tibi vs. iubeo te „ ich befehle dir “ , suadeo tibi vs. moneo te „ ich überzeuge dich “ . In den späteren Phasen des Lateinischen kann dasselbe verbale Lexem nach Woodcock (1959) seine Selektionsbeschränkungen manchmal auch von Dativ-Ergänzungen zu Akkusativ-Ergänzungen ändern. Der Wandel zu einer immer ausgeprägteren Rektion kann auch bei der Entwicklung von Lokaladverbien zu Adpositionen oder Präverbien beobachtet werden. Es ist bekannt, dass einerseits die Präverbien sich erst spät in der Geschichte des Indogermanischen als Merkmale des Aspekts oder der Aktionsart entwickeln, und dass andererseits die Adpositionen in mehreren alten idg. Sprachen verschiedene Kasus regieren können, während diese Varianten im Laufe der Zeit immer mehr beschränkt werden (vgl. Delbrück 1893: 173ff; 1900: 103ff; Wackernagel 1926: 153 ff); das ist ein Zeichen dafür, dass diachron der Kasus der Ergänzung eher syntaktisch als semantisch bedingt ist. Es wurde aber m. W. nicht bemerkt, dass diese beiden Phänomene innerhalb derselben Sprache oft eine Beziehung zueinander haben, wobei die alten idg. Spra- 274 <?page no="275"?> chen, in denen Adpositionen normalerweise verschiedene Kasus auswählen können, auch diejenigen sind, die einen geringen Gebrauch präfigierter Verben aufweisen. Das ist der Fall beim homerischen Griechisch, beim Vedischen und beim klassischen Armenisch. Umgekehrt haben diejenigen Sprachen, in denen die Adpositionen unter normalen Umständen nur einen einzelnen Kasus regieren, oft auch eine fortgeschrittene Verwendung der Präverbien. Das passiert im Altisländischen, Altirischen, Altkirchenslawischen und Litauischen. Das klassische Armenisch ist das extreme Beispiel für den Vorzug von polyptotischen Präpositionen zum Nachteil von präverbierten Verben. In dieser Sprache werden Präverbien sehr selten benutzt: nur ar ˙ , z-, ǝ nd und ykönnen die Funktion eines Präverbs haben, der präverbiale Gebrauch ist jedoch gänzlich unproduktiv (vgl. Meillet 1913: 116). Dagegen ist die Beziehung der Präpositionen zu den Kasus sehr frei: mit Ausnahme von einer einzelnen Präposition (c ’ „ zu “ ), die nur einen Kasus (den Akkusativ) regiert, regieren alle anderen „ echten “ 176 Präpositionen zumindest drei Kasus, und die Präposition ǝ nd regiert sogar fünf Kasus, d. h. den Akkusativ „ zu, nach, auf, in, durch “ , den Instrumental „ unter “ , den Lokativ „ mit, bei “ , den Dativ „ mit “ und den Genitiv „ für, statt “ (vgl. Schmitt 2007: 160). Die geringe Entwicklung der PP im klassischen Armenisch zeigt sich unter anderem darin, dass sie auch vor den einzelnen Gliedern einer Phrase wiederholt werden können: ǝ nd awowrs-n ǝ nd aynosik (in Tag: AKK.PL-ART in jener: AKK.PL) „ in jenen Tagen “ (Luc. 2.1). Das Altgriechische und das Altindische zeigen im Laufe ihrer Geschichte die Beziehung zwischen Präverbien und polyptotischen Präpositionen. Das homerische Griechisch und das Vedische haben mehr Präpositionen mit zwei oder drei Kasus als das klassische Griechisch bzw. das klassische Sanskrit. Gleichzeitig zeigen sie eine noch unentwickelte Verbindung zwischen Präverb und Verb im Vergleich zu ihren späteren Sprachstufen (vgl. Speyer 1886: 133ff; 1896: 24ff; Schwyzer 1950: 417ff; Chantraine 1953: 82ff; Luraghi 2003 b; Hettrich 2012). So regiert ἀμφί „ um “ im homerischen Griechisch drei Kasus (Akkusativ, Dativ und Genitiv), während im klassischen Griechisch für diese Präposition nur der Ausdruck mit dem Akkusativ produktiv bleibt. Als Präverb hingegen wird im klassischen Griechisch ἀμφί häufiger, in dem es neben seiner ursprünglichen Bedeutung „ zu beiden Seiten “ (vgl. ἄμφω ) bei Verben wie ἀμφιβάλλω „ darum werfen, umtun “ oder ἀμφιλαμβάνω „ von allen Seiten fassen, umfassen “ auch eine kausale Beziehung ausdrücken kann, z. B. ἀμφιμάχομαι „ um (den 176 Echte Präpositionen werden in vielen Sprachen von anderen räumlichen Ausdrücken unterschieden, die eine morphologisch vollere Form und eine konkretere Bedeutung haben (vgl. Fußnote 45). Eine unechte Präposition im klassischen Armenisch ist z. B. yet „ nach “ , eine transparente Form i het „ auf der Spur von “ , die den Genitiv regiert. 275 <?page no="276"?> Besitz oder zum Schutz von) etwas kämpfen “ , ἀμφιτρομέω „ für jemanden zittern, seinetwegen in Sorgen sein “ (LSJ 89 ff). Das Altindische bezeugt den Verfall nicht nur mehrerer Kasus für eine Adposition, sondern einiger Adpositionen selber wie ádhi „ auf, über “ , die im Vedischen üblich sind, aber nicht im klassischen Sanskrit. Im Vedischen regiert ádhi vier Kasus (Akkusativ, Ablativ, Lokativ und Instrumental, vgl. GR 45); im klassischen Sanskrit hingegen wird ádhi nur als Präverb verwendet, und in diesem Gebrauch vermehrt es sogar seine semantischen Möglichkeiten (MW 20). Andererseits haben wir Sprachen, die reich an Präverbien, aber arm an polyptotischen Adpositionen sind. Im Altisländischen ist der Gebrauch der Präverbien größtenteils grammatikalisiert, während die Möglichkeit verschiedener Kasus mit einer Präposition ziemlich beschränkt ist: neben der für die germanischen Sprachen üblichen Variation zwischen Dativ und Akkusativ, je nach stativer oder direktionaler Funktion, gibt es nur eine Präposition, die sowohl den Akkusativ als auch den Genitiv auswählt (útan „ außer, ohne “ ), und nur eine Präposition, die drei Kasus regieren kann (án „ ohne). 177 Die anderen Präpositionen sind monoptotisch (gegnum „ durch “ , of „ auf, über, zu “ , um „ um “ mit AKK; innan „ innerhalb “ , me đ al „ inmitten “ , milli/ millum „ inmitten “ , til „ zu, nach, bis “ mit GEN; af „ von, aus, fort, weg “ , at „ bei, zu, gegen, nach “ , frá „ von “ , gagnvart/ gegnvart „ gegenüber “ , gegn „ gegen “ , hjá „ bei, vorbei, außer “ , mót(i) „ entgegen “ , nær „ nah “ , ór/ úr „ aus, von “ , undan „ weg von “ mit DAT), vgl. Barnes (2008: 181 ff). Im Altirischen, in dem die Verbindung zwischen Verb und Präverb so festgesetzt ist, dass man die „ konjunkte “ Konjugation der präverbierten Verben von der „ absoluten “ Konjugation unterscheidet, gibt es keine Präposition, die drei Kasus regiert und nur vier (ar „ vor “ , fo „ unter “ , for „ auf “ und in „ in “ ) von 27 Präpositionen, die zwei Kasus benutzen, d. h. Akkusativ und Dativ, ähnlich der stativen bzw. direktionalen Funktion des Germanischen und des Lateinischen (vgl. Thurneysen 1946: 495 ff). Im Altkirchenslawischen, in dem Präverbien als Zeichen des perfektiven Aspekts im Indogermanischen am meisten entwickelt sind, gibt es ebenfalls viel mehr Präpositionen, die nur einen Kasus regieren, als Präpositionen mit zwei oder drei Kasus (vgl. Lunt 2001: 151 ff). Dasselbe gilt für das Litauische, in dem perfektive 177 Die Präposition „ ohne “ ist in vielen Sprachen kaum grammatikalisiert und dementsprechend morphologisch voller und semantisch transparenter als ihre Entsprechung „ mit “ . Lat. sine „ ohne “ ist ein klarer Imperativ „ lass! “ von sinere, während cum „ mit “ (vom alten Stamm des interrogativ-indefiniten Pronomens k w ó-) synchron opak ist. Auffällig ist dieselbe asymmetrische Beziehung zwischen „ vor “ und „ hinter “ sowie zwischen „ in “ und „ aus “ , wobei „ vor “ und „ in “ sich normalerweise wie echte Präpositionen verhalten, während die Formen für „ hinter “ und „ aus “ ihre adverbiale Bedeutung besser zeigen, vgl. § 2.6. Das ist ein Beispiel dafür, dass auch räumliche Ausdrücke, die in der Wirklichkeit symmetrisch sind, eine unterschiedliche linguistische Darstellung haben können. 276 <?page no="277"?> Präverbien auch grammatikalisiert sind, und in dem die meisten Präpositionen jeweils nur einen bestimmten Kasus - normalerweise den Genitiv - verlangen (hierher gehören die primären Präpositionen anot „ nach “ , ant „ auf “ , be „ ohne “ , d ė l(ei) „ wegen “ , iki „ zu, bis “ , i š „ aus, von “ , lig(i) „ zu, bis “ , nuo „ von “ , prie „ bei “ , plus sekundäre Präpositionen wie arti „ nah “ und komplexe Präpositionen wie i š u ž „ von hinter “ ). Nur eine Präposition (u ž „ hinter, außer, für “ ) regiert im Litauischen zwei Kasus (Genitiv und Akkusativ), und nur eine Präposition (po „ nach, auf “ ) hat drei Kasus (Genitiv, Akkusativ und Instrumental) (vgl. Ambrazas 1997: 404 ff). Polyptotische Präpositionen sind auch im Lateinischen selten. Ähnlich wie im Germanischen ist der Gebrauch einer Präposition mit zwei Kasus auf den Gegensatz zwischen Direktionalität (mit AKK) und Stativität (mit ABL) beschränkt. Der Genitiv wird nur von unechten Präpositionen selegiert, die einen deutlich adverbialen (intus) oder nominalen (causa, gratia) Ursprung haben, und der Dativ wird für die Ergänzung einer Präposition nicht gebraucht. Auf der anderen Seite sind Präverbien im Lateinischen sehr produktiv: die Tmesis ist nur bei archaischen Ausdrücken der religiösen Sprache belegt, wie in den von Festus überlieferten Gebetsformeln ob vos sacro „ ich bitte euch “ für klassisches Latein obsecro vos oder sub vos placo „ ich flehe euch an “ für supplico vos (vgl. Hofmann & Szantyr 1965: 217), und einige Formen wie re- oder diskönnen nur als Präverbien, nicht als Präpositionen, vorkommen. Natürlich ist die hier hypothetisierte umgekehrte Proportion zwischen dem semantisch bedingten Gebrauch mehrerer Kasus für eine Präposition und der syntaktischen Anbindung des Präverbs an das Verb nur eine Tendenz, die daher auch Gegenbeispiele haben kann. 178 Wenn wir auch überzeugt sind, dass der syntaktische Wandel weder abrupt noch monoton 178 Ein Gegenbeispiel ist das Hethitische, in dem Postpositionen meistens nur einen Kasus (den Dativ/ Lokativ) regieren, und Präverbien kaum grammatikalisiert sind. Die Präverbien sind in dieser Sprache morphologisch den entsprechenden Adverbien (wie auch den Postpositionen) ähnlich, und syntaktisch können sie frei vom Verb entfernt werden (es gibt nur zwei Präverbien, u- „ her “ und pe „ hin “ , die stets mit dem Verb verbunden sind, vgl. Hoffner & Melchert 2008: 294 ff). Diese Verteilung kann dadurch erklärt werden, dass Synkretismus oder Verfall dem Gebrauch desselben Kasus für eine Postposition in der Sprache des Neuen Reiches zugrunde liegt. Im Althethitischen, als der Direktiv und der Lokativ formal durch die Endung - a bzw. - i unterschieden wurden, genügten in den meisten Fällen allein die synthetischen Verfahren der Kasus ohne Verstärkung der Postpositionen zum Ausdruck der direktionalen bzw. lokalen Beziehungen (§ 2.3.1.2). Ein diachroner Unterschied im Gebrauch der Postpositionen betrifft auch den Genitiv, der im Althethitischen oft die Ergänzung einer Postposition kennzeichnet, als die Phrase noch eine possessive Bedeutung hatte (nepi š a š kattan „ unter dem Himmel “ , wörtl. „ am Boden vom Himmel “ , vgl. § 2.4), der aber in den späteren Stufen des Hethitischen oft vom Dativ/ Lokativ ersetzt wurde. 277 <?page no="278"?> ist, also alte und neue Formen für eine Funktion gleichzeitig vorhanden sein und in Konkurrenz stehen können - und tatsächlich haben alle alten idg. Sprachen Adpositionen mit mehreren Kasus wie auch präverbierte Verben - , so ist es doch verständlich, dass Präverbien und polyptotische Adpositionen in einer Sprache oft nicht das gleiche Gewicht haben. Denn die Grammatik der Lokalpartikel wie anderer linguistischer Konstruktionen ist ein System, bei dem der Wandel in einem Bereich Auswirkungen auf einen anderen Bereich hat und somit nicht alle Änderungen gleich wahrscheinlich sind. Diese sozusagen inverse Proportion kann nicht einfach als selbstverständlich vorausgesetzt werden und ist gerade deswegen empirisch interessant: erstens haben Adpositionen und Präverbien eine voneinander unabhängige Entwicklung von ihren ursprünglichen adverbialen Quellen, und daher ist es nicht notwendig, dass sie auch als grammatikalisierte Verfahren der räumlichen Ausdrücke zusammenspielen. Zweitens hängt der Gebrauch der Präverbien und der polyptotischen Adpositionen nicht von einer reichen verbalen bzw. nominalen Morphologie ab. Ganz im Gegenteil hat z. B. das homerische Griechisch weniger Kasus als morphologische Unterschiede am Verb und trotzdem zeigt es mehr polyptotische Adpositionen als Präverbien. Andererseits haben das Altkirchenslawische und das Litauische viele morphologische Kasus und doch gebrauchen sie mehr Präverbien als polyptotische Adpositionen. Der Grund der inversen Proportion zwischen Präverbien und polyptotischen Präpositionen liegt vermutlich darin, dass polyptotische Präpositionen das archaische Merkmal einer Situation niedriger Konfigurationalität sind, in der die Präposition nur eine Verstärkung des Kasus und der Kasus selber semantisch motiviert war (vgl. § 2.3.2.3). Präverbien hingegen sind ein Zeichen der Transitivität, wobei ein Verbum Simplex normalerweise intransitiv ist und durch die Verbindung mit einem Präverb transitiv wird, wie im Lat. pugnare „ kämpfen “ vs. ex-pugnare „ erobern “ , und das geht mit einer hohen Konfigurationalität zusammen. Als Darstellungen unterschiedlicher Niveaus von Konfigurationalität können also Präverbien und polyptotische Präpositionen auch unterschiedliche Rollen in den Rektionsverfahren einer Sprache spielen - unter der Annahme, dass eine Sprache in verschiedenen grammatischen Bereichen mehr oder weniger konfigurationell ist: wie oben gesagt, war eben das Urindogermanische - soweit rekonstruiert - auch keine konsistent nicht-konfigurationelle Sprache. Die Grammatikalisierung der hierarchischen Beziehungen können wir auch an der NP sehen, in der sich mit der Zeit die Rektionsbeziehung des Genitivs verbreitet. Der Genitiv kann unterschiedliche syntaktische Beziehungen in verschiedenen Strukturen darstellen. Nach Rosenbach (2002: 26) ist der Genitiv im Englischen eine Ergänzung in einer Struktur wie the daughter of the king, ein Determinans in the king ’ s daughter und ein Modifikator (d. h. ein Adjunkt) in a king ’ s daughter; im letzteren Fall bezeichnet 278 <?page no="279"?> der Genitiv keinen spezifischen König, sondern die allgemeine Eigenschaft einer königlichen Verwandtschaft. Diese syntaktische Variabilität hängt auch damit zusammen, dass der Genitiv ein hoch polysemischer Kasus ist (vgl. Nikiforidou 1991). Jedenfalls ist der Genitiv eindeutig ein Dependens: in allen Strukturen wie the daughter of the king, the king ’ s daughter, a king ’ s daughter ist das Nomen „ Tochter “ der Kopf, von dem das Nomen „ König “ abhängt. Genitiv-kodierte Nominalphrasen sind natürlich in allen alten idg. Sprachen üblich, aber in ihren ältesten Texten kann man eine Konkurrenz beobachten zwischen dem Genitiv und anderen Strukturen wie der Apposition (§ 4.3.2), dem adnominalen Dativ (§ 4.3.3) und dem possessiven Adjektiv (§ 4.3.4), in denen die Abhängigkeitsbeziehung zwischen den beiden Nomina lockerer oder zweideutig ist. Die Verdrängung dieser appositiven Strukturen zugunsten der für den Genitiv typischen Einbettung kann mit der Entwicklung der syntaktischen Hierarchie in Beziehung gesetzt werden. 4.3.2 Genitiv vs. Apposition Die Relevanz der Apposition in der Syntax der alten idg. Sprachen wurde neuerdings von Hackstein (2010) ausführlich dargestellt, mit besonderer Berücksichtigung von festen Kollokationen, die aus Numeralen oder Determinativen bestehen. Hier unterscheiden wir zwischen zwei im Indogermanischen breit belegten appositiven Gebrauchsarten, je nachdem ob die appositiv verbundenen Nominalia genau denselben Referenten haben, wie in Beispiel (4.24), oder eine partitive Beziehung darstellen, wie in (4.26). Gleichwohl sind die Grenzen zwischen diesen Typen von Appositionen nicht immer deutlich, vgl. (4.25). In selbstreferentiellen Appositionen kann ein Referent durch eine komplexe Struktur identizifiert werden, die aus dem Nomen für die Spezies und dem Nomen für den bestimmten Einzelnen besteht. Da es um zwei unabhängige Nomina geht, gibt es zwar keine Kongruenz in Genus und Numerus, dafür aber im Kasus, der ihre syntaktisch gleiche Funktion bezeichnet (4.24). (4.24) κὰδ δ᾽ ἄρ᾽ Ἀθηναίη τε καὶ ἀργυρότοξος Ἀπόλλων ἑζέσθην ὄρνισιν ἐοικότες αἰγυπιοῖσι „ Aber Pallas Athen ’ und der Gott des silbernen Bogens / setzten sich beid ’ , an Gestalt wie zween hochfliegende Geier. “ (Hom. Il. 7.59; Übersetzung Voß 1943 a: 109) Die Wortfolge der zwei Bestandteile kann variieren, 179 aber eine Distanzstellung zwischen den Nomina ist immerhin häufig, was ihre semantische 179 Nach Delbrück (1900: 199) hat die ursprüngliche Wortfolge aus logischen Gründen grundsätzlich zuerst das Nomen der Spezies und dann das Nomen des Einzelnen, wie 279 <?page no="280"?> Autonomie verdeutlicht. In diesem Fall können wir auch von „ doppeltem Kopf “ sprechen. In einigen alten idg. Sprachen wie im Altgriechischen, Lateinischen und Tocharischen A gibt es zudem die Möglichkeit, diese semantische Koreferenz auch durch den Genitiv auszudrücken: im genetivus appositionalis, definitivus oder epexegeticus, wie in Beispiel (4.25), das eine Umschreibung für das einfache Nomen Τροίη ist. Obwohl die Apposition und der genetivus epexegeticus dieselbe Information anbieten, wird diese Information auf verschiedene syntaktische Arten übermittelt, wie die verschiedenen Stellungsmöglichkeiten beweisen. Im genetivus epexegeticus stehen die zwei Nomina immer nebeneinander. (4.25) ἐπεὶ Τροίης ἱερὸν πτολίεθρον ἔπερσεν „ nach der heiligen Troia Zerstörung “ (Hom. Od. 1.2; Übersetzung Voß 1943 b: 3) Der genetivus epexegeticus ist eine Neuerung, die in den idg. Sprachen syntaktisch eher beschränkt ist; z. B. gebraucht das Tocharische B anders als das Tocharische A die Apposition. Denn für einen Referenten wird eher erwartet, durch zwei mit demselben Kasus versehene Wörter bezeichnet zu werden, als eine Situation, wo derselbe Referent durch zwei verschiedene Kasus bezeichnet wird. Für den späten Charakter dieser Ausdrücke plädiert Delbrück: „ ich möchte [. . .] annehmen, dass Ausdrücke, wie arbor fici in der Ursprache nicht vorhanden gewesen sind, da für den hierdurch erstrebten Zweck das Kompositum diente “ (1893: 346 - 47). Ein solcher Gebrauch stellt den späteren Versuch dar, eine für den Genitiv typische hierarchische Beziehung auf den Bereich der selbstreferentiellen Apposition auszudehnen. Der genetivus epexegeticus kann auch Ausdehnungen in der dichterischen Sprache bezeugen, um feste und auffällige Umschreibungen für einfache Begriffe zu schaffen, z. B. τοῦ δ’ ἤκουσ’ ἱερὴ ἲς Τηλεμάχοιο „ Ihn hörte Telemachos ’ heilige Stärke “ (Hom. Od. 22.354), wobei die Phrase „ Telemachos ’ heilige Stärke “ dem bloßen Nomen „ Telemachos “ äquivalent ist. Dazu gehören auch die metaphorischen Ausdrücke des Lateinischen scelus viri, flagitium hominis, hallex viri, monstrum hominis, pestes hominum, die in (4.24), wo das Hyperonym ὄρνισι „ Vögel “ dem Hyponym αἰγυπιοῖσι „ Aasgeier “ vorangestellt wird. Nach Hackstein (2003 b) hingegen ist im Urindogermanischen bei formelhaften Kollokationen das Hyponym das links gestellte Nominal wie in anderen typologisch ähnlichen SOV Sprachen: „ The information flow, i. e. the disambiguation of the sense of the noun phrase, runs from right to left, from the relatively more general to the relatively more specific information. The hyponym is the semantic subordinate of the hyperonym. “ (S. 148) Bei beiden Forschern verläuft die Wortfolge der Appositionen vom spezifischen zum generischen Referenten, aber der Anfangspunkt ist verschieden: Er ist das erste Element auf der linearen Achse nach Delbrück, er ist aber der syntaktische Kopf nach Hackstein. 280 <?page no="281"?> besonders in den Komödien von Plautus (vgl. Asin. 473; Cas. 552; Curc. 614; Men. 489, 709; Truc. 621; Persa 192; Poen. 1310) und Terenz (Eun. 696) verwendet werden. In den germanischen Sprachen wurde dieser Prozess besonders produktiv in der Kenning, die entweder mit dem Genitiv (Thing der Waffen für Kampf) oder mit Komposita (Beowulf für Bär, der Feind der Bienen) gebildet wird. In diesem Fall ist der Genitiv nicht-referentiell und deswegen Teil desselben funktionalen Bereiches der Komposition, in der das erste Glied generisch gemeint ist. Der genetivus epexegeticus entsteht wahrscheinlich aus einer ursprünglich partitiven Beziehung zwischen den zwei Nominalen. In Strukturen wie (4.25) sind „ Stadt “ und „ Troja “ nicht wirklich koreferent, sondern das Wort πτολίεθρον bedeutet eigentlich „ Festung “ und deshalb identifiziert nur ein Teil des Wortes Τροίης . In ἱερὸς ῥόος Ἀλφειοῖο „ der heilige Strom des Alphoeus “ deckt der Begriff „ Strom “ nicht den ganzen Begriff „ Fluss “ , sondern nur einen Teil davon. Ein Teil von einem Ding hat gleichzeitig denselben Referenten wie dieses Ding und stimmt doch nicht völlig mit ihm überein; da dieser Teil normalerweise auch der auffälligste oder wichtigste des Dinges ist, kann er auch ein Zeichen für das Ganze sein. Es gibt auch Appositionen, in denen die partitive Beziehung zwischen den zwei Nominalia syntagmatisch noch deutlicher ist, wie in σχῆμα καθ’ ὅλον καὶ μέρος (4.26), das normalerweise eine Funktion von inalienablem Besitz ausdrückt (4.26). 180 (4.26) τὸν δ’ ἄορι πλῆξ’ αὐχένα , λῦσε δὲ γυῖα „ Er schwang in den Nacken das Schwert und löst ’ ihm die Glieder “ (Hom. Il. 11.240; Übersetzung Voß 1943 a: 177) Hier regiert das Verb πλῆξε „ er schlug “ zwei Akkusativ-Objekte, das betonte Pronomen τόν „ ihn “ und das Nomen αὐχένα „ Hals “ . Begrifflich sind τόν der Besitzer und αὐχένα das Besessene in einer Beziehung inalienablen Besitzes, und deswegen könnte man einen Genitiv statt des Akkusativs für den Besitzer erwarten, wie τοῖο . . . αὐχένα oder τοῦ . . . αὐχένα . Besonders τοῦ wäre der Struktur τόν + Konsonant in (4.26) metrisch äquivalent, doch für solche Fälle findet man im Altgriechischen regelmäßig den Akkusativ. Schwyzer (1950: 81) schließt das σχῆμα καθ’ ὅλον καὶ μέρος innerhalb der Gebrauchsarten des doppelten Akkusativs des Altgrie- 180 Eine weitere appositive Struktur für den inalienablen Besitz ist der „ Akkusativ der Beziehung “ , z. B. Skr. námucim· n ā ´ma m ā yínam „ den Dämon, Namuci mit Namen “ , Altgr. Ἀρήτη δ’ ὄνομ’ ἐστὶν ἐπώνυμον „ Diese heißt Arete mit Namen “ (vgl. Delbrück 1893: 387 ff). Denn dem inalienablen Besitz gehören nicht nur Körperteile oder seelische Eigenschaften an, die im Akkusativ der Beziehung vorkommen können (z. B. πόδας ὠκύς , ἀχνύμενος κῆρ ), sondern auch der „ Name “ (n ā ´ma, ὄνομα ), der selbst die Identität einer Person ausdrückt (vgl. Chappel & McGregor 1995). 281 <?page no="282"?> chischen ein, weil der Akkusativ derjenige Kasus ist, der in dieser Sprache in solchen Ausdrücken auftaucht. Eigentlich ist aber diese Struktur, die auch in mehreren anderen Sprachen wie im Hethitischen, Lateinischen und Germanischen belegt ist (vgl. Lühr 2002; Panagl 2012), nicht auf den Akkusativ beschränkt. Vielmehr hängt die Auswahl des Kasus für das Nomen des Ganzen und das Nomen des Teils von der syntaktischen Funktion ab, die diese Nominalia im Satz darstellen. Eine nicht-akkusative Kodierung des σχῆμα καθ’ ὅλον καὶ μέρος wird illustriert in (4.27) mit einer Stelle aus dem Hethitischen: (4.27) n-at-mu-kan UKÙ-az KA×U-az š ar ā uizzi KONN-es-mir-PTK Mensch: ABL Mund: ABL empor kommen: PRS.IND3SG „ Und das (d. h. dieses Wort) kommt mir aus dem menschlichen Mund empor. “ (KUB VI 45 I 30, Übersetzung Friedrich 1960: 123 - 124) Hier besteht eine possessive Beziehung zwischen UKÙ „ Mensch “ und KA×U „ Mund “ , und beide werden in den Ablativ flektiert. Bedeutsamerweise identifiziert Friedrich (1960: 124) auch eine Variante antuh ˘ š a š KA×U-az, in der der Besitzer im Genitiv und das Besessene im Ablativ stehen, nach einer normalen GN Phrase. Eine Dativ-Kodierung der appositiven Beziehung zwischen Ganzem und Teil erscheint im Litauischen: jam lengviau es ą š ird ž iai (er: DAT leichter seiend Herz: DAT) „ Er fühlt sich leichter in seinem Herzen “ (Schmalstieg 1987: 226), was dem Gebrauch des dativus sympatheticus ähnlich ist (§ 4.3.3.1). Jedenfalls ist im Indogermanischen der Akkusativ der häufigste Kasus für diesen Typ Apposition, wie Schwyzer (1950) für das Altgriechische bemerkt. Auch die meisten Beispiele im Hethitischen betreffen den Akkusativ. Diese Häufigkeit kann meiner Meinung nach dadurch erklärt werden, dass der Kasus des direkten Objekts am meisten rhematische Information vermittelt und - da der Fokus im Diskurs normalerweise nur in kleinen Stücken vorkommt (one chunk of information at a time nach Du Bois 1985, vgl. § 4.2.2) - auch nachvollziehbar ist, dass dafür eher die syntaktisch lockere Struktur einer Apposition als die integrierten Verfahren der Rektion mit dem Genitiv bevorzugt wird. Die Verwendung einer Apposition statt des Genitivs in verschiedenen idg. Sprachen und in verschiedenen Gestalten für possessive oder partitive Funktionen weist darauf hin, dass das σχῆμα καθ’ ὅλον καὶ μέρος keine isolierte Erfindung der dichterischen Sprache ist. Trotzdem verfällt diese Struktur diachron in den meisten idg. Sprachen. Im attischen Griechisch ist sie nur im Passiv belegt: Schwyzer (1950: 84 - 85) berichtet über eine Stelle ( ἐξεκόπην πρότερον τὸν ὀφθαλμὸν λίθῳ „ Ich würde lieber mit einem Stein auf mein Auge geschlagen werden “ , Aristoph. Nub. 24) und kommentiert: „ Man konnte kaum sagen ἐξέκοψάν με τὸν ὀφθαλμόν . “ Dieser passive Gebrauch belegt m. E. eine Normalisierung der alten appositiven Struktur, wobei der Akkusativ nur für das Nomen des unbelebten Patiens, nämlich 282 <?page no="283"?> das Nomen des Körperteils, bewahrt wird, während das Nomen des menschlichen Patiens (d. h. des ranghöheren Besitzers) als Subjekt des Satzes interpretiert wird. Das Agens, das im ursprünglichen σχῆμα καθ’ ὅλον καὶ μέρος noch vorkommt (oder, wie in Beispiel (4.26), aus der verbalen Kongruenz ersichtlich ist), verschwindet und wird ledglich durch den Kontext erfasst. Die normalisierte Konstruktion des σχῆμα καθ’ ὅλον καὶ μέρος durch eine passive Wiedergabe findet auch im Hethitischen unabhängig statt. In dieser Sprache ist aber - anders als im Altgriechischen - das appositive Nebeneinander der zwei Akkusative in den späten Stufen häufiger als in den frühen, sodass der possessive Genitiv der Gesetze durch das σχῆμα καθ’ ὅλον καὶ μέρος in neuhethitischen Kopien oft umschrieben wird (vgl. Hoffner & Melchert 2008: 247 ff). Während nun der Verfall der appositiven Verknüpfung des σχῆμα καθ’ ὅλον καὶ μέρος zugunsten syntaktisch integrierterer Strukturen einen natürlichen Wandel im Sinne einer zunehmenden Konfigurationalität darstellt, ist die diachrone Verbreitung dieser Struktur im Hethitischen unerwartet und erfordert eine Erklärung. Der Grund besteht m. E. darin, dass das Hethitische auch weitere appositive Ausdrücke des Besitzes hatte, die das σχῆμα verstärken konnten, und die letztendlich durch den Kontakt mit anderen Sprachen des alten Nahen Ostens wie Akkadisch und Sumerisch beeinflusst wurden. Schon im Althethitischen sind kopfmarkierte possessive Strukturen belegt, wobei man z. B. statt „ des Mannes Hand “ (antuh ˘ š a š ke šš era š ) eher „ der Mann seine Hand “ (antuh ˘ š a š ke šš era š š i š ) sagte, vgl. Friedrich (1960: 122). Im letzteren Fall wird das Nomen des Besitzers am syntaktischen Kopf durch ein klitisches Pronomen resümiert, was eine lockerere Verbindung als in der entsprechenden eingebetteten Genitiv-Phrase darstellt. Kopf- oder doppelt-markierte possessive Strukturen wie „ der Mann seine Hand “ bzw. „ des Mannes seine Hand “ , die besonders im Bereich des inalienablen Besitzes in verschiedenen, meistens nicht-standardisierten Varianten moderner idg. Sprachen wie des Deutschen und des Italienischen vorkommen, waren für die alten idg. Sprachen hingegen nicht typisch und können für das Urindogermanische auch nicht rekonstruiert werden. 181 Sie sind hingegen belegt im Akkadischen seit seinen ältesten Urkunden, wo sie „ antizipatorische Genitive “ (anticipatory genitive, vgl. Haber im Druck) genannt werden, z. B. š a d humbaba panuš u (von Humbaba Gesicht-sein) „ Humbabas Gesicht “ , und wo sie mit anderen Strukturen wie dem status 181 Das ist wahrscheinlich nicht nur eine Frage des Registers, weil die Texte vieler alter idg. Sprachen auch Merkmale mündlicher Kommunikation widerspiegeln (vgl. §§ 2.3.2.1, 4.2.1). Das hat aber nicht zu bedeuten, dass kopfmarkierte Strukturen dem Urindogermanischen notwendigerweise fehlten, sondern nur, dass wir ihre Anwesenheit am Beispiel der belegten Sprachen nicht beweisen können. 283 <?page no="284"?> constructus und dem status rectus für den Ausdruck des Besitzes konkurrieren. 182 Anhand einer genauen philologischen Analyse findet Haber heraus, dass der antizipatorische Genitiv im Akkadischen verwendet wird, wenn er einen topikalisierten Diskursreferent und oft ein Kennwort des Texts bezeichnet. Diese Struktur stammt eigentlich aus dem Sumerischen, in dem sie einen ähnlichen Gebrauch wie im Akkadischen hatte ( „ the anticipatory genitive construction functions as a stylistic tool to emphasize key words and central themes within sentences, paragraphs, and even in the framework of entire compositions. It fulfills this function by relocating the governed noun at the head of the sentence, whereby usually it is placed at the head of the poetic line as well, Haber 2009: 7). Die Entlehnung dieser Konstruktion (auch ohne Genitivmarker Š A) ins Hethitische wurde wahrscheinlich von ihrer Wortfolge begünstigt, die durch die Stellung des Nomens des Besitzers vor dem Nomen des Besessenen der typischen GN-Anordnung des Hethitischen besser entspricht als der status constructus und die š a-Struktur mit casus rectus. Auch außerhalb der NP ist aber die appositive Verbindung im Hethitischen üblicher als in Sprachen wie dem klassischen Griechisch, z. B. im korrelativen Diptychon, in dem auch ein Resumptivpronomen benutzt wird, wie wir unten (§ 4.5) in Bezug auf die Struktur des Satzes diskutieren werden. Daher ist es verständlich, dass die Apposition des σχῆμα καθ’ ὅλον καὶ μέρος im hethitischen System für keine syntaktische Idiosynkrasie gehalten wurde und häufig blieb. 4.3.3 Genitiv vs. Dativ 4.3.3.1 Dativus sympatheticus Innerhalb aller Kasus, die eine appositive Funktion in Konkurrenz zum Genitiv ausdrücken können, nimmt der Dativ eine besondere Stellung ein, der auch eine Reihe weiterer freier Gebrauchsarten in den alten idg. Sprachen aufweist. Während der Genitiv eine Ergänzung des nominalen Kopfes sein kann, stellt der Dativ eine Adjunkt-Funktion dar, falls er nicht von einem ditransitiven Verb verlangt wird (Dürscheid 2012 a: 41). Den funktionalen Bereich des Genitivs berührt der Dativ, wenn er einen adnominalen Gebrauch und eine possessive Funktion im „ Pertinenzdativ “ hat, auch nach Havers (1911) dativus sympatheticus genannt oder „ äußerer Besitz “ (external possession, vgl. Payne 1999), wie im Dt. ich wasche mir die 182 Sowohl der für die semitischen Sprachen typische status constructus als auch der status rectus zeigen im Akkadischen eine Kopf-Dependens-Wortfolge. Im letzteren sind Kopf und Dependens vom Determinativpronomen š a (und ggf. von weiterem Material) getrennt, z. B. b ē lum š a b ī tim „ der Herr des Hauses “ (NG), während sie im status constructus adjazent sind und der Kopf eine reduzierte Form ohne Kasusendung hat, z. B. b ē l b ī tim „ der Herr des Hauses “ (NG), vgl. Huehnergard (2000: 55 ff). 284 <?page no="285"?> Hände vs. Engl. I wash my hands, was dagegen einen „ inneren Besitz “ darstellt. 183 Diese Konkurrenz erscheint insbesondere, wenn ein Dativ und ein Genitiv koordiniert werden oder in parallelen Satzgliedern vorkommen, wie im Beispiel (4.28) aus dem Awestischen: (4.28) nizbayemi xwar ə n ō airyan ą m daxiiun ą m rufen: PRS1SG Herrlichkeit(N): AKK.SG arisch: GEN.F.PL Land(F): GEN.PL nizbayemi xwar ə n ō yim ā i rufen: PRS1SG Herrlichkeit(N): AKK.SG Yima(M): DAT „ Ich rufe die Herrlichkeit der arischen Länder, ich rufe die Herrlichkeit des Yima. “ (Vd. 19.39; Delbrück 1893: 304) Hier wird dasselbe Nomen (xwar ə n ō „ Herrlichkeit “ ) zuerst mit einem Genitiv (airyan ą m daxiiun ą m „ der arischen Länder “ ) und dann mit einem Dativ (yim ā i „ des Yima “ ) gebildet. Interessanterweise wählen die zwei Kasus hier verschiedene Typen von Nomina aus, wobei der Genitiv für den Gattungsnamen und der Dativ für den Eigennamen verwendet wird. Das könnte damit zusammenhängen, dass der Dativ sprachübergreifend für menschliche, spezifische und topikale Referenten benutzt wird (vgl. Givon 2001: I, 473). Im Altindischen hat der possessive Gebrauch des Dativs auch morphologische Effekte, weil die enklitischen Personalpronomina me (1SG) und te (2SG) synchron sowohl Dative als auch Genitive sind, und deswegen können sie gleichermassen die betonten Pronomina máhyam (1SG.DAT), túbhyam (2SG.DAT) oder máma (1SG.GEN), táva (2SG.GEN) ersetzen. Ein Vergleich mit dem Altgriechischen, in dem die etymologisch entsprechenden Formen μοι und (Lesb., Ion., Dor.) τοι morphologisch Dative sind, 184 183 Der possessive Dativ rührt von einem generisch freien Dativ durch Reanalyse her. Wegen seiner niedrigen semantischen Beziehung zum Prädikat kann der freie Dativ auch als Adjunkt eines Nominals interpretiert werden, sofern ein possessiver Nexus zwischen den beiden besteht. Unter solchen Umständen kann die Sequenz Dativ - Nomen - Verb entweder als [Dativ - Verb] Nomen oder als [Dativ - Nomen] Verb interpretiert werden. Der Ausdruck „ äußerer Besitz “ erfasst genau die Tatsache, dass der Dativ keine syntaktische Konstituente mit dem Nomen des Besessenen bildet; Dagegen ist der Genitiv in einer possessiven Phrase des „ inneren Besitzes “ (internal possession) definitionsgemäss innerhalb der ganzen NP. 184 Man darf nicht die Morphologie mit der Syntax von μοι und τοι verwechseln. Von einem syntaktischen Standpunkt aus können diese Pronomina die Funktionen eines Genitivs sehr wohl ausdrücken (Schwyzer 1950: 189), einerseits als adnominale Formen für den Besitzer, wie eben im Fall des dativus sympatheticus, andererseits als Verbalargumente, z. B. bei Verben des Hörens, wie bei Homer im Ausdruck κλῦθι μοι . Von einem bloß morphologischen Standpunkt aber sind μοι und τοι Dative. Es ist durchaus möglich, dass die Extension dieser Dativpronomina schon im Urindogermanischen stattfand, wie auch, dass der possessive Gebrauch sich in den verschiedenen alten idg. Sprachen unabhängig voneinander entwickelt hat, da es um einen 285 <?page no="286"?> genügt aber, um zu bestimmen, dass auch für die Klitika des Altindischen me (4.29) und te die dativale Funktion ursprünglich ist und auf Kosten des Genitivs benutzt wird. (4.29) nén me ’ gnír vai ś v ā naró múkh ā n damit.nicht mir Agni(M): NOM Vaisv ā nara: NOM.M.SG Mund(N): ABL.SG nis · pády ā ta íti fliehen: PRS.KONJ3SG QUOT „ Damit Agni Vai ś v ā nara von meinem Mund nicht weggeht. “ ( Ś B 1.4. 1. 10) Wie oben gesagt ist der Genitiv im Altindischen der normale Ausdruck des Besitzes - nicht nur des attributiven Besitzes (z. B. mama putrah · „ mein Sohn “ ), sondern auch des prädikativen (r ā masya gr ˚ ham asti „ R ā ma hat ein Haus “ ) - während andererseits in den späteren Sprachstufen des Mittelindischen der Dativ verfällt. Deswegen kann der dativus pro genetivo bei den klitischen Personalpronomina nicht einfach einem breiteren Gebrauch des Dativs im Allgemeinen zugeschrieben werden, sondern nur in diesem spezifischen Bereich des dativus sympatheticus, in welchem Dativ und Genitiv konkurrieren und manchmal auch überlappen können. Demonstrativpronomina sind die gewöhnlichen Fälle, bei denen wir den possessiven Dativ wie auch andere freie Dative finden, und das sehen wir an denjenigen Konstruktionen, in denen die possessive Bedeutung durch betonte Pronominalformen ausgedrückt wird, wie in (4.30), die - anders als die klitischen - keinen Synkretismus mit dem Genitiv haben und deswegen eine eindeutige Dativ-Kodierung zeigen. (4.30) tásyai ha sma ghr ˚ tám padé dieser: DAT.F.SG PTK PTK Schmelzbutter(N): NOM.SG Fußspur(N): LOK.SG sám· tis · t · hate sammeln: PRS.IND.MED3SG „ In ihrer Fußspur sammelte sich Schmelzbutter. “ ( Ś B 1.8.1.7) Der possessive Dativ ist zwar noch heute in mehreren idg. Sprachen für die Funktion des inalienablen Besitzes belegt (vgl. König & Haspelmath 1997), wie im Deutschen, Italienischen, Russischen (Vaillant 1977: 87-89), Litauischen und Lettischen (Senn 1966: 413; Schmalstieg 1987: 229ff; G ā ters 1993: 124ff; Ambrazas 1997: 508). Betrachtet man aber die frühesten Stufen dieser Sprachen, ist auffällig, dass er viel produktiver war als heutzutage. Obwohl pronominale possessive Dative wie (4.30) häufiger waren als lexikale, waren die letzteren in den alten idg. Sprachen doch recht verbreitet, wie in diesem Beispiel (4.31) aus dem Altisländischen: sprachübergreifend verbreiteten Wandel geht. Synchron überwiegt jedenfalls die dativale Funktion von μοι und τοι gegenüber der genetivalen (vgl. Wackernagel 1926: 77; Schwyzer 1950: 148). 286 <?page no="287"?> (4.31) Skar đ i fell fyrir foetr þorkeli Skar đ i: NOM fallen: PRÄT.IND3SG vor Fuß(M): AKK.PL þorkel: DAT „ Skar đ i fiel vor þorkels Füße. “ (Barnes 2008: 247) Hier besteht die possessive Beziehung zwischen dem Eigennamen þorkel im Dativ und dem Gattungsnamen foetr „ Fuß “ ; der letztere steht im Akkusativ, wie die regierende Präposition fyrir „ vor “ mit direktionaler Funktion verlangt. Auch das Altgriechische zeigt mit seinem Gebrauch des possessiven Dativs als Modifikator eines Vokativs (z. B. τέκνον μοι „ mein Sohn! “ ) eine Ausdrucksmöglichkeit, die in den meisten modernen idg. Sprachen verloren gegangen ist. Den Verfall des dativus sympatheticus kann man in der Geschichte des Altgriechischen beobachten: Schwyzer (1950: 147-148) berichtet, dass im homerischen Griechisch diese Struktur häufiger ist als der possessive Genitiv, während bei Herodot (ca. 485-425 v. Chr.) das Gegenteil gilt. In der Tragödie nimmt der Gebrauch des possessiven Dativs von Aischylos (ca. 525-456 v. Chr.) zu Euripides (ca. 480-406 v. Chr.) ab, und in der κοινή ist er so gut wie unbelegt. Die einzige Ausnahme, die Schwyzer nebenbei erwähnt, ist Hippokrates (ca. 460-370 v. Chr.), der den dativus sympatheticus häufiger als die zeitgenössischen oder vorherigen Autoren verwendet. Das hängt wahrscheinlich mit der Natur des Corpus Hippocraticum zusammen, in welchem eben gerade Körperteile, der sprachübergreifend bevorzugte Bereich des dativus sympatheticus, eine wichtige Topik sind. Ich glaube auch, dass der große Umfang des dativus sympatheticus in den früheren Stufen des Griechischen vom produktiven Gebrauch des Dativs im prädikativen Besitz (in Konkurrenz zum Verb ἔχω ) begünstigt wurde, vgl. § 3.3.2.3. Dasselbe gilt für das Lateinische, in dem der Dativ der mihi-est-Struktur für den prädikativen Besitz (4.32 a) gleichzeitig vorhanden ist wie der dativus sympatheticus für den attributiven Besitz (4.32 b), und in dem einige Konstruktionen eine zweideutige Interpretation anbieten (4.32 c). (4.32 a) quantum aeris mihi sit quantumque alieni siet „ Wie viel mein ist und wie viel meine Schuld beträgt. “ (Pl. Curc. 372; Übersetzung Rau 2008: III, 41) (4.32 b) nam mihi horror membra misero percipit dictis tuis „ Denn bei deinen Worten schon fährt in die Glieder mir der Schreck. “ (Pl. Amph. 1118; Übersetzung Rau 2008: I, 103) (4.32 c) quid mihist in vita boni? „ Was bleibt mir Gutes noch im Leben? “ (Pl. Merc. 471) 287 <?page no="288"?> Nicht nur die Funktionen des Besitzes haben die mihi-est-Struktur und den dativus sympatheticus gemeinsam (besonders für die Funktion des inalienablen Besitzes; für den alienablen Besitz gebraucht das Lateinische meistens das Verb habeo), auch in der Form sind sie auffällig ähnlich in ihrem Vorzug der Pronominalformen. So Bennet über die mihi-est-Struktur: „ It occurs chiefly with pronouns (especially the personal pronouns mihi, tibi) “ (1914: 159). Wenn wir seine Beispiele für die mihi-est-Struktur analysieren, können wir feststellen, dass viele davon auch für eine attributive Interpretation als dativus sympatheticus geeignet sind, besonders wenn es um Körperteile, Verwandtschaft und abstrakten Besitz geht, z. B. si est quod mihi cor „ sofern ich Herz habe “ (Pl. Most. 86), pax mihi est cum mortuis „ ich habe Frieden mit den Toten “ (Pl. Most. 514), id est nomen mihi „ das ist mein Name “ (Pl. Pseud. 637), utrum ei maiores buccaene an mammae sient „ ob sie dickere Wangen oder Brüste hat “ (Pl. Poen. 1416). Die Zahl der Beispiele ließe sich noch vergrößern, wenn man bedenkt, dass die mihi-est-Struktur gelegentlich mit anderen Prädikaten vorkommt als „ sein “ ( „ occasionally the Dative of possession seems to be used with other verbs “ , Bennet 1914: 159). Bauer (2000), die den Verfall des dativus sympatheticus von den alten zu den modernen idg. Sprachen untersucht, schreibt diesen Wandel dem Verlust der Kasus zu: „ The loss of the dativus sympatheticus is presumably related to the loss of the case system. This assumption is supported by evidence from languages where its use is still attested, such as German or Russian, which have case. Similarly in Modern French the structure is still used in pronominal, but not in nominal contexts: in contrast to nouns, pronouns still feature some case marking “ (S. 158). M. E. ist aber der Verlust der Kasus nicht die ganze Geschichte. Strukturen von äußerem Besitz wie Ita. gli si è rotto un braccio (auch mit einer hinzugefügten PP in der Umgangssprache: a Gianni gli si è rotto un braccio) sind kopfmarkiert, und Kopfmarkierung tritt häufiger mit Pronomina als mit Nomina auf (vgl. Nichols 1992). Wie wir in den vorigen Beispielen gesehen haben, ist es die syntaktische Kategorie des Pronomens und nicht der Kasus, die eigentlich in Phänomenen von äußerem Besitz involviert ist: Kasus sind ein Epiphänomen, da Pronomina Kasus besser behalten als Nomina. 185 Auf dieser Grundlage können wir nun auch den Gebrauch des possessiven Dativs bei Eigennamen in den alten idg. Sprachen verstehen, wie in den Stellen (4.28) und (4.31), weil eben sowohl Personalpronomina wie auch Eigennamen in Silversteins (1976) Belebtheitshierarchie hoch rangieren. Würde man hingegen Verlust oder Bewah- 185 Der ständige Gebrauch pronominaler Formen im dativus sympatheticus steht im Zusammenhang mit der Tatsache, dass Pronomina in den Sprachen üblicherweise am Satzanfang vorkommen (Ita. mi si è rotto il braccio), während der attributive Besitz als Pronomen mit dem Genitiv in einer inneren Stellung des Satzes erscheint (si è rotto il mio braccio). 288 <?page no="289"?> rung des possessiven Dativs auf Verlust bzw. Bewahrung der Kasus zurückführen, könnte man nicht erklären, warum weitere freie Dative wie der dativus ethicus, der typischerweise ebenfalls durch kasuskodierte Pronominalformen ausgedrückt wird, im Indogermanischen verfallen, wie im folgenden Abschnitt illustriert werden soll. 4.3.3.2 Dativus commodi / incommodi vs. dativus ethicus Nach Delbrück (1893: 297-298) unterscheidet sich der dativus ethicus vom dativus commodi nur darin, dass der erstere „ an einem Pronomen erscheint. “ Außerdem ist im dativus commodi die semantische Rolle des Benefaktivs offenbarer: so sind in (4.33) die Sterblichen diejenigen, für die Zeus einen Regenbogen geschaffen hat: (4.33) ἠΰτε πορφυρέην ἶριν θνητοῖσι τανύσσῃ / Ζεὺς ἐξ οὐρανόθεν „ Wie wenn den purpurnen Bogen den Sterblichen hoch am Himmel Zeus ausspannt “ (Hom. Ι l. 17.547; Übersetzung Voß 1943 a: 300) Obwohl auch der Referent des dativus ethicus als Benefaktiv der Satzaussage dargestellt werden kann, hat er ein geringeres Interesse als der dativus commodi an der verbalen Tätigkeit, wie im Beispiel (4.34) aus dem Hethitischen und im Beispiel (4.35) aus dem Vedischen ersichtlich, vgl. Speyer (1896: 13-15); Friedrich (1960: 121-122). Die erstere Stelle zeigt einen dativus ethicus in einem Hauptsatz, die letztere in einem vom Subordinator eingeleiteten Satz. 186 (4.34) nuš ma š uzuh ˘ rin adanzi KONN-sich: DAT.PL Gras: AKK essen: PRS.IND3PL „ Sie fressen (für sich) das Gras. “ (KBo III 5 III 3) 186 Eigentlich ist die Struktur in (4.35) kein echter Nebensatz, was für einen dativus ethicus sprachübergreifend auch eine Rarität wäre, sondern eine hybride Form zwischen direkter und indirekter Rede. Wie in der indirekten Rede wird das Zitat vom Subordinator yád eingeführt. Doch wie in der direkten Rede, die im Allgemeinen, wie unten erklärt, der typischste Bereich des dativus ethicus ist, und die im Altindischen häufiger ist als die indirekte Rede, wird hier der Quotativ íti am Ende des Zitats gebraucht, wo auch kein Wechsel der Personalpronomina von der 1. zur 3. Person stattfindet. Diese synchron aberrante Struktur hängt wahrscheinlich mit dem Substrat der dravidischen Sprachen zusammen, in denen sie seit ihren ältesten Texten produktiv verwendet wird. Im Dravidischen besteht ihre diachrone Erklärung darin, dass der Komplementator auf ein verbum dicendi in der Struktur der direkten Rede zurückgeht (z. B. Telegu an-i, Tamil en-ru, Malayalam en-n ǝ , Kannada en-du/ en-ta < Proto-Dravidisch *aHn „ sagen “ , vgl. Krishnamurti 2003: 450), die deswegen ursprünglich keine Änderung der deiktischen Formen verlangte. 289 <?page no="290"?> (4.35) etád vái dev ā ´ abibhayur yád vái dieses: AKK.N.SG PTK Gott(M): NOM.PL fürchten: IPF.IND3PL dass PTK na imám íha ráks · ā m· si n ā s · t · r ā ´ ná uns dieser: AKK.M.SG hier Rakshas(N): NOM.PL Zerstörung(F): NOM.SG NEG hanyúr íti erschlagen: PRS.OPT3PL QUOT „ Davor fürchten sich die Götter: «Sollen uns die Rakshas und die Zerstörung diesen (Indra) nicht erschlagen! » „ ( Ś B 6.3. 3. 10) Delbrück (1893) vergleicht den dativus ethicus des homerischen Griechisch mit dem des Russischen, wo er ein „ volksthümliches, schwer übersetzbares “ Gefüge des Dativ- Reflexivpronomens sebe ˇ bemerkt, „ das bei Verben wie sitzen, liegen, gehen, stehen, leben, essen, schlafen vorkommt und bezeichnen soll, dass der Handelnde ausschließlich mit seiner Handlung beschäftigt ist, z. B. lisic ˇ ka le ž it ŭ sebe ˇ kak ŭ mertva der Fuchs liegt wie tot da “ (S. 299; vgl. auch Miklosich 1874: 601 ff). Wenn wir aber einen Blick auf die Verteilung des dativus ethicus in anderen modernen idg. Sprachen werfen, können wir feststellen, dass diese Struktur im Verfall ist (vgl. Schmid 2006). Im Deutschen stellt Wegener (1985: 50) „ erhebliche Restriktionen syntaktischer Art “ für seinen Gebrauch fest. Zum Ersten kann der dativus ethicus in dieser Sprache meistens von pronominalen Formen der 1. Person Singular mir ausgedrückt werden, seltener in der 2. Person Singular dir und noch seltener im Plural uns, euch ( „ die jeweiligen pluralischen Varianten der Sprechergruppen- und Hörergruppendeixis sind standardsprachlich ungebräuchlich “ , Zifonun et al. 1997: 1345). In den alten idg. Sprachen hingegen war der dativus ethicus im Plural üblich, wie die vorigen Beispiele (4.34) und (4.35) illustrieren, auch in der 3. Person. Wegen der klitischen Natur dieser Personalpronomina kann der dativus ethicus im Deutschen - wie in den alten idg. Sprachen - nicht die erste Stellung des Satzes besetzten. Zum Zweiten ist der dativus ethicus des Deutschen entweder auf Aufforderungssätze beschränkt (Pass mir gut auf deine neue Halskette auf! ), meist prohibitiv gemeint (Trink mir nicht zu viel Wein! Dass du mir ja keine Dummheiten machst! ), oder auf Ausrufesätze (Das ist mir mal eine große Wohnung! ). Eigenartigerweise kann der dativus ethicus im Deutschen nicht in Fragesätzen vorkommen (Wegener 1985: 51; Zifonun et al. 1997: 1345), was hingegen in alten idg. Sprachen sehr wohl möglich ist, wie Beispiel (4.36) aus dem klassischen Griechischen zeigt, nochmals mit einer Pluralform. (4.36) ὦ τέκνον , ἦ βέβηκεν ἡμὶν ὁ ξένος ; „ Mein Kind, wo ging uns der Fremde weg? “ (Soph. OC 81) Insgesamt ist der dativus ethicus im heutigen Deutsch nach Wegener (1985: 53) und Zifonun et al. (1997: 997) selten, und noch seltener ist er im 290 <?page no="291"?> Englischen. Bei Shakespeare ist jedoch der dativus ethicus noch ziemlich häufig, und Schmidt (1971: 565) erwähnt mehrere Beispiele von „ dativus ethicus, superfluous as to the general sense, but imparting a lively colour to the expression “ bei diesem Autor, z. B. goes me to the fellows (Gent. 4. 4. 26) oder he makes me no more ado (Gent. 4. 4. 30). In den romanischen Sprachen ist der dativus ethicus häufiger als in den germanischen Sprachen: er kann durchaus in Aussagesätzen verwendet werden, im SG wie im PL (Ita. stasera mi guardo/ ci guardiamo un bel film), und in einigen Dialekten Süditaliens wie im Neapolitanischen kann er sogar einen lexikalischen Dativ auswählen, der im Standard-Italienischen nicht grammatisch ist, z. B. mangia a mamma wörtl. „ iss der Mama “ . 187 Der unterschiedliche Gebrauch des dativus ethicus in den romanischen und in den germanischen Sprachen könnte auch ein Grund dafür sein, dass verschiedene Forscher dieselben Stellen verschieden interpretieren. In (4.36) wird das Pronomen ἡμῖν von Adrados (1992: 193) für einen dativus ethicus gehalten: „ Hija, se nos ha marchado el extranjero? “ ; diese adnominale Funktion wird von Adrados auch mit einer possessiven Struktur paraphrasiert: „ Se ha marchado nuestro extranjero “ . Dagegen denken die Verfasser der deutschen und englischen Übersetzungen an eine ablativale Funktion: „ Mein Kind, der Fremde ist von uns gegangen doch? “ (Willige 1966: 647) Diese Unterschiede haben vielleicht eben auch mit der Muttersprache des Übersetzers zu tun, in der der dativus ethicus nicht gleich häufig ist. Der häufigere Gebrauch des dativus ethicus im Italienischen als im Deutschen ist ein weiterer Widerspruch bezüglich der Annahme, dass der 187 Für die romanischen Sprachen halten wir hier für dativale Ausdrücke nicht nur den pronominalen Dativ, sondern auch lato sensu die funktionell entsprechenden a-Präpositionalphrasen. Wie der im Kapitel III illustrierte Dativ des Experiens sowohl von einem morphologischen Kasus wie Lat. Marco libet als auch von einer PP wie Ita. a Marco piace charakterisiert werden kann, berücksichtigen wir hier auf dieselbe Weise diejenigen PP, die in kasuslosen Sprachen bei Verben von „ geben “ und „ sagen “ vorkommen (d. h. bei den prototypischen Auslösern des Dativs, vgl. Delbrück 1893: 281 - 82). Dies erlaubt, mehr Konstruktionen miteinzubeziehen als bei Beschränkung auf einen morphologisch kodierten Dativ, da solche a-PP eine ähnliche Entwicklung zeigen wie der entsprechende Kasus bei den freien Gebräuchen des Dativs. Im Italienischen und Spanischen, die den dativus ethicus und den dativus sympatheticus besitzen, werden Pronomina und a-PP für die Funktion des dativus iudicantis nicht gebraucht. Einem pronominalen dativus iudicantis gegenüber (Ita. il suo comportamento mi è difficile da comprendere „ sein Verhältnis ist mir schwierig zu verstehen “ ) verlangt die entsprechende NP die Präposition per im Italienischen (il suo comportamento è per Gianni difficile da comprendere, *il suo comportamento è a Gianni difficile da comprendere). Auch in diesem Fall, wie bei dem des dativus ethicus, bietet aber der Dialekt von Neapel mehr Möglichkeiten als das Standard-Italienische, wie man am neapolitanischen Sprichwort ogni scarrafone è bello a mamma soja sehen kann, wörtl. „ jeder Käfer ist schön seiner Mama “ , das eine Darstellung des dativus iudicantis ist. 291 <?page no="292"?> Verfall freier Dative wie des dativus sympatheticus von der Vereinfachung des Kasus-Systems bedingt wird, weil die Kasus im Deutschen besser als im Romanischen beibehalten werden. 4.3.3.3 Dativus iudicantis Eine weitere freie Verwendung des Dativs ist der dativus iudicantis, wie im Dt. die Zeit vergeht mir zu schnell (vgl. Dürscheid 2012 a: 41 - 42). Der dativus iudicantis ist auf belebte Referenten beschränkt (Zifonun et al. 1997: 1345). Er ist aber nicht mit dem Dativ des Experiens zu verwechseln, den wir in § 3 analysiert haben, z. B. Lit. pagailo berniukui senelio (Mitleid.haben: PRÄT3SG Junge: DAT.SG Großvater: GEN.SG) „ Der Junge hatte Mitleid mit seinem Großvater “ , vgl. Ambrazas (1997: 507). Denn obwohl beide einen psychologischen Zustand beschreiben, ist das Dativ-Experiens valenzgebunden: es wird von den semantisch-lexikalischen Merkmalen des Prädikats selegiert und ist in der bezeichneten Situation direkt involviert, normalerweise einem bestimmten Stimulus gegenüber. Der dativus iudicantis hingegen hat die Funktion eines Adjunkts, und sein Referent beurteilt eine Situation sozusagen „ von außen “ . Während der dativus ethicus wegen seiner emotionalen Funktion meist in Dialogen mit Pronomina der 1. und in geringerem Maße der 2. Person verwendet wird, ist der dativus iudicantis auch üblich in der 3. Person mit NP, wie im deutschen Satz das ist dem Kind zu langweilig (Wegener 1997: 53). Im Allgemeinen klingt aber der dativus iudicantis im Deutschen archaisch und ist formal stark beschränkt: er kommt normalerweise nur in Sätzen vor, die eine Gradpartikel wie zu / (nicht) genug haben. Ansonsten wird er von Umschreibungen wie meiner Meinung nach oder für sein Gefühl ersetzt (Schmid 2006: 954), und der Ersatz durch für-PP ist bei unbelebten Referenten sogar obligatorisch. Auch in den romanischen Sprachen ist der dativus iudicantis unüblich. In alten idg. Sprachen wie im Altgriechischen und Lateinischen ist seit den frühen Sprachstufen der dativus iudicantis hingegen ziemlich häufig. Er erscheint schon bei Homer (4.37), wie auch in der altrömischen Komödie (4.38): (4.37) ὀϊζυραὶ δέ οἱ αἰεὶ / φθίνουσιν νύκτες τε καὶ ἤματα δάκρυ χεούσῃ „ Und immer schwinden in Jammer ihre Tage dahin, und unter Tränen die Nächte “ , Hom. Od. 11.182 - 83; Übersetzung Voß 1943 b: 145) (4.38) quasi piscis, itidemst amator lenae: nequam est, nisi recens „ Einer Kupplerin gilt der Liebhaber wie ein Fisch: er taugt nur frisch. “ (Pl. As. 178; Übersetzung Rau 2008: I, 125) Im Altgriechischen ist der dativus iudicantis auch in der klassischen Periode üblich, besonders in der geographisch-historischen Literatur, z. B. Hdt. 1.51 292 <?page no="293"?> τῶν ὁ μὲν χρύσεος ἔκειτο ἐπὶ δεξιὰ ἐσιόντι ἐς τὸν νηόν , ὁ δὲ ἀργύρεος ἐπ᾽ ἀριστερά „ Der goldene (sc. Mischkrug, κρητήρ ) stand rechts, wenn man in den Tempel eintrat, der silberne links “ (vgl. Schwyzer 1950: 152). Über die möglichen Darstellungen des dativus iudicantis in den germanischen, baltischen und slawischen Sprachen werden wir unten in § 4.5.4 diskutieren. In anderen alten idg. Sprachen wie im Vedischen hingegen ist der dativus iudicantis relativ selten. Delbrück (1888: 140 ff) identifiziert die folgenden freien Dative ( „ Dative, welche nicht zu einem einzelnen Satztheile in Beziehung stehen, sondern die Gesammtaussage ergänzen “ , S. 147): a. den dativus commodi / incommodi (RV 1. 15. 12 dev ā ´n devayaté yaja “ verehre die Götter dem Frommen zu Liebe “ ); b. den finalen Dativ (RV 1.30.6 ū rdhvás tis · t · h ā na ū táye „ erhebe dich zur Hülfe für uns “ ); c. den Dativ bei Zeitbegriffen (RV 6.33.5 n ū nám· na indr ā par ā ´ya ca sy ā h · „ jetzt und für die Zukunft mögest du uns gehören “ ), d. den doppelten Dativ nebem einem Infinitiv (RV 9.11.8 índr ā ya . . . p ā ´tave „ dem Indra zum Trinken “ , d. h. „ damit Indra trinkt “ ). Zudem beschreibt Delbrück den erstarrten Dativ von k ā ´m ā ya und árth ā ya, die man als adverbiale Ausdrücke „ zuliebe, um . . . willen “ interpretiert, und den Gebrauch der emphatischen Partikel kám hinter einem Dativ am Ende des Verses mit der Bedeutung „ wohl, gut, bene “ (S. 150). Keine Erwähnung findet der dativus iudicantis, den Delbrück aber in seiner vergleichenden Syntax (1893: 299-300) am Beispiel des Altgriechischen und des Lateinischen (und mit einer Stelle auch aus dem Awestischen) illustriert. Auch bei Speyer (1886: 58 - 67; 1896: 13-15) wird der dativus iudicantis weder für das Vedische noch für das klassische Sanskrit erwähnt. Haudry (1978: 43 - 44; 127 - 129), der verschiedene Ausdrücke des vedischen Dativs mit Nomina menschlicher oder personifizierter Referenten beschreibt und seine Aufmerksamkeit vor allem dem Empfänger widmet ( „ le destinataire, le bénéficiaire, la victime “ , S. 43), erwähnt zwar ein einzelnes Beispiel für den dativus iudicantis (RV 1. 24. 15 án ā gaso áditaye sy ā ma “ Puissions-nous être innocents au regard d ’ Aditi! “ , S. 129). Er merkt jedoch an, dass dieser Ausdruck „ seltener “ (plus rare) als die anderen Verwendungen des Dativs in dieser Sprache ist, weil er eben auf Sätze mit dem Adjektiv án ā ga- „ unschuldig “ beschränkt ist (restreint) und auch mit dem Lokativ um diese Kontexte konkurriert (vgl. RV 10. 36. 12). Außerdem können angebliche Fälle von dativus iudicantis wie RV 1. 24. 15 nach Hettrich (2013) auch eine alternative Interpretation als dativus auctoris bekommen, während das Gegenteil nicht gilt. Auch nach Hettrich ist der dativus iudicantis im Vedischen, der mit dem dativus auctoris zusammengefallen ist, aber synchron nur einen kleinen Teil davon vertritt, viel weniger geläufig als im Altgriechischen und im Lateinischen. Auch im Altpersischen kann Haig (2008: 62) keinen dativus iudicantis identifizieren. Man könnte auf den ersten Blick meinen, dass der Mangel an dieser Struktur von der Gattung abhängt, da Hymnen oder Berichte des Opfers 293 <?page no="294"?> wenig Kontexte für diesen Gebrauch anbieten, aber die Gründe sind wahrscheinlich nicht nur literarisch. Zum Ersten enthält die vedische Prosa auch Erzählungen und Dialoge, in denen der dativus iudicantis noch kaum zu finden ist. Zum Zweiten ist diese Struktur z. B. im Hethitischen, das die richtigen Kontexte dafür besitzt, ebenfalls unproduktiv. Für das Hethitische analysiert Friedrich (1960: 121-22) zwar verschiedene Gebräuche des Dativs wie den possessiven Dativ, den dativus ethicus und den Dativ des Zweckes, ohne aber den dativus iudicantis zu erwähnen. Dasselbe gilt für die detailliertere Analyse von Hoffner & Melchert (2008: 257 ff), die neben dem argumentalen Dativ des indirekten Objekts und des prädikativen Besitzes über den dativus commodi / incommodi berichten, den Dativ der Richtung, des Zweckes, des Ergebnisses, der Lokation, der Zeit und des Maßes (ilani ilani „ Schritt für Schritt, allmählich “ ). Darüberhinaus wird ein additive-incremental-Dativ genannt, wie andašš e-a „ in addition to it “ (Hoffner & Melchert 2008: 262), aber wiederum keine Erwähnung des dativus iudicantis. Nowicki (2002) behandelt vor allem den hethitischen valenzgebundenen Dativ, dem er die semantischen Rollen des Empfängers und des Experiens zuweist. Im freien Dativ identifiziert er die Rolle des Benefaktivs wie auch verschiedene direktionale Beziehungen; in diesem Fall wird das Nomen des belebten Referenten, der als Ziel dargestellt wird, von allativen Adverbien begleitet. Auch bei Nowicki wird der Gebrauch des dativus iudicantis nicht erwähnt. Natürlich ist die Abwesenheit einer Kategorie besonders in toten Sprachen immer schwierig nachzuweisen und muss mit großer Vorsicht eingeschätzt werden. Wenn aber die jeweilige Sprache reichlich durch Texte verschiedener Gattungen belegt ist, wie im Fall des Hethitischen und des Altindischen, dazu noch von guten Grammatiken beschrieben, kann man davon ausgehen, dass die unbeschriebene Kategorie auch keinen produktiven Gebrauch in der Sprache selber hatte. Die Tatsache, dass die verschiedenen Grammatiken in der Beschreibung des Dativgebrauchs im Großen und Ganzen übereinstimmen, und dass sogar ein und derselbe Autor (wie Delbrück) zwar den dativus iudicantis für das Lateinische und das Altgriechische beschreibt, aber nicht für das Altindische, deutet darauf hin, dass es nicht um mangelnde Angaben geht und auch nicht um eine Frage der Terminologie, sondern um die echte Seltenheit einer solchen Struktur in dieser Sprache - was das gelegentliche Vorkommen in gewissen Texten natürlich nicht ausschließt. Wenn wir an diesem Punkt überlegen, welche linguistischen Faktoren den produktiven Gebrauch des dativus iudicantis im Altgriechischen und Lateinischen, jedoch nicht im Altindischen und Hethitischen, begünstigt haben könnten, gelangen wir zu der Vermutung, dass die Produktivität des dativus iudicantis eine gewisse Beziehung zur Verfügbarkeit partizipialer Formen für den Ausdruck adverbialer Funktionen hat, da die Information des dativus iudicantis im Hintergrund der Proposition steht. 294 <?page no="295"?> Die Beziehung zwischen der Funktion des dativus iudicantis und der Form des Partizips ist schon dadurch angedeutet, dass Delbrück (1893: 299-300) diese Verwendung als „ Dativ eines aktiven oder medialen Partizipiums “ bezeichnet. Für den dativus iudicantis ist allerdings das Partizip kein notwendiges Merkmal (sonst wäre unsere Argumentation zirkulär), wie Beispiel (4.38) aus dem Lateinischen zeigt, und für diese Sprache bietet Bennet (1910: 145-46) mehrere weitere Stellen, in denen der dativus iudicantis ein Nomen oder ein Adjektiv, aber nicht ein Partizip betrifft - sogar bei alten Inschriften: CIL 1.201.12 de eieis rebus senatuei purgatei estis [. . .] item vos populo Romano purgatos fore „ durch diese Sachen seid ihr für den Senat gereinigt, und ebenfalls werdet ihr für das römische Volk gereinigt “ (vgl. auch Hofmann & Szantyr 1965: 86 ff). Das Partizip kommt nur dann häufiger in dieser Konstruktion vor, wenn wir die von den Grammatikern berichteten Belege anschauen, und wahrscheinlich ist eben das der Grund, weswegen der dativus iudicantis am häufigsten im Altgriechischen erscheint, das bekannt ist für seine φιλομετοχή . Das Altgriechische besitzt nicht nur ein reiches morphologisches Inventar an Partizipien in verschiedenen Tempora und Diathesen, sondern verfügt auch über einen extrem flexiblen und gewissermaßen innovativen syntaktischen Gebrauch des Partizips für Funktionen, die in anderen idg. Sprachen durch den Infinitiv oder durch finite Relativ-, Adverbial- und Ergänzungssätze ausgedrückt werden (vgl. Oguse 1962). Aus demselben Grund ist der dativus iudicantis nicht üblich im Hethitischen, das nur ein Partizip auf - nthat, welches kein Tempus ausdrückt und dessen Diathese lexikalisch bedingt ist (Aktiv oder Passiv bei intransitiven bzw. transitiven Verben, z. B. p ā nt- „ gegangen “ aus p ā i- „ gehen “ vs. kun ā nt- „ getötet “ aus kuen „ töten “ ). Das Altindische ist reich an Partizipien, die sich im Vergleich mit den anderen idg. Sprachen aber zu ganz neuen Ausdrücken entwickelt haben, wobei das Partizip eher die wichtigsten Angaben des Satzes vermitteln und sogar die finite Form des Verbs ersetzen kann. Am Anfang seiner Syntax des Sanskrit schreibt Speyer: „ Participles, especially those in taand tavantand the kr ˚ ty ā s 188 are frequently employed as if they were finite verbs, without the attendance of the verb subst. In simple prose a great deal of the sentences are moulded in that shape “ (1886: 4). Das setzt oft auch eine passive Umschreibung voraus, die im klassischen Sanskrit im Vergleich zur aktiven Diathese unmarkiert ist, was schon auf die zunehmend ergative Ausrichtung verweist (§ 3.3.2.3), die in den späteren Stufen der Sprache grammatikalisiert wird. Z. B. asau vy ā ghren · a vy ā p ā ditah · kh ā dita ś -ca (jener: NOM.M.SG Tiger(M): INSTR.SG getötet: NOM.M.SG gefressen: NOM.M.SG-und) „ Der Tiger 188 kr ˚ ty ā s ist die indische Benennung des Gerundivs, das im Sanskrit das Suffix - ya- (wie auch - tavya- und -an ī ya-) hat, und das wie das Partizip auf - taauch eine passive Bedeutung hat, vgl. Whitney (1889: § 961 ff). 295 <?page no="296"?> tötete und fraß ihn “ . An die völlig veränderte Syntax des Partizips im klassischen Sanskrit passte sich also eine Struktur wie der dativus iudicantis nicht mehr an, der ja den Standpunkt eines peripherischen Partizipanten des Satzes ausdrückt. Die Tatsache, dass das Altindische gegen den Zusammenhang zwischen Partizip und dativus iudicantis nicht verstößt, bedeutet aber nicht, dass alle alte idg. Sprachen, die mit einem vollentwickelten Gebrauch des Partizips versehen sind, auch einen produktiven dativus iudicantis haben, weil der letztere aus unabhängigen Gründen fehlen kann. 4.3.3.4 Verfall der freien Dative Der dativus iudicantis teilt also das Schicksal der anderen freien Verwendungen des Dativs, wie des dativus ethicus und des dativus sympatheticus, die in den späten Stufen des Indogermanischen ebenfalls seltener sind als in den frühen Stufen. Wir müssen betonen, dass dieser Wandel lediglich den freien - und nicht den argumentalen - Dativ betrifft. Hettrich (2011 b) vergleicht den Gebrauch des argumentalen Dativs im Deutschen und in einigen alten idg. Sprachen und findet heraus, dass er in den letzteren beschränkter und spezifischer war ( „ der Gebrauch des Dativs als Aktant im Deutschen viel weiter reicht als im Vedischen “ , S. 92). Im Deutschen kann der Dativ nicht nur von Verben des Gebens verlangt werden, was auch für das Vedische typisch ist, sondern darüberhinaus von antonymischen Verben wie wegnehmen, entwenden, rauben, verbergen, entziehen, z. B. Er stiehlt dem Koch ein Ei (Hettrich 2011 b: 90). Dieselbe Verwendung findet im Lateinischen statt, in dem auch Verben wie eximo oder deripio den Dativ regieren können. Die Tatsache aber, dass der Dativ im Lateinischen meistens bei den präfigierten Varianten solcher Verben selegiert wird, während entsprechende Simplicia wie rapio ursprünglich eher den Ablativ (mit separativischer Präposition) verlangen, wird von Hettrich richtigerweise so interpretiert, dass der Dativ des Betroffenen bei Verben des Wegnehmens eine Neuerung ist, in Analogie zum Dativ des Empfängers bei Verben des Gebens. Im Vedischen regieren Verben des Wegnehmens den Ablativ der betroffenen Person wie auch den doppelten Akkusativ neben dem Akkusativ der weggenommenen Sache. Im Allgemeinen zeigt Hettrich (2011 b), wie die Verben mit argumentalem Dativ im Deutschen viel zahlreicher sind als im Vedischen, wo der argumentale Dativ in der Regel eine semantische Komponente von Intentionalität voraussetzt. Wir müssen also die diachronen Änderungen des argumentalen und des freien Dativs ganz klar unterscheiden. Der argumentale Dativ wird mit der Zeit immer generischer, weil er m. E. nach vollzogenem Synkretismus auch semantische Rollen ausdrücken kann, die ursprünglich für andere, verschollene Kasus typisch waren. Der freie Dativ hingegen begrenzt diachron 296 <?page no="297"?> seinen funktionellen Bereich, weil nach der Entwicklung verschiedener Präposionalphrasen sein Gebrauch dazu neigt, durch PP kodiert zu werden, und nicht nur durch dieselben PP wie bei Verben des Gebens. Denn Argumente werden häufiger als Adjunkte von bloßen Kasus ausgedrückt, und Adjunkte häufiger als Argumente durch Präpositionalphrasen, die auch unterschiedlicher als Kasus sind. Der Verfall der freien Dative verweist auf einen Wandel in den hierarchischen Beziehungen des Satzes. Im Falle des dativus sympatheticus haben wir einen Ersatz durch die Struktur des inneren Besitzes mit dem Genitiv: während der dativus sympatheticus ein Adjunkt ist, ist die Form des inneren Besitzes eingebettet. Daher ist der Verfall des dativus sympatheticus ein Beweis für das allgemeine Phänomen der Verbreitung eingebetteter Konstruktionen: die alten idg. Sprachen hatten weniger eingebettete Strukturen als die modernen idg. Sprachen, und sie hatten auch eine freiere Wortfolge, sodass possessive Pronomina auch von deren nominalem Kopf entfernt und in die Wackernagel-Position versetzt werden konnten. Die Reduzierung der freien Gebrauchsarten des Dativs der germanischen Sprachen ist auch ein Argument für deren höhere Konfigurationalität im Vergleich zu den romanischen Sprachen. Nicht von ungefähr fand der Wandel von äußerem zu innerem Besitz am ausgeprägtesten im Englischen statt, das eben auch weitestgehend konfigurationell ist. Wenn man hingegen den Verfall des dativus sympatheticus durch den Verlust der Kasus erklärt, kann man die Beziehung zwischen dieser Struktur und den anderen freien Dativen nicht verstehen. Dieselbe Erklärung kann auch für den Verfall der possessiven Adjektiva herangezogen werden, die wir unten analysieren werden, und die ebenfalls eher Adjunkte als Ergänzungen waren. Ebenso ist verständlich, dass die alte Struktur des dativus sympatheticus nur im funktionalen Bereich des inalienablen Besitzes geblieben ist, weil Ausdrücke inalienablen Besitzes in Bezug auf Körperteile oder Verwandtschaft viel häufiger als Ausdrücke alienablen Besitzes im Diskurs vorkommen (vgl. Seiler 1983; Haspelmath 1999). 189 Obwohl die dativalen Ausdrücke einer Sprache mit denen einer anderen Sprache nicht ohne weiteres zu vergleichen sind, und obwohl man mehr Daten als in der hier nur skizzierten Darstellung brauchen würde, dazu idealerweise noch eine Korpusanalyse, um Generalisierungen zum kontrastiven Gebrauch des Dativs in alten und modernen idg. Sprachen vertreten zu können, scheinen 189 Das bedeutet nicht, dass das Urindogermanische Verfahren von inalienablem vs. alienablem Besitz hatte: Im Urindogermanischen gab es keine grammatikalisierte Strategie, um (In)alienabilität des Besitzes auszudrücken (§ 3.8.2). Eher muss man daran denken, dass Adjunkt-Beziehungen im Urindogermanischen üblicher waren als Ergänzungsbeziehungen - nicht nur für die VP, sondern auch für die NP. Eine solche Adjunkt-Beziehung wurde besonders für den häufigeren inalienablen Besitz bewahrt. 297 <?page no="298"?> mir die synchrone Häufigkeit sowie die diachrone Bewahrung einiger 190 freier Gebrauchsarten des Dativs im Allgemeinen der Implikationskala in (4.39) zu folgen: (4.39) dativus commodi/ incommodi > dativus sympatheticus > dativus ethicus > dativus iudicantis D. h. wenn eine Sprache in der Synchronie einen gewissen Dativ hat, besitzt sie auch alle anderen Dative, die auf dessen linker Seite in der Implikationskala (4.39) stehen, aber nicht unbedingt diejenigen auf seiner rechten Seite. Das Altgriechische und das Lateinische haben den dativus iudicantis und alle anderen freien Dative. Das Vedische und das Hethitische haben den dativus ethicus, den dativus sympatheticus und den dativus commodi/ incommodi, aber keinen produktiven dativus iudicantis - wie bereits gesagt sprechen wir hier über Tendenzen, die aus den traditionellen Grammatiken gefolgert werden können, jedoch residuale Gebräuche der geerbten Konstruktion nicht ausschließen. Das Deutsche hat als produktive, lexikalisch nicht beschränkte Verfahren nur den dativus sympatheticus und den dativus commodi/ incommodi, sodass diesen Ausdrücken in der Literatur manchmal auch eine argumentale statt freie Funktion zugewiesen wurde, während der dativus ethicus manchmal als Modalpartikel klassifiziert wird (siehe Dürscheid 1999: 38ff zur Diskussion). 191 Im Englischen gibt es nur den dativus commodi/ incommodi. So Visser (1970) über den dativus ethicus: „ In the nineteenth century there is a considerable decline, with the result that in Pres. D. English the construction is hardly ever used in natural diction “ (S. 631). Hingegen schreibt er über den dativus commodi/ incommodi (dative of advantage/ disadvantage), dessen Anzahl sei nach der Periode des Altenglischen „ so immense “ (S. 629), dass er nur eine Auswahl berichten könne, und dass diese Verwendung im Mittel- und Neuenglischen sogar produktiver geworden sei, auch dank des Einflusses des Französischen, in dem der dativus commodi/ incommodi häufig ist (S. 639). In der Diachronie sind die freien 190 Die vorliegende Analyse schließt nicht alle Typen des Dativs mit Adjunkt-Funktion ein. Nicht betrachtet wurde hier z. B. der dativus auctoris, der in passiven Sätzen mehrerer alter idg. Sprachen meistens mit Prädikaten von Verpflichtung und Notwendigkeit vorkommt (Lat. - ndus, Altgr. -τέος , Ved. - yá-, vgl. Fußnote 100), und der deswegen das zusätzliche Problem des Ausdrucks des Passivs im Urindogermanischen mit sich bringen würde. Dazu verweisen wir auf Hettrich (1990 b) und Mariani (2002). 191 Die Interpretation des dativus ethicus als eine Modalpartikel im Deutschen (vgl. Wegener 1985: 51) kann auch relevant sein, um den Gebrauch des Altgr. τοι zu erläutern. Wie oben gesagt ist τοι eigentlich der Dativ der klitischen Pronomina der 2. Person „ dir “ , der aber auch zu einer versichernden Partikel mit der Bedeutung „ gewiß “ wird, die auch oft in der direkten Rede, besonders bei Homer, erscheint (Schwyzer 1950: 580). Der Anfangspunkt dieses Modalgebrauchs ist also beim dativus ethicus zu sehen. 298 <?page no="299"?> Dative, die in der Implikationsskala rechts stehen, auch diejenigen, die am frühesten verschwinden. 