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Kontingenz und Literatur im Prozess der Modernisierung

Diagnosen und Umgangsstrategien im britischen Roman des 19.-21. Jahrhunderts

0717
2013
978-3-8233-7801-3
978-3-8233-6801-4
Gunter Narr Verlag 
Stella Butter

Es könnte auch anders sein. Diese Haltung ist prägend für die moderne Welt, in der das Individuum fortwährend zwischen Alternativen bei der Lebensgestaltung wählt. Gleichzeitig wächst das Gefühl von Kontrollverlust angesichts ökologischer Katastrophen und der Eigenlogik von Systemen sowie globalen Prozessen, die sich dem steuernden Zugriff des Subjekts entziehen. Im Mittelpunkt dieser Studie steht die Frage, wie englische Literatur Modernisierungsprozesse und damit verbundene Krisenphänomene reflektiert und welche Umgangsstrategien für individuelles und gesellschaftliches Handeln entworfen werden. Zentrale Analysekategorie ist das Konzept der ,Kontingenz', weil Vorstellungen davon, welche Bereiche der Welt veränderbar sind, das Wirklichkeitsbild einer Gesellschaft strukturieren. Die Studie entwirft ein narratologisches Analysemodell für Ästhetiken der Kontingenz und zeichnet anhand literarischer Fallstudien (u.a. George Eliot, Virginia Woolf, Ian McEwan) Kulturkonflikte um Kontingenzkonzeptionen vom 19. - 21. Jahrhundert nach. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf dem Beitrag des Romans zur Herausbildung neuer Subjekt- und Gemeinschaftsmodelle als Antwort auf diagnostizierte Kontingenzphänomene.

<?page no="0"?> M a n n h e i m e r B e i t r ä g e z u r S p r a c h u n d L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t Stella Butter Kontingenz und Literatur im Prozess der Modernisierung Diagnosen und Umgangsstrategien im britischen Roman des 19.- 21. Jahrhunderts <?page no="1"?> M A NNH E IM E R B E IT R Ä G E Z U R S P R AC H - U ND L IT E R AT U RW I S S E N S C H A F T herausgegeben von CHRISTINE BIERBACH · HANS-PETER ECKER · WERNER KALLMEYER SUSANNE KLEINERT · JOCHEN MECKE ULFRIED REICHARDT · MEINHARD WINKGENS Band 79 <?page no="2"?> Umschlagabbildung: Foto: Martin Jäschke / Quelle: PHOTOCASE Signet: Motiv vom Hals der Oinochoe des ,Mannheimer Malers‘ (Reissmuseum Mannheim, Mitte des 5. Jh. v. Chr.) <?page no="3"?> Stella Butter Kontingenz und Literatur im Prozess der Modernisierung Diagnosen und Umgangsstrategien im britischen Roman des 19.-21. Jahrhunderts <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0175-3169 ISBN 978-3-8233-6801-4 <?page no="5"?> Für Marcus Menzel <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis V ORWORT xiii I. Einleitung: Literatur und Kontingenz 1 II. Entwicklung eines Beschreibungs- und Analysemodells für Ästhetiken der Kontingenz 17 1. Kontingenz als kulturelle Selbstdeutungskategorie: Bedeutungen von Kontingenz 17 1.1 Die ‚systematische Ambivalenz‘ von Kontingenz 19 1.2 Historische Bestimmungen von Kontingenz 31 2. Kontingenz und Modernisierungsprozess 39 2.1 Dimensionen des Modernisierungsprozesses und ihr Bezug zu Kontingenzfacetten 39 2.2 Phasen des Modernisierungsprozesses und Einordnung der literarischen Fallstudien 60 3. Formen und Funktionen von Kontingenzkonzeptionen im Roman: Beschreibungs- und Analysemodell 66 3.1 Funktionen von Erzählliteratur im Prozess der Modernisierung 66 3.2 Kategorien und Leitfragen für die Analyse von Kontingenzdiagnosen und Umgangsstrategien in narrativen Texten 77 3.3 Narrative Strategien zur Visibilisierung von Kontingenz 91 Plot 92 - Zufall 93 - Plotstruktur: geschlossen vs. offen 101 - Möglichkeitshorizont: Aktualität/ Virtualität 103 - Figuren 104 - Zeit 108 - Raum 109 - Erzählen 112 - Metakognitive Strategien 115 - Kritische Metafiktion 116 - Nutzung der Skalierungsparameter 117 <?page no="8"?> III. Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive: Modellinterpretationen zum britischen Roman des 19. - 21. Jahrhunderts 121 1. Das Kasino als Inbegriff moderner Kontingenzkultur: Organische Gemeinschaft und ‚religion of humanity‘ als therapeutischer Gegenentwurf in George Eliots Daniel Deronda (1876) 123 1.1 Kontingenz und Geld: Das Kasino als Emblem der modernen Gesellschaft 126 1.2 Der Kontrastentwurf zur Kasinowelt: Organische Gemeinschaft in Form des Judentums und der Entwurf einer ‚religion of humanity‘ 138 1.3 Die kontingente Subjektivität des Einzelnen: Agency, Gefühlswelten und geschlechtlich markierte Subjektmodelle 152 1.4 Die Instabilität der Kontingenzaufhebungsstrategien: Die generische Hybridität des Romans und die Fissuren der organizistischen Therapie 171 2. Der nihilistische Rückzug in die Ironie als Reaktion auf Widerfahrniskontingenz in der abstrakten Gesellschaft: Joseph Conrads The Secret Agent (1907) 183 2.1 Die abstrakte Gesellschaft als Problemkomplex: Verdinglichung und Isolation 185 2.2 „things do not stand much looking into“: Verlust von Gestaltbarkeitskontingenz in der abstrakten Gesellschaft und die Aporie des impliziten Funktionsmodells 199 3. Neue Praktiken des Selbst und Sensibilisierung für mythische Signaturen als Antwort auf Kontingenzerfahrung Virginia Woolfs Mrs. Dalloway (1925) 215 3.1 Historische Kontingenzerfahrung: Der Erste Weltkrieg 216 3.2 Die soziologische Kontingenzerfahrung in der Metropole und mythische Signaturen: Raum-/ Zeiterfahrung und neue Praktiken des Selbst 229 3.3 Kontingenzbewusstsein und das Problem der Wahl 247 <?page no="9"?> 4. Kontingenzaffirmation als Basis eines ‚guten Lebens‘ in Iris Murdochs Under the Net (1954) 267 4.1 Der Bildungsweg des Pikaros: Die Überwindung von Solipsismus zugunsten einer Akzeptanz von Alterität und Kontingenz 269 4.2 Raumbindung als Kontingenzbewältigungsstrategie in einer sich beschleunigenden Gesellschaft 288 4.3 Kontingenzsensibilisierung und -toleranz durch eine Karnevalisierung von Welt 294 4.4 Die Immanenz der Transzendenz: Kontingenzbewusstsein im Lichte des Guten 302 5. Der Entwurf universeller Gemeinschaft und die Sakralisierung der Lebenswelt als Antwort auf den ‚Crash der Moderne‘: Jon McGregors If Nobody Speaks of Remarkable Things (2002) 311 5.1 Das Ideal universeller Gemeinschaft: Metonymischer Individualismus 312 5.2 Verzauberung und Sakralisierung der Lebenswelt: Die Sensibilisierung für das Partikulare 329 5.3 Blinde Flecken der textuellen Umgangsstrategien mit Kontingenz 339 6. Kontingenz im Zeitalter der Globalisierung: David Mitchells Ghostwritten (1999) 345 6.1 Globalisierungsprozesse in Ghostwritten 348 6.2 Geschichte und Kontingenz 356 6.3 Subjektmodelle und Reaktionsformen auf Kontingenzerfahrung 362 6.4 Kontingenzaffirmation: Vernetztes Denken und der Entwurf einer globalen Menschheitsgemeinschaft 370 <?page no="10"?> 7. Kontingenz, Narrativität und Lebenskunst: Ian McEwans Atonement (2001) 383 7.1 Das Subjekt und Anti-Subjekt der Lebenskunst: Briony Tallis 386 7.2 Literarische Narrativität und Lebenskunst: Die Ausbildung hermeneutischer Kompetenz im Umgang mit Kontingenz 400 7.3 Lebensgeschichte und Literaturgeschichte: Die Bewertung von Brionys Abbitte 412 7.4 Kontingenzvisibilisierung: Die Infragestellung kollektiver Mythen 431 7.5 Die Öffnung der Vergangenheit als Möglichkeitsraum: Lebenskunst und Zeitkunst 446 7.6 Lebenskunst: Die Kunst des gelingenden Umgangs mit der Kontingenz des Lebens 449 IV. Kontingenzdarstellung im britischen Roman: Schlussbetrachtung 455 V. Bibliographie 471 1. Primärliteratur 471 2. Sekundärliteratur 471 <?page no="11"?> Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Facetten von Kontingenz 38 Abb. 2: Das Sechs-Faktoren-Modell der Modernisierung 41 Abb. 3: Globalisierungsdimensionen 55 Abb. 4: Kontingenzfacetten der vier klassischen Dimensionen von Modernisierung 58 Abb. 5: Ästhetiken der Kontingenz: Kategorien und Leitfragen für die Textinterpretation 89 Abb. 6: Erscheinungsformen von sense of place 110 Abb. 7: Kriterien zur Skalierung von Ästhetiken der Kontingenz 118 Abb. 8: Ästhetik der Kontingenz in Daniel Deronda 181 Abb. 9: Plotstruktur The Secret Agent 192 Abb. 10: Ästhetik der Kontingenz in The Secret Agent 214 Abb. 11: Ästhetik der Kontingenz in Mrs. Dalloway 265 Abb. 12: Ästhetik der Kontingenz in Under the Net 308 Abb. 13: Ästhetik der Kontingenz in If Nobody Speaks of Remarkable Things 343 Abb. 14: Ästhetik der Kontingenz in Ghostwritten 380 Abb. 15: Ästhetik der Kontingenz in Atonement 452 <?page no="13"?> Vorwort Die vorliegende Studie, die 2012 als Habilitationsschrift an der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim angenommen wurde, beschäftigt sich mit Vorstellungen von Kontingenz in der Moderne. Eine solche Analyse des kulturellen und literarischen Möglichkeitsdenkens lädt unweigerlich dazu ein, über Kontingenzen im eigenen Werdegang zu reflektieren. Eine ganze Reihe von Personen hat durch ihre Unterstützung wesentlich zum Gelingen dieses Habilitationsprojektes beigetragen, und da dies auch hätte anders sein können, ist es mir ein umso größeres Bedürfnis, diesem Personenkreis meinen Dank auszusprechen. An erster Stelle möchte ich mich ganz herzlich bei Prof. Dr. Meinhard Winkgens bedanken, dessen Tür immer einladend offen stand für fachliche Diskussionen über Kontingenz und durch dessen zahlreiche wertvolle Hinweise und insbesondere kritische Lektüre des gesamten Manuskripts ich wesentlich profitiert habe. Seine langjährige Auseinandersetzung mit dem Subjekt in der Moderne sowie seine anregenden Oberseminare haben mich in meiner eigenen Forschung nachhaltig geprägt. Zu der hervorragenden akademischen Unterstützung durch Prof. Winkgens gehört zudem, dass er an seinem Lehrstuhl Freiräume schafft, die es seinen MitarbeiterInnen ermöglichen, kontinuierlich und intensiv an eigenen Forschungsprojekten zu arbeiten. Dies ist in Zeiten der Bologna-Reform, durch die hohe Kapazitäten an den Universitäten gebunden werden, keinesfalls eine Selbstverständlichkeit. Mein ausdrücklicher Dank gilt zudem besonders den weiteren Gutachtern, Prof. Dr. Ulrich Reichardt und Prof. Dr. Cornelia Ruhe, die durch ihre zügige Begutachtung des Manuskripts zu einem schnellen Abschluss des Habilitationsverfahrens beigetragen haben. Ebenso bedanken möchte ich bei den weiteren Mitgliedern der Habilitationskommission. Die Anregung zu diesem Forschungsprojekt kam von Dr. Stefan Glomb, der immer wieder gerne bereit war, mit mir über Kontingenz und Literatur zu diskutieren, und dessen ausgezeichnete Vorschläge mir gerade auch in zähen Schreibphasen halfen, die Arbeit weiter zu entwickeln. Der vielfache gedankliche Austausch, der geprägt war durch seine Begeisterung für das Thema, sowie sein Pragmatismus und Humor haben in den vergangenen Jahren maßgeblich dazu beigetragen, dass mir der Enthusiasmus für dieses Forschungsprojekt erhalten blieb. Für seine fachliche und persönliche Unterstützung in den vergangenen Jahren, nicht zuletzt in Form des Korrekturlesens einzelner Kapitel, möchte ich mich ganz besonders bedanken. Insgesamt habe ich die Arbeit als akademische Rätin am Mannheimer Institut für Anglistik als Bereicherung empfunden, weil stets ein herzliches <?page no="14"?> xiv und produktives Miteinander herrschte. Viele meiner KollegInnen sind zugleich Freunde, die mich auf vielfältige Weise während der Habilitationsphase unterstützt haben. So gilt mein herzliches Dankeschön Prof. Dr. Sarah Heinz und Dr. Nora Kuster, die sich auch kurzfristig immer wieder Zeit nahmen, um mir mit Rat und Tat beiseite zu stehen. Dr. Regina Schober lieferte durch ihr Feedback zum Entwurf meiner Theoriemodelle hilfreiche Impulse, und auch von den vielen Gesprächen mit PD Dr. Heike Schäfer und Prof. Dr. Christa Grewe-Volpp habe ich profitiert, wofür ich allen drei danken möchte. Im Sinne der engen Verknüpfung von Forschung und Lehre habe ich in den vergangenen Jahren Seminare zum Thema Kontingenz sowie zu den in dieser Arbeit behandelten AutorInnen angeboten. Ich danke den Mannheimer Studierenden für die fruchtbaren Seminardiskussionen zu diesen Themen, die mich in meinen eigenen Überlegungen weiterbrachten. Mein Dank gilt auch Personen jenseits des aktuellen Mannheimer Umfeldes, die mit Freundschaft und Gesprächsbereitschaft meinen Habilitationsprozess begleitet haben. Dazu zählen Dr. Dorothee Birke, Prof. Dr. Marion Gymnich, Dr. Frank Degler sowie Dr. Matthias Eitelmann, der mir wertvolles Feedback zu ersten Textentwürfen gegeben hat. Meine Eltern Rose und Bodo Butter waren mir, wie bereits bei der Dissertation, eine wunderbare Unterstützung, wofür ich ihnen von Herzen danken möchte. Nicht zuletzt möchte ich mich ganz besonders bei Dr. Marcus Menzel bedanken, der viele Stunden geopfert hat, um sowohl Teile der Habilitation sowie das gesamte Manuskript in seiner endgültigen Fassung kritisch Korrektur zu lesen. In den vergangenen Jahren nahm das Thema ‚Kontingenz und Literatur‘ mehr oder weniger (un)freiwillig auch in seinem Leben einen großen Platz ein - sei es in Form der kritischen Durchsicht meiner Kapitelentwürfe oder etwa lebhafter Gespräche über Kontingenzen des Lebens. Als Zeichen meiner Dankbarkeit für seine unermüdliche Hilfsbereitschaft und Geduld während der arbeitsintensiven Habilitationsphase sei ihm dieses Buch gewidmet. Mannheim, im Mai 2013 Stella Butter <?page no="15"?> I Einleitung: Literatur und Kontingenz So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen, als das, was nicht ist. […] Möglichkeitsmenschen leben […] in einem Gespinst von […] Konjunktiven […]. - Robert Musil (2002 [1930/ 32]: 16) Im Jahr 2010 wählte die Jury der Gesellschaft für Deutsche Sprache das Wort ‚alternativlos‘ zum Unwort des Jahres und begründete ihre Entscheidung wie folgt: „Das Wort suggeriert sachlich unangemessen, dass es bei einem Entscheidungsprozess von vornherein keine Alternativen und damit auch keine Notwendigkeit der Diskussion und Argumentation gebe.“ 1 Diese kritische Sprachreflexion jüngeren Datums, die medial große Aufmerksamkeit erfuhr, liefert ein aussagekräftiges Zeugnis für den ausgeprägten Möglichkeitssinn in der Gegenwartsgesellschaft. Der Versuch, einen solchen Möglichkeitssinn durch rhetorische Strategien zu blockieren, wird als der Lebenswelt unangemessen ausgewiesen und scharf kritisiert. Tatsächlich ist die Kultivierung eines Denkens in Alternativen in hohem Maße prägend für die Moderne. Es lassen sich leicht viele alltägliche Beispiele finden, die illustrieren, inwiefern das Individuum fortwährend vor Wahloptionen gestellt wird (z.B. Wahl des Berufs, Lebenspartners usw.). Das kursierende Schlagwort von der „multioptionalen Gesellschaft“ (Keupp et al. 2002: 47) bringt diese moderne Lebensform treffend auf den Punkt. Bereits diese kurzen Hinweise illustrieren, welche große Bandbreite an alltäglichen Phänomenen sich hinter dem abstrakten Begriff ‚Kontingenz‘ verbergen. In der philosophischen Fachdiskussion bezieht sich der Begriff ‚Kontingenz‘ nämlich auf das, was weder notwendig noch unmöglich ist. Ist etwas weder notwendig noch unmöglich, dann könnte es auch anders sein. Diese Definition erklärt zugleich die Ambivalenz von Kontingenz, denn das Anders-Sein-Können eröffnet den Raum sowohl für Handlungsmöglichkeiten als auch für das Eintreten des Zufalls, der sich dem kontrollierenden Zugriff des Menschen entzieht (vgl. von Graevenitz/ Marquard 1998: xiv; Makropoulos 1997: 15). Einerseits bezieht sich Kontingenz somit auf das Verfügbare, d.h. die Bereiche der Lebenswirklichkeit, die durch 1 Dieses Zitat des Sprechers der Unwort-Jury, Horst Dieter Schlosser, ist den Medienberichten zur Unwort-Wahl entnommen; siehe z.B. http: / / www.zeit.de/ gesellschaft / zeitgeschehen/ 2011-01/ unwort-2010-alternativlos oder http: / / www.n-tv.de/ panorama/ Alternativlos-ist-Unwort-2010-article2386311.html [aufgerufen am 23.05.2012]. <?page no="16"?> 2 Einleitung den Menschen gestaltet werden können. Andererseits umfasst Kontingenz ebenso das Unverfügbare (z.B. Zufall, Krankheit, Unfall). Vorstellungen davon, was anders sein könnte, sind historisch und soziokulturell spezifisch. Somit kann Kontingenz als eine kulturelle Deutungskategorie verstanden werden, die Auskunft gibt über das gültige Wirklichkeits- und Subjektmodell einer Gesellschaft (vgl. Makropoulos 1997: 14). Auf tiefenstruktureller Ebene ist das Wirklichkeitsbild einer Gesellschaft danach strukturiert, wie das Verfügbare und Unverfügbare zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dabei handelt es sich um ein dialektisches Zusammenspiel, denn eine Vergrößerung der Bereiche, die als verfügbar und manipulierbar ausgewiesen werden, führt unweigerlich zu einer Verkleinerung dessen, was als das Unverfügbare wahrgenommen wird. Das hegemoniale Subjektmodell einer Gesellschaft mit seinem spezifischen Entwurf von Handlungsmächtigkeit kann als Miniaturmodell der jeweils gesellschaftlich gültigen Kontingenzkonzeption verstanden werden. Kontingenzkonzeptionen lassen sich danach unterscheiden, wie sie die Relationierung des Verfügbaren und Unverfügbaren entwerfen sowie das Unverfügbare codieren, d.h. ob es positiv, ambivalent oder negativ gewertet wird. Die umrissenen Bedeutungsfacetten von Kontingenz erklären die Hochkonjunktur des Begriffs in den Kulturwissenschaften, geht es doch um nichts Geringeres als das Wirklichkeitsmodell einer Gesellschaft. Tatsächlich ist ‚Kontingenz‘ zu einem Schlagwort avanciert, mit dem der Anspruch verbunden wird, die Erfahrungsqualität der modernisierten Welt einzufangen. Dabei können die Kulturwissenschaften selbst als Ergebnis des Phänomens begriffen werden, das sie zu beschreiben suchen, weil ein ausgeprägtes Kontingenzbewusstsein eine Leitlinie kulturwissenschaftlichen Arbeitens bildet (vgl. Reckwitz 2006a [2000]: 705f., 728). Es gilt, die historische Genese, Ausprägungsformen sowie Wirkmechanismen von kulturellen Ordnungen und Praktiken offenzulegen und auf diese Weise kulturelle Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Kulturwissenschaftliche Forschungen lenken die Aufmerksamkeit darauf, dass das moderne Kontingenzbewusstsein, wonach Wörter wie ‚alternativlos‘ kritisch verworfen werden, ein Ergebnis von historischen Entwicklungen ist und fortwährend durch gesellschaftliche Praktiken eingeübt wird. Das Interesse für Kulturkonflikte um Kontingenzkonzeptionen im Prozess der Moderne sowie für Umgangsstrategien mit wahrgenommenen Kontingenzphänomenen bildet den Ausgangspunkt der vorliegenden Studie. Gefragt wird danach, welche Kontingenzdiagnosen und Umgangsstrategien im britischen Roman des 19.-21. Jahrhunderts entworfen werden und inwiefern der literarische Möglichkeitssinn eine gesellschaftlich wirksame Kraft entfalten kann. Der Begriff der Kontingenzdiagnose bezieht sich darauf, welche Phänomene oder Wirklichkeitsbereiche in der innerfik- <?page no="17"?> Literatur und Kontingenz 3 tionalen Welt als kontingent ausgewiesen werden. Solche literarischen Kontingenzdiagnosen sind in einer spezifischen Kontingenzkonzeption bzw. einem Wirklichkeitsmodell verankert, das genaue Vorstellungen vom (Un)Verfügbaren und dessen Bewertung umfasst. Das Antwortverhältnis des Romans auf seine historische Entstehungszeit steht dabei im Zentrum des Interesses, denn die jeweilige Kontingenzdiagnose bzw. -konzeption gründet auf der Erfahrung einer sich wandelnden Lebenswelt im Prozess der Modernisierung. Zu diesem Fokus auf die Vernetzung von Text und Kontext gehört zudem die Frage danach, in welchem Verhältnis die literarischen Umgangsstrategien mit Kontingenz zu der dominanten Kontingenzkultur der historischen Lebenswelt stehen. Diese Fragestellungen sind einem kulturwissenschaftlichen Analyseprogramm verpflichtet, das auf das spezifische Leistungsvermögen von Literatur abhebt. Der literarischen Auseinandersetzung mit Kontingenz kommt, so die Grundannahme dieser Arbeit, eine hohe kulturelle Bedeutung zu. Diese Grundannahme wird nachfolgend durch sechs Thesen spezifiziert, die für die späteren Romananalysen leitend sind. Die erste und grundlegende These lautet, dass Literatur als „Symbolsystem und als Sozialsystem“ (Neumann/ Nünning 2006: 8) einen aktiven Beitrag zu der Ausbildung und Transformation von Kontingenzkulturen im Prozess der Modernisierung leistet. Der Begriff Kontingenzkultur unterstreicht, dass die Sichtweise auf Kontingenz und der Umgang mit Kontingenzphänomenen nicht rein individuell, sondern kulturell geformt sind. Die individuelle Wahrnehmung und das Erleben von Kontingenz sind durch kulturelle Ordnungsmuster und Wertehierarchien gefärbt, die immer als kulturelles Apriori gegeben sind. Soziokulturelle Kontingenzkonzeptionen bilden ein besonders wirkungsvolles Apriori, weil sie Weltbilder tiefenstrukturell formen. Die Antwort auf Fragen nach der Gültigkeit von Weltordnung und die Sicht auf Geschichte (herrscht z.B. göttliche Vorsehung, blinder Zufall oder kann der Mensch den Geschichtsverlauf bestimmen) ist von der gültigen Kontingenzkonzeption abhängig, die ihrerseits die Wahrnehmung von Zeit und Raum sowie die Subjektform prägt. Jede Gesellschaft bildet Praktiken des Selbst aus, die Formen des Umgangs mit Kontingenzphänomenen umfassen. „Die Form des Subjekts wird […] in Alltagspraktiken hervorgebracht, trainiert und stabilisiert; sie kann und muss anhand dieser Praktiken rekonstruiert werden - dies schließt die Analyse von gesellschaftlich relevanten Diskursen und ihren Subjektrepräsentationen, die mit diesen Praktiken verknüpft sind, nicht aus, sondern ein.“ (Reckwitz 2006b: 16) Da Praktiken des Selbst in einer spezifischen Kontingenzkonzeption verwurzelt sind, lassen sie sich danach unterscheiden, ob sie im Schwerpunkt auf eine Sensibilisierung und Öffnung für das Unverfügbare oder ob sie auf die Marginalisierung oder sogar Bemächtigung des Unverfügbaren ausgerichtet sind. <?page no="18"?> 4 Einleitung Literatur gibt Auskunft über die hegemoniale Kontingenzkultur ihrer Entstehungszeit, weil sie bei ihrem Entwurf fiktionaler Welten verschiedene Elemente ihrer soziokulturellen Umwelt integriert (z.B. diskursive Wissensbestände, Wertehierarchien und Identitätsmodelle). Die Auswahl an Realitätselementen bildet das ‚Textrepertoire‘ (Wolfgang Iser) eines literarischen Textes. Gleichzeitig befördert Literatur die Transformation von hegemonialen Kontingenzkulturen aufgrund ihrer ästhetischen Wirkmechanismen und fiktionalen Möglichkeitsräumen. Zu den Besonderheiten von Literatur als Symbolsystem gehört ihre ‚Entpragmatisierung‘ (Iser) bzw. Fiktionalität, die es ermöglicht, Räume des Alternativen probeweise zu erkunden. Durch eine Neukombination lassen sich die selektierten Realitätselemente nutzen, um alternative Welt- und Kontingenzkonzeptionen zu modellieren. Dieser ausgeprägte Möglichkeitssinn der Literatur kann wiederum das Kontingenzbewusstsein der RezipientInnen schärfen: [L]iterature […] fosters a cognitive perspective that enables both critique and real-life impact. ‚The imaginary world of art,‘ Luhmann notes, ‚offers a position from which something else can be determined as reality… Without such markings of difference, the world would simply be the way it is. Only when a reality ‚out there‘ is distinguished from fictional reality can one observe one side from the perspective of the other‘ […]. In other words, the cosmos fashioned by art offers us a standing point from which both to observe our own social cosmos and transform it. (Jusdanis 2010: 66) In diesem Sinne fungiert Literatur als ein Medium kultureller Selbstreflexion, das die Grenzbereiche zwischen dem Notwendigen und dem Möglichen in der Lebenswelt ihrer Entstehungszeit auslotet. Der Blick für die Besonderheiten von Literatur als Symbolsystem ist wichtig, weil Literatur ihre gesellschaftliche Wirkungsweise über ihre ästhetische Dimension entfaltet (vgl. Fluck 2005). Diese Dimension eröffnet nicht nur Möglichkeitsräume, sondern bedeutet zudem, dass die literarische Kontingenzkonzeption für die LeserInnen imaginativ erfahrbar wird, d.h. es herrscht ein enges Zusammenspiel zwischen kognitiven und affektiven Komponenten. Durch das Lesen werden gleichzeitig spezifische Praktiken des Selbst eingeübt, wie ein kurzer Vergleich zwischen dem realistischen Roman des 19. Jahrhunderts und der modernistischen Erzählliteratur verdeutlicht. Die „Texte, die Gegenstände bürgerlichen Lesens werden, […] präsentieren sich als quasi-didaktische Exempel reflexivmoralischen Handelns und zugleich als Vermittler eines kognitiven ‚Weltwissens‘, das mundane Intelligibilität und subjektive Souveränität zu vermitteln versucht“ (Reckwitz 2006b: 158). Die Bemühung, das Unverfügbare zugunsten von Handlungsmächtigkeit zu reduzieren, deutet auf eine negative Bewertung des Unverfügbaren. Entgegen dieser Orientierung an Souveränität bzw. Handlungsmächtigkeit inszenieren viele modernistische Texte das Unberechenbare als ästhetischen Genuss und üben damit poten- <?page no="19"?> Literatur und Kontingenz 5 tiell eine Öffnung und positive Bewertung des Unverfügbaren ein (vgl. ebd.: 294). Damit zeugen die jeweils favorisierten Praktiken des Selbst von verschiedenen Kontingenkonzeptionen. Die literarische Kontingenzsensibilisierung durch den Entwurf alternativer Subjektmodelle sowie deren Einübung im Akt des Lesens unterstreichen die zentrale Rolle von Literatur als „gesellschaftlich wirksames Sozialsystem“ (Neumann/ Nünning 2006: 8). Aufbauend auf den bisherigen Überlegungen lässt sich eine zweite zentrale These formulieren, die das Zusammenspiel von Literatur und Kontingenz mit Blick auf den Modernisierungsprozess genauer fokussiert. Die Analyse von literarischen Kontingenzkonzeptionen und Umgangsstrategien ermöglicht es, die konfliktreiche Vielstimmigkeit, Komplexität und die ergebnisoffene Entwicklung des Modernisierungsprozesses differenziert zu modellieren. Auf diese Weise kann ein genuin literaturwissenschaftlicher Beitrag zu der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Revision der ‚großen Erzählungen‘ (Lyotard) vom Modernisierungsprozess als einsträngige Entwicklungslinie (z.B. als Rationalisierung) geleistet werden. In Anlehnung an die soziologische Studie von Andreas Reckwitz (2006b) über Subjektkulturen in der Moderne wird davon ausgegangen, dass sich die hegemoniale Kontingenzkultur einer Epoche „gegenüber den vorangegangen Modernitätskulturen in einem immanent gegenläufigen Verhältnis von Differenzmarkierungen und Sinntransfers [befindet]“ (Reckwitz 2006b: 615). 2 Die Differenzmarkierung betrifft die Ablehnung einer vorherigen Kontingenzkonzeption sowie des Subjektmodells, das mit dieser Kontingenzkonzeption verbunden ist. Der Vorgang des Sinntransfers bezieht sich auf die Übernahme von Elementen verschiedener vorangegangener Kontingenzkonzeptionen und deren hybrider Kombination in eine neue Kontingenzmodellierung. Wie oben erläutert wurde, ist Literatur aufgrund ihrer imaginativen Gestaltungsspielräume besonders dazu geeignet, das noch nicht in der Realität Gegebene greifbar zu machen. Die ästhetischen Bewegungen der Moderne sind somit nicht nur, wie der Soziologe Andreas Reckwitz (2006b) überzeugend nachweist, „als Subjekttransformationsbewegungen der Moderne“ (17) zu lesen, sondern zugleich als Transformationsbewegungen von Kontingenzkulturen. Prägend für den Modernisierungsprozess ist nämlich der Kampf um gesellschaftlich gültige Kontingenzkonzeptionen, d.h. es existieren zeitgleich mit der gesellschaftlich dominanten Kontingenzkultur immer auch zahlreiche Kontrastentwürfe und kritische Gegendiskurse. In der vorliegenden Studie wird für die Analyse literarischer Kontingenzkonzeptionen und Umgangsstrategien der ‚Gattungssieger‘ (Berthold) der Moderne gewählt: der Roman. 2 Reckwitz (2006b) bezieht diese Aussage auf Subjektkulturen, allerdings gilt sie ebenso für Kontingenzkulturen wie oben erläutert wird. <?page no="20"?> 6 Einleitung Die dritte Hauptthese bezieht sich auf die ästhetische Struktur des Romans, die dessen Wirkungspotential begründet. Jedem Roman kann eine spezifische Kontingenzkonzeption zugeordnet werden, die dessen gesamte ästhetische Struktur bestimmt, angefangen von Figuren, Plot, Raum, Zeit bis hin zur Erzählerrede. Diese These ergibt sich aus der Analogie, die zwischen der textuellen und der außertextuellen Welt hergestellt werden kann. Beide Welten sind tiefenstrukturell geformt durch die Relationierung des Verfügbaren und Unverfügbaren sowie die Bewertung der jeweiligen Bereiche (positiv, negativ, ambivalent). Die vierte These betrifft die Kontingenzkonzeption, die jedem Roman zugeordnet werden kann. Die literarische Kontingenzkonzeption lässt sich danach skalieren, ob sie tendenziell das Unverfügbare marginalisiert bzw. ausblendet oder ob sie das Unverfügbare affirmiert bzw. sogar eine emphatisch positive Wertaufladung erfolgt. Es muss folglich möglich sein, auf Basis eines narratologischen Analyseinstrumentariums, das die oben genannten Parameter (z.B. Raum, Zeit, Figur) abdeckt, Skalierungskriterien für Kontingenzkonzeptionen zu erarbeiten. Die fünfte These rückt das Funktionspotential von Literatur im Prozess der Modernisierung in den Vordergrund. Die literarische Kontingenzkonzeption bildet zugleich eine Interpretation des Modernisierungsprozesses. Literatur durchleuchtet den Modernisierungsprozess bzw. die sich wandelnde Lebenswelt auf Kontingenzphänomene sowie deren Ursachen. So wird beispielsweise im Kapitel „The Survivor“ aus Julian Barnes’ Roman A History of the World in 10½ Chapters (1989) das komplexe Zusammenspiel zwischen Wirkmechanismen des Kapitalismus, einer entfesselten Technik sowie patriarchalischen Geschlechtervorstellungen mit dem Ideal eines männlich codierten Vernunftsubjekts als Ursache für die Entfremdung der Menschen voneinander, von den Produkten ihrer Arbeit sowie von der Natur diagnostiziert. Die sechste und letzte These hebt ebenfalls auf das Funktionspotential von Literatur ab. Literatur bzw. der Roman entwirft spezifische Umgangsstrategien mit Kontingenz, die ihrerseits aufs Engste an die jeweils literarisch privilegierte Kontingenzkonzeption geknüpft sind. Diese Strategien sind ganz unterschiedlicher Art. So können literarische Texte als Reaktion auf die Wahrnehmung einer Orientierungskrise, die aus der Erosion traditioneller Ordnungs- und Sinnstiftungsmodelle bzw. dem erhöhten Kontingenzbewusstsein in der Moderne resultiert, beispielsweise kompensatorische Geschichten erzählen. In der Begrifflichkeit von Odo Marquard (2008: 105f.) erfüllen „Sensibilisierungsgeschichten“, „Bewahrungsgeschichten“ und „Orientierungsgeschichten“ eine solche kompensatorische Funktion. Bei den Sensibilisierungsgeschichten handelt es sich um „die Ersatzverzauberung des Ästhetischen“ (ebd.), die darauf gerichtet ist, einen „sinnlichkeitsbezügliche[n] Sinnbegriff“ (ebd.: 34) einzuüben: „Sinn hat, wer - durch Merken - genießen oder leiden kann“ (ebd.). Demnach lasse sich <?page no="21"?> Literatur und Kontingenz 7 das Erleben mit den Sinnen nicht unterscheiden „vom inneren Sinn (sensus interior) ebenso wie vom Gemeinsinn“ (ebd.). Die Verankerung dieser Umgangsstrategie in einer spezifischen Kontingenzkonzeption ist dadurch gegeben, dass ein solcher sinnlichkeitsbezüglicher Sinnbegriff ein Subjekt voraussetzt, dass offen und aufmerksam für die sinnliche Partikularität der Welt ist (vgl. Kap. III.4). Bewahrungsgeschichten richten sich auf den „historische[n] und […] ökologischen Sinn“ (Marquard 2008: 106), d.h. auf die Bewahrung von Geschichte und Natur. „Keine Zeit hat soviel zerstört wie die Moderne; keine Zeit hat soviel bewahrt wie die Moderne: durch Entwicklung von Fertigkeiten, immer mehr Herkunft in die Zukunft mitzunehmen.“ (ebd.: 106) Diese Fertigkeiten sind gerade auch literarischer Art, wie etwa Studien zur erinnerungskulturellen Funktion literarischer Texte gezeigt haben (vgl. z.B. Erll/ Gymnich/ Nünning 2003, Neumann 2005 und Birk 2008). Orientierungsgeschichten bilden eine Schnittmenge mit den anderen beiden Formen, denn sie dienen in erster Linie „de[m] lebensweltlichen Sinnbedarf“ (Marquard 2008: 106). Ein solcher lebensweltlicher Sinnbedarf kann beispielsweise durch Nationalismus gesättigt werden. Bei dem Entwurf von ‚imagined communities‘ kommt, wie Benedict Anderson (2006 [1983]) herausgearbeitet hat, der Literatur eine zentrale Rolle zu. Das Erzählen von kompensatorischen Geschichten, wie gerade angedeutet, bildet eine mögliche Umgangsstrategie von Literatur mit wahrgenommener Kontingenz. Aus den dargestellten sechs Thesen zu Kontingenz und Literatur im Prozess der Modernisierung leiten sich die Ziele der vorliegenden Studie ab. Erstens soll ein Beitrag zur Funktionsgeschichte des britischen Romans geleistet werden, indem der produktive Beitrag des Romans für die Transformation von Kontingenzkulturen in der Moderne sowie für die Ausbildung von Umgangsstrategien herausgearbeitet wird. Zweitens soll diese Analyse der Funktionsgeschichte des Romans helfen, eine differenzierte Modellierung des Modernisierungsprozesses zu leisten, und zwar aus Sicht einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft. Die vorliegende Studie schließt an aktuelle soziologische Forschungen zum Modernisierungsprozess an, verdeutlicht jedoch zugleich den Nutzen, der durch das Einbringen einer literaturwissenschaftlichen Perspektive gewonnen wird. Die Entwicklung eines narratologischen Analyseinstrumentariums für literarische Kontingenzkonzeptionen bildet das dritte Ziel der vorliegenden Studie. Bei der Ausarbeitung des Analyseinstrumentariums werden philosophische und soziologische Überlegungen zu Kontingenz mit narratologischen Kategorien verknüpft. Bei den narratologischen Kategorien fließen Konzepte aus dem Bereich der kognitiven Narratologie ein. Nur eine solche interdisziplinäre Herangehensweise ermöglicht es, sowohl die Vernetzung des Romans mit einem agonalen Geflecht an Kontingenz- <?page no="22"?> 8 Einleitung kulturen als auch die medienästhetischen Besonderheiten von Literatur zu erfassen. Die dargestellten Grundthesen und Ziele verdeutlichen, inwiefern die vorliegende Studie von ihrem konzeptionellen Anspruch her über die bisherigen Forschungsarbeiten auf dem Gebiet von Kontingenz und britischer Erzählliteratur in der Moderne wesentlich hinausgeht. In ihrem Vorwort zum Sammelband Kontingenz (1998) der Arbeitsgruppe „Poetik und Hermeneutik“ konstatieren Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard, dass es noch „keine umfassende Monographie“ (ebd.: xi) zum Thema Kontingenz in der Literatur gebe. Seit dieser Feststellung hat sich einiges in der Forschungslandschaft getan, und zwar gerade auch hinsichtlich des Zeitraums und der literarischen Gattung, die im Zentrum dieser Studie stehen, nämlich des britischen Romans in der Moderne (d.h. der Zeitspanne ab ca. 1800 bis zur Gegenwart). Neben verschiedenen Aufsätzen zum Thema Kontingenz und (post)moderner britischer Erzählliteratur, die aus Platzgründen an dieser Stelle nicht einzeln aufgeführt werden, sind zwei zentrale Monographien jüngeren Datums erschienen, die eine vergleichende Betrachtung der Repräsentation des Zufalls im britischen Roman des 19. und/ oder 20. Jahrhunderts enthalten (vgl. Monk 1993, Jordan 2010) 3 sowie eine detaillierte narratologische Studie zu Coincidence and Counterfactuality: Plotting Time and Space in Narrative Fiction (2008) von Hilary Dannenberg, die den Zeitraum vom 18. Jahrhundert bis zur Postmoderne behandelt. 4 Während diese Monographien zur britischen Erzählliteratur sich auf den Zufall und/ oder ‚counterfactuality‘ konzentrieren, wird das Thema Kontingenz in der vorliegenden Untersuchung wesentlich breiter gefasst. Ausgehend von einer allgemeinen Bestimmung von Kontingenz als Bereich des (Un)Verfügbaren werden nämlich drei Bedeutungen von Kontingenz abgeleitet. Das Verfügbare und Manipulierbare wird mit dem Begriff ‚Gestaltbarkeitskontingenz‘ belegt, während das Unverfügbare unterteilt wird in ‚Widerfahrniskontingenz‘ und ‚Kontingenz des Inkommensurablen‘. Bei der Gestaltbarkeitskontingenz geht es um die Handlungsmächtigkeit (agency) des Menschen. Demgegenüber bezieht sich Widerfahrniskontingenz auf dasjenige, das uns widerfährt (z.B. Zufall, Krankheit, Unfall) und worüber wir dementsprechend keine Kontrolle haben. Bei dem Inkommensurablen steht die epistemologische Perspektive im Vordergrund, denn es geht um dasjenige, das sich unseren kognitiven Rastern entzieht. Alle drei Bedeutungsdimensionen von Kontingenz werden bei der Analyse (literarischer) Kontingenzkonzeptionen berücksichtigt. Der inhaltliche 3 Zu den älteren Klassikern im Bereich der Forschung zum Zufall im viktorianischen Roman gehört Vargish (1985). 4 Für eine narratologische Studie zur Inszenierung von Kontingenz durch ‚Figurationen der Unterbrechung in Erzähldiskursen um 1800‘ siehe Michel (2006), der sich auf die deutschen Autoren Wieland, Jean Paul und Brentano konzentriert. <?page no="23"?> Literatur und Kontingenz 9 Fokus auf Kontingenz ist nicht nur deutlich erweitert, sondern damit einhergehend auch das narratologische Analyseinstrumentarium. Ausgehend von der dritten Grundthese dieser Arbeit, und zwar dass die spezifische Kontingenzkonzeption die gesamte ästhetische Struktur eines Romans bestimmt, wird ein breites Spektrum an narratologischen Analysekategorien herangezogen. Da die Parameter umfassend sind, wird mit zwei Analyserastern gearbeitet, um die Handhabbarkeit des Analysemodells zu gewährleisten. Das erste Raster bietet Leitfragen für die Beschreibung und Untersuchung von Kontingenzdiagnosen und Umgangsstrategien. Zu den Leitfragen gehören, welche konkreten Beispiele sich für Kontingenz als das Unverfügbare im Text finden lassen, wie diese codiert werden, was für ein Subjektmodell entworfen und favorisiert wird, inwiefern Gestaltbarkeitskontingenz herrscht und wie Raum und Zeit gestaltet werden. Auf Basis der Betrachtung des literarischen Textes als Ganzem gilt es, die Strategien und Modelle zu identifizieren, die im literarischen Text entwickelt werden, um mit den dargestellten Kontingenzphänomenen umzugehen. Bei der Anwendung dieses Analyserasters steht das Zusammenspiel all dieser verschiedenen Elemente im Vordergrund. Das zweite Analyseraster bietet einen Überblick über narratologische Kriterien, die eine Skalierung von literarischen Erzähltexten zwischen den Polen Invisibilisierung und Visibilisierung von Kontingenz (dem Unverfügbaren) ermöglichen. Dieses Raster konzentriert sich auf die Formebene des Textes. Es sind insgesamt sieben Parameter, die von Plot, Figuren über Zeit und Raum bis hin zu Erzählerrede, metakognitiven Strategien und Metafiktionalität reichen. Die Anwendung beider Raster ermöglicht eine präzise Modellierung der literarischen Kontingenzkonzeption. In bisherigen Studien zu Kontingenz und Literatur ist das komplexe Zusammenspiel all dieser unterschiedlichen Kategorien nicht systematisch untersucht worden. Innovativ an dieser Studie ist, philosophische, soziologische und narratologische Überlegungen zu Kontingenz systematisch aufeinander zu beziehen, um literarische Kontingenzdiagnosen und Umgangsstrategien im Prozess der Modernisierung modellhaft zu untersuchen. Das oben umrissene kulturell-narratologische Analyseinstrumentarium ist ein zentrales Ergebnis dieser interdisziplinären Arbeitsweise, allerdings nicht das einzige. Den Modernisierungsprozess durch die Kontingenzthematik zu perspektivieren bedeutet, dass die verschiedenen Dimensionen des Modernisierungsprozesses konsequent auf die drei genannten Kontingenzfacetten bezogen werden (vgl. Abbildung 4). Als wichtige Vorarbeit für das spätere narratologische Analysemodell werden die in der soziologischen Forschung benannten sechs Faktoren von Modernisierung, nämlich Differenzierung, Individualisierung, Domestizierung, Rationalisierung, Beschleunigung und Globalisierung, hinsichtlich ihrer Implikationen für <?page no="24"?> 10 Einleitung Gestaltbarkeitskontingenz, Widerfahrniskontingenz und Kontingenz des Inkommensurablen systematisch ausgewertet. Insgesamt trägt die vorliegende Studie dazu bei, eine zentrale Forschungslücke zu schließen, indem ein narratologisches Modell für die Analyse von literarischen Kontingenzkonzeptionen entwickelt wird. Dieses ermöglicht es, das Zusammenwirken aller drei Bedeutungsfacetten von Kontingenz sowie die entworfenen Umgangsstrategien systematisch herauszuarbeiten, und zwar in ihrem Antwortcharakter auf die unterschiedlichen Dimensionen des Modernisierungsprozesses. Die bisherige Darlegung der Problemstellung, Grundthesen, Ziele und des Innovationsgehalts dieser Studie lieferte bereits einen ersten Einblick in das methodische Vorgehen. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über den Aufbau der Arbeit gegeben werden. Als Grundlage für die späteren literarischen Fallstudien wird zunächst im Theorieteil der Arbeit (Kap. II) ein Beschreibungs- und Analysemodell für Ästhetiken der Kontingenz entwickelt. Dabei wird in mehreren Schritten vorgegangen. Erstens erfolgt eine Begriffsbestimmung von Kontingenz, bei der die drei Bedeutungsfacetten von Kontingenz genauer erläutert werden (Kap. II.1.1). Bei dieser Begriffsexplikation und Erklärung der drei Bedeutungsfacetten wird insbesondere auf die philosophische Fachdiskussion zurückgegriffen. Die eingeführten Erklärungen dessen, was unter Gestaltbarkeitskontingenz, Widerfahrniskontingenz und Kontingenz des Inkommensurablen zu verstehen ist, laufen auf eine ahistorische Definition von Kontingenz hinaus. Eine solche ahistorische Definition ist als Arbeitsgrundlage nötig, weil nur so eine präzise Analyse und vergleichende Betrachtung der ausgewählten literarischen Kontingenzkonzeptionen, die vom 19. bis 21. Jahrhundert reichen, möglich ist. Die kulturhistorische Dimension von Kontingenz wird in einem zweiten Schritt behandelt, bei dem ein kurzer Überblick über die tiefgreifende Veränderung des Kontingenzbewusstseins von der Antike bis zur Moderne gegeben wird (Kap. II.1.2). Eine detaillierte Betrachtung des Kontingenzbewusstseins für den Zeitraum ab 1800 erfolgt dabei noch nicht, weil dies Gegenstand des nachfolgenden Unterkapitels zu Kontingenz und Modernisierungsprozess ist (Kap. II.2). In dem Kapitel zum Modernisierungsprozess wird zunächst geklärt, was unter Modernisierung zu verstehen ist (Kap. II.2.1). Unter Rückgriff auf soziologische Modelle von Modernisierung, die Hans van der Loo und Willem van Reijen (1992) sowie, darauf aufbauend, Nina Degele und Christian Dries (2005) entwickelt haben, wird mit einem Sechs-Faktoren-Modell der Modernisierung gearbeitet (siehe oben). Alle Faktoren werden genauer erläutert und mit Blick auf Kontingenzbewusstsein ausgewertet, d.h. systematisch auf die drei Bedeutungsfacetten von Kontingenz bezogen. In einem weiteren Schritt erfolgt eine historische Tiefenschärfung, indem der Modernisierungsprozess in unterschiedliche Phasen unterteilt wird (Kap. <?page no="25"?> Literatur und Kontingenz 11 II.2.2). Diese Phaseneinteilung dient dazu, die Romane aus dem späteren Interpretationsteil der Arbeit historisch einzuordnen. Die ersten beiden Unterkapiteln des Theorieteils bilden das Fundament, um ein narratologisches Analysemodell für Kontingenzkonzeptionen und Umgangsstrategien zu erarbeiten (Kap. II.3). Entsprechend der funktionsgeschichtlichen Ausrichtung dieser Studie wird zunächst die Rolle von Literatur im Modernisierungsprozess erörtert (Kap. II.3.1). Die verschiedenen Funktionen, die der Literatur im Prozess der Modernisierung zugeordnet werden können, erklären, wieso Literatur als ein eigenständiger Faktor bei der Veränderung des Kontingenzbewusstseins im Prozess der Moderne zu begreifen ist. Danach erfolgt die Erarbeitung der beiden oben beschriebenen Analyseraster für literarische Kontingenzkonzeptionen (Kap. II.3.2 und II.3.3). Beide Raster greifen die vorangegangen philosophischen und soziologischen Überlegungen zu Kontingenz in der Moderne auf und verknüpfen sie mit narratologischen Konzepten. Eine Erprobung des entwickelten narratologischen Modells erfolgt durch dessen Operationalisierung für die Analyse von sieben Romanen im nachfolgenden Interpretationsteil der Arbeit (Kap. III). Ziel dieses Anwendungsteils ist es, unterschiedliche Ästhetiken der Kontingenz exemplarisch zu modellieren und dabei zentrale literarische Entwicklungslinien im Untersuchungszeitraum vom 19.-21. Jahrhundert herauszuarbeiten. Der Anspruch, die jeweilige literarische Kontingenzkonzeption differenziert in ihrer Vernetzung mit einer sich modernisierenden Lebenswelt zu analysieren, bedingt die Selektivität des Vorgehens. Um genügend Raum für eine ausführliche Interpretation der jeweiligen Texte zu lassen, wurde die Auswahl auf sieben Romane beschränkt, in denen die Kontingenzthematik eine besonders prominente Rolle spielt. Die Analyse beginnt mit einem viktorianischen Roman, nämlich George Eliots Daniel Deronda (1876). George Eliots Romane bieten einen geeigneten Ausgangspunkt für die Kontingenzthematik, weil die Autorin mit ihren Werken des Realismus einen Bruch mit der zuvor dominierenden providential aesthetic, d.h. der Inszenierung göttlicher Vorsehung, vollzieht. Daniel Deronda bietet für die Untersuchung eine besonders interessante Fallstudie, weil Eliot in diesem Roman versucht, den Problemlagen zu begegnen, die durch den säkularen Determinismus ihrer früheren Werke, etwa Middlemarch (1871/ 72), aufgeworfen wurden. Die nächste Fallstudie ist literaturgeschichtlich in der Zeit zwischen viktorianischem Realismus und Modernismus angesiedelt; einer Zeit, die zugleich als „Beginn der modernen Romankunst“ (Seeber 1993: 316) gilt. Joseph Conrads The Secret Agent (1907) zeugt von einem tiefgreifenden Skeptizismus und Nihilismus angesichts der diagnostizierten Erosion menschlicher Handlungsmacht. Der Verlust an Handlungsmächtigkeit wird im Roman <?page no="26"?> 12 Einleitung als Resultat der Wirkmechanismen der ‚abstrakten Gesellschaft‘ 5 ausgewiesen, vor allem der verdinglichenden Macht des Kapitalismus. The Secret Agent bildet den ersten von insgesamt vier Stadttexten der literarischen Fallstudien (Virginia Woolf, Iris Murdoch, Jon McGregor). Die Dominanz von Stadttexten erklärt sich daraus, dass sich anhand der Stadtdarstellung die soziologische Kontingenzerfahrung in der Moderne besonders anschaulich inszenieren lässt. Nicht umsonst gilt in den Kulturwissenschaften die Metropole als paradigmatischer Ort der Moderne. So wird als Beispiel für modernistische Literatur Virginia Woolfs Mrs. Dalloway (1925) gewählt, weil in diesem Text die historische Kontingenzerfahrung des Ersten Weltkrieges mit der soziologischen Kontingenzerfahrung in der Metropole illustrativ verbunden wird. 6 Der Fokus der Untersuchung richtet sich auf neue Praktiken des Selbst und die Sensibilisierung für mythische Signaturen. Das neue Subjektmodell sowie die mythische Zeitdimension in Woolfs Roman lassen sich als Reaktion auf zeitgenössische Kontingenzerfahrungen begreifen. Als Beispiel für Literatur der Nachkriegszeit dient Iris Murdochs Under the Net (1954). In der Geschichte der philosophischen und literarischen Reflexion von Kontingenz nimmt Iris Murdoch eine herausgehobene Stellung ein, weil bei ihr eine emphatisch positive Wertaufladung von Kontingenz (des Unverfügbaren) erfolgt: Die Affirmation von Kontingenz bildet bei Murdoch eine zentrale Komponente präskriptiver Ethik. In der Fallstudie werden grundlegende Bezüge zwischen Murdochs philosophischen Schriften zu Kontingenz und ihrem literarischen Werk herausgearbeitet und zugleich gezeigt, inwiefern Under the Net über ihre philosophischen Schriften hinausgeht, indem der Roman ein eigenes Erkenntnis- und Erfahrungsmedium von Kontingenz bildet. Für den Gegenwartsroman werden drei Werke behandelt: Jon McGregors If Nobody Speaks of Remarkable Things (2002), David Mitchells Ghostwritten (1999) und Ian McEwans Atonement (2001). Die Analyse von drei Texten, die alle ungefähr zur selben Zeit geschrieben worden sind, dient dazu, eine zentrale These dieser Studie vertiefend zu behandeln. Es wird davon ausgegangen, dass sich zu einem gegebenen Zeitpunkt stets eine hegemoniale Kontingenzkultur in der modernisierten westlichen Welt identifizieren lässt. Diese hegemoniale Kontingenzkultur lässt sich anhand des bevorzugten Subjektmodells in ihren Grundzügen modellieren. Der Vergleich der oben genannten drei Romane eröffnet einerseits den Blick 5 Zum Begriff der ‚abstrakten Gesellschaft‘ siehe Zapf (1988: 7), der seinerseits das Konzept von Zijderveld (1972) und Habermas (1981) übernimmt. Für eine ausführliche Beschreibung der abstrakten Gesellschaft siehe Kap. III.2 der vorliegenden Arbeit. 6 Die Unterscheidung zwischen historischer und soziologischer Kontingenzerfahrung habe ich von Baum (2003) übernommen. <?page no="27"?> Literatur und Kontingenz 13 auf das hegemoniale Subjektmodell in der Postmoderne, denn alle drei Texte legen Wert auf bestimmte Praktiken des Selbst, die sich ähneln. Andererseits verdeutlicht die detaillierte Herausarbeitung der jeweiligen literarischen Kontingenzkonzeption, wie unterschiedlich die Kontingenzentwürfe und Umgangsstrategien dann doch wiederum sind. Während etwa McGregors If Nobody Speaks of Remarkable Things in vielerlei Hinsicht als neo-modernistisch erscheint, lässt sich Mitchells Roman als Versuch lesen, eine globalisierte Kontingenzkultur zu entwickeln. Ein besonderer Schwerpunkt bei der Analyse dieser beiden Romane liegt auf der Bedeutung von Gemeinschaft für Kontingenzwahrnehmung und -erfahrung. Beide Romane entwerfen verschiedene Modelle von Gemeinschaft, die Ausdruck ihrer jeweils zugrundeliegenden Kontingenzkonzeption sind. Der Interpretationsteil der Arbeit schließt mit McEwans Atonement. Zu den Besonderheiten von Atonement gehören die intensive Auseinandersetzung mit literarischen Schreibweisen vom viktorianischen Realismus bis zur Postmoderne und die Befragung dieser Schreibweisen auf ihre Affinität zu Kontingenz (dem Unverfügbaren). Die metafiktionalen Betrachtungen in Atonement schließen dabei McEwans eigene Schreibweise und literarischen Schaffensprozess kritisch mit ein. Aufgrund dieser Verknüpfung des metafiktionalen Fokus mit der Kontingenzthematik ist Atonement besonders gut geeignet, die vergleichende Betrachtung aller behandelten Romane im Schlussteil der Arbeit vorzubereiten. Wie diese kurzen Ausführungen zu den Fallstudien verdeutlichen, ist die Liste an ausgewählten Romanen zwar kontingent, jedoch keinesfalls willkürlich. So dient als ein weiteres zentrales Auswahlkriterium für die älteren Werke die Orientierung an kanonischer Literatur. Der literarischen Auseinandersetzung mit Kontingenz kommt, so die zentrale These dieser Studie, eine hohe kulturelle Signifikanz zu. Eine solche kulturelle Bedeutsamkeit lässt sich besonders gut anhand von Texten zeigen, die eine breite Wirkung entfaltet haben. Der kanonische Status von Texten kann als ein Indikator für eine solche Wirksamkeit gelesen werden: Ein Kanon besteht „aus einer Teilmenge der Menge aller literarischen Texte, nämlich den ausgezeichneten Texten, die als besonders wertvoll, wichtig oder einflussreich gelten und an deren Tradierung einer Trägergruppe gelegen ist“ (Winko 2002: 19). Mit Trägergruppe ist nicht gemeint, dass eine spezifische Personengruppe strategisch-gezielt einen Kanon innerhalb eines Kulturkreises etabliert. Vielmehr ist ein Kanon ein Phänomen der invisible hand […]: Niemand hat ihn absichtlich so und nicht anders zusammengesetzt, dennoch haben viele ‚intentional‘ an ihm mitgewirkt. […] Er resultiert aus zahlreichen einzelnen Handlungen (Mikroebene), die jede für sich einen anderen Zweck haben als den, einen Kanon zu bilden, und die unter Ausnutzung allgemeiner Prämissen einen Prozess in Gang gesetzt haben, der ihn (auf der Makroebene) dennoch entstehen lässt. <?page no="28"?> 14 Einleitung Dem widerspricht nicht, dass es auch Instanzen gibt, die der ‚Pflege‘ von Kanones dienen, dass also Kanones […] auch mit gezielten Maßnahmen gestärkt und gefördert werden. (ebd.: 11) Die ausgewählten Romane gehören größtenteils sowohl dem ‚inneren‘ als auch dem ‚äußeren‘ Kanon an. Der „innere Kanon wird innerhalb der Literatur selbst gebildet als eine lebendige Tradition durch die literarische Auseinandersetzung von Autoren mit ihren Vorgängern“ (Schmidt 2007: 18). Gedacht sei etwa an die kritische Abwendung modernistischer AutorInnen von SchriftstellerInnen des viktorianischen Realismus. Wenn etwa in Virginia Woolfs Roman To the Lighthouse (1927) eine der Figuren ausgerechnet George Eliots Middlemarch im Zug vergisst, dann ist dieses Zurücklassen auch in einem übertragenen bzw. metafiktionalen Sinne zu verstehen. Die Verweise auf AutorInnen wie George Eliot verstärken, unabhängig von ihrem kritischen Gestus, die Bedeutung solcher SchriftsstellerInnen im inneren Kanon. Ein weiteres Beispiel für die Auseinandersetzung mit dem inneren Kanon wurde oben kurz erwähnt, und zwar McEwans Atonement. Der innere und äußere Kanon müssen nicht deckungsgleich sein, denn der „äußere Kanon entsteht dadurch, daß als wertvoll anerkannte Werke durch die Institutionen der literarischen Traditionspflege (Schulen, Universitäten, Literaturkritiker) gelehrt werden“ (Schmidt 2007: 19). Die Differenzqualität zwischen diesen beiden Formen von Kanonisierung erklärt, weshalb der innere Kanon „durch universitäre Argumente für oder wider den Kanon nicht wirklich tangiert wird“ (ebd.: 18f.). Während George Eliot, Joseph Conrad, Virginia Woolf und Iris Murdoch sowohl dem inneren als auch äußeren Kanon angehören, ist es für die Gegenwartsliteratur wesentlich schwieriger abzuschätzen, welche Romane in den inneren und äußeren Kanon Eingang finden (werden). Von den drei Schriftstellern ist Ian McEwan sicherlich derjenige Autor, der zur Zeit am stärksten im äußeren Kanon repräsentiert ist, gefolgt von Mitchell. Dies zeigt sich daran, dass McEwan in literaturgeschichtlichen Studien zum Gegenwartsroman einen festen Platz einnimmt, 7 während David Mitchell häufiger Erwähnung findet, 8 und McGregor demgegenüber nur selten genannt wird (z.B. in Schoene 2010). 9 Dennoch kann auch Jon McGregors Romanen ein gewisser Bekanntheitsgrad zugeordnet werden: Seine beiden Romane, If Nobody Speaks of Remarkable Things (2001) und So 7 Vgl. z.B. Morrison (2003), Widdowson (2004), Tew (2004), Acheson (2005), Childs (2005), Bradford (2007), V. Nünning (2007), Nowak (2010) und Wagner (2010). 8 Vgl. z.B. Glomb/ Horlacher (2004), Widdowson (2004), Childs (2005), Bradford (2007) und Schoene (2010). 9 Für eine solche Abfolge sprechen auch die Trefferzahlen in der MLA: Das Schlagwort „Ian McEwan“ liefert 289 Treffer, die Eingabe von „David Mitchell“ 78 Treffer und die Angabe von „Jon McGregor“ lediglich drei Treffer. [Stand: 02.04.2012] <?page no="29"?> Literatur und Kontingenz 15 Many Ways to Begin (2006), wurden für den Man Booker Preis nominiert; If Nobody Speaks of Remarkable Things hat den Betty Trask und Somerset Maugham Preis gewonnen. 10 Insgesamt dient der Fokus auf kanonische Literatur dazu, den exemplarischen Charakter der analysierten Ästhetiken der Kontingenz zu unterstreichen. Die Lebendigkeit des inneren Kanons spricht dafür, dass diese Werke eine Anziehungskraft auf nachfolgende AutorInnen ausüben, weil ihnen semantische Gehalte zugeordnet werden können, die für die jeweilige Kontingenzkultur aktuell sind: „Kanontexte haben vor allem über lange Zeiträume hinweg ihre unumstrittene Position dadurch sichern können, dass sie an unterschiedliche Bedeutungskontexte anschließbar waren.“ (Korte 2002: 26) Die zentralen Analyseergebnisse zu Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive werden im Schlussteil der Arbeit zusammengefasst und vergleichend diskutiert. Dabei werden die gewonnenen Interpretationsergebnisse systematisch an die sechs Grundthesen zurückgebunden, die in dieser Einleitung vorgestellt wurden. Abschließend folgt eine selbstreflexive Wendung des Möglichkeitssinns: weg vom literarisch inszenierten Möglichkeitssinn hin zu der Frage, welche Impulse die vorliegende Arbeit für mögliche Anschlussforschungen bieten kann. 10 McEwan und Mitchell haben ebenfalls Literaturpreise gewonnen: McEwan erhielt z.B. für Amsterdam (1998) den Man Booker Preis; Mitchell wurde zweimal für den Man Booker Preis nominiert und gewann u.a. mit Ghostwritten den John Llewellyn Rhys Preis. <?page no="31"?> II Entwicklung eines Beschreibungs- und Analysemodells für Ästhetiken der Kontingenz [D]as Problem der Kontingenz [enthält] in nuce alle philosophischen Probleme […]. - Ernst Troeltsch (1962 [1922]: 777) Ein grundlegendes Ziel dieses Kapitels ist es, eine präzise Begriffsbestimmung von Kontingenz zu erarbeiten, die als Grundlage für die Entwicklung des narratologischen Analyseinstrumentariums und der Leitfragen für die Textinterpretation dienen kann. Ausgehend von einer breiten Definition von Kontingenz wird gezeigt, dass sich Kontingenz auf das dialektische Zusammenspiel des Verfügbaren und Unverfügbaren bezieht. Die zentrale These lautet, dass sich aus diesem dialektischen Zusammenspiel drei Bedeutungen von Kontingenz ableiten lassen. Wie in der Einleitung erwähnt wurde, bezieht sich ‚Gestaltbarkeitskontingenz‘ auf das Verfügbare und das Manipulierbare, während das Unverfügbare in zwei Erscheinungsformen unterteilt wird, nämlich in ‚Widerfahrniskontingenz‘ und ‚Kontingenz des Inkommensurablen‘. Im nachfolgenden Unterkapitel wird der Begriff ‚Kontingenz‘ schrittweise auf diese drei Bedeutungen hin fokussiert. Darauf aufbauend setzt das zweite Unterkapitel die verschiedenen Dimensionen des Modernisierungsprozesses systematisch in Bezug zu diesen Kontingenzfacetten. Auf diese Weise können tiefgreifende Wandlungen des gesellschaftlichen Kontingenzbewusstseins in Folge von Modernisierung differenziert modelliert werden. Die Überlegungen dieser ersten beiden Unterkapitel bereiten den Boden für die Entwicklung des narratologischen Beschreibungs- und Analysemodells für Ästhetiken der Kontingenz, das im dritten Unterkapitel ausgearbeitet wird. 1 Kontingenz als kulturelle Selbstdeutungskategorie: Bedeutungen von Kontingenz Kontingent ist das, was weder notwendig noch unmöglich ist. So lautet die klassische Definition von Kontingenz. Der Begriff bezeichnet demnach Wirklichkeitsbereiche, in denen das Anders-Sein-Können regiert. 11 Diese 11 Vgl. Hoffmann (2005: 58f.): „Der Begriff Kontingenz ist im Gegensatz zum Zufall keine Ereigniskategorie, sondern eine Bereichsangabe; kontingent können Zustände, Objekte, Ordnungen oder Strukturen sein, je nachdem welcher Bezugspunkt für das Prädikat <?page no="32"?> 18 Beschreibungs- und Analysemodell gängige Definition erklärt zugleich die Schwierigkeit einer präzisen Begriffsverwendung. Nicht umsonst kritisieren viele Forscher, dass der Begriff „‚auszufransen‘ [droht], teilweise gar beliebig zu erscheinen“ (Wortmann 2011). Wie Michael Makropoulos betont, ist Kontingenz „weder ontologisch, noch soziologisch eindeutig, weil systematisch ambivalent und historisch variabel“ (1997: 14). Die systematische Ambivalenz von Kontingenz resultiert daraus, dass in jenem „Bereich der Unbestimmtheit“ (ebd.), d.h. im Bereich des Anders-Sein-Könnens, sich „sowohl Handlungen als auch Zufälle realisieren“ (ebd.: 15). 12 Kontingenz bezieht sich somit einerseits auf das Verfügbare und Manipulierbare, nämlich Handlungen als Gestaltung von Wirklichkeit. Andererseits bezieht sich Kontingenz auf dessen Gegenteil, nämlich das Unverfügbare und von Menschen nicht Kontrollierbare (Zufall). 13 Zu dieser systematischen Ambivalenz kommt hinzu, dass die Frage ‚was ist kontingent? ‘ im Laufe der Geschichte unterschiedlich beantwortet wird. Die klassische Definition von Kontingenz verschiebt nämlich „die Frage nach der Bedeutung von ‚kontingent‘ natürlich nur auf die Frage nach der Bedeutung von ‚notwendig‘ bzw. ‚möglich‘ […]; und da darauf verschiedene Antworten gegeben wurden, müssen wir von einer Vielfalt der Bedeutungen unseres Terms ‚kontingent‘ ausgehen“ (Scheibe 1985: 6). Die vielfältigen Zugänge zu Kontingenz zeigen die Problematik, den Begriff zu definieren, und sie verdeutlichen zugleich, dass sich Kontingenz als eine produktive Analysekategorie eignet. Kontingenz ist „eine Kategorie sozialer Selbstproblematisierung und so ein Reflexionsprodukt, das unauflöslich mit dem Selbst- und Weltbild einer Gesellschaft korrespondiert“ (Makropoulos 1997: 14). Eine genauere Betrachtung der Art, wie Kontingenz gesellschaftlich-kulturell dimensioniert wird, liefert einen grundlegenden Einblick in das dominante Wirklichkeitsverständnis sowie kulturelle Subjektmodell einer Gesellschaft. Im Folgenden wird zunächst die systematische Ambivalenz von Kontingenz näher erläutert, bevor ein kurzer Abriss über die historisch unterschiedlichen Antworten auf die Frage nach dem Kontingenten gegeben wird. Beide Teile liefern eine zentrale Bezugsfolie, mit deren Hilfe sich das wandelnde Kontingenzbewusstkontingent bestimmt wird. Die traditionelle Auffassung des Begriffes Kontingenz hat diesen seit Aristoteles in dem Sinne einer begriffslogischen Modalkategorie verwendet […]. Ihre Gegenbegriffe sind die Modalitäten der Notwendigkeit und Unmöglichkeit […].“ „Kontingenz bezeichnet den Modus eines Wirklichkeitsbereiches“ (ebd.: 59, FN 202). Unter ‚Modalität‘ wird in der Philosophie die „nähere Bestimmung eines Sachverhalts hinsichtlich der Art und Weise (des ‚Modus‘) seines Bestehens“ (Metschl 1999: 369) verstanden. 12 Diese Ambivalenz von Kontingenz (Handlung/ Zufall) wird häufig in der Forschungsliteratur betont. Vgl. u.a. Bubner (1998: 7), von Graevenitz/ Marquard (1998: xiv), Scheibe (1985: 6) und Holzinger (2007: 30). 13 Zu dieser Dialektik von Kontingenz siehe auch Makropoulos (1997: 15). <?page no="33"?> Kontingenz als kulturelle Selbstdeutungskategorie 19 sein in der modernen Welt, zu dessen Ausprägung Literatur wesentlich beiträgt, fassen lässt. 1.1 Die ‚systematische Ambivalenz‘ von Kontingenz Wie gängig die oben umrissene Bestimmung von Kontingenz als das Anders-Sein-Können ist, zeigt ein kurzer Blick in ein einschlägiges Wörterbuch. Das Oxford English Dictionary erläutert ‚contingency‘ wie folgt: II. 3. […] a. The condition of being liable to happen or not in the future; uncertainty of occurrence or incidence. […] b. The befalling or occurrence of anything without preordination; chance; fortuitousness. […] c. The condition of being free from predetermining necessity in regard to existence or action; hence, the being open to the play of chance, or of free will. […] d. The quality or condition of being subject to chance and change, or of being at the mercy of accidents. […] 4. […] b. A conjuncture of events occurring without design; a juncture. Die systematische Ambivalenz, die durch das Unbestimmte als Wirkungsraum von Zufall und Handeln gegeben ist, spiegelt sich in der Formulierung „being open to the play of chance, or of free will“. Allerdings fällt in der Definition die Betonung des Zufalls auf, der wiederholt genannt wird („chance“, „fortuitousness“, „accidents“). Tatsächlich „geht die klassische Bedeutung von ‚kontingent‘ auf die aristotelische Kategorie von Zufall zurück, deren alte Formel ‚wie es sich gerade so ergibt‘ lautet“ (Gamm 1994: 37). Diese Formel wurde in der spätmittelalterlichen Scholastik mit dem Lateinischen ‚contingere‘ übersetzt, was „soviel bedeutet wie ‚sich ereignen‘ und ‚widerfahren‘“ (ebd.: 2, FN10) bzw. ‚zusammenfallen, eintreffen, passieren‘. 14 Gemäß der aristotelischen Zufallstheorie kann der Zufall durch ein ursacheloses Zusammenfallen zweier (oder mehrerer) Handlungs- oder Kausalketten erklärt werden (siehe unten). Diese Denkfigur findet sich ebenfalls in dem OED-Eintrag, und zwar wenn die Rede ist von „a conjuncture of events occuring without design“. Der Zufall gilt als der „‚lebensnahste‘ Fall von Kontingenz“ (Heuß 1985: 15). Die semantische 14 Vgl. Wetz (1998a: 27). Siehe auch Herberichs/ Reichlin (2010a: 9): „Bezugspunkt der philosophischen Kontingenzdiskussion seit der Antike ist die wirkmächtige Definition des Aristoteles, wonach kontingent sei, was ‚möglich, aber nicht notwendig‘ ist. Als Boethius den lateinischen Begriff contingentia in seiner Übersetzung der Peri Hermeneia (De Interpretatione) als Übertragung des Aristotelischen endechómena prägte, war im Mittelalter eine Mehrdeutigkeit gesetzt, die auch für die neuzeitliche Begriffsgeschichte von weitreichenden Folgen war: Bezeichnete in der Hermeneutik der aristotelische Begriff ‚das Mögliche des Seienden‘, so eröffnete die lateinische Übersetzung mit ihrer Semantik des ‚Zusammenfallenden‘, ‚sich Ereignenden‘ einen weitaus offeneren Interpretationsspielraum.“ Zur spätantiken Kommentierung und frühscholastischen Interpretation der aristotelischen Hermeneutik siehe Vogt (2011: 49- 53). <?page no="34"?> 20 Beschreibungs- und Analysemodell Vermischung von Kontingenz und Zufall wird dadurch erhöht, dass seit Kant der Begriff Kontingenz mit Zufälligkeit übersetzt wird. 15 Kontingenz und Zufall haben zwar eine große semantische Schnittmenge und werden häufig synonym verwendet, allerdings sind beide Begriffe nicht deckungsgleich. Vielmehr sind Kontingenz und Zufall analytisch und handlungstheoretisch voneinander zu unterscheiden (vgl. Hoffmann 2005: 14). 16 Mit ‚Zufall‘ bezeichnen wir ein Ereignis, 17 das nicht determiniert ist und „für dessen Existenz es keinen Grund gibt“ (Bubner 1998: 3). Damit ein solches Ereignis eintreten kann, muss es eine Ordnung oder einen Bereich geben, in dem der Zufall diese Unbestimmtheit des Ereignisses überhaupt verdichten bzw. realisieren kann. Wie sollte etwas Zufälliges in einer Ordnung passieren, die nur solche Ereignisse kennt und zulässt, die immer oder meistens und notwendig eintreten, wenn bestimmte Ordnungsbedingungen gegeben sind? (Hoffmann 2005: 65) Ausgehend von diesen Überlegungen lässt sich Kontingenz bestimmen als ontologische „Bedingung der Möglichkeit des Zufalls in der Form der Koinzidenz. Zufall ist realisierte Kontingenz“ (ebd.). 18 Gleichzeitig kann die Wirklichkeit nur dann als kontingent erfahren werden, wenn Zufälle passieren: Nur der Zufall eröffnet dem Subjekt die Augen für die „reale Möglichkeit 15 Vgl. Hoffmann (2005: 21). Siehe auch Wetz (1998a: 29). Ausführlich zur Begriffsgeschichte von Kontingenz siehe zudem u.a. Freundlieb (1933), Becker-Freyseng (1938), Schepers (1963), Schulthess (2010) und Vogt (2011). 16 Für eine Einordnung von Hoffmann (2005) in die Ideen- und Begriffsgeschichte von Kontingenz siehe Vogt (2011: 336-341). 17 „Ein Ereignis ist […] etwas, das in einer bestimmten Weise auffällig geschieht. Was auffällig geschieht, wird auffällig für einen Einzelnen oder für ein Kollektiv. Es wird ihnen auffällig im Unterschied zu Vorgängen, die sich unauffällig oder wie gewohnt vollziehen. Überdies geschieht ein Ereignis nicht nur, es widerfährt denen, denen es bemerkbar wird.“ „Nicht jeder irgendwie erstaunliche Vorgang freilich hat ereignishafte Qualität. Nur solche Vorgänge können zum Ereignis werden, die weder beliebig wiederholbar noch im Ganzen intentional bewirkbar sind. Dabei ist die Einschränkung wichtig, die zwar eine beliebige Wiederholbarkeit und durchgängige Herstellbarkeit ausschließt, nicht aber Wiederholbarkeit und Herstellbarkeit generell.“ Seel (2003: 39; 40) Ausführlich zum Begriff und Konzept des Ereignisses siehe die Beiträge in Müller-Schöll (2003). Zur Konzeptualisierung von Ereignis in der Literaturwissenschaft sowie zu Skalierungskriterien für Ereignishaftigkeit siehe Schmid (2005: 11ff.); zum Ereignis im Bereich der Nachrichtenmedien siehe Isekenmeier (2009). 18 Vgl. auch Bubner (1998: 7): „Um einer häufigen Begriffsverwirrung auszuweichen, sollte man Kontingenz nur jenen Raum nennen, der sich ontologisch erschließt, wo das Auch-anders-sein-können regiert. Zufall im strengen Sinne ist dann dasjenige, was innerhalb dieses vorgängig eröffneten Raumes tatsächlich sich verwirklicht, wobei das faktische Eintreten aus einer Mehrzahl von Varianten ohne erkennbaren Grund erfolgt. Kontingenz heißt Zufälligkeit, und Zufall ist grundlos fixierte Kontingenz.“ Vgl. auch Vogt (2011: 144): „[Kontingenz ist die] ontologische Bedingung für die Möglichkeit des Zufalls“. <?page no="35"?> Kontingenz als kulturelle Selbstdeutungskategorie 21 des Anders-Sein-Könnens“ (ebd.: 66) der Welt. Der Bereich des Unbestimmten, in dem sich Zufälle manifestieren können, ist dabei nicht gleichzusetzen mit „ordnungslos, unstrukturiert oder chaotisch“ (Hoffmann 2005: 65): „Unbestimmtheit in Bezug auf den Kontingenzbegriff bedeutet […] Unregelmäßigkeit, Variabilität und Latenz von Alternativen“ (ebd.). 19 Der Zufall ist ein Ereignis, dem eine objektive und subjektive Komponente zugeordnet werden kann. Objektiv umfasst der Zufall eine „Knotenstruktur“ (Hoffmann 2005: 53), nämlich „die Koinzidenz kausaler Wirkungszusammenhänge, die zwar als einzelne kausal determiniert sind, aber eben nicht in der Form von Ursache und Wirkung voneinander ableitbar sind“ (ebd.: 50). Dieser Zusammenfall verschiedener Kausalitätsbzw. Ereignisketten muss jedoch von einem Akteur als Zufall interpretiert werden, um als solcher zu gelten (vgl. ebd.: 52). Dies stellt die subjektive Komponente dar. Wir interpretieren den Zusammenfall verschiedener Handlungsketten nur dann als Zufall, wenn deren Auswirkungen von uns als „das Unbeabsichtigte, Unvorhersehbare, Unerwartete, Unwahrscheinliche oder Überraschende signifikant werden“ (ebd.: 51). Handlungs- und Kausalketten überkreuzen sich die gesamte Zeit, ohne dass wir dies bewusst wahrnehmen und als Zufall kategorisieren. Ein wichtiges Kriterium für die Wahrnehmung von Zufällen ist die Bedeutung, welche das Zusammenfallen von spezifischen Kausalketten für einen selbst hat, sowie der Grad an nicht Vorhersehbarkeit. „Aus der indifferenten Pluralität real existierender Kausalverläufe, für deren Verbindung keine eigene Kausalursache zu entdecken ist, wählen wir indes solche Fälle aus, wo der Zufall Einfluß auf unser Leben nimmt.