192 Die Erklärung dieser Implikationsskala besteht m. E. darin, dass erstens der dativus commodi / incommodi der prototypischen Funktion des Dativs, d. h. dem Ausdruck des Empfängers oder des Zweckes am nächsten steht, während die anderen freien Dative, in denen diese Bedeutung weniger klar ist, auch weniger Gründe haben bewahrt zu werden. Die semantische Komponente des Interesses ist im dativus sympatheticus, der eine possessive Beziehung zu einem anderen Partizipanten des Satzes voraussetzt, immerhin offenbarer als im dativus iudicantis und im dativus ethicus, welch letzterer üblicherweise als expletive Form interpretiert wird. Im Vergleich zwischen dem dativus ethicus, der regelmässig durch Pronomina ausgedrückt wird, und dem dativus iudicantis, für den man dagegen komplexe Strukturen mit expliziten Nominalia und häufig auch Partizipien gebraucht, ist der dativus ethicus derjenige, der mehr Chancen hat, im Gedächtnis gespeichert zu werden und sich in der Sprache zu etablieren. Zum diachronen Verfall der freien Dative tragen also verschiedene Faktoren bei, sowohl semantischer wie formaler Natur. Doch zeigt dieser Verfall jedenfalls deutlich, dass die Semantik des Dativs in den alten idg. Sprachen viel breiter und komplexer ist als die der entsprechenden Pronominalformen oder PP in den modernen Sprachen Europas. 4.3.4 Genitiv vs. Adjektiv Einen weiteren Beweis für die flache syntaktische Struktur des Urindogermanischen können wir in der adjektivischen Kodierung des attributiven Besitzes in den alten idg. Sprachen finden: während der Genitiv ein Beispiel für die Rektion ist, stellt das Adjektiv die Kongruenz dar und ist ein Adjunkt. Zusätzlich zum Hoffmann-Suffix *-Hon- (z. B. *h 2 óyu- „ Lebenskraft “ + *-Hon- > Ved. NOM yúvan- „ jung “ , wörtl. „ Lebenskraft habend “ ) ist die adjektivische Kodierung des Besitzes in vielen alten idg. Sprachen 192 Noch seltener als der dativus iudicantis werden andere freie Dative diachron bewahrt, wie der finale Dativ und der temporale Dativ, die in den modernen idg. Sprachen normalerweise von PP ausgedrückt werden. In den alten idg. Sprachen war der finale Dativ (z. B. Ved. ū táye „ zur Hilfe “ ) viel häufiger als der temporale (Ved. apar ā ´ya „ für die Zukunft “ ). Der erstere war üblich für Verbalnomina bzw. Infinitive, sogar in Strukturen mit doppeltem Dativ (Ved. vr ˚ tr ā ´ya hántave „ für Vr ˚ tra, für die Tötung “ , d. h. „ um Vr ˚ tra zu töten “ ). Doppelte Dative, die im Vedischen ziemlich häufig vorkommen (vgl. Viti 2007: 158 ff), sind heute nur im Baltischen und Slawischen verblieben, z. B. Lit. pirkau arkl į laukams arimui / arti „ ich kaufte ein Pferd für die Felder (laukams, DAT.PL) für das Pflügen (arimui mit Verbalnomen / arti mit Infinitiv) “ , d. h. „ ich kaufte ein Pferd, um die Felder zu pflügen “ (Schmalstieg 1987: 218; vgl. auch Miklosich 1874: 619 - 20). 299 <?page no="300"?> belegt, wie u. a. im Altkirchenslawischen (4.40), im Altindischen (4.41), im Lateinischen (4.42), im Altgriechischen (4.43). (4.40) d ŭš ti Irodijadina „ Die Tochter der Herodias “ (Mt. 14.6, Marian.; Altgr. ἡ θυγάτηρ τῆς Ἡρωδιάδος ) (4.41) m ā rutó ganáh · Marut.gehörig: NOM.M.SG Schar(M): NOM.SG „ Die Schar der Marut “ (4.42) erilis filius „ Der Sohn des Meisters “ (4.43) βουλὴν δὲ πρῶτον μεγαθύμων ἷζε γερόντων Νεστορέῃ παρὰ νηῒ Πυλοιγενέος βασιλῆος „ Einen Rat nun setzt ’ er zuerst der erhabenen Ältsten, am nestorischen Schiffe, des herrschenden Greises von Pylos. “ (Hom. Il. 2.53 - 54; Übersetzung Voß 1943 a: 21) Die Tatsache, dass das Adjektiv in einer possessiven Struktur wie ναῦς Νεστορέη „ Nestors Schiff “ in (4.43) die Funktion eines Genitivs hat, kann man an den nachfolgenden Appositionen Πυλοιγενέος βασιλῆος beobachten, die im Genitiv flektiert sind und deswegen eigentlich einem Genitiv hinzugefügt werden, der dem Adjektiv Νεστορέῃ zugrunde liegt. Bedeutsam ist der Gebrauch des possessiven Adjektivs im Altindischen: da in dieser Sprache - wie in § 4.3.3 gezeigt - der Genitiv für den Besitz generalisiert wird, könnte er im Prinzip das Adjektiv aus dieser Funktion verdrängen, was er aber nicht tut. Dasselbe gilt für das Tocharische, in dem der Genitiv so produktiv ist, dass er nicht nur wie im Altindischen die regelmässige Struktur des Besitzes ist, sondern auch statt des Dativs für die Funktion des Empfängers oder des Benefaktivs verwendet werden kann, wobei jedoch adjektivische Formen für den Besitz erhalten bleiben. In einigen anatolischen Sprachen wie im Lydischen und im (Keilschrift-) Luwischen ist der Genitiv verloren gegangen und von possessiven Adjektiven auf - libzw. - a šš a-/ - a šš i- (Lykisch - ahi-) ersetzt worden. Adiectiva genetivalia - in Neumanns (1982) Terminologie - sind aber auch in anderen alten Sprachen Anatoliens gebräuchlich, in denen der Genitiv erhalten bleibt, wie z. B. im (Hieroglyphen-)Luwischen und im Hethitischen. In den luwischen Sprachen ist diese Verwendung im Vergleich mit den anderen alten idg. Sprachen sogar erweitert worden, und damit haben sicher auch Kontaktfaktoren eine relevante Rolle gespielt, da solche relationalen Adjektive typisch sind für Hurritisch (Stefanini 1969) wie auch für einige Sprachen des Kaukasus, die das klassische Armenisch beeinflusst haben 300 <?page no="301"?> (vgl. Luraghi 2008). Wegen seiner Anwesenheit im ganzen idg. Bereich wird das adiectivum pro genetivo jedenfalls als urindogermanisches Erbe anerkannt und in einigen Kontexten (wie Patronymika) sogar für älter als der Genitiv gehalten ( „ es scheint, als sei im Indogermanischen die Bezeichnung des patronymischen Verhältnisses durch Adjektiva früher im Gebrauch gewesen, als die Bezeichnung durch Genitive “ , Delbrück 1893: 448; vgl. auch Wackernagel 1908; 1928: 68ff; contra Watkins 1967). Doch müssen diesbezüglich einige Vorbehalte angebracht werden. Zum Ersten haben wir hier - wie im Fall der Transitivität - nur eine indirekte und sehr partielle Betrachtungsweise hinsichtlich einer Zunahme des Genitivs auf Kosten des Adjektivs in der Funktion des Besitzes, da schon die ältesten Urkunden die Rektionsverfahren des Genitivs reichlich belegen. Der von Delbrück angenommene ältere Status des possessiven Adjektivs beruht lediglich darauf, dass es ein syntaktisches Relikt ist, und syntaktische Relikte sind für die Rekonstruktion bekanntlich wichtiger. Zum Zweiten wird das possessive Adjektiv in den verschiedenen Sprachen nicht von denselben morphologischen Ressourcen ausgedrückt. Während das Slawische, Anatolische, Altgriechische und Lateinische ihre possessiven Adjektive mit verschiedenen Suffixen bilden, nutzt das Altindische normalerweise auch den Ablaut des Stammes in der Vr · ddhirung aus (m ā rutá- „ den Maruts gehörig “ vs. marút- „ Wind “ ). Denn der Ablaut ist noch produktiv im Altindischen, während er in den meisten idg. Sprachen am Verfallen ist, in denen die Verwendung der Derivation den allgemeinen Wandel von Wort-innerer Kodierung zu Wort-äusserer Kodierung darstellt. Der Verlust der Kodierung des Besitzes durch den Ablaut in den meisten alten idg. Sprachen ist schon ein Anzeichen des Verfalls des possessiven Adjektivs. Wie im Fall der syntaktischen Funktionen (§ 3), bei denen man in verschiedenen alten idg. Sprachen eine nicht-kanonische Markierung der kaum transitiven Prädikate findet, obwohl die Lexeme dieser Prädikate in den verschiedenen idg. Sprachen nicht übereinstimmen, sind die unterschiedlichen Formen der Adjektive mit derselben Funktion des Besitzes auch hier eine Darstellung dessen, dass der lexikalische Wandel schneller als der syntaktische Wandel vor sich geht. Im Allgemeinen können wir den Gebrauch eines Adjektivs statt eines Genitivs in den alten idg. Sprachen als eine Darstellung der grundsätzlich appositiven Syntax des Urindogermanischen betrachten, weil wie in § 2 illustriert das Adjektiv ursprünglich von einem formalen Standpunkt aus nicht vom Nomen unterschieden war und es im Text auch ersetzen konnte. Dementsprechend stellt eine adjektivische possessive Struktur eigentlich einen doppelten Kopf dar, der mit der Struktur der Phrase in vielen modernen idg. Sprachen inkongruent ist. 193 Die syntakti- 193 Wie Bhat in Bezug auf das Adjektiv im Sanskrit sagt, „ In Sanskrit, it is generally rather difficult to identify the modifier and the modified in the case of noun phrases that contain two 301 <?page no="302"?> sche Unabhängigkeit des possessiven Adjektivs erscheint besonders in den Ausdrücken von Verwandtschaft wie Τελαμώνιος υἱός , die auch die Variante mit dem einzelnen Patronymikon Τελαμώνιος (ggf. dem Eigennamen Αἴας hinzugefügt) erlaubt. Obwohl der Genitiv und das Adjektiv für den Ausdruck des Besitzes konkurrieren konnten, waren sie nicht frei austauschbar. Von einem formalen Standpunkt aus hat der Genitiv eine besondere Beziehung mit komplexer Modifikation: in fast allen Belegen der Grammatiken haben wir den Genitiv, wenn er von einem oder mehreren weiteren Adjektiven oder Genitiven begleitet wird. Das Lateinische benutzt den Genitiv für einen Ausdruck wie vir et consilii magni et virtutis „ ein Mann von großer Umsicht und Tapferkeit “ (Caes. B. G. 3.5), aber es gibt keinen natürlichen Ausdruck wie vir consilii oder vir virtutis, wofür das Lateinische ein einfaches Adjektiv wie sapiens oder prudens benutzen würde, oder auch ein Ausdruck mit Ablativ wie virtute praeditus. Dasselbe gilt für das genetivus qualitatis der germanischen, baltischen und slawischen Sprachen, welche ebenfalls eine komplexe Modifikation bevorzugen, wie im Altisl. mikils háttar ma đ r „ ein Mann von großer Bedeutung “ , im Lit. ž mogus linksmos š irdies „ Mensch von heiterem Herzen “ oder im Aksl. c ˇ love ˇ k ŭ jedin ŭ dobra roda „ ein Mensch von guter Sippe “ (vgl. Delbrück 1893: 348 - 349; 441 - 445). Für das Altkirchenslawische fand Huntley (1984) heraus, dass das possessive Adjektiv obligatorisch den Genitiv ersetzt, wenn man ein einzelnes nicht-modifiziertes Lexem hat, während der Genitiv obligatorisch benutzt wird, wenn die possessive Struktur ein weiteres (nicht-denominales) Adjektiv oder ein anderes Pronomen als ein Dativ-Klitikon enthält. Im Fall einer komplexen Modifikation mit einem denominalen Adjektiv oder mit einem Dativ- Klitikon hat man eine gewisse Variation, die von pragmatischen Faktoren bedingt wird. Wir vermuten, dass eine Information mit mehr Angaben eine Struktur begünstigt, die eine höhere Referentialität hat, und der Genitiv ist von Haus aus referentieller als das Adjektiv. Nicht nur in der Form, sondern auch in der Funktion unterscheiden sich der Genitiv und das possessive Adjektiv, und das wird wegen der komplexen Semantik des Besitzes auch erwartet, obwohl darin die Daten der different constituents. The language does not specify, by any formal means, which of the two constituents occurring in them functions as the attribute and which of them function as the head. There is apparently no need to make such a specification as far as Sanskrit is concerned. It is only when someone tries to translate the relevant phrases into languages like English, that he would be forced to make a decision in this regard, because in these latter languages, the two would have to be consistently marked as distinct entities. “ (Bhat 1994: 170) Genau deswegen, weil nicht immer einfach zu unterscheiden ist, ob ein Nominal als Apposition oder Adjektiv verwendet wird, prägte Delbrück die Definition „ attributive Substantiva “ für Ausdrücke wie Altindisch vr ˚ ś an, das sowohl „ Mann (oder Männchen des Tieres) “ und „ männlich “ bedeutet (vgl. § 2.3.1.1). 302 <?page no="303"?> alten idg. Sprachen uneinheitlich und deshalb auch nicht einfach zu interpretieren sind. Unter der Annahme, dass das Adjektiv in den früheren Stufen der alten idg. Sprachen viel mehr possessive Beziehungen ausdrücken konnte, scheint es mir plausibel, dass das possessive Adjektiv in seiner allmählichen Konkurrenz mit dem Genitiv zuerst vom Bereich des alienablen Besitzes verdrängt wurde. Denn die meisten überlieferten Beispiele possessiver Adjektive betreffen inalienable Beziehungen wie Qualität, Verwandtschaft und (in geringerem Maße) Körperteile. Auch Besitztümer wie das „ Heim “ (vgl. δόμος Πηλήιος ) oder das „ Gewand “ ( Ἑκτόρεος χιτών ) gehören dem engeren Interessengebiet des Besitzers an und werden üblicherweise im Begriff der Inalienabilität eingeschlossen (vgl. Chappel & McGregor 1995). Dasselbe gilt für die „ Waffe “ oder das „ Pferd “ ( N ηλήιαι ἵπποι ), die in der epischen Welt auch eine persönliche Beziehung zum Helden haben. Beispiele alienablen Besitzes wie ναῦς Νεστορέη in (4.43) sind für das possessive Adjektiv seltener. Der Gebrauch adjektivaler Verfahren für den inalienablen Besitz ist auch in vielen nicht-idg. Sprachen üblich, die den alienablen Besitz durch Verbalformen ausdrücken (vgl. Seiler 1983). Innerhalb des inalienablen Besitzes aber variieren die alten idg. Sprachen, je nachdem ob der Modifikator einen spezifischen oder generischen Referenten haben kann. Im Altkirchenslawischen tritt das Adjektiv regelmässig auf, wenn das modifizierende Lexem einen eindeutig menschlichen (oder vermenschlichten) Referenten wie bog- „ Gott “ , Isus- „ Jesus “ , gospod- „ der Herr “ hat oder ein Eigenname ist wie in (4.40) (Huntley 1984: 224). Das Adjektiv wird dem Genitiv gewöhnlich noch vorgezogen, wenn das modifizierende Lexem ein Nomen des Berufes oder sozialen Ranges ist, das auch spezifische menschliche Referenten bezeichnet. Ist hingegen der Modifikator ein Gattungsname, dann ist der Gebrauch des Genitivs häufiger. Diese Verteilung, wobei „ the higher the degree of lexical specificity, the higher is the probability of occurrence of the denominative adjective “ (S. 232 - 233), wird von Huntley durch Silversteins (1976) Implikationsskala erklärt. Die adjektivische Kodierung eines hoch referentiellen Modifikators ist auch im Altgriechischen ziemlich häufig, besonders in seinen frühen Sprachstufen ( Γοργείη κεφαλή , Ἀγαμεμνονέη ἄλοχος , Νηλήιος υἱός , Τελαμώνιος Αἴας ), ebenso im Altindischen, z. B. aindrá- „ dem Indra gehörig “ , ā n ˙ girasá- „ von den Angiras stammend “ , ā ´yogavo r ā ´j ā „ der dem Stamm des Ayogu angehörige König “ . Diese Verhältnisse gelten jedoch nicht in allen idg. Sprachen. Im Lateinischen werden Patronymika (außer in einigen literarischen Nachahmungen des Altgriechischen) normalerweise nicht durch possessive Adjektive ausgedrückt, sondern durch den Genitiv: nomina gentilia wie Quintus Marcius bedeuten zwar ursprünglich „ Quintus, (Sohn) des Marcus “ , aber schon in den ältesten Urkunden wurden sie als Bezeichnungen einer Sippe benutzt, während man für eine spezifische patronymische 303 <?page no="304"?> Beziehung nur Marci filius sagen würde. Dasselbe passiert in den sabellischen Sprachen (vgl. Delbrück 1893: 447; Wackernagel 1928: 71). Wahrscheinlich ging der Gebrauch des possessiven Adjektivs für hochspezifische Referenten früher als derjenige für generische Referenten verloren und wurde vom Genitiv ersetzt. Heutzutage sind adjektivische possessive Eigennamen nur in den slawischen und neuindischen Sprachen erhalten, in denen Adjektive auch mit anderen Besitzern produktiv sind. Die anderen idg. Sprachen, die die Ausdrucksmöglichkeiten des adjektivalen Besitzes reduziert haben, können nur generische possessive Beziehungen durch ein Adjektiv kodieren. Tatsächlich kennt auch das Altkirchenslawische den Gebrauch des possessiven Adjektivs für nichtmenschliche oder generische Referenten wie skum ĭ n ŭ l ĭ vov ŭ „ catulus leonis “ . Delbrück (1893: 441 ff) unterteilt den Bereich des possessiven Adjektivs des Slawischen in zwei verschiedene Gruppen, je nachdem ob das zugrunde liegende Lexem des possessiven Adjektivs ein Personenname oder ein Gattungsname ist, der Tiere oder unbelebte Substanzen bezeichnet. Der Gebrauch des possessiven Adjektivs für unbelebte oder generische Besitzrelationen wie korov ĭ je moloko „ Kuhmilch “ oder bivolska ko ž a „ Büffelfell “ ist also im Slawischen weniger auffällig, weil er ebenso in den meisten idg. Sprachen vorkommt, aber immerhin ist er klar belegt. Die nicht-referentiellen Funktionen der Modifikation wie „ Qualität “ oder „ Stoff “ , die man in einen breiten Begriff des Besitzes gleichfalls einschließen kann, weil sie oft dieselben oder ähnliche Strukturen wie echte possessive Phrasen haben (vgl. Koptjevskaja-Tamm 2001; 2002; 2003 a; 2003 b), können bis heute durch den Genitiv kodiert werden, wie im Litauischen aukso ž iedas (Gold: GEN Ring: NOM) „ goldener Ring “ oder va š ko ž vak ė (Wachs: GEN Kerze: NOM) „ Wachskerze “ . In den alten idg. Sprachen war jedoch die adjektivische Kodierung für diese Funktion m. E. viel häufiger, wie etwa im Altgr. χρυσέῳ ἀνὰ σκήπτρῳ „ dem goldenen Stab “ (Hom. Il. 1.15), ἀργυρέοιο βιοῖο „ des silbernen Bogens “ (Il. 1.49), ἱστο ὶ λίθεοι „ steinerne Webstühle “ (Od. 13.107), τόξα καλάμινα „ Bogen aus Rohr “ (Hdt. 7.64.1), und auch das Litauische kennt das Adjektiv für den Ausdruck des Stoffes: medinis namas „ hölzernes Haus “ (vgl. Ambrazas 1997: 578). Der genetivus qualitatis, der z. B. im Lateinischen und im Altisländischen vorkommt, ist untypisch für das Altgriechische. Sprachübergreifend ist das Adjektiv üblicher für den Ausdruck der Eigenschaften, besonders wenn sie dauernd oder permanent sind (vgl. Croft 1991). Obwohl es also Überlappungen zwischen den Bereichen des Genitivs und des Adjektivs gibt, scheint mir der typische Gebrauch des Genitivs in den meisten idg. Sprachen der Ausdruck des alienablen Besitzes eines spezifischen Besitzers zu sein, während das Adjektiv vor allem für Inalienabilität und nichtreferentielle Funktionen wie Qualität oder Stoff benutzt wird. Der inalienable Besitz von spezifischen Besitzern ist jener Bereich, in dem der Genitiv 304 <?page no="305"?> und das possessive Adjektiv einander am meisten überlappen. Die Tatsache, dass diachron die Adjektiv-Kodierung des Besitzes in den meisten idg. Sprachen verlorenging, ist m. E. ein Hinweis auf die zunehmende hierarchische Organisation des Satzes im Indogermanischen. 194 4.4 Wandel in der Modifikation im Indogermanischen 4.4.1 Unterschiedliche hierarchische Beziehungen zwischen Adjektiv und Nomen Im Bereich der Adjunkte kann die Beziehung zwischen Nomen und Adjektiv von einem syntaktischen oder semantischen Standpunkt aus je nach Typ des Adjektivs mehr oder weniger eng sein, wobei das attributive Adjektiv seine Information hierarchischer darstellt sowie mit dem Nomen enger verbunden ist als das prädikative und das adverbiale Adjektiv (vgl. Radford 1988: 208ff; Ernst 2002: 7ff; Dürscheid 2012 a: 106 ff). Eine NP mit einem attributiven Adjektiv wie die ersten Gäste bezeichnet einen Referenten, der der Kombination zwischen der Menge der Einheiten, die „ Gäste “ sind, und derjenigen, die die „ ersten “ sind, entspricht, sodass wesentlich mehr Informationen in eine einzelne NP gepackt werden. Das ist weder für das prädikative Adjektiv (z. B. Die Gäste waren die Ersten) noch für das adverbiale Adjektiv (Als Erste kamen die Gäste) der Fall, wo die Information des Adjektivs nicht dazu dient, den Referenten des Nomens zu erläutern oder zu beschränken, sondern Nomen und Adjektiv vermitteln getrennte 194 Da der referentielle Besitz auch der prototypische Besitz ist (vgl. Seiler 1983; Heine 1997), können wir über kanonische und nicht-kanonische Markierung des Besitzes auf dieselbe Weise sprechen, wie man über kanonische und nicht-kanonische Markierung des Subjekts und des direkten Objekts spricht (§ 3): Dabei ist der Genitiv die kanonische Markierung des Besitzes, während die nicht-kanonische Markierung des Besitzes dem Adjektiv entspricht. Da die Adjektiv-Kodierung des Besitzes etwas Uraltes ist, haben wir hier auf dieselbe Weise einen Wandel von der nicht-kanonischen zur kanonischen Markierung des Besitzes wie ebenso einen Wandel von nicht-kanonischen zu kanonischen Subjekten und Objekten. Dabei ist es auffällig, dass jene Sprachen, in denen die Adjektiv-Kodierung des Besitzes lebendiger bleibt, d. h. die slawischen und die indischen Sprachen, oft gerade die Sprachen sind, die keinen Artikel haben. Es kann eine - indirekte - Beziehung zwischen diesen Phänomenen bestehen, weil das Adjektiv ein Adjunkt ist, während die Einheit von Artikel und Nomen bereits eine Konfiguration darstellt. Daher können wir eine Beziehung feststellen nicht nur zwischen der Nicht-Kanonizität der syntaktischen Funktionen und der Nicht-Konfigurationalität der syntaktischen Hierarchie, sondern auch zwischen diesen beiden Phänomenen und dem beschränkten Gebrauch der geschlossenen Kategorien. Ein roter Faden zieht sich durch die bis jetzt diskutierten syntaktischen Phänomene. 305 <?page no="306"?> Angaben. Obwohl das attributive Adjektiv sowohl restriktiv als auch appositiv (z. B. der mutige Wilhelm Tell) sein kann, sind prädikative und adverbiale Adjektive niemals restriktiv, und das weist auf eine gewisse Beziehung zwischen prädikativ/ adverbial einerseits und appositiv andererseits hin. Die lockere Verknüpfung des prädikativen und des adverbialen Adjektivs kann von zwei Standpunkten aus auch diachron relevant sein. Erstens war der formale Unterschied zwischen attributiven und prädikativen/ adverbialen Adjektiven in den alten idg. Sprachen nicht so ausgeprägt wie in den modernen, und viel mehr Adjektive konnten wegen ihrer vollständigen Flexionsmöglichkeiten und Distanzstellung eine prädikative oder adverbiale Interpretation erhalten (§§ 4.4.2, 4.4.3). Zweitens war der Bereich adverbialer Adjektive damals viel größer als in den modernen idg. Sprachen, sodass wir erneut einen Verlust derjenigen Strukturen feststellen können, die am wenigsten in der Argumentstruktur des Satzes integriert waren (§§ 4.4.4, 4.4.5). Das stimmt mit dem Wandel zu einer zunehmenden Konfigurationalität überein und könnte einige Einsichten in Bezug auf die in der Literatur umstrittene Frage der Vereinigung der attributiven und prädikativen Konstruktionen ermöglichen (§ 4.4.6). 4.4.2 Verstoß gegen das anaphoric island constraint in den alten idg. Sprachen Während die prädikative Bedeutung der Adjektive normalerweise aus dem Kontext eines Kopulasatzes oder Nominalsatzes klar wird, ist nicht immer einfach zwischen attributiver und adverbialer Interpretation eines Adjektivs zu unterscheiden, weil Adjektive wegen ihrer in den alten idg. Sprachen grundsätzlich nominalen Natur oft auch für Appositionen des Nomens gehalten werden können, weswegen sie von den klassischen und indischen Grammatikern als ein Subtyp der Nomina rubriziert wurden (§ 2.3.1.1). Das ist ein Hinweis auf ihren eher prädikativen oder adverbialen als attributiven Gebrauch, da Nomina in der prädikativen oder adverbialen Stellung akzeptabler sind als in der attributiven, z. B. der Mann ist Arzt vs. *der Arzt Mann; dieser Mann ist hier als Freund vs. *dieser Freund Mann ist hier. Auf die nominale Natur des Adjektivs, und deshalb auch auf seine geringe syntaktische Abhängigkeit, weisen auch einige anaphorische Verfahren der alten idg. Sprachen hin, wobei ein Pronomen dasjenige Nomen resümieren kann, das einem vorangehenden Adjektiv zugrunde liegt, wie in (4.44). (4.44) ad hirundininum nidum visa est simia ascensionem ut faceret admolirier [. . .] neque eas eripere quibat inde 306 <?page no="307"?> „ Zu einem Schwalbennest, so schien es mir im Traum, gab sich ein Affe hochzuklettern große Müh [. . .] doch konnte er nicht die Schwalben rauben dort. “ (Pl. Rud. 598 - 600; Übersetzung Rau 2008: V, 285) Hier resümiert das Pronomen eas „ sie “ (AKK.F.PL) das Nomen hirundines „ Schwalben “ , das dem Adjektiv hirundininus „ der Schwalbe bezüglich “ zugrundeliegt. Das ist ein Verstoß gegen die Prinzipien der Lexikalischen Integrität und des anaphoric island constraint, die besagen, dass, nachdem ein Wort durch Ableitung und Flexion gebildet worden ist, es unmöglich ist, auf einen seiner Bestandteile anaphorisch Bezug zu nehmen, weil die inneren Teile des Wortes „ unsichtbar “ für die Syntax sind (vgl. Postal 1969); das ist die Generalised Lexicalist Hypothesis von Lapointe (1981: 22; vgl. auch Chomsky 1981; Di Sciullo & Williams 1987; Ackema 1999; Spencer & Zwicky 2001 b: 4 - 5). 195 Diese Beschränkung wird unter normalen Umständen in den meisten modernen idg. Sprachen angewendet, und deswegen hat die deutsche Übersetzung eine Umschreibung für die Stelle in (4.44) gewählt: man sagt auf Deutsch „ zu einem Schwalbennest . . . die Schwalben rauben “ , und nicht „ zu einem Schwalben i nest . . . sie i rauben “ , wie im lateinischen Text. Die alten idg. Sprachen konnten also gegen das anaphoric island constraint häufiger verstoßen, wenn auch nicht so häufig wie in einigen nicht-idg. Sprachen, beispielsweise des Kaukasus (vgl. Harris 2006). Ein solcher Verstoß erscheint auch bei vedischen Adjektiven wie tv ā ´d ū ta- „ der dich als Boten hat “ (RV 2.10.6), tvóta- „ von dir geholfen “ (2. 11. 16), tadva ś á- „ der danach verlangt “ (RV 2.14.2): sie sind Komposita mit einem Personal- oder Demonstrativpronomen, das im Text resümiert werden kann, und das bezüglich jenes Prinzips inkonsistent ist, das die Bindung innerhalb eines Wortes verbietet. Der mögliche Verstoß der alten idg. Sprachen gegen das anaphoric island constraint kann Auswirkungen auf die Auffassung der Morphologie und der Syntax der alten Sprachen haben. Morphologisch kann dieser Verstoß dadurch erklärt werden, dass die innere Struktur des Wortes und besonders die Anwesenheit des basischen Nomens hinter dem Adjektiv in den alten idg. Sprachen oft noch transparent war. Syntaktisch ist diese idiosynkratische Bindung ein Beweis der niedrigen Konfigurationalität der alten idg. Sprachen (ebenso wie die Null-Anaphora), diesmal aber weil eher das Antezedens als die Anaphora unerwartet ist, wobei das Adjektiv, das vom 195 So Postal (1969), der erst das Prinzip des anaphoric island postulierte: „ Certain types of linguistic form become what I shall call anaphoric island, where such an entity is a sentence part which cannot contain an anaphoric element whose antecedent lies outside the part in question and which cannot contain the antecedent structure for anaphoric elements lying outside “ . Er illustriert dieses Prinzip mit den folgenden Beispielen: Followers of McCarthy i are now puzzled by his i intensions vs. *McCarthy i -ites are now puzzled by his i intensions (S. 213). 307 <?page no="308"?> nominalen Kopf abhängen sollte, zum wichtigsten Element in der Orientierung der Koreferenz-Beziehungen wird. Außerdem entspricht die Situation der alten idg. Sprachen den Kontexten, in denen auch die modernen idg. Sprachen ausnahmsweise gegen die Lexikalische Integrität verstoßen können: Ward et al. (1991) haben anhand psychologischer Tests bewiesen, dass sogar das Englische mit seiner konfigurationalen Syntax das lexikalische Morphem eines Wortes anaphorisch resümieren kann, falls dieses Morphem einen im Diskurs prominenten Referenten bezeichnet (vgl. auch Garnham 2001: 109 ff). Demzufolge sei das anaphoric island constraint von pragmatischen Prinzipien und von der diskursiven Zugänglichkeit des resümierten Referenten bedingt. Es ist plausibel, dass solche pragmatischen Prinzipien auch mehr Raum in der Grammatik der Anaphora von Sprachen einnehmen wie den alten indogermanischen, die - wie in § 2.3.2.1 illustriert - auf einem grundsätzlich mündlichen Übermittlungsmodus beruhen. 4.4.3 Späte Entstehung integrierter NP Erst spät tauchen im Indogermanischen explizite Ausdrücke auf, die unterschiedliche Auffassungen des Adjektivs nach einer Opposition zwischen attributiv und prädikativ oder zwischen definit und indefinit zeigen und die im Allgemeinen verschiedene Typen syntaktischer Integration zwischen Adjektiv und Nomen in einer einzelnen Phrase darstellen. Interessanterweise gehen diese Ausdrücke, die sich in den idg. Sprachen durch unabhängige Drift entwickeln, auf dasselbe Repertoire lexikalischer Quellen zurück, und zwar Wortfolge, Flexion und Demonstrativpronomina bzw. Artikel in verschiedenen Kombinationen. Durch Wortfolge und Artikel drückt das klassische Griechisch den Unterschied zwischen attributiven und prädikativen Adjektiven aus, wie schon die Beispiele der Schulgrammatiken zeigen: ἡ μεγάλη πόλις oder ἡ πόλις ἡ μεγάλη bedeutet „ die große Stadt “ nach einer attributiven Funktion; μεγάλη ἡ πόλις oder ἡ πόλις μεγάλη bedeutet „ die Stadt ist groß, die Stadt als große “ nach einer prädikativen Funktion (hier lato sensu auch adverbial gemeint), vgl. Bornemann & Risch (1978: § 150 ff). Der Artikel zeigt hier die Einbettung dieser Nominalia wie eine Klammer. Demonstrativformen und Flexion werden in den germanischen, baltischen und slawischen Sprachen gebraucht, um den Unterschied zwischen definiten und indefiniten Adjektiven auszudrücken. In diesen Sprachen bekommt das Adjektiv zwei unterschiedliche Flexionen, wobei die definite Interpretation durch ein i-Suffix gekennzeichnet wird, während die indefinite formal unmarkiert ist, z. B. Aksl. sle ˇ pa ž ena „ eine blinde Frau “ vs. sle ˇ paja ž ena „ die blinde Frau “ ; demgemäß spricht man auch von kurzer vs. langer, konsonantischer vs. vokalischer, starker vs. schwacher Flexion (§ 2.3.1.1). Das Suffix der definiten Adjektive geht ursprünglich auf ein 308 <?page no="309"?> Demonstrativum zurück, das auch dem Relativpronomen *yó des Altgriechischen und des Indoiranischen zugrunde liegt. Im Vedischen ist die nachgestellte Position des Relativpronomens zum Adjektiv marginal belegt, die im germanischen und balto-slawischen Gebiet in der definiten Flexion grammatikalisiert wird, z. B. RV 3.22.3 b ácch ā dev ā ´ m ̐ ū cis · e dhís · n · y ā yé “ Du hast die Götter geladen, die Weisen “ . Obwohl die Unterscheidung zwischen definiten und indefiniten Adjektiven natürlich nicht mit der zwischen attributiven und prädikativen Adjektiven übereinstimmt, können beide Phänomene gewisse formale und funktionale Entsprechungen im Indogermanischen haben: im Allgemeinen stellen die Grammatiken fest, dass die prädikative Funktion normalerweise indefinite Adjektive verlangt, zumindest in den ältesten Sprachstufen des Germanischen und des Balto- Slawischen (vgl. Ambrazas 1997: 142ff; Lunt 2001: 142; Nedoma 2006: 124 - 25). Definite Adjektive hingegen kodieren am häufigsten die attributive Funktion ( „ definite adjectives are used mostly as prepositive attributes. They are very rarely used as predicatives, e. g. tas kelias tikrasis ‘ this road is the right one ‘“ , Ambrazas 1997: 146). 196 Auch in diesem Fall hat also die definite Flexion - mit ihrer tendenziell begleitenden attributiven Funktion - erst später in der Geschichte des Indogermanischen ihre eigene Kodierung bekommen, da die indefinite Flexion, ohne i-Suffix, auch die ursprüngliche Situation widerspiegelt, in der die Unterscheidung zwischen verschiedenen Adjektivtypen implizit belassen war. 197 Die funktionale Unterscheidung zwischen bestimmten und unbestimmten Adjektiven, die im Lettischen noch heute bewahrt wird, ist in anderen Sprachen aber mit der Zeit opak geworden und analogisch nivelliert, wobei das Litauische zur Extension der unbestimmten Form neigt, das Russische jedoch zur Extension der bestimmten. Das Verschwimmen unterschiedlicher funktioneller Bereiche für die zwei adjektivalen Strukturen hat auch zu Lexikalisierungen geführt, sodass gewisse Adjektive natürlicher in der bestimmten Form erscheinen, andere wiederum natürlicher in der unbestimmten Form. Wortfolge und Flexion werden vom klassischen Armenisch benutzt, um mehr oder weniger syntaktisch integrierte Phrasen für Adjektiv und Nomen zu unterscheiden - in diesem Fall ohne Bezug auf attributive 196 Man beachte, dass es hier um unidirektionale Tendenzen geht. Während die prädikative Funktion eine indefinite Form des Adjektivs erwarten lässt, ist die attributive Funktion nicht gleich prädiktiv und selegiert sowohl definite als auch indefinite Adjektive. Andererseits, während eine definite Form des Adjektivs auf eine attributive Funktion hinweist, kann die indefinite Form beide Funktionen haben. 197 Das bedeutet nicht, dass die alten idg. Sprachen diese Unterscheidung nicht ausdrücken konnten, sondern dass ihr Ausdruck nicht syntaktisch war. Wahrscheinlich wurde die Prosodie verwendet, wobei eine pausenlose Aussprache auch die engere Verknüpfung zwischen attributivem Adjektiv und Nomen kodieren konnte, ebenso wie der Kontext. 309 <?page no="310"?> oder prädikative, definite oder indefinite Interpretationen des Adjektivs. Im klassischen Armenisch bleibt das prädikative Adjektiv unflektiert, wenn das Verb unmittelbar folgt (4.45 a), ansonsten wird es flektiert (4.45 b) (vgl. Meillet 1913: 84ff; 122ff; 1936: 136-138; Schmitt 2007: 158-159). (4.45 a) apa owremn azat en ordik ‘ -n dann irgendwo frei sein: PRS.IND3PL Sohn: NOM.PL-ART „ Dann sind ihre Söhne frei. “ (Mt. 17.26, Altgr. ἄραγε ἐλεύθεροί εἰσιν οἱ υἱοί ) (4.45 b) dowk ‘ e ł erowk ‘ patrastk ‘ ihr: NOM werden: IPV2PL bereit: NOM.PL „ Seid bereit! “ (Mt. 24.44; Altgr. ὑμεῖς γένεσθε ἕτοιμοι ) Hier haben wir zwei prädikative Adjektive im Plural, azat „ frei “ in (4.45 a) und patrastk ‘ „ bereit “ in (4.45 b), aber nur das letztere, das dem Verb folgt, bekommt die charakteristische Endung - k ‘ des Plurals, während beim ersteren die Motionslosigkeit des Adjektivs im Vergleich mit dem Verb, das in der 3. Person Plural markiert ist, erscheint. Dasselbe Prinzip, nach dem das vorangestellte Adjektiv unflektiert bleibt, findet man auch in der attributiven Funktion, diesmal in Bezug auf den nominalen Kopf, wie wir in den Beispielen (4.46) sehen können. (4.46 a) bazum awurk ‘ viel Tag: NOM.PL (4.46 b) awurk ‘ bazumk ‘ Tag: NOM.PL viel: NOM.PL Beide Ausdrücke bedeuten „ viele Tage “ , aber nur im letzten Fall, in dem das Adjektiv folgt, zeigt es die Endung - k ‘ des Plurals. 198 Die Phrase wird nur dann als ein einziges Ganzes aufgefasst, wenn der syntaktische Kopf des Verbs (4.45) oder des Nomens (4.46) rechts steht, wo er auch einmal die Endungen übernehmen kann. Wie das Altgriechische hatte auch das klassische Armenisch eine sehr flexible Wortfolge zur Verfügung, wodurch es feine Unterschiede in der Gruppierung der Wörter anzeigen kann. Anders als das Altgriechische konnte es dafür auch Endungen auslassen: die Motionslosigkeit des Adjektivs stellt eine engere Verbindung zwischen Adjektiv und Nomen dar, wobei die Dependenz des Adjektivs vom nominalen Kopf noch klarer wird. Das ermöglicht es dem klassischen Armenisch, eine ziemlich entwickelte Phrase zu haben ( „ Der Zusammenhang zwischen dem regierten und dem regierenden Substantiv ist eng “ , 198 Die Morphologie des attributiven Adjektivs ist hier auch darum relevant, weil eigentlich nur mehrsilbige Adjektive unflektiert bleiben; Einsilbige Adjektive bekommen ihre Endung zumindest in einigen Kasus (GEN, DAT, ABL, INSTR), vgl. Meillet (1913: 85). 310 <?page no="311"?> Meillet 1913: 87). Auch das ist eine Neuerung, da die Auslassung der Endungen im Urindogermanischen nicht möglich war, und es geht in Richtung einer zunehmenden Konfigurationalität. M. E. hat das klassische Armenisch die Option unflektierter Adjektive vom Substrat einiger südkaukasischer Sprachen wie des Georgischen übernommen. Im Georgischen kongruieren Adjektive mit ihrem nominalen Kopf, wenn sie nachgestellt sind; wenn man hingegen die AN-Wortfolge hat, kann das Adjektiv eine morphologisch reduzierte Struktur bekommen, die Boeder (2005: 16) „ contact form “ nennt, ohne Kongruenz. Im Georgischen identifiziert Haspelmath (1993 b) Phänomene von externalization of inflection sogar auf der Wortebene, wobei die flexionellen Endungen eines Wortes nach der Hinzufügung eines Suffixes nach rechts umgestellt werden: ra-s-me „ etwas “ (wörtl. was-DAT-INDEF) > ra-me-s. 4.4.4 Seltenheit intensionaler Adjektive Die relativ knappen Ressourcen der alten idg. Sprachen für die explizite Kodierung der attributiven Modifikation können nicht nur in der syntaktischen Verteilung, sondern auch in der Semantik ihrer adjektivischen Strukturen beobachtet werden. Normalerweise hängt der Unterschied zwischen attributiv und prädikativ vom Kontext ab, sodass dasselbe Adjektiv entweder als erläuterndes oder erweiterndes Element in verschiedenen Sätzen verwendet werden kann. Doch das ist nicht immer der Fall, weil die Bedeutung des Adjektivs manchmal entscheidend ist für eine attributive oder prädikative Interpretation. „ Intensionale “ (intensional) Adjektive wie ehemalig oder scheinbar, die typischerweise eine temporale oder modale Beziehung des Referenten des Nomens festsetzen, können nur attributiv verwendet werden: der ehemalige Präsident, *der Präsident ist ehemalig (vgl. Bolinger 1967; Chierchia & McConnell-Ginet 1990; Cabredo Hofherr & Matushansky 2010: 17 ff). 199 Es zeigt sich, dass solche intensionalen Adjektive für die alten idg. Sprachen nicht typisch waren. 199 Die intensionalen Adjektive stehen den „ extensionalen “ (extensional) Adjektiven gegenüber, deren eigene Bedeutung sich nach dem Kopf nicht ändert, und die zusammen mit der Bedeutung des Kopfes einen bestimmten Referenten bezeichnet. Z. B. bezeichnet die NP weiße Katze diejenigen Referenten, die sich aus der Intersektion zwischen der Gruppe der „ Katzen “ und der Gruppe der „ weißen Sachen “ ergeben. Deswegen werden extensionale Adjektive auch „ intersektive “ (intersective) Adjektive genannt. Dagegen ist keine Intersektion vorstellbar in intensionalen Adjektiven wie ehemalig, möglich, scheinbar: Die NP der ehemalige Präsident bezeichnet keine Person, die sowohl „ ehemalig “ als auch „ Präsident “ ist. Anders als intensionale Adjektive können extensionale Adjektive sowohl attributiv als auch prädikativ sein (die weiße Katze vs. die Katze ist weiß). 311 <?page no="312"?> In den alten idg. Sprachen wurde die Funktion der intensionalen Adjektive eher durch andere formale Ressourcen ausgedrückt, und zwar durch Morphologie und Wortbildung. Die Bedeutung „ ehemalig “ , Engl. former, wurde im Lateinischen bei Nomina von Ämtern oder Verwandtschaft durch das Präfix exausgedrückt, z. B. ex-consul „ ehemaliger Konsul “ , und obwohl auch Adjektive wie pristinus oder prior verfügbar waren, hatten sie eher die allgemeine Bedeutung „ früher “ , „ alt “ „ erst “ oder „ besser “ , mit einer komplexen Semantik, die räumliche, temporale oder evaluative Werte hatte, weswegen sie nicht auf die attributive Funktion beschränkt waren, vgl. Lewis & Short (1879: 1446). Neben der attributiven Funktion (ex priore muliere nata „ geboren aus seiner ehemaligen Frau “ , Pl. Cist. 605 - 606) haben wir auch die prädikative Funktion (frons occipitio prior est „ die Stirn ist besser als das Hinterhaupt “ , Cato, Agr. 4.1.7). Dasselbe gilt für das Altgriechische ἀρχαῖος und für das Altindische p ū ´ rva-, die neben „ ehemalig “ die Hauptbedeutung „ alt “ haben, die sowohl attributiv als auch prädikativ oder adverbial verwendet werden kann (vgl. LSJ 251; MW 643). Bemerkenswerterweise ist die attributive Funktion für Skr. p ū ´ rvanur dann die einzige Möglichkeit, wenn es nicht mehr ein eigenständiges Adjektiv ist, sondern eine morphologisch gebundene Form, was eine ikonische Darstellung der engeren Verbindung zwischen Nomen und Adjektiv in der attributiven gegenüber der prädikativen oder adverbialen Funktion ist, z. B. Skr. ā d· hya-p ū rva - „ ehemals wohlhabend “ , str ī -p ū rva - „ der in einem vorigen Leben eine Frau war “ . Die heute für die Identifizierung der attributiven Adjektive benutzte Unterscheidung zwischen intensionalen und extensionalen Adjektiven findet also keine genaue Entsprechung im Wortschatz der alten idg. Sprachen, in denen die für intensionale Adjektive typischen temporalen oder modalen Angaben auch durch das Verb vermittelt werden konnten. Die Bedeutung „ scheinbar “ wird im Altgriechischen am besten durch Prädikate wie φαίνομαι „ ich scheine “ oder δοκεῖ „ es scheint “ mit einer nicht-finiten Verbalform ausgedrückt. Das Adjektiv ā laks · ya-, das im klassischen Sanskrit in der Bedeutung „ scheinbar “ benutzt werden kann, ist ein Gerundiv von der präverbierten Wurzel ā -laks · „ schauen, beschreiben “ und bedeutet eigentlich „ was geschaut werden muss “ oder „ sichtbar “ , und dasselbe gilt für dras · t · avyà- und für andere Adjektive wie ā ´vis · t · ya-, údita- oder vyàkta-, die diese Bedeutung in einem bestimmten Kontext haben können, primär aber „ deutlich “ , „ offenbar “ , manchmal auch „ schön “ bedeuten. Die Funktion des Engl. Adjektivs main, das in der Literatur oft zitiert wird, um zwischen attributiv und prädikativ zu unterscheiden (the main reason vs. *the reason is main, vgl. Bolinger 1967: 2), wurde durch Präfixe ausgedrückt, wie Altgr. προ - oder Skr. pra-. Da für die attributive Interpretation spezifische, eindeutig intensionale Adjektive in den alten idg. Sprachen nicht verfügbar oder selten waren - für 312 <?page no="313"?> das Urindogermanische können sie nicht rekonstruiert werden - und deren temporale, modale oder epistemische Bedeutung zudem nur dank komplexer Morphologie und Wortbildung oder durch den Kontext erfasst werden konnte, können wir feststellen, dass der funktionale Bereich der attributiven Adjektive in den alten idg. Sprachen beschränkter war als in den modernen idg. Sprachen. 4.4.5 Verlust adverbialer Adjektive Während die Vorgänge für eine explizite attributive Modifikation in den alten idg. Sprachen beschränkter waren als in den modernen, waren die Strukturen der prädikativen und adverbialen Modifikation ursprünglich reicher. So schreibt Delbrück über das Vorkommen von Adjektiven in vielen alten idg. Sprachen, die eher die Funktion eines Adverbs zu haben scheinen: „ Häufig finden wir, namentlich in den älteren Phasen der indogermanischen Sprachen, den adjektivischen Ausdruck, wo wir Modernen es vorziehen, dem Verbum durch einen adverbialen oder präpositionalen Ausdruck eine Ergänzung hinzuzufügen. “ (1893: 453) Es geht hier um Richtungsadjektive wie Ved. arv ā ´c- „ hergewandt “ , arv ā c ī ná- „ id. “ , Altgr. πρηνής „ vorwärts gewand “ , ἄψορρος „ rückwärts gewendet “ , Lat. supinus „ zurückgebogen “ , um temporale Adjektive wie Altgr. ὑπηοῖος „ bei Tagesanbruch “ , ἠμάτιος „ bei Tage “ , ἑσπέριος „ abendlich, am Abend “ , παννύχιος „ die ganze Nacht lang “ , χθιζός „ gestrig “ , Lat. noctuabundus „ zur Nachtzeit “ , serus „ spät “ , vespertinus „ abendlich “ sowie um mehrere andere Adjektive mit Bedeutungen von Reihenfolge, Einstellung oder Art wie Altgr. πεζός „ zu Fuß “ , δρομαῖος „ im Laufe “ . Diese Adjektive, die einen vom Urindogermanischen ererbten Gebrauch widerspiegeln, verfallen mit der Zeit: „ Es sind alterthümliche Wendungen, die durch die immer mehr aufkommende, den gewollten Zweck besser erreichende adverbiale Ausdrucksweise allmählich verdrängt wurden. “ (Delbrück 1893: 460; vgl. auch Wackernagel 1928: 65-68). Man könnte prima vista meinen, dass hier lediglich ein Wandel in der Kategorie vorliegt, vom Adjektiv der alten idg. Sprachen zum Adverb der modernen idg. Sprachen, wobei die syntaktische Funktion des Adjunkts immerhin unverändert bleibt. Doch das ist gerade nicht der Fall, denn die alten idg. Sprachen hatten neben diesen Adjektiven mit adverbialem Sinn auch die entsprechenden echten Adverbien, die normalerweise erstarrte Kasus der Adjektive sind. Neben den Adjektiven arv ā ´c- und arv ā c ī náhatte das Vedische auch das Adverb arv ā ´k für die Bedeutung „ hergewandt. “ Neben ἄψορρος hat das Altgriechische auch das Adverb ἄψορρον mit der Bedeutung „ rückwärts “ , und das Lateinische hat neben serus auch sero für „ spät “ und neben vespertinus auch vesperi für „ am Abend, abends “ . Die Tatsache, dass nur die echten Adverbien für diese Funktionen erhalten 313 <?page no="314"?> blieben, zeigt also eine massive Reduzierung der adverbialen Formen, die ursprünglich viel zahlreicher und flexibler waren. Die folgenden Stellen sind aus demselben vedischen Hymnus entnommen, in dem der Dichter einmal das Adverb prathamám (4.47 a) und einmal das adverbiale Adjektiv prathamá- (4.47 b) mit derselben Bedeutung „ erst “ in kurzer Entfernung voneinander verwendet; die beiden werden im Deutschen als Adverbien wiedergegeben. (4.47 a) yád ákrandah · prathamám· j ā ´yam ā nah · als wiehern: IPF.IND2SG erst geboren: NOM.M.SG „ Als du eben erst geboren wiehertest „ (RV 1.163.1 a; Übersetzung Geldner 1951: I, 225) (4.47 b) índra en · am· prathamó ádhy atis · t · hat Indra(M): NOM ihn: AKK erst: NOM.M.SG PRÄV besteigen: IPF.IND3SG „ Indra bestieg ihn zum ersten Male. “ (RV 1.163.2 b; Übersetzung Geldner 1951: I, 225) Die Form prathamáh · in (4.47 b), die Geldner mit dem adverbialen Ausdruck „ zum ersten Male “ übersetzt, ist im Vedischen deutlich ein Adjektiv, wie seine Kongruenz in Genus, Numerus und Kasus zeigt, während die ähnliche Form prathamám in (4.47 a) mit dem Subjekt grammatisch nicht übereinstimmt. Dasselbe passiert bei Homer, bei dem wir die Formen πρῶτος , πρότερος „ als erster “ als adverbiale Adjektive (Il. 10.532) neben den echten Adverbien πρῶτον , πρότερον finden (Il. 1.50), aber auch im Lateinischen, das eine Variation zwischen dem Adverb primum und dem adverbialen Adjektiv primus erlaubt. Einem so vielfältigen Gebrauch der adverbialen Ressourcen lagen wahrscheinlich auch verschiedene semantische Funktionen zugrunde, die aber aus den Texten meistens nicht mehr erfasst werden können. Die Bewahrung eher des Adverbs als des adverbialen Adjektivs von diesen quasi-Synonymen hängt m. E. damit zusammen, dass ihre gemeinsame Bedeutung von Raum, Zeit und Weise von Haus aus geeigneter ist für eine adverbiale als eine adjektivische Kodierung, die hingegen in den Sprachen für Funktionen von physischen Eigenschaften in Dixons (1977) Sinne bevorzugt wird. Die synchrone Opazität der Variation zwischen Adverbien und adverbialen Adjektiven bestätigt den allgemeinen Verlust der Ausdrucksmöglichkeiten der ursprünglich grundsätzlichen Adjunkt- Syntax. Natürlich belegen schon die ältesten Texte dieser Sprachen sowohl prädikative als auch attributive Strukturen. Wie im Fall der geschlossenen Kategorien und der kanonischen Funktionen hat auch hier, im Bereich der Hierarchie, der Wandel bereits in den alten idg. Sprachen angefangen, und wir können nur eine indirekte und partielle Retrospektive davon haben. 314 <?page no="315"?> 4.4.6 Zur Frage der Vereinigung attributiver und prädikativer Adjektive Die Verteilung der Adjektive in den alten idg. Sprachen könnte auch für das Problem der Beziehung zwischen attributiven und prädikativen Adjektiven relevant sein, das in der allgemeinen Linguistik viel diskutiert wurde (vgl. Graffi 2001: 142ff für den status quaestionis). Es gab in der Literatur mehrere Versuche, attributive und prädikative Gebrauchsarten des Adjektivs zu vereinigen. Nach der Annahme der Generativen Grammatik, die letzendlich in der Logique de Port-Royal ihre Wurzeln hat, sind prädikative Adjektive primär. Von denen würden attributive Adjektive durch einen Relativsatz abgeleitet (das Kind ist schön > das Kind, das schön ist > das schöne Kind). Auf diese Weise könnte man nicht nur eine gemeinsame zugrundeliegende Funktion für zwei oberflächlich verschiedene Strukturen voraussetzen, sondern auch die für viele Sprachen berichteten formalen Ähnlichkeiten zwischen attributiven Adjektiven und Relativsätzen erklären (vgl. Ruwet 1973: 269). Auch im Funktionalismus wurde behauptet, dass die prädikative Funktion für das Adjektiv primär sei: durch eine quantitative Korpus-Analyse des Englischen und des Mandarin-Chinesischen findet Thompson (1988) heraus, dass die überwältigende Mehrheit der Adjektive in beiden Sprachen eine grundsätzlich prädikative Funktion hat. Die meisten dieser Adjektive seien eigentlich das Prädikat eines Kopulaverbs, z. B. That got me so mad. Andere Adjektive, die von einem bloß syntaktischen Standpunkt aus eine attributive Funktion in Bezug auf ein Nomen haben, modifizieren das Prädikatsnomen eines Kopulasatzes und könnten deshalb auf indirekte Weise immerhin für prädikativ gehalten werden, z. B. Theirs is a nice apartment. Außerdem kommen die meisten Adjektive nach Thompson (1988) in indefiniten NP vor, die die Funktion eher des S und des O als des A nach Dixon (1979) haben, wobei sie unter normalen Umständen dem rhematischen Teil des Satzes angehören. Nach anderen Funktionalisten wie Croft (1991) und Hengeveld (1992) hingegen sei die attributive Funktion für das Adjektiv primär ( „ attributive use is the criterion that most reliably distinguishes adjectives from other word classes “ , Hengeveld 1992: 59). 200 Nach anderen Forschern hingegen wie Jespersen (1924: 97 ff) und Bolinger (1967) ist es nicht gerechtfertigt, die attributiven Adjektive auf 200 Merkwürdigerweise haben Thompson (1988) und Croft (1991: 87 ff) entgegengesetzte Ergebnisse aus ihren Korpus-Analysen erhalten. Bei Croft haben die meisten Adjektive aus einer Reihe Erzählungen eine modifizierende und attributive Funktion, während nur ein winziger Teil prädikativ gebraucht werde. Diese attributive Funktion erlaube nach Croft (1991: 36 ff) eine universale Kategorie der Adjektive zu identifizieren; Dem haben wir allerdings anhand der Daten der alten idg. Sprachen widersprochen, vgl. § 2.3.1.1. 315 <?page no="316"?> die prädikativen zu reduzieren oder umgekehrt, weil sie ganz verschiedene Funktionen hätten und nicht mit allen adjektivischen Lexemen frei austauschbar seien, weshalb die beiden für basisch gehalten werden sollten. Nach Jespersen stellt ein attributives Adjektiv die Operation einer junction dar, nach der zwei Begriffe in einem einzelnen zusammengefasst werden ( „ a junction is therefore a unit or a single idea, expressed more or less accidentally by means of two elements “ , 1924: 116). Was eine attributive Phrase in der einen Sprache sei, könne in einer anderen Sprache durch ein einzelnes Lexem kodiert werden. Prädikative Adjektive hingegen hätten die Funktion eines nexus, d. h. der Verbindung zwischen zwei Begriffen, die notwendigerweise getrennt sind ( „ a nexus, on the contrary, always contains two ideas which must necessarily remain separate: the secondary term adds something new to what has already been named “ , id.). Nach Bolinger (1967) könnte eine Transformation von prädikativen zu attributiven Adjektiven die Inkompatibilität gewisser Adjektive mit der prädikativen Stellung (z. B. a total stranger vs. *a stranger is total) oder mit der attributiven Stellung (the man is asleep vs. *the asleep man) nicht erklären. Ohne Anspruch darauf, eine so umstrittene Frage im Handumdrehen zu lösen, können wir dennoch überlegen, wie die alten idg. Sprachen dazu beitragen können. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass die prädikative und adverbiale Funktion der Adjektive in den alten Texten gewissermaßen wichtiger ist oder häufiger ausgedrückt wird als die attributive Funktion. Wir sind aber keinesfalls aus ökonomischen Gründen zu dieser Schlussfolgerung gelangt, und hier stimmen wir mit Jespersen (1924) und Bolinger (1967) darin überein, dass man im Prinzip die beiden Interpretationen nicht unbedingt vereinen sollte. Unsere Argumente sind eher diachroner Natur und betreffen sowohl die Morphosyntax als auch die Semantik dieser Adjektive. Morphosyntaktisch ist die explizite Markierung der attributiven Funktion der Adjektive im Indogermanischen auf wenige Sprachen beschränkt und taucht relativ spät auf, wie im klassischen Griechisch. In den meisten Fällen sind Adjektiv und Nomen in einer Phrase nicht eng verbunden: die vollständige Flexion des Adjektivs in Genus, Numerus und Kasus ist ein Zeichen seiner syntaktischen Unabhängigkeit, und tatsächlich konnte das Bezugswort bei häufigem Gebrauch des substantivierten Adjektivs weggelassen werden; außerdem weist die mögliche Distanzstellung zwischen Nomen und Adjektiv oft auf eine prädikative oder adverbiale Funktion des letzteren hin. Semantisch können viele intensionale Adjektive, bei denen nur eine attributive Interpretation möglich ist, wie oben gesagt, für das Urindogermanische nicht rekonstruiert werden und stellen eher das Ergebnis monoglottischer Neuerungen dar. Wir meinen jedoch, dass die Festsetzung attributiver Strukturen nicht von der prädikativen Funktion sensu stricto der Adjektive herrührt, sondern von der adverbialen Funktion. In der Debatte über die ursprüngliche 316 <?page no="317"?> Funktion der Adjektive werden immer Konstruktionen wie das schöne Mädchen vs. das Mädchen ist schön gegenübergestellt, während die andere Funktion der Adjektive - die adverbiale Funktion, z. B. Paul kommt wütend herein (vgl. Dürscheid 2012 a: 77) - normalerweise vernachlässigt wird, weil sie im Englischen und anderen modernen idg. Sprachen in der Grammatik marginal bleibt, in der sie von Adverbien ausgedrückt wird. Wir haben aber gesehen, dass in den alten idg. Sprachen adverbiale Adjektive viel produktiver waren und deshalb dem Urindogermanischen vermutlich auch angehörten: in der Form waren sie Adjektive durch und durch, wie ihre Flektierbarkeit zeigt. In ihrer Bedeutung von Raum, Zeit oder Weise aber modifizierten sie eher das Verb oder hatten jedenfalls nur eine lockere Verbindung mit dem Nomen, mit dem sie keine junction in Jespersens (1924) Sinne bildeten. Solche adverbialen Adjektive haben eine Mittelstellung zwischen den attributiven und den prädikativen Adjektiven und können oft auch mehrdeutig interpretiert werden. Sie könnten damit m. E. der Ausgangspunkt für den Wandel zu einem ausgeprägteren Ausdruck der Attribution gewesen sein. 4.5 Wandel in der Satzverbindung im Indogermanischen 4.5.1 Angeschlossene Strukturen für Relativsätze Der Wandel von lockerer zu enger Verbindung im einfachen Satz findet eine Bestätigung im komplexen Satz und Diskurs, die in den alten idg. Sprachen oft eine andere Organisation hatten als in den modernen idg. Sprachen. Zuerst gab es in den alten idg. Sprachen einen sehr verbreiteten Gebrauch des Asyndetons, wie Brugmann u. a. bemerkt: „ Asyndetische Nebeneinanderstellung von innerlich zusammengehörigen Hauptsätzen, die primitivste Stufe der Satzzusammensetzung, war in der idg. Urzeit jedenfalls ganz gewöhnlich, und sie ist auch in den einzelnen Sprachen, besonders in der kunstlosen Umgangssprache, in weitem Umfang bewahrt worden. “ (1904: 651; vgl. auch Speyer 1886: 436; 1896: § 102; 259; Hoffner & Melchert 2008: 401 ff). Die appositive Beziehung des Asyndetons war auch in der Verbindung innerhalb der NP häufig, wie wir in § 2.3.2.2 gesehen haben. Zweitens war Unterordnung viel weniger häufig als Koordination, und tatsächlich gab es eine lange Kontroverse über die Frage, ob Nebensätze auch für das Urindogermanische überhaupt rekonstruiert werden können, weil die subordinierenden Strukturen in den verschiedenen alten idg. Sprachen oft nicht übereinstimmen. Heutzutage wird angenommen, dass zumindest Relativsätze schon im Urindogermanischen bestanden, nach deren Muster - vielleicht nur in den abgeleiteten Sprachen - auch 317 <?page no="318"?> andere Nebensätze gebildet wurden (siehe Hettrich 1988: 744ff für eine ausführliche Begutachtung der Debatte). Die grundsätzlich parataktische Satzverbindung des Urindogermanischen begründen wir aber nicht mit dem Fehlen gemeinsamer morpho-lexikalischer Vorgänge für die Unterordnung, weil komplexe Sätze im Allgemeinen und insbesondere die Unterordnung - die im Diskurs weniger häufig ist als die Koordination - nur beschränkte Möglichkeiten haben, sich in einer Sprache zu etablieren, sodass auch ihre strukturellen Merkmale einfach verloren gehen können und später monoglottisch erneuert werden. Schon Meillet (1921: 159 ff) bemerkte, wären die Konjunktionen des Lateinischen nicht belegt, könnte man sie durch den Vergleich zwischen den Konjunktionen der romanischen Sprachen kaum rekonstruieren. Wir begründen hingegen die geringe Entwicklung der Unterordnung im Urindogermanischen mit bloß syntaktischen Kriterien, wobei die für das Urindogermanische am frühesten rekonstruierbare subordinierende Struktur, das „ korrelative Diptychon “ (correlative diptyque, vgl. Minard 1936; Haudry 1973; Klaiman 1976; Justus 1976; Lühr 2000), kaum in den Hauptsatz integriert ist und seinen parataktischen Ursprung noch deutlich zeigt: es ist - in der Terminologie von Ch. Lehmann (1980; 1984; 1988) - eher „ angeschlossen “ (adjoined) als „ eingebettet “ (embedded). 201 Dementsprechend wird der Inhalt des (gewöhnlich vorangestellten) Relativsatzes von einem Resumptivpronomen im Hauptsatz anaphorisch wiederaufgenommen, wie in (4.48). (4.48) nu-kán Š À KUR.KUR ME Š URU Ha-at-ti LÚ KÚR ku-i š ku-i š KONN-PTK von Länder: PL Hatti Feind wer.immer: NOM.SG an-da e-e š ta na-an-kán I Š -TU KUR.KUR URU Ha-at-ti innen sein: PRÄT3SG KONN.ihn-PTK von Länder: PL Hatti ar-h ˘ a-pát u-i-ya-nu-un weg-PTK vertreiben: PRÄT1SG „ So vertrieb ich fürwahr jeden Feind aus den Hattiländern, der in den Hattiländern sich festgesetzt hatte “ (KUB I 1 + I 71 - 72; Übersetzung Otten 1981: 9) 201 Wie Ch. Lehmann (1984; 1988) darlegt, bildet ein angeschlossener Nebensatz keine Phrase mit dem nominalen Kopf und stellt deshalb eine exozentrische Konstruktion dar, wie im Satz der deutschen Umgangssprache welches Mädchen du gestern kennen gelernt hast, das ist auch eine Freundin von mir. Der Nebensatz ist hier relativ unabhängig vom Hauptsatz, wie auch die unabhängige Intonationskurve und die Randstellung des Relativpronomens beweisen. Im regelmäßig eingebetteten Relativsatz des Deutschen hingegen (Das Mädchen, das du gestern kennen gelernt hast, ist auch eine Freundin von mir) bilden der nominale Kopf und der Relativsatz eine NP, die die syntaktische Rolle einer Konstituente des Hauptsatzes (hier das Subjekt) spielt. 318 <?page no="319"?> Hier handelt es sich um zwei getrennte Sätze, jeder mit seinem eigenen Prädikat und seinen eigenen Partizipanten, die eine ziemlich lockere Verbindung miteinander haben. Die Trennung zwischen den beiden Sätzen wird unterstrichen vom initialen Konnektor nu. Sogar die den beiden Sätzen gemeinsamen Argumente werden explizit resümiert, entweder lexikalisch (KUR.KUR ME Š URU Hatti . . . KUR.KUR URU Hatti) oder anaphorisch ( LÚ KÚR . . . - an). Diese angeschlossene Relativkonstruktion wird in der deutschen Übersetzung oben durch eine eingebettete Relativkonstruktion umschrieben, weil im Deutschen eingebettete Strukturen bevorzugt werden, aber im Hethitischen wäre es wörtlich: „ Welcher Feind auch immer ( LÚ KÚR kui š kui š ) sich in den Hattiländern festgesetzt hatte, den (-an) habe ich von den Hattiländern vertrieben “ . Das korrelative Diptychon herrscht vor im Hethitischen und Vedischen, wenn auch nicht in genau derselben Form. 202 Zumindest als marginale Struktur kommt es aber in allen alten idg. Sprachen vor, besonders in festen Ausdrücken, z. B. im Lateinischen cum . . . tum „ wenn . . . dann, sowohl . . . als besonders “ , tam . . . quam „ so . . . wie “ , tot . . . quot „ ebenso viele . . . wie “ , im Altgriechischen πόσος . . . τόσος „ wie groß . . . so groß “ , ποῦ . . . ἐκεῖ „ wo . . . dort “ , ὄφρα . . . τόφρα „ so lange . . . wie lange “ , im Litauischen kad . . . taip „ dass . . . so “ , kada . . . tada „ wenn . . . dann “ , kiek . . . tiek „ wie viel . . . so viel “ . Sogar das Englische, das innerhalb der modernen idg. Sprachen die hierarchische Beziehung der Einbettung am häufigsten gebraucht, zeigt in seinen ältesten Sprachstufen eine geringe Verknüpfung für Relativkonstruktionen. Im Beispiel (4.49) aus dem Beowulf (ca. 8. Jh. n. Chr.) sind der nominale Kopf (þæt gewin „ dieser Unfrieden “ ) und der modifizierende Relativsatz (þe on ða leode becom „ der auf die Leute kam “ ) durch anderes Material getrennt - das ist zwar in der Dichtung häufig, aber wie in § 4.2.2 diskutiert können Sperrungen durch die Dichtersprache allein nicht völlig erklärt werden. Das ist ein Zeichen dafür, dass der Gebrauch des Demonstrativs als Relativmarker, hier als unveränderbare Relativpartikel þe, in dieser Zeit noch nicht grammatikalisiert war. (4.49) wæs þæt gewin to swyð sein: PRÄT3SG dieser: NOM.N.SG Unfrieden(N): NOM.SG zu stark: NOM.N.SG laþ ond longsum þe on ða leode gemein: NOM.N.SG und lastend: NOM.N.SG REL auf das: AKK.PL Leute(F): AKK.PL 202 Der vorangestellte Relativsatz des Hethitischen ist weniger flexibel in der Wortfolge als der des Vedischen, der auch nachgestellte Varianten erlaubt. Nach Ch. Lehmann (1984: 130-132) ist der angeschlossene Relativsatz des Vedischen umstellbar. Im Hethitischen kann dieses Muster auch von der Unterordnung der semitischen Sprachen verstärkt worden sein, deren Nebensätze grundsätzlich die gleiche Struktur wie ihre entsprechenden unabhängigen Sätze haben (vgl. Hasselbach 2013: 252). 319 <?page no="320"?> becom, nydwracu niþgrim nihtbealwa ankommen: PRÄT3SG Not(F): NOM.SG neidgrimm: NOM.F.SG Nachtübel(N): GEN.PL mæst größtes: NOM.N.SG „ Die Gewalt war zu stark, zu leidig lastend, die den Leuten geschah, die neidgrimme Not, der Nachtübel größtes. “ (Beowulf 191 a-193; Übersetzung Simrock 2009: 17 - 18) Die Erkennbarkeit desselben syntaktischen Musters des korrelativen Diptychons hinter Relativsätzen, die von verschiedenen Relativpronomina wie *k w ódes Hethitischen, des Lateinischen, des Baltischen und des klassischen Armenisch (IEW 644-648), *yódes Indoiranischen und des Altgriechischen (IEW 283) oder *só-/ tódes Germanischen (IEW 978 - 979; 1086 - 1087) gekennzeichnet sind, ist ein weiterer Beweis dafür, dass die Rekonstruktion der Syntax möglich ist, auch wenn die lexikalischen Quellen miteinander nicht übereinstimmen, vgl. § 6.2. 203 Die flache Struktur der uridg. korrelativen Relativsätze ist konsistent mit dem schwachen Unterschied zwischen Nomen und Adjektiv: in beiden Fällen haben wir einen Modifikator, der syntaktisch kaum abhängig ist von seinem Kopf. Es ist auch bemerkenswert, dass das Hethitische und das Vedische, die weitestgehend die Struktur des korrelativen Diptychons bewahren, gleichzeitig Sprachen sind, die keinen Artikel besitzen, weil der Artikel Zeichen einer entwickelten Hierarchie in der NP und der Konfigurationalität im Allgemeinen ist. Alle diese Phänomene gehen also in dieselbe Richtung, auch wenn sie nur einen indirekten Bezug zueinander haben. 203 Der demonstrative Ursprung des Relativpronomens kann mehr oder weniger transparent sein. Er ist völlig transparent in den germanischen Sprachen, wo Formen wie Dt. der oder Engl. that sowohl als Relativpronomina wie auch als Demonstrativpronomina funktionieren. Der Subordinator „ wo “ des Altisländischen þar er bedeutet wörtlich „ da ist “ . Ähnlich offensichtlich ist die Bildung des Relativpronomens des Altkirchenslawischen iž e, wo dem Personalpronomen der dritten Person i „ er “ die Partikel ž e „ und, aber “ hinzugefügt wird: „ Der “ ist hier wörtlich „ und er “ (Vondrak 1912: 461 ff). Der demonstrative Ursprung ist hingegen synchron opak im Indoiranischen und im Altgriechischen, deren Relativpronomina auf die uridg. Form *yózurückgehen (zusammen mit *só- / tóin A. P. hyahy ā tya, vgl. Kent 1950: 68). Diese Form stammt vom Demonstrativpronomen i-, das in vielen idg. Sprachen verschiedenen deiktischen oder anaphorischen Strukturen wie Lat. id zugrunde liegt und das in *yóthematisiert wird (vgl. Szemerényi 1990: § 8.3). Dieselbe Form erscheint in der Bildung der definiten Flexion der Adjektive in den slawischen, baltischen und germanischen Sprachen, vgl. 4.4.3. 320 <?page no="321"?> 4.5.2 Eingebettete Strukturen für Adverbialsätze 4.5.2.1 Beziehung zwischen Adverbialsatz und Hauptsatz Die angeschlossene Satzverbindung des korrelativen Diptychons ist nicht nur in verschiedenen alten idg. Sprachen unterschiedlich belegt, sondern auch in verschiedenen Strukturen derselben Sprache. Sogar im Altindischen und im Hethitischen, in denen das korrelative Diptychon am produktivsten ist, wird es nicht für alle subordinierenden Beziehungen gleich gebraucht, und diese Variation, obwohl in den traditionellen Grammatiken der jeweiligen Sprachen wie auch in spezifischen Studien ausführlich illustriert (vgl. Speyer 1886: 83ff; Delbrück 1888: 549ff; Friedrich 1960: 163ff; Hettrich 1988; Luraghi 1990 a; Hoffner & Melchert 2008: 414 ff), wird dort trotzdem nicht immer erklärt. Einerseits wird die syntaktisch angeschlossene Struktur des korrelativen Diptychons häufiger für Adverbialsätze als für Ergänzungssätze verwendet; das kann auch mit ikonischen Faktoren zusammenhängen, weil von einem semantischen Standpunkt aus die Verbindung zwischen einem Adverbialsatz und seinem Hauptsatz weniger eng ist als bei einem Ergänzungssatz, der in den meisten Fällen von nicht-finiten Strukturen ausgedrückt wird (§ 4.5.3). Andererseits ist die Verwendung des korrelativen Diptychons im Bereich der Adverbialsätze nicht einheitlich, sondern scheint (neben seinem ursprünglichen Bereich des Relativsatzes) am meisten bei einigen „ primären Adverbialsätzen “ in Sinne von Thompson & Longacre (1985: 177 ff) gebraucht zu werden, d. h. bei denjenigen Adverbialsätzen, die Funktionen von Raum, Zeit und Art ausdrücken. Der in der Literatur anerkannte basische Charakter dieser Sätze besteht darin, dass sie in vielen Sprachen erstens von nicht-anaphorischen temporalen, lokalen, modalen Adverbien (z. B. there, today, so) ersetzt und zweitens durch einen Relativsatz mit generischem nominalen Kopf paraphrasiert werden können. Der engl. Temporalsatz We ’ ll go when Tom gets here ist äquivalent dem Relativsatz We ’ ll go at the time at which Tom gets here, und ähnliche propositionale Äquivalenzen bestehen zwischen lokalen und modalen Adverbialsätzen und Relativsätzen abhängig von Nomina wie „ Ort “ und „ Art “ ( „ Time, locative, and manner clauses state that the relationship between the time, place, or manner of the event in the main clause and that of the subordinate clause is the same. And it is precisely for this reason that they often share properties with relative clause constructions “ , Thompson & Longacre 1985: 179; vgl. auch Ch. Lehmann 1984: 319; Kortmann 1997: 64 - 65) Sekundäre Adverbialsätze hingegen, die kausale, konditionale, konzessive oder finale Funktionen ausdrücken, können letzten Endes nicht auf Relativkonstruktionen zurückgeführt werden, und sie lassen auch keinen Ersatz durch nicht-anaphorische Adverbien zu. 321 <?page no="322"?> Die Gemeinsamkeit zwischen Relativsätzen und primären Adverbialsätzen erscheint besonders im Altirischen, in dem Temporalsätze, Lokalsätze und Modalsätze eigentlich von Relativsätzen dargestellt werden können, die von einem generischen Nomen wie tan „ Zeit “ , airm „ Ort “ oder indas „ Art “ abhängen. Dasselbe gilt für das Hethitische, wie wir unten in § 4.5.2.2 sehen werden. Sekundäre Adverbialsätze wie Kausalsätze, Konditionalsätze oder Finalsätze hingegen zeigen seltener die angeschlossene Struktur des korrelativen Diptychons mit Resumptivum im Hauptsatz. Im Vedischen kann die Anwesenheit oder Abwesenheit des pronominalen Resumptivums im Hauptsatz zwischen temporalen bzw. konditionalen Sätzen sogar bei demselben Subordinator unterscheiden: Hettrich (1988: 223 ff) hat nachgewiesen, dass die vom Subordinator yádi markierten Nebensätze, die eine temporale Bedeutung haben, auch ein Resumptivum im Hauptsatz haben können, während kein Resumptivum die Konditionalsätze mit yádi charakterisiert ( „ ein Korrelativadverb ist nirgends belegt “ , S. 242). Ähnlich ist ein Korrelativ möglich bei den verschiedenen Temporalsätzen, die vom Subordinator yád eingeleitet werden, und zwar für Hettrichs (1988) „ temporal-effizierend-realisierte “ (ter), „ temporal-effizierend-noch-nicht-realisierte “ (tennr) und „ reine “ Temporalsätze (S. 335ff; 344ff; 410 ff). Wenn hingegen der Subordinator yád Konditionalsätze einleitet (die Hettrich in „ eventuale “ und „ fiktive “ einteilt, die letzteren mit einer kontrafaktischen oder irrealen Bedeutung), ist ein Resumptivum im Hauptsatz nie belegt (S. 360; 367). Das entspricht den Befunden der Sprachtypologie, wobei, wenn die Apodosis eines Konditionalsatzes durch explizite morphosyntaktische Verfahren markiert wird, seine Protasis auch so ist, während das Gegenteil nicht gilt (Comrie 1986: 87). Resumptiva sind im Vedischen auch untypisch für yád-Kausalsätze und yád-Konzessivsätze (Hettrich 1988: 369ff; 413 ff), und das können wir ebenso in anderen idg. Sprachen sehen: im Litauischen, in dem weniger korrelative Strukturen als im Vedischen bestehen, zeigen die Konditionalsätze mit der Konjunktion jei / jeigu „ wenn “ das Resumptivum im Hauptsatz noch weniger als andere Adverbialsätze (Ambrazas 1997: 723). Diese Variation der subordinierenden Strukturen kann nach meiner Meinung dadurch erklärt werden, dass Relativsätze einen Referenten bezeichnen und deswegen mit dem Hauptsatz das im Diskurs vorherrschende Prinzip der separation of reference and role anzeigen (Lambrecht 1994: 185), wobei ein Referent zuerst eingeführt und danach eine Aussage darüber formuliert wird. Dasselbe kann für die den Relativsätzen ähnlichen primären Adverbialsätze von Raum, Zeit und Art gelten, die auch ein spezifisches und vom Hauptsatz unabhängiges Ereignis bezeichnen können, obwohl ihr Referent weniger konkret ist als bei Relativsätzen. Das ist hingegen nicht der Fall bei sekundären Adverbialsätzen wie Konditionalsätzen, Kausalsätzen, Konzessivsätzen, Finalsätzen, die keineswegs refe- 322 <?page no="323"?> rentiell sind, sondern Bedingungen, Gründe, Gegengründe oder Zwecke der Situation des Hauptsatzes darstellen (vgl. Traugott et al. 1986; Couper- Kuhlen & Kortmann 2000; Declerck & Reed 2001). Da wie in § 2.3.2.1 gesagt Proformen in den alten idg. Sprachen normalerweise ihre deiktische oder anaphorische Funktion bewahren, brauchen sekundäre Adverbialsätze wegen ihrer geringen Referentialität kein pronominales Resumptivum. Eine Bestätigung der Beziehung zwischen der Referentialität des Nebensatzes und der syntaktischen Trennung von Nebensatz und Hauptsatz bietet das Hethitische, obwohl es in diesem Fall nicht um den Gebrauch eines Resumptivums geht, sondern um den den Satz einleitenden Konnektor. Wie wir in § 2.3.2.2 gesehen haben, werden Sätze im Hethitischen oft durch den Konnektor nu verbunden, der die Funktion einer koordinierenden Konjunktion „ und nun, und jetzt, und dann “ haben kann, der aber wegen seiner prosekutiven Bedeutung auch der Verknüpfung eines vorangestellten Nebensatzes mit dem Hauptsatz dient, wie beim Temporalsatz in (4.50), der vom Subordinator m ā n eingeleitet wird. Derselbe Subordinator m ā n leitet den Konditionalsatz in (4.51) ein. Wie im Deutschen wenn und im Vedischen yádi kann also derselbe Subordinator auch im Hethitischen sowohl Temporalsätze als auch Konditionalsätze einleiten, obwohl im Althethitischen m ā n weniger häufig für Konditionalsätze gebraucht wird als takku. (4.50) ma-a-na-a š š al-li-e š -ta-ma nu-za DUMU.SAL als-er: NOM groß.werden: PRÄT.IND3SG-PTK KONN-REFL Tochter MU Š Il-lu-ya-an-ka-a š DAM-an-ni da-a-a š Schlange: GEN.SG Gattin-DAT nehmen: PRÄT.IND3SG „ Als er groß wurde, nahm er die Tochter der Schlange als seine Gattin. “ (KBo III 7 III 6 - 8; Beckman 1982: 5, Z. 6 - 8) (4.51) ma-a-an I-NA UD.16 KAM D XXX-a š a-ki wenn am Tag 16 Mondgott: NOM sterben: PRS.IND3SG LUGAL-u š -za-kán KUR-ZU h ˘ ar-ni-ik-zi König(C): NOM.SG-REFL-PTK Land-sein zugrunde.richten: PRS.IND3SG „ Wenn am 16. Tage der Mondgott stirbt (d. h. verdunkelt), wird der König sein Land zugrunde richten. “ (KUB VIII 1 Vs. II 5 ’ ; Riemschneider 2004: 65) Trotz der gemeinsamen Form des Subordinators neigen faktische Temporalsätze wie in (4.50) und hypothetische Konditionalsätze wie in (4.51) dazu, sich durch die Anwesenheit bzw. Abwesenheit des Konnektors nu zu unterscheiden. Die Grammatiken stellen fest, dass der Gebrauch des Konnektors nu mit dem folgenden Hauptsatz üblich ist für m ā n „ als “ und nach der althethitischen Periode für mah ˘ h ˘ an „ als “ und kuwapi „ damals als “ ; so Hoffner & Melchert 2008: 417 über mah ˘ h ˘ an: „ The most common pattern is temporal clause followed by a nu-introduced main clause “ (über den tempo- 323 <?page no="324"?> ralen Subordinator kuitman siehe unten). Das können wir an historischen Texten beobachten, für die temporale Beziehungen typisch sind. Z. B. zeigen die Erzählung um die Stadt Zalpa (Otten 1973), der Anitta-Text (Neu 1974) und die Apologie Hattusilis III (Otten 1981) nach einem Temporalsatz meistens einen Konnektor, z. B. ma-a-na-a š [ ] ap-pé-ez-zi-yana ki-i š -ta-an-zi-at-ta-at š a-an D Hal-maš [u-it-ti] D Š i-i-u š -mi-i š pa-ra-a pa-i š „ Als sie (die Stadt) hinterher aber Hunger litt, lieferte sie mein Gott Š iu der Throngöttin Halma š uit aus “ (Neu 1974: 12-13, Z. 45-47); hier ist š u der Konnektor, der den Hauptsatz vom vorigen m ā n-Temporalsatz trennt. Dagegen wird der Hauptsatz mit einem vorangehenden Konditionalsatz zumindest im Althethitischen normalerweise asyndetisch verknüpft, und das gilt nicht nur für den konditionalen Subordinator m ā n „ wenn “ , sondern auch für sein semantisches Äquivalent takku ( „ after takku clauses, asyndeton is far more frequent “ ; Luraghi 1990 a: 61; vgl. auch Friedrich 1960: 157; Hoffner & Melchert 2008: 420). Das ist in den Gesetzen und in den omina ersichtlich, in denen Konditionalsätze besonders häufig sind. Über die Verknüpfungsverfahren der Gesetze schreibt Hoffner (1997: 12): „ Although there is no uniform method of indicating the boundary between protasis and apodosis in the various manuscripts of the laws, and one detects variations even within a single manuscript, it is true, as Friedrich 1959: 88 observed, that the prevailing pattern when the protasis is a single clause - which differentiates Old from New Hittite in general - is asyndetic juxtaposition “ . Z. B. [ták-ku LÚ-an n]aa š -ma MUNUS-an š [u-ul-la-a]n-na-[a]z ku-i š -ki ku-en-zi [a-pu-u-un ar-nu-z]i Ù 4 SAG.DU pa-a-i LÚ-na-ku MUNUS-na-ku [pár-na-a š š e-e-a] š u-wa-a-ez-zi „ Wenn jemand einen Mann oder eine Frau in einem Streit tötet, muss er ihn/ sie (für das Begraben) nehmen, und er muss 4 Menschen (wörtl. „ Köpfe “ ), Männer bzw. Frauen, geben und auf sein Haus auch achten “ (KBo 6.3 I 1-3; Hoffner 1997: 17). Das seltene Vorkommen eines Konnektors zwischen dem Konditionalsatz und dem folgenden Hauptsatz ist meistens auf diejenigen Fälle beschränkt, in denen mehr als eine Protasis oder mehr als eine Apodosis verbunden werden, und eine ähnliche Situation findet bei den Omina statt, sowohl bei den astrologischen wie in (4.51) als auch bei den Geburtsomina, genannt in den babylonischen Quellen š umma izbu „ wenn eine Missgeburt “ . Z. B. tá[k-k]u SAL-za h ˘ a-[a]š i [n]u-u š š i KA×KAK- Š U Š A MU Š EN kiš a a-pa-a-at KUR-e ta-na-an-te-ez-z[i] „ Wenn eine Frau gebiert und seine Nase die eines Vogels ist; jenes Land wird veröden “ (Riemschneider 1970: 26-27, Z. 16-18). In diesem Fall verbindet das nu die zwei Protasen, aber nicht den Komplex der Protasen insgesamt mit der folgenden Apodosis. Wenn Protasis und Apodosis simplex sind, wird das Asyndeton gebraucht: ták-ku IZ-BU UZU TI HI.A - Š U ma-ni-in-ku-w[a-anna-akki-i-e-e š pí-di ta-ru-up-pa-an[-ta-ri „ Wenn die Rippen einer Mißgeburt kurz sind, bedeutende (Leute) werden sich an einer Stelle versammeln. “ (Riemschneider 1970: 54-55, Z. 7-8). Die im Mittel- und Neuhethitischen 324 <?page no="325"?> gebräuchliche Einführung der Apodosis eines Konditionalsatzes mittels des nu-Konnektors (Hoffner & Melchert 2008: 420) ist wahrscheinlich in Analogie entstanden zu der überwältigenden Mehrheit der durch nu verbundenen subordinierten wie auch koordinierten Sätze. Diachrone Faktoren spielen also eine große Rolle, um die Auslassung des Konnektors nu zu erklären, wobei, während im Neuhethitischen der Konnektor nu im funktionalem Bereich der althethitischen asyndetischen Konditionalsätze vorkommen kann, im Allgemeinen „ die ältere Sprache [. . .] mit der Verwendung von nu sparsamer “ ist (Friedrich 1960: 157) und das Asyndeton den späteren Gebrauch des nu ersetzen konnte - man muss natürlich beachten, dass die paläographische Datierung der hethitischen Texte und ihre Zuweisung zu einer bestimmten Periode oft umstritten sind. Darauf hat auch die Gattung einen Einfluss. In anderen Texttypen als Omina und Gesetzen können m ā n und takku auch eine explizite Verknüpfung mit ihrem Hauptsatz haben und sich eher durch die spezifische Form des Konnektors von den entsprechenden Temporalsätzen unterscheiden, wie beim althethitischen Ritual für das Königspaar. Dazu merken Otten & Souc ˇ ek (1969: 92) an, „ dass der Konditionalsatz mit nu fortgeführt wird, der temporale Nebensatz dagegen ta beim folgenden Hauptsatz verlangt. “ Solche Faktoren schließen weitere mögliche linguistische Gründe sowohl syntaktischer als auch semantischer Natur nicht aus, wobei nu in bestimmten Adverbialsätzen häufiger ausgelassen wird als in anderen, sondern wirken mit ihnen zusammen. Syntaktisch ist die Wortfolge für die Satzverbindung insofern relevant, als nachgestellte Nebensätze regelmässig asyndetisch mit dem Hauptsatz verbunden sind (Luraghi 1990 a: 63 ff). So fehlt der Konnektor bei den typischerweise nachgestellten Temporalsätzen mit dem Subordinator kuitman „ während, bis “ , anders als bei den typischerweise vorangestellten Temporalsätzen mit m ā n, mah ˘ h ˘ an und kuwapi; in diesem Fall hängt das Asyndeton auch mit der Bedeutung der Gleichzeitigkeit von kuitman zusammen, die per se kaum kompatibel mit der prosekutiven Funktion von nu ist. Die Wortfolge kann auch die Tatsache erklären, dass kuit-Kausalsätze öfter das Asyndeton zeigen, wenn sie dem Hauptsatz folgen (Hoffner & Melchert 2008: 419). Aber für die bevorzugte Auslassung des Konnektors nu bei Konditionalsatzen kann man die Wortfolge nicht mit einbeziehen, weil diese Subordinaten (wie die meisten Temporalsätze) regelmäßig vor dem Hauptsatz stehen, und das bestätigt einen weiteren typologischen Befund, wobei die Stellung des Konditionalsatzes vor seinem Hauptsatz viel häufiger ist als umgekehrt (Greenberg 1966: 84-85; Comrie 1986: 83 ff). 204 204 Weitere syntaktische Faktoren werden von Weitenberg (1992) festgestellt, allerdings nicht in der Unterordnung, sondern im einfachen Satz des Hethitischen. Demgemäß wird das Asyndeton statt eines Konnektors besonders in zwei Konstruktionen 325 <?page no="326"?> Ich denke, dass die häufigere asyndetische Verknüpfung bei den Konditionalsätzen im Vergleich zu den Temporalsätzen des Hethitischen dieselbe Erklärung finden kann wie die häufigere Abwesenheit des pronominalen Resumptivums bei den Konditionalsätzen im Vergleich zu den Temporalsätzen des Vedischen. Wie oben bemerkt sind Relativsätze von einem semantischen und syntaktischen Standpunkt aus sprachübergreifend den Temporalsätzen ähnlicher als den Konditionalsätzen. Es ist also plausibel, dass auch im Vedischen und im Hethitischen die gespaltene Struktur des für die Relativsätze typischen Korrelativdiptychons im Bereich der Adverbialsätze mehr Temporalsätze als Konditionalsätze charakterisiert - selbstverständlich unter dem üblichem Vorbehalt, dass es nur um eine Tendenz geht, und dass es nicht die einzige Erklärung für die Satzverbindung des Hethitischen ist, welche auch von der Diachronie und vom genre bedingt ist. Eine gewisse Beziehung zwischen den Verfahren des Vedischen und des Hethitischen könnte immerhin darin bestehen, dass die hethitischen satzeinleitenden Konnektoren š u und ta auf dieselben Pronominalstämme *sóbzw. *tówie die vedischen Resumptiva zurückgehen und deswegen ursprünglich eine anaphorische Funktion hatten. Ursprünglich resumptiv war auch der Konnektor nu im Sinne von „ und nun, dann “ (*new/ nu, vgl. § 2.3.2.2). Der Verfall des Korrelativdiptychons zugunsten der eingebetteten Subordination beginnt also in den Einzelsprachen bei Konditionalen und weiteren sekundären Adverbialsätzen, die von Haus aus von Relativsätzen unterschieden sind. 205 In denjenigen Sprachen, in denen anders als in Vedisch und Hethitisch das korrelative Diptychon synchron nicht mehr produktiv ist, ist auch dieser Unterschied innerhalb der Adverbialsätze weniger erkennbar. 4.5.2.2 Stellung des Adverbialsubordinators im Nebensatz Mit seinem konservativen System der im Muster des korrelativen Diptychons stark verankerten Unterordnung kann das Hethitische uns auch dazu gebraucht, und zwar wenn der Satz nur aus einem Verb und einem enklitischen Pronomen besteht, und wenn das Objekt bei den transitiven Verben oder das Subjekt bei den intransitiven implizit gelassen wird. Außerdem untersucht Weitenberg (S. 315 ff) die Konkurrenz zwischen den Konnektoren nu, ta und š u im Althethitischen, wobei ta häufiger mit einem Präsens ist, hingegen š u mit einem Präteritum. 205 Nicht referentiell wie Konditionalsätze sind auch Kausalsätze und Konzessivsätze. Tatsächlich bleibt der Konnektor nu im Hethitischen immer noch selten bei Konzessivsätzen, die vom Subordinator m ā n markiert werden. Kausalsätze mit kuit werden zwar häufig durch den Konnektor nu mit ihrem folgenden Hauptsatz verbunden, aber dieser Gebrauch nimmt im Neuhethitischen zu, während im Althethitischen die asyndetische Verbindung der Kausalsätze auch üblich war (vgl. Friedrich 1960: 159; 167; Hoffner & Melchert 2008: 419). 326 <?page no="327"?> dienen, den Wandel vom Relativsatz zum Adverbialsatz zu verdeutlichen. Es ist bekannt, dass das Relativpronomen die Quelle vieler adverbialer Subordinatoren in den alten idg. Sprachen ist wie auch in vielen anderen Sprachen der Welt (vgl. Kortmann 1997; Heine & Kuteva 2007: 94). 206 Auf den Stamm des uridg. Relativ- und Interrogativpronomens k w í-/ k w ógehen die adverbialen Subordinatoren des Hethitischen kuit „ weil, dass “ , kuitman „ als, während, solange als, bis “ , kuwapi „ zur Zeit wo, damals als “ zurück. Vom Relativpronomen kades Litauischen kommen die adverbialen Subordinatoren kad „ dass, damit, wenn doch (nur), weil, wenn, falls, während “ , kai, kada „ als, wenn, wie “ , kol „ solange als, bis wann, bevor “ , kadangi „ weil, da “ , kad ir „ wenn auch, obwohl “ , kaip „ wie, als ob, als, wenn “ . Vom Relativstamm yádes Vedischen werden die adverbialen Subordinatoren yad ā ´ „ als, wenn, nachdem, wann “ , yádi „ wenn, so oft, in dem Falle dass, ob “ , yáth ā „ wie, gleichsam wie, wenn, damit, auf dass, dass “ , yátra „ wo, wann, wenn “ , yátas „ von welchem, von wo, woraus “ , y ā ´d „ insoweit als, solange als “ , yác cid hí „ obwohl “ abgeleitet, und besonders yád, das mit seiner Polysemie „ als, wenn, wann, während, nachdem, falls, weshalb, weil, obwohl, sodass, dass “ für den universalen Subordinator des Vedischen gehalten werden kann. Dasselbe gilt für Altgr. ὡς „ wie, als, nachdem, da, weil, dass, so dass, damit “ , ὥστε „ sodass, unter der Bedingung, dass, damit “ (< *yó-). Die Verwandlung ursprünglicher Relativformen zu Adverbialformen fand mehr oder weniger in allen alten idg. Sprachen meistens durch unabhängige Drift statt, und der semantische Wandel von einigen adverbialen Subordinatoren zu anderen ist einfach zu verstehen. Weniger klar ist hingegen der Wandel vom Relativpronomen zu den primären Adverbialsätzen. Das Hethitische bietet Textstellen an, in denen ein adverbialer Subordinator noch Spuren seiner ursprünglich modifizierenden Funktion zeigen kann, wie in (4.52). Mehrdeutige Stellen sind entscheidend, um den Anfangspunkt eines syntaktischen Wandels zu verstehen. (4.52) (nu URU Ne-ri-iq-qa-a š )] [(ku-it I Š -TU U 4 UM m Ha-an)-(ti-li) KONN Nerik: NOM weil seit Tag Hantili (ar-h ˘ a ḫ ar-ga-an-za e-e š -t)]a [(na-an EGIR-pa ú-e-)da-a ḫ h ˘ -( ḫ u-un) weg zerstört: NOM sein: PRÄT.IND3SG KONN-sie wieder bauen: PRÄT.IND1SG (KUR.KUR ME Š -ya ku-e I-N)]A URU Ne-ri-ik [(a-ra-a ḫ -za-an-da) Länder-und RP: NOM.N.PL in Nerik herum 206 Andere morphologische Quellen als Relativpronomina sind aber auch für adverbiale Subordinatoren belegt, sowohl sprachübergreifend (Heine & Kuteva 2007: 251) als auch im Indogermanischen, wie im Fall des Lat. dum (*dom) „ während, indem “ , das auf den Demonstrativstamm *de-/ domit der Bedeutung „ dann “ zurückgeht, vgl. etiam-dum, interdum, nondum, agedum (IEW 181). 327 <?page no="328"?> (e-e š -ta) U ( RU Ni-e-ra-an URU Ha-a š -t)]i-ra-an [(ZAG-an) sein: PRÄT.IND3SG Nera-AKK Hastira-AKK Grenze-AKK i-]ya-n[u-un machen: PRÄT.IND1SG „ Weil Nerik seit den Tagen des Hantili zerstört war, baute ich die <Stadt> wieder auf. Die Länder aber, die um Nerik herum waren, die Orte Nera <und> Hastira machte ich zur Grenze. “ (KUB I 1 + III 46 - 50; Übersetzung Otten 1981: 21) Wir können hier dieselbe Verteilung bei dem kausalen Subordinator kuit „ weil “ wie bei dem Relativpronomen kue beobachten, die beide einem Nomen nachgestellt sind. Diese Stellung sollte im Prinzip eher für ein Relativpronomen erwartet werden als für einen adverbialen Subordinator, und im Allgemeinen für Konjunktionen, die unter normalen Umständen ganz am Anfang ihres Satzes stehen sollten, in der CP-Stellung der Generativen Grammatik. Trotzdem steht im Hethitischen die kausale Konjunktion kuit nie am Anfang des Satzes (Friedrich 1960: 163; Hoffner & Melchert 2008: 418). Dementsprechend könnte man vermuten, dass solche Topikalisierungen eine CP-Extraktion darstellen; ebenso interpretiert M. Hale (1987) ähnliche Fälle im Indoiranischen. Wir meinen aber, dass die Interpretation einer syntaktischen Bewegung und einer CP-Extraktion für diese Topikalisierungen - die im Hethitischen und Indoiranischen häufig sind, aber auch Spuren in vielen anderen alten idg. Sprachen wie im homerischen Griechisch und im Lateinischen hinterlassen haben - so nicht richtig ist, weil sie für das alte Indogermanisch einen Typ der Satzverbindung voraussetzt, der eher für das Englische und für andere moderne Sprachen Europas charakteristisch ist. In den ältesten Sprachstufen der idg. Sprachen waren adverbiale Konjunktionen von einem morphologischen Standpunkt aus oft noch transparent (z. B. sind Ved. y ā ´d, yad ā ´ und yádi deutlich erstarrte Formen des Relativpronomens mit Ablativ-, Instrumentalbzw. Lokativ-Endungen), und auch ihre Stellung war damals viel variabler. Der nachgestellten Position des kausalen Subordinators in (4.52) geben wir dieselbe Interpretation, die wir für das Hyperbaton (§ 4.2.2) vorgeschlagen haben, und die man traditionell für die Tmesis annimmt (§ 2.3.2.4): was von einem syntaktischen Standpunkt aus falsch gesetzt und von seiner ursprünglichen Stellung wegbewegt zu sein scheint, liegt eigentlich genau dort, wo es aus eher semantischen oder pragmatischen Gründen liegen sollte. Für Situationen wie (4.52) müssen wir bedenken, dass ein am Satzanfang stehendes topikalisiertes Nominal - wie in diesem Fall der Name der Stadt Nerik im ersten Nebensatz oder der Name der „ Länder “ (KUR.KUR ME Š ) im zweiten Nebensatz - von einem subordinierten Satz modifiziert wird, sei es ein Adverbialsatz mit dem kausalen Subordinator kuit oder ein Relativsatz mit dem Relativpronomen 328 <?page no="329"?> kue. Die Modifikationen eines Relativsatzes bzw. eines Adverbialsatzes waren ursprünglich semantisch nicht so verschieden, weil die Relativsätze selber und die adjektivischen Strukturen im Allgemeinen syntaktisch kaum im Hauptsatz integriert waren (§ 4.4), auch wenn sie eine restriktive Funktion hatten, wie es für das Hethitische häufiger der Fall war als für das Vedische. Natürlich ist diese Beziehung zwischen Relativsätzen und Adverbialsätzen nicht in allen alten Sprachen gleich klar. Am deutlichsten erscheint sie im Hethitischen und (in geringerem Maße) im Indoiranischen, in denen, wie gesagt, die angeschlossene Satzverbindung auch am häufigsten bewahrt wird. Die nachgestellte Position des Subordinators geht später in den alten idg. Sprachen unabhängig voneinander verloren, wiederum durch eine Drift in Sapirs Sinne. Die Externalisierung des adverbialen Subordinators, der anders als das Relativpronomen keine syntaktische Funktion im Nebensatz hat, kann dadurch erklärt werden, dass innere Operatoren gewöhnlich als äußere Operatoren interpretiert werden, und dementsprechend können auch ihre Stellungen wechseln (vgl. Foley & Van Valin 1984). Eine solche Externalisierung betrifft auch die Negation und die interrogativen Marker, die ursprünglich viel freier waren, innere Stellungen im Satz zu besetzen, später aber ihren Umfang (scope) auf den ganzen Satz ausdehnten (vgl. §§ 2.3.2.1, 5.2.2). Wir vermuten, dass die Externalisierung des adverbialen Subordinators bei denjenigen Fällen angefangen hat, bei denen der Subordinator nicht vom Relativstamm abgeleitet war. Der in (4.52) erwähnte Text zeigt nach einigen Zeilen einen Temporalsatz, der vom Subordinator GIM-an „ wie, als “ (komplementiertes sumerisches Ideogramm für Heth. mah ˘ h ˘ an oder m ā n) eingeleitet wird, und in diesem Fall kommt die Konjunktion wie erwartet in der ersten Stellung vor: (4.53) GIM-an [(-ma-mu-kán m Úr-h ˘ i- D U-up-pa-a š e-)]ni-i š [(š a-)]an [ Š (A als aber-mir-PTK Urhi-Tesup: NOM wie.oben.gesagt von DINGIR L )] IM a š š u-l[(a-an a-u š -ta na-a š -mu Gottheit Wohlwollen: AKK sehen: PRÄT.IND3SG KONN-er: NOM-mich arš )]a-ni-ya-at beneiden: PRÄT.IND3SG „ Als aber Urhi-Tesup solchermaßen das Wohlwollen der Gottheit mir <gegenüber> sah, da beneidete er mich. “ (Hatt. III 54 - 55; Übersetzung Otten 1981: 21) Die adverbialen Subordinatoren m ā n „ als, wenn, obwohl “ , takku „ wenn “ und mah ˘ h ˘ an „ als “ besetzen regelmässig die erste Stellung, ohne von einem Nominal ins Innere des Satzes versetzt zu werden (vgl. Friedrich 1960: 164- 167; Hoffner & Melchert 2008: 416-423). Also werden Topikalisierungen am 329 <?page no="330"?> wenigsten von denjenigen Subordinatoren zugelassen, die auf eine andere Quelle als das Relativpronomen zurückgehen. 207 Dagegen werden nicht nur der kausale Subordinator kuit „ weil “ , sondern auch der temporale kuwapi „ zur Zeit wo, damals als “ gewöhnlich von einem Nominal in der ersten Stellung ersetzt (Hoffner & Melchert 2008: 417), und sie sind deutlich ersichtlich vom Relativstamm abgeleitete Formen. 208 Interpretierten wir Strukturen wie (4.52) als CP-Extraktionen, so würden wir die Generalisierung verfehlen, dass diese Konstruktionen öfter mit den dem Relativstamm angehörenden adverbialen Subordinatoren vorkommen als mit den anderen, die im Prinzip dieselben Chancen hätten im Inneren des Satzes zu liegen. Diese Generalisierung kann aber erklärt werden, wenn wir annehmen, dass ein k w -Adverbialsubordinator dieselbe Stellung besetzt wie sein entsprechendes Relativpronomen und einem topikalisierten Nominal folgt, genau wie in (determinierten) Relativsätzen. 209 Ich finde es bedeutsam, dass zwei Subordinatoren wie m ā n und kuwapi dieselbe temporale Funktion ausdrücken können und trotzdem verschiedene Stellungen haben: auch das wäre mit der Interpretation der CP-Extraktion nicht erklärt. Wir müssen auch anmerken, dass innerhalb der adverbialen Subordinatoren, die von einer anderen Form als dem Relativpronomen abgeleitet sind, mah ˘ h ˘ an relativ häufiger als m ā n und takku einem Nominal vorausgehen kann. Über mah ˘ h ˘ an schreiben Hoffner & Melchert: „ It usually appears clause-initially but may also be preceded by nu (with any clitics) or by a fronted constituents “ (2008: 417), während sich diese Möglichkeit nicht ergibt oder jedenfalls viel weniger für m ā n und takku. Wie gesagt hat mah ˘ h ˘ an nur die temporale Funktion „ als “ , während takku nur konditional ist und m ā n temporale, konditionale und konzessive Bedeutungen ausdrückt. Dieses unterschiedliche Verhältnis ergibt sich daraus, dass der Wandel vom Relativsatz zum Temporalsatz direkter als der vom Relativsatz zu anderen Adverbialsätzen fortschreitet. Aufgrund der Nähe von Relativsätzen und Temporalsätzen wie auch von Lokalsätzen und Modalsätzen haben 207 Obwohl der Relativstamm etymologisch auch hinter dem Subordinator takku (< *tok w o-) steht, ist er hier mit dem Demonstrativstamm *tóverschmolzen und synchron opak. Vgl. HEG III, 8, 49 - 52. 208 Die Tatsache, dass der Relativizer kuitman „ solange als, während, bis “ am Anfang seines Satzes steht, kann auch dadurch bedingt sein, dass diese Konjunktion zumindest in ihrer Bedeutung „ bis “ dem Hauptsatz folgt. Variation in der Stellung des Subordinators in der ersten oder zweiten Position des Satzes ist besonders bei den Nebensätzen belegt, die vor dem Hauptsatz stehen. 209 „ Determinierte “ (determinate) Relativsätze modifizieren im Hethitischen ein schon bestimmtes Nominal, das regelmäßig vor dem Relativpronomen steht, während das Antezedens eines „ indeterminierten “ (indeterminate) Relativsatzes definitionsgemäß unbestimmt ist. In diesem Fall steht das Relativpronomen in der ersten Stellung, vgl. Held 1957; Friedrich 1960: 169; Hoffner & Melchert 2008: 424-425. 330 <?page no="331"?> Thompson & Longacre (1985) die primären Adverbialsätze von den sekundären unterschieden. Eine solche typologische Unterscheidung ist ebenso für das Hethitische gerechtfertigt, in dem ein temporaler Nebensatz auch von einem Relativsatz dargestellt werden kann, der ein generisches Nomen wie „ Zeit “ (meh ˘ ur), „ Tag “ (UD, Heth. š iwatt-) oder „ Nacht “ (GE 6 , Heth. i š pant-) modifiziert (vgl. Hoffner & Melchert 2008: 418). Es ist nachvollziehbar, dass der ausschließlich temporale Subordinator mah ˘ h ˘ an dem Muster des vom Relativstamm abgeleiteten adverbialen Subordinators kuit und kuwapi relativ besser angepasst ist als die Subordinatoren m ā n und takku, die auch sekundäre adverbiale Beziehungen ausdrücken. 4.5.3 Nicht-finite Strukturen für Ergänzungssätze 4.5.3.1 Anwendung der Complement Deranking Hierarchy auf die idg. Ergänzungssätze Ergänzungssätze werden dem Muster des korrelativen Diptychons später als Adverbialsätze angepasst. Und sogar in denjenigen Sprachen, in denen eine entwickelte Unterordnung zur Verfügung steht, werden sie nicht vollständig ins System der finiten Nebensätze integriert, sondern in unterschiedlicher Weise von nicht-finiten Verbalformen oder von Koordinationsverfahren ausgedrückt (vgl. Viti 2007: 211ff; Lühr 2008). Um die Darstellung der Ergänzungssätze besser zu verstehen, die im Indogermanischen viel heterogener ist als die der Relativsätze und der Adverbialsätze, ist es nützlich, die Complement Deranking Hierarchy miteinzubeziehen, die von Cristofaro (2003: 125) so genannt wurde, und die auch Studien anderer Typologen zusammenfasst (vgl. Givón 1980; Noonan 1985; Ch. Lehmann 1988; Dixon 2006 b). Demzufolge sind nicht alle Ergänzungssätze gleich eng verbunden, obwohl Ergänzungssätze im Vergleich zu Adverbialsätzen im Allgemeinen eine engere Verbindung zu ihrem Hauptsatz voraussetzen. Nach Givón (1980) ist die semantische Verbindung zwischen einem Ergänzungssatz und seinem Hauptsatz locker, zum Ersten wenn die zwei Sätze keine gemeinsamen Argumente haben müssen, zum Zweiten wenn der Referent des Hauptsatzsubjekts keine Kontrolle über die Ausführung der vom Nebensatz beschriebenen Situation hat, und zum Dritten wenn die Zeitreferenz des Nebensatzes von der Bedeutung des Prädikats im Hauptsatz nicht automatisch bedingt ist. Prädikate, die eine Äußerung, eine Kenntnis oder einen Gedanken ausdrücken (predicates of utterance, knowledge, and propositional attitude nach Noonan 1985: 110 ff), stellen semantisch eine lockerere Verbindung zu ihren Nebensätzen her als Prädikate, die eine direkte Wahrnehmung beschreiben (immediate perception predicates). Denn ein verbum dicendi verlangt keine argumentale Koreferenz mit dem Nebensatz, und sein Subjekt hat keinen Einfluss auf die Situation 331 <?page no="332"?> des Nebensatzes oder auf seine Zeitreferenz, z. B. „ ich denke, dass er kommt/ gekommen ist/ kommen wird “ . Dagegen muss das direkte Objekt eines verbum sentiendi auch das Subjekt des Nebensatzes sein, und das Hauptprädikat bedingt Gleichzeitigkeit bezüglich der Situation des Nebensatzes, z. B. „ ich höre ihn singen “ . Es wurde in der Sprachtypologie nachgewiesen, dass die kompletiven Beziehungen, die semantisch mit ihrem Hauptsatz am wenigsten verbunden sind, auch diejenigen sind, die von einem syntaktischen Standpunkt aus die lockere Verknüpfung einer angeschlossenen oder parataktischen Struktur bevorzugen, wobei sowohl die Argumente als auch die Verbalform des Nebensatzes ähnlich wie in einem unabhängigen Satz dargestellt werden (vgl. Ch. Lehmann 1988). Umgekehrt werden die kompletiven Beziehungen, die mit dem Hauptsatz semantisch am stärksten verbunden sind, auch von einer deranked form, d. h. von einer engen syntaktischen Verknüpfung wie der Einbettung, ausgedrückt, wobei das Verb häufig nominalisiert wird und auch die Argumente anders als in einem unabhängigen Satz kodiert werden. Manchmal werden sogar morphologische Verfahren angewendet, bei denen die Bedeutung der zwei Prädikate in einem einzelnen Wort kombiniert wird. Das ist oft der Fall bei den Sprachen mit modalen Prädikaten wie „ können, müssen “ , mit „ phasalen “ (phasal) Prädikaten wie „ beginnen, fortsetzen, aufhören, enden “ , mit desiderativen Prädikaten wie „ wollen, wünschen, hoffen “ und mit „ manipulativen “ (manipulative) Prädikaten wie Dt. tränken zu trinken. So lautet Cristofaros (2003: 125) Complement Deranking Hierarchy: (4.54) Modals, Phasals > Desideratives, Manipulatives > Perception > Knowledge, Propositional attitude, Utterance. Die Prädikate, die auf der linken Seite der Implikationsskala stehen, setzen eine engere semantische Verknüpfung voraus als die auf der rechten Seite. In Viti (2007) haben wir diese Implikationsskala auf die kompletiven Beziehungen des Vedischen angewendet, mit Berücksichtigung auch weiterer Prädikate (z. B. commentative predicates, predicates of fearing, pretence predicates, achievement predicates, S. 224 ff), und dasselbe können wir hier für andere idg. Sprachen durchführen, wenn auch nur in skizzierter Form. Prädikate von Äußerung, Kenntnis und Gedanken, die am Ende der Complement Deranking Hierarchy stehen, sind auch die besten Kandidaten für die lockere Verknüpfung des korrelativen Diptychons oder für die noch lockerere Koordination. Die Funktion der indirekten Rede wird im Indoiranischen, im Hethitischen (4.55) und vermutlich auch im Urindogermanischen meistens durch die direkte Rede wiedergegeben. 332 <?page no="333"?> (4.55) D I Š TAR-ma-mu GA Š AN-YA Ù-a[(t)] nu-mu I š tar-aber-mir Herrin-mein im.Traume.erscheinen: PRÄT3SG KONN-mir Ù-it ki-i me-mi-i š -ta DINGIR LIM -ni-wa-at-ta Traum: INSTR.SG dieses: AKK.N.SG sagen: PRÄT3SG Gottheit: DAT-QUOT-dich am-mu-uk tar-na-ah ˘ -h ˘ i nu-wa le-e na-ah ˘ -ti ich: NOM vertrauen: PRS.IND1SG KONN-QUOT nicht fürchten: IMP2SG „ I š tar aber, meine Herrin, erschien mir im Traume und sagte mir im Traume dieses: « Einer Gottheit vertraue ich dich an, so fürchte dich nicht ». “ (KUB I 1 + I 36 - 38; Übersetzung Otten 1981: 7) Nach einem verbum dicendi (mema- „ sprechen, sagen “ ) wird hier die direkte Rede der Göttin I š tar dem König Hattusilis berichtet. Die Sätze der direkten Rede werden mit der quotativen Partikel - wa(r)markiert, die enklitisch ist und deswegen im Hethitischen in der Kette der satzeinleitenden Partikeln steht. 210 Die spezifische Form der direkten Rede wie auch ihre Stellung ist unterschiedlich in den verschiedenen Sprachen: im Altindischen ist íti die quotative Partikel, die wörtlich „ so, auf diese Weise “ bedeutet (wie ihre etymologisch verwandte Form des Lateinischen ita), die am Ende des Satzes steht. Es ist bedeutsam, dass quasi-parataktische Strukturen wie das ὅτι recitativum für die indirekte Rede sogar in denjenigen Sprachen wie dem Altgriechischen oder dem klassischen Armenisch verwendet werden, die ansonsten ein artikuliertes Subordinationssystem zur Verfügung haben, z. B. bei Eznik von Kolb 1.3: bo ł ok ’ē i et ‘ e c ˇ‘ -em i ar ž ani pa š taw-n ar ˙ nloj „ Er i beteuert, dass ich i nicht würdig bin, Anbetung zu erhalten “ (vgl. Meillet 1913: 139). Hier wird die Rede durch eine subordinierende Konjunktion (et ‘ e) wie in der echten indirekten Rede eingeleitet, aber die Koreferent- Beziehungen sind eher deiktisch (em „ ich bin “ ) als anaphorisch orientiert wie in der direkten Rede. Zu Parallelen aus dem Altindischen siehe (4.35). Anders als die meisten kompletiven Beziehungen können Äußerungs-, Kenntnis- und Gedanken-Prädikate in den „ Inhaltssätzen “ oder „ Explikativsätzen “ des Vedischen auch vom korrelativen Diptychon ausgedrückt werden (Delbrück 1888: 573ff; 1900: 324ff; Renou 1952: § 450; Hettrich 1988: 395-409), wie in (4.56). 210 Das bedeutet nicht, dass die direkte Rede mit - wa(r)die einzige Möglichkeit ist, Sätze in Abhängigkeit von verba dicendi im Hethitischen zu bilden: wie Cotticelli Kurras (1995) ausführlich illustriert, können Substantivsätze sowohl asyndetisch als auch syndetisch mit ihrem Hauptsatz verbunden werden, mit oder ohne Resumptivum, und auch eingebettete kuit-Nebensätze werden dafür benutzt. 333 <?page no="334"?> (4.56) gr ˚ n · é tád indra te ś áva preisen: PRS.IND.MED1SG dieses: AKK.N.SG Indra: VOK von.dir Gewalt(N): AKK.SG upamám· devát ā taye/ yád dhá m ̐ si vr ˚ trám höchst: AKK.N.SG Götterschaft(F): DAT dass erschlagen: PRS.IND2SG Vrtra: AKK ójas ā ś ac ī pate Übermacht(N): INSTR.SG Herr.der.Kraft: VOK „ Ich preise, Indra, diese deine höchste Gewalt, dass Du für die Götterschaft mit Übermacht den Vr ˚ tra erschlägst, Herr der Kraft. “ (RV 8.62.8; Übersetzung Geldner 1951: II, 384) Explikativsätze wie (4.56) können m. E. als Anfangspunkt der Ausdehnung des korrelativen Diptychons auf den Bereich der Ergänzungssätze angesehen werden, weil einerseits der Subordinator yád anders als ein Relativpronomen keine syntaktische Funktion im Nebensatz hat und er andererseits wie ein Relativpronomen koreferent in Genus (Neutrum), Numerus (Singular) und Kasus (Nominativ/ Akkusativ) mit einem Nominal im Hauptsatz übereinstimmt, in diesem Fall mit dem NP tád . . . te ś áva upamám „ diese höchste Gewalt von Dir “ (zu Parallelen in den germanischen Sprachen, vgl. Hopper & Traugott 1993: 185ff; für die alten idg. Sprachen im Allgemeinen Viti 2007: 214ff; Lühr 2008). In den meisten idg. Sprachen aber wird die angeschlossene Struktur des korrelativen Diptychons für die Funktionen der Äußerungs-, Kenntnis- und Gedanken-Prädikate durch eingebettete finite Nebensätze ersetzt, die von einem expliziten Komplementator wie Lat. quod, ut, quin, Altgr. ὅτι , ὡς , Arm. et ‘ e, Altisl. at usw. eingeleitet werden, jedoch kein lexikalisches oder pronominales Resumptivum im Hauptsatz zeigen. In geringerem Maße werden in einigen alten idg. Sprachen auch nichtfinite Nebensätze für Äußerungs-, Kenntnis- und Gedanken-Prädikate verwendet, z. B. im accusativus cum infinitivo (siehe unten), doch werden die syntaktisch enger verbundenen eingebetteten Strukturen normalerweise denjenigen kompletiven Beziehungen zugewiesen, die auch semantisch eine höhere Integration von Haupt- und Nebensatz voraussetzen, also modalen, phasalen, desiderativen und manipulativen Prädikaten, für die auch die morphologischen Ressourcen im Idg. verwendet werden. Modalprädikate wurden im Urindogermanischen durch die flexionellen Verfahren der Modi anders als der Indikativ ausgedrückt, und diese Situation wird im Vedischen und Altgriechischen bewahrt (§ 2.3.2.4). Phasale, desiderative und manipulative Prädikate benutzten eher die Ableitung. Spezifische Suffixe wurden für Kausative verwendet, die den „ implikativen Manipulativen “ (Noonan 1985) entsprechen, z. B. Skr. p ā t-áya-ti „ er lässt fliegen “ zu pátati „ er fliegt “ , Altgr. φορέω „ ich lasse tragen “ zu φέρω „ ich trage “ , Lat. moneo „ ich erinnere, ermahne “ zu memini „ ich erinnere mich “ ; „ nicht-implikative “ Manipulative wie „ befehlen, aufzwingen, überzeugen, 334 <?page no="335"?> fragen “ wählten hingegen nicht-finite Formen des Nebensatzes. Suffixe konnten auch bei desiderativen Prädikaten vorkommen, z. B. Skr. dí-d ā -sa-ti „ er will geben “ zu dád ā ti „ er gibt “ , während phasale Prädikate, die weniger grammatikalisiert sind, in einigen Sprachen aspektuelle Präfixe bevorzugen, z. B. Lat. ad-vesperat „ es wird Abend “ , de-bello „ bis zum Ende kämpfen, den Krieg enden “ . Der formale Ausdruck einer gewissen kompletiven Beziehung hängt also in den alten idg. Sprachen auch von der Verfügbarkeit morphologischer Verfahren oder Konfigurationen ab. Diejenigen alten idg. Sprachen, in denen die uridg. Morphologie weniger erhalten ist als im Vedischen oder Altgriechischen, bevorzugen periphrastische Konstruktionen mit Infinitiv oder Partizip für modale, desiderative, manipulative und phasale Prädikate. Eine Periphrase mit dem Hilfsverb láta „ lassen “ und dem Infinitiv wird im Altisländischen für die kausative Funktion gebraucht. Am Anfang des Íslendingabók, wo er die Besiedlung Islands (Íslands byggð) beschreibt, sagt Ari þorgilsson: Er Ívarr, Ragnarssonr loðbrókar, lét drepa Eadmund inn helga Englakonung „ Als Ivar, Sohn von Ragnar mit den zottigen Hosen, den heiligen Edmund, den König der Engländer töten liess “ . Der periphrastische Kausativ lét drepa „ er liess töten “ ist eine Neuerung in Bezug auf das Urindogermanische, aber dem Gebrauch analytischer oder synthetischer Kontruktionen für die Kausative des Altisländischen liegen dieselben Prinzipien der Complement Deranking Hierarchy in (4.54) zugrunde, wobei gilt: wenn eine Sprache eine syntaktisch integrierte Struktur für eine Position der Implikationsskala benutzt, dann wird sie auch für alle Positionen auf ihrer linken Seite benutzt. Denn das Altisländische gebraucht ein Hilfsverb mit Infinitiv auch bei desiderativen und modalen Prädikaten, aber nicht so häufig bei Äußerungs-, Kenntnis- und Gedanken-Prädikaten, die rechts in der Implikationsskala stehen. Die letzteren können in dieser Sprache auch von finiten Nebensätzen ausgedrückt werden, wie wir am folgenden Beispiel sehen, nochmals aus dem Libellus Islandorum entnommen. Mit einem sehr freien Gebrauch der impliziten anaphorischen Verfahren, nach denen der Wechsel des Subjekts aus dem globalen Kontext erschlossen werden muss, wird hier erzählt, dass einige Christen, die vorher Island besucht hatten, später wegfuhren, und nur aufgrund der Sachen, die sie hinterlassen hatten, konnten die einheimischen Völker ihre Identität bestimmen. (4.57) en þeir fóru síðan á braut, af því at aber sie: NOM.M.PL fahren: PRÄT.IND3PL später an Weg(F): AKK.SG weil þeir vildu eigi vera hér við heiðna sie: NOM.M.PL wollen: PRÄT.IND3PL nicht sein: IF hier mit heidnisch: AKK.M.PL menn, ok létu eftir bækr írskar Mann(M): AKK.PL und lassen: PRÄT.IND3PL hinten Buch(F): AKK.PL irisch: AKK.F.PL 335 <?page no="336"?> ok bjöllur ok bagla. Af því und Glocke(F): AKK.PL und Bischofsstab(M): AKK.PL in dieser: DAT.N.SG mátti skilja, at þeir váru können: PRÄT.IND3PL unterscheiden: IF dass sie: NOM.M.PL sein: IPF.IND3PL menn írskir Mann(M): NOM.PL irisch: NOM.M.PL „ Sie aber fuhren später ihres Weges, weil sie mit heidnischen Leuten nicht hier sein wollten, und sie hinterließen irische Bücher, Glocken und Bischofsstäbe. Auf diese Weise konnten sie bestimmen, dass sie irische Männer waren. “ (Ari þorgilsson, Íslendingabók 1) Mit dem desiderativen Prädikat vilja „ wollen “ und mit dem modalen Prädikat mega „ können “ , die in der Complement Deranking Hierarchy hoch oben rangieren, wird die Einbettung mit einem Infinitiv gebraucht. Dagegen verlangt ein propositional attitude predicate wie skilja „ unterscheiden, bestimmen “ den syntaktisch lockeren Nebensatz mit einem einleitenden Komplementator at „ dass “ und einem finiten Verb. Die Situation des Altisländischen, in dem modale, desiderative und manipulative Prädikate durch analytische Konstruktionen mit einem Hilfsverb und einem Infinitiv ausgedrückt werden, während Äußerungs-, Kenntnis- und Gedanken- Prädikate häufiger finite eingebettete Nebensätze mit Komplementator auswählen, ist schon ein Anzeichen für die Kodierung der kompletiven Beziehungen in den modernen Sprachen Europas. Dagegen spiegelt der für das Indoiranische typische Gebrauch von synthetischen Formen für modale, desiderative und manipulative Prädikate sowie des korrelativen Diptychons oder der Koordination für Äußerungs-, Kenntnis- und Gedanken- Prädikate am besten die Situation des Urindogermanischen wider, das reich an morphologischen Ressourcen war, aber arm an geschlossenen Kategorien, wie wir in Kapitel II gesehen haben. Alle alten idg. Sprachen folgen jedenfalls der sprachübergreifend üblichen ikonischen Entsprechung zwischen semantischer und syntaktischer Integration bei Ergänzungssätzen. Prädikate direkter Wahrnehmung sind m. E. diejenigen, bei denen wir in den alten idg. Sprachen die größte Übereinstimmung in der Darstellung der kompletiven Beziehungen finden: Verben wie „ hören “ oder „ sehen “ verlangen in vielen Sprachen infinitive, partizipiale oder gerundiale Konstruktionen. Wie an (4.58) deutlich wird, ist der Satz „ ich sehe dich laufen “ in verschiedenen alten idg. Sprachen syntaktisch gleich (über die verschiedenen Fügungen des Hethitischen in Abhängigkeit von verba sentiendi vgl. Cotticelli Kurras 1995): (4.58 a) Sanskrit: pa ś y ā mi tv ā dravantam (PTZ) (4.58 b) Altgriechisch: ὁράω σε τρέχοντα (PTZ) (4.58 c) Latein: video te currentem (PTZ) 336 <?page no="337"?> (4.58 d) Altisländisch: sé þik hlaupa (IF) (4.58 e) Litauisch: matau tave b ė gant į (PTZ) / matau tave b ė gant (GER) Das Partizip hat mehr Chancen als Infinitiv und Gerundium, die ursprüngliche Kodierung des Ergänzungssatzes mit Prädikaten der direkten Wahrnehmung im Urindogermanischen zu sein, weil für Infinitive und Gerundien andere Funktionen häufiger belegt sind. Der Infinitiv war im Urindogermanischen ein Verbalnomen mit der Funktion des Zweckes, wie wir im Vedischen noch sehen können: véti stótava ambyàm “ es (sc. das Kalb) verlangt seine Mutter zu preisen “ (RV 8.72.5); hier ist der Infinitiv stótave eigentlich eine Dativ-Form aus der Wurzel stu „ preisen “ und drückt die Funktion eines Adjunkts aus, die eher einem Finalsatz als einem Ergänzungssatz entspricht. Der Gebrauch des Infinitivs bei Prädikaten direkter Wahrnehmung, den man im Altisländischen beobachtet (4.58 d), ist wahrscheinlich eine Neuerung, die nur entstehen kann, wenn der Infinitiv seine ursprüngliche Semantik der Absicht verloren hat und auf viele andere kompletive Beziehungen generalisiert wird. Ähnlich hat wahrscheinlich das Litauische seinen Gebrauch des Gerundiums (oder „ nicht-kongruierenden Partizips “ , non-agreeing participle, nach Arkadiev 2012) erneuert, weil das Gerundium im Urindogermanischen typischerweise ein Adjunkt mit einer temporalen Funktion war, was wiederum im frühen Vedischen ersichtlich ist. Tatsächlich gebraucht das Litauische neben dem Gerundium auch das Partizip mit einem Verb direkter Wahrnehmung wie matyti „ sehen “ oder gird ė ti „ hören “ : in (4.58 e) haben wir einerseits das Präsenspartizip b ė gant į „ laufend “ , das im Akkusativ-Kasus mit dem direkten Objekt tave kongruiert, und andererseits das Gerundium b ė gant ohne Kongruenz. Der Unterschied zwischen diesen beiden Strukturen ist subtil und schwierig festzumachen: nach Arkadiev (p. K.) ist das kongruierende Partizip in seiner Verteilung beschränkter und spezialisiert für Ereignisse, die gleichzeitig mit der Situation eines Hauptverbs direkter Wahrnehmung sind, wie eben in (4.58), während Gerundien auch auf viele weitere Prädikate ausgedehnt werden. In anderen idg. Sprachen können die unterschiedlichen nicht-finiten Verbalformen der Prädikate direkter Wahrnehmung vom Register abhängen. So belegt das Lateinische bei solchen Verben neben der Standardform mit Partizip auch den accusativus cum infinitivo (video te currere), besonders in der volkstümlichen Literatur (vgl. Ernout & Thomas 1953: 283). Nach den oben erwähnten Kriterien der Argument-Koreferenz und Bestimmung der Zeitreferenz setzen Prädikate direkter Wahrnehmung eine semantische Beziehung voraus, die einerseits enger als bei Äußerungs- , Kenntnis- und Gedanken-Prädikaten ist und andererseits lockerer als bei modalen, phasalen, desiderativen und manipulativen Prädikaten. Und demzufolge liegen sie ungefähr in der Mitte der Complement Deranking 337 <?page no="338"?> Hierarchy in (4.54). Die Tatsache, dass Prädikate direkter Wahrnehmung mit ihren nicht-finiten Konstruktionen des Partizips (und marginal des Infinitivs und des Gerundiums) in den alten idg. Sprachen jedenfalls eine homogenere Darstellung als die der anderen kompletiven Beziehungen haben, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass das Zentrum eines funktionellen Bereichs dem syntaktischen Wandel am meisten widersteht. 4.5.3.2 Entwickung der Einbettung bei den Ergänzungssätzen der klassischen Sprachen Der Wandel der Ergänzungssätze geht in Richtung einer zunehmenden Einbettung, und ein typisches Beispiel dafür ist der accusativus cum infinitivo, der im Altgriechischen und noch mehr im Lateinischen und im Altisländischen ausgiebig belegt ist (vgl. Faarlund 2004: 151ff; Nedoma 2006: 125-26; Barnes 2008: 236-40). Im accusativus cum infinitivo ist der Infinitiv-Satz eine Konstituente des Hauptsatzes, und die enge Verbindung zwischen beiden Sätzen zeigt sich daran, dass das Subjekt des Infinitivs nicht den Nominativ bekommt, wie man in einem unabhängigen Satz erwarten würde, sondern den Akkusativ, d. h. den vom Hauptsatz bedingten Kasus, z. B. Scandilius rem se totam relicturum dicit et suo tempore esse rediturum „ Scandilius erklärt, er wolle die ganze Sache aufgeben und sich zu gelegener Zeit wieder einfinden. “ (Cic. Ver. 2. 3. 139; Übersetzung Fuhrmann 1995: II, 159) Der accusativus cum infinitivo besteht jedoch nicht im Indoiranischen und Hethitischen als produktive, grammatikalisierte Struktur, und er kann für das Urindogermanische nicht rekonstruiert werden (vgl. Friedrich 1960: 143; Hettrich 1992; 1997; Lühr 1993). Denn der Ursprung des Akkusativs mit einem Infinitiv lässt sich meistens als eine proleptische Struktur interpretieren, wobei der Akkusativ das direkte Objekt des Hauptverbs sein kann, wie in der Stelle αὐτόν δ’ οὐ σάφα οἶδα , πόθεν γένος εὐχεται εἶναι in (4.21), in der wir ursprünglich keine Hebung haben. Die Tatsache, dass das Lateinische, Altisländische und Altgriechische die eng integrierende Struktur des accusativo cum infinitivo sogar mit Äußerungs-, Kenntnis- und Gedanken-Prädikaten benutzen können, die ganz rechts in der Complement Deranking Hierarchy (4.54) stehen, zeigt die ausgeprägte Einbettung dieser Sprachen. Insbesondere das Altgriechische und das Lateinische scheinen mir innerhalb der alten idg. Sprachen diejenigen zu sein, die in der Entwicklung der Einbettung im Bereich der Ergänzungssätze am weitesten fortgeschritten sind (über die bloß syntaktische Auffassung von Termini wie „ Entwicklung “ und „ fortgeschritten “ , die hier keine qualitative Einschätzung voraussetzen, siehe § 7.3). Da das korrelative Diptychon vom Urindogermanischen ererbt ist, müssen wir natürlich erwarten, dass es auch in diesen Sprachen vorkommt, 338 <?page no="339"?> besonders auf ihren frühesten Stufen oder in konservativen Registern, z. B. Qui ager frigidior et macrior erit, ibi oleam Licinianam seri oportet „ Ist der Boden dafür zu kalt und zu mager, sollte dort die Licinianische Olive gepflanzt werden. “ (Cato, Agr. 8.2; Übersetzung Flach 2005: 112) Auch im klassischen Latein sind korrelative Strukturen wie ita . . . ut „ so . . . wie “ , tantus . . . quantus „ so groß . . . wie “ , totiens . . . quotiens „ sooft . . . wie “ üblich, wenn der Sprecher eine Parallele oder eine Symmetrie zwischen zwei Situationen ausdrücken möchte. Ansonsten aber werden eingebettete finite Nebensätze ohne Resumptivum im Hauptsatz bevorzugt oder die noch enger verknüpften infinitiven und (vor allem im Altgriechischen) partizipialen Konstruktionen. Wenn man einen kontinuierlichen Text des Hethitischen oder Vedischen mit einem des Lateinischen, Altgriechischen oder Altisländischen vergleicht, wird klar, dass die ersteren einen viel breiteren Gebrauch der angeschlossenen Strukturen haben als die letzteren. Es ist hier auch anzumerken, dass die kompletiven Beziehungen in den beiden klassischen Sprachen nicht immer gleich dargestellt werden, wobei z. B. der accusativus cum infinitivo im Lateinischen produktiver ist als im Altgriechischen, welches hingegen den nominativus cum infinitivo mehr als das Lateinische benutzt. Clackson & Horrocks (2008: 194 - 197) interpretieren den Gebrauch des nominativus cum infinitivo im Lateinischen, wie auch den des nominativus cum participio nach Prädikaten der Wahrnehmung und des Kenntniserwerbs, als Nachahmung des griechischen Vorbilds ( „ We should also note here the occasional use of a very un-Latin construction in overtly Hellenizing contexts, namely the so-called ‚ nominative and infinitive ‘ with verbs of ‚ saying ‘ and ‚ thinking ‘ when the subject of the main verb and the subject of the infinitive are coreferential. [. . .] But normal Latin always uses the accusative and infinitive construction “ , S. 196). Obwohl einzelne subordinierende Konstruktionen für eine Nachahmung des Altgriechischen gehalten werden können, ist der fortgeschrittene Gebrauch der eingebetteten Unterordnung ein genuin lateinisches Phänomen, das bereits in den ältesten Urkunden belegt ist. Wie schon von Meillet (1928: 66-67) beobachtet, hat das Lateinische einige Verwendungen der Unterordnung in der indirekten Rede mit den sabellischen Sprachen gemeinsam. Die Beziehungen zwischen inneren und äußeren Faktoren können in Bezug auf diese Unterordnung darin bestehen, dass einerseits die allgemeine Gestaltung der Einbettung für das Lateinische ursprünglich ist, andererseits aber ihre Ressourcen vorwiegend in jenen Texten genutzt werden, die sich dem griechischen Vorbild am meisten annähern oder einen hohen Stil bevorzugen, z. B. in der rhetorischen Tradition. Es ist also ein weiteres Beispiel für contact-induced grammaticalization. Die große Neuerung, die das Lateinische und das Altgriechische unabhängig voneinander entwickeln, und die deswegen in den Details beider Sprachen nicht übereinstimmt, ist die Entwicklung eines Systems 339 <?page no="340"?> von Kongruenz in Tempus oder Modus zwischen dem Verb des Hauptsatzes und dem des Nebensatzes. Der artikulierte Gebrauch der consecutio temporum vel modorum, der im klassischen Latein erscheint, hat keine Parallele zur Satzverknüpfung der anderen alten idg. Sprachen, in denen er auch heute selten ist. Z. B. haben die baltischen Sprachen keine consecutio (vgl. Senn 1966: 484 ff). Dasselbe gilt für das Hethitische, in dem der Tempuswechsel zwischen Hauptsatz und Nebensatz pragmatisch bedingt ist. Cotticelli Kurras (2001) zeigt, dass, wenn der Hauptsatz ein Präteritum und der Nebensatz ein praesens historicum haben, das letztere die bloße Handlung ausdrückt, ohne Rücksicht auf temporale oder aspektuelle Angaben, und eine Strategie von „ Aufmerksamkeitslenkung “ ist, um Informationen in den Vordergrund zu stellen. Die lateinische consecutio hingegen setzt eine enge syntaktische Verbindung von Hauptsatz und Nebensatz voraus, nach der das Verb des Nebensatzes vom Verb des Hauptsatzes und auch vom Subordinator abhängt (Bodelot 2003: 486ff; Utard 2004). Im Altgriechischen haben wir den optativus obliquus, bei dem das Verb des Nebensatzes in den Modus Optativ flektiert werden kann, wenn der Hauptsatz ein Vergangenheitstempus hat wie in (4.59), vgl. Humbert (1972: 171 ff); Duhoux (2000: 231 ff). (4.59) ὥστε καὶ ἐλέχθη ὑπ’ αὐτῶν ὡς οἱ Πελοποννήσιοι φάρμακα ἐσβεβλήκοιεν ἐς τὰ φρέατα „ weshalb auch die Meinung aufkam, die Peloponnesier hätten Gift in die Brunnen geworfen “ (Thuk. 2.48.2; Übersetzung Landmann 2002: 188) Weil das Verb des Hauptsatzes den passiven Aorist Indikativ ἐλέχθη „ er wurde gesagt “ hat, bekommt das Verb des Nebensatzes die Optativ- Kodierung ἐσβεβλήκοιεν statt des erwarteten Indikativs ἐσβεβλήκασι . Dieser Vorgang wird besonders in der indirekten Rede benutzt, um eine Distanzstellung zur berichteten Aussage auszudrücken, ähnlich dem Konjunktiv I des Deutschen. Der Gebrauch des optativus obliquus ist aber im homerischen Griechisch noch nicht grammatikalisiert (Chantraine 1953: 223). Selbst im klassischen Griechisch, in dem er produktiv ist, wird der optativus obliquus nicht so streng beachtet, d. h. man kann auch den entsprechenden Indikativ oder Konjunktiv verwenden (Schwyzer 1950: 333). Eine ähnliche Art von optativus obliquus ist im Tocharischen belegt (vgl. Pinault 2008: 571). Die innovative Unterordnung im klassischen Griechisch und klassischen Latein kann man ebenfalls daran erkennen, dass in diesen Sprachen auch die nicht-finiten Formen des Verbs im Verbalsystem gut integriert sind. Dagegen wird der Infinitiv konservativer Sprachen wie des Indoiranischen (vgl. Renou 1952: 359 ff) und des Keltischen (Gagnepain 1963; Gippert 1997; Ziegler 1997) durch keinen Unterschied in Tempus, Modus und Diathese charakterisiert. Das ist besonders offensichtlich im Kelti- 340 <?page no="341"?> schen, bei dem das direkte Objekt eines Infinitivs immer im Genitiv statt im Akkusativ flektiert wird, also auf dieselbe Weise wie die Ergänzung eines Nomens. Stüber (2009) behauptet, innerhalb der zahlreichen Verbalnomina des Altirischen könne gar nur eine einzige Konstruktion, die do-Struktur, die Funktion eines echten Infinitivs ausdrücken. Im Indoiranischen ist die Verteilung des Infinitivs zwar konservativ, aber fortgeschrittener als im Irischen, weil man sowohl Genitivals auch Akkusativ-Ergänzungen findet; denn der Akkusativ ist regelmäßig ein Beweis verbaler Syntax (vgl. Viti 2007: 152 ff). Aber auch außerhalb des Bereichs der Ergänzungssätze können wir die enge Verknüpfung der lateinischen und altgriechischen Unterordnung feststellen. Erstens können einige Subordinatoren in diesen Sprachen einen bestimmten Modus verlangen, um eine subordinierende Beziehung auszudrücken, z. B. wählt die Konjunktion ut im Lateinischen den Indikativ für die modale Funktion und den Konjunktiv für die finale oder die konsekutive. Im korrelativen Diptychon hingegen bedingen weder der Subordinator noch das Verb des Hauptsatzes die Form des Verbs im Nebensatz, was die schwache Verbindung von Hauptsatz und Nebensatz bei dieser Struktur bezeugt - das bedeutet nicht, dass gewisse subordinierende Konjunktionen nicht ein Tempus oder einen Modus bevorzugen können, wie Hettrich (1988) illustriert. Zweitens können das Lateinische und Altgriechische zahlreiche subordinierende Beziehungen ausdrücken, die in anderen idg. Sprachen nicht immer mit spezifischen Subordinatoren ausgedrückt werden. Im Hethitischen bestehen keine konsekutiven und finalen Nebensätze (Friedrich 1960: 163). Das kann eine Darstellung der in typologischen Studien anerkannten semantischen Markiertheit ihrer subordinierenden Beziehungen sein (vgl. Kortmann 1997). Denn Nebensätze werden normalerweise gebraucht, um den Rahmen oder Hintergrund der vom Hauptsatz bezeichneten Situation auszudrücken, und diese Funktion erscheint weniger natürlich in denjenigen Nebensätzen, die ein noch nicht geschehenes Ereignis in Bezug auf den Hauptsatz bezeichnen. Das ist mit der Abwesenheit des Futurs im Urindogermanischen konsistent: man spricht häufiger über schon geschehene Ereignisse als über zukünftige oder hypothetische (bzw. nur vorgestellte), und häufigere Ausdrücke etablieren sich besser als seltenere. Semantische Markiertheit wird auch den bevor-Sätzen zugewiesen, die eine Situation bezeichnen, die zur Zeit des Hauptsatzsituation noch nicht stattgefunden hat, und deswegen für begrifflich komplizierter als nachdem-Sätze gehalten werden (vgl. Thompson & Longacre 1985). Im Vedischen existieren keine grammatikalisierten Verfahren für bevor-Sätze, und Funktionen einer späteren Zeitreferenz im Vergleich zu der des Hauptsatzes müssen aus dem Kontext erschlossen werden. Der Subordinator y ā vat na, der im klassischen Sanskrit bevor-Sätze einleitet, ist poly- 341 <?page no="342"?> rhematisch und synchron transparent: er besteht aus der Negation und aus y ā vat „ solange “ , dem Marker von simultaneity co-extensiveness nach Kortmanns Terminologie (1997: 182), und bedeutet wörtlich „ one action happened, as long as the other did not happen “ (Speyer 1886: § 477). Eine subordinierende Struktur scheint also häufiger für diejenigen Beziehungen zu fehlen, die die semantischen markierten Komponenten von Negation (wie bei bevor-Sätzen) oder von Zukünftigkeit (wie bei Konsekutiv- oder Finalsätzen) enthalten. In den entwickelten Systemen der Unterordnung des Lateinischen und des Altgriechischen hingegen finden auch diese semantisch markierten subordinierenden Beziehungen einen expliziten Ausdruck. Eine besonders markierte Struktur ist die des Lateinischen cum inversum, wo eine in den Vordergrund gestellte Situation von einem adverbialen Nebensatz anstatt von einem Hauptsatz bezeichnet wird (z. B. dies nondum decem intercesserant, cum ille alter filius infans necatur „ zehn Tage waren noch nicht vorbei, als ihr anderer Sohn, noch ein Kind, getötet wurde “ , Cic. Pro Clu. 9). Diese Form ist eine Seltenheit innerhalb der alten idg. Sprachen. Das cum inversum ist auch unüblich im Altlateinischen, wo es noch zahlreiche Verstöße gegen die Kongruenz der Tempora gibt. Dort ist es besonders in den narrativen Texten des klassischen Lateins verbreitet. Bedeutsamerweise haben andere Sprachen wie das Hethitische die passenden Kontexte der Erzählung für den Gebrauch dieser Struktur, aber sie verwenden sie nicht, und das ist ein Hinweis darauf, dass das Vorkommen des cum inversum nicht einfach nur eine Frage der Gattung ist, sondern vielmehr der Grammatik (vgl. Viti 2013). Eine Bestätigung dafür, dass das Lateinische und Altgriechische sich von der uridg. Satzverbindung weit entfernt haben, besteht darin, dass das Asyndeton, das in syntaktisch konservativen Sprachen wie im Indoiranischen und Hethitischen verbreitet ist, in den klassischen Sprachen dagegen reduziert ist und nur aus künstlerischen Gründen benutzt wird. Im Altgriechischen kann die asyndetische Parataxis in Kontexten von πάθος verwendet werden (Humbert 1972: 87), und tatsächlich ist „ the great master of asyndeton [. . .] Demosthenes, who derives more of his characteristic force and intensity from this device than from any other “ (Denniston 1996: 99). Das bedeutet, dass das Asyndeton seine natürliche Verwendung zugunsten der expliziten und eingebetteten Satzverbindung in der Sprache verloren hat. Die enge Satzverbindung unserer modernen idg. Sprachen und generell des Standard Average European sind deshalb das Ergebnis einer langen Entwicklung, die schon im Altgriechischen und Lateinischen begonnen hat, wobei ein Wandel in die Richtung eines immer engeren Nexus rekonstruiert werden kann. Das bedeutet nicht, dass Nebensätze immer von Koordinaten oder unabhängigen Sätzen abstammen; Harris & Campbell (1995: 151 ff) identifizieren in verschiedenen Sprachfamilien auch andere Ursprünge für 342 <?page no="343"?> Unterordnung. Auch im idg. Bereich ist die Koordination nicht die einzige Quelle, woraus Nebensätze entstehen, wie Axel (2007) in Bezug auf das Althochdeutsche nachgewiesen hat. Jedenfalls ist bei den alten idg. Sprachen die Entwicklung von angeschlossenen zu eingebetteten Strukturen meistens belegt. Eine Sprache kann die alte angeschlossene Verknüpfung bewahren, wie im Fall der neuindischen Sprachen, wo die ursprüngliche gespaltene Konstruktion des Diptychons mit pronominalem Resumptivum noch erhalten ist (natürlich mit einigen syntaktischen Unterschieden, vgl. Davison 2009). Aber wenn ein Wandel in der Satzverbindung stattfindet, geht er normalerweise in Richtung der syntaktischen Integration. Das ist auch sprachübergreifend die bevorzugte Tendenz: „ Expansion is a ubiquitous mechanism, but it appears to be crosslinguistically less widespread than integration, whereby two independent sentences, or events, are conflated into one sentence and one of the two turns into a subordinate clause of the other “ (Heine & Kuteva 2007: 224). Angesichts einer solch ausgeprägten Richtung kann man sich fragen, warum eine so integrierende Struktur wie der accusativus cum infinitivo verfällt. Ein Grund dafür könnte der implizite Charakter dieser Struktur sein. Nicht-finite Strukturen ergeben eine implizite Information, während die Information in finiten Verben explizit ausgedrückt wird. Es wurde in der Sprachtypologie dargelegt, dass der Wandel in der Satzverbindung nicht nur von locker zu eng schreitet, sondern auch von implizit zu explizit (vgl. Bossong 1979). Der Verfall des accusativus cum infinitivo ist daher konsistent mit dem Verfall der Ausdrucksmöglichkeiten des in absoluten Strukturen vorkommenden Partizips. Außerdem steht der Verfall der nichtfiniten Strukturen im Zusammenhang mit dem der Null-Anaphora, die ebenfalls eine implizite Information voraussetzt und im Laufe der Zeit von expliziten obligatorischen Pronominalformen ersetzt wird. 4.5.4 Absolute Konstruktionen 4.5.4.1 Ursprung der absoluten Konstruktionen Während der Verfall der absoluten Konstruktionen in der Entwicklung von den alten zu vielen modernen idg. Sprachen mit dem Ersatz impliziter durch explizite Strukturen einhergeht, ist deren Entstehung im alten Indogermanisch nicht so einfach zu verstehen. Absolute Konstruktionen scheinen eine Ausnahme zu sein bei der Richtung des Wandels von einer lockeren zu einer engeren Satzverbindung, indem sie syntaktische Konstituenten vertreten, die vom Satz einen immer unabhängigeren Status erreichen. So schreibt Delbrück: „ Bald geht das ursprüngliche grammatische Abhängigkeitsverhältnis für das Gefühl des Sprechenden ganz verloren, das Partizipium nebst Kasus kann jedem beliebigen Satz angefügt 343 <?page no="344"?> werden, und so ist eine Ausdrucksform für eine Nebenhandlung gewonnen, welche nicht zu dem Satzsubjekt in Beziehung steht “ (1897: 494), was der Name absolutus, Altgr. ἀπολελυμένος beschreibt. Der Ursprung der absoluten Konstruktionen erfordert deshalb eine Erklärung, und tatsächlich haben diese Strukturen auch neuerdings eine Debatte angeregt, vgl. Keydana (1997); Maiocco (2005); Dewey & Syed (2009); Collins (2011); Ruppel (2013). Absolute Konstruktionen bestehen aus zwei Nominalen, die Kongruenz in Genus, Numerus und Kasus zeigen; das erste ist ein obliques Nomen oder Pronomen, das zweite ist ein obliques Nomen, Adjektiv oder Partizip. Die beiden können nicht mit dem Subjekt des Hauptsatzes koreferent sein, z. B. Lat. Mario imperatore equites pugnarunt „ Mit Marius als General kämpften die Reiter “ . Nach den meisten Junggrammatikern existierten sie im Urindogermanischen nicht, sondern seien eine spätere monoglottische Neuerung: „ Die absoluten Partizipialkonstruktionen sind zwar für die Urzeit nicht anzunehmen “ (Delbrück 1897: 493 - 94); „ Die absoluten Partizipialkonstruktionen sind einzelsprachliche Entwicklungsergebnisse “ (Brugmann 1904: 609). Der Grund solcher Behauptungen ist die Inkongruenz zwischen den obliquen Kasus, die in verschiedenen Sprachen für absolute Strukturen benutzt werden und nicht auf eine Einheit zurückgeführt werden können: man hat den Lokativ im Indoiranischen (4.60), den Genitiv im Altgriechischen (4.61), den Ablativ im Lateinischen (4.62), im klassischen Armenisch und im Tocharischen, den Dativ im Germanischen, im Baltischen (4.63) und im Slawischen. Das Hethitische hat keine absolute Struktur, wahrscheinlich wegen seiner Armut an partizipialen Formen (auch die wenigen in der Literatur angeführten Beispiele für einen hethitischen genetivus absolutus und nominativus absolutus sind nach Keydana 1997: 285-89 „ nicht stichhaltig “ ). (4.60) sárasvat ī m ̣ devayánto havante Sarasvat ī (F): AKK gottverlangend: NOM.M.PL anrufen: PRS.IND3PL sárasvat ī m adhvaré t ā yám ā ne Sarasvat ī (F): AKK heilige.Handlung(M): LOK.SG vollzogen: LOC.M.SG „ Sarasvat ī rufen die Gottverlangenden an, die Sarasvat ī , während die heilige Handlung vollzogen wird. “ (RV 10.17.7ab; Übersetzung Geldner 1951: III, 150 - 51) (4.61) οὔ τις ἐμεῦ ζῶντος καὶ ἐπὶ χθονὶ δερκομένοιο σοὶ κοίλῃς παρὰ νηυσὶ βαρείας χεῖρας ἐποίσει „ Keiner, solang ich leb und das Licht auf Erden noch schaue, soll bei den räumigen Schiffen mit frevelnder Hand dich berühren. “ (Hom. Il. 1.88-89; Übersetzung Voß 1943 a: 5) 344 <?page no="345"?> (4.62) omnium autem rerum natura cognita levamur superstitione „ Wenn wir außerdem die Natur aller Dinge durchschaut haben, werden wir befreit vom Aberglauben. “ (Cic. Fin. 1.63; Übersetzung Gigon & Straume- Zimmermann 1988: 59) (4.63) jam bezaydziantiam gryzo atgalos isz dangaus him spielend: PTZ.PRS.DAT.M.SG zurückkommen: PRÄT3SG zurück von Himmel(M): GEN.SG anoy strela jene: NOM.F.SG Pfeil(F): NOM.SG „ Während er am Spielen war, kam jener Pfeil ihm vom Himmel zurück. “ (Contiones Litvanicae, Schmalstieg 1987: 124) Die einzelsprachliche Entwicklung der absoluten Konstruktionen wurde aber schon von Wackernagel (1926: 292-294) in Zweifel gezogen mit der Begründung, dass diese Strukturen seit den ältesten Texten des Lateinischen, Altgriechischen und Vedischen etabliert sind. Außerdem hat das Lateinische den ablativus absolutus mit den sabellischen Sprachen gemeinsam, was für einen vorlateinischen Gebrauch spricht. Nach Wackernagel „ hat man gar keinen Grund, sie der urindogermanischen Zeit abzusprechen. “ (S. 292) Auch in jüngerer Zeit wurde für den Ursprung der absoluten Strukturen, zumindest in einigen ihrer Verwendungen, im Urindogermanischen plädiert, u. a. bei Holland (1986), Krisch (1988), Frauzel (1998), Bauer (2000), Ruppel (2013). Bauer (2000: 261 ff) betrachtet diese Strukturen als Relikt der Ursprache aufgrund zweier wesentlicher Beweise: erstens verwenden die verschiedenen alten idg. Sprachen nicht nur einen, sondern mehrere oblique Kasus für ihre absolute Struktur; so hat das Altindische neben dem üblichen locativus absolutus auch einen weniger häufigen genetivus absolutus; das Altgriechische hat neben seinem unmarkierten genetivus absolutus auch seltener einen accusativus absolutus (normalerweise mit ὡς ) und einen nominativus absolutus; das Lateinische entwickelt neben dem typischen ablativus absolutus auch Formen von genetivus absolutus und (später) von accusativus absolutus und nominativus absolutus; ein marginaler Gebrauch des accusativus absolutus und des nominativus absolutus wurde auch im Litauischen neben seinem typischen dativus absolutus nachgewiesen (vgl. Speyer 1886: 284ff; 1896: 63-64; Delbrück 1888: 386ff; Schwyzer 1950: 397ff; Renou 1952: 355; Hofmann & Szantyr 1965: 142ff; Senn 1966: 480; Vaillant 1977: 90-91; Helttula 1987; Schmalstieg 1987: 92ff; 122ff; Coleman 1989; G ā ters 1993: 129-130; Serbat 1996: 243-44; Gasparov 2001: § 18.3; Ziegler 2002; Hristova 2004). Auch wenn also die verschiedenen alten idg. Sprachen im obliquen Kasus ihrer primären absoluten Struktur nicht übereinstimmen, können sie in ihren sekundären absoluten Strukturen durchaus ähnlich sein. Zweitens sieht Bauer (2000) absolute Strukturen als eine Darstellung der uridg. nominalen Syntax, die durch eine knappe 345 <?page no="346"?> Transitivität charakterisiert war. Sie vergleicht Strukturen wie Lat. cum urbem cepisset „ als er die Stadt nahm “ und urbe capta „ als die Stadt genommen wurde “ . Trotz ihrer ähnlichen Bedeutung sind sie syntaktisch verschieden, da die Struktur cum urbem cepisset ein Beispiel der Rektion ist, während die Struktur urbe capta Kongruenz illustriert. In der Meinung, dass eine niedrige Transitivität und der Gebrauch von Kongruenz statt Rektion ein altes Merkmal des Urindogermanischen sind, rekonstruiert Bauer die absoluten Konstruktionen auch für die Ursprache: absolute Konstruktionen seien inkonsistent mit der Nominativ-Akkusativ-Syntax des späten Urindogermanischen ebenso wie Impersonalia (anstatt persönlicher Verbalformen) und mihi-est-Strukturen (anstatt des Verbs „ haben “ ). Alle diese Strukturen würden die ursprüngliche Aktiv-Stativ-Syntax des frühen Urindogermanischen beweisen, nach den Hypothesen von Schmidt (1977), Gamkrelidze & Ivanov (1984) und W. Lehmann (1989 a; 1989 b; 2002), vgl. § 3.8.1. Als Transitivität immer wichtiger wurde, seien alle diese idiosynkratischen Merkmale verloren gegangen. Impersonalia widerstehen in vielen Sprachen am längsten, wenn auch lexikalisch beschränkt, während absolute Konstruktionen wie auch die mihi-est-Struktur im Allgemeinen verdrängt werden, und die wachsende Transitivität ist nach Bauer verantwortlich dafür. Die diesbezüglichen Annahmen der ersten Indogermanisten und der neueren syntaktischen Studien sind vielleicht nicht völlig inkompatibel. In Übereinstimmung mit Bauer (2000) vermuten wir, dass dem Urindogermanischen schon absolute Strukturen zur Verfügung standen, die jedoch mit verschiedenen obliquen Kasus gebildet wurden, und die deswegen nicht synonym waren. Denn wie in Kapitel III dargelegt bewahren die Kasus der alten idg. Sprachen oft ihre entsprechenden semantischen Rollen. Andererseits kann eine festgesetzte prädikative Beziehung zwischen zwei obliquen Nominalen erst einzelsprachlich entstanden sein, wie Delbrück (1897) und Brugmann (1904) postulieren, als ein absoluter Kasus auf mehr Kontexte als seine konkurrierenden Strukturen nach einem Grammatikalisierungsprozess ausgedehnt wurde und eine ähnliche Beziehung zum Hauptsatz wie ein finiter Nebensatz haben konnte. Die funktionelle Äquivalenz einer absoluten Konstruktion mit einem finiten Satz, die in ihrer Wiedergabe in den modernen idg. Sprachen erscheint, ist hier also nicht als Transformation eines Verbalsatzes gemeint, wie bei Berent (1973), Gebert (1987) und Keydana (1997), sondern als ein spätes Phänomen entstanden, als das Partizip ins Verbalsystem integriert wurde. Der verbale Charakter des Partizips wird besonders im Altgriechischen erworben, in dem diese im Urindogermanischen noch nominal-adjektivale Form die verbalen Merkmale des Tempus und der Diathese bekommt, und in dem tatsächlich absolute Konstruktionen sich mehr als im Lateinischen, und noch mehr als im Vedischen, entwickelt haben. Wie Maiocco (2005) 346 <?page no="347"?> dokumentiert, kann der genetivus absolutus des klassischen Griechisch mehrere Subjekte haben wie auch direkte Objekte und PP selegieren, was in anderen alten idg. Sprachen unmöglich ist. Ein möglicher Anfangspunkt für den Wandel von einem nominalen und semantisch noch transparenten casus absolutus zu seinem verbalen und grammatikalisierten Gebrauch sind räumlich-zeitliche Ausdrücke (Krisch 1988), die beim locativus absolutus des Indoiranischen noch ersichtlich sind. Die überwältigende Mehrheit dieser Strukturen benutzen im Vedischen ein Partizip Präsens (vgl. Delbrück 1888: 387-389; MacDonell 1916: 326-327). Da das Vedische mehrere Partizipialformen hat, ist diese Tendenz bedeutsam und weist auf eine Beziehung von Gleichzeitigkeit hin zwischen der Situation des locativus absolutus und der des Hauptsatzes wie in (4.60), was von der stativen Funktion des Kasus Lokativus anhand der sprachübergreifend üblichen Metapher vom Raum zur Zeit genau angezeigt wird. Von der zeitlichen Funktion rühren später auch kausale, konditionale und konzessive Bedeutungen her, die im klassischen Sanskrit für den locativus absolutus ganz normal sind; Ziegler (2002: 83) hat die kausale Funktion des locativus absolutus schon im Rig-Veda identifiziert. Das stimmt überein mit den Ergebnissen von Ruppel (2013), nach der absolute Konstruktionen ursprünglich temporale Ausdrücke mit einem nicht-temporalen syntaktischen Kopf sind ( „ an ‘ absolute ‘ construction is a nominal phrase of temporal dimensions whose head noun does not have such dimensions, or for short: a temporal expression with a non-temporal head “ , S. 206). Ruppel postuliert, dass zuerst absolute Konstruktionen mit Nomina „ natürlicher Zeit “ (natural time, S. 153) wie Ved. us · ási „ bei Tagesanbruch “ oder Altgr. νυκτός „ in der Nacht “ verwendet wurden. Das spätere Vorkommen absoluter Konstruktionen mit anderen nominalen Köpfen sei durch die Reanalyse von Nomina entstanden, die per se weder Zeitpunkt noch Periode bezeichnen, sondern Gegenstände, mit denen man die Zeit misst, wie die Sonne oder der Mond. Ich finde Ruppels (2013) Rekonstruktion einer ursprünglich temporalen Funktion für die uridg. absoluten Konstruktionen überzeugend, denn Bedeutungen zeitlicher Orientierung sind von Haus aus gut geeignet, als peripherische Partizipanten oder Hintergrundinformationen durch oblique Kasus gekennzeichnet zu werden. Diese Rekonstruktion passt nicht nur mit den Daten des Vedischen zusammen, sondern auch mit dem griechischen genetivus absolutus, der von Wackernagel (1926: 293) auf einen alten genetivus temporalis zurückgeführt wird. Nach Miklosich (1874: 614-15) ist eine ursprünglich temporale Funktion auch dem dativus absolutus des Altkirchenslawischen zuzuweisen, und dasselbe behauptet Hristova (2004) für die im Altkirchenslawischen marginalen Gebräuche des genetivus absolutus und des locativus absolutus. Als genetivus absolutus interpretiert Hristova Strukturen wie Aksl. togo ž e le ˇ ta isxod ę c ˇ a „ as that year was ending “ (S. 301), und als locativus absolutus die Akls. Struktur pozde ˇ byv ŭš i „ when 347 <?page no="348"?> evening had come “ (S. 305). Auch den seltenen Formen des altkirchenslawischen nominativus absolutus und instrumentalis absolutus weist Vec ˇ erka (1966: 186 ff) meistens, wenn auch nicht ausschließlich, eine temporale Funktion zu. Räumlich-zeitliche Koordinaten des Hauptereignisses stellen auch viele feste absolute Konstruktionen des Lateinischen dar, z. B. Lat. inita hieme „ als der Winter begonnen hatte “ , obwohl hinter dem ablativus absolutus des Lateinischen traditionell ein alter Instrumental erkannt wird, der auch eine komitative Funktion ausdrücken konnte. Dementsprechend bedeutete die Struktur dis volentibus wie ihr Äquivalent cum dis volentibus „ mit den Göttern als wollenden “ (Wackernagel 1926: 293). Das Lateinische deutet also darauf hin, dass die temporale Funktion nicht als die einzige ursprüngliche für die absoluten Konstruktionen des Urindogermanischen zu rekonstruieren ist. Auch für den genetivus absolutus des Vedischen scheint eine andere, in diesem Fall possessive oder partitive Beziehung mit einem Nominal des Hauptsatzes ursächlich zu sein, wie in (4.64), vgl. Delbrück (1888: § 217). (4.64) tásm ā d ap ā ´m· tapt ā ´n ā m phéno DEM: ABL.N.SG Wasser(F): GEN.PL erhitzt: GEN.F.PL Schaum(M): NOM.SG j ā yate entstehen: PRS.IND.MED3SG „ Davon entsteht Schaum, wenn das Wasser erhitzt worden ist. “ ( Ś B 6.1.3.2) Hier stehen Schaum (phénas, NOM) und Wasser (ap ā ´m, GEN) in einem Verhältnis „ Teil vs. Ganzes “ . In solchen Fällen ist der Gebrauch des Genitivs in der absoluten Struktur also semantisch motiviert, wie von Delbrück (1888: 386 ff) und Brugmann (1904: 609) angenommen. Die ursprüngliche Bedeutung hinter dem Gebrauch einer absoluten Konstruktion kann besser erkannt werden, wenn diese Konstruktion in der jeweiligen Sprache eine andere Form als den unmarkierten casus absolutus benutzt, wie eben hier der genetivus absolutus des Vedischen, der marginaler als der locativus absolutus vorkommt. Die unmarkierte absolute Konstruktion hingegen ist nicht mehr auf den ursprünglich von ihrem Kasus bedingten spezifischen funktionalen Bereich beschränkt. 4.5.4.2 Der dativus absolutus des Gotischen, Altkirchenslawischen und Litauischen Umstrittener ist der Ursprung des dativus absolutus einiger germanischer, baltischer und slawischer Sprachen, da man es hier meistens mit übersetzten Texten zu tun hat bzw. mit einer späteren Überlieferung. Richtigerweise unterscheidet Keydana (1997: 291 ff) den Fall des Litauischen von dem des Gotischen und des Altkirchenslawischen, weil beim Litauischen Übersetzungen aus dem Deutschen und dem Polnischen vorliegen, zwei 348 <?page no="349"?> Sprachen, die selber nicht über absolute Konstruktionen verfügen. Wenn wir also einen dativus absolutus in der Übersetzung finden, können wir sicher sein, dass er eine eigenständige Struktur der litauischen Sprache ist. Gotische und altkirchenslawische Texte hingegen sind hauptsächlich Übersetzungen aus dem Altgriechischen, das absolute Konstruktionen in hohem Maße hat, was ihren genuinen Gebrauch in der Zielsprache in Frage stellt. Für die Fremdheit dieser Struktur in den alten germanischen Sprachen plädiert Delbrück (1897: 495-497), weil sie im Altsächsischen, Althochdeutschen, Altisländischen und Altenglischen nicht üblich sei, während die Beispiele aus dem Gotischen für eine Nachahmung des griechischen Originals gehalten werden könnten. Die Natürlichkeit des altkirchenslawischen dativus absolutus wird hingegen von Miklosich (1874: 617) verfochten aufgrund der Tatsache, dass das Altgriechische einen anderen Kasus - Genitiv statt Dativ - bei absoluten Konstruktionen hat. Zudem könne die Ausbreitung des dativus absolutus auch im Baltischen und Gotischen schwerlich als eine einfache Nachahmung aufgefasst werden. Die Beantwortung der Frage von Erbschaft oder Neuerung des gotischen und altkirchenslawischen dativus absolutus setzt also eine ausgewogene Interpretation von dessen Beziehung zum griechischen Original voraus, wobei eine wörtliche oder freie Übersetzung auch kompatibler mit der Hypothese einer für das Gotische und Altkirchenslawische innovative und aus dem Griechischen entliehene Konstruktion bzw. eines ererbten und im Urindogermanischen schon vorhandenen syntaktischen Musters ist. Die „ Vorbildwirkung “ des griechischen Textes wird von Ru ˚ ž ic ˇ ka (1963) betont, der immer noch massgebenden Arbeit zu den Partizipialkonstruktionen des Altkirchenslawischen, nach dem „ das altslavische Partizipialsystem als Ganzes dem Partizipialsystem des griechischen Originals äußerst nahekommt “ (S. 365). Trotzdem berichtet auch Ru ˚ ž ic ˇ ka (1963) von mehreren Fällen, in denen Original und Übersetzung nicht übereinstimmen, und das passiert manchmal selbst dann, wenn eine wörtliche Wiedergabe möglich wäre ( „ Die Übersetzer [. . .] gaben verschiedentlich der Eigenart der slavischen Syntax auch dort den Vorzug, wo sie ohne Verstoß hätten formgetreu übersetzen können “ , S. 271), was eher für eine freie Interpretation des Originals durch die slawischen Übersetzer spricht. Sogar im Falle der Übereinstimmung stellt Ru ˚ ž ic ˇ ka (1963) Unterschiede im Ausdruck der Verknüpfung zwischen absolutem Partizip und Hauptsatz fest, wobei die absolute Konstruktion des Altkirchenslawischen einen syntaktisch unabhängigeren Status zeigt als ihre griechische Entsprechung: „ Im Slavischen muß ein stärkerer prädikativer Eigenwert vermutet werden, eine relative Selbständigkeit, die in einem syntaktischen System, das Hypotaxe und Parataxe noch nicht deutlich voneinander abhebt, nicht selten absolute Prädikation erlaubte “ (S. 366; vgl. auch Vec ˇ erka 1966: 189-90). 