“ (Bubner 1998: 11) Diese abstrakten Überlegungen lassen sich leicht anhand eines kurzen Beispiels illustrieren. Eine Doktorandin schreibt mit großer Begeisterung eine Arbeit über die britische Gegenwartsautorin Rachel Cusk. Sie sitzt mal wieder am Computer, als sie nagende Hungergefühle überkommen, so dass sie spontan beschließt, ins Restaurant um die Ecke zu gehen. Dort trifft sie zu ihrer großen Freude unerwartet auf Rachel Cusk beim Mittagessen. Dieses einfache Beispiel verdeutlicht, inwiefern der Zufall aus dem Zusammenfall mindestens zweier Kausalbzw. Ereignisketten resultiert. Die Kausalkette ‚Gang der Doktorandin ins Restaurant‘ überkreuzt sich mit 19 Für eine erhellende Diskussion von ‚Unbestimmtheit als soziales Organisationsprinzip‘ vgl. Hondrich (1985): „Unbestimmtheit von persönlichen und sozialen Verhältnissen [ist] überlebensnotwendig […], solange die Umwelt von lebenden Systemen nicht restlos kontrollierbar und berechenbar ist und Personen und Gesellschaften auf die unvorhersehbaren Bewegungen ihrer Umwelt flexibel reagieren müssen. Sie müssen sich innere Unbestimmtheit bewahren, um, im Zuge einer Überlebensstrategie, äußeren Unbestimmtheiten entgegentreten zu können. […] Wer Ungewißheit nicht aushalten kann, sondern um jeden Preis Gewißheit will, setzt Zerstörung in Gang.“ (75) „Auch soziale Systeme werden durch Versuche, ihnen das je angemessene Maß an Unbestimmtheit auszutreiben, gestört und zerstört.“ (68) <?page no="36"?> 22 Beschreibungs- und Analysemodell der Kausalkette ‚Wahrnehmung eines Geschäftstermins durch Rachel Cusk im Restaurant‘. Ursache und Wirkung sind dabei nicht voneinander ableitbar: Rachel Cusk ist nicht im Restaurant, weil die Doktorandin dort hingeht, und die Doktorandin geht nicht ins Restaurant, weil sich dort Rachel Cusk aufhält. Wäre eine solche Kausalität gegeben, dann würde es sich gerade nicht um einen Zufall handeln. Gleichzeitig verdeutlicht das Beispiel, inwiefern der Zufall eng an die Wahrnehmungsperspektive des Subjekts gebunden ist. Dass die Doktorandin andere Gäste im Restaurant trifft, ist trivial und vorhersehbar, also nicht der Kategorie Zufall wert. Das dortige Zusammentreffen mit Rachel Cusk ist demgegenüber unerwartet und bedeutsam für die Doktorandin. 20 Der Zufall erscheint als ein nicht intendiertes und signifikantes Folgeereignis eigener Planung. Die lebenspraktische Relevanz von Kontingenz und Zufall ergibt sich daraus, dass sie den Bereich menschlichen Handelns betreffen (vgl. Bubner 1998: 6). Handeln ist intentional bzw. zielgerichtet. Es „bedeutet Setzen von Wirklichkeit, die noch nicht ist. […] Wo etwas notwendig geschieht, unvermeidlich war oder als Tatsache längst festliegt, ist für Handeln kein Ort“ (ebd.: 7). Handeln setzt also kontingente Wirklichkeitsbereiche voraus. Nur in einer Welt des Anders-Sein-Könnens bzw. bei dem Vorliegen von Alternativen kann gehandelt werden (vgl. ebd.; Scheibe 1985: 5). Der Zufall ermöglicht einerseits Handeln, weil er uns die Welt als kontingent erfahren lässt und damit unserem Handeln die Möglichkeit zur Entfaltung gibt (vgl. Bubner 1998: 7). Andererseits durchkreuzt der Zufall unsere Intentionen und führt zu unbeabsichtigten Handlungsfolgen. Beispiele für solche ungewollten Handlungsfolgen finden sich vielfach in der Lebenswelt, aber auch in Literatur und Film. Letztere nutzen den Zufall gerne als Plotelement und übertreiben ihn bis zur Absurdität. So tötet beispielsweise in Paul Thomas Andersons Film Magnolia (1999) der Pilot eines Löschflugzeugs aus Versehen einen Taucher, weil er ihn nicht rechtzeitig in seinem Löschwasser-Tank bemerkt. Der Pilot hatte Wasser mit seinem Flugzeug aus einem See geschöpft, um einen Waldbrand zu löschen, und dabei den Taucher mit aufgesogen. Der Taucher wird gemeinsam mit dem Wasser über den brennenden Wald abgeworfen und stirbt. Der Pilot kann mit dieser unbeabsichtigten Folge seines Handelns nicht leben und begeht Selbstmord. Zufall und Handeln stehen, wie das kurze Beispiel zeigt, in einem grundlegenden Spannungsverhältnis. 21 20 Vgl. Hoffmann (2005: 52): „Die Koinzidenz als zufälliges Ereignis im Rahmen von Handlung und Erfahrung lässt sich also für finale oder teleologische Zusammenhänge im Phänomen des Erwartungsdurchbruchs fixieren.“ 21 Vgl. auch Dillman (2005: 144): „Magnolia’s preamble is a meditation on chance and destiny, negating the notion that cause, effect, and order function the way we think they do in our lives.“ <?page no="37"?> Kontingenz als kulturelle Selbstdeutungskategorie 23 Während wir im Handeln versuchen, die Wirklichkeit zu beherrschen und nach unserem Willen zu formen, schafft der Zufall demgegenüber „einen Zustand des Ausgeliefertseins, der so vieles impliziert, daß wir dessen nie und nimmer Herr werden können“ (Bubner 1998: 7). Der Zufall kann nicht „durch Lernen, Forschung, soziale Interaktion oder perfektionierte Technik ausgeglichen werden“ (ebd.). Vielmehr sind alle unsere Handlungsvollzüge stets Faktoren ausgesetzt, die wir nicht vollständig kontrollieren oder überschauen können. Je komplexer die ‚Knotenstruktur‘ von Handlungszusammenhängen ist, desto weniger können wir das Eingebettetsein unserer Handlungsvollzüge überschauen. „[D]aß wir im Handeln auf die Struktur des Auch-anders-sein-könnens der Wirklichkeit uns einlassen müssen, impliziert geradewegs, daß wir dem Wirken des Zufalls dabei ausgesetzt sind.“ (ebd.: 8) Als Zwischenfazit der bisherigen Ausführungen lassen sich zwei wesentlich Punkte festhalten. Erstens bezieht sich Kontingenz auf Wirklichkeitsbereiche, die anders sein können. Diese Modalität des Anders-Sein- Könnens erklärt zweitens die Janusköpfigkeit von Kontingenz. Einerseits ermöglicht das Anders-Sein-Können menschliches Handeln und damit die aktive Gestaltung von Welt (das Verfügbare). Andererseits kann das Anders-Sein-Können als Widerfahrnis erlebt werden, etwa in Form des Zufalls, der unsere Handlungspläne durchkreuzt (das Nichtverfügbare). Das Verfügbare und Nicht-Verfügbare sind dabei allerdings nicht als binäre Opposition zu begreifen. Vielmehr stehen beide in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Das Bedingungs- und Wechselverhältnis wurde bereits bei der Gegenüberstellung von Zufall und Handeln offen gelegt (siehe oben). Darüber hinaus kann die gegenseitige Beeinflussung daran abgelesen werden, dass eine Vergrößerung des Bereiches des Verfügbaren unweigerlich eine Verkleinerung des Bereichs des Nicht-Verfügbaren (und umgekehrt) nach sich zieht. Nicht zuletzt kann es zu dialektischen Umschlägen kommen, etwa wenn Versuche, Herrschaft über Wirklichkeitsbereiche zu erlangen, unkontrollierbare Gefahren bzw. Formen des Unverfügbaren hervorbringen (siehe Kap. II.2). Bislang wurde das Unverfügbare auf die Kategorie des Zufalls eingeschränkt. Das Unverfügbare ist demnach das Unvorhersehbare und Unkontrollierbare. Phänomenologisch erlebt das Subjekt diese Form des Unverfügbaren als Widerfahrnis, dem er/ sie ausgesetzt ist. Diese handlungstheoretische Perspektive auf das Unverfügbare lässt sich um eine epistemologische Perspektive erweitern (vgl. Holzinger 2007: 30, 38f.). Das Unverfügbare ist nicht nur dasjenige, was uns widerfährt (z.B. Zufall, Krankheit, Unfall). Vielmehr ist es ebenso dasjenige, was sich kognitiven Rastern entzieht, nämlich das Individuelle. In diesem Sinne bezieht sich Kontingenz auf (Grenz-)Bereiche des Nicht-Sprachlichen bzw. Nicht- Begrifflichen, auf das Konkrete und das Einzelne. Bei dieser dritten Dimen- <?page no="38"?> 24 Beschreibungs- und Analysemodell sion von Kontingenz geht es um das Verhältnis zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen. Philosophische Betrachtungen über diese Facette von Kontingenz erhielten zwar Impulse aus verschiedenen Denkrichtungen (z.B. Friedrich Nietzsche, Ernst Troeltsch), doch übte vor allem Theodor W. Adornos negative Dialektik eine besondere hohe Wirkung aus. Adorno bezeichnet diese Form von Kontingenz als das ‚Nichtidentische‘. Adorno geht es in seiner negativen Dialektik darum, das Nichtidentische in den Vordergrund zu rücken. Ausgangsbasis für seine Kritik ist die Diagnose, dass die moderne Welt fest im Griff von ‚identifizierendem Denken‘ ist. Identifizierendes Denken meint ein Denken, dass „sich auf subsumierende, klassifizierende, tautologische Operationen [beschränkt], die die ‚Sache‘ nicht zum Ausdruck, zur Darstellung, sondern tendenziell zum Verschwinden bringen“ (Thyen 1989: 114). Vereinfacht gesagt, geht es um den Zusammenhang zwischen Sprache bzw. begrifflichen Schemata, Abstraktionsprozessen und erlebter, unmittelbarer individueller Erfahrung. Für Adorno zielen Begriffe immer auf das Abstrakte, d.h. das Einzelne wird im begrifflichen Denken dem Allgemeinen unterworfen. An einem kurzen Beispiel lässt sich dieses veranschaulichen. Bezeichne ich eine Entität als ‚Eiche‘, dann abstrahiere ich von allen individuellen Besonderheiten dieses bestimmten Seienden und subsumiere dieses Wahrgenommene unter der allgemeinen Kategorie ‚Eiche‘. Qualitative Differenziertheit, wie etwa spezifische Blattfärbungen oder das Alter des konkreten Baumes, wird durch den angewandten Begriff ‚Eiche‘ ausgeblendet. Durch das Abstraktionsmoment, das mit dem Begrifflichen verbunden ist, geht somit das Individuelle vom ‚Objekt‘ verloren. 22 22 Wie Anke Thyen (1989) erläutert, muss beim Begrifflichen genau genommen zwischen „identifizieren als“ und „identifizieren mit“ unterschieden werden: „Erkenntnis des Nichtidentischen zielt auf die Identität des Objekts; sie identifiziert es als etwas, aber sie meldet Vorbehalte gegen Identifikation im Sinne von ‚identifizieren mit‘ an.“ (205) „Konstellationen bilden Begriffe, wenn sie den Gegenstand als etwas identifizieren. Denn etwas als etwas zu identifizieren bedeutet […] nicht, daß der Gegenstand der Identifikation vollständig koextensiv zu einem Begriff ist, sondern schließt gerade die Möglichkeit ein, daß er auch noch anderes ist.“ (ebd.: 206f.) Holzinger (2007: 64, FN1) geht ebenfalls auf diese Differenzierung ein: „Gemäß Adorno soll die Operation des Subsumierens und Klassifizierens singuläre Gegenstände gleichsetzen, die eigentlich verschieden sind. ‚Formal‘ ist an der solchermaßen hergestellten Identität, dass sie, von der Besonderheit ihrer Gegenstände absehend, diese unter allgemeine Termini bringt und sie nur noch - nicht auch - als Repräsentanten eines Allgemeinen begreift. Verstände Adorno den Akt des ‚Identifizierens‘ in dieser Weise, würde dies den Vorwurf nahelegen, er fasse auch prädikative Urteile als bloße Resultate identifizierenden Denkens auf, was natürlich nur schwer einzusehen ist. Identifizieren kann nämlich auch bedeuten: etwas als etwas identifizieren. Hierbei wird im prädikativen Satz keineswegs ausgesagt, dass ein singulärer Gegenstand vollständig durch einen allgemeinen Terminus ausgedrückt werde. […] Nehmen wir ein Beispiel: Die Annahme, der Satz ‚Dies Haus ist gelb‘ impliziere die Schlussfolgerung, dass das Haus über diese Eigenschaft des Gelbseins hinaus keine weiteren qualitativen Merkmale <?page no="39"?> Kontingenz als kulturelle Selbstdeutungskategorie 25 Ebenso ausgeblendet wird die spezifische Erfahrungsdimension des Subjekts sowie die Dynamik zwischen Subjekt und Objekt, die stets an das Hier und Jetzt geknüpft ist. Das sinnliche und psychische Erleben des Subjekts, das an den Moment der Wahrnehmung der Eiche gebunden ist, lässt sich im Rahmen eines Identitätsdenkens nicht fassen. Erlebte Stimmung und Atmosphäre etwa, die durch die Interaktion von Subjekt und Objekt generiert werden (d.h. das Objekt affiziert das Subjekt), sind „nicht im Begriff rational [a]uflösba[r]“ (Barwasser 2010: 285). Mit dieser Sensibilisierung für kontingente, individuelle Erfahrung grenzt sich die negative Dialektik von „einem naturwissenschaftlichen, empiristischen Erfahrungsbegriff“ (ebd.) ab, um „den Raum möglicher Erfahrungen auszuweiten und so die epistemologische Legitimität anderer Erfahrungen, wie sie sich etwa in Gefühlen, im Leiden oder in der Kunst zeigen, zu erweisen“ (ebd.). Adornos „Kritik des identifizierenden Denkens ist [somit] gegen die Reduktion der Erkenntnisdimension auf ihre begrifflichen Momente gerichtet; gegen diese tritt sie für die Rettung des Nichtbegrifflichen ein“ (Thyen 1989: 114). Rehabilitierung des Nichtidentischen bedeutet für Adorno, eine andere Wahrnehmungsperspektive auf das Seiende einzunehmen, und zwar eine, die „sich ins Detail versenkt, sich des Besonderen, Individuellen in ihr annimmt“ (ebd.: 205). Sensibilität für das Nichtidentische heißt, offen für drei Momente des Erkenntnisobjekts zu sein: „Es sind dies die qualitative Differenziertheit eines bestimmten Seienden, der Sinnhorizont, in den es auf eine spezifische Weise eingebunden ist, und seine Veränderung in der Zeit.“ (ebd.: 206) Zwar sind wir auf begriffliches Denken angewiesen, d.h. es ist uns unmöglich, nicht begrifflich zu denken. Allerdings kann das identifizierende Denken in seinen verdinglichenden ‚rationalen‘ Bemächtigungspraktiken durch ein Bewusstsein für die blinden Flecken und Grenzen der eigenen Erkenntnisprozesse abgelöst werden. Negative Dialektik bezieht sich bei Adorno daher darauf, auf den Moment einer Synthese zu verzichten, denn ein solcher Moment würde den Zusammenfall von Begriff und Sache implizieren. Stattdessen geht es um das Einüben einer „Reflexion mit offenem Ausgang - das bedeutet für die Möglichkeit des Erkanntseins der Gegenstände der Erkenntnis, daß Nichtidentität in der Tat als ein Moment der Erkenntnis verstanden werden müßte“ (ebd.: 199). 23 mehr habe, ist natürlich absurd. Denn die Tatsache, dass ich ausgerechnet die Eigenschaft ‚gelb‘ und keine andere prädiziere, kann ja durch erneute Prädikationen fortlaufend erweitert werden.“ Die Kritik am identifizierenden Denken richtet sich somit gegen das ‚Identifizieren mit‘ und nicht gegen das ‚Identifizieren als‘. 23 Philosophie im Sinne der negativen Dialektik arbeitet mit Begriffen im Bewusstsein, dass Begriffe nicht ausreichen. Deshalb gilt es, „über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen“ (Adorno zitiert nach Wellmer 1993: 12). Dieses Ziel kann mit Hilfe der Kunst erreicht werden: „Adorno hat in der Negativen Dialektik diese Selbstüberbietung des Begriffs als Hereinnahme eines ‚mimetischen‘ Moments in das <?page no="40"?> 26 Beschreibungs- und Analysemodell Die Überlegungen zum Nichtidentischen lassen sich erweitern, indem Bezüge zwischen Adornos Konzeptualisierung des Nichtidentischen und kognitionswissenschaftlichen Forschungen herausgearbeitet werden. Ein solcher Brückenschlag bietet sich auch deshalb an, weil Adorno „den Begriff ganz nominalistisch als ein operatives Schema [begreift], als ‚Abstraktionsmechanismus‘, dessen Anwendung auf die Gegenstände das Inkommensurable ausscheidet und sie nur noch als Exemplare eines Allgemeinen übrigläßt“ (Schnädelbach 1983: 74). Gemäß der Schematheorie ist die „Welt nur erfaßbar, insoweit sie von unseren menschengemachten oder in uns vorgefundenen Interpretationsschemata gebildet, strukturiert, geformt ist“ (Lenk o.J.). Grundlage für unsere Wahrnehmung von Welt sind also Schemata, da diese als ein „Mechanismus der Datenstrukturierung“ (Lenk 1993: 88) dienen. Es können dabei Stufen von „schemainterpretierende[n] Aktivitäten“ (ebd.) unterschieden werden. Hans Lenk spricht von sechs verschiedenen Stufen. Bei der untersten Stufe handelt es sich um die „biologischgenetisch festgelegten oder fundierten unveränderlichen Urmusterbildungen und -erfahrungen […]: daß wir beispielsweise Hell und Dunkel unterscheiden können, ist genetisch festgelegt, wenn wir nicht gerade blind geboren sind“ (Lenk 1995: 103f.). Die nachfolgenden fünf Stufen gehen mit immer größer werdenden „Alternativ- und Variationsfreiheiten“ (ebd.: 104) einher. So umfassen die letzten beiden Stufen „explizit begründende und theoretische Deutungen [Stufe 5]“ (ebd.: 107) sowie Reflexionen über die eigenen Interpretationskonstrukte (Stufe 6) (vgl. ebd.: 109). Während wir keinen Einfluss auf biologisch-genetisch festgelegte Musterbildung haben, können wir jedoch über die Prämissen und blinden Flecken unserer kulturellen Wahrnehmungsschemata reflektieren und auf Basis dieser begriffliche Denken zu charakterisieren versucht. Rationalität und Mimesis müssen zusammentreten, um die Rationalität aus ihrer Irrationalität zu erlösen. Mimesis ist der Name für die sinnlich rezeptiven, expressiven und kommunikativ sich anschmiegenden Verhaltensweisen des Lebendigen. Der Ort, an dem mimetische Verhaltensweisen im Prozeß der Zivilisation als geistige sich erhalten haben, ist die Kunst: Kunst ist vergeistigte, d.h. durch Rationalität verwandelte und objektivierte Mimesis. Kunst und Philosophie bezeichnen somit Sphären des Geistes, in denen dieser durch die Verschränkung des rationalen mit einem mimetischen Moment die Kruste der Verdinglichung durchbricht.“ (Wellmer 1993: 12) Philosophie und Kunst werden als komplementär verstanden: „Im Kunstwerk kommt die Wahrheit sinnlich zur Erscheinung; das macht seinen Vorrang vor der diskursiven Erkenntnis aus.“ (ebd.: 13) Bleibt jedoch „der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke in den Augenblick der ästhetische Erfahrung eingeschlossen, so wäre er verloren, die ästhetische Erfahrung nichtig. Daher sind die Kunstwerke, und zwar um dessen willen, was in ihnen über den flüchtigen Moment der ästhetischen Erfahrung hinausweist, auf […] die ‚Herstellung ihres Wahrheitsgehalts‘ durch Interpretation [angewiesen]. Interpretation bedeutet für Adorno: philosophische Interpretation“ (ebd.: 14). Gemäß Adorno ermöglicht somit erst das Miteinander von Philosophie und Kunst eine Sicht auf das Nicht- Identische, die dem Nicht-Identischen möglichst gerecht wird. <?page no="41"?> Kontingenz als kulturelle Selbstdeutungskategorie 27 Reflexionen unsere Schemawahl gegebenenfalls modifizieren. Schematheoretisch formuliert, bedeutet identifizierendes Denken, dass ein spezifisches kulturelles Wahrnehmungsbzw. Deutungsschema als wahr privilegiert wird. Indem dieses Schema absolut gesetzt wird, erkenne ich von vorneherein nur „das, was in begrifflichen Schemata […] schon als Erkenntnis präformiert vorliegt“ (Thyen 1989: 114). Demgegenüber bedeutet Offenheit für Nichtidentisches ein Bewusstsein dafür, dass das Seiende auch noch etwas anderes ist, als was ich mit meinem Schema wahrnehme (vgl. auch ebd.: 207). Wie allgegenwärtig identifizierendes Denken in der modernen Welt ist, kann insbesondere an der Herrschaft von „hoch standardisierten Systeme[n]“ (Holzinger 2007: 69) gesehen werden, denen eine Homoge nisierungstendenz zukommt (vgl. ebd.). Die Funktionssysteme unserer modernen Gesellschaft umfassen spezifische Wahrnehmungs- und Erklärungsschemata, die in Übereinstimmung mit den jeweiligen Systemimperativen das Kontingente bzw. Individuelle ausblenden. Dieser Sachverhalt lässt sich anhand von zwei kurzen Beispielen veranschaulichen. Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist auf Gewinnmaximierung ausgerichtet. Gemäß diesem Systemimperativ erscheint die Natur ausschließlich als Ressource, die für wirtschaftliche Zwecke ausgebeutet werden kann. Die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen von Natur oder die ästhetischen Besonderheiten einer einzelnen Pflanze interessieren nicht. Das zweite Beispiel bezieht sich auf den Sachverhalt von Freiheit, wie er im Wissenschaftssystem diskutiert wird. Die neurowissenschaftliche Diskussion um Willensfreiheit zeigt, wie das Unterfangen, Begriff und Sache gleichzusetzen, konkret aussehen kann. Neurobiologen wie etwa Gerhardt Roth (1997) oder Wolfgang Singer (2004) subsumieren Freiheit vollständig unter die Begriffe der Neurobiologie, d.h. Freiheit wird auf neuronale Aktivitäten im Gehirn reduziert. Mit dieser Reduktion von Freiheit auf neuronale Vernetzungen werden alle anderen Facetten ausgeblendet, die nicht in dieses naturwissenschaftliche Schema integriert werden können. So spielt etwa die lebensweltliche Perspektive des Individuums, seine oder ihre phänomenologische Erfahrung, keine Rolle. Verknüpft wird diese Homogenisierung mit einem absoluten Machtanspruch, nämlich dem Monopolanspruch zur Erklärung von Welt. Demgegenüber bedeutet Offenheit für das Nichtidentische, darüber zu reflektieren, welche Bedeutungsgehalte von ‚Freiheit‘ nicht durch den naturwissenschaftlichen Zugang erfasst werden können, so dass blinde Flecken der perspektivisch gebundenen Wahrnehmung ausgelotet werden. Zu dieser Offenheit für das Nichtidentische gehört, dass die ‚epistemologische Legitimität‘ von kontingenter, unbewusster, individuell-intuitiver Erfahrung anerkannt wird, „denn der Leib, diese körperlich-seelisch-geistige Integrität, spürt vieles, was der Geist allein, das reine Denken, nicht ahnt“ (Schmid 1998: 198). - <?page no="42"?> 28 Beschreibungs- und Analysemodell „Daß Begriffliches defizitär bleibt und gleichwohl unerläßlich ist, ist gewissermaßen die Geschäftsgrundlage der Idee negativer Dialektik.“ (Thyen 1989: 206) Diese Geschäftsgrundlage möchte ich an dieser Stelle übernehmen. Zwar geht das zu Begreifende nie im Begriff auf (vgl. ebd.: 115), doch ist eine Benennung der drei herausgearbeiteten Dimensionen von Kontingenz notwendig, damit auf diese bei der weiteren Argumentation klar Bezug genommen werden kann. Kontingenz bezeichnet Wirklichkeitsbereiche, die anders sein können. Dieser Modus des Anders-Sein- Könnens ermöglicht zum einen Zugriffsmöglichkeiten auf die Welt, d.h. das ‚Setzen von Wirklichkeit‘ (Bubner). Andererseits manifestiert sich das Anders-Sein-Können auch in der Form des Unverfügbaren: „kontingent ist ‚das, was auch anders sein könnte‘ und gerade nicht durch uns änderbar ist (Schicksalsschläge, geschichtliche Überraschungen, militärisches Schlachtenglück, Krankheiten, Todesfälle, geboren zu sein und dgl.)“ (von Graevenitz/ Marquard 1998: xiv). Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard haben für diese beiden Facetten von Kontingenz das Begriffspaar „Beliebigkeitskontingenz“ und „Schicksalskontingenz“ geprägt (vgl. ebd.). Diese Termini sind jedoch unpräzise, deshalb bevorzuge ich eine andere Terminologie. 24 Für das Verfügbare und Manipulierbare verwende ich nicht den Begriff ‚Beliebigkeitskontingenz‘, sondern ‚Gestaltbarkeitskontingenz‘, denn dieser Begriff betont die Handlungsmächtigkeit des Subjekts, die mit dieser Form von Kontingenz verbunden ist. Neben dem handlungstheoretischen Aspekt umfasst Gestaltbarkeitskontingenz ein epistemologisches Moment, da der kognitive Zugang zur Welt die Grundlage für die gestaltgeberische Formung von Welt bildet. Der Begriff ‚Schicksalskontingenz‘ mit Blick auf das Unverfügbare rekurriert zwar auf die „im Alltagsbewusstsein fast natürliche Assoziation von Kontingenz mit Schicksal“ (Holzinger 2007: 32). Allerdings ist der Begriff ‚Schicksal‘ irreführend, da „Unmöglichkeit und Notwendigkeit […] in Wirklichkeit die Gegenbegriffe zum Terminus Kontingenz“ (ebd.) bilden. Aus diesem Grund ist der Begriff ‚Schicksalskontingenz‘ ungeeignet; stattdessen belege ich die zwei behandelten Erscheinungsformen des Unverfügbaren mit den Begriffen ‚Widerfahrniskontingenz‘ und ‚Kontingenz des Inkommensurablen‘. Widerfahrniskontingenz bezieht sich auf das Unvorsehbare und Unkontrollierbare (z.B. Zufall oder Krankheit), das vom Subjekt als Widerfahrnis erlebt wird. Der Begriff zielt somit auf die Phänomenologie dieser Kontingenzdimension. Im Unterschied dazu geht es bei der Kontingenz 24 In einer früheren Studie zur „Apologie des Zufälligen“ (2008) lautet das Begriffspaar bei Marquard „das Beliebigkeitszufällige“ (128) und „das Schicksalszufällige“. Zur Kritik an diesen Kategorien siehe Knöbl (2007: 196f.) unter Verweis auf Makropoulos (2004: 383). <?page no="43"?> Kontingenz als kulturelle Selbstdeutungskategorie 29 des Inkommensurablen um dasjenige, das sich unseren kognitiven Rastern entzieht - es ist nicht restlos mit unseren Wahrnehmungsbzw. Deutungskategorien erfassbar. Phänomenologisch geht diese Erscheinungsform des Unverfügbaren mit einer Sensibilisierung des Subjekts dafür einher, was jenseits unserer Begriffsnetze liegt. Es geht um die Aufmerksamkeit des Subjekts für qualitative Besonderheiten. Das Inkommensurable ist zugleich das Individuelle, denn dieses kann per definitionem nicht unter dem Allgemeinen subsumiert werden. Adornos Begriff des ‚Nichtidentischen‘ habe ich für diese Erscheinungsform des Unverfügbaren nicht übernommen, um eine Engführung auf die Frankfurter Schule zu vermeiden. Die Frankfurter Schule liefert zwar wichtige Grundlagen, um Kontingenz als das Inkommensurable zu konzeptualisieren, doch ist sie nicht der einzige Impulsgeber. Genauso zentral ist etwa Ernst Troeltschs Aufsatz über „Die Bedeutung des Begriffs der Kontingenz“ (1910). Troeltsch arbeitet heraus, welche unterschiedlichen Bedeutungen der Begriff ‚Kontingenz‘ im Laufe der Philosophiegeschichte angenommen hat. Ein zentrales Ergebnis von Troeltschs Überlegungen ist sein Hinweis auf die enge Verbindung zwischen Kontingenz und dem Individuellen: Auch wenn man eine allgemeine rationelle Gesetzmäßigkeit behaupten wollte, so ist doch jedes innerhalb dieses Netzwerkes sich bildende konkrete einzelne etwas Individuelles, d.h. etwas aus allgemeinen Gesetzen nicht restlos Verständliches, das immer noch etwas aus ihnen nicht resultierendes Besonderes und Unwiederholbares hat. (Troeltsch 1962 [1922]: 774) Troeltsch schlussfolgert, dass das „Problem der Individuation […] eben darum identisch mit dem allgemeinen Sinne des Problems der Kontingenz“ (ebd.: 775) ist. Die Widerfahrniskontingenz und Kontingenz des Inkommensurablen bilden eine große Schnittmenge, weil sie beide dem Bereich des Unverfügbaren angehören. Was sie unterscheidet, ist die Perspektive auf das Unverfügbare und damit einhergehend eine unterschiedliche phänomenologische Erfahrungsdimension. Dies wird anhand von konkreten Beispielen deutlich. Krankheit gilt als ein typischer Fall von Widerfahrniskontingenz. Wir erfahren, dass unserer Kontrolle über unsere biologischen Prozesse deutlich Grenzen gesetzt sind, und gerade dieser Kontrollverlust wird von vielen Menschen als eine Form von Widerfahrnis erlebt. Entscheidend bei diesem Beispiel ist, dass die Unverfügbarkeit der Krankheit nicht aus ihrer Partikularität resultiert, d.h. aus ihrer Differenz zu allen anderen Krankheiten (Kontingenz des Inkommensurablen). Vielmehr bildet die Krankheit insofern eine Form des Unverfügbaren, als sie unserem handelndkontrollierenden Zugriff auf die Welt ihre Grenzen aufzeigt. Wenn ich jedoch Krankheit unter dem Aspekt des Inkommensurablen beleuchte, dann richtet sich mein Blick auf die spezifische Ausprägungsweise einer bestimmten Krankheit bei einem konkreten Patienten in einem endlichen <?page no="44"?> 30 Beschreibungs- und Analysemodell individuellen Lebenslauf. Eine Sensibilisierung gegenüber dem Inkommensurablen würde dabei die selbstkritische Frage miteinschließen, was durch den Begriff ‚Krankheit‘ systematisch ausgeblendet wird. Zu fragen wäre unter anderem auch, welche Erfahrungsqualitäten einer Krankheit sich sprachlich nicht einholen lassen (z.B. Schmerzen). Trotz großer Schnittmengen liegen die Akzentuierungen bei Widerfahrniskontingenz und Kontingenz des Inkommensurablen somit deutlich anders. Dies schließt die phänomenologische Ebene ein. Das Inkommensurable oder Partikulare kann zwar auch als Widerfahrnis erlebt werden, etwa wenn ein Mensch oder unser eigenes ‚Unbewusstes‘ uns überrascht und damit die begrenzte Gültigkeit unserer kognitiven Raster zur Erfassung von Welt aufzeigt. Allerdings scheint mir der Aspekt der Widerfahrnis mit den damit einhergehenden Konnotationen von Ohnmacht nicht auf dieselbe Weise konstitutiv für die Kategorie des Inkommensurablen zu sein, so wie sie oben für Widerfahrniskontingenz umrissen wurde. Es geht bei dem Inkommensurablen um „die Eigenheiten von Personen, Gegenständen oder Verfahren“ (Holzinger 2007: 69), und eine solche Individuierung, wie sie beispielsweise potentiell durch Eigennamen geleistet wird, muss nicht als Widerfahrnis erlebt werden. Die bisherigen Überlegungen zu dem dialektischen Zusammenspiel sowie der Unterschiedlichkeit der Kontingenzdimensionen lassen sich abschließend anhand des Beispiels von Epiphanien prägnant illustrieren. 25 Epiphanien oder ‚moments of vision‘ gehören insofern dem Unverfügbaren an, weil sie nicht planbar und damit unserem Zugriff entzogen sind. Sie beziehen sich auf die Erfahrungsvalenzen eines konkreten Augenblicks, in dem ungeplant Zusammenhänge gestiftet werden, die das bewusste Ich verfehlen muss. Sie lassen sich als eine Manifestationsform des Inkommensurablen beschreiben, weil sie aus psychisch-leibliche Mechanismen resultieren (z.B. Intuition oder Gespür), die nicht im Rahmen eines Identitätsdenkens erfasst werden können. Dieser transformative Moment wird vom Subjekt zunächst als Widerfahrnis erlebt (Widerfahrniskontingenz): „Phänomenologisch gesprochen begegnen uns unsere mentalen Zustände […] zumeist als Widerfahrnisse, als Gefühle, Wünsche oder Absichten, denen wir passiv ausgeliefert sind, bevor wir ihnen gegenüber einen gewissen Spielraum interpretatorischer Aktivität erlangen“ (Honneth 2005: 86f.). Das dialektische Zusammenspiel zwischen dem Verfügbaren und Unverfügbaren zeigt sich darin, dass die erlebte Widerfahrniskontingenz gleichzeitig als Anstoß für Gestaltbarkeitskontingenz wirken kann, etwa wenn die gewonnenen Erkenntnismomente handlungsleitend werden. 26 25 Den Hinweis zur Epiphanie verdanke ich Meinhard Winkgens. 26 Für die Darstellung von Epiphanien in der Literatur siehe beispielsweise die ‚Piazza Signoria‘-Szene aus E.M. Forsters A Room with a View (1908), in der Lucy Honeychurch und George Emerson unerwartet Zeuge werden, wie ein Mann erstochen <?page no="45"?> Kontingenz als kulturelle Selbstdeutungskategorie 31 1.2 Historische Bestimmungen von Kontingenz Der Schwerpunkt der bisherigen Ausführungen lag darauf, die verschiedenen Bedeutungsdimensionen von Kontingenz herauszuarbeiten. Die Überlegungen zur Kontingenz sollen nun erweitert werden, indem ein Einblick in die dramatische Veränderung des Kontingenzbewusstseins im Laufe der Geschichte gegeben wird. Ein solcher historisierender Blick ist notwendig, weil Kontingenz eine historisch variable kulturelle Selbstdeutungskategorie ist. Theoretiker der Kontingenz warnen davor, „erhöhte[s] Kontingenzbewusstsein (etwa in der heutigen so bezeichneten Postmoderne)“ (Dalferth/ Stoellger 2000: 197f.) automatisch als Indiz für „tatsächlich[e] historisch[e] Kontingenz“ (ebd.) zu lesen (vgl. auch Knöbl 2007: 197f.): Was also geschieht, wenn das Kontingenzbewußtsein seiner eigenen Kontingenz gewahr wird? Ist es dann auf dem Weg über sich hinaus? Oder ist es auf dem Weg zur Einsicht, daß die Zunahme von Kontingenzbewußtsein [in der modernen Welt] kein Beleg für den Schwund, sondern allenfalls für die Verlagerung von Notwendigkeiten ist? Aus der Geschichte eines zunehmenden Kontingenzbewußtseins wäre dann nicht ohne weiteres auf eine Zunahme von Kontingenz in der Geschichte zu schließen, sondern eher auf ein einseitiges Anwachsen von Kontingenzsensibilität bei gleichzeitigem Sensibilitätsverlust für das Andere der Kontingenz […]. (Dalferth/ Stoellger 2000: 2) Lebensweltliche Phänomene sind nicht per se kontingent, sondern die Wahrnehmung bzw. Zuschreibung von Kontingenz hängt von dem jeweiligen Weltbild bzw. der Perspektive ab. „Kontingenz [ist] keine ‚natürliche‘ Tatsache, die ontologisch aller Sozialität als ‚factum brutum‘ vorgängig wäre.“ (Makropoulos 1997: 14) Es muss folglich darum gehen, die Verknüpfung zwischen Kontingenzwahrnehmung bzw. -erfahrung und Weltbild herauszuarbeiten und damit zugleich die kulturhistorische Dimension von Kontingenz zu umreißen. Da mein zentraler Fokus auf dem Zeitraum ab dem 19. Jahrhundert liegt, beschränken sich die nachfolgenden Ausführungen zunächst darauf, nur die wichtigsten Stationen von der Antike bis zur Moderne zu betrachwird. Diese Szene wird in der Forschung als eine „epiphanisch[e] Visio[n]“ (Horatschek 1998: 163) von Lucy verstanden, weil sie „in die unkontrollierte Affektstruktur des Körpers [initiiert wird]“ (ebd.). Ihre Schuldgefühle nach diesem Erlebnis resultieren aus ihrer Faszination für die Bereiche „jener anarchisch-aggressive[n] Triebhaftigkeit“ (ebd.: 144), die durch die englische Kultur tabuisiert werden, die sie jedoch nun im Zuge dieses Erlebnisses erahnt (vgl. ebd.: 145). Ihre Epiphanie wird zeitverzögert wirksam, denn sie räumt sich ihre leidenschaftlichen Gefühle für George erst später ein, übernimmt „das Erlebnis der ‚passion‘ als Wahrheitskriterium in die Struktur der bewussten Erkenntnis“ (ebd.: 167) und vollzieht in Folge dessen eine Neubewertung ihrer Lebenswelt (vgl. ebd.: 166). <?page no="46"?> 32 Beschreibungs- und Analysemodell ten. Der Zeitraum ab 1800 wird dann ausführlicher im nächsten Kapitel behandelt. In der antiken Welt beschränkt sich Kontingenz auf Ereignisse oder Handlungen, denn „[d]em Griechen war grundsätzlich der Gedanke fremd, daß die Welt im ganzen nicht oder anders sein könnte“ (Wetz 1998b: 82). So hält Aristoteles bei seinen Ausführungen zur Kontingenz an der Vorstellung einer unvergänglichen und gleichbleibenden Weltordnung fest (vgl. ebd.). „Die Handlung selbst ist aufgrund der Offenheit der Situation kontingent […], der Ordnungsrahmen ist aber ein für allemal vorgegeben.“ (Gamm 1994: 27) Die eingeräumten Bereiche des Kontingenten, wie der rätselhafte Zufall, stellen die wesenhafte kosmische Gesamtharmonie nie in Frage. Innerhalb dieser kosmischen Weltordnung gibt es eine klare Trennlinie zwischen dem Wesentlichen und dem Unwesentlichem: Das Wesen ist der Kern der Wirklichkeit; in ihm verkörpert sich das Sein in seiner höchsten Form. Diese Kernzone ist umgeben von einer Grauzone des Beiläufigen, Zufälligen, Kontingenten oder Indifferenten, und sie kontrastiert mit einer Dunkelzone des Chaotischen, des Ordnungslosen (Bernhard Waldenfels zitiert in Gamm 1994: 27f.). Kontingenz gehört somit zwar zur Weltordnung, aber sie wird an die Peripherie - in den Bereich des Unwesentlichen - gedrängt. Die unvergängliche und natürliche Ordnung der Dinge verleiht den Griechen Orientierungssicherheit. Es war ihnen möglich, „[m]it einiger Zuverlässigkeit zu entscheiden, was in Macht und Reichweite menschlicher Handlungsmöglichkeiten liegt und was nicht“ (Gamm 1994: 27). 27 Dass das antike Weltverständnis nicht vom Möglichkeitssinn affiziert ist, d.h. der Vorstellung, „daß alles Existierende anders oder gar nicht sein könnte“ (Wetz 1998b: 83), wird in der Forschung mit dem Hinweis auf das Primat der „Frage nach dem Wesen vor dem Existenzbegriff“ (ebd.: 82) bei den Griechen erklärt (vgl. ebd.). „Bedeutsam war für sie [= die Griechen] vor allem die Frage nach [dem] […] Wesen [der Dinge], und das konnte kein anderes sein, als es jeweils war.“ (ebd.: 83) Für das Mittelalter und die frühe Neuzeit war ebenfalls ein homogenes Weltbild prägend, dessen Ordnung als nicht kontingent galt (vgl. Makropoulos 1997: 25ff.). Im Unterschied zur Antike bezieht sich der christlichmetaphysische Kontingenzbegriff im Mittelalter auf das Erschaffensein der Welt durch Gott. Der kreationstheologische Kontingenzbegriff ordnet Gott die Souveränität (daß er die Wahl hat, zu schaffen oder nicht zu schaffen und so oder anders 27 Zur Möglichkeit der Grenzziehung siehe Gamm (1994: 27): „Zwar war den Griechen das, was sie ‚hybris‘ nannten, das Handeln, das weder Maß noch Gesetze kennt, wohlvertraut, aber die Grenze selbst konnte mit einiger Sicherheit gezogen werden, jenseits der die Widernatur lauert und das Chaos beginnt.“ <?page no="47"?> Kontingenz als kulturelle Selbstdeutungskategorie 33 zu schaffen) und dem Kontingenten die Ohnmacht zu (daß es, wenn es geschaffen ist, nicht die Wahl hat, nicht geschaffen oder nicht so geschaffen zu sein) […]. (von Graevenitz/ Marquard 1998: xiv) Während die antiken Griechen sich das Weltall als „unentstanden und unvergänglich vorstellten, weshalb sich ihnen nicht die Frage aufdrängte, ob denn der Kosmos auch überhaupt nicht sein könnte, also kontingent sei“ (Wetz 1998b: 83), setzt der christliche Kontingenzbegriff einen absoluten Anfang der Welt voraus. Der kreationstheologische Kontingenzbegriff ist dabei „nicht Ausdruck der Verwunderung über die rätselhafte Existenz der Welt“ (ebd.: 87): „So fragte beispielsweise Augustinus nie, warum es überhaupt Welt und nicht vielmehr nichts gibt, sondern nur: ‚Warum hat Gott die Welt erschaffen wollen? ‘ Abweisend antwortet er darauf, weil er es eben wollte.“ (ebd.) Es wird als selbstverständlich angenommen, dass die Welt Gottes Machtanspruch entstamme (vgl. ebd.). 28 Entscheidend für die moderne Auseinandersetzung mit Kontingenz ist, dass das „Rätsel der Weltexistenz“ (Wetz 1998b: 88) erst durch die christlich-traditionelle Metaphysik überhaupt angelegt wurde (vgl. ebd.). Denn nur wenn die Vorstellung vom „Ganze[n] als selbstgenügsamer Kosmos […], der gleichsam von Natur aus da [ist],“ (ebd.: 87) aufgegeben und stattdessen betont wird, die Welt sei entstanden, wird es überhaupt möglich zu fragen, wieso die Welt existiert (vgl. ebd.). Als die mittelalterliche Schöpfungsphilosophie zunehmend an Glaubwürdigkeit verliert, insbesondere in Folge des naturwissenschaftlichen Siegeszugs, klafft die Frage, wieso die Welt überhaupt existiert, als drängende Leerstelle auf (vgl. ebd.: 93). Der theistische Ordnungsgedanke mittelalterlicher Prägung wird abgelöst durch die Überzeugung, dass „den Merkmalen der Welt, deren Größe, Ordnung und Gesetzen […] etwas Willkürliches an[hafte]“ (ebd.). Die unterschiedlichen Versuche der abendländischen Philosophie, die entstandene Leerstelle zu füllen, brauchen an dieser Stelle nicht zu interessieren. 29 Vielmehr geht es um den Befund, dass sich die Vorstellung von Kontingenz wandelt und mit dieser Wandlung zentrale Weichen für die heutige Auffassung von Kontingenz gelegt werden. Zugespitzt formuliert bedeutete Kontingenz in der theologisch-philosophischen Tradition, daß die Welt anders sein könnte und gar nicht zu bestehen brauchte, weil sie Gott nicht schaffen mußte. In der naturwissenschaftlich geprägten Moderne heißt es dagegen, daß die Welt anders sein könnte und nicht zu sein brauchte, weil sie niemand so erschaffen hat. Einmal drückt Kontingenz der Welt deren Abhängigkeit von Gott aus, ein andermal das genaue Gegenteil davon. (Wetz 1998b: 93f.) 28 Zum Konzept der Kontingenz im Mittelalter siehe u.a. Freundlieb (1933: 43-47) und Herberichs/ Reichlin (2010b). 29 Zu den philosophischen Versuchen, die „Leerstelle im System möglicher Weltdeutungen“ Wetz (1998b: 92) zu füllen, siehe Wetz (1998b). <?page no="48"?> 34 Beschreibungs- und Analysemodell Im Unterschied zu Antike und Mittelalter geht die Neuzeit also von der „Kontingenz des Handlungsbereichs selbst“ (Makropoulos 1997: 22) aus. Damit geht eine Neubewertung der Handlungsmächtigkeit des Menschen einher, nämlich der Vorstellung des „demiurgischen Vermögen[s] souveräner Subjektivität“ (ebd.: 24). 30 Zugleich generiert der Verlust einer gültigen Weltordnung jedoch Orientierungslosigkeit und Unsicherheit (vgl. ebd.). Während in der Antike und im Mittelalter ein homogenes Wirklichkeitsverständnis herrschte, ist für die Neuzeit ein ‚heterogener Wirklichkeitsbegriff‘ prägend (vgl. Makropoulos 1997: 25). Die empirische Ordnung wird nunmehr als lediglich eine Möglichkeitsvariante unter anderen betrachtet (vgl. ebd.: 27). Die sozio-historischen Gründe für diese Entwicklung sind vielfältiger Natur: [D]ie Schwächung pragmatisch wirksamer transzendenter Bindungen spätestens nach den religiösen Bürgerkriegen im 17. Jahrhundert, die gleichzeitige, sich beschleunigende Freisetzung individueller und kollektiver Erwartungen aus ihren Bindungen an bisherige Erfahrungen durch technische Innovationen, soziale Wandlungen oder schlicht andere Erfahrungen im Zuge der Erweiterung der Weltkenntnis - durch Seefahrt! -, nicht zuletzt dann die zunehmende wissenschaftlich-technische Naturbeherrschung, die die Grenze zwischen dem Menschen Möglichen und dem Natürlich- Unverfügbaren immer weiter verschob und schließlich im Gefolge der Idee des Fortschritts ins Unendliche verlegte, führten in den neuzeitlichen Gesellschaften nach und nach dazu, daß der Bereich, der der Macht des Menschen unterlag, tendenziell offen war und in den entstehenden modernen Gesellschaften spätestens um die Wende zum 19. Jahrhundert ein umfassendes soziales Möglichkeitsbewusstsein generierte und etablierte, wie es vordem unbekannt gewesen war. (ebd.: 28f.) Indem die Wirklichkeit selbst als kontingent wahrgenommen wird, wandelt sich Kontingenz von einem Epiphänomen zu einem „konstitutiven Moment des Selbst- und Weltverhältnisses“ (ebd.: 28). 30 Vgl. auch Moog-Grünewald (2000: vii): „Intrikaterweise provoziert die notwendige Insistenz [im christlichen Mittelalter] auf Schöpfertum und Vorsehung Gottes ein Eingeständnis, das letztlich zur Behauptung ‚absoluter Kontingenz‘ führen mußte: Da Gott die Welt geschaffen hat, dieser zugleich allmächtig und in seiner Allmacht frei ist, ist diese Welt keine notwendige, vielmehr eine von vielen möglichen, ja mehr noch: diese Welt ist auch nicht-möglich. Die innerweltliche Zufälligkeit, die bislang nurmehr als eine Beiläufigkeit der Wohlgeordnetheit erachtet wurde, wird damit überboten durch die Vorstellung, daß die Welt als ganze zufällig sei - die ‚ontische Kontingenz‘ erfährt ihre Radikalisierung in der ‚ontologischen Kontingenz‘. Mit einem modallogischen Trick - so könnte man sagen - hat sich die Neuzeit resp. Moderne emphatisch installiert: Die Behauptung ‚absoluter Kontingenz‘ wird nunmehr zur Lizenz freier Verfügung.“ Für Analysen des neuzeitlichen Kontingenzbewusstseins in Kunst und Literatur siehe die Beiträge in Greiner/ Moog-Grünewald (2000). <?page no="49"?> Kontingenz als kulturelle Selbstdeutungskategorie 35 Die Ausweitung und Veränderung des Kontingenzbewusstseins im Zuge von Modernisierungsprozessen wirkt sich auf das Verständnis von Wissen aus. Wissen wird kontingent, indem es um sein eigenes Andersseinkönnen weiß. Mit Luhmann lässt sich diese Entwicklung dadurch erklären, dass in der modernen Welt „mehr und mehr auch, oder in vielen Fällen nur, auf den Beobachter zugerechnet“ (Luhmann 2006 [1992]: 101) wird. „Das mag als ein Symptom für das Kontingentwerden aller Welterfahrung gelten.“ (ebd.) Luhmann führt diese Entwicklung darauf zurück, dass sich die Gesellschaft in Funktionssysteme differenziert, deren operative Grundlage Beobachtungen zweiter Ordnung sind. „Beobachtungen zweiter Ordnung sind Beobachtungen von Beobachtungen.“ (ebd.: 100) Diese Entwicklung nimmt ihren Ausgang im 18. Jahrhundert (vgl. ebd.: 119). Für das Wissenschaftssystem etwa bedeutet Beobachtung zweiter Ordnung, dass „jede Art von Verkündungsautorität für Wahrheit ab[ge]baut und durch das Medium der Publikation ersetzt“ (ebd.) wird. Auf diese Weise kann beobachtet werden, „wie und was [der Forscher] […] beobachtet hat“ (ebd.: 120). Die Kontingenzsemantik ist dabei nicht auf das Wissenschaftssystem beschränkt. Vielmehr schließen alle Funktionssysteme (z.B. Wirtschaft, Erziehungssystem usw.) „nicht aus, daß alles, was jeweils angenommen ist, auch anders sein und durch Kommunikation umdefiniert werden könnte“ (ebd.: 126). 31 Signum der modernen Welt ist das „Reflexivwerden des Wissens und der sozialen Kommunikation“ (Gamm 1994: 29). Die Metaphysik der Präsenz, die nach einem stabilen Urgrund von Welt suchte (sei es Gott, Natur, Vernunft), wird abgelöst durch „die Rekursivität der Selbstvalidierungsverfahren von (perspektivisch bestimmten) Individuen und sozialen Systemen. Die Vermittlung selbst ist Grund geworden.“ (ebd.) Mehr noch, „im Reflexivwerden (des Grundes) des Wissens [wird] nicht das Allergewisseste, sondern Unsicherheit und Nichtwissen kommunziert“ (ebd.). 32 Ein sol- 31 Kritisch zu Luhmanns systemtheoretischer Konzeptualisierung von Kontingenz siehe Knöbl (2007: 195, FN25): „Betont sei hier freilich, dass der Kontingenzbegriff gerade in der Theorie Niklas Luhmanns (aber natürlich auch schon bei Talcott Parsons) eine merkwürdige Rolle spielt, insofern dort zwar die Kontingenz zum Ausgangspunkt der Theoriebildung gemacht, aber damit eben auch schon wieder zum Verschwinden gebracht wird. Sehr treffend die Bemerkungen von Dalferth/ Stoellger (2000a: 27): ‚So offen und kontingenztolerant Luhmanns Interpretationskonstrukt ist, so ungefährlich und stets schon bewältigt ist darin die Kontingenz. Denn so unwahrscheinlich Kommunikation ist, steht jede faktizitäre Kommunikation jenseits dieser Unwahrscheinlichkeit. Was der Fall ist, ist Kommunikation und nicht mehr kontingent. Ganz im Sinne von Leibniz kann Luhmann daher die Zufälligkeit als Beliebigkeit kategorisch ausschließen - und damit die gefährliche Seite von Kontingenz von vornherein leugnen.‘“ 32 Vgl. auch Giddens (1996: 55f.): „Charakteristisch für die Moderne ist nicht, daß sie das Neue um seiner selbst willen erfaßt, sondern charakteristisch ist die Voraussetzung einer in Bausch und Bogen angewandten Reflexivität, die natürlich auch die Re- <?page no="50"?> 36 Beschreibungs- und Analysemodell ches „Wissen, das das Wissen seines eigenen Andersseinkönnens impliziert“ (ebd.), kann als „[k]ontingentes Wissen“ (von Graevenitz/ Marquard 1998: xiv) bezeichnet werden. Um einen Überblick über die beschriebenen Dimensionen von Kontingenz zu erhalten, sind die zentralen Kategorien in einem Schaubild zusammengefasst (siehe Abbildung 1). Das Schaubild liest sich am besten von oben nach unten. Ausgangspunkt ist die Bestimmung von Kontingenz als kulturelle Selbstdeutungskategorie, die maßgeblich für das jeweilige gesellschaftliche Weltbild ist. 33 Die Janusköpfigkeit von Kontingenz ergibt sich aus ihrem Doppelbezug, wonach ihre Erscheinungsformen sowohl das Verfügbare als auch das Unverfügbare umfassen. In meinem Entwurf teilt sich das Unverfügbare handlungstheoretisch in Widerfahrniskontingenz und epistemologisch in die Kontingenz des Inkommensurablen. Die herausgearbeite systematische Ambivalenz von Kontingenz unterstreicht die Doppelstruktur des Subjekts: „Subjekt ist, etymologisch betrachtet, ein zweideutiges Wort, das sowohl Zugrundeliegendes ([…] subiectum) als auch Unterworfenes (subiectus = untergeben) bedeutet“ (Zima 2000: 3; vgl. auch Heinz 2007: 94). Demnach ist das Subjekt einerseits das vernunftbegabte Wesen, dem Handlungsmächtigkeit zukommt; andererseits ist das Subjekt Macht- und Diskursstrukturen unterworfen. 34 Kontingenztheoretisch formuliert, agiert das Subjekt zwischen eigenem Gestaltungsraum (dem Verfügbaren) und dem Vorgegebenen (dem Unverfügbaren). Das Verfügbare ist dabei handlungstheoretisch und epistemologisch zu beleuchten, denn es geht um den kognitiven und gestaltgeberischen Zugriff auf Wirklichkeit. Da die konkrete Beantwortung der Frage, was als (un)verfügbar gilt, je nach historischer Epoche unterschiedlich ausfällt, findet sich dieser Hinweis ebenfalls im Schaubild, und zwar im untersten Kasten. Die historische Wandelbarkeit von Kontingenz wird im Schaubild durch die Anordnung der Kontingenzfacetten von links nach rechts angeflexion über das Wesen der Reflexion selbst einschließt. […] Die reflexive Anwendung des Wissens ist ein konstitutives Merkmal der Moderne, doch die Gleichsetzung von Wissen und Gewißheit hat sich als Mißverständnis erwiesen. Wir sind in einer Welt unterwegs, für die reflexiv angewandtes Wissen durch und durch konstitutiv ist, doch wo wir zugleich niemals sicher sein können, ob irgendein gegebenes Element dieses Wissens nicht revidiert werden wird.“ 33 Ein ‚Weltbild‘ ist gemäß Hans Blumenberg (1980: 303, FN: 310) derjenige „Inbegriff der Wirklichkeit, in dem und durch den der Mensch sich selbst dieser Wirklichkeit zuordnet, seine Wertung und Handlungsziele orientiert, seine Möglichkeiten und Bedürfnisse erfaßt und sich in seinen wesentlichen Relationen versteht.“ Siehe auch Makropoulos (1997: 14, FN 18). 34 Zur literarischen Inszenierung von Identitätskonzepten, die beide Aspekte von Subjektivität berücksichtigen, d.h. das Subjekt als „weder völlig frei noch völlig unfrei“ (Heinz 2007: 13) zeichnen, siehe u.a. Heinz (2007), die anhand einer exemplarischen Analyse der Romane von A.S. Byatt Identität als „Wechselspiel von Gleichheit (im Subjekt) und Differenz (im Individuum)“ (ebd.: 97) modelliert. <?page no="51"?> Kontingenz als kulturelle Selbstdeutungskategorie 37 deutet. Wie oben beschrieben, bildet das kritisch-selbstreflexive Werden von Wissen (kontingentes Wissen) eine zentrale Entwicklungslinie im Modernisierungsprozess. Dass es natürlich auch Gegenströmungen zu dieser Entwicklungslinie gibt, etwa die Präsenz von religiösem Fundamentalismus oder von Wissenschaftsgläubigkeit in der heutigen Zeit, gehört zur konfligierenden Vielstimmigkeit und ergebnisoffenen Entwicklung des Modernisierungsprozesses (siehe Kap. II.2.1). Dennoch kann diese Entwicklungslinie als ein zentraler Baustein des Modernisierungsprozesses betrachtet werden, weshalb sie im Schaubild durch die links/ rechts-Achse abgebildet wird. Ganz links steht die Ausrichtung auf das Verfügbare und Manipulierbare, wie sie etwa für die Aufklärung typisch ist. Bei Widerfahrniskontingenz als zweiter Facette auf der Achse handelt es sich um eine lebensnahe Form von Kontingenz, weil ihre Erscheinungsformen (Zufälle, Unfälle, Krankheit usw.) vom Menschen alltäglich erlebt werden. Das Inkommensurable gehört demgegenüber nicht auf dieselbe Weise zum Alltag der Menschen wie Widerfahrniskontingenz. Vielmehr lässt sich die verstärkte Wahrnehmung des Inkommensurablen als Ergebnis einer historischen Entwicklung beschreiben. Gedacht sei etwa an den kulturgeschichtlichen Einfluss von Philosophen wie Friedrich Nietzsche oder Ludwig Wittgenstein. Aus diesem Grund steht diese Kontingenzfacette ganz rechts im Schaubild. Das Lesen des Schaubilds von links nach rechts koinzidiert folglich mit der Zeitlichkeit der Ausprägungsformen von Kontingenzwahrnehmung in der Moderne. Auf diese Weise verbindet das Schaubild eine ahistorische Definition von Kontingenz (systemische Ambivalenz) mit dem Hinweis auf die historische Wandelbarkeit von Kontingenzwahrnehmung. <?page no="52"?> Abbildung 1: Facetten von Kontingenz Historische Wandelbarkeit von Kontingenz: Bestimmung u. Relationierung des (Un)verfügbaren ist soziohistorischem Wandel unterworfen Das Unverfügbare Erscheinungsformen Handlungstheoretische Perspektive: Das Unvorhersehbare / Kontrollverlust (z.B. Zufall, Unfall, Krankheit) Phänomenologie: Widerfahrnischarakter Widerfahrniskontingenz Epistemologische Perspektive: Dasjenige, das sich unseren kognitiven Rastern entzieht: das Nicht-Begriffliche, das Konkrete und Individuelle Phänomenologie: Sensibilisierung für Bereiche jenseits unserer Begriffsnetze bzw. für qualitative Besonderheiten Kontingenz des Inkommensurablen Kontingenz als kulturelle Selbstdeutungskategorie Das Verfügbare und Manipulierbare Handlungstheoretische und epistemologische Perspektive: kognitive und gestaltgeberische Zugriffsmöglichkeit auf Welt: ‚Setzen von Wirklichkeit‘ (Bubner) Gestaltbarkeitskontingenz Dialektisches Verhältnis <?page no="53"?> Kontingenz und Modernisierungsprozess 39 2 Kontingenz und Modernisierungsprozess Das vorangegangene Kapitel bot nur einen kurzen Einblick in die Veränderung von Kontingenzauffassungen im Laufe der Zeit. Im Folgenden geht es nun darum, genauer zu erklären, inwiefern Modernisierungsprozesse zu einem gesteigerten Kontingenzbewusstsein geführt haben. Das Ziel dieses Kapitels ist es, die „strukturellen Voraussetzungen […], die das Bewusstsein von Kontingenz zuallererst hervorgebracht haben“ (Holzinger 2007: 44), herauszuarbeiten. Für die späteren literarischen Untersuchungen, aber auch für die Entwicklung des narratologischen Analyseinstrumentariums bilden diese soziokulturellen Überlegungen eine zentrale Grundlage. Um den historischen Verlauf des Modernisierungsprozesses zu konturieren, führt das zweite Unterkapitel eine Phaseneinteilung von Modernisierung ein. Dieser Abriss dient zugleich einer kurzen historischen Einordnung der literarischen Fallstudien. 2.1 Dimensionen des Modernisierungsprozesses und ihr Bezug zu Kontingenzfacetten Der Begriff ‚Modernisierung‘ bezieht sich auf gesellschaftliche Entwicklungen, die in Westeuropa im Spätmittelalter beginnen, sich aber vor allem ab 1800 wesentlich verstärken und beschleunigen. 35 Bei dem Versuch, sich dem Phänomen Modernisierung konzeptionell und definitorisch zu nähern, tauchen schnell Stolpersteine auf. Nicht nur werden dem Schlagwort ‚Modernisierung‘ eine Fülle an heterogenen Entwicklungen zugeordnet, sondern es existieren zugleich höchst unterschiedliche Theorien zur Modernisierung. Eine hilfreiche Konzeptualisierung von Modernisierung, die es erlaubt, sowohl die sozio-historischen Phänomene zu systematisieren als auch die Modernisierungstheorien selbst, liefern Hans van der Loo und Willem van Reijen (1992). Sie definieren Modernisierung als einen Komplex miteinander zusammenhängender struktureller, kultureller, psychischer und physischer Veränderungen, der sich in den vergangenen Jahr- 35 Die klassische Modernisierungstheorie bezieht sich auf den Wandel westlicher Gesellschaften. Demgegenüber bemüht sich die aktuelle Forschung, diesen eurozentristischen Ansatz zu überwinden, um die ‚multiplen Modernen‘ (Shmuel Eisenstadt) in den Blick zu rücken: „Das Thema ‚Vielfalt der Moderne‘, wie es vor allem Shmuel Eisenstadt auf den Weg gebracht hat, kreist nicht zentral um die Frage, welche Wandlungen auf dem Boden westlicher Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten sich vollzogen haben, sondern in welchen Varianten die Moderne sich [außerhalb Europa und Amerika] ausbreitet und durchsetzt.“ (Schwinn 2006a: 7f.) Einen guten Überblick über den aktuellen Forschungsstand über ‚Die Vielfalt und Einheit der Moderne‘ bietet der gleichnamige Sammelband von Schwinn (2006b). <?page no="54"?> 40 Beschreibungs- und Analysemodell hunderten herauskristallisiert und damit die Welt, in der wir augenblicklich leben, geformt hat und noch immer in eine bestimmte Richtung lenkt. (ebd.: 11; m.H.) Gemäß dieser Definition lassen sich vier verschiedene Perspektiven auf Modernisierung unterscheiden. Aus struktureller Sicht handelt es sich bei Modernisierung um einen Prozess der Differenzierung, d.h. die ständische Gesellschaft wird abgelöst durch die Ausbildung von arbeitsteilig spezialisierten Teilsystemen. Auf kultureller Ebene äußert sich Modernisierung in Form einer zunehmenden Rationalisierung. Richtet sich der Blick auf die Subjektstruktur (‚psychische‘ Perspektive), dann rückt der Prozess der Individualisierung in den Vordergrund. Das Subjekt wird zunehmend aus traditionalen Bindungen gelöst und ist für die eigene Lebensgestaltung verantwortlich. Nicht zuletzt prägt Modernisierung auch das Naturverhältnis (‚physische Veränderungen‘), und zwar in Form von Domestizierung. Damit ist gemeint, dass der Mensch die Natur seiner Verfügungsmacht unterwirft. Diese vier Dimensionen von Modernisierung umfassen allesamt dialektische Umschläge und werden von Gegentendenzen begleitet (vgl. van der Loo/ van Reijen 1992: 34ff.; Degele/ Dries 2005: 22f.), wie unten näher erläutert wird. Diese Hinweise zeigen zunächst, wie die heterogenen Modernisierungsprozesse sich vier Wirklichkeitsbereichen zuordnen lassen. Modernisierungstheorien können zudem danach unterschieden werden, auf welche Modernisierungsdimension sie sich im Schwerpunkt beziehen (vgl. van der Loo/ van Reijen: 13; Rosa/ Strecker/ Kottmann 2007: 19ff.). Zu den vier Dimensionen von Modernisierung kommen noch zwei Faktoren hinzu, die ebenfalls eine wesentliche Rolle im Modernisierungsprozess spielen: Beschleunigung und Globalisierung. Bei dieser Ergänzung des Schemas greife ich auf das erweiterte Modell der Modernisierung von Nina Degele und Christian Dries (2005: 27) zurück, ohne es jedoch vollständig zu übernehmen (siehe unten). Beschleunigung bezieht sich auf die technische Akzeleration, die Beschleunigung des sozialen Wandels sowie des Lebenstempos in der Moderne (vgl. Rosa 2005). Mit Globalisierung sind die Intensivierung weltweiter Beziehungen sowie das gestiegene Bewusstsein von dieser weltweiten Vernetzung gemeint (vgl. Giddens 1996: 85; Robertson 1992: 8). Wie Degele/ Dries zu recht betonen, liegen Beschleunigung und Globalisierung „‚quer‘ zu den vier klassischen Mechanismen des Modells, üben aber dennoch auf alle Ebenen des Modernisierungsquadrats - implizit oder explizit - so starke Einflüsse aus, dass sie eine separate Betrachtung als eigenständige Modernisierungsfaktoren rechtfertigen“ (ebd.: 28). Degele/ Dries haben bei ihrer Erweiterung des klassischen Schemas von van der Loo und van Reijen noch Vergeschlechtlichung und Integration dazugenommen und arbeiten dementsprechend mit einem ‚Acht-Faktoren- <?page no="55"?> Kontingenz und Modernisierungsprozess 41 Modell der Modernisierung‘. Ich verzichte jedoch darauf, Vergeschlechtlichung und Integration ebenfalls zu übernehmen, weil sie nicht auf der derselben Ebene wie die Kategorien Globalisierung und Beschleunigung liegen. Bei dem Mechanismus der Integration handelt es sich um eine „Meta-Perspektive auf Modernisierung“ (ebd.: 27), die „für die kritische Reflexion von Nebenfolgen auf der gesellschaftlichen Makroebene zuständig“ (ebd.) ist. Vergeschlechtlichung liegt demgegenüber zwar nicht auf einer Metaebene, sondern bildet eine Perspektive, von der aus alle anderen Faktoren betrachtet werden können: „Mit der Einführung dieses Faktors behaupten wir, dass Modernisierung in grundlegender Weise mit einer Geschlechterdifferenzierung verbunden ist, die genau (und ausschließlich) zwei Geschlechter als natürliche Tatsache konstruiert.“ (ebd.: 26) Bei aller Zustimmung zu dieser These, stellt sich dennoch die Frage, wieso nur gender? Es wäre beispielsweise ebenso wichtig, die Mechanismen der Modernisierung mit Blick auf weitere Kategorien wie race bzw. ethnicity abzuklopfen. Zwar bilden Betrachtungen zu gender auch einen roten Faden in der vorliegenden Arbeit, doch verzichte ich aus den genannten Gründen darauf, Vergeschlechtlichung als eigenen Faktor im Modernisierungsmodell aufzunehmen. Dementsprechend arbeite ich mit einem Sechs- Faktoren-Modell der Modernisierung: Abbildung 2: Das Sechs-Faktoren-Modell der Modernisierung (unter Rückgriff auf van der Loo/ van Reijen 1992 und Degele/ Dries 2005) Im Folgenden wird jeder dieser sechs Faktoren genauer erläutert und mit Blick auf Kontingenzbewusstsein ausgewertet. Differenzierung, Domestizierung, Individualisierung und Rationalisierung werden dabei systematisch auf die drei Dimensionen von Kontingenz bezogen, nämlich Differenzierung (Struktur ) Domestizierung (Natur) Individualisierung (Person) Rationalisierung (Kultur) Globalisierung Beschleunigung <?page no="56"?> 42 Beschreibungs- und Analysemodell Gestaltbarkeitskontingenz, Widerfahrniskontingenz und Kontingenz als das Inkommensurable. Auf diese Weise erschließt sich ein differenzierteres Bild davon, welche Auswirkungen Modernisierungsprozesse auf Kontingenzwahrnehmung und -erfahrung haben. Aus struktureller Perspektive führt der Modernisierungsprozess dazu, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit durch eine „zunehmend[e] Arbeitsteilung bzw. d[ie] wachsend[e] Ausdifferenzierung von Funktions- und Wertsphären“ (Rosa/ Strecker/ Kottmann 2007: 20f.) geprägt ist. Niklas Luhmann spricht von der Ablösung der stratifikatorisch differenzierten bzw. ständischen Gesellschaft des Mittelalters durch den Vorrang funktionaler Differenzierung in modernen Gesellschaften (vgl. Luhmann 1998b: 743ff.) Die moderne Gesellschaft gliedert sich demnach in verschiedene Teilsysteme, die durch ihre Funktion bestimmt sind. So hat beispielsweise das politische System die Funktion, „kollektiv bindende Entscheidungen [zu] treffen“ (Becker/ Reinhardt-Becker 2001: 36), das Wirtschaftssystem soll die Produktion und Verteilung von Gütern regeln und das Wissenschaftssystem generiert Erkenntnisse über die Wirklichkeit (vgl. ebd.). Die Teilsysteme haben ihre „eigenen Logiken und Medien, ihre speziellen Sprachen und Kommunikationsformen, je spezifische Formen der Rationalität herausgebildet“ (Kleve o.J.). Auf der Ebene des Einzelnen äußert sich dieser Prozess der Differenzierung darin, dass unterschiedliche Subjektpositionen eingenommen werden. Diese Positionen sind in verschiedenen Teilsystemen verortet, beispielsweise ‚Patient‘ im medizinischen System, ‚Arbeitnehmer‘ im Wirtschaftssystem usw. Grundsätzlich steht bei der strukturellen Perspektive die gesellschaftliche „Herausbildung von Spezialisierungen und Verselbständigungen“ (Degele/ Dries 2005: 51) im Vordergrund. Funktionale Spezialisierung führt zu einer erhöhten Effizienz und damit zugleich zu einer erhöhten Kontrollierbarkeit und Planbarkeit von Lebensbereichen. Eine solche Gestaltbarkeitskontingenz wird zudem dadurch gesteigert, dass Differenzierung dem Individuum Freiheits- und Gestaltungsräume eröffnet, indem beispielsweise wissenschaftliche Forschung nicht mehr an religiöse Vorgaben gebunden ist (vgl. auch Degele/ Dries 2005: 54). Zwar erhöht Differenzierung Gestaltbarkeitskontingenz durch funktionale Spezialisierung, allerdings wird zugleich ein größerer Koordinationsbedarf zwischen den Teilsystemen erforderlich. Dabei sind der Koordination deutliche Grenzen gesetzt, weil es zu einer Zunahme an Wechselwirkungen zwischen den Funktionssystemen kommt, die in ihrer Komplexität und Gänze nicht mehr überschaubar, geschweige denn kontrollierbar sind (vgl. auch Degele/ Dries 2005: 22). Differenzierung ist somit von einer dialektischen Bewegung zwischen Steigerung und Einbuße an Gestaltbarkeitskontingenz geprägt. Die Eigenlogik der Systeme steht einer gesamtgesellschaftlichen Steuerung entgegen: „Die Politik kann lediglich <?page no="57"?> Kontingenz und Modernisierungsprozess 43 die „Kontexte der Funktionssysteme […] [steuern], nicht die Systeme selbst“ (Kleve o.J.; vgl. Willke 1995). 36 Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft ist ein zentrifugaler Mechanismus und birgt deshalb die Gefahr, dass es zu einer „gesellschaftliche[n] Desintegration“ (Rosa 2005: 109) kommt. Die Teilsysteme neigen dazu, sich aufgrund ihrer Eigenlogik zu verselbständigen und somit „in und um sich selbst [zu kreisen]“ (Beck 2007: 180). Damit kippt jedoch „die einstige ‚funktionale Rationalität‘ […] in ‚organisierte Irrationalität‘“ (ebd.). Die Systemimperative entziehen sich der Kontrolle des Subjekts. Es kommt zu einer kafkaesken Welterfahrung, bei der die unkontrollierbare und als undurchschaubar empfundene Eigenlogik der Systeme als Widerfahrniskontingenz erlebt werden. Ein solcher dialektischer Umschlag von erhöhter Gestaltbarkeitskontingenz in Ohnmacht und Widerfahrniskontingenz unterstreicht die „immanente Widersprüchlichkeit einzelner Modernisierungsprozesse und -pfade“ (Degele/ Dries 2005: 30). Diese abstrakten Ausführungen zur Differenzierung lassen sich anhand des Beispiels der Finanzkrise aus dem Jahr 2008 kurz illustrieren. Die Finanzkrise belegt eindrucksvoll, dass in der funktional differenzierten Gesellschaft die Funktionssysteme voneinander abhängig sind, d.h. „[k]einem Funktionssystem ist es möglich, die Leistungen eines anderen Systems zu erbringen“ (Räwel 2008). Der Ausfall eines Systems führt zu „gesamtgesellschaftlichen Dysfunktionalitäten“ (ebd.). Gleichzeitig illustriert das Beispiel das Eigenleben der Systeme, d.h. ihre funktionale Autonomie, die sich dem steuernden Zugriff entzieht. Das Wirtschaftssystem entfaltet seine eigene Zweckrationalität, und zwar unabhängig von den Interessen und Wünschen der Akteure. Für den Soziologen Jörg Räwel präsentiert sich die Finanzkrise als ‚business as usual‘: Selbst im Zuge der Krise gelingt es nun weltwirtschaftlicher Rationalität, durch Beanspruchung von steuerlich finanzierten Subventionen als unabdingbare ‚Nothilfe‘ in prekärer Lage, Kosten zu minimieren bzw. abzuwälzen. Wenngleich dies zu nationalstaatlichen Schuldenbergen führte und führt, und der Realwirtschaft zu gute kommende steuerliche Subventionen massiv gekürzt werden mussten und müssen […], ist doch aus ‚begrenzt weltwirtschaftlicher‘ Perspektive ein durchaus effizientes und rationales Handeln zu konstatieren. Kosten und Preise werden minimiert; Gewinne maximiert. 36 Vgl. Kleve (o.J.): „In einer funktional differenzierten Gesellschaft ist es der Politik lediglich möglich (etwa über die Veränderung von gesetzlichen Rahmenbedingungen, über die Erhöhung oder Senkung von Steuern und Leitzinsen oder über eine staatliche Investitionstätigkeit), die Rahmenbedingungen der anderen Funktionssysteme wie etwa der Wirtschaft, der Wissenschaft oder des Erziehungssystems zu beeinflussen.“ Ausführlich zu den Funktionen des politischen Systems siehe Gerhards/ Neidhart (1993). <?page no="58"?> 44 Beschreibungs- und Analysemodell Die systemischen Imperative sind allgegenwärtig und prägen die Lebenswirklichkeit. Für das Subjekt sind die Interdependenzverhältnisse aufgrund ihrer Komplexität nicht mehr durchschaubar, so dass die Systemlogiken für das Subjekt häufig als irrational erscheinen. 37 Differenzierung führt zu ähnlichen Ambivalenzen bei der Wahrnehmung von Kontingenz als dem Inkommensurablen. Die einzelnen Funktionssysteme blenden Kontingenz als das Inkommensurable aus, weil sie ihre Umwelt nur zu den eigenen systemischen Bedingungen wahrnehmen (vgl. Luhmann 1998b: 754ff.). Für die Wirtschaft beispielsweise ist ökonomische Rentabilität entscheidend, und so nimmt sie das Erziehungssystem ausschließlich unter dem Profitaspekt wahr. Bei dem Erziehungssystem wiederum geht es nicht um Gewinnmaximierung, sondern sie hat die Vermittlung von Wissen und Können zum Ziel (vgl. Becker/ Reinhard- Becker 2001: 121-127). Kapselt sich das Subjekt innerhalb eines Funktionssystems ein, so ist Ausblendung des Inkommensurablen die Folge. Beobachtet das Subjekt jedoch verschiedene Systeme mit ihren jeweiligen Rationalitäten, indem es Übergangsleistungen zwischen diesen Rationalitäten vollzieht, dann ist potentiell eine Sensibilisierung für das Inkommensurable die Folge. Das, was vom jeweiligen System ausgegrenzt wird, rückt aus Perspektive eines anderen Systems ins Blickfeld. Gerade weil die Systemlogiken nicht ineinander übersetzbar sind und es kein privilegiertes ‚Meta- System‘ gibt, das alle anderen Teilsysteme umgreift, wird das Bewusstsein für Inkommensurabilität potentiell geschärft. Selbst wenn das Subjekt in seinem Lebensentwurf einen systemischen Weltzugang privilegiert (z.B. Religion, Wissenschaft), erfolgt dies in dem Wissen darum, dass andere Alternativen möglich wären. Es gibt keine „integrierende gesellschaftliche Ordnung“ (Degele/ Dries 2005: 54) mehr. Neben Differenzierung lassen sich auch Prozesse von Entdifferenzierung beobachten. Zwar sind systemische Imperative nach wie vor allgegenwärtig, dennoch erleben wir „in vielerlei Hinsicht eine Phase der Entdifferenzierung, in der sich die Zuständigkeiten von Wissenschaft und Wirtschaft, Wirtschaft und Politik, Politik und Unterhaltung räumlich, sachlich und personal wieder vermischen“ (Rosa/ Strecker/ Kottmann 2007: 27). Ein Beispiel für Entdifferenzierung wäre Infotainment (vgl. Pörksen/ Scholl 2011: 41). Bei diesem Fernsehformat wird nicht mehr differen- 37 Die intensive Beschäftigung mit Globalisierung innerhalb der Soziologie hat allerdings zu ernsten Vorbehalten gegen die These funktionaler Differenzierung geführt: „Plötzlich geht es nicht mehr darum, wie der Selbstlauf der funktionalen Differenzierung und seine Folgeprobleme abgebremst und aufgefangen werden können, sondern, genau umgekehrt, darum, ob durch Globalisierung nicht die Vorstellungswelt eigenlogischer, funktional differenzierter Teilbereiche fragwürdig wird.“ (Beck 2007: 181) <?page no="59"?> Kontingenz und Modernisierungsprozess 45 ziert zwischen journalistischem Berichtformat und nicht-journalistischen Unterhaltungsbeiträgen. 38 Aus kultureller Perspektive ist Modernisierung ein Prozess der Rationalisierung, d.h. ein „Ordnen und Systematisieren der Wirklichkeit, um sie vorhersehbar und beherrschbar zu machen“ (van der Loo/ van Reijen 1992: 31). Die Privilegierung von instrumenteller Rationalität als Leitlinie des Handelns sowie die Verwissenschaftlichung von Welt dienen der Wirklichkeitsbeherrschung und Effizienzsteigerung. Diese Ausrichtung erklärt, wieso Rationalisierung zugleich ein „differenzierender Mechanismus“ (Degele/ Dries 2005: 97) ist. Denn die Ausbildung von spezialisierten Teilsystemen sowie der mit ihnen verknüpfte bürokratische Verwaltungsapparat dienen ja dazu, die Lebenswelt zu regulieren sowie die Effektivität zu steigern. In den verschiedenen Funktionssystemen (Wissenschaft, Wirtschaft, Politik usw.) nimmt Rationalisierung unterschiedliche Gestalt an. Der gemeinsame Effekt dieser systemischen Rationalitäten und bürokratischen Apparate ist, „dass die moderne Welt in ihrem Alltagsbetrieb immer berechenbarer und beherrschbarer wird“ (Rosa/ Strecker/ Kottmann 2007: 59). In politischer Hinsicht führt Rationalisierung zu einer „Umstellung der Legitimations- und Begründungsmuster von Herrschaft und Wissen […] auf objektiv-intersubjektiv nachvollziehbare Vernunftgründe“ (ebd.: 22). Mehr noch, die Legitimation von politischen Entscheidungen beruht nun- 38 Die paradoxale Gleichzeitigkeit einer Atomisierung und Entdifferenzierung von systemischen Rationalitäten wird strukturell nachvollziehbar, wenn man Verflechtungsverhältnisse zwischen den Rationalitäten berücksichtigt. Solche Verflechtungsverhältnisse sind von Wolfgang Welsch im Zuge seiner Konzeptualisierung von ‚transversaler Vernunft‘ ausführlich beschrieben worden. Die Systeme Recht, Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung sind, so Welsch, „objektive, sedimentierte Formen von Rationalität“ (Welsch 1996: 430). Die Pluralisierung von Rationalitäten führt zu einer wachsenden Spezialisierung, die wiederum die „Selbstläufigkeit und Selbstoptimierung einzelner Systeme“ (ebd.: 431) befördert. Gleichzeitig herrscht eine „rationale Unordentlichkeit“ (ebd.: 565), weil die Rationalitäten miteinander verwoben sind: „[D]ie Formen der Rationalität [bilden sich] von Anfang an gegeneinander und sind für ihre Eigendefinition auf ihre Kontrahenten angewiesen. Daher tragen sie von vornherein Bestimmungen des Anderen in sich. Überdies kommt es in ihrer Praxis immer wieder zu Assimilationen, Anleihen und Umbesetzungen, die das Gesamtfeld der Rationalitäten eher zu einem Netzwerk […] werden lassen.“ (ebd.: 434) Zu einer ähnlichen Diagnose kommt Andreas Reckwitz, der betont, dass die Diagnose von funktionaler Differenzierung auf heuristischen Vereinfachungen basiert: „Analysen der Mikrologik sozialer Praktiken (z.B. der modernen Naturwissenschaften in den ‚laboratory studies‘) haben einerseits die immanente Widersprüchlichkeit der Bündelung verschiedener Praxiskomplexe in einzelnen sozialen Feldern aufgezeigt, die nur mit Mühe als Exemplifikation eines ‚funktionssystemischen Codes‘ interpretiert werden können. Andererseits wurde auf die Interpenetrationszonen zwischen und in den Feldern aufmerksam gemacht, in denen keine strikte Sinngrenze mehr sichtbar ist, vielmehr bestimmte Praktiken - etwa […] die eines bestimmten Kommunikationsstils - subsystemübergreifend zum Einsatz kommen.“ (Reckwitz 2004b: 228) <?page no="60"?> 46 Beschreibungs- und Analysemodell mehr - unter anderem - auf dem Einhalten von Verfahren, die gesetzlich in der demokratischen Ordnung geregelt sind (vgl. Luhmann 1983). Ingesamt führt der Prozess der Rationalisierung zu einer deutlichen Erhöhung von Gestaltbarkeitskontingenz. Auf der Ebene des Subjekts bedeutet Rationalisierung, dass das eigene Leben unter den Gesichtspunkten von Geld und Zeit geplant wird, um die eigenen Ziele effizient zu erreichen (vgl. Rosa/ Strecker/ Kottmann 2007: 20). Allerdings kommt es auch bei Rationalisierung zu dialektischen Umschlägen. Wie oben erläutert, verselbständigen sich Systemrationalitäten, so dass Rationalität zugleich ‚Irrationalität‘ als ungewollte Nebenfolge produziert (vgl. Degele/ Dries 2005: 110). Ein alltagsnahes Beispiel für eine solche Entwicklung bietet die Bürokratie, die in ihrer Handlungslogik und vor allem ihren Sachzwängen häufig für den Bürger - auch oftmals für die Mitarbeiter der Behörde selbst - als unverständlich erscheint. Rationalisierung kippt in diesem Fall in kafkaeske Widerfahrniskontingenz um. Eine weitere Ambivalenz von Rationalisierung hängt mit der „Erosion von Sinnressourcen“ (Rosa 2005: 107) zusammen, die aus der Rationalisierung des Weltbildes resultiert. Max Webers vielzitierte Formel von einer ‚Entzauberung der Welt‘ prangert genau diese Pathologie von Modernisierung an: Und heute? Wer […] glaubt heute noch, daß Erkenntnisse der Astronomie oder der Biologie oder der Physik oder Chemie uns etwas über den Sinn der Welt, ja auch nur etwas darüber lehren könnten: auf welchem Weg man einem solchen »Sinn« - wenn es ihn gibt - auf die Spur kommen könnte? Wenn irgend etwas, so sind sie geeignet, den Glauben daran: daß es so etwas wie einen »Sinn« der Welt gebe, in der Wurzel absterben zu lassen! (Weber 1994 [1919]: 12) Rationalisierung bedeutet somit, dass das Leben „alle magischen und poetischen, geheimnisvollen und außeralltäglichen Momente“ (Rosa/ Stre cker/ Kottmann 2007: 61) und damit zugleich wichtige Sinnpotentiale verliert. Die Rationalisierung des Weltbildes ist verknüpft mit einer rigiden Ausgrenzung und Abwertung des Inkommensurablen. Die Privilegierung von Rationalität als Weltordnungsprinzip geht mit einer Abwertung aller Bereiche einher, die sich die instrumentelle Rationalität nicht aneignen kann und die dementsprechend als ‚irrational‘ abgestempelt werden. „[M]it der Realisierung von Vernunft wird die Unvernunft mitproduziert“ (Böhme/ Böhme 1985: 10): Das Andere der Vernunft: von der Vernunft her gesehen ist es das Irrationale, ontologisch das Irreale, moralisch das Unschickliche, logisch das Alogische. Das Andere der Vernunft, das ist inhaltlich die Natur, der menschliche Leib, die Phantasie, das Begehren, die Gefühle - oder besser: all dieses, insoweit es sich die Vernunft nicht hat aneignen können. Denn zugelassen und vernünftig ist […] die Phantasie als der Verstand ‚insofern er die Sinn- <?page no="61"?> Kontingenz und Modernisierungsprozess 47 lichkeit bestimmt‘, das Begehren als praktische Vernunft (guter Wille), die Gefühle, soweit sie den sittlichen Normen konform sind. (ebd.: 13) Die Ausblendung des Inkommensurablen, die sich infolge von Rationalisierungsprozessen vollzieht, nimmt also die Form einer Ausgrenzung des Anderen der Vernunft an. Der Prozess der Rationalisierung prägt tiefgreifend das menschliche Verhältnis zur Natur. Der Modernisierungsprozess ist gekennzeichnet durch Domestizierung, d.h. eine zunehmende Beherrschung der inneren und äußeren Natur. Die neuzeitliche Naturwissenschaft, wie sie exemplarisch von Francis Bacon (1561-1626) verkörpert wird, entwirft Natur als ein Objekt, über das der Mensch Verfügungsgewalt ausüben kann und soll: Ist die Erde nicht mehr mütterlicher Leib und der Mensch nicht Leib von ihrem Leib, tritt er ihr - ausgestattet mit der neuerworbenen wissenschaftlichtechnischen Intelligenz, die von allen affektiven Bindungen an Natur sich gereinigt hat - souverän gegenüber: ihre Lebendigkeit stirbt unter dem Herrscherblick des Erkenntnissubjekts, das der Natur die Gesetze vorschreibt. (Böhme/ Böhme 1985: 21f.) Die Unterwerfung der Natur erfolgt mittels instrumenteller Rationalität. An dem Beherrschungsgestus lässt sich der Anspruch auf absolute Gestaltbarkeitskontingenz ablesen. Den dialektischen Umschlag von Domestizierung beschreiben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrer Dialektik der Aufklärung (1944/ 47). Die zunehmende Kontrolle des Menschen über natürliche Prozesse schlägt auf den Menschen zurück, d.h. es entstehen neue Unterwerfungsverhältnisse, die der Gestaltbarkeitskontingenz Grenzen setzen. Die Herrschaft über die äußere Natur wird nämlich um den Preis der Unterdrückung der inneren Natur erkauft. Der Mensch entwirft sich als Vernunftwesen und klammert diejenigen Aspekte leiblicher Erfahrungshaftigkeit aus, die sich dem rationalen Zugriff entziehen (vgl. Adorno/ Horkheimer 1944/ 47: 9-87). Die Unterdrückung dieser Identitätsanteile erfordert einen hohen psychischen Aufwand bzw. eine ständige Zensur. Die Rückkehr dieses Verdrängten wird vom Subjekt als Widerfahrniskontingenz erlebt. Adorno und Horkheimer beziehen sich in ihrer 1944/ 47 publizierten Studie auf ältere Subjektmodelle, nämlich das Subjekt der Aufklärung sowie die dominante Subjektkultur in der „industriegesellschaftlichen, organisierten Moderne [während der 1920er bis 60er Jahre]“ (Reckwitz 2006b: 285). Letztere ist geprägt durch die „Leitsemantik des ‚Sozialen‘, ‚Kollektiven‘ […] [sowie durch] ein technisch-szientistisches Vokabular, welches sich in Strukturen zentraler Planung, des scientific managament und des social engineering umsetzt“ (ebd.). Die Anforderung an das Subjekt, sich an Normalitätsstandards der peer society anzupassen („soziale Extrovertierheit“, ebd.: 288), führt zu dessen „Entemotionalisierung - das Leitbild bil- <?page no="62"?> 48 Beschreibungs- und Analysemodell det hier die ‚sachliche‘ Persönlichkeit, als deren Modell die funktionale Regularität des Technischen fungiert“ (ebd.). Zwar weicht das dominante Subjektmodell der Postmoderne von diesen Subjektmodellen ab, weil individuelle Kreativität und emotionale Expressivität privilegiert werden (vgl. ebd.: 527ff.), dennoch lassen sich auch heute noch viele Beispiele für die Unterdrückung des naturhaft-leiblichen Eigenlebens finden, die aus der gesellschaftlichen Orientierung an instrumenteller Rationalität als Leitlinie des Handelns resultieren. Ein exemplarisches Beispiel ist die grassierende Modekrankheit Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS). Seit der ‚Entdeckung‘ dieser Krankheit vor ca. 40 Jahren ist die Zahl der diagnostizierten Fälle (vor allem bei Kindern) rapide in die Höhe geschnellt (vgl. Hoffmann/ Schmelcher 2012: 2; DeGrandpre 2010: 10f.). ADHS wird mit Medikamenten (Ritalin) behandelt, die die Kinder ruhig machen sowie die Konzentrationsfähigkeit verbessern, so dass sie in die Leistungsgesellschaft integriert werden können (vgl. Hoffmann/ Schmelcher 2012: 2). Mittlerweile mehren sich die Kritiken an dieser Diagnose- und Therapiepraxis. Vielfach seien die ADHS-Diagnosen falsch - ihr inflationärer Anstieg sei der Leistungsgesellschaft geschuldet, die nicht-systemkonforme Elemente und Verhaltensweisen als ‚krank‘ deklariert und wegtherapiert. 39 ADHS liefert ein gutes Beispiel dafür, wie in der Leistungsgesellschaft die ‚innere Natur‘ (mittels Medikamenten) zugunsten ‚rationaler‘ und leistungsbezogener Verhaltensnormen domestiziert wird. 39 Vgl. Hoffmann/ Schmelcher (2012: 2). So argumentiert beispielsweise der Psychologe Richard DeGrandpre (2010), dass ADHS „keineswegs als organische Störung wissenschaftlich nachgewiesen“ (9) sei. Vielmehr hätten, ganz im Gegenteil, die Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern „ihren Ursprung in der psychischen Entwicklung“ (ebd.), und sie könnten zudem „ohne Berücksichtigung der Veränderungen im westlichen Lebensstil“ (ebd.) nicht erklärt werden. Bei der Veränderung des Lebensstils betont DeGrandpre vor allem die Beschleunigung der Gegenwartsgesellschaft. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer „Beschleunigungskultur“ (ebd.: 20) bzw. gar von einer „Schnellfeuer-Kultur“ (ebd.: 37): „Die Sucht nach Sinnesreizen, ob von Kindern oder Erwachsenen, bedeutet eine Störung des bewussten Erlebens, bei der die betroffene Person unfähig ist, mit Langsamkeit umzugehen. Indem die Schnellfeuer- Kultur ein Schnellfeuer-Bewusstsein prägt - und bei Kindern die Unfähigkeit, ihr eigenes Verhalten zu kontrollieren -, entwickeln sich Reizabhängigkeiten, die unser Verhalten animieren, nach mehr Stimuli zu suchen.“ (ebd.) Zu den Effekten der Beschleunigung gehöre zudem, dass „Eltern den Umgang mit ihren Kindern immer mehr auf eine so genannte ‚quality time‘ reduzieren […] und immer weniger ‚quantity time‘ [= längere Zeitspannen] zur Verfügung stellen“ (ebd.: 11). Beide Effekte der Beschleunigungskultur wirken sich gemäß DeGrandpre negativ auf die psychische Entwicklung von Kindern aus, so dass Verhaltensauffälligkeiten resultieren. Ritalin sei keine Lösung für diese Problemlage, sondern führe eher zu einer Verschärfung des Problems (vgl. ebd.: 186f.). Für weitere kritische Stimmen siehe Köhler (2002) und Diller (2006). <?page no="63"?> Kontingenz und Modernisierungsprozess 49 Zum dialektischen Umschlag von Naturbeherrschung gehört die Generierung von unkontrollierbaren Risiken. Mit Ulrich Beck lässt sich die heutige Gesellschaftsform als Riskogesellschaft (1986) charakterisieren: „Der Machtgewinn des technisch-ökonomischen ‚Fortschritts‘ wird immer mehr überschattet durch die Produktion von Risiken.“ (17) Diese Risiken sind globaler Natur, denn „[i]hrem Zuschnitt nach gefährden sie das Leben auf dieser Erde, und zwar in all seinen Erscheinungsformen“ (ebd.: 29). Gedacht sei etwa an nukleare Katastrophen wie Tschernobyl oder Fukushima. Die ökologischen Katastrophen werden vom Subjekt als Widerfahrniskontingenz erlebt. Diese Widerfahrniskontingenz erhöht sich durch die Unsichtbarkeit von Modernisierungsrisiken, wie das „Paradigma dieser Gefährdungen[,] […] die genverändernden Folgen der Radioaktivität,“ (ebd.: 35) verdeutlicht. Die Produktion von Risiken durch komplexe Interdependenzgeflechte machen ihre Unberechenbarkeit und Unvorhersehbarkeit aus (vgl. ebd.). Naturbeherrschung im Zeichen von Gestaltbarkeitskontingenz generiert somit unkontrollierbare Risiken und ökologische Katastrophen als vielfach diagnostizierte Kollateralschäden. Die Domestizierung von Natur produziert nicht nur Widerfahrniskontingenz als ungewollte Begleiterscheinung. Die Formung des Naturverhältnisses durch instrumentelle Rationalität bedeutet, dass die oben beschriebene Ausgrenzungsbewegung von Vernunft auch die Natur betrifft. Denn die Natur wird nur zugelassen „als gesetzmäßiger Zusammenhang der Erscheinungen, der menschliche Leib als anatomisch durchsichtiges Körperding“ (Böhme/ Böhme 1985: 13). Natur als das Andere der Vernunft wird somit zu einem Bereich des Inkommensurablen. Hinsichtlich der Persönlichkeitsstruktur leitet Modernisierung einen Prozess der Individualisierung ein. Individualisierung umfasst die Freisetzung des Einzelnen aus fremdbestimmten sozialen Vorgaben, so dass dem Subjekt Möglichkeitsräume eröffnet werden, selbst das eigene Leben zu gestalten. Das Individuum ist für sein eigenes Leben verantwortlich. Die autonome Lebensgestaltung gehört zu einer zentralen Anforderung des heutigen Subjekts. Individualisierung ist dabei eng mit Rationalisierung und Differenzierung verwoben. Die Anforderung an das Individuum, das eigene Leben zu kontrollieren und vorausschauend zu planen, setzt einen rationalen Zugang zum Selbst und zur Welt voraus. Die Rationalisierung der Lebensführung prägt insofern die spätmoderne Subjektform, als ein „Selbstoptimierungsglaub[e]“ (Reckwitz 2006b: 612) sowie das Konzept vom Leben als zu gestaltendes Projekt vorherrschend sind. „Das Projektmanagement der Biografie betreibt eine gezielte Akkumulation personaler Ressourcen und eine Sequenz von Planung, Ausführung und Evaluation; sie geht davon aus, dass ‚empowerment‘ und tatsächliches Handeln/ Erleben in einem nachvollziehbaren Zusammenhang stehen.“ (ebd.) <?page no="64"?> 50 Beschreibungs- und Analysemodell Der Prozess der Individualisierung führt dabei zu einer Schärfung des Bewusstseins für Partikularität. Individualität ist bestimmt durch „die Betonung der Unterschiede zwischen Menschen, sowie die Ausschöpfung eines kreativen Potentials für die Entwicklung einer einzigartigen Persönlichkeit“ (Glomb 1997: 7). Die Einzigartigkeit des Individuums macht dessen Inkommensurabilität aus. Diese enge Verbindung zwischen dem Individuellen und Kontingenz wurde bereits im vorherigen Kapitel im Kontext von Adornos negativer Dialektik und den Überlegungen von Ernst Troeltsch erläutert. Die Ambivalenzen, die durch Individualisierung generiert werden, sind vielfältiger Natur. Eine Ambivalenz resultiert daraus, dass das ‚kulturelle Oktroi‘ (Thomas Luckmann) der Individualität paradoxerweise schnell zu Standardisierung führt, wie die Massenkultur zeigt (vgl. Glomb 1997: 7). Das Versprechen einer quasi ‚instant individuality‘ wird von der Konsumindustrie häufig genutzt, um ihre Massenprodukte an die Käufer zu bringen. Ein Beispiel unter vielen ist die Hugo Boss-Produktreihe namens „Just Different“. Die Ausbildung und Betonung individueller Unterschiede ist in der Massenkultur jedoch eine besondere Herausforderung, da schnell alle dieselben Produkte nutzen oder die gleichen Kleider tragen: „Im Zeitalter von ‚inviduellen‘ Handyklingeltönen, MTV, H&M, McDonald’s und IKEA sind sich viele Menschen ähnlicher als ihnen lieb ist.“ (Degele/ Dries 2005: 84) Gerade das Beispiel der Konsumindustrie lenkt die Aufmerksamkeit auf neue Zwänge, die mit der Eröffnung neuer Freiheiten einhergehen: An die Stelle traditionaler Bindungen und Sozialformen (soziale Klasse, Kleinfamilie) treten sekundäre Instanzen und Institutionen, die den Lebenslauf des einzelnen prägen und ihn gegenläufig zu der individuellen Verfügung, die sich als Bewußtseinsform durchsetzt, zum Spielball von Moden, Konjunkturen und Märkten machen. (Beck 1986: 211) Aus der „Dialektik von Freiheit und neuer Abhängigkeit“ (Degele/ Dries 2005: 92) entsteht schnell ein Gefühl der Überforderung, da Individualisierung „zu permanenter Selbstanpassung und -vermarktung zwingt“ (ebd.: 90; m.H.). Ein solches Gefühl der Überforderung mag bereits angesichts der schieren Fülle an Wahloptionen aufkommen, mit der sich das Subjekt konfrontiert sieht, ohne auf verbindliche Orientierungsmuster zurückgreifen zu können. Hinzu kommt die „Fragmentierung von Erfahrungen[,] [denn] [d]ie wachsende Komplexität von Lebensverhältnissen führt zu einer Fülle von Erlebnis- und Erfahrungsbezügen, die sich aber in kein Gesamtbild mehr fügen“ (Keupp et al. 2002: 48). Das Ergebnis kann sein, dass nicht nur die Lebenswelt als multiphren erscheint, sondern das Subjekt selbst in Multiphrenie verfällt. Es bedarf spezifischer „psychophysischer Resourcen“ (Reckwitz 2006b: 609), um „personale ‚Anschlussfähigkeit‘ für wechselnde, letztlich unabsehbare und ungeplante Handlungs- und Lebenssituationen her[stellen zu können]“ (ebd.). <?page no="65"?> Kontingenz und Modernisierungsprozess 51 Individualisierung entfaltet sich somit im Spannungsverhältnis zwischen Gestaltbarkeits- und Widerfahrniskontingenz, denn sie bedeutet „mehr Freiheit und mehr Zwang zugleich“ (Degele/ Dries 2005: 93). Im Laufe des Modernisierungsprozesses sind dabei unterschiedliche Formen von Subjektivität ausgebildet worden, um mit den wandelnden Bedingungen der Lebenswelt angemessen umgehen zu können. In seiner Studie Das hybride Subjekt (2006b) identifiziert Andreas Reckwitz drei differente, miteinander konfligierende Ordnungen des Subjekts innerhalb der Moderne: die bürgerliche Moderne des 18. und 19. Jahrhunderts versucht die Form des moralisch-souveränen, respektablen Subjekts verbindlich zu machen; die organisierte Moderne der 1920er bis 1970er Jahre produziert als Normalform das extrovertierte Angestelltensubjekt; die Postmoderne von den 1980er Jahren bis zur Gegenwart entwickelt das Modell einer kreativkonsumtorischen Subjektivität. (15) Die Subjektkulturen werden auf drei Praxisfeldern generiert und eingeübt, nämlich auf dem Feld der Arbeit, dem Bereich persönlicher und intimer Beziehungen sowie auf dem Feld der Technologien des Selbst (vgl. ebd.: 16). Das zuletzt genannte Praxisfeld bezieht sich auf jene „Aktivitäten, in denen das Subjekt jenseits von Arbeit und Privatsphäre unmittelbar ein Verhältnis zu sich selber herstellt und die vor allem Praktiken im Umgang mit Medien (Schriftlichkeit, audiovisuelle und digitale Medien) sowie im 20. Jahrhundert Praktiken des Konsums umfassen“ (ebd.: 16f.). Bei aller funktionaler Differenzierung herrscht dennoch eine „basale Homologie der Subjektformierung“ (ebd.: 17) zwischen diesen drei Praxisfeldern: Die feldtranszendierenden und sinnorientierenden Erfahrungsverarbeitungsmodelle verdichten sich laut Reckwitz zu historisch differenten hegemonialen Subjektkulturen. Die jeweiligen Subjektformen haben eine hybride Struktur, da sie verschiedene Subjektcodes, die häufig zueinander im Widerspruch stehen, aneinander koppeln (vgl. Reckwitz 2006b: 19). Individualisierung stellt sich bei genauerer Betrachtung als „ein[e] Sequenz von Kulturkonflikten“ (ebd.: 14) heraus, die sich darum drehen, „wie sich das moderne Subjekt modellieren soll und kann, Modellierungen, die immer wieder meinen, eine universale, natürliche Struktur ans Licht zu bringen“ (ebd.: 14f). Literatur bzw. Kunst spielt bei diesen Kulturkonflikten eine bedeutsame Rolle, denn die ästhetischen Bewegungen lassen sich „als Subjekttransformationsbewegungen der Moderne“ (ebd.: 17) begreifen. In der vorliegenden Arbeit werden die Kulturkonflikte um hegemoniale Subjektmodelle anhand der literarischen Fallstudien modelliert. In George Eliots Daniel Deronda wird beispielsweise das positiv codierte bürgerliche Moralsubjekt seinem kulturellen Anderen, dem „Spekulationssubjekt“ (Reckwitz 2006b: 132), gegenübergestellt, und zwar auf Basis eines „dreifachen Unterscheidungsschema[s] von Moderatheit/ Maßlosigkeit, Zweck- <?page no="66"?> 52 Beschreibungs- und Analysemodell haftigkeit/ Nutzlosigkeit ansparenz/ Künstlich “ (ebd.: 105; vgl. Kap. III.1). Demgegenüber wird in Virginia Woolfs Mrs. Dalloway das bürgerliche Subjektmodell mit seiner Betonung von Selbst kontrolle zugunsten eines „transgressiven Subjekt[s]“ (ebd.: 280) verworfen, das sich „nicht über moralisches oder zweckrationales Handeln, sondern über entroutinisierte ästhetische Wahrnehmung [formt]“ (ebd.: 293). Die Analyse der Gegenwartsromane wiederum lenkt den Blick auf Codes, die bei der hegemonialen Subjektkultur der Postmoderne eine wichtige Rolle spielen: „Das postmoderne Subjekt trainiert sich ein Arsenal von dauerhaften Kompetenzen an, die dispositionale Bedingungen liefern, um Selbstkreation, Iterierung von Wahlakten, erfolgreiche performances und deren beständige Veränderungen zu ermöglichen.“ (ebd.: 607) Zu der Grundorientierung des postmodernen Kreativsubjekts gehört die „Neuinterpretation von Emotionalität und Leiblichkeit im Sinne von Ressourcen für eine authentische Expressivität und ästhetischer Entfaltung“ (ebd.: 597). Die Ausbildung von „sinnliche[r] Sensibilität“ (Schmid 1998: 194) bzw. ‚leiblicher Intelligenz‘ wird dabei als wesentliche Grundlage für ‚Lebenskunst‘ verstanden (vgl. Kap. III.7). Der Begriff ‚Lebenskunst‘ bezieht sich auf „die Möglichkeit und die Anstrengung […], das Leben auf reflektierte Weise zu führen und es nicht unbewusst einfach nur dahingehen zu lassen“ (Schmid 1998: 10). 40 Es geht darum, ein bejahenswertes Leben zu führen (vgl. ebd.: 94). Die Frage danach, wie die jeweiligen Subjektmodelle auf spezifische soziokulturelle Wandlungen in Folge von Modernisierungspro zessen reagieren, wird in den Interpretationskapiteln ausführlich behan delt. Insgesamt handelt es sich bei den vier skizzierten Modernisierungsmechanismen um „eigenständige Prozesslinien, die sich - von Beginn an miteinander verwoben - historisch in etwa zeitgleich herausbilden und den Modernisierungsprozess als Gesamtheit prägen“ (Degele/ Dries 2005: 41). Das Zusammenspiel der Modernisierungsdimensionen ist in den obigen Ausführungen kurz angerissen worden. So sind Prozesse der Differenzierung, Individualisierung und Domestizierung ohne Rationalisierung nur schwer vorstellbar (vgl. ebd.: 113). Individualisierung wiederum wird nicht nur durch Rationalisierung befördert, sondern ebenso durch Differenzierung. Immer mehr Menschen unterscheiden sich durch ihre jeweiligen Spezialisierungen und Tätigkeiten (vgl. Degele/ Dries 2005: 78; Simmel 1989 [1890]). Der Einzelne nimmt unterschiedliche Subjektpositionen innerhalb verschiedener Teilsysteme und sozialer Kreise ein. Es ist die spezifische Kombination dieser verschiedenen Subjektpositionen, die eine wesentliche Dimension von Individualität bildet. Insgesamt verlaufen die vier benannten Modernisierungsprozesse „ko-evolutiv, d.h. parallel zueinander, […] und [kreuzen sich] auf vielfältige Weise miteinander. […] Die - prinzi- 40 Ausführlich zum Konzept der Lebenskunst siehe Kap. III.7. <?page no="67"?> Kontingenz und Modernisierungsprozess 53 piell ergebnisoffene - Gesamtentwicklung ist durch permanente Wechselwirkungen gekennzeichnet“ (Degele/ Dries 2005: 28f.). In einem nächsten Schritt soll es nun darum gehen, die zwei Faktoren näher zu beschreiben, die quer zu den vier Modernisierungsmechanismen liegen, nämlich Beschleunigung und Globalisierung. Beide Faktoren tragen zur gesteigerten Kontingenzerfahrung in der Moderne wesentlich bei. Beschleunigung bezieht sich auf die „Grunderfahrung [in der Moderne], ‚alles werde immer schneller‘“ (Rosa 2005: 40). Eine solche Perspektive auf die Temporalstrukturen in der Moderne liegt auf einer anderen analytischen Ebene als die oben beschriebenen Modernisierungsdimensionen, wie Hartmut Rosa in seiner Studie zu Beschleunigung (2005) ausführt: Zeit lässt sich begrifflich nicht einfach neben Kultur, Struktur, Natur- und Selbstverhältnis stellen, sondern ist eine zentrale und konstitutive Dimension derselben, und Beschleunigung erweist sich als Aspekt und Element einer jeden der vier damit verknüpften Entwicklungen; ja sie scheint geradezu deren verbindendes und zugleich antreibendes Prinzip darzustellen, wobei sie einmal als Ursache und dann wieder als Folge jener anderen Modernetendenzen erscheint. (110) Rosa unterscheidet drei Formen von Beschleunigung, wobei die erste Form technischer Natur ist. Sie umfasst „Prozesse des Transports, der Kommunikation und der Produktion (von Gütern und Dienstleistungen)“ (ebd.: 124). Die Voraussetzungen für diese technische Akzeleration, nämlich die „Beschleunigung von Organisations-, Entscheidungs-, Verwaltungs- und Kontrollprozessen“ (ebd: 128), fasst Rosa ebenfalls unter technische Beschleunigung zusammen. Eine tiefgreifende Folge der technischen Entwicklungen ist die Veränderung des vorherrschenden ‚Raum-Zeit- Regimes‘ (Harmut Rosa) in der Moderne. David Harvey (1990) spricht in diesem Zusammenhang von einer ‚Zeit-Raum-Verdichtung‘ (time-space compression). 41 Dies bezieht sich auf das Schwinden des Raums „in Wahrnehmung und Relevanz für viele soziale und kulturelle Vorgänge“ (Rosa 2005: 163f.). Der Raum erscheint nur noch als „Funktion der Zeit“ (ebd.: 164). Alltagsbeispiele können dies schnell veranschaulichen. Während man zu Fuß den Raum sinnlich in all seinen Facetten erlebt (z.B. Geräusche und Gerüche), werden diese Qualitäten bei einer Autofahrt oder im Flugzeug ausgeblendet. Der Raum wirkt dementsprechend abstrakt und leer, weil seine Durchquerung nur noch an der Zeitdauer der Reise gemessen wird (vgl. ebd.). Als Zweites tritt die „Beschleunigung des sozialen Wandels“ (Rosa 2005: 129) hinzu. Die Gegenwart ‚schrumpft‘, weil die Verfallsrate für erfahrungsgeleitetes Wissen immer kürzer wird (vgl. Lübbe 1992, 1998; Rosa 41 Ausführlich zur Zeit-Raum-Kompression siehe das Kapitel „Time-Space Compression and the Postmodern Condition“ in Harvey (1990: 284-307). <?page no="68"?> 54 Beschreibungs- und Analysemodell 2005: 133). „Denn wenn alles immer schneller wird, technologischer und sozialer Wandel keine Atempause machen, bleibt keine Zeit mehr, sich in Erfahrungsräumen einzurichten.“ (Degele/ Dries 2005: 172) Die „Beschleunigung des Lebenstempos“ (Rosa 2005: 135) bildet schließlich die dritte Form von Akzeleration. Objektiv äußert sie sich in „eine[r] Verkürzung oder Verdichtung von Handlungsepisoden“ (ebd.). Subjektiv schlägt sie sich in de[m] Gefühl von Zeitnot nieder (vgl. ebd.: 136). Alle drei Formen von Beschleunigung fördern ein erhöhtes Kontingenzbewusstsein. Der schnelle soziale Wandel radikalisiert die Herauslösung des Menschen aus gewohnten Zusammenhängen und rückt den kontingenten Charakter von sozialer Ordnung in den Vordergrund. Der herrschende Innovationsdruck im Sinne eines „mehr, schneller, besser“ (Degele/ Dries 2005: 28) setzt die Kontingenz des Gegebenen voraus. Ähnlich wie bei den anderen Modernisierungsprozessen kommt es bei Beschleunigung zu dialektischen Umschlägen der Steigerungslogik. Beschleunigung gipfelt häufig in Stillstand (vgl. Rosa 2005: 41). So zwingt das hohe Lebenstempo zu „einer nicht-integrierten Parallelverarbeitung [von Problemen und Veränderungen], die zu Fragmentierung, Steuerungsverlust, Versteh- und Gestaltbarkeitseinbußen sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlich-politischer Ebene führt“ (ebd.: 349). Statt Gestaltbarkeitskontingenz herrscht Widerfahrniskontingenz. Im Verlauf des Modernisierungsprozesses gab es zwei große Beschleunigungswellen. Die erste lässt sich in der Zeit um 1900 ansetzen; sie resultierte aus den Neuerungen der industriellen Revolution (vgl. Rosa 2005: 82). Die Antriebskräfte der zweiten Welle sind zwar seit den 1970er-Jahren beobachtbar, allerdings gewinnt sie ihre raumgreifende Durchschlagskraft […] aus dem Zusammentreffen dreier historischer Entwicklungen um 1989: Sowohl die politische Revolution jenes Jahres - der Zusammenbruch der DDR und des Sowjetregimes [im Jahr 1991] und die politische und ökonomische Öffnung der osteuropäischen Staaten - als auch die insbesondere durch die Etablierung des Internet […] forcierte digitale Revolution […], und schließlich die ökonomische Revolution der […] postfordistischen ‚Just-in-Time‘-Produktion des ‚Turbo- Kapitalismus‘ lassen sich im Kern als Beschleunigungsbewegungen verstehen. (ebd.: 335f.) Alle drei Entwicklungen lassen sich zugleich als Manifestationsformen von Globalisierung begreifen: Der „Globalisierungsdiskurs [wird] bestimmt durch die Beobachtungen der Auswirkungen genau jener informationstechnischen, ökonomischen und politischen Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse seit dem späten 20. Jahrhundert“ (ebd.: 338). Das Schlagwort Globalisierung lenkt den Blick auf Prozesse, die zu einer Intensivierung weltweiter Vernetzung geführt haben sowie „the intensification of consciousness of the world as a whole“ (Robertson 1992: 8). Diese Ent- <?page no="69"?> Kontingenz und Modernisierungsprozess 55 wicklungen bilden eine weitere wesentliche Dimension von Modernisierung. Dennoch lässt sich das qualitativ Neu[e] dieser Verhältnisse […] nur aus einem temporalanalytischen Blickwinkel erfolgreich vornehmen […]. Neu ist nicht der Austausch oder die Bewegung von Informationen, Geld, Waren und Menschen, aber auch von Ideen und Krankheiten über große Distanzen hinweg: neu ist die Geschwindigkeit und Widerstandslosigkeit, mit der sich solche Prozesse heute vollziehen können. (Rosa 2005: 339) Ähnlich wie Beschleunigung führt auch Globalisierung zu einem gesteigerten Kontingenzbewusstsein. Die Gründe hierfür werden angesichts der verschiedenen Globalisierungsfacetten schnell klar. Eine hilfreiche Übersicht zur Globalisierung liefern Rolf Eickelpasch und Claudia Rademacher: 42 Dimensionen Erscheinungsformen ökonomisch Globalisierung der Produktion, des Handels, der Märkte; Weltweite Geld- und Finanzströme politisch Internationalisierung politischer Entscheidungsprozesse; Schwächung des Nationalstaats informationstechnisch weltweiter Datenaustausch durch Computer, Internet usw. kulturell weltweite Vereinheitlichung von Symbolen, Konsum- und Identitätsmustern; gleichzeitig: Wiederbelebung lokaler Kulturen u. Identitäten, Entstehung von Mischkulturen sozial (grundlegend) Eröffnung des Welthorizontes für das Alltagshandeln; Zeit-Raum-Verdichtung Abbildung 3: Globalisierungsdimensionen (übernommen aus Eickelpasch/ Rademacher 2004: 57f.) Wie der Tabelle zu entnehmen ist, bedeutet Globalisierung die Aufhebung ortsgebundener Interaktionszusammenhänge. Anthony Giddens bezeichnet solche Formen der Aufhebung als ‚Entbettung‘ des Individuums. 43 Das alltägliche Leben wird durch Prozesse und Strukturen be- 42 Für einen konzisen Überblick über kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Globalisierung siehe das Studienbuch von Reichardt (2010) sowie Heinz (2006). 43 Vgl. Giddens (1991: 17f.): „I choose the metaphor of disembedding in deliberate opposition to the concept of ‚differentiation‘ sometimes adopted by sociologists as a means of contrasting pre-modern with modern social systems. Differentiation carries the imagery of the progressive separation of functions […]. No doubt this idea has some validity, but it fails to capture an essential element of the nature and impact of modern institutions - the ‚lifting out‘ of social relations from local contexts and their <?page no="70"?> 56 Beschreibungs- und Analysemodell stimmt, die sich weit entfernt abspielen, und umgekehrt hat das eigene Handeln Auswirkungen auf weit entfernte Orte (vgl. Giddens 1996: 85). Für diese komplexen Wechselwirkungen zwischen dem Globalen und dem Lokalen hat Roland Robertson (1995) den Begriff der ‚Glokalisierung‘ geprägt. Eine wesentliche Ursache für das Gefühl erhöhter Widerfahrniskontingenz in der Moderne liegt, so Anthony Giddens, in der Entbettung des Individuums. Glokalisierung bietet hierfür ein gutes Beispiel. Wenn die eigene Lebenswelt durch weit entfernte Prozesse beeinflusst wird, die das Individuum weder in ihrer komplexen Verflechtung durchschauen noch kontrollieren kann, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass diese Veränderungen als Widerfahrnis erlebt werden. Allerdings ist auch in der globalisierten Welt ein Bewusstsein für Gestaltbarkeitskontingenz allgegenwärtig, ganz im Sinne von Glokalisierung. Ein prominentes Beispiel für ein solches Bewusstsein ist der populäre Slogan ‚think globally, act locally‘. Mit Slogans wie diesen wird die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass beispielsweise das eigene Kaufverhalten die Entwicklung von Arbeitsbedingungen in den Herkunftsländern zumindest teilweise beeinflussen kann (z.B. Boykott von Produkten, bei denen Kinderarbeit involviert war). Die Frage, ob Globalisierung zu einer Ausblendung des Inkommensurablen führt, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Eine Denkrichtung setzt Globalisierung mit der Homogenisierung von Welt gleich, während andere Theoretiker wie Roland Robertson die Hybridisierung kultureller Praxisformen betonen. Tatsächlich muss die Diagnose einer ‚McDonaldisierung‘ (George Ritzer) von Welt angesichts der Beharrungskraft lokaler Eigenheiten relativiert werden. „Der tatsächlichen Gleichförmigkeit globaler Symbole, Produkte und Ideen steht eine vielfältige, oft widerständige und höchst eigenwillige lokale Aneignungspraxis gegenüber“ (Degele/ Dries 2005: 198). Zwar werden einheimische Bräuche und Praktiken durchaus verdrängt, doch findet sich ebenso häufig eine Vermischung von lokaler Kultur mit globalen Elementen (vgl. ebd.). Mehr noch, die „Konfrontation mit kulturellen Homogensierungsprozessen erweckt nicht selten erst das Bewusstsein für lange verschüttete Traditionen und Lebensstile zu neuem Leben“ (ebd.: 199). Das Bestehen auf der Partikularität des Lokalen dient dazu, sich gegen fremde Vereinnahmungstendenzen zu wehren (vgl. ebd.). Die Wahrnehmung von kulturell Fremdem, die durch Globalisierungsprozese intensiviert wird, führt zu einem erhöhten Bewusstsein hinsichtlich der Kontingenz der eigenen Lebensform. Neu an Globalisierung ist u.a. die „unausgrenzbare Wahrnehmung transkultureller Anderer im eigerearticulation across indefinite tracts of time-space. This ‚lifting out‘ is exactly what I mean by disembedding, which is the key to the tremendous acceleration in timespace distanciation which modernity introduces.“ Zu Prozessen der Entbettung siehe auch García Canclini (1995), Appadurai (1990) und Tomlinson (1999: 106-149). <?page no="71"?> Kontingenz und Modernisierungsprozess 57 nen Leben mit all den widersprechenden Gewißheiten“ (Beck 2007: 31). Das erhöhte Kontingenzbewusstsein angesichts anderer kultureller Lebensformen betont auch der Globalisierungstheoretiker Arjun Appadurai: The link between the imagination and social life […] is increasingly a global and deterritorialized one. […] [E]thnography must redefine itself as that practice of representation that illuminates the power of large-scale, imagined life possibilities over specific life trajectories. This is thickness with a difference, and the difference lies in a new alertness to the fact that ordinary lives today are more often powered not by the givenness of things but by the possibilities that the media […] suggest are available. (1990: 55; m.H. ) Zu den Besonderheiten des Globalisierungsprozesses gehören gerade nicht nur die erhöhte „Ausdehnung, Dichte und Stabilität wechselseitiger regionalglobaler Beziehungsnetzwerke“ (Beck 2007: 31), sondern die Wahrnehmung derselben in Form „jener Bilder-Ströme auf kultureller, politischer, wirtschaftlicher, militärischer und ökonomischer Ebene“ (ebd.). Obgleich Globalisierungsprozesse bis um das Jahr 1500 zurückreichen, wird zumeist die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts als eigentliche Epoche der Globalisierung angesetzt (vgl. Degele/ Dries 2005: 187). Die von Hartmut Rosa beschriebene Beschleunigungswelle ist ein wichtiger Grund für diese Periodisierung. 44 Während in diesem Kapitel die zeitliche Einordnung der beschriebenen Modernisierungsprozesse lediglich angerissen wurde, sollen im nachfolgenden Unterkapitel Phasen des Modernisierungsprozesses genauer unterschieden werden. Diese Phasenunterteilung dient zugleich dazu, eine kurze historische Einordnung der Romane zu leisten, die im Interpretationsteil behandelt werden. Da die Phasenunterteilung auf den Überlegungen in diesem Kapitel aufbauen, bietet die nachfolgende Tabelle eine kurze Übersicht über die Kontingenzfacetten der vier klassischen Modernisierungsdimensionen. 44 Eine ausführliche Liste an Gründen für das qualitative Neue der Globalisierung im 20. Jahrhundert liefert Beck (2007: 31f.): „Neu ist nicht nur das alltägliche Leben und Handeln über nationalstaatliche Grenzen hinweg, in dichten Netzwerken mit hoher, wechselseitiger Abhängigkeit und Verpflichtungen; neu ist die Selbstwahrnehmung dieser Transnationalität (in den Massenmedien, im Konsum, in der Touristik); neu ist die ‚Ortlosigkeit‘ von Gemeinschaft, Arbeit und Kapital; neu sind auch das globale ökologische Gefahrenbewußtsein und die korrespondierenden Handlungsarenen; […] neu ist die Zirkulationsebene ‚globaler Kulturindustrien‘ (Scott Lash/ John Urry); neu sind auch das Heranwachsen eines europäischen Staatengebildes, die Zahl und Macht transnationaler Akteure, Institutionen und Verträge; schließlich ist auch neu das Ausmaß ökonomischer Konzentration, das allerdings abgebremst wird durch die neue grenzübergreifende Weltmarkt-Konkurrenz.“ <?page no="72"?> Kontingenzfacetten der vier klassischen Dimensionen von Modernisierung Wirklichkeitswahrnehmung/ -erfahrung: Dimensionen von Modernisierung: Gestaltbarkeits -kontingenz Widerfahrniskontingenz Kontingenz als das Inkommensurable Domestizierung (Natur) Beherrschung der inneren und äußeren Natur mittels instrumenteller Rationalität dialektischer Umschlag: neue Unterwerfungsverhältnisse setzen Gestaltbarkeitskontingenz Grenzen; Domestizierung generiert unkontrollierbare Risiken, die als Widerfahrnis erlebt werden (z.B. ökologische Katastrophen) Ausgrenzung des Inkommensurablen aus Sicht instrumenteller Rationalität: Natur als das Andere der Vernunft Rationalisierung (Kultur) Vernunft- und Verfahrensprinzipien als gesellschaftlich leitend; systematische Neuordnung von Welt gemäß instrumenteller Rationalität: Herstellung einer berechen- und beherrschbaren Welt sowie Effizienzsteigerung dialektischer Umschlag: Kafkaeske Welterfahrung; Verlust von Sinnressourcen; Rationalisierungsprozesse verselbständigen sich Ausgrenzung des Inkommensurablen aus Sicht instrumenteller Rationalität: das Andere der Vernunft (Natur, Leib, Gefühle, Begehren, Fantasie) <?page no="73"?> Differenzierung (Struktur) Erhöhung der Berechenbarkeit von Welt sowie Effizienzsteigerung durch Funktionssysteme; Eröffnung von Freiräumen durch funktionale Trennung (z.B. Freiheit der Forschung durch Trennung von Religion und Wissenschaft) dialektischer Umschlag: Systemimperative entziehen sich kontrollierendem Zugriff des Subjekts: Gefühl ‚organisierter Irrationalität‘ (U. Beck) ausgesetzt zu sein; gesamtgesellschaftliche Steuerung nicht möglich; Gefahr gesellschaftlicher Desintegration Funktionssysteme blenden aufgrund ihrer Eigenlogik das Inkommensurable aus: Wahrnehmung der Umwelt nur gemäß des eigenen Systemimperativs. Bei Übergangsvollzügen des Subjekts zwischen Systemen: Sensibilisierung für das Inkommensurable, da die Systemlogiken nicht ineinander übersetzbar sind. Individualisierung (Persönlichkeit) Freisetzung aus sozialem Korsett: Gewinnung von Kontrolle und Entscheidungsfreiheit über das eigene Leben dialektischer Umschlag: Entstehung neuer Zwänge; Überforderung des Subjekts durch Individualität als ‚kulturelles Oktroi‘; Individuum als Manipulationsobjekt von Märkten Betonung des Inkommensurablen durch die Vorstellung vom Individuum als einzigartig Die vier Dimensionen nehmen im Laufe der historischen Modernisierungsphasen unterschiedliche Ausprägungen an Abbildung 4: Kontingenzfacetten der vier klassischen Dimensionen von Modernisierung <?page no="74"?> 60 Beschreibungs und Analysemodell 2.2 Phasen des Modernisierungsprozesses und Einordnung der literarischen Fallstudien Die Entwicklungslinien der Moderne „verändern im historischen Prozess ihrer Entfaltung immer wieder spürbar und zum Teil dramatisch ihren Charakter“ (Rosa/ Strecker/ Kottmann 2007: 22). Um diese historische Dimension zu fassen, ist es hilfreich, den Modernisierungsprozess in verschiedene Phasen zu unterteilen. Als Epochenschema dient folgende Periodisierung (vgl. Degele/ Dries 2005: 35; Rosa/ Strecker/ Kottmann 2007: 23f.): Als Epochenschwelle zwischen der Vormoderne und Moderne wird das Jahr 1500 angesetzt. Die Moderne lässt sich wiederum unterteilen in Frühmoderne (1500-1800), Hochmoderne (19. und 20. Jahrhundert) sowie die Spätmoderne (ca. ab den 1970er Jahren). Es handelt sich hierbei natürlich um eine heuristische Vereinfachung, denn jede Periodisierung ist ein Konstrukt. Dementsprechend können stets vielfältige Kontinuitätslinien identifiziert werden, auf deren Basis Epochengrenzen kritisch hinterfragt werden können. Dennoch lenkt diese Periodisierung die Aufmerksamkeit auf zentrale Wandlungen sozio-historischer Konfigurationen und die damit potentiell hervorgerufenen Formen von Kontingenzerfahrung. Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit ist die Hoch- und Spätmoderne, da alle Romane der Interpretationskapitel nach 1800 geschrieben wurden. Im Folgenden werden diese beiden Phasen kurz skizziert und diesen die Fallstudien zugeordnet. Zu den sozio-historischen Veränderungen, die mit der Schwellenzeit um 1800 verknüpft werden (Hochmoderne), gehören insbesondere Industrialisierung und wirtschaftliches Wachstum, politische Revolutionen (v.a. Frankreich und Amerika), nationale Bewegungen und das „europäische Mächtesystem als Signum der Epoche“ (Gall 2009: 106), der Wandel von der ständischen Gesellschaft zur Klassengesellschaft (‚bürgerliches Zeitalter‘), Bevölkerungswachstum sowie Säkularisierung (vgl. ebd.: 103-110). In dieser Phase der frühen Moderne wird Modernisierung vor allem als krisenhaft erlebt. Das Kontingenzbewusstsein speist sich aus dem „Prozess der Auflösung von Traditionen, Konventionen und sozialen Institutionen“ (Rosa/ Strecker/ Kottmann 2007: 23). Die Herausbildung einer „marktvermittelten Existenz“ (Holzinger 2007: 48) im Zuge von Industrialisierung trägt wesentlich zu dem aufkommenden Kontingenzbewusstsein bei. In der vorindustriellen Gesellschaft war das Subjekt in einer festen Sozialstruktur eingebettet, die als göttlich sanktioniert verstanden wurde. Identität war „insofern fremdreferentiell strukturiert, als den Individuen die für ihre Identität bedeutsamen Orientierungsmuster von außen an die Hand gegeben wurden“ (Glomb 1997: 6). Die freie Lohnarbeit in der industriellen Gesellschaft fordert demgegenüber dem Subjekt Flexibilität und Mobilität ab. Die Lohnarbeit „ist nur <?page no="75"?> Kontingenz und Modernisierungsprozess 61 dann gewährleistet, wenn der freie Lohnarbeiter nichts mehr außer seiner Arbeitskraft besitzt […] und seine Arbeitskraft frei verkaufen kann“ (Holzinger 2007: 48). Die Industrialisierung befördert dementsprechend die Herauslösung des Subjekts aus festen Bindungen, seien diese personaler, ökonomischer oder ständischer Natur (vgl. ebd.). Zugleich schwindet der unangefochtene Geltungsanspruch früherer Orientierungsmuster in der funktional differenzierten Gesellschaft, da kein Funktionssystem - auch nicht die Religion - mehr ein Monopol auf Weltdeutung hat. Vielmehr herrscht eine „Pluralisierung von Lebenswelten“ (U. Schimank zitiert nach Glomb 1997: 6). Folglich muss das Subjekt „die Identitätskonstitution selbstreferentiell bewerkstellig[en]“ (Glomb 1997: 6). Die Umstellung von fremdzu selbstreferentieller Identitätskonstitution ist ein grundlegendes Kennzeichen von Individualisierung. Die Wandlung von der stratifikatorisch differenzierten bzw. ständischen Gesellschaft des Mittelalters zu dem Vorrang funktionaler Differenzierung in der modernen Gesellschaft beginnt bereits im 15. Jahrhundert. Allerdings erhielt sie in der ‚Sattelzeit‘ (Reinhart Koselleck) um 1800 einen Schub, der dem neuen Differenzierungsprinzip den endgültigen Siegeszug brachte (vgl. Becker/ Reinhardt- Becker 2001: 83f.). Mit diesen Umbrüchen und Wandlungsprozessen um 1800 geht eine Veränderung des Zeitbewusstseins einher. Im Gegensatz zu der vormodernen „statischen Welterfahrung“ (Koselleck 1987: 275) entsteht seit Mitte des 18. Jahrhunderts „die Wahrnehmung einer (säkularen) sozialen und geschichtlichen Beschleunigung […] im Zuge der Herausbildung eines neuen, ‚verzeitlichten‘ Geschichtsverständnisses“ (Rosa 2005: 86). Reinhart Koselleck zeigt, wie sich die Wahrnehmung von Zeit seit etwa 1750 tiefgreifend verändert hat. Der neue Begriff von Zeit bzw. „das neue Epochenbewußtsein seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert“ (Koselleck 1987: 280) lässt sich an verschiedenen Indikatoren ablesen: Die Dynamisierung und Verzeitlichung der Erfahrungswelt; die offene Zukunft, die planend anzugehen unsere Aufgabe bleibt, ohne die Wege der Geschichte voraussehen zu können; die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die das Geschehen auf unserem Globus pluralistisch differenziert; die daraus sich ergebende perspektivische Vielfalt, in der historische Erkenntnis gewonnen und abgewogen werden muß; ferner das Wissen, in einer Übergangszeit zu leben, in der es immer schwerer wird, die überkommenden Traditionen mit den notwendigen Neuerungen zu vermitteln. Schließlich das Gefühl der Beschleunigung, mit der sich die Prozesse des Wandels ökonomisch oder politisch zu vollziehen scheinen. (ebd.: 280f.) Diese Indikatoren betonen zugleich die Bedeutung von Beschleunigung als eine weitere Dimension von Modernisierung und der mit ihr verbundenen Kontingenzerfahrung. <?page no="76"?> 62 Beschreibungs und Analysemodell Die „Erschließung einer offenen Zukunft“ (Koselleck 1987: 278) in der Hochmoderne kann anhand der ausgewählten literarischen Texte abgelesen werden. So endet George Eliots Daniel Deronda (1876) mit Derondas historischem Auftrag, im Zeichen des Zionismus einen jüdischen Staat zu gründen. Die Zukunft erscheint als gestaltungsoffener Raum, in dem sich Neues formieren wird (vgl. Koselleck 1987: 278). Dass das neue Kontingenzbewusstsein in der Hochmoderne vor allem jedoch mit krisenhaften Überforderungserfahrungen verbunden war, deutet Eliots Funktionalisierung von Nationalismus an. Die Orientierungskrise des Individuums, die aus dessen Entbettung aus einer stabilen Sozialstruktur sowie Säkularisierung entsteht, soll durch Nationalismus als Ersatzreligion geheilt werden. Krisenhafte Erfahrungen von Entbettung stehen ebenfalls im Zentrum von Joseph Conrads The Secret Agent (1907). Das Leiden des „Markt- Individuum[s]“ (Holzinger 2007: 48) an Verdinglichung und dem Herrschen von Abstraktion geben Anlass zur Frage, ob und wieviel agency dem Individuum zukommt. Conrads Roman lenkt die Aufmerksamkeit darauf, wie in der Hochmoderne „Raum und Zeit […] auf neue Weise zum Problem [werden]“ (Rosa/ Strecker/ Kottmann 2007: 23). Statt naturhaftorganischer Zeit folgt das Markt-Individuum dem Takt industrieller Rhythmen und unterliegt damit einer „chronologischen Disziplinierung“ (Kohl 1998: 160). Dazu kommt eine Fragmentarisierung von Raumerfahrung. Insgesamt vermitteln die beiden Romane ein Bild vom ‚langen‘ 19. Jahrhundert als einer Zeit, „in dem die wirtschaftlichen, technischen, militärischen und auch die politisch-gestalterischen Möglichkeiten und Spielräume ebenso rasch zunahmen, wie die Gewissheiten und die Ordnung des Handelns zerbrachen“ (Rosa/ Strecker/ Kottmann 2007: 24). Die dialektischen Umschläge der Modernisierungsprozesse stehen im Zentrum der literarischen Analysen. Zu der ‚soziologischen Kontingenzerfahrung‘ im Zuge des Modernisierungsprozesses tritt die radikal ‚historische Kontingenzerfahrung‘ in Form des Ersten Weltkrieges. Der Erste Weltkrieg gilt als ‚Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts‘ (George F. Kennan), weil es sich um „den ersten globalen, voll technisierten Weltkrieg“ (Degele/ Dries 2005: 38) handelt. Die Menschenverachtung des industrialisierten Krieges wirkte auf Zeitzeugen tief verstörend, da diese Art der modernen Kriegsführung bislang im europäischen Raum nicht praktiziert worden war (vgl. Reimann 2004: 32). Die dritte Fallstudie zu Virginia Woolfs Mrs. Dalloway (1925) beschäftigt sich mit der Verknüpfung beider Formen von Kontingenzerfahrung im literarischen Raum: die „soziologische Kontingenzerfahrung der Moderne, die am intensivsten in den Großstädten gemacht wird“ (Baum 2003: 36), mit der historischen Kontingenzerfahrung des Ersten Weltkrieges. Nach dem Zweiten Weltkrieg, der eine weitere radikale historische Kontingenzerfahrung darstellt, beginnt eine Phase des wirtschaftlichen <?page no="77"?> Kontingenz und Modernisierungsprozess 63 Aufschwungs und der relativen Stabilität. Dementsprechend werden in der Geschichtswissenschaft die 1950er und 1960er Jahre häufig als die goldenen Jahre bezeichnet (vgl. z.B. Hobsbawm 1996: 257). Außenpolitisch erscheint die Ordnung in einer Ost/ West-Blockbildung fixiert, während in der Innenpolitik Institutionen und staatliche Regelungen das Leben wieder planbar erscheinen lassen (vgl. Rosa/ Strecker/ Kottmann 2007: 25). Der Umbau zum Wohlfahrtsstaat in Großbritannien garantierte dem Individuum soziale Sicherheit. Hatte die Industrialisierungsphase der Moderne die Institutionen und Traditionen der Gesellschaft fraglich und brüchig gemacht und zu einem großen Teil einfach zerstört, so waren nun neue und verlässliche Institutionen und auch Traditionen in nahezu allen Lebens- und Gesellschaftsbereichen entstanden, die das Leben berechenbar und das Handeln erwartbar werden ließen. (ebd.) In den Demokratien sind die durch Wahlen legitimierten Parlamente für „die stabile ‚Rahmensteuerung‘ der gesellschaftlichen Entwicklung verantwortlich“ (ebd.). Konkurrenzdemokratie und Marktwirtschaft bilden in Großbritannien die Grundlage für den Wohlfahrtsstaat bzw. die soziale Sicherheit sowie für Massenkonsum (vgl. Berger 2006: 208). Die Veränderung von Arbeit und Organisation wirken sich auf „Biographiemuster“ (Beck 1986: 211) aus. Traditionelle Bindungen (z.B. soziale Klasse) werden zugunsten „institutionelle[r] Prägungen des Lebenslaufes“ (ebd.: 212) abgelöst, indem „Regelungen im Bildungssystem (z.B. Bildungszeiten), im Berufssystem […] und im System sozialer Sicherungen direkt verzahnt sind mit Phasen im Lebenslauf der Menschen“ (ebd.). Das Ergebnis sind „Normalbiographien“ (ebd.: 214), an der sich der Einzelne langfristig ausrichten kann bzw. soll. Iris Murdochs Roman Under the Net (1954), der als vierte Fallstudie behandelt wird, ist in den ‚goldenen Jahren‘ der Nachkriegszeit angesiedelt. Allerdings liest sich der Roman weniger als Zeugnis gesellschaftlicher Stabilität. Vielmehr leidet der pikareske Anti-Held, der sich einer ‚Normalbiographie‘ konsequent verweigert, unter Entwurzelung. Tatsächlich waren die 1950er auch eine Zeit beunruhigender gesellschaftlicher Umbrüche und anhaltender Konfliktlinien. Dafür stehen exemplarisch der Zusammenbruch des Empire und die Nachwirkungen der Kolonialzeit; die endgültige Ablösung durch die USA als Weltmacht und die sich anbahnende Konfrontation der Supermächte; […] der Welfare State und seine bürokratisch-nivellierenden Tendenzen; die sozialen Ungerechtigkeiten und das Verhältnis der politischen Klassen; die ungebrochene Machtstellung des Establishments und der Ruling Class, usf. (Seeber/ Zapf/ Maack 1993: 369). Mit dem Verlust seiner Weltmachtstellung und der Auflösung des Empire war Großbritannien auf der Suche nach seinen Aufgaben in der Welt. Un- <?page no="78"?> 64 Beschreibungs und Analysemodell der the Net steht deutlich in einem Dialog zu zeitpolitischen Entwicklungen wie diesen, wie die zahlreichen Anspielungen im Roman auf den Niedergang des Empire sowie Klassenkonflikte unterstreichen. Hinzu kommt, wie die obige Aufzählung zeigt, der beschleunigte Wandel sozialer Verhältnisse. Diese Wandlung umfasste nicht nur wohlfahrtsstaatliche Reformen, sondern auch wissenschaftlich-technologische Neuerungen: „[I]n den Jahren 1945-1961 [fanden] im Wirtschaftsleben mehr wissenschaftlichtechnische Veränderungen statt als im Jahrhundert zuvor“ (ebd.). Angesichts späterer Wirtschaftskrisen oder des Aufbrechens des gesellschaftlichpolitischen Konsenses in den 1970er mögen die 1950er in Großbritannien retrospektiv als ‚Golden Age‘ erscheinen. Wie der Historiker Eric Hobsbawm jedoch treffend kommentiert, „[t]he gold glowed more brightly against the dull or dark background of the subsequent decades of crisis“ (1996: 258). Dieses Jahrzehnt birgt nämlich gleichermaßen krisenhafte Erfahrungspotentiale aufgrund des beschleunigten Modernisierungsprozesses. So leistet beispielsweise zwar die „alle Lebensbereiche durchdringende Standardisierung (der Ausbildungsgänge und Arbeitsverträge, der Rechtsvorschriften und Industrienormen, der Gebrauchsgüter und Unterhaltungsmedien)“ (Rosa/ Strecker/ Kottmann 2007: 25) eine Kontingenzbannung zugunsten vorgegebener bzw. fester Normen. Allerdings führt der dialektische Umschlag dieser Rationalisierung dazu, dass vielfach „die Ohnmacht des Individuums angesichts einer ‚total verwalteten‘ und durchorganisierten Welt“ (ebd.) kritisiert wird. Die Entwurzelung des pikaresken Helden in Under the Net muss vor dem Hintergrund solcher gesellschaftlicher Umbrüche gelesen werden: „einer höchst problematisch gewordenen kulturellen ‚Tradition‘ einerseits und einem nicht minder problematisch erfahrenen, in völlig neue Dimensionen eintretenden Prozeß der gesellschaftlichen ‚Modernisierung‘ anderseits“ (Seeber/ Zapf/ Maack 1993: 369). Die beunruhigende Dialektik von Modernisierungsprozessen gewinnt an Dramatik seit den 1970er Jahren, also den Dekaden, die dem ‚goldenen Zeitalter‘ folgen. Bereits in den späten 1960er Jahren häufen sich die Indizien, dass die „Basisprämissen der industriellen Moderne“ (Keupp et al. 2002: 40) brüchig werden. Zu den Basisprämissen der industriellen Moderne gehört die mit hoher Selbstverständlichkeit angenommene Konstruktion raum-zeitlicher Koordinaten für kollektive Identitäten und Lebensmuster. Alle das gesellschaftliche Leben bestimmenden Prozesse der Politik, Wirtschaft und Verwaltung werden als ineinander verzahnte Prozesse betrachtet, die wie in einem Container deponiert und als gut geordnet angesehen werden. In diesem innergesellschaftlichen Depot werden dieser Grundvorstellung zufolge auch gelungene individuelle und soziale Identitäten abgesichert. […] Die für Identitätsbildung erforderliche soziale Anerkennung ist in klar strukturier- <?page no="79"?> Kontingenz und Modernisierungsprozess 65 ten sozialen Figurationen von Familie, Nachbarschaft, lokalen Gruppen und Netzwerken gesichert. (ebd.: 40f.) 45 In der Spätmoderne verlieren Familie und Beruf, die bislang die verbleibenden „zwei große[n] Sicherheiten […] in der Moderne“ (Beck 1986: 221) waren, ihre identitätsstabilisierende Funktion. Die „Generalisierung von Beschäftigungsunsicherheiten“ (ebd.: 227) bedeutet den Verlust von Planungssicherheit und materieller Sicherheit. Lebensläufe folgen nicht mehr standardisierten Bahnen, sondern es wird erhöhte Flexibilität und Mobilität vom Subjekt erwartet (vgl. Sennett 2006 [1998]). Die tiefgreifenden Umbrüche im Geschlechterverhältnis sowie die gesellschaftlichen Beschleunigungsprozesse wirken sich auch auf Familienstrukturen aus, denn der „Lebensabschnittspartner ersetzt heute tendenziell den Lebenspartner“ (Rosa 2005: 180f.). In der „multioptionalen Gesellschaft“ (Keupp et al. 2002: 47) der Spätmoderne bildet der eigene Lebensentwurf lediglich eine Option unter anderen: Es herrscht eine „Entgrenzung individueller und kollektiver Lebensmuster“ (ebd.: 46) sowie eine „Pluralisierung von Lebensformen“ (ebd.). Sorgten kollektive Identitäten in der frühen und entwickelten Moderne noch für Stabilität, zersplittert in der Spätmoderne „‚das Gehäuse der Zugehörigkeit‘ […] unter dem Druck der globalen Modernisierung“ (Eickelpasch/ Rademacher 2004: 55). Die „fortschreitend[e] Dezentrierung der Identität“ (ebd.) wird durch den sich rapide beschleunigenden Globalisierungsprozess verstärkt (vgl. ebd.). Die restlichen Romane, die in der Arbeit analysiert werden, gehören der Spätmoderne an. David Mitchells Ghostwritten (1999), Jon McGregors If Nobody Speaks of Remarkable Things (2002) und Ian McEwans Atonement (2001) sind von dem Bemühen geprägt, im literarischen Raum Subjektmodelle zu entwickeln, die es erlauben, mit Instabilität, Unsicherheit und den „unberechenbare[n] flows (Ströme) von Informationen, Ideen, Geldern und Menschen“ (Rosa/ Strecker/ Kottmann 2007: 27) im globalisierten Zeitalter umgehen zu können. Am deutlichsten werden Globalisierungsprozesse in Mitchells Ghostwritten in den Vordergrund gestellt. Die Frage nach Formen von Gemeinschaft und Handlungsmächtigkeit in einer globalisierten Welt findet dort eine vielschichtige Ausgestaltung. Gemeinschaft ist ebenfalls 45 Tiefgreifende Kontingenzeinbrüche können durch solche Figurationen aufgefangen werden, wie Keupp et al. (2002: 41) mit Verweis auf von Ferber (1995) betonen: „Selbst die dramatischen Zerstörungen und Vertreibungen des Zweiten Weltkriegs sind in diesen Mustern erfolgreich ‚normalisiert‘ worden, wie Christian v. Ferber aufgezeigt hat: ‚Für die Folgen von Kriegen, politischen Systemwechseln, für wirtschaftliche Massenarbeitslosigkeit ist ein Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Umbrüchen und kollektiven Deutungsmustern aufgearbeitet‘ (1995, S. 19). Zu diesen Deutungsmustern und Techniken der Normalisierung zählen die immer wieder neu belebten ständischen Lebensmuster und sozialmoralischen Milieus. Sie vermitteln Modelle geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, die als naturhaft geregelt gedacht wurden.“ <?page no="80"?> 66 Beschreibungs und Analysemodell ein zentrales Thema in McGregors Roman. Dieses Thema wird aufs engste mit dem Projekt verbunden, eine Verzauberung unserer modernen Lebenswelt zu leisten, um Pathologien des Modernisierungsprozesses entgegenzuwirken. Die Frage nach den Voraussetzungen für ein gelingendes Leben in einer kontingenten Welt bildet einen Schwerpunkt in allen drei Romanen. Allerdings werden in Atonement am intensivsten die Dispositionen und Praktiken des Selbst ausgelotet, die für Lebenskunst in der heutigen Zeit als unerlässlich erscheinen. 3 Formen und Funktionen von Kontingenzkonzeptionen im Roman: Beschreibungs- und Analysemodell Die vorangegangene Darlegung der Kontingenzfacetten des Modernisierungsprozesses bildet die Grundlage, um Formen und Funktionen von Kontingenzkonzeptionen im Roman genauer zu umreißen. In einem ersten Schritt wird zunächst erläutert, welche grundlegenden Funktionen literarische Erzähltexte mit Blick auf Kontingenzwahrnehmung und -erfahrung im Prozess der Modernisierung erfüllen. Diese verallgemeinernde Betrachtung zur Funktionsgeschichte des Romans wird im späteren Anwendungsteil durch Fallstudien spezifiziert. Um eine solche spezifische Bestimmung des Funktionspotentials literarischer Erzähltexte zu ermöglichen, wird in einem zweiten Schritt ein Beschreibungs- und Analyseinstrumentarium für Ästhetiken der Kontingenz erarbeitet. Dieses Analysemodell bietet sowohl Leitfragen für die Romaninterpretation als auch narratologische Parameter, die eine Skalierung von Romanen zwischen den Polen Invisibilisierung und Visibilisierung von Kontingenz erlauben. 3.1 Funktionen von Erzählliteratur im Prozess der Modernisierung Literatur ist in mehrfacher Hinsicht eine wichtige Quelle für die Entwicklung des Kontingenzbewusstseins und -umgangs im Prozess der Modernisierung. Literarische Texte sind insofern „Produkte ihres Entstehungskontextes […], als sie gesellschaftliche Entwicklungsprobleme und das kulturelle Wissen einer Epoche aufgreifen und mit literaturspezifischen Gestaltungsmitteln kommentierend und interpretierend verarbeiten“ (A. Nünning 1992: 199). Ein solches dialogisches Verhältnis zur Lebenswirklichkeit bedeutet, dass Literatur Aufschluss über Vorstellungen von Kontingenz geben kann, die den Wirklichkeitsbegriff einer Epoche strukturieren. Dem kann hohe Bedeutung beigemessen werden, weil „kollektive Vorstellungen […], die man das Welt- oder Menschenbild einer Epoche nennt […], meist nicht auf die Ebene begrifflicher Reflexion gehoben werden“ (ebd.: 201). Allerdings beschränkt sich die Bedeutung von Literatur <?page no="81"?> Kontingenzkonzeptionen im Roman 67 nicht darauf, Einblick in mentalitätsgeschichtliche Wandlungen in der Moderne zu geben. Vielmehr kann Literatur als eigenständiger Faktor bei der Veränderung des Kontingenzbewusstseins im Prozess der Modernisierung gewertet werden. Funktionsgeschichtliche Studien zur Literatur haben gezeigt, dass „literarische Wirklichkeitsentwürfe in mannigfaltiger Weise auf die Gesellschaft zurückwirken, indem sie etwa zur Ausbildung neuer Wahrnehmungs-, Denk- und Empfindungsweisen beitragen“ (ebd.: 199). 46 Dieses Wirkungspotential von Literatur hängt mit den Besonderheiten der ästhetischen Erfahrung zusammen, insbesondere den von ihr eröffneten Erlebnisdimensionen von Kontingenz. Im Folgenden soll der Zusammenhang zwischen literarischem Erzählen und ästhetischem Erleben von Kontingenz kurz erläutert werden, um darauf aufbauend grundlegende Funktionen des englischen Romans in der Moderne für die Wahrnehmung von und den Umgang mit Kontingenzphänomenen aufzuzeigen. Aus kulturanthropologischer Sicht stellt literarisches Erzählen einen „Sonderfall einer generellen Praxis dar“ (Müller-Funk 2002: 14). Psychologische sowie kulturwissenschaftliche Untersuchungen zu Narrativität stellen heraus, dass Erzählungen ein grundlegendes Medium sind, um Sinn zu stiften, Realitäten zu konstruieren sowie eine stabile und kohärente Identität zu entwerfen. Die Identität eines Individuums ist nicht gegeben, sondern wird dialogisch-prozessual durch Rückgriff auf kulturelle Erzählmuster entworfen: „Eine Person vervollständigt sich, indem sie über ihr Leben erzählt, für denjenigen, der zuhört und auch für sich selbst.“ (Fauser 2003: 89) Erzählungen konstituieren nicht nur eine elementare Dimension bei der Identitätsbildung auf individueller Ebene, sondern auch auf der Ebene des Kollektivs. Gemäß einer „narrative[n] Theorie der Kultur“ (Müller-Funk 2002: 14) unterscheiden sich Kulturen sowohl durch ihr „narratives Reservoir“ (ebd.: 14) als auch durch „ihre Konstruktionsweisen des Erzählens“ (ebd.: 53). Kulturen sind demnach „Erzählgemeinschaften“ (ebd.: 14). Da kulturelle Sinnwelten und Identitäten narrativ entworfen werden, bedingt die kulturelle Praxis des Erzählens, was in einer Kultur vom Subjekt als kontingent wahrgenommen und wie das Kontingenzphänomen bewertet und damit umgegangen wird. Dabei sind Erzählungen besonders wirksam, deren eigene Kontingenz invisibilisiert ist, d.h. sie sind so selbstverständlich, dass ihr Status als Erzählung nicht wahrgenommen wird. „Erst im Kampf um Bedeutung, wie es der Alltag moderner Gesellschaften ist, treten die narrativen Grundmuster zutage.“ (ebd.) Aufgrund ihrer Fiktionalität bildet literarisches Erzählen einen Sonderfall narrativer Praktiken. Die Entreferenzialisierung und Entpragmatisierung von Literatur erlaubt es, mögliche bzw. fiktive Welten zu entwerfen und damit Räume des Auch-anders-Sein-Könnens zu eröffnen. Dabei wer- 46 Vgl. u.a. Reckwitz (2006b), Peper (2002), Fluck (1997), Zapf (2002) und Gymnich/ Nünning (2005). <?page no="82"?> 68 Beschreibungs und Analysemodell den „alle, auch lebensweltlich unmöglichen Formen des Erzählens“ (Müller-Funk 2002: 14) erprobt. Literatur kann einerseits hegemoniale kulturelle Narrative bestätigen und damit zu deren Stabilisierung beitragen. Andererseits kann sie diese durch Gegenerzählungen hinterfragen und zur Entwicklung neuer sinnstiftender Erzählungen beitragen. Auf diese Weise leistet Literatur eine „Reaktivierung ausgeschalteter Possibilitäten“ (Luhmann 1998a: 352; vgl. auch Hahn/ Pethes 2004: 8): „Fiktionale Texte sind in der Lage, in der wirklichen Welt angelegte Möglichkeiten auf ihre Funktionalität zu testen“ (Pethes 2004: 86), indem sie probeweise im literarischen Raum durchgespielt werden. So wird ein „Nebeneinander von Wirklichkeit und Möglichkeit“ (Reinfandt 1997: 134) etabliert. Literarische Fiktionen stellen „Aussagen über die Wirklichkeit in den Horizont der Doppelung von Wirklichkeit und Möglichkeit […] und [lassen sie] so in einem anderen Licht erscheinen“ (ebd.). Auf diese Weise erkundet Literatur die Grenzbereiche zwischen dem Notwendigen und dem Möglichen. Die literarische Sensibilisierung für Kontingenz ist besonders wirksam, weil Literatur die entworfenen Alternativwelten imaginativ erfahrbar macht. Die Rezipientin 47 stellt sich zwar die entworfene Textwelt imaginativ auf Basis der Textvorgaben vor, allerdings ist sie „zugleich darauf angewiesen, auf eigene Assoziationen und Gefühle zurückzugreifen, um diese Textvorgaben mit Hilfe des eigenen Erfahrungshaushalts Gestalt annehmen zu lassen“ (Fluck 2005: 35). Ohne (somatische) Empathie können wir uns beispielsweise nicht vorstellen, was Schmerzen, Hitzeempfinden oder Angst bedeuten (vgl. ebd.; Tischleder 2000: 78). Dieser „Transferprozess des Rezipienten“ (Fluck 2005: 41) bedeutet ein imaginatives Erleben der möglichen Welt. Ein solches Erleben einer anderen Welt und eines anderen ‚Selbst‘ kann zu einer besonderen Schärfung des Möglichkeitsinns führen. Das Zusammenspiel des in der Realität Gegebenen und des Erfundenen in der Literatur leistet einen zweifachen „Artikulationseffekt“, wie Winfried Fluck (2005: 40) ausgeführt hat. Erstens haben literarische Fiktionen das Potential „zur kulturellen Grenzüberschreitung“ (ebd.). Demnach kann Literatur eine Kontingenzöffnung generieren, da sie von der Gesellschaft ‚ausgeschaltete‘ Wirklichkeitsoptionen artikuliert (vgl. ebd.). Der Artikulationseffekt betrifft jedoch nicht nur kulturell Ausgegrenztes. Vielmehr ermöglicht der oben umrissene Transferprozess die Artikulation „unser[es] Innere[n], einschließlich unseres Körperempfindens“ (ebd.: 45). Literatur leistet auf diese Weise eine imaginative Selbsterweiterung und bestätigung (vgl. ebd.: 41). Dass dies eine Quelle des Vergnügens sein kann, liegt aus literaturanthropologischer Perspektive an der ‚exzentri- 47 In diesem Text wird der Einfachheit halber beim Singular nur die weibliche Form verwendet (‚Rezipientin‘, ‚Leserin‘). Die männliche Form ist selbstverständlich immer mit eingeschlossen. <?page no="83"?> Kontingenzkonzeptionen im Roman 69 schen Positionalität des Menschen‘ (Hans Plessner). Dieser Begriff bezieht sich auf die Fähigkeit des Menschen, sich von der eigenen Mitte distanzieren (‚ex-zentrisch‘) zu können und sich damit auf sein eigenes Erleben zu beziehen (vgl. Plessner 1981: 360ff.; Bialas 2010: 198). Die Exzentrizität seiner Positionsform ist verantwortlich dafür, dass der Mensch seinen ‚Schwerpunkt außer sich hat und darum nicht mehr in sich ruht‘ [Plessner]. Er konfrontiert sein Leben, wie es ist, mit einem Leben, wie es sein könnte oder sollte. (Bialas 2010: 198) 48 Eine so verstandene „Plastizität des Menschen“ (Iser 1991: 505) bzw. Kontingenz wird durch „[d]ie Inszenierung der Literatur veranschaulicht“ (ebd.). Neben der Selbsterweiterung kann eine Leserin durch den oben beschriebenen Transferprozess Selbstbestätigung erfahren, weil „mit der kulturellen Anerkennung des literarischen Textes […] zugleich auch die von [ihr] […] eingebrachten imaginären Anteile Anerkennung und Bestätigung [finden]“ (Fluck 2005: 40). Allerdings bleibt die Artikulation der eigenen Innerlichkeit, die im Zuge des Eintauchens in die literarische Welt erfolgt, unvollständig. Sie wird nämlich nur indirekt realisiert, d.h. „durch die parasitäre Anbindung an ein fremdes Zeichen“ (ebd.: 45). „Fiktionale Texte können diesen Mangel immer nur um den Preis überbrücken, ihn im Prozess der Artikulation zugleich neu zu stimulieren.“ (ebd.) Diese Dynamik erklärt, wie das Verlangen nach literarischen Fiktionen entsteht (vgl. ebd.). Die oben beschriebenen Artikulationseffekte konstituieren die ‚ästhetische Funktion‘ von Literatur (vgl. Fluck 2005: 40). Die ästhetische Funktion bildet die Grundlage für die gesellschaftliche Wirkungskraft von Literatur (vgl. ebd.). Richtet sich der Blick nun auf die spezifische Rolle von Literatur im Prozess der Modernisierung, so lassen sich mit Hans Ulrich Seeber (2005) vier Hauptfunktionen identifizieren. Mit ‚Funktion‘ ist „das durch seine Strukturierung geschaffene Wirkungs- und Funktionspotential eines Werkes“ (Seeber 2005: 80) gemeint, d.h. eine „Deutungshypothese […], welche die spezifische Anordnung des Materials, seine Auswahl und Zurichtung im Sinne eines expressiven und kommunikativen Gebildes überhaupt erst verstehen hilft“ (ebd.; vgl. Fluck 1997: 17). Im Folgenden werden 48 Vgl. Plessner (1981): „Der Mensch als das lebendige Ding, das in die Mitte seiner Existenz gestellt ist, weiß diese Mitte, erlebt sie und ist darum über sie hinaus. Er erlebt die Bindung im absoluten Hier-Jetzt, die Totalkonvergenz des Umfeldes und des eigenen Leibes gegen das Zentrum seiner Position und ist darum nicht mehr von ihr gebunden. Er […] weiß sich frei und trotz dieser Freiheit in eine Existenz gebannt, die ihn hemmt und mit der er kämpfen muß. Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch.“ (364) Unter der „positionale[n] Mitte eines Lebendigen“ (ebd.: 361) versteht Plessner „einen absoluten Hier-Jetztpunkt“ (ebd.). <?page no="84"?> 70 Beschreibungs und Analysemodell Seebers Thesen zu den vier Funktionen von Literatur im Modernisierungsprozess vorgestellt und auf die Kontingenzthematik bezogen. 49 Da der Untersuchungsfokus auf dem britischen Roman liegt, werden die Funktionen anhand von diesem illustriert. Die erste Hauptfunktion von Literatur ist die „[k]omplexe Interpretation der Modernisierung […]. Diese Funktion hebt also auf die […] kognitive Leistung von Literatur ab.