349 <?page no="350"?> Die syntaktische Unabhängigkeit des altkirchenslawischen Partizips führt zu einigen unregelmäßigen Gebräuchen des absoluten Dativs, der manchmal keinen Hauptsatz hat, an den er subordiniert sein kann, oder der in Kontexten vorkommt, in denen eher ein finites Verb zu erwarten wäre, und zwar nach einem Subordinator mit temporaler (egda), kausaler (jako, jako ž e, zan ’ e), konzessiver (ibo, ce ˇ ), konsekutiver Funktion (jako, jako ž e) oder nach einer koordinierenden Konjunktion wie i „ und “ , a „ aber “ (mit schwacher Opposition nach Meillet 1934: 485) und n ŭ „ aber “ (mit starker Opposition). Ähnlich kann der dativus absolutus unregelmäßig dasselbe Subjekt wie der Hauptsatz haben (Vec ˇ erka 1966: 188; Corin 1995: 259 ff). Diese Fälle, die traditionell für Fehler der Übersetzer gehalten wurden, erklärt Collins (2011) als eine Diskrepanz zwischen der Syntax und der Diskurspragmatik der absoluten Konstruktionen. Der altkirchenslawische dativus absolutus sei nur pragmatisch und nicht syntaktisch vom Hauptsatz abhängig; er sei ein backgrounding device, dessen syntaktische Subordination ein wiewohl häufiges, aber nicht notwendiges Korrelat sei ( „ There are good grounds for viewing some absolutes not as dependent clauses but as independent sentences whose collateral character is an issue not of syntax but of the pragmatics of discourse “ , Collins 2011: 103). Deshalb neigen die meisten Slawisten in neuerer Zeit dazu, den dativus absolutus - zumindest in einigen linguistischen Varianten, und zwar im Ostslawischen (Corin 1995: 272-73), als eine vom Urindogermanischen ererbte und genuine Struktur der Sprache zu interpretieren. Nach Hristova (2004: 315) hat die Übersetzung des griechischen Originals eine vorhandene, echt Aksl. Struktur nur verstärkt, nicht einfach nur aus dem Griechischen entlehnt ( „ It is possible that the Bible translation reinforced the use of the DA. Yet, to claim that this syntactic feature is a slavish calque from Greek just because the earliest written sources in which absolutes appear happened to be biblical translation is to disregard both the comparative evidence from other Indo-European languages and the internal evidence from various Slavic dialects “ ). Daher muss der dativus absolutus des Altkirchenslawischen als ein weiterer Fall von contact-induced grammaticalization angesehen werden. Auch für das Gotische wurde von Dewey & Syed (2009) angenommen, dass der dativus absolutus eine authentische Struktur dieser Sprache ist, die nicht wortwörtlich dem griechischen Text folgt, sondern eine gewisse Variation zeigt, weil einerseits einige genetivi absoluti des neutestamentarischen Griechisch eher durch eine Struktur mit at plus Partizip als durch einen dativus absolutus übersetzt werden, und andererseits bei Wulfila der dativus absolutus wie auch - seltener - der accusativus und nominativus absolutus statt eines finiten Satzes des Griechischen verwendet werden. Das zeigt den flexiblen Gebrauch der absoluten Konstruktionen des Gotischen ( „ The Gothic absolute construction was subject to a complex and systematic set of rules, which provided the translator of the Gothic Bible and the author/ translator of 350 <?page no="351"?> the Skeireins with a finely calibrated tool for expressing nuanced syntactic relationships “ , Dewey & Syed 2009: 20). Wenn man also die Echtheit des gotischen, altkirchenslawischen und litauischen dativus absolutus akzeptiert, muss man aber auch rekonstruieren, wie diese Struktur entsteht und sich vom Urindogermanischen zu den einzelnen Sprachen ändert - und dies ist in der Literatur nicht ausreichend erklärt. Ich denke, dass der dativus absolutus der germanischen, baltischen und slawischen Sprachen vom Gebrauch des dativus iudicantis im Urindogermanischen herrührt, den wir in § 4.3.3 erörtert haben, und zwar aus zwei Gründen: zum Ersten hat der Dativ eine natürliche Beziehung zu menschlichen Referenten (vgl. Langendonck & van Belle 1998), und auch die Beispiele des dativus absolutus, die von den Grammatiken der baltischen und slawischen Sprachen (Vec ˇ erka 1966: 176ff; Schmalstieg 1987: 92ff; Ambrazas 1997: 675-678; Gasparov 2001: 182 - 183; Lunt 2001: 149) angeführt werden, bezeichnen meistens einen menschlichen Referenten, wie in (4.63). Das steht im Gegensatz nicht nur zum locativus absolutus des Vedischen, der unter normalen Umständen unbelebte räumlich-zeitliche Referenten bezeichnet, die das Ereignis des Hauptsatzes begleiten, wie in (4.60), sondern auch zu den absoluten Kasus des Lateinischen und Altgriechischen, in denen sowohl belebte als auch unbelebte Referenten vorkommen. Im Baltischen kann der dativus iudicantis bei pronominalen Ausdrücke erscheinen (Let. laiks man iet tik ā tri „ die Zeit vergeht mir so schnell “ , Ilja Sergeant p. K.), wie auch bei nominalen (Lit. Dievui visi ž mon ė s lyg ū s „ vor Gott sind alle Menschen gleich “ , Schmalstieg 1987: 228); in beiden Fällen wird die Situation des Hauptsatzes vom Standpunkt eines belebten Partizipanten dargestellt. Dieser Standpunkt wird beim dativus absolutus nur von weiterem Material, eben von einem Partizip, erweitert. Eine vergleichbare Erweiterung kann mit einem Infinitiv vorkommen, der ähnlich wie das Partizip im Verbalsystem des Urindogermanischen noch nicht integriert war, z. B. Aksl. Elisaveti ž e ispl ъ ni s ę vre ˇ m ę roditi ei (Elisabeth: DAT aber erfüllte sich Zeit gebähren: IF ihr: DAT) „ Für Elisabeth aber wurde die Zeit erfüllt, daß sie gebären sollte “ (Luc. 1.57). Das zeigt die Flexibilität dieser dativalen Strukturen im Balto-Slawischen. Zum Zweiten kann ebendiese Präferenz für menschliche Referenten, deren Perspektive über die Situation des Hauptsatzes dargestellt wird, auch in den Beispielen des dativus absolutus derjenigen Sprachen wie dem Altgriechischen (4.65) auftauchen, wo diese Struktur als casus absolutus nicht grammatikalisiert ist. Wie gesagt erscheinen die ursprünglichen Funktionen der absoluten Strukturen am deutlichsten in den marginalen Fällen. 351 <?page no="352"?> (4.65) ἦν δὲ ἡ γνώμη τοῦ Ἀριστέως , τὸ μὲν μεθ ' ἑαυτοῦ στρατόπεδον ἔχοντι ἐν τῷ ἰσθμῷ ἐπιτηρεῖν τοὺς Ἀθηναίους , ἢν ἐπίωσι „ Nun war der Plan des Aristeus, mit seiner eigenen Truppe auf der Landenge die Athener zu erwarten, wenn sie angriffen “ (Thuk. 1.62; Übersetzung Landmann 2002: 39) Hier erscheint der Dativ ἔχοντι statt des erwarteten Genitivs ἔχοντος , der koreferent mit dem vorangehenden Nominal Ἀριστέως wäre. Die Funktion des dativus iudicantis ist am deutlichsten an dieser Stelle, an der das Subjekt ἡ γνώμη ist, und bedeutsamerweise benutzen Kühner & Gerth (1835: § 496) eine Umschreibung: „ἡ γνώμη τοῦ Ἀριστέως (= ἔδοξεν αὐτῷ ) “ . Doch solche Formen, die im Altgriechischen selten sind, werden in den Grammatiken nicht mit dem Gebrauch des dativus iudicantis vereinigt, sondern als periphere absolute Konstruktionen behandelt und oft auch normalisiert oder dadurch erklärt, dass eine andere Kasus-Form zweideutig wäre (so Schwyzer 1950: 401 über Soph. OC 353). Doch neigt der dativus iudicantis des Altgriechischen zum Ausdruck zeitlicher Beziehungen und ist in diesem Bereich dem genetivus absolutus auffallend ähnlich. Über den dativus iudicantis sagt Schwyzer (1950: 151): „ In Beziehung auf die Zeit nähert sich die Partizipialkonstruktion den absoluten. “ Diese funktionale Ähnlichkeit, die in einigen Kontexten des Altgriechischen auftritt, könnte im Baltischen und Slawischen grammatikalisiert worden sein. Eine funktionale - nicht etymologische - Ähnlichkeit fällt auch zwischen dem dativus absolutus des Germanischen und Balto-Slawischen und dem ablativus absolutus des Lateinischen auf, der wie gesagt auf einen alten Instrumental im soziativen Gebrauch zurückgeht ( „ the Ablative Absolute construction is an outgrowth of the sociative force of the Instrumental “ , Bennet 1914: 367). Ausdrücke wie me praesente „ in meiner Anwesenheit “ , me adiutrice „ mit meiner Hilfe “ , me iudice „ mit meinem Urteil “ , die im Altlateinischen am typischsten für den ablativus absolutus sind (vgl. auch Hofmann & Szantyr 1965: 137 ff), entsprechen auch den wenigen Belegen für den dativus absolutus des Altisländischen, z. B. var Þetta bref g ǫ rt [. . .] ok innsiglat oss sjalfum hyáverandum „ Dieser Brief wurde mit uns selber anwesend (oss sjalfum hyáverandum, uns: DAT selber daseiend: DAT) verfasst und versiegelt “ (Faarlund 2004: 173). Die zwei unterschiedlichen Formen des Instrumentals und des Dativs, die dem lateinischen ablativus absolutus bzw. dem altisländischen dativus absolutus zugrunde liegen, überlappen in ihrer komitativen Funktion. Wir können nur spekulieren, warum die alte Struktur mit Dativ und Partizip als casus absolutus eher im Germanischen, Baltischen und Slawischen als im Altgriechischen und Lateinischen erhalten blieb. Eine solche Fragestellung ist eigentlich nicht notwendig, wenn man mit Kury ł owicz (1945) übereinstimmt, dass man nur erklären muss, wie und nicht warum ein 352 <?page no="353"?> Wandel passiert. Trotzdem können wir einige Faktoren identifizieren, die diesen Gebrauch vielleicht begünstigt haben. Wie wir in Kapitel III gesehen haben, drücken die germanischen, baltischen und slawischen Sprachen in großem Maße das logische Subjekt des Satzes durch einen obliquen Kasus bei Empfindungsprädikaten und anderen Strukturen mit einer geringen Transitivität aus, während das Lateinische und besonders das Altgriechische häufig die kanonische Markierung des Nominativs haben. Wir haben auch gezeigt, dass der Dativ die häufigste Form dafür war (§ 3.7.2), obwohl die nicht-kanonische Markierung des primären Arguments des Satzes auch von anderen obliquen Kasus wie dem Akkusativ und Genitiv ausgedrückt werden konnte. Der Reichtum an Strukturen, in denen das logische Subjekt durch den Dativ statt durch den Nominativ kodiert wurde, ist meiner Meinung nach ein möglicher Auslöser für den Gebrauch des Dativ-Subjekts der absoluten Konstruktionen. Auch einige Modalverben wie „ scheinen “ , die typischerweise ein dativales Argument verlangen (Altisl. hvat sýnisk Þér rá đ „ was scheint dir ein guter Plan? “ ), sind der Funktion eines dativus iudicantis semantisch nah, was zur Überlappung zwischen dativus iudicantis, dativus absolutus und nicht-kanonisch markierten Subjekten beiträgt. Dies alles kann ein weiterer Grund für die zunehmende Unabhängigkeit der Strukturen mit Dativ und Partizip gewesen sein: da ein Dativ mit einem menschlichen Referenten ein idealer Kandidat für die Funktion des Subjekts ist, wird er auch kaum toleriert in einem Satz, der bereits ein deutliches Subjekt hat, sodass der Dativ allmählich als Subjekt einer anderen, prädikativen Konstruktion wie des casus absolutus interpretiert wird. Dieselbe Erklärung kann der syntaktischen Unabhängigkeit der lateinischen Amtsbezeichnungen wie Cicerone consule oder Mario imperatore zugrunde liegen, die hingegen im Altgriechischen selten sind. Die absoluten Dative des Germanischen und insbesondere des Balto- Slawischen sind also nur schwieriger zu interpretieren als die griechischen, lateinischen und vedischen absoluten Konstruktionen, aber nicht weniger wichtig für die uridg. Rekonstruktion. Ganz im Gegenteil weisen sie deutlich auf das Nebeneinander verschiedener Kasus mit unterschiedlichen Beziehungen schon im Urindogermanischen hin, wobei die dativalen Nomina belebter Referenten mit der vermutlichen Funktion eines dativus iudicantis gleich ursprünglich wie die lokativen Nomina temporaler Begriffe waren, und das ist relevant für die rekonstruktive Praxis auch außerhalb der absoluten Konstruktionen. Traditionell widmet die vergleichende Methode der Form mehr Aufmerksamkeit als der Funktion, was im Prinzip richtig ist, denn der Wandel der Formen ist regelmäßiger und deswegen auch vorhersagbarer als der Wandel der Funktionen. Doch kann dies in gewissen Fällen auch zu einer unberechtigten Rekonstruktion durch die Reduzierung der realen Vielfalt führen, da es keinen Bedarf an mehr Formen gibt, die dieselbe Funktion zu haben scheinen. Bei Anwesenheit 353 <?page no="354"?> einer Form A und einer entsprechenden Form B rekonstruiert die vergleichende Methode eine einzelne Form für die Ursprache, die entweder A oder B sein kann, wie auch eine andere Form, von der sowohl A als auch B abgeleitet sind; sie rekonstruiert nicht die beiden Formen A und B. Daher kann die vergleichende Methode mit der linguistischen Variation nicht immer richtig umgehen (vgl. Fox 1995). Unterschiedliche Strukturen können aber auch ursprünglich unterschiedliche Funktionen haben, wenn Funktion nicht nur die lexikalisch-semantische Ebene einschließt, sondern auch Faktoren der Pragmatik und der Informationsstruktur, z. B. im Sinne der Konstruktionsgrammatik (Goldberg 1995; 2006). Wenn man Uniformitarismus anstrebt und dazu annimmt, dass Sprachen sich in der Vergangenheit auf dieselbe Weise verhielten wie die in der Gegenwart, kann eine funktionelle Konkurrenz auch für die Ursprache rekonstruiert werden, wie in diesem Fall für die uridg. absoluten Konstruktionen oder für die ihnen entsprechenden abverbialen Gebräuche der Kasus. 4.6 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen In diesem Kapitel haben wir die grundsätzlichen Merkmale der Hierarchie und der Konfigurationalität in den alten idg. Sprachen illustriert. Wir haben gesehen, dass die nicht-konfigurationellen Merkmale der Null-Anaphora (§ 4.2.1) und des Hyperbatons (§ 4.2.2) schon in den ältesten Texten der idg. Sprachen marginal sind im Vergleich zu den mit ihnen konkurrierenden Formen der expliziten Pronomina bzw. der kontinuierlichen Phrasen, dass sie aber nicht nur von stilistischen Faktoren abhängen, sondern echte grammatische Strukturen darstellen, die in den späteren Stufen des Indogermanischen verschollen sind oder reduziert wurden. Die Null-Anaphora wurde meistens in denjenigen Konstruktionen gebraucht, die eine enge syntaktische Verknüpfung und deswegen eine höhere textuelle Kontinuität zeigen, und sie war besonders häufig im Altisländischen, im Altgriechischen, im Lateinischen, im klassischen Armenisch, während das Altindische und das Hethitische die Verwendung expliziter Pronomina bevorzugten. Das nicht völlig vom Metrum bedingte Hyperbaton ist u. a. produktiv im Awestischen, Vedischen, Altgriechischen und Lateinischen, während es im Hethitischen selten ist. Anhand der Analyse eines vedischen Prosa-Textes haben wir festgestellt, dass das Verb und das direkte Objekt die am meisten gesperrten Konstituenten sind, was auf eine geringe Grammatikalisierung der VP hinweist. Das Hyperbaton besteht normalerweise darin, dass eine pronominale Form an den Satzanfang bewegt wird. Das bewegte Element drückt den Fokus oder eine starke (d. h. diskontinuierliche oder kontrastive) Topik aus, und von einem semantischen Standpunkt hat es eine referentielle Funktion und stellt ein objet polarisé in 354 <?page no="355"?> Lazards (1982) Sinne dar. Wir haben damit gezeigt, dass das Hyperbaton eigentlich keine Trennung einer festgesetzten Phrase ist, sondern charakteristisch ist für die Darstellung der urprünglichen syntaktischen Unabhängigkeit eines Wortes, das seine konkrete Bedeutung bewahrt. Auf dieselbe Weise setzt die Null-Anaphora eine Wahlfreiheit im Gebrauch der impliziten oder expliziten Pronominalformen voraus und ist nur möglich in einer Sprache, in der Proformen eine referentielle Funktion haben. Merkmale der Nicht-Konfigurationalität wie die constructio ad sensum, der adverbiale Gebrauch der Lokalpartikel oder die Parataxis sind zwar belegt, tauchen aber im Altgriechischen, in dem solche Merkmale des Indogermanischen zuerst identifiziert wurden, weniger häufig auf als im Hethitischen oder Vedischen. Andere typisch nicht-konfigurationelle Strukturen wie die Inkorporation können weder den alten idg. Sprachen noch dem Urindogermanischen zugewiesen werden. Wir gehen daher davon aus, dass die alten idg. Sprachen und das Urindogermanische zwar wichtige Anzeichen der Nicht-Konfigurationalität hatten, jedoch keine konsistent nicht-konfigurationellen Sprachen waren. Das ist auch aufgrund der Befunde der Typologie plausibel (vgl. Pensalfini 2004), nach denen die Nicht-Konfigurationalität in den Sprachen sehr heterogene Darstellungen hat. Die Rektion, die attributive Modifikation und die eingebettete Satzverbindung waren in den alten idg. Sprachen weniger ausgeprägt als in den modernen idg. Sprachen. In der Entwicklung dieser Phänomene kann eine gewisse Gemeinsamkeit festgestellt werden: die Rektion wird diachron immer mehr strukturiert, sodass Nominale von Adjunkten den Status von Ergänzungen erreichen (§ 4.3). Die Modifikation wird mit der Zeit durch weniger prädikativ-adverbiale Adjektive und mehr attributive Adjektive ausgedrückt (§ 4.4). Die Satzverbindung wurde früher angeschlossen und später eingebettet (§ 4.5). In Bezug auf Rektion war die Beziehung zwischen Verb und Objekt in den ältesten Texten der idg. Sprachen kaum grammatikalisiert, sodass ein Verb verschiedene Kasus verlangen und sowohl transitive als auch intransitive Strukturen zeigen konnte. Dieselbe Variation hatte die Ergänzung einer Adposition, und diesbezüglich haben wir eine umgekehrte Proportion zwischen polyptotischen Adpositionen und Präverbien innerhalb derselben Sprache identifiziert: das klassische Armenisch, das am meisten polyptotische Adpositionen hat, gebraucht Präverbien am wenigsten, während das Altirische, in dem Präverbien völlig grammatikalisiert sind, sehr arm ist an polyptotischen Adpositionen. Diese inverse Proportion hängt damit zusammen, dass polyptotische Adpositionen und Präverbien eine niedrige bzw. hohe Grammatikalisierung der Lokalpartikel voraussetzen (§ 4.3.1). Auch die Nominalphrase hatte eine flachere Syntax in den alten als in den modernen idg. Sprachen. Die Funktion des Genitivs, der eindeutig vom 355 <?page no="356"?> nominalen Kopf abhängig ist, konnte auch durch verschiedene syntaktische Verfahren ausgedrückt werden, in denen die Abhängigkeitsbeziehung weniger klar ist. Zum Ersten konnte eine Apposition benutzt werden, z. B. arbor ficus (anstatt arbor fici), in der wir einen doppelten Kopf haben. Ein appositives Verhältnis besteht auch in σχῆμα καθ’ ὅλον καὶ μέρος , in dem Besitzer und Besessenes von demselben Kasus (meistens, aber nicht ausschließlich, vom Akkusativ) ausgedrückt werden, und das wir mit der im Diskurs üblichen Tendenz erklärt haben, komplexe rhematische Angaben getrennt mitzuteilen (§ 4.3.2). Zum Zweiten kann der Genitiv mit dem Dativ für den Ausdruck des Besitzes konkurrieren: der dativus sympatheticus (z. B. τέκνον μοι anstatt τέκνον μου ) ist ein freier Gebrauch des Dativs und nicht valenzgebunden (§ 4.3.3). Zum Dritten gab es die Möglichkeit eines possessiven Adjektivs: Πηλείδης statt Πηλέως υἱός , das auch allein ohne nominalen Kopf vorkommen kann (§ 4.3.4). Alle diese Adjunkte verfallen mit der Zeit, sodass die Beziehungen innerhalb der NP immer deutlicher durch einen abhängigen Genitiv ausgedrückt werden. Das σχῆμα καθ’ ὅλον καὶ μέρος wird im klassischen Griechisch durch eine passive Struktur normiert, in der nur der Akkusativ des Besessenen bestehen bleibt (§ 4.3.2). Der dativus sympatheticus wird von den alten zu den modernen idg. Sprachen stark reduziert, und diesbezüglich haben wir die verbreitete Meinung angefochten, nach der für den Wandel der Verlust der Kasus verantwortlich sei: der dativus sympatheticus sei nur in Pronomina bewahrt, weil Pronomina am längsten Kasus ausdrücken. Eine solche Auffassung könnte weder den Verfall des dativus ethicus erklären, der auch eine Κ asus-markierte Pronominalform enthält, noch die Tatsache, dass der Verfall einiger freier Gebrauchsarten des Dativs im Deutschen fortgeschrittener ist als in den romanischen Sprachen, obwohl in den letzteren die Kasus weniger erhalten sind. Wir haben hingegen gezeigt, dass der Verfall des dativus sympatheticus und sein häufiger Ersatz durch die Formen des inneren Besitzes auf den Wandel von Adjunktzu Ergänzungs-Syntax innerhalb der NP zurückgeführt werden muss, der auch den dativus ethicus und den dativus iudicantis betrifft (§ 4.3.3). Das possessive Adjektiv erlebt ebenfalls eine Reduzierung seines ursprünglichen funktionalen Bereiches und wird mit der Zeit auf syntaktisch einfache Formen, die keine weiteren Modifikatoren oder Ergänzungen beinhalten, und auf Beziehungen von inalienablem Besitz beschränkt. Abgesehen vom Slawischen und von den neuindischen Sprachen scheint das possessive Adjektiv sich auf generische oder nichtreferentielle Besitzer zu beschränken, während es im Bereich des referentiellen Besitzes meistens vom Genitiv ersetzt wird (§ 4.3.4). In Bezug auf die Modifikation erscheint die lockere Verbindung zwischen Nomen und Adjektiv in den alten idg. Sprachen nicht nur in ihrer syntaktischen Unabhängigkeit, sondern auch in ihrem idiosynkratischen 356 <?page no="357"?> anaphorischen Verhältnis, indem sie gegen den anaphoric island constraint verstoßen konnte (§ 4.4.2). Attributive Strukturen, die eine hierarchische Beziehung zwischen Nomen und Adjektiv voraussetzen, hatten in den alten idg. Sprachen weniger Ausdrucksmöglichkeiten als in den modernen idg. Sprachen. Spezialisierte Konstruktionen für die attributive Funktion wie im Altgriechischen sind eine Rarität im alten idg. Bereich. Die Voraussetzung dafür besteht einerseits in der frühen Bildung des Artikels und andererseits im extrem flexiblen Gebrauch der Wortfolge, die das Altgriechische charakterisieren, denn Wortfolge und Artikel bzw. Demonstrativpronomina wie auch unterschiedliche Flexionsmöglichkeiten sind die Hauptstrategien, die später auch in anderen idg. Sprachen verschiedene Funktionen im Bereich der Adjektive und im Allgemeinen der NP kodieren. Ebenfalls selten sind eng verbundene NP wie im klassischen Armenisch (§ 4.4.3). Auch semantisch war der Umfang der attributiven Adjektive ursprünglich beschränkter. Einerseits fehlten dem Urindogermanischen einige intensionale Adjektive wie „ ehemalig “ oder „ scheinbar “ , die in den modernen idg. Sprachen für die attributive Funktion am typischsten sind. Ihre Funktionen wurden in den alten idg. Sprachen normalerweise durch morphologische Verfahren oder durch den Kontext ausgedrückt. Darüberhinaus hatten sie eine komplexere Bedeutung, für die eine attributive Interpretation nicht die einzig mögliche war (§ 4.4.4). Andererseits gab es viel mehr adverbiale Adjektive, besonders für räumliche und zeitliche Bedeutungen, z. B. Ved. ū rdhvá- „ aufrecht “ , Altgr. ὕπτιος „ auf dem Rücken liegend “ , Lat. pronus „ vorwärts geneigt “ . Diachron verfallen die adverbialen Adjektive, was zur Reduzierung der Adjunkt-Strukturen beiträgt (§ 4.4.5). Daher haben wir postuliert, dass die attributive Funktion der Adjektive in den alten idg. Sprachen sekundär ist. Damit meinen wir aber nicht, dass attributive Adjektive auf ursprünglich prädikative Ausdrücke zurückgehen, wie von der Generativen Grammatik angenommen, sondern dass die attributive Interpretation von einem älteren, eher adverbialen als prädikativen Gebrauch herrührt, der in den alten idg. Sprachen viel häufiger benutzt worden war als der attributive (§ 4.4.6). Wahrscheinlich besteht eine Beziehung zwischen der geringen Hierarchie der NP und dem Fehlen einer eigenen Kategorie der Adjektive in den alten idg. Sprachen, was wir in Kapitel II diskutiert haben: Adjektive unterschieden sich kaum von Nomina, weil die attributive Beziehung, die für die adjektivale Modifikation für besonders typisch gehalten wird, in diesen Sprachen weniger entwickelt war als in ihren späteren Varianten. Das Urindogermanische kannte schon einige Formen der Subordination, aber seine Satzverbindung war in hohem Maße parataktisch und asyndetisch, wie wir auch in § 7.3 sehen werden. Die angeschlossene Struktur des korrelativen Diptychons, die die älteste rekonstruierbare Form der idg. Unterordnung darstellt, wird am meisten in den Relativ- 357 <?page no="358"?> sätzen und in einigen Adverbialsätzen des Hethitischen und des Vedischen bewahrt, während andere Sprachen wie das Altgriechische, Lateinische und Altisländische eingebettete Nebensätze bevorzugen. Wir haben eine mögliche Beziehung zwischen der angeschlossenen Verknüpfung der Relativsätze im Hethitischen und Vedischen und dem Fehlen des Artikels in diesen Sprachen festgestellt, weil beide Phänomene Darstellungen einer kaum entwickelten Hierarchie der NP sind. Die Beziehung ist aber einseitig: während denjenigen Sprachen, die eine angeschlossene Verknüpfung haben, der Artikel fehlt, können Sprachen ohne Artikel die Einbettung haben, wie das Lateinische und das Litauische bezeugen, weil das Fehlen des Artikels und die lockere Satzverbindung zwar in dieselbe Richtung der Konfigurationalität gehen, aber eben auch verschiedene Konstituenten betreffen und deswegen im Prinzip unabhängig voneinander sind (§ 4.5.1). Das korrelative Diptychon wurde in den alten idg. Sprachen mehr auf Adverbialsätze als auf Ergänzungssätze angewendet, weil die ersteren von einem semantischen Standpunkt aus mit ihrem Hauptsatz weniger verbunden sind. Wir haben gesehen, dass primäre Adverbialsätze, die Raum, Zeit oder Art ausdrücken, und die semantisch den Relativsätzen näher stehen, auch häufiger die korrelative Struktur im Vedischen bekommen als sekundäre Adverbialsätze wie Konditionalsätze. Auf dieselbe Weise werden im Hethitischen Temporalsätze als zwei vom Konnektor nu getrennte Sätze dargestellt, und dies häufiger als Konditionalsätze. Der übliche Gebrauch einer gespaltenen Struktur für Relativsätze und für primäre Adverbialsätze kann auch damit zusammenhängen, dass sie das allgemeine Prinzip der separation of reference and role widerspiegeln, wonach ein Referent zuerst identifiziert wird und danach eine Aussage bekommt. Konditionalsätze sind weniger referentiell, sie haben eher die Funktion eines modalen Operators, und deswegen werden sie syntaktisch auch am wenigsten vom Hauptsatz abgesondert. In der Unterordnung beim Hethitischen haben wir auch einen möglichen Anfangspunkt für den Wandel des Relativpronomens zum adverbialen Subordinator identifiziert, weil es Stellen gibt, bei denen einem vorangestellten topikalisierten Nominal ein Nebensatz mit einem adverbialen kw-Marker folgt, der eine ähnliche Verteilung wie ein Relativpronomen hat. Aufgrund dieser Stellen ist die Interpretation einer CP-Extraktion wahrscheinlich ungeeignet, weil damit nicht erklärt werden kann, warum solche Topikalisierungen häufiger mit adverbialen Subordinatoren wie kuit oder kuwapi vorkommen, die vom Relativstamm abgeleitet sind, als mit Subordinatoren, die andere morphologische Quellen haben (§ 4.5.2). Auf die Ergänzungssätze der alten idg. Sprachen, die relativ spät die Struktur des Diptychons bekommen und in ihren Darstellungen auch sehr heterogen sind, haben wir die in der Typologie definierte Complement Deranking Hierarchy angewendet, nach der diejenigen kompletiven Beziehungen, die eine geringe semantische 358 <?page no="359"?> Verbundenheit mit dem regierenden Prädikat bezüglich Argumente, Zeitreferenz und Kontrolle voraussetzen, auch syntaktisch eine lockere Verbindung begünstigen, wie im Fall der Äußerungs-, Kenntnis- und Gedanken-Prädikate. Andere semantisch integriertere Beziehungen wie Modalverben, Phasale, Desiderative oder Manipulative hingegen selegieren die eng verbundenen nicht-finiten Strukturen oder die Ableitung. Wahrnehmungsprädikate scheinen diejenigen Strukturen zu sein, worin die alten idg. Sprachen beim Gebrauch eines Partizips am meisten übereinstimmen. Im Allgemeinen gehören das Lateinische und das Altgriechische zu jenen alten idg. Sprachen, die in der Entwicklung des deranking für Ergänzungssätze am weitesten fortgeschritten sind, wie die innovative Ausbreitung des accusativus cum infinitivo und des nominativus cum infinitivo wie auch der Gebrauch einer consecutio temporum vel modorum zeigen, und davon ist die enge Verknüpfung des Standard Average European größtenteils bestimmt (§ 4.5.3). Ergänzung, Attribution und Einbettung sind drei Darstellungen eines engen syntaktischen Nexus und spielen in den idg. Sprachen zusammen. Sprachen, die synchron eine reguliertere Rektion haben, weisen oft auch einen verbreiteten Gebrauch der attributiven und eingebetteten Strukturen auf. Diachron haben wir gesehen, dass, wenn eine Sprache einen Wandel in diesem Bereich erfährt, er in die Richtung einer zunehmend integrierenden Verknüpfung geht, sowohl in der Phrase als auch im Satz. Es gibt aber auch Ausnahmen von dieser Tendenz, wie im Falle der absoluten Konstruktionen, die vom Urindogermanischen zu den Tochtersprachen vom Hauptsatz immer unabhängiger werden, und deren Herkunft in der Literatur umstritten ist. Diese Strukturen könnten im Urindogermanischen schon existiert haben, jedoch nicht mit prädikativer Funktion, sondern als adverbiale Ausdrücke, in denen die Bedeutung des obliquen Kasus noch transparent war. Wir haben auch hypothetisiert, dass der dativus absolutus der germanischen, baltischen und slawischen Sprachen auf denselben Gebrauch wie der dativus iudicantis des Altgriechischen und Lateinischen zurückgeht. Die Tatsache, dass oblique Subjekte für Empfindungsprädikate und unpersönliche Strukturen im Germanischen, Baltischen und Slawischen häufiger belegt sind als in den klassischen Sprachen (§ 3.5), könnte ein möglicher Auslöser für die Grammatikalisierung dieses Gebrauchs des Dativs als casus absolutus in den ersteren sein (§ 4.5.4). Für die relative Häufigkeit der freien Dative in der Synchronie und für ihre Entwicklung in der Diachronie haben wir sodann eine Implikationsskala vorgeschlagen (dativus commodi/ incommodi > dativus sympatheticus > dativus ethicus > dativus iudicantis) (§ 4.3.3). Die Dative, die synchron seltener sind und diachron am meisten zum Verfall neigen, sind einerseits diejenigen, die die typischste Funktion des Dativs, d. h. den Ausdruck des Empfängers oder des Zweckes, am wenigsten zeigen, und andererseits diejenigen, die morphologisch schwe- 359 <?page no="360"?> rer sind. Der dativus iudicantis, der vom funktionalen Prototyp des Dativs am weitesten entfernt ist und den Gebrauch einer lexikalischen NP und häufig sogar eines Partizips anzeigt, hat auch mehr Chancen, das implicans der Implikationsskala zu sein. Auch im Ausdruck der syntaktischen Hierarchie haben wir Phänomene linguistischen Kontakts identifiziert, besonders in drei Fällen. Erstens ist die Bewahrung und sogar Verbreitung der appositiven Strukturen des σχῆμα καθ’ ὅλον καὶ μέρος in der Geschichte des Hethitischen wahrscheinlich vom Einfluss des Akkadischen und des Sumerischen bedingt, in denen Apposition ein übliches Verfahren syntaktischer Verknüpfung in der NP ist. Zweitens hängt die gemischte Struktur des Altindischen für die zitierte Rede vom dravidischen Substrat ab, wobei sie von einem Subordinator eingeführt wird, jedoch ohne Ersatz der deiktischen Marker. Denn diese Konstruktionen sind selten im Indogermanischen und produktiv im Dravidischen, dessen Subordinator in solchen Fällen von der Reanalyse eines verbum dicendi herrührt: eine im Altindischen synchron scheinbar aberrante indirekte Rede ist im Dravidischen das Ergebnis der alten parataktischen Strategie für die direkte Rede. Drittens sind die integrierten NP des klassischen Armenisch mit unflektierten Adjektiven möglicherweise von einigen kaukasischen Sprachen begünstigt, in denen die Flexion manchmal suspendiert und externalisiert werden kann, was im Indogermanischen hingegen unmöglich war. 360 <?page no="361"?> Kapitel V Syntaktische Linearität 5.1 Forschungsfragen zur syntaktischen Linearität Die Linearität war seit dem Altertum schon immer der wichtigste Gegenstand der syntaktischen Studien, indem σύνταξις definitionsgemäss für die „ Anordnung “ der Wörter im Satz gehalten wurde. Und doch wird ihr hier weniger Gewicht verliehen als den anderen syntaktischen Bereichen der Hierarchie, der Kategorien und Funktionen, weil wir überzeugt sind, dass die Wortfolge des Urindogermanischen am wenigsten durch eine syntaktische Analyse rekonstruiert werden kann. Im Gegensatz zu anderen Sprachfamilien, in denen die Wortfolge in den Tochtersprachen ziemlich konsistent belegt und deswegen auch auf ihre Ursprache projizierbar ist, wie SOV im Altaischen, SVO im Bantu oder VSO im Semitischen, 211 zeigen die idg. Sprachen seit ihren ältesten Belegen eine auffällige Variationsbreite zwischen der unmarkierten VSO-Wortfolge des Altirischen, der unmarkierten SOV-Wortfolge des Hethitischen und der unmarkierten SVO-Wortfolge des Altgriechischen, um nur drei charakteristische Beispiele zu nennen. Außerdem wird die Variation der Wortfolge innerhalb derselben Sprache mehr von pragmatischen als von syntaktischen Faktoren bedingt, und ihre Bestimmung würde eine Korpus-Analyse erfordern, die außerhalb des Themas dieser Arbeit liegt. Wir werden immerhin versuchen, einige Prinzipien der Linearität in den alten idg. Sprachen zu identifizieren, denen eine ausgiebige Literatur sowohl vonseiten der Generativen Grammatik als auch seitens der typologischen Forschung gewidmet worden ist (vgl. u. a. Greenberg 1966; Li 1975; Steele 1978; Givón 1975; 1979: § 7; Hawkins 1983; 1994; Tomlin 1986; Huck & Ojeda 1987; Dryer 1988; 1989; 1992; 2005 c; 2005 d; Aristar 1991; Kayne 1994; Downing & Noonan 1995; Bunt & van Horck 1996; Hornstein et al. 2005: 219ff; Moravcsik 2006 a: 28ff; 2006 b: 38ff; 147ff; Song 2012). In Bezug auf konfigurationelle Sprachen wie das Englische wurde die Linearität von der Generativen Grammatik mit Hilfe von Prinzipien wie „ Prä- 211 Diese durch den Vergleich zwischen den Tochtersprachen rekonstruierten Wortfolgen betreffen die unmittelbar vor der Verzweigung vorangehende Stufe des Proto- Altaischen, Proto-Bantu bzw. Proto-Semitischen, während die Spezialisten älteren, durch die Interne Rekonstruktion hypothetisierten Sprachstufen manchmal andere Wortfolgen zuweisen. Z. B. rekonstruiert Hasselbach (2013: 165 ff) für das Vor-Proto- Semitische eine SVO-Wortfolge anhand der Präfix-Konjugation des Präsens, die traditionell für älter als die Suffix-Konjugation des Perfekts gehalten wird, und in der die Präfixe das Subjekt bezeichnen. 361 <?page no="362"?> zedenz “ (precedence), „ Adjazenz “ (adjacency) oder „ Konsistenz “ (consistency) hervorgehoben. Nach der Präzedenz geht eine Konstituente X einer anderen Konstituente Y voran, wenn X auf der linken Seite von Y vorkommt. Nach der Adjazenz müssen die Elemente einer Phrase benachbart sein. Die Möglichkeit eines Alignements in der Wortfolge der verschiedenen Kategorien einer Sprache stellt die Konsistenz dar, wenn z. B. der Kopf immer vor bzw. nach der Ergänzung, dem Modifikator oder dem Spezifizierer steht. Um aber die Konsistenz einer Sprache zu bestimmen, muss man sich zunächst auf eine unmarkierte Wortfolge beziehen: Konsistenz setzt „ Inflexibilität “ (unflexibility) voraus, wobei die relative Stellung von zwei oder mehr Elementen einer Phrase fest ist oder zumindest in der Mehrheit der Fälle vorherbestimmt werden kann. Im Fall der Flexibilität hingegen ist die Wortfolgenvorhersagbarkeit nicht anwendbar: „ In the event that some languages do not clearly have basic word order P, then no predictions are made for these languages simply, since the antecedent properly is not satisfied. “ (Hawkins 1980: 205) Die Auswirkungen des typologischen Ansatzes auf die Linearität des Urindogermanischen werden wir in § 5.2 diskutieren. Wir werden die Debatte zu diesem Thema kritisch durchsehen, wobei bisher sehr unterschiedliche Methoden angewendet wurden und deswegen auch sehr unterschiedliche Ergebnisse herausgekommen sind. Zur Bestimmung der uridg. Wortfolge werden wir nicht nur das Alter der Belege, sondern auch ihre möglichen äußeren Kontakte sowie die Gattung berücksichtigen (§ 5.3). Eine weitere Forschungsfrage besteht darin, wie die Darstellungen der Linearitätsprinzipien im Indogermanischen variieren und sich wandeln. In der Synchronie werden wir einige semantische und pragmatische Funktionen identifizieren, wenn auch nur in skizzierter Form, die der Variation der Wortfolge in den alten idg. Sprachen zugrunde liegen (§ 5.4). In der Diachronie werden wir sehen, ob Erbe oder Konsistenz in der Entwicklung der Wortfolge von den alten zu den modernen idg. Sprachen eine größere Rolle spielt (§ 5.5). Innerhalb der verschiedenen linearen Möglichkeiten werden wir in § 5.6 insbesondere die zweite Stellung behandeln, die die Aufmerksamkeit der Syntaktiker und der Historiolinguisten am meisten auf sich gezogen hat. Interessanterweise kann sie auf eine Beziehung zwischen syntaktischen und prosodischen Prinzipien hinweisen, die für die Wortfolge der alten idg. Sprachen üblicherweise nicht berücksichtigt wird. Zunächst sollen jedoch einige Anmerkungen gemacht werden zur Behandlung der Wortfolge in der Antike. Dabei liegt der Fokus auf den indischen Grammatikern, bei denen das Problem der Wortfolge eine besonders reiche Tradition hat. 362 <?page no="363"?> 5.2 Kritik zur Debatte über die Wortfolge der alten idg. Sprachen 5.2.1 Stilistische und sprachphilosophische Interpretationen In der Antike waren sich die Grammatiker bewusst, dass die Wortfolge ihrer Sprachen sehr variabel war, wie wir an der folgenden Stelle aus Patañjali sehen können, der (wahrscheinlich) im 2. Jh. v. Chr. sein Mah ā bh ā s · ya (wörtl. „ großen Kommentar “ zu P ā n· inis Werk) schrieb: (5.1) sa ṃ skr ˚ tya sa ṃ skr ˚ tya pad ā ny utsr ˚ jante zusammenfügen: GER zusammenfügen: GER Wort(N): AKK.PL äußern: PR.IND.MED3PL tes · āṃ yathes · t · am abhisa ṃ bandho bhavati tad sie: GEN.PL wie.Wunsch: ADV Verbindung(M): NOM.SG be: PR.IND3SG so yath ā ā hara p ā tra ṃ p ā tra ṃ ā hareti wie nehmen: IPV2SG Schale(N): AKK.SG Schale(N): AKK.SG nehmen: IPV2SG.QUOT „ Sie äußern Wörter, nachdem sie sie eines nach dem anderen zusammengefügt haben; ihre Verbindung ist wie sie wünschen, so wie ā hara p ā tram ( ‚ Nimm die Schale! ‘ ) oder p ā tram ā hara. “ (Patañjali, Mah. 1. 39. 18 - 19) Patañjali sagt hier, dass man Wörter miteinander nach Gefallen zusammenfügen kann, wörtl. „ wie “ (yath ā ) sein „ Wunsch “ (is · t · a-) ist “ , und diese lineare Anordnung nennt er abhi-sa ṃ -bandha- , ein präfigiertes Nomen aus der Wurzel bandh „ binden “ . Die Frage, wie unabhängige Wörter, jedes mit seiner eigenen Bedeutung, in einem Satz miteinander kombiniert werden und einen einheitlichen Sinngehalt ausdrücken können, wurde von den indischen Grammatikern und Philosophen lange debattiert, sogar innerhalb derselben sprachphilosophischen Tradition. Im Rahmen der M ī m ā m· s ā s plädieren Kum ā rila Bhat · t · a (7 Jh. n. Chr.) und seine Anhänger für eine kompositionelle Sicht des Satzes, die sogenannte abhihit ā nvaya- Theorie (wörtl. „ ausgesprochene Reihenfolge “ ). Demgemäss wird zuerst die Bedeutung der einzelnen Wörter vom Hörer verstanden, der danach aus ihrer Kombination die Bedeutung des ganzen Satzes ableitet. Schon Ś abara (einer Periode zwischen dem 1. Jh. v. Chr. und dem 2. Jh. n. Chr. zuzuordnen) schreibt: pad ā ni hi svam ̣ svam artham abhidh ā ya nivr ˚ ttavy ā p ā r ā n · i, athed ā n ī m· pad ā rth ā avagat ā h · santo v ā ky ā rtham ̣ gamayanti „ Indem sie ihre eigene Bedeutung übermitteln, verzichten die Wörter auf weitere Leistungen; an diesem Punkt, wenn die Bedeutungen der Wörter verstanden sind, lassen sie die Bedeutung des Satzes verstehen “ (1. 1. 25). Die Wörter (pad ā ni) werden hier mit dem zusammengesetzten Adjektiv nivr ˚ ttavy ā p ā r ā n · i beschrieben, d. h. „ verzichtend, aufhörend (ni-vr ˚ tta-) auf andere Sachen, Beschäftigungen “ (vyā p ā ran · i), und der reduplizierte Ausdruck sva ṃ svam artham „ jede eigene Bedeutung “ unterstreicht die distributive Natur der Bedeutungsübermittlung. Dagegen vertreten Prabh ā kara 363 <?page no="364"?> (7. Jh. n. Chr.) und seine Schule, noch innerhalb der M ī m ā m· s ā s, die holophrastische Interpretation der anvit ā bhidh ā na (wörtl. „ verbundener Ausdruck “ ), nach der die Bedeutung eines Satzes nicht auf die Summe der Bedeutungen seiner lexikalischen Komponenten beschränkt ist, sondern die Wörter eine genaue Bedeutung nur im Kontext des ganzen Satzes bekommen. Daher wird das Verständnis eines Satzes gleichzeitig mit dem der jeweiligen Lexeme übermittelt: bh ū y ā m ̣ so yady api sv ā rth ā h · pad ā n ā m ̣ te p r ˚ thak pr ˚ thak prayojanatay ā tv ekav ā ky ā rtham ̣ sa ṃ pracak s · ate „ Obwohl die Bedeutungen der Wörter eines nach dem anderen viele sind, versteht man die einheitliche Bedeutung des Satzes durch die Einheit der Absicht “ ( Śā likan ā tha, V ā ky ā rtham ā tr ˚ k ā vr ˚ tti 2). Den „ vielen eigenen Bedeutungen der Wörter “ (bh ū y ā m ̣ sa h · . . . sv ā rth ā h · pad ā n ā m) wird hier, durch die prägnante Bildung eines Kompositums, die „ Bedeutung eines einzelnen Satzes “ (ekav ā kya-artha-) gegenübergestellt. Das erinnert uns an die sphot · a-Theorie von Bhartr · hari (5. Jh. n. Chr.), von dem die holophrastische Natur der Sprache durch die Wurzel sphut · „ ausbrechen “ bezeichnet wird. Immerhin wird von verschiedenen Denkschulen die Idee anerkannt, dass in einer mit freier Wortfolge versehenen Sprache wie Sanskrit die lineare Anordnung einen großen Einfluss auf die Interpretation des Satzes hat, und im M ī m ā m· s ā wird diese Auffassung insbesondere durch die Begriffe von ā k ā n ˙ ks · ā -, yogyat ā - und ā sattiverdeutlicht (vgl. Staal 1967; Kunjunni Raja 1969: 151ff; Coward & Kunjunni Raja 1990: 8 - 9; Prasad 2009: 265 ff). Unter ā k ā n ˙ ks · ā - (von der präfigierten Wurzel ā -k ā n ˙ ks · „ verlangen nach “ ) versteht man jenes Phänomen, wonach ein Wort weitere Wörter verlangt, um den vollständigen Sinn des Satzes auszudrücken. Dieses Verlangen hat eine formale und eine semantische Seite. Die letztere ist die yogyat ā - (von der Wurzel yuj „ jochen, verbinden “ ), d. h. die logische Kohärenz der Wörter untereinander, während die ā satti- „ Nachbarschaft “ (von ā -sad „ nah sitzen “ ) die bloß syntaktische lineare Anordnung der Wörter ist, auch genannt sa ṃ nidhi- „ Nebeneinanderstellung “ aus sa ṃ -nidh ā : pad ā n ā m avilambenocc ā ran · a ṃ sa ṃ nidhi h · „ Der sa ṃ nidhi ist die Artikulation (uc-c ā ran · a-) ohne Verzögerung (a-vilambena, ADV) der Wörter (pad ā n ā m) “ (Anna ṃ bha t · t · a, Tarka sa ṃ graha 30). Die Ressourcen der syntaktischen und semantischen Kontiguität werden auch von der Forschungstradition der Junggrammatiker und der Strukturalisten im 19. Jh. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. berücksichtigt, die die freie Wortfolge in einen Zusammenhang mit der Verfügung über Kasus stellten: die alten idg. Sprachen hätten gerade deshalb eine so freie Wortfolge gehabt, weil sie morphologisch unterschiedene Kasus hatten, welche die syntaktische Funktion eines Nomens unabhängig von seiner Stellung im Satz identifizieren konnten (vgl. Bréal 1897: 235ff; Meillet 1937: 186 ff). In der Überzeugung, dass alternative Wortfolgen in der Bedeutung nicht äquivalent sind, führten diese Forscher die syntaktische 364 <?page no="365"?> Variation auf stilistische oder psychologische Gründe zurück (vgl. Weil 1844; von der Gabelentz 1869; Bergaigne 1879; Wundt 1900: § 7; van Ginneken 1907: § 5; Paul 1920: 121ff; Ammann 1924). So bemerkte Henry Weil, dass die Wortfolge des Altgriechischen und des Lateinischen nicht auf bloß syntaktische Prinzipien beschränkt werden kann, sondern letztlich von der liaison des idées (1844: 20) bedingt wird, die heutzutage dem Bereich der Pragmatik zugeordnet würde. Diese stilistischen Faktoren konnten entweder die Form oder die Bedeutung der verbundenen Wörter betreffen. In Bezug auf die Form haben wir Behaghels (1909) Gesetz der wachsenden Glieder, nach dem die schweren oder komplexen Konstituenten nach den leichten bzw. einfachen Konstituenten stehen. Von einem semantischen Standpunkt aus behauptet Meillet (1921), dass das im Diskurs prominenteste Wort in den alten idg. Sprachen normalerweise an der ersten Stelle im Satz platziert wird. Meillet vergleicht die feste Wortfolge des Französischen Pierre bat Paul mit den verschiedenen Entsprechungen des Lateinischen, wie Petrus Paulum caedit, Paulum Petrus caedit, caedit Petrus Paulum, caedit Paulum Petrus und sagt: „ L ’ ordre n ’ est pas indifférent; il sert à indiquer certaines nuances: suivant qu ’ on met en avant Petrus ou Paulum, on attire l ’ attention sur l ’ un ou l ’ autre mot; mais l ’ ordre n ’ indique en rien le rôle grammatical des mots. “ (1921: 147; vgl. auch Marouzeau 1922) Beide Bemerkungen, die von Behaghel und die von Meillet, antizipieren tatsächlich einige Themen der modernen syntaktischen Theorie: Das Gesetz der wachsenden Glieder entspricht grundsätzlich dem von Hawkins (1983: 90) postulierten heaviness principle, das eine solche Anordnung einer einfacheren Verarbeitung der linguistischen Übermittlung zuweist. Die der ersten Stellung zugeschriebene Prominenz wird heute auch von der kognitiven Linguistik bestätigt, nach der der Anfang einer linearen Achse eine entscheidende Rolle in den Dynamiken der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses spielt: „ The earlier a chunk of information is placed within its relevant unit, the more attention it attracts “ (Givón 2001: II, 250; vgl. auch Gernsbacher 1990). Das entspricht dem „ Primäreffekt “ der Psychologie und der Neurowissenschaften (Page & Norris 1998; Innocenti et al. 2013). Gleichzeitig erkennen die Junggrammatiker an, dass die Wortfolge nicht gleich frei war für alle Strukturen und für alle alte idg. Sprachen. Wackernagels (1892) Gesetz besagt, dass klitische Wörter wie Pronomina, Partikeln und einige semantisch leere Verben wie „ sein “ an der zweiten Stelle des Satzes stehen, d. h. unmittelbar nach dem ersten betonten Wort. Die Wackernagel-Position ist also ein Nebeneffekt der Prominenz der ersten Stellung, obwohl man auch in diesem Fall eher von Tendenzen sprechen sollte - gegen die in den Texten nicht selten verstoßen wird - und die auch für andere Sprachen als die indogermanischen gültig sind. Innerhalb der alten idg. Sprachen war die Wortfolge im Altindischen 365 <?page no="366"?> weniger flexibel als z. B. im Altgriechischen, und deswegen konnte die erstere von den Generalisierungen der Junggrammatiker auch besser erfasst werden; die Wortfolge des Altindischen wird von Delbrück (1878; 1888) am Beispiel der vedischen Prosa der Ś atapathabr ā hman · a beschrieben, der im Übrigen auch früher als Wackernagel und Behaghel die Verteilung der Klitika und der komplexen Konstituenten erahnt hatte: Die traditionelle Wortfolge in einfachen unabhängigen Sätzen lässt sich in folgende Regeln fassen: 1. Das Subjekt eröffnet den Satz. 2. Das Verbum schließt den Satz. 3. Die übrigen Satztheile werden in die Mitte genommen. 4. Die Apposition folgt ihrem Bezugswort nach. 5. Der attributive Genitiv und das Adjectivum gehen dem Substantivum voran. 6. Die Präpositionen gehen dem Verbum voran, folgen aber ihrem Casus nach. 7. Die enklitischen Wörter haben, wenn sie nicht zu einem bestimmten Satztheile in nothwendiger Beziehung stehen, die Tendenz sich an den Satzanfang anzulehnen. Ueber die Stellung der betonten Partikeln lässt sich eine einfache Regel nicht aufstellen. Der in diesen Sätzen beschriebene Satztypus ist, wie ich nicht zweifle, bereits in der idg. Grundsprache vorhanden gewesen. (1888: 16; vgl. auch 1878: 13) Wie Delbrück erklärt, hat der Satz des Altindischen in der Mitte mehr Freiheit als an den Rändern. Die linke Peripherie ist aber weniger fest als die rechte, weil das Subjekt oft implizit ist und daher von anderen Konstituenten in der Anfangsstellung ersetzt wird. Die Anwendung von Delbrücks (1888) Hypothese auf die Wortfolge des Urindogermanischen werden wir in § 5.3 wieder aufnehmen. Hier weisen wir nur auf einen Punkt in den ersten Überlegungen zur Wortfolge der alten idg. Sprachen hin, der aber in der heutigen Literatur umstritten bleibt, und zwar die Beziehung zwischen freier Wortfolge und Reichtum an Kasus. Einige Syntaktiker wie W. Lehmann (1973), Vennemann (1975) und Roberts (1997) haben im Gefolge der Junggrammatiker behauptet, dass der Wandel in der Linearität und besonders derjenige von SOV zu SVO vom Verlust der Kasus verursacht worden sei, der ein Missverständnis der syntaktischen Funktionen mit sich gebracht habe. In dieser Hinsicht muss man jedoch vorsichtig sein, denn der Verlust der Kasus und die Festsetzung der Wortfolge gehen zwar in dieselbe Richtung, sind aber auch voneinander unabhängige Phänomene, die nicht für eine Kausalkette gehalten werden dürfen. Deswegen haben sich einige Forscher wie Allen (1995) gegen eine solche Erklärung für den Wandel in der Kodierung der Empfindungsprädikate geäußert (siehe Diskussion in § 3.4.2.2). Nach Kiparsky (1997) ist die Korrelation einseitig, wobei Mangel an flexioneller Morphologie zwar oft eine feste Wortfolge auslöst, doch das Gegenteil gilt eben nicht. Auch Lightfoot (2002 c: 18) argumentiert, wiewohl der morphologische Wandel oft Auswirkungen auf die Syntax habe, sei die Beziehung zwischen Morphologie und Bewegungs- 366 <?page no="367"?> operationen nicht isomorph, sondern bestenfalls indirekt (vgl. auch Anderson 2002: 273). Statt einer Beziehung zwischen Wortfolge und syntaktischen Funktionen sehe ich vielmehr eine Beziehung zwischen Wortfolge und syntaktischen Kategorien, wobei die Festsetzung der Linearität sich sowohl in der Phrase wie auch im Satz für jene Konfigurationen am frühesten entwickelt, die aus geschlossenen Kategorien bestehen, wie wir in Kapitel IV gesehen haben. 5.2.2 Syntaktische Interpretationen Ein erneutes Interesse an der Wortfolge der alten idg. Sprachen entstand in den Siebzigerjahren des 20. Jh., offenbar inspiriert von Greenbergs (1966) Typologie der Wortfolge. 212 Diese Methode trug dazu bei, eine Verbindung zwischen vielen vorher anscheinend nicht zusammenhängenden Daten der Syntax der alten idg. Sprachen zu finden, aber es führte auch zu einigen erzwungenen Interpretationen der Daten, was besonders auffällig war, da fast gleichzeitig sehr verschiedene Rekonstruktionen der uridg. Wortfolge 212 Eine Reihe implikationeller Universalien wie „ wenn eine Sprache die Struktur x hat, wird sie auch die Struktur y haben “ ermöglichte Greenberg (1966) die Stellung einer Konstituente in Bezug auf andere Konstituenten zu bestimmen und die Syntax einer Sprache als ein synchrones System ineinander greifender regelmäßiger Entsprechungen zu beschreiben. Wenn eine Sprache die unmarkierte SOV-Wortfolge hat, habe sie „ with more than chance frequency “ auch die Wortfolgen NPo, AN, GN, StK, usw. Wenn dagegen eine Sprache die basische VSO-Wortfolge hat, habe sie auch die Wortfolgen PräN, NA, NG, KSt, usw. Aufgrund einer basischen SVO-Wortfolge kann man die Wortfolge der anderen Konstituenten nicht so gut vorhersagen, denn einige SVO- Sprachen haben AN und GN, wie das Englische (mindestens im sächsischen Genitiv), und andere SVO-Sprachen haben NA und NG, wie das Swahili. Die Wortfolge der Adpositionen und des Standards der Komparation ist aber auch in den SVO-Sprachen vorhersagbar: Diese Sprachen haben eher Präpositionen als Postpositionen und eine feste KSt-Sequenz. Daher hängt die Identifikation der Wortfolge nicht nur vom Typ der Sprache ab, nach dem SOV- und VSO-Sprachen geeigneter für überkategoriale Generalisierungen als SVO-Sprachen sind, sondern auch vom Typ der syntaktischen Kategorien, da Präpositionen bessere Prädiktoren der Wortfolge als Adjektive oder Genitive sind. Selbst ein Adjektiv ist ein besserer Prädiktor in Bezug auf den Standard der Komparation als auf das Substantiv (vgl. W. Lehmann 1976 a: 172; Dryer 1988). Eine Herausforderung für Greenbergs Implikationen sind aber die Sprachen, in denen das Subjekt oder das direkte Objekt nicht grammatikalisiert ist (vgl. LaPolla 2002). Außerdem sind diese Implikationen wegen des Vorkommens von Ausnahmen eher statistische als absolute Universalien. Die Möglichkeit überkategorialer Generalisierungen wurde schon von von der Gabelentz vorgesehen, der auch für die Betrachtung der Sprache als ein System plädierte: „ Aber welcher Gewinn wäre es auch, wenn wir einer Sprache auf den Kopf zusagen dürften: Du hast das und das Einzelmerkmal, folglich hast du die und die weiteren Eigenschaften und den und den Gesammtcharakter! “ (1901: 481). 367 <?page no="368"?> vorgestellt wurden: das Urindogermanische wurde für eine SOV-Sprache von W. Lehmann (1974), eine VSO-Sprache von Miller (1975) und eine SVO- Sprache von Friedrich (1975) gehalten. Nach W. Lehmanns (1974) Hypothese, die in der Literatur zur Wortfolge einflussreicher war, sei das Urindogermanische eine konsistente SOV- Sprache gewesen mit den Begleiterscheinungen GN, AN, NPo und StK, wie das Türkische oder das Japanische. Diese Rekonstruktion beruht einerseits auf Delbrücks oben zitierten Bemerkungen über die Wortfolge im Altindischen und andererseits auf der OV-Wortfolge der Komposita, die gewöhnlich Wortverbindungen routinieren, und die in den alten idg. Sprachen oft aus einem Nomen (mit der Funktion des Patiens, Empfängers, Instruments usw.) und einem Verb bestehen. Obwohl auch die Wortfolge V + N in Komposita belegt ist (z. B. Ved. sanád-rayi- „ der Reichtum anbietet “ < sanád- „ anbietend “ + rayi- „ Reichtum “ ), ist die gegensätzliche Wortfolge N + V viel häufiger (Ved. agnídh- „ der Feuer entzündet “ < agni- „ Feuer “ + idh „ entzünden “ ). Beide Argumente wurden in der Literatur angefochten. Komposita seien nicht zuverlässig, um die basische Wortfolge einer Sprache zu rekonstruieren: sie stellen zwar oft die erstarrte Form zweier Wörter dar, die früher unabhängig voneinander und in einer Phrase frei kombinierbar waren, aber nicht immer gilt, dass diese Kombination auch die unmarkierte Wortfolge der entsprechenden Phrase widerspiegelt ( „ such reconstruction must proceed with extreme care, since one cannot accept as a general principle that morpheme order reflects earlier (basic, or even possible) word order “ , Comrie 1980: 93). Comrie zeigt das am Beispiel des Mongolischen, in dem Person-Marker deutlich reduzierte Formen der Personalpronomina sind und trotzdem ihre lineare Anordnung nicht darstellen, weil Person-Marker am Verb suffigiert sind, während das Subjekt in der üblichen SOV Wortfolge, wie auch in der selteneren SVO Wortfolge, regelmässig vor dem Verb steht. Weitere Beispiele werden von Anderson (1980) und von Harris & Campbell (1995: 200 ff) aus verschiedenen Sprachen berichtet, in denen Flexion und Wortbildung und ihre entsprechenden Phrasen unterschiedliche Wortfolgen haben, sodass Givóns (1971) Motto „ today ’ s morphology is yesterday ’ s syntax “ in diesen Fällen nicht funktioniert. Dieselbe Möglichkeit sollte also auch für tote Sprachen konzediert werden. Sogar innerhalb derjenigen Forschungen, die die Wichtigkeit der Komposita für die Rekonstruktion der uridg. Wortfolge stärker betonen, stimmen die Interpretationen nicht miteinander überein. Nach Miller (1975: 32 - 33) sind verbbeginnende Komposita am bedeutsamsten genau dadurch, dass ihre Anzahl geringer ist und deshalb Relikte einer vorherigen Sprachstufe zu sein scheinen, und tatsächlich werden einige verb-beginnende Komposita (besonders diejenigen, die als Eigennamen lexikalisiert sind) für sehr archaische Bildungen gehalten, z. B. Ved. Trása-dasyuwörtl. „ dessen Feind 368 <?page no="369"?> zittert “ , A. P. D ā raya-vau š „ Reichtum haltend “ , Altgr. Μενέλαος „ der das Volk festhält “ . 213 Also ergaben sich offenbar die gegensätzlichen Rekonstruktionen der uridg. Wortfolge einfach dadurch, dass man verschiedene Beweisstücke auswählte und sogar dieselben Beweise verschieden interpretierte. Noch mehr angefochten wurde die Wahl des Altindischen und der Ś atapathabr ā hman· a für die Rekonstruktion der uridg. Wortfolge. Die Br ā hman· a sind zwar der älteste Prosa-Text der altindischen Literatur, aber sie entstanden auch später als die Veda und wurden in einer Zeit verfasst, als das Vedische von den dravidischen Sprachen besonders in der Syntax schon stark beeinflusst wurde, wie wir in § 5.3 sehen werden. Eine durchaus übliche deduktive Praxis erscheint in den syntaktischen Behandlungen der idg. Wortfolge bei W. Lehmann (1973) und besonders bei Vennemann (1974; 1975) und Hawkins (1980; 1983). Das kann man an Vennemanns natural serialization principle sehen, gemäss dem eine unidirektionale Anordnung für die Beziehung zwischen dem Operand, d. h. dem Kopf, und dem Operator, d. h. dem Dependens, besteht. Eine Sprache könne entweder eine Operator - Operand Serialisierung wie das Japanische oder eine Operand - Operator Serialisierung wie das Italienische haben, aber ein und dieselbe Serialisierung könne durch verschiedene Phrasen bewirkt werden. „ For consistency ’ s sake “ (Hawkins 1980: 216) haben diese Syntaktiker manchmal die Unzuverlässigkeit der Daten übersehen. Hawkins fragt sich, warum das Lateinische und die sabellischen Sprachen eine unmarkierte AN-Wortfolge, aber keine feste Stellung für den Genitiv hätten, während der Genitiv normalerweise das implicans ist: „ The significance of inconsistency in Italic depends crucially on this interpretation of equally frequent word order. [. . .] If gen+n could count as basic in Italic, this would save the implication (I) SOV É (ADJ + N É GEN + N). “ (1979: 634) Natürlich ist es nicht die Sprache, die sich einer Implikation anpassen muss, sondern umgekehrt. Außerdem ist GN nicht die basische Wortfolge des Genitivs im Lateinischen, wie Adams (1976: 73 - 83) darlegt, und selbst die Annahme einer unmarkierten AN-Wortfolge ist für diese Sprache umstritten. 213 Nach Benveniste (1967) waren sowohl NV-Komposita wie Altgr. οἰκό φορος als auch VN-Komposita wie φερέ οικος gleichermaßen im Urindogermanischen vorhanden, in dem aber die Bedeutung „ haustragend “ unterschiedlich, und zwar habituell bzw. situativ, gemeint war. Der OV-Typ bezeichnete jemanden, der eine Tätigkeit von Natur oder Berufung ausübt: „ φορος « porteur par vocation ou nature » (définition) “ (S. 153) Der VO-Typ bezeichnete hingegen jemanden, der eine Tätigkeit bei einer bestimmten Gelegenheit durchführt: „φερέ - « qui porte effectivement » (description) “ (S. 153). Der Unterschied zwischen gewohnheitsmäßiger und situativer Funktion, den Benveniste auch in weiteren Wortbildungen der alten idg. Sprachen wie bei z. B. Nomina Agentis auf *-torvs. *-ter- und Nomina Actionis auf *-tivs. *-tuidentifiziert, entspricht auch der Opposition zwischen dem „ referentiellen “ und dem „ attributiven “ Gebrauch der Sprachphilosophie (vgl. Donnellan 1966). 369 <?page no="370"?> Ähnlich bietet Miller (1975) keinen unabhängigen Beweis für den Wandel von der angeblich ursprünglichen Folge VSO zu SOV und letztlich zu SVO an, der die Widersprüchlichkeit dadurch auflösen würde, dass verschiedene Wortfolgen verschiedenen historischen Entwicklungsstufen zugewiesen werden. Weder Miller (1975) noch W. Lehmann (1974) berücksichtigen die Möglichkeit, dass das Urindogermanische inkonsistente oder disharmonische Wortfolgen gehabt haben könnte, weil Disharmonie typisch für die „ Übergangssprachen “ sei (definiert als ambivalent bei W. Lehmann 1973: 989) und nur für relativ kurze Zeit bestanden haben können: „ The currently extremely disharmonic languages should not have been in a disharmonic state for a long period of time; and those members of a language family in evolution which introduce disharmony first, or to a greater extent than others, should resolve it soonest “ (Hawkins 1979: 647). 214 Nichtsdestoweniger sind inkonsistente Sprachen häufig (sogar das Englische kann mit seinen SVO, AN, GN/ NG und gestrandeten Adpositionen kaum für eine konsistente Sprache gehalten werden), und sie können entgegen obiger Annahme durchaus für eine unbeschränkte Zeit in dieser Lage bleiben. Diese Möglichkeit wird tatsächlich von Friedrich (1975) erwogen, der für die Rekonstruktion der uridg. Wortfolge in der Postulierung von Generalisierungen vorsichtiger als Lehman und Miller ist: „ A linguistic system can oscillate indefinitely between the margins of two (or more) ideal types, or persist indefinitely as a subtype that mixes various types [. . .]; the early Indo-European systems do not necessarily descend from any ideal type. “ (1975: 3) Das Bestreben, unbedingt eine einheitliche Rekonstruktion der uridg. Wortfolge zu erreichen, mündete in teilweise kritikwürdige Vorstellungen von Sprachen und Sprachwandel. Ein Beispiel dafür ist folgende Behauptung: „ Latin is an almost pure type at its two chronological extremes: viz. on the one hand in the earliest period as evidenced in formulae and conservative texts such as laws, and on the other in texts of late antiquity (down to, say, the sixth century). “ (Adams 1976: 72) Aus dieser 214 Obwohl er W. Lehmann (1973) und Vennemann (1975) kritisiert, schlägt Hawkins einen ziemlich ähnlichen Begriff der Konsistenz vor, sodass die Stellung des Nomens in Bezug auf seinen Operator die Stellung des Verbs in Bezug auf seine Operatoren spiegelt. Der Unterschied besteht darin, dass bei W. Lehmann und Vennemann der Wandel der Wortfolge eine natürliche Konsequenz der Inkonsistenz ist, die schliesslich von morphologischer Erosion bedingt wird, während sich nach Hawkins Sprachen entwickeln, ohne gegen die Wortfolgenbeschränkungen zu verstoßen, die von implikationellen Universalien ausgedrückt werden. In Bezug auf das Indogermanische befürwortet Hawkins Friedrichs Analyse ( „ I argue on distributional grounds that the chances that PIE was an SOV language are less than 1 in 10 “ , 1979: 643), aber er übertreibt auch einige seiner Beobachtungen ( „ IE word order variation falls squarely within the universal parameters of variation currently attested in a large sample of languages from different families “ , 1979: 642; betont). 370 <?page no="371"?> Perspektive aber wird der Kern der lateinischen Literatur als „ unrein “ qualifiziert ( „ the period between archaic Latin and late Latin raises problem “ , Adams 1976: 93), sodass der Begriff der typologischen Reinheit von der historisch realen Sprache selbst abgekoppelt wird. Wie hingegen Watkins (1976: 306) bemerkt, ist jede Sprache „ in transition “ und deswegen kann man nicht alle synchronen Idiosynkrasien durch einen Wandel zwischen zwei konsistenten Sprachstufen erklären. Nach Watkins müssen auch die selteneren Wortfolgen wie die Anfangsstellung des Verbs für das Urindogermanische rekonstruiert werden, und ebendiese Frage einer ursprünglichen OV- oder VO-Wortfolge sei ein Scheinproblem ( „ both word order patterns, marked verb-initial and unmarked verb-final, must be reconstructed for the proto-language, Indo-European itself. That is to say that much of the typological debate about Indo-European as OV versus VO is purely and simply a pseudo-problem “ , S. 316). Er denkt, dass man zuerst einen philologischen Ansatz für die Daten haben und die Wortfolge in Texten, die ähnliche Kontexte zeigen, analysieren sollte, denn „ if you want to know how the Indo-Europeans talked, it can be useful to consider what they talked about “ (S. 314). Watkins hat die stärkste Kritik an W. Lehmanns (1974) Hypothese geäußert, wie auch an Friedrich (1975) und Miller (1975), und auf seinen (1976) Artikel beziehen sich die meisten Historiolinguisten, die den typologischen Ansatz für die uridg. Wortfolge anfechten (vgl. Jeffers 1976 b; Strunk 1977; Lightfoot 1979; Winter 1984; Hale 1987; 2007). Der typologische und der philologische Ansatz für die idg. Wortfolge wie für andere linguistische Phänomene sind jedoch m. E. vereinbar, und Watkins (1976) Kritik an W. Lehmann finde ich übertrieben (vgl. auch Harris 1984), besonders weil Lehmanns Analyse grundsätzlich Delbrücks Beobachtungen bestätigt und nicht ohne Berücksichtigung der Daten formuliert wurde. Erstens ist W. Lehmanns Versuch, die basische Wortfolge des Urindogermanischen zu bestimmen, per se kein Scheinproblem, weil alle Sprachen, auch diejenigen, deren lineare Anordnung syntaktisch frei ist, eine unmarkierte (d. h. eine im Diskurs am häufigsten vorkommende und semantisch generische) Wortfolge benutzen, um eine Proposition auszudrücken. 215 Die Schwierigkeiten der Identifizierung einer solchen Wortfolge für das Urindogermanische machen den Versuch nicht überflüssig. Zweitens bezweckte der typologische Vergleich zwischen der impliziten und der angeschlossenen Satzverbindung der alten idg. Sprachen mit denjenigen konsistenten SOV-Sprachen wie Türkisch oder Japanisch, die Auffassung vom Urindogermanischen als einer primitiven 215 Einige Ausnahmen wurden von Mithun (1992) in einigen nordamerikanischen Sprachen identifiziert, wobei sie schon im Titel ihres Aufsatzes die Frage aufwarf: „ Is basic word order universal? “ 371 <?page no="372"?> Sprache zu korrigieren ( „ rather than a primitive language or a primitive people, we would posit for Proto-Indo-European a linguistic structure attested for approximately half the languages known today “ , W. Lehmann 1980: 125). Sogar Millers (1975) Hypothese einer ursprünglichen VSO-Wortfolge, die auf den ersten Blick merkwürdiger erscheint als die von W. Lehmann (1974) und Friedrich (1975), folgt mit ihrer Aufwertung der VN-Komposita der Logik, den anomalen Merkmalen die größte Bedeutung beizumessen. Dieses Prinzip, das von Meillet (1931: 194) als Grundlage der Historiolinguistik postuliert wurde, wird auch von der Typologie übernommen ( „ recessive features are among the strongest candidates for reconstruction to proto-languages “ , Nichols 2003: 308), was ein deutlicher Hinweis auf die Kompatibilität zwischen historischen und typologischen Ansätzen ist. Drittens ist W. Lehmanns (1974) Rekonstruktion des Urindogermanischen als einer SOV-Sprache im Großen und Ganzen richtig, wie wir in § 5.3 sehen werden, natürlich mit dem Vorbehalt, dass es nur um Unmarkiertheit geht, die andere lineare Anordnungen nicht ausschließt. In der höheren Häufigkeit der SOV-Wortfolge im Urindogermanischen stimmt Watkins selber mit W. Lehmann (oder in seiner Absicht mit Delbrück 1888) überein: Watkins (1976: 317) betont die Wichtigkeit der Wortfolge einerseits der Nebensätze für die Rekonstruktion, die im korrelativen Diptychon normalerweise dem Hauptsatz vorangestellt werden, wie auch andererseits der Sprichwörter, die in Sprachen wie dem Altgriechischen, die ansonsten keine basische SOV-Wortfolge haben (Friedrich 1975; Dik 1995; contra Taylor 1994), das Verb am Ende zeigen, z. B. μία χελιδὼν ἔαρ οὐ ποιεῖ „ Eine Schwalbe macht noch keinen Frühling “ . Man sollte also W. Lehmanns (1974) Annahme eher mild kritisierend zustimmen als ihr widersprechen. Anders als die Suche nach der unmarkierten Wortfolge schätzen wir die Rekonstruktion des Urindogermanischen als einer Operand-Operator- Sprache im Sinne von Vennemann (1973) ein. Während syntaktische Kategorien wie Adpositionen oder Adjektive und syntaktische Funktionen wie Subjekt oder Objekt in Texten deutlich identifiziert werden können, ist die Bestimmung einer hierarchischen Beziehung zwischen Kopf und Dependens in einer zu guten Teilen nicht-konfigurationellen Sprache wie dem Urindogermanischen umstritten. Wie wir in Kapitel IV gesehen haben, war die Hierarchie in der appositiven Verbindung der alten idg. Sprachen zumindest für einige Konstituenten kaum entwickelt. Dementsprechend ist die Suche nach einem Head Parameter (vgl. Chomsky 1981) in den alten idg. Sprachen m. E. schon im Voraus gefährdet. Diese mit Vorsicht zu genießenden, bloß syntaktischen Ansätze für die uridg. Wortfolge gelten aber nicht nur für W. Lehmann (1973; 1974), sondern auch für Hales (1987) Studie des Wackernagel-Gesetzes im Indoiranischen, die die Universalität der CP-Position des Englischen annimmt und sie auf die alten idg. Sprachen anwendet, was aber nach Watkins (1997) zusammen mit Garretts (1990) 372 <?page no="373"?> Arbeit über die Klitika des Anatolischen „ represent the first clear step forward in historical comparative Indo-European syntax which is directly dependent on the development of modern syntactic theory “ (S. 629). Nach Hale (1987) rührt die Verteilung von Interrogativ- und Relativpronomina im Indoiranischen von verschiedenen Bewegungen her, die auch auf verschiedene Konstituenten angewendet werden. Zuerst wird ein wh-Element in die CP-Stellung platziert (vgl. auch Etter 1985), dann kann ein Klitikon dem wh-Element folgen, und zuletzt kann eine einzelne Konstituente vor dem wh-Element topikalisiert werden. Neben den unmarkierten Konstruktionen mit dem wh-Element in der ersten Stellung (z. B. RV 1.165.2 a kásya bráhm ā n · i jujus · ur yúv ā nah · „ An wessen feierlichen Reden haben die Jünglinge Wohlgefallen gefunden? “ ) belegt das Rig-Veda auch Konstruktionen wie RV 6.27.1 b índrah · kím asya sakhyé cak ā ra „ Was hat Indra in seinem Bunde getan? “ , in denen weder das wh-Element in der ersten Stellung noch das Klitikon in der zweiten steht. Diese scheinbaren Ausnahmen können nach Hale nur erklärt werden, wenn man sie für das Ergebnis einer geschichteten Bewegung hält, wobei „ at the time of cliticization, the ka-word will be the first element in the clause, and the clitics will naturally take their position immediately following it “ (1987: 13). Diese Interpretation finde ich raffiniert, aber es ist doch eher eine Beschreibung als eine Erklärung der vedischen Wortfolge, weil sie die Weise der Bewegung illustriert, ohne zu sagen, warum einige wh-Elemente pied-piping haben oder andere in situ bleiben und welche Funktionen die verschiedenen Stellungen ausdrücken. In einigen Sprachen wie im Italienischen, in dem wh-Elemente normalerweise in die erste Stellung platziert werden, können wir auch in situ-Interrogativa haben, wenn ein Teil des Satzes im Diskurs vorausgesetzt wird. Neben dem unmarkierten Satz Chi hai visto oggi? „ Wen hast du heute gesehen? “ kann man den Satz Hai visto oggi chi? aussprechen, wenn der Angesprochene schon gesagt hat, dass er jemanden gesehen habe, und der Sprecher bedeutet durch den in situinterrogativen Marker, dass er diese Aussage entweder nicht verstanden oder nicht erwartet hat. Somit sind die Konstituenten, die vor dem in situ- Interrogativ stehen, im Kontext bestimmter als der entsprechende Teil im pied-piping, das für mehr Interpretationen offen ist, und die zwei verschiedenen Strukturen unterscheiden sich aufgrund der im Diskurs höheren oder niedrigeren Zugänglichkeit einiger Konstituenten der Frage. Ich habe den Eindruck, dass solche Funktionen auch der Konkurrenz zwischen den Interrogativen des Vedischen zugrunde liegen, jenen, die in die erste Stellung bewegt werden, und denen, die in situ bleiben, natürlich mit dem caveat, dass man hier eine genaue Korpus-Analyse durchführen sollte. Es ist bedeutsam, dass 12 von 13 rigvedischen Stellen mit in situ wh-Elementen, die Hale (1987: 10 ff) beschreibt, direkt nach einer oder mehreren interrogativen Strukturen vorkommen, in denen dieselben oder ähnliche Refe- 373 <?page no="374"?> renten im Umfang des interrogativen Markers stehen wie in (5.2), 216 und keine einzige ist am Anfang eines Hymnus oder führt eine neue Topik ein. Für die erste einer Serie von Fragen findet man regelmässig pied-piping. (5.2) yám· kum ā ra pr ā ´vartayo RP: AKK.M.SG Knabe(M): VOK.SG vorführen: KAUS.IPF.IND2SG rátham· víprebhyas pári / Wagen(M): AKK.SG Redekundig(M): DAT.PL PRÄV tá m ̐ s ā ´m ā ´nu pr ā ´vartata der: AKK.M.SG S ā man: NOM.PRÄV folgen: IPF.IND.MED3SG sám itó n ā vy ā ´hitam / / PRÄV von.da Schiff(F): LOK gesetzt: NOM.N.SG káh · kum ā rám ajanayad wer: NOM.M.SG Knabe(M): AKK.SG erzeugen: KAUS.IPF.IND3SG rátham· kó nír avartayat Wagen(M): AKK.SG wer: NOM.M.SG PRÄV fertigen: IPF.IND3SG „ Dem Wagen, den du Knabe da den Redekundigen vorgeführt hast, dem folgte das S ā man nach, der von da auf das Schiff gesetzt wird. / / Wer hat den Knaben erzeugt, wer hat den Wagen gefertigt? „ (RV 10.135.4 - 5ab; Übersetzung Geldner 1951: III, 369) In eine Reihe mit lexikalischen und grammatischen Entsprechungen (kum ā ra . . . kum ā rám, pr ā ´vartayas . . . pr ā ´vartata . . . avartayat) wird auch das Nomen des „ Wagens “ gestellt (rátham . . . rátham), das im letzten Satz vor dem in situ-Interrogativum steht und im direkt vorangehenden Kontext schon erwähnt wurde. Diese in situ-Interrogativa kommen also mit kontextuell hoch definiten Referenten vor, auf dieselbe Weise wie im Italienischen und anderen romanischen Sprachen. Selbst wenn man manchmal dazu neigt, die Prinzipien seiner Muttersprache auch auf die alten Sprachen anzuwenden, muss die Funktion der markierten in situ-Stellung des Vedischen doch erklärt werden, während pied-piping generalisiert ist und deswegen keine besondere Bedeutung hat. Die Hypothese einer höheren Informationsladung für in situ-Interrogativa könnte eine Bestätigung in den Relativsätzen des Hethitischen finden, die wie die Fragesätze in dieser Sprache von einem kw-Marker eingeleitet werden, und die eine indefinite (indeterminate) oder definite (determinate) Funktion ausdrücken, je 216 Die 12 Stellen, in denen das in situ-Interrogativum auf kurze Entfernung zu anderen Fragen vorkommt, sind RV 4. 