“ (Seeber 2005: 81) Eine solche komplexe Interpretation von Modernisierung umfasst zugleich den Entwurf einer spezifischen Kontingenzkonzeption, d.h. einer Bestimmung und Relationierung der Bereiche des Verfügbaren und Unverfügbaren. Literatur durchleuchtet den Modernisierungsprozess auf Kontingenzphänomene sowie deren Ursachen. Systemtheoretisch formuliert, beobachtet Literatur wie andere Systeme beobachten und bildet damit eine Beobachtung zweiter Ordnung. In diesem Lichte leisten die Weltentwürfe und Erzählverfahren im modernen Roman zugleich eine Interpretation von Modernisierung (vgl. ebd.: 82). Die Interpretationen können dabei einen unterschiedlichen Komplexitätsgrad aufweisen, wie Seeber anhand des Vergleichs zweier Romane illustriert: „Was sich auf dem Weg von Dickens zu Joyce feststellen lässt, ist eine erhebliche Komplexitäts- und Mobilitätssteigerung als Folge des Modernisierungsprozesses, die Joyce in der ästhetischen Konkretion denkwürdig inszeniert.“ (ebd.: 83) Mit Blick auf die erste Hauptfunktion lautet eine grundlegende These dieser Arbeit, dass Interpretation von Modernisierung in Form der jeweiligen literarischen Kontingenzkonzeption erfolgt. Die spezifische Kontingenzkonzeption, die dem Werk zugeordnet werden kann, prägt die gesamte Struktur des Romans, angefangen von Figuren, Plot, Raum, Zeit bis hin zur Erzählerrede. Wie Beziehungen zwischen der ästhetischen Organisation, der dadurch implizierten Kontingenzkonzeption und dem Wirklichkeitsbegriff der Entstehungszeit hergestellt und analysiert werden können, ist Gegenstand des nächsten Unterkapitels. Die zweite Hauptfunktion von Literatur ist „Bestätigung und Beförderung der Modernisierung“ (Seeber 2005: 81). Dies wird besonders deutlich mit Blick auf Individualisierung als eine der zentralen Dimensionen von Modernisierung. Die Begriffsklärungen zu Kontingenz haben gezeigt, inwiefern das Individuelle als eine Erscheinungsform von Kontingenz verstanden werden kann (Kontingenz des Inkommensurablen). Entscheidend für die funktionsgeschichtliche Perspektive auf Literatur ist, dass die „Herausbildung eines eigenständigen Bereichs der Ästhetik und die damit verbundene Verselbständigung der ästhetischen Funktion […] wichtige Antriebskräfte“ (Fluck 2005: 49) für den Individualisierungsprozess waren. Wie Jürgen Peper in seiner Studie Ästhetisierung als Aufklärung (2002) betont, ist 49 Zum funktionsgeschichtlichen Potential des englischen Gegenwartsromans mit Blick auf Modernisierungsprozesse siehe die Beiträge in Glomb/ Horlacher (2004). <?page no="85"?> Kontingenzkonzeptionen im Roman 71 Ästhetisierung […] immer schon Individualisierung, und zwar sowohl als Aktivierung der individuellen Betrachter-Phantasie als auch für ihren Gegenstand, der - einmal voll ästhetisiert - selbstbezüglich und somit singulär gesehen wird. Auch die kollektiv verbindlichen kulturellen Wahrheiten individualisieren und privatisieren sich schließlich selbst im Laufe dieses auf sie gerichteten Ästhetisierungsprozesses zum Phantasieangebot für den Einzelnen. (ix) Für Peper befördert der Ästhetisierungsprozess eine säkularisierte „Selbst- und Individualkultur der individuellen Selbstgestaltung und des persönlichen Weltentwurfs“ (ebd.). 50 Zwar existieren in der Moderne, wie Reckwitz herausgearbeitet hat, verschiedene konfligierende Subjektmodelle zur selben Zeit, so dass der Fokus auf „Individualästhetik“ (Reckwitz 2006b: 501) nicht als einzige ‚Selbst- und Individualkultur‘ in der Gegenwartsgesellschaft erscheint. Allerdings kann „das Modell einer kreativ-konsumtorischen Subjektivität“ (ebd.: 15), das sich unter dem Einfluss von ästhetischen Bewegungen 51 an einem „ästhetische[n] Künstlerideal“ (ebd.: 523) orientiert, tatsächlich als hegemoniales Subjektmodell im westlichen Kulturraum seit den 1980er Jahren identifiziert werden: Das Ideal-Ich ist ein quasi-künstlerisches Subjekt der Selbstkreation. (ebd.: 589) Die postmoderne Subjektkultur modelliert den Einzelnen nicht primär als ein Element sozialer Gruppen und Regelsysteme, sondern als ein eigenkomplexes kognitives, emotionales, physisches und agierendes System […], das sich aus heterogenen ‚Ressourcen‘ zum Handeln und Erleben zusammensetzt. Die Aufgabe besteht nun darin […], diese Ressourcen allesamt in Form einer souveränen Selbstregierung und -steuerung zu nutzen und zu entwickeln […]. Die Binnen-Ressourcen richten sich weniger darauf, bestimmtes sozial erwartetes oder erwartbares Handeln in gegebenen oder absehbaren Situationen zu sichern, sondern personale ‚Anschlussfähigkeit‘ für wechselnde, letztlich unabsehbare und ungeplante Handlungs- und Lebenssituationen herzustellen. (ebd.: 608f.) Wie auch bei der Modellierung der anderen beiden dominanten Subjektformen in der Moderne, nämlich des moralisch-souveränen Subjekts der bürgerlichen Ordnung sowie des extrovertierten Angestelltensubjekts der 50 Gemäß Peper trägt Ästhetisierung wesentlich zu der Entwicklung einer demokratischen Kultur bei, weil sie dem Individuellen bzw. dem Individuum eine besondere Bedeutung zukommen lässt. Für eine kritische Auseinandersetzung mit Pepers Theorie siehe Seeber (2005: 86f.) und (2004). 51 Neben den ästhetischen Bewegungen spielen, wie im Kap. II.2 ausgeführt, die „Praktiken der Arbeit, […] die Praktiken persönlicher und intimer Beziehungen [und] schließlich das historisch heterogene und dynamische Feld der Technologien des Selbst“ (Reckwitz 2006b: 16) bei der Formierung hegemonialer Subjektformen eine entscheidende Rolle. Ausführlich zur kreativ-konsumtorischen Subjektivität siehe Reckwitz (2006b: 500ff.). <?page no="86"?> 72 Beschreibungs und Analysemodell organisierten Moderne, spielen die ästhetischen Bewegungen eine Schlüsselrolle bei der Ausbildung einer solchen Subjektivität (vgl. ebd.: 500ff.). Der Beitrag von Literatur für die Herausbildung einer solchen Subjektform lässt sich exemplarisch anhand des englischen Gegenwartsromans zeigen. Viele zeitgenössische Romane fördern durch ihre textuelle Organisation die Ausbildung von Dispositionen und Fähigkeiten bei RezipientInnen im Akt der Lektüre, die notwendig für eine gelingende Kohärenzbildung und Handlungskompetenz des Kreativsubjekts sind. Wolfgang Welsch (1996) bezeichnet transversale Vernunft als Hauptanforderung für gelingende Subjektivität in der Postmoderne. Transversale Vernunft bezieht sich auf unser (selbst)reflexives Vermögen, Übergangsleistungen zwischen verschiedenen Rationalitäten vollziehen zu können. Transversale Vernunft verleiht Subjekten „Pluralitätskompetenz im weiten Sinn - sowohl bezüglich ihrer internen wie der externen Pluralität“ (Welsch 1996: 852). Sie ermöglicht es dem Subjekt, situativ zwischen seinen Identitätsanteilen zu wechseln, Kohärenzen zwischen diesen Anteilen herzustellen sowie „zur Pluralität seiner Anteile steuernd Stellung zu nehmen“ (ebd. 851). Auf diese Weise befähigt transversale Vernunft das Subjekt, sich innerhalb der ausdifferenzierten Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen Systemrationalitäten zu orientieren. Zwar gehört transversale Vernunft zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen, allerdings lässt sich dieses Vermögen durch Einübung und wiederholte Aktivierung schulen (vgl. Löffler 2000: 123). Die Einübung von transversaler Vernunft bildet eine wichtige Voraussetzung, um mit Widerfahrniskontingenz in der Moderne umgehen und Räume für Gestaltbarkeitskontingenz gewinnen zu können: „Transversalität schützt vor den Gefahren der Entfremdung und Zersplitterung der Existenz, und sie befreit von der Ohnmächtigkeit gegenüber perfekt elaborierten Teilrationalitäten.“ (Welsch 1996: 852) Welschs Konzept der transversalen Vernunft ist mit der ethischen Forderung nach Anerkennung und Respekt vor unaufhebbarer Alterität und Differenz (Kontingenz des Inkommensurablen) verbunden. Auf diese Weise wird möglichen narzisstischen Tendenzen der künstlerischen Individualkultur entgegengewirkt. Der Präsenz von „ungezügeltem Egoismus“ als Folge von „ästhetisierender Einstellung“ versucht auch Peper (2002: 276) entgegenzuwirken, wenn er betont, dass bereits die private Selbstgestaltung […] doch vor allem im Austausch und in Auseinandersetzung mit den Mitmenschen [geschieht]. Selbstgestaltung ist dort am fruchtbarsten, wo das Selbst […] an einer herausfordernden Aufgabe wächst und sich so Selbst- und Vielbezug […] gegenseitig weiter bereichern (ebd.: 278). Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe (vgl. Butter 2007), lassen sich innerhalb der Gegenwartsliteratur Romane identifizieren, die aufgrund ihrer textuellen Konfiguration darauf ausgerichtet sind, transversale Vernunft <?page no="87"?> Kontingenzkonzeptionen im Roman 73 beim Lesen einzuüben. 52 Damit schult Literatur nicht nur eine Kompetenz, die für Gestaltbarkeitskontingenz unerlässlich ist. 53 Vielmehr leisten solche Romane zudem eine Sensibilisierung für das Inkommensurable, indem sie einen rationalistisch verengten Vernunftbegriff kritisch durchleuchten und die Beziehung zwischen Vernunft und dem ‚Anderen der Vernunft‘ (Kontingenz des Inkommensurablen) neu ausloten. Im Kontext dieser Arbeit bilden solche von mir als ‚transversale Romane‘ bezeichneten Texte eine literarische Strategie, um mit Kontingenzphänomenen umzugehen. Diese Form ist zwar für die Gegenwartsliteratur besonders wichtig, doch lassen sich im Prozess der Modernisierung auch andere Kontingenzdiagnosen und Umgangsstrategien im literarischen Raum identifizieren. Das Beispiel von transversalen Romanen, die eine Kritik an tradierten Rationalitätsnormen und Domestizierungspraktiken artikulieren, lenkt die Aufmerksamkeit bereits auf die dritte Hauptfunktion von Literatur im Modernisierungsprozess. Spätestens seit der Romantik kann nämlich die „Kritik und Problematisierung von Modernisierung“ (Seeber 2005: 81) als eine der wesentlichen Funktionen von Kunst und Literatur gewertet werden (vgl. ebd.). Literatur stellt die hohen Kosten der unterschiedlichen Modernisierungsprozesse in den Vordergrund und verleiht Verlierern von Modernisierung eine Stimme. Mit dieser Kritik wird zugleich eine Kontingenzöffnung hinsichtlich hegemonialer Weltdeutungs- und Handlungsschemata geleistet. Unter den zahlreichen literarischen Beispielen für diese Funktion seien lediglich drei exemplarisch herausgegriffen. Eine scharfe Kritik an dialektischen Umschlägen von Modernisierung findet sich etwa bei Dickens. Während in Bleak House (1853) die kafkaesken Ausmaße des Justizsystems angeprangert werden, stellt Hard Times (1854) die menschenverachtende Dimension und blinden Flecken des Utilitarismus sowie Positivismus heraus, um einen imaginativen Zugang (‚fancy‘) zur Lebenswelt zu rehabilitieren. Für den Gegenwartsroman mag Chris Cleaves The Other Hand (2008) als Beispiel dienen. Dieser Roman seziert die britische Gesellschaft kritisch im Kontext einer globalisierten Welt, indem eine nigerianische Asylsucherin von ihrer Leidenserfahrung erzählt. Die vierte Hauptfunktion von Literatur ist „Kompensation der durch den Modernisierungsprozess, insbesondere die Rationalisierung, erzwungenen Verzichte, Einschränkungen und Deprivationen, zumal im emotionalen Bereich“ (Seeber 2005: 81). Bei dieser kompensatorischen Funktion geht es vor allem um die gesteigerte Widerfahrniskontingenz durch die dialekti- 52 Siehe auch Glomb (2004). 53 Vgl. Welsch (1996: 852): „[Transversalität] eröffnet Chancen gelingender Praxis wie gelingender Identität. Darin kommt sie einer Art von Souveränität nahe. Unter heutigen Bedingungen ermöglicht Transversalität etwas, was traditionell - allerdings wohl zu glatt und zu absolut - als Autonomie des Subjekts beschrieben wurde. Sie ist freilich allenthalben der Grenzen dieser Souveränität gewahr.“ <?page no="88"?> 74 Beschreibungs und Analysemodell schen Umschläge des Modernisierungsprozesses. Mit Blick auf Individualisierung wurde ein solcher dialektischer Umschlag mit der Entstehung neuer Zwänge spezifiziert sowie dem Gefühl der Überforderung durch Individualität als kulturelles Oktroy. In der Tat hat der Individualisierungsprozess „völlig neue [gesellschaftliche] Anerkennungsprobleme auf Seiten des Individuums geschaffen“ (Fluck 2005: 49), denn „gerade weil in der modernen Gesellschaft einst unüberbrückbare Standesunterschiede aufgelöst wurden, wird das Individuum nunmehr selbst dafür verantwortlich, sich selbst und anderen zu beweisen, was es wert ist“ (ebd.). Der Roman spielte, so Fluck, nicht nur eine zentrale Rolle bei der Herausbildung moderner Gesellschaften als ‚imagined communities‘ (Benedict Anderson). Vielmehr gründet außerdem eine wichtige kompensatorische Funktion von Literatur darauf, dass sie solchen Anerkennungsansprüchen entgegenkommt, „die durch d[ie] imaginären Gemeinschaften moderner Gesellschaften geschaffen werden und auf die beispielsweise, unabhängig voneinander, Tocqueville und Charles Taylor im Hinblick auf die Demokratie verweisen“ (Fluck 2005: 49). Wie oben dargelegt, werden mit der kulturellen Anerkennung eines literarischen Werkes zugleich diejenigen imaginären Elemente anerkannt, welche die Rezipientin im Zuge des Transferprozesses aktiviert hat (vgl. ebd.: 40, 49). Mit Fluck lässt sich die „Suche nach Anerkennung als einen wesentlichen Antrieb moderner Kultur und eine Funktionsgeschichte von Literatur somit als integralen Bestandteil einer Kulturgeschichte von Anerkennungsansprüchen“ (ebd.: 49) betrachten. 54 Literatur vermag nicht nur dialektische Umschläge von Individualisierung zu kompensieren, sondern auch der Gefahr gesellschaftlicher Desintegration (als einer weiteren Form von Widerfahrniskontingenz) entgegenzuwirken. So lässt sich Literatur mit Jürgen Link (1988) als ‚reintegrierender Interdiskurs‘ beschreiben, d.h. sie führt lebensweltlich 54 Für eine erhellende Diskussion des Konzepts ‚Anerkennung‘ für die literaturwissenschaftliche Analyse vgl. Felski (2008: 29f.): „Recognition, in the sense I’ve been using it so far, refers to a cognitive insight, a moment of knowing or knowing again. Specifically, I have been puzzling over what it means to say, as people not infrequently do, that I know myself better after reading a book. The ideas at play here have to do with comprehension, insight, and self-understanding. (That recognition is cognitive does not mean that it is purely cognitive, of course; moments of self-apprehension can trigger a spectrum of emotional reactions shading from delight to discomfort, from joy to chagrin.) When political theorists talk about recognition, however, they mean something else: not knowledge, but acknowledgement. Here the claim for recognition is a claim for acceptance, dignity and inclusion in public life. Its force is ethical rather than epistemic […]. Moreover, recognition in reading revolves around a moment of personal illumination and heightened self-understanding; recognition in politics involves a demand for public acceptance and validation. The former is directed toward the self, the latter toward others, such that the two meanings of the term would seem to be entirely at odds. Yet this distinction is far from being a dichotomy; the question of knowledge is deeply entangled in practices of acknowledgement.“ <?page no="89"?> Kontingenzkonzeptionen im Roman 75 getrennte Rationalitäten und Diskurse im literarischen Raum wieder zusammen und bezieht sie aufeinander. Bei der Interdiskursivität von Literatur ist es sinnvoll zu unterscheiden zwischen dem allgemeinen Strukturprinzip von Literatur - nämlich „Everything is related to everything else“ (vgl. Zapf 2005: 60) - und Romanen, deren implizites Funktionsmodell daraufhin ausgerichtet ist, bei der Leserin vernetztes Denken einzuüben. Was den Ausprägungsgrad ihrer reintegrierenden Interdiskursivität betrifft, lassen sich Romane nämlich skalieren (vgl. Butter 2007: 57ff.). Reintegrierend ist dabei nicht automatisch mit ‚harmonisierend‘ gleichzusetzen, sondern es geht darum, dass die Rezipientin aufgrund der textuellen Organisation dazu aktiviert wird, Übergangsvollzüge zwischen verschiedenen Diskursen zu vollziehen und dadurch für deren Anschlüsse, Überschneidungen aber auch Unterschiede sensibilisiert wird. Auf diese Weise fördert Literatur das Orientierungsvermögen der Rezipientin in einer pluralisierten Welt. Ein illustratives Beispiel für diese kompensatorische Funktion ist George Eliots Middlemarch (1872). Der Roman bietet nicht nur eine fast enzyklopädische Breite an Wissensdiskursen seiner Entstehungszeit, sondern es wird gleichzeitig auf ein semiotisches Modell und ein biologisches Paradigma (‚organic theory‘) rekurriert, um die Verflochtenheit der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche und Diskurse herauszustellen und einer drohenden gesellschaftlichen Fragmentarisierung entgegenzuwirken. 55 Als eine zentrale Quelle von Widerfahrniskontingenz in der Moderne wurde die Verselbständigung von Rationalisierungsprozessen identifiziert, die zu unkontrollierbaren Risiken und einer kafkaesken Welterfahrung führen. Den Verlust an Sinnressourcen in einer durchgängig rationalisierten Welt versuchen viele literarische Werke durch eine offensive ästhetische ‚Verzauberung‘ von Welt zu kompensieren. Eine solche ästhetische Verzauberung kann zugleich einer Verdinglichung von Natur entgegenwirken, weil sie sich gegen rationalistische bzw. domestizierende Zugriffe auf die Lebenswelt sperrt. Für den Roman des 19. Jahrhunderts stellt Kara Elizabeth Wittmann in ihrer Studie States of Wonder in the Nineteenth- Century British Novel (2008) fest: 56 [A]long with a deep sense of the increasing disenchantment of the age, there is in nineteenth-century Britain a persistent undercurrent of anxiety about the state of wonder, a concentrated belief in the need for wonder, and this also is reflected in the century’s dominant literary form. Novelists were aware of the so-called ‚disenchantment‘ of their century, and many of them organized their novels around an effort to recuperate and rehabilitate a 55 Vgl. auch Seeber (2005: 84). Ausführlich zum ‚Modell semiotischer Vermittlung‘ in Middlemarch siehe Winkgens (1997: 240ff.). 56 Zu dem Thema The Reenchantment of Nineteenth-Century Fiction siehe auch Payne (2005). <?page no="90"?> 76 Beschreibungs und Analysemodell sense of wonder in the presence of this seriousness, and in the absence of immanent divine meaning. (4) Literarische Impulse zur Verzauberung von Welt beschränken sich jedoch nicht auf das 19. Jahrhundert, sondern sind auch in anderen Epochen, wie dem Modernismus, zu finden. 57 Wie ein solches ästhetisches Programm zur Verzauberung von Welt im Gegenwartsroman konkret aussehen kann, wird im Anwendungsteil exemplarisch anhand von Jon McGregors If Nobody Speaks of Remarkable Things gezeigt. 58 Beispiele für die kompensatorische Funktion von Literatur ließen sich viele finden. Für die vorliegende Studie ist die kompensatorische Funktion von Literatur insofern relevant, als sie an eine der zentralen Fragestellungen anschließt, und zwar welche Strategien im englischen Roman für den Umgang mit Kontingenzphänomenen entwickelt werden. Die gewählte Umgangsstrategie muss jedoch nicht immer kompensatorischer Art sein. Eine andere Umgangsstrategie mit dialektischen Umschlägen des Modernisierungsprozesses ist beispielsweise der Rückzug in eine ironischdistanzierende Haltung, wie in Joseph Conrads The Secret Agent (siehe Kap. III.2). Zudem werden Kontingenzphänomene nicht grundsätzlich negativ in einem literarischen Werk bewertet. Zwar mag dies tendenziell für die dialektischen Umschläge des Modernisierungsprozesses und die damit einhergehende Akzentuierung der Widerfahrniskontingenz zutreffen. Allerdings muss in jedem Einzelfall genau untersucht werden, welche Form von Kontingenz wie bewertet wird. Die literarische Umgangsstrategie mit Kontingenz ist aufs engste mit diesem ‚Was‘ und ‚Wie‘ verknüpft. Aus diesem Grund formuliere ich für die Zwecke der vorliegenden Studie Seebers vierte Hauptfunktion von Literatur im Prozess der Modernisierung neu. Statt Kompensation geht es mir um Umgangsstrategien mit Kontingenzphänomenen, die im Roman entwickelt werden. Grundlage dieser Umgangsstrategien bildet dabei stets die (komplexe) Interpretation von Modernisierung. Abhängig davon, welche Facetten von Modernisierung und Kontingenz positiv gewertet oder kritisiert werden, werden auch die 57 Vgl. z.B. Lewis (2010: 3): „In my view, the early twentieth century was a period when elite groups started to consider the spiritual possibilities of life outside a church or synagogue, even as the broader culture remained largely - and traditionally - religious, particularly in the English-speaking world.“ Lewis geht in seiner Studie u.a. auf Virginia Woolf ein, die in dieser Studie ebenfalls behandelt wird: „Although Woolf, who was not christened, never showed any interest in joining the church, a great deal of her work engages in a search for new models of sacred community and experience that could potentially accommodate the ‚process[es] of change‘ [Quentin Bell] typical of modernity. […] Scholars of Woolf’s work have generally taken her declarations of secularism at face value, ignoring her interest, despite her resistance to institutional religion, in alternative forms of the sacred.“ (142f.) 58 Wichtige Impulse für das Thema literarische Verzauberung der Welt liefern auch Seebers Überlegungen zur Ästhetik der Faszination (vgl. Seeber 2005: 89-95; 2010). <?page no="91"?> Kontingenzkonzeptionen im Roman 77 Umgangsstrategien unterschiedlich ausfallen. Damit leistet diese Studie eine Beobachtung dritter Ordnung, denn es wird beobachtet, wie Literatur beobachtet, wie andere Systeme beobachten. 59 Aufbauend auf diesen funktionsgeschichtlichen Überlegungen wird im nachfolgenden Teilkapitel ein Analysemodell entwickelt, das die differenzierte Untersuchung der Ästhetiken von Kontingenz im Anwendungsteil ermöglicht. 3.2 Kategorien und Leitfragen für die Analyse von Kontingenzdiagnosen und Umgangsstrategien in narrativen Texten Bei der Beschreibung der Funktionen literarischer Erzähltexte im Modernisierungsprozess wurde als zentrale These betont, dass die spezifische Kontingenzkonzeption, die einem Roman zugeordnet werden kann, dessen gesamte ästhetische Struktur bestimmt. Zur Herausarbeitung der jeweiligen Ästhetik der Kontingenz wird deshalb ein breites Spektrum an narratologischen Analysekategorien herangezogen. Dies stellt eine Herausforderung für die Erarbeitung eines Analyserasters dar, weil einerseits eine Vielzahl an verschiedenen Kategorien nötig ist, um eine präzise Analyse der Kontingenzkonzeption zu ermöglichen. Andererseits darf das gewählte Analyseraster nicht durch zu viele Kategorien überladen werden, wenn es anwendbar bleiben soll. Um eine solche Handhabbarkeit des Analysemodells zu gewährleisten, werden im Folgenden die relevanten Parameter auf zwei Raster verteilt. Das erste Raster bietet Leitfragen für die Beschreibung und Analyse von Kontingenzdiagnosen und Umgangsstrategien in literarischen Erzähltexten. Auf weiterführende Überlegungen zur Formebene des Romans wird bei der Entwicklung dieser Leitfragen verzichtet. Stattdessen werden solche Überlegungen systematisch in einem zweiten Schritt entfaltet, bei dem es darum geht, Arbeitshypothesen zu entwickeln, welche narrative Strategien potentiell Kontingenz in den Vordergrund rücken. Beide Raster zusammengenommen bilden den narratologischen Analyserahmen für Ästhetiken der Kontingenz in dieser Arbeit. Bei der Anwendung der Raster wird besonderen Wert darauf gelegt, eine soziokulturelle Kontextualisierung der Analyseergebnisse zu leisten. Es lassen sich nämlich nur dann Hypothesen darüber erstellen, welches Funktionspotential Literatur für den Umgang mit Kontingenzphänomenen im Prozess der Modernisierung zukommt, wenn der dialogische Antwortcharakter des Romans auf seinen Entstehungskontext berücksichtigt wird. Das erste Analyseraster umfasst sieben Kategorien und bietet auf deren Grundlage einen Satz an Leitfragen für die Romaninterpretation im Lichte kontingenztheoretischer Überlegungen. Die erste Analysekategorie richtet 59 Zur Beobachtung von Systemen bzw. der Unterscheidung zwischen Beobachtung erster und zweiter Ordnung siehe Luhmann (1998a: 93). Zur Literaturwissenschaft und -theorie als Beobachtung dritter Ordnung siehe auch Zimmer (2008: 53). <?page no="92"?> 78 Beschreibungs und Analysemodell sich auf Kontingenz als das Unverfügbare. Die zentrale Frage für diese Kategorie lautet, ob sich Beispiele für Widerfahrniskontingenz und/ oder Kontingenz als das Inkommensurable im literarischen Erzähltext identifizieren lassen (falls ja: welche? ). Formen von Widerfahrniskontingenz wären etwa der Einbruch des Zufalls oder ein Unfall, Krieg, Krankheit usw. Eine Betonung von Kontingenz als das Inkommensurable wäre demgegenüber dann gegeben, wenn beispielsweise die Grenzen von Empathie, d.h. die Nicht-Lesbarkeit von Individuen, herausgestellt würden. Im Lichte der gesammelten Beispiele gilt es festzustellen, ob Widerfahrniskontigenz und/ oder Kontingenz als das Inkommensurable eine dominante Rolle im Text spielen oder zugunsten des Verfügbaren tendenziell ausgeblendet werden. Die zweite Kategorie ist evaluativ, denn es geht um die Codierung der jeweiligen Kontingenzform: Wird Widerfahrniskontingenz bzw. Kontingenz als das Inkommensurable negativ, positiv oder ambivalent codiert? 60 Entscheidend ist dabei festzuhalten, aus wessen Perspektive diese Bewertung erfolgt. Ist es die Bewertung einer Figur, der Erzählinstanz oder kann sie als Ergebnis der Textlenkungsstrategien insgesamt konstatiert werden? Es gilt dabei die gegebenenfalls verschiedenen Bewertungsperspektiven miteinander zu korrelieren, um festzustellen, ob die Perspektiven miteinander konvergieren oder ob der Roman es bei einer ambivalenten Bewertung des jeweiligen Kontingenzphänomens belässt. Während sich die ersten beiden Kategorien auf Kontingenz als das Unverfügbare beschränken, erstrecken sich die dritte und vierte Kategorie auch auf Kontingenz als das Verfügbare. Die dritte Kategorie fragt danach, was für ein Subjektmodell im Text entworfen wird und inwiefern dieses Subjektmodell die Wahrnehmung und Bewertung von Kontingenz bedingt, und zwar bezogen sowohl auf das Verfügbare als auch das Unverfügbare. Falls sich verschiedene Subjektmodelle identifizieren lassen, muss geklärt werden, welche Spannungen zwischen den Subjektmodellen bestehen und ob ein Subjektmodell - vom Textganzen her gesehen - bevorzugt wird (wenn ja, aus welchen Gründen). Die Beschäftigung mit dem (bevorzugten) Subjektmodell eines Romans bildet die Basis für die vierte Analysekategorie, denn diese rückt die Gestaltbarkeitskontingenz bzw. Handlungsmächtigkeit (agency) des Subjekts in den Fokus. Die dritte und vierte Analysekategorie sind interdependent, weil Vorstellungen von agency durch das zugrunde liegende Subjektmodell geprägt werden. So beansprucht beispielsweise das Cartesianische Vernunftsubjekt eine gottgleiche Handlungsmächtigkeit für sich. Demgegenüber ist sich das künstlerische Subjekt der Postmoderne, das sich in transversaler Vernunft übt, darüber bewusst, dass die eigene Handlungs- 60 Wie genau eine solche Codierung literarisch inszeniert werden kann, wird anhand der Fallstudien im Anwendungsteil der vorliegenden Arbeit erläutert. <?page no="93"?> Kontingenzkonzeptionen im Roman 79 mächtigkeit etwa durch Diskurse und systemische Eigenlogiken eingeschränkt, aber nicht aufgehoben ist. Die Untersuchung der Handlungsmächtigkeit von Figuren gibt somit Aufschluss über die Subjektmodelle, die im Roman entworfen werden, sowie darüber, auf welchen Annahmen die (nicht) eingeräumte agency beruht. Die fünfte und sechste Kategorie umfassen Zeit und Raum. Sowohl die Zeitals auch Raumdimension bilden wesentliche Elemente für Kontingenzwahrnehmung. Dies wurde bereits im Zuge des kurzen Abrisses zur Entwicklung des Kontingenzbewusstseins im Modernisierungsprozess deutlich. So ist die Raum-/ Zeit-Schrumpfung eine wesentliche Ursache des veränderten Kontingenzbewusstseins in der globalisierten Welt. Dieses Beispiel veranschaulicht zugleich, wie eng die Dimensionen von Zeit und Raum ineinander greifen, so dass sich eine gemeinsame Betrachtung anbietet. 61 Um Zeit und Raum als substantielle Analysekategorien zu entfalten, wird im Folgenden der facettenreiche Charakter von Zeit und Raum jeweils kurz skizziert und auf die Kontingenzthematik bezogen. Die zentrale Rolle der Zeit für Kontingenzwahrnehmung lässt sich präziser beschreiben, wenn zwischen verschiedenen Formen von Zeiterfahrung unterschieden wird. Besonders hilfreich für die Zwecke der vorliegenden Studie ist Martin Middekes Differenzierung zwischen vier Dimensionen von Zeiterfahrung: „1. die Dimension der Zeitlichkeit und der thermodynamischen Zeit, 2. die Dimension der sozialen Zeit der gesellschaftlichen Wirklichkeit[, …] 3. die Dimension der subjektiven Zeit des individuellen Bewusstseins“ (Middeke 2004: 9) und 4. mythischer Zeit (vgl. ebd.: 60). 62 Die erste Dimension bezieht sich auf den fortschreitenden-linearen Fluss der Zeit, der irreversibel ist (vgl. ebd.: 10). Diese Zeitdimension gehört „der existenzial-anthropofugalen Ebene an, da sie unserem Wollen und unserem intentionalen Handeln entzogen ist. Wir können die Zeitlichkeit unserer Existenz nicht verhindern, aber selbstverständlich müssen wir uns zu ihr in Beziehung setzen“ (ebd.: 9). Dieser existenziale Zeitbezug wird von Martin Heidegger als ‚Sein zum Tode‘ beschrieben. „Denn nur angesichts 61 Vgl. auch Lusin (2007: 140): „In der Empirie und in ihrer künstlerischen Darstellung sind die Kategorien Raum und Zeit generell so eng verknüpft, dass eine systematische Trennung nicht mit letzter Konsequenz erfolgen kann.“ Siehe auch Hallet/ Neumann (2009: 21): „Raum und Zeit lassen sich nur als interdependente Kategorien denken, denn ebenso wie zeitliche Verläufe einer räumlichen Vermittlung bedürfen, gewinnt auch der Raum nur durch seine konkrete Zeitlichkeit an Bedeutung“. 62 Martin Middeke übernimmt bei diesen Zeitdimensionen die Terminologie von Alfred Schütz und Thomas Luckmann in modifizierter Form, die sie in ihrer Studie Strukturen der Lebenswelt (1979: 73-86) einführen: „Die existenziale Dimension, die ich ‚Zeitlichkeit und thermodynamische Zeit‘ nenne, entspricht dem, was Schütz und Luckmann als ‚Weltzeit‘ bezeichnen. Die Begriffe ‚subjektive Zeit‘ und ‚soziale Zeit‘ sind die Schütz und Luckmanns.“ (Midekke 2004: 9) <?page no="94"?> 80 Beschreibungs und Analysemodell der Zeitlichkeit müssen wir unser Leben verwirklichen - der Tod, d.h. die Endlichkeit, ruft den Menschen dazu auf, sein Leben in die Hand zu nehmen.“ (Midekke 2004: 62) Bei den literarischen Betrachtungen geht es folglich darum zu beleuchten, ob und wie Individuen im Bewusstsein der eigenen Endlichkeit für ihr Leben Sorge tragen, indem sie gestalterisch damit umgehen. Das Voranschreiten der Zeit nehmen wir (in der Moderne) dadurch wahr, „dass sie von messbarer Uhrenzeit und Kalender objektiviert wird, als eine unsere individuelle Zeit transzendierende Zeit“ (Middeke 2004: 65). Mit dieser Form von intersubjektiver und durch gesellschaftliche Konventionen geregelter Zeit befinden wir uns auf der Ebene der sozialen Zeit. Die „abstrakte soziale Zeitstandardisierung“ (Becker 1999: 19, FN33) dient dazu, die verschiedenen gesellschaftlichen Aktivitäten organisatorisch zu koordinieren. Ein solcher Koordinationsbedarf ist durch die funktionale Differenzierung der Gesellschaft stark erhöht worden (vgl. Luhmann 1998b: 820ff.). Der abstrakte Charakter von standardisierter Zeitmessung (z.B. Uhr, Weltzeit) resultiert aus ihrer inhaltlichen Leere: Sie existiert „als linearisierte mathematisierte Zeit jenseits aller konkreten Erfahrungen“ (Schöneck 2008: 24). Die „chronologische Disziplinierung“ (Kohl 1998: 160) des Menschen in der Moderne, die darin bestand, sich dem Regime abstrakter Zeit unterwerfen zu müssen, kann als eine wesentliche Quelle für das Erleben erhöhter Widerfahrniskontingenz gewertet werden. In dem Film Modern Times (1936) beispielsweise hat Charles Chaplin eine bis heute unvergessene komödienhafte Darbietung gezeigt, wie die Rhythmen der industriellen Produktion eine chronologische Disziplinierung leisten und zur Verdinglichung des Menschen beitragen. Allerdings ist abstrakte Zeit lediglich eine Komponente sozialer Zeit, denn die kollektive Organisation von Zeit umfasst weit mehr als standardisierte Zeitmessungen. Es geht um soziale Deutungskategorien von Zeit und kollektive Zeitentwürfe insgesamt, wie sie sich etwa in „Konzepten von Geschichtszeit (als Mythos, Heilsgeschichte, Fortschrittsgeschichte) [befestigen]“ (Großklaus 2003: 34). So bildet der „kultur- und gruppenspezifische Tages- oder Jahresablauf“ (Kirsch 1999: 28), neben dem sozialen Raum und Milieu, eine Determinante der Kollektiverinnerung (vgl. ebd.; Halbwachs 1966, 1967). Kollektiverinnerungen „gewährleiste[n] die Kontinuität von Erfahrung sowie die Stiftung von Identität“ (Neumann 2003: 49). Ein so verstandenes kollektives Gedächtnis ermöglicht es, Erfahrungen in einen übergeordneten Sinnzusammenhang einzubetten und dadurch dem Individuum eine Orientierung zu bieten. 63 Viele literarische Werke im 63 Zu Formen und Funktionen des kollektiven Gedächtnisses siehe Halbwachs (1966, 1967); zur Bedeutung des kulturellen Gedächtnisses siehe A. Assmann (1999b) sowie J. Assmann (1997); zur gesellschaftlichen Funktion von Erinnerungsorten siehe Nora (2005). <?page no="95"?> Kontingenzkonzeptionen im Roman 81 Prozess der Moderne beschreiben aber Brüche in solchen Traditionszusammenhängen und die daraus folgende Entwurzelung der Individuen: Die Charaktere erleben ihre gesellschaftliche Umwelt wie sich selbst nicht als ein gewordenes Wesen oder eine gewordene Wesenheit, sie nehmen sich und ihre Umwelt nicht mehr als ein stabiles historisches Muster wahr, auf dessen Vergangenheit verlässlich zurückgriffen werden kann, um Zukunft zu entwerfen. (Middeke 2004: 94) Für die Romananalyse bedeutet dies, einen besonders scharfen Blick darauf zu richten, wie die dargestellten sozialen Deutungskategorien von Zeit sowie Praktiken der sozialen Zeitorganisation die kollektive Wahrnehmung von Kontingenz bestimmen und wie das Individuum zu dieser sozialen Zeit positioniert wird. Um die Beziehung des Individuums zur sozialen Zeit zu bestimmen, muss die subjektive Zeit berücksichtigt werden. Während die soziale Zeit sich auf das dynamische Beziehungsgeflecht gesellschaftlicher Akteure bezieht, ist mit subjektiver Zeit die individuelle Zeiterfahrung gemeint. Es geht um die Erfahrung einer ‚inneren Dauer‘ (Henri Bergson) und den inneren Rhythmus des eigenen Bewusstseinsstroms (vgl. Middeke 2004: 10ff.). Dies lässt sich anhand des Beispiels von Phantasiewelten veranschaulichen: Wer sich in Phantasiewelten begibt, suspendiert die Außenwelt; er befreit sich (momentan) vom Druck, den Zeitlichkeit und soziale Zeit auf ihn ausüben; er bleibt, solange er sich in diesen Phantasiewelten aufhält, unabhängig sowohl von Erinnerungen als auch von unkontrollierbaren Ereignissen und ihm aufgedrängten Handlungsalternativen […]. [D]ie diesen Phantasmen zugrunde liegende Zeitstruktur […] unterscheidet sich ganz grundlegend von den Strukturen thermodynamischer Zeit und sozialer Zeit: Phantasiewelten haben keine feste Zeitstelle auf dem Zeitpfeil, d.h. sie sind nicht datierbar; […] bis auf eines können alle Elemente der standardisierten sozialen Zeit umgekehrt werden: Ich kann sowohl im Zeitraffer als auch in Zeitlupe phantasieren [und mir Zeitreisen usw. vorstellen] - umkehren kann ich den Lauf eines Phantasmas freilich nicht. (ebd.: 69) Diese kurzen Beispiele verdeutlichen, wie sehr sich subjektive Zeit von den anderen Zeitdimensionen unterscheidet. In der Moderne wird Zeit zu einem Problem, weil es zwischen sozialer und subjektiver Zeit vermehrt zu Konflikten kommt. Chronologische Disziplinierung und das durch die gesellschaftliche Beschleunigung verursachte Leiden sind Beispiele dafür, wie soziale Zeit als Widerfahrniskontingenz erlebt werden kann. Das Spannungsfeld zwischen diesen beiden Zeitformen äußert sich in dem modernen Roman u.a. darin, dass sich (auto-)biographisches Selbstverständnis oder (auto-)biographische Selbsterkenntnis nicht mehr unproblematisch mit der sozial vorgegebenen, <?page no="96"?> 82 Beschreibungs und Analysemodell an Traditionen gebundenen Biographie der Gesellschaft in Übereinstimmung bringen lässt. Dabei ist sofort ersichtlich, dass soziale Zeitkategorien und deren Umsetzung im individuellen Lebenslauf auch die Auseinandersetzung mit moralischen Einstellungen, Wertorientierungen und Aufgabenverteilungen mit sich bringen. (Middeke 2004: 68) Die Ambivalenz von sozialer Zeit gründet darin, dass sie einerseits dem Individuum einen entlastenden Orientierungsrahmen vorgibt, andererseits können die sozialen Zeitdeutungskategorien und -normen als unerträglicher Verlust an Gestaltbarkeitskontingenz erfahren werden. Daher liegt der Schwerpunkt bei der Analysekategorie Zeit auf dem Zeitbewusstsein und der Erfahrung von Zeit, und zwar als ein „historisch bedingtes, von gesellschaftlichem und insbesondere technologischem Fortschritt und steigender Systemdifferenzierung und Systemrationalität beeinflusstes Phänomen“ (Middeke 2004: 28). Zeitbewusstsein und -erfahrung sind Grundpfeiler von Kontingenzbewusstsein. Eine tiefgreifende Desynchronisation von verschiedenen Zeitdimensionen (wie sozialer und subjektiver Zeit) 64 oder eine Pluralisierung von Ereignistemporalitäten befördert ein erhöhtes Kontingenzbewusstsein. Durch die Betonung der Erfahrungsperspektive bei der Kategorie Zeit wird die enge Verknüpfung deutlich, die zwischen dieser Kategorie und dem Subjektmodell als vierter Analysekategorie besteht. Die Subjektform beeinflusst die Wahrnehmung von und den Umgang mit Zeit. Das Avantgarde-Subjekt des Modernismus ist beispielsweise gekennzeichnet durch ein am Augenblick orientiertes Zeitbewusstsein (vgl. Reckwitz 2006b: 293), wie die spätere Untersuchung von Virginia Woolfs Mrs. Dalloway veranschaulicht. Zu den bereits erläuterten drei Zeitdimensionen kommt noch mythische Zeit hinzu. Obgleich es Schnittmengen zwischen mythischer und sozialer Zeit gibt, sprechen dennoch gute Gründe dafür, mythische Zeit als eigene Dimension aufzunehmen. Denn die „vorgelegte Differenzierung in Zeitlichkeit, thermodynamische, soziale und subjektive Zeit [ist] selbst ein Ergebnis gesellschaftlicher Zivilisationsprozesse (am Ende des 20. Jahrhunderts)“ (Middeke 2004: 72). Wie im Überblick zur historischen Entwicklung des Kontingenzbewusstseins verdeutlicht wurde, ist die Vorstellung eines möglichkeitsoffenen Zukunftshorizonts dem antik-mythischen Weltbild fremd. Im Mythos werden die „Rhythmen wechselnder Jahreszeiten, landwirtschaftlicher Arbeit, Ernte, etc. […] aufgefasst als sich zirkulär wie- 64 Vgl. Middeke (2004: 7): „Minkowski spricht von einem unserem Bewusstsein zugrunde liegenden ‚gelebten Synchronismus‘ verschiedener Zeitebenen. Er meint damit, dass die Zeit vom einzelnen Bewusstsein in verschiedenen Dimensionen und Relationen erfahren wird.“ Middeke arbeitet in seiner Studie Die Kunst der gelebten Zeit (2004) heraus, dass im englischen Roman des ausgehenden 19. Jahrhunderts „von einer idealtypisch problemlos vor sich gehenden und empfundenen Synchronität dieser Dimensionen [d.h. Zeitlichkeit, thermodynamische, soziale und subjektive Zeit] keineswegs oder allenfalls als Desiderat gesprochen werden kann“ (ebd.: 15). <?page no="97"?> Kontingenzkonzeptionen im Roman 83 derholende - und daher zeitlose - Paradigmen, wobei es sich in mythischer Zeiterfahrung […] um identische Wiederholungen handelt“ (ebd.: 73). Diese identischen Wiederholungen umfassen das göttliche Urgeschehen, wie es in den heiligen Geschichten - den sogenannten Archen - erzählt wird (vgl. Hübner 1979: 80): So hat zum Beispiel Athene einmal den Menschen zuerst gezeigt, wie man Ölbäume anpflanzt und sie hat einmal zuerst die Pandrosos gelehrt, Wolle zu verfertigen; […] [A]lle diese Tätigkeiten hat sie einmal zuerst ausgeführt und dieses Urgeschehen […] wiederholt sich nun beständig, wo Menschen unter Anrufung der Gottheit solches tun. (ebd.: 80f.) Zu dem mythischen Erleben gehört die Vorstellung, Teil eines holistischen Ganzen zu sein, wobei das Allgemeine und das Besondere ineinander aufgehen (ebd.: 84). Diese Vorstellung vom Allgemeinen und Besonderen ist konstitutiv mit dem Zeitbegriff verbunden: Das mythische Denken läßt mit dem Begriff der Arche das Allgemeine und Besondere miteinander verschmelzen. Denn einerseits wirkt die Arche ja überall und insofern allgemein, andererseits aber wirkt mit ihr das identisch gleiche singuläre Ereignis und dieselbe Person. (ebd.: 84f.) Die mythische Zeiterfahrung bedeutet für das Subjekt, erleben zu können, Teil einer zeitlos-ganzheitlichen und mit Sinnfülle aufgeladenen Welt zu sein. Wichtig für den Untersuchungsfokus und -zeitraum dieser Arbeit ist, dass im englischen Roman wiederholt auf ein mythisches Zeiterleben Bezug genommen wird, um den Sinnverlust in einer entzauberten Welt aufzufangen. In den gewählten Texten findet sich eine Gestaltung mythischer Zeit besonders deutlich in Virginia Woolfs Mrs. Dalloway, aber auch Jon McGregors Gegenwartsroman If Nobody Speaks of Remarkable Things führt Elemente eines mythischen Zeiterlebens ein. Aus den obigen Überlegungen zu den verschiedenen Facetten der Kategorie Zeit ergeben sich folgende Leitfragen für die Analyse der Romanbeispiele: Was für ein Zeitbewusstsein bzw. welche Zeiterfahrungen werden dargestellt? Wer erlebt Zeit auf welche Weise und wieso? Wie lässt sich der Zusammenhang zwischen dargestellter Zeiterfahrung, Subjektform(en) und Kontingenzbewusstsein bzw. -erleben beschreiben? Die obige Differenzierung zwischen verschiedenen Zeitdimensionen erlaubt es, diese Fragen präziser zu beantworten. Neben der Zeitordnung sind Raumordnungen für das Kontingenzbewusstsein einer Kultur maßgebend. 65 Bei dieser Analysekategorie steht 65 Für einen konzisen Überblick zu dem spatial turn innerhalb der Kultur- und Literaturwissenschaft, d.h. der Forschung über die kulturelle Bedeutung von Raum, siehe u.a. Bachmann-Medick (2006: 284-359), Hallet/ Neumann (2009) und Winkler/ Seifert/ Detering (2012). <?page no="98"?> 84 Beschreibungs und Analysemodell nicht der geometrische Raum, d.h. Raum als eine physikalische Größe, im Vordergrund. Vielmehr geht es um den „menschlich belebten, soziokulturellen Raum“ (Würzbach 2001: 108), der durch Kulturtechniken produziert und mit Bedeutungen aufgeladen wird. In diesem Sinne bildet Raum keine statische, sondern eine dynamische Größe, weil er das Ergebnis menschlicher Interaktionen ist: Ein Raum entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. Er ist also ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen und ihn dahin bringen, als eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen und vertraglichen Übereinkünften zu funktionieren. (de Certeau 1988: 218) Für die Kontingenzthematik bedeutet diese Raumkonzeptualisierung, dass es besonders sinnvoll ist, sich mit der kulturellen Produktion und Semantisierung von Räumen sowie dem Erleben von Raum auseinanderzusetzen. Im Vordergrund steht also eine praxeologische und phänomenologische Perspektive. Das einfache Beispiel von Land- und Stadtkarten kann kurz veranschaulichen, was praxeologische und phänomenologische Perspektive bedeutet. Eine Karte impliziert eine objektive Lesbarkeit von Raum, weil sie ihn durch Enthistorisierung sowie die Ausblendung räumlicher Praktiken in einen abstrakten Ort transformiert (vgl. de Certeau 1988: 224). Indem eine objektive Lesbarkeit bzw. ein ‚gottgleicher‘ Standpunkt suggeriert wird, erfolgt eine Kontingenzausblendung. Genau eine solche Objektivität bzw. Kontingenzinvisibilisierung wird in vielen Romanen hinterfragt, indem der abstrahierende Zugriff auf Raum mit dem Raumerleben von Subjekten (phänomenologische Perspektive) sowie deren Praktiken im Raum, wie z.B. Flanieren (praxeologische Perspektive), kontrastiert wird. In Geoff Nicholsons Bleeding London (1998 [1997]) beispielsweise wird die Ausblendung von Wirklichkeitsbereichen in der Kartographierung von Städten hervorgehoben, und zwar durch den Fokus auf die Akteursperspektive und individuelle Aneignungsformen der Stadt, wodurch subjektivierte Stadtpläne entstehen: [S]he asked him to make a cross at every spot on the map where he’d ever lived. (131) Then Judy […] told him to mark the transparent sheet with all the places he’d ever had sex. (132) One day she showed him some other plastic sheets, maps that had been drawn on by other visitors to her room […]. He saw how the city was over- <?page no="99"?> Kontingenzkonzeptionen im Roman 85 laid with the patterns of where other people had lived and had sex. And he saw how these patterns resembled or differed from his […]. (133) 66 Die Kontrastierung einer scheinbar objektiven Kartographierung mit individuellen mappings der Stadt in Bleeding London lenkt die Aufmerksamkeit auf Kontingenz als das Inkommensurable und wirkt so einer Kolonialisierung des Raums durch instrumentelle Rationalität bzw. Abstraktion entgegen. Tatsächlich findet sich in der Literatur ein Misstrauen gegenüber abstrakten Raumkonzeptionen. Gegen diese wird eine lebensweltliche Perspektive in Stellung gebracht, die besonders sensibel dafür ist, wie Raum durch Interaktionen und Bewegung hervorgebracht, angeeignet und als erfahrbar konstruiert wird (vgl. de Certeau 1988: 219). Für die Analyse von literarischen Kontingenzkonzeptionen bedeuten diesen Überlegungen, dass ein besonderes Augenmerk auf kulturelle Techniken der Raumerzeugung und Aneignungsformen von Raum (oder dessen Scheitern) liegen sollte. Auf diese Weise kann nicht nur die literarische Wahrnehmung und Umgangsweise mit der Kontingenz des Inkommensurablen beleuchtet, sondern auch das Verhältnis von Gestaltbarkeits- und Widerfahrniskontingenz untersucht werden. Die dargestellte Raumordnung lässt sich nämlich als Kulturmodell begreifen (vgl. Lotman 1972: 313; Hallet/ Neumann 2009: 17). Kulturen sind nur als stabilisierte Raumordnungen denkbar, also im weiten Sinn: als Architekturen. Dann erst haben Kulturen eine Chance, Gedächtnis und Tradition auszubilden, und […] Zeitregimes zu entwickeln, welche den Terminus der Zeit, den Tod nämlich, hinhalten -; während der Terminus des Raumes das Chaos […] ist. (Böhme 2005: xiv) Die räumliche Verbannung des Chaos erfolgt im Zeichen von Handlungskontingenz: „Architektur ist die stärkste Formel, in der sich der Gestaltungswille einer Gegenwart sedimentiert; und zugleich ist sie einer der mächtigsten Faktoren, durch welche die Vergangenheit die Gegenwart festlegt.“ (ebd.: xiv) Zu diesem Gestaltungswillen gehört auch Geopolitik, d.h. das strategische Ausüben von Macht und Kontrolle über den Raum zu bestimmten Zwecksetzungen (vgl. ebd.: xix). Gleichzeitig setzt der Raum der Handlungskontingenz jedoch Grenzen, da er unsere Handlungsoptionen vorstrukturiert. „Topographien sind Präfigurationen von Aktionen. Sie performieren einen Aktionsraum.“ (ebd.) Forschungen aus der Sozialgeo- 66 Siehe auch Nicholson (1998: 21f.): „[B]elatedly did it dawn on him that every single book, guide, map and magazine in the place had London as its subject. […] She handed him a book called Complete London. […] ‚Well, how can it be? ‘ he said. ‚If it was really complete it’d have to contain all the information in all these other books, wouldn’t it? […]‘.“ Für eine ausführliche Analyse der Stadtdarstellung in diesem Roman siehe Schlaeger (2003) und Altnöder (2009). <?page no="100"?> 86 Beschreibungs und Analysemodell graphie haben gezeigt, inwiefern der Raum bereits Handlungsbedingungen präformiert (z.B. durch Infrastruktur, Regelung des Zugangs zu Räumen auf Basis sozialer Hierarchien usw.). 67 Gerade weil Raum und Zeit elementare Kategorien sind, bilden sie wesentliche Pfeiler in dem kulturellen Wirklichkeitsmodell einer Epoche und damit auch in deren Kontingenzkonzeption. „Kulturell vorherrschende Normen, Werthierarchien, kursierende Kollektivvorstellungen von Zentralität und Marginalität, von Eigenem und Fremdem sowie Verortungen des Individuums zwischen Vertrautem und Fremdem erfahren im Raum eine konkret anschauliche Manifestation.“ (Hallet/ Neumann 2009: 11) Der Raumordnung kommen in ihrer tiefenstrukturellen Codierung - ähnlich wie der Zeitordnung - identitäts- und bedeutungsstiftende Momente zu. Ein Beispiel für die identitätsstabilisierende Funktion von Raum sind ‚Erinnerungsorte‘ (Pierre Nora), die als Teil des kollektiven Gedächtnisses dazu beitragen, das Subjekt in einen kulturellen Traditionszusammenhang einzubetten. Demgegenüber „entstehen Fremdheiten, Orientierungsstörungen […] oder gar Identitätskrisen“ (Böhme 2005: xxi), wenn „kulturelle Topographien weg[brechen] oder […] man auf sie [stößt,] ohne ihren Code zu kennen“ (ebd.). Die Einbettung des Subjekts in einen größeren Bedeutungszusammenhang kann zur Invisibilisierung von Kontingenz beitragen. Sobald räumlich organisierte bzw. überlieferte Sinngehalte als gültig unhinterfragt übernommen werden, rückt deren soziokulturelle Genese, d.h. die Möglichkeit ihres Anders-Sein-Könnens, aus dem Blick. Dies lässt sich anhand des Beispiels von Chinatown in Vancouver kurz veranschaulichen. Viele Menschen bewerten Stadtviertel, in denen überwiegend Chinesen bzw. Menschen chinesischer Abstammung leben (‚Chinatown‘), 68 als „evidence of a naturalized connection between Chinese culture and the places that Chinese people settle in around the world“ (Cresswell 2004: 28). Die Kulturgeografin Kay Anderson (1991) hat anhand von Chinatown in Vancouver gezeigt, dass dieser Ort gerade nicht als ‚natürlicher‘ Ausdruck der chinesischen Kultur interpretiert werden kann, sondern in soziokulturelle Machtdynamiken eingebunden ist (vgl. Cresswell 2004: 28). Chinatown ist ein Ort, der als „plac[e] of difference“ (ebd.) ideologisch konstruiert wird: Well before any substantial settlement of Chinese was identified as such in Vancouver, a ‚place‘ for them already had a distinct reality in local vocabulary and culture. (Anderson 1996: 219 zitiert in Cresswell 2004: 28). 67 Für einen konzisen Überblick über die Forschungsdiskussion zu Raum in der Soziologie vgl. Kramer (2005: 22-65). 68 Solche Stadtviertel werden häufig als ‚Chinatown‘ bezeichnet. So gibt es beispielsweise auch ein Chinatown in New York, San Francisco, London und Paris. <?page no="101"?> Kontingenzkonzeptionen im Roman 87 As Chinese people began to gather around Dupont Street this new ‚Chinatown‘ began to be seen as a natural center of vice and depravity […]. The racial designation ‚Chinese‘ was seen as synonymous with moral failure and a particular place - Chinatown. (Cresswell 2004: 28) Dieses Beispiel verdeutlicht, inwiefern soziale Hierarchien und kulturhistorische Konstruktionen von Alterität räumlich organisiert sind. Indem diese räumlich organisierten Bedeutungen und Hierarchien als natürlich ausgewiesen werden, wird ihr Konstruktcharakter, d.h. ihr Anders-Sein- Können, ausgeblendet. Für die Analyse der literarischen Texte ergeben sich aus den vorgegangenen Überlegungen vier Leitfragen, die z.T. denjenigen zur Zeit ähnlich sind: Was für Raumordnungen bzw. Raumerfahrungen werden dargestellt? Durch welche Praktiken und Interaktionen (z.B. Bewegung im Raum) werden Räume produziert? Wer erlebt Raum auf welche Weise und wieso? Wie lässt sich der Zusammenhang zwischen der Ordnung und dem Erfahren von Raum, Subjektform(en) und Kontingenzwahrnehmung beschreiben? Die Antworten auf alle bisher eingeführten Leitfragen bilden die Grundlage für die letzte Analysekategorie. Es geht um die dominanten Umgangsstrategien mit Kontingenz, die einem literarischen Text zugeordnet werden können. Bei dieser Kategorie handelt es sich um eine zusammenfassende Betrachtung, bei der das literarische Werk mit Blick auf Kontingenzkonzeption und Umgangsstrategien als Ganzes fokussiert wird. Die Analyseergebnisse der anderen Kategorien werden zueinander in Beziehung gesetzt, und so ist es möglich zu erarbeiten, was für eine Kontingenzkonzeption literarisch entworfen wird und was für ein (implizites) Funktionsmodell für den Umgang mit Kontingenzphänomenen sich erschließen lässt. Das herausgearbeitete Funktionsmodell ist als eine ‚Deutungshypothese‘ hinsichtlich der ‚Auswahl und Zurichtung des Materials‘ zu verstehen (siehe oben). Alle Analysekategorien, auf die sich die Deutungshypothese stützt, sind interdependent. Subjektmodelle sind unaufhebbar mit kulturellen Zeit- und Raumordnungen verwoben, denn „Subjektkonstitution [ist] als offene[r] Prozess der räumlichen [und zeitlichen] Verortung und Identifikation beschreibbar“ (Hallet/ Neumann 2009: 25). Dabei basieren Subjektmodelle auf Annahmen darüber, was in der Welt (un)verfügbar ist, und sie bedingen, welche Kontingenzphänomene wie bewertet werden. Diese Interdependenz erfährt in den verschiedenen Fallstudien eine exemplarische Konkretisierung. Um das beschriebene Zusammenspiel aller Kategorien anhand von Beispielen genauer zu erfassen, werden bei den Interpretationen stets alle Analyseparameter behandelt. Diejenigen Kategorien, die für die Untersuchung des jeweiligen Romans besonders relevant sind, werden jedoch ausführlicher thematisiert als die anderen Parameter. Diese unterschiedli- <?page no="102"?> 88 Beschreibungs und Analysemodell che Akzentuierung erlaubt es, ein facettenreiches und aussagekräftiges Panorama zu entfalten. Damit eine vergleichende Betrachtung der literarischen Kontingenzdiagnosen und Umgangsstrategien erfolgen kann, werden am Ende einer jeden Fallstudie die wichtigsten Ergebnisse der sieben Analysekategorien stichwortartig in einer Tabelle zusammengefasst. Da Literatur ihr Wirkungspotential über ihre ästhetische Funktion erfüllt, gilt es nun der Frage nachzugehen, wie die einzelnen Punkte (Raum, Zeit, Subjektmodell usw.) inszeniert werden bzw. welche Bedeutung der Formebene zukommt. Die Bedeutung der Formebene steht im Zentrum des zweiten Analyserasters, das nachfolgend entwickelt wird. Um den dialogischen Antwortcharakter eines literarischen Werkes auf seine Entstehungszeit erfassen zu können, werden im Sinne einer kulturellen Narratologie die Verbindungen zwischen „formale[n] Strukturen, kulturelle[m] Kontext und historische[r] Entwicklung“ (Erll/ Roggendorf 2002: 84) bei den Überlegungen zu den narratologischen Analysekategorien berücksichtigt. Zuvor gibt jedoch die nachfolgende Tabelle eine Übersicht über die Leitfragen für die Analyse von Kontingenzdiagnosen und Umgangsstrategien in literarischen Erzähltexten. <?page no="103"?> Kontingenzkonzeptionen im Roman 89 Ästhetiken der Kontingenz: Kategorien und Leitfragen für die Analyse von Kontingenzdiagnosen und Umgangsstrategien in narrativen Texten 1. Das Unverfügbare: dominante Kontingenzformen Welche konkreten Beispiele für Kontingenz als das Unverfügbare finden sich im Text? o Widerfahrniskontingenz: Zufall/ Unfall, Krieg, Krankheit usw. o Kontingenz als das Inkommensurable: Grenzen von Empathie, Nicht-Lesbarkeit von Individuen usw. Stehen diese Formen von Kontingenz im Mittelpunkt des Textes oder wird das Unverfügbare tendenziell ausgeblendet? 2. Das Unverfügbare: Codierung der Kontingenzform Herrscht eine negative, positive oder ambivalente Codierung der jeweiligen Kontingenzform? Wird Kontingenz affirmiert oder abgewehrt? Von wessen Perspektive aus erfolgt diese Bewertung? Figur; Erzählinstanz; Bewertung als Ergebnis der Textlenkungsstrategien insgesamt? 3. Subjektmodell Was für ein Subjektmodell wird im Text entworfen? Inwiefern bedingt das Subjektmodell die Wahrnehmung und Bewertung von Kontingenz? Wenn sich mehrere Subjektmodelle identifizieren lassen: Welche Spannungsmomente bestehen zwischen den Subjektmodellen? Wird ein Subjektmodell favorisiert? Wenn ja, welches und warum? <?page no="104"?> 90 Beschreibungs und Analysemodell 4. Das Verfügbare: Gestaltbarkeitskontingenz / Handlungsmächtigkeit (agency) Inwiefern ist das Subjekt handlungsmächtig? Auf welchen Annahmen beruht die (nicht) eingeräumte agency? 5. Zeiterfahrung Wer erlebt Zeit auf welche Weise? Zusammenhang zwischen Zeitordnung bzw. -erfahrung, Subjektform und dominanter/ n Kontingenzform/ en? 6. Raum Was für Raumordnungen bzw. Raumerfahrungen werden dargestellt? Durch welche Praktiken und Interaktionen werden Räume produziert? Wer erlebt Raum auf welche Weise und wieso? Wie lässt sich der Zusammenhang beschreiben zwischen der Ordnung und dem Erfahren von Raum, Subjektform(en) und Kontingenzbewusstsein bzw. -erleben? 7. Dominante Kontingenzumgangsstrategien Betrachtung des literarischen Textes als Ganzes Welche Strategien und Modelle werden im literarischen Text entwickelt, um mit den dargestellten Kontingenzphänomenen umzugehen? Durchgehende Leitfragen bei allen Kategorien: Wie werden die einzelnen Punkte inszeniert? Bedeutung der Formebene? Soziokulturelle Kontextualisierung: Wie lässt sich der dialogische Antwortcharakter des literarischen Textes auf seinen Entstehungskontext beschreiben? Abbildung 5: Ästhetiken der Kontingenz: Kategorien und Leitfragen für die Textinterpretation <?page no="105"?> Kontingenzkonzeptionen im Roman 91 3.3 Narrative Strategien zur Visibilisierung von Kontingenz Bei dem zweiten Analyseraster geht es darum, narratologische Kriterien zu erarbeiten, die helfen, literarische Erzähltexte zwischen zwei Polen eines Kontinuums zu skalieren: Invisibilisierung und Visibilisierung von Kontingenz. Da die Funktion narrativer Formen stark von ihrer jeweiligen kontextuellen Einbettung abhängig ist, 69 handelt es sich nachfolgend um Hypothesen zum Wirkungspotential von narrativen Elementen mit Blick auf die Inszenierung von Kontingenz. Die aufgestellten Thesen zur Bedeutung narrativer Formen bedürfen in jedem Einzelfall einer genaueren Überprüfung. Eine solche leisten die Fallstudien im Anwendungsteil der Arbeit. Für das Analyseraster zur Formebene wird mit sieben narratologischen Kategorien gearbeitet: (1) Plot, (2) Figuren, (3) Zeit, (4) Raum, (5) Erzählen, (6) metakognitive Strategien und (7) kritische Metafiktionalität. Dieses Raster baut auf den vorangegangen Überlegungen auf, indem bereits eingeführte Kategorien narratologisch weiterentwickelt und ergänzt werden. Plot bzw. Erzählmuster wurden zu Beginn dieses Kapitels mit Blick auf die sinnstiftende Funktion von Erzählen behandelt. Die hohe Relevanz der Kategorien Subjektmodell (‚Figur‘), Raum und Zeit für die Kontingenzthematik wurde ebenfalls erläutert. Dementsprechend bilden diese Kategorien in beiden Rastern eigene Parameter. Ähnlich wie beim ersten Analyseraster weist auch der zweite Satz an Analysekategorien eine hohe Interdependenz auf. Figuren bilden eine „bestimmend[e] Größe des Plot“ (Gutenberg 2000: 13), weil der „Plotverlauf im Roman […] wesentlich durch die Handlungsentscheidungen der Figuren motiviert [ist]“ (ebd.). Jeder Plot hat seine eigene „Chrono-logik“ (ebd.: 120), v.a. in Form von story-time und discourse-time; auch Raumdarstellungen sind „von unmittelbarer Relevanz für die Plotkonfigurierung. Beispielsweise kann ein subplot anders räumlich situiert sein als der main plot“ (ebd.: 122). Die enge Verflechtung der Analysekategorien bedeutet, dass bei der späteren Interpretation der Romane das Zusammenspiel der verschiedenen Elemente herauszuarbeiten ist. Nur auf diese Weise kann adäquat beschrieben werden, wie eine spezifische Kontingenzkonzeption literarisch inszeniert wird. Nachfolgend wird erklärt, wie jede der Kategorien als wirkungsästhetisches Skalierungskriterium für die Visibilisierung von Kontingenz genutzt werden kann. Da in der vorliegenden Studie zwischen drei Facetten von Kontingenz unterschieden wird, ist Visibilisierung von Kontingenz nicht nur als eine generelle Schärfung des Möglichkeitssinns zu verstehen. Viel- 69 Zu der Unmöglichkeit eines form to function-mapping siehe Meir Sternbergs Ausführungen zum Proteus Prinzip: „All this may be formulated in the more general and positive terms of what I shall call the ‚Proteus Principle‘: in different contextsreporting frames as well as nonreporting frameworks-the same form may fulfill different functions and different forms the same function.“ (1982: 148) <?page no="106"?> 92 Beschreibungs und Analysemodell mehr geht es auch um eine Aufmerksamkeitslenkung auf das Unverfügbare, d.h. auf Widerfahrniskontingenz und Kontingenz des Inkommensurablen. * * Plot * * Das Analyseraster eröffnet mit der Kategorie Plot, weil dieser das grundlegende narrative „Organisationsprinzip von Bedeutungen […] auf einer Formwie Inhaltsebene“ (Gutenberg 2000: 130) ist. Im Kontext dieser Arbeit ist Plot zu verstehen als das diskursiv vermittelte Spannungsfeld zwischen virtuellen und aktualisierten Einzelereignissen und seine Organisation zu einer sinnhaften, zusammenhängenden und mehr oder weniger zielgerichteten Ereigniskette in einem fiktiven System möglicher Welten. Dieses dynamische Weltensystem konstituiert und verändert sich in direkter Abhängigkeit von den privaten Welten der Figuren. (ebd.: 92) Diese Definition von Plot, wie sie Andrea Gutenberg (2000) in ihrer Studie zum englischen Frauenroman entwirft, hat den Vorteil, dass sie nicht nur den Plot als abgeschlossene Struktur - also retrospektiv nach dem Lesevorgang - betrachtet. Sie berücksichtigt überdies die Dynamik beim sukzessiven Lesen. In der sukzessiven Leseperspektive ist der Möglichkeitshorizont für weitere Entwicklungen offen. Dementsprechend nimmt die Rezipientin aktualisierte Ereignisse vor dem Hintergrund möglicher Alternativen wahr. „Ereignisse des narrativen Plots sind als ein System von Möglichkeiten konzipiert, von denen manche aktualisiert werden, andere virtuell bleiben, was von den in der fiktionalen Welt geltenden thematischen und semantischen Regeln abhängt“ (Gutenberg 2000: 49 unter Verweis auf Ronen 1994: 146). Wie unten erläutert wird, ist der Einbezug dieser sukzessiven Lesedimension von zentraler Bedeutung für die Darstellung von Zufällen in Erzähltexten. Zu Beginn dieses Kapitels wurde Erzählen als ein Medium der Sinnstiftung thematisiert, und zwar bezogen auf die individuelle und kollektive Ebene. Tatsächlich lassen sich Erzählbzw. Plotmuster als cultural plots begreifen, denn „[w]elche Plotmuster innerhalb einer Kultur und Epoche ‚erzählbar‘ sind, hängt von gesellschaftlichen […] Verhaltensnormen ab und wird zudem von literarischen Konventionen bestimmt“ (Gutenberg 2000: 3). So hat die feministische Narratologie kritisch darauf hingewiesen, dass bis ins 19. Jahrhundert hinein der quest plot i.d.R. einem männlichen Protagonisten vorbehalten war, während der romance plot den Rahmen für die Lebensbahn weiblicher Protagonisten vorgab (vgl. ebd.: 2f.). Diese traditionellen Plotmuster legen die Frau auf die heimische Sphäre fest sowie auf eine Identität in Abhängigkeit vom Mann (im Sinne eines ‚relative creature‘). Demgegenüber wird dem Mann größere Freiheit eingeräumt, weil er in die Welt hinausziehen kann, um seine quest zu verfolgen. Der erste Ro- <?page no="107"?> Kontingenzkonzeptionen im Roman 93 man aus dem Anwendungsteil dieser Arbeit, George Eliots Daniel Deronda, bietet ein Beispiel für solch geschlechtlich markierte Plots und rückt in den Vordergrund, wie die Festlegung von Frauen auf den traditionellen romance plot zu einer problematischen Kontingenzschließung hinsichtlich alternativer Lebensentwürfe führt. Die Kulturkonflikte um Subjektmodelle im Prozess der Modernisierung sind zugleich ein Kampf um das Erzählen von anderen Plots und deren gesellschaftliche Anerkennung. Dieser Kampf um Kontingenzöffnung wurde insbesondere auf dem literarischen Feld geführt. Vor diesem Hintergrund kommt der Analyse von Plotmustern und deren Wandel gesteigerte Bedeutung für die Kontingenzthematik zu. 70 Um das Wirkungspotential des narrativen Plots für Kontingenzvisibilisierung skalieren zu können, ist es hilfreich, verschiedene Aspekte des Plots in eigene Parameter aufzufächern: (a) die Rolle des Zufalls auf der Ebene des Plots, (b) die Plotstruktur und (c) Aktualität/ Virtualität. Von diesen drei Parametern ist die Darstellung des Zufalls im Roman diejenige Kategorie, die am häufigsten für die Analyse von Kontingenzkonzeptionen in der Literatur herangezogen wird. Da Zufall ‚realisierte Kontingenz‘ ist, kann dessen Inszenierung und Bewertung als ein Indikator für die literarische Kontingenzkonzeption verstanden werden. Aufgrund der großen Rolle, die der Zufall für literarische Kontingenzdiagnosen spielt, wird diese Kategorie im Folgenden ausführlich behandelt, und zwar mit Blick auf Formen und Funktionen. In einem ersten Schritt werden unter Rückgriff auf Hilary Dannenbergs (2008) Narratologie des Zufalls dessen mögliche Ausprägungsformen auf der Plot-Ebene erläutert. Zweitens erfolgt ein kurzer Überblick darüber, wie die Darstellung des Zufalls im englischen Roman funktionalisiert wurde, um Weltbilder und damit zugleich spezifische imaginierte Praktiken im Umgang mit Kontingenzkonzeptionen zu entwerfen. Diese beiden Bausteine zusammengenommen erlauben die Entwicklung von Arbeitshypothesen dazu, welche narrativen Strategien bei der Darstellung von Zufall Kontingenz visibilisieren. Im Anschluss werden die anderen beiden Parameter erläutert. Zufall Auf Ebene der Plotstruktur kann zwischen verschiedenen Formen der Inszenierung von Zufall unterschieden werden: dem traditionellen Zufallsplot, negativen Zufall und analogischen Zufall (vgl. Dannenberg 2008: 93, 103f.). Coincidence is a constellation of two or more apparently random events in space and time with an uncanny or striking connection. In the traditional coincidence 70 Zu der kulturellen Bedeutung von Plots, insbesondere aus einer gender-sensiblen Perspektive, siehe exemplarisch Gutenberg (2000) und Heinz (2007). <?page no="108"?> 94 Beschreibungs und Analysemodell plot of narrative fiction, the connection is one of a previous relationship between the coinciding (i.e., intersecting) characters. (ebd.: 93) Die vorher bestehende Beziehung zwischen den Figuren, die sich zufällig treffen, umfasst „actual physical or biological relationships […] across the space and time of the narrative world“ (ebd.: 105). Eine Variante des traditionellen Zufallsplot, die sich großer Beliebtheit im 18. und 19. Jahrhundert erfreute, ist der „kinship reunion plot“ (ebd.: 96), der auf genealogische Beziehungen abhebt. Die Figuren finden nach ihrer zufälligen Begegnung heraus, dass sie miteinander verwandt sind (vgl. ebd.). Beispiele für solche Erkennungsszenen finden sich in Smolletts Roderick Random (1748) und Fieldings Joseph Andrews (1742). Eine andere Variante des traditionellen Zufallsplot besteht in der Offenlegung eines „network of links between characters who are uncannily connected by the existence of multiple relationships“ (ebd.: 97). Dieses Beziehungsnetzwerk bedeutet, dass mindestens eine Figur innerhalb dieses Geflechts eine „double identity“ (ebd.) hat. So erweist sich etwa in Charles Dickens’ Bleak House (1852/ 53) eine verarmte Figur namens Nemo, die Auftragsarbeiten für die Rechtsanwaltskanzlei der Familie Dedlock erfüllt, überraschenderweise als ehemaliger Liebhaber von Lady Dedlock. Unter ‚negativem Zufall‘ klassifiziert Dannenberg „thwarted convergence“ (2008: 104): Negative coincidence is […] an inversion of the structure of the coincidental encounter because it involves the nonconvergence of an intended intersection in space and time that is the result of random circumstances. In the coincidental encounter, characters meet without intending to do so; in negative coincidence, the reverse is the case: things that are intended to meet or intersect do not. (ebd.) 71 Wie Dannenberg hervorhebt, weist die Darstellung negativer Zufälle eine enge Affinität mit kontrafaktischem Denken auf. Denn die LeserInnen werden dazu eingeladen, darüber zu spekulieren, was gewesen wäre, wenn das beabsichtigte Ereignis stattgefunden hätte (vgl. ebd.). Während beim traditionellen Zufallsplot vorab bestehende genealogische oder soziale Verbindungen zwischen den Figuren, die sich zufällig begegnet sind, nachträglich offen gelegt werden (z.B. Familienbande, ehemalige Geschäftspartner, Freunde), beruht analogischer Zufall auf einem „indirect or figurative system of connection“ (Dannenberg 2008: 105). Dies bedeutet, dass Verbindungslinien zwischen verschiedenen Figuren oder 71 Dannenberg betont, dass der negative Zufall in „tragedies of circumstance“ (2008: 104) verwendet wird, wie etwa in Thomas Hardys Romanen: „In Tess of the D’Urbervilles, for example, Tess’s attempt to tell Angel about her past relationship with Alec before their wedding is accidentally thwarted because the letter she pushes under his door gets wedged under the carpet and never reaches him.“ (ebd.) <?page no="109"?> Kontingenzkonzeptionen im Roman 95 disparaten Textelementen von der Leserin konstruiert werden, und zwar aufgrund von wahrgenommenen Korrespondenzen bzw. Ähnlichkeiten (vgl. ebd.). Textsignale, die zu solcher Deutungsaktivität einladen können, sind beispielsweise identische Namen von Figuren. Bei der Analyse des literarischen Zufalls gilt es, in einem ersten Schritt die Form des Zufalls zu identifizieren, weil sich die Form auf die jeweilige Erklärung des zufälligen Phänomens auswirken kann. Bei einem analogischen Zufall etwa steht die Wahrnehmung von Ähnlichkeitsbeziehungen im Vordergrund und nicht ein Zusammenfall von Kausalketten, die gegebenenfalls erklärend rekonstruiert werden können. Zufälle wecken bei LeserInnen zumeist den Wunsch nach Erklärung: While th[e] basic definition [of coincidence] constructs parameters in time and space, the most crucial elements in the realization of coincidence in narrative fiction that transform it into a truly complex plot are the cognitive components of recognition and explanation. (Dannenberg 2008: 93) Die Erklärungsraster für zufälliges Geschehen im Roman, die durch Textsignale aufgerufen werden, korrespondieren mit einer spezifischen Kontingenzkonzeption. Ein Zufall ist dann realisierte Kontingenz im Sinne des Unverfügbaren, wenn er „no identifiable cause and no particular meaning“ hat (Reith 1999: 157; vgl. auch Jordan 2010: 3). Dementsprechend tragen eine kausale Erklärung und Sinnaufladung des Zufalls dazu bei, Kontingenz auszublenden und letztlich auch den Zufall selbst zu marginalisieren. Diese abstrakten Überlegungen lassen sich mit Hilfe eines kurzen Überblicks zur Literaturgeschichte des Zufalls veranschaulichen. In englischen Romanen des 18. Jahrhunderts sind die zufälligen Ereignisse zumeist Ausdruck der Vorsehung (Providence) - eine kulturhistorische Vorstellung, welche die Annahme einer benevolenten Weltordnung suggeriert. Was für die Figur oder die LeserInnen zunächst als ursacheloses Geschehen erscheint, folgt in Wahrheit einem göttlichen bzw. festgelegten Plan, wie im Laufe der Geschichte sowie gegebenenfalls durch Hinweise der auktorialen Erzählinstanz deutlich wird. Der Zufall erweist sich bei genauerer Betrachtung als „subjektive[r] Mangel der Erkenntnis“ (Hoffmann 2005: 22). Statt als Beleg für ein arbiträres Universum zu dienen, unterstreicht der Zufall das Vorhandensein einer göttlich abgesicherten Ordnung, in die der Mensch eingebettet ist. Gemäß dieser Vorstellung gibt es kein ursacheloses Geschehen, so dass Zufälligkeit letztlich aufgehoben wird (vgl. Jordan 2010: 5). Die Inszenierung von Vorsehung trägt zur Kontingenzinvisibilisierung bei, da eine kulturelle Ordnung als sinnhaftnatürlich ausgewiesen wird. Der Glaube an ‚blinden Zufall‘ wird marginalisiert und stigmatisiert. Der realistische Roman des späten 19. Jahrhunderts zeichnet sich demgegenüber zumeist durch das Fehlen einer solchen ‚providential aesthetic‘ <?page no="110"?> 96 Beschreibungs und Analysemodell (Vargish 1985) aus. 72 So konstatiert Thomas Vargish: „the fictional representation of providence at work in the world is a major unifying thematic direction of the English novel before George Eliot - […] her work itself is largely engaged with its adaptation to secular imperatives“ (1985: 2). Diese Aussage muss zwar relativiert werden, weil in der Forschung keine Einigkeit darüber besteht, wann genau der Niedergang der ehemals vorherrschenden providential aesthetic eingeläutet wurde (vgl. Dannenberg 2008: 102ff.). Die unterschiedlichen Interpretationen der Rolle des Zufalls im englischen Roman des 19. Jahrhunderts deuten nämlich auf die ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ hin, d.h. die zeitgleich existierenden unterschiedlichen Perspektiven auf Zufall, die innerhalb eines literarischen Textes oftmals inszeniert werden (vgl. Dannenberg 2008: 103). Dennoch lässt sich festhalten, dass im realistischen Roman des 19. Jahrhunderts, insbesondere in den Werken von George Eliot, der Glaube an die göttliche Vorsehung allmählich durch einen säkularen Humanismus und ein positivistisches Weltbild ersetzt wird, wonach alles Geschehen durch kausale Gesetzmäßigkeit bestimmt ist. Demnach ist das, was als Zufall erscheint, lediglich das Resultat eines mangelnden Wissens über die zum Ereignis führenden Kausalketten seitens des Beobachters. So durchschauen beispielsweise zwar die Figuren in George Eliots Middlemarch (1872) die komplexen Wirkungszusammenhänge nicht, der auktoriale Erzähler allerdings schon: „The all-seeing, omniscient, omnipotent and omnipresent narrator of the Victorian novel occupies a deistic position in relation to which narrative events never happen by chance.“ (Monk 1993: 76) Der Deutungsrahmen für den Zufall wandelt sich somit, allerdings wird er nach wie vor marginalisiert. Denn die Betonung von kausaler Gesetzmäßigkeit beraubt den Zufall seiner verunsichernden Grundlosigkeit. 73 Mit dem Modernismus erfolgt eine scharfe Abkehr von der Vorstellung eines klar geordneten Universums, wonach der Zufall auf klare Kausalitäten zurückgeführt werden kann. Während der traditionelle Zufallsplot die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts dominiert, bevorzugt der modernis- 72 Thomas Hardys Romane liefern eine interessante Variante der Abkehr von providential coincidence: „Hardy writes in a traditional narrative mode the formal properties of which derive for the most part from a providential aesthetic; but in his own thinking he emphatically denied the existence, or at last the benevolence, of an all-seeing deity. He therefore manipulates his plots, arranging sometimes implausible coincidences, in order to illustrate his belief that there is not a supreme being who foresees and controls human events for some divine and ultimately benevolent purpose. As a result, chance in Hardy’s novels usually signifies an inverted Providence, which is indifferent or malevolent to what is called in Tess of the D’Urbervilles (1891) ‚the harrowing contingencies of human experience‘.“ (Monk 1993: 158). 73 Zu der weiteren ‚Zähmung des Zufalls‘ durch Wahrscheinlichkeitsrechnung bzw. Gesetze der Statistik seit dem späten 17. Jahrhundert siehe u.a. Ian Hackings The Taming of Chance (1990), Jordan (2010: 10-15) und Kavanagh (1993). <?page no="111"?> Kontingenzkonzeptionen im Roman 97 tische Roman den analogischen Zufall (vgl. Dannenberg 2008: 108). Im Modernismus wird die perspektivische Auffächerung von Welt häufig dadurch hervorgehoben, dass die „pluralistic or relativizing interpretations of analogous relationships“ (ebd.: 106) von Figuren in den Vordergrund gerückt wird (vgl. ebd.). Postmoderne Texte bevorzugen ebenfalls den analogischen Zufall, um die Perspektivengebundenheit von Weltwahrnehmung und den Konstruktcharakter von Sinnstiftung hervorzuheben (vgl. ebd.: 229). Im Vergleich zu modernistischen Texten kann allerdings tendenziell eine Steigerung bei der Inszenierung von Kontingenz festgestellt werden, weil es nun häufig vor allem die LeserInnen sind, die Schwierigkeiten haben, die wahrgenommenen analogischen Beziehungen zu deuten: „In postmodernist coincidence the analogous relationships on multiple levels create causal conundrums about the interpretation of relationships not for the characters but for the reader.“ (ebd.: 106) Diese Funktionalisierung des analogischen Zufalls erlaubt es, dass das Wissen um den Konstruktcharakter von Bedeutung und Beziehungsnetzwerken zum „Erlebenswissen“ (Ette 2004: 20) wird. 74 Allerdings lässt sich aus diesen Tendenzen keine literaturgeschichtliche Teleologie konstruieren, da der anhaltende Gebrauch des traditionellen Zufallsplot im Gegenwartsroman auf Kontinuitätslinien verweist (vgl. Dannenberg 2008: 91). Kinship reunion plots are again rife because, in the literature of an age that can mix ‚realism and irrealism‘ (Barth 1996, 283) without compunction, there is no longer a literary tabu [sic! ] on the use of less realistic forms but a playful sense that anything goes. The result is a literature full of coincidence that, as well as reversing the restrictive modernist aesthetic, also builds on 74 Siehe auch Dannenbergs konzise Zusammenfassung, wie sich die literarische Repräsentation des Zufalls seit dem 18. Jahrhundert entwickelt hat: „Historically, the coincidence plot starts out as the simulation of an externally influenced process in which the intersection of characters in the narrative world is orchestrated by causalmanipulative forces from a divine and providential metaworld. In the course of the nineteenth century coincidence then begins to be framed as a plot without a causalmanipulative deity acting behind events. A shift to causal-manipulative explanations centering on human beings and not God is one stage in this development, as is the increasing thematization of explanatory systems themselves (George Eliot, E.M. Forster, Ford Madox Ford). This leads to the growing modernist sense of randomness at work in the universe, sometimes in conjunction with causal-progenerative chains (Conrad), and to the representation of coincidence as an internal and subjective cognitive process in which the human act of perception is foregrounded, particularly in plots of analogical coincidence (Joyce). Subsequently, in postmodernism, analogical patterning is extended to refer to the overall sense of the constructedness of all sensemaking patterns […] and the construction of causal-progenerative links across time is also undermined.“ (Dannenberg 2008: 228f.) Für weitere Studien zum Zufall im englischen Roman siehe Goldknopf (1969), Molesworth (2010), Vargish (1985), Monk (1993) und Jordan (2010). <?page no="112"?> 98 Beschreibungs und Analysemodell modernism’s use of analogical coincidence to produce new and original postmodernist forms. (ebd.: 167) Der vielfältige Gebrauch von Zufallsformen in Kombination mit verschiedenen Schreibweisen spiegelt Die Synthese aus Realismus und Experiment (Zerweck 2001) in der Gegenwartsliteratur wider. Insgesamt verliert der Zufall im 20. Jahrhundert seine bisherigen Assoziationen mit Erkenntnismangel und dem Defizitären (vgl. Hoffmann 2005: 45; Jordan 2010: 10). Ein anschauliches Beispiel für eine positive Bewertung des ‚absoluten‘ (weil unerklärlichen) Zufalls in der Literatur der 1950er Jahre liefert die spätere Fallstudie zu Iris Murdochs Under the Net. In diesem Roman erfolgt eine positive Bewertung des absoluten Zufalls, weil Kontingenz mit dem Guten verbunden wird: „In Murdoch’s writing an acceptance of contingency […] transforms the workings of chance in the novel into an analogy for the operation of grace in a secular world.“ (Jordan 2010: xi) Im Rahmen einer solchen Kontingenzkonzeption erhält Kontingenzbewusstsein eine moralische Wertaufladung. Verschiedene soziokulturelle Entwicklungen tragen zu den Umwertungen des Zufalls bei. Schlagwortartig seien an dieser Stelle nur die Quantenphysik und Chaostheorie im Bereich der Naturwissenschaften genannt, die philosophische Öffnung für den Zufall (z.B. Nietzsche, postmoderne Strömungen), aber auch ästhetische Bewegungen wie der Dadaismus. 75 Insbesondere die Quantenphysik hat der Vorstellung vom ‚objektiven Zufall‘ Auftrieb gegeben. Mit ‚subjektivem Zufall‘ ist gemeint, dass die Wahrnehmung eines zufälligen Geschehens auf einem Informationsmangel beruht, d.h. der Zufall verliert seine Grundlosigkeit, sobald die Wissensdefizite geschlossen sind. Im Gegensatz dazu diagnostiziert die Quantenphysik einen objektiven bzw. absoluten Zufall und versteht diesen als ontologische Kategorie, d.h. als ‚Eigenschaft‘ von Welt. 76 Die vorangegangenen Überlegungen zur Darstellung des Zufalls als Indikator für die Kontingenzkonzeption lassen sich wie folgt schlagwortartig festhalten. Die Bedeutungsaufladung von Zufall sowie die Aufhebung von dessen Grundlosigkeit bilden den einen Endpol des Skalierungskontinuums (Invisibilisierung von Kontingenz). Ein prominentes Beispiel für eine solche Bedeutungsaufladung ist der Ausweis des Zufalls als Vorsehung. 75 Vgl. Jordan (2010: 26-34). Für eine ausführliche Darstellung, wie sich die Konzeptualisierung des Zufalls von der Antike bis zum 20. Jahrhundert aufgrund von soziokulturellen Entwicklungen verändert hat, siehe Reith (1999: 13-43). 76 In der „Quantenmechanik […] [ist die Rede] […] von spontanem Zerfall von Atomkernen oder von Strahlungsübergängen angeregter Atome in den Grundzustand […], also von Ereignissen, die nach allem, was wir wissen, keine Ursachen haben. Deshalb spricht man in diesem Zusammenhang sogar von absolutem Zufall“ (Wetz 1998a: 31). <?page no="113"?> Kontingenzkonzeptionen im Roman 99 Eine Aufhebung von Grundlosigkeit kann auch andere Formen annehmen, wie etwa die Betonung von Kausalität: An emphasis on causality, or a concentration on an explanatory structure for represented events, […] marginalize the opportunities in the novel for a true depiction of the random. Causality is in this sense firmly opposed to chance, if we follow Reith in defining a chance event as one with no identifiable cause and no particular meaning. Although the elaboration of causality does not necessarily imply determinism, neither does it preclude it. Indeed, a deterministic universe is one where cause and effect work like clockwork […]. If we can show why things happened, then they happened for a reason, however obscure. (Jordan 2010: 4) Demgegenüber dient die Betonung der Sinnlosigkeit und Grundlosigkeit des Zufalls der Visibilisierung von Kontingenz. Diese dichotomische Gegenüberstellung zweier unterschiedlicher Darstellungen des Zufalls liefert lediglich grobe Koordinaten für die literarische Kontingenzkonzeption. Bei der Betrachtung von Romanen finden sich häufig Variationen und Kombinationsformen der Darstellung von Zufall, so dass eine differenzierte Analyse erforderlich ist. So umfasst beispielsweise Jon McGregors If Nobody Speaks of Remarkable Things nicht nur verschiedene Formen des Zufalls (Überkreuzung von Kausalketten, analogischer Zufall). Zudem wird eine Betonung von Kausalität, d.h. eine minutiöse Rekonstruktion aller Handlungsketten, deren Überkreuzung schließlich zu einem Unfall führte, kombiniert mit einer mythischen Bedeutungsaufladung (siehe Kap. III.5). Bei der Analyse des dargestellten Zufalls muss stets die Frage im Blick behalten werden, aus wessen Perspektive der Zufall wahrgenommen wird. Entscheidend für die Nutzung von Zufall als Skalierungsparameter ist, welche (Nicht-)Erklärung für den Zufall der Text aufgrund seiner ästhetischen Gestaltung insgesamt nahe legt. Die Nutzung des Zufalls als Parameter für Kontingenzbewusstsein beruht auf der Prämisse, dass es problemlos möglich ist, Zufälligkeit im Roman darzustellen. Über diese Prämisse herrscht jedoch keinesfalls Konsens in der Forschung. Ganz im Gegenteil deklarieren jüngere Forschungsarbeiten zum Zufall im Roman wiederholt die Undarstellbarkeit vom Zufall in narrativen Texten. Exemplarisch für diese Position sind die Ausführungen von Leland Monk in seiner Studie Standard Deviations: Chance and the Modern British Novel (1993): [T]he effacement of chance is a structural feature of all narratives […]. (4, FN) [I]t is in the nature of narrative to render chance as fate so that ‚what happens‘ in a story becomes indistinguishable from the more evaluative ‚it was meant to happen‘. (8) <?page no="114"?> 100 Beschreibungs und Analysemodell [T]he desire and effort to represent chance is potentially disruptive; but the disruptions occasioned by ostensible chance events in narrative are always and already in the process of being recuperated by some sense of formal coherence and design. (ebd.) Zufälle sind gemäß Monk nicht darstellbar, weil sie stets eine Funktion innerhalb der narrativen Gesamtstruktur erfüllen. 77 Damit erhielten sie jedoch in gewisser Weise den Charakter von Notwendigkeit (‚meant to happen‘). Die These von der Undarstellbarkeit des Zufalls in Erzählungen beruht allerdings bei näherer Betrachtung auf einer problematischen Vereinseitigung des Leseprozesses, wie die Mediävistin Susanne Reichlin (2010a: 251- 253) überzeugend dargelegt hat. Das Erzählen umfasst nach Paul Ricœur (2004: 335) nämlich nicht nur eine ‚konfigurierende‘, sondern auch eine ‚sukzessive‘ Dimension. Die sukzessive Dimension bezieht sich auf die Abfolge der Ereignisse in der Erzählung, also die Sequenz. Sie folgt der zeitlichen Logik eines episodischen ‚und dann, und dann, und dann‘ (vgl. Ricœur 2004: 335). Der Plot einer Erzählung erlaubt es jedoch, diese „scattered events“ (ebd.) zu einem bedeutsamen Ganzen zu gruppieren. Dies entspricht der konfigurierenden Dimension einer Erzählung. Die konfigurierende Perspektive wird von der Leserin allerdings erst rückblickend eingenommen, denn erst dann rückt der Text als strukturiertes Ganzes in den Blick (vgl. ebd.; Reichlin 2010a: 251). Aus dieser Perspektive lassen sich „makrostrukturell[e] Plotkonfigurationstypen entwickel[n], die das Wirkungspotential von Plot als abgeschlossene Struktur […] erfassen“ (Gutenberg 2000: 6). Wie oben von Leland Monk geschildert, erscheinen in dieser Sichtweise alle Textelemente - einschließlich dargestellter Zufälle - als notwendig, weil sie eine Funktion innerhalb des Handlungszusammenhangs einnehmen und auf diese Weise zur narrativen Sinnstiftung beitragen (vgl. Reichlin 2010a: 252). Allerdings gibt es keinen plausiblen Grund, wieso diese konfigurierende Perspektive prinzipiell gegenüber der sukzessiven Perspektive mit ihrem Horizont des Auch-anders-Sein-Könnens bevorzugt werden sollte (vgl. ebd.). 78 Beim sukzessiven Lesen einer Erzäh- 77 Siehe z.B. auch Jordan (2010: xi): „every representation of chance is a misrepresentation“. 78 Vgl. Reichlin (2010a: 252). Siehe auch Reichlins (2010a: 252f.) Ausführungen zu form to function mappings von Erzählweisen innerhalb der literaturwissenschaftlichen Diskussion von Kontingenzdarstellung: „Wirft man einen Blick auf […] aktuelle literaturtheoretische Arbeiten zu Kontingenz, so zeigt sich, dass diese sich genau an dem Punkt, also bezüglich des Verhältnisses von Kontingenz und Sinnstiftung von Ricœur unterscheiden. Wenn Zufälle im Dienst der Geschehensentwicklung stehen, wird dies als bloß ‚funktionale‘ (Wellbery [1992]) oder ‚schwache‘ (Warning [2001]) Kontingenz bezeichnet. Dagegen geschieht gemäss [sic! ] Wellbery und Warning eine ‚emphatische‘ oder ‚starke‘ Kontingenzexposition, sobald die synthetisierendkonfigurierende Dimension gestört wird: Wenn die lineare Zeitlichkeit und die Funk- <?page no="115"?> Kontingenzkonzeptionen im Roman 101 lung entfaltet sich nämlich ein komplexes Zusammenspiel von aktualisierter Welt und ihren virtuellen Alternativen. Es wird ein „ontologically multidimensional fabric of alternate possibilities“ (Dannenberg 2008: 46) gewoben, in dem auch der Zufall eingebettet ist: In fact, when its fictionality [= the coincidence’s] is disguised by […] immersive textual strategies […], the coincidence plot effectively becomes a real-world event for the reader, prompting the same sense of the remarkable and stimulating the cognitive desire for an explanation. (ebd.: 93) 79 Im Akt des Lesens kann somit durchaus der dargestellte Zufall als überraschend und nicht notwendig wahrgenommen werden. Plotstruktur: geschlossen vs. offen Bei dieser Kategorie geht es um die Makrostruktur des Plots, wie sie sich aus einer konfigurierenden Perspektive konstruieren lässt (vgl. Gutenberg 2000: 129). Diese Kategorie ist von zentraler Bedeutung für eine Skalierung literarischer Erzähltexte, weil geschlossene Plotstrukturen (closure) tendenziell zu einer Invisibilisierung von Kontingenz beitragen. Im westlichen Kulturraum werden literarische Texte als geschlossen wahrgenommen, wenn Kausalität und eine logische Verknüpfung der Handlungssegmente herrscht. 80 Am Ende einer geschlossenen Plotstruktur sind die Hypothesen zu den Geschehnissen, welche die Leserin aufgrund von Textsignalen entwickelt hat, „belegt oder widerlegt […]: ‚Diese Art der Fabel ist geschlossen, da sie (am Ende) keine Alternative zuläßt und eine Hinwendung zu anderen Möglichkeiten ausschließt […]‘ (Eco 1990: 153)“ (Gutenberg 2000: 133). Ein solcher Ausschluss an Alternativen fördert das Ausblenden von Kontingenz zugunsten der Eindeutigkeit einer autoritativen Version. 81 Beispiele für geschlossene Plotstrukturen sind teleologische oder zirkuläre Plotverläufe (vgl. Gutenberg 2000: 132). Bei der zirkulären Konfigurationalisierung des Erzählten unterlaufen werden, zeige sich eine Kontingenz, die nicht mehr sinnstiftend aufgehoben werden kann. Solche Ansätze bergen jedoch die Gefahr, eine avantgardistische, nicht-lineare Erzählweise gegen eine ‚klassische‘ (also linear-teleologische) auszuspielen. Erstere wird als Kontingenzexposition, letztere als sinnstiftende Kontingenzbewältigung beschrieben, ohne dass genauer geklärt würde, welche Form von Kontingenz bewältigt oder exponiert wird.“ 79 Vgl. auch Dannenberg (2008: 46): „While the reader is immersed in the ongoing narrative, the story has not yet crystallized but is still in a state of ontological flux in which the authoritative version is one of many competing possibilities.“ 80 Vgl. Gutenberg (2000: 132). Gutenberg weist zu Recht darauf, hin, dass die „Frage, welche Beschaffenheit Handlungssequenzen haben müssen, um in einer bestimmten Kultur und Epoche als geschlossen wahrgenommen zu werden, […] immer wieder neu gestellt werden [muss]“ (ebd.). 81 Vgl. Gutenberg (2000: 133): „Das suggerierte Bedeutungspotential umfaßt objektive Beurteilbarkeit der dargestellten Welt, Monologizität im Bachtinschen Sinne, das heißt Eindeutigkeit und Autorität gegenüber Polyvalenz und Subjektivität“. <?page no="116"?> 102 Beschreibungs und Analysemodell tion resultiert die Geschlossenheit in der Rückkehr zum Ausgangspunkt der Erzählung. Im Unterschied zur Teleologie geht damit jedoch nicht notwendigerweise ein Abschluss einher; vielmehr kann die Schließung des Kreises auch einen Neuanfang signalisieren (vgl. ebd.: 135). Wichtig ist, einen zirkulären von einem zyklischen Plot klar zu unterscheiden. Eine zyklische Strukturierung, „die man sich bildlich als wellenförmige Bewegung, als ein rhythmisches, sich wiederholendes Auf und Ab vorzustellen hat“ (ebd.: 141), ist nämlich durch Offenheit geprägt. Die Offenheit ergibt sich aus der „theoretisch unbegrenzte[n] Wiederholbarkeit [bzw. Wiederholung mit Variation]“ (ebd.: 142). Im Gegensatz zum zirkulären Plot läuft bei einem teleologischen Erzählmuster die Handlung linear auf einen Zielpunkt (telos) hinaus. 82 Während George Eliot in ihrem spätviktorianischen Roman Daniel Deronda noch an einem teleologischen Erzählprinzip festhält, wenden sich modernistische AutorInnen wie James Joyce oder Virginia Woolf kritisch von dem Erzählprinzip ab, alles Geschehen unter einem Zielpunkt zu subsumieren (vgl. Gutenberg 2000: 134). Die kulturhistorisch signifikante Erosion der ‚großen Erzählungen‘ (Lyotard) mit ihrem jeweiligen Telos schlägt sich somit in dem Wandel von Plotstrukturen nieder. Im Unterschied zur geschlossenen Konfiguration sind bei einer offenen Plotstruktur die Plotsegmente […] untereinander weniger kausallogisch verknüpft als akzidentiell, so daß im Extremfall die gesamte Ereignisfolge auf einem Zufallsprinzip basiert. Der Aspekt der ‚Offenheit‘ kann sich entweder im wesentlichen auf den Handlungsausgang beziehen oder den gesamten Plot in der Weise charakterisieren, daß an bestimmten Gabelungspunkten fortwährend virtuelle, von der letztlichen Aktualisierung abweichende Abläufe der Ereignisse anklingen. Offenheit kann übergreifendes Merkmal einer episodischen Gesamtplotstruktur sein […]. (Gutenberg 2000: 136) Offene Plotstrukturen befördern somit eine Sensibilisierung für Kontingenz, denn ein offenes Ende lädt die Leserin dazu ein, sich auf verschiedene Optionen für die weitere Entwicklung imaginativ einzulassen und damit ihren Möglichkeitssinn einzuüben: „Dort, wo keine Finalisierung von Hypothesen stattfindet, suggeriert die Plotkonzeption die Verweigerung jeglicher Entscheidbarkeit und endgültiger Sinnstiftung.“ (ebd.: 137) Die Betonung von Alternativen zu dem tatsächlichen Handlungsverlauf unterstreicht ebenfalls die Kontingenz des dargestellten Geschehens (vgl. ebd: 136). Eine besonders radikale Form eines offenen Plots sind Geschichten, die ein aleatorisches Kompositionsprinzip aufweisen und damit die Rezi- 82 Vgl. Gutenberg (2000: 129f., FN: 101): „‚Teleologie‘ ist als Sonderform der Linearität unter zusätzlicher Betonung von Kausalität und einer bestimmten Zielsetzung zu verstehen.“ <?page no="117"?> Kontingenzkonzeptionen im Roman 103 pientInnen zu einem kombinatorischen Lesen einladen. Gedacht sei exemplarisch an B.S. Johnsons The Unfortunates (1969). Diese ‚novel-in-abox‘ konfrontiert die RezipientInnen mit einem Kasten, der Erzählfragmente des Romans enthält, die von den LeserInnen im Eigenverfahren zusammengefügt werden sollen. 83 Geschlossene und offene Plotstrukturen bilden zwei Pole eines Kontinuums, doch in der Praxis finden sich häufig Mischformen. In David Mitchells Ghostwritten, der sechsten Fallstudie dieser Arbeit, wird eine zirkuläre bzw. geschlossene Plotkonfiguration mit einer episodischen Struktur kombiniert. Die nur sehr lose Verknüpfung der Episoden korrespondiert mit einer offenen Plotkonfiguration. Das Ergebnis ist ein Oszillieren zwischen struktureller Geschlossenheit und Offenheit; ein Oszillieren, das auch die Codierung des Zufalls prägt, denn es werden zwei Erklärungsmuster eingeführt: objektiver Zufall und subjektiver Zufall bzw. Vorsehung. Dieses Beispiel illustriert nicht nur das Zusammenspiel der eingeführten Parameter, sondern ebenso dass die Parameter die präzise Beschreibung des wirkungsästhetischen Effekts erleichtern. Möglichkeitshorizont: Aktualität/ Virtualität Die Beschreibung von offenen Plotstrukturen hat bereits die Rolle von ‚Möglichkeitshorizonten‘ („actuality vs. virtuality“; Gutenberg 2000: 68) für Kontingenzsensibilisierung anklingen lassen. Zwar wird beim Lesen das dargestellte Geschehen im Lichte eines möglichkeitsoffenen Horizontes wahrgenommen, doch lassen sich Romane danach skalieren, ob sie die LeserInnen für alternative bzw. virtuelle Welten innerhalb des Textuniversums potentiell sensibilisieren. Aktualität/ Virtualität wird als eigene Kategorie aufgenommen und nicht unter offener Plotstruktur subsumiert, um der Vielfalt der Formen gerecht zu werden, mittels der Möglichkeitshorizonte inszeniert werden können. Neben dem offenen Ende und der Betonung von Alternativen bei ‚Gabelungspunkten‘ der Handlung können beispielsweise auch Tagträume dazu dienen, die Alternativen (Virtualität) zu aktualisierten Handlungen oder Zuständen in den Vordergrund zu rücken. Ein Blick auf die Geschichte des englischen Romans zeigt, dass die Inszenierung von intratextuellen virtuellen Welten zunehmend an Gewicht und Komplexität gewonnen hat: „The development of the counterfactual from a brief rhetorical construct in Renaissance fiction to the extensive counterfactual imaginings of characters in the eighteenth-and-nineteenthcentury novel represents the initial phase of a more complex emplotment of counterfactuals.“ (Dannenberg 2008: 225) In ihrer Studie Coincidence and Counterfactuality (2008) spricht Dannenberg in diesem Zusammenhang von 83 Ausführlich zu kombinatorischen Romanformen siehe Ernst (1992: 291-320). <?page no="118"?> 104 Beschreibungs und Analysemodell „[n]arrative fiction’s evolving capacity to generate multiple-world versions“ (47). Während im realistischen Roman des 19. Jahrhunderts nur eine aktualisierte Welt existiert, findet sich in postmodernen Romanen oft eine Pluralität an konkurrierenden alternativen Welten, denen allen gleichermaßen ontologische Gültigkeit zugesprochen wird (vgl. ebd.: 229). Ein bekanntes Beispiel ist John Fowles’ The French Lieutenant’s Woman (1969) mit seinen drei unterschiedlichen Schlussgebungen, aus denen die Leserin auswählen kann. Diese grobe Entwicklungslinie innerhalb der literarischen Erzählliteratur kann aus guten Gründen mit dem zunehmenden Kontingenzbewusstsein im Prozess der Modernisierung korreliert werden. Für die späteren Romananalysen bedeuten diese Überlegungen, dass das Verhältnis von Aktualität und Virtualität genauer in den Blick zu nehmen ist. Wenn innerhalb des Erzähltextes eine Betonung von Virtualität, d.h. der nicht aktualisierten Möglichkeiten erfolgt, dann trägt dies zur Visibilisierung von Kontingenz bei. Allerdings darf diese Skalierung nicht schematisch erfolgen, denn es ist ebenso wichtig, die angegebenen Gründe für die nicht realisierten Handlungen oder Zustände zu betrachten. Werden die virtuellen Welten nämlich durchweg diskreditiert, um die aktualisierte Welt als die beste mögliche darzustellen, dann befördert eine solche narrative Strategie tendenziell Kontingenzschließung - trotz Hinweisen auf virtuelle Welten. Deshalb wird bei der späteren Anwendung von ‚Möglichkeitshorizont‘ als Skalierungskriterium das Verhältnis von aktualisierter Welt und virtuellen Welten genauer beleuchtet. * * Figuren: Typisierung/ Individualisierung und Transparenz/ Opazität * * Auf die Bedeutung von Figuren für literarische Kontingenzkonzeptionen wurde oben kurz im Zusammenhang mit ihrer Relevanz für den Plot eingegangen. Gestaltbarkeitskontingenz setzt Entscheidungsspielräume voraus und solche werden im Verlauf der Romanhandlung immer wieder ausgelotet. „[G]erade die Gattung Roman zeichne[t] sich dadurch aus, daß in ihr die choices der Figuren in auffälliger Weise thematisiert werden“ (Gutenberg 2000: 13 unter Verweis auf Davis 1987: 219). Zugleich wird mit der Figurendarstellung ein spezifisches Subjektmodell entworfen, das auf Vorstellungen des (Un)Verfügbaren beruht. Um die Kategorie ‚Figur‘ jedoch als Skalierungsparameter nutzen zu können, ist es nötig, die bisherigen Überlegungen durch einen weiteren Aspekt zu ergänzen. Entscheidend für die Wahrnehmung von Kontingenz als das Inkommensurable ist, ob die Figuren tendenziell typisiert oder individualisiert werden. Diese zwei Möglichkeiten der Figurendarstellung lassen sich aus kognitivnarratologischer Perspektive genauer beschreiben. Figuren „sind wiedererkennbare fiktive Wesen mit einem Innenleben, genauer: mit der Fähigkeit zur Intentionalität“ (Eder 2008: 173). Aus rezep- <?page no="119"?> Kontingenzkonzeptionen im Roman 105 tionsästhetischer Sicht bilden LeserInnen auf Basis ihres Weltwissens und textueller Informationen ein Figurenmodell, das „im Wesentlichen aus einem System von Vorstellungen über die Eigenschaften des fiktiven Wesens besteht“ (ebd.: 173). Diese Eigenschaften umfassen die Bereiche Körperlichkeit, Psyche (z.B. Persönlichkeitsdispositionen), Sozialität (z.B. Klasse, Religion) und Verhalten (vgl. Eder 2008: 179; siehe auch Schneider 2000: 69). Dieses ‚multi-modale Figurenmodell‘ (vgl. Schneider 2002: 610) ist als ein dynamisches ‚mitlaufendes‘ Konstrukt der Leserin zu begreifen (vgl. Schneider 2000: 79; Eder 2008: 179). Aus kognitiv-narratologischer Sicht stellt sich der Leseprozess als „die Konstruktion und Projektion eines Systems von Hypothesen und Schemata (frames) […] [dar], über welches sich die potentielle Bedeutung textueller Signale erschließt“ (Zerweck 2002: 221). Textuelle Informationen rufen bei der Leserin konventionalisierte Schemata auf, welche die Interpretation des Datenmaterials steuern. So aktiviert beispielsweise das Wort ‚Vollweib‘ bereits eine kulturell spezifische Weiblichkeitsvorstellung. Bei einem sogenannten top-down Prozess handelt es sich um „frame- (bzw. kontext-)gesteuert[e] Interpretationsmechanismen“ (Zerweck 2002: 223), während es bei einem bottom-up Prozess um datengesteuerte Mechanismen geht (vgl. ebd.). Bei letzterem erschweren textuelle Signale die Einordnung der Daten in ein Schema, so dass eine größere interpretative Offenheit gewahrt bleibt. Bildet die Leserin das Figurenmodell über Typisierung, dann handelt es sich um einen top-down Prozess, der eine schnelle Einordnung der Figur erlaubt (vgl. Eder 2008: 229; Schneider 2000: 142). Die Figur wird kategorisiert nach „ihrer Persönlichkeit, ihren sozialen Rollen und ihrer Gruppenzugehörigkeit (z.B. […] Berufsrollen, Nationalität, Religion)“ (Eder 2008: 229). Das Wissen um literarische Konventionen wie genretypische Figuren (z.B. femme fatale in hard-boiled novels) wirkt sich ebenfalls auf die Figurenrezeption aus (vgl. Schneider 2000: 88-90; Eder 2008: 229). Demgegenüber dominieren bei einem individualisierten Figurenmodell bottom-up Prozesse, 84 denn die „Figur wird nicht nur als Angehörige einer bestimmten Kategorie gesehen, sondern als Individuum. […] Das Figurenmodell bleibt längere Zeit unabgeschlossen […]. Die Verhaltenserwartungen sind offener, weniger klar, die Figur erscheint ‚mehrdimensional‘.“ (Eder 2008: 230) 84 Eine ausführliche und feindifferenzierte Beschreibung der Bildung von Figurenmodellen auf Basis von bottom up und top down-Prozessen entwickelt Schneider (2000: 137-170). Typisierung und Individualisierung entspricht in Schneiders Terminologie den Prozessen der Kategorisierung und Personalisierung. Unter Individualisierung versteht er den „Prozeß der Figurenrezeption, bei dem das mentale Modell einer zuvor kategorisierten Figur um neue Merkmale und Erwartungen erweitert wird“ (ebd.: 143). Eder beruft sich auf Schneider (2000), bevorzugt jedoch die Begriffe ‚Typisierung‘ (statt Kategorisierung) und ‚Individualisierung‘ (statt Personalisierung), weil sie „verbreiteter und weniger missverständlich erscheinen“ (Eder 2008: 229, FN 78). In der vorliegenden Arbeit wird Eders Terminologie übernommen. <?page no="120"?> 106 Beschreibungs und Analysemodell Individualisierung trägt somit zur Visibilisierung des Inkommensurablen bei, weil sich die Figur einer reduktionistischen schematischen Erfassung seitens der Rezipientin entzieht. Demgegenüber sind literarische Texte, die hauptsächlich zur Typisierung von Figuren einladen, dem Pol Kontingenzausblendung zuzuordnen. Es handelt sich bei diesem Skalierungskriterium um eine heuristische Vereinfachung, da Typisierung und Individualisierung dynamische Prozesse sind. So kann beispielsweise ein literarischer Text zunächst eine Typisierung bei der Leserin aktivieren, nur um diese dann im Verlauf der Handlung durch weitere Informationen zu entkräften. Um mit der Analysekategorie ‚Figur‘ differenzierte Skalierungen vornehmen zu können, bedarf es eines Kriteriums, das es erlaubt, auch individualisierte Figurendarstellungen danach zu bewerten, ob sie zur Visibilisierung von Kontingenz beitragen. Zu diesem Zweck ist eine Untersuchung von Physiognomiebeschreibungen besonders hilfreich, weil die Beschreibung von Figurengesichtern und deren jeweilige Lesbarkeit, besonders ihre charakterliche Indexfunktion, die zwischen den Polen ‚Transparenz‘ und ‚Opazität‘ angesiedelt ist, […] ihrerseits als Index für die epistemegeschichtliche Position eines Textes gelesen werden [können]. Die jeweilige Modellierung visueller Gesichtswahrnehmung in der Erzählkunst und ihre Deutung wird damit zu einem privilegierten Zugang zur Weltsicht, die in verschiedenen Epochen und Werken impliziert ist, nämlich zu den verschiedenen Antworten auf die Frage nach der Erkennbarkeit von Charakter und letztlich auch nach der Lesbarkeit der Welt insgesamt. (Wolf 2002: 303) Wird der Körper grundsätzlich als transparenter Text für die Identität gelesen, dann suggeriert dies eine Lesbarkeit von Welt. Ein kurzes Beispiel aus George Gissings The Nether World (1999 [1889]) vermag dies zu illustrieren: In the troubled twilight […] an old man […] walked slowly across Clerkenwell Green […]. […] [T]here was too much of past struggle and present anxiety in his countenance to permit full expression of the natural dignity of the features. It was a fine face and might have been distinctly noble, but circumstances had marred the purpose of Nature; (1) Die auktoriale Beschreibung des Körpers, v.a. des Gesichtes, liefert Hinweise auf die Persönlichkeit und sogar die Biographie des Beschriebenen („natural dignity“, „past struggle“), die im weiteren Verlauf der Handlung Bestätigung findet. Das Äußere spiegelt die inneren Werte. Eine solche Vorstellung blendet Kontingenz aus, weil es keine Grenzen des Fremdverstehens gibt und damit auch keine Bereiche, die sich unseren kognitiven Rastern entziehen (vgl. Wolf 2002: 318). Dieser „Glaub[e] an die Transparenz des Äußeren von Menschen“ (ebd.: 311) steht in Gissings naturalisti- <?page no="121"?> Kontingenzkonzeptionen im Roman 107 schem Roman metonymisch für den epistemologischen Glauben an „eine letztlich erkennbare Wahrheit“ (ebd.: 317). Diese Wahrheit lautet, dass das Leben der Menschen von ihrer genetischen Abstammung und Umwelt vollständig bestimmt werde („circumstances had marred the purpose of Nature“). Die Welt ist geordnet durch „the implacable workings of natural law“ (Monk 1993: 74), die vom Romancier beobachtet und beschrieben werden können. 85 So wie eine Figur lesbar ist, ist auch die Welt restlos lesbar. Kontingenz als das Inkommensurable wird damit auch hinsichtlich Weltverstehen ausgeblendet. Dieses Beispiel veranschaulicht, wie „fundamentale Elemente implizierter Weltsichten sich punktuell quasi im Brennspiegel von […] physiognomischen Deskriptionen nachweisen lassen“ (Wolf 2002: 324). Die Wahrnehmung von Kontingenz kann über die Figurendarstellung besonders wirkungsvoll befördert werden. Der Grund hierfür liegt darin, dass wir Figuren in Analogie zu realen Menschen wahrnehmen (vgl. Schneider 2000: 21; Eder 2008: 191). Unsere lebensweltliche Wahrnehmung von Personen ist ebenfalls von kulturellen Schemata beeinflusst. Literatur problematisiert solche Schemata mittels Figurendarstellung, und deshalb kann sie ein Bewusstsein dafür wecken, dass sich eine Person nicht auf ein Schema oder eine physiognomische Lektüre reduzieren lässt (Kontingenz des Inkommensurablen). Eine solche Problematisierung von Schemata bildet in den gewählten Romanen häufig ein zentrales Thema innerhalb der diegetischen Welt. So werden u.a. in Mrs. Dalloway und Atonement die zerstörerischen Auswirkungen einer plakativen Kategorisierung von Menschen aufgewiesen. Opazität als Skalierungskriterium für Kontingenzvisibilisierung beschränkt sich allerdings nicht auf physiognomische Beschreibungen. Vielmehr können auch Phänomene der intrapsychischen Intransparenz als Indikatoren für das Unverfügbare dienen, und zwar für das Unbewusste, das als ‚das Andere‘ kognitiver Vernunftstrukturen inkommensurabel ist. Beispiele für die Darstellung einer solchen intrapsychischen Intransparenz wären Figuren, die ihr eigenes Handeln bzw. ihre Gefühlswelt nicht verstehen oder die Epiphanien 86 erleben. In den späteren Fallstudien wird die Inszenierung von intrapsychischer Intransparenz anhand konkreter Beispiele ausführlicher besprochen. Da das Skalierungskriterium ‚Typisierung/ Individualisierung‘ an die Rubrik ‚Subjektmodell‘ des ersten Rasters anknüpft, sollen abschließend 85 Vgl. Monk (1993: 74): „The naturalist novel describes a world governed by scientific principles, adopts a scientific methodology in the novel’s approach to its materials, and organizes narrative experience according to a scientific determinism that (but for the initial collocation of birth, temperament, and milieu) leaves no room for chance.“ 86 Zum Zusammenspiel der verschiedenen Kontingenzdimensionen bei Epiphanien siehe Kap. II.1. <?page no="122"?> 108 Beschreibungs und Analysemodell kurz die Kategorien beider Raster in Bezug zueinander gesetzt werden. Die Leitfragen zum Subjektmodell richten sich auf eine individualisierte Figurendarstellung und nicht auf sehr stark typisierte Figuren. Das Subjektmodell bezieht sich nämlich auf Formen von Subjektivität, die sich im Zuge des Individualisierungsprozesses herausgebildet haben. Die vorangegangenen Überlegungen helfen zu erklären, inwiefern über Figurendarstellungen spezifische Subjektmodelle verkörpert werden. Eine Figur ist gerade „nicht eine Summe von Eigenschaften“ (Eder 2008: 172), sondern ein „System von Eigenschaften“ (ebd.), wie etwa Persönlichkeitsdispositionen oder Lebenseinstellung (vgl. ebd.: 176). Genau ein solches System von Eigenschaften ist mit dem Begriff ‚Subjektmodell‘ gemeint. Die von Reckwitz beschriebene Einübung des Subjektmodells in verschiedenen Praxisfeldern wird in der Literatur ebenfalls häufig dargestellt, indem die gesellschaftliche Einbettung der Figur gezeigt wird. Die individualisierten Figurenmodelle und deren Bewertung durch Leserlenkungsstrategien geben Auskunft darüber, ob im literarischen Text ein Subjektmodell privilegiert wird, das dominant außen- oder innenorientiert ist, d.h. ob das Subjekt sich vorwiegend an sozialer Konformität ausrichtet, wie in der ‚organisierten Moderne‘ mit ihrem ‚Angestelltensubjekt‘ (vgl. Reckwitz 2006b: 336ff.), oder ob der Fokus auf „der Ausbildung einer komplexen Innenwelt von Reflexionen und sensibilisierten Emotionen“ (Reckwitz 2006b: 40) liegt. Bei der Analyse der Figurenmodelle gilt es, deren dialogisches Antwortverhältnis auf die Subjekttransformationsbewegungen in der Moderne herauszuarbeiten. * * Zeit * * Die ausführlichen Erläuterungen zur Bedeutung von Zeit für Kontingenzwahrnehmung (siehe oben) lieferten bereits wichtige Hinweise darauf, wie die narrative Inszenierung von Zeit als Skalierungsparameter für Kontingenzvisibilisierung genutzt werden kann. Eine grundlegende Strategie, um Kontingenz des Inkommensurablen in den Vordergrund zu rücken, ist die Darstellung einer Desynchronisation von verschiedenen Zeitdimensionen. Eine solche ist etwa gegeben, wenn die Subjektivierung von Zeiterleben mit größeren Divergenzen von den Rhythmen abstrakt-sozialer Zeit einhergeht. Eine solche Inszenierung verschiedener Zeitdimensionen legt offen, dass es eine Pluralität von verschiedenen Zeitformen gibt, die nicht ineinander übersetzbar sind. Die Visibilisierung von Kontingenz kann dadurch gesteigert werden, dass einzelne Zeitdimensionen, die in der Desynchronisation auseinander getreten sind, ihrerseits pluralisiert werden. Gedacht sei etwa an multiperspektivisches Erzählen, das unterschiedliche subjektive Ereignistemporalitäten darstellt. Subjektives Zeiterleben wäre damit pluralisiert und als individualistisch variabel inszeniert. Demgegenüber befördert die Synchronisation der Zeitdimensionen eine Invisibilisierung von Kontingenz. Besonders wichtig für die Kontin- <?page no="123"?> Kontingenzkonzeptionen im Roman 109 genzaufhebung ist dabei die Harmonie zwischen sozialer und subjektiver Zeit (bzw. gegebenenfalls sozialer, mythischer und subjektiver Zeit). Denn diese gewährleistet die erfolgreiche Einbettung des Individuums in gesellschaftliche Traditionszusammenhänge, denen eine ordnungs- und sinnstiftende Funktion zukommt. Aus zeitphilosophischer Perspektive kann der Verlust an Sinnressourcen in der Moderne als Folge von Desynchronisation beschrieben werden. Dementsprechend kann die Darstellung einer Welt, in der abstrakte Zeit alle anderen Zeitdimensionen kolonialisiert hat, der Inszenierung von Widerfahrniskontingenz dienen. * * Raum * * Die Nutzung von Raum als Skalierungsparameter für Kontingenzvisibilisierung kann in weiten Teilen in Analogie zu Zeit entworfen werden. Während die Homogenisierung von Raumerfahrung das Inkommensurable ausblendet, dient eine Subjektivierung und Pluralisierung von Raumerfahrung einer Betonung von Kontingenz. Der kurze Auszug aus Bleeding London (siehe oben) lieferte ein Beispiel, wie eine solche Inszenierung von subjektivierter Raumerfahrung aussehen kann. Ein weiterer zentraler Aspekt ist, ob und gegebenenfalls wie der Raum dazu beiträgt, das Individuum in einen größeren Sinn- und Ordnungszusammenhang einzubetten. Es geht um die Wahrnehmung, Semantisierung und das Gefühl von Örtlichkeit seitens des Individuums. Ein solches Erleben von Ort wird in der Kulturgeografie unter dem Begriff sense of place gefasst. 87 Mit Doreen Massey (1994) lässt sich grob ein ‚geschlossenes‘ und ‚offenes‘ sense of place unterscheiden. 88 Gemäß Massey zeichnet sich ein geschlossenes sense of place durch drei Kriterien aus (vgl. Massey 1994: 152). Erstens basiert es auf der Vorstellung, dass Orte eine einzige spezifische ‚Identität‘ haben. Beispiele hierfür sind Raumvorstellungen, die durch Nationalstereotypen geprägt sind (vgl. Cresswell 2004: 72), wie etwa die Annahme, Großbritannien bestehe aus „long shadows on county cricket grounds, warm beer, invincible green suburbs, dog lovers and […] old maids bicycling to Holy Communion through the morning mist“ (britischer Ex-Premierminister John Major zitiert in Cresswell 2004: 72). Das zweite Kriterium bezieht sich auf die Bemühungen, die Ortsidentität als authentisch auszuweisen, indem sie auf historische Ursprünge zurückgeführt wird: „the sense of place […] is constructed out of an introverted, inward-looking history based on delving into the past for internalized origins“ (Massey 1994: 152). Ein solches sense of place ist, drittens, mit dem Ziehen von Grenzen bzw. einer Abschottung gegenüber 87 Vgl. z.B. Cresswell (2004: 7) und Massey (1994). 88 Für eine übersichtliche Auflistung von Masseys Kriterien, anhand derer sie zwischen zwei Formen von Ortsempfinden unterscheidet, siehe auch Cresswell (2004: 72, 74). <?page no="124"?> 110 Beschreibungs und Analysemodell einem ‚Außen‘ verbunden. Die literarische Darstellung eines solchen geschlossenen sense of place führt tendenziell zu einer Invisibilisierung von Kontingenz, weil die Identität eines Raums auf eine Bedeutung fixiert wird. Demgegenüber rückt die Darstellung eines offenen sense of place tendenziell den kontingenten Charakter der eigenen Raumordnung in den Vordergrund und betont die Kontingenz des Inkommensurablen: In this interpretation, what gives a place its specificity is not some long internalized history but the fact that it is constructed out of a particular constellation of social relations, meeting and weaving together at a particular locus. […] And this in turn allows a sense of place which is extroverted, which includes a consciousness of its links with the wider world […]. (Massey 1994: 154f.) Wenn zum sense of place die Wahrnehmung der dynamischen Produktion von Raum gehört, dann integriert eine solche Vorstellung vom Raum bereits Momente des Kontingenten, weil das situative „meeting and weaving together“ nicht determiniert ist. Die spezifische ‚Identität‘ eines Orts erscheint in dieser Lesart als prozesshaft, weil sie durch Interaktionen generiert wird. Das Ergebnis ist eine Vorstellung vom Ort „as [a] site of multiple identities and histories“ (Cresswell 2004: 74). Zudem wird der Möglichkeitssinn dadurch geschärft, dass ein Bewusstsein für die Existenz anderer Orte und Raumordnungen besteht sowie für das dynamische Interaktionsverhältnis zwischen dem Globalen und Lokalen im Sinne von Glokalisierung (vgl. Kap. II.2). Geschlossenes und offenes sense of place dienen als Skalierungsparameter für die Betonung von Kontingenz: Je stärker ein literarischer Text ein offenes sense of place inszeniert, desto näher rückt er an den Pol Visibilisierung von Kontingenz. Zwischen diesen beiden Polen sind verschiedene Ausprägungsformen möglich: geschlossenes sense of place offenes sense of place Ort als statisch Ort als prozessual Ortsidentität wird auf historische Ursprünge zurückgeführt spezifische Ortsidentität resultiert aus Interaktionen einheitliche Ortsidentität multiple Ortsidentitäten Grenzziehung (Abgrenzung/ Abschottung von anderen Orten) Fokus auf Glokalisierung (Verbindungen zu anderen Orten) Abbildung 6: Erscheinungsformen von sense of place gemäß Massey (1994) <?page no="125"?> Kontingenzkonzeptionen im Roman 111 So könnte literarisch beispielsweise problemlos inszeniert werden, wie eine Ortsidentität prozessual durch Interaktionen generiert wird, ohne dass dabei Verbindungen zu anderen Orten fokussiert werden. Ebenso ist es möglich, die Bedeutung von historischen Ursprüngen für eine Ortsidentität zu betonen, und gleichzeitig die Verbindungen des Ortes zu anderen Orten im Blick zu behalten (siehe unten). Grundsätzlich gilt, je mehr Charakteristika in der linken Spalte (siehe oben) erfüllt werden, desto stärker rückt das dargestellte sense of place in Richtung ‚geschlossen‘. Bei der obigen Skalierung wird die kritische Bewertung des jeweiligen sense of place, wie sie Massey einführt, nicht übernommen. Statt dem Begriffspaar ‚geschlossen‘ vs. ‚offen‘ bevorzugt Massey die suggestive Opposition ‚reaktionäres vs. progressives‘ sense of place. Beide Varianten eines sense of place würden eine identitätsstabilisierende Funktion für das Individuum leisten, allerdings sei ein geschlossenes sense of place reaktionär, weil es auf rigiden Grenzziehungen und damit einer Ausgrenzung des Anderen beruhe. Deshalb gelte es, ein reaktionäres sense of place zugunsten eines ‚progressive sense of place‘ zu überwinden. Eine solche pauschale Bewertung von geschlossenem und offenem sense of place ist jedoch bei näherer Betrachtung nicht haltbar: The simple, observable, fact of diversity does not necessarily produce a progressive sense of place and the search for roots in history does not have to be reactionary. (Cresswell 2004: 79) In Chapter 4 [= Cresswell’s book on place; S.B.] we will see how some groups make quite positive and inclusive attempts to tap into a place’s history or promote a particular notion of place as an act of resistance and affirmation in the face of wider forces. In other words, a little bit of fixity might not always be such a bad thing. (ebd.: 75) Da Masseys Terminologie stark wertend ist, wird in der vorliegenden Arbeit das neutralere Begriffspaar ‚geschlossen/ offen‘ bevorzugt. Eigene bereits vorab getroffene Festlegungen sind auch deshalb zu vermeiden, weil bei den späteren Analysen die evaluativen Codierungen von sense of place innerhalb des literarischen Werkes selbst untersucht werden sollen. Wird in einem Roman der vollständige Verlust eines Ortsempfindens (egal ob ‚geschlossen‘ oder ‚offen‘) inszeniert, dann kann dies zur Wahrnehmung einer erhöhten Widerfahrniskontingenz führen, weil dem Raum keinerlei identitätsstiftende Funktion mehr zukommt. Die Vernichtung des Raums kann unterschiedliche Formen annehmen. Ein Beispiel ist die Zeit- Raum-Verdichtung, die im Zusammenhang von Globalisierung und deren Auswirkung auf Kontingenzwahrnehmung beschrieben wurde (vgl. Kap. II.2.1). Der Raum wirkt leer, weil er durch die Funktion der Zeit überlagert wird. Ein weiteres Beispiel sind ‚Nicht-Orte‘ (Augé 1995), d.h. Räume, denen es an Geschichte und kultureller Identität fehlt und die somit dem Individuum keinerlei Bindung zu dem Ort erlauben. Soziale Interaktion an <?page no="126"?> 112 Beschreibungs und Analysemodell Nicht-Orten ist „instrumental and ‚contractual‘ - […] lifted out of any organic relation with a community existing in continuity through time“ (Tomlinson 1999: 110). Als Beispiele für Nicht-Orte nennt Marc Augé unter anderem Flughäfen, Hotels und Supermärkte. 89 Wird die Vernichtung des Raums durch Abstraktionsprozesse oder time-space compression in den Vordergrund gerückt, dann dient dies häufig der Darstellung von Widerfahrniskontingenz. Der Eindruck von Widerfahrniskontingenz kann zudem durch die Inszenierung von chaotisch-desorientierenden bzw. unkontrollierbaren Räumen erhöht werden. * * Erzählen * * Die Sinnkonstitution eines narrativen Textes ist maßgeblich durch die Ebene der erzählerischen Vermittlung geprägt. Dementsprechend kommt nicht nur dem Was, sondern ebenso dem Wie erzählt wird eine zentrale Rolle für die (In)Visibilisierung von Kontingenz zu. „Erzähltechniken [stellen] keine überzeitliche[n] Idealtypen dar[…], sondern [sie sind] historisch bedingt […] und [ergeben] sich aus bestimmten sozialen und weltanschaulichen Voraussetzungen“ (A. Nünning 1992: 200). Besonders deutlich zeigt sich dies bei einer Kontrastierung der auktorialen und personalen Erzählsituation. Die auktoriale Erzählsituation, die sich v.a. im 18. und 19. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreute, ist klassischerweise mit der Vorstellung eines klar geordneten und überschaubaren Universums verbunden. Kontingenz als das Unverfügbare wird durch die Allwissenheit und die absolute Kontrolle der auktorialen Erzählinstanz über die von ihr erzählten Welt ausgeblendet. 90 Demgegenüber bevorzugt der Modernismus die personale Er- 89 Präzisierend muss hinzugefügt werden, dass die Wahrnehmung von Nicht-Orten perspektivengebunden ist. So kann beispielsweise für einen Reisegast die Lobby im Flughafen als Nicht-Ort erscheinen, während es für einen dortigen Mitarbeiter, der seit 20 Jahren in der Lobby arbeitet und dort täglich seine Kollegen und Bekannte sieht, durchaus mit einem sense of place verbunden sein. Der Film Terminal (2004) von Steven Spielberg bietet ein gutes Beispiel dafür, wie für einen gestrandeten Reisegast der New Yorker Flughafen JFK seinen Charakter als Nicht-Ort allmählich verliert. Zwar dient die Darstellung von Nicht-Orten im Sinne von Marc Augé häufig einer Inszenierung von Widerfahrniskontingenz, allerdings ist dies kein Automatismus. Unter bestimmten Umständen kann der Aufenthalt an einem Nicht-Ort für eine Figur beispielsweise als befreiend empfunden werden, und zwar gerade weil keine Einbettung in einen Traditionszusammenhang gegeben ist. Gedacht sei etwa an Eva Figes’ Nelly’s Version (1977), in der eine Frau, die unter Amnesie leidet, in einem Hotel wohnt. Die Amnesie kann als Versuch der Protagonistin gedeutet werden, aus bisherigen patriarchalischen Rollenzwängen bzw. ihrem alten Leben auszubrechen (vgl. Birke 2008: 183ff.). Die Tatsache, dass die Protagonistin sich an einem Nicht-Ort aufhält, unterstreicht im Kontext dieses Romans ihre emanzipatorischen Bemühungen um Gestaltbarkeitskontingenz hinsichtlich ihrer eigenen Lebensführung. 90 Allerdings bedürfen diese generalisierenden Beobachtungen einer genaueren Überprüfung in jedem Einzelfall. Forschungsarbeiten zum viktorianischen Realismus ha- <?page no="127"?> Kontingenzkonzeptionen im Roman 113 zählsituation, weil sie es erlaubt, eine anders gelagerte epistemische Grundposition wirkungsvoll zu inszenieren - „die Einsicht nämlich, dass es für Menschen keine Wirklichkeit ‚an sich‘ geben kann, sondern immer nur eine von einem bestimmte [sic! ] Bewusstsein auf jeweils spezifische Weise wahrgenommene, erlebte und gedeutete Wirklichkeit“ (Bode 2005: 190). Auf diese Weise wird der Kontingenz der Wirklichkeitswahrnehmung und -konstruktion erzählerisch Ausdruck verliehen. Eine weitere Möglichkeit, die Kontingenz von Wirklichkeitswahrnehmung zu betonen, bieten multiperspektivische Darstellungsverfahren. Gemäß der von V. Nünning/ A. Nünning (2000: 42) entwickelten Typologie kann zwischen multiperspektivisch erzählten, fokalisierten und collagierten Texten differenziert werden. Bei letzterem beruht die Pluralität der Sichtweisen „nicht oder nicht allein auf personalisierten Instanzen […], sondern auf der […] collageartigen Kombination verschiedenartiger Textsorten“ (ebd.: 42). Entscheidend für die Visibilisierung von Kontingenz ist, wie sich diese Perspektiven zueinander in Beziehung setzen lassen. Wenn die Perspektiven in einem gemeinsamen Fluchtpunkt konvergieren, dann handelt es sich um eine geschlossene Perspektivenstruktur. Demgegenüber bleibt es bei einem multiperspektivischen Text mit offener Perspektivenstruktur bei einer gegenseitigen Relativierung der Einzelperspektiven, d.h. es gibt im Text keine Signale, die es erlauben würden, eine Perspektive als ‚wahr‘ oder ‚besser‘ zu privilegieren (vgl. ebd.: 60ff.). Jede Perspektive erscheint damit als ein Wirklichkeitsmodell, das gleichberechtigt neben den anderen bestehen bleibt. Die gegenseitige Relativierung von Wirklichkeitsmodellen betont den kontingenten Charakter des jeweiligen Realitätsentwurfs inklusive Normen und Werte. Auf diese Weise trägt Multiperspektivität mit offener Perspektivenstruktur zur Visibilisierung von Kontingenz bei. Demgegenüber kann eine geschlossene Perspektivenstruktur sowie Monoperspektivität, die nicht etwa durch unzuverlässiges Erzählen in Frage gestellt wird, zu dem Eindruck beitragen, dass das dargestellte Wirklichkeitsmodell das einzig gültige sei. ben beispielsweise gezeigt, dass die Epistemologie von kanonischen realistischen Romanen des 19. Jahrhunderts der obigen Charakterisierung nicht (völlig) entspricht, da sie wesentlich komplexer ausfällt. So umfasst etwa George Eliots Roman Middlemarch, der überwiegend auktorial erzählt wird, eine „stark[e] Aufwertung der Subjektivität als d[em] unhintergehbaren Zentru[m] individuell gebrochener Wirklichkeitskonstruktion“ (Winkgens 1997: 183) sowie eine „einschneidend[e] Unterminierung objektivistischer, empiristischer und von der Evidenz des common sense getragener Erkenntnismodelle“ (ebd.). Zur Epistemologie von kanonischen realistischen Romanen des 19. Jahrhunderts siehe auch Levine (1981: 19f.): „We need to shift the balance in our appraisal of realism. It was not a solidly self-satisfied vision based in a misguided objectivity and faith in representation, but a highly selfconscious attempt to explore or create a new reality. Its massive self-confidence implied a radical doubt, its strategies of truth telling a profound self-consciousness.“ <?page no="128"?> 114 Beschreibungs und Analysemodell Neben Multiperspektivität mit offener Perspektivenstruktur kann auch unzuverlässiges Erzählen die Kontingenz von Wirklichkeitsmodellen effektvoll inszenieren. Wirkungsästhetisch umfasst unzuverlässiges Erzählen zwar ebenfalls das Erleben von Biperspektivität. Allerdings beruht die Gleichzeitigkeit verschiedener Perspektiven - im Unterschied zu Multiperspektivität - nicht auf den Diskrepanzen zwischen werkinternen Instanzen. Vielmehr ist sie ein Resultat aus der Kombination zwischen der Perspektive einer textinternen Instanz (der Erzählinstanz) und einer textexternen Instanz, nämlich der Rezipientin, die aufgrund von Textsignalen eine andere Perspektive auf das Geschehen einnimmt (vgl. Wolf 2000: 81ff.). Aus kognitiv-narratologischer Sicht handelt es sich bei der Diagnose von erzählerischer Unzuverlässigkeit um eine Strategie der LeserInnen, festgestellte Widersprüche im Text durch ein bereits bekanntes Erklärungsmodell aufzulösen (vgl. A. Nünning 1998: 26). Jonathan Culler hat hierfür den Begriff ‚Naturalisierung‘ geprägt (vgl. Culler 1975: 138). ‚Normative Unzuverlässigkeit‘, d.h. wenn der Erzähler von gesellschaftlich gültigen Normen und Werten abweicht, spielt bei Unzuverlässigkeitsurteilen häufig eine Rolle (vgl. A. Nünning 1998: 12). Um an Überzeugungskraft zu gewinnen, muss das Unzuverlässigkeitsurteil allerdings durch Textsignale gestützt werden, die auf ‚faktische Unzuverlässigkeit‘ deuten, d.h. die ‚Wahrhaftigkeit‘ der erzählten Fakten steht in Frage (vgl. Birke 2008: 81, FN 110). 91 Signale für eine alternative Version oder Bewertung des Geschehens können verschiedene Formen annehmen, z.B. Widersprüche im Erzählerdiskurs oder auffällige Auslassungen, die auf Verdrängungsarbeit hindeuten. 92 Ähnlich wie bei Multiperspektivität mit offener Perspektivenstruktur eignet sich erzählerische Unzuverlässigkeit besonders dann dazu, die Kontingenz von Bedeutungspositionen formal umzusetzen, wenn es bei einer Inkommensurabilität der Perspektiven auf das Geschehen bleibt. Dies ist dann der Fall, wenn keine Textsignale vorhanden sind, die es erlauben, eine bestimmte Erklärung des Geschehens zu privilegieren. Die oben beschriebenen Erzählverfahren führen dazu, dass die Leserin selbst bei ihren Deutungsversuchen des dargestellten Geschehens entdeckt, dass alles auch anders sein könnte, weil die verschiedenen Erklärungsversionen nicht gemäß ihres Wahrheitsgehalts hierarchisiert werden können. Die Perspektivengebundenheit von Wahrheit und Wirklichkeit wird auf diese Weise für die Rezipientin potentiell zum ‚Erlebenswissen‘. Die in diesem Unterkapitel entfalteten kognitiv-narratologischen Überlegungen leiten zu dem nächsten Skalierungskriterium über, das Schnittmengen mit 91 Zur Unterscheidung zwischen faktischer und normativer Unzuverlässigkeit siehe A. Nünning (1998: 12ff.), der sich auf Martínez-Bonati (1981: 34ff., 103-111) beruft. 92 Für eine Übersicht an textuellen Signalen, die auf erzählerische Unzuverlässigkeit deuten, siehe A. Nünning (1998: 27ff.). <?page no="129"?> Kontingenzkonzeptionen im Roman 115 den Thesen zu Erzählverfahren aufweist: kognitive Strategien der Rezeptionslenkung. * * Metakognitive Strategien * * Diese Kategorie bezieht sich auf bestimmte kognitive Strategien der Rezeptionslenkung. Metakognitive Strategien „zielen auf die Ausbildung einer erhöhten Selbstreflexivität der Rezipientin hinsichtlich ihrer eigenen Kognitionsprozesse bzw. Wahrnehmungs-, Deutungs- und Beurteilungsschemata“ (Butter 2007: 67). Eine solche erhöhte und kritische Selbstreflexivität basiert darauf, dass die Kontingenz der eigenen Welterklärungsschemata im Fokus steht. Wie ich an anderer Stelle ausführlich dargelegt habe (vgl. ebd.: 70ff.), lassen sich mindestens sechs Strategien identifizieren, denen ein solcher wirkungsästhetischer Effekt zugeordnet werden kann. Die erste Strategie umfasst eine explizite Thematisierung des Konstruktcharakters und damit der Kontingenz von Weltbildern. Die weiteren fünf Strategien sind impliziter Art. Die Einführung von gleichberechtigten Deutungsmodellen für dargestelltes Geschehen birgt, zweitens, ebenfalls ein metakognitives Wirkungspotential, wie im Zusammenhang mit Multiperspektivität oben erläutert wurde. Drittens kann die Füllung der Slots eines aktivierten Schemas mit Elementen, die konventionell nicht mit dem Schema verbunden werden, Irritationen auslösen und dazu anregen, über das Schema als Schema nachzudenken. 93 Die vierte metakognitive Strategie umfasst die Nichterfüllung eines aufgerufenen Schemas. Der damit ausgelöste Überraschungseffekt kann ebenfalls dazu führen, dass die Leserin über die Gründe für ihr automatisch gewähltes Deutungsschema nachdenkt. „Ein Schema vermag fünftens als Muster in dem Moment bewusst zu werden, in dem notwendige oder hinreichende Merkmalsklassen des Schemas überzeichnet bzw. übersteigert werden.“ (Butter 2007: 73) Die Überzeichnung bedeutet, dass ein gesellschaftlich gültiger Maßstab gebrochen wird. Gedacht sei etwa an die Überfüllung des Schemas ‚Weiblichkeit‘, die zu grotesken Körperproportionen führen kann. Bei der sechsten metakognitiven Strategie führt die „Vermischung mindestens zweier in der Lebenswelt 93 Vgl. Butter (2007: 71): „Wenn etwa in Danielewskis experimentellen Roman House of Leaves ein Index aufgenommen wird (was an sich für einen Roman ohnehin unüblich ist), die Rezipientin in diesem Index dann zuhauf ungewöhnliche Stichwörter mit den entsprechenden Seitenangaben vorfindet (wie beispielsweise „and“ oder „alright“), so kann diese unerwartete Füllung der Slots des Schemas ‚Index‘ potentiell dazu führen, dass die Rezipientin darüber reflektiert, was man konventionellerweise unter einem ‚Index‘ erwartet - nämlich ‚zentrale‘ Stichwörter. Eine solche Reflexion über einen ‚Index‘ als Schema geht unweigerlich einher mit einer Reflexion über kulturell dominante Ordnungskategorien, denn durch die ungewöhnliche Füllung der Slots des aufgerufenen Schema ‚Index‘ stellt sich die Frage, welche Kategorien für die Auswahl zentraler Stichwörter traditionellerweise ausschlaggebend sind.“ <?page no="130"?> 116 Beschreibungs und Analysemodell disparater und inkompatibler Schemata“ (ebd.) dazu, dass ein Bruch mit gesellschaftlichen Ordnungssystemen erfolgt. Alle metakognitiven Strategien holen internalisierte Deutungsschemata „aus ihrer Präreflexivität heraus[…], so dass sich der Rezipientin ein Raum eröffnet, deren Gültigkeit, Prämissen sowie lebensweltliche[n] Auswirkungen zu überprüfen“ (ebd.). Eine solche kritische Selbstreflexivität ist zugleich eine Einübung des Möglichkeitsdenkens. Aus diesen Überlegungen folgt, dass Romane mit metakognitiven Strategien zu einer Visibilisierung von Kontingenz beiträgen. * * Kritische Metafiktion * * Aufbauend auf den Überlegungen zu metakognitiven Strategien kann auch Metafiktionalität als Parameter genutzt werden, um Romane hinsichtlich ihrer Kontingenzvisibilisierung zu skalieren. Ein Funktionspotential von metafiktionalen Schreibweisen ist „die Reflexion der Bedingungen und Möglichkeiten des spezifisch romanhaften Wirklichkeitsbezugs“ (Reinfandt 1997: 247f.). Metafiktionalität kann also genutzt werden, um den Konstruktcharakter der erzählten Wirklichkeit offenzulegen und damit die Aufmerksamkeit auf die Kontingenz von literarischen Weltentwürfen zu lenken. Der Rezipientin bietet sich so die Möglichkeit, kritisch über literarische Schemata und deren Funktionen zu reflektieren. Metafiktionale Schreibweisen mit diesem Wirkungspotential werden im Kontext dieser Arbeit mit dem Begriff ‚kritische Metafiktionalität‘ belegt. Ein Beispiel für dieses Funktionspotential liefert Jane Austens Northhanger Abbey (1818), denn dort dienen die metafiktionalen Elemente dazu, eine Wirklichkeitswahrnehmung, die durch das Gattungsmuster der gothic literature gefärbt ist, in ein kritisches Licht zu rücken. Eine solche Funktionalisierung von Metafiktionalität rückt einen Roman zu einem gewissen Grad in Richtung des Pols Visibilisierung von Kontingenz. Als Endpunkt dieser Skalierung lässt sich allerdings eine spezielle ästhetische Konfiguration ansetzen. In Northanger Abbey dient die Metafiktionalität dazu, die eigene Schreibweise des Realismus gegenüber derjenigen von gothic literature als höherwertig und wünschenswert auszuweisen. Die Metafiktionalität blendet somit eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen gewählten literarischen Form (z.B. dessen blinden Flecken) aus. Demgegenüber erfolgt eine Steigerung des Kontingenzbewusstseins, wenn in einem Roman eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen literarischen Sinnkonfiguration feststellbar ist (z.B. kritische Selbstreflexion der eigenen modernistischen Erzählweise). Ein Beispiel für diese gesteigerte Variante von kritischer Metafiktionalität ist Ian McEwans Atonement, der als siebte Fallstudie dieser Arbeit behandelt wird. Der literarische Möglichkeitssinn wird in diesem Roman selbstreflexiv und lotet die Bereiche aus, die durch die gewählten Erzählverfahren und Gattungsschemata nicht erfasst werden. <?page no="131"?> Kontingenzkonzeptionen im Roman 117 * * Nutzung der Skalierungsparameter * * Die oben erarbeitete Auflistung an narrativen Strategien, die zu einer Visibilisierung von Kontingenz beitragen können, erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr hilft das Raster, Aspekte in den Vordergrund zu stellen, die besonders zentral für die Sensibilisierung für Kontingenz sind. Die aufgezeigten Pole sind dabei Endpunkte eines skalierbaren Kontinuums. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Roman näher an den Pol Visibilisierung von Kontingenz rückt, je häufiger im Schaubild (siehe Abbildung 7) die rechte Seite besetzt ist, wobei die Parameter teilweise interdependent sind. Eine Reihe von Schnittmengen sind oben bereits thematisiert worden. Wird beispielsweise über multiperspektivische Fokalisierung eine Pluralisierung von Raumerfahrung inszeniert, dann geht diese unweigerlich - aufgrund der Interdependenz von Raum und Zeit - mit einer Pluralisierung der Zeiterfahrung einher. Eine solche klare Kopplung ist allerdings bei anderen Kategorien nicht gegeben. So kann etwa problemlos eine Desynchronisation verschiedener Zeitdimensionen inszeniert werden, ohne dass dies notwendigerweise mit einer narrativen Darstellung der Alternativen (Virtualität) einer Handlung oder eines Zustands einhergehen muss. Dazu kommt, dass innerhalb eines Erzähltextes unterschiedliche Elemente eines Parameters miteinander kombiniert werden können. So sei etwa an eine mögliche Unterscheidung zwischen kontrollierbaren und unkontrollierbaren Räumen innerhalb eines Erzähltextes gedacht. Ob eine solche kontrastierende Raumdarstellung tendenziell der Kontingenzvisibilisierung dient, kann nur auf Basis der Analyse des Gesamtextes entschieden werden. Diese einfachen Beispiele illustrieren, dass die einzelnen Parameter innerhalb eines Erzähltextes nicht isoliert, sondern in ihrem Zusammenspiel innerhalb des Gesamttextes, zu betrachten sind. In der vorliegenden Arbeit wird dieses zweite Analyseraster als Bezugsfolie verwendet, um die Romane im Lichte der erarbeiteten Leitfragen zu untersuchen. Ähnlich wie bei dem ersten Raster werden Schwerpunkte gesetzt, d.h. Elemente, die in einem Text bei der Inszenierung der jeweiligen Kontingenzkonzeption eine zentrale Rolle spielen, werden herausgegriffen und mit Hilfe der eingeführten Parameter beleuchtet. Die Analyseparameter zu narrativen Strategien bilden somit einen roten Faden in den Fallstudien der Arbeit, ohne dabei jedoch - wie beim ersten Raster - stets am Ende eines jeden Kapitels noch einmal stichpunktartig zusammengefasst zu werden. Das nachfolgende Schaubild liefert einen konzisen Überblick der Skalierungsparameter für Ästhetiken der Kontingenz. <?page no="132"?> 118 Ästhetiken der Kontingenz 1.) Plot a.) Zufall Wirken von Vorsehung (z.B. providential coincidence) Betonung von Kausalität Betonung der Sinnlosigkeit bzw. Grundlosigkeit des Zufalls (‚no identifiable cause / particular meaning‘) b.) Plotstruktur: geschlossene Plotstruktur (v.a. Teleologie) offene Plotstruktur c.) Möglichkeitshorizont: Aktualität/ Virtualität keine narrative Darstellung der Alternativen (Virtualität) einer Handlung oder eines Zustands (Aktualität) narrative Darstellung der Alternativen (Virtualität) einer Handlung oder eines Zustands (Aktualität) 2.) Figuren Typisierung transparente Physiognomie (typisierte/ individualisierte Figuren) intrapsychische Transparenz Individualisierung opake Physiognomie intrapsychische Intransparenz 3.) Zeit Synchronisation der Zeitdimensionen Desynchronisation verschiedener Zeitdimensionen; Subjektivierung und Pluralisierung von Ereignistemporalitäten 4.) Raum Homogenisierung von Raum und Raumerfahrung; geschlossenes sense of place geordneter bzw. kontrollierbarer Raum Subjektivierung und Pluralisierung von Raumerfahrung offenes sense of place Verlust eines sense of place: Vernichtung des Raums durch Abstraktionsprozesse desorientierender bzw. unkontrollierbarer Raum Visibilisierung von Kontingenz Invisibilisierung von Kontingenz <?page no="133"?