18. 12 b, 4.23.2 b, 4.43.2 c, 6.21.4 a, 6.27.1 b, 8. 7. 20 c, 8.64.9 c, 8.84.5 a, 10.135.5 b, 10. 90. 11 c, 10.114.9 d, 10.129.6 d: Das Element, das vor dem Interrogativum steht, ist immer im Kontext verankert und definit. Die einzige Stelle, in der das in situ-Interrogativum nicht im Kontext anderer Fragen steht, ist 1. 32. 14, bei der aber das vorherige Element áher y ā t ā ´ram „ Rächer der Schlange “ , d. h. „ Indra “ , die Topik des Hymnus ist. 374 <?page no="375"?> nachdem ob das Relativpronomen in der ersten Stellung des Satzes (oder unmittelbar nach einer satzeinleitenden Konjunktion ggf. mit begleitenden Klitika) bzw. nach zumindest einem betonten Konstituenten, normalerweise dem nominalen Kopf, steht (vgl. Held 1957). Das Problem rein syntaktischer Ansätze für die uridg. Wortfolge besteht m. E. darin, dass sie der Semantik und Pragmatik der geordneten Elemente keine Aufmerksamkeit schenken, als ob alle Genitive oder Adjektive für Bewegungen gleich tauglich wären, was eben nicht gilt. Das können wir an den modernen Sprachen deutlich sehen. So ist die Stellung einiger evaluativer Adjektive in den romanischen Sprachen semantisch bedingt: wenn es eine restriktive oder objektive Bedeutung hat, ist das Adjektiv nachgestellt; wenn es subjektiv, emphatisch oder metaphorisch gemeint ist, wird das Adjektiv vorangestellt (vgl. Fr. l ’ homme pauvre vs. le pauvre homme, Ita. un soldato semplice vs. un semplice soldato). Eine ähnliche Verteilung findet man im Lateinischen (Marouzeau 1922: 13 ff), wo die Wortfolge auch für kleinere Konstituenten weniger grammatikalisiert ist (§ 5.5). Eine gewisse Permeabilität bezüglich semantischer und pragmatischer Faktoren müssen wir auch für die Wortfolge der alten idg. Sprachen annehmen, denen nach Labovs (1972 a) Lehre dieselben Prinzipien wie in den modernen Sprachen zugrunde lagen. Ja wir sollten die Wirksamkeit semantischer und pragmatischer Faktoren in den alten idg. Sprachen, wo die Wortfolge keine syntaktische Funktion hatte, sogar höher gewichten als in den modernen. In den alten idg. Sprachen ist die Suche nach Greenbergs „ order of meaningful elements “ (1966) genau deswegen komplizierter, weil es aufgrund der in den vorigen Kapiteln illustrierten geringen Grammatikalisierung der syntaktischen Kategorien und der syntaktischen Funktionen mehr bedeutsame Elemente gab, wobei z. B. Präpositionen und Proformen oft ihre ursprüngliche adverbiale bzw. deiktische Funktion bewahren, und deswegen auch mehr Faktoren miteinzubeziehen sind. 5.2.3 Funktionale Interpretationen Funktionale Studien über die uridg. Wortfolge haben sich auf entweder soziolinguistische oder pragmatische Aspekte fokussiert. Eine soziolinguistische Interpretation der Wortfolge des Lateinischen wurde von Adams (1976) angeboten, der einen vorherrschenden Gebrauch von SVO schon bei Plautus nachgewiesen hat, bei dem diese Wortfolge viel häufiger als bei den Autoren des klassischen Lateinisch vorkommt. Adams behauptet, dass, wenn der Wandel von SOV zu SVO während der Geschichte des Lateinischen geschehen wäre, bei Plautus eine höhere Häufigkeit von SOV als bei Cicero oder Caesar erwartet werden müsste, was aber eben gerade nicht der Fall ist. Dementsprechend schlägt er vor, die Variation zwischen SOV und SVO, GN und NG, AN und NA usw. so zu interpretieren, dass der 375 <?page no="376"?> archaischere SOV-Typ der literarischen Sprache angehört, während der SVO-Typ die Alltagssprache spiegelt und im Spätlateinischen und in den romanischen Sprachen wieder auftaucht. Die Wortfolgenvariation könnte also dem Kontrast zwischen urbanitas und rusticitas zugeschrieben werden (vgl. Pulgram 1950). Und in Plautus ’ volkstümlichen Theaterstücken erscheint der Ausdruck der letzteren. Adams (1976) konnte den syntaktischen Ansatz der uridg. Wortfolge ernsthaft in Frage stellen, und tatsächlich ist die Soziolinguistik eine Herausforderung an den Formalismus, nach dem der Sprachwandel während des Spracherwerbs entstehe (vgl. Bichakjian 1987) und die Grammatik eines erwachsenen Sprechers ein unabhängiges, aus arbiträren Gesetzen bestehendes System sei. Für einen Soziolinguisten hingegen ist die Grammatik weder unabhängig noch statisch, und der diachrone Sprachwandel findet durch die synchrone Variation zwischen verschiedenen Strukturen statt, die in derselben (erwachsenen) Sprachgesellschaft koexistieren und konkurrieren, sogar in der Grammatik ein und derselben Person, die die eine oder andere Variante je nach soziokulturellen Umständen der linguistischen Interaktion verwendet. Trotzdem sind die Überlegungen von Adams noch kompatibel mit den syntaktischen Analysen der uridg. Wortfolge, zum einen weil er die Annahme einer beständigen Drift von SOV zu SVO nicht abstreitet, sondern nur behauptet, dass dieser Wandel früher als bei Plautus in einer vordokumentarischen Ära stattfand ( „ by the time of Plautus the language had lost its OV characteristics “ , 1976: 85). Dieser Grundsatz wird auch von Bauer übernommen ( „ the elements of each phrase were ordered in earliest times in Latin or before according to the principles of an SOV languages “ , 1995: 6). Zum anderen kann die angebliche Unabhängigkeit der Syntax gerettet werden, wenn man verschiedene Soziolekte annimmt, d. h. verschiedene aber intrakonsistente Grammatiken, die von demselben Sprecher in verschiedenen Kontexten benutzt werden. Aus dieser Perspektive läuft der Sprachwandel auf die Umschaltung im Gebrauch von einem zum anderen Soziolekt hinaus. Diese Darstellung des syntaktischen Wandels als Ergebnis einer Konkurrenz zwischen verschiedenen Grammatiken wird von Kroch (1989), Taylor (1994), Kroch & Taylor (2000), Pintzuk (2002; 2003) unterstützt (siehe Zipser 2012: 170ff und Ringe & Eska 2013: 214ff zur Diskussion). Genau dieser Methode folgt Adams (1976: 82 - 83), nach dem zwei getrennte Systeme SOV und SVO im Lateinischen zur Verfügung standen, sodass jeder Autor seinem Publikum entsprechend das eine oder das andere wählte. Z. B. benutzt Hieronymus NG im Alten Testament, das ein breites und volkstümliches Publikum anspricht, hingegen GN in seinen Briefen, die für eine ausgewählte und gebildete Leserschaft gedacht waren. Die Verfügbarkeit unterschiedlicher Soziolekte würde also in kleinerem Maßstab dieselben Mechanismen wie der Bilinguismus darstellen, welchen Adams in seiner meisterhaften (2003) 376 <?page no="377"?> Studie vertieft analysiert in Bezug auf verschiedene im alten Italien gesprochene Sprachen wie Oskisch, Umbrisch, Venetisch, Messapisch, Altgriechisch, Keltisch, Etruskisch und Punisch. Eine noch größere Herausforderung an die syntaktischen Interpretationen kommt vom pragmatischen Ansatz für die Wortfolge, nach dem sich sprachliche Fähigkeiten vor allem entwickelt haben, um Erfordernissen der Kommunikation zu entsprechen (z. B. „ deutlich sein “ oder „ nicht redundant sein “ ) - und diese Fähigkeiten wurden dem kontextuellen Hintergrund und der Sprecher und Hörer gemeinsamen, präsuppositionellen Situation ständig angepasst. Auf die Wortfolge des Lateinischen wendet Panhuis (1982) den theoretischen Rahmen der von der Prager Schule entwickelten „ funktionalen Satzperspektive “ an (Functional Sentence Perspective, vgl. Firbas 1957) und stellt fest, dass die Struktur des Satzes im Lateinischen nach einem „ Topik-Fokus “ -Schema organisiert sei. Im Tschechischen und in anderen slawischen Sprachen gehen die mit einem niedrigen Niveau an kommunikativem Dynamismus versehenen Konstituenten den mit einem hohen Niveau an kommunikativem Dynamismus versehenen Konstituenten voran. Nach Panhuis sind dieselben Prinzipien auch für das Lateinische gültig, und Ausnahmen würden nur in markierten Kontexten von Emphase vorkommen. Spevak (2010) aber argumentiert, dass die Thema - Rhema Wortfolge im Lateinischen nicht immer angewendet wird, und dass die abweichenden Fälle nicht für einfache Ausnahmen gehalten werden können, weil sie ziemlich häufig sind. Da Spevak Tschechischer Muttersprache ist, kann sie am besten die Unterschiede zwischen den pragmatischen Prinzipien einschätzen, die dem Tschechischen einerseits und dem Lateinischen andererseits zugrunde liegen: „ whereas in Czech the principle of increasing communicative dynamism functions well, it is difficult to claim it for Latin in a systematic way. Consequently, the sentence-final - or preverbal - position is not a reliable indicator of the saliency of a constituent. This does not mean that focus constituents cannot be found in the final and preverbal positions, but they can also be placed elsewhere in the sentence, especially after the topic, or in the initial position. “ (2010: 31) Auf die lateinische Wortfolge wendet Spevak eher den pragmatischen Ansatz der „ funktionalen Grammatik “ (Functional Grammar) von Simon Dik an, die von einer flexibleren Beziehung von Topik und Fokus ausgeht, und die von Helma Dik auch für das Altgriechische angewendet wurde. Nach Dik (1995) ist der Fokus im Altgriechischen nicht nur in „ emotionalen “ und deswegen markierten Kontexten vorangestellt, sondern auch dann, wenn die Topik völlig vorhersagbar und unwichtig ist. In den letzten Jahrzehnten sind mehrere pragmatische und korpuslinguistische Studien über die Wortfolge der alten idg. Sprachen erschienen (vgl. Collinge 1988; Bakker 1990; 2007; 2009; Slings 1992; Devine & Stephens 2000; Mati ć 2003; Cichosz 2010; Celano 2013). So argumentiert Celano, der Fokus im Altgriechischen werde durch den 377 <?page no="378"?> Hauptakzent des Satzes ausgedrückt, der sowohl vor als auch nach dem Verb positioniert sein kann. Diese unterschiedliche Position werde von einem ikonischen Prinzip bedingt, nach dem ein prominenterer Fokus auch vorangestellt wird. Einige pragmatisch orientierte quantitative Analysen der Wortfolge im Vedischen, Altgriechischen und Lateinischen wurden auch von uns bereits beschrieben (Viti 2008 b; 2008 c; 2009 b; 2010 b; 2010 c). Ich finde, dass die auf Korpora beruhende pragmatische Analyse der einzige Weg ist, mit dem man die syntaktisch flexible Wortfolge der alten idg. Sprachen wirklich erklären kann. Trotzdem muss man einräumen, dass die pragmatische Analyse zuweilen auch Ergebnisse zeitigt, die schwer zu vergleichen sind, da diese Studien sich aus praktischen Gründen normalerweise auf eine einzelne Sprache und manchmal sogar auf einen einzelnen Text beschränken und darüberhinaus von verschiedenen Forschern sowie teilweise mit uneinheitlichen Methoden durchgeführt werden. Besonders umstritten ist die Identifizierung der Topik wie des Fokus in einem Text, weil aboutness mit Begriffen wie Definitheit und alter Information überlappt und trotzdem nicht völlig übereinstimmt (vgl. Chafe 1976; 1987; 1994; Lambrecht 1994). Eine zuverlässigere Methode für eine Korpus-Analyse scheint die Bestimmung von Kriterien wie „ alt “ , „ neu “ , „ persistent “ und „ verfallend “ zu sein, wie von Givón (1983) empfohlen, die basischer sind, indem sie auf getrennte Komponenten der Topik Bezug nehmen, und die in anderen Korpora auch objektiver nachgemessen werden können: man muss nur schauen, ob ein Referent im vorherigen Kontext schon erschienen ist und seine Erwähnungen zählen. 217 Weiteres hinsichtlich pragmatischer Funktionen der idg. Wortfolge werden wir in § 5.4 und § 5.5 diskutieren. 5.3 Alter, Arealität und Gattung in der Wortfolge der alten idg. Sprachen Die Rekonstruktion der uridg. Wortfolge hängt auch von der Wahl der untersuchten Sprachen ab, weil die ältesten Belege der idg. Sprachen in der Linearität nicht übereinstimmen, sondern wesentliche Unterschiede aufweisen. Wie in § 5.1 antizipiert, haben im Westen die keltischen Sprachen eine unmarkierte VSO-Wortfolge, im Osten haben das Tocharische, Indo- 217 Gegenüber dem komplizierten Begriff der Topik werden im PROIEL-Projekt der Universität Oslo „ alte, neue, zugängliche Informationen “ bevorzugt (=Pragmatic Resources of the Old Indo-European languages, vgl. http: / / tinyurl.com/ 3g2aqp9). Das Jena-Projekt für Informationsstruktur in älteren indogermanischen Sprachen hingegen schliesst Topik und Fokus ein, versucht aber, sie genauer durch Kriterien wie Continue, Retain, Smooth Shift, Rough Shift in der Terminologie von Speyer (2007) zu bestimmen (vgl. http: / / tinyurl.com/ la985ut). 378 <?page no="379"?> iranische und Anatolische eine unmarkierte SOV-Wortfolge, das auch in einigen zentralen Sprachen wie im Italischen und Germanischen vorherrscht. Doch im Zentrum der alten Indogermania ist die SVO-Wortfolge üblicher, und zwar im Altgriechischen, klassischen Armenisch, Albanischen sowie Slawischen und Baltischen - mit der Maßgabe, dass nicht immer alle Sprachen eines Genus dieselbe unmarkierte Wortfolge darstellen. Z. B. ist im Anatolischen SOV zwar vorherrschend im Hethitischen, Luwischen, Palaischen und Lydischen, aber im Lykischen ist OVS üblicher und nach Garrett (1994) und Melchert (2004 c) möglicherweise durch Bewegungen auf eine zugrunde liegende VSO zurückzuführen (vgl. Delbrück 1888: 16ff; Meillet 1915: 205; 208ff; 1936: § 106; Kent 1950: 96; Renou 1952: § 393; Senn 1966: 480; Vaillant 1977: 255ff; Schmalstieg 1987: 312ff; Ajello 1993: 251; Andersen 1993: 476; Demiraj 1993: 525; Rouveret 1994: 51ff; Ambrazas 1997: 690ff; Krisch 1997; MacCone 1997; Meid 1997; Melchert 2004 a; 2004 b; 2004 d; Schmitt 2007: 158; Hoffner & Melchert 2008: 406ff; Daues 2009). Innerhalb der (nicht-fragmentarisch belegten) idg. Genera ist also VSO nur marginal, während sowohl SOV als auch SVO weitverbreitet sind und deswegen nach der vergleichenden Methode auch mehr Chancen haben, die unmarkierte Wortfolge des Urindogermanischen darzustellen. Um diese Wortfolge zu rekonstruieren, müssen wir verschiedene Kriterien miteinbeziehen, und zwar die areale Verteilung der Sprachen wie auch das Alter und die Gattung ihrer Belege, die aber selbst in diesem Fall zu heterogenen Ergebnissen führen, sodass die Hypothesen in der Rekonstruktion der uridg. Wortfolge auch davon abhängen, welchen Kriterien mehr Gewicht verliehen wird. Vom Standpunkt des Alters sollte man am ehesten auf die Zeugnisse des Hethitischen und des Vedischen zurückgreifen. Tasächlich gründete Delbrück (1878: 13; 1888: 15 - 16), der das Hethitische noch nicht kennen konnte, seine Rekonstruktion der uridg. Wortfolge auf das Altindische, wie wir in § 5.2.1 gesehen haben. Damit folgte er der Praxis der frühen Indogermanistik, nach der die linguistischen Merkmale des Altindischen als die archaischsten und zuverlässigsten für die Rekonstruktion auch außerhalb der Syntax betrachtet wurden. Allerdings hat die Idee des Altindischen als dem getreuesten Spiegel des Urindogermanischen schon lange ihren Glanz verloren. Altindisch hat mehrere, darunter auch sehr früh belegte Entlehnungen und grammatische Neuerungen, die sich aus dem Kontakt mit den dravidischen Sprachen ergaben, und die ganz verschiedene Bereiche der Grammatik betreffen. Z. B. kommen retroflexe Konsonanten schon im Rig-Veda vor. Das Gerundium, das im Rig-Veda ziemlich selten ist und eine vage, kontext-abhängige adverbiale Bedeutung ausdrückt, erscheint in der späteren vedischen Prosa besonders häufig und verbreitert kontinuierlich seinen Gebrauchsumfang. In den Br ā hman · as, also in jenen Texten, in denen Delbrück eine überwiegende SOV-Wortfolge 379 <?page no="380"?> feststellte, kommt die koordinierende Funktion des Gerundiums vor, bei der mehrere Gerundien, eins nach dem anderen, verwendet werden, um die Erzählung voranzutreiben (Tikkanen 1987: 245 - 46). Diese Struktur des koordinierenden Gerundiums oder „ Konverbs “ (vgl. Haspelmath & König 1995) ist nicht typisch für die alten idg. Sprachen, sondern für die dravidischen Sprachen, die auch durch eine konsequente SOV-Wortfolge charakterisiert sind. In mehreren neoindischen Sprachen sind Gerundiumsketten die produktivsten Verfahren der Satzverbindung. Nach Tikkanen (1987: 320) tritt der funktionale Wandel des Gerundiums in den indischen Sprachen ungefähr in derselben Zeit und in demselben Gebiet (d. h. im Südosten des Hindukusch) auf, in der bzw. in dem auch das System der retroflexen Konsonanten vorkam. Von dieser Region ausgehend verbreiteten sich weitere Phänomene von sprachlicher Interferenz mit den dravidischen Sprachen, wovon wir Beispiele in den syntaktischen Kategorien (§ 2.7) und in den syntaktischen Funktionen (§ 3.5.2.2) analysiert haben. Heutzutage wird der gesamte indische Subkontinent für einen Sprachbund gehalten (vgl. Emeneau 1956; 1980; Masica 1976). 218 Das Phänomen äußerer Beeinflussung spielt wahrscheinlich ebenfalls eine große Rolle in der SOV-Wortfolge des Hethitischen, die der Satzwortfolge des Sumerischen, des Hurro-Urartäischen wie auch einer Anzahl südkaukasischer Sprachen ähnlich ist. 219 Aus diesem Grunde kritisierte 218 Gegen die Hypothese des Einflusses eines alten dravidischen Substrats auf mehrere Phänomene der Syntax der indischen Sprachen hat sich Hock (1975; 1984) ausgesprochen, in der Annahme, dass solche Phänomene auch aufgrund interner Mechanismen, ohne Einbezug von Kontaktfaktoren, erklärt werden können. Für eine externe Erklärung plädieren aber Thomason & Kaufmann (1988: 139 ff): „ In spite of the extraordinary complexities of the Indian situation, we believe (with Emeneau and most other scholars) that there is clear evidence of extensive interference in the region, and that at least some of it is ancient Dravidian-to-Indic substratum interference “ (S. 140). Denn im Einzelnen sei der dravidische Einfluss offensichtlich besonders in denjenigen indischen Sprachen, die in den dem dravidischen Substrat am meisten exponierten Regionen gesprochen werden, wie im Fall des Sindhi mit seiner negativen Verbalkonjugation und im Fall des Marathi mit seiner inklusiv/ exklusiven Opposition. Im Allgemeinen sei eine den jeweiligen Phänomenen gemeinsame externe Erklärung zu bevorzugen als verschiedene getrennte interne Rekonstruktionen. Die letzteren sind nach Thomason & Kaufmann (1988) auch vom Vorurteil einiger Indogermanisten gegen externe Mechanismen des Sprachwandels bedingt ( „ the Indo-Europeanist ’ s prejudice against external explanation has worked against the development of hypotheses in this domain “ , S. 144), vgl. auch § 5.5. 219 Von einem syntaktischen Standpunkt aus ist das Sumerische (sprachliches Isolat) typologisch inkonsistent, weil es SOV einerseits und NA, NG und Präpositionen andererseits hat (Edzard 2003: 2). Dieselbe SOV-Wortfolge und syntaktische Inkonsistenz hat das Akkadische (Ostsemitisch), das wegen des Kontakts mit dem Sumerischen die für Semitisch typische VSO-Wortfolge verlassen hatte aber NA, NG und PräN bewahrt (Ungnad 1969: § 100ff; Huehnergard 2000: 19 - 20). Ähnliche 380 <?page no="381"?> Friedrich (1975: 6 - 7) das übertriebene Gewicht, das dem Altindischen und dem Hethitischen für die Rekonstruktion der uridg. Wortfolge bei W. Lehmann (1974) beigemessen wurde, und das er für eine Wiederbelebung Sturtevants (1933) „ indo-hethitischer Hypothese “ hält. Nach Friedrich kann ein sprachlicher Kontakt in allen SOV-Sprachen der idg. Familie konstatiert werden, auch außerhalb der Wortfolge. So wurde das Tocharische von der agglutinierenden Morphologie der altaischen und der östlichen uralischen Sprachen beeinflusst, welche meistens auch eine SOV-Wortfolge haben. In den baltischen Sprachen, die zwar SVO, aber eine unmarkierte Stellung des Modifikators vor dem nominalen Kopf haben (GN: Lit. t ė vo laikrodis „ Vaters Uhr “ ; AN: Let. balts sun „ weißer Hund “ ), erscheint ein finnisches Substrat, sodass das Gebiet um die Ostsee als ein weiterer Sprachbund anzusehen ist (vgl. Dahl and Koptjevsaja- Tamm 2001); denn auch im Finnischen sind Adjektive und Genitive vorsubstantivisch. Dagegen gibt es keinen so deutlichen Hinweis auf die SVO- Merkmale des zentralen Areals der idg. Familie: I find it of great significance that no one of the Indo-European stocks is of the rigid subtype although all Dravidian and Ural-Altaic languages are. If the early IE languages had been of type II (= SVO, hinzugefügt) and spreading into type III (= SOV, hinzugefügt) areas one would expect type II in the more or less central regions and non rigid type III ’ s in the languages that entered type III zones, which is exactly what we do find. If on the other hand, ancestral languages of a type III - particularly if they had been rigid, as Lehmann suggests - had spread into rigid type III areas one would expect rigid type III ’ s in the center and also in the margins, which is precisely what we do not find. (Friedrich 1975: 65 - 66) Friedrichs Untersuchungen beziehen die Prinzipien der arealen Linguistik mit ein, wonach in einem bezüglich gewisser linguistischer Merkmale diskontinuierlichen Areal, bei dem die seitlichen Teile nicht miteinander übereinstimmen, der zentrale und größte Teil normalerweise am konservativsten ist, während die verschiedenen Strukturen an den Peripherien unabhängige Neuerunsgen sind (vgl. Bartoli 1928; Bonfante 1945: 83ff; 132ff; Andersen 1988; Ma ń czac 1988). Nach Friedrich können daher die VSO-Wortfolge der keltischen Sprachen und die SOV-Wortfolge der östlichen Sprachen Neuerungen sein, während die Flexibilität der Wortfolge in syntaktisch inkonsistente Merkmale wie SOV und Präpositionen kommen heutzutage in den iranischen Sprachen vor. Im Hurritischen (Hurro-Urartäisch) war die SOV-Wortfolge der Hauptkonstituenten von Postpositionen begleitet, während Genitive und Adjektive sowohl vor als auch nach dem Nomen gestellt werden konnten (Wilhelm 2004 a: 116). 381 <?page no="382"?> den zentralen SVO-Sprachen als ein Relikt der uridg. Syntax anzusehen ist. Demzufolge beruht Friedrichs (1975) Rekonstruktion besonders auf dem homerischen Griechisch (8. - 7. Jh. v. Chr.), der ältesten belegten Sprache des zentralen Areals des Indogermanischen - doch gerade dafür wird er von Watkins (1976: 310) mit den Worten kritisiert: „ The language you know best always turns out to be the most archaic “ . Das zentrale Areal des Indogermanischen, in dem ein äußerer Kontakt wenig offensichtlich ist, gilt auch als klassisches Beweisstück für die in § 5.2.2 erwähnten syntaktischen Erklärungen der uridg. Wortfolge, weil SVO im modernen Griechisch, in den romanischen und in den germanischen Sprachen viel häufiger ist als bei deren Vorfahren, sodass eine Drift von SOV zu SVO hier wirklich stattgefunden haben muss. Die gegenläufige Entwicklung des Armenischen von der unmarkierten SVO-Wortfolge der klassischen Periode zur unmarkierten SOV-Wortfolge seiner modernen Variante stellt eine Ausnahme dar und ist durch den Kontakt mit dem Türkischen bedingt, während Albanisch wie auch die baltischen und slawischen Sprachen immer eine grundsätzliche SVO-Anordnung der Hauptkonstituenten gehabt haben. Für eine genuine Interpretation der uridg. Wortfolge eignen sich aber die zentralen Sprachen wegen der Diachronie und der Art ihrer Belege nicht immer. Relativ spät belegt sind das Gotische (4. Jh. n. Chr.), das klassische Armenisch (5. Jh. n. Chr.), das Altkirchenslawische (9. Jh. n. Chr.) und das Albanische (15. Jh. n. Chr.). Außerdem sind das Gotische wie auch die frühen Stufen des klassischen Armenisch und des Altkirchenslawischen durch Übersetzungen überliefert. Andererseits zeigen einige zentrale Sprachen wie das homerische Griechisch, das klassische Armenisch und das Altkirchenslawische die freieste Wortfolge innerhalb der idg. Sprachen, und deshalb sind sie von Bedeutung, wenn man die uridg. Wortfolge aus einer pragmatischen Perspektive erklären will. Im klassischen Armenisch herrscht zwar SVO von einem statistischen Standpunkt aus vor, „ in Erzählungen wird aber, wie dies auch in einer Reihe verwandter Sprachen der Fall ist, das Prädikat besonders häufig an den Satzanfang gestellt. “ (Schmitt 2007: 158) Dasselbe passiert im Altkirchenslawischen. Nach Gasparov (2001: 172 ff) ist VS in dieser Sprache normalerweise eine narrative Strategie, um die Geschichte vorwärtszubewegen, während SV ein Zeichen dafür ist, dass die Erzählung zu einem Stillstand gekommen ist, z. B. in beschreibenden Strukturen oder in Kommentaren des Autors (vgl. auch Turner 2006). Außerdem spielen diatopische, diastratische und diaphasische Faktoren in der Variation zwischen SVO und VSO der slawischen Sprachen zusammen. Wie Bernecker (1900) bemerkt, wird die VSO-Wortfolge einerseits am besten im Altrussischen bewahrt, das vom Lateinischen wenig beeinflusst wurde, und andererseits in der volkstümlichen Sprache, wie in Tolstois bäuerlichen 382 <?page no="383"?> Geschichten, während SVO im literarischen Russisch vorherrscht, das an französische Modelle erinnert. Die diaphasischen Funktionen der unterschiedlichen Wortfolgen bringen uns zum dritten Kriterium, das für die Rekonstruktion der uridg. Wortfolge berücksichtigt werden muss, und das ist die literarische Gattung. Das Problem besteht hier darin, dass dichterische Texte in der literarischen Tradition mehrerer Sprachen älter sind als die Prosa, welche seit Delbrücks Studien traditionell für eine lineare Analyse herangezogen wird. Wie oben gesagt benutzt Delbrück (1878; 1888) für die Beschreibung der altindischen Wortfolge eher die Prosa der Ś atapathabr ā hman · a als das Rig-Veda, den ältesten verfügbaren vedischen Text, dessen Metrum nach seiner Meinung jedoch ein Störfaktor ist ( „ die Beobachtungen über die Wortstellung im Indischen müssen vor allem an der ältesten Prosa angestellt werden “ , 1878: 1). Auf dieselbe Weise haben mehrere Forscher späteren Prosa- Werken den Vorzug gegeben, in denen die lineare Anordnung vom Metrum nicht beeinflusst wird (vgl. Goodell 1890: 44; Thommen 1903; Canedo 1937; Kieckers 1911; Frisk 1932; Loepfe 1940; Dover 1960; Winter 1984: 620; Dunn 1988; Dik 1995). Andererseits sind aber auch Prosa-Texte wegen ihres Inhalts nicht immer geeignet, die unmarkierte Wortfolge ihrer Sprachen darzustellen. In der Geschichte des Altgriechischen sind die ältesten mykenischen Texte (16. Jh. v. Chr.) in Prosa geschrieben, aber sie bestehen aus Inventarlisten und sind deswegen nützlicher für morphologische als für syntaktische Informationen. Daher haben einige Forscher die Bedeutung der Dichtung für eine Analyse der Wortfolge unterstrichen, erstens weil die dichterische Sprache oft konservativer ist als die Prosa (so wird die Tmesis eher bei Homer als im mykenischen Griechisch bewahrt, vgl. Hoenigswald 1980: 83), und zweitens weil die Wortfolge der Dichtung nicht willkürlich ist, sondern gewissermaßen den grundlegenden Prinzipien der Sprache zu folgen scheint (vgl. Ammann 1924; Fischer 1924; Thomson 1939; Gonda 1952: 7; Watkins 2002). Watkins (2002) zeigt, wie Pindars ἐπέων θέσις „ Aufstellung der Wörter “ , die traditionell für sehr kompliziert und von künstlerischen Faktoren bedingt gehalten wurde, jedoch vom Standpunkt der Gattung den vedischen Hymnen näher ist als die ältesten Epen von Homer, das natürliche Ergebnis einer Reihe von Entsprechungen zwischen syntaktischen Einheiten wie Wort, Phrase oder Satz und prosodischen Einheiten wie Kolon, Vers, Periode oder Stanze ist (vgl. auch Lauer 1959 und Sulzer 1970). Z. B. erscheinen Verben bei Pindar normalerweise an einer syntaktischen oder metrischen Abgrenzung, von der sie maximal von einer einzelnen Konstituente getrennt werden können. Außerdem beweist Watkins, dass bei Pindar das durch syntaktische und metrische Abgrenzungen ausgedrückte signposting Parallelen zur Wortfolge des Anatolischen, Vedischen und frühen Latein hat, sodass es auch der 383 <?page no="384"?> dichterischen Grammatik des Urindogermanischen zugewiesen werden kann. Im Allgemeinen, wenn wir all diese oft nicht übereinstimmenden Faktoren des Alters, der Arealität und der Gattung berücksichtigen und dadurch die Wortfolge des Urindogermanischen rekonstruieren wollen, müssen wir drei Punkte festhalten: erstens, wie in § 5.2.2 antizipiert, ist Delbrücks (1878; 1888) und W. Lehmanns (1974) Hypothese einer ursprünglichen uridg. SOV-Wortfolge auch die wahrscheinlichste. Nicht nur charakterisiert die SOV-Wortfolge die ältesten Belege der idg. Sprachen wie auch das größte Areal des Indogermanischen, sondern taucht marginal auch in denjenigen Sprachen auf, die eine andere lineare Anordnung generalisiert haben. So zeigen die VSO-keltischen Sprachen Spuren der SOV-Wortfolge in Bergins Gesetz, wonach Verben am Satzende stehen können, wenn sie eine konjunkte Form haben (Bergin 1938; Watkins 1963; Mac Coisdealbha 1998: 196 ff). Außerdem herrscht SOV im Keltiberischen. Die Relikte der SOV-Wortfolge im Keltischen, wie auch die Vorherrschaft von SOV im Italischen und Germanischen, in denen Kontaktfaktoren nicht so offensichtlich sind, sind m. E. für die Rekonstruktion viel bedeutsamer als die SOV-Wortfolge der früher belegten anatolischen und indoiranischen Sprachen, in denen hingegen ein nicht-idg. SOV-Substrat bekannt ist. Wir können daher mit Lehmanns (1974) Hypothese einer uridg. SOV-Wortfolge nicht wegen, sondern trotz seiner vor allem auf Hethitisch und Vedisch beruhenden Daten einiggehen. Die Rekonstruktion einer uridg. SOV-Wortfolge kann auch von der Typologie bestätigt werden, weil der Wandel von SOV zu SVO sprachübergreifend typischer ist als die gegenläufigen Veränderungen von VSO zu SOV oder von SVO zu SOV, die nur in Situationen syntaktischer Entlehnung stattfinden - als spontane Entwicklung sind solche Veränderungen selten (vgl. Harris & Campbell 1995: 195 ff). Im Sinne von Nichols (2003) ist VSO in den Sprachen normalerweise ein „ rezessives Merkmal “ (recessive feature), d. h. „ a feature which is almost always lost by at least some daugther languages in a family and is not readily borrowed in contact situations “ (S. 285), während SVO ein „ viables Merkmal “ (viable feature) ist, das große Chancen hat, hinsichtlich Erbe und Entlehnung übermittelt zu werden. Zweitens ist allerdings zu beachten, dass aufgrund der großen Variation in der Linearität der belegten Sprachen auch andere Wortfolgen neben der unmarkierten SOV für das Urindogermanische rekonstruiert werden müssen, wie von Watkins (1976) behauptet, und dass allgemein die uridg. Wortfolge flexibel und inkonsistent war. Ihre überkategoriale Inkonsistenz erscheint darin, dass zur SOV-Wortfolge der Hauptkonstituenten die Stellung der Adpositionen in Gegensatz steht. Nicht nur Komposita, die aus einer Adposition bestehen, haben regelmässig Präpositionen statt Postpositionen (vgl. Ved. anu-k ā má- „ nach dem Wunsch “ , ā -pathi- „ in 384 <?page no="385"?> der Nähe reisend “ , Miller 1975: 38), sondern es überwiegen mit unabhängigen Wörtern eindeutig auch Präpositionen in der ganzen Domäne der alten idg. Sprachen. 220 Drittens können die Prosa-Texte zwar der Ausgangspunkt für eine Analyse der Wortfolge sein, um die syntaktischen von den potenziell störenden metrischen Faktoren abzutrennen, aber sie sollten nicht ausschließlich und nicht unter Vernachlässigung der Dichtung verwendet werden. Die Dichtung übertreibt nur gewisse Tendenzen der Wortfolge, die in der Prosa in geringerem Maße auftauchen, und die in der Sprache eine semantische oder pragmatische Funktion haben. Außerdem beruht die Dichtung der alten idg. Sprachen auf einer langen mündlichen Tradition, in der neben der Kreativität des Dichters die Einhaltung des Vorbilds aus der Vergangenheit eine größere Rolle spielte als in der modernen Literatur. In einer früheren Arbeit habe ich analysiert, wie die erste Stellung des Verbs, die weniger häufig und deswegen in den alten idg. Sprachen (abgesehen vom Keltischen) auch semantisch voller ist, in sehr ähnlichen Kontexten, die grundsätzlich die thetische Funktion ausdrücken, im Rig-Veda und bei Homer belegt wird. Das passiert mit präsentativen Verben ( ἔστι πόλις Ἐφύρη μυχῷ Ἄργεος ἱπποβότοιο „ Ephyra heißt die Stadt in der rossenährenden Argos “ , Hom. Il. 6.152) sowie mit einer Reihe unakkusativer Prädikate, die u. a. Auftreten oder Verschwinden bezeichnen (RV 8.103.1 a ádar ś i g ā tuvíttamah · „ Der beste Pfadfinder ist erschienen “ , vgl. Viti 2008 d). Der Identifizierung einiger Funktionen der Wortfolgenvarianten ist der folgende Abschnitt (§ 5.4) gewidmet, unter besonderer Bezugnahme auf die syntaktischen Prinzipien der Präzedenz und Adjazenz. 5.4 Variation der Linearität in den alten idg. Sprachen Das Prinzip der Präzedenz, nach dem das nominale Subjekt eines Aussagesatzes vor dem nominalen direkten Objekt steht, stellt Greenbergs erstes Universal dar und gilt normalerweise auch für die alten idg. Sprachen. 221 In 220 Die Prävalenz der Präpositionen in den meisten alten idg. Sprachen ist einer der wichtigsten Gründe, weswegen Friedrich (1975: 34 - 39) die Hypothese, nach der das Urindogermanische eine SOV-Sprache gewesen ist, anficht. Auch die unbestimmten Belege (z. B. die Vorherrschaft von AN and NG bei Homer, sowie die gleiche Häufigkeit von StK and KSt, S. 28) seien eher ein Zeichen der SVO-Wortfolge, die syntaktische Idiosynkrasien besser als SOV oder VSO toleriert ( „ Nothing correlates with SVO in a unique and principled way “ , Hawkins 1979: 642; vgl. auch 1983: 29 - 31). 221 Universal 1: „ In declarative sentences with nominal subject and object, the dominant order is always one in which the subject precedes the object “ (Greenberg 1966: 78). Ausnahmen zu dieser Generalisierung wurden im Raritätenkabinett von Plank gesammelt (feature nr. 77, http: / / typo.uni-konstanz.de/ rara/ nav/ search.php). 385 <?page no="386"?> den alten idg. Sprachen wird aber mehr dagegen verstoßen als in den modernen, und das lässt sich in einer Serie ähnlicher Kontexte oft beobachten, wobei das direkte Objekt prominenter als das Subjekt ist. Auch wenn Prominenz per se ein ziemlich vager Begriff ist, kann sie für einen Diskursreferenten festgesetzt werden, wenn man Silversteins (1976) Belebtheitshierarchie mit einbezieht, wie wir in § 4.2.2 gesehen haben, wobei Pronomina höher als Nomina rangieren, Eigennamen höher als Gattungsnamen, Nomina belebter Referenten höher als Nomina unbelebter Referenten usw. Im Beispiel (5.3) aus dem Vedischen ist das vorangestellte Objekt der Name des Gottes Agni, während das Subjekt die Menschen im Allgemeinen (mánus · as) bezeichnet. (5.3) hótr ā bhir agním mánus · ah · sám Opfergabe(N): INSTR.PL Agni(M): AKK Mensch(M): NOM.PL PRÄV indhate entflammen: PRS.IND.MED3PL „ Mit Opfergaben entflammen die Menschen den Agni “ (RV 1.36.7; Übersetzung Geldner 1951: I, 44) Ich finde es bedeutsam, dass die vorangestellte Position eines direkten Objekts, das spezifischer und salienter als das Subjekt ist, in den Gesetzen des Hethitischen sogar regelmässig ist, wenn das Subjekt ein Indefinitpronomen ist (kui š ki „ jemand “ ), wie in (5.4). Das steht der üblichen Verteilung der Pronomina gegenüber, die in vielen Sprachen zu einer Stellung am Anfang des Satzes neigen. (5.4) ták-ku DUMU-an an[(-na-nu-ma-an-zi)] ku-i š -ki pa-a-i wenn Kind: AKK Ausbilden: IF jemand: NOM geben: PRS.IND3SG na-a š š u LU NAGAR n[(a-a š -ma LU ) S(IMUG.A L ) U U Š .B]AR na-a š -ma oder Zimmermann oder Schmied Weber oder LU A Š GAB na-a š -ma LU TÚG Lederarbeiter oder Walker n [(u an-na-nu-u)m-m]a-a š 6 GÍN KÙ-BABBAR pa-a-i so Ausbilden: GEN 6 Sekel Silber geben: PRS.IND3SG „ Wenn jemand einen Jungen zum Ausbilden gibt, entweder als Zimmermann oder als Schmied, als Weber oder als Lederarbeiter oder als Walker, so gibt er (als Lohn) des Ausbildens 6 Sekel Silber. “ (Gesetze § 86; Übersetzung Friedrich 1959: 87) Das Objekt DUMU-an „ Kind “ wird vom Verb p ā i „ er gibt “ getrennt und dem Subjekt kui š ki „ jemand “ vorangestellt. DUMU-an ist auch die salienteste Information, die von den folgenden appositionalen Nomina „ Zimmermann “ , „ Schmied “ , usw. resümiert wird. In den hethitischen Gesetzen wird die Aufmerksamkeit eher auf das Patiens der Schuld oder Untat 386 <?page no="387"?> gelenkt, wobei verschiedene Patiens auch verschiedene Strafen bedingen, während das Agens natürlich generisch bleibt. Das können wir als eine Grammatikalisierung der in (5.3) illustrierten Situation des Vedischen interpretieren, in dem die Stellung eines prominenteren Objekts vor dem Subjekt eine Frage der Häufigkeit ist (für eine quantitative Analyse davon vgl. Viti 2009 b). In beiden Fällen scheint also die OSV-Wortfolge nicht völlig von stilistischen Faktoren bedingt zu sein. Das direkte Objekt kann aber dem Subjekt vorangestellt werden, nicht nur wenn die semantischen Faktoren der Belebtheit und Menschlichkeit mit den pragmatischen Faktoren der kontextuellen Prominenz überlappen, wie in (5.3) und (5.4), sondern auch aus bloß pragmatischen Gründen, wenn das direkte Objekt zwar das kontextuell prominenteste Argument des Satzes ist, aber von einem semantischen Standpunkt aus niedriger als (oder gleich wie) das Subjekt in Silversteins (1976) Belebtheitshierarchie rangiert. Das scheint mir grundsätzlich in drei Fällen zu passieren: der erste betrifft das direkte Objekt, das die Funktion des kontrastiven Fokus hat, sowohl in symmetrischen Gegensätzen, die von Gliederungspartikeln wie Altgr. μέν . . . δέ „ einerseits . . . andererseits “ explizit ausgedrückt werden, als auch wenn die Information des direkten Objekts gegen den Erwartungsrahmen des Hörers steht und von einer skalaren ( „ sogar “ ), additiven ( „ auch “ ) oder exklusiven ( „ nur “ ) Fokuspartikel markiert wird. Jedenfalls ist das direkte Objekt in kontrastiven Kontexten nicht auf belebte Referenten beschränkt. Die skalare Fokuspartikel cid „ sogar “ kommt im Beispiel (5.5) aus dem Vedischen vor: die An ˙ giras haben „ sogar die starken Bollwerke “ gebrochen, die normalerweise unzerbrechlich sind. (5.5) v īḷ ú cid dr · ḷ h ā ´ pitáro na stark: AKK.N.PL sogar Bollwerk(N): AKK.PL Vater(M): NOM.PL wir: GEN uktháir ádrim rujann án ˙ giraso Lied(N): INSTR.PL Fels(M): AKK.SG erbrechen: IPF.INJ3PL An ˙ giras(M): NOM.PL ráven · a Ruf(M): INSTR.SG „ Unsere Väter, die An ˙ giras ’ haben durch ihre Lieder selbst die starken Bollwerke, den Fels mit lautem Ruf erbrochen. “ (RV 1.71.2; Übersetzung Geldner 1951: I, 92) Zweitens wird das direkte Objekt dem Subjekt vorangestellt, wenn es eine diskontinuierliche Topik ist, d. h. wenn die Identifizierung seines Referenten aus dem vorangegangenen Diskurs wenig offensichtlich ist. Das geschieht im Fall eines Themenwechsels, der in den modernen idg. Sprachen von Ausdrücken wie Dt. was X betrifft, Engl. as far as X is concerned, Ita. per quanto riguarda X kodiert wird. Natürlich kann die Diskontinuität variabel sein in Fällen, wo der Referent das erste Mal im Diskurs eingeführt 387 <?page no="388"?> wird und nur aufgrund des allgemeinen Wissens für den Hörer zugänglich ist, bis zu Fällen, in denen der Referent schon genannt wurde, aber nicht im unmittelbar vorangehenden Kontext. In kurzer Entfernung von der vorherigen Erwähnung kann ein vorangestelltes direktes Objekt nur vorkommen, wenn semantisch ähnliche Nominalia im Diskurs mit der Identifizierung seines Referenten interferieren könnten (vgl. Givón 1983; 1992). Drittens finden wir die OSV-, OVS- oder VOS-Wortfolgen, wenn das direkte Objekt und nicht das Subjekt im folgenden Diskurs bestehen bleibt, sodass der komplexe Satz eine Prädikation über das direkte Objekt ist, während das Subjekt momentan verfällt oder im Hintergrund bleibt. Am Beispiel des Englischen wie auch zahlreicher nichtverwandter Sprachen hat Givón erstmals die Aufmerksamkeit auf die Tatsache gelenkt, dass in der Topikalität nicht nur anaphorische Verfahren, wie früher in der Prager Schule angenommen, involviert sind, sondern auch kataphorische, und sein Befund wird von den alten idg. Sprachen bestätigt. Die kataphorische Persistenz des direkten Objekts kann im folgenden Beispiel aus dem homerischen Griechisch (5.6) beobachtet werden. (5.6) οὕνεκα τὸν Χρύσην ἠτίμασεν ἀρητῆρα Ἀτρεΐδης· ὁ γὰρ ἦλθε θοὰς ἐπὶ νῆας Ἀχαιῶν λυσόμενός τε θύγατρα φέρων τ’ ἀπερείσι’ ἄποινα , στέμματ’ ἔχων ἐν χερσὶν ἑκηβόλου Ἀπόλλωνος χρυσέῳ ἀνὰ σκήπτρῳ , καὶ λίσσετο πάντας Ἀχαιούς , Ἀτρεΐδα δὲ μάλιστα δύω , κοσμήτορε λαῶν „ Apollons Priester Chryses war nicht gebührend Ehre erwiesen worden als der bei den griechischen Schiffen erschien, um für sehr viel Gold seine gefangene Tochter freizukaufen. Den goldenen Stab in der Hand mit dem geweihten Lorbeerkranz, als Zeichen Gottes und des Friedens hatte Chryses für sie vor den versammelten Truppen um Gnade gebeten und sich an deren zwei Feldherren Agamemnon und Menelaos gewandt. “ (Hom. Il. 1.11 - 16; Übersetzung Schrott 2010: 15) Der erste Satz dieser Stelle ist nach der aktiven Diathese strukturiert: Agamemnon (NOM-Subjekt) vernachlässigt Chryses (AKK-Objekt). In den folgenden Sätzen ist aber Chryses im Mittelpunkt: Chryses war zu den griechischen Schiffen gegangen, er wollte seine Tochter freikaufen, er hatte das Gewand seines Gottes Apollon usw. Die vorangestellte Position des Objekts im ersten Satz ist also eine Strategie, das Objekt in den Vordergrund zu stellen. Bezeichnenderweise verwendet die zitierte literarische Übersetzung das Passiv ( „ Apollons Priester Chryses war nicht gebührend Ehre erwiesen worden “ ), wodurch das Agens nicht erwähnt wird. Die markierte Wortfolge des Altgriechischen kennzeichnet die pragmatisch ungewöhnliche Situation eines ranghöchsten direkten Objekts. Das ist der Funktion der „ inversen “ Ausrichtung ähnlich, die im Algonkin und anderen Spra- 388 <?page no="389"?> chen Amerikas grammatikalisiert ist (vgl. Givón 1994). In denjenigen Sprachen, die ein inverses System besitzen, wird diese Situation morphologisch dargestellt, wobei das Verb besondere Endungen bekommt, um eine unerwartete Vorstellung der Partizipanten darzustellen, aber diese Funktionen können auch syntaktisch durch eine markierte Wortfolge vertreten werden. Deshalb können wir vermuten, dass das Urindogermanische kein Passiv brauchte (§§ 3.2.2, 6.2.3). Die möglichen Gründe für den Verstoß gegen das Prinzip der Präzedenz sind besonders im Fall der OSV-Wortfolge in der Literatur sehr umstritten. Im Rahmen der Generativen Grammatik hat Kayne (1994) vorgeschlagen, dass die allen Sprachen zugrunde liegende Wortfolge SVO ist, wovon andere oberflächliche lineare Anordnungen durch vier unabhängig belegte Operationen abgeleitet werden können, nämlich subject raising (wenn underlying und surface SVO überlappen), verb raising (von SVO zu VSO), object shift (von SVO zu SOV) und VP-fronting (von SVO zu VOS). Sowohl object shift als auch VP-fronting bedingen die Transformation SVO → SOV → OVS. Die OSV-Wortfolge kann aber nicht durch diese Operationen von einer zugrunde liegenden SVO-Wortfolge abgeleitet werden, und man kann auch nicht einfach eine Verschiebung des direkten Objekts vor das Subjekt postulieren, weil dadurch die bewegte Konstituente nicht mehr als ein Argument im Sinne von Chomsky (1981) funktionieren würde. Die OSV-Wortfolge, im Minimalismus nicht erklärt, wird in der Typologie zwar anerkannt, aber sprachübergreifend auch für die seltenste Wortfolge gehalten (vgl. Dryer 2005 d; Moravcsik 2006 a: 40), der eine Funktion schwierig zuzuweisen ist. Die alten idg. Sprachen hingegen zeigen mit ihren verschiedenen Kontexten von Objekt-Prominenz wie in (5.3) - (5.6) die Funktion der OSV-Wortfolge noch ziemlich deutlich. Natürlich können nicht alle diese Kontexte gleichermaßen als Auslöser für die OSV-Wortfolge gelten, und diesbezüglich können wir die folgende Implikationskala vorschlagen: (5.7) Kontrast > Diskontinuität > Persistenz Die Fälle, in denen das vorangestellte direkte Objekt einen Kontrast wie (5.5) voraussetzt, sind auch bessere Kandidaten für OSV als eine nichtkontrastive Diskontinuität oder Persistenz im folgenden Diskurs wie (5.6). Die letzteren sind nur in Sprachen mit sehr flexibler Wortfolge belegt, wie im Altgriechischen, während in den konfigurationellen Sprachen Europas wie im Englischen nur Kontrast eine OSV-Wortfolge auslösen kann: This book he bought, not that one! In den modernen idg. Sprachen werden hoch topikalisierte direkte Objekte häufig durch versetzte Konstruktionen mit pronominalem Resumptivum ausgedrückt. Gleichzeitig bieten die alten idg. Sprachen eine Erklärung für die Seltenheit der OSV-Wortfolge in den modernen idg. Sprachen: da in der Synchronie transitive Sätze, in denen das 389 <?page no="390"?> direkte Objekt ranghöher als das Subjekt in Silversteins (1976) Belebtheitshierarchie ist, selten sind, ist es nachvollziehbar, dass sie in der Diachronie am wenigsten erhalten sind. 222 Auch das Prinzip der Adjazenz war in den alten idg. Sprachen kein obligatorisches Prinzip. In Kapitel IV haben wir gesehen, dass erstens die Trennung von Verb und direktem Objekt das am häufigsten belegte Hyperbaton in den alten idg. Sprachen ist, wo noch nicht alle Phrasen vollentwickelt waren, und dass zweitens eine solche Trennung vor allem im Fall hoch referentieller Objekte belegt ist. Obwohl im Prinzip eine Distanzstellung zwischen Verb und direktem Objekt sowohl in OVals auch in VO-Wortfolgen erscheinen kann, finden wir in der Praxis meistens nichtadjazente Objekte, wenn das direkte Objekt dem Verb vorangestellt wird, während die beiden normalerweise benachbart sind, wenn das direkte Objekt dem Verb folgt. Der Verstoß gegen das Adjazenz-Prinzip ist besonders bei denjenigen Sprachen belegt, bei denen das Verb zur Endstellung neigt, wie im Altindischen und im Hethitischen. Das ergibt die grössten Chancen für eine Trennung vom direkten Objekt, da ein kontextuell salientes Argument zur Stellung am Satzanfang neigt. Das können wir am folgenden Beispiel aus dem Lateinischen sehen, das zwar mehr SOV als Altgriechisch, aber weniger SOV als Vedisch und Hethitisch hat. (5.8) solis occasu suas copias Ariovistus multis et inlatis et acceptis vulneribus in castra reduxit „ Bei Sonnenuntergang führte Ariovistus seine Truppe, die viele Wunden ausgeteilt und empfangen hatte, ins Lager zurück. “ (Caes. B. G. 1.50; Übersetzung Schönberger 1990: 71) Die lockere Verbindung zwischen Verb und direktem Objekt in den alten idg. Sprachen kann ein Zeichen des niedrigen Niveaus an Transitivität des Urindogermanischen sein. Obwohl eine geringe Transitivität normalerweise durch morphologische Verfahren ausgedrückt wird, z. B. in der Verbalflexion durch das Medium oder in der Nominalflexion durch einen obliquen Kasus nach der nicht-kanonischen Markierung (vgl. Kapitel III), kann sie auch syntaktisch anhand der Wortfolge und besonders der Flexibilität sowie der Entfernung der Glieder der VP in den alten idg. Sprachen dargestellt werden. 222 Die drei Prinzipien des Kontrasts, der Diskontinuität und der Persistenz schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern können die Voranstellung des direkten Objekts zusammen bewirken. Z. B. ist der Referent von ἄνδρα „ Mann “ im bekannten homerischen Vers ἄνδρα μοι ἔννεπε , μοῦσα , πολύτροπον , ὃς μάλα πολλά eine neu eingeführte Topik am Anfang der Odyssee und gleichzeitig eine in der folgenden Erzählung persistente Topik. 390 <?page no="391"?> Der Verstoß gegen Adjazenz ist hingegen selten im Fall der Adpositionalphrase, deren Wortfolge seit den ersten Urkunden ziemlich fest erscheint, nicht nur in der Nachbarschaft zwischen Adposition und Nomen, wie wir in § 4.2.3 gesehen haben, sondern auch in deren linearer Sequenz: fast alle alten idg. Sprachen haben entweder Präpositionen (das ist tatsächlich die am häufigsten gewählte Lösung) oder Postpositionen. Dagegen sind „ Ambipositionen “ (ambipositions, vgl. Hagège 2010: 114 ff), die beide Stellungen erlauben, selten. Die frühe Festsetzung der Wortfolge der Adpositionen bewirkt m. E., dass Adpositionen besonders gute Prädiktoren in Greenbergs statischen Universalien sind (Hawkins 1980: 209; 1983: 210 ff). Zusätzlich zur Verbalphrase, die in den alten idg. Sprachen noch schwach augesprägt war, ist die Unterbrechung der Adjazenz besonders häufig in denjenigen NP, die aus Adjektiv und Nomen bestehen. Normalerweise werden die diachronen Daten der Wortfolge in den alten idg. Sprachen nicht in Beziehung gesetzt zu den typologischen Tendenzen, doch sehe ich auch in diesem Fall einen Zusammenhang mit der typologischen Generalisierung, nach der die Wortfolge des Adjektivs in den Sprachen besonders variabel ist: Dryer (1988) bewies, dass die Stellung des Adjektivs keine Beziehung zur Stellung der anderen Konstituenten hat, sodass diese Kategorie kein Prädiktor für die Wortfolge einer Sprache sein kann. Jene Phrasen, die sprachübergreifend am häufigsten gegen die überkategoriale Konsistenz verstoßen, sind also dieselben, die auch auf den frühen Stufen der idg. Sprachen am wenigsten Adjazenz in ihren Bestandteilen zeigen. Die folgenden Beispiele aus dem Awestischen (5.9) und aus dem Lateinischen (5.10) illustrieren die Trennung zwischen Adjektiv und Nomen innerhalb einer Genitiv-Phrase. (5.9) va ŋ h ə ̄ u š xrat ū m mana ŋ h ō gut: GEN.N.SG Wille(M): AKK.SG Gedanken(N): GEN.SG „ Wille des guten Gedankens “ (Y. 28.1) (5.10) non mediocris res neque parvum sub hoc verbo furtum, Quirites, latet „ Weder eine kleine Angelegenheit, Quiriten, noch ein kleiner Diebstahl ist unter diesem Ausdruck verborgen. “ (Cic. Leg.agr. 3.12) Die Trennung des Adjektivs vom Nomen kann meiner Meinung nach zwei Gründe haben. Erstens waren Adjektive in den alten idg. Sprachen eigentlich Nomina (§ 2.3.1.1), und Strukturen mit doppeltem Kopf haben auch eine flexiblere lineare Anordnung als stark hierarchisch geprägte Konstituenten. Zweitens sind valutative Adjektive wie „ gut “ (5.9) oder „ klein “ (5.10), welche besonders häufig in einer getrennten Stellung vorkommen, aus semantischen Gründen geeigneter für eine Betonung. Die emphatische Funktion solcher Adjektive wird auch daran ersichtlich, dass ein Adjektiv normalerweise vorangestellt ist, wenn es von seinem nomi- 391 <?page no="392"?> nalen Kopf getrennt wird. Und die linke Peripherie wird eher dazu benutzt Prominenz auszudrücken als die rechte Peripherie (§ 4.2.2). Diese Adjektive sind genau diejenigen, die in den romanischen Sprachen eine vorangestellte Position bevorzugen, z. B. Ita. una buona preparazione, un piccolo pensiero. 5.5 Wandel der Linearität von den alten zu den modernen idg. Sprachen Von den alten zu den modernen idg. Sprachen führt der Wandel von einer mehr pragmatisch-orientierten zu einer mehr syntaktisch-orientierten Wortfolge nach denselben Prinzipien wie denjenigen des Wandels in der Kodierung der syntaktischen Kategorien (§ 2), der syntaktischen Funktionen (§ 3) und der Hierarchie (§ 4). Es geht um eine Drift, die in Bezug auf die verschiedenen Prinzipien der Linearität unterschiedlichen Routen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit folgt. Die Beziehung zwischen Subjekt und Verb ist in der Geschichte des Indogermanischen im Großen und Ganzen gleich geblieben: auch wenn ihre lineare Stellung in den alten idg. Sprachen flexibler war als in den modernen, ist in beiden das Subjekt unter normalen Umständen dem Verb vorangestellt, wenn es explizit ausgedrückt wird. Diese Beziehung hat sich nur im Inselkeltischen geändert, in dem der transitive Satz die unmarkierte VSO-Wortfolge und der intransitive Satz die unmarkierte VS-Wortfolge hat. Ein solcher Wandel beruht auf einer ererbten Möglichkeit der Anfangsstellung, die in allen alten idg. Sprachen als markierte Variante belegt ist (vgl. Delbrück 1900: 74; Speyer 1886: § 15; 1896: § 247; Brugmann 1904: 677; Kieckers 1911: 2ff; 1912; Hirt 1937: 227; 252; Loepfe 1940: 1ff; Schwyzer 1950: 691; Chantraine 1952; Watkins 1963; Dressler 1969; Klein 1991; Luraghi 1995; Viti 2008 d). Wie Delbrück (1900: 38 ff) bemerkt, kann eine „ okkasionelle Stellungsart “ in einer Sprache die „ habituelle “ ersetzen. Dazu werden in der Literatur manchmal Substratfaktoren postuliert. Die Hypothese eines semitischen und, im Allgemeinen, afroasiatischen Substrats wurde für das Inselkeltische schon von Pokorny (1927; 1949) vorgeschlagen, und sie wird auch heute von Gensler (1993) und Vennemann (2003) verfochten. Denn die keltischen Sprachen weichen nicht nur in der basischen Wortfolge von den meisten anderen idg. Sprachen ab, sondern auch im Gebrauch von suffigierten Pronomina, von Relativsätzen und von Verbalnomina, und im Prinzip ist die Hypothese einer linguistischen Interferenz wahrscheinlicher, wenn die jeweiligen Sprachen nicht nur in einem einzelnen linguistischen Merkmal übereinstimmen. Besonders auffallend ist das Verhältnis der keltischen Präpositionen, die mit Personalpronomina wie in einem Paradigma verschmolzen werden kön- 392 <?page no="393"?> nen: von fri „ zu “ hat man Formen wie frium(m) „ zu mir “ , frit(t), friut(t) „ zu dir “ , fris(s) „ zu ihm “ , frie „ zu ihr “ . Flektierte Präpositionen haben keine Parallele in den anderen idg. Sprachen, während sie in den semitischen Sprachen regelmässig vorkommen. Als typisches Beispiel für Kopfmarkierung haben flektierte Präpositionen auch eine Beziehung zur VSO-Wortfolge (vgl. Hasselbach 2013: 116). Allerdings kann die Hypothese einer Interferenz nur aufgestellt werden, wenn ein Kontakt auch historisch belegt werden kann, und das ist für das Keltische der schwache Punkt der Substrat-Hypothese. Obwohl man sich vorstellen könnte, dass die Phönizier oder verwandte seefahrende Völker in vorgeschichtlichen Zeiten an den Herkules-Säulen vorbei bis nach Irland gekommen sind, gibt es dafür keinen handfesten archäologischen Beweis. Das wäre im Prinzip kein unüberwindliches Hindernis, da die linguistische Rekonstruktion normalerweise viel tiefer in die Vergangenheit reicht als die Archäologie, und auch für das Urindogermanische ist im Allgemeinen die Grammatik bekannter als die materielle Kultur (vgl. Rankin 2003: 183 - 184). Deswegen beklagen Thomason & Kaufmann (1988: 239) „ the Indo-Europeanist ’ s traditional reluctance to accept claims of substratum interference “ . Trotzdem findet das angeblich semitische Substrat des Keltischen heute wenig Verfechter (siehe Diskussion bei Baldi & Page 2006) und wird von den meisten Spezialisten abgelehnt ( „ There is no compelling reason for positing an Afro-Asiatic substrate that exercised powerful syntactic pressure on the Insular Celtic languages “ , McCone 2006: 38). Der syntaktische Wandel von den alten zu den modernen idg. Sprachen wirkt am stärksten auf die Beziehung zwischen Verb und direktem Objekt, sowohl in der linearen Stellung als auch in der Distanz. Nicht nur die unmarkierte SOV-Wortfolge des Lateinischen und der alten germanischen Sprachen wird durch eine unmarkierte SVO-Wortfolge in den romanischen und modernen germanischen Sprachen ersetzt (bei den letzteren zumindest im Bereich des Hauptsatzes), auch in den baltischen und slawischen Sprachen, im Albanischen und im modernen Griechisch ist SVO heute viel häufiger als in deren früheren Sprachstufen. Wie wir in §§ 4.2.2 und 5.4 gesehen haben, ist der Wandel von OV zu VO in den modernen idg. Sprachen deshalb so verbreitet, weil das Verb und das direkte Objekt in den alten idg. Sprachen schon viel unabhängig voneinander waren. Als Anfangspunkt dieses Wandels können diejenigen Fälle dienen, wobei ein Nominal zu einem syntaktisch schon vollständigen Satz als eine Art afterthough hinzugefügt wird, wie Gonda (1959) für die vedischen erweiterten Sätze beschrieb. Generell wurde die gegenseitige Stellung von Subjekt, direktem Objekt und Verb später grammatikalisiert als die der anderen Konstituenten. Nicht von ungefähr beschränken sich die Forscher im Rahmen des Funktionalismus normalerweise auf die Wortfolge der Hauptkonstituenten und 393 <?page no="394"?> berücksichtigen den ganzen Satz oder sogar den Diskurs, während die NP, in der interlocking am wenigsten beobachtbar ist, vernachlässigt wird (vg. Li 1975; Tomlin 1986; 1987; Payne 1990; 1992; Downing & Noonan 1995; Moravcsik 2006 a: 40 ff). Doch auch die Wortfolge der NP kann Anlass für eine pragmatische Analyse in denjenigen Sprachen sein, die Varianten in der Stellung des Adjektivs oder des Genitivs erlauben. Das ist besonders der Fall im Altgriechischen, in dem die NP eine bemerkenswerte Flexibilität hat. In zwei quantitativen Analysen der Wortfolge bei Homer und Herodot (Viti 2008 b, 2008 c) haben wir gezeigt, dass der Genitiv normalerweise seinem Kopf vorangestellt wird, wenn er in Silversteins (1976) Sinne einen prominenten Referenten bezeichnet, ansonsten wird er nachgestellt. GN wird also bei possessiven Strukturen von Verwandtschaft bevorzugt, in denen der Besitzer der Eigenname eines spezifischen Referenten ist (z. B. Hom. Il. 2.406 Τυδέος υἱόν „ Tydeus ’ Sohn “ ). Wenn jedoch die Beziehung eine nicht-referentielle Interpretation bekommt, dann ist die nachgestellte Position häufiger, wie im formelhaften Ausdruck υἷες Ἀχαιῶν , einer Umschreibung für den einfachen Namen „ Achaier “ . Genitive von Stoff und Inhalt, die nie referentiell sind (§ 4.3.4), werden normalerweise dem Kopf nachgestellt, z. B. δέπας οἴνοιο „ Becher voll Weins “ (Hom. Od. 8.70), ταρσοὺς καλάμων „ Rohrgeflechte “ (Hdt. 1.179.2). Außerdem wird der Genitiv seinem Kopf vorangestellt, wenn er eine kontrastive oder diskontinuierliche Information ausdrückt, während bekannte und nicht-kontrastive Informationen normalerweise durch nachgestellte Genitive dargestellt werden, also in die gleiche Richtung verlaufen wie die in § 5.4 illustrierten linearen Varianten der Hauptkonstituenten des Satzes. Auf ähnliche Weise wird die nachgestellte Position auch von denjenigen Genitiven besetzt, die im folgenden Diskurs verfallen, während kataphorisch persistente Nominalia zur Voranstellung neigen. Pragmatische Prinzipien spielen mit semantischen Prinzipien zusammen, indem Nomina von menschlichen Referenten auch bessere Kandidaten für thematische Persistenz sind. Die folgenden Beispiele illustrieren, wie derselbe Kopf ( „ Ohr “ ) zwei verschiedene Stellungen besetzen kann, je nachdem ob der Genitiv einen menschlichen und kontextuell wichtigen Referenten (5.11) oder generisch ein Tier oder ein unbelebtes Ding (5.12) bezeichnet. (5.11) τοῦ δὲ Μάγου τούτου τοῦ Σμέρδιος Κῦρος ὁ Καμβύσεω ἄρχων τὰ ὦτα ἀπέταμε ἐπ᾽ αἰτίῃ δή τινι οὐ σμικρῇ „ Dem Magier Smerdis aber waren vom König Kyros, Kambyses ’ Sohn, wegen irgendeines schweren Vergehens die Ohren abgeschnitten worden. “ (Hdt. 3.69.5; Übersetzung Horneffer 1971: 213) 394 <?page no="395"?> (5.12) ἐπεὰν τοῦ ὠτὸς ἀπάρξωνται τοῦ κτήνεος , ῥιπτέουσι ὑπὲρ τὸν δόμον „ Zuerst schneiden sie von dem Opfertier, um es zu weihen, ein Stück des Ohres ab und werfen es über ihr Haus. “ (Hdt. 4.188; Übersetzung Horneffer 1971: 321) Für weitere Studien zur Wortfolge in der NP des Altgriechischen vgl. Bergson (1960) und Bakker (2009). Semantisch-lexikalische Unterschiede wie referentiell vs. nicht-referentiell oder belebt vs. unbelebt, die wir in der Wortfolge der minor constituents im Altgriechischen feststellen, zeigen, wie die alten idg. Sprachen zur funktionalen Analyse der Wortfolge beitragen können, die normalerweise nur die Pragmatik, und nicht die Semantik, einbezieht. Der Grund einer solchen Beschränkung besteht darin, dass einerseits die Tendenzen der Linearität eher auf word types als auf word tokens angewendet werden (Moravcsik 2006 a: 43 ff), und andererseits ein semantischer Faktor mit einem pragmatischen in der Bestimmung einer Wortfolge zwar überlappen kann, aber der pragmatische ausschlaggebend ist, wenn sie in Gegensatz zueinander stehen und einer überwiegen muss ( „ if a language should be discovered where some order facts appear to be describable in semantic terms, but in a given context a certain pragmatic principle would predict an alternative order, the pragmatic principle will most surely win out “ , Payne 1992: 3). Das gilt im Großen und Ganzen auch für die alten idg. Sprachen, bei denen - wie in § 5.4 gezeigt - ein kontrastiver Kontext die vorangestellte Position des direkten Objekts stärker auslöst als Belebtheit. Doch in jenen Sprachen, in denen grammatische Beziehungen oft kaum festgesetzt sind, spielen die Faktoren der Semantik und Belebtheit jedenfalls eine größere Rolle als in den modernen Sprachen. Dafür nennen wir hier ein paar Beispiele: erstens, in σχῆμα καθ’ ὅλον καὶ μέρος (§ 4.3.2) wird das Nomen des belebten Referenten unter normalen Umständen dem Nomen des Körperteils vorangestellt, z. B. Hom. Il. 20.44 Τρῶας δὲ τρόμος αἰνὸς ὑπήλυθε γυῖα ἕκαστον „ Den Troern (im Altgr. AKK) schlich sich das schreckliche Zittern in die Glieder (AKK) ein “ . Zweitens liegt ein semantisches Kriterium auch der Verteilung der Argumente eines ditransitiven Prädikats zugrunde, wobei das Nomen des Dativ-Empfängers normalerweise vor dem Nomen des Akkusativ-Themas steht. Diese Anordnung ist in vielen modernen idg. Sprachen bei klitischen Pronomina regelmässig (z. B. Ita. te lo do vs. *lo te do, vgl. Haspelmath 2004 b), in den alten idg. Sprachen betrifft sie jedoch auch betonte Pronomina und lexikalische Argumente. Selbstverständlich sollte man auch in diesem Fall eine quantitative Analyse durchführen, selbst von sehr langen Texten, weil transitive und ditransitive Sätze, in denen alle Argumente durch explizite Formen ausgedrückt werden, selten vorkommen. So haben wir in der ganzen Apologie Hattusilis nur zwei Fälle gefunden, in denen sowohl der Empfänger als auch das Thema von lexikalischen Wörtern dargestellt werden. 395 <?page no="396"?> Ansonsten wird der eine oder das andere durch klitische Pronomina ausgedrückt, deren Funktionen nicht immer einfach zu unterscheiden sind, weil im Hethitischen die Klitika der 1. Person (SG - mu, PL -na š ) und der 2. Person (SG - ta, PL š ma š ) sowohl im Akkusativ als auch im Dativ stehen können. Der Empfänger wird aber bei beiden Stellen mit lexikalischen Argumenten dem Thema vorangestellt, wie in (5.13). (5.13) am-mu-uk-ma A-NA D I Š TAR GA Š AN-YA É m D XXX- D U AD-DIN ich: NOM-aber zu I š tar Herrin-mein Haus Armadatta ich.gab „ Ich aber gab der I š tar, meiner Herrin, das Haus des Armadatta. “ (KUB I 1 + IV 66; Übersetzung Otten 1981: 29) Hier sind sowohl der Empfänger ( D I Š TAR GA Š AN-YA) als auch das Thema (É m D XXX- D U) komplexe Konstituenten, deren Anordnung also nicht vom Gesetz der wachsenden Glieder bedingt ist. 223 Eine ähnliche Situation gilt für das Vedische: in der Geschichte von Manu und der Flut aus den Ś atapathabr ā hman· a (1.8.1.1 - 11) gibt es nur ein einziges Beispiel für ein ditransitives Verb mit lexikalischem Empfänger und Thema, und auch in diesem Fall geht der Dativ dem Akkusativ voraus (5.14). (5.14) mánave ha vái pr ā táh · avanégyam udakám Manu(M): DAT PTK PTK am.Morgen zum.Waschen: AKK.N.SG Wasser(N): AKK.SG ā ´jahrur bringen: PF3PL „ Dem Manu brachte man am Morgen Wasser zum Waschen. “ ( Ś B 1.8.1.1) Die Bewahrung des vorangestellten Empfängers nur bei Pronomina in den modernen idg. Sprachen hängt wahrscheinlich mit der Tatsache zusammen, dass die Rolle des Empfängers vorzugsweise von pronominalen Formen ausgedrückt wird, während lexikalische Empfänger in diesen Sprachen von PP dargestellt werden, die syntaktisch schwer sind und deswegen oft dem direkten Objekt nachgestellt werden. Die Tatsache, dass im Hethitischen auch ein PP-Dativ wie A-NA D I Š TAR in (5.13) dem direkten Objekt vorangehen konnte, beweist, dass in dieser Sprache die semantischen Faktoren die Linearität manchmal stärker beeinflussen konnten als 223 Syntaktisch schwere Konstituenten sowohl für den Empfänger als auch für das Thema erscheinen auch an einer weiteren Stelle der Apologie Hattusilis (I 13 - 14), in der ein ditransitives Prädikat lexikalische Argumente zeigt, und in der der Dativ vorangestellt wird: [(nu D I Š TAR)] GA Š AN-YA A-NA m Mur-si-li A-BI-YA Ù-it m NIR. GÁL-in Š E Š -YA u-i-ya-at „ Da schickte I š tar, meine Herrin, zu Mursili, meinem Vater, im Traume den Muwatalli, meinen Bruder “ . Obwohl hier beide Argumente menschliche Referenten haben, wird die typisch vorangestellte Position des Dativs bewahrt, der hinsichtlich Belebtheit höher rangiert als das Thema, weil, während der Empfänger stets belebt ist, das Thema sowohl belebt, wie an dieser Stelle, als auch (und noch häufiger) unbelebt sein kann. 396 <?page no="397"?> die syntaktischen. Die vorangestellte Position des Empfängers im Vergleich zur Position des Themas ist auch typisch für zahlreiche nicht-idg. Sprachen und Sprachfamilien wie das Bantu, in dem Nominalia ebenfalls nach Silversteins (1977) Implikationsskala angeordnet sind (menschlich > belebt > unbelebt / / Benefaktiv > Ziel > Patiens > Lokativ, vgl. Bearth 2003: 127). Der Verlust der semantischen Funktionen der Wortfolge bringt auch eine immer stärkere Konsistenz mit sich, die jedoch nicht in allen theoretischen Ansätzen gleich gewichtet wird. Während nach generativ orientierten Forschern die Sprachen zu einer harmonischen überkategorialen Wortfolge neigen (vgl. Vennemann 1974; Hawkins 1979; 1990; 1994; 2004), sind Funktionalisten der Meinung, dass die Wortfolge einer gewissen Konstituente eher von der Linearität ihrer diachronen Quelle bedingt wird. Z. B. wird eine Adposition in einer SOV-Sprache als Postposition oder Präposition erscheinen, wenn sie etymologisch von einem Verb bzw. Nomen abgeleitet ist (vgl. Hagège 1975; Aristar 1991; Nocentini 1993; Bencini 2004; Bybee 2009; Evans & Levinson 2009; Dunn et al. 2011). In principle, each modifier in the NP grammaticalizes on its own, following its own diachronic trajectory that may or may not be determined by clausal (OV vs. VO) syntax. [. . .] The presumption of inconsistency or „ disharmony “ is rooted in a certain Platonic mind-cast that assumes, without specifying a clear causal mechanism, that languages would somehow tend toward „ harmony “ between VP and NP syntax. (Givón 2001: I, 245; 255) Die funktionalistische Hypothese eignet sich offensichtlich gut für die am frühesten belegten Sprachstufen, als die Quelle einer Struktur für den Sprecher noch transparent war. Zieht man jedoch die Gesamtentwicklung von den alten zu den modernen idg. Sprachen in Betracht, wird die zunehmende Konsistenz deutlich. So hatte das Latein die folgenden Strukturen 224 : SOV/ svo/ vso/ osv/ ovs/ vos; PräN/ npost; GN/ NG; AN/ na; KST/ stk (vgl. Marouzeau 1922), d. h. es gab keine Konsistenz zwischen der Wortfolge des Subjekts und des direkten Objekts in Bezug auf das Verb einerseits und der Wortfolge der Präpositionen andererseits, und ähnlich gab es keine Konsistenz zwischen der Wortfolge des Adjektivs in Bezug auf das Nomen einerseits und in Bezug auf den Standard der Komparation andererseits. Im Italienischen aber sind diese Konstituenten in ihrer Wortfolge aligniert und haben auch weniger mögliche Strukturen, d. h. SVO/ vs; PräN; NG; NA/ an; KSt. Daher ist die Wortfolge des Italienischen harmonischer als die des Lateinischen. Im Prinzip sollte man zwar keine Konsistenz erwarten, da die verschiedenen Wortfolgen zu verschiedenen syntaktischen Kategorien mit 224 Großbuchstaben und Kleinbuchstaben bezeichnen hier unmarkierte bzw. markierte Wortfolgen. 397 <?page no="398"?> verschiedenen diachronen Quellen gehören, aber in der Praxis scheint es dennoch so zu sein, und diese Tendenz ist nicht auf die Wortfolge beschränkt, sondern betrifft auch weitere Bereiche der Grammatik, wie z. B. die Satzverbindung. Es gibt keinen Grund, warum finite und nichtfinite Unterordnungsformen einer Sprache dieselbe Entwicklung haben sollten, da sie verschiedene Quellen haben: in den alten idg. Sprachen geht der Infinitiv auf Verbalnomina zurück, während finite Nebensätze durch verschiedene Konjunktionen charakterisiert werden. Daher könnte eine Sprache im Prinzip einen voll entwickelten Infinitiv und eine unentwickelte finite Unterordnung haben, oder umgekehrt. Aber wie wir in § 4.5.3 gesehen haben, ist das nicht der Fall, und Sprachen wie das Lateinische oder Altgriechische, die einen durch die consecutio temporum vel modorum grammatikalisierten Gebrauch der finiten Nebensätze haben, sind auch jene Sprachen, in denen der Infinitiv stärker in das Verbalsystem integriert ist, während Sprachen wie das Altirische oder Altindische, in denen die nominale Verteilung des Infinitivs besser erhalten ist, auch die Sprachen sind, die eine weniger regulierte finite Unterordnung haben. Die Erklärung für diese grundsätzliche Richtung zur Konsistenz sollte aber m. E. nicht in der angeborenen menschlichen Tendenz zu Harmonie und Ordnung in der Grammatik gesucht werden, wie in den ersten generativistischen Studien behauptet; eine überkategoriale Konsistenz wird wahrscheinlich vielmehr von Faktoren wie parsing, Häufigkeit und Ökonomie bestimmt: es ist einfacher, Sätze zu bilden, die automatisch dieselbe Wortfolge reproduzieren. Mit derselben linearen Struktur wird der Speicher (storage) des Gedächtnisses weniger beladen, und die Verfahren der Verarbeitung (processing) werden ausgenutzt. Das stimmt auch überein mit Hawkins ’ (1990; 1994; 2004) jüngeren Studien, wonach die Verarbeitung eingebetteter Phrasen in denjenigen Grammatiken weniger aufwändig ist, die harmonische Wortfolgen haben ( „ words and constituents occur in the order they do so that syntactic groupings and their immediate constituents can be recognized (and produced) as rapidly and efficiently possible “ , 1994: 57). Indem sie auf Experimenten beruhen (vgl. auch Culbertson et al. 2012), können diese Interpretationen auch einen möglichen Konvergenzpunkt mit kognitiv und diskursiv bezogenen funktionalistischen Studien finden, bei denen die Relevanz der Häufigkeit, der Verarbeitung und der Erinnerungsvermögen im Sprachwandel traditionell anerkannt wird (vgl. § 1.2.3). Dieselben Prinzipien könnten auch der diachronen Tendenz zugrunde liegen, die zur kanonischen Darstellung der syntaktischen Funktionen (§ 3) und der syntaktischen Hierarchie führt (§ 4). Normalerweise werden diese Phänomene als unabhängig voneinander angesehen, aber man kann bei praktisch allen eine wachsende Regelmäßigkeit und Abstraktion feststellen. Für eine derart parallele Entwicklung ist eine gemeinsame Erklärung wahrscheinlicher als drei verschiedene. Die allgemeine Frage der Wahl zwischen einer 398 <?page no="399"?> diachronen und einer systemischen Erklärung für den syntaktischen Wandel werden wir in § 6.4 wieder aufnehmen. In der Geschichte des Indogermanischen entwickelt sich aber die überkategoriale Konsistenz später als die Prinzipien der Präzedenz zwischen Subjekt und Objekt und der Adjazenz zwischen Verb und Objekt. 5.6 Eine besondere lineare Anordnung: die Wackernagel- Position Eine Diskussion der Wortfolge in den alten idg. Sprachen wäre unvollständig ohne Einbeziehung der Wackernagel-Position für klitische Elemente, 225 die - wie in § 5.2.1 erwähnt - eher eine Tendenz als ein Gesetz darstellt, mit einer großen Variation in verschiedenen alten idg. Sprachen und sogar in verschiedenen Strukturen oder verschiedenen Stufen derselben Sprache. Es gibt sowohl Ausnahmen, bei denen die zweite Stellung von betonten Wörtern statt von Klitika besetzt wird, als auch Ausnahmen, bei denen Klitika nicht in der zweiten Stellung vorkommen. Der erste Fall betrifft phonomorphologisch leichte Wörter wie z. B. Altgr. γάρ „ denn “ , das Dover (1960) in die Klasse der postpositives einordnet, wie auch sein vedisches funktionelles (aber nicht etymologisches) Equivalent hí: RV 1.8.9ab ev ā ´ hí te víbh ū taya ū táya indra m ā ´vate „ Denn wahrlich deine Gnaden, Indra, sind für meinesgleichen ausreichend “ . Der zweite Fall ist komplizierter, und kann entweder synchron oder diachron erklärt werden. In der Synchronie hat Hale (1987) bewiesen, dass es im Indoiranischen zumindest drei Klassen Klitika gibt, die die zweite Stellung unter verschiedenen Bedingungen von Bewegung und Topikalisierung besetzen können, und zwar pronominale 225 Der Unterschied zwischen betonten und unbetonten Formen ist in den alten idg. Sprachen nicht immer deutlich, aber grundsätzlich gibt es drei Kriterien, um Klitika zu identifizieren, und zwar die Schrift, eine reduzierte Morphologie und die in diesem Abschnitt behandelte syntaktische Stellung. Die Schrift erlaubt die Identifizierung der Klitika im Vedischen und im Altgriechischen, in denen der Akzent regelmäßig bezeichnet wird, obwohl im Altgriechischen diese graphische Praxis erst in hellenischer Zeit beginnt. Eine morphologisch reduzierte Struktur haben pronominale Klitika in mehreren Sprachen im Vergleich zu betonten Pronomina. Z. B. sind die Personalpronomina der 1. Person im Vedischen m ā ´m (AKK), máma (GEN), máhyam (DAT) wenn betont, aber m ā (AKK), me (GEN), me (DAT) wenn unbetont. Manchmal sind klitische Pronomina auch auf bestimmte Kasus oder Numerus beschränkt; so hat das Altgriechische keine klitische Pronominalform für den AKK.PL und GEN.PL, und das altindische Pronomen der 3. Person enaflektiert nur im AKK (in allen Numeri), im INSTR.SG und im GEN.DU. Somit war Suppletivismus typisch für die betonten Pronomina, Defektivität für die klitischen. 