> 119 5.) Erzählen auktoriale Erzählinstanz (zuverlässig) Multiperspektivität mit geschlossener Perspektivenstruktur unzuverlässiges Erzählen: die Privilegierung einer Erklärung für das dargestellte Geschehen ist aufgrund von Textsignalen möglich Multiperspektivität mit offener Perspektivenstruktur unzuverlässiges Erzählen: Privilegierung einer Erklärung für das dargestellte Geschehen ist aufgrund von Textsignalen nicht möglich 6.) Metakognitive Strategien keine metakognitiven Strategien metakognitive Strategien 7.) Kritische Metafiktionalität keine kritische Metafiktionalität kritische Metafiktionalität: Kontingenz der eigenen literarischen Perspektive wird betont Abbildung 7: Kriterien zur Skalierung von Ästhetiken der Kontingenz Visibilisierung von Kontingenz Invisibilisierung von Kontingenz <?page no="135"?> III Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive: Modellinterpretationen zum britischen Roman des 19. - 21. Jahrhunderts Das Ziel der nachfolgenden Interpretationskapitel ist es, die in der Einleitung aufgestellten Thesen zu Kontingenz und Literatur im Prozess der Modernisierung zu überprüfen sowie den heuristischen Nutzen des Analysemodells zu demonstrieren. Um die jeweilige Ästhetik der Kontingenz präzise zu erfassen, erfolgt eine Beschränkung auf sieben Romane, die ausführlich untersucht werden: George Eliots Middlemarch (1876), Joseph Conrads The Secret Agent (1907), Virginia Woolfs Mrs. Dalloway (1925), Iris Murdochs Under the Net (1954), Jon McGregors If Nobody Speaks of Remarkable Things (2002), David Mitchells Ghostwritten (1999) und Ian Mc- Ewans Atonement (2001). Der dialogische Antwortcharakter der Romane auf wahrgenommene Kontingenzphänomene ihrer Entstehungszeit sowie auf die hegemoniale Kontingenzkultur nimmt bei den Textanalysen einen zentralen Stellenwert ein. Indem die jeweilige Ästhetik der Kontingenz in einen größeren soziokulturellen Zusammenhang eingebettet wird, können Thesen zu dem Funktionspotential literarischer Kontingenzreflexionen plausibilisiert werden. Die nachfolgende Analyse von Ästhetiken der Kontingenz erhebt keinesfalls den Anspruch auf Vollständigkeit. Dies ist angesichts der großen synchronen Bandbreite an Ästhetiken der Kontingenz sowie der Fülle an literaturgeschichtlichen Entwicklungen vom 19. bis ins 21. Jahrhundert auch gar nicht möglich. Dennoch sind die ausgewählten Romane gut dafür geeignet, unterschiedliche Erscheinungsformen von Ästhetiken der Kontingenz sowie zentrale Entwicklungslinien in der Geschichte literarischer Kontingenzdiagnosen und Umgangsstrategien exemplarisch aufzuzeigen. Um diesen exemplarischen Charakter besser in den Blick zu rücken, erfolgt bei den Fallstudien eine kurze literaturgeschichtliche Kontextualisierung des jeweiligen Romans. Da zu dieser literarhistorischen Kontextualisierung eine vergleichende Betrachtung der Romane gehört, wird im Laufe der Argumentation wiederholt auf die bereits besprochenen Fallstudien Bezug genommen. Ein systematischer Vergleich der erarbeiteten Interpretationsergebnisse erfolgt jedoch erst im Schlusskapitel dieser Arbeit. <?page no="137"?> Daniel Deronda 123 1 Das Kasino als Inbegriff moderner Kontingenzkultur: Organische Gemeinschaft und ‚religion of humanity‘ als therapeutischer Gegenentwurf in George Eliots Daniel Deronda (1876) [G]ambling […] can be seen as a microcosm in which more general issues about the role of uncertainty and chance in human life are played out in concentrated form. It has long been recognised that analysis of what may appear trivial or mundane can generate insights into fundamental aspects of social life. - Reith (1999: 1) Für die Untersuchung der literarischen Modellierung von Gestaltbarkeits- und Widerfahrniskontingenz im 19. Jahrhundert bieten George Eliots Werke einen geeigneten Ausgangspunkt, weil in ihnen ein besonders radikaler Bruch mit der Tradition der ‚providential aesthetic‘ vollzogen wird. 94 Die Ablehnung von göttlicher Vorhersehung zugunsten eines säkularen Determinismus 95 geht in Eliots Romanen einher mit einer zunehmenden negativen Bewertung von Figuren, die an providentialism glauben. Während in früheren Romanen ein solcher Glaube von Figuren toleriert oder sogar „petted as being morally valuable if not theoretically sound“ (Vargish 1985: 217) wurde, erfolgt in Middlemarch (1871/ 72) der Ausweis eines solchen Glaubens als Egoismus (vgl. ebd.: 217): 96 „Here the providential habit of 94 Vgl. Monk (1993: 54): „George Eliot’s treatment of chance […] represents a more thorough and self-conscious break with the providential tradition than anything that came before.“ Vgl. auch Dannenberg (2008: 159): „Preempting later developments in modernist fiction, George Eliot’s novels reveal a key development: the relativizing and foregrounding of the explanation of coincidence.“ 95 Vgl. Levine (1962: 269): „For George Eliot determinism was an entirely secular position - the belief that every event has its causal antecedents. […] Her novels, for example, are not fatalistic, whatever the appearances, since they always make it abundantly, sometimes terrifyingly, clear that her characters’ fate is in large measure of their own making.“ 96 Ein prägnantes Beispiel für die Kopplung des Glaubens an Vorsehung mit Egoismus in Middlemarch liefert die vielzitierte ‚pier-glass‘-Parabel: „Your pier-glass or extensive surface of polished steel […] will be minutely and multitudinously scratched in all directions; but place now against it a lighted candle as a centre of illumination, and lo! the scratches will seem to arrange themselves in a fine series of concentric circles round that little sun. It is demonstrable that the scratches are going everywhere impartially, and it is only your candle which produces the flattering illusion of a concentric arrangement, its light falling with an exclusive optical selection. These things are a parable. The scratches are events, and the candle is the egoism of any person now absent—of Miss Vincy, for example. Rosamond had a Providence of her own <?page no="138"?> 124 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive mind as embodied in the chief characters, particularly in the chief male characters [i.e. Casaubon, Lydgate, Bulstrode, Fred Vincy], becomes a moral and spiritual disorder.“ (Vargish 1985: 217) Für die Kontingenzthematik ist Eliots späterer Roman Daniel Deronda (1876) besonders ergiebig, weil sie mit diesem Werk versucht, den Herausforderungen zu begegnen, die durch ihren realistischen Roman Middlemarch und dessen spezifischen Kontingenzentwurf aufgerufen werden: David Caroll, summing up the contemporary critical reactions to Middlemarch, says that no matter how ‚brilliant the performance, many [reviewers] saw it as a cul de sac of realism and despair‘: by the time of one of Realism’s greatest works the price paid in suffering for the conventional Realistic ending, that is, the protagonist’s arrival at a morally superior self-recognition, was simply too high. As a result, readers wondered if Eliot would ever be able to provide some image of ‚a humanity which … is to be,‘ if she could find some ‚New Gospel to communicate,‘ could ‚advance a new evangel‘ (G.B. Smith, qtd. in Carroll [1971: ] 32). Carroll says outright that ‚Daniel Deronda was George Eliot’s answer‘ to such a challenge (32). (Jackson 1992: 231) Da die Problemlagen der Moderne „im Vergleich zu Middlemarch in Daniel Deronda noch eine Steigerung und Potenzierung [erfahren]“ (Winkgens 1997: 284), ist es besonders interessant zu prüfen, welche Wege Eliot in dem Versuch beschreitet, Lösungen für die krisenhaften Herausforderungen der Moderne sowie ein ‚image of humanity which is to be‘ aufzuzeigen. Kritiker sind sich einig, dass Eliot bei diesem Versuch auch erzählerisch Neuerungen einführt, und zwar in Form der Verlagerung der Handlung aus der Vergangenheit in die zeitgenössische Gegenwart, der jüdischen Thematik, einer „auffällige[n] Dominanz eines evaluativnormativen Erzähldiskurses […], der wie in keinem anderen [Eliot-]Roman ein dichotomisches Wertungsschema von Negation und Affirmation zur Folge hat“ (ebd.) sowie der generischen Hybridität, die mit Erzählkonventionen des Realismus bricht (vgl. ebd.). 97 who had kindly made her more charming than other girls, and who seemed to have arranged Fred’s illness and Mr. Wrench’s mistake in order to bring her and Lydgate within effective proximity.“ (Eliot 1994 [1871/ 72]: 264) Für eine Diskussion dieser Passage mit Blick auf die Kritik an Providentialism in Middlemarch siehe auch Vargish (1985: 61f.). 97 Die vorliegende Analyse von Daniel Deronda versteht sich zudem als Anschlussforschung an Leland Monks Studie Chance and the Modern British Novel (1993), in der Monk sich auf die Analyse von Middlemarch konzentriert und die herausragende Bedeutung der Figur Raffles für die Zufallsthematik diskutiert, deren sprechender Name (raffles = Lotterie) alleine schon den Zufall aufruft: „[T]he inclusion of Raffles in the plot of Middlemarch introduces a new sense of chance in the English novel that focalizes a corrosive critique of the genre’s providential affiliations; and the eventual and violent expulsion of this character, who is morally debased and <?page no="139"?> Daniel Deronda 125 Wie noch zu zeigen sein wird, liefert die Konzentration auf die Kontingenzthematik in Daniel Deronda ertragreiche Impulse für Forschungsdebatten, die sich an der generischen Hybridität des Romans entzündet haben. Für viele Kritiker ist der Roman ästhetisch misslungen, weil er in zwei Teile zerfalle: einen englischen und einen jüdischen Teil. Der englische Teil folgt vorwiegend den Erzählkonventionen des Realismus und widmet sich der Persönlichkeitsentwicklung von Gwendolen Harleth. Diese willenstarke und mit satirischem Geist beseelte junge Frau aus gutem Hause, die eine hohe Faszinationskraft auf ihre Umgebung ausübt, muss - wie so viele von Eliots Protagonisten - auf schmerzhafte Weise lernen, ihren Egoismus zu überwinden. Der jüdische Teil folgt dem Lebensweg von Daniel Deronda, der im Zuge der Entdeckung seiner jüdischen Herkunft sich zur zionistischen Mission berufen fühlt. Die „mythisch-romanzenhaften Form- und Inhaltselemente“ (Winkgens 1997: 283) dieses jüdischen Teils sprengen den Rahmen des Realismus. Andere Forscher stellen eine Zweiteilung des Romans in Frage und betonen demgegenüber die ästhetische Einheit des Werks. Die Handlungsstränge seien nicht nur über die Interaktion von Figuren miteinander verknüpft, beispielsweise indem Deronda als Mentor für Gwendolen agiert, sondern auch über Leitmotive und eine Fülle von Parallelen. 98 Ohne diese Verknüpfungen der Handlungsstränge in Frage stellen zu wollen, hebt die zentrale These der vorliegenden Untersuchung dennoch auf ein grundlegendes Spannungsmoment zwischen dem englischen und dem jüdischen Handlungsstrang ab. Das Spannungsfeld wird durch den Titel dieses Kapitels umrissen: Während der englische Teil die moderne Kontingenzkultur, wie sie symbolisch verdichtet in der Kasinowelt verkörpert ist, in den Blick rückt und als Verfallserscheinung kritisiert (Kontingenzdiagnose), wird im jüdischen Teil ein organizistisches Paradigma sowie das Modell einer ‚religion of humanity‘ zur Heilung der diagnostizierten Modernisierungsprobleme eingeführt (‚Kontingenztherapie‘). Auf tiefenstruktureller Ebene entsprechen der Kontingenzdiagnose und -therapie zwei unterschiedliche Logiken. Der Kasinowelt mit ihrer Orientierung an den Gesetzen des Geldes lässt sich eine ‚Hermeneutik des Mangels‘ zuordnen, d.h. die Erfahrung von Knappheit, Sinndefiziten sowie unaufhebbaren Differenzen. Demgegenüber umfasst der jüdische Teil eine Metaphysik der Präsenz und unworthy of sympathy, works to purge the novel of chance in the name of a secularhumanist moral order founded on sympathy.“ (Monk 1993: 47f.) „John Raffles is stigmatized and ejected from the novel […] also because he is a scapegoat for the disconcerting aspects of chance that threaten to disrupt the moral economy of George Eliot’s fiction.“ (ebd.: 68) 98 Für eine ausführliche Darstellung der Verknüpfungen zwischen den beiden Handlungssträngen siehe Cave (2003: xxx) bzw. zur „Unity of Daniel Deronda“ siehe Carroll (1959). <?page no="140"?> 126 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive damit eine ‚Hermeneutik der Fülle‘. 99 Es sind diese auf tiefenstruktureller Ebene antagonistisch ausgerichteten Hermeneutiken, die zu einem Auseinanderfall des Romans in zwei Teile führen, und zwar auch auf ästhetischer Ebene: Die Hermeneutik der Fülle sprengt die Erzählkonventionen des Realismus zugunsten von romance. Im Folgenden wird zunächst dargelegt, inwiefern das Kasino in Daniel Deronda als Inbegriff für moderne Kontingenzkultur erscheint. Darauf aufbauend werden die Strategien und Modelle analysiert, die als Therapie für die diagnostizierten Verfallserscheinungen eingeführt werden. Ein besonderes Gewicht liegt dabei auf der kritischen Kontrastierung zweier Subjektmodelle in Eliots Roman, nämlich des negativ kodierten Spekulationssubjekts der Kasinowelt und des positiv bewerteten Moralsubjekts, das mit einer ‚Hermeneutik der Fülle‘ verbunden wird. Abschließend werden die generische Hybridität des Romans und vor allem die immanenten Fissuren von Eliots organizistischer ‚Therapie‘ zur Kontingenzaufhebung kritisch diskutiert. 1.1 Kontingenz und Geld: Das Kasino als Emblem der modernen Gesellschaft Bereits die Eröffnungsszene von Daniel Deronda führt Kontingenz als prominentes Thema ein, denn sie zeigt die moderne Gesellschaft als Kontingenzkultur: Mitglieder aus verschiedenen Schichten der europäischen Gesellschaft werden beim Roulette-Spiel in einem deutschen Kasino dargestellt. Versteht man den Zufall als „[d]asjenige, für dessen Existenz es keinen Grund gibt“ (Bubner 1998: 3), so rückt das Glücksspiel diese Provokation des Zufalls in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: Der Zufall lässt sich durch kein Wettsystem zähmen. Für die Zeichnung einer Kontingenzkultur in Form der Kasinowelt ist nicht alleine das Herrschen des Zufalls wichtig, sondern die Verknüpfung von Kontingenz mit einem zweiten Bereich ist von entscheidender Bedeutung: Geld bzw. monetärer Weltorientierung. Die Verknüpfung von Kontingenz mit Geld in der Figur des Glücksspiels verweist auf die Erosion von traditionellen Bindungen und Orientierungssystemen im Zuge von Modernisierungsprozessen, insbesondere der Ausbreitung des Kapitalismus. Indem die Ideale der Aufklärung von der auktorialen Erzählinstanz aufgerufen werden, erfolgt eine ironische Gegenüberstellung dieser Ideale mit der ‚Wert-Freiheit‘ des Geldes. Die „enlightenment of ages“ (DD: 7) habe, so die auktoriale Erzäh instanz, ein solches Kasino für die „species of pleasure“ (ebd.) vorbereitet, doch besteht die „striking admission of human equality“ (ebd.: 8) aus- 99 Die Begriffe ‚Hermeneutik des Mangels‘ und ‚Hermeneutik der Fülle‘ habe ich Jochen Hörischs (1998: 176-189; 2004: 117) Schriften zum Thema Geld entnommen. <?page no="141"?> Daniel Deronda 127 schließlich im monetären Code universaler Äquivalenz. Das legt zumindest die Art und Weise, wie die Spieler beschrieben werden, nahe. Im Geldverkehr werden qualitative Besonderheiten ausgeblendet, und somit erfolgt eine Äquivalentsetzung von Heterogenem mit Blick auf dessen Tauschwert: ‚alles hat seinen Preis‘. Diese Indifferenz des Geldes, die Gleichwertigkeit von Heterogenem, droht jedoch in eine Gleichgültigkeit zu kippen (vgl. Hörisch 1998: 203f.). Es ist eine solche Indifferenz als Gleichgültigkeit, die das Spielkasino charakterisiert. Trotz individualisierender Merkmale wirken die Spieler letztlich doch ununterscheidbar und zudem wie gefühlslose Automaten: „But while every single player differed markedly from every other, there was a certain uniform negativeness of expression which had the effect of a mask - as if they had all eaten of some root that for the time compelled the brains of each to the same narrow monotony of action“ (DD: 9). 100 Das einzige Band, das die Spieler in diesem Raum eint, ist die gemeinsame Aktivität der Wetteinsätze bzw. die Teilnahme am zirkulierenden Geldverkehr. Die Beziehungen zwischen diesen „varieties of European type“ (DD: 8), die mit Blick auf ihre Zugehörigkeit zur Gesellschaftsschicht vom Hochadel bis zum „respectable London tradesman“ (ebd.) reichen, sind somit nicht persönlicher Natur, sondern ausschließlich der monetären Verflechtung geschuldet. 101 Aus 100 Angesichts dieser Beschreibung der Spieler lässt sich das Motiv des Glücksspiels darüber hinaus auch mit dem Thema ‚vocation‘, das in Daniel Deronda eine besondere Rolle spielt, in Bezug setzen. Während Deronda eine Berufung findet, die eine Harmonisierung zwischen individueller Sehnsucht bzw. Begehrensstruktur und öffentlicher Pflichterfüllung ermöglicht, kann das Glücksspiel, wie Walter Benjamin ausgeführt hat, in seiner Erfahrungsqualität mit der Tätigkeit des Lohnarbeiters in der Fabrik verglichen werden. Zwar bildet ein wesentliches Differenzmoment „der Einschlag des Abenteuers“ (Benjamin 1980: 129) im Hasardspiel, doch erfährt sowohl der automatenhafte Glücksspieler als auch der Lohnarbeiter „die Vergeblichkeit, die Leere, das Nicht-vollenden-dürfen“ (ebd.) der eigenen Tätigkeit. Auch die „vom automatischen Arbeitsgang ausgelöste Gebärde [des Fabrikarbeiters] erscheint im Spiel, das nicht ohne den geschwinden Handgriff zustande kommt, welcher den Einsatz macht oder die Karte aufnimmt. Was der Ruck in der Bewegung der Maschinerie, ist im Hasardspiel der sogenannte coup. Der Handgriff des Arbeiters an der Maschine ist gerade dadurch mit dem vorhergehenden ohne Zusammenhang, daß er dessen strikte Wiederholung darstellt. Indem jeder Handgriff an der Maschine gegen den ihm voraufgegangen ebenso abgedichtet ist, wie ein coup der Hasardpartie gegen den jeweils letzten, stellt die Fron des Lohnarbeiters auf ihre Weise ein Pendant zu der Fron des Spielers. Beider Arbeit ist von Inhalt gleich sehr befreit.“ (ebd.) „Das Immerwieder-von-vorn-anfangen ist die regulative Idee des Spiels (wie der Lohnarbeit).“ (ebd.: 132) Daniel Deronda zeigt das Kasino als Welt, die von automatenhaften Menschen bevölkert wird, und ermöglicht somit insgesamt einen Brückenschlag zur modernen Arbeitswelt im Zeichen der Industrialisierung. 101 Vgl. auch Stone (1998: 32): „The scene is an emblem of the market society in its most alienated aspect, a money-state divorced from work, divorced from production, and - since anonymity has replaced personal relations - divorced from love. Money in its <?page no="142"?> 128 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive moralisch-ethischen Werten (‚human equality‘) werden Geldwerte. Wie viele Romane des Realismus im 19. Jahrhundert ist auch Daniel Deronda geprägt durch die intensive Beschäftigung mit der Umstellung persönlicher Beziehungen auf eine indifferente monetäre Verflechtungsordnung (vgl. Hörisch 1998: 99, 101). Die Indifferenz der monetären Verflechtungsordnung verweist auf den ersten Blick auf eine Welt, in der Sinnpotentiale und religiöse Gehalte als Medium kultureller Synthese verlorengegangen sind. Allerdings bedarf diese Diagnose einer Qualifizierung, da die Spieler versuchen, die totalisierende Kontingenzerfahrung, die im Glücksspiel aufgrund des Herrschens des Zufalls angelegt ist, durch strategisches Spielen zu dementieren: „It could surely be no severity of system, but rather some dream of white crows, or the induction that the eighth of the month was lucky, which inspired the fierce yet tottering impulsiveness of his play.“ (DD: 9) Die Aussichtslosigkeit eines solchen Unterfangens, den Zufall zähmen zu wollen, wird in der gerade zitierten Passage durch das Herausstellen der Beliebigkeit der jeweiligen Zufallsberechnungsstrategien unterstrichen. Indem die auktoriale Erzählinstanz die Versuche, den Zufall im Glückspiel zu eliminieren, als Aberglaube entlarvt, erfolgt zugleich eine Aufmerksamkeitslenkung darauf, dass bei diesem Umgang mit Glückspiel religiöse Momente feststellbar sind. Dieser Aspekt eines religiösen Moments, der beim Glückspiel zum Tragen kommt, ist auch in anderen Beschreibungspassagen zu finden. So beginnt beispielsweise Gwendolen Harleth aufgrund ihrer lang anhaltenden Glückssträhne im Spiel, an ihr Glück zu glauben: „She had begun to believe in her luck […]: she had visions of being followed by a cortège who would worship her as a goddess of luck and watch her play as a directing augury.“ (DD: 10) Als sie anfängt zu verlieren, schiebt sie es auf Daniel Deronda, der mit seinem „evil eye“ (ebd.) Fortuna dazu gebracht habe, sich von ihr abzuwenden. Die religiösen Gehalte, die beim Glücksspiel aufgerufen werden und sich im Glauben an Schicksal manifestieren, rücken zudem dadurch in den Vordergrund, dass die auktoriale Erzählinstanz die Ansagen des Croupiers (‚faites votre jeu‘; ‚le jeu ne va plus‘) ironisch als „automatic voice of destiny“ (ebd.: 11) tituliert. Diese religiösen Gehalte bei den Glücksspielaktivitäten unterstreichen, dass bei der modernen „Umstellung von Gott auf Geld“ (Hörisch 1998: 32), das „ausgeschlossene (Ästhetisch- Religiöse) […] zum eingeschlossenen Ausgeschlossenen des Geldes“ (ebd.: 212) wird: „Geld betreut die Dimensionen mit, an deren Erosion es arbeitet.“ (ebd.) Zwar zeigt sich im Glücksspiel in besonderem Maße, wie religiöse Momente im Geld wieder eingeschlossen werden, doch der entscheidende elemental function equals ‚bread‘, the staff of life, but money abstracted from life, as here at the gaming table, is […] sterile and dead.“ <?page no="143"?> Daniel Deronda 129 Punkt bei dieser Bewegung ist, dass diese religiösen Momente nicht als Medium kultureller Synthese dienen. Besonders drastisch wird dies durch die Figur des spielsüchtigen Lapidoth veranschaulicht. Die einzige Form von Bindung, die er an seine Familie hat, ist finanzieller Natur. Ihn interessiert nur, ob seine Familienmitglieder ihm als mögliche Geldquelle dienen können. Dementsprechend prallen auch die Vorwürfe seines Sohnes Ezra Mordecai Cohen, er habe seine Familie verraten und seine eigene Tochter verkaufen wollen, an ihm ab: But in his usual wakefulness at night, he […] went back over old Continental hours at Roulette, reproducing the method of his play, and the chances that had frustrated it. […] These were the stronger visions of the night with Lapidoth, and not the worn frame of his ireful son uttering a terrible judgment. Ezra did pass across the gaming-table, and his words were audible; but he passed like an insubstantial ghost, and his words had the heart eaten out of them by numbers and movements that seemed to make the very tissue of Lapidoth’s consciousness. (DD: 778) Der Fall Lapidoths zeigt den Zerfall der Familie als Folge davon, dass die ausschließliche Orientierung an Zahlen die affektiv-emotionalen Bindungen zum Anderen ersetzt. In einer solchen Welt erscheinen die Menschen einander als Geister („insubstantial ghost“). Die Herauslösung des Individuums aus traditionellen sozialen Ordnungsstrukturen wird auch anhand von Gwendolens Familienverhältnissen veranschaulicht. Um Geld für weitere Wetteinsätze zu haben, beschließt sie, ihre Halskette zu verpfänden. Der Verkauf dieses Erbstücks vom Vater kann im übertragenen Sinn als Ablehnung der eigenen Geschichte und damit zugleich der Zurückweisung einer Einbindung in patriarchalische Traditionsstrukturen interpretiert werden (vgl. auch McCobb 1985: 539). Die Brüchigkeit traditioneller Ordnung manifestiert sich in der Dysfunktionalität der Familie als kleinste gesellschaftliche Einheit, wie sie sich anhand der Familiengeschichte Gwendolens zeigt: Den leiblichen Vater hat sie nie kennengelernt und den inzwischen verstorbenen Stiefvater gehasst, weil er anscheinend ihre Mutter schlecht behandelt hatte. Die Dysfunktionalität der Familienstruktur wird von der auktorialen Erzählinstanz mit dem Verlust kultureller Wurzeln im Sinne eines sense of place korreliert: „Pity that Offendene was not the home of Miss Harleth’s childhood, or endeared to her by family memories! A human life, I think, should be well rooted in some spot of a native land“ (DD: 22). Die Erfahrung von Gemeinschaft bedarf demnach einer affektiv-räumlichen Bindung. Die Tatsache, dass es sich bei der Welt des Glücksspiels nicht um eine Parallelgesellschaft handelt, sondern im Gegenteil das Kasino emblematisch für die moderne Gesellschaft steht, wird dadurch unterstrichen, dass der Glücksspieler und das moderne Spekulationssubjekt im Bereich des Finanzkapitals als zwei Seiten derselben Medaille ausgewiesen werden. So <?page no="144"?> 130 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive kommentiert die auktoriale Erzählinstanz den Verlust des Harleth’schen Familienvermögens durch Börsenspekulationen wie folgt: Gwendolen […] passed her time abroad in the new excitement of gambling, […] having brought from her late experience a vague impression that in this confused world it signified nothing what any one did, so that they amused themselves. We have seen, too, that certain persons, mysteriously symbolized as Grapnell and Co., having also thought of reigning in the realm of luck, and being also bent on amusing themselves, no matter how, had brought about a painful change in her family circumstances […]. (DD: 156) Das Verhalten des Spekulationssubjekts wird in Eliots Roman durchgängig moralisch negativ bewertet. Demnach gibt es beispielsweise keinerlei positive Sympathielenkung für den Spieler Lapidoth. Die Verantwortungslosigkeit der Börsenspekulanten wird beklagt, und insbesondere Gwendolen muss auf schmerzhafte Weise erfahren, dass die Welthaltung, die mit dem Kasino verknüpft ist (‚it signified nothing what any one did, so that they amused themselves‘), ein Irrglaube ist. Deronda, der im Roman als idealisierter Werteträger eingeführt wird, bringt Gwendolen die moralische Leitmaxime „one’s gain is another’s loss“ als Richtschnur für ihr Handeln bei. Man dürfe nicht auf Kosten anderer für sich Vorteile reklamieren. Die moralische Sanktionierung des Verhaltens des Spekulationssubjekts verweist auf die spezifischen Friktionen, welche die dominante Subjektordnung der bürgerlichen Kultur der Moderne durchziehen. Die moderne Kontingenzkultur generiert eine spezifische Hybridisierung der Subjektform: Die Moralität des Berufssubjekts - Mäßigung, Transparenz, Zweckhaftigkeit - bildet sich in der bürgerlichen Kultur in Differenz zur vorgeblichen Disziplinlosigkeit und Unberechenbarkeit des nicht arbeitenden aristokratischen Subjekts. Gleichzeitig bringt die bürgerliche Orientierung an der Kontingenz des potentiell spekulativen Spielfeldes des ‚Marktes‘ und die Abhängigkeit des Handels von einer Sphäre des potentiell exzessiven Konsumtorischen Elemente eines ‚ökonomischen Subjekts‘ hervor, welche sich in Spannung zu bürgerlichen Moralitätsmodellen befinden […]. (Reckwitz 2006b: 104) Während die bürgerliche Arbeitskultur darauf abzielt, „ein in seinen Absichten und seinem Handeln - vor sich selbst und vor anderen - transparentes, ‚offenes‘ Subjekt“ (ebd.: 125) zu etablieren, kehrt das Maßlose in Form des ökonomischen Subjekts zurück, das den Markt als spekulatives Spielfeld behandelt (vgl. ebd.: 128). Statt als Bereich der Transparenz und Disziplin erscheint der Markt als „eine Sphäre des Exzessiven, Artifiziellen und Parasitären“ (ebd.): „Der Markt(platz) stellt sich als ein Ort der visuellen Darbietung von Waren in ihrer faszinierenden Fülle, damit als theatralischer Raum von Objekten und Subjekten dar“ (ebd.). Mit den Elementen des Spektakulären und Spekulativen umfasst der Markt somit zwei Kom- <?page no="145"?> Daniel Deronda 131 ponenten, die einer moralischen und zweckhaften Ordnung entgegenstehen; der Markt prämiert vielmehr das Unberechenbare bzw. die Kontingenz (vgl. ebd.: 129). Der Mangel an Transparenz sowie das Artifizielle und Spektakuläre, die sich häufig in zeitgenössischen Repräsentationen des Marktes und per extensio bei Darstellungen des Spekulationssubjekts finden (vgl. Reckwitz 2006b: 128), kennzeichnen auch die Kasinowelt, wie sie in der Eröffnungsszene von Eliots Roman beschrieben wird. 102 Durch die „uniform negativeness of expression“ (DD: 9) erwecken etwa die Spieler den Eindruck, eine Maske zu tragen. Der kleine Junge, der am Roulettetisch steht, hat den leeren Blick eines „bedizened child stationed as a masquerading advertisement on the platform of an itinerant show“ (ebd.: 8). Von der gleichförmigen Masse hebt sich für Deronda einzig Gwendolen mit ihrer Vitalität ab. Der Eröffnungsparagraph des Romans zeigt in Form der personalen Erzählsituation Derondas Bemühungen, Gwendolen, die im Glücksspiel vertieft ist, zu lesen: Was she beautiful or not beautiful? and what was the secret of form or expression which gave the dynamic quality to her glance? Was the good or the evil genius dominant in those beams? Probably the evil; else why was the effect that of unrest rather than of undisturbed charm? Why was the wish to look again felt as coercion and not as a longing in which the whole being consents? (ebd.: 7) Derondas vergebliche Versuche, Gwendolen zu lesen, sind einer physiognomischen Lektüre geschuldet, wonach der Körper als transparentes Zeichen für die Identität gelesen werden kann. Ästhetische Erscheinung wird mit moralischen Wertungen im Sinne von Kalogagathie (die Einheit des Guten, Wahren und Schönen) korreliert. Der männliche Blick, der versucht, Gwendolen klassifizierend zu verorten, zieht sich leitmotivisch durch den Roman: „Daniel Deronda is a novel dominated by men surveying Gwendolen“ (Sypher 1996: 509). Entscheidend an diesem Motiv der visuellen Überwachung ist allerdings nicht nur die Dimension der patriarchalischen Geschlechterordnung, wonach der Mann als Subjekt und die Frau als Objekt des Blicks in Erscheinung treten. Vielmehr kann der Panoptismus auch als eine Reaktion auf die epistemische Krise gewertet werden, wie sie durch die Kontingenzerfahrung in der Kasinowelt induziert wird: This [opening scene in the casino] is a scene dominated by the surveillance of more than Deronda - the guests, the narrator, are also looking, all caught 102 Für eine ausführliche Untersuchung der „Figure of Theatre“ in Daniel Deronda siehe Marshall (1986: 193-240). Marshall liefert dabei auch eine Analyse der Eröffnungsszene mit Blick auf Theatralität (siehe ebd.: 197). <?page no="146"?> 132 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive in a world of uncertain, shifting positions, a world that generates obsessive surveillance as a way to find anchors. (ebd.: 516) Das Scheitern von Derondas physiognomischer Lektüre deutet darauf, dass in der modernen Kontingenzkultur, wie sie durch die Kasinowelt repräsentiert wird, eine Nicht-Lesbarkeit von Welt herrscht (vgl. Wolf 2002: 317). 103 Das obsessive Beobachten kann somit als Symptom einer epistemischen Krise gedeutet werden sowie zugleich als (vergebliche) Strategie, um diese Krise zu meistern. Den Spekulationssubjekten der Kasinowelt wird insgesamt entweder der Status als Mensch abgesprochen (sie sind Automaten) oder sie erscheinen als intransparent. Derondas Wahrnehmung von Gwendolen unterstreicht zudem die vorher geschilderte Identitätslogik, wonach Intransparenz nicht zum Code des bürgerlichen Arbeits- und Moralsubjekts gehört. Gwendolens dynamische Qualität, die es unmöglich macht, sie eindeutig zu lesen, wird von Deronda moralisch negativ kodiert, da er vermutet, dass die Unruhe in ihrem Gesicht eher einem „evil genius“ geschuldet sei. Auch die anderen beiden Momente - das Parasitäre und das Artifizielle - können Gwendolen als Spekulationssubjekt zugeordnet werden. Gwendolen ist insofern artifiziell, als sie stets auf „Eindrucksmanipulation […] [bei der] Selbstdarstellung auf der Bühne des gesellschaftlichen Rollenspiels“ (Winkgens 1997: 296) abzielt. Das Parasitäre haftet ihr gemäß den Sympathielenkungsstrategien im Roman zunächst dadurch an, dass sie bereit ist, Vorteile für sich selbst auf Kosten anderer zu erwirken. Für dieses Verhalten wird sie gemäß des Wertemodells von Eliots Roman abgestraft. Zwar steht das Spekulationssubjekt in Spannung zum Moralsubjekt, doch fällt bei Derondas Wahrnehmung Gwendolens deutlich auf, dass er von ihr fasziniert ist. Das Spekulationssubjekt, das eine ludische Orientierung an „Situationen der Ungewissheit und des Gewinns“ (Reckwitz 2006b: 132) einnimmt, wird zwar unter „den Verdacht des Exzessiven, Artifiziellen und Parasitären“ (ebd.: 133) gestellt, dennoch wirkt es zugleich als das Andere anziehend auf das Moralsubjekt. Die libidinöse Aufladung von Derondas Blick, die durch das semantische Wortfeld des Begehrens deutlich wird („longing“, „wish“), und seine gleichzeitige Abwehr dieser Gefühle durch die Einnahme einer distanziert-kontemplativen Haltung, verweisen auf ein weiteres Feld des Riskanten für das Moralsubjekt: das Feld der Erotik. Als kurzes Zwischenergebnis der bisherigen Untersuchung der beschriebenen Kasinowelt lässt sich festhalten, dass durch das Motiv des Glücksspiels die moderne Erfahrung von Kontingenz spezifisch auf die ökonomische Ordnung hin fokussiert wird. Die Welt des Kasinos zeichnet 103 Zu Physiognomiebeschreibungen als Indiz für Kontingenzkonzeptionen siehe Kap. II.3.3 der vorliegenden Arbeit. <?page no="147"?> Daniel Deronda 133 sich durch das Parasitäre, das Exzessive und Intransparenz aus. Es ist eine Welt, in der das Subjekt, wie das Beispiel Gwendolens zeigt, jegliche Wurzeln bzw. Verankerung in einer sozialen Gemeinschaft verloren hat. Affektiv bindende soziale Beziehungen werden durch unpersönliche monetäre Verflechtungen ersetzt. Europas Führungsschichten vernachlässigen ihre Pflichten zugunsten eines spielerischen Zeitvertreibs. Die negative Bewertung der kontingenten Welt des Kasinos zeigt sich in den spezifischen Isotopien, welche die Beschreibung des Kasinos durchziehen: Verfall, Klaustrophobie, Kommunikationsverlust und Dunkelheit lassen sich als dominante semantische Felder in den Beschreibungspassagen feststellen. Kann die Transparenz der Physiognomie als metonymischer Verweis auf eine epistemologische Grundposition gelesen werden, so lohnt es sich, zu diesem Aspekt mit Blick auf das Thema Geld kurz zurückzukehren. Einerseits wird Gwendolens Intransparenz an späterer Stelle von der auktorialen Erzählinstanz durch Gwendolens psychische Komplexität erklärt, die eine simplifizierende physiognomische Lektüre unmöglich macht: „the iridescence of her character - the play of various, nay, contrary tendencies“ (DD: 42). Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass das Motiv der Intransparenz zunächst im Kontext des Glücksspiels eingeführt wird und damit, wie oben erläutert, einer monetären Welthaltung. Wie das Beispiel Lapidoths zeigte, zählen in der Welt des (obsessiven) Glücksspielers nicht Worte, sondern Zahlen (siehe auch Hörisch 1998: 73). Damit deutet sich eine entscheidende hermeneutische Dimension der monetären Ordnung an: „die Entwicklungslogik des Geldes“ (ebd.) führt zu einem „Ende der referentiellen Ordnung“ (ebd.). Geldwirtschaft funktioniert auf Basis einer „Geldillusion - der Illusion also, Geld sei ein (gedeckter) Wert an sich, der jederzeit in andere Werte konvertierbar sei“ (ebd.: 81). Gerade die finanziellen Verluste durch Börsenspekulation, die auch die Harleths schmerzlich treffen, offenbaren, dass Geld als Medium „nicht einmal den Anspruch stellen kann […], seine eigenen Aussagen seien gedeckt“ (ebd.: 33): Die „‚Immaterialität‘ des Geldes ohne eine Deckung durch Gold findet ihr Pendant in Aktien und Obligationen von und für Aktiengesellschaften, deren Wert scheinbar durch die individuellen Notierungen der ausgegebenen Aktien repräsentiert wird“ (ebd.: 89). Auf tiefenstruktureller Ebene lässt sich somit eine Homologie feststellen, und zwar zwischen der Simulationskraft des Geldes und den Simulationen der Akteure, die sich im Raum des spekulativen Geldverkehrs bewegen. Die epistemologische Krise in der Welt des Kasinos, mit der Eliots Roman beginnt, rückt die Verflechtung von Kontingenz und Geld in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit. Das Eröffnungsszenario von Daniel Deronda ist hinsichtlich der darin aufgefächerten Kontingenzthematik ausführlich behandelt worden, weil der Rest des Romans sich als ein Plädoyer gegen die moderne Kontingenzkultur des Kasinos liest (vgl. auch New 1985: 197): <?page no="148"?> 134 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Gambling can be grasped sociologically as a form of exchange; indeed, as its purest form. It is simply the exchange of money itself; exchange liberated from the viscous medium of objects. […] Contemporary gambling is thus emblematic of the most advanced tendencies of modernity […] [: ] [t]he dematerialisation of reality; the dissolution of all its forms into transitoriness and transitions […]. (Ferguson 1999: xvi) 104 Die Kritik der Kasinowelt konzentriert sich vor allem auf moralische Verantwortlichkeit. Im Rahmen von George Eliots säkularem Determinismus wird Erfahrung nämlich als „great moral teacher in the world“ (Levine 1962: 278) bewertet: [A]ccording to George Eliot and to most determinist moral philosophers, a deterministic universe is the only kind of universe in which moral acts are possible. In a wholly or even partially undetermined universe, every act would be capricious because it need not be the result of one’s own past thinking and experience or of one’s consciousness of its possible effects. (ebd.: 277f.) Von einer solchen Warte aus erscheint eine Konzeption vom objektiven Zufall bzw. die Welt modernen Glückspiels notwendigerweise als bedrohlich für ein gelebtes humanistisches Wertesystem, wie es durch das Moralsubjekt verkörpert wird. Eine deterministische Welt enthebt gemäß der Eliotschen Textwelten somit nicht von moralischer Verantwortung, sondern das genaue Gegenteil ist der Fall: „Since […] every act, no matter how trivial, has a vast number of consequences […], it behooves every human being to exercise the greatest care in his actions to avoid causing misery to others.“ (ebd.: 272) Eliots Werke lenken in diesem Zusammenhang die Aufmerksamkeit darauf, dass der Mensch zumindest ein Stück weit fähig ist, an seinem Charakter zu arbeiten, indem er sein Vermögen zur kritischen Selbstreflexion und zum imaginativen und empathischen Perspektivenwechsel entfaltet (vgl. ebd.: 276f.). In Daniel Deronda wird diese Möglichkeit zur Charakterarbeit am Beispiel von Gwendolens Entwicklung illustriert (siehe unten). Auf diese Weise wird eine deterministi- 104 Ausführlich zur soziokulturellen Bedeutung des Glückspiels in der westlichen Kulturgeschichte siehe Reith (1999). Reith stellt unter anderem dar, welche tiefgreifenden Wandlungen sich im Bereich des Glückspiels im 19. Jahrhundert vollzogen haben: „In the nineteenth century, various changes occured which dramatically changed the face of gambling. The commercialisation of games of chance during the Industrial Revolution converged with the commercialisation of economic life and with the denouement of probability theory - the science that had ‚tamed‘ chance. As the calculation of odds became more fully understood, the nature of the games played changed so that they became more amenable to commercial organisation, more homogeneous and, ultimately, more ‚sellable‘. It is in this period that the recognisably modern forms of the casino, the public racetrack and the mechanised slot-machine first appeared.“ (74) <?page no="149"?> Daniel Deronda 135 sche Welt mit dem Postulat einer selbstmächtigen Handlungsfreiheit des Subjekts vereinbart: If we mean by free ‚uncaused‘, then our actions are never free […]. But if we are willing to shift the meaning of ‚free‘ to ‚capable of reasonable choice in accordance with our motives‘ (which is all the novels or letters [= of G. Eliot] allow), then there is no conflict between determinism and ‚freedom‘. (278) Die Umerziehung des Spekulationssubjekts (Gwendolen) dient in Daniel Deronda dazu, die Bedrohung der humanistisch-moralischen Ordnung durch die moderne Kontingenzkultur abzuwenden. Das Anschreiben gegen die Kasinowelt richtet sich zudem gegen das mit der Kontingenzkultur implizit verbundene Geschichtsverständnis. Wenn die historische Praxis durch das Wirken von objektiven bzw. blinden Zufällen bestimmt ist, dann gibt es keinen Sinn in der Geschichte. Vielmehr ist Sinn stets das Ergebnis einer Konstruktionsleistung des ‚story telling animal‘, das zur Sinnstiftung auf Emplotment-Muster, etwa in Form eines teleologischen Geschichtsverständnisses, zurückgreift. Die enge Verwobenheit der oben skizzierten Kontingenzkultur mit der Frage nach einem sinnhaft aufgeladenen Geschichtsverlauf wird dadurch herausgestellt, dass der Beschreibung der Kasinowelt ein Epigraph unmittelbar vorangestellt wird, in dem das Bedürfnis des Menschen nach „the make-believe of a beginning“ (DD: 7) sowohl im Bereich der Dichtung als auch der Naturwissenschaft thematisiert wird. Der nachfolgende in medias res Anfang des Romans liest sich als ästhetische Konsequenz aus der im Epigraph formulierten Einsicht, „[n]o retrospect will take us to the true beginning“ (ebd.; vgl. auch Sypher 1996: 515f.). Im Laufe von Daniel Deronda werden eine ganze Reihe von verschiedenen Strategien eingeführt, die darauf ausgerichtet sind, eine Sinndimension im Geschichtsverlauf zu identifizieren sowie die mit der monetären Verflechtungsordnung verbundene Gleichgültigsetzung von Werten und Traditionszusammenhängen aufzuheben. Die Umgangsstrategien mit Kontingenz zielen demnach auf eine Kontingenzaufhebung ab. Eine grundlegende Strategie zur Reaktivierung von verbindlichen Werten und Traditionszusammenhängen, die einer monetären Kontingenz des Beliebigen entgegenwirken, findet sich bereits zu Beginn des Romans. Wenn Deronda die Halskette kauft, die Gwendolen vorher für Geld versetzt hatte, so gibt er ihr damit in mehr als nur einer Hinsicht ein Erbstück wieder. An vielen Stellen des Romans wird Derondas Kaufvorgang der Kette, also das ‚repurchasing‘, mit seiner ‚redemption‘ von Gwendolen verknüpft (vgl. z.B. DD: 324). 105 Tatsächlich bewirkt Deronda Gwendolens ‚redemption‘ 105 Diese Kopplung von ‚repurchase‘ und ‚redeem‘ zeigt sich auch beim Vergleich der Abweichungen zwischen der Erstausgabe (1876) und der Cabinet Edition (1876): <?page no="150"?> 136 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive insofern, als sie durch seinen Einfluss lernt, ihren Egoismus zu überwinden und sich ein Stück weit für die „Offenheit und Weite einer […] Welt der Transzendenz“ (Winkgens 1997: 318) zu öffnen. Durch die Internalisierung von Derondas Wertvorstellungen erfolgt eine „Absage an ihr verfehltes Leben“ (ebd.: 318). Zu ihrer Integration in „gemeinschaftlich[e] Wertstrukturen“ (ebd.: 300) gehört, dass sie am Ende des Romans (scheinbar) organische Wurzeln in Offendene, wo sie alleine mit ihrer Mutter nach dem Tod ihres Ehemanns Grandcourt lebt, findet (vgl. ebd.: 318). 106 Derondas Rückkauf der Kette kann als die Reaktivierung des Teils der Kultur gesehen werden, der durch die Welt des Glücksspiels verloren geht: die Orientierung an organischen Wurzeln und die Zugehörigkeit zu einer gemeinschaftlichen Wertstruktur, wobei letzteres insbesondere eine patriarchalische Wertstruktur bedeutet. Während Gwendolen mit dem Verkauf ihrer Kette metaphorisch gesehen kulturelle Werte somit zunächst preisgibt, ist Deronda um die Schaffung eines ‚Draußen‘ der Zirkulation bemüht, indem er die Kette der Warenzirkulation entzieht: 107 Die Kette soll unveräußerlich bleiben. Angesichts der symbolischen Bedeutung, mit der Gwendolens Erbstück aufgeladen ist, kann dieses Objekt als ‚Personen-Ding‘ (Maurice Godelier) charakterisiert werden, d.h. als zugehörig zu denjenigen „Dinge[n], zu denen strukturell gehört, dass sie nicht hergegeben, getauscht oder veräußert werden können, ohne dass dabei das Ich oder ein Kollektiv selbst verloren zu gehen droht“ (Böhme 2006: 304). In dem vorliegenden Fall geht es um die identitätsbedrohliche Komponente einer Herauslösung des Individuums aus Gemeinschaftsstrukturen. Die Kette wandelt sich für Gwendolen von einem Tauschobjekt zum Personen-Ding insofern, als dieses Erbstück im Zuge von Derondas ‚redemption‘ für sie fetischhafte Qualitäten gewinnt: But the movement of mind which led her to keep the necklace, to fold it up in the handkerchief, and rise to put it in her nécessaire, where she had first placed it when it had been returned to her, was more peculiar, and what would be called less reasonable. It came from that streak of superstition in Während in der Erstausgabe noch „the drama of redeem“ und „redemption“ steht, wird dieses religiöse Vokabular durch ein ökonomisches Register in der Cabinet Edition ersetzt: „the story of repurchase“ und „repurchase“ (siehe die Übersicht in Eliot 2003: 849). 106 Ob man Gwendolens Entwicklung tatsächlich als eine gelungene Reintegration in eine Form von organischer Gemeinschaft werten kann, wird an späterer Stelle ausführlich diskutiert. 107 Ausführlich zur Struktur des ‚Draußen‘ und ‚Drinnen‘ der Warenzirkulation siehe Böhme (2006: 302). Gemäß Hartmut Böhme ist die Sphäre eines ‚Draußen‘, d.h. eines Arsenals an Dingen bzw. Unikaten, die unveräußerlich sind, eine Möglichkeitsbedingung für den Warenfetischismus, da Waren mit Werten und der Aura aus diesem Bereich aufgeladen werden bzw. ein Abglanz dieses Bereichs erhalten, um Verkaufsanreize zu schaffen. <?page no="151"?> Daniel Deronda 137 her which attached itself both to her confidence and her terror--a superstition which lingers in an intense personality even in spite of theory and science; any dread or hope for self being stronger than all reasons for or against it. Why she should suddenly determine not to part with the necklace was not much clearer to her than why she should sometimes have been frightened to find herself in the fields alone […]. It was something vague and yet mastering, which impelled her to this action about the necklace. (DD: 276f.) Das Erbstück darf deshalb nicht in die Warenzirkulation eintreten, da es - so die implizite Logik innerhalb Daniel Deronda - Gwendolen mit der Genealogie ihrer Abstammung verkettet und sie somit in Traditionszusammenhänge verortet. 108 Aus diesem Grund ist das Erbstück „ich-nah, ein intimes Ding geworden. Es verkörpert das Ich, so wie umgekehrt das Ich sich in ihm verdinglicht hat“ (Böhme 2006: 305). Gwendolens abergläubische Angst vor einem nochmaligen Verkauf der Kette verdeutlicht, dass „in dem Moment, wo ein Ding mit dem Status des Unveräußerlichen belegt wird […], [sich] seine ontologische Struktur [transsubstantiiert]“ (ebd.: 306): Es wird sakral. Es sind solche heiligen Dinge, die das Individuum davor schützen sollen, selbst zum Tauschobjekt zu werden, indem dem Drinnen der Zirkulation eine Sphäre des Unveräußerlichen entgegengehalten wird (vgl. ebd.: 307). Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Wandlung der Kette von einer Tauschware zu einem Ich-Ding sich für Gwendolen allerdings erst unter Derondas Einfluss vollzieht. So zeigt sich bereits an diesem hochsymbolischen Akt, welche Form Derondas redemption des Spekulationssubjekts annimmt. Er arretiert die sinnleeren, flottierenden Signifikanten des Marktes zugunsten der Generierung einer Sphäre des ‚Draußen‘. 109 Löst man sich von dem engeren Fokus auf die Bedeutung von Dingen zugunsten der reinen Übersetzungsbewegungen, so lässt sich die Strategie, mit der die Beliebigkeit der Zirkulation aufgehoben wird, wie folgt zuspitzen: Deronda verwandelt Geld in Werte. Sein Vorgang des repurchase bzw. redemption von Gwendolens Kette bedeutet schließlich nichts anderes, als dass er im Tausch für Geld das Erbstück erhält, das wiederum metonymisch für eine gemeinschaftliche Wertstruktur steht. So unwahrscheinlich die Formel ‚Geld wird in Werte verwandelt‘ auch lauten mag, sie liegt dennoch eine Reihe von Motiven im Roman zugrunde. Ein weiteres zentrales Beispiel für diese Bewegung bildet Derondas moralische Leitmaxime, die Gwendolen schließlich auch als Richtschnur ihres Handelns dienen wird: „one’s gain is another’s loss“. Diese Einsicht soll zur Überwindung der eigenen Selbstzentriertheit beitragen, indem man 108 Zu dieser Funktion von Dingen siehe auch Böhme (2006: 303). 109 Ausführlich zu den ‚sinnfreien, flottierenden Signifikanten‘ des Tauschverkehrs vgl. Böhme (2006: 303). <?page no="152"?> 138 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive sich der Auswirkung des eigenen Handelns auf andere gewahr wird und möglichst versucht, andere nicht zu schädigen, auch wenn man dafür selbst schmerzhafte Opfer bringen muss. Es ist aufgrund der Gewinn/ Verlust-Formel, dass Deronda so entschieden das Glücksspiel ablehnt: „there is something revolting to me in raking a heap of money together, and internally chuckling over it, when others are feeling the loss of it. […] There are enough inevitable turns of fortune which force us to see that our gain is another’s loss.“ (DD: 337) Die Konvertierungsbewegung, die sich gegen die Indifferenz der monetären Ordnung richtet, liegt auch Derondas gerade zitiertem moralischen Werturteil zugrunde. Geld steht „im Zeichen eines universalen Mangels“ (Hörisch 1998: 181), d.h. es muss knapp sein, da ansonsten Inflation droht (vgl. ebd.). Deronda nutzt in seiner moralischen Formel die religiös/ moralisch-monetäre „Doppeldeutigkeit des Schuldverständnisses“ (Hörisch 2004: 114) und kodiert die binäre Logik der Knappheit, die Geld zueigen ist, in eine moralische Verhaltensmaxime um. 110 Im Folgenden soll die Analyse der Kontigenzumgangsstragien in Daniel Deronda weiter vertieft werden, indem zunächst auf den Kontrastentwurf zur Kontingenzkultur, wie sie exemplarisch durch die Kasinowelt gezeichnet wurde, eingegangen wird. In einem zweiten Schritt richtet sich der Untersuchungsfokus auf die Verknüpfung der Kontingenzthematik mit spezifischen Subjektmodellen. 1.2 Der Kontrastentwurf zur Kasinowelt: Organische Gemeinschaft in Form des Judentums und der Entwurf einer ‚religion of humanity‘ Durch die Darstellung der Kasinowelt in Daniel Deronda werden zwei grundlegende Themenkomplexe eingeführt, zu denen jeweils im weiteren Verlauf des Romans Kontrastentwürfe entwickelt werden (vgl. McCaw 2000: 100). Der erste Themenkomplex betrifft die moralische Korrumpiertheit der europäischen Gesellschaft, die durch die egoistische Vergnügungssucht der Spieler bzw. der Repräsentanten tragender Gesellschaftsschichten dargestellt wird. Die Leserlenkungsstrategien in Form der Wertungen der auktorialen Erzählinstanz legen nahe, dass die moralische Korrumpiertheit nicht alleine der hedonistischen Selbstzentriertheit dieser „species of pleasure“ (DD: 7) geschuldet ist. Vielmehr bildet die Kontingenzkultur eine wichtige Facette dieses negativen moralischen Werturteils: „characters relying on Chance and not actively engaging with history in order to shape their own destinies“ (McCaw 2000: 100). Eine dominante Orientierung an 110 Für eine ausführliche Diskussion von Bezügen zwischen dem doppeldeutigen Schuldverständnis in Daniel Deronda und der Philosophie Schopenhauers siehe McCobb (1985). <?page no="153"?> Daniel Deronda 139 dem Zufall birgt gewichtige Auswirkungen auf das eigene Handeln. Kausalität als Grundlage für moralische Handlungsentscheidungen, d.h. eine Berücksichtigung der kausalen Auswirkungen des eigenen Handelns auf andere Personen, wird als Handlungsmaxime verworfen (vgl. McCobb 1985: 537). Zu diesem ersten Themenkomplex des moralischen Wertemodells gehört auch die zuvor herausgearbeitete Umstellung von persönlichen Beziehungsketten zu einer unpersönlichen Verflechtungsordnung im Zuge der Ausbreitung des Kapitalismus. Der zweite Themenkomplex zielt auf das Geschichtsverständnis ab: Das Herrschen des Zufalls, so wie er sich in der Kasinowelt zeigt, kann als Verweis auf die Abwesenheit eines kohärenten historischen Prozesses gelesen werden (vgl. McCaw 2000: 100). Beide Themenkomplexe werden in den nachfolgenden Romankapiteln vertieft. Die kulturkritische Diagnose, dass England durch den Verlust einer organischen Gemeinschaft sowie einer lebendigen Kultur und Tradition leidet, durchzieht die Beschreibung des zeitgenössischen Englands in Eliots Roman. So kann etwa die Zeichnung des dekadenten englischen Aristokraten Henleigh Grandcourt als Inszenierung einer „crisis of Englishness“ (McCaw 2000: 104) interpretiert werden (vgl. auch Beer 2009: 187 und Caroll 1992: 280-282). Die Aktivitäten des egoistischen und gefühlskalten Grandcourts beschränken sich alleine darauf, seinen sadistischen Herrschaftswillen gegenüber seiner Umwelt auszuleben. Er kann insofern als symptomatisch für die Erosion verbindlicher moralisch-gesellschaftlicher Werte gesehen werden, als ihm jegliche „idea of a moral repulsion“ (DD: 671; vgl. auch McCaw 2000: 108) fehlt, da er sein eigenes Handeln nur nach „[the] gratification of mere will, sublimely independent of definitive motive“ (DD: 150) ausrichtet 111 und zu keinerlei Empathie (‚sympathy‘) fähig ist. Der Beitrag dieses Mitglieds der Führungsschicht zur state of nationhood ist darauf beschränkt, Ländereien zu erben. Grandcourts Abstinenz von sozialem oder politischem Engagement kommt dem Verzicht auf eine aktive Rolle im historischen Prozess gleich: „Eliot makes a direct connection between this vision of masculine (in)activity and a debilitating nation state, a state peopled by individuals who have no defined historical consciousness.“ (McCaw 2000: 109) Ein besonders pointiertes Bild für den Verlust einer lebendigen Tradition in England, die zu einer vitalen Gemeinschaft und Sinnstiftung hätte beitragen können, ist Sir Hugos Nutzung einer alten Abtei als Stall für seine Pferde: „the beautiful choir [had] long ago [been] turned into stables, in the first instance perhaps after an impromptu fashion by troopers, who had a pious satisfaction in insulting the priests of Baal and the images of Ashtoreth, the queen of heaven“ (DD: 419). Die Isotopien, welche die Beschreibung der nun mehr profanisierten Kirchenräume durchziehen, wie 111 Für eine Schopenhauerische Deutung dieser Zeichnung von Willen in Daniel Deronda vgl. McCobb (1985). <?page no="154"?> 140 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive etwa Verstümmelung (z.B. „defaced“, „maimed“, „broken“, „gutted“, „mutilated“, ebd.) oder Staub, charakterisieren die christliche Tradition als „a pathetic inheritance in which all the grandeur and the glory have become a sorrowing memory” (DD: 366). Die Isotopielinie der Einschließung („walled in with brick“, „filled in with brick“, DD: 419), die ebenfalls bei der Beschreibung der Kirchenräume prominent zutage tritt, verweist auf eine fehlende Verbindung dieser alten christlichen Tradition mit der jetzigen Form der Gesellschaft. Von den zwei Elementen des historischen Lebens, die gemäß der auktorialen Erzählinstanz unseren „sense of union with what is remote“ (DD: 366) in den Bereich der Dichtung heben können, nämlich „the faint beginnings of faiths and institutions, and their obscure lingering decay“ (ebd.), gehört die christliche Tradition zur ‚lingering decay‘. Dies legt die Beschreibung der Abtei nahe. Mehr noch, die Charakterisierung der christlichen Tradition als Götzendienst, die durch den Verweis auf „priests of Baal and the images of Asthoreth“ impliziert wird, verdeutlicht, dass in Eliots Generation das Christentum nicht mehr als eine Quelle authentischer Sinnstiftung wahrgenommen wird. 112 Insgesamt kommt dem Christentum nicht mehr eine „Gemeinschaft stiftende und gemeinsame Wertüberzeugungen vermittelnde Rolle“ (Winkgens 1997: 102) zu, da sie nicht mehr „in die Alltagskultur voll integrier[t]“ (ebd.) ist. Die Zeichnung von England als eine entfremdete und vitalitätslose Kulturform, eine „dead anatomy of culture“ (DD: 365), wird bei der Beschreibung von Derondas Erfahrung seiner englischen Lebenswelt und der Sehnsüchte, die das Leiden an der Lebenswelt generiert, fortgesetzt. [W]hat he longed to be yet unable to make himself - an organic part of social life, instead of roaming in it like a yearning disembodied spirit, stirred with a vague social passion, but without fixed local habitation to render fellowship real […]. (DD: 365) Deronda sehnt sich danach, Teil einer organischen Gemeinschaft zu sein, die ihm Orientierung und Sinn geben würde. Die gesellschaftliche Lebensform in England ist jedoch eine, mit der er „sich nicht identifizieren, in der er sich nicht ‚verwirklichen‘, die er sich nicht ‚zu Eigen‘ machen kann“ (Jaeggi 2005: 15). Derondas Erfahrung der Entfremdung wird vor dem Hintergrund eines romantischen Organizismus-Konzepts erklärt (vgl. Jackson 1992: 243f.). Das Ideal, ein „organic part of social life“ zu sein, hat wiederum weitreichende Folgen hinsichtlich der Möglichkeiten des Indivi- 112 Siehe hierzu auch die Erläuterung von Terence Cave in den Anmerkungen zur Penguin Ausgabe von Daniel Deronda: „[I]n the context of the novel as a whole, the Old Testament theme of the adoration of false idols by the Israelites takes on the further resonance of a lost authenticity, and, more widely still, of a world-historical processs (when Deronda takes off his hat a moment later, p. 420, it is an involuntary response to the half-effaced historical - and numinous - life of the place).“ (Cave 2003: 830, FN3) <?page no="155"?> Daniel Deronda 141 duums, die eigene Entfremdungserfahrung in der modernen Gesellschaft überwinden zu können: With Daniel, Eliot shows us […] the modern situation of wanting intensely but knowing that the object of desire cannot be attained because it is capable of being wanted: those who are organic parts of social life could not know such want, and in any case an organic part of an organism cannot be consciously ‚made‘, because in having been so made it will not be organic, but artificial. Daniel in fact desires to elude the consciousness of his own ungroundedness, desires to be grounded in culture in such a way that he does not ‚know‘ his essence is of that culture or in such a way that if he does know, he cannot explain the essence of that grounding: it must simply be. (ebd.: 237) Der Verlust der Zugehörigkeitserfahrung zu einer organischen Gemeinschaft führt somit, wie das Beispiel Deronda und Gwendolen zeigt, zu einer Erfahrung der Lebenswirklichkeit als kontingent. Dementsprechend betrachtet Deronda sein Unwissen über seine genealogische Herkunft als Quelle für seine Orientierungs- und Entscheidungslosigkeit hinsichtlich seines Lebensweges. Derondas Sichtweise zufolge verspräche ihm möglicherweise das Wissen über seine Herkunft dabei zu helfen, „to make his life a sequence which would take the form of duty - […] [thereby saving] him from having to make an arbitrary selection where he felt no preponderance of desire“ (DD: 468; m.H.). Als zentrale Strategie zur Kontingenzaufhebung in Daniel Deronda erscheint „sharp duty“ (ebd.: 469), und zwar in Form eines Geburtsrechts; es ist die Erwartungshaltung von Pflichterfüllung, die den kontingenten Handlungsraum zugunsten eines klar vorgezeichneten Pfades aufhebt. Derondas Leiden an einem als kontingent empfundenen Handlungsraum und seine dadurch entstehende Entscheidungs- und Handlungsparalyse wird durch seine „many-sided sympathy“ (DD: 364) verstärkt: „His imagination had so wrought itself to the habit of seeing things as they probably appeared to others, that a strong partisanship, unless it were against an immediate oppression, had become an insincerity for him.“ (ebd.) Das Bewusstsein einer absoluten Relativität bzw. Kontingenz von Standpunkten macht in Derondas Fall das Einschlagen einer „definite line of action“ (DD: 365) unmöglich. Mit dieser Kritik an einer exzessiven Ausprägung von „flexible sympathy“ (DD: 364) erkundet Eliot nicht nur die Grenzen von sympathy als moralischer Leitkategorie. 113 Vielmehr wird die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass ohne eine organische Verwurzelung des Individuums, welche die Relativität aller Standpunkte zu einem gewissen Grad aufhebt, die entfremdende Kontingenzerfahrung in der Moderne 113 Vgl. Carrol (1992: 285ff.). Für eine Analyse von Derondas exzessiver Sympathie und ihre Bewertung siehe auch During (1993) und Jaffe (2000: 130ff.). <?page no="156"?> 142 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive nicht aufgehoben werden kann. Bei Deronda ist es die Entdeckung seiner jüdischen Herkunft, die ihm eine Berufung und eine klare Privilegierung von Handlungsoptionen und Standpunkt - bei aller immer noch vorhandenen sympathy für andere - gibt. Als regulatives Leitideal und positives Kontrastmodell zu der ludischen Kontingenzkultur und der entfremdenden Entwurzelung des Individuums in der Moderne wird in Daniel Deronda der Judaismus eingeführt. Eine zentrale Figur im Kontext der jüdischen Thematik ist der Jude Ezra Mordecai Cohen, den Deronda zufällig kennenlernt, als er sich auf die Suche nach der Familie einer jüdischen Frau namens Mirah Cohen begibt, die er ebenfalls zufällig kennengelernt hatte und in die er sich verliebt. Wie von vielen Kritikern bemerkt, nimmt Mordecai, der sich später überraschenderweise als Mirahs Bruder entpuppt, in Daniel Deronda Züge eines biblischen Propheten an. 114 In Mordecais Vision erfährt das Paradigma einer organizistischen Gemeinschaft eine konkrete Füllung. Er beschwört die „Wiedergeburt einer jüdischen Nation aus dem Geist jüdischer Texttradition und der Bindekraft rassischer Gefühlskodierung und damit die Erneuerung eines organischen Zentrums nationaler Gemeinschaftlichkeit“ (Winkgens 1997: 355). Der „hoh[e] Sättigungsgrad an organizistischer Metaphorik“ (ebd.: 354) in Mordecais Beschreibung der jüdischen Gemeinschaft zeigt sich in der Dominanz von „Schlüsselbegriffe[n] seines Diskurses wie ‚growth‘, ‚organic centre‘, ‚seed‘, ‚planting‘, ‚change as dependent growth‘, ‚race‘ und ‚family‘ bzw. ‚community‘ als soziale Äquivalente naturhafter organischer Ganzheiten“ (ebd.: 354f.). Die jüdische Gemeinschaft, so wie sie von Mordecai visionär beschworen wird, umfasst dabei alle drei Säulen einer traditionellen und vormordernen Gemeinschaft, wie sie der Soziologe Ferdinand Tönnies definierte: Verwandtschaft (‚Blut‘), Land/ Wohnort und Freundschaft im Sinne eines geteilten Werte- und Glaubenssystems bzw. einer Gefühlsgemeinschaft (vgl. Graver 1984: 236f.). Folgende Passagen aus Mordecais Diskurs illustrieren die Verknüpfung dieser drei Säulen: Where else is there a nation of whom it may be as truly said that their religion and law and moral life mingled as the stream of blood in the heart and made one growth - where else a people who kept and enlarged their spiritual store at the very time when they were hunted […]? (DD: 531) [T]he soul of Judaism is not dead. Revive the organic centre: let the unity of Israel which has made the growth and form of its religion be an outward reality. (ebd.: 532) Community was felt before it was called good. […] What is growth, completion, development? […] I apply it [= this question] to the history of our 114 Vgl. z.B. Vrettos (1990: 574), Caron (1983: 4), Hollander (2005: 84), Jackson (1992: 245) und Grego (2007: 129). <?page no="157"?> Daniel Deronda 143 people. I say that the effect of our separateness will not be completed and have its highest transformation unless our race takes on again the character of a nationality. (ebd.: 534) The heritage of Israel is beating in the pulses of millions; it lives in their veins as a power without understanding […]. Let the torch of visible community be lit! (ebd.: 536) Die Blutsbande, die das jüdische Volk als rassisch kodierte Gemeinschaft verwandtschaftlich verbinden, seien zugleich Bande spiritueller Natur: „religion and law and moral life“ (DD: 531) sowie „kindred and fellowship“ (ebd.: 528). Die Vitalität dieser Gemeinschaft zeige sich dadurch, dass sie im Alltag körperlich-geistig gelebt werde („community was felt“, „beating in the pulses of millions“). Gerade weil das jüdische Volk eine gelebte Gemeinschaft darstelle, dränge es sie im Sinne von „growth“ und „completion“ zur Wiederherstellung ihrer ursprünglichen nationalen Einheit: „The spirit of our religious life […] is one with our national life“ (DD: 537). Die Beschreibung von Mirahs Identifikation mit ihrem Volk bietet ein anschauliches Beispiel für die von Mordecai entworfene organische Zugehörigkeit des einzelnen zur Gemeinschaft. Dies zeigt sich besonders anschaulich an ihrer Religiösität: „Mirah’s religion was one fibre with her affections, and had never presented itself to her as a set of propositions.“ (DD: 362) Entsprechend der von Mordecai betonten Notwendigkeit der „separateness“ kommt für sie eine Heirat mit einem Mann, der nichtjüdischer Herkunft ist, nicht in Frage. Zwar kommt Mirah eine vorbildliche Belegfunktion für Mordecais Thesen zu, doch speist sich sein Getriebensein von der zionistischen Mission maßgeblich aus der Einsicht, dass die Seele des jüdischen Volks zu verdorren drohe: The life of a people grows, it is knit together and yet expanded, in joy and sorrow, in thought and action; it absorbs the thought of other nations into its own forms, and gives back the thought as new wealth to the world; […] But there may come a check, an arrest; memories may […] shrink into withered relics - the soul of a people, whereby they know themselves to be one, may seem to be dying for want of common action. (DD: 526f.) Mit der Verwandlung von gelebter Tradition in „withered relics“ würde sich die jüdische Kultur implizit Englands ‚dead anatomy of culture‘ annähern (vgl. Winkgens 1997: 355f.). Die kritischen Kontrastpositionen anderer Juden zu Mordecais visionärer nationalstaatlicher Gemeinschaft, etwa Gideons Befürwortung einer Assimilation von Juden in andere Kulturen bzw. die Aufgabe ihrer „separateness“ (vgl. DD: 527), erscheinen im Kontext der Leserlenkungsstrategien in Daniel Deronda als Beleg für die Richtigkeit von Mordecais Furch vor einer Degeneration der jüdischen Seele. Die Privilegierung von Morde- <?page no="158"?> 144 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive cais Vision als erstrebenswertes Leitideal und damit die implizite Abwertung der jüdischen Kontrastpositionen im Roman erfolgt insbesondere durch drei Strategien. Die erste Strategie umfasst eine Erhöhung der prophetischen Kraft von Mordecais Visionen, indem gezeigt wird, dass Inhalte von diesen eintreten, wie etwa die Vision vom Zusammentreffen mit einem würdigen ‚Seelenverwandten‘ auf der Thames-Brücke. 115 Mordecais Perspektive erfährt zweitens eine Aufwertung durch Derondas Annahme der zionistischen Mission. Da Deronda eindeutig als Ideal im Roman etabliert wird, kommt seinem Glauben an Mordecais prophetische Vision gesteigerte Bedeutung zu. Als dritte Strategie erscheint der Gebrauch biblischer Typologie bzw. biblisch-religiöser intertextueller Verweise, die den Status von Mordecai als Prophet und Deronda als Heilsbringer unterfüttern. 116 Die Privilegierung von Mordecais zionistischer Vision bedeutet zugleich eine Strategie zur Aufhebung von Kontingenz in der historischen Praxis. Derondas Lebensweg ist „determined by the historical destiny of the Jews“ (DD: 547). Trotz des anfänglichen Zögerns von Deronda, die Zufälle, die ihn mit Mordecai zusammengebracht und sein Interesse für die jüdische Kultur geweckt haben, als schicksalhafte Zeichen zu lesen, legt die außergewöhnlich hohe Anzahl dieser Zufälle nahe, dass „the outward event“ (ebd.: 501) als „a fulfilment of the firmest faith“ (ebd.) gedeutet werden kann. Ein solcher Glaube an Fügung erhärtet sich zudem spätestens zu dem Zeitpunkt, an dem sich Mordecais Glaube, dass Deronda jüdischer Herkunft sein muss, bewahrheitet. Diese schicksalhafte Qualität des Zufalls erinnert an den traditional coincidence plot: „In traditional coincidence, recognition between characters stabilizes conceptions of identity by clarifying family relationships, restoring children to their parents, and establishing the characters’ origins within a clear and stable framework.“ (Dannenberg 2008: 108) So wird Derondas genealogische Herkunft durch seine zufällige Begegnung mit jüdischen Figuren letztlich gelüftet, und er erfährt durch seine Einordnung in die jüdische Traditionsgemeinschaft eine Sinnstabilisierung. Die Privilegierung der zionistischen Vision innerhalb der Perspektivenstruktur von Daniel Deronda führt dazu, dass andere Erklärungen der Zufälle relativiert werden. Es kann ein Spektrum an unterschiedlichen Erklärungsmomenten für Zufälle ausgemacht werden, wie Hilary Dannenberg 115 Mordecai entwirft sein Verhältnis zu Deronda im Lichte der kabbalistischen Lehre der Seelenwanderung: „In the doctrine of the Cabbala, souls are born again and again in new bodies till they are perfected and purified, and a soul liberated from a wornout body may join the fellow-soul that needs it, that they may be perfected together, and their earthly work accomplished. […] When my long-wandering soul is liberated from this weary body, it will join yours, and its work will be perfected.“ (DD: 540) 116 Für eine ausführliche Analyse von Funktionen der biblischen Typologie in Daniel Deronda siehe Caroll (1992: 273-312), Carpenter (1984), Pykett (1983) und Qualls (2001). <?page no="159"?> Daniel Deronda 145 (2008: 161) detailliert herausgearbeitet hat. Deronda selbst lehnt Mordecais „visionary excitability“ (DD: 513) zugunsten einer rationalen Erklärung der Ereignisse ab, indem er die Zufälle auf eine klare Kausalkette zurückführt: „To me the way seems made up of plainly discernible links. If I had not found Mirah, it is probable that I should not have begun to be specially interested in the Jews“ (DD: 514). Die auktoriale Erzählinstanz führt demgegenüber eine metafiktionale Perspektive ein, indem sie auf den kulturellen Konstruktcharakter romantischer quest-Plots verweist. 