399 <?page no="400"?> Klitika, Konjunktionen wie ca „ und “ , v ā „ oder “ und andere S-innere Klitika, sowie emphatische Partikeln wie cid „ sogar, selbst, auch “ . Die Darstellung solcher Bedingungen wird von Krisch (1990) verfeinert und auf weitere Sprachen angewendet. In RV 10.114.9 d besetzt eine klitische Partikel sogar die letzte Stellung des Satzes und des Verses: hár ī índrasya ní cik ā ya káh · svit “ Wer hat denn des Indra Falben wahrgenommen? “ Auch so scheinbar aberrante Situationen erhalten eine syntaktische Erklärung, wenn man nach Hale (1987: 13) annimmt, dass zuerst das Klitikon regelmäßig nach dem wh- Element káh · „ wer? “ gestellt wird und danach eine Topikalisierung der ganzen VP stattfindet (vgl. § 5.2.2). Die genauen pragmatischen Funktionen der Wackernagel-Position wurden neulich von Lühr (2009) untersucht, nach der unbetonte Elemente als „ Vordergrundpartikeln “ zu sehen sind, wodurch „ der Hörer aufgefordert wird, eine bestimmte Wissensbasis zu aktivieren, die für den weiteren Diskurs mehr oder weniger zentral benötigt wird “ . Betonte Wackernagel-Partikeln sind hingegen „ Hintergrundpartikeln “ , wodurch der Sprecher „ bestimmte Textelemente oder Wissensvoraussetzungen in den Hintergrund rückt “ (S. 183). Alternativ kann ein Klitikon wegen eines diachronen Wandels in einer anderen Stellung als der zweiten platziert werden, wobei klitische Pronomina von ihrem verbalen Kopf angezogen werden und deswegen mehr und mehr satzinnere Stellungen besetzen. Man kann dieses Phänomen in der Geschichte des Altgriechischen beobachten, in dem die zweite Stellung der Klitika im klassischen Griechisch seltener ist als im homerischen, und noch seltener in den nachklassischen Varianten, wie Fraser (2001) statistisch nachgewiesen hat (vgl. auch Taylor 1996). Wir illustrieren den ersten Beleg eines klitischen Pronomens der altgriechischen Literatur (5.15), und einen Beleg aus der berühmten Geschichte von Gyges und Kandaules (5.16). (5.15) πρίν μιν καὶ γῆρας ἔπεισιν „ bis einst das Alter ihr nahet “ (Hom. Il. 1.29; Übersetzung Voß 1943 a: 3) (5.16) καὶ ἡ γυνὴ ἐπορᾷ μιν ἐξιόντα „ die Frau aber sah ihn beim Weggehen. “ (Hdt. 1.10; Übersetzung Feix 1988: I, 15) Im Beispiel (5.15) aus dem homerischen Griechisch (8. - 7. Jh. v. Chr.) steht das klitische Pronomen μιν „ sie “ in der zweiten Stellung des Satzes (aber nicht des Verses), und ist vom Verb ἔπεισιν entfernt. Im Beispiel (5.16) von Herodot (5. Jh. v. Chr.) hingegen steht μιν in der Mitte des Satzes und lehnt sich direkt an das Verb an. 226 Nur im letzteren Fall stimmen der phono- 226 Ruijgh (1990) nimmt an, dass diese Stelle ein versetztes Subjekt und deswegen auch ein regelmäßiges Zweitstellungsklitikon nach dem satzeinleitenden Verb darstellt: 400 <?page no="401"?> logische und der strukturelle „ Wirt “ (phonological host und structural host nach Klavans 1985) überein. Der Wandel von Zweitstellungsklitika zu verbadjazenten Klitika ist sprachübergreifend häufig. Er kommt z. B. in den romanischen Sprachen vor, wo Verbadjazenz der einzige heute grammatisch relevante Faktor ist, sodass klitische Pronomina sogar am Anfang des Satzes stehen können, wie Ita. lo leggerò „ ich werde es lesen “ . In ihren alten Varianten aber hatten die romanischen Sprachen noch Tobler-Mussafia-Effekte für Klitika (Altita. leggerollo), vgl. Wanner (1987), Loporcaro (2000). In der ersten Stellung waren Proklitika unmöglich in den ältesten Stufen der idg. Sprachen und deshalb auch im Urindogermanischen. Dieser Wandel wurde von verschiedenen theoretischen Standpunkten beschrieben. Im Prinzipien- und Parametermodell des Generativismus hält Rivero (1997) die Zweitstellung der Klitika für eine C(omplementizer)-orientierte Position und ihre Verbadjazenz für eine I(nflection)-orientierte Position; die erstere ist üblich im Altspanischen, die zweite im modernen Spanisch. Im funktionelltypologischen Ansatz illustriert Bossong (1998) das Kontinuum zwischen diesen Klitika-Typen, indem er fünf grundsätzliche Schritte unterscheidet, und zwar: 1. die „ fakultative Stütze “ (appui facultatif), wenn dieselbe pronominale Form sowohl betont als auch unbetont ausgesprochen werden kann, wie im Fall der Personalpronomina des Deutschen; 2. die „ freie Stütze “ (appui libre), wenn ein Pronomen eine deutlich unbetonte Form, aber keinen festen host hat, wie bei den Subjekt-Klitika des Serbokroatischen; 3. die „ Kontaktstütze “ (appui de contact), wenn das Klitikon einen verbalen host selegiert, obwohl es eher enklitisch als proklitisch bleibt ( „ l ’ attraction exercée par le prédicat verbal, centre structural de la phrase, est, pour ainsi dire, irrésistible. Tôt ou tard, l ’ indice actanciel fixe sa demeure auprès de lui. Pour utiliser une autre métaphore, disons que l ’ indice actanciel se transforme en satellite: il tourne autour du verbe comme un satellite autour d ’ un astre central “ , Bossong 1998: 21); 4. die „ festgesetzte Stütze “ (appui implanté), wenn ein Pronomen syntaktisch abhängig vom Verb ist und sowohl enklitisch als auch proklitisch sein kann, wie bei den klitischen Pronomina des Italienischen; 5. die „ eingewurzelte Stütze “ (appui enraciné), wenn das Klitikon mit dem host morphologisch verschmolzen ist, wie im Arabischen. In den „ Et (quant à) la femme, elle le voit sortir [. . .] On peut décrire ἡ γυνή comme le ‘ thème ‘ de la phrase, tandis que ἐπορᾷ μιν ἐξιόντα constitue la phrase ‘ proprement dite ‘ . Pour ainsi dire, le locuteur ‘ recommence ‘ sa phrase après la mention du thème. Le postpositif μιν occupe donc la seconde place dans la phrase proprement dite “ (S. 229). Diese Interpretation ist aber m. E. ein forcierter Versuch, die zweite Stellung des Klitikons um jeden Preis zu retten, während wir hier keinen unabhängigen Beweis einer Versetzung haben. Ruijgh selber gibt zu, dass die Ausnahmen zur Zweitstellung im nachhomerischen Griechisch zunehmen (S. 231). 401 <?page no="402"?> ersten Stufen dieses Wandels sind Klitika grundsätzlich phonologisch bestimmt, in den letzten hingegen wird ihre Stellung mehr und mehr syntaktisch von Verbadjazenz bedingt, bis zu dem Punkt, an dem sie eine ähnliche Verteilung wie Affixe haben und zusammen mit ihrem host sogar eine idiomatische Bedeutung ausdrücken können, wie Engl. beat it, in dem das Pronomen nicht referentiell ist (vgl. Haspelmath 2002: 155). Die Klitika der alten idg. Sprachen, die kaum grammatikalisiert waren und ihre anaphorische und referentielle Interpretation bewahrten, sind mehr an phonologische als an syntaktische Prinzipien gebunden, und in Bossongs (1998) Skala sind sie m. E. eine Darstellung des appui libre. Aus diesen Gründen können einige syntaktische Definitionen, die anhand der Klitika moderner idg. Sprachen postuliert wurden, auf die Klitika der alten idg. Sprachen nicht angewendet werden. Ein Beispiel dafür ist Zwickys (1977) einflussreiche Unterscheidung zwischen „ einfachen “ und „ speziellen “ Klitika (simple clitics, special clitics), je nachdem ob die Klitika dieselbe Form und Stellung wie die entsprechenden betonten Pronomina haben oder nicht (vgl. auch Dainora et al. 1995; Anderson 2005). Die klitischen Pronomina der alten idg. Sprachen waren weder einfach (weil sie oft eine morphologisch reduzierte Form im Vergleich zu ihren betonten Entsprechungen hatten) noch speziell (weil sie im Unterschied zu den klitischen Pronomina der romanischen Sprachen nicht notwendigerweise eine andere Stellung als betonte Pronomina hatten, wie Luraghi 2003 a: 174 richtig bemerkt). Das stimmt überein mit Goldsteins (2010) Analyse der Klitika im Altgriechischen des 5. Jh., für die er ein „ prosodisch dominantes Modell “ (prosodic dominant model) vorschlägt, weil die phonologisch bestimmte Natur der Wackernagel-Klitika im Altgriechischen ziemlich gut erhalten ist, während im Laufe der Zeit die Beziehung zwischen Klitika und zweiter Stellung verfällt. Meiner Meinung nach spielen prosodische Faktoren, und insbesondere die Natur des Akzents, eine große Rolle beim Gebrauch von Wackernagel- Klitika und verbadjazenten Klitika, wobei die ersteren in den alten idg. Sprachen produktiver sind, die auch einen musikalischen Akzent haben. Neben dem Altgriechischen und den alten indoiranischen Sprachen, denen in der Literatur auch die meisten Beispiele für die Wackernagel-Position entnommen werden, sind Wackernagels Klitika im Anatolischen und im Altirischen am besten erhalten - jedoch nicht auf dieselbe Weise. Denn im Indoiranischen und im Altgriechischen sind Klitika charakterisiert durch die oben beschriebenen Merkmale von morphologischer Unabhängigkeit und syntaktischer Freiheit, verschiedene hosts zu selegieren und damit auch verschiedene Positionen im Satz zu besetzen, was Wackernagel (1892) auch für das Urindogermanische rekonstruierte. Vedisch und Altgriechisch haben einen melodischen Akzent. Im Altirischen, das von einem intensiven Akzent charakterisiert ist, und im Anatolischen, über dessen Akzent man 402 <?page no="403"?> nichts Genaues sagen kann, 227 ist die Stellung der Klitika hingegen stark festgesetzt. Im Anatolischen erscheinen klitische Pronomina, Konjunktionen und Partikel in einer Kette nach dem ersten betonten Wort, normalerweise einem Konnektor, und sie sind sogar relativ zueinander starr bestimmt: im Hethitischen werden dem Konnektor nu, š a oder ta erstens die Partikel der zitierten Rede - wa(r)-, zweitens pronominale Klitika, drittens die reflexive Partikel - za-, viertens die Lokalpartikel - an, -apa, -a š ta, -kan oder -š an nachgestellt (vgl. Carruba 1969; Boley 1989; 2000; Luraghi 1990 a; Krisch 1997: 285; Hoffner & Melchert 2008: 410 ff). Altirisch hat auch rigide Regeln für die Anordnung der Bestandteile des satzeinleitenden Verbkomplexes, nach denen klitische Pronomina entweder einem Verbum Simplex suffigiert werden, das die absolute Flexion hat (z. B. táth-um „ es gibt zu mir, ich habe “ ), oder infigiert werden zwischen einer Partikel oder einem Präverb einerseits und dem Verb andererseits, das in diesem Fall die konjunkte Flexion bekommt (z. B. ní-m-thá „ es gibt nicht zu mir, ich habe nicht “ , vgl. Meid 1963; Watkins 1963; McCone 2006). Watkins (1963) argumentiert, dass die Bildung des altirischen Verbkomplexes auf gewisse Wortfolgen des Urindogermanischen zurückgeht, wobei eine ursprüngliche Struktur mit satzeinleitendem Präverb, Klitikon und Verb am Ende zu einer Univerbierung des Präverbs mit dem Verb neigte und dadurch im Keltischen auch zur Festsetzung des Verbs am Satzanfang führte: ≠ PRÄV(ENKL) . . . V ≠ > ≠ PRÄV(ENKL)V . . . ≠ , was ich überzeugend finde. In derselben Art stellen die Studien über Klitika in den alten idg. Sprachen die Daten des Hethitischen als eine Bestätigung für Wackernagels Gesetz vor (vgl. Garrett 1990; Luraghi 1990 c; Krisch 1997: 283), was gleichfalls richtig ist. Dennoch ist es wichtig anzumerken, dass die klitischen Elemente des Hethitischen, wie auch des Altirischen, eine Darstellung der Wackernagel-Klitika nur bezüglich der zweiten Stellung sind, die in diesen Fällen sogar rigider geworden ist. Ansonsten aber sind sie ganz anders: nicht nur die langen klitischen Reihenfolgen des Hethitischen, sondern auch die Verkettungen des Altirischen, die bis zu fünf satzeinleitende lexikalische Präverbien einschliessen können (wenn auch zwei Präverbien am häufigsten vorkommen), repräsentieren eine neue Situation im Vergleich zu der des rekonstruierten Urindogermanischen, dem nicht mehr als ein Präverb - und dabei noch nicht univerbiert - zugeschrieben 227 Im Hethitischen weisen unterschiedliche Darstellungen der Vokale innerhalb desselben Paradigmas auf einen mobilen Akzent hin, der die Stellung des uridg. Akzent bewahrt, z. B. NOM t ē gan „ Erde “ < uridg. *d h é ǵ h -omvs. GEN tagn āš < uridg. *d h ǵ h - (m ˚ )m-és (Neri 2003: 34 - 35). Demgemäß ist die scriptio plena ein Zeichen für die Länge, die betonte Vokale charakterisierte. Es bleibt aber umstritten, ob dieser Akzent musikalisch oder intensiv war: traditionell wird er als musikalisch beschrieben, aber wahrscheinlich hatte er auch Komponenten von Intensität (vgl. Melchert 1994: 47 ff). 403 <?page no="404"?> werden kann. Im Allgemeinen sind die Klitika des Hethitischen und des Altirischen viel stärker als die des Indoiranischen und des Altgriechischen syntaktisch bedingt. Wenn wir ihr Verhältnis mit den Daten der Typologie vergleichen, können die hethitischen und altirischen Klitika als Beispiele für Bossongs (1998) appui enraciné angesehen werden, weil auch morphologische Verschmelzungen mit dem host vorkommen, z. B. Heth. *nu-a š (KONN-er/ sie) > na š , *ta-an (KONN-ihn/ sie) > tan. Im Altirischen ist die Verschmelzung des klitischen Relativpronomens synchron opak und hat zur relativen Konjugation des Verbs geführt, z. B. Würzburg-Glossen 6 b 22 ara-rethi „ das du angreifst “ < *are-yo retesi (wo das Klitikon -yo etymologisch verwandt ist mit dem Relativpronomen des Altgriechischen und des Indoiranischen). In diesen Fällen sind Klitika eher Affixen ähnlich als im Indoiranischen und im Altgriechischen. Die hier hypothetisierte Beziehung zwischen Wackernagels Klitika, wie sie Wackernagel (1892) ursprünglich für das Urindogermanische rekonstruierte, und musikalischem Akzent, wird an der diachronen Entwicklung der alten idg. Sprachen sichtbar. Im Altgriechischen verfällt der melodische Akzent in der κοινή in der Mitte des 2. Jh. v. Chr., in der auch die Unterschiede vokalischer Länge verloren gehen (vgl. Horrocks 2010: 169), während das moderne Griechisch, das einen intensiven Akzent aufweist, die alten Wackernagel-Klitika durch verbadjazente Klitika ersetzt. Die letzteren können auch nicht-referentiell gemeint sein und mit dem Verb eine idiomatische Phrase bilden, z. B. εμείς τη βρίσκουμε „ Wir haben Spaß zusammen “ (wörtl. „ wir finden es “ ). Der melodische und freie Akzent des Altindischen, der schon vom Vedischen zum klassischen Sanskrit in seinen möglichen Stellungen beschränkt wird (vgl. Lubotsky 1988), erfährt einen Wandel zu einem intensiven Akzent im Mittelindischen und in den neuindischen Sprachen, in denen auch Wackernagels Klitika wegfallen. Die Erklärung der Beziehung zwischen dem Typ der Klitika und dem Typ des Akzents liegt meiner Meinung nach darin, dass unbetonte Silben und im Allgemeinen phonomorphologisch leichte Formen unter der Kraft eines intensiven Akzents zum Verfall neigen oder von einem prosodisch stärkeren Wort angezogen werden, während leichte Wörter von einem melodischen Akzent weder morphologisch abgeschwächt noch von ihrer ursprünglichen zweiten Stellung wegbewegt werden. Man muss jedoch hervorheben, dass diese Beziehung, die nur für die idg. Sprachen gemeint ist, einseitig ist: während Wackernagels Klitika besser in denjenigen idg. Sprachen bzw. Sprachstufen beibehalten werden, die über einen musikalischen Akzent verfügen (und wir haben gesehen, dass Hethitisch und Altirisch keine echten Ausnahmen sind), ist ein musikalischer Akzent per se kein Auslöser für Wackernagels Klitika. Im Litauischen, in dem der uridg. musikalische Akzent ziemlich gut erhalten ist, ging die Zweitstellung für pronominale Klitika weitgehend verloren. Sie 404 <?page no="405"?> ist zwar im Altlitauischen belegt, z. B. für Personalpronomina der 1. und 2. Person - mi bzw. - ti und für das Reflexivpronomen - si, wie auch für eine Reihe von Partikeln, die in der Auswahl des host frei waren: wi ʃ ur=mi wi ł kay ap ʃ pitá (allseits=mich Wolf: NOM.PL umringen: PRÄT3) „ Die Wölfe umringten mich allseits “ (vgl. Hermann 1926). Wie aber Petit (2010: 261 ff) ausführlich illustriert, waren klitische Personalpronomina schon damals meistens verbadjazent, und im heutigen Litauisch sind ihre univerbierten Formen verallgemeinert ( „ Diese Umwandlung läßt sich hauptsächlich als eine Ausdehnung des Bereichs der Enklitika nach rechts beschreiben, eine Ausdehnung, deren Grenze die Verbalform bildet “ , Petit 2010: 289). Dies alles zeigt, dass es keinen kausalen Nexus zwischen einem musikalischen Akzent und dem Verfall der Wackernagel-Klitika gibt, weil die letzteren aufgrund unabhängiger Prinzipien in einer Sprache verloren gehen können. Ich vermute, dass in den baltischen wie auch in den meisten slawischen Sprachen der Verfall der pronominalen Klitika in der Zweitstellung zugunsten verbadjazenter Klitika von der Entwicklung der präfigierten Verben als Zeichen des Aspekts und der Transitivität beinflusst wurde, die im Balto-Slawischen besonders ausgeprägt sind: die zweite Stellung des Klitikons nach dem satzeinleitenden Präverb verschwindet, wenn das Präverb mit dem Verb univerbiert wird (sofern nicht das Verb an der ersten Stelle steht, was aber im Baltischen und Slawischen - anders als im Keltischen - nicht die übliche Position ist). Jedenfalls finde ich aufschlussreich, dass im Slawischen der musikalische Akzent vom Serbokroatischen bewahrt wird, welches auch in Bezug auf Zweitstellungsklitika konservativ ist, während das Russische, das durch den intensiven Akzent charakterisiert ist, pronominale Klitika seit Jahrhunderten nicht mehr kennt, genausowenig wie die ehemals klitische Kopula im Präsens bzw. das Hilfsverb. Wir sehen also den Verfall der Wackernagel-Klitika und den des musikalischen Akzents als zwei unterschiedliche Phänomene im Indogermanischen, die nichtsdestoweniger in dieselbe Richtung gehen. Ebenso wie Wackernagel-Klitika häufiger zu verbadjazenten Klitika werden als umgekehrt, so wird der musikalische Akzent häufiger zum intensiven Akzent als umgekehrt. Auch in diesem Fall haben wir es mit Tendenzen zu tun, und deshalb bestehen auch Ausnahmen: der intensive Akzent des Urlateinischen wird zum melodischen im klassischen Latein (wenn wir der Bezeugung der römischen Grammatiker vertrauen), 228 und innerhalb des Germa- 228 Die Natur des lateinischen Akzents ist umstritten. Die römischen Grammatiker beschreiben ihn als musikalisch und benutzten dafür eine ähnliche Terminologie wie die des Altgriechischen, aber ihre Bezeugung wird in der Literatur für zweifelhaft gehalten. Da der Akzent eindeutig intensiv war sowohl im rekonstruierten Urlateinisch (überprüfbar an der vokalischen Schwächung wie auch am versus saturnius), als 405 <?page no="406"?> nischen hat sich ein melodischer Akzent im Norwegischen und Schwedischen entwickelt. Der Wandel vom melodischen zum intensiven Akzent ist aber weit verbreitet in der Geschichte des Indogermanischen: nicht nur - wie oben erwähnt - findet er in den späten Varianten des Griechischen und Indoiranischen statt, sondern auch schon in jener Frühzeit, als der musikalische Akzent des Urindogermanischen 229 sich zum intensiven Akzent im Germanischen, Keltischen und Frühlateinischen entwickelte. Es könnte sein, dass den selteneren Änderungen vom intensiven zum musikalischen Akzent Faktoren linguistischen Kontakts zugrunde liegen: Kontakt mit dem Altgriechischen im Fall des klassischen Latein, Kontakt mit dem Litauischen im Fall der festlandskandinavischen Sprachen. Jedenfalls zeigen uns diese Fälle, dass ein Wandel vom intensiven zum musikalischen auch im Spätlateinischen, wie in der Folge die romanischen Sprachen zeigen, liegt es nahe, dieselbe Intensität auch für den Akzent des klassischen Latein anzunehmen, zumindest in den niedrigen Registern. Das bestätigen auch einige volkstümliche Inschriften aus der klassischen Epoche, welche oftmals Synkopen zeigen. Andererseits kann man nicht ohne Weiteres einen ununterbrochenen Zusammenhang postulieren zwischen dem intensiven Akzent des Urlateinischen und des Spätlateinischen, denn sie sind nicht identisch: im Urlateinischen fällt der Akzent fest auf die erste Silbe, wie im Keltischen und Germanischen, während im Spätlateinischen die vorletzte Silbe die prominenteste ist, wie im klassischen Latein. Mithin ändern sich die prosodischen Merkmale des Akzents in der Geschichte des Lateinischen sowohl in der Stellung als auch in der Beziehung zwischen Höhe und Intensität (vgl. Allen 1978). Umstritten ist auch die Beurteilung der lateinischen Klitika. Erstens gibt es im Lateinischen kein unabhängiges Kriterium, um klitische von betonten Pronomina zu unterscheiden, weil die lateinische Schrift keine Information dazu liefert und darüberhinaus auch die Morphologie für beide Pronomina gleich ist: dieselben Formen wie me (AKK), mei (GEN), mihi (DAT) können sowohl betont als auch unbetont sein. Wackernagel (1892) hält ein Lat. obliques Personalpronomen für ein Klitikon, wenn es in seinem Kontext keinen emphatischen oder kontrastiven Gebrauch aufweist, im Analogieschluss dazu, dass das Altgriechische dafür ein Klitikon verwendet hätte - was eine gewisse Subjektivität voraussetzt. Syntaktisch ist die Stellung der lateinischen Klitika auch variabel. Adams (1994) hat gezeigt, dass sie die Tendenz haben, nach einem fokalisierten Konstituenten aufzutreten, insbesondere bei Negation, kontrastiven Wörtern, Intensifikatoren, Adjektiven von Quantität oder Maß sowie Imperativen. Und in diesen Fällen kommen sie häufig auch an anderen Positionen als der zweiten. Es ist m. E. immerhin bedeutsam, dass in der Entwicklung vom klassischen Latein zu den romanischen Sprachen sowohl die Intensität des Akzents ausgeprägter wird als auch die Wackernagel- Klitika verfallen. Der Wandel folgt also im Lateinischen denselben Prinzipien wie im Griechischen und in den indischen Sprachen. 229 Hier meinen wir den Akzent, der traditionell durch die Vergleichende Methode unter besonderer Berücksichtigung des Vedischen, des Altgriechischen und des Litauischen rekonstruiert wird (vgl. Meillet 1964; Szemerényi 1990). Für den angeblich intensiven Charakter der älteren Stufe des Vor-Urindogermanischen vgl. Fußnote 254. 406 <?page no="407"?> Akzent möglich ist und dass deswegen die höhere Häufigkeit des Gegenteils bedeutsam ist und eine Erklärung erfordert. M. E. kann dieser Wandel durch Vereinfachung, Festsetzung und Grammatikalisierung erklärt werden, also Vorgänge, die wir bereits bei der diachronen Beschränkung der ursprünglichen Mobilität der Wackernagel-Klitika festgestellt haben. Denn phonologische Systeme, die auf dem musikalischen Akzent beruhen, sind normalerweise komplexer als Systeme mit einem intensiven Akzent: während die letzteren normalerweise lediglich einen binären Unterschied zwischen betonten und unbetonten Silben voraussetzen, zeigen Systeme mit musikalischem Akzent mehr phonologische Unterschiede, wie die vielfältigen Darstellungen der Akzente des klassischen Griechisch, des Vedischen und des Litauischen in ihren abfallenden und ansteigenden Kombinationen bezeugen (vgl. Allen 1987; Lubotsky 1988; Olander 2009). Das stimmt überein mit den jüngst erweiterten Konzepten der Grammatikalisierung, die neben den traditionellen Bereichen der Morphosyntax und des Wortschatzes sowohl die Phonologie (input from below nach Wiemer & Bisang 2004: 11 - 12) als auch die Diskurspragmatik (input from above) berücksichtigen. Als phonologische Strategien, die in Grammatikalisierungsprozessen involviert sein können, nennt Frajzyngier (2008: 67) Ton, Intonation, Pausen, Vokalschwächung sowie Vokalharmonie. Da sich der Sprachwandel jedoch graduell vollzieht, muss davon ausgegangen werden, dass in einer Sprache nicht alle Wackernagel-Klitika mit derselben Geschwindigkeit verfallen. Es ist plausibel, dass die Anziehungskraft des verbalen Kopfes eher auf die zur Argumentstruktur des Verbs gehörenden klitischen Pronomina wirkt als auf klitische Konjunktionen und Partikeln, die Satz-Operatoren sind. Interessanterweise kommen in der Zweitstellung klitische Konjunktionen und Partikeln in den alten idg. Sprachen häufiger vor als pronominale Klitika. Während als unbetont interpretierte Pronomina im Lateinischen eine ziemlich variable Stellung im Satz haben, sind Diskurspartikeln wie nam „ denn “ , autem „ aber “ , igitur „ daher “ nach dem ersten betonten Wort des Satzes festgesetzt. Im Gotischen können verschiedene Partikeln ebenso wie Personal-, Reflexiv- und Demonstrativpronomina die linke Peripherie des Satzes besetzen - aber unter ganz verschiedenen Bedingungen. Durch präzises Zählen hat Ferraresi (2005: 51 ff) gezeigt, dass pronominale Objekte anders als NP regelmäßig dem Verb benachbart sind: sind sie an der zweiten Stelle, dann ist das Verb an der ersten Stelle (z. B. ataugei ƿ mis skatt „ zeige mir das Geld “ , vgl. Altgr. ἐπιδείξατέ μοι δηνάριον , Luc. 20.24), ansonsten können solche Pronomina auch andere Positionen besetzen. Dasselbe passiert beim Reflexivmarker sik, der ebenfalls regelmäßig nach dem Verb steht (Ferraresi 2005: 77 ff). Dagegen sind im Gotischen klitische Konjunktionen und Partikel wie - uh „ und “ , ƿ an „ wenn “ , nu „ nun “ , auk „ auch “ normalerweise in der 407 <?page no="408"?> Zweitstellung, selbst wenn sie keine Entsprechung im griechischen Original haben, z. B. uz-uh-iddja fram attin „ und ich bin vom Vater herausgekommen “ (Altgr. ἐξῆλθον παρὰ τοῦ πατρός , Joh. 16.28). Mossé (1942: 178) interpretiert solche Fälle als Tmesis, weil Präverb und Verb durch die klitische Konjunktion getrennt sind. Doch das ist sehr verschieden von der Tmesis wie sie vom homerischen Griechisch und vom Indoiranischen belegt ist, bei denen das Präverb syntaktisch unabhängig vom Verb ist und seine konkrete adverbiale Bedeutung bewahrt. Im Gotischen ist die Zweitstellung der klitischen Konjunktion - uh, die mit Altgr. τε wie auch mit Lat. - que und Skr. ca verwandt ist, viel festgesetzter. Insofern als die Zweitstellung im Gotischen und Lateinischen nur für einige syntaktische Kategorien - Konjunktionen und Partikel - regelmäßig ist, ist sie in diesen Sprachen auch in geringerem Maße produktiv als im Altgriechischen und Vedischen, in denen sie zusätzlich auch für Pronomina typisch ist. Das findet eine Bestätigung auch in Petits (2010: 279 ff) Daten zum Altlitauischen: während die klitischen Pronomina der 1. und 2. Person mi bzw. ti regelmäßig mit dem vorangehenden Wort univerbiert sind und oft zu - m und - t verkürzt werden, sind Fragepartikel wie ar nicht univerbiert; dasselbe gilt für Präpositionen im Altlitauischen. Da sprachübergreifend Wackernagels Klitika verschollen oder mit der Zeit von verbadjazenten Klitika ersetzt worden sind, müssen wir uns an diesem Punkt fragen, wie der Fall des Hethitischen erklärt werden kann, in dem die Zweitstellung produktiver ist als im Urindogermanischen. Die Anhäufung von Klitika am Anfang des hethitischen Satzes und die Bildung klitischer Nominativformen für die Pronomina der 3. Person (C.SG - a š , N. SG - at, C.PL - e, N.PL - at) sind einzigartig im idg. Bereich. Die starke Grammatikalisierung dieser Formen erscheint auch in der klitischen Doppelung (clitic doubling) des Lykischen, vgl. Garrett (1990). Dies ist wahrscheinlich von arealen Faktoren bedingt, weil Klitika und Partikelketten im alten Anatolien und Nahen Osten sehr produktiv waren. Wie Watkins (2001: 55) bemerkt, ist das Hurritische von Morphemketten charakterisiert, die einer Nominalform folgen. In den semitischen Sprachen lehnen sich klitische Pronomina sowohl an Verben als auch an Präpositionen an. Am häufigsten sind Klitika im Ugaritischen, einer westsemitischen Sprache, die im 2. Millennium v. Chr. in der Levante gesprochen wurde. Ein Blick auf eine grammatische Beschreibung des Ugaritischen ist genug, um zu bemerken, dass „ Ugaritic makes use of a baroque array of enclitic particles “ (Pardee 2004: 310; vgl. auch Aartun 1974; 1978). Die Wackernagel-Klitika des Hethitischen sind damit ein Beispiel für die Entlehnung der Struktur oder Stellung eines Wortschatzbereichs (der Pronomina), welcher sonst - zusammen mit Verwandtschaftsausdrücken und Numeralia - dem äußeren Kontakt am meisten widersteht. Da aber die Zweitstellung schon im Urindogermanischen verfügbar war, und da eine Kette von Klitika auch 408 <?page no="409"?> im Altirischen durch unabhängige Drift erscheint, halte ich das Phänomen des Hethitischen eher für die Verstärkung einiger interner Tendenzen als für eine Entlehnung von einem fremden syntaktischen Muster. 5.7 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen In diesem Kapitel haben wir zuerst die Debatte über die Wortfolge des Urindogermanischen betrachtet, die durch stilistische, syntaktische und pragmatische Methoden mit unterschiedlichen Ergebnissen analysiert wurde, und in der die nicht-überlappenden Kriterien der Diachronie, der Arealität und der Gattung unterschiedlich eingeschätzt wurden (§§ 5.2, 5.3). Wir haben für das Urindogermanische die Rekonstruktion einer SOV- Wortfolge übernommen, wie ursprünglich von Delbrück (1888) postuliert, in der aber durchaus mehrere Varianten möglich waren. Die Wortfolge des Indogermanischen war nicht nur flexibel, sondern auch inkonsistent, weil neben der SOV-Anordnung - wie auch neben der StK-Anordnung - die Präpositionen stehen, die in den meisten Sprachen die Postpositionen überwiegen. Damit müssen wir aber die Fälle echter Flexibilität derselben Konstituente, wie die GN vs. NG im Lateinischen, von denjenigen Fällen unterscheiden, in denen es um zwei verschiedene Strukturen geht, jede mit ihrer bestimmten linearen Sequenz, wie die s-Form und die of-Form des Englischen. Die Feststellung der Tendenzen in der Wortfolge ist aber nur eine Beschreibung, die durch die Identifizierung zugrunde liegender pragmatischer Funktionen erklärt werden muss. Diesbezüglich haben wir die Funktionen einiger markierter Wortfolgen identifiziert, wie den Ausdruck von Kontrast, Diskontinuität oder Persistenz in OSV-Strukturen (§ 5.4) und die kontextuell hohe Definitheit der Nominalia, die vor in situ- Interrogativa gestellt werden (§ 5.2.2). Zu den neuen Studien über die Wortfolge können die alten idg. Sprachen von zwei Standpunkten aus beitragen: erstens zeigen sie eine große Flexibilität auch innerhalb der NP, die hingegen in den modernen Sprachen normalerweise durch eine feste Anordnung grammatikalisiert ist und deswegen ihre ursprüngliche Funktion nicht mehr erkennen lässt. In den alten idg. Sprachen konnte die Variation zwischen GN und NG ähnlichen Prinzipien von Kontrast oder Prominenz wie denjenigen der Hauptkonstituenten des Satzes folgen. Zweitens spielt die Semantik, die selbst in der Forschungstradition des Funktionalismus oft zugunsten der Pragmatik vom Bereich der Wortfolge ausgeschlossen wird, in den alten idg. Sprachen eine große Rolle, in denen die Faktoren der Belebtheit oder der Menschlichkeit grammatische Effekte auf die Linearität hatten. Eine semantische Erklärung liegt wahrscheinlich der häufig vorangestellten Position des Dativs in Bezug auf den Akkusativ bei ditransitiven Prädi- 409 <?page no="410"?> katen zugrunde (§ 5.5). Eine Grammatikalisierung haben wir auch in der Verteilung der klitischen Pronomina beobachtet (§ 5.6), in diesem Fall von den ursprünglich phonologischen Bedingungen ausgehend, die eine gewisse Beziehung zum musikalischen Akzent haben konnten, bis zu den später entwickelten syntaktischen Faktoren der verbalen Adjazenz, die hingegen mit einem intensiven Akzent kompatibler ist. 410 <?page no="411"?> Kapitel VI Syntaktische Rekonstruktion im Indogermanischen 6.1 Forschungsfragen zur syntaktischen Rekonstruktion Nach der Analyse einer Reihe syntaktischer Phänomene in verschiedenen alten idg. Sprachen können wir auf besserer Grundlage das Problem angehen, ob und inwieweit eine syntaktische Rekonstruktion von toten Sprachen möglich ist. Das erfordert eine Antwort auf die folgenden Forschungsfragen: kann die Syntax verwendet werden, um eine genetische Beziehung zwischen Sprachen zu rekonstruieren, wie von einigen der jüngsten Rekonstruktionen postuliert, die eine größere Zeittiefe als die vergleichende Methode berücksichtigen? Auch wenn die Phylogenese anhand nicht-syntaktischer Kriterien bereits bestimmt ist, wie im Fall der alten idg. Sprachen - wie müssen wir verfahren, wenn die belegten Formen für eine gewisse Funktion miteinander nicht übereinstimmen? Wie können wir beurteilen, ob die Nichtübereinstimmung ein Anzeichen dafür ist, dass die jeweilige Struktur im Urindogermanischen fehlte oder in den Tochtersprachen unterschiedlich erneuert wurde? (§ 6.2) Gefragt werden muss auch, welche Mechanismen den analysierten syntaktischen Änderungen zugrunde liegen. Wie kann man den Einfluss der inneren oder der äußeren Faktoren bei einem syntaktischen Phänomen unterscheiden, und welche in der Literatur postulierten inneren Mechanismen können am besten den syntaktischen Wandel in den alten idg. Sprachen erklären? (§ 6.3) Wie konkurrieren die Universalien und die Diachronie um die Gestaltung der Syntax der alten idg. Sprachen? Ist es zulässig - in der Bestrebung so weit wie möglich in die Vergangenheit zu rekonstruieren - eine konsistente Sprache anzunehmen, in der die synchronen Anomalien regelmässiger werden, wie bei einigen Rekonstruktionen des Vor-Urindogermanischen durch die interne Rekonstruktion? (§ 6.4) Zu diesen Fragen existiert kein Konsens in der Literatur, und so ist selbst innerhalb gleicher Forschungstraditionen die syntaktische Rekonstruktion eines der umstrittensten Themen der Historiolinguistik. Für solche Themen können auch wir selbstverständlich keine Lösung anbieten. Wir wollen jedoch einige Hypothesen vorschlagen, die uns aufgrund der hier behandelten Fallstudien plausibel erscheinen. 411 <?page no="412"?> 6.2 (Un)möglichkeit syntaktischer Rekonstruktion 6.2.1 Syntaktische Rekonstruktion und Phylogenese Die meisten Linguisten stimmen bis heute mit den Junggrammatikern und Strukturalisten in der Ansicht überein, dass die Syntax nicht geeignet ist eine Phylogenese zu rekonstruieren. Die genetischen Beziehungen einer Sprache seien eigentlich nur mittels der traditionellen vergleichenden Methode anhand regelmässiger Form-Bedeutung-Entsprechungen identifizierbar (vgl. Ringe 1995; Lightfoot 2002 a: 117; 127-130; Harrison 2003; Rankin 2003; Pires & Thomason 2008: 28-45). Denn neben Erbschaft gibt es auch weitere Gründe wie Zufall, Entlehnung, unabhängige Drift, Natur oder Universalien, weshalb die Formen verschiedener Sprachen miteinander übereinstimmen können, und „ a genetic argument is thus a negative argument, or an argument by elimination, what in classical logic is termed a disjunctive syllogism. One rules out all but one of the logically possible accounts of relations of similarity, so that only inheritance from a putative common ancestor remains “ (Harrison 2003: 215; vgl. auch Aikhenvald & Dixon 2001 b: 1-4; Fortson 2010: 3). Zufall und Entlehnung haben zwar nur einen lokalen Einfluss. Man schätzt, dass im Durchschnitt nur 5 - 6 % des Wortschatzes zweier verglichener Sprachen zufällig ähnlich sind (Campbell 2003: 275). Selbst in einer Sprache wie dem Englischen, in dem mehr als 50 % des Wortschatzes insbesondere aus dem Französischen entlehnt ist, ist die grammatische Gestaltung einer germanischen Sprache noch deutlich sichtbar. Eine größere Rolle bei der Bewertung linguistischer Gemeinsamkeiten spielen aber Drift und Natur bzw. Ikonizität. Und diese können deshalb auch immer wieder die Bestimmung der genetischen Herkunft verhindern, besonders in der Syntax und in der Organisation des Diskurses (in den Bereichen der Phonologie und des Wortschatzes hingegen ist die natürliche Ähnlichkeit auf wenige ikonische Formen wie Onomatopöie beschränkt). Wie in § 1.2.1 antizipiert beruht die Ikonizität der Syntax auf ihrem kompositionellen Charakter, wobei, wenn zwei oder mehr Wörter gemeinsam eine gewisse Funktion ausdrücken, nach dem ersten Behaghelschen Gesetz erwartet wird, dass sie auf der linearen Achse auch nebeneinander stehen oder irgendwie durch Kongruenz oder Rektion morphologisch koindiziert sind. Daher gehen die meisten Forscher davon aus, dass nicht alle linguistischen Objekte durch die vergleichende Methode rekonstruiert werden können, und sie berücksichtigen nur die regelmäßigen phonetischen Entsprechungen, die mehr Chancen haben arbiträr zu sein - meistens in den Wörtern des Kernwortschatzes (vocabulaire de base, vgl. Meillet 1921: 84), die normalerweise dem Wandel eher widerstehen als die des kulturellen Wortschatzes. Die Morphologie wird in der vergleichenden Methode 412 <?page no="413"?> zwar für die Rekonstruktion einer phylogenetischen Beziehung miteinbezogen, besonders die flexionelle Morphologie, die sich für eine Entlehnung weniger anbietet als die derivationelle Morphologie (vgl. Rankin 2003: 188), aber nur insoweit, wie die verglichenen Morpheme aus denselben Phonemen bestehen. So werden zwei Sprachen nicht einfach darum für verwandt gehalten, weil sie drei Numeri oder acht Kasus haben, sondern weil die Morpheme, die solche grammatischen Kategorien ausdrücken, von einem formalen Standpunkt aus übereinstimmen (Lass 1997: 131-32). Demzufolge könnte die Syntax für die Rekonstruktion nur verwendet werden, wenn eine reale phylogenetische Beziehung durch die traditionelle vergleichende Methode bereits nachgewiesen wurde. Wegen phonetisch-lexikalischen Verfalls kann die vergleichende Methode nur begrenzte Zeittiefen erreichen, normalerweise nicht jenseits von achttausend Jahren (vgl. Nichols 1992: 2; Heine & Kuteva 2007: 346), obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits alle Kontinente bevölkert waren; größere Zeittiefen sind hingegen für die Populationsbiologie verfügbar. Deshalb wurden die in Biologie und Sozialwissenschaften üblichen statistisch-komputationellen Methoden auch auf alte Sprachen angewendet, sodass Bowern (2013) von einer „ quantitativen Revolution “ in der Historiolinguistik spricht. 230 Auch die meisten statistisch-quantitativen Ansätze untersuchen phonetisch entsprechende Lexeme im Sinne der vergleichenden Methode, sowohl in der Typologie, wie in Greenbergs Massenvergleich (2000), der wenige Wörter in vielen Sprachen statt viele Wörter in wenigen Sprachen betrachtet, als auch in der Historiolinguistik (vgl. Embleton 1986; Renfrew et al. 2000; McMahon & McMahon 2005), und viele davon fokussieren auf das Indogermanische (vgl. Dyen et al. 1992; Ringe et al. 2002; Gray & Atkinson 2003; Rexovà et al. 2003; Nakhleh et al. 2005; Atkinson & Gray 2006; Ringe & Eska 2013: 265 ff). Einige Studien quantitativer Linguistik benutzen aber auch die Syntax, und darüber sind in den letzten Jahren angesehene Publikationen von verschiedenen theoretischen Standpunkten erschienen. Im Generativismus hat Longobardi gezeigt, wie geeignete statistische Verfahren Aussagen darüber liefern können, ob die Übereinstimmung zwischen mehreren syntaktischen Parametern auf Zufall beruht oder nicht (vgl. Longobardi 2003; Guardiano & Longobardi 2005; Gianollo et al. 2008; Crisma & Longobardi 2009: 4ff; Longobardi & Guardiano 2009). In der Typologie hat Nichols (1992) wegweisende Monographie über die linguistische Vorgeschichte der 230 „ Just as the ability to make precise acustic measurements on desktop and labtop computers revolutionized phonetics and made it possible to study many more languages in a systematic way, so too the use of computational methods in historical linguistics is revolutionizing our ability to look into the past and combine results from language with other disciplines. “ (Bowern 2013: 275) 413 <?page no="414"?> Welt Studien wie Dunn et al. (2005; 2008) angespornt, die neben den phonetischen und morphologischen auch syntaktische „ Charakter “ (characters) gebrauchen, um eine Phylogenese darzustellen. Dunn et al. (2008) - auf die Phylogenese der ozeanischen und der Papua-Sprachen fokussiert - untersuchen anhand einer Liste von 115 Charakter nicht nur, ob die jeweiligen Sprachen beispielsweise frikative Phoneme oder phonemische prenasalisierte Verschlußlaute haben, sondern auch ob Besitz am Nomen des Besitzers oder des Besessenen kodiert wird, ob Präpositionen oder Postpositionen bestehen sowie Präfixe und proklitische Wörter oder Suffixe und Enklitika. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass grammatische Merkmale diachron stabiler sind als die lexikalischen, und dass syntaktische Charakter eine Direktionalität wie phonetische haben können: wie ein p zu f wird häufiger als umgekehrt, vollzieht sich der syntaktische Wandel normalerweise von Postpositionen zu Kasus-Endungen, und nicht das Gegenteil (vgl. § 6.4.2). Derzeit sind jedoch Studien, die auf strukturellen statt lexikalischen Charaktern für die Rekonstruktion einer Phylogenese beruhen, noch experimentell und umstritten (vgl. Croft et al. 2011). Aufgrund der in diesem Buch illustrierten Fallstudien stimme ich mit der Mehrheit der Historiolinguisten darin überein, dass eine syntaktische Gemeinsamkeit allein, welche die phonologischen und morphologischen Entsprechungen nicht berücksichtigt, die phylogenetischen Beziehungen nicht erkennen lässt. So stimmt das Deutsche in der nicht-kanonischen Markierung der syntaktischen Funktionen mehr mit dem Irischen als mit dem Englischen (§ 3.5) überein, obwohl Deutsch und Englisch einerseits und Englisch und Irisch andererseits sich genetisch bzw. geographisch näher stehen. Das bedeutet aber nicht, dass, nachdem zwei oder mehr Sprachen durch die vergleichende Methode als genetisch verwandt bestimmt worden sind, man auf die Rekonstruktion der Syntax ihrer Ursprache verzichten sollte. Sogar Harrison (2003), der gegenüber der Anwendung der vergleichenden Methode außerhalb des lexikalisch-phonologischen Bereiches skeptisch ist, lässt Möglichkeiten syntaktischer Rekonstruktion zu, wenn auch „ durch andere Methoden “ (using other methods, S. 225), welche aber vage bleiben. Außerdem bedeutet Ungenügen nicht immer Ungeeignetheit, weil die Syntax gemeinsam mit Phonologie und Morphologie hinsichtlich der Gestaltung einer Sprache informativ sein kann und deswegen auch hinsichtlich ihrer phylogenetischen Beziehungen, wie von Dunn et al. (2008) vorgeschlagen - obwohl die traditionellen Lautentsprechungen Priorität haben sollten. Gegenüber der statistisch-komputationellen Rekonstruktion der uridg. Syntax - wie auch der uridg. Phonologie und Morphologie - halte ich jedoch kritische Vorsicht für angebracht, zumindest für einige ihrer Anwendungen. Zum einen würde ich die Frage möglicher genetischer 414 <?page no="415"?> Beziehungen einer Sprache von der Frage des Tempos eines Wandels in der Sprachfamilie getrennt halten. Die letztere Frage kann m. E. durch komputationelle Methoden nicht befriedigend beantwortet werden, weil verschiedene Strukturen derselben Kategorie oft auch verschiedene historische Entwicklungen haben, die von ihrer spezifischen Bedeutung oder ihrem Kontext bedingt sind (vgl. §§ 2.3.2.5, 3.4.2, 3.7, 5.5). Zum anderen finde ich bezüglich der Bestimmung genetischer Beziehungen den Versuch, das subgrouping der alten idg. Sprachen genauer zu bestimmen (vgl. Garrett 2006), vielversprechender als die Suche nach großen Zeittiefen des Indogermanischen und nach seinen angeblichen Kontakten mit anderen Sprachfamilien. Denn das subgrouping setzt die Analyse näherer diachroner Sprachstufen voraus und kann deshalb auch zuverlässigere Antworten auf heute immer noch offene Fragen liefern, so z. B. auf die Frage nach der Stellung des Anatolischen innerhalb der uridg. Sprachfamilie. Die Unmöglichkeit einer Anwendung der vergleichenden Methode auf sehr große Zeittiefen stellt in meinen Augen kein Problem dar: „ One cannot reconstruct ad infinitum. We must be satisfied with the reconstruction of stages bordering the historical reality “ (Kury ł owicz 1964: 58). 6.2.2 Rekonstruktion syntaktisch uneinheitlicher Strukturen Häufig kommt es vor, dass ein und dieselbe Funktion in unterschiedlichen Sprachen durch unterschiedliche Formen kodiert wird, was sich als gravierendes Problem für die Rekonstruktion erweist. Einigen Forschern zufolge ist die syntaktische Rekonstruktion in solchen Fällen unmöglich, weil die Syntax auf andere Weise als Phonologie, Morphologie und Wortschatz überliefert wird. Während die Einheiten dieser linguistischen Bereiche gelernt und im Gedächtnis gespeichert werden, werden Sätze erzeugt (generated) und bearbeitet: „ In syntax there does not exist a finite set of sentences occurring in a finite set of discourses which might serve as the basis for the establishment of ‚ correspondence set ‘ . In syntax, only pattern can be compared, and patterns, in general, do not ‚ evolve ‘ the way sounds do. “ (Jeffers 1976 a: 4) Diese Meinung war besonders verbreitet in den siebziger und achtzigen Jahren als Reaktion gegen W. Lehmanns (1974) Versuch einer Rekonstruktion der uridg. Syntax anhand typologischer implikationeller Universalien (vgl. Watkins 1976; Lightfoot 1979: 155ff; Winter 1984: 622 - 623), aber sie wird auch in jüngster Zeit wieder geäußert (vgl. Lightfoot 2002 a; Rankin 2003; Pires & Thomason 2008: 50ff; von Mengden 2008; Ringe & Eska 2013: 253 - 54). Nach Lightfoot gibt es zwei Ansätze für die Rekonstruktion, je nachdem ob man nur die generische Abstraktion eines Systems bezweckt oder linguistische Realien der Ursprache im Auge hat. Insbesondere letzteres sei ohne formale Übereinstimmung zum Scheitern verurteilt ( „ except in very limited contexts, essentially where the attested daughter languages 415 <?page no="416"?> show identity, reconstructions of proto-syntax are myths, perhaps myths which are useful means to express relationships between systems, as for Meillet, but where reconstructions are alleged to be real, they are based on mythical notions about change “ , Lightfoot 2002 a: 134 - 35). Nicht alle Forscher, die für den syntaktischen Vergleich eine formale Identität verlangen, sind aber gleichermaßen pessimistisch bezüglich der Möglichkeit einer Rekonstruktion. So erkennt Watkins (1964) den syntaktischen Vergleich auch zwischen einigen nichtverwandten Formen an, wenn man nicht die Stellung einer einzelnen Konstituente, sondern verschiedener Konstituenten zueinander beschreiben will. Die Tatsache, dass die Stellung des Verbs in den alten idg. Sprachen normalerweise am Ende des Satzes liegt, charakterisiert das Urindogermanische nicht, weil dieselbe Stellung auch in vielen anderen unabhängigen Sprachen wie im Burushaski überwiegt. Wenn jedoch das Verb, das Präverb und die enklitische Partikel - abgesehen von ihren lexikalischen Quellen - in mehreren alten idg. Sprachen in ihren gegenseitigen linearen Kombinationen übereinstimmen, dann könnte eine solche Anordnung auch dem Urindogermanischen zugewiesen werden. Noch mehr Möglichkeiten werden der syntaktischen Rekonstruktion von Harris & Campbell (1995) zuerkannt. Diese zwei Forscher gehen davon aus, dass der von Lightfoot beschriebene Unterschied zwischen abstrakten und realistischen Rekonstruktionen keine Frage der Wahl zwischen verschiedenen Ansätzen ist, sondern nur darin besteht, dass einige Rekonstruktionen schwieriger als andere sind: „ The matter of ‚ real ‘ versus ‚ abstract ‘ reconstructions is not really about opposing views of reconstruction, but rather about how successfully reconstructions which are proposed (proto-language in sense [2]) approximate the former parent language (proto-language in sense [1]) “ , (Campbell & Harris 2002: 600). 231 Generell sollte der Linguist aber eine möglichst wirklichkeitsnahe Rekonstruktion anstreben (vgl. auch Lass 1997: 270 ff). Die „ Muster “ (patterns), die nach dem oben zitierten Jeffers (1976 a) nicht vergleichbar und daher nicht rekonstruierbar sind, erlauben nach Harris & Campbell durchaus die Anwendung des Vergleichs. Für Muster halten sie eine Konstruktion, die eine konsistente Beziehung zwischen Form und Bedeutung darstellt ( „ a pattern [. . .] is a repeated form that is paired with a consistent function or distribution “ , Harris 2008: 86). Vorausgesetzt, dass eine genetische Beziehung zwischen den verglichenen Sprachen bereits erkannt wurde, kann der Ursprache ein Muster zugewiesen werden, selbst wenn die bestehenden Elemente - 231 Nach Campbell & Harris (2002: 600) ist eine Ursprache in Sinne [1] „ the actual spoken ancestral language from which daughter languages descend (a real language in the past), “ und eine Usprache in Sinne [2] ist „ the language reconstructed by the comparative method which attempts to replicate the once-existing ancestor language (proto-language in sense [1]) “ . 416 <?page no="417"?> insbesondere die lexikalischen Morpheme - nicht alle verwandt sind ( „ it is not necessary that every word in the sentence [. . .] be cognate. In syntax, a pattern can often be established without the use of cognate words “ , Harris 2008: 86). In diesem Fall müssen unabhängige Argumente ins Kalkül gezogen werden, wie die Konservativität des Musters bei Sprichwörtern und Redewendungen, Vergleiche mit dialektalen Varianten oder das Ökonomieprinzip, nach dem man annehmen kann, dass, wenn alle außer einer der verglichenen Sprachen in Bezug auf ein Merkmal miteinander übereinstimmen, die einzelne Abweichung eine unabhängige Neuerung darstellt. Durch solche Methoden vergleicht Harris (2008) mittels aus verschiedenen kartwelischen und nach-dagestanischen Sprachen entnommener und rekonstruierter Daten die syntaktischen Muster in ihren entsprechenden Ursprachen. Ihre Methoden sind auch kompatibel mit dem Ansatz der Konstruktionsgrammatik (vgl. Bardal & Eythorsson 2012) 232 wie auch mit Walkdens (2013) neuer item-based view der syntaktischen Variation im Rahmen des Minimalismus. Nach Walkden kann man syntaktische Strukturen anhand verschiedener, im Wortschatz gespeicherter syntaktischer Primitive wie Tempus, Kasus, Numerus vergleichen, auf dieselbe Weise wie Phoneme anhand verschiedener phonetischer Merkmale wie ± Koronal oder ± stimmhaft unterschieden werden. In Bezug auf die Zuverlässigkeit rekonstruierter syntaktischer Muster finde ich Harris ’ Argumente überzeugend. Von Mengden (2008: 100-102) führt an, dass, wenn man die syntaktischen Entsprechungen verschiedener romanischer Sprachen für einen einfachen Satz wie „ Hast du einen Hund gekauft? “ vergleiche, man die folgende syntaktische Rekonstruktion im Proto-Romanischen erhalte: *habes compara-t? un-? canis? Diese Rekonstruktion sei jedoch falsch: sie hat ein analytisches Präteritum, während das (klassische) Latein ein synthetisches Perfekt hatte; außerdem hat der unbestimmte Artikel des Romanischen keine Entsprechung im Lateinischen, und die lateinischen Kasus können aufgrund des proto-romanischen Satzes nicht rekonstruiert werden. Aus diesem Vergleich schliesst von Mengden: „ Employing the Comparative Method for approximating the syntax of the parent language provides results that are potentially misleading. “ (2008: 101) Aber auch in diesem Fall ist nicht immer falsch, was per se ungenügend ist: obwohl der rekonstruierte Satz dem Lateinischen nicht zugewiesen werden 232 Die Anwendung der Konstruktionsgrammatik auf die syntaktische Rekonstruktion ist eigentlich restriktiver als die der Muster im Sinne von Campbell & Harris (2002). Denn die basische Einheit der Konstruktionsgrammatik ist ein formelhafter Ausdruck, der nur beschränkte lexikalische Ersatzmöglichkeiten bietet, und der wegen seiner idiomatischen Bedeutung gewissermaßen sprachspezifisch ist (Langacker 1987 b; Fillmore 1988; Goldberg 1995). Die Muster von Campbell und Harris hingegen werden von üblichen Sätzen dargestellt, die in allen Sprachen durch Übersetzungen ihre Äquivalenzen haben können. 417 <?page no="418"?> kann, könnte er für einen späteren Zustand des Proto-Romanischen gelten. Die Bildung des analytischen Perfekts taucht im Vulgärlatein auf und war wahrscheinlich auch für das Proto-Romanische typisch; einige Beispiele dafür gehen schon auf die Sprache der alten Republik zurück (Drinka 2013). Der unbestimmte Artikel ist zwar später als der bestimmte entstanden, aber die Verwendung des Numerals unus zumindest für spezifische unbestimmte Referenten, und manchmal sogar für unspezifische, ist auch im Lateinischen belegt (vgl. Pinkster 1990: § 6.7; Bertocchi et al. 2010). Die Tatsache, dass der Vergleich zwischen romanischen Sätzen keinen Hinweis auf die lateinischen Kasus bietet, liefert nicht etwa eine falsche Information, sondern bedeutet lediglich, dass diese Information fehlt. Doch kann sie mittels anderer Belege erschlossen und wiederhergestellt werden, wie beispielsweise anhand der Variation zwischen verschiedenen pronominalen Formen wie Ita. io me, tu te. Natürlich bezieht man sich nicht auf einen einzelnen Satz, wenn man rekonstruieren will, sondern benutzt so viele Belege wie möglich. Müssten wir tatsächlich die syntaktische Rekonstruktion auf diejenigen Sätze beschränken, die aus verwandten lexikalischen Lexemen bestehen, so könnten wir m. E. fast nichts rekonstruieren. 233 Wie wir in den vorangehenden Kapiteln festgestellt haben, schreitet der lexikalische Wandel schneller voran als der syntaktische, sodass wir in verschiedenen alten idg. Sprachen oft dasselbe syntaktische Muster identifizieren können, obwohl keines der verglichenen Lexeme auf dieselbe diachrone Quelle zurückgeht. Der Gebrauch nicht-kanonischer Strukturen, die in den alten idg. Sprachen für Witterungsverben, Empfindungsverben und Modalverben belegt sind, ist als syntaktisches Relikt der uridg. Syntax anerkannt, obwohl nur wenige Prädikate einen lexikalischen Vergleich erlauben (vgl. § 3.3.2.3). Ähnlich lässt die Beschränkung auf denselben thematischen Kontext wenig Raum für syntaktische Rekonstruktion. Watkins (1976) untersucht die syntaktischen Ausdrücke in athletischen Kontexten verschiedener alter idg. Sprachen und anhand der formalen Gemeinsamkeiten kommt er zum Schluss: „ The syntactic agreements are so striking and so precise, that we have little choice 233 Obwohl die Nicht-Übereinstimmung zwischen Form und Funktion in der Syntax der alten idg. Sprachen die Situation betrifft, in der dieselbe Funktion durch verschiedene Formen kodiert wird, kann auch das Gegenteil geschehen. Wir haben gesehen (§ 2.3.2.5), dass dieselbe Form *se-/ s(e)wein einigen alten idg. Sprachen die Funktion eines Reflexivpronomens (Lat. se) und in anderen die eines possessiven - nicht immer reflexiven - Adjektivs (Ved. svá-) ausdrückt. In solchen Fällen identifiziert man eine gemeinsame Quelle, wenn die verschiedenen Funktionen ähnlich sind, sodass ein semantischer Wandel postuliert werden kann. Obwohl jeder semantischen Rekonstruktion eine gewisse Subjektivität zugrunde liegt, kann die funktionale Ähnlichkeit durch eine in der Typologie üblicherweise verwendete semantische Karte (semantic map, vgl. Croft 2003: 122 ff) formalisiert werden. 418 <?page no="419"?> but to assume the way you said that sort of thing in Indo-European could not have been very different. “ (S. 315) Andere comparanda sind nach Watkins (1976; 1992; 1995) formelhafte Ausdrücke in juristischen Urkunden und in dichterischen Sprachen, die dem Wortschatz und seiner auf dem Memorieren beruhenden Überlieferung näher sind als der freien Bearbeitung der prototypischen syntaktischen Einheiten. Sofern solche Fälle verfügbar sind, sind sie natürlich auch zu bevorzugen, und Faktoren von Themenwahl und Gattung spielen sicher eine Rolle, aber das Vorkommen ähnlicher Strukturen in ähnlichen Kontexten ist ein Rarum, und im Allgemeinen gilt Watkins Beschränkung eher für die Rekonstruktion des Stils und der Dichtersprache als für die Rekonstruktion bloß syntaktischer Merkmale wie Kongruenz, PRO-drop, Fragesätze oder negative Sätze. Daher ist es wichtiger, dass man eine umfangreiche Probe der relevanten Konstruktionen in verschiedenen alten idg. Sprachen analysiert, 234 wenn möglich in verschiedenen Gattungen oder Kontexten. Es wurde bereits dargelegt, dass einige syntaktische Strukturen besser als andere dem Wandel widerstehen, wie die Wortfolge des Komparativs und der Adpositionen (W. Lehmann 1976 a: 172 ff). Ein vom Kontext unabhängiger Vergleich dieser Strukturen kann deshalb für die Rekonstruktion fruchtbringend sein. Wir haben gesehen, dass die kumulative Negation, die im Altgriechischen grammatisch, aber im klassischen Latein ungrammatisch ist, in volkstümlichen Texten der lateinischen Sprachen marginal vorkommt; würden jedoch diese Texte ausgeschlossen, bliebe eine solche Hypothese unerfasst. Die Abwägung der Direktionalität des syntaktischen Wandels ist diesbezüglich entscheidend (vgl. § 6.3.2.4). Wenn der Fall, dass eine Sprache im Laufe der Zeit die Redundanz der kumulativen Negation mit ihren flexiblen Stellungen verliert (wie in der Geschichte des Englischen), häufiger ist als der entgegengesetzte Fall, dann können wir diese Situation auf die Ursprache projizieren. Wenn in situ-Interrogativpronomina auch in den ältesten Sprachstufen der idg. Sprachen ziemlich oft belegt sind, die die Verfahren des pied-piping später grammatikalisieren, dann können wir in situ-Interrogativpronomina (möglicherweise neben piedpiping) auch für das Urindogermanische rekonstruieren. Das sind legitime Beispiele syntaktischer Rekonstruktion, wofür es nicht notwendig ist, dass 234 Diesbezüglich empfiehlt Meillet (1964: 380 ff), eine Struktur zumindest in drei verschiedenen linguistischen Untergruppen der alten idg. Sprachen zu identifizieren, bevor man an die Rekonstruktion der Struktur im Urindogermanischen geht. Natürlich ist hier „ drei “ nur eine symbolische Zahl, und die genaue Anzahl der die jeweilige Struktur bezeugenden Sprachen hängt vom Typ der Phänomene und vom Typ der Belege ab. Was Meillet vielmehr meinte, war die Notwendigkeit der Übereinstimmung mehrerer Sprachen für die Rekonstruktion, im Gegensatz zu denjenigen Ansätzen, nach denen Belege aus einer einzelnen konservativen Sprache, wie z. B. dem Sanskrit, für genügend gehalten wurden. 419 <?page no="420"?> wir uns auf dieselben Lexeme oder dieselben Kontexte beschränken, da die genetische Beziehung schon anerkannt ist. Dazu kann der typologische Vergleich, nach dem nicht alle möglichen Darstellungen eines Phänomens gleich häufig in Raum und Zeit auftreten, relevant sein, um die Hypothese einer Rekonstruktion zu bestätigen oder um unter verschiedenen Hypothesen die wahrscheinlichste auszuwählen. Daher stimmen wir mit Campbell & Harris (2002) überein, dass man - immer im Bewusstsein der Schwierigkeit des syntaktischen Vergleichs (vgl. Fox 1995: 104 ff) - auf die Rekonstruktion einer echten, einmal gesprochenen Sprache zielen muss, und eben deswegen sind Parallelen mit lebenden Sprachen mit ihrer von sozialen und kulturellen Faktoren bedingten Variation so wichtig. Andernfalls wäre die Rekonstruktion eine Art intellektuelles Spiel, das auch der Glaubwürdigkeit der Historiolinguistik als einer wissenschaftlichen Disziplin schaden würde. 6.2.3 Rekonstruktion anwesender und abwesender Kategorien Im Fall lexikalischer Uneinheitlichkeit verfügen wir über die grammatischen Angaben, die uns erlauben, verschiedene Strukturen in verschiedenen Sprachen zu vergleichen. Die Rekonstruktion ist plausibler, wenn die grammatischen Merkmale der verglichenen Strukturen den terminalen Knoten des lexikalischen Niveaus näher sind; so ist die Rekonstruktion der nicht-kanonischen Markierung für das Prädikat „ gefallen “ , das in mehreren Sprachen den Dativ regiert, wahrscheinlicher als die des casus absolutus, für den nur der Oberbegriff eines obliquen Kasus rekonstruierbar ist. Größere Aufmerksamkeit sollte man jedenfalls denjenigen Angaben widmen, die arbiträrer sind und deshalb weniger Chancen einer unabhängigen Entwicklung haben; diesbezüglich ist eine gemeinsame Abweichung von der sprachübergreifenden Tendenz bedeutsamer als eine gemeinsame Produktivität. Auch in diesem Fall gilt Meillets Lehre, dass manchmal ein singuläres Detail die Zuverlässigkeit der Rekonstruktion bestätigt ( „ Là où les ressemblances visibles ont indiqué la bonne voie, il arrive souvent que tel détail singulier apporte une confirmation “ , 1925: 3-4). Was nicht rekonstruiert werden kann, muss in der Ursprache nicht zwingend fehlen; aber ich denke, dass eine Kategorie in der Ursprache abwesend war, wenn ihre Funktion regelmässig durch andere Verfahren ausgedrückt wurde. Ein Beispiel dafür ist das Passiv: üblicherweise wird behauptet, im Urindogermanischen habe das Passiv gefehlt, weil die Formen dieser Kategorie in den alten idg. Sprachen nicht übereinstimmten (vgl. Fortson 2010: 90; Beekes 2011: 252). So hat das Altgriechische das Suffix - ( θ ) η im Aorist, das Altindische hat ein anderes Suffix - yaim Präsens und das Lateinische verwendet die Konjugation der Deponentien (§ 3.6). W. Lehmann (1974) plädiert anhand des typologischen Vergleichs für das 420 <?page no="421"?> Fehlen des Passivs im Urindogermanischen, indem er sagt, SOV-Sprachen, denen seiner Meinung nach das Urindogermanische angehört, hätten normalerweise kein Passiv. Seiner Argumentation wird von Watkins (1976: 321) widersprochen, nach dem das Passiv in der Ursprache sehr wohl existierte und von Medialformen ausgedrückt wurde. Ich bin mit der communis opinio zwar darin einig, dass das Urindogermanische kein Passiv hatte, aber aus ganz anderen Gründen: für mich sind weder typologische Vergleiche noch formale Unterschiede dieser Kategorie in den Tochtersprachen ausschlaggebend, weil im Diskurs das Passiv in Nominativ- Akkusativ-Sprachen seltener als der Aktiv vorkommt und deswegen auch weniger Möglichkeiten hat, diachron bewahrt zu werden. Wichtig ist eher die Tatsache, dass die Funktion des Passivs, d. h. die Topikalisierung des Patiens bzw. die Degradierung des Agens (vgl. Abraham & Leisiö 2006), in den ältesten Stufen der idg. Sprachen durch alternative formale Verfahren ausgedrückt wurde, und zwar nicht nur durch das Medium, sondern auch durch die Wortfolge (§ 5.4). Auch in diesem Fall erhöht der Vergleich mit lebenden Sprachen die Zuverlässigkeit der Rekonstruktion. Die Konkurrenz zwischen Nominativ-Patiens mit Passiv einerseits und Anfangsstellung des direkten Objekts im transitiven Satz andererseits erscheint in den modernen slawischen Sprachen: While passives are possible in Slavonic languages, they tend not to be particularly idiomatic, especially in spoken registers, and are usually much more heavily restricted than in English, with, for instance, no possibility of a literal translation of Kolja was given a book by Tanja. In functional terms, the equivalent of English Tanja was seen by Kolja in a Slavonic language is not a passive, but rather an active sentence with the object preposed, such as Russian Таню (ACC) видел Коля (NOM) / Tanju (ACC) videl Kolja (NOM). To a large extent, the functional equivalent of English rules that change grammatical relations is the possibility of word-order permutations in Slavonic languages. (Comrie & Corbett 1993 b: 13-14) Aus demselben Grund können dem Urindogermanischen oblique Subjekte besser für Empfindungsverben als für Modalverben zugewiesen werden, obwohl beide Kategorien in den belegten Sprachen nicht-kanonisch markiert sind. Denn modale Funktionen der Möglichkeit oder Notwendigkeit wurden ursprünglich meistens durch die flektierenden Ressourcen der Modi ausgedrückt: das Urindogermanische benutzte für das primäre Argument andere Kasus als den Nominativ, um „ es gefällt mir “ zu sagen, und andere Modi als den Indikativ (wie auch Diskurspartikel), um „ es scheint mir “ zu sagen. 421 <?page no="422"?> 6.3 Mechanismen syntaktischer Rekonstruktion 6.3.1 Innere und äußere Mechanismen Dem syntaktischen Wandel werden von verschiedenen Forschern und verschiedenen theoretischen Ansätzen unterschiedliche Mechanismen zugrunde gelegt. Nach den generativ orientierten Studien von Lightfoot (1979; 1991) sind die wichtigsten Mechanismen des syntaktischen Wandels Entlehnung, Expressivität und after-thought, die eine „ parametrische Entriegelung “ (parameter resetting) verursachen können. In ähnlicher Weise berücksichtigt die Optimalitätstheorie den Wandel als ein Re-Ranking der Beschränkungen (vgl. Jäger & Rosenbach 2003; Clark 2004). Auch Reanalyse hat in der generativen Literatur über den syntaktischen Wandel eine große Rolle gespielt; zusätzliche Mechanismen erkennt Vincent (1997: 166 - 67) in der Grammatikalisierung, der analogischen Diffusion und der Exaptation (vgl. auch Batllori et. al. 2005). Typische Beispiele für die Reanalyse werden hingegen als Grammatikalisierungen oder Analogien von Garrett (2012) interpretiert ( „ reanalysis plays a less interesting role in syntactic change than many of our handbooks and leading theorists have argued “ , S. 71). Zu einer Art Analogie, die nicht auf vorigen Exemplaren beruht (nonexemplar based analogy), sondern einer gewissen Einhaltung des Systems (grammar optimization), schreibt Kiparsky (2012) traditionelle Fälle der Grammatikalisierung zu. Nach der typologisch orientierten Studie von Harris & Campbell (1995) sind die Mechanismen des syntaktischen Wandels Entlehnung, Reanalyse und Extension (vgl. auch Li 1977); den inneren Prinzipien der Reanalyse und der Extension werden von Harris & Campbell (1995) sowohl Grammatikalisierung als auch Analogie zugewiesen (§ 1.3). Es ist gewiss nicht zu bestreiten, dass Entlehnung von großer Bedeutung im syntaktischen Wandel ist, obwohl es nicht immer klar ist, ob und inwieweit äußere und innere Mechanismen aufeinander einwirken. Traditionell wurden sprachinterner und kontaktbedingter Wandel als getrennte Mechanismen betrachtet (vgl. Meillet 1921: 74 - 75), und man hat ein Phänomen durch den Kontakt nur als ultima ratio erläutert, im Fall eine sprachinterne Erklärung unwahrscheinlich war. So Lass: „ In the absence of evidence, an endogenous explanation of a phenomenon is more parsimonious, because endogenous change must occur in any case, whereas borrowing is never necessary. If the (informal) probability weightings of both source-types converge for a given character, then the choice goes to endogeny. “ (1997: 209) Wenn aber interne und externe Faktoren zusammenwirken (falls die letzteren tatsächlich von außerlinguistischen Informationen über den historischen Kontakt gestützt werden), besteht gar keine Notwendigkeit, sich für die einen oder die anderen zu entscheiden. In den letzten Jahren wurde dargelegt, dass der 422 <?page no="423"?> kontaktbedingte Erwerb oder Verlust einer Konstruktion bzw. eines grammatischen Unterschieds oft auch von genuinen strukturellen Eigenschaften der Nehmersprache begünstigt wird. Wie Heine & Kuteva (2003; 2005) argumentieren, ist die Beziehung zwischen inneren und äußeren Faktoren manchmal so eng, dass der Sprachkontakt einen Wandel nicht gegen die Grammatikalisierung, sondern mit der Grammatikalisierung bewirkt, und dann spricht man von contact-induced grammaticalization. In derselben Art plädiert Bisang (2008) für eine Integration arealer Faktoren in die Grammatikalisierungstheorie, und zwar am Beispiel verschiedener Sprachen Südostasiens, wo der linguistische Kontakt besonders intensiv ist. 235 Damit sind wir auch einverstanden, und daher haben wir in dieser Studie mehrere Phänomene von contact-induced grammaticalization analysiert. Das Prinzip, nach dem man immer die einfachste Erklärung suchen sollte, kann wohl für exakte Wissenschaften gelten, aber m. E. nicht für den Sprachwandel, der grundsätzlich als ein historisches Phänomen anzusehen ist. Dafür sollten wir dann eher die korrekteste und sorgfältigste Erklärung bieten, was die Berücksichtigung mehrerer Faktoren unterschiedlicher Natur voraussetzt. Lediglich aus praktischen Gründen haben wir in den vorigen Kapiteln mehr innere als äußere Mechanismen berücksichtigt, weil für die letzteren auch die Geschichte (bzw. Vorgeschichte), die Archäologie und die materielle Kultur der jeweiligen Völker einbezogen werden muss (siehe Polomé 1992; Mallory & Adams 2006), was den Rahmen dieser Untersuchung sprengen würde. 236 Die hier analysierten Fallstudien des kontaktbedingten syntaktischen Wandels weisen darauf hin, dass die alten idg. Sprachen durch externe Einflüsse seltener einen Wandel im Sinne des Erwerbs von etwas Neuem oder des Verlusts von etwas Altem erfahren als vielmehr eine Entwicklung nehmen, bei der die Gebersprache die Bewahrung einer schon ererbten 235 Interessanterweise wurde auf die Möglichkeit eines Zusammenspiels zwischen internen und externen Erklärungen schon von Malkiel hingewiesen: „ Little attention has been paid to the wisdom of positing, under certain conditions, the agency of complex, as against simple, causation, which might bridge the resultant gap. Such fundamental possibilities as habitual complementarity, bare compatibility, or mutual exclusiveness of potentially concurrent factors deserve systematic exploration. “ (1968: 27) Die Möglichkeit von „ multiple causes “ wurde neulich in einem interessanten Artikel von Joseph (2013) untersucht. 236 Aus demselben Grund haben wir nur allgemein von externen Mechanismen gesprochen, die aber in der Kontaktlinguistik in mehrere Typen unterschieden werden, nach Thomason (2001: 129 ff) in code-switching, code-alternation, passive familiarity, negotiation, second-language acquisition strategies, bilingual first-language acquisition, change by deliberate decision. Unterschiedliche Typen von externen Mechanismen können auch zu unterschiedlichem kontaktinduzierten Sprachwandel führen. 423 <?page no="424"?> Struktur in der Nehmersprache begünstigt, die in den verwandten Sprachen der letzteren normalerweise verloren gegangen ist. Der Erwerb ganz neuer Strukturen betrifft häufiger den lexikalischen als den syntaktischen Wandel, da der Wortschatz sich am einfachsten durch Kontakt ausbreitet, während die Syntax konservativer ist. Der Verlust oder Verfall ererbter Strukturen scheint insbesondere die Morphologie zu betreffen: in verschiedenen alten idg. Sprachen gehen mehrere grammatische Unterschiede in Genus, Numerus, Kasus, Tempus, Modus oder Diathese durch unabhängige Drift verloren. Natürlich sind kontaktbedingter Erwerb und Verlust auch in der Syntax der alten idg. Sprachen belegt. So ist der Gebrauch des Akkusativs der Beziehung im Lateinischen ein Gräzismus, und deswegen wird er auch accusativus graecus genannt (vgl. Hahn 1960; Hofmann & Szantyr 1965: 36 ff); seine Funktion würde im Lateinischen durch einen ablativus limitationis natürlicher wiedergegeben. Und der Verlust des Infinitivs im modernen Griechisch ergibt sich aus dem Einfluss der Sprachen des balkanischen Sprachbunds (Joseph 1983). Doch in den alten idg. Sprachen führt der Kontakt meistens zur Bewahrung und sogar Zunahme ererbter Kategorien, und mindestens drei Beispiele dafür haben wir erwähnt: zum Ersten werden die adverbialen Kasus besonders in denjenigen alten idg. Sprachen wie dem Baltischen, Slawischen, Anatolischen, Indoiranischen, Tocharischen und klassischen Armenisch bewahrt, die mit anderen kasusreichen Sprachen in Kontakt stehen (§ 2.7). Zum Zweiten benutzen die indoarischen Sprachen mit der Zeit immer mehr die SOV-Wortfolge und die nicht-kanonische Markierung des Experiens wegen des Kontakts mit den dravidischen Sprachen, während unter normalen Umständen der Wandel von SOV zu anderen Wortfolgen und von nichtkanonischer zu kanonischer Markierung fortschreitet (§§ 3.5.2.2, 5.3). Zum Dritten haben wir dargelegt, dass das Hethitische wegen des Kontakts mit anderen Sprachen des alten Anatoliens und Nahen Ostens einen zunehmenden Gebrauch von topikalisierten und appositiven Konstruktionen wie auch von Wackernagel-Klitika zeigt (§§ 3.2.1, 4.3.2, 5.6), obwohl der Wandel sprachübergreifend von Apposition zu Einbettung und von Wackernagel- Klitika zu verbadjazenten Klitika führt. Mithin kann eine Sprache also einen kontaktbedingten syntaktischen Wandel erleben, der gegen die sprachübergreifend übliche Richtung verläuft, und auch dafür ist Entlehnung weniger vorhersagbar und komplizierter als die inneren Mechanismen des Wandels. Außerdem kann die Diffusion eines kontaktbegünstigten Wandels je nach der Arealität der Sprachen unterschiedlich dargestellt werden: so kann zu Latein und Altgriechisch, die Verkehrssprachen waren, wie auch zum Hethitischen, das in einem Ballungsgebiet gesprochen wurde, neben der Wellentheorie auch das hierarchische oder „ Schwerkraftsmodell “ (gravity model) von Trudgill (1974) passen, nach dem eine Neuerung in stark bevölkerten Städten anfängt und sich früher in räumlich weiter 424 <?page no="425"?