117 Diese unterschiedlichen Erklärungsmomente könnten auf den ersten Blick dazu verleiten, die gegenseitige Relativierung in den Vordergrund zu rücken. So konstatiert Dannenberg mit Blick auf den coincidence plot im jüdischen Teil: [T]he novel’s pluralistic responses to coincidence range from the naturalistic to the metafictional. […] [I]ts coincidence plot [is] torn between the split impulses of rationality, mysticism, and even occasionally metafiction, ultimately occupying a relativistic position founded in shifting modes of interpretation. The mystical aspects look backward to Romanticism, while Eliot’s explicational relativism preempts modernism. (ebd.: 161; m.H.) Eine solche Lesart, d.h. Dannenbergs Betonung einer „relativistic position“ in Daniel Deronda, ist allerdings nur möglich, wenn die auffälligen Leserlenkungsstrategien zugunsten der Privilegierung der zionistischen Vision als handlungsleitendes Ideal ausgeblendet werden. Im Lichte des Zionismus wird Kontingenz in destiny überführt. Dadurch gewinnt nicht nur die historische Praxis eine kohärente Form, da Zufälle im Dienste der Verwirklichung der historischen Bestimmung des jüdischen Volkes stehen, d.h. der nationalen Neubelebung der jüdischen Gemeinschaft. Darüber hinaus erhält das Individuum eine klar zugewiesene Rolle im historischen Prozess, die einen Handlungspfad klar vorgibt: Derondas Aufgabe ist es, eine aktive Rolle bei der Gestaltung dieser destiny zu übernehmen, indem er die gelebte Zeit für politisch-nationales Handeln nutzt. Derondas bruchloses Einfügen in den jüdischen Traditionszusammenhang, der durch das kollektive Gedächtnis lebendig gehalten wird, liefert ein prägnantes Beispiel für die Sinnstabilisierung, die aus der Synchronisation von existentieller, biographischer und sozialer Zeit (vor allem mit ihrer religiös-spirituellen Dimension) resultieren kann. Demgegenüber entspricht die Welt des Glücksspiels dem „Zustand einer Gegenwart ohne wesentliche Vergangenheit“ (Middeke 2004: 56). Das Gesetz der statistischen Wahrscheinlichkeit, wonach der Zufall kein Gedächtnis kennt, korreliert mit dem Verlust von gelebten Traditionszusam- 117 Vgl. DD: 515: „And, if you like, he was romantic. That young energy and spirit of adventure which have helped to create the world-wide legends of youthful heroes going to seek the hidden tokens of their birth and its inheritance of tasks, gave him a certain quivering interest in the bare possibility that he was entering on a like track“. <?page no="160"?> 146 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive menhängen, die dem Individuum organische Wurzeln in einer Gemeinschaft ermöglichen könnten. Der Begriff […] des Spiels […] beinhaltet […], daß keine Partie von der vorhergehenden abhängt […]. Das Spiel will von keiner gesicherten Position wissen […]. Verdienste, die vorher erworben sind, stellt es nicht in Rechnung […]. Das Spiel macht […] mit der gewichtigen Vergangenheit […] kurzen Prozeß. 118 Das Resultat ist, dass Spekulationssubjekte wie Gwendolen das Gefühl haben, in einer ‚leeren‘ und unhistorischen Zeit zu leben, d.h. einer Zeit ohne teleologische Sinnaufladung. Diese Leere versucht Gwendolen durch das Glücksspiel zu füllen, allerdings intensiviert Glücksspiel als Inbegriff einer solchen Zeiterfahrung zwangsläufig den Verlust von spirituell aufgeladener Zeit, wie die bereits zitierte Passage über Gwendolens Erfahrungen beim Glücksspiel verdeutlicht („in this confused world it signified nothing what any one did, so that they amused themselves“, DD: 156). Während die Welt des Glücksspiels im Akt des Spielens eine ahistorische Gegenwart generiert, führt Derondas Erfahrung der eigenen Lebensgeschichte als zionistische destiny zur Intensivierung des Bewusstseins, dass die „gegenwärtige Zeiterfahrung untrennbar mit Vergangenheit und Zukunftserwartung verklammert“ (Middeke 2004: 32) ist. Die Gegenwart ist verflochten mit der Vergangenheit in Form des jüdischen Traditionsbestands und der Zukunft im Sinne der angestrebten Verwirklichung einer sichtbaren jüdischen Gemeinschaft. Das Motiv von Präkognition in Daniel Deronda kann im Zusammenhang mit der historischen Zeiterfahrung als eine semi-mystische Zuspitzung der Bedeutung von Tradition interpretiert werden (vgl. Eagleton 2008: 185): „If tradition means that the present teems with the burden of the past, then why cannot those organic affiliations work the other way too, and the present become pregnant with a future which is yet to be born? “ (ebd.) Diese semi-mystische Komponente ist Teil des idealistischen Geschichtsverständnisses, das im jüdischen Teil des Romans entfaltet wird. Demnach kommt den Ideen eine transformative Kraft im historischen Prozess zu: „passionate belief […] determines the consequences it believes in“ (DD: 513). Das auffällige Motiv der Präkognition bzw. die Aktualisierung visionärer Wünsche und Ängste in der historischen Praxis, die sich sowohl bei Mordecai als auch bei Gwendolen findet, unterstreicht nicht nur die konstitutive Verschränkung der drei Zeitebenen. Es kann zudem insbesondere als Inszenierung der weltschaffenden Kraft von Ideen interpretiert werden (vgl. Eagleton 2008: 185). 118 Alain Emile Auguste Chartier, Les idées et les âges, Paris 1927, I, S. 183 („Le jeu“) zitiert nach Benjamin (1980: 129). <?page no="161"?> Daniel Deronda 147 Eine entscheidende Differenzqualität zwischen den Visionen Mordecais und Gwendolens liegt jedoch in ihren sozialkohäsiven Implikationen. Mordecais Präkognition (so wie sie beispielsweise in seiner Ahnung von Derondas jüdischer Herkunft manifest wird) steht im Zeichen eines totalisierenden Geschichtsentwurfs, der eine sinnhaft erschlossene Welt ermöglicht und den (jüdischen) Einzelnen in einem organischen Kollektiv einbindet. Eine solche Deutung von Zeiterfahrung bleibt Gwendolen aufgrund ihrer Herauslösung aus sozialkohäsiven Traditionsbeständen verwehrt, so dass ihre Präkognitionen die identitätsbedrohliche Erfahrung von Isolation und Sinnverlust verstärken. Ein frappierendes Beispiel für Gwendolens Präkognition ist der Angstanfall, den sie im Hause ihrer Mutter beim Anblick eines zufällig entblößten Bildes von einem Ertrunkenen mit fliehender Figur im Hintergrund erfasst. Ihre Gefühlsreaktion nimmt ihr Grauen vor den eigenen mörderischen Impulsen vorweg, die sich später gegen ihren verhassten Ehemann Grandcourt richten werden. Zu dem Zeitpunkt, als sie das Bild sieht und vom Grauen erfasst wird, kannte sie Grandcourt allerdings noch nicht. Es scheint, als ob sie sich selbst präkognitiv im Bild der fliehenden Figur erkennt. Tatsächlich wird Grandcourt später bei einem gemeinsamen Bootsausflug ertrinken. Gwendolen erlebt nach seinem Tod einen psychischen Zusammenbruch, da sie glaubt, ihn Kraft ihrer Gedanken ermordet zu haben: „I knew no way of killing him there, but I did, I did kill him in my thoughts. […] I saw my wish [i.e. that Grandcourt drown] outside me“ (DD: 695f.). Dieser Befund setzt die zuvor beschriebene pessimistische Zeitdiagnose zur englischen Gesellschaft fort, da Ideen keinerlei transformative Kraft im Sinne einer Förderung von kultureller Synthese und Regeneration mehr zukommen (siehe auch Eagleton 2008: 185). Stattdessen stehen diese mit dem Tod in Verbindung. Während Mordecais Präkognition alle drei Zeitebenen teleologisch in eine zionistische Sinndimension einlagern, verstärken Gwendolens Visionen ihre Erfahrung einer alptraumhaften Welt, die sich Deutungs- und Bemächtigungsversuchen entzieht. Die Hinweise auf destiny im jüdischen Teil des Romans sowie der extensive Gebrauch von biblischer Typologie legen zwar ein „Providential metanarrative“ (McCaw 2000: 83) und damit „an exterior guiding force shaping historical evolution“ (ebd.: 84) nahe, doch zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass religiöse Kategorien innerweltlich umgedeutet werden und auf diese Weise eine Säkularisierung erfahren (vgl. Bonaparte 1993). Wenn die auktoriale Erzählinstanz davon spricht, dass „our brother may be in the stead of God to us“ (DD: 763), so wie dies Deronda für Gwendolen ist, dann wird in Passagen wie diese eine ‚religion of humanity‘ entworfen, die im Sinne von Ludwig Feuerbach die Gottesliebe durch die <?page no="162"?> 148 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Menschenliebe ersetzt. 119 In Das Wesen des Christentums (1841) argumentiert Feuerbach, das Göttliche und das Menschliche seien keine Gegensätze, sondern der Inhalt der christlichen Religion sei menschlicher Natur. Indem der Mensch Attribute der menschlichen Gattung auf einen Gott übertrage, vergegenständliche er sein Wesen und spalte sein individuelles Wesen vom Gattungswesen ab. Diese Projektion bzw. Spaltung gelte es aufzulösen, damit der Mensch erkennt, dass der Mensch des Menschen Gott ist: „[W]enn es religiös heiße, Gott ist die Liebe, müsse es philosophisch heißen: die Liebe ist göttlich“ (Zinser 1989: 235). Wenn der Gottesbegriff durch die menschliche Gattung ersetzt wird, dann kann der Einzelne durch seine Mitmenschen Spiritualität und göttliche Liebe erfahren. Die auffallend religiöse Bildlichkeit und der Gebrauch biblischer Typologie in Daniel Deronda können als Überführung religiöser Kategorien in einen säkularen Humanismus gedeutet werden. Die zweite zentrale Ersatzreligion, die in Daniel Deronda als Quelle historischer Sinnstiftung und damit zugleich Kontingenzaufhebungsstrategie eingeführt wird, ist ein religiös aufgeladener Nationalismus: „[I]t is the magic of nationalism to turn Chance into Destiny“ (Benedict Anderson zitiert nach McCaw 2000: 111). Diese magische Logik lässt die Zufälle im jüdischen Teil als schicksalshafte Erfüllung der zionistischen Vision erscheinen. Tatsächlich geht es in Daniel Deronda weniger um die historische Situation des Judentums, sondern um die Entwicklung eines Lösungsmodells für die diagnostizierten Auflösungs- und Verfallserscheinungen in England, wie in der Eliot-Forschung wiederholt betont wird: 120 In Analogie zum Titelhelden sollten auch die Engländer aus dem sich erinnernden Eingedenken an die ursprüngliche Einheit der Wurzeln nationaler Kulturtradition und gemeinschaftlicher Werte nach dem Muster der prämodernen organic communities sich für ihre Erneuerung und Wiederbelebung unter den Bedingungen einer gesellschaftlichen Moderne engagieren. (Winkgens 1997: 373) Da der Entwurf des Ideals einer organischen Gemeinschaft in Daniel Deronda jedoch „fundamentally a troped Whig-English one“ (McCaw 2000: 64f.) ist, erweist sich der Roman einer paradoxen Argumentationsbewegung verpflichtet: „Eliot […] implies that this English past represents the paradigm for an ideal national existence while at the same time countering this with an assertion that it is only the Jews (or rather her own idealized notion of Jewry) that have the potential to live out this paradigm“ (ebd.: 365). Um dieses Paradigma als Lösungsmodell zu etablieren, erfolgt 119 Ausführlich zu Eliots ‚religion of humanity‘ und ihrer Auseinandersetzung insbesondere mit Ludwig Feuerbach und David Friedrich Strauss siehe Qualls (2001) und Paris (1962). 120 Vgl. z.B. Graver (1984: 224-243), Jackson (1992: 243-245), McCaw (2000: 127ff.), Bonaparte (1993: 41) und Henry (2008: 95). <?page no="163"?> Daniel Deronda 149 im Roman eine problematische Gleichsetzung von Judaismus und Zionismus. Dies zeigt die Privilegierung von Mordecais Perspektive gegenüber assimilativen Judaismus, den die Cohen-Familie repräsentiert. Insgesamt sind die Kontingenaufhebungsstrategien, die in Daniel Deronda identifiziert werden können, durch frappierende Widersprüche und Spannungsmomente geprägt. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich beim Modell des Judaismus, so wie es im Roman entfaltet wird, neben der bereits genannten fragwürdigen Gleichsetzung von Judaismus und Zionismus weitere kritische Aspekte. Nicht nur wird „angesichts der geschichtlichen Gegebenheiten historischer Diskontinuität und des faktischen Traditionsbruchs“ (Winkgens 1997: 356) innerhalb der jüdischen Geschichte das Organizismus-Konzept überstrapaziert (vgl. ebd.). Es herrscht zudem ein widersprüchlicher Antagonismus zwischen Idealismus und Materialismus innerhalb Mordecais Vision (vgl. Graver 1984: 224-243; siehe auch Winkgens 1997: 357). Das Judentum liefert gerade nicht eine Verkörperung gelebter organischer Gemeinschaft, obwohl dies den LeserInnen nahegelegt wird, sondern die organische Gemeinschaft bleibt ein imaginatives Ideal, das im neu zu gründenden Staat erst physisch verwirklicht werden soll: „To separate the organic from the physical and actual, however, is to make the organic entirely metaphorical. The effect is to call seriously into question a major tenet of revisionary organicism.“ (Graver 1984: 234) Innere Widersprüchlichkeiten wie diese entlarven die Fragilität dieses Modells, das darauf gerichtet ist, Alternativen zur Kontingenzkultur der eingangs entworfenen Kasinowelt aufzuzeigen. Die Instabilität der entworfenen Kontingenzaufhebung im jüdischen Teil des Romans wurzelt allerdings nicht nur in der inneren Widersprüchlichkeit des gewählten Lösungsmodells. Eine weitere Instabilität ergibt sich aus der unterschiedlichen Codierung von prophetischen Visionen im Roman. Die Bewertung von Visionen ist dabei aufs engste mit Gattungskonventionen verknüpft, d.h. dem Vorliegen eines realistischen oder eines romanzenhaft-mythischen Modus. Neben der stark typisierten Figurenzeichnung von Mordecai als biblischer Prophet und Deronda als Messias ist es vor allem die wish fulfilment-Qualität der dargestellten Ereignisse, die RezipientInnen dazu bewogen haben, den jüdischen Teil als romanzenhaftmythisch zu charakterisieren. Während „[the] hard unaccommodating Actual“ (DD: 380) im Falle von Deronda sich seinen inneren Sehnsüchten und Wünschen anpasst, muss demgegenüber Gwendolen, wie so viele Figuren im realistischen Roman, schmerzhaft lernen, dass die Realität sich ihren Wünschen und Träumen gegenüber als äußerst „unaccomodating“ (ebd.) erweist. Der realistische Modus schließt ‚wish fulfilment‘ als dominierende narrative Logik aus. Den unterschiedlichen Gattungskonventionen, die dem englischen und jüdischen Teil zugeordnet werden können, kommt eine gesteigerte Bedeutung zu, weil die Visionen und Zufälle, die <?page no="164"?> 150 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive im romanzenhaft-mythischen Teil als Zeichen einer Kontingenzaufhebung ausgewiesen werden, im englischen Teil unter entgegengesetzten Vorzeichen behandelt werden: Im realistischen Modus lassen sich diese Elemente nicht für eine Kontingenzaufhebung instrumentalisieren. Dies legt zumindest Daniel Deronda nahe, wenn der Roman als Textganzes betrachtet wird. Die widersprüchliche Codierung von Visionen lässt sich anhand eines Vergleichs zwischen Gwendolens und Mordecai illustrieren. Indem die auktoriale Erzählinstanz Gwendolens „fits of spiritual dread“ explizit eine religiös-spirituelle Erfahrungsdimension zuordnet (vgl. DD: 63f.), wird eine Analogie zwischen Gwendolens Erfahrungsdimension und Mordecais impliziert. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist jedoch die unterschiedliche Figurencharakterisierung. Mordecais Status als Prophet wird durch die weiteren Ereignisse erhärtet; demgegenüber erscheint Gwendolen als eine „murderous hysteric“ (Vrettos 1990: 574). 121 Although Eliot continues throughout the novel to valorize Gwendolen and Deronda’s bond of conscience and to grant Mordecai the official role of prophet, the form of Gwendolen’s hysteria finally challenges and mimics the dominant narrative structure. Gwendolen’s power to make her ‚inner visions‘ come true, to see her wishes take shape outside her body, constitutes a spiritual and prophetic dimension to her character that is in conflict with the novel’s authorized spiritual voice. (ebd.) […] Gwendolen’s spectral experiences […] carry a potential challenge to Mordecai’s prophetic authority because, like medical correlations between saints and hysterics, Eliot’s rhetoric encodes the possibility that all visionary powers are a function of nervous disease. (ebd.: 575) Während sich Visionen innerhalb der Gattungskonventionen von romance bruchlos in das Deutungsschema von destiny fügen, erscheint diese religiöse bzw. spirituelle Dimension letztendlich als Pathologie (hysterische „fits of dread“) innerhalb des Teils, der den Erzählkonventionen des Realismus folgt. Die Möglichkeit von Kontingenzaufhebung erweist sich somit in Daniel Deronda als konstitutiv mit Gattungskonventionen verquickt. Bezeichnenderweise wird diese Bewertungspolarität explizit herausgestellt, als Deronda darüber nachdenkt, dass in den Augen von Sir Hugo, seinem Ziehvater, Mordecai zwangsläufig als religiöser Fanatiker erscheinen müsse, da dessen religiöse Überzeugungen im (scheinbaren) Widerspruch zu dem naturwissenschaftlich-säkulären Weltbild der Moderne stünden. 122 121 Für eine ausführliche Analyse von Gwendolen als Hysterikerin siehe Vrettos (1990). Die Charakterisierung Gwendolens als „murderous“ bezieht sich auf die Mordgedanken, die sie gegen ihren Mann während ihrer Ehe gehegt hat. 122 Eine Strategie, durch die im Roman eine vorschnelle Abwertung von Mordecais Visionen als Fanatismus abgewehrt werden soll, ist die explizite Herausstellung der Verwandtschaft von Visionären auf religiösem und naturwissenschaftlichem Terrain: <?page no="165"?> Daniel Deronda 151 Die entscheidende Rolle von Gattungskonventionen kommt auch bei der Bewertung von Zufällen zum Tragen. Zwar gibt es Bemühungen, die außergewöhnlichen Zufälle im Roman zu plausibilisieren, beispielsweise durch das Epigraph von Aristoteles zu Beginn des sechsten Buches „Revelations“: „It is a part of probability that many improbable things will happen.“ (DD: 509) Dennoch strapaziert die hohe Anzahl von erstaunlichen Zufällen im Roman die Grenzen der realistischen Erzählkonventionen. Im Gegensatz zum romanzenhaft jüdischen Teil lassen sich die Zufälle im englischen Teil nicht in das Deutungsschema von destiny überführen. Dies verdient insofern besondere Betonung, als im englischen Teil eine Art poetische Gerechtigkeit zu walten scheint, die wiederum ein typisches Kennzeichen traditioneller ‚providential narratives‘ ist. Man kann deshalb von einer poetischen Gerechtigkeit sprechen, weil die Ereignisse einem Muster folgen, wonach rettungslose Egoisten wie Grandcourt sterben, während bekehrte Egoisten wie Gwendolen die Möglichkeit erhalten, ihrem Pfad der Läuterung weiter zu folgen. Obwohl es poetische Gerechtigkeit gibt, bleibt ein sinn- und kohärenzstiftendes Geschichtsmodell innerhalb des Gwendolen-Handlungsstrangs aus. Für Gwendolen ist Deronda der sinnstiftende Bezugspunkt, da sie ihn als gottgleich wahrnimmt. Nicht umsonst trägt Daniel Deronda einen sprechenden Namen: Daniel heißt auf Hebräisch „God is my judge“ (Qualls 2001: 134). Dieses Beziehungsverhältnis, das zuvor im Kontext der ‚religion of humanity‘ beschrieben wurde, bringt es mit sich, dass Gwendolen bei dem Verlust von Deronda, d.h. seinem Weggang aus England, in eine Orientierungskrise geworfen wird. Sie hat keinerlei Ressourcen, um mit der Leere des Universums, der Erfahrung absoluter Kontingenz, umzugehen. 123 Insgesamt ist die einzige ‚voice of destiny‘, die im englischen Teil ertönt, die Stimme des Croupiers im Kasino; damit zeigt sich destiny lediglich in Form eines Aberglaubens der Glücksspieler oder, wie im Falle der schicksalshaften Visionen von Gwendolen, als Symptom einer hysterischen Pathologie. Das Walten von poetischer Gerechtigkeit zielt darauf ab, die Leerstelle auf inhaltlicher Ebene aufzuheben, d.h. dem Verlust eines sinnstiftenden und damit kontingenzaufhebenden Zentrums entgegenzuwirken. Es kann im Zusammenhang mit den realistischen Erzählkonventionen, zu denen eine hohe Illusionsbildung gehört, insofern von einer Ideologie der Form gesprochen werden, als die ästhetische Illusionsbildung in Daniel Deronda „While Mordecai was waiting on the bridge for the fulfilment of his visions, another man was convinced that he had the mathematical key of the universe which would supersede Newton“ (DD: 510). „Reduce the grandest type of man hitherto known to an abstract statement of his qualities and efforts, and he appears in dangerous company: say that, like Copernicus and Galileo, he was immovably convinced in the face of hissing incredulity“ (ebd: 511). 123 Auf diesen Aspekt wird in an späterer Stelle ausführlich eingegangen. <?page no="166"?> 152 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive dazu dient, eine möglichst „unified, closed, and meaningful worl[d]“ (Wolf 2004: 344) zu schaffen. Die Sinnstrukturen dieser Textwelt, insbesondere die poetische Gerechtigkeit, können allerdings als „‚unrealistic‘ and contrary to the contingency of life“ (ebd.) in der durch vielfältige Umbruchprozesse gekennzeichneten Moderne betrachtet werden: [F]rom a historical point of view […] aesthetic illusionism in the sense of philosophical persuasion becomes all the more relevant when the belief in the self-evidence of a meaningful universe declines. Where the credibility of literary constructions such as poetic justice is no longer supported by external, philosophical or religious beliefs, possible worlds that (still) propagate such views must create their own, internal credibility - and this can efficiently be achieved by aesthetic illusion as means of suspending not only aesthetic but also philosophical disbelief. (ebd.) Die genaue Lektüre von Eliots Roman hat jedoch gezeigt, dass die Leserlenkungsstrategien, nicht zuletzt in Form der Deutungen und Wertungen der auktorialen Erzählinstanz, die Brüchigkeit und innere Widersprüchlichkeit der Kontingenzaufhebungsbzw. Sinngenerierungsstrategien nicht überdecken können. Die bisher herausgearbeitete Kontingenzthematik in Daniel Deronda ist eng mit der Modellierung verschiedener Subjektmodelle verknüpft, wie die Ausführungen zum Spekulationssubjekt gezeigt haben. Im Folgenden soll die Frage nach Gestaltbarkeitskontingenz im Sinne der Handlungsmächtigkeit (agency) von Subjekten sowie die zuvor angerissene Thematik von der Lesbarkeit des Selbst und Anderen näher untersucht werden. Ein besonderes Augenmerk wird zugleich auf die Zeichnung von Gefühlswelten in Eliots Roman gelegt, weil diese eine zentrale Rolle bei dem Entwurf kontingenter Subjekte spielen. Die jeweilige innerpsychische Landschaft ist nicht nur Signum individueller Besonderheit, sondern sie entzieht sich zugleich einer restlosen Erfassung. Das Zusammenspiel zwischen Kontingenz, Subjektmodellen, agency und Emotionen in Daniel Deronda steht im Zentrum des nachfolgenden Kapitels. 1.3 Die kontingente Subjektivität des Einzelnen: Agency, Gefühlswelten und geschlechtlich markierte Subjektmodelle Wenn Daniel Deronda sich zum großen Teil als ein Plädoyer gegen die Kontingenzkultur der eingangs entworfenen Kasinowelt liest, so gehört zu dieser Ausrichtung auch die Betonung der Verantwortlichkeit von Subjekten, indem die Möglichkeit von agency in der Welt herausgestellt wird. Betrachtet man zunächst den jüdischen Teil des Romans, so fällt auf, wie stark eine Vereinbarkeit von destiny und Gestaltbarkeitskontingenz von Mordecai hervorgehoben wird: <?page no="167"?> Daniel Deronda 153 The sons of Judah have to choose that God may again choose them. […] Shall man, whose soul is set in the royalty of discernment and resolve, deny his rank and say, I am an onlooker, ask no choice or purpose of me? That is the blasphemy of this time. The divine principle of our race is action, choice, resolved memory. (DD: 538; m.H.) Gemäß Mordecais Ausführungen ist die historische Bestimmung der Juden somit nicht etwas, das diesem Volk widerfährt, sondern das Schicksal muss aktiv gewählt werden: ‚the divine principle is choice‘. Die grundsätzliche Wahlfreiheit des Menschen, das eigene Schicksal anzunehmen oder abzulehnen, betont Mordecai Deronda gegenüber von Anfang an. Deronda könne die zionistische Mission, sein historisch-spirituelles Erbe, ablehnen und dadurch den Glauben Mordecais als Illusion entlarven: „You would remind me that I may be under an illusion - that the history of our people’s trust has been full of illusion. I face it all […]. So it might be with my trust, if you would make it an illusion. But you will not.“ (DD: 502) 124 Die Vorstellung einer Vereinbarkeit von Wahl- und organischem Wachstumsgedanken, wie sie von Mordecai formuliert wird, verdankt sich einem genetischen Essentialismus, wonach die Partizipation des einzelnen Juden an „die Traditionsmacht einer genetischen ‚community of feeling‘“ (Winkgens 1997: 374) ein klares Kriterium und wirkmächtiger Impuls für die ‚richtige Wahl‘ liefert (vgl. ebd.). Während die Distanzierung von der eigenen Kultur und traditionellen Verpflichtungen bei Lapidoth und Daniels Mutter zur Selbstentfremdung führt, ermöglicht die Identifikation mit einer lebendigen jüdischen Gemeinschaft eine Stabilisierung des Ichs, wie am Beispiel von Mirah, Mordecai und Daniel zu sehen ist (vgl. ebd: 375). Die gelebte Gefühlsgemeinschaft bedeutet, dass die eigene Innerlichkeit - die durch die genetisch bedingte „affektiv[e] Dispositionsstruktur“ (ebd.: 374) bzw. durch das „genetisch hypostasiert[e] kollektiv[e] Gedächtnis der Rasse und des Blutes“ (ebd.: 375) geformt wird - als Richtschnur des Handelns dienen kann. Mit der Entscheidung für gelebte naturwüchsige jüdische Identität erfüllt das jüdische Subjekt zugleich seine genetische Entelechie gemäß der Formel ‚Werde, der du bist‘ (vgl. ebd.: 374). Die Erfahrung einer erfüllten und ganzheitlichen Identität ist verknüpft mit der Einbindung in eine organische Gemeinschaft und der Verwirklichung der eigenen historischen Bestimmung. Die paradoxe Figur einer Wählbarkeit von Schicksal, wie sie Daniel Deronda entfaltet, hat zu erheblichen Irritationen in der Forschungsdiskussion geführt. Als besonders einflussreich hat sich die dekonstruktivistische Interpretation von Cynthia Chase (1978) erwiesen. Gemäß Chase ist Eliots 124 Es gehört allerdings zu den romanzenhaften Elementen im jüdischen Teil, dass Derondas individuelle Sehnsüchte und Wünsche mit seiner historischen Bestimmung konvergieren, so dass es zu keinerlei Konflikt zwischen individueller Wahlfreiheit und dem Wirken von destiny kommt, welches ihn zur zionistischen Mission ruft. <?page no="168"?> 154 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Roman durch zwei unterschiedliche Logiken geprägt. Auf der einen Seite werde in Form des genealogischen Diskurses eine klare Ursache/ Wirkung- Kette eingeführt: „Full weight is put on the metaphor of birth as destiny. Chapters li and liii emphatically affirm the identification between origin and cause.“ (ebd.: 218) Auf der anderen Seite werde im Roman ein solches Konzept von Kausalität dekonstruiert, indem Derondas jüdische Herkunft lediglich als Ergebnis taktischer Erfordernisse erscheint: „What a reader feels, on the basis of the narrative presentation, is that it is because Deronda has developed a strong affinity for Judaism that he turns out to be of Jewish parentage.“ (ebd.: 217) Damit folge der Roman einer Formel, die vom kindlich-heiteren Hans Meyrick in einem Brief an Deronda eingeführt wurde, nämlich „the present causes of past effects“ (DD: 641). Diese zweite Logik ist der Betonung von Derondas freier Wahl verpflichtet, d.h. er besitzt keine jüdische Identität aufgrund seiner Geburt, sondern er entscheidet sich für das Judentum. Diese scheinbar sich ausschließenden Logiken führen jedoch gerade nicht, wie Chase argumentiert, zu einer „deconstruction of the concept of cause“ (Chase 1978: 217). Stattdessen müssen diese zwei Bewegungen im Zusammenhang mit der oben skizzierten Konzeptualisierung von Nationalismus gesehen werden: The wish-fulfillment structure that for Chase deconstructs the novel’s realism may thus be seen as a consequence of a logic the novel shares with nationalism, in which desire for a particular identity becomes a crucial component of an identity said to be already possessed (what else might it mean to ‚consent‘ to one’s identity? ). (Jaffe 2000: 139) Der Mythos des Nationalismus basiert zwar auf der Fiktion einer homogenen Gemeinschaft. Allerdings betont Mordecai in seinen Reden, dass allein der Glaube an das Vorhandensein einer homogenen Gemeinschaft für Nationalismus nicht ausreicht. Auf Basis der rassischen Homogenität des jüdischen Volkes fordert Mordecai eine imaginativ-emotive Identifikation mit dem Judentum, da nur auf diese Weise eine vitale jüdische Gemeinschaft gelebt werden könne. Mit der Aufmerksamkeitslenkung auf die zentrale Rolle, die imaginative Anteile beim Nationalismus spielen, nähert sich Eliot an Benedict Andersons Konzeptualisierung von imagined communities ein Stück weit an. 125 Die Argumentationsstrategien im jüdischen Teil von Daniel Deronda verweisen nicht nur darauf, wie die paradoxe Figur einer Wählbarkeit von Schicksal gedacht werden kann, sondern sie zielen auch darauf ab, dem (männlichen) Individuum eine großtmögliche agency in der historischen 125 Ausführlich zu Bezügen zwischen George Eliots Schriften zu Nationalismus sowie der Rolle von Nationalismus in Daniel Deronda und Andersons Konzept von Nationen als imagined communities vgl. McCaw (2000: 54-56) und Jaffe (2000: 137-138). <?page no="169"?> Daniel Deronda 155 Praxis einzuräumen. Deronda fällt als Aufgabe nichts Geringeres zu als die Gründung eines jüdischen Nationalstaats und damit die räumliche Wiederherstellung der jüdischen Gemeinschaft. Das historiographische Modell ‚Männer machen Geschichte‘, wonach das männliche Individuum zu großen, geschichtswirksamen Taten fähig ist, findet in Eliots Roman in Form von Deronda als Messias auf geradezu prototypische Weise Anwendung. 126 Zwar wissen die LeserInnen aufgrund des offenen Endes nicht, ob Deronda seine Mission erfüllen wird, doch gibt es keine Signale, die auf ein mögliches Scheitern deuten. Für seinen möglichen Erfolg spricht zudem, dass er bereits bei einer anderen ‚Mission‘, nämlich Gwendolens Seelenrettung, (scheinbar) erfolgreich war (vgl. DD: 763). Die Betonung von agency im Sinne von Entscheidungs- und Handlungsmacht prägt auch den englischen Teil des Romans, wie bereits ein kurzer Blick auf die Kapitelüberschriften „Maidens Choosing“ und „Gwendolen Gets Her Choice“ zeigt. Gwendolen bewegt sich zwar in einer deterministischen Welt, weil kausale Gesetzmäßigkeiten das Geschehen bestimmen, doch schließt diese Form von Determinismus innerhalb der Textwelt eine selbstmächtige Wahlfreiheit und damit Verantwortlichkeit des Subjekts nicht aus. Der Handlungsfähigkeit von Gwendolen sind allerdings deutliche Grenzen gesetzt. Am Anfang des Romans, in der Kasinowelt, begegnen wir einer Gwendolen, die noch glaubt, über göttliche agency zu verfügen: „Gwendolen felt ready to manage her own destiny“ (DD: 40). Angesichts ihrer schmerzhaften Konfrontation mit harten Realitäten sieht sie sich jedoch im Laufe der Zeit gezwungen, diesen Allmachtsanspruch aufzugeben. Während im jüdischen Teil des Romans die Möglichkeit einer gottgleichen agency in Form der messianischen Mission Derondas das Wort geredet wird, 127 bleibt eine solche geschichtswirksame Form von agency Gwendolen versagt. Gwendolens bevorzugte Strategie, um sich dennoch einen möglichst großen Raum für Gestaltbarkeitskontingenz zu sichern, besteht darin, sich möglichst viele Handlungsoptionen offenzuhalten, ohne sich auf eine festzulegen (vgl. New 1985: 200). So schiebt sie die endgültige Entscheidung, ob sie Grandcourts Antrag annehmen wird, vor sich her: „To act in a hurry was to have a reason for keeping away from an absolute decision, and to leave open as many issues as possible.“ (DD: 294) Diese Gestaltbarkeitskontingenz in Form des Potentials, zwischen vielen Handlungsmöglichkei- 126 Für Parallelen zwischen der Darstellung Derondas und Carlyles Theorie des ‚Great Man‘ siehe McCaw (2000: 96). 127 Zur Reklamierung göttlicher agency im jüdischen Teil siehe auch Mordecais Ausführungen im Kontext seiner zionistischen Visionen: „But the fuller nature desires to be an agent, to create […]: strong love hungers to bless, and not merely to behold blessing. And while there is warmth enough in the sun to feed an energetic life, there will still be men to feel, ‚I am lord of this moment’s change, and will charge it with my soul.‘“ (DD: 475; m.H.) <?page no="170"?> 156 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive ten wählen zu können, verleiht Gwendolen das Gefühl von Macht (vgl. DD: 299). Allerdings sieht sie sich „mit der als problematisch wahrgenommenen ‚Vernichtung‘ von Möglichkeiten in der Faktizität der gegenwärtigen Zeitlichkeit konfrontiert“ (Reckwitz 2006b: 237). So weist ihre Mutter sie darauf hin, dass ihr Versäumnis, Grandcourt eine klare Absage zu erteilen bei gleicher Zustimmung, sich mit ihm zu treffen, gemäß den sozialen Konventionen bereits als eine Annahme seines Antrags gilt (vgl. DD: 295). Ein uneingeschränkter Möglichkeitsraum bzw. Schwebezustand, der dem Subjekt eine absolute Freiheit in Form von unbegrenzter Wahl bietet, kann in der historischen Praxis nicht aufrechterhalten werden. Gwendolens explizite Annahme des Heiratsantrags erscheint gemäß ihrer eigenen Wahrnehmungsperspektive zwar eher als Ergebnis eines „drift[ing] towards the tremendous decision“ (DD: 303) und weniger als Ergebnis bewusster Entscheidungsfindung. Allerdings lässt die auktoriale Erzählinstanz die Aufgabe von agency und damit Verantwortlichkeit aufgrund eines willenlosen ‚drifting‘ nicht gelten (vgl. auch Caron 1983: 6): „but drifting depends on something besides the currents, when the sails have been set beforehand“ (DD: 303). Darüber hinaus unterstreicht Gwendolens Befragung ihres Gewissens nach ihrer Annahme des Antrags, dass ihr moralische Kategorien vertraut sind. Die eigene Rechtfertigung ihres Handelns trotz des Wissens um mögliche negative Auswirkungen auf Grandcourts ehemalige Geliebte und ihre Kinder wird dabei von der auktorialen Erzählinstanz als egoistisch ausgewiesen. Mit dem Abwägen von Argumenten für oder gegen die Heirat erfüllt Gwendolen - zumindest im Nachhinein - das von George Levine genannte Kriterium einer ‚reasonable choice‘. Zwar verfügt Gwendolen nicht über einen unbeschränkten Möglichkeitsraum, doch existieren verschiedene Handlungsoptionen, wie die Einführung von Kontrastfiguren unterstreicht (vgl. auch Ermarth 1985: 122). Tatsächlich stehen Gwendolen alternative Handlungsoptionen zur lukrativen Vernunftehe offen. Dies wird nicht nur durch das Angebot, ihren Lebensunterhalt als Gouvernante selbst zu verdienen, herausgestellt, sondern auch durch die kontrastierende Darstellung von Mirah und Miss Arrowpoint, die jeweils unterschiedlich auf spezifische Herausforderungen in ihrem Leben reagieren. Während Mirah in einer Situation der Überforderung resigniert und Selbstmord begehen möchte, ist Miss Arrowpoint bereit, für eine Liebesheirat gegen geltende Konventionen zu verstoßen. Die Möglichkeit der Wahl zusammen mit Techniken der Selbstreflexion über diese Wahl bedeuten innerhalb Eliots Textwelt klare persönliche Verantwortlichkeit für getroffene Entscheidungen. Die Auslotung der Wahl- und Entscheidungsfreiheit des Individuums in Daniel Deronda ist mit einem weiteren Themenkomplex verschränkt, nämlich Emotion und Kontingenz. Facetten dieser Verknüpfung wurden <?page no="171"?> Daniel Deronda 157 im Zusammenhang mit Derondas exzessiver Empathie sowie dem genetischen Essentialismus bereits angeschnitten. Die Gefühle der Empathie und der Angst erweisen sich in Eliots Roman mit Blick auf Entwürfe von Gestaltbarkeitskontingenz und dem Unverfügbaren im Sinne des Inkommensurablen als besonders relevant. Um das Zusammenspiel von Emotion, agency und Kontingenz in Daniel Deronda genauer herauszuarbeiten, ist es notwendig, zunächst etwas auszuholen und das Konzept von Empathie kurz kulturgeschichtlich zu verorten. 128 Die kulturgeschichtliche Karriere des Konzepts Empathie fällt zeitlich mit dem Individualitätsprogramm der Moderne zusammen (vgl. Breithaupt 2009: 55), d.h. dem kulturellen Oktroy, dass jeder Mensch unverwechselbar und einmalig sein solle. Zu dieser Individualitätsverpflichtung gehört wesentlich die geförderte Entfaltung eines differenzierten psychischen Binnenraums, durch Techniken der Selbstbeobachtung und der Entwicklung eines Vokabulars der Innerlichkeit (vgl. Reckwitz 2006b: 155ff.). Wie Fritz Breithaupt in seiner Untersuchung Kulturen der Empathie (2009) überzeugend herausgearbeitet hat, existiert nicht nur eine temporale Gleichzeitigkeit der Ideen vom Individuum und Empathie. Vielmehr liegt ein kausaler Nexus vor: „Die gemeinsame Karriere von Ich und Empathie beginnt […], weil […] das Ich Antagonist der Empathie ist.“ (57) Empathie bezieht sich auf die „Vorstellung eines Beobachters, einen anderen emotional oder kognitiv zu verstehen“ (ebd.: 20). Die Möglichkeitsbedingung für ein solches einfühlendes Verstehen ist die Annahme von Ähnlichkeit zwischen mir und dem Anderen, d.h. der „andere wird aufgeschlossen und mir angeähnelt“ (ebd.). Die Vorstellung vom Individuum stellt jedoch eine solche Ähnlichkeit, wie sie noch in der Aufklärung behauptet wurde, grundlegend in Frage, da das Individuum als inkommensurabel entworfen wird. Kennzeichen des Individuums ist ja gerade seine Differenz zum Anderen. Je individueller das Subjekt wird, desto weniger zugänglich ist es für andere (vgl. ebd.: 60). Die „radikale Individualisierung subjektiver Erfahrungsperspektiven“ (Winkgens 1997: 253) stellt damit zugleich eine Bedrohung für die Ermöglichung transindividueller Gemeinschafts- und Ähnlichkeitserfahrungen dar. Die drohende Egozentrik des Subjekts geht einher mit der „Substitution einer gemeinschaftlichen kulturellen Semantik durch die individuell differente Semantik subjektiver Innerlichkeit“ (ebd.). In dieser kulturgeschichtlichen Umbruchssituation kommt es zu einer „Neuorientierung der Grammatik von Literatur und Narrationsdesign“ 128 Ausführlich zur Rolle von Empathie in Daniel Deronda siehe Jaffe (2000); eine detaillierte Analyse zu „The Concept of Dread: Sympathy and Ethics in Daniel Deronda“ liefert During (1993). Die nachfolgende Argumentation weist zwar einerseits zahlreiche Schnittmengen mit diesen Untersuchungen auf, unterscheidet sich jedoch zugleich durch die Ausrichtung der Analyse auf die Kontingenzthematik sowie die konsequente Anwendung von Fritz Breithaupts (2009) Konzeptualisierung von Empathie für die Zwecke der Analyse. <?page no="172"?> 158 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive (Breithaupt 2009: 60). Erstens finden sich Strategien, die weiter an Ähnlichkeit festhalten. In Daniel Deronda stellt der Diskurs zur genetischen Gefühlsgemeinschaft in Form des Judentums eine solche Strategie dar. Zweitens wird versucht, die Bedrohung der Gemeinschaft durch das Ich dadurch abzuwehren, indem „das Ich als Kontrollmechanismus von Empathie“ (ebd.: 62) am Ende des 18. Jahrhunderts entdeckt wird: „Mithilfe des Ich als Blockadeinstanz kann Empathie kanalisiert werden.“ (ebd.) Es ist insbesondere das zuletzt genannte Moment, das auch die Darstellung von sympathy als ethisches Ideal in Daniel Deronda prägt und das wesentlich für die Frage nach dem Umgang mit Kontingenz als dem Inkommensurablen ist. 129 Innerhalb von Eliots humanistischem Wertesystem, das auch Daniel Deronda zu Grunde liegt, nimmt sympathy eine zentrale Rolle ein: Die imaginativ-emotionale Anteilnahme wird als Impuls für altruistisches Handeln verstanden. Die Einfühlung in die Perspektive des Anderen ermögliche es, den eigenen Egozentrismus zugunsten einer Anerkennung des Anderen zu überwinden. Empathie erscheint in diesem Licht als Voraussetzung für Reziprozität, die wiederum eine wichtige Grundlage für Gemeinschaft bildet. Das Beispiel Gwendolen verdeutlicht die Bedrohung, welche von einem ‚aufgeplusterten‘ Ich für Empathie ausgeht: Aufgrund ihrer narzisstischen Selbstzentriertheit nimmt sie ihre Mitmenschen ausschließlich mit Blick auf ihre eigenen Bedürfnisse wahr und ist aufgrund dieser „passionate egoism of imagination“ (DD: 796) nicht in der Lage, sich fremde Perspektiven vorzustellen, geschweige denn, sich in diese einzufühlen. Gleichzeitig verdeutlicht Derondas anfängliche Handlungsparalyse aufgrund seiner exzessiven Empathie, dass das Ich als Begrenzung von Empathie notwendig ist (vgl. During 1993: 98): „His plenteous, flexible sympathy had ended by falling into one current with that reflective analysis which tends to neutralise sympathy“ (DD: 364). Damit Empathie nicht neutralisiert wird, bedarf es somit eines Ichs, das bereit ist, das Bewusstsein der eigenen Differenz zu kultivieren und auf dieser Basis einen Akt der Parteinahme („strong partisanship“, DD: 364) zu vollziehen. 130 Zu einer solchen Kultivierung von Differenz gehört auch die Aufmerksamkeitslenkung auf die Grenzen des Empathievermögens, wie sie in einer flammenden Rede von Derondas Mutter, der Prinzessin Halm-Eberstein, 129 Obgleich Empathie eine basale Voraussetzung für sympathy ist, sind beide Begriffe nicht völlig deckungsgleich. George Eliot koppelt im Rahmen ihrer Konzeptualisierung sympathy an altruistische Impulse; eine Denkfigur, die an Ideengut aus dem 18. Jahrhundert anknüpft. Für eine Diskussion der komplexen Begriffsgeschichte von Empathie und Sympathie sowie mögliche Abgrenzungen siehe Breithaupt (2009: 160) und Keen (2007: 4-5, 37-64). Zu Eliots Verständnis von sympathy im Zusammenhang mit ihrer Vorstellung von den gesellschaftlichen Funktionen von Literatur siehe Keen (2007: 53-55). 130 Zur Konzeptualisierung von Empathie als Akt der Parteinahme siehe Breithaupt (2009: 152ff.). <?page no="173"?> Daniel Deronda 159 formuliert wird. Die Prinzessin übt eine drastische Kritik an patriarchalischen Verhältnissen und damit zugleich am zionistischen Ideal der Gemeinschaft, in der für weibliche Emanzipationsbestrebungen kein Platz ist: I did not want to marry. […] I had a right to be free. I had a right to seek my freedom from a bondage that I hated. (DD: 626f.) Every woman is supposed to have the same set of motives, or else be a monster. I am not a monster, but I have not felt exactly what other women feel - or say they feel, for fear of being thought unlike others. When you reproach me in your heart for sending you away from me, you mean that I ought to say I felt about you as other women say they feel about their children. I did not feel that. I was glad to be freed from you. (DD: 628) You are not a woman. You may try - but you can never imagine what it is to have a man’s force of genius in you, and yet to suffer the slavery of being a girl. (DD: 631) Die Grenzen des Einfühlungsvermögens sind gemäß der Prinzessin geschlechtlich kodiert: Als Mann habe Deronda keinerlei (imaginativen) Zugang zur phänomenologischen Erfahrungsdimension gelebter weiblicher Identität innerhalb einer patriarchalischen Gesellschaft. Ihr Beharren auf Kontingenz als dem Inkommensurablen und die damit einhergehende scharfe Zurückweisung von Derondas Versuchen der Empathie entlarvt die Nähe von Empathie zur imperialistischen Vereinnahmung: Die Unterstellung von Ähnlichkeit als Voraussetzung von Empathie verleitet zur Überschätzung von Ähnlichkeit und damit der Ausblendung des je Spezifischen (vgl. Breithaupt 2009: 21). Die Alterität des Anderen wird durch die Überbetonung von Ähnlichkeit aufgehoben. 131 Der Zusammenhang zwischen Empathie und Kontingenz als dem Inkommensurablen gestaltet sich insgesamt komplex. Einerseits kann Empathie als Kontingenzaufhebungsstrategie dienen, weil sie imaginativen Zugang zur Innerlichkeit und Erfahrungsperspektive des Anderen ermöglicht, indem sie auf Ähnlichkeitsmomente bzw. das Identische abhebt. Damit Empathie nicht neutralisiert wird, bedarf es allerdings einer Grenzziehung bzw. Differenz zwischen Selbst und Anderem und damit zugleich einer Begrenzung von Ähnlichkeit (siehe auch Breithaupt 2009: 31). Somit wird Empathie andererseits gerade durch das Inkommensurable zuallererst ermöglicht und stößt gleichzeitig durch das Inkommensurable, 131 Interessanterweise lassen sich die Ausführungen von Derondas Mutter ebenfalls als Beleg dafür lesen, dass Empathie stets auf einen vorausgegangenen Akt der Parteinahme basiert. Darauf weist bereits Jaffe hin: „she expresses the same sympathetic principle Deronda eventually does: the belief that a specific group identification is a prerequisite for sympathy. Hence her rebuff to her son’s sympathetic gestures […]: ‚You are not a woman. […]‘“ (Jaffe 2000: 144) Der Akt der Parteinahme wird wiederum von der eigenen Erfahrungswirklichkeit beeinflusst, wie etwa der von der Prinzessin betonten geschlechtlich geprägten Identitätserfahrung. <?page no="174"?> 160 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive d.h. den individuellen Erfahrungsraum, an ihre Grenzen. Die Grenzen von Empathie in Eliots Roman gewinnen weiter an Kontur, wenn man die bisherigen Überlegungen mit einer Analyse von Gwendolens existentiellem Grauen verknüpft. Die Beschreibung von Gwendolens Angstanfällen weisen diese als Erfahrung radikaler Kontingenz aus: What she unwillingly recognised, and would have been glad for others to be unaware of, was that liability of hers to fits of spiritual dread, though this fountain of awe within her had not found its way into connection with the religion taught her or with any human relations. […] Solitude in any wide scene impressed her with an undefined feeling of immeasurable existence aloof from her, in the midst of which she was helplessly incapable of asserting herself. The little astronomy taught her at school used sometimes to set her imagination at work in a way that made her tremble: but always when some one joined her she recovered her indifference to the vastness in which she seemed an exile; she found again her usual world in which her will was of some avail, and the religious nomenclature belonging to this world was no more identified for her with those uneasy impressions of awe than her uncle’s surplices seen out of use at the Rectory. (DD: 63f.) In der überwältigenden Raumerfahrung des Erhabenen („vastness“) droht die Auslöschung des Selbst. Mit dieser Zeichnung des Erhabenen knüpft Eliot deutlich an romantische Traditionsstränge an, etwa an die Burkeschen Beschreibungen der Quellen des Erhabenen (z.B. Dunkelheit, Einsamkeit, unendliche Weite oder Größe). Prominentes Merkmal des Erhabenen ist die Überschreitung einer Grenze vom Menschlichen hin zur Transzendenz, indem das menschliche Maß verlassen wird (vgl. Fick 2002: 43). Diese Entgrenzungserfahrung, welche die Selbstüberschreitung des Individuums zur Voraussetzung hat, erklärt die spirituell-religiöse Dimension, die dem Erhabenen zugeschrieben wird (vgl. ebd.: 41). Es ist das Verlassen des menschlichen Maßes und das damit einhergehende Versagen der Vorstellungskraft, die zum göttlichen Schauder („awe“) führen. Im obigen Beispiel rückt die räumliche Metapher, mit der Gwendolens Erfahrung des Erhabenen beschrieben wird, einen ambivalenten Umschlagsmoment in den Vordergrund, das dem Erhabenen eingeschrieben ist. Einerseits kann das Erhabene die Färbung eines religiösen Erlebens mit den damit einhergehenden Sinnpotentialen annehmen. Diese Variante wird in obiger Passage mit dem Verweis auf „religious nomenclature“ aufgerufen. Andererseits ist jederzeit die „Identifikation des Jenseitigen mit dem Nichts des Todes“ (Fick 2002: 54) möglich; eine Identifikation, welche die spirituelle Dimension gefährdet (vgl. ebd.). Diese Variante ist es, die bei Gwendolen vorliegt. Die Aktivierung des Ichs, die sich bei dem Erhabenen aus den Versuchen ergibt, das Unvorstellbare zu fassen, geht bei Gwendolen zu- <?page no="175"?> Daniel Deronda 161 gunsten einer lähmenden Paralyse verloren, 132 so dass sie dem drohenden Überwältigwerden nichts entgegensetzen kann: Sie verliert sich in der „vastness in which she seemed an exile“. In der obigen Passage geht es allerdings um weit mehr als die für Gwendolen angstbehaftete Erfahrung der eigenen Unbedeutsamkeit und den bedrohlichen Verlust von Handlungsmächtigkeit (agency) in der Erfahrung des Erhabenen. Vielmehr rückt diese Passage Angst als Grundbefindlichkeit des Daseins im Sinne Heideggers in den Vordergrund. 133 Es sind die Angstanfälle, welche Gwendolen aus ihrem Befolgen gesellschaftlicher Konventionen und ihrer theatralen Selbststilisierung gemäß gesellschaftlicher Erwartungshaltungen (z.B. Weiblichkeitsstereotype) herausreißen (vgl. auch Winkgens 1997: 314). In Heideggerscher Terminologie übersetzt bedeutet dies, dass Gwendolen nicht mehr der Realität des Man, also der geltenden Institutionen und Werte verhaftet ist (im Sinne von ‚man macht etwas so und nicht anders‘, ‚man verhält sich auf diese Weise‘ usw.). Stattdessen wird sie mit „dem nackten Daß der Welt und des eigenen Selbst“ (Safranski 2006: 176) konfrontiert: „Das Wovor der Angst ist die Welt als solche. Vor der Angst sinkt alles nackt zu Boden, aller Bedeutsamkeit entkleidet.“ (ebd.) 134 Entscheidend ist, dass in der Angst der Mensch nicht nur die Unheimlichkeit der Welt erfährt, sondern auch die eigene Freiheit (vgl. Safranski 2006: 176): „das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens“ (ebd.). Angst kann damit beide Komponenten umfassen, nämlich „Weltangst und Angst vor der Freiheit“ (ebd.). In Gwendolens Fall sind beide Komponenten identifizierbar. Die Herauslösung aus vertrauten Kontexten birgt das Potenzial, sich selbst anders zu entwerfen (Gestaltbarkeitskontingenz); doch diesen Schritt vermag Gwendolen nicht zu vollziehen, da sie 132 Bezeichnenderweise führt einer von Gwendolens Angstanfällen dazu, dass sie wie eine Statue erscheint (vgl. DD: 61). 133 During (1993: 92ff.) geht in ihrer Analyse der Angstthematik ebenfalls auf Bezüge zu Heidegger (sowie vor allem Kierkegaard) ein. Für Deutungen von Gwendolens existentieller Angst und den Spannungen, die sich zum Ideal des sympathy ergeben, siehe auch McCobb (1985: 546). 134 Es lassen sich verschiedene Verbindungsmomente zwischen Heideggers Ausführungen zur Angst und Konzeptualisierung des Erhabenen in der Ästhetiktheorie ziehen. Für Heidegger gründet die zentrale Bedeutung des Phänomens der Angst darin, dass das Individuum sich entscheiden muss, ob es weiterhin dem Man folge oder es sich seine eigene wahre Befindlichkeit offenhalte (vgl. Düsing 2001: 53f.). In Ästhetiktheorien zum Erhabenen (z.B. Richard Rorty) wird ein solcher potentieller Bruch mit dem Man ebenfalls betont, indem der metaphysikkritische Zug des Erhabenen herausgestellt wird: „Es ermögliche die Aufsprengung des Bekannten und Erstarrten, den Umsturz der Diskurse.“ (Fick 2002: 61) Für einen konzisen Überblick über Bestimmungen und Theorien des Erhabenen vom 18. Jahrhundert bis heute siehe Fick (2002). <?page no="176"?> 162 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive sich vom Möglich-Sein abwendet und sich stattdessen an ihre „usual world“ (DD: 64) klammert. Zwar wird auf Ebene des telling immer wieder betont, dass Deronda Gwendolen erfolgreich ‚liest‘ und damit ihre Intransparenz aufhebt, doch es ist ihm nicht möglich, ihre Angst tatsächlich empathisch zu verstehen. 135 Aus phänomenologischer Hinsicht stellt die Angst eine absolute Grenze für das empathische Verstehen da, weil in der Erfahrung existentieller Angst zwischenmenschliche Bande zerrissen werden: „Die Angst ist […] das principium individuationis: durch die Angst erschließt das Dasein sich als ein ganzes, d.h. im ursprünglichen Wortsinne individuelles, nämlich ungeteiltes.“ (Luckner 2001: 82) Da Gwendolens Angst für Deronda enigmatisch bleibt, schlägt er ihr vor, dass sie sich ihrer Angst öffnet und sie auf diese Weise für eine moralische Instrumentalisierung zugänglich macht: Turn your fear into a safeguard. Keep your dread fixed on the idea of increasing that remorse which is so bitter to you. Fixed meditation may do a great deal towards defining our longing or dread. We are not always in a state of strong emotion, and when we are calm we can use our memories and gradually change the bias of our fear, as we do our tastes. Take your fear as a safeguard. It is like quickness of hearing. It may make consequences passionately present to you. Try to take hold of your sensibility, and use it as if it were a faculty, like vision. (DD: 452) Derondas Ratschlag weist die „Angstemotion als etwas Originäres, als Ursprung innerlichen Selbstempfindens“ (Winkgens 1997: 321) aus. Gerade weil Angst als „authentischer Ursprung emotionaler Expressivität“ (ebd.) erscheint, bietet sie eine geeignete Richtschnur bzw. „faculty“, um die Richtigkeit des eigenen Handelns zu bewerten und eine Abkehr von der Welt des artifiziellen Scheins zu vollziehen (vgl. ebd.). Derondas Handlungsempfehlung ist allerdings von zwiespältiger Natur. Er beruft sich auf Angst als authentische Ursprünglichkeit, wirkt aber mit seiner moralischen Argumentation zugleich dem existentiellen Moment der Freiheit des Sich-selbst-wählens entgegen. Sein Ratschlag stellt letztlich eine Fortsetzung seines Versuchs dar, die Codierungen des Spekulationssubjekts aufzuheben: Nicht nur bemüht er sich darum, Gwendolen richtig zu lesen und damit transparent zu machen, sondern er will auch das Exzessive an ihr zähmen. In diesem Fall handelt es sich um ihre exzessive Angst, und zwar soll sie ihre extreme Angstemotion als eine moralische Sicherungsfunktion nutzen. Da er ihre Angst nicht versteht, läuft sein Ratschlag schließlich ins Leere. Gwendolen trägt weiterhin mörderische 135 Vgl. DD: 453: „He was under the baffling difficulty of discerning, that what he had been urging on her was thrown into the pallid distance of mere thought before the outburst of her habitual emotion. It was as if he saw her drowning while his limbs were bound.“ <?page no="177"?> Daniel Deronda 163 Impulse in sich, die ihr Angst einflößen und zunehmend an Kraft gewinnen. Zur komplexen Verknüpfung des Angstmotivs mit der Kontingenzthematik in Daniel Deronda gehört, dass Gwendolens Angst nicht nur ein Moment existentieller Wählbarkeit umfasst. Vielmehr zeugt ihre Angst auch von ihrem unterdrückten und damit angstbehafteten Begehren nach einer Öffnung von Kontingenz im Bereich weiblicher Subjektmodelle (vgl. During 1993: 100-101; Horatschek 2010). Ein hervorstechender Zug von Gwendolen ist, dass sie dem klassischen Emplotment weiblicher Lebensläufe entkommen möchte, indem sie Ehe und Mutterschaft sowie die Unterordnung unter einen Mann durch die Reklamierung männlicher Vorrechte wie Unabhängigkeit und Bewegungsfreiheit ersetzt (vgl. z.B. DD: 135). In diesem emanzipativen Bestreben erinnert sie an Derondas Mutter, die Prinzessin Halm-Eberstein, die nach ihren eigenen Angaben der patriarchalischen Enge der jüdischen Kultur durch ihre Karriere als Sängerin entfliehen konnte. Da Gwendolen im Unterschied zur Prinzessin jedoch großen Wert auf die Einhaltung von sozialen Konventionen legt, sind ihren emanzipativen Bemühungen von Anfang an enge Grenzen gesteckt: „Gwendolen’s daring was not in the least that of the adventuress; the demand to be held a lady was in her very marrow.“ (DD: 272) Diese Grenzen ziehen sich nach dem finanziellen Ruin und den damit verbundenen materiellen Nöten noch enger zusammen, zumal ihr eine Karriere als Sängerin aufgrund mangelnden Talents nicht offensteht. Als Gwendolens größter ‚gamble‘ wird in Daniel Deronda ihre Heirat mit Grandcourt ausgewiesen (vgl. DD: 441), bei der sie fälschlicherweise darauf setzte, dass Grandcourt leicht manipulierbar sei und ihr dementsprechend eine größtmögliche Handlungs- und Entscheidungsfreiheit sowie die finanziellen Ressourcen, diese zu nutzen, ermöglichen würde. Statt einen Freiheitsgewinn zu verspüren, fühlt sich Gwendolen jedoch im Würgegriff ihres Gatten gefangen, weil dieser ihre Ängste und Gewissensbisse geschickt zu nutzen weiß, um sie gefügig zu machen. Die bedrohliche Stärke von Gwendolens Aufbegehren gegen männliche Autorität und Herrschaft wird durch ihre Fähigkeit zu „infelonious murder“ (DD: 25) inszeniert. Ihr Erwürgen des Kanarienvogels ihrer Halbschwester, der erste Beleg für ihre Fähigkeit zu „murder“ (ebd.), erscheint als eine Verschiebung ihrer mörderischen Wut vom Stiefvater zu einem weiter entfernten Objekt, das mit ihm assoziativ verbunden ist, nämlich dem Haustier seiner leiblichen Tochter. 136 Der Verdacht, dass es sich um eine Verschiebung handelt, erhärtet sich aufgrund von verschiedenen Textsignalen. Erstens wird metonymisch eine Nähe zwischen der Tötung des Vogels und Gwendolens Aversion gegenüber ihrem „unloveable 136 Für eine Diskussion von Gwendolens mörderischen Impulsen gegenüber ihrem Stiefvater siehe auch Paris (2003: 148f.). <?page no="178"?> 164 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive stepfather“ (DD: 24) dadurch eingeführt, dass ihre Antipathie gegenüber dem männlichen Familienoberhaupt kurz vor der Schilderung der Tötung des Haustiers Gegenstand des Erzählerdiskurses war. Zudem wirkt Gwendolens Wertung ihrer Tat als „murder“ deplaziert, weil die Kategorie ‚Mord‘ innerhalb des westlichen Kulturkreises für die Tötung von Menschen und nicht von Tieren reserviert ist. Wenn der Stiefvater das eigentlich gemeinte Objekt der Aggression ist, dann ergibt die Wortwahl wiederum Sinn. Nicht zuletzt ruft das Mord-Motiv eine Parallele auf zu ihrem späteren Tötungswunsch gegenüber einem anderen Repräsentanten patriarchalischer Autorität: ihrem Ehemann. Ob Gwendolen eine Mitschuld an Grandcourts Tod trägt, bleibt letztlich innerhalb der Romanwelt unklar. 137 Angesichts der mörderischen Qualität von Gwendolens Aggression gegenüber patriarchalischen Unterwerfungs- und Vereinnahmungsbewegungen muss der psychische Aufwand zur Unterdrückung dieser Energien und Impulse im Zeichen einer Identifikation mit traditionellen Weiblichkeitsstereotypen zwangsläufig sehr hoch sein. Vor diesem Hintergrund kommt der Tatsache eine gesteigerte Bedeutung zu, dass Gwendolen ihre ersten beiden Angstanfälle ausgerechnet in Momenten erlebt, in denen sie nach Konformität mit den sozialen Normen ihrer Zeit strebt (vgl. Horatschek 2010: 197). Besonders deutlich wird dies bei ihrem zweiten Angstanfall, den sie bei ihrer Aufführung von The Winter’s Tale als tableau vivante erlebt. Ihre Übernahme der Rolle von Hermione, die aufgrund ihrer vermeintlichen ehelichen Untreue und somit transgressiver weiblicher Sexualität zum Tode verurteilt wurde, geht einher mit der Konfrontation mit demjenigen angsteinflößenden Bild, das als antizipative Versinnbildlichung ihres späteren Begehrens, Grandcourt zu töten, gelesen werden kann. Die durch die Identifikation mit einem patriarchalischen Weiblichkeitsstereotyp verdrängten aggressiven Energien und Impulse kehren in externalisierter Form des unheimlichen Bildes wieder (vgl. auch ebd.: 199f.). Wie sehr diese verdrängten Impulse außerhalb der gültigen patriarchalischen Ordnung stehen, wird durch das Bild selbst sowie durch dessen Codierungen unterstrichen. Die Wasserleiche, die das Bild zeigt, repräsentiert den Bereich des Todes und damit das Reale (sensu Lacan), das nicht 137 Für Deronda steht Gwendolens Unschuld aufgrund ihrer Schuldgefühle nach Grandcourts Tod fest. In seiner Deutung der Ereignisse verkehrt er das Verhältnis von Ursache und Wirkung: „Instead of causes he concentrates on effects: her remorse and conviction of guilt is the ground for not accepting the narrative. She is innocent because she insists she is guilty. The hermeneutic of suspicion prepares the way for the hermeneutic of restoration. In the terms of Hans Meyrick’s paradoxes, ‚antithesis is the sole clue to events‘ which can best be understood as ‚present causes of past effects‘ […] [DD: 641].“ (Carroll 1992: 309) Ausführlich zur (vermeintlichen) „distortion of causality“ (Chase 1978: 217) in Daniel Deronda siehe Chase (1978). <?page no="179"?> Daniel Deronda 165 durch die symbolische Ordnung eingefangen werden kann. 138 Die Verknüpfung des Bildes mit Gwendolens späterer Überzeugung, ein Verbrechen begangen zu haben, d.h. an Grandcourts Tod schuld zu sein, stellt die transgressive Kraft der zurückkehrenden aggressiven Impulse heraus. Dass es sich bei dem weiblichen Begehren, aus der patriarchalischen Geschlechterordnung auszubrechen, um eine gesteigerte Form der Transgression, nämlich einen Tabubruch handelt, zeigt sich durch die Verknüpfung der Rückkehr des Verdrängten mit dem Bereich des Erhabenen bzw. einer sakralen Dimension: „a taboo is a prohibition justified by the sacredness of what is prohibited, and this sacredness, in turn, is embodied by [terrible powers]“ (Valeri 2000: 44 unter Verweis auf Emile Durkheim). 139 Der Tabubruch stellt einen Exzess und damit ein liminales Moment dar, das das Subjekt mit dem Realen als den Bereich außerhalb der symbolischen Ordnung konfrontiert. Diese psychische Dynamik erklärt Gwendolens Angst vor einem Verlust des Selbst im Rahmen ihrer Angstanfälle. Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass Gwendolens Angstanfälle mit zwei Formen von Kontingenz in Verbindung gebracht werden können. Erstens zeugen sie von ihrem Begehren nach einer Öffnung von Kontingenz im Bereich weiblicher Subjektmodelle. Sie lehnt ihre Einbindung in patriarchalische Emplotments ab und wünscht Gestaltbarkeitskontingenz hinsichtlich ihrer eigenen Lebensführung. Zweitens erscheinen die Wirkungen des Unbewussten in Daniel Deronda als eine Form von Widerfahrniskontingenz, weil Gwendolen die Rückkehr des Verdrängten als etwas erlebt, über das sie keine Kontrolle hat bzw. das ihr widerfährt. Gwendolen wird überwältigt von Angstanfällen, die in diesem Moment ihre agency auszulöschen drohen. Die beiden Kontingenzformen erweisen sich aufs engste miteinander verknüpt. Gerade weil Gwendolen aufgrund ihrer Sozialisation, d.h. ihrem Zurückschrecken vor allzu radikalen Brüchen mit der Etikette, ihr Begehren nach Kontingenzöffnung unterdrückt, gewinnt die Rückkehr des Verdrängten an Dynamik und droht, ihre agency gänzlich auszulöschen. In formalästhetischer Hinsicht sprengt die symbolische Darstellung von Gwendolens verdrängten aggressiven Impulsen die Grenzen realistischer Erzählkonventionen. Die ästhetischen Brüche, die sich dadurch in Daniel Deronda ergeben, unterstreichen den Status des Unbewussten als das Unverfügbare: 138 Für eine psychoanalyische Deutung von Gwendolens Angstanfällen siehe auch Horatschek (2010), die allerdings eine an Kristeva und nicht an Lacan orientierte Interpretation entwickelt. Dementsprechend weist sie das Bild der Leiche als Beispiel des Abjekten und nicht des Realen aus (vgl. ebd.: 198). 139 Für einen konzisen Überblick über „Taboo, Transgression, and Literature“ siehe Horlacher (2010). <?page no="180"?> 166 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Both the intensity of her wishing and the compliance of the plot, however welcome, are a lapse from the realism of the novel. […] Gwendolen’s anger is […] a superfluity of emotion, that Eliot has not been able to probe through the realist frame that has worked to contain her representation of extreme female emotion. (Sypher 1996: 518) Da sich innerhalb der Textwelt Gwendolens Angstanfälle einer rationalen Erklärung entziehen, erweist sich diese psychische Dimension als eine wesentliche Quelle für ihre Intransparenz. Da sich das Unbewusste einer begrifflichen Erfassung entzieht, lässt es sich als einen Bereich des Inkommensurablen par excellence charakterisieren. Gwendolens Entwicklungsweg ist von einer grundlegenden Ambivalenz geprägt, die sich aus der problematischen Vermengung zweier impliziter Argumentationsfiguren ergibt. Die ethische Forderung nach einer Anerkennung von Alterität und den Ansprüchen des Anderen, der nur durch Aufgabe des eigenen übersteigerten Narzissmus nachgekommen werden kann, wird mit einer patriarchalischen Geschlechterpolitik gepaart, wonach transgressive Weiblichkeit gebannt werden muss. Die Vermengung dieser beiden Bewegungen führt dazu, dass eine auffällige Diskrepanz zwischen der Ebene des telling und des showing herrscht. 140 Abhängig davon, welche Ebene man bevorzugt, lässt sich Gwendolens Entwicklungsweg unterschiedlich bewerten. Folgt man den Leserlenkungsstrategien des Romans, so ist am Ende nicht nur Gwendolens Intransparenz (scheinbar) aufgehoben, sondern ihre Entwicklung unter Derondas Mentorschaft wird auf Ebene des telling explizit als positiver Bildungsweg ausgewiesen: Would her [= Gwendolen’s] remorse have maintained its power within her, or would she have felt absolved by secrecy, if it had not been for that outer conscience which was made for her by Deronda? […] In this way our brother may be in the stead of God to us, and his opinion which has pierced even to the joints and marrow, may be our virtue in the making. That mission of Deronda to Gwendolen had begun with what she had felt to be his judgment of her at the gaming-table. He might easily have spoiled it: - much of our lives is spent in marring our own influence […]. Deronda had not spoiled his mission. (DD: 763) Weil Deronda in der Lage ist, Gwendolen richtig zu ‚lesen‘, 141 ist es ihm möglich, ihren moralischen Bildungsweg entscheidend zu beeinflussen: „his influence had entered into the current of that self-suspicion and selfblame which awakens a new consciousness“ (DD: 430). 140 Eine umfassende Analyse von Diskrepanzen zwischen der Ebene des telling und derjenigen des showing in Daniel Deronda liefert Paris (2003: 111-208). 141 Vgl. beispielsweise DD: 434: „He thought he had found a key now by which to interpret her more clearly“. Zur Interpretation dieser Passage im Kontext präsenzmetaphysischer Sinnstrukturen in Daniel Deronda siehe Winkgens (1997: 321ff.). <?page no="181"?> Daniel Deronda 167 Bezeichnenderweise gelingt es Gwendolen erst in Offendene, als Deronda ihr von seinem bevorstehenden Weggang erzählt, den letzten Rest ihres Egoismus zu überwinden. Zwar löst seine Nachricht bei ihr einen existentiellen Angstanfall aus, doch verschließt sie sich nicht gegenüber ihrer angstbehafteten Erfahrung der eigenen Relativierung. Vielmehr legt sie ihre egoistischen Besitzansprüche an Deronda angesichts seines historischen Auftrags ab: She [= Gwendolen] was for the first time […] being dislodged from her supremacy in her own world, and getting a sense that her horizon was but a dipping onward of an existence with which her own was revolving. All the troubles of her wifehood and widowhood had still left her with the implicit impression which had accompanied her from childhood, that whatever surrounded her was somehow specially for her […]. [S]he could not spontaneously think of him [= Deronda] as rightfully belonging to others more than her. But here had come […] something spiritual and vaguely tremendous that thrust her away, and yet quelled all anger into self-humiliation. (DD: 804) Während Gwendolen zuvor Deronda als eine Erweiterung ihres Selbst im Sinne eines „outer conscience“ (DD: 763) wahrgenommen hat und damit bisher blind für seine Alterität war, überwindet sie gemäß der auktorialen Erzählinstanz nun ihren Egozentrismus (DD: 796), denn sie wird sich „the separateness of his life“ (ebd.) und der Bedeutung seines historischen Auftrags bewusst. Offendene als Schauplatz dieser moralischen Entwicklung Gwendolens ist insofern von Bedeutung, als dieser an früherer Stelle von der auktorialen Erzählinstanz als Ort eingeführt wurde, an dem Gwendolen in ihrer Kindheit hätte organische Wurzeln schlagen können. Mit der Rückkehr nach Offendene zusammen mit ihrer Mutter sowie der unter Derondas Einfluss erfolgenden Abkehr von der Kontingenzkultur der Kasinowelt und der Wiedergewinnung eines Zugangs zur „emotionalen Authentizität unmittelbarer, innerlicher Selbstaffektion“ (Winkgens 1997: 322) wird die Möglichkeit der Entwicklung eines gemeinschaftlichen sense of place aufgerufen. 142 Bei genauerer Betrachtung, erscheint Gwendolens Bildungsweg, d.h. ihre Überwindung der eigenen Selbstzentriertheit zugunsten der Anerkennung von Alterität, allerdings als patriarchalische Kontingenzschließung hinsichtlich alternativer weiblicher Subjekt- und Lebensentwürfe. 143 142 Für Interpretationen von Daniel Deronda, in denen Gwendolens Entwicklung tendenziell positiv gelesen wird, siehe u.a. Winkgens (1997: 317-324), Ermarth (1985: 128), Colón (2005: 301-303) und Carroll (1992: 312). 143 Für eine feministisch geprägte Kritik an Gwendolens patriarchalischer Unterwerfung vgl. Sypher (1996) und Herzog (2005). Weitere Intepreten, die Gwendolens Entwicklung als problematisch werten, sind u.a. Paris (2003: 174-177), Flint (2001: 177) und Graver (1984: 229). <?page no="182"?> 168 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Dadurch dass Gwendolens Verhalten primär als egoistisch im Roman ausgewiesen wird - angefangen von der Bewertung der auktorialen Erzählinstanz bis hin zu Gwendolens Eigenwahrnehmung -, erfolgt eine Verdrängung und Delegitimierung weiblicher Emanzipationsbestrebungen. Wenn Gwendolens Entschluss zur Ehe mit Grandcourt explizit von der auktorialen Erzählinstanz als riskantes Spiel gewertet wird, dann erfolgt damit zugleich eine negative Bewertung ihres Versuchs, Freiheit durch die Ehe zu gewinnen. Mit dem Motiv des Spiels wird Gwendolens Versuch der Kontingenzöffnung für weibliche Freiheitsräume explizit mit der scheinhaften Kasinowelt verknüpft. Die Kontingenzöffnung wird damit zugleich als egoistisches Spiel ohne Rücksicht auf genealogische Bande, wie sie durch Mrs. Glashers gemeinsame Kinder mit Grandcourt repräsentiert werden, entwertet. 