> entfernten, aber mäßig großen Städten verbreitet als in näher liegenden, aber kleineren Orten. Als innere Mechanismen des syntaktischen Wandels in den alten idg. Sprachen kann man sicher u. a. Expressivität und after-thought wie bei Lightfoot (1979) oder Reanalyse und Extension wie bei Harris & Campbell (1995) identifizieren. Doch der wichtigste - nicht der einzige - Faktor für diese Sprachen ist m. E. der Grammatikalisierung, d. h. der Wandel von lexikalischeren zu grammatischeren Einheiten nach der Sequenz Inhaltswort > grammatisches Wort > Klitikon > Affix (§ 1.2.1). 237 Grammatikalisierung erklärt den Wandel von offenen zu geschlossenen Kategorien (§ 2), wie auch den Wandel von nicht-kanonisch zu kanonisch kodierten syntaktischen Funktionen (§ 3), die immer mehr von ihren prädikatsspezifischen semantischen Rollen befreit werden. Grammatikalisierung erklärt den Wandel der Wortfolge (§ 5), bei dem die linearen Varianten, die von den semantischen oder pragmatischen Funktionen der Argumente oder des Prädikats bedingt sind, angeglichen werden. Auch die Hierarchie (§ 4), die auf den ersten Blick durch Reanalyse besser erklärt werden kann, ist mit der Grammatikalisierung kompatibel, weil der Wandel von Adjunkten zu Ergänzungen auch ein Wandel von Strukturen ist, die lockere und unterschiedlichere Beziehungen haben, zu syntaktisch integrierten und vorhersagbaren Strukturen. Zudem verläuft die Grammatikalisierung in dieselbe Richtung wie häufige Mechanismen, die für den phonologischen und morphologischen Wandel postuliert werden, nämlich Lenition und Analogie, die auch zu strukturellem Verlust und Homogenität neigen, und das stellt die Syntax und den syntaktischen Wandel in einen engeren Zusammenhang mit den anderen Zweigen der Sprachwissenschaft. Hinter solchen Veränderungen steht schließlich die Ökonomie. 238 Da weder Lightfoot 237 Im Allgemeinen setzt die Grammatikalisierung nicht nur voraus, dass eine Struktur die Reanalyse in eine andere Struktur erlebt, sondern auch, dass eine Struktur einige semantische Merkmale verliert (desemanticization oder semantic bleaching) und andere grammatische Merkmale erwirbt, wobei es sowohl Verluste als auch Errungenschaften in der Grammatikalisierung gibt (Heine 2003 a: 579). Da semantische Merkmale auch spezifischer sind als grammatische Merkmale, die automatisch auf eine größere Anzahl Einheiten angewendet werden, stimmt die in der Grammatikalisierung inhärent zunehmende Abstraktion auch mit dem Mechanismus der Extension überein, die die Abschaffung einer Beschränkung oder einer Spezifität voraussetzt. Aber nicht immer überlappt Grammatikalisierung mit Reanalyse und Extension, wie wir unten sehen werden. 238 Es wird üblicherweise gesagt, dass der Sprechakt das Ergebnis eines Gleichgewichts zwischen Ökonomie und Deutlichkeit sei, die den Bedürfnissen des Sprechers bzw. Hörers entsprechen (vgl. Martinet 1955; Malkiel 1968: 31). Bei einigen Autoren wird die Rolle des Hörers auch überbetont; z. B. wird der Lautwandel bei Ohala (1993) dadurch erklärt, dass der Hörer eine gewisse phonologische Darstellung falsch analysiert. Die Richtung des hier analysierten Wandels deutet aber darauf hin, 425 <?page no="426"?> (1979; 1991) noch Harris & Campbell (1995) der Grammatikalisierung eine eigene Stellung innerhalb der inneren Mechanismen des syntaktischen Wandels zuweisen, werden wir die Bedeutung der Grammatikalisierung für die Rekonstruktion der uridg. Syntax im folgenden Abschnitt vertiefter beleuchten. 6.3.2 Pro und Contra Grammatikalisierung 6.3.2.1 Kritische Stellungnahme zur Grammatikalisierung Grammatikalisierung hat heutzutage eine solide Forschungstradition besonders im Rahmen des Funktionalismus (vgl. Ch. Lehmann 1982; 2002; Heine et al. 1991; Traugott & Heine 1991; Hopper & Traugott 1993; Lessau 1994; Pagliuca 1994; Diewald 1997; Giacalone Ramat & Hopper 1998; Fischer et al. 2000; 2004; Kuteva 2001; Heine & Kuteva 2002; Heine 2003 a; Wischer & Diewald 2002; Bybee 2003; Bisang et al. 2004; López-Couso & Seoane 2008; Stathi et. al. 2010), und trotzdem wird sie neuerdings verschiedentlich angefochten, nicht nur von den dem konkurrierenden Rahmen des Generativismus angehörenden Forschern (vgl. Lightfoot 1999: 34ff; 2002 a: 125 - 127), sondern auch von einigen Typologen (vgl. Harris & Campbell 1995) und Historiolinguisten (vgl. Lass 2000; Campbell & Janda 2001; Fortson 2003; Joseph 2004). Schon in ihren einleitenden Bemerkungen fragen sich Campbell & Janda (2001: 93), ob Grammatikalisierungsstudien „ constitute a momentous advance in linguistic understanding or rest on an unfortunate misunderstanding “ , und für die zweite Alternative optierend behaupten sie, Grammatikalisierung sei in der Literatur ein heterogenes Phänomen, das Probleme mehr geschaffen als gelöst habe. Gegen die Grammatikalisierung werden insbesondere drei Einwände erhoben: 1) Sie habe keinen unabhängigen theoretischen Status, sondern sei ein Epiphänomen anderer schon bekannter Prinzipien des linguistischen Wandels; 2) Der linguistische Wandel sei nicht graduell, wie die Grammatikalisierung behaupte; 3) Das der Grammatikalisierung inhärente Prinzip der Direktionalität habe keine echte empirische Grundlage. dass der Sprechakt nicht bidirektional ist, sondern sich in größerem Ausmaß nach dem Sprecher und der Ökonomie richtet. Ich bin mit Haspelmath (2008) darin einig, dass morphosyntaktische Asymmetrien auf Häufigkeits-Asymmetrien beruhen und deshalb eine ökonomische Erklärung haben. Wegen ihres Nexus mit Häufigkeit wird hier Ökonomie aber anders aufgefasst als bei Chomskys (1964) descriptive adequacy und explanatory adequacy, demgemäß eine Theorie die ökonomischste Beschreibung bzw. Erklärung der Daten beabsichtigen muss, und auch anders als bei Chomskys (1995) economy of derivation und economy of representation (vgl. auch Collins 2001). 426 <?page no="427"?> 6.3.2.2 Unabhängiger Status Die These, Grammatikalisierung habe keinen unabhängigen Status, wird besonders von Campbell unterstützt ( „ I attempt to show that grammaticalization is derivative, that is, that grammaticalization has no true status on its own, but rather relies on other processes and mechanisms of linguistic change which exist independently of grammaticalization but which provide the explanations for the phenomena involved in grammaticalization “ , 2001: 113; vgl. auch Newmeyer 2001; Fortson 2003: 654 - 656). Campbell diskutiert einige Paradebeispiele der Grammatikalisierung wie die Bildung des englischen Futurs will aus dem vollentwickelten Verb „ wollen “ oder des finnischen Komitativ-Kasus, entstanden aus der Adposition „ mit “ , und behauptet, dass diese Phänomene auch ohne die Hilfe der Grammatikalisierung durch die traditionellen Prinzipien des Lautwandels, der Analogie oder der Reanalyse einfach erfasst werden könnten. Deshalb sei Grammatikalisierung für eine Erklärung des Sprachwandels entbehrlich. Außerdem treten phonetische Erosion und semantische Bleichung, die der Grammatikalisierung zugrunde liegen, nach den Opponenten der Grammatikalisierung nicht immer zusammen auf. Es gibt Fälle von phonetischer Erosion ohne semantisches Verblassen, wie eben der Wandel von Adposition zu Kasus im Finnischen, in dem ein Kasus eine reduzierte Form, aber dieselbe komitative Funktion wie die entsprechende Adposition darstellt. Es gibt auch Fälle von semantischem Verblassen ohne phonetische Erosion, wie beim Wandel vom possessiven Verb zum Auxiliar des Deutschen haben, das aber dieselbe Form zeigt. Auch wenn sie zusammen auftreten, kommen phonetische Erosion und semantisches Verblassen nicht immer in derselben Anordnung vor, sodass „ grammaticalization fails to evince the most important distinguishing feature of a distinct process - the unfolding of its component parts in a determinate sequence in which one step of the sequence inevitably engenders the following one “ (Newmeyer 2001: 195). Nun besteht aber die Macht der Grammatikalisierung m. E. gerade darin, dass es keine automatische Beziehung zwischen phonetischer Erosion, semantischem Verblassen und Reanalyse gibt, und trotzdem treten solche Phänomene, die die Entwicklung sowohl der Form als auch der Bedeutung betreffen, oft gemeinsam auf: die Grammatikalisierung ergreift diese häufige Erscheinung, die aber im Prinzip nicht vorausgesetzt und in der Praxis auch manchmal vernachlässigt wird. Wir können so mit einem einzigen Begriff mehrere Phänomene bündeln, die verschiedene linguistische Bereiche betreffen, wie Phonetik (bei der Erosion), Morpho-Syntax (bei der Dekategorisierung), Semantik (beim semantischen Verblassen) und Pragmatik (bei der Extension einer Form auf mehr Kontexte), vgl. § 1.2.1. Daher zeigt die Grammatikalisierung, wie ein Wandel in einem linguistischen Bereich auch Auswirkungen auf andere Bereiche hat, und das geht 427 <?page no="428"?> mit einer nicht-modularen Interpretation der Grammatik konsistent einher (§ 1.2.3). Der Wandel von θέλω γράφειν „ ich will schreiben “ zu θέλω ἵνα γράφω und schliesslich zu θα γράφω in der Geschichte der griechischen Sprache, von Meillet (1912) als typische Darstellung der Grammatikalisierung angeführt, kann durch die Kombination von Lautwandel, Reduktion der Redundanz und analogischer Ausdehnung erklärt werden, wie Joseph (2001 a) darlegt. Aber die Möglichkeit, ein Phänomen durch ein einziges statt verschiedene Prinzipien zu begreifen, scheint mir jedenfalls relevant zu sein. 6.3.2.3 Gradualismus Der zweite Einwand, wonach der Sprachwandel nicht graduell sei, wird vor allem von Janda (2001: 272) erhoben. Die Sprache sei nicht ein Objekt, das sich in Raum und Zeit unabhängig von den Sprechern verändert, sondern sie sei diskontinuierlich überliefert und werde von jedem Kind neu nachgebaut anhand der Erfahrung und des angeborenen Erwerbsverfahrens. Es gebe keine pathways of changes, sondern replications of morphemes, und die Historiolinguistik solle ihre Aufmerksamkeit besser auf die Sprecher als auf die Sprache lenken und soziolinguistische Faktoren miteinbeziehen. Eine solche linguistische Diskontinuität werde von der Tatsache bedingt, dass das menschliche Leben von Geburt und Tod begrenzt ist, sodass der Wandel „ stoßweise “ (in fits and starts, Janda & Joseph 2003: 57) verlaufe. Wir stellen nicht in Frage, dass die linguistische Überlieferung durch verschiedene Generationen diskontinuierlich ist (obwohl ich nicht glaube, dass die treibenden Faktoren des Wandels besonders in der Kindersprache und im Spracherwerb liegen) 239 , und kein Verfechter der Grammatikalisierung betrachtet die Sprache getrennt von ihren Sprechern (obwohl zu starke Gewichtung der Sprecher den falschen Eindruck vermitteln kann, dass die Sprecher absichtlich ihre Sprache ändern, vgl. Keller 1994). Mit der 239 Die Idee, dass Kinder durch eine Vereinfachung der Grammatik am meisten den Sprachwandel auslösen, geht auf die Junggrammatiker zurück (vgl. Paul 1920: 34) und wird heutzutage besonders vom Generativismus unterstützt (Kiparsky 1968: 194 - 95; Lightfoot 1979; 1991; 2002 c; Zipser 2012, vgl. § 1.2.2). Wie aber Funktionalisten und Dialektologen bemerken, setzt ein Wandel notwendigerweise eine Variation voraus (Weinreich et al. 1968: 144 ff), und eine große Variation erscheint auch in der Sprache der Erwachsenen. Zudem ist es häufiger der Fall, dass aus Prestigegründen die Kinder die Sprache der Erwachsenen nachahmen als umgekehrt. Ich bin einverstanden mit der Meinung Labovs (1994; 2001), nach der eher Jugendliche und junge Erwachsene die Impulsgeber des Wandels sind. Kinder können nur einen regelnden Effekt durch Generalisierung, aber nicht Erstellung grammatischer Muster haben (vgl. Slobin 2002). 428 <?page no="429"?> diskontinuierlichen Überlieferung der Sprache ist aber die graduelle Natur der Grammatikalisierung nicht inkompatibel. Mit „ graduell “ meinen wir, dass unter normalen Umständen die neue Variante einer Form nicht einfach die alte ersetzt, sondern oft neben ihr bestehen bleibt und so den Gebrauch struktureller Dubletten bewirkt (vgl. Lass 1997: 218ff; Harris 2003). In den alten idg. Sprachen bestehen Adpositionen und Präverbien neben den älteren Formen der lokalen Adverbien, und ein Nebeneinander ergibt sich auch für kanonische und nicht-kanonische Strukturen oder für die ererbte angeschlossene Satzverbindung und die später entwickelte Einbettung. Das geschieht ohne irgendeine festgelegte Geschwindigkeit des syntaktischen Wandels. Wie in § 1.3 und § 6.2.1 erwähnt, finde ich die Modelle der Glottochronologie und des Constant Rate Effect nicht überzeugend, nach denen sich die Häufigkeit einer neuen Struktur in allen Kontexten auf dieselbe Weise ändere. Obwohl eine S-Kurve die Diffusion vieler linguistischer Phänomene beschreiben kann (vgl. Aitchison 1980; Kroch 2001; Ringe & Eska 2013: 222 ff), sollte der Analytiker die Datenkomplexität der Konsistenz halber nicht reduzieren. Pintzuk (2003: 525) schreibt: „ The orderliness of the variation found in the data, and the close fit between statistical patterns of usage and formal syntactic analysis, strongly suggest that a coherent theory relating grammar and usage can and should be formulated. “ Diese Formulierung einer Beziehung zwischen Grammatik und Gebrauch ist zwar sehr interessant, aber ich halte eine solche Konsequenz für die idg. Daten in der diachronen Entwicklung einer Form für fragwürdig. Obwohl Anfang und Ende der Diffusion eines linguistischen Phänomens definitionsgemäß eine Ausweitung bzw. Abschwächung wie in einer S-Kurve darstellen, passiert keine monotone Beschleunigung in der Mitte. Vielmehr beobachten wir oft einen unebenen Pfad mit unterschiedlicher Geschwindigkeit für verschiedene Strukturen, je nach ihren verschiedenen semantischen oder pragmatischen Eigenschaften. Wir haben z. B. gesehen, dass innerhalb der Empfindungsverben das Prädikat „ sehen “ häufiger und länger als „ hören “ transitiv gebildet wird, und dass Prädikate negativer Empfindung wie „ Angst haben “ häufiger als Verben positiver Empfindung wie „ hoffen “ ein obliques Subjekt bekommen und später kanonisch markiert werden (§ 3.5.3). 6.3.2.4 Unidirektionalität Alternativ zur Unidirektionalität kann man entweder die Existenz eines linguistischen Zyklus annehmen oder die Abwesenheit irgendeiner Richtung im Sprachwandel. Nur die letztere Annahme könnte das Konzept der Grammatikalisierung wirklich in Frage stellen, während ein Zyklus damit kompatibel sein kann. Van Gelderen (2011) hat gezeigt, wie bei verschiedenen morphosyntaktischen Kategorien wie Negation, Kongruenz, Artikel 429 <?page no="430"?> oder Tempus, Modus, Aspekt ein lexikalisches Element zyklisch erst zum Funktionswort wird, um dann durch lexikalische Strategien wieder verstärkt zu werden: der Grammatikalisierung folgt also eine formale Erneuerung. Der Einwand gegen die unidirektionale Richtung der Grammatikalisierung besteht eher darin, dass, wenn Unidirektionalität in die Definition der Grammatikalisierung selber eingeschlossen würde, wie z. B. bei Giacalone Ramat (1998), sie nicht getestet werden könnte, weil potentielle Gegenbeispiele definitionsgemäss aus der Untersuchung ausgeschlossen wären. 240 Es ginge also um eine Tautologie (Campbell 2001: 124ff; Newmeyer 2001: 203 - 204). Wenn aber Unidirektionalität nicht für eine definitorische Eigenschaft gehalten wird, dann würde ihr von mehreren Gegenbeispielen widersprochen, die manchmal dem Bereich der Lexikalisierung zugewiesen werden (vgl. Janda 2001: 291 - 304; Norde 2001: 235 - 240). 241 Ich hingegen denke, dass die Verbindung mit der Unidirektionalität viel zur erklärenden Kraft der Grammatikalisierung beiträgt, denn Unidirektionalität, die bei Mechanismen wie Analogie und Reanalyse nicht vorausgesetzt wird, vermag die Entwicklung des Sprachwandels vorherzusagen, und jede Erklärung muss eine gewisse Vorhersagbarkeit voraussetzen. Wir sind durchaus offen gegenüber der Möglichkeit, dass Unidirektionalität in die Definition der Grammatikalisierung nicht a priori eingeschlossen wird und auch potentielle Gegenbeispiele berücksichtigt werden sollen. Damit meinen wir nicht nur jene Fälle, die gegen das ganze cline Inhaltswort > grammatisches Wort > Klitikon > Affix verstoßen, wie nochmals von Giacalone Ramat (1998) angenommen, 242 sondern auch diejenigen, die 240 „ The unidirectionality of changes from lexical categories to grammatical (functional) categories constitutes a significant constraint on possible language changes. In the light of this constraint, possible counter-examples can be excluded because they do not adhere to the sequence entailed in grammaticalization. “ (Giacalone Ramat 1998: 123) 241 Wie Campbell (2001: 130 - 131) zusammenfasst, „ changes of lexical > grammatical are called ‚ grammaticalization ‘ and are unidirectional, by definition; changes of grammatical > lexical are called ‚ lexicalization ‘ , and while they would appear to go against the unidirectional assumption of ‚ grammaticalization ‘ , because they are given a different name, ‚ lexicalization ‘ , they can be considered, again by definition, not really to be counterexamples to the unidirectionality claim. “ Über die komplexen Beziehungen zwischen Grammatikalisierung und Lexikalisierung siehe Himmelmann (2004) und Brinton & Traugott (2005). 242 „ The constraint of irreversibility should not apply to cases which are not point-for-point reversals of any grammaticalization process. Since constructions becoming one lexeme involve the interaction of diachronic processes pertaining to the lexicon, one possibility would be not to include them into the class of changes a theory of grammaticalization should explain. “ (Giacalone Ramat 1998: 122) Wie aber Bybee et al. (1994: 13) bemerken, ist eine vollständige Umkehrung unmöglich, weil, nachdem ein Wort morphophonologisch reduziert wird, seine ursprüngliche Form für den Sprecher nicht mehr zugänglich ist, außer wenn neben der reduzierten auch die volle Variante bestehen bleibt. Auch van 430 <?page no="431"?> nur eine Stufe davon abweichen. Auch in dieser Studie haben wir einige Beispiele identifiziert, die gegen die typische Richtung der Grammatikalisierung verstoßen, wie die Bildung eines Verbs τῆτε „ schaut mal! “ (IPV2PL) aus einer Partikel τῆ im Altgriechischen (§ 2.6). 243 Die Ausnahmen zur Unidirektionalität, auch „ Degrammatikalisierungen “ genannt (vgl. Ch. Lehmann 1995: 1256), sind darum interessant, weil sie auf alternative Prinzipien für den syntaktischen Wandel verweisen, die oft sprachspezifisch sind und deshalb die Interaktion zwischen universalen und singulären Merkmalen einer Sprache zeigen. Aber obwohl heutzutage niemand behauptet, nicht einmal die stärksten Befürworter der Grammatikalisierung, dass Unidirektionalität ausnahmslos sei ( „ There is evidence to suggest that this evolution is not without exceptions: under certain circumstances, basic processes can be reversed “ , Heine & Reh 1984: 76), stellen Degrammatikalisierungen nur eine kleine Minderheit der Überkategorisierungsphänomene dar, die unter normalen Umständen von lexikalischen zu grammatischen Wörtern führen. Das erkennen sogar einige Kritiker der Unidirektionalität und der Grammatikalisierung an (vgl. Campbell 2001: 134ff; Newmeyer 2001: 213 - 215, die aber Unidirektionalität mit anderen Prinzipien als Grammatikalisierung verbinden). 244 Gerade das Vorkommen Gelderens (2011) Zyklus setzt voraus, dass ein erodiertes Element durch andere Formen erneuert wird. 243 Manchmal erscheint eine Ausnahme zur Unidirektionalität nicht eigentlich in der etymologischen Geschichte eines Wortes, sondern in seiner volksetymologischen Interpretation. So ist Altgr. ὄναρ „ Traum, Trugtraum “ ein altes idg. Nomen, das mit Arm. anur ǰ und des Alb. âdërrë (Gegisch) / ëndërrë (Toskisch) verwandt ist. Nach einer Volksetymologie wurde es aber auf die äolische Präposition ὀν „ oben “ (= Att. ἀνά ) zurückgeführt, wobei der Traum etwas sei, das auf dem Kopf des Schlafenden stehe (vgl. Hom. Il. 10.496 κακὸν γὰρ ὄναρ κεφαλῆφιν ἐπέστη „ ein schrecklicher Traum stand ihm auf dem Kopf “ ). Das bedingte einen semantischen Wandel bei dem Wort ὕπαρ , das auch einen uridg. Ursprung mit der Bedeutung „ Schlaf, Traum “ hatte (vgl. Lat. sopor „ tiefer Schlaf “ , Heth. š uppar-iya- „ schlafen “ ), aber wegen einer weiteren Volksetymologie mit der Präposition ὑπό „ unter “ verbunden wurde und durch eine Antinomie „ Wahrtraum “ bedeutete, wie in Hom. Od. 19.547 οὐκ ὄναρ , ἀλλ᾽ ὕπαρ ἐσθλόν „ Das ist kein trügerischer Traum, sondern ein gute Vision “ (Chantraine 1968: II, 802; 1157; Frisk 1970: II, 393; 966; Beekes 2010: II, 1082; 1532). 244 Merkwürdigerweise unterscheiden Campbell & Harris (2002: 613) zwischen Direktionalität und Unidirektionalität. Während die letztere von ihnen angefochten wird, wird die erstere als ein gültiges theoretisches Instrument der syntaktischen Rekonstruktion bezeichnet. Sie führen aus, dass, wenn eine Form in einer Sprache ein Modalverb und in einer verwandten Sprache ein Vollverb ist, man das Vollverb statt des Modalverbs auch für die Ursprache rekonstruieren muss, da der Wandel sprachübergreifend häufiger von Vollverben zu Modalverben führt als umgekehrt. „ The fact that changes which brought these modals about took place independently over and over in language after language calls for an explanation, and that explanation cannot rely on just ‚ local causes ‘ , since the local circumstances differ from case to case. [. . .] It is true that there 431 <?page no="432"?> von Fällen, die gegen die Grammatikalisierung verstoßen, und gleichzeitig ihre Seltenheit, sind ein Hinweis darauf, dass Unidirektionalität nicht automatisch beim Sprachwandel vorausgesetzt wird, sondern beide Richtungen - von lexikalischen zu grammatischen Wörtern und von grammatischen zu lexikalischen - im Prinzip möglich und auch belegt sind, sodass das Überwiegen der ersten Richtung tatsächlich bemerkenswert ist. 245 Wir müssen hier auch erwähnen, dass nicht alle in der Literatur angeführten Gegenbeispiele zur Unidirektionalität richtig sind. Newmeyer (2001: 205 - 206) berichtet über Fälle von Inkohativa wie Latein pallesco „ blass werden “ oder rubesco „ rot werden “ . Doch hier haben wir kein Morphem, das zu einem vollentwickelten Wort wird, sondern eine übliche Darstellung der Ableitung: die Verschmelzung eines Affixes mit der Wurzel ist keine Ausnahme zur Grammatikalisierung. Auch die Relativpronomina der alten idg. Sprachen wie Lat. quis, Heth. kui š , Altgr. ὅς , Skt. yás rühren nicht von klitischen Partikeln her, wie Newmeyer (2001: 210) behauptet, und stellen daher auch keinen antidirektionalen Wandel dar. Es geht eher um zwei getrennte Stämme (einen interrogativ-indefiniten Stamm im Fall des Lat. quis und Heth. kui š sowie einen ursprünglich demonstrativen Stamm im Fall des Altgr. ὅς und Skt. yás), die eine kataphorische bzw. anaphorische und daher relative Funktion entwickeln (§ 4.5.2.2). Sogenannare local causes, and in this sense the direction is not the whole story; but from the point of view of reconstruction, direction of change is one key element. Cross-linguistic data, as well as language-specific facts, have a role to play here. “ (S. 613) Eine solche Direktionalität scheint mir dieselbe zu sein, für die auch im Rahmen der Grammatikalisierung plädiert wird, die nicht nur auf den Wandel von Wörtern zu gebundenen Morphemen beschränkt ist. Wenn Unidirektionalität als Tendenz verstanden wird, ist die Unterscheidung zwischen Direktionalität und Unidirektionalität von Campbell & Harris (2002) überflüssig. 245 Ich bin mit Newmeyers Behauptung nicht einverstanden, nach der „ the purported (near) unidirectionalität of grammaticalization is typically presented in the functionalist literature as a remarkable fact, and one which would never have been uncovered by the standard methodology of generative grammar. But suppose that grammaticalization were, in fact, a distinct process. If so, then unidirectionality would be the most unremarkable fact imaginable. The reason is that unidirectionality is a property of natural processes in general. Such processes are either entirely irreversible or they can be reversed only given huge amounts of effort, time, unusual circumstances, and so on. “ (2001: 204) Es ist unverständlich, warum - neben den Gegenbeispielen - die Beispiele für Unidirektionalität nicht bedeutsam sein sollten. Man kann der Grammatikalisierung nicht gleichzeitig vorwerfen, dass Unidirektionalität eine belanglose Eigenschaft des Wandels im Allgemeinen sei, und dass manchmal gegen die Unidirektionalität verstoßen wird. Auch mit Joseph (2001 a: 178) bin ich nicht einig, nach dem „ since grammaticalization needs not to be invoked in all cases of the creation of grammatical morphemes, it can be speculated that perhaps it does not need to be invoked in any case “ . Ausnahmen erscheinen bei jedem linguistischen Phänomen, sogar im normalen Lautwandel und bei angeblich universalen Prinzipien wie der Struktur-Präservierung (vgl. Bybee 2008: 112 - 113). 432 <?page no="433"?> te „ laterale Wandlungen “ (lateral conversion, Norde 2001: 234) vom Nomen zum Verb (z. B. Engl. to shoulder) oder vom Adjektiv zum Nomen (z. B. Engl. the poor) sind ebenfalls keine Ausnahmen hinsichtlich Grammatikalisierung, weil weder die Quelle noch das Ziel des Wandels ein grammatisches Wort ist, sondern beide gleichermassen lexikalisch sind. Andere angebliche Gegenbeispiele sind umstritten und haben teilweise alternative Erklärungen bekommen, wie der sächsische Genitiv des Englischen, der sich heutzutage wie ein Klitikon verhält (z. B. the king of England ’ s throne), aber auf ein Kasus-Morphem zurückgehe. Für dieses häufig zitierte Beispiel gibt es auch die alternative Analyse aus einer reduzierten Form des possessiven Pronomens his oder aus einer unveränderlichen Variante davon (vgl. Janda 1980; 2001: 301 - 303; Vezzosi 2000), die nicht gegen die Unidirektionalität verstößt. Es geht in diesem Fall um eine kopfmarkierte possessive Struktur (the king of England, his throne), die sehr verbreitet ist, zumindest in den unstandardisierten Registern vieler Sprachen. Damit meine ich natürlich nicht, dass die letztere Hypothese nur deswegen bevorzugt werden sollte, weil sie mit der Unidirektionalität der Grammatikalisierung konsistent einhergeht, sondern nur, dass der sächsische Genitiv nicht als Paradebeispiel für Ausnahmen zur Grammatikalisierung herangezogen werden kann, da er in der Literatur unterschiedlich erklärt wird (für eine noch andere Erklärung des sächsischen Genitivs im Sinne der Analogie siehe Kiparsky 2012). Dasselbe gilt für die Fragepartikel -t des Französischen, die nicht nur als Befreiung einer gebundenen Form erklärt werden kann, die aus der Endung -t einiger Verben in der 3. Person mit invertierten Subjekten stammt, in Strukturen wie dort-il (Campbell 2001: 132), sondern vielleicht auch von einer erodierten Form des Pronomens der 2. Person tu kommt, die in Fragesätzen dem Verb nachgestellt wurde (vgl. Haiman 1991: 148 - 150). M. E. ist der Ursprung einer Fragepartikel aus einer interrogativen Struktur in der 2. Person wahrscheinlicher als aus einer mit Pronomina der 3. Person, weil im Diskurs Fragen in der 2. Person häufiger sind. Eine Parallele dazu bietet das Tocharische, das in der 2. Person des Präsens Indikativ eine Form auf Dental (-t im Toch. A, -t(o) im Toch. B) statt der ererbten - s-Endung hat; nach Pinault (2008: 620) könnte diese neue Endung vom hinzugefügten Personalpronomen *tu stammen. Möglicherweise ist so auch der Dental bei der - st-Endung der 2. Person PRS.IND des Deutschen zu erklären (Joseph 2001 b: 352). Außerdem sind die Ausnahmen zur Grammatikalisierung an einzelne Wörter in bestimmten Sprachen gebunden, wie beim Wandel des Indefinitpronomens ne š to „ etwas “ des Bulgarischen, illustriert von Willis (2007), das zu einem Nomen mit der Bedeutung „ Sache “ wird, während die Grammatikalisierung sprachübergreifend für ganze Kategorien gilt, wie in den bekannten Änderungen von Körperteilnomina zu Präpositionen 433 <?page no="434"?> (vgl. Svorou 1994) oder von Vollverben zu Hilfsverben (Kuteva 2001). Daher haben wir es bei der Grammatikalisierung mit einem type-Wandel zu tun und bei ihren Ausnahmen mit einem token-Wandel. 6.3.2.5 Tendenzen hinter den Ausnahmen zur Grammatikalisierung? Die Ausnahmen zur Unidirektionalität des Sprachwandels werden im Allgemeinen für lexikalische Idiosynkrasien gehalten. Nach Plank (1995) ist Degrammatikalisierung eine gelegentliche „ Systemstörung “ oder „ gestörte Ordnung “ , und darüber schreibt Heine (2003 b: 175): „ These processes do not seem to share any common denominator. Thus, it would seem that this term is not of much help for describing or understanding a grammatical change, except for referring to the epiphenomenal effect some of the processes have in specific situations. “ Solche Ausnahmen werden gelistet oder beschrieben, aber normalerweise nicht erklärt. Die ausführlichsten Behandlungen der Degrammatikalisierung finden sich derzeit bei Janda (2001) und Norde (2009). Janda sammelt mehrere Fallbeispiele des Wandels von flexionellen oder derivationellen Morphemen zu Klitika, von Klitika zu unabhängigen Wörtern und von flexionellen oder derivationellen Morphemen direkt zu unabhängigen Wörtern, wie auch Fälle von anomalem Verhältnis der Affixe, Klitika, Wörter oder komplexen Konstruktionen. Die Fallstudien von Norde (2009), die mit denen von Janda (2001) nur teilweise überlappen, unterscheiden drei grundsätzliche Situationen, und zwar degrammation, deinflexionalization und debonding. Bei degrammation wird ein Funktionswort in einem gewissen Kontext als lexikalisches Wort analysiert, z. B. wenn im Chinesischen das Modalverb dei „ sollen “ die Bedeutung eines Vollverbs „ bedürfen “ erwirbt. Bei deinflexionalization bekommt ein flexionelles Morphem eine neue Funktion mit weniger formalen Beschränkungen, z. B. in der Pluralendung - on des Schwedischen, die zum derivationellen Morphem wird, spezialisiert für Beerennamen. Bei debonding wird ein gebundenes Morphem zu einem freien, z. B. im nördlichen Saami (Finno-Ugrisch) beim Gebrauch der ursprünglichen Abessiv-Endung - haga als Postposition mit der Bedeutung „ ohne “ . In den von Janda (2001) und Norde (2009) berichteten Degrammatikalisierungsfällen denke ich, dass zwei Tendenzen identifiziert werden können, eine bezüglich der Strukturentypen, die in die Degrammatikalisierung involviert sind, und eine bezüglich des Sprachentyps. Die meisten Zielpunkte der Degrammatikalisierung scheinen mir zu geschlossenen Kategorien zu gehören, besonders zu Konjunktionen und Partikeln. Oft zitiert werden Beispiele wie die Konjunktion ga „ aber “ des Japanischen, die Matsumoto (1988) auf ein adversatives Suffix zurückführt, oder wie die Fragepartikel es und ep des Estnischen, die nach Nevis (1986) ursprünglich 434 <?page no="435"?> Klitika waren und später eine unabhängige Verteilung erreicht haben. Daher haben wir es hier eigentlich nicht mit dem unerwarteten Wandel eines grammatischen Wortes zu einem konkreten zu tun, vielmehr mit der formalen Unabhängigkeit einer linguistischen Einheit, welche ihre grammatische Funktion bewahrt: semantisch sind Funktionswörter nicht unabhängig wie Inhaltswörter. Eine ähnliche Situation können wir auch beobachten, wenn Degrammatikalisierung ein Inhaltswort zum Zielpunkt hat. Degrammatikalisierte Verben sind normalerweise Auxiliare oder Modalia, wie im Fall des Pennsylvania-Deutschen wotte, berichtet von Burridge (1995), das seine Bedeutung von „ würde “ zu „ wünschen “ änderte. Obwohl die erste Bedeutung grammatischer ist als die zweite (und als solches wird das von Norde 2009: 138ff richtig für degrammation gehalten), ist auch die Bedeutung „ wünschen “ ziemlich abstrakt, sodass viele Sprachen diese Funktion durch flexionelle Verfahren ausdrücken, das Urindogermanische durch den Modus Optativ. Tätigkeitsprädikate werden in der Literatur so gut wie nie als Zielpunkte einer Degrammatikalisierung erwähnt. Sie sind hingegen häufig Quellen einer Grammatikalisierung, wie beim Wandel von „ fassen “ zum possessiven Verb „ haben “ oder von „ nehmen “ zur Präposition „ mit “ . Degrammatikalisierte Nomina zeigen ebenfalls eine grundsätzlich abstrakte Bedeutung, wie bei Engl. ups and downs, ifs and buts. Meistens sind sie Hyperonyme, die aus der Trennung eines nominalen Suffixes entstehen, wie Dt. Ismen, Engl. teen, Ita. anta. Bezeichnungen von konkreten bzw. bestimmten Referenten sind hingegen extrem selten als Degrammatikalisierungen zu finden; sie existieren wohl, wie das Personalpronomen muid „ wir “ des Irischen, das auf ein 1. Person PL Suffix zurückgeht (Bybee et al. 1994: 13 - 14), und das ist nochmals ein Beweis dafür, dass es nichts strukturell Falsches an diesen Fällen gibt und dass das Übergewicht abstrakter Nomina bedeutsam ist. Diese Überlegungen haben mögliche Implikationen für die Grammatikalisierungstheorie. Normalerweise wird Grammatikalisierung auf die klassischen Definitionen von Meillet (1912) zurückgeführt, nach dem Grammatikalisierung der Wandel vom Inhaltswort zum Funktionswort ist, und von Kury ł owicz (1965), nach dem Grammatikalisierung der Wandel eines Wortes von weniger grammatisch zu grammatischer ist - als ob diese Definitionen dasselbe Phänomen beschreiben würden. 246 Das 246 Meillet (1912: 131) nennt Grammatikalisierung „ le passage d ’ un mot autonome au rôle d ’ élément grammatical “ , und als Beispiel dafür erwähnt er die Verwendung des Verbs être, ursprünglich Existenz bezeichnend, in Ausdrücken wie je suis malade und je suis allé. So Kury ł owicz (1965: 52): „ Grammaticalization consists in the increase of the range of a morpheme advancing from a lexical to a grammatical or from a less grammatical to a more grammatical status, e. g. from a derivative formant to an inflectional one “ . Zur Diskussion über die Geschichte der Forschungstradition der Grammatikalisierung siehe Hopper & Traugott (1993: 18 ff) und Ch. Lehmann (2002). 435 <?page no="436"?> scheint aber nicht der Fall zu sein, wie wir in unserer Analyse der von Janda (2001) und Norde (2009) angeführten Gegenbeispiele zur Unidirektionalität gesehen haben. Gegen den Wandel vom Inhaltswort zum Funktionswort in Sinne von Meillet (1912) wird seltener verstoßen als gegen den Wandel von weniger grammatisch zu grammatischer im Sinne von Kury ł owicz (1965), und nur in Meillets Definition ist Grammatikalisierung (fast) unanfechtbar. Diese Definitionen sollten also m. E. als Beschreibungen unterschiedlicher Phänomene - obwohl natürlich verbunden - angesehen werden. Das weist auch darauf hin, dass gegen die formalen Eigenschaften der Grammatikalisierung häufiger verstoßen wird als gegen die semantischen und dass semantisches Verblassen wichtiger ist als phonomorphologische Erosion bei der Grammatikalisierung. Außerdem ist es m. E. auffällig, dass die in der Literatur berichteten Ausnahmen zur Unidirektionalität der Grammatikalisierung (vgl. Campbell 2001: 127 - 134; Janda 2001: 291 - 304; Newmeyer 2001: 205 - 213; Norde 2001: 234 - 240; 2009) am wenigsten jene Sprachen betreffen, die durch eine ausgeprägte fusionale Morphologie charakterisiert sind. Unter dem Vorbehalt, dass morphologische Typen eher Konstruktionen als ganze sprachliche Systeme betreffen, werden allgemein die meisten Fälle von Degrammatikalisierung aus agglutinierenden Sprachen wie aus dem Finno- Ugrischen (besonders aus dem Lappischen, Estnischen, Ungarischen) und im Allgemeinen aus der uralischen Sprachfamilie entnommen, in dem sogar alternative Anordnungen der Morpheme in einem Wort möglich sind, z. B. Mari c ˇ odra-m-lan (Wald-1SG-DAT) oder c ˇ odra-lan-em (Wald-DAT- 1SG) „ zu meinem Wald “ (vgl. Comrie 1980: 94). Häufige Beispiele kommen auch aus dem Japanischen oder aus dem Baskischen. Im letzteren geht das Nomen tasun „ Qualität “ aus dem Suffix - (t)asun zurück, das Newmeyer (2001: 209) als Engl. - ness glossiert. Heine & Kuteva (2007: 184) sind in ihrem ganzen Korpus grammatischer Entwicklungen nur auf ein einziges Beispiel für Degrammatikalisierung gestoßen, und zwar auf die Form katikati „ zwischen “ des Swahili, die gelegentlich als Nomen mit der Bedeutung „ Zentrum “ verwendet wird; und Swahili ist ebenfalls agglutinierend. Dies alles ist auch kompatibel mit der Interpretation der Daten aus dem Irischen bei Doyle (2002), demgemäß die Trennung der Endung der 1. Person PL - muid von einem Wandel der ererbten synthetischen Morphologie hin zu neuen analytischen Konstruktionen bedingt ist. Obwohl Irisch eine fusionale Sprache ist, können der Auswahl einer Periphrase ähnliche Prinzipien zugrunde liegen wie einer agglutinativen Morphologie, da wir in beiden Fällen eine höhere Transparenz haben als in der fusionalen Morphologie. Andererseits erscheinen neben agglutinierenden auch isolierende Sprachen, insbesondere Chinesisch, ziemlich häufig in Jandas (2001) und Nordes (2009) Beschreibungen der Degrammatikalisierung. Dem isolierenden Typ ähnlich ist auch das Englische, das Verwandlungen von 436 <?page no="437"?> Präposition zu Verb zeigt (to down, to up), 247 sowie das Schwedische, in dem der -s-Genitiv, anders als seine englische Entsprechung, nicht von einer Reanalyse des possessiven Adjektivs herrühren kann (Norde 2001: 255), und das gleichfalls durch eine massive Reduzierung der Morphologie (deflexion in Nordes Terminologie) charakterisiert ist. In der folgenden Stelle aus dem Englischen sehen wir eine unbeabsichtigte Degrammatikalisierung: „ Embedded domains are as likely as unembedded domains to reflect the usual toing and froing of the chaotic linguistic environment, but they have no effect on parameter setting “ (Lightfoot 2003: 498; betont). Hier gehen die substantivierten Verben toing and froing auf die Präpositionalausdrücke to and fro zurück. Man könnte hier zwar einwenden, dass fusionale Sprachen weniger zahlreich sind als agglutinierende und isolierende Sprachen zusammen, und dass die Mehrheit der Sprachen der Welt agglutinierend ist, sodass die Häufigkeit dieser Sprachen bei Phänomenen von Degrammatikalisierung nicht überraschend ist. Da aber die indogermanischen Sprachen auch die meistuntersuchten sind (und darüberhinaus seit Jahrhunderten viele Sprachen verschiedener Sprachfamilien, Sprachräume und typologischer Gestaltungen nach dem grammatischen Muster des Lateinischen und Altgriechischen beschrieben wurden), dürfte in den alten idg. Sprachen die geringere Zahl von Ausnahmen zur Unidirektionalität nicht durch simplen Datenmangel bedingt sein, sondern vielmehr mit ihren linguistischen Eigenschaften zusammenhängen. Ich meine daher, dass, indem die grammatischen Morpheme in einer agglutinierenden Sprache einfach identifizierbar sind, sie eine formale Trennung von ihrer lexikalischen Basis eher tolerieren können als in einer fusionalen Sprache, in der Stamm und Endungen normalerweise verschmolzen sind. Andererseits gibt es in einer isolierenden Sprache von einem formalen Standpunkt aus keinen so wesentlichen Unterschied zwischen verschiedenen syntaktischen Kategorien, weil sie eine unveränderliche und getrennte Form haben, sodass eine Umwandlung von offenen zu geschlossen Kategorien für keine gravierende Abweichung gehalten wird. Daher ist es verständlich, dass unregel- 247 Die Ähnlichkeit zwischen dem Englischen und dem Chinesischen in Bezug auf einen geringen Gebrauch der Morphologie wurde schon von den Indogermanisten des 20. Jh. bemerkt, vgl. Vendryes (1921: 142) „ Une langue qui est très voisine du chinois à cet égard, c ’ est l ’ anglais. En anglais, la plupart des substantifs peuvent être employés également comme verbes; la langue tend à admettre l ’ emploi verbal de n ’ importe quel nom. Un mot comme fire « feu » peut être indifféremment nom ou verbe; il peut même, comme nom, indifféremment jouer le rôle d ’ adjectif ou de substantif; et, comme verbe, il laisse indistincte la nuance active ou passive. “ Über das Problem der Null-Konversion im Englischen vgl. Crystal (1967: 47 ff). Eine solche Unbestimmtheit des englischen Wortes erlaubt mehr als in anderen Sprachen den Gebrauch von Nomina als Verben, z. B. to Houdini one ’ s way out of a closet (Clark & Clark 1979). 437 <?page no="438"?> mäßige Änderungen von gebundenen oder grammatischen Formen zu unabhängigen und lexikalischen Formen in den alten idg. Sprachen selten sind, die noch deutlicher als ihre späteren Sprachstufen eine artikulierte Morphologie und einen fusionalen Typ repräsentieren. Es ist außerdem verständlich, dass die Grammatikalisierung als der wichtigste Mechanismus des syntaktischen Wandels in den in dieser Studie diskutierten syntaktischen Phänomenen des Urindogermanischen erscheint. Denn das Urindogermanische war eher arm an analytischen Strukturen und geschlossenen Kategorien, die hinter den meisten Zielpunkten der Degrammatikalisierung stehen. 248 Natürlich können die hier aufgeführten Tendenzen nicht alle Ausnahmen zur Unidirektionalität erklären, wofür die spezifischen Eigenschaften ihrer Sprachsysteme berücksichtigt werden müssten. Trotzdem erlaubt die Analyse dieser Tendenzen die Anzahl der in der Literatur genannten Idiosynkrasien zu reduzieren. Eine wichtige Lehre aus der Zeit der Junggrammatiker besteht darin, dass einige Fälle, die gegen eine gewisse Generalisierung verstoßen, von einer anderen Generalisierung erfasst werden können: so erklärt im Bereich der Phonologie das Vernersche Gesetz die Ausnahmen des Grimmschen Gesetzes. Diese Erkenntnis wäre auch auf die Syntax anzuwenden, wenn einige Gemeinsamkeiten bei den Ausnahmen zur Unidirektionalität der Grammatikalisierung festzustellen sind und solche Fälle gewissen Sprachen oder gewissen syntaktischen Kategorien zugeordnet werden können. Damit meinen wir nicht, dass die hier vorgeschlagenen Korrelationen - zwischen der Degrammatikalisierung und den geschlossenenen Kategorien mit einer abstrakten Bedeutung als target einerseits und zwischen der Degrammatikalisierung und einer kaum komplexen fusionalen Morphologie andererseits - die einzigen oder die wichtigsten Prinzipien sind, die der Ausnahmen zur Unidirektionalität zugrunde liegen. Für spezifische Fälle wurden in der Literatur auch andere Prinzipien hinter der Degrammatikalisierung iden- 248 Damit meinen wir natürlich nicht, dass die Mechanismen des syntaktischen Wandels für Sprachtypen oder Konstruktionstypen spezifisch sind: obwohl die linguistischen Phänomene in verschiedenen Sprachen und in verschiedenen Strukturen unterschiedlich dargestellt werden, sind die diesen Phänomenen zugrunde liegenden Mechanismen universal. Universal bedeutet aber nicht notwendigerweise, dass sie in allen Sprachen dieselbe Rolle spielen. Mir scheint, dass der Druck der Mechanismen, die eher zur Konsequenz der Paradigmen neigen, wie Analogie und Extension, auch in denjenigen Sprachen relevanter ist, welche synchron transparentere Beziehungen zwischen Form und Bedeutung zeigen, wie in den agglutinierenden Sprachen, während die für die Grammatikalisierung typische Erosion, die weniger offensichtlich die formale Beziehung zwischen Quelle und Ziel der Umwandlung zeigt, in den fusionalen Sprachen, in denen die morphologische Verschmelzung zu opaken paradigmatischen Klassen geführt hat, eher tolerierbar ist. 438 <?page no="439"?> tifiziert, z. B. Hyperkorrektismus und Tabu. Der erstere kann nach Hopper & Traugott (1993: 126 - 28) eine Degrammatikalisierung auslösen, wenn die ältere und wenig grammatikalisierte Variante eines Wortes die neue und grammatischere ersetzt, besonders in der geschriebenen Sprache. Als Beispiel dafür können wir den Fall der reduzierten Pronominalformen der 1. und der 2. Person - m und - t des Litauischen erwähnen, die von ihren noch klitischen aber trotzdem volleren Entsprechungen ersetzt wurden; Hermann (1926: 66 ff) weist ihren Wandel dem „ Streben nach Klarheit “ zu. Nach Heine (1997: 153) bedingt ein Tabu den Gebrauch lokativer Ausdrücke wie Fr. derrière oder Ita. didietro statt Nomina von Körperteilen aus euphemistischen Gründen. Wie Willis (2012) bemerkt, kann auch Exaptation eine Degrammatikalisierung erklären, wenn eine grammatische Form einen Großteil ihres semantischen Inhalts verloren hat und für andere Gebräuche recycelt wird. Daher sind die hier vorgeschlagenen Tendenzen nur einige der möglichen Prinzipien, die Verstöße gegen die Unidirektionalität erklären können. Da traditionell verschiedene Typen der Grammatikalisierung anerkannt werden, ist plausibel, dass es auch verschiedene Typen der Degrammatikalisierung gibt. Das bedeutet aber nicht, dass Degrammatikalisierung völlig idiosynkratisch ist. 6.4 System vs. Diachronie als Grund des syntaktischen Wandels 6.4.1 System und Diachronie in verschiedenen linguistischen Bereichen Mögliche - und konkurrierende - Erklärungen des syntaktischen Wandels und des Sprachwandels im Allgemeinen wurden entweder in den Universalien oder in der Diachronie identifiziert (vgl. Good 2008). Die Existenz einiger Universalien als leitende Kräfte des linguistischen Wandels wird besonders von denjenigen Forschern verfochten, die in generativ orientierten Traditionen arbeiten. Dementsprechend würde die Art des diachronen Wandels von den synchronen Eigenschaften des linguistischen Systems bedingt ( „ If language change is constrained by grammatical structure, then synchronic assumptions have diachronic consequences, “ Kiparsky 2008: 23), und diese synchronen Eigenschaften würden von den inhärenten Aspekten der Universalen Grammatik abhängen. Die universale Gestaltung der Sprache, die sich besonders im Spracherwerb und in der Kindersprache zeige, stelle eine „ ultimale “ (ultimate) Erklärung des Wandels dar. Dagegen beziehen andere Forscher den Standpunkt, besonders im Rahmen des Funktionalismus und der Typologie, dass die synchrone Struktur der Sprache vom diachronen Erbe der vorangehenden Sprachstufen und 439 <?page no="440"?> von der Art des Wandels abhängt, sodass diachrone Annahmen diesmal synchrone Folgen hätten ( „ All explanations for linguistic phenomena, both universal and language-specific, must necessarily have a diachronic dimension, since all linguistic phenomena have histories which determine their present conventionalized state “ , Bybee 2008: 108; vgl. auch Lass 1997: 9 ff). Die Diachronie sei eher eine „ nächste “ (proximate) Erklärung des Sprachwandels. Zu dieser dynamischen Sicht der Grammatik als eines emergenten Phänomens gehören auch jene Mechanismen, die man im Diskurs und in der Pragmatik identifizieren kann (Hopper 1987). Good (2008) legt dar, dass ein zufriedenstellender Ansatz für die Erklärung des Wandels eine Interaktion zwischen beiden Mechanismen berücksichtigen muss ( „ A full explanation for the relationship between language universals and language change requires integrating different approaches “ , S. 19). Diese Position halte auch ich für die überzeugendste. Denn sowohl System als auch Diachronie sind verantwortlich für die Gestaltung der alten idg. Sprachen, und trotzdem haben beide unterschiedliche Relevanz nicht nur auf verschiedenen Stufen einer Sprache oder einer Struktur, sondern auch in verschiedenen linguistischen Bereichen. Systemische Faktoren überwiegen nach meiner Meinung in denjenigen Sprachinventaren, die am wenigsten aus zahlreichen, komplexen, bedeutsamen und für äußeren Kontakt anfälligen Einheiten bestehen - wobei diese Eigenschaften eine natürliche Beziehung untereinander haben, aber nicht isomorph sind. Leere Strukturen, die früher eine grammatische Funktion ausdrückten, stehen häufiger unter dem Druck des Systems als Strukturen, die ihre semantischlexikalische Bedeutung am klarsten bewahren. Z. B. wird die Wortfolge am frühesten für nicht-referentielle oder grammatische Einheiten wie Adpositionen oder Artikel festgesetzt, während für die Hauptkonstituenten des Satzes die ursprüngliche pragmatische Funktion noch lange transparent bleibt und auch mehr syntaktische Variation bedingt (§§ 5.4, 5.5). Das gilt auch innerhalb der Inhaltswörter. Die Wortfolge des Verbs ist in den alten idg. Sprachen relativ fester als die der Argumente: Sprachen wie Hethitisch und Altindisch, in denen das Verb normalerweise die Endstellung besetzt, erlauben mehr Raum für Variation in der Mitte des Satzes, und im Germanischen ist die Zweitstellung des Verbs fester als die Erststellung des Subjekts. Das kann m. E. damit zusammenhängen, dass das Verb weniger referentiell ist als das Nomen (vgl. § 2.2.3) und deswegen auch weniger für pragmatisch bedingte Bewegungen tauglich ist. 249 249 Das steht nicht im Widerspruch zu Wackernagels (1892) Bemerkung, dass die zweite Stellung des Verbs von seiner klitischen Natur abhänge, weil formale und funktionale Faktoren zusammenspielen. Die Tatsache aber, dass die Position des Verbs auch in jenen Sprachen fester als die des Subjekts oder Objekts ist, in denen Verben nicht die 440 <?page no="441"?> Das können wir auch in anderen Bereichen als der Syntax sehen, wobei die Phonologie die beste Kandidatin für eine eher systemische als diachrone Erklärung zu sein scheint. Denn die Einheiten eines phonemischen Inventars sind natürlich weniger zahlreich als die eines Inventars von Paradigmen oder Sätzen, und sie sind auch einfacher (d. h. sie bestehen aus weniger basischen Merkmalen) und kaum bedeutungsgeladen. Deswegen ist der syntaktische Wandel weniger regelmäßig als der phonetische Wandel, der im Großen und Ganzen durch die Anwendung der Lautgesetze und der Analogie beschrieben wird, sodass auch die Entdeckung weiterer Prinzipien wie des lexikalischen Konnektionismus (vgl. Wang 1969; Chen & Wang 1975; Labov 1994) den Kern des von Junggrammatikern und Strukturalisten beschriebenen phonetischen Wandels nicht unterminiert hat. Aus dem gleichen Grund ist aber der syntaktische Wandel regelmäßiger als der semantische Wandel, geschweige denn als der pragmatische Wandel. Obwohl semantische Verbreitungen wie von Lat. adripare „ das Ufer erreichen “ zu Fr. arriver häufiger als semantische Beschränkungen wie von Lat. cubare „ liegen “ zu Fr. couver „ brüten “ vorzukommen scheinen, und auch Metaphern zu immer generelleren oder abstrakten Begriffen führen (Lakoff & Johnson 1980), sind umgekehrte Veränderungen reichlich belegt, sodass sie nicht einfach für Ausnahmen gehalten werden können ( „ It is frequently the case that nothing at all can be said about the causes of a change in meaning in words “ , Beekes 2011: 92). Zusätzlich gibt es semantische Verbesserungen bzw. Verschlechterungen, und schliesslich wird die Bedeutung eines Wortes stark durch seine Geschichte beeinflusst sowie durch seinen Gebrauch im Raum und in der Gesellschaft, wie schon von Darmesteter (1887) und Bréal (1897) gezeigt und von Ullmann (1973) und Lyons (1977) bestätigt. Selbst wenn man das signifiant eines uridg. Wortes rekonstruieren kann, wie in den bekannten Fällen der Buche oder des Lachses, kann man ihm nicht so einfach auch ein genaues signifié zuweisen. So Ringe & Eska (2013: 254): „ Reconstruction of the meaning of proto-lexemes is still very much a matter of guesswork informed by experience “ . Äußere Faktoren müssen im semantischen Wandel ebenfalls miteinbezogen werden: während der (nicht-basische) Wortschatz der Entlehnung am meisten unterliegt, scheinen in linguistischen Inventaren systemische Faktoren relevanter zu sein, die am wenigsten dem äußeren Kontakt ausgesetzt sind, wobei der Widerstand gegen die Entlehnung proportional zur Regelmässigkeit ist. Obwohl nichts gegen die Entlehnung völlig immun ist (Thomason & Kaufman 1988; Thomason 2003), wurde dargelegt, dass einige phonetische Merkmale besonders widerstandsfähig sind (vgl. Meillet 1921: 84; Moravcsik 1978). So kann der äußere Kontakt die Struktur des Silbenzweite Stellung besetzen, weist darauf hin, dass Klitisierung nicht die ganze Geschichte im verbalen Verhältnis ist. 441 <?page no="442"?> und Morphemkanons für Jahrtausende intakt lassen, sodass diese Strukturen z. B. im Ossetischen trotz einer tausendjährigen Siedlungsgeschichte im Kaukasus noch als deutlich indogermanisch erkennbar sind (Nichols 2003: 297). Bemerkenswerterweise finden wir in der Literatur systembedingte Mechanismen am häufigsten für die Phonologie angenommen, und nicht von ungefähr wurde die Optimalitätstheorie ursprünglich auf die Phonologie angewendet. Für morphosyntaktische und semantische Phänomene hingegen werden üblicherweise auch diachrone Erklärungen gebraucht. Alternative Ansätze existieren. So werden nach Blevins ’ (2004) Evolutionärer Phonologie sprachübergreifend verbreitete phonetische Muster wie der Vorzug für KV-Silben oder die Abneigung gegen finale Stimmhaftigkeit als das Ergebnis eines oft von Artikulation und Perzeption bedingten Lautwandels interpretiert, und die Diachronie eines Lautwandels würde die Erklärung im Sinne der Universalen Grammatik entbehrlich machen. Die meisten Phonologen nehmen aber an, dass solche Muster wenn auch nicht immer universalen Gesetzen, so doch universalen Tendenzen folgen (vgl. Kiparsky 2006; 2008). Sogar Blevins anerkennt die Möglichkeit, dass phonetische Muster in einigen Fällen synchron vom System bedingt sein können, wenn eine diachrone Erklärung nicht verfügbar ist: „ Principled diachronic explanations for sound patterns have priority over competing synchronic explanations unless independent evidence demonstrates, beyond reasonable doubt, that a synchronic account is warranted “ (2008: 82). Die Funktionalisten wiederum anerkennen, dass die Grammatikalisierung zur Phonologie am wenigsten beigetragen hat ( „ It is only in the domain of phonology where they [sc. grammaticalization studies] have not much to contribute “ , Heine 2003 a: 597). 250 In Bezug auf andere Bereiche als Phonologie und Semantik zeigt Mithun (1984 b), dass die Morphosyntax diachron stabiler als der Wortschatz ist, und Darstellungen dieses Prinzips haben wir auch hier mehrmals illustriert. Umstritten ist jedoch die relative Stabilität von Syntax und Morphologie, deren Arbeitsteilung es oft erschwert, die der einen oder der 250 Das ist keine Infragestellung von Ansätzen, die die Phonologie in die Grammatikalisierungstheorie einschließen, wie Bisang (2008) und Frajzyngier (2008), und tatsächlich haben auch wir den Wandel einiger phonologischer Einheiten wie des Akzents und der Klitika im Indogermanischen durch die Grammatikalisierung erklärt (§ 5.6). Wir meinen hier nur, dass die Grammatikalisierung in phonologischen Prozessen weniger ersichtlich ist als in der Morphosyntax. Selbst Heine & Kuteva (2007), die im Prinzip skeptisch sind gegenüber der Anwendung der Grammatikalisierungstheorie auf die Phonologie ( „ phonology is essentially not within the scope of grammaticalization theory “ , S. 55), lassen die Möglichkeit zu, dass dieselben Prinzipien der Grammatikalisierung, die sie in der Morphologie und in der Syntax identifizieren, auch in der Phonologie wirken ( „ we suspect that the same general principles of evolution that we found in morphosyntax may also have been at work in phonology “ , S. 352). 442 <?page no="443"?> anderen zugrunde liegenden Mechanismen zu entschlüsseln (vgl. Lightfoot 2002 c). Mithun (1984 b) argumentiert anhand eines Vergleichs zwischen sechs irokesischen Sprachen, dass die Syntax normalerweise stabiler als die Morphologie sei. Eine ähnliche Meinung, wenn auch in einer anderen Forschungstradition, ist die von Keenan (1994; 2002), der dem syntaktischen Wandel der englischen Reflexivpronomina die zwei Prinzipien der „ Trägheit “ (inertia) und des „ Verfalls “ (decay) zugrunde legt. Das letztere Prinzip ist eine phonomorphologische Erosion ( „ Things wear out “ ), also kompatibel mit der Grammatikalisierung. Trägheit setzt voraus, dass der syntaktische Wandel, und insbesondere die Entwicklung synchron anomaler Strukturen, von einem externen Einfluss abhängt ( „ Things stay as they are unless acted by an outside force or decay “ , Keenans 2002: 327). So auch Longobardi ( „ Syntax, by itself, is diachronically completely inert “ , 2001: 278), nach dem der syntaktische Wandel eher die Folge einer Änderung in anderen grammatischen Komponenten wie Phonologie, Morphologie und Wortschatz ist; er sei also ein interface-Phänomen (vgl. auch Crisma 2012; Ringe & Eska 2013: 212 - 13). Eine alternative, aber in der Theorie der diachronen Syntax weniger beliebte Hypothese wurde von Reintges (2009) aufgestellt: Syntax sei nicht inert, sondern inhärent flexibel und dynamisch, sodass der syntaktische Wandel auch spontan entstehen könne. Der letzteren Meinung kann auch ich mich anschliessen, und am Beispiel der alten idg. Sprachen denke ich, dass die Syntax diachron weniger stabil ist als die Morphologie. Denn syntaktische Kategorien und Funktionen, die durch morphologische Verfahren ausgedrückt werden können, sind für das Urindogermanische besser rekonstruierbar, während die von der Morphologie relativ unabhängigeren Bereiche der Hierarchie und der Wortfolge weniger Vergleichbarkeit bieten. Die Hypothese einer höheren Stabilität der Morphologie im Vergleich zur Syntax wird von einigen Ergebnissen der typologischen Forschungstradition bestätigt. Obwohl in der Sprache nichts unveränderlich ist, wurde in der Typologie bewiesen, dass verschiedene linguistische Einheiten unterschiedlich stabil und gegen Wandel oder Entlehnung beständig sind. Als „ historische Marker “ (d. h. strukturelle Merkmale, die normalerweise in einer Sprachfamilie diachron stabil sind) nennt Nichols (1992) Ergativität, Kopfmarkierung, numerale Klassifikatoren, Genus- und Kongruenzklassen, verbinitiale Wortfolge, Inklusiv/ Exklusivkodierung für Pronomina 1. Person, gleiche Pronominalstämme für den SG und den PL derselben Person und nominale Klassen, die nur in possessiven Ausdrücken erscheinen; die meisten davon betreffen die Morphologie. Während die Wortfolge im Allgemeinen ein areales Merkmal ist (Nichols 2003: 304 - 305), ist die Kodierung der semantischen Rollen genetisch stabil: Bickel (1999) zeigt, wie die morphosyntaktische Darstellung der Argumentstruktur durch die Kongruenz trotz des äußeren Kontakts erhalten bleibt. Es ist nachvollzieh- 443 <?page no="444"?> bar, dass die Morphologie, die aus weniger zahlreichen, weniger komplexen und weniger bedeutsamen Einheiten als die Syntax besteht, auch dem Wandel besser widersteht. 6.4.2 Ursprüngliche Inhomogenität? In der Historiolinguistik und im Funktionalismus besteht die communis opinio darin, dass die Ausnahmen bzw. idiosynkratischen Merkmale einer Grammatik eine diachrone Erklärung bekommen können ( „ Patterns which are not exceptionless might, in general, be better explained historically than structurally “ , Good 2008: 15). Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass, da jede Struktur ihre eigene Geschichte habe, man nicht erwarten könne, dass sie einem konsequenten Plan folge, was hingegen die Generativisten glauben (§ 5.5). Synchron von der Regel abweichende Strukturen würden eher das vorhersagbare Ergebnis wohlverstandener diachroner Änderungen darstellen und durch Berücksichtigung ihrer Geschichte als normal oder sogar regelmässig der Grammatikalisierungstheorie entsprechend erscheinen ( „ Perhaps the most fundamental source of apparent arbitrariness is the process of grammaticization, the cognitive routinization of recurring structures “ , Mithun 2003: 553; „ The theory which renders exceptions as rules - ‚ the good guy in our history ‘ - is grammaticalization “ , Kuteva & Heine 2008: 217). Das bedeutet aber nicht, dass in der Grammatik keine Tendenz zur Homogenität besteht. Obwohl sie im Prinzip nicht zu erwarten sind, zeigen die späteren Sprachstufen einer Struktur oft die Effekte der Analogie zum System. Das haben wir hier bereits bei den syntaktischen Kategorien und den syntaktischen Funktionen gesehen, die mit der Zeit eine zunehmende Nivellierung zeigen. Der diachrone Wandel allein kann daher nicht alles in der Organisation einer Grammatik erklären. Das probabilistische Modell von Harris (2008) nimmt an, dass sprachübergreifend seltene Strukturen nicht so sind, weil sie gegen irgendeine universale Tendenz verstoßen, sondern weil sie das Ergebnis einer Kombination aus mehreren Änderungen darstellen, und das gemeinsame Auftreten verschiedener Änderungen ist klarerweise seltener zu erwarten als ein einzelner Wandel ( „ This explanation does not depend on one change being less common than another, or on some conditions being infrequent; on the contrary, it assumes as a starting point that all changes and all conditions are equally common. It is the combination that is uncommon, not any of the specific elements “ , Harris 2008: 56). Das könnte z. B. erklären, warum Zirkumfixe seltener sind als Präfixe oder Suffixe: Zirkumfixe rühren von der Kombination aus Präfixen und Suffixen her. Aber das erklärt nicht, warum Präfixe seltener sind als Suffixe (vgl. Croft 2003: 67 - 68; Dryer 2005 e). Der Grund dafür besteht darin, dass es kognitiv einfacher ist, zuerst das lexikalische Morphem und dann alle grammati- 444 <?page no="445"?> schen Morpheme zu verarbeiten. Nach Hawkins & Cutler (1988: 306) „ speakers and listeners process stems before affixes “ . Nach Malchukov (2009) können idiosynkratische Strukturen wie die „ modalen Kasus “ des Kayardilds 251 von einem unvollendeten Zyklus der Grammatikalisierung stammen, aber auch in diesem Fall muss eine gewisse Einhaltung von Struktur und System der Sprache berücksichtigt werden. Da jedoch andererseits idiosynkratische Strukturen bereits ganz zu Beginn der idg. Urkunden belegt sind, darf die in der Sprachgeschichte beobachtbare Tendenz zur Regelmässigkeit und systemischen Konsistenz nicht als ursprünglich - quasi entsprechend den angeborenen Sprachfähigkeiten des Menschen - vorausgesetzt werden, sondern muss vielmehr als eine späte Errungenschaft des Sprachwandels angesehen werden, die von Ökonomie und Verarbeitung bestimmt wurde: harmonische Strukturen sind in Aufmerksamkeits- und Gedächtnisverfahren schneller zu bearbeiten, und haben eben deshalb auch mehr Chancen sich im Diskurs zu etablieren. Innerhalb der die linguistischen Strukturen prägenden kognitiven Faktoren erkennt Mithun (2003: 552) auch pattern recognition, abstraction, generalization, and routinization of repeated tasks. Man kann sich fragen, welche Formen vorzugsweise „ Zielpunkt “ (target) - nicht teleologisch gemeint - der erlangten Homogenität sind. In der Morphologie sind es insbesondere häufige und kurze Formen, die im Paradigma überwiegen und die anderen ersetzen (vgl. Kury ł owicz 1945; Ma ń czak 1958; 1980; Bybee 1985: 50-52). Das gilt m. E. auch für die Syntax. Häufigkeit spielt im syntaktischen Wandel eine entscheidende Rolle. So hängt der Ersatz der obliquen Kasus durch den Nominativ für das primäre Argument des Satzes damit zusammen, dass das primäre Argument des Satzes im Diskurs häufiger das Agens ist, das eine engere Beziehung zum Nominativ hat, als das Experiens oder das Patiens. Als Entsprechung zur morphologischen Kürze kann Einbettung gelten: eingebettete Strukturen prägen sich besser ins Gedächtnis ein als angeschlossene Strukturen und werden deswegen auch diachron besser überliefert. Die Hypothese einer Tendenz zur Homogenität bedeutet, dass das System in der Diachronie der alten idg. Sprachen entspringt (emerges), und das hat Folgen für die Auffassung sowohl von der Weise des syntaktischen 251 Im Kayardild (einer Tangkic-Sprache des nördlichen Australiens) zeigt eher der Kasus als das Verb die Marker von Tempus, Aspekt und Modalität. Diese synchron anomale Situation wird von Evans (1995) diachron dadurch erklärt, dass die modalen Marker ursprünglich nur infinite Verbformen mit einer kompletiven oder adverbialen Funktion kennzeichneten, später aber nach der für das Kayardild typischen „ totalen Kongruenz “ auch von den Argumenten erworben wurden. Als die subordinierende Verbform zum Hauptsatz wurde, verschmolzen seine früheren Tempus-, Aspekt- und Modalitäts-Marker mit der neuen verbalen Flexion und waren nicht mehr erkennbar, während in den Argumenten diese Marker noch deutlich sind. 445 <?page no="446"?> Wandels als auch von der Rekonstruktion der frühen Sprachstufen. Zum Ersten glauben wir, dass ebenso wie für den phonetischen und morphologischen Wandel eine gewisse Natürlichkeit auch für den syntaktischen Wandel festzustellen ist. Das wird durchaus nicht von allen Linguisten so gesehen. Einige behaupten, dass der Unterschied zwischen phonetischem und syntaktischem Wandel darin bestehe, dass nur der erstere eine inhärente Direktionalität besitze (dass z. B. häufiger ein Verschlusslaut zu einem Frikativ wird als umgekehrt) und deswegen nur dieser vorhergesagt werden könne: One of the factors that makes phonological reconstruction possible is our fairly thorough understanding of the directionality of sound change in particular environments. We expect sound change to be phonetically natural, at least at the outset, and we expect it often to affect entire natural classes. This frequently makes reconstruction a matter of working backwards along well-established trajectories. Our understanding of naturalness in syntactic change is far less well developed. [. . .] And, in fact, there is little reason to believe that we will ever reach comparable levels of understanding in syntax, because phonetic change is physiologically shaped and constrained by the configuration of the vocal organs and by perception, while syntactic change is not. The best bets for syntactic reconstruction at this time would seem to be the use of relic constructions, if such can be identified. (Rankin 2003: 206, betont; vgl. auch Winter 1984) Direktionalität wird aber auch von der Grammatikalisierung vorausgesetzt, die nicht nur auf die Berücksichtigung der Relikte beschränkt ist, wobei, wenn ein syntaktischer Wandel geschieht, er normalerweise in eine bestimmte Richtung führt. Die Annahme, dass man nicht vorhersagen kann, ob der Wandel tatsächlich stattfindet (vgl. Kury ł owicz 1945), betrifft nicht nur die Syntax, sondern auch die Phonologie und die anderen Bereiche der Grammatik. Wir vermuten, dass ein natürlicher syntaktischer Wandel von einer formalen Varietät und Ungleichartigkeit, die von der semantischen Transparenz 252 bedingt werden, zu einer formalen Homogenität führt. 252 Der Terminus „ Transparenz “ wird in verschiedenen Ansätzen unterschiedlich gebraucht. Wir verstehen hier - wie in der Historiolinguistik üblich - Transparenz als direkte Widerspiegelung der semantischen bzw. pragmatischen Funktionen, während „ Opazität “ die Verdunkelung solcher Beziehungen bezeichnet. So ist Lat. peregrinus transparenter als Ita. pellegrino oder Fr. pèlerin, weil nur das erste Wort wegen der paradigmatischen Beziehung mit per und ager die ursprüngliche Bedeutung „ der durch die Felder (per agros) fährt “ zu identifizieren erlaubt. Dagegen verstehen einige generativ-orientierte Forscher Transparenz als eine Hinwegführung von den Ausnahmen in einer Grammatik, die man durch den Verlust von Gesetzen oder Extension erreichen kann (vgl. Kiparsky 1968; King 1969: § 5.3). Lightfoots (1979) Transparenz-Prinzip wird herangezogen, um die idiosynkratische Verteilung einiger 446 <?page no="447"?> Die ursprüngliche formale Heterogenität hängt von der direkteren Wiedergabe der Bedeutungen ab, die von Natur aus zahlreich und möglicherweise unendlich sind. Das gilt für alle syntaktischen Einheiten. So haben wir in Kapitel II gesehen, dass eine formale Kodierung ursprünglich mehr von der lexikalischen Bedeutung eines Wortes als von der Zugehörigkeit zu einer syntaktischen Kategorie abhängt. So gab es einerseits keine homogene Deklination für Nomina, sondern verschiedene Flexionsklassen je nach unterschiedlichen semantischen Merkmalen wie Belebtheit, Menschlichkeit oder Abstraktheit, andererseits waren einige Nomina einigen Adjektiven in der Flexion ähnlicher als anderen Nomina, unabhängig von ihrer unterschiedlichen kategorialen Zugehörigkeit. Die spätere Vereinfachung der Flexionsklassen in den idg. Sprachen besteht darin, dass die Lexeme nach rein syntaktischen Kriterien deutlicher organisiert werden, wobei die jeweilige syntaktische Kategorie auch formal homogener dargestellt wird. Ähnlich scheint der Wandel zu einem höheren Einbettungsniveau natürlicher zu sein als der entgegengesetzte Wandel (§ 4), und dasselbe gilt für den Wandel zu Präzedenz und Adjazenz (§ 5). Im Allgemeinen zeigen die alten idg. Sprachen mehr syntaktische Variation als die modernen: je mehr wir in die Vergangenheit rekonstruieren, desto größere Variation finden wir in der Darstellung der syntaktischen Kategorien und Funktionen, in den Rektions- und Modifikationsverfahren, in den linearen Anordnungen von betonten wie auch klitischen Wörtern. Wie wir in den vorangehenden Kapiteln gesehen haben, hängt diese Variation nicht nur von den Faktoren der Gattung ab, weil auch die Prosa und sogar die volkstümlichen Werke unterschiedliche Konstruktionen verwenden, die weder in den modernen idg. Sprachen noch in ihren Dialekten grammatisch sind. Daher können wir die Hypothese nicht unterstützen, wonach synchrone Unregelmässigkeit die Folge vorangehender Regelmässigkeit oder Konsistenz sei, wie traditionell behauptet wird ( „ We assume that morphophonemic alternations [. . .] are [. . .] always the result of historical change. Such a claim would cohere with the basic one underlying comparative method: differences reflect apomorphies. And the deeper assumption: earlier states tend to be more uniform than later states (the ideal tree shows infinite divergence) “ , Lass 1997: 235; „ The shape of our reconstructions is most often a consequence of our preference for regarding proto-languages as repositories for sistematicity, not idiosyncrasy, but it is also a consequence of insisting on pushing internal reconstruction as far as possible “ , Rankin 2003: 207). Eine solche Annahme gründet sich m. E. auf der falschen Auffassung von System als einer Menge miteinander konsistenter Einheiten, während das Kennzeichen eines Systems nur darin besteht, dass Prädikate (der sogenannten pre-modals) in der Grammatik des Mittelenglischen durch die therapeutische Macht der Sprache zu korrigieren, vgl. § 1.3. Somit wird Transparenz von den Generativisten für eine Art Vereinfachung gehalten. 447 <?page no="448"?> eine Änderung in einem Bereich auch Auswirkungen auf einen anderen Bereich hat, was Konsistenz per se nicht voraussetzt. Die Rekonstruktion eines ursprünglichen Systems, in dem die synchronen Idiosynkrasien besser geordnet werden können, scheint mir die unbegründete Anwendung der Mechanismen des phonetischen und morphologischen Wandels auf die Syntax zu sein. Der morphologische Wandel besteht oft darin, dass ursprünglich regelmässige morphologische Paradigmen durch einen phonetischen Wandel weniger homogen werden, sodass die Analogie die Homogenität im System wiederherstellen kann (Sturtevants Paradox). Doch hinsichtlich der Syntax ist die Situation eine andere: hier müssen wir vielmehr eine Beziehung zum semantischen Wandel herstellen, wobei ursprünglich syntaktische Einheiten semantisch transparent und von der Pragmatik des Diskurses beeinflusst werden, während die Entstehung formaler Ähnlichkeiten später vom Verblassen ihrer semantischen Eigentümlichkeiten begünstigt wird. Eine solche Entwicklung ist zwar kompatibel mit der Grammatikalisierung, aber sie bedingt auch eine Folge, die von der Grammatikalisierung üblicherweise nicht vorausgesetzt wird: wir müssen Heterogenität statt Homogenität rekonstruieren. Das bedeutet nicht nur, dass die idiosynkratischen Merkmale einer Grammatik älter als die normalen nach Meillets Lehre (§ 3.5.1) sind, sondern auch, dass diese idiosynkratischen Merkmale - soweit wir rekonstruieren können - nie normiert waren, weil sie im ursprünglichen Sprachsystem semantische Funktionen unterschiedlich darstellten. W. Lehmann (1989 a) und Bauer (2000) u. a. erklären die Abweichung der unpersönlichen Strukturen mit einer vorangehenden aktiv-stativen Sprachstufe, in der sie ganz normgerecht gewesen seien (§ 3.8). Wir haben dagegen gezeigt, dass Impersonalia wahrscheinlich immer unregelmässig waren. 253 Das hier rekonstruierte Urindogermanische war keine konsistente Topik-prominente Sprache, keine konsistente nicht-konfigurationelle Sprache, und es hatte auch keine konsistente Wortfolge und keine konsistente Markierung der syntaktischen Funktionen. Das hier rekonstruierte Urindogermanische ist also das Spät-Urindogermanische, das durch die vergleichende Methode erreicht werden kann, und nicht die älteren Sprachstufen des Vor-Urindogermanischen (Pre-Indo-European oder Early Proto- 253 Außerdem können wir Bauers (1995: 188) Argumentation nicht folgen, nach der ein Wandel wie der von der Linksverzweigung des Lateinischen zur Rechtsverzweigung des Französischen damit zusammenhänge, dass die Linksverzweigung in nichtagglutinierenden Sprachen schwierig zu erlernen und zu bearbeiten sei. Man muss sich dann fragen, warum die Linksverzweigung in diesen Sprachen doch von Anfang an existiert hat. Dieses Problem verschwindet, wenn man eine ursprünglich unregelmässige Grammatik rekonstruiert. 448 <?page no="449"?> Indo-European, vgl. W. Lehmann 2002), wie es durch eine m. E. forcierte Anwendung der Internen Rekonstruktion postuliert wird. 254 6.5 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Anhand der Beispiele für Variation und Wandel, die in den vorigen Kapiteln illustriert wurden, haben wir hier das Problem der syntaktischen Rekonstruktion im Indogermanischen und darüberhinaus im Allgemeinen diskutiert, das in der Literatur insofern kontrovers erscheint, als sich nicht alle Forscher darüber einig sind, ob Syntax überhaupt rekonstruiert werden kann. Wir vertreten hier die Position, dass die Syntax zwar nicht benutzt werden kann, um eine Phylogenese zu rekonstruieren, dass sie jedoch sehr wohl auf die Rekonstruktion früher Sprachstufen angewendet werden kann, wenn wie im Indogermanischen die genetische Beziehung durch die traditionelle vergleichende Methode schon bekannt ist (§ 6.2.1). Selbst wenn die Lexeme miteinander nicht übereinstimmen, kann in den verglichenen Sprachen ein syntaktisches Muster im Sinne von Campbell & Harris (2002) identifiziert und in die Vergangenheit projiziert werden (§ 6.2.2). Wir gehen davon aus, dass dem Urindogermanischen eine syntaktische Kategorie fehlte, falls sie in den alten idg. Sprachen durch alternative Strukturen ausgedrückt wurde. Wenn das nicht der Fall war, kann die Kategorie einfach verloren gegangen und unabhängig erneuert worden sein (§ 6.2.3). Grammatikalisierung halten wir für den wichtigsten inneren Mechanismus, der den syntaktischen Änderungen der alten idg. Sprachen 254 Das Vor-Urindogermanische wird insbesondere in der Phonologie und Morphologie untersucht. Z. B. postulieren einige Forscher für diese Sprachstufe einen intensiven Akzent, der verantwortlich für das Zusammenspiel von Akzent und Ablaut in den Betonungsparadigmen sei; demgemäß gebe es ursprünglich eine Beziehung zwischen e-Vollstufe und Betonung einerseits und Schwundstufe und Nichtbetonung andererseits: *éy-mi > Ved. émi „ ich gehe “ vs. *i-més > Ved. imás „ wir gehen “ (vgl. Tichy 2009: 48; 78). Eine solche Rekonstruktion führt aber gleich zu mehreren Schwierigkeiten, weil die Belege der alten idg. Sprachen wie auch die Rekonstruktion der vergleichenden Methode sowohl auf betonte Schwundstufen hinweisen (sogar im Grundwortschatz, z. B. * sept ḿ ˚ „ sieben “ , vgl. Altgr. ἑπτά , Ved. saptá) als auch auf unbetonte e-Stufen (sogar in alten grammatischen Formen, wie in den Perfekt- Endungen 1SG *-h 2 e, 2SG *-th 2 e, 3SG *-e). Außerdem ist die Rolle der o-Stufe nach dieser Hypothese unklar, wie auch die Beziehung zwischen Akzent und Dehnstufe, die nicht immer auf Ersatzdehnung zurückgeführt werden kann, z. B. bei Narten- Bildungen (zu Details und Diskussion anderer Probleme des Vor-Urindogermanischen, vgl. Clackson 2007: 75 ff). Da die Syntax per se diffiziler zu rekonstruieren ist als Phonologie und Morphologie, wird die syntaktische Rekonstruktion des Vor- Urindogermanischen noch spekulativer, und sollte deswegen vermieden werden. 449 <?page no="450"?> zugrunde liegt. Allerdings wirkt Grammatikalisierung oft mit Kontaktfaktoren zusammen. Diesbezüglich haben wir eine rekonstruktive Methode befürwortet, nach der interne und externe Erklärungen nicht als getrennt, sondern im Zusammenspiel betrachtet werden, wobei ein äußerer Kontakt schon bestehende interne Tendenzen verstärkt (§ 6.3.1). Da die Rolle der Grammatikalisierung in der Literatur neuerdings teilweise in Frage gestellt wurde, sind wir ausführlich auf Kritik hinsichtlich unabhängigem Status, Gradualismus und insbesondere Direktionalität eingegangen (§ 6.3.2). Wir haben auch versucht, einige Tendenzen hinter den in der Literatur genannten Ausnahmen zu diesem Mechanismus zu identifizieren, und zwar in Bezug auf den Typ der Strukturen und den Typ der Sprachen, die von Degrammatikalisierungen am meisten betroffen sind, sodass die Unidirektionalität der Grammatikalisierung empirisch doch gültig sein kann (§ 6.3.2.5). Sowohl die universale Tendenz zur systemischen Konsistenz als auch die für das jeweilige Phänomen spezifische Diachronie scheinen die Gestaltung der idg. Sprachen beeinflusst zu haben, jedoch in unterschiedlichen grammatischen Bereichen (§ 6.4.1). Da die Konsistenz auf den späten Stufen einer Struktur oder einer Sprache am häufigsten auftaucht, sind wir zu der Schlussfolgerung gelangt, dass die älteste rekonstruierbare Syntax nicht regelmässiger war als diejenige in den belegten Sprachen, sondern im Gegenteil heterogener und semantisch bedingter (§ 6.4.2). 450 <?page no="451"?> Kapitel VII Schluss 7.1 Indogermanische Syntax und Allgemeine Sprachwissenschaft In dieser Arbeit haben wir analysiert, wie die syntaktischen Einheiten der Kategorien (§ 2), der Funktionen (§ 3), der Hierarchie (§ 4) und der Linearität (§ 5) in den alten idg. Sprachen variieren, und wie sie sich in der Geschichte des Indogermanischen verändern. Anhand dieser Phänomene haben wir auch einige Überlegungen zu den Mechanismen des syntaktischen Wandels und zu den Methoden der syntaktischen Rekonstruktion angestellt (§ 6). Für die Beschreibung dieser Probleme im Einzelnen, die vorgeschlagenen Erklärungen und Schlussfolgerungen verweisen wir auf die detaillierten Zusammenfassungen am Ende jedes Kapitels. Hier möchten wir nur einige Punkte diskutieren, die den Zusammenhang zwischen den untersuchten Phänomenen und generell der Stellung der Syntax in der Indogermanistik betreffen. Da in der Indogermanistik nach den grundlegenden Werken der Junggrammatiker und der ersten Strukturalisten der Syntax nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, muss heutzutage eine Behandlung der syntaktischen Phänomene in den alten idg. Sprachen eher auf die Debatte anderer Bereiche der Sprachwissenschaft zurückgreifen, in denen die Syntax ein gut bearbeitetes und ergiebiges Feld ist (§§ 1.2, 1.3). Dementsprechend sind wir hier z. B. Harris & Campbells (1995) intersystemic comparison gefolgt, einem Ansatz, bei dem diverse syntaktische Probleme in verschiedenen Sprachen gleichzeitig analysiert werden. Das zentrale Ziel dieser Arbeit liegt also nicht in der Philologie einzelner syntaktischer Phänomene (wofür wir auf bestimmte Editionen und Interpretationen verwiesen haben), sondern orientiert sich an möglichen allgemeinen Einsichten in die vergleichende Syntax des alten Indogermanisch auf der Grundlage moderner Syntaxtheorien (§ 1.4). Damit verortet sich die vorliegende Arbeit an der Schnittstelle zwischen Indogermanistik und Allgemeiner Sprachwissenschaft. 451 <?page no="452"?> 7.2 Dialog zwischen verschiedenen syntaktischen Theorien 7.2.1 Syntaktische Theorie in der Antike In die Diskussion der syntaktischen Theorien haben wir auch wo immer möglich die Überlegungen einiger alter indischer und griechisch-römischer Grammatiker zur Syntax mit einbezogen, die insbesondere das Problem der Kategorien und der Wortfolge behandelt haben. Trotz ihrer verschiedenen Betrachtungsweisen stimmen die antiken Grammatiker darin überein, dass sowohl formale als auch funktionale Kriterien für die Identifizierung der syntaktischen Kategorien verwendet werden müssen - wofür bis heute viele Syntaktiker plädieren - und dass aufgrund solcher Kriterien ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Nomen und Verb in ihren Sprachen bestand. Semantische Kriterien wurden aber mehr in der indischen als in der griechisch-römischen Tradition berücksichtigt. Wegen ihrer weniger zahlreichen syntaktischen Kategorien scheint die Kategorisierung der alten indischen Grammatiker auch die Situation des Urindogermanischen getreuer abzubilden, welches ziemlich arm an geschlossenen Kategorien war (§§ 2.2, 2.3, 2.5). Auch in der Wortfolge haben die indischen Grammatiker erkannt, dass unterschiedliche lineare Stellungen unterschiedliche stilistische Gebräuche haben konnten, die man heute im Bereich der Pragmatik untersuchen würde (§ 5.2.1). 7.2.2 Aus formalen Paradigmen syntaktischer Analyse: systemische Korrelationen Aus der modernen Theorie haben wir sowohl formale als auch funktionale und typologische Ansätze miteinbezogen. Vom Formalismus (als Überbegriff des Strukturalismus und des Generativismus) haben wir die Auffassung der Sprache als eines Systems übernommen. Sprachsystem bedeutet hier aber keinesfalls Ordnung, Symmetrie und Harmonie zwischen den jeweiligen Konstituenten, gemeint ist damit nur, dass das Vorkommen einer Struktur oder ihr Gebrauch oft von der Anwesenheit oder Abwesenheit anderer Strukturen derselben Sprache beeinflusst wird. Deswegen kann eine Struktur auch besser erklärt werden, wenn sie nicht isoliert berücksichtigt wird, sondern im Zusammenhang mit anderen formal oder funktional zugehörigen Konstruktionen (§ 1.4.1). Wir haben z. B. gesehen, dass die geringe Rolle der geschlossenen Kategorien auf den ältesten Stufen des Indogermanischen durch die reichen morphologischen Ressourcen bedingt ist. Die Entwicklung geschlossener Kategorien kann die Entstehung von hierarchischen Konfigurationen auslösen, wie im Altgriechischen und im klassischen Armenisch (§ 4.4.3), oder die relative Festsetzung der 452 <?page no="453"?> Wortfolge bewirken, wie im Germanischen und Keltischen (§ 5.2.1). Sprachen wie Vedisch und Hethitisch, in denen das Adjektiv vom Nomen am wenigsten unterschieden ist und die Verteilung eines doppelten syntaktischen Kopfes hat, entwickelten auch die Dependenz innerhalb der NP und der PP am wenigsten; ihnen fehlt der Artikel, ihre Relativsätze und Adverbialsätze sind meistens angeschlossen in Ch. Lehmanns (1984) Sinne, und auch ihre Adpositionen und Konjunktionen sind kaum grammatikalisiert und haben oft den Gebrauch ihrer ursprünglichen adverbialen Quellen (§§ 2.3.1, 4.5.1, 4.5.2). Sprachen hingegen wie Germanisch, Baltisch und Slawisch, in denen das Adjektiv durch die definite/ indefinite Flexion deutlicher vom Nomen unterschieden ist, zeigen auch eine produktive Verwendung von Einbettung in der Satzverbindung und von grammatikalisierten Präverbien, Präpositionen und Konjunktionen (§§ 2.3.2.2, 4.3.1, 4.4.3, 4.5.3). Die morphosyntaktische Ähnlichkeit des Adjektivs und des Nomens resultiert wahrscheinlich daraus, dass die attributive Funktion, die in den modernen idg. Sprachen typischerweise vom Adjektiv übernommen wird, ursprünglich durch explizite Verfahren von der prädikativen und adverbialen Funktion wenig unterschieden war (§ 4.4). Das ist auch ein Hinweis auf die grundsätzlich appositive Verbindung des Urindogermanischen. Einige Beziehungen bestehen auch zwischen der Markierung der syntaktischen Funktionen und der hierarchischen Darstellung der Satzverbindung. Zum Ersten bevorzugen Sprachen, die angeschlossene Nebensätze haben, den Gebrauch kanonischer Strukturen, wobei das primäre Argument des Satzes hinsichtlich Belebtheit und Topikalität auch in Situationen geringer Agentivität und Transitivität immerhin durch den Nominativ kodiert wird; so im Hethitischen und Vedischen (§§ 3.3, 3.5.2.2, 4.5.1). Das Gegenteil gilt jedoch nicht, weil eine solche kanonische Markierung auch in Sprachen, die eingebettete Strukturen haben, erscheinen kann, wie im Altgriechischen und klassischen Armenisch (§§ 3.5.2.2, 4.5.3.2). Zum Zweiten sind Sprachen, die eine nicht-kanonische Markierung des primären Arguments durch einen casus obliquus begünstigen, auch diejenigen, die am meisten eingebettete Satzverbindungen benutzen, wie das Altisländische (§§ 3.5.2.1, 4.5.3.1). Auch in diesem Fall gilt das Gegenteil nicht: das Altgriechische und das klassische Armenisch haben eben die Einbettung und trotzdem bevorzugen sie kanonische Strukturen. Die älteren Strukturen der nicht-kanonischen Markierung und der angeschlossenen Nebensätze funktionieren also besser als ihre neueren, konkurrierenden Formen der kanonischen Markierung bzw. der eingebetteten Nebensätze als implicans einer Beziehung, weil die neuen Formen sich im Indogermanischen durch eine unabhängige Drift in Sapirs (1921) Sinne verbreiten und ihre Generalisierung die Anwesenheit anderer grammatischer Merkmale auch weniger vorhersagbar macht. Der Zusammenhang 453 <?page no="454"?> zwischen nicht-kanonischer Markierung und Einbettung kann darin bestehen, dass die Häufigkeit eines casus obliquus für das primäre Argument des einfachen Satzes auch die Kodierung des Subjekts des Nebensatzes durch einen anderen Kasus als den Nominativ wie im accusativus cum infinitivo annehmbarer macht. Eine einseitige Beziehung erscheint auch zwischen Satzverbindung und null object anaphora. Die alten idg. Sprachen wie Vedisch und Hethitisch, die eine lockere Satzverbindung zeigen, gebrauchen kaum implizite direkte Objekte (§§ 4.2.1, 4.5), und das könnte damit zusammenhängen, dass Nullobjekte normalerweise in Kontexten hoher Kontinuität vorkommen, die in der quasi-parataktischen Verknüpfung des korrelativen Diptychons am wenigsten erscheint (zum Diptychon siehe unten in § 7.3). Trotzdem ist es nicht so, dass Sprachen, die eine hochentwickelte Einbettung haben, auch über Nullobjekte verfügen, wie wir am Standard Average European sehen können. Auch wenn also die Syntax einer Sprache ein System von ineinandergreifenden positiven und negativen Entsprechungen darstellt, gelten die meisten davon nur einseitig, und alle sind wohlverstanden als Tendenzen gemeint. Dass ein solches Sprachsystem per se keine Symmetrie voraussetzt, haben wir z. B. daran gesehen, dass das primäre Argument des Satzes an die kanonische Markierung früher und in mehr Konstruktionen angepasst wird als das sekundäre Argument, welches hingegen eine heterogenere Syntax hat (§ 3.7.1). Die Berücksichtigung des ganzen grammatischen Systems einer Sprache statt lediglich einer einzelnen Struktur, kann immerhin zur Erklärung der unterschiedlichen Grammatikalisierung eines syntaktischen Phänomens in verschiedenen Sprachen beitragen: wir haben gesehen, dass die Festsetzung des Dativs als casus absolutus in einigen alten germanischen, slawischen und baltischen Sprachen vom Gebrauch des Dativs beim non-canonical subject marking begünstigt - nicht verursacht - worden sein könnte, was in diesen Gebieten häufiger ist als im Lateinischen, Altgriechischen, Hethitischen oder Vedischen (§§ 3.5, 4.5.4.2). 7.2.3 Zwischen Formalismus und Funktionalismus: Implikationsskalen Die Systematizität syntaktischer Phänomene haben wir vermittels einiger Implikationsskalen dargestellt. Einige haben wir selber hier vorgeschlagen, so bezüglich der Entwicklungswahrscheinlichkeiten der geschlossenen Kategorien von Konjunktionen über Adpositionen zu Artikeln (§ 2.4), der Markierung des Experiens vom Dativ über den Akkusativ zum Genitiv (§ 3.7.2), der Adjunkt-Strukturen von dativus commodi/ incommodi über dativus sympatheticus und dativus ethicus zum dativus iudicantis (§ 4.3.3), der möglichen Auslöser der OSV-Wortfolge von Kontrast über Diskontinuität zu kataphorischer Persistenz (§ 5.4). Andere Implikationsskalen 454 <?page no="455"?> haben wir von den Befunden der Sprachtypologie übernommen und auf die Daten der alten idg. Sprachen angewendet, wie im Fall der complement deranking hierarchy der Satzverbindung, wobei diejenigen Ergänzungssätze, die von einem semantischen Standpunkt aus (in Bezug auf Argumente, Zeitreferenz und Kontrolle) eine engere Verknüpfung mit ihrem Hauptsatz haben, auch syntaktisch enger verbunden sind (§ 4.5.3.1). Implikationsskalen sind hier aber nur als Beschreibungen und nicht als Erklärungen der jeweiligen syntaktischen Phänomene gemeint, und sie müssen nicht unbedingt auf direkte Systemzusammenhänge verweisen, sondern können auch indirekt begründet sein und andere mögliche Erklärungen diachroner Natur einschließen. Z. B. haben wir den Verfall der freien Dative mit der diachronen Entwicklung zu einer zunehmend hierarchischeren Repräsentation der syntaktischen Relationen erklärt (§ 4.3.3). Die Identifizierung von Implikationsskalen, die seit Greenberg (1966) in der Typologie üblicherweise benutzt werden, zeigt auch, wie der Bezug auf ein sprachliches System mit dem funktionalistischen Ansatz nicht inkompatibel ist, und dass ein Dialog zwischen Formalismus und Funktionalismus wohl möglich ist. Wir sind überzeugt, dass sowohl Universalien wie auch Diachronie für die Gestaltung einer Sprache verantwortlich sind, wenn auch nicht in denselben Bereichen (§ 6.4.1) und nicht in gleichem Maße. Daher stehen wir dem Funktionalismus und der Sprachtypologie näher als dem Formalismus. 7.2.4 Aus dem funktional-typologischen Ansatz: Diachronie, Gebrauch, Varietät Für die Beschreibung der alten idg. Sprachen eignet sich das Interesse des Funktionalismus sowohl an der Semantik und dem pragmatischen Gebrauch der Formen wie auch an ihrer Geschichte, an der Varietät der Dialekte und der soziolinguistischen Register, an möglichen Entsprechungen in anderen Sprachen. Wir haben z. B. gesehen, dass Bedeutung (indexing function) relevanter ist als Disambiguierung (distinguishing function), um die Kasus-Markierung der alten idg. Sprachen zu erklären (§ 3.3.3). Semantische Faktoren liegen auch der flexiblen Wortfolge dieser Sprachen zu Grunde, z. B. in der Anordnung des belebten Patiens vor dem unbelebten beim σχῆμα καθ’ ὅλον καὶ μέρος oder in der bevorzugten Stellung des Dativs des Empfängers vor dem Akkusativ des Themas bei ditransitiven Verben (§ 5.5). Außerdem wurde hier Wandel wie im Funktionalismus aufgefasst, wobei in der Diachronie die allmähliche Festsetzung einer Konstruktion von Häufigkeit sowie synchroner Konkurrenz zwischen ursprünglich nicht völlig synonymen Varianten herrührt. Der syntaktische Wandel führt in den verschiedenen idg. Sprachen normalerweise von offenen zu geschlossenen Kategorien, von der nicht-kanonischen zur 455 <?page no="456"?> kanonischen Markierung der syntaktischen Funktionen, von einer flachen Syntax, die auf adverbialen Beziehungen beruht, zu einer Hierarchie mit explizit kodierter Ergänzung und Attribution, von angeschlossener zu eingebetteter Satzverbindung, von freier zu fester Wortfolge. Das Verblassen der ursprünglichen semantischen oder pragmatischen Beschränkungen dieser syntaktischen Einheiten, ihre zunehmend abstrakte Funktion und generalisierte Verwendung gehen einher mit der Grammatikalisierung und spiegeln die inhärente Natur der Syntax wider, die durch ihre nur indirekt beobachtbaren Einheiten wie Konstituentenstruktur und Hierarchie für abstrakter gehalten wird als Phonologie und Morphologie (vgl. Moravcsik 2006 a: 25). Das bestätigt das Prinzip der Historiolinguistik, wobei „ The range of possible changes in an entity is inextricably linked with the nature of that entity “ (Janda & Joseph 2003: 4 - 5). Grammatikalisierung haben wir für den relevantesten - wenn auch nicht einzigen - Mechanismus des syntaktischen Wandels in den alten idg. Sprachen gehalten, und wir haben auch einige in der Literatur kontroverse Meinungen dazu diskutiert, und zwar die Frage der Unabhängigkeit der Grammatikalisierung von anderen Arten des Wandels wie Analogie oder Reanalyse, den Gradualismus und insbesondere die Unidirektionalität (§ 6.3.2). Der syntaktische Wandel zeigt allerdings nur a posteriori eine gewisse Direktionalität, während er a priori unvorhersagbar und in fieri sogar unregelmäßig sein kann. Erstens kann sich ein Wandel auch umkehren und gegen die sprachübergreifend übliche Direktionalität verstoßen. Diese Gegenbeispiele können verschiedene Erklärungen haben, die auf interne Faktoren (systemischer oder diachroner Natur) oder externe Faktoren Bezug nehmen, wie auch auf Universalien. Eine interne, sprachspezifische Erklärung haben wir z. B. im außergewöhnlichen Wandel von Partikel zu Verb im Altgriechischen identifiziert (§ 2.6), und eine externe ist ersichtlich an der zunehmenden SOV-Wortfolge und nicht-kanonischen Markierung in den neuindischen Sprachen, die hier ausgeprägter sind als in den alten, und zwar wegen des äußeren Kontakts mit dem Dravidischen (§§ 3.5.2.2, 5.3). Einige generellere Erklärungen haben wir für mehrere in der Literatur berichtete Fälle von Degrammatikalisierung gegeben, die geschlossene Kategorien nicht nur als Quelle, sondern auch als Zielpunkte des Wandels haben, und die besonders in Sprachen mit einer wenig artikulierten fusionalen Morphologie vorkommen (§ 6.3.2.4, 6.3.2.5). Es ist wichtig, die Verstöße gegen die Unidirektionalität anzuerkennen (statt sie einem anderen Bereich als der Grammatikalisierung zuzuschreiben) und nach möglichen Gründen dafür zu suchen. Allerdings darf das Auftreten von Ausnahmen die Identifizierung von generellen Tendenzen und bevorzugten Richtungen des syntaktischen Wandels nicht in Frage stellen. Zweitens: auch wenn der Wandel seiner typologisch gewöhnlichen Richtung folgt, betrifft er innerhalb derselben Kategorie normalerweise 456 <?page no="457"?> verschiedene Lexeme mit unterschiedlicher Häufigkeit und Geschwindigkeit. Im Indogermanischen entwickeln sich im Bereich der syntaktischen Kategorien Nomina und besonders Adverbien häufiger als Verben zu geschlossenen Kategorien (§§ 2.5, 2.6). Innerhalb der syntaktischen Funktionen ändern sich die alten Strukturen mit obliquem Subjekt am häufigsten bei Empfindungsverben und beim prädikativen Besitz, während Witterungsverben nicht-kanonisch kodiert bleiben und Modalverben mit der Zeit ihre nicht-kanonischen Strukturen sogar vermehren (§ 3.4). Sogar bei den Empfindungsprädikaten verläuft der syntaktische Wandel auf unterschiedliche Art und Weise, weil Prädikate negativer Empfindungen wie „ traurig sein “ oder „ krank sein “ die alte oblique Markierung des Experiens länger bewahren als Prädikate positiver Empfindungen wie „ froh sein “ oder „ gesund sein “ (§ 3.5.3). Auch die syntaktische Hierarchie entwickelt sich nicht gleichzeitig für alle Konstituenten: während die PP in den alten idg. Sprachen am frühesten entsteht, werden die NP und die VP später grammatikalisiert (§§ 4.2, 4.3), und das hängt nicht nur mit der späten Entstehung des Auxiliars und des bestimmten Artikels zusammen, die mit dem Verb bzw. dem Nomen die VP und die NP bilden, sondern kann auch in jenen Konfigurationen beobachtet werden, die aus Nomen und Adjektiv, Nomen und Genitiv, Verb und direktem Objekt bestehen. In der NP werden die alten Adjunkt- Strukturen des σχῆμα καθ’ ὅλον καὶ μέρος , des adnominalen Dativs und des possessiven Adjektivs am meisten für den inalienablen Besitz bewahrt (§§ 4.3.2, 4.3.3, 4.3.4). Die angeschlossene Struktur des Korrelativdiptychons wird früher auf Adverbialsätze als auf Ergänzungssätze angewendet, und innerhalb der ersteren früher auf Temporalsätze als auf Konditionalsätze, die auch von einem semantischen Standpunkt aus den Relativkonstruktionen weniger ähnlich sind (§ 4.5.2). Eine unterschiedliche Festsetzung ist auch in der Wortfolge sichtbar: die lineare Anordnung vom Subjekt und direkten Objekt wird früher grammatikalisiert als die vom direkten Objekt und Verb, während die Adjazenz der Glieder einer einzelnen Phrase und besonders die überkategoriale Konsistenz der verschiedenen Phrasen in harmonischen Serialisierungen noch später - und auch dann nicht immer - vorkommen (§ 5.5). Daraus ergibt sich, dass die bedeutsamsten Einheiten wie Nomen und Verb auch am längsten ihre kategoriale, funktionale und lineare Unabhängigkeit behalten und deswegen der Reanalyse oder der festen Bildung einer Wortgruppe am längsten widerstehen, während Einheiten wie Präpositionen oder Konjunktionen, die eine weniger konkrete Bedeutung oder einen geringen referentiellen Wert haben, am frühesten in einer Konfiguration eingeschlossen werden. Die somit festzustellenden unterschiedlichen Verläufe des Wandels, welche ursprünglich die semantischen Beschränkungen der jeweiligen Lexeme ausdrücken, lassen m. E. die Annahmen von Kroch 457 <?page no="458"?> (1989), Taylor (1994) und Pintzuk (2002) bezüglich einer gleichmäßigen Geschwindigkeit des Wandels für die alten idg. Sprachen als unhaltbar erscheinen. 7.3 Intermezzo: Abklärung einiger syntaktischer Prinzipien Eine Diskussion über den syntaktischen Wandel setzt Begriffe wie Einfachheit und Komplexität voraus, was in einigen traditionelleren Kreisen der Indogermanistik manchmal Abneigung gegen evolutionäre Annahmen in Darwins Sinne hinsichtlich der alten Sprachen erweckt, und zwar aus zwei Hauptgründen. Erstens wird behauptet, die alten Sprachen seien nicht einfacher als die modernen, sondern nach der Uniformitaristischen Hypothese alle gleich in ihrer Komplexität, und letztendlich sei Komplexität selber ein subjektives und fragliches Argument. Zweitens seien die Verfasser der ältesten idg. Texte wie des Rig-Veda oder der Ilias hochgeschickte Dichter gewesen, die einen durchdachten, auf keine Weise naiven Gebrauch ihrer Sprache sowohl im Wortschatz als auch in der Grammatik belegen. Mit einigen dieser Behauptungen bin ich auch einverstanden (über die letztere siehe unten in § 7.4.5); oft rühren jedoch solche Reaktionen von Missverständnissen her, in einigen Fällen auch von einer ungenügenden Kenntnis des aktuellen Forschungsstandes zur diachronen Syntax. Daher müssen wir kurz bei diesem Punkt verweilen, um klarzumachen, was wir in dieser Arbeit unter Entwicklung und Komplexität verstehen, und was im Rahmen des Funktionalismus und der Sprachtypologie heutzutage darüber angenommen wird. Einfachheit und Komplexität betreffen Strukturen einer Sprache, und nicht Sprachen als ganze, und von diesem Standpunkt aus können sie mit einer gewissen Rationalität auch bemessen werden, ohne dabei irgendein qualitatives Urteil im Sinne einer Vollkommenheit abzugeben: eine Struktur X ist komplexer als eine Struktur Y, wenn X aus mehr Teilen oder Merkmalen als Y besteht (syntagmatic complexity nach Sinnemäki 2011), was in verschiedenen linguistischen Bereichen gelten kann. In der Phonologie ist z. B. ein aspirierter Plosiv komplexer als ein nicht-aspirierter. In der Morphologie ist eine Deklination mit vielen verschiedenen Kasus komplexer als eine mit weniger Kasus. In der Syntax wird ein von einem expliziten Konnektor eingeleiteter Satz für komplexer gehalten als ein asyndetischer Nexus. In der Semantik ist ein polysemisches Wort komplexer als ein monosemisches usw. (vgl. Nettle1995; Fen-Oczlon & Fenk 1999; Wichmann et al. 2011). Das bedeutet natürlich nicht, dass die Komplexität einer Struktur immer unproblematisch zu bestimmen ist. Erstens ist der Unterschied zwischen 458 <?page no="459"?> einfachen und komplexen Konstruktionen nicht als feste Grenze, sondern als Kontinuum zu verstehen. Zweitens kann der Begriff der Komplexität nicht auf alle Konstruktionen angewendet werden: so z. B. nicht auf unterschiedliche Wortfolgen wie SVO, SOV oder VSO, die aus derselben Anzahl syntaktischer Konstituenten bestehen. In diesem Fall ist das Kriterium der Unmarkiertheit relevanter, als Häufigkeit gemeint. 255 Drittens können verschiedene Typen von Komplexität vorhanden sein: neben der syntagmatischen identifiziert Sinnemäki (2013) auch eine paradigmatische Komplexität, die statt der Zahl vielmehr die Varietät der bestehenden Teile berücksichtigt (z. B. die Unterschiede in einer grammatischen Kategorie wie Aspekt), eine organisatorische Komplexität, die die gegenseitigen Beziehungen zwischen linguistischen Komponenten betrifft (z. B. phonotaktische Beschränkungen), und eine hierarchische Komplexität im Sinne der Rekursion. Dies alles bedeutet also, dass es formale Kriterien zur Beschreibung mehr oder weniger komplexer Strukturen gibt, wie auch funktionale Erklärungen hinsichtlich Verfahren von Gedächtnis, Aufmerksamkeit, parsing oder soziokultureller Modelle, worüber eine sehr breite Literatur existiert, vgl. Hawkins (1994; 2004), Dahl (2004; 2009 a; 2009 b), Miestamo et al. (2008), Pellegrino et al. (2009), Sampson et al. (2009), Trudgill (2011; 2013). Auf diese Art wird die syntaktische Komplexität üblicherweise auch in der Psycholinguistik (vgl. Traxler & Gernsbacher 2006: 72 ff) und in den Neurowissenschaften gebraucht, um Wahrnehmung, Erlernen oder zerebrale Aktivitäten zu analysieren (vgl. Friederici et al. 1996; Indefrey et. al. 2004; Constable et al. 2004; Meltzer et al. 2010; Friederici 2011). Als konkretes Beispiel für die Bemessung der syntaktischen Komplexität nehme ich Bezug auf die Subordination, mit der ich mich in meinem Buch (2007) mit Fokus auf das Vedische beschäftigt habe. Das Argument, dass die Subordinationsverfahren des frühen Vedischen, wie sie im Rig- Veda belegt sind, syntaktisch einfacher und lockerer sind als die Unterordnung z. B. des Altgriechischen und des Lateinischen, beruht keinesfalls auf der Idee von einem „ mythical golden age of pre-subordination “ , wie Jamison (2010) behauptet, sondern auf einer Reihe genauer syntaktischer Tests, die für die Beschreibung der Unterordnung in vielen idg. und nichtidg. Sprachen benutzt wurden (vgl. Haiman & Thompson 1984; Ch. Lehmann 1984; 1988; Kortmann 1997; Bril 2010; Gast & Diessel 2012), und die - eben auf der Basis der Uniformitaristischen Hypothese - auch auf alte Sprachen wie Vedisch angewendet werden können. Ohne hier auf technische Details einzugehen, kann man sagen, dass von einem syntak- 255 Nichtsdestoweniger wurde bewiesen, dass solche ansonsten gleichfunktionalen syntaktischen Strategien von einem kognitiven Standpunkt aus unterschiedlich komplex sein können; so sei die ergative Ausrichtung komplexer als die Nominativ/ Akkusativ-Ausrichtung (Wang et al. 2009). 459 <?page no="460"?> tischen Standpunkt aus, während zwei koordinierte Sätze auf derselben hierarchischen Ebene stehen, eine Struktur X der Nebensatz einer anderen Struktur Y ist, wenn X und Y zusammen eine endozentrische Konstruktion bilden, wovon Y der Kopf ist. Ein typischer Nebensatz ist eingebettet (embedded), wenn er eine syntaktische Konstituente des Hauptsatzes ist: z. B. hat die Dt. Relativkonstruktion „ mit den Blumen, die du gestern gekauft hast “ die syntaktische Funktion eines Instrumental-Adjunktes im ganzen Satz „ Mit den Blumen, die du gestern gekauft hast, habe ich mein Zimmer dekoriert “ und ist dadurch in diesen Satz eingebettet. Es ist allgemein anerkannt, dass subordinierte und insbesondere eingebettete Sätze wegen ihrer unterschiedlichen Hierarchie im Vergleich zum Hauptsatz syntaktisch komplexere Strukturen sind als koordinierte Sätze (vgl. Dahl 2004: 115). Als solche werden Nebensätze in vielen Sprachen durch einen expliziten Subordinator gekennzeichnet und durch Beschränkungen im Gebrauch der Tempora oder Modi, in den Kasus der Argumente oder in der Wortfolge von Haupt- oder koordinierten Sätzen unterschieden (Cristofaro 2003; Mauri 2008). Nun besteht die in den idg. Sprachen älteste belegte und rekonstruierbare Form der Unterordnung - das oben in § 4.5.1 analysierte „ korrelative Diptychon “ (Minard 1936; Haudry 1973) - aus einem Relativsatz, der im Hauptsatz gerade nicht eingebettet ist, sondern durch ein anaphorisches Pronomen oder Adverb resümiert wird, z. B. „ Die Blumen, die du gestern gekauft hast, mit diesen habe ich mein Zimmer dekoriert “ . Diese „ angeschlossene “ (adjoined) Struktur wird in der Literatur einstimmig als syntaktisch weniger abhängig als ihre eingebettete Entsprechung interpretiert, und formal wird sie auch von ihrem Hauptsatz stärker getrennt als bei der Einbettung (vgl. Lehmann 1984: 122ff; Haiman & Thompson 1988). Derart angeschlossen - mit Resumptivum im Hauptsatz - ist der Relativsatz normalerweise im Vedischen und Hethitischen, in denen Nebensätze bezüglich Tempora im Allgemeinen kaum beschränkt sind (Justus 1976; Hettrich 1988; Luraghi 1990 a; Dahl 2010). 256 Im Lateinischen und Altgriechischen hingegen ist der Relativsatz normalerweise eingebettet (d. h. ohne Resumptivum), und der Gebrauch der Tempora oder Modi der Nebensätze weist in diesen Sprachen wesentliche morphosyntaktische Beschränkungen auf, und zwar die consecutio temporum des Lateinischen (vgl. Touratier 1980) und der optativus obliquus des Altgriechischen (Monteil 1963). Außer- 256 Das ist natürlich im Vedischen, das über mehrere Tempora verfügt, deutlicher als im Hethitischen, das nur Präsens und Präteritum besitzt. Trotzdem sind die Tempora in einer Satzverbindung auch im Hethitischen nicht so streng grammatisch reguliert, wobei ein Hauptsatz mit Präteritum mit einem subordinierten Präsens verknüpft werden kann, nach verschiedenen pragmatischen Funktionen (vgl. Cotticelli Kurras 2001). 460 <?page no="461"?> dem verlangen gewisse Subordinatoren im Lateinischen und Altgriechischen einen bestimmten Modus, was im Vedischen, das sehr reich an Modus ist, nicht der Fall ist. Es ist hierbei ohne Belang, dass das Relativpronomen des Vedischen (yá-) etymologisch verwandt ist mit dem des Altgriechischen ( ὅς ), oder dass Hethitisch und Latein denselben Relativstamm (*k w ó-) gemeinsam haben, weil wir hier nicht über die phonomorphologische Form des Relativpronomens sprechen, sondern über die syntaktische Relativkonstruktion, die in diesen Sprachen eine unterschiedliche hierarchische Strukturierung zeigt. Das hängt nicht nur von der Gattung oder vom Autor ab, denn eine artikulierte Verwendung der oratio indirecta mit consecutio temporum ist schon in Inschriften des Altlateinischen und der sabellischen Sprachen belegt, also vor Ciceros Reden und der klassischen Literatur ( „ tout le cippe d ’ Abella est en style indirect. Et l ’ on y observe une « concordance des temps » semblable à celle du latin “ , Meillet 1928: 66). Auch von einem semantischen Standpunkt aus ist das korrelative Diptychon unabhängiger von seinem Hauptsatz als die typisch eingebetteten Nebensätze. Die letzteren können normalerweise keine eigene „ illokutionäre Rolle “ (illocutionary force) haben, die von der des Hauptsatzes verschieden ist, wobei, wenn z. B. der Hauptsatz ein Deklarativsatz ist, der Nebensatz keine Aufforderung oder interrogative Funktion ausdrücken kann, wie Cristofaro (2003) gezeigt hat. Das kann jedoch im Vedischen passieren, wie z. B. in RV 7.61.2 a-c prá v ā m ̐ sá mitr ā varun · ā v r · t ā ´v ā vípro mánm ā ni d ī rgha ś rúd iyarti / yásya bráhm ā n · i sukrat ū áv ā tha „ Auf euch, Mitra und Varun· a, hebt der wahrhafte redekundige (Sänger) weithin hörbar seine Dichtung an, dessen erbauliche Worte ihr Wohlwollende günstig aufnehmen möget. “ (Übersetzung Geldner 1951: II, 237) Hier wird eine Aussage des Hauptsatzes durch den Indikativ iyarti “ er zutreibt, hebt “ ausgedrückt, während der folgende Relativsatz einen Konjunktiv (áv ā tha „ möget ihr helfen “ ) mit der Funktion einer Bitte und einer auffordernden illokutionären Rolle vorstellt. Obwohl solche „ main clause phenomena in subordinate clauses “ (Green 1976) auch in modernen Sprachen wie im Englischen (zumindest in informellen Registern) vorkommen können, sind sie am Rand der Subordinationsverfahren angesiedelt und werden eben als Konstruktionen interpretiert, die unter normalen Umständen eher Haupt- oder koordinierte Sätze charakterisieren. Im Vedischen hingegen ist die unabhängige illokutionäre Rolle der Nebensätze üblich, besonders bei von den Konnektoren hí, néd und kuvíd eingeleiteten Sätzen, die eine kausale, final-negative bzw. final-interrogative Funktion haben. Diese Strukturen nennt Hettrich (1988: 142 ff) „ Ergänzungssätze “ , weil sie einerseits ihre eigene illokutionäre Rolle unabhängig vom Hauptsatz darstellen, und andererseits die Betonung des Verbs auslösen - was im Vedischen ein typisches Zeichen für Subordination ist. Zu den Ergänzungsätzen rechnet 461 <?page no="462"?> Hettrich (1988: 155 ff) auch Sätze mit Verbalbetonung ohne Subordinator und beweist ausführlich, wie sie einen mittelbaren Status zwischen typischen unabhängigen Sätzen und typischen Nebensätzen haben (S. 190-191). Wir können also anhand von bestimmten und in der Allgemeinen Sprachwissenschaft breit benutzten syntaktischen und semantischen Kriterien wie der Bevorzugung von angeschlossenen statt eingebetteten Verknüpfungen oder der Möglichkeit einer unabhängigen illokutionären Rolle annehmen, dass das im Vedischen und Hethitischen üblicherweise verwendete korrelative Diptychon einem koordinierenden Nexus näher steht als die im Lateinischen und Altgriechischen typische Einbettung (weitere Kriterien wie gapping, hohe temporale Ikonizität, und niedrige backwards control anaphora habe ich in meinem 2007 Buch und in einem i. E. Artikel, betitelt „ Forms and functions of subordination in Indo-European “ , angewendet). Denn auch zwischen Koordination und Subordination besteht ein Kontinuum (vgl. Fabricius-Hansen & Ramm 2008), wobei eine gewisse Struktur mehr oder weniger der ersteren oder der letzteren nahestehen kann, wie auch von Ch. Lehmann (1988) dargelegt. Nur aus dieser Perspektive, die letztendlich mit der Grammatikalisierung zusammenhängt, ist das korrelative Diptychon eine kaum entwickelte oder kaum grammatikalisierte Form der Subordination. Außerdem erscheint die Struktur des korrelativen Diptychons, wie in § 4.5 illustriert, marginal auch im Lateinischen und im klassischen Griechisch, wie auch in germanischen, baltischen und slawischen Sprachen, die in ihren späteren Stufen die Einbettung häufiger verwenden. Damit kann man sagen, dass in der Geschichte des Indogermanischen der Verfall der angeschlossenen Subordination mit seiner typischen syntaktischen Unabhängigkeit festzustellen ist. Wir haben auch gesehen, dass die meisten syntaktischen Konstruktionen, die bei Relativ-, Adverbial- und Kompletivfunktionen zur Anwendung kommen, einen wachsenden Einbettungsgrad aufweisen. Das ist ein sprachübergreifend häufiges Phänomen: zumindest seit Bossongs (1979) bahnbrechender Studie zur Typologie der Subordination ist bekannt, dass Nebensätze oft von einer lockeren zu einer integrierteren syntaktischen Verknüpfung neigen, sowie auch von einem asyndetischen zu einem explizit markierten Nexus. Das bedeutet nicht, dass wir die Entstehung der Subordination im Urindogermanischen ohne Weiteres rekonstruieren können, weil das korrelative Diptychon bereits eine Form der Subordination ist, wie man am satzeinleitenden Relativizer und an der Verbalbetonung des Vedischen erkennen kann. Und im Prinzip könnte das Urindogermanische auch andere und sogar syntaktisch kompliziertere Formen der Unterordnung gehabt haben, die verschollen sind ohne Spuren in den alten idg. Sprachen zu hinterlassen. Die zunehmende Einbettung der idg. Satzverknüpfung ist also lediglich ein ganz normaler syntaktischer Wandel, dessen erste Stufen im Vedischen und Hethitischen besser ersichtlich sind als in anderen idg. Sprachen - und 462 <?page no="463"?> generell haben wir in dieser Arbeit eher die Entwicklung, und nicht die Entstehung eines syntaktischen Phänomens behandelt, z. B. bei der Konfigurationalität. Es kann jedoch relevant sein, dieses Phänomen mit syntaktischen Mechanismen zu vergleichen, die in anderen Sprachen und Sprachstufen berichtet wurden. Wenn man die Entwicklung einer syntaktischen Struktur analysiert, kann man auch den Beitrag einiger Studien zur Sprachentwicklung in anderen Bereichen - und zwar Spracherwerb (sowohl Kindersprache als auch Zweitsprachenerwerb), Aphasie, Pidgin- und Kreolsprachen - berücksichtigen, weil in allen diesen Fällen synchron einfachere oder unmarkierte Strukturen oft am frühesten erscheinen und am spätesten verfallen, während für komplexe oder markierte Strukturen das Gegenteil gilt. Es ist das Verdienst von Talmy Givón (1979), einem der Begründer des funktional-typologischen Ansatzes, die Parallelen zwischen diesen verschiedenen Bereichen hervorgehoben zu haben, worüber heutzutage eine umfangreiche Literatur zur Verfügung steht, sowohl von Givón selber in späteren Publikationen (1995; 2001; 2002; vgl. auch Givón & Malle 2002; Givón & Shibatani 2009) als auch von anderen Forschern im Rahmen des Funktionalismus und der Typologie, die die diachrone Linguistik mit Daten aus der Ontogenese und Phylogenese verbinden (siehe Croft 2000 b; Heine & Kuteva 2007; Fried et al. 2010; Rinke & Kupisch 2011, die auf zahlreiche frühere Publikationen verweisen). Das kann auch für einige Fälle des syntaktischen Wandels in den alten idg. Sprachen gelten. In meinem (2008 a) Artikel in Diachronica habe ich z. B. nachgewiesen, dass eine spezifische subordinierende Struktur des Vedischen (und zwar der Nebensatz charakterisiert durch Verbalbetonung und Relativmarker yá-) häufiger für Funktionen gebraucht wird, die in der Literatur zur Subordination für semantisch unmarkiert gehalten werden. Ein Temporalsatz wird für einfacher gehalten als ein Konzessivsatz, weil der erstere, der ein Ereignis in Bezug auf die Situation des Hauptsatzes loziert, weniger Information als der zweite voraussetzt, welcher das Vorkommen eines unter normalen Umständen nicht vorkommenden Ereignisses bezeichnet; deswegen werden Konzessivsätze im Spracherwerb später erlernt und bei Aphasie früher verloren als Temporalsätze (vgl. Kortmann 1997; Diessel 2004). Bemerkenswerterweise werden in der vedischen Unterordnung konzessive Relationen nicht so oft von hypotaktischen Strukturen ausgedrückt, sondern meistens entweder vom Kontext erfasst oder durch Partizipia kodiert: in einem kontrastiven Kontext findet man im Vedischen die Struktur eines finiten Konzessivsatzes mit dem Relativmarker (in diesem Fall den polymorphemischen Subordinator yác cid dhí) viel seltener als eine Struktur mit konzessivem Partizip. Also habe ich das Prinzip „ ontogeny recapitulates phylogeny “ nur für diese spezifische Struktur des finiten Satzes mit Relativmarker in dieser spezifischen Sprache beigezogen. 463 <?page no="464"?> Die möglichen Beziehungen zwischen Phylogenese und Ontogenese, die bei gewissen linguistischen Strukturen festgestellt werden können, stehen nicht im Gegensatz zur Uniformitaristischen Hypothese. Zum Ersten ist der Uniformitarismus nicht ein Prinzip, das ein für alle Mal bestimmt wurde, sondern das Produkt einer langen linguistischen Debatte, die Janda und Joseph (2003) auch jenseits der historischen Linguistik mit Bezug auf andere Disziplinen wie Biologie und Geologie ausführlich diskutieren. Wie in § 1.4.1 bereits erwähnt, erkennen Janda & Joseph zwar die Stärke der Uniformitaristischen Hypothese für die Rekonstruktion der Vergangenheit an ( „ uniformitarianism [. . .] can be a remarkably powerful and beneficial tool “ , 2003: 37), aber sie argumentieren auch, dass der Uniformitarismus manchmal zu restriktiv ist ( „ but there are certain other senses of uniformitarianism that can turn this principle into a straitjacket which hinders the formulation of reasonable hypotheses about the past and about the why and how of change “ , ib.), weil in der Gegenwart unbelegte Phänomene aus der Vergangenheit nicht unbedingt ausgeschlossen werden können ( „ what is observed in the present can be proposed for the past, but what is not observed in the present cannot simply be banished, ipso facto, from the realm of the possible for the past “ , S. 30). Demgemäß schlagen Janda & Joseph eher ein informational maximalism: „ what we should really strive for, in diachronic pursuits such as historical linguistics, is what could be called ‘ informational maximalism ‘ - that is, the utilization of all reasonable means to extend our knowledge of what might have been going on in the past, even though it is not directly observable. Normally, this will involve a heavy concentration on the immediate present, but it is in fact more realistic just to say that we wish to gain a maximum of information from a maximum of potential sources “ (S. 37). Diese Betrachtungsweise, mit der ich völlig übereinstimme, kann auch mit denjenigen Ansätzen kompatibel sein, die die diachrone Syntax in Verbindung bringen mit anderen Darstellungen der Sprachentwicklung - bei der Kindersprache, der Kreolisierung und den Sprachstörungen (vgl. Haarmann & Kolk 1994). Zum Zweiten ist der Uniformitarismus selber heutzutage nicht immer unumstritten, weil einige Forscher die Ursprünge der Sprache - diesmal als grundlegende menschliche Fähigkeit verstanden - im Vergleich mit den Kommunikationssystemen anderer Lebewesen untersuchen und annehmen, dass die Sprache auf ihren anfänglichen phylogenetischen Stufen weniger komplex war als auf den späteren (vgl. Johansson 2005; Hurford 2012; Tallerman & Gibson 2012). Dementsprechend wird eine mit Darwins natürlicher Selektion und evolutionärer Anpassung vereinbare gradualistische Hypothese in größerer Zeitskala angenommen, die eine kontinuierliche Entwicklung in den Kommunikationsstrategien von elementaren zu fortgeschrittenen Lebewesen und weiter bis zum Menschen voraussetzt (Tomasello 2003). Nach der Saltationshypothese hingegen wird behauptet, dass die menschliche Sprache durch eine Makromutation beim Übergang 464 <?page no="465"?> zwischen homo erectus und homo sapiens entstand, bei dem die menschliche Sprache ganz anders als die Tiersprachen einzigartige Merkmale wie die Rekursivität nach Chomsky (2002) erworben habe. Heine & Kuteva (2007), die solche gegensätzlichen Annahmen ausdiskutieren (S. 338 ff), plädieren für die gradualistische Hypothese und postulieren für die Sprachentwicklung unterschiedliche „ Schichten “ (layers) zunehmender Komplexität, von einer anfänglichen Stufe, in der Nomina in one-word utterances vorkamen, bis hin zu später elaborierten Markern für Kongruenz, Passiv oder Subordination (2007: 298 ff). Grundsätzlich stehen Funktionalisten und Typologen der gradualistischen Hypothese näher als der Saltationshypothese, welche hingegen bei Generativisten beliebter ist. Dazu möchten wir nicht Stellung nehmen, weil unsere Rekonstruktion schon geformte Sprachen, mit bestimmten genetischen Beziehungen und vollentwickelten lexikalischen und grammatischen Komponenten voraussetzt: in dieser Arbeit haben wir uns daher auf das späte Urindogermanisch fokussiert. Doch wer sich mit Problemen des Sprachwandels und der Sprachrekonstruktion beschäftigt - selbst bei Skepsis hinsichtlich der Beziehung zwischen syntaktischem Wandel, Phylogenese, Ontogenese, Aphasie, Kreolistik usw. - kann diese Diskussion nicht einfach ignorieren, weil sie aktuell eine etablierte Forschungstradition hat. 7.4 Motive einer syntaktischen Rekonstruktion 7.4.1 Ursprüngliche und natürliche syntaktische Variation Die Hypothese, dass das System sich in der Diachronie der alten idg. Sprachen entwickelt, bedeutet zwar, dass eine Tendenz zur Homogenität des Systems angenommen werden kann, ähnlich wie im Generativismus. Aber wie in § 6.4.2 diskutiert, erscheint diese Tendenz später, nicht am Anfang eines syntaktischen Wandels, und ist deswegen wahrscheinlich nicht angeboren, sondern durch kognitive Faktoren wie Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Bearbeitung bedingt. Wir haben gezeigt, dass die Variation umso größer ist, je mehr man sich den frühesten Sprachstufen des Indogermanischen nähert: die syntaktischen Kategorien sind formal unterschiedlicher und polyfunktionaler als auf den späteren Sprachstufen (§ 2.5), die syntaktischen Funktionen der Argumente werden von mehr Kasus dargestellt (§ 3.2.2), die Rektion ist schwankender (§ 4.3) und die Wortfolge freier (§§ 5.4, 5.5). Das hat die üblicherweise nicht anerkannte Folge, dass das Urindogermanische keine konsistente Syntax hatte, sondern dass syntaktische Heterogenität und Variation ursprünglicher sind als bisher angenommen und in die Rekonstruktion einfließen sollten. 465 <?page no="466"?> Die Hypothesen vom Urindogermanischen als einer ursprünglich konsistenten aktiv-stativen, topikprominenten, nicht-konfigurationellen oder SOV-Sprache müssen schon für fragwürdig gehalten werden, wenn man bedenkt, dass erstens für solche Rekonstruktionen die Modelle von Sprachen herangezogen werden, die in der Grammatik sehr unterschiedlich sind: das Urindogermanische hätte von einem Standpunkt aus die aktivstative Ausrichtung der Sioux-Sprachen (§ 3.8), von einem anderen Standpunkt aus die Topik-Prominenz der sinotibetischen Sprachen (§ 3.2.1) und von noch einem anderen Standpunkt aus die Nicht-Konfigurationalität der Pama-Nyungan-Sprachen (§§ 4.1, 4.2) oder die Wortfolge wie im Altaischen und Japanischen (§ 5.2.2). Zweitens wird die Annahme der syntaktischen Konsistenz selbst in der aktuellen typologischen Forschungstradition aufgegeben (vgl. Comrie 2001: 26; Pensalfini 2004), sodass man sie auch für das Urindogermanische nicht erwarten sollte. Wir haben auch gesehen, dass man eine scheinbar idiosynkratische Struktur der alten idg. Sprachen nicht an die Mehrheit der anderen Sprachen anpassen sollte. Synchrone Anomalien wie die nicht-kanonische Markierung oder die OS-Wortfolgen sind also zwar Relikte eines älteren Zustands, aber wir dürfen nicht ein syntaktisches System rekonstruieren, in dem sie regelmässiger gewesen wären. Die Bedeutung der syntaktischen Anomalien für die Rekonstruktion besteht eher darin, dass sie normalerweise die ursprüngliche Funktion noch transparenter als die produktiven Muster zeigen, in der Syntax wie in der Morphologie (vgl. Benveniste 1935: 3; Joseph 2001 b: 353; 369). So erscheint die Spezifizität der semantischen Rollen besser in der nicht-kanonischen als in der kanonischen Markierung der syntaktischen Funktionen (§§ 3.3.3, 3.7.1), und die unterschiedliche Prominenz des Subjekts und des direkten Objekts besser in OS-Wortfolgen (§§ 5.4, 5.5). Wir haben auch gesehen, dass synchron marginale und semantisch transparente Strukturen nicht notwendigerweise alt und ursprünglich sein müssen, weil sie in der Geschichte einer Sprache auch erneuert werden können, wie im Fall der Topikalisierungen vom Lateinischen zum Romanischen (§ 3.2.1). Deswegen ist es sehr wichtig, dass man seine Schlussfolgerungen auf jeweils bestimmte Konstruktionen beschränkt, auch wenn man das ganze System einer Sprache im Auge hat. Einige hier für das Urindogermanische rekonstruierte Strukturen sind syntaktisch einfacher als auf späteren Sprachstufen, wie die Satzverbindung (§§ 4.5, 7.3), andere sind hingegen komplexer, wie eben die unterschiedliche Markierung der syntaktischen Argumente: man muss dies von Fall zu Fall nach den obengenannten Kriterien bestimmen. Wie LaPolla (2005) schreibt, bringt eine Vereinfachung in einem linguistischen Bereich oft eine Komplizierung in einem anderen Bereich mit sich. 466 <?page no="467"?> 7.4.2 Rekonstruktive Praxis der syntaktischen Variation Die große syntaktische Variation, die man auf den ältesten Sprachstufen der alten idg. Sprachen findet, wirft ein Licht auf das heikle Problem, wie man unvereinbare oder auch fehlende Strukturen rekonstruieren soll (§§ 6.2.2, 6.2.3). In den meisten Fällen negativer Beweise muss man einfach eine suspension du jugement anwenden, weil die Abwesenheit einer Struktur im beschränkten Korpus einer toten Sprache im Prinzip nicht ausschließt, dass eine solche Struktur existierte aber durch Zufall nicht belegt wurde, und weil nicht-übereinstimmende Konstruktionen, die im Diskurs relativ selten vorkommen (wie Passiv in einer Nominativ/ Akkusativ-Sprache und Unterordnung im Vergleich mit Aktiv bzw. Parataxis) auch erneuert werden können. Doch in der Praxis, wenn die Funktion einer Struktur X durch eine alternative Struktur Y produktiv ausgedrückt wird, kann man vermuten, dass die Struktur X in der Sprache wirklich fehlte, und dass Y ihr unmarkierter Ausdruck war (§ 2.3.2.5). So kann man die Abwesenheit des bestimmten Artikels im Urindogermanischen zu Recht annehmen, weil seine Funktion von Definitheit eher durch die Wortfolge ausgedrückt wurde (§ 2.3.2.3), und man kann ebenso Hilfsverben vom Urindogermanischen ausschließen, weil ihre Funktion von Aspekt und Aktionsart durch die reiche Verbalmorphologie kodiert wurde (§ 2.3.2.4). Finite Ergänzungssätze fehlten wahrscheinlich, weil ihre kompletiven Funktionen normalerweise von der Flexion (bei Modalprädikaten), von der Derivation (wie die Suffixe der Desiderativ- und Manipulativprädikate) oder von nicht-finiten Konstruktionen wie Partizipien und Infinitiven dargestellt wurden (§ 4.5.3). In der sonst so heterogenen morphosyntaktischen Wiedergabe der kompletiven Beziehungen haben wir bei den Partizipien der Wahrnehmungsprädikate die größte Übereinstimmung zwischen den verschiedenen alten idg. Sprachen identifiziert. Außerdem haben wir für einen Typ Rekonstruktion plädiert, bei dem interne und externe Mechanismen des Wandels nicht getrennt behandelt werden, sondern im Zusammenspiel miteinander im Sinne von Heine & Kutevas (2003) contact-induced grammaticalization. Wo immer möglich, haben wir Kontaktfaktoren miteinbezogen und gesehen, dass ein intern motiviertes Phänomen bei den syntaktischen Kategorien, der Argumentkodierung oder der Wortfolge oft vom äußeren Kontakt verstärkt wird (§§ 2.7, 3.3.2, 5.3). Kontaktfaktoren sind per definitionem von den Verfahren der vergleichenden Methode ausgeschlossen (vgl. Meillet 1925), und traditionell wurden Schleichers (1861) Stammbaum und Schmidts (1872) Wellentheorie gegenübergestellt. Da aber Sprachen sich normalerweise nicht isoliert entwickeln, und da der Kontakt mit anderen Sprachen auf dem Makrolevel oft nach ähnlichen Prinzipien wie der Kontakt mit anderen Dialekten oder Soziolekten auf dem Mikrolevel dargestellt wird, deren 467 <?page no="468"?> Variation bei jeder Sprache deutlich ist (Chambers et al. 2002), kann der Ausschluss äußerer Mechanismen von der Rekonstruktion das Verständnis des Sprachwandels erschweren ( „ language contact is a part of the development of all languages, and so we cannot treat internal language change independently from changes influenced by language contact “ , LaPolla 2009: 227; vgl. auch Weinreich 1977; Thomason & Kaufmann 1988; Dorian 1993; Aikhenvald & Dixon 2001 a; Thomason 2001; Heine & Kuteva 2003; 2005; Matras 2009; Ansaldo 2013; Bakker & Matras 2013). Dazu könnten einige alte idg. Sprachen dank ihrer multilingualen und multidialektalen Gesellschaften in hohem Maße relevant sein. Beweise einer weitverbreiteten Mehrsprachigkeit waren nicht nur auf Sprachbünde wie Indien oder den Nahen Osten beschränkt, sondern betrafen das ganze Mittelmeer und sogar das zentralistische römische Reich (vgl. Adams 2003; Meiser & Hackstein 2005). Wie bereits in § 6.3.1 erklärt, wurde die im Rahmen dieser Arbeit bestehende größere Gewichtung des internen syntaktischen Wandels gegenüber dem extern motivierten syntaktischen Wandel bloß aus praktischen Gründen vorgenommen, weil die Berücksichtigung außerlinguistischer Faktoren unser Thema gesprengt haben würde. Diachrone und areale sowie Gattungsfaktoren haben wir jedoch z. B. in Bezug auf die uridg. Wortfolge diskutiert (§ 5.3). Aus denselben praktischen Gründen haben wir hier übersetzte Texte weniger als Originaltexte behandelt, da die ersteren mehr Variablen voraussetzen. Wenn wir aber Übersetzungen berücksichtigen mussten, z. B. im Fall der Nullobjekte des klassischen Armenisch (§ 4.2.1) oder der absoluten Konstruktionen des Gotischen und des Altkirchenslawischen (§ 4.5.4.2), haben wir gesehen, dass es nicht um eine sklavische Wiedergabe geht, sondern dass die Übersetzung auch genuine Ausdrücke ihrer eigenen Sprache widerspiegelt, manchmal sogar wenn wortwörtliche Konstruktionen verfügbar gewesen wären. Auch in diesem Fall wäre eine Anwendung der Methoden der kontrastiven Linguistik und der Übersetzungstheorie (vgl. Eco 1979; 2003; Gentzler 2001; Stolze 2005) vielversprechend. 7.4.3 Zu einer Untersuchung syntaktischer Isoglossen im Indogermanischen Einen Beitrag zur Höhergewichtung der Prinzipien der Arealität und des linguistischen Kontakts in der Praxis der Historiolinguistik haben wir mit der Postulierung einiger syntaktischer Isoglossen - in Bezug auf Empfindungsprädikate - gegeben, die in den alten idg. Sprachen ein ziemlich unerforschtes Feld sind. Während das non-canonical subject marking des primären Satzarguments durch einen Obliquus vor allem im Norden und Westen des alten idg. Areals (Keltisch, Germanisch, Baltisch, Slawisch) erscheint, drücken südliche und östliche idg. Sprachen wie Altgriechisch, 468 <?page no="469"?> klassisches Armenisch, Altindisch, Hethitisch und Tocharisch die geringe Agentivität des Experiens häufiger am Verb durch das Medium wie auch durch Denominalia und andere abgeleitete Verbalbildungen aus (§ 3.5). Diese nominalen und verbalen Ausdrücke niedriger Transitivität schließen sich natürlich gegenseitig nicht aus. Denn die nicht-kanonische Markierung ist ein altes Merkmal des Urindogermanischen, das mehr oder weniger residual auch im südöstlichen Bereich auftaucht. Außerdem können auch die nordwestlichen Sprachen Medialformen und suffixale Ableitungen gebrauchen, um ein niedriges Niveau der Transitivität auszudrücken, demgemäß nominale und verbale Kodierung auch redundant verwendet werden. Wir sprechen hier nur über produktive syntaktische Muster, wobei dieselbe physische oder psychische Erfahrung in gewissen Sprachen durch ein Nominativ-Experiens und in anderen durch einen Obliquus am häufigsten wiedergegeben wird. Solche Muster, die in den modernen Sprachen Europas identifiziert wurden (vgl. Bossong 1997 b), können wir auch für das alte Indogermanische untersuchen. Die Isoglosse der Argumentmarkierung kann zwei Punkte von Interesse aufweisen. Zum Ersten unterscheidet sich die hier identifizierte Verteilung der alten idg. Sprachen nach Norden und Westen einerseits bzw. nach Süden und Osten andererseits von der Verteilung der modernen (idg. und nicht-idg.) Sprachen Europas, für die Bossong ein Überwiegen der kanonischen Markierung im Zentrum und der nicht-kanonischen am Rand festgestellt hat. Das veranschaulicht, wie die Verteilung der Isoglossen und der sprachlichen Areale wie auch der Sprachbünde sich mit der Zeit ändert, weshalb diachrone und diatopische Perspektiven ins Spiel gebracht werden müssen. Zum Zweiten stimmt die syntaktische Isoglosse der Argumentmarkierung in den alten idg. Sprachen im Großen und Ganzen mit denjenigen arealen Beschreibungen überein, die traditionell für Phonologie, Morphologie und Wortschatz anerkannt werden. Wir haben in § 3.5.2.3 gesehen, dass Meillet (1928) das Lateinische bezüglich vieler phonetischer und morphologischer Merkmale eher mit dem Germanischen und Keltischen auf eine Stufe stellte als mit dem Altgriechischen, welches hingegen mit dem klassischen Armenisch und mit dem Vedisch zahlreiche Gemeinsamkeiten hatte. Man könnte also untersuchen, ob diese räumliche Verteilung auch für andere syntaktische Phänomene als die Argumentkodierung gilt. Damit meinen wir nicht, dass man auch die im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jh. vorgeschlagenen Erklärungen für solche Gemeinsamkeiten akzeptieren muss: Meillet führte sie auf den zwischen dem Urindogermanischen und den jeweiligen Sprachen mittelbaren Knoten des Italokeltischen zurück, was heutzutage abgelehnt wird. Derartige Gemeinsamkeiten lassen sich eher durch Kontaktfaktoren - und insbesondere durch Adstrat - erklären. 469 <?page no="470"?> 7.4.4 Syntaktische Strukturen in alten und modernen idg. Sprachen Natürlich sind die alten idg. Sprachen nicht auf allen syntaktischen Gebieten - Kategorien, Funktionen, Hierarchie und Linearität - gleich grammatikalisiert. So ist das Altgriechische wahrscheinlich diejenige alte idg. Sprache, die hinsichtlich geschlossener Kategorien, kanonischer Strukturen und hierarchischer Organisation des Satzes am weitesten vorangeschritten ist. Aber in seiner extrem flexiblen Wortfolge ist das Altgriechische auch eine derjenigen alten idg. Sprachen, die am wenigsten auf die ursprünglichen semantischen und pragmatischen Funktionen der Linearität verzichtet hat (§§ 2.2.1, 2.5, 3.5.2.2, 4.2.3, 4.4.3, 5.3, 5.4). Das Altisländische ist fortgeschritten in der Entwicklung geschlossener Kategorien, analytischer Konstruktionen, der Phrase und der Einbettung, und auch seine Wortfolge mit der früh belegten Bevorzugung der zweiten Stellung ist fester als in anderen alten idg. Sprachen. In der Markierung der syntaktischen Funktionen hingegen wie auch im Gebrauch der Nullobjekte ist das Altisländische sehr konservativ (§§ 2.3.2.2, 2.3.2.4, 2.4, 3.3.2.3, 3.4.2, 3.5.1, 3.5.2.1, 3.7.2, 4.2.1, 4.4.3, 4.5.3.1, 5.3). Indem sie den verschiedenen Bedürfnissen der Ökonomie und der Deutlichkeit entgegenkommt, die der Regelmäßigkeit bzw. der Redundanz zugrunde liegen, kann sich jede Sprache unabhängig von der Festsetzung der verschiedenen syntaktischen Einheiten immer Raum für Expressivität bewahren: für das Altgriechische ist dies vor allem die Wortfolge, für das Altisländische ist es vor allem die nicht-kanonische Markierung. Im Allgemeinen ist die Syntax der alten idg. Sprachen wegen der geringen Grammatikalisierung ihrer basischen syntaktischen Einheiten sehr verschieden von der der modernen idg. Sprachen und vom Standard Average European, in denen die geschlossenen Kategorien hoch entwickelt, die syntaktischen Funktionen normalerweise kanonisch markiert und die Einbettung in Phrase und Satz sowie die Wortfolge meistens etabliert sind. Diese Situation findet oft die ersten Vorläufer im klassischen Griechisch und - in geringerem Maße - im Lateinischen, zwei Verkehrssprachen der Antike (§§ 2.5, 3.5.2.2, 4.4.3, 4.5.3.2). In Bezug auf viele syntaktische Phänomene stehen die alten idg. Sprachen eher einigen nicht-idg. Sprachen näher, die durch neuere typologische Studien zugänglich gemacht wurden. Wir haben viele Beispiele von nicht-idg. Sprachen gesehen, in denen Präpositionen oder Konjunktionen kaum grammatikalisiert sind und durch Adverbien bzw. Asyndeton ersetzt werden, in denen bei geringer Transitivität eine nicht-kanonische Markierung der syntaktischen Funktionen verwendet wird, oder die üblicherweise Nullobjekte und freie Wortfolge zeigen. Oft ist es so, dass man in einer lebenden Sprache den Gebrauch einer Konstruktion besser beobachten kann, während sie in den alten idg. Sprachen nur lückenhaft und residual ist oder als Redefigur dem Bereich 470 <?page no="471"?> der Stilistik zugeschrieben wird, wie im Fall des Hyperbatons, der Ellipse, des casus pendens und verschiedener Anakolutha (§§ 3.2.1, 4.2.1, 4.2.2, 4.2.3). Der Vergleich mit den heute gesprochenen Sprachen kann uns die Abwesenheit von Muttersprachlern der alten idg. Sprachen, wenn auch nur teilweise, ersetzen. 7.4.5 Mündliche Merkmale der alten idg. Syntax Die formalen Ähnlichkeiten zwischen den alten idg. Sprachen und vielen hier erwähnten nicht-idg. Sprachen bestehen meistens darin, dass die semantischen und pragmatischen Faktoren der Belebtheit und Topikalität einen großen Einfluss auf die Grammatik hatten, was auch mit ihrem gemeinsamen, grundsätzlich mündlichen Kommunikationssystem zusammenhängt. Obwohl sie uns nur durch geschriebene Texte überliefert sind, spiegeln die alten idg. Sprachen oft eine alte orale Tradition wider, wie man an den vedischen Hymnen, den homerischen Epen oder den nordischen und irischen Sagen sehen kann, und auch viele Werke, die einem bestimmten Autor zugeschrieben werden, wie z. B. Herodots Geschichte, Platons Dialoge oder Wulfilas Übersetzung des Evangeliums, waren für einen oralen Anlass konzipiert, der gewissermaßen auch ihre syntaktische Gestalt beeinflusst hat. Es ist bekannt, dass das orale Register eine lockere und parataktische Satzverbindung bevorzugt, und dass auch die Ellipse und der Bezug auf den außersprachlichen Kontext in der gesprochenen Sprache wichtiger ist als in der geschriebenen (vgl. Kroll 1977; Akinnaso 1982; Chafe 1985; 1987; 1994). Auf dieselbe Weise können wir anhand der strukturellen Unterschiede zwischen geschriebener und gesprochener Sprache mehrere formale Verschiedenheiten zwischen alten und modernen idg. Sprachen erklären, wobei letztere oft eine geschriebene und standardisierte Tradition voraussetzen. Natürlich ist der Bezug auf die orale Tradition nicht die einzige Erklärung für den syntaktischen Unterschied zwischen den alten idg. Sprachen und dem Standard Average European (wie auch für die Ähnlichkeit zwischen dem alten Indogermanischen und vielen meistens mündlich überlieferten nicht-idg. Sprachen), welcher oft auf bloß strukturellen Merkmalen beruht. So hatten die alten idg. Sprachen zwar häufig topikalisierte Strukturen von nominativus pendens, die öfter in der gesprochenen Sprache vorkommen, aber die syntaktische Funktion des Subjekts war im Urindogermanischen schon ausgeprägt anders als z. B. im Sinotibetischen, wie die coding properties der verbalen Kongruenz zeigen (§§ 3.2.1, 3.4.2). Oralität ist also nur einer der hier involvierten Faktoren, die jedoch nicht nur als Hintergrund der Formularität wie bei Parry (1971) und Lord (1991) behandelt werden darf, sondern auch in Bezug auf moderne Theorien diachroner Pragmatik (vgl. Jucker & Taavitsainen 2013) gesehen werden 471 <?page no="472"?> muss. Da Strukturen nicht in einem vacuum benutzt werden, ist es wichtig, den breiten linguistischen wie auch außerlinguistischen Kontext zu berücksichtigen. Viele oben beschriebene Unterschiede in der Strukturierung des Satzes zwischen alten und modernen idg. Sprachen können z. B. nach Givón (1979: 223) als Gegensatz zwischen pragmatic mode und syntactic mode begriffen werden. Während im letzteren die Information verdichtet ist, hat der Satz im ersteren eine topic-comment-Organisierung und zeigt etwa ein 1: 1-Verhältnis von Nomina und Verben im Diskurs. Dies alles steht nicht im Widerspruch zum oben erwähnten Argument, dass die Verfasser der ältesten Texte der idg. Sprachen sachkundige Autoren waren, die ihr Material auf raffinierte Weise verarbeitet haben. Denn die Idee einer irgendwie ungeordneten gesprochenen Sprache ist heutzutage obsolet und spiegelt eine veraltete Sicht wider, die der geschriebenen Sprache den Vorrang einräumte. In den modernen Studien zur Pragmatik und Diskursanalyse wurde hingegen aufgezeigt, dass auch ein informelles Gespräch eine ausgeprägte innere Kohärenz darstellen kann, wobei der Sprecher präzise Strategien der Intonation, der Anaphora, der Diskursmarker oder der Wortfolge geschickt benutzt, um verschiedene Informationsstrukturen dem Kontext kontinuierlich anzupassen und dadurch die Interaktion mit dem Angesprochenen zu optimieren (vgl. Couper-Kuhlen 2003; Martin 2003; Norrick 2003; Schiffrin 2003; Ward & Birner 2003; Horn & Ward 2008; Sidnell & Stivers 2012). Wenn man die linguistischen Raffinessen der alten idg. Texte beurteilt, darf man jedoch nicht Syntax mit Stil verwechseln, weil diese nur in kleinem Umfang überlappen - obwohl sie natürlich eine Beziehung miteinander haben (und deswegen von einigen Grammatiken nicht ohne Grund zusammen behandelt werden). Z. B. diskutiert Wackernagel in seinem (1953) posthum erschienenen Artikel über die idg. Dichtersprache vier grundsätzliche Themen, und zwar das Augment, die metrische Form, die Wortstellung und die Wortwahl; davon betrifft nur eines die Syntax, nämlich die Wortstellung. Schmitts (1967) klassische Monographie behandelt Leitmotive der idg. Helden-, Götter- und Zauberdichtung, die durch phraseologische Ausdrücke wie Ved. ś rávo áks · itam, Altgr. κλέος ἄφθιτον „ unverwelklicher Ruhm “ kodiert werden, und auch die meisten Aufsätze bei Schmitt (1968) sind lexikalischen wie auch metrischen Phänomenen gewidmet. Diese Themen wurden in Watkins (1995) meisterhaftem How to kill a dragon weiterverfolgt und in mehr idg. Sprachen untersucht. Sein Buch will die uridg. Dichtersprache durch Anwendung der vergleichenden Methode rekonstruieren - und zu Recht, weil idiomatische Strukturen auf dieselbe Weise wie Lexeme verglichen und rekonstruiert werden können. Watkins zeigt, wie die alten Dichter ihren Wortschatz mit Rücksicht sowohl auf die evokative Kraft der Laute als auch auf ihre polysemischen Möglichkeiten sorgfältig auswählten (vgl. auch Versnel 2002), 472 <?page no="473"?> und wie Entsprechungen zwischen Ved. áhann áhim und Altgr. κτεῖνε ὄφιν , die in verschiedenen Varianten in so vielen alten idg. Sprachen belegt sind, auf zentrale Themen der uridg. Weltanschauung verweisen. Diese (sehr interessante) Rekonstruktion ist aber etwas anderes als eine bloß syntaktische Analyse wie in dieser Arbeit, da wir nicht formelhafte Ausdrücke betrachtet haben, sondern syntaktische Muster im Sinne von Harris & Campbell (1995), vgl. §§ 6.2.2, 6.2.3. Und auch dann, wenn wir dasselbe syntaktische Phänomen - z. B. Wortfolge oder Ellipse - wie in der Tradition der Stilistik und Dichtersprache betrachten, haben wir hier andere Ziele, die die idg. Weltanschauung nicht einschließen. Deswegen haben Begriffe wie Komplexität und Einfachheit in einer syntaktischen Analyse eine ganz andere Bedeutung als in einer Studie über Stilistik und Dichtersprache, und werden wie oben gesagt auch durch andere Kriterien bestimmt. 7.4.6 Relevanz der alten idg. Sprachen für die moderne syntaktische Theorie In einem interdisziplinären Dialog kann auch die synchrone Sprachwissenschaft von der Berücksichtigung der alten idg. Sprachen mit ihrer langen Überlieferung profitieren, und zwar zumindest in zwei Punkten. Erstens ist die semantische oder pragmatische Motivierung einer syntaktischen Konstruktion oft deutlicher in ihren ältesten Stufen. Auch wenn z. B. die Wortfolge der Hauptkonstituenten in den modernen idg. Sprachen immer noch eine gewisse Flexibilität hat, ist die Anordnung ihrer Glieder in einer NP meistens fest. In den alten idg. Sprachen hingegen konnte auch die NP unterschiedliche lineare Möglichkeiten zeigen, die von ähnlichen pragmatischen Prinzipien wie die Konstituenten des Satzes bedingt waren (§ 5.5). Zweitens: syntaktische Einheiten und Prinzipien, die für die Beschreibung der Grammatik einer Sprache normalerweise synchron auf derselben Ebene angesiedelt werden, wie in der Argumentkodierung das non-canonical subject marking und non-canonical object marking (§§ 3.3.2.2.1, 3.3.3), in der Rektion Ergänzungen und Adjunkte (§ 4.3), in der Modifikation attributive, prädikative und adverbiale Adjektive wie auch Adjektive mit intensionaler und extensionaler Funktion (§ 4.4), werden durch eine explizite Struktur kodiert oder erreichen Produktivität und Regelmäßigkeit in verschiedenen diachronen Sprachstufen der idg. Sprachen. So haben wir gesehen, dass auch innerhalb derselben nichtkanonischen Markierung die differenzielle Subjekt- und Objektmarkierung zu unterscheiden und unterschiedlichen chronologischen Phasen zuzuweisen sind: die differenzielle Subjektmarkierung, die im Hethitischen, im Altlateinischen und in anderen alten idg. Sprachen belegt ist, müssen wir für eine frühe Stufe des Indogermanischen rekonstruieren, in dem das Belebtheitskriterium für die Argumentkodierung von genereller Relevanz war. Die differenzielle 473 <?page no="474"?> Objektmarkierung hingegen kommt nur in einigen Sprachen wie etwa dem klassischen Armenisch durch eine monoglottische Neuerung zur Ausbildung und hängt wahrscheinlich mit der Verstärkung der Transitivität zusammen. Die unterschiedlichen Rollen, die üblicherweise symmetrisch behandelte syntaktische Einheiten in der Geschichte des Indogermanischen spielen, beeinflussen auch ihre Behandlung in der grammatischen Tradition: so wurde der Akkusativ von den alten Grammatikern durch und durch für einen casus obliquus gehalten, während er in den Kasustheorien moderner idg. Sprachen, in denen die Transitivität festgesetzter ist als in den alten, oft als struktureller oder abstrakter Kasus neben dem Nominativ behandelt (§ 3.2.2) wird. Das ist ein weiterer Grund, warum m. E. ein typologisch abgestütztes theoretisches Konzept in die Untersuchung der Syntax der alten idg. Sprachen - sowohl in ihrer Variation als auch in ihrem Wandel - einzubringen wäre. 474 <?page no="475"?> Literaturverzeichnis Aartun, K. (1974) Die Partikeln des Ugaritischen. Teil 1., Kevalaer, Butzon & Bercker. Aartun, K. (1978) Die Partikeln des Ugaritischen. Teil 2., Kevalaer, Butzon & Bercker. Abraham, W. (1971) (Hg.) 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In sieben Kapiteln diskutiert die Autorin die syntaktischen Kategorien und Funktionen, die Hierarchie und die Wortfolge des Indogermanischen. Anhand von Fallbeispielen aus dem Lateinischen, Altgriechischen, Vedischen und Hethitischen sowie aus anderen alten indogermanischen Sprachen analysiert sie Probleme der syntaktischen Rekonstruktion und die Mechanismen, die dem syntaktischen Wandel zugrunde liegen. Die Überlegungen alter indischer und griechisch-römischer Grammatiker zur Syntax werden mit einbezogen, um Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen alter und neuer syntaktischer Theorie zu erörtern. Darüber hinaus nimmt der Band für die Erklärung verschiedener syntaktischer Strukturen Bezug auf Prinzipien der Semantik, der Pragmatik, der Informationsstruktur sowie der Kontaktlinguistik, und kann so auch einen Beitrag zu einem interdisziplinären Ansatz für die historische Linguistik leisten.