144 So wie die Kasinowelt eine monetäre Verflechtungsordnung darstellt, so handelt es sich bei Gwendolens Ehe nicht um eine Liebesheirat, sondern um einen „contract“ (DD: 603) und damit ein ökonomisches Tauschverhältnis. Die negative Codierung weiblicher Emanzipationsbestrebungen zeigt sich auch in der Darstellung von Prinzessin Halm-Eberstein, die als Korrespondenzfigur zu Gwendolen fungiert. Die Auflehnung gegen „the slavery of being a girl“ (DD: 631) innerhalb einer patriarchalischen Gesellschaft und ihr Wunsch, selbst herrschen zu wollen, eint sie mit Gwendolen. Bezeichnenderweise nimmt Deronda die leidenschaftliche Selbstrechtfertigung seiner Mutter für ihre Ablehnung der ihr zugedachten Rollen innerhalb der patriarchalisch-jüdischen Kultur als „some strange rite of a religion which gave a sacredness to the crime“ (DD: 626) wahr. Da sowohl die emanzipativen Handlungen von Derondas Mutter und Gwendolen als Verbrechen wahrgenommen werden, erhärtet sich die Korrespondenzbeziehung zwischen diesen weiblichen Figuren. In beiden Fällen erfolgt eine negative Bewertung, weil die Handlung als egoistisch codiert wird. Die Prinzessin hält zwar eine eloquente Rede über ihren alternativen Lebensentwurf bzw. ihren Bruch mit dem Patriarchat, doch scheint dieses Element im Kontext des Gesamtromans eher dazu zu dienen, Derondas Distanzierung von der Mutter zugunsten der Identifikation mit dem spirituellen Vater Mordecai zu rechtfertigen (vgl. Nestor 2002: 147). Auf der Oberflächenebene des Textes ist es der Egoismus von Gwendolen und Derondas Mutter, der ihnen als ‚Verbrechen‘ angelastet wird. Allerdings lässt sich aus feministischer Perspektive ihr Verstoß gegen den Namen des Vaters, dem Gesetz des Patriarchats, als das eigentliche Verbrechen dieser Frauen im Rahmen der Logik des Textes identifizieren. Zum Verstoß gegen phal- 144 Für eine differenzierte Analyse der Leserlenkungsstrategien, durch die Gwendolens Eingehen der Ehe mit Grandcourt ihr als Verbrechen angelastet wird, sowie der damit verbundenen internen Widersprüche, die sich im Roman finden, siehe Paris (2003: 111-208). <?page no="183"?> Daniel Deronda 169 logozentrische Strukturen gehört ferner die Unterminierung des zuvor diskutierten präsenzmetaphysischen Ideals, da angesichts des „sincere acting“ (DD: 629) der Prinzessin ein solches Ideal ad absurdum geführt wird (vgl. Winkgens 1997: 312f.). In Gwendolens Fall ist es fraglich, ob sie am Ende tatsächlich ‚transparent‘ ist oder sie nicht vielmehr ein Rätsel bleibt, da vor allem ihre Angstanfälle im Roman nie wirklich erklärt werden. 145 Die Ausgrenzung weiblicher Emanzipationsbestrebungen in Daniel Deronda verweist auf eine weitere problematische Facette von Empathie als Ideal. Ausgerechnet Deronda, dem die auktoriale Erzählinstanz exzessive Empathie zuordnet, fühlt sich nicht in der Lage, Empathie für seine Mutter zu empfinden. Empathie für eine aufbegehrende Frau kann es allem Anschein nur dann geben, wenn diese, so wie Gwendolen, für ihre freiheitlichen Bestrebungen drastisch leidet: Gwendolen knowing of that woman [= Mrs Glasher] and her children, marrying Grandcourt, and showing herself contented, would have been among the most repulsive of beings to him [= Deronda]; but Gwendolen tasting the bitterness of remorse for having contributed to their injury was brought very near to his fellow-feeling. (DD: 434) Bei genauerer Betrachtung erscheint Empathie somit nicht nur als eine imaginative Einfühlung in die Perspektive des Anderen. Stattdessen ist Empathie insbesondere „eine Entscheidung zur Parteinahme für den einen (und nicht den anderen), die durch narrative Strategien emotional und rational legiti- 145 Als dominantes Weiblichkeitsideal wird in Daniel Deronda die selbstaufopfernde Mirah etabliert, die sich männlichen Autoritätspersonen klar unterordnet und damit keinerlei Herausforderung fürs Patriarchat darstellt (vgl. Nestor 2002: 146, Sypher 1996: 511). Dieses Weiblichkeitsideal ist zudem an die Privilegierung eines Modells „selbsttransparenter und zeichentranszendenter Unmittelbarkeit“ (Winkgens 1997: 375) gekoppelt, so wie es im Kontext des Ideals organischer Gemeinschaft herausgearbeitet wurde. Während sich das Verstehen zwischen Deronda und Mordecai als Seelenkommunikation gestaltet (ebd.: 360; vgl. DD: 496), ist es bei Derondas erster Begegnung mit Mirah die Musik in Form der gesungenen Arie, „die zum Anknüpfungspunkt ihrer präverbalen Kommunikation ‚from soul to soul‘ und damit ihrer wahren Liebe wird“ (Winkgens 1997: 332). Mit diesem Motivkomplex wird der (vor)romantische Topos von Musik als Medium emotionaler Expressivität aufgegriffen (vgl. ebd.). Vor dem Hintergrund dieses Motivkomplexes gewinnt Gwendolens zuvor erwähnte Tötung eines Vogels zusätzlich an Bedeutung. Interessant an der Tötungsepisode des Vogels ist, dass authentische Expressivität - in diesem Fall die Aggression gegenüber dem Tier/ Stiefvater - insofern wiederum mit dem Motiv von Musik gekoppelt wird, als es sich bei dem Haustier ausgerechnet um einen Singbzw. Kanarienvogel handelt. Während in Deronda und Mirahs Fall Musik zu einer positiven Bindung bzw. zu Seelenkommunikation führt, geht es bei Gwendolens authentischer Expressivität im Umgang mit ‚Musik‘ bzw. Singvögeln um Rivalität und Abgrenzungsversuchen gegenüber einem vereinnahmenden Patriarchat. <?page no="184"?> 170 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive miert wird“ (Breithaupt 2009: 175). Diese Struktur von Empathie kann spezifische Pathologien generieren: Der Beobachter will das Leiden des anderen, um sich für ihn zu entscheiden und mit ihm Empathie haben zu können. […] Empathie ist eine Form der Partizipation am anderen, die dessen Schwäche und Leiden zur Grundlage von Mitgefühl und Hilfe macht, und die zugleich die Perpetuierung dieser Schwäche und dieses Leidens durchsetzen will. (ebd.: 176) Eine solche Pathologie ist tendenziell auch in dem Walten der poetischen Gerechtigkeit in Daniel Deronda angelegt. Die herausgearbeitete feministische Deutung von Gwendolens Angstanfällen stellt die vorangegangene Interpretation ihrer Entwicklung als begrüßenswerte Überwindung ihres Narzissmus nicht völlig in Frage. Entscheidend ist vielmehr, dass die Ambivalenz ihres Entwicklungsweges aufgrund der Vermengung der genannten Argumentationsfiguren unaufhebbar ist. Diese grundlegende Ambivalenz des Gwendolen-Handlungsstrangs kann paradigmatisch anhand der Schlussszene des Romans illustriert werden. Im Unterschied zu Derondas Mutter gibt Gwendolen ihren Herrschaftswillen vollständig zugunsten der Unterwerfung unter eine männliche Autoritätsfigur auf, nämlich den für sie gottgleichen Deronda. Bleibt man auf der Ebene des telling, so ist ihre Entwicklung positiv zu lesen. Der Roman endet mit Gwendolens Überwindung ihres übersteigerten Narzissmus und der Aussicht, dass sie organische Wurzeln in Offendene schlagen könnte. Konzentriert man sich dagegen auf die Ebene des showing, so zeigt sich ein anderes Bild: Gwendolen durchlebt einen tiefgreifenden psychischen Zusammenbruch, der einem Verlust des Selbst nahe kommt (vgl. Paris 2003: 174-177). Ihre emotional-hysterischen Ausrufe, „I will try - try to live“ bzw. „I am going to live“ (DD: 806f.) deuten darauf hin, dass sie den Verlust von Deronda, ihrer primären Bezugsperson, als Tod des Selbst erlebt. Da wir danach keinerlei Innenperspektive von Gwendolen mehr gezeigt bekommen, wird der Eindruck von bleibenden psychischen Verletzungen, von denen ihr hysterisches Weinen die Nacht hindurch zeugt, nicht aufgehoben. Am Ende des Romans sind Gwendolen zwar ihre emanzipativen Bestrebungen hinsichtlich einer Kontingenzöffnung im Bereich weiblicher Subjekt- und Lebensentwürfe ausgetrieben worden, allerdings um den Preis des Verlusts ihres Selbst. Insgesamt ist somit nicht nur der jüdische Teil durch auffällige Widersprüche und innere Spannungen geprägt, sondern auch der englische Teil mit seinem Fokus auf Gwendolens Entwicklungsweg. Die besondere Rolle von Kontingenz als dem Inkommensurablen zeigt sich in der Darstellung von Angst und der Grenzen des ethischen Ideals der sympathy. Das Ideal von sympathy ist in Daniel Deronda wiederum eingebunden in die bereits besprochene Kontingenzumgangsstragie einer ‚religion of humanity‘. Eine fundamentale Instabilität bei dieser Strategie wird durch Gwendolens Zu- <?page no="185"?> Daniel Deronda 171 sammenbruch angesichts Derondas Weggangs aufgezeigt. In der als bedrohlich empfundenen Leere und Weite des Universums, das als gleichgültig gegenüber dem Individuum erscheint, bildet einzig Deronda Gwendolens existentiellen Rettungsanker, da er „in the stead of God“ (DD: 763) zu ihr steht. Die Beziehungsdynamik zwischen beiden zeigt aber, dass es dieser gottgleiche Status von Deronda in Gwendolens Augen ist, der zu ihrer psychischen Abhängigkeit von ihm führt. Deronda ist derjenige, der als Sinngebungsinstanz für sie fungiert, indem er sie und ihr Leben liest und bewertet. Diese Konstellation ist instabil, weil nicht nur die metaphysischen Götter, sondern auch die menschlichen ‚Götter‘ als existentielle Bezugspunkte entschwinden können, und dadurch wäre das Subjekt auf alternative Sinnressourcen angewiesen. Da Gwendolen solche Sinnressourcen nicht hat, fühlt sie sich abermals als „solitary and helpless“ (DD: 803). Um die bisher herausgearbeitete Instabilität bei den Kontingenzumgangsstrategien in Daniel Deronda differenzierter zu analysieren, ist es notwendig, die Implikationen der ästhetischen Form des Romans, d.h. insbesondere dessen generischer Hybridität, in die Überlegungen miteinzubeziehen. Das nachfolgende Kapitel dient einer solchen Erweiterung der Diskussion sowie einer abschließenden Betrachtung der dominanten Formen von Kontingenz und der zentralen Kontingenzaufhebungsstrategien in Eliots Roman. 1.4 Die Instabilität der Kontingenzaufhebungsstrategien: Die generische Hybridität des Romans und die Fissuren der organizistischen Therapie Die interpretatorische Leitthese der vorangegangen Argumentation lautete, dass sich Daniel Deronda insgesamt als ein Anschreiben gegen die eingangs entworfene Kontingenzkultur des zeitgenössischen Englands liest. Das Leitmotiv des Glücksspiels lenkt die Aufmerksamkeit auf die wesentliche Rolle, die der Kapitalismus mit seinen Abstraktionsprozessen für die moderne Kontingenzerfahrung spielt. Zwei zentrale Kontingenzbewältigungsstrategien, die Eliots Roman durchwirken und sich gegen die Abstraktionsprozesse der Moderne richten, sind die Inszenierung einer ‚religion of humanity‘ sowie die Einführung von destiny im Gewand der ‚politischen Religion‘ des Nationalismus. Diese literarisch inszenierten Strategien können als exemplarisch für zeitgenössische Versuche gelesen werden, mit der modernen Kontingenzerfahrung umzugehen. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des Nationalismus. Die Ausbreitung des Nationalismus wird innerhalb der Geschichtswissenschaft als Reaktion auf Modernisierungskrisen gedeutet, da dieser in solchen Krisen eine Legitimationsbasis bot und bröckelnde Weltbilder durch sein eigenes ersetzte (vgl. Wehler 2001: 27). Die enge Affinität des Nationalismus zur Religion wird in der Geschichtsforschung durch den Verweis auf große Schnitt- <?page no="186"?> 172 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive mengen zwischen dem „Ideenhaushalt des Nationalismus“ (ebd.: 33) und zentralen Elementen „vertraute[r] Erlösungslehren“ (ebd.: 32) im westlichen Kulturkreis herausgestellt. 146 Wie die Analyse von Daniel Deronda gezeigt hat, dient der Zionismus als Modell für die Verwirklichung des Ideals gelebter organischer Gemeinschaft. Die Widersprüche und Fissuren, die im Roman bei der Entfaltung dieser beiden Kontingenzaufhebungsstrategien auftreten, betonen die Schwierigkeit, moderne Kontingenzerfahrungen durch die Überführung in allgemeingültig-normative Sinnstrukturen aufzuheben. Symptomatisch für diese Schwierigkeit, ein Ideal zu konkretisieren, das Sinnverheißung verspricht, ist die generische Hybridität des Romans. Die bisherige Argumentation lässt sich mit Bezug auf die Gattungskonventionen, auf die in Eliots Roman zurückgegriffen wird, wie folgt zuspitzen: Während der englische Teil mit seinen hauptsächlich realistischen Erzählkonventionen auf tiefenstruktureller Ebene den Gesetzen des Geldes verpflichtet bleibt (wenn auch mit kritischen Akzenten), ist der jüdische Teil mit seinen vorwiegend romanzenhaften Elementen bemüht, die moderne Kontingenzerfahrung durch eine Hermeneutik der Fülle aufzuheben. Die Analyse der Kasinowelt mit ihrer Verknüpfung von Geld und Kontingenz hat gezeigt, inwiefern der monetäre Code „die Perspektive […] der Knappheit und des Mangels“ (Hörisch 1998: 183) oktroyiert. Es ist genau eine solche „Hermeneutik des universalen Mangels“ (ebd.), welche die Textur des Gwendolen-Handlungsstrangs prägt. Dies betrifft sowohl die ethische Leitmaxime ‚one’s gain is another’s loss‘ als auch die in diesem Teil des Romans propagierte Ethik der Alterität, d.h. die Anerkennung und das Aushalten von Differenz und Alterität. 147 Die Aufgabe des eigenen Narzissmus bedeutet die Aufgabe von Allmachtsansprüchen und die Akzeptanz einer Mangelerfahrung. 148 So muss Gwendolen schmerzhaft lernen, dass Deronda nicht da ist, um ihr in Form von narzisstischen Spiegelungen eine ganzheitliche Identität zu ermöglichen; er gehört ihr nicht: „[she is] thrust […] away“ (DD: 804). Zu dieser Hermeneutik des universalen Mangels im englischen Teil des Romans gehört, dass Gwendolen letztlich doch, nach dem Weggang Derondas, in einem sinnindifferenten Universum ausharren muss, das ihr keinerlei Ressourcen für Identitätsarbeit und Sinnstiftung bietet. Das wäre zumindest das Fazit für die Ebene des showing. Demgegenüber bietet der romanzenhaft jüdische Handlungsstrang eine Hermeneutik der Fülle. Mit ‚Fülle‘ ist eine Metaphysik der Präsenz ge- 146 Eine detaillierte Auflistung von Schnittmengen zwischen Nationalismus und Religion findet sich in Wehler (2001: 32ff.). 147 Ausführlich zur Ethik der Alterität in Daniel Deronda vgl. Hollander (2005). 148 Eine wirkmächtige (obgleich umstrittene) psychoanalytische Konzeptualisierung des Subjekts als Mangelwesen liefert Jacques Lacan in seiner strukturalen Psychoanalyse. <?page no="187"?> Daniel Deronda 173 meint, gemäß der ganzheitliche Identität und die Verschmelzung von Sinn und Sein möglich sind. Eine solche Hermeneutik der Fülle lässt sich besonders anschaulich anhand der Beziehung zwischen Mordecai und Deronda verdeutlichen. Während Gwendolen auf schmerzhafte Weise in eine Ethik der Alterität initiiert wird, erfolgt in der Beziehungsdynamik zwischen Mordecai und Deronda eine Aufhebung von Alterität: [T]he fundamental difference between self and other is collapsed through Deronda’s discovery of his Jewishness. By prophetic fiat, the other becomes the self. Indeed, the sense of Daniel’s epic destiny depends not only on a repudiation of difference, but it also comes to rely on its concomitant, the psychological fantasy of wholeness, in which there is no lack. This fantasy is played out particularly in the vocabulary of Deronda and Mordecai’s relationship. So, Daniel is imagined as Mordecai’s ‚new self‘ (423), and he comes to speak ‚from Mordecai’s mind as much as from his own‘ (640). Their separate identities are fused as Mordecai demands that Daniel be ‚not only a hand to me, but a soul - believing my beliefs - being moved by my reasons - hoping my hopes - seeing the vision I point to - beholding a glory where I behold it! ‘ (428) That fusion is further stressed by images of gestation. (Nestor 2002: 150) In der Seelenkommunikation zwischen Mordecai und Daniel gibt es keinen Raum für Missverständnisse oder eine unendliche Aufschiebung von Bedeutung im Zeichen von différance. Eine solche Transparenz bleibt Gwendolen, die in einer Hermeneutik des Mangels gefangen bleibt, versagt. Bis zum Schluss versteht sie sich und ihre Handlungen nicht einmal selbst. Der Antagonismus zwischen einer monetären Hermeneutik des Mangels und einer spirituellen Hermeneutik der Fülle zeigt sich nicht nur beim Vergleich des englischen Teils des Romans mit dem jüdischen, sondern auch innerhalb des jüdischen Handlungsteils. Die Fortsetzung des Geldmotivs im jüdischen Teil kommt dabei angesichts der alten „Feindschaft zwischen religiösen und monetären Orientierungen (cf. die deutliche Geldverwerfung der Bibel - u.a. Matth. 19,23; Mark 10,25; Luk 16,13 und 18,25 […])“ (Hörisch 2004: 114) nicht überraschend. Auf den ersten Blick wird in den jüdischen Passagen Geld lediglich als Mittel zum Zweck behandelt, da Mordecai die finanzielle Unabhängigkeit Derondas als unerlässlich für die Umsetzung seiner historischen Mission bewertet: „Experience had rendered him [= Mordecai] morbidly alive to the effect of a man’s poverty […] in cheapening his ideas“ (DD: 473). Die Hermeneutik des Geldes stellt allerdings ebenso für die jüdische Gemeinschaft ein Zerstörungspotential dar. Dafür stehen etwa Mordecais vergebliche Bemühungen, ein junges Kind namens Jacob für das spirituelle Erbe des jüdischen Volkes zu sensibilisieren. Bei dem Kind handelt es sich um den Sohn des jüdischen Pfandleihers Ezra Cohen, der trotz seiner starken monetären Weltorientierung Mordecai <?page no="188"?> 174 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive aus einem altruistischen Impuls heraus eine Unterkunft im Kreise seiner Familie gewährt. Während Mordecai versucht, Jacob die Worte eines prophetischen Gebets beizubringen in der Hoffnung, dass diese zu einem späteren Zeitpunkt Wirkung entfalten („My words may rule him some day“, DD: 476), ist Jacob im kindlichen Spiel vertieft: [T]he lad had thrown himself on his hands with his feet in the air, mountebank fashion, and was picking up with his lips a bright farthing which was a favourite among his pocket treasures. This might have been reckoned among the tricks Mordecai was used to, but at this moment it jarred him horribly, as if it had been a Satanic grin upon his prayer. […] [H]e called out […] ‚A curse is on your generation, child. They will open the mountain and drag forth the golden wings and coin them into money […].‘ (DD: 477f.) Die Ausrichtung an Transzendenz, die Mordecai in seinem Gebet an die nächste Generation weiterzugeben versucht, scheitert an der durch die Geldwirtschaft generierten satanischen Orientierung an Immanenz. 149 Die Fetischqualität des Geldes wird durch das Motiv des Götzendienstes - statt dem religiösem Erbe der „golden wings“ wird Geld angebetet („coin them into money“) - in den Vordergrund gerückt. Die bereits eingangs konstatierte Verknüpfung der Geldwirtschaft mit Theatralität kommt in obiger Passage deutlich zum Vorschein. Jacob, der den Geschäftssinn seines Vaters geerbt und somit statt eines Gebetes Geld auf seinen Lippen hat, wird mit einem Scharlatan („mountebank“), der seinen Tricksereien nachgeht, verglichen. Zudem geht sein Weinen, das seine Angst vor Mordecais bedrohlicher Prophezeihung ausgelöst hatte, schnell über in eine Performanz: „On this Jacob, feeling the danger wellnigh over, howled at ease, beginning to imitate his own performance and improve upon it - a sort of transition from impulse into art often observable.“ (DD: 478) Einerseits knüpft die kritische Darstellung der Cohen-Familie, insbesondere in Form ihrer monetären Welthaltung, an antisemitische Vorurteile an. The Cohens are admitted into the novel and then felicitously dispatched because they are the wrong Jews; Deronda will never have to cope with Mrs Cohen, in all her unwashed and bejewelled splendour, as a mother-in-law, and it is therefore ultimately of no matter that the Cohens are vulgar and greedy. But by making them vulgar and greedy Eliot propagates one of the more popular myths about Jewish culture. (David 1981: 162) Andererseits wird die monetäre Orientierung der Cohens und ihre damit einhergehende „spiritual poverty“ (DD: 571) von Mordecai explizit als eine Verkümmerung der jüdischen Seele, d.h. als eine Degenerationserscheinung der jüdischen Kultur, die diese der ‚dead anatomy of English culture‘ näher rücken lässt, ausgewiesen. Die Darstellung der Cohens ist in eine 149 Zum Themenkomplex Geld, Immanenz und Transzendenz siehe Hörisch (2004: 116). <?page no="189"?> Daniel Deronda 175 übergreifende Modernitätskritik im Roman eingelagert, die in wesentlichen Teilen zugleich eine Geldkritik ist. „The focus on money […] is the firmest mark that realist fiction is fundamentally secular.“ (Levine 2010: 28) Diese These von George Levine wird im Falle von Daniel Deronda durch „the irreconcilability of the novel’s two halves with their tension between realism and epic, or empiricism and idealism“ (Nestor 2002: 143) erhärtet. Der Teil des Romans, der deutlich den realistischen Erzählkonventionen folgt, ist der Hermeneutik des Geldes verpflichtet. Bei dem Versuch, die moderne Kontingenzerfahrung aufzuheben, indem Ideale einer Gemeinschaft 150 und sinnstiftenden destiny restituiert werden, kippt der Roman in die Gattung der romance. Das Sprengen der Grenzen realistischer Erzählkonventionen durch die im Roman eingeführten Kontingenzumgangsstrategien kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass das propagierte Ideal einer Lebensführung im Zeichen von destiny letztlich nicht dem Bereich historischer Lebenspraxis zugehört: Eliot’s conclusion to her final novel amounts to wish-fulfilment. It offers both the resolution to difference and, for the first time, an ideal fate for her hero, a fate which incorporates all that she regarded as worthy in life: an ‚enlarging belief‘ (308), ‚a definitive line of action‘ (308), ‚social captainship‘ (642), the merging of love and duty, and an opportunity to be ‚an organic part of social life‘ (308). […] Within the realm of realism, Gwendolen’s plan to sail away ‚into a world where people were not forced to live with any one they did not like‘ (596) has the status of a childish fancy; within the epic narrative Deronda’s curiously similar project to journey to the East to lead his kind constitutes heroic fulfilment. (Nestor 2002: 153f.) Dem sinnstiftenden Ruf von destiny zu folgen ist nur auf dem Gattungsterrain von romance und epos möglich, nicht innerhalb der Grenzen des Rea- 150 Zu dem Meyrick-Haushalt als Verkörperung einer idealisierten Form von vormoderner Gemeinschaft, die nicht mit dem Judentum verknüpft ist, siehe Winkgens (1997: 325-329): „Die Meyricks repräsentieren […] wie die Garths [in Middlemarch] ein idyllisch verklärtes und von nostalgischen Konnotationen gesättigtes literarisches Imaginationsprodukt des viktorianischen Wunschtraums eines bürgerlichen Kultur- und Tugendideals. Hauptkennzeichen für ihren Normcharakter ist die gelungene Synthese des genuinen Potentials einer Kultur der Nähe mit dem einer Kultur der Distanz in ihrem Lebensalltag.“ (ebd.: 326) „Durch ihre Praxis des lauten Lesens im Familienkreis wirken die Meyricks nicht nur der Isolation des einsamen und schweigenden Lesers entgegen. Insbesondere funktionalisieren sie im Modell eines Gemeinschaft stiftenden dialogischen Gesprächs die inspirierende und zur Interpretation befähigende Erkenntniskraft einer textuellen Kultur der Distanz für die Zwecke ihrer Lebenswelt.“ (ebd: 327) „Drei […] Erkenntnisbedingungen sind es vor allem, die bei der Auswahl der kulturellen Objekte, durch welche die Meyricks die transzendierende Weite einer Kultur der Distanz in die alltägliche Umwelt ihrer kleinen Wohnung hereinholen, motivisch besonders hervorgehoben werden: nämlich die der Erinnerung, der Kontinuität organisch-wurzelhaften Wachstums und der Geschichte.“ (ebd.: 328) <?page no="190"?> 176 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive lismus. Diese Schlussfolgerung wird durch die spezifische Funktionalisierung von Gattungskonventionen in Daniel Deronda nahegelegt. Aus genderkritischer Perspektive zeigt sich zudem die Fortschreibung patriarchalischer Geschlechterstereotypen: agency ist letztlich nur dem Mann (Deronda) vorbehalten, während die Frau (Gwendolen) an den häuslichen Bereich gebunden bleibt. Das implizite Funktionsmodell, das Eliots Roman zugeordnet werden kann, ist zwar insgesamt darauf ausgerichtet, ein positives und realisierbares Modell für die Bewältigung moderner Kontingenzerfahrungen literarisch zu entwerfen, doch zeigen die Fissuren und Widersprüche des Romans, dass der Hermeneutik des Mangels, welche die Gesellschaft in der Moderne prägt, nicht entkommen werden kann - zumindest nicht auf dem Terrain des Realismus. In der bisherigen Argumentation wurden unterschiedliche Quellen für die Erfahrung von Kontingenz in der Welt identifiziert, so wie sie in Daniel Deronda zur Darstellung gelangen. Dabei wurde die Rolle des Geldes für die moderne Kontingenzerfahrung stark in den Vordergrund gerückt. Ebenso wichtig sind jedoch auch andere Faktoren, wie etwa ein „geschärfte[s] Bewußtsein für die semiotische Dimension zeichenvermittelter Kulturpraxis“ (Winkgens 1997: 253) sowie die Subjektivierung von Erfahrungswirklichkeit im Zuge der Pluralisierung von Lebenswelten. In Daniel Deronda findet sich nicht nur eine Sensibilität für die Grenzen des imaginativen Zugangs (‚sympathy‘) zur Innerlichkeit des Anderen, sondern Gwendolens letztlich nicht-erklärbare Angstanfälle implizieren gar eine nicht zugängliche innerpsychische Dimension an sich. Ein weiterer Problemfaktor ist die erhöhte Mobilität, die in Daniel Deronda in Form von „häufige[n] Schauplatzwechsel[n], d[er] tendenziell kosmopolitische[n] Internationalität der Romanfiguren und der Handlungsorte, aber auch d[er] ständigen Reisen der Hauptfiguren“ (ebd.: 284) manifest wird. Die moderne Mobilität wird in Eliots Roman als ein Faktor für die Erosion organischer Gemeinschaft identifiziert (vgl. ebd.: 285). Rekapituliert man die erarbeiteten Analyseergebnisse zu Kontingenz in Daniel Deronda, lässt sich eine ähnliche Schlussfolgerung wie Tony Jackson in seiner Auseinandersetzung mit den Subjektmodellen in Eliots Roman ziehen: The underlying difficulty, the reason both projects (the moral and the aesthetic) in effect call for their own end or at least transformation, lies in the difference between the Eliot who performs an analysis of the Western idea of the autonomous self and the Eliot who cannot allow the results of that analysis to stand. […] [W]hen Realism pushes itself on towards an ever more adequate representation of the modern condition, it creates a moral model who is in a sense ‚naturally‘ alienated [i.e. Daniel before he discovers his Jewish origins]. The story of a ‚new evangel‘ for humanity to be (rather than just for the Jews, which is what Daniel’s story becomes in the end) con- <?page no="191"?> Daniel Deronda 177 sists not of a painful return to a re-secured self, but the abandonment of the very idea of a secured self. (Jackson 1992: 246) Es ist jedoch gerade eine solche Verabschiedung „of the very idea of a secured self“, zu der sich Eliot nicht durchringen kann. Stattdessen dominiert das Ideal metaphysischer Präsenz, sei es in Form einer Transparenz von Welt und Selbst, organischer Ganzheit auf kollektiver Ebene, einer Aufhebung von Differenz in der intersubjektiven Seelenkommunikation oder eines mit metaphysischem Sinn aufgeladenen Geschichtsverlaufs (destiny). Jedes dieser Elemente steht in einem scharfen Spannungsverhältnis zu den scharfsinnigen Kontingenzdiagnosen in Eliots Roman. Entgegen dem propagierten Transparenzideal hebt beispielsweise die auktoriale Erzählinstanz mit Blick auf Gwendolen hervor, dass sich der psychische Binnenraum dem kontrollierenden Zugriff des Subjekts entzieht: „There is a great deal of unmapped country within us which would have to be taken into account in an explanation of our gusts and storms.“ (DD: 277) Die komplexen Regungen der Psyche konstituieren somit eine Facette von Kontingenz im Sinne des Inkommensurablen, d.h. des Bereichs, der gegenüber einer klaren Kartografierung und Klassifikation resistent ist. Zur Modellierung von Kontingenz als dem Inkommensurablen gehört auch die explizite Herausstellung des Konstruktcharakters unserer Lektüre von Welt und Physiognomie seitens der auktorialen Erzählinstanz, wenn es heißt: „[O]ften the grand meanings of faces as well of written words may lie chiefly in the impressions of those who look on them.“ (DD: 186) Auch die Grenzen des Panoptismus als Versuch, die flottierenden Signifikanten zu arretieren, werden eindrucksvoll aufgezeigt, wenn ausgerechnet bei Grandcourts Bootsunfall, also bei einem Einbruch von Widerfahrniskontingenz (Zufall/ Unfall), eine Lücke in der panoptischen Überwachung Gwendolens im Erzählerdiskurs aufreißt. Durch diese Lücke im Panoptismus wird zudem Kontingenz im Sinne von Unbestimmtheit gesteigert, da es letztlich für die LeserInnen nicht entscheidbar ist, ob Gwendolen eine Mitschuld an Grandcourts Tod trägt, weil sie gezögert hatte, ihm eine Rettungsleine zuzuwerfen. Der Kontingenzeinbruch entzieht sich visueller Kontrolle. Die Tatsache, dass Eliot es nicht bei den Ergebnissen ihrer eigenen Kontingenzanalyse in der Moderne belassen kann, lässt sich nicht zuletzt auch anhand einer Betrachtung der physiognomischen Lektüren belegen, die metonymisch für die epistemische Grundposition eines Textes stehen. Bei allen Hinweisen auf deren Konstruktcharakter oder aber auch auf die performative Dimension von Identität (‚sincere acting‘) wird am präsenzmetaphysischen Ideal der Transparenz nachdrücklich festgehalten (vgl. Winkgens 1997: 298f., 307). So spiegelt nicht nur Derondas äußere Erscheinung seine inneren Qualitäten, d.h. seinen edlen Charakter (vgl. DD: 186), sondern auf Ebene des telling wird am Ende auch eine vermeintliche <?page no="192"?> 178 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Transparenz Gwendolens in den Vordergrund gerückt, als suggeriert wird, dass Deronda sie richtig ‚gelesen‘ habe. 151 Weitere Formen der Kontingenzaufhebung in Eliots Roman sind oben im Kontext der Spannung zwischen einer Hermeneutik des Mangels und der Fülle ausgeführt worden. Die widersprüchliche Struktur des Romans affiziert letztendlich auch die Erzählsituation. Die Hinweise auf die Relativität von Weltlektüren sowie insbesondere die starke Diskrepanz zwischen telling und showing werfen ein fragwürdiges Licht auf die gottgleichen Ansprüche einer auktorialen Erzählinstanz, die (vermeintlich) die Geschehnisse der (textuellen) Welt überblickt, Zusammenhänge erkennt und verlässliche Wertungen liefert. 152 Die detaillierte Analyse von Daniel Deronda hat die innere Widersprüchlichkeit offengelegt, die prägend ist für Eliots Gestaltung weltanschaulicher Positionen: 153 Despite the rejection of the Christian worldview, the ostensible shunning of the plausibility of divine intervention, there is an apparent inability to overcome the predominance of such an all-encompassing, reassuring perception of history, and to provide an alternative account for historical change that entirely discounts the possibility of exterior influence. At its crudest, this comes with the recantation of Carlyle’s Great Man theory in Daniel Deronda. (McCaw 2000: 95) In der vorliegenden Interpretation von Daniel Deronda wurde zwar auf eine Analyse der Parallelen zu Carlyles Geschichtstheorie verzichtet, doch ist die Einführung eines Wirkens von destiny im jüdischen Teil deutlich geworden. Zur inneren Widersprüchlichkeit der weltanschaulichen Positionen, die in Daniel Deronda entfaltet werden, gehört, dass in diesem Roman das eigene Lösungsmodell in Klammern gesetzt wird: Die Aufhebung moderner Kontingenzerfahrung kann nicht innerhalb Englands erfolgen, 151 Siehe DD: 763. Die Leserlenkungsstrategien im Roman, insbesondere die Privilegierung von Derondas Weltsicht, erklären entsprechende Interpretationen der Sekundärliteratur; siehe beispielsweise die Ausführungen von Pam Morris (2003: 11f: ): „Eliot’s beginning of Daniel Deronda only makes explicit what is implicit in the opening pages of most realist fictions: questions are raised about characters and situations which will be resolved by fuller knowledge gained during the course of the narrative. […] The subsequent characterisation of Gwendolin [sic! ] also conforms to the positive epistemology as expansion of knowledge that underlies realist writing. The story traces Gwendolin’s painful emotional and rational process towards self-awareness and moral certainty and in so doing constitutes for the reader that sense of a complex, intimately known, individual psychology that is one of the achievements of nineteenth-century fiction.“ 152 Siehe auch Jackson (1992: 247): „Without seeming to be aware of it, Eliot, or at any rate Daniel Deronda, has argued for an end to the kind of omniscient narrator that has been the definitive voice of authority in Realism.“ 153 Siehe auch Winkgens (1997: 283-379). Zu Widersprüchen bei dem Entwurf weltanschaulicher Grundpositionen in einem weiteren Spätwerk von Eliot, nämlich Middlemarch, siehe McCaw (2000: 87f.) und Winkgens (1997: 179-282). <?page no="193"?> Daniel Deronda 179 sondern nur in einem fernen Land und zudem in einer zukünftigen Zeit (vgl. Eagleton 2008: 183). Bei dem Versuch, destiny innerweltlich umzudeuten und damit eine Kontingenzaufhebung unter Verzicht des traditionellen religiösen Sinngebungsmodells zu vollziehen, wird eine ganze Reihe an Widersprüchen generiert, die den Eindruck eines Auseinanderfallens des Romans in zwei Teilen verstärkt. Die Instabilität der zentralen Kontingenzaufhebungsstrategien in Daniel Deronda verweist auf die Fragilität einer Hermeneutik der Fülle als Sehnsuchtsideal angesichts der drängenden Kraft der modernen Hermeneutik des Mangels. Neben inneren Widersprüchen handelt sich Eliot zudem aufgrund der gewählten Kontingenzaufhebungsstrategien schwerwiegende Folgeprobleme ein. Wie oben ausführlich dargestellt, dient Eliot das organizistische Paradigma als therapeutisches Lösungsmodell für die diagnostizierten Probleme der modernen Kontingenzkultur. Grundsätzlich bedeutet Organizismus eine Aufwertung des Körperlich-Naturhaften. Damit geht eine Relativierung der Allmachtsfantasien des ‚rationalen‘ Subjekts einher, denn das Individuum könne nicht völlig frei sein Leben gestalten, sondern sei durch völkische Abstammung und Geschlecht bestimmt. Wenn das Reflexiv-Werden des Subjekts im Prozess der Modernisierung jedoch ernst genommen wird, dann kann Organizismus zwar in Ansätzen Orientierung geben; allerdings kann der Mensch als Naturwesen nicht absolut gesetzt werden. Eine solche Vorstellung steht nämlich im Widerspruch zu Impulsen der Moderne, das Vermögen zur kritischen Selbstreflexivität (Vernunft) zu betonen und das Individuum aus vorgegebenen Bindungen freizusetzen (Individualisierung). Eliot plädiert in Daniel Deronda mit ihrem organizistischen Paradigma dafür, die Freiheit des Subjekts an das Schicksal zu koppeln. Die paradoxe Formel einer Wählbarkeit von Schicksal in Eliots Roman läuft letztlich auf ein konservatives, anti-modernes Programm hinaus: statt Wählbarkeit herrscht nur Schicksal. 154 So betont Deronda zwar, dass er sich vor seiner Festlegung auf die jüdische Tradition mit der jüdi- 154 Vgl. auch Winkgens (1997: 366): „So erfahren wir von Mordecai, daß er die Ergebnisse seiner umfassenden judaologischen Studien und die Frucht seiner prophetischen Visionen in hebräischer Sprache niedergeschrieben und in Manuskripten gesammelt hat. Was läge also näher, als exemplarisch zu zeigen, wie Daniel im Horizont des ihn prägenden Spannungsverhältnisses von natural parentage und spiritual parentage durch die hermeneutische Interpretation dieser Manuskripte in der Auseinandersetzung mit den Prinzipien seiner kritischen Vernunft von ihrer Wahrheit im konkreten inhaltlichen Urteil sich überzeugen ließe und mit dieser Überzeugung zugleich den Geltungsanspruch ihrer visionären Inhalte beglaubigen würde. Doch eben dies führt der Roman gerade nicht vor. Statt dessen demonstriert er, wie Daniel […] mehr und mehr in den auratischen Bann von Mordecais prophetischem Charisma gerät […], sich zu einer verbindlichen Sprechhandlung des Versprechens veranlaßt sieht und damit im Sinne der kabbalistischen Vorstellung von der ‚transmigration of souls‘ Mordecais Weisungen erfüllt“. <?page no="194"?> 180 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive schen Überlieferung kritisch auseinandersetzen möchte (vgl. DD: 751), unterlässt dies jedoch. Die Gefahr, dass die überlieferten Texte ihn eventuell nicht vom Judentum zu überzeugen vermögen, wird auf diese Weise konsequent ausgeblendet (vgl. auch Winkgens 1997: 352, 366, 374f.). Diese signifikante Auslassung zeugt von Eliots Misstrauen gegenüber den Intellekt, denn eine kritische Vernunft bekennt sich nicht blind zum Schicksal (vgl. ebd.). Die Möglichkeit einer transversalen Vernunft, die zwischen „einer absoluten Autoriät des Traditionsgeschehens“ (Winkgens 1997: 348) und „subjektive[r] Autonomie“ (ebd.: 349) vermittelt, bleibt außen vor. Die offensichtlichsten Opfer von Eliots organizistischer Therapie der modernen Kontingenzkultur sind Frauen. Das organizistische Paradigma fördert den beginnenden Glauben im 19. Jahrhundert an eine naturhafte Geschlechtlichkeit, also eine Naturalisierung von gender (vgl. Reckwitz 2006b: 263f.). Wählbarkeit gemäß des organizistischen Paradigmas bedeutet, dass ein Subjekt wie die Prinzessin Halm-Eberstein auf ihre innere (und das heißt biologische) Stimme hört, die in den Kategorien gender und race spricht: Als Frau und Mutter sei die natürliche Bestimmung der Prinzessin Mutterschaft und die Teilhabe an der jüdischen Gemeinschaft. Demnach erscheint die Prinzessin Halm-Eberstein als eine Frau mit verfehltem Leben, weil sie ihre Freiheit nicht dazu nutzt, sich dieses Schicksal (Mutterschaft, Teilhabe an der jüdischen Gemeinschaft) zu Eigen zu machen. Da sie dies versäumt, vollziehe sie - ähnlich wie das Spekulationssubjekt Gwendolen - einen Bruch mit dem, was in ihr dispositionell angelegt sei (vgl. Winkgens 1997: 374f.). Der Konstruktcharakter und die Machteffekte von patriarchalischen Geschlechterstereotypen werden durch diese organizistische Denkfigur verschleiert. Es sind somit die weitreichenden Implikationen von Eliots organizistischem Paradigma, welche die irritierende patriachalische Geschlechterpolitik und den problematischen Zionismus in Daniel Deronda erklären. Die organizistische Therapie moderner Kontingenzphänomene ist von Fissuren durchzogen, da sie - allen Bekundungen zum Trotz - auf eine Aufhebung von Gestaltbarkeitskontingenz, vor allem seitens von Frauen, hinausläuft. In der Eliot-Forschung wird vielfach betont, dass George Eliots ‚Konservatismus proportional zu der Radikalität ihrer Einsichten‘ 155 anwachse (vgl. Winkgens 1997: 370). Diese Bewegung lässt sich besonders anschaulich anhand der herausgearbeiteten Kontingenzdiagnose und dem therapeutischen Versuch, die moderne Kontingenzkultur aufzuheben, illustrieren. 156 155 Das Zitat lautet im Original: „her conservatism intensifies in proportion to the radicalism of her insights“ (Linehan 1992: 341 zitiert in Winkgens 1997: 370). 156 Vgl. auch Winkgens (1997: 370): „Daß Eliot angesichts der Tatsache, daß „her conservatism intensifies in proportion to the radicalism of her insights,“ sich bei der literarischen Konkretisierung dieses normativen Begehrens [= Herstellung einer ursprünglichen Gemeinschaft] in Brüche und Widersprüche der unterschiedlichsten Art verstricken muß, scheint unausweichlich zu sein. Die Eliot-Kritik hat Spuren die- <?page no="195"?> Daniel Deronda 181 Um einen schematischen Überblick über die Ästhetik der Kontingenz in George Eliots Roman zu erhalten, fasst die folgende Matrix die erarbeiteten Ergebnisse nochmals stichwortartig zusammen: Dominante Kontingenzformen: Widerfahrniskontingenz: Zufall fits of spiritual dread: Rückkehr des Verdrängten als Widerfahrnis; „nackte Daß der Welt“ und existentielle Freiheit Kontingenz als das Inkommensurable: Das Unbewusste: Nicht-Lesbarkeit des Individuums aufgrund der „unmapped country within us“ (DD: 45) Grenzen des Einfühlungsvermögens Codierung der Kontingenzform: Hermeneutik des Mangels Grundprinzip: Differenz Hermeneutik der Fülle Grundprinzip: Differenzaufhebung Zufall als sinnimmun; objektiver Zufall Zufall als Zeichen des Wirkens von destiny fits of spiritual dread: Verlust von agency; Welt entzieht sich Deutungsversuchen; Gefahr der Auslöschung des Subjekts fits of spiritual dread als Orientierungsrahmen für moralisch richtiges Verhalten Intransparenz als negativ codiert (epistemische Krise); metaphysisches Präsenzideal ser Widersprüche seit langem etwa in der mangelnden künstlerischen Geschlossenheit und ästhetischen Einheit ihres letzten Romans, in der unbefriedigenden Dichotomie von Negation und Affirmation, in der unbewältigten Diskrepanz zwischen Erzählkonventionen des realistischen Romans und denen mythologischer Romanzen oder in dem Auseinanderklaffen von materieller Körperlichkeit und ideeller Geistigkeit innerhalb ihres organizistischen Modells ausgemacht. In der Konzentration auf die Symbolik von Mündlichkeit und Schriftlichkeit haben wir analog dazu zeigen können, wie sich dieses normative Begehren in einer eindeutigen Privilegierung der Rede gegenüber der Schrift, des Modells emotionaler Unmittelbarkeit gegenüber dem einer zeichenhaften Vermittlung niederschlägt, die nicht nur in offenkundigem Widerspruch zu der ansonsten in Eliots beiden letzten Romanen so hochentwickelten Sensibilität für das nur durch hermeneutische Interpretation einzuholende kreative Sinnpotential textueller Autonomie steht, sondern auch in die wiederholten Versuche einmündet, die Eigendynamik textueller Kommunikation zu begrenzen und die prinzipielle Differenz von Rede und Schrift durch Verfahren zu überspielen, die ihrerseits eher einer Logik der Rede denn einem Geist der Schrift gehorchen.“ <?page no="196"?> 182 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Zeiterfahrung: enthistorisierte, ‚leere‘ Zeit sinnhaft, spirituell aufgeladene Zeit (destiny) Raum: Verlust an organischen Wurzeln bzw. räumlich verorteter Gemeinschaft; ‚fits of spiritual dread‘: Verlust an Orientierung und agency in erhabener Raumerfahrung Organizismus: Vision einer räumlich verorteten Gemeinschaft Subjektmodelle: Spekulationssubjekt Codes: Schein, Parasitär, Exzessiv Moralsubjekt Codes: Transparenz, Authentizität, Mäßigung Gestaltbarkeitskontingenz / Handlungsmächtigkeit: Männlich (Grandcourt): agency ausschließlich in Form des Auslebens sadistischen Herrschaftswillens ohne geschichtswirksame Kraft Weiblich (Gwendolen): Minimale agency: Frau bleibt an heimische Sphäre gebunden; Kontingenzschließung bzgl. alternativer weiblicher Identitätsentwürfe Männlich (Deronda): agency in Form geschichtswirksamer Taten: zukünftige Gründung eines jüdischen Nationalstaats Harmonisierung von destiny und Gestaltbarkeitskontingenz Dominante Kontingenzumgangsstrategien: Schaffung eines ‚Draußen‘ zur Warenzirkulation; Verwandlung von Geld in Werte ‚religion of humanity‘ religiös gefärbter Nationalismus Judentum als Ideal gelebter organischer Gemeinschaft Abbildung 8: Ästhetik der Kontingenz in Daniel Deronda <?page no="197"?> The Secret Agent 183 2 Der nihilistische Rückzug in die Ironie als Reaktion auf Widerfahrniskontingenz in der abstrakten Gesellschaft: Joseph Conrads The Secret Agent (1907) There is a - let us say - a machine […] - and it is indestructible! It knits us in and it knits us out. It has knitted time, space, pain, death, corruption, despair and all the illusions - and nothing matters. I’ll admit however that to look at the remorseless process is sometimes amusing. - Joseph Conrad 157 Während George Eliot in ihrem letzten Roman versucht, die Auswirkungen der modernen Kontingenzkultur durch das Modell einer spirituellorganischen Gemeinschaft zu therapieren, zeichnen sich Joseph Conrads Werke durch einen tiefgreifenden Pessimismus und Skeptizismus aus: „his searing scepticism […] looks forward to the world-picture of fragmentation, contingency, and provisionality that underlies the main Modernist writings of the 1920s.“ (Graham 1996: 206) Tatsächlich steht Conrad (gemeinsam mit Thomas Hardy und Henry James) für den „Beginn der modernen Romankunst“ (Seeber 1993: 316), und zwar sowohl mit Blick auf das literarisch entworfene Weltbild als auch aufgrund von innovativen Formen der erzählerischen Vermittlung in seinem Œuvre (vgl. ebd.: 317). Conrads literarische Bestandsaufnahme der dialektischen Umschläge des Modernisierungsprozesses liest sich als zynische Abrechnung mit Apologeten des Fortschrittsglaubens und des Kolonialismus als angebliche Mission zur Zivilisierung ‚dunkler‘ Kontinente: Conrad would seem to hold that personal identity is an illusion, truth and meaning eternally elusive, language fundamentally inadequate, human consciousness an unhappy accident, and Nature a meaningless, impenetrable chaos. History is a futile cycle of violence and savagery, progress is a chimera, civilization is a higher form of barbarism, and egoism is the underlying truth of human conduct. (Eagleton 2008: 235) Für manchen Interpreten beruht Conrads herausgehobene Stellung in der englischen Literaturgeschichte vor allem auf dessen tiefgreifender Skepsis gegenüber menschlicher Handlungsmächtigkeit und der Gültigkeit gesellschaftlicher Werte: „The special place of Joseph Conrad in English litera- 157 Das Zitat ist aus Joseph Conrads Brief an R.B. Cunninghame Graham vom 20. Dezember 1897 (siehe Karl/ Davies 1983: 425). <?page no="198"?> 184 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive ture lies in the fact that in him the nihilism covertly dominant in modern culture is brought to the surface and shown for what it is.“(Miller 1965: 5) 158 Conrads kritischer Blick auf dialektische Umschläge des Modernisierungsprozesses lässt sich exemplarisch anhand seines Romans The Secret Agent (1907) illustrieren. 159 Bereits der Titel seines Werks legt den Fokus auf ‚agency‘ und damit auf die Frage nach dem selbstbestimmten Handeln von Subjekten (Gestaltbarkeitskontingenz). Im Laufe der Lektüre des Romans wird allerdings zunehmend fragwürdig, ob sich der Titel auf die Figur Adolf Verloc bezieht, der als Geheimagent von einer osteuropäischen Macht als agent provocateur bezahlt wird und in anarchistischen Kreisen im London der 1880er Jahre verkehrt. Ähnlich wie bei Daniel Deronda, das das Kasino als Inbegriff moderner Kontingenzkultur präsentiert, stellt The Secret Agent die eigengesetzliche Zirkulation des Kapitals mit ihrer verdinglichenden Wirkung auf den Menschen in den Vordergrund. Wie die folgende Analyse zeigt, steht der gewaltsame Tod des geistesschwachen und kindlich-naiven Stevie, der von seinem Schwager Verloc als Attentäter instrumentalisiert wird und sich dabei versehentlich in die Luft sprengt, metonymisch für eine Zersplitterung von Wirklichkeitserfahrung in einer Welt, in der die Möglichkeit selbstbestimmten Handelns aufgrund des Herrschens von Abstraktion und Verdinglichung radikal in Frage gestellt ist. Als eigentlicher ‚secret agent‘ innerhalb dieser düster beklemmenden fiktionalen Welt erweist sich die ‚abstrakte Gesellschaft‘. Der Begriff ‚abstrakte Gesellschaft‘ hebt ab auf ein „historisch neuartiges Entfremdungsverhältnis des Menschen zur Gesellschaft“ (Zapf 1988: 17), in der er lebt. Dieses Entfremdungsverhältnis wurzelt in den dialektischen Umschlägen des Modernisierungsprozesses, so wie sie im Kapitel II.2.1 beschrieben wurden: [G]esellschaftliche Abstraktionsleistungen des Menschen verselbständigen sich, entziehen sich zunehmend seiner Kontrolle und treten stattdessen selber die Herrschaft über ihn an, allerdings nun mit der ihnen eigenen Indifferenz gegenüber ihren menschlichen Erfindern, einer Indifferenz, die aber 158 Joseph Hillis Miller positioniert Joseph Conrad mit dieser Bewertung innerhalb folgender literaturgeschichtlichen Entwicklungslinie: „Within the narrower limits of the English novel, […] he comes at the end of a native tradition. From Dickens and George Eliot through Trollope, Meredith, and Hardy the negative implications of subjectivism become more and more apparent. It remained for Conrad to explore nihilism to its depths, and, in doing so, to point the way toward the transcendence of nihilism by the poets of the twentieth century.“ (1965: 6) Für eine erhellende Diskussion von Conrads Stellung zwischen viktorianischem Roman und Modernismus, d.h. seiner „partial attachment to a nineteenth century tradition“ (Graham 1996: 204) einerseits und „his Modernism“ (ebd.) andererseits siehe Graham (1996). 159 Für eine detaillierte Analyse von Joseph Conrads Roman Chance (1913) unter kontingenztheoretischen Aspekten siehe Monk (1993: 75-109). <?page no="199"?> The Secret Agent 185 wiederum den Menschen nicht äußerlich bleibt, sondern sich prägend in ihr Bewußtsein und ihre Interaktion hinein auswirkt. (ebd.: 21) Aufgrund dieses Erlebens gesteigerter Widerfahrniskontingenz weicht die fortschrittsoptimistische Annahme, Realität rational erfassen und damit handhabbar machen zu können, einem epistemologischen Skeptizismus, gemäß dem die Welt für den einzelnen hermetisch ist, und das Modell des Herrschaftssubjekts sich als illusorischer Wahn erweist angesichts der Erfahrung, Manipulationsobjekt nicht fassbarer Mächte zu sein. Zwar gewinnen die für die abstrakte Gesellschaft typischen Prozesse erst ab dem Zweiten Weltkrieg eine solche Dominanz, dass sie für sämtliche Lebensbereiche eine unübersehbar prägende Kraft entwickeln, doch kommt ihnen bereits ab dem 19. Jahrhundert eine zunehmende Bedeutung zu (vgl. Zapf 1988: 17, 22). Im Folgenden wird zunächst die abstrakte Gesellschaft als Problemkomplex in The Secret Agent herausgearbeitet, weil die diagnostizierten gesellschaftlichen Auswirkungen von Abstraktionsprozessen die Grundlage für die entworfene Kontingenzkonzeption bilden. In einem zweiten Schritt wird genauer dargelegt, wie der Verlust von Gestaltbarkeitskontingenz in Conrads Roman inszeniert wird. Die zentrale These dieses Kapitels lautet, dass sich The Secret Agent aufgrund seiner Kontingenzkonzeption in eine Aporie verstrickt, auf welche durch einen (problematischen) Rückzug in die Ironie reagiert wird. Während George Eliots Umgang mit der modernen Kontingenzkultur darin bestand, Strategien und Modelle zu suchen, um diese aufzuheben, umfasst The Secret Agent einen distanzierenden Rückzug angesichts des Verlusts von Gestaltbarkeitskontingenz im Prozess der Modernisierung. Dieser Rückzug in die Ironie verleiht Conrads Roman nihilistische Züge. 2.1 Die abstrakte Gesellschaft als Problemkomplex: Verdinglichung und Isolation Bei der Entwicklung der modernen abstrakten Gesellschaft kommt dem Kapitalismus eine treibende Kraft zu, denn Geld ist „Abstraktion in Aktion“ (Sloterdjik 1983: 576). Wie im Kontext der Kasinowelt in Daniel Deronda bereits dargelegt wurde, ist Geld das Medium, welches Heterogenes durch Abstraktionsleistungen äquivalent setzen kann. Dabei kommt es bekanntlich nicht nur zu einer Ausweitung der Zonen von Käuflichkeiten, d.h. einer Affizierung der ideellen Wertsphäre durch die materielle, sondern auch zu einer Fetischisierung der Ware, wie sie bereits Karl Marx in Das Kapital (1867) analysiert. Dadurch dass uns die in der kapitalistischen Warenwirtschaft produzierten Dinge als auratisches quasi-Subjekt gegenüber treten und somit einen „Schein der Selbstständigkeit“ (Böhme 2006: 319) annehmen, wird die Aufmerksamkeit von dem Gemachtsein der Ware - <?page no="200"?> 186 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive oder marxistisch formuliert: den entfremdenden Produktionsbedingungen der Ware - abgelenkt. „Je effektvoller die Ware zur Quasi-Person [mit eigener agency] mystifiziert wird, desto mehr verwandelt sich umgekehrt die Person zum Ding.“ (ebd.: 335) Obgleich man durch den Kauf einer Ware eine (verdeckte) Beziehung zu Menschen eingeht (und zwar zu denjenigen Arbeitern, welche die Ware produziert haben), tritt diese nicht ins Bewusstsein. Es ist so, „als seien sie [= die Menschen] tot“ (ebd.: 336). Vor diesem Hintergrund kann die in The Secret Agent auffällige Mechanisierung und Verdinglichung der Menschen bei gleichzeitigem Animismus der Dinge als Inszenierung der Wirkmechanismen einer commodity culture gelesen werden (vgl. Lutz 2008, Hawthorn 1979: 72-93, Lucking 1986: 172-195). Beispiele für ein widersinniges Eigenleben der Objekte, die sich den handelnden Menschen zu entziehen scheinen, gibt es viele im Roman. Gedacht sei etwa an die Glocke im Eingangsbereich von Verlocs Laden, die mit „impudent virulence“ (SA: 4) bei jeglicher noch so kleinsten ‚Provokation‘ Lärm macht, oder an das „lonely piano“ (ebd.), welches plötzlich von alleine aggressiv anfängt zu spielen (vgl. SA: 49). Die komplementäre Verdinglichung der Menschen durch die Ökonomisierung sozialer Beziehungen zeigt sich besonders prägnant in den Beziehungen der Verloc-Familienmitglieder. Ähnlich wie Gwendolen in Daniel Deronda sieht auch Winnie ihre Ehe mit Verloc nicht als Liebesbund, sondern als gesellschaftliche Transaktion. Für sie ist die Ehe ein „bargain“ (SA: 207), bei dem beide Parteien dazu angehalten sind, sich an die Konditionen zu halten, die implizit eingegangen worden sind. Im Tausch gegen materielle Sicherheit für ihre Familie übernimmt Winnie alle Pflichten einer Ehefrau. Der Warencharakter dieser sozialen Beziehung wird über die Raumsemantik hervorgehoben (vgl. Lutz 2008: 4ff.): Da Verlocs Haus lediglich einen Eingang hat, ist der Privatraum nur über den davor befindlichen Geschäftsraum zu erreichen. Es gibt somit keine Trennung zwischen ehelicher Privatheit 160 und der geschäftlichen Sphäre. Die Verdinglichung der Frau durch die ökonomische Logik wird durch die Art des betriebenen Geschäfts unterstrichen: Die pornographischen Produkte in Verlocs Laden bedeuten den Verkauf der Frau als Ware. 161 160 Ich übernehme den Begriff ‚Privatheit‘ aus Beate Rösslers Studie Der Wert des Privaten (2001). Rössler verwendet in ihrer Monographie durchgängig das Wort ‚Privatheit‘, „weil es umgangssprachlich eingebürgert ist“ (ebd.: 16). 161 Das Vertreiben von sowohl Pornographie als auch anarchistischer Literatur in Verlocs Laden impliziert eine Affinität dieser beiden Waren: „Implicitly, anarchist literature is presented as a kind of intellectual pornography that permits extremists to indulge their wild fantasies of destroying capitalism and smashing the state. However, as Brian W. Schaffer suggests, The Secret Agent’s ultimate satiric target is the moral panic of puritans who would regard pornography and propaganda as twin symptoms of an imminent plunge into moral and political anarchy.“ (Greaney 2002: 139) <?page no="201"?> The Secret Agent 187 An dem geschäftlichen Status der Institution Ehe ändert sich auch durch die Selbsttäuschung Verlocs nichts, der in seinem blinden Egoismus dem Irrglauben unterliegt, er werde von Winnie um seiner selbst willen geliebt. Vielmehr führt auch Verloc die ökonomische Logik in seinem Privatleben konsequent fort, da er seine Frau „with the regard one has for one’s chief possession“ (SA: 143) liebt. Zudem ist Verlocs utilitaristische Haltung Stevie gegenüber (d.h. seine kalte strategische Manipulation Stevies) aus dem Geist kapitalistischer Sozialbeziehungen geboren: „[Verloc] is incapable of recognizing any standard of value other than exchange value or any relevant criterion besides how a person can be exploited.“ (Lutz 2008: 9) Die Kommodifizierung von Individuen selbst im vermeintlichen Schutzraum des Privaten wird durch sprachlich erzeugte Pseudo- Äquivalenzen unterstrichen, etwa wenn die auktoriale Erzählinstanz kommentiert: „Mr. Verloc was ready to take him [= Stevie] over together with his wife’s mother and with the furniture“ (SA: 8f.). Gerade in solch einer Aufzählung entwickelt das ‚Und‘ „die Tendenz, in ein Ist-gleich überzugehen“ (Sloterdijk 1983: 573), und so erscheinen in Formulierungen wie diesen Menschen buchstäblich auf den Status von Objekten reduziert (in diesem Fall Möbel). Bezeichnenderweise wirken sich die skizzierten „Ansteckungsprozesse [zwischen Menschen und Dingen]“ (Droit 2005: 115) langfristig gleichermaßen auf die Semantik von ‚agency‘ aus, wie Hawthorn (1979: 78) ausführt: [I]f people relate to one another through the medium of things, through commodities, then it is not surprising that these things should come to resemble people, and to assume a life of their own. […] There is an interesting shift in meaning of the word ‚agency‘ towards the end of the seventeenth century; from meaning ‚acting, action‘ in 1658, it comes to mean ‚intermediation‘ in 1674 […]. With the rise of capitalist social relations we see how the person who acts gives way in social significance to the person who performs the role of a go-between. Society is no longer largely based on direct relationships between people and people, or people and things, but on indirect relationships mediated through human and non-human channels. Es ist gerade der Verlust von persönlichen face-to-face-Interaktionen zugunsten indirekter und für den einzelnen nicht überschaubarer Beziehungsverhältnisse, welche für die Entfremdungsdimension in der abstrakten Gesellschaft steht. Die ultimative Verdinglichung des Menschen ist seine Reduktion auf den Status reiner Fleischlichkeit (‚meat‘). Durch das Leitmotiv des Kannibalismus im Roman wird die Aufmerksamkeit auf die Barbarei gelenkt, die dem kapitalistischen System der vermeintlich zivilisierten Welt inhärent <?page no="202"?> 188 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive ist. 162 So führt der geifernde Altanarchist Karl Yundt aus: „Do you know how I would call the nature of the present economic conditions? I would call it cannibalistic. […] They are nourishing their greed on the quivering flesh and the warm blood of the people - nothing else.“ (SA: 41) Angesichts von Verlocs utilitaristischer Nutzung von Stevie erscheint es dementsprechend nur konsequent, wenn dessen leibliche Überreste als kannibalistisches Mahl beschrieben werden. Another waterproof sheet was spread over that table in the manner of a table-cloth […] - a heap of rags, scorched and bloodstained, half concealing what might have been an accumulation of raw material for a cannibal feast. (SA: 69) […] [T]he Chief Inspector went on peering at the table with a calm face in the slightly anxious attention of an indigent customer bending over what may be called the by-products of a butcher’s shop with a view to an inexpensive Sunday dinner. (ebd.: 70) Die Verknüpfung des Kannibalismusmotivs mit dem kapitalistischen Produktions- und Konsumkreislauf wird in der zitierten Passage über den Vergleich mit dem Kaufakt („customer“) unterstrichen. Stevie, der aufgrund seiner (pathologischen) Hypersensibilität und übersteigerten Empathie mit seiner Mitwelt auf mikrostruktureller Ebene ein potentielles Irritations- und Widerständigkeitsmoment innerhalb des kapitalistischen Tauschverkehrs darstellt, ist letztlich doch, folgt man obiger Bildlichkeit, in die Warenzirkulation einverleibt worden. Die völlige Auslöschung des Subjekts zeigt dabei freilich den Preis einer Subsumierung des Menschen unter das kapitalistisch-abstrakte Handlungssystem. Der unendliche Kreislaufcharakter des kapitalistischen Warensystems wird auch innerhalb der Leitmotivik des Kannibalismus entfaltet. Das Kannibalismusmotiv wird an prominenter Stelle wieder aufgegriffen, als Verloc nach dem gescheiterten Anschlag nach Hause kehrt und dort mit vulgärer Zügellosigkeit „[t]he piece of roast beef, laid out in the likeness of funeral baked meats for Stevie’s obsequies“ (SA: 200), zum Abendbrot verschlingt. Einerseits liest sich dieses Bild als eine drastische Visualisierung von Verlocs ausbeuterischer Beziehung zu Stevie, den er - metaphorisch gesprochen - zum Zwecke des eigenen Gewinns ‚konsumiert‘ hat. 163 Zwar hat Verloc den Tod Stevies nicht geplant, doch er hat ihn wissentlich 162 Zum Leitmotiv des Kannibalismus in The Secret Agent siehe Zuckerman (1968), Fleishman (1965: 209f.), Lutz (2008), Lucking (1986) und Cox (1974: 90ff.). Für eine Interpretation des Kannibalismus als „demonic parody of the sacramental feast in which the hero’s body is eaten by his followers in order to revitalize the community“ (Rosenfield 1967: 107) siehe ebd. und Lucking (1986: 190f.). 163 Verlocs zügelloses Verschlingen seines Mahls kann auch als Verweis auf die ausbeuterische Beziehung zu Winnie interpretiert werden (vgl. Kauhl 1994: 107 und Lutz 2008: 8). <?page no="203"?> The Secret Agent 189 in eine Gefahrensituation gebracht (und auch seine mögliche Verhaftung in Kauf genommen), um seinen eigenen materiellen Wohlstand zu sichern. 164 Bezeichnenderweise ist es jedoch kurz darauf Verloc selbst, der durch einen Stich ausgerechnet mit dem „domestic carving knife“ (SA: 210) in einen Leichnam verwandelt wird, mit dem er selbst kurz zuvor sein Stück Fleisch geschnitten hatte. Die Implikation dieser Bewegung ist, dass der Konsument Verloc nun seinerseits entsprechend des kannibalistischen Konsumkreislaufs als ‚Mahl‘ dienen kann, zumal das Tranchiermesser bereits in ihm steckt. Die Mordszene mit Verloc greift allerdings nicht nur die Kannibalismusmotivik auf, sondern auch das Motiv einer Mechanisierung von Menschen. Dieses Motiv zieht sich als weitere signifikante Isotopie durch den Text. Immer wieder werden die Grenzen zwischen dem Humanen und dem Mechanischen verwischt, etwa wenn Verloc mit einem Automaten verglichen wird: „And this resemblance to a mechanical figure went so far that he had an automaton’s absurd air of being aware of the machinery inside of him.“ (SA: 156) Im Kontext der bisherigen Kapitalismuskritik sowie der Entstehungszeit des Romans ruft die Korrelation von Menschen mit Maschinen unweigerlich die industriellen Produktionsbedingungen mit ihren entfremdenden Wirkungen auf. Die Mechanisierung des Subjekts unterstreicht dessen Fremdbestimmtheit bzw. die mechanische Befolgung systemisch vorgegebener Bahnen. Auffällig bei der Vermischung von Menschlichem und Mechanischem sind die wiederkehrenden Verweise auf Uhren im Text. So hört beispielsweise Verloc in einer Szene gleichzeitig das Ticken der Uhr und die „[m]easured footsteps“ (SA: 46) eines Passanten (vgl. Lucking 1986: 173). In der Tötungsszene wird eine solche Mechanisierung aufgegriffen, wenn Winnie das Tropfen von Verlocs Blut mit dem „Tic, tic, tic“ (SA: 209) einer „insane clock“ (210) verwechselt. Tatsächlich spielt Zeit eine zentrale Rolle in Conrads Roman, wie die Forschungsliteratur vielfach betont. Einschlägig für die Analyse von „Time and The Secret Agent“ ist nach wie vor Stallman (1982 [1960]: 236): [A]ll time - legal time, civil time, astronomical time, and Universal Time - emanates from Greenwich Observatory and […] Verloc’s mission, in the intended bombing of Greenwich Observatory, is to destroy Time Now, Universal Time, or life itself. […] His mission is the destruction of space and time, as the great circle of Greenwich meridian is the zero from which space is measured and time is clocked. 164 Mit der Planung und Durchführung des Anschlags folgt Verloc den Anweisungen des Botschafters Herrn Vladimir, seines Auftraggebers, der gedroht hat, ansonsten die Gehaltszahlungen an Verloc für seine Tätigkeit als agent provocateur einzustellen. <?page no="204"?> 190 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Zwar möchte Verlocs Auftraggeber mit diesem Anschlag bewirken, dass die englische Regierung und Öffentlichkeit im Zuge des Vorgehens gegen Anarchisten liberale Grundrechte abschaffen, doch erscheint die Mission paradoxerweise in ihren Implikationen den Zielen der Anarchisten nahe zu kommen (vgl. auch Lucking 1986: 178). Möchten die Anarchisten eine neue Gesellschaftsform errichten, so bildet der Angriff auf geopolitische Zeit und Raum (soziale Zeit), die Zerstörung des bisherigen zeitlichen Richtwerts für die Welt, eine geeignete Grundlage. Der Beginn der bislang nur ausgemalten neuen utopischen Gesellschaftsform wäre zugleich der Beginn einer neuen Zeitrechnung. 165 Die durch Greenwich Meridian aufgerufene Zeitkonzeption ist diejenige einer abstrakten Zeit (vgl. Lutz 2008: 15): Zeit wird in eine verrechenbare Größe durch Formalisierung transformiert (vgl. Nassehi 1993: 338). Wie im Kapitel II.3.2 dargelegt wurde, stellt die Rationalisierung von Zeit eine konstitutive Ermöglichungsbedingung abstrakter Industriegesellschaften dar, weil nur so wirtschaftliche und außerwirtschaftliche Prozesse koordiniert werden können (vgl. ebd.: 336). Diese Entwicklung geht mit der Unterwerfung des Subjekts unter das Diktat von industriellen und administrativen Zeitvorgaben einher (vgl. Kohl 1998: 166). Der entfremdende Charakter dieses sozial-abstrakten Zeitregimes wird in vielen modernistischen Texten dadurch hervorgehoben, dass die Aufmerksamkeit auf die Desynchronisation zwischen ‚clock time‘ und ‚mind time‘ (Virginia Woolf) gelenkt wird, also zwischen Welt-/ Uhrzeit und subjektiv-qualitativem Zeiterleben. Eine solche Spannung zwischen abstrakter und subjektiver Zeit wird ebenso in The Secret Agent gestaltet. Kehrt man zu dem Motiv der mechanischen Uhr im Roman zurück, so zeigt sich vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen, dass mit diesem Motiv eine krisenhafte Zeiterfahrung manifest wird. Die buchstäbliche Auslöschung bzw. Verdinglichung des Subjekts im Zuge seiner Subsumierung unter abstrakte Zeit illustriert die Gleichsetzung von Verlocs Verlust seines ‚Lebenssaftes‘ mit dem Ticken einer mechanischen Uhr. Bezeichnenderweise wird dieses Moment der Synchronizität zwischen (totem) Individuum und abstrakter Zeit nicht mit Rationalität, sondern mit Wahnsinn (‚insane clock‘) in Verbindung gebracht. Insgesamt wird im Roman wiederholt eine Inkongruenz zwischen der Zeitmodalität der Figuren (‚mind time‘) und der ‚clock time‘ inszeniert 165 Zur Rolle der Zeit in The Secret Agent vgl. u.a. Rosenfield (1967: 82ff.), Fleishman (1965: 214ff.) und Lucking (1986: 177ff.). Die Tatsache, dass der Anschlag auf die Zeit ausgerechnet deshalb misslingt, weil Stevie fällt, wird von Lucking (1986) als Verweis auf „the profane, fallen condition of modern man“ (178) interpretiert, die der Etablierung eines utopischen Zeitalters entgegensteht: „It is because man is ‚fallen‘, perhaps, that time cannot be abolished“ (179). Clark (2004: 10) geht in seiner Behandlung des Themas Zeit auf die imperiale Macht Großbritanniens ein, die es ermöglichte „that Great Britain should be the beginning of time for the entire world“. <?page no="205"?> The Secret Agent 191 (vgl. Fleishman 1965: 214). Als paradigmatisches Beispiel kann Verlocs verlangsamtes Zeiterleben kurz vor seiner Ermordung dienen, d.h. seine Wahrnehmung der tödlichen Stichbewegung seiner Frau als ‚leisurely movement‘ (vgl. SA: 208). Auch Winnies subjektive Zeiterfahrung lässt sich nicht in Einklang mit ‚clock time‘ bringen, da für sie die Zeit nach dem Mord scheinbar stillsteht. 166 Impliziert die homogene Uhrzeit eine präzise einteilbare und objektive Ordnung von Welt (vgl. V. Nünning 2002: 299), so wird die Vorstellung einer lückenlos rational erfassbaren Wirklichkeit durch die krisenhaften und eigengesetzlichen Ereignistemporalitäten der Figuren in Frage gestellt. Unerwartete Kontingenzeinbrüche führen zu „sudden holes in space and time“ (SA: 68). Die Zeitmodalität erweist sich somit bei genauerer Betrachtung aufs engste mit der Frage von gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen und der Wahrnehmung von Kontingenz verknüpft. Die Infragestellung eines einheitlichen Zeiterlebens in The Secret Agent geht einher mit der Inszenierung einer fragmentarisierten Wirklichkeitserfahrung. Eine anschauliche Visualisierung für die Intransigenz gesellschaftlicher Ordnung aus Sicht des erlebenden Subjekts bietet die Beschreibung von Stevies Zeichenaktivität. Mr Verloc […] opened the door […], and thus disclosed the innocent Stevie, seated very good and quiet at a deal table, drawing circles, circles, circles; innumerable circles, concentric, eccentric; a coruscating whirl of circles that by their tangled multitude of repeated curves, uniformity of form, and confusion of intersecting lines suggested a rendering of cosmic chaos, the symbolism of a mad art attempting the inconceivable. (SA: 36) Stevie, der im Gegensatz zu seiner Schwester darum bemüht ist, „to go to the bottom of the matter“ (SA: 137), evoziert bei seinem künstlerischen Versuch, die Welt zu begreifen, lediglich kosmisches Chaos: „geometric precision is […] persistently shadowed by the impossibility of rational order“ (Wollaeger 1990: 150). Jedem der Elemente in der oben zitierten Passage kann bei genauerer Betrachtung eine hohe Polyvalenz zugeordnet werden. So können die konzentrischen Kreise einerseits als metonymischer Verweis auf eine harmonische Totalitätsvorstellung gelesen werden, wie sie beispielsweise aus der philosophischen Antike bekannt ist (vgl. etwa 166 Vgl. SA: 212f.: „She could not believe that only two minutes had passed since she had looked at it [= the clock] last. […] As a matter of fact, only three minutes had elapsed from the moment she had drawn the first deep, easy breath after the blow, to this moment […]. But Mrs Verloc could not believe that. She seemed to have heard or read that clocks and watches always stopped at the moment of murder for the undoing of the murderer.“ <?page no="206"?> 192 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive die kosmologische Schalenordnung bei Aristoteles). 167 In den konzentrischen Kreisen scheint sich Stevies Sehnsucht nach einer wohlgeordneten Welt mit einer sinnstiftenden Mitte zu manifestieren. Andererseits kann Stevies Zeichnung auch als Blaupause für die Plotstruktur des Romans dienen: „the dismemberment of Stevie is the event that sets off the ripples of movement from chapter to chapter, all of which approach the immense circle of the novel“ (Andreach 1970: 81). Die immense Kreisstruktur erläutert Clark (2004: 25) wie folgt: Vladimir delegates the responsibility of the bombing attempt to Verloc, who in turn delegates it to Stevie, and Stevie’s physical body, once fragmented, leaves the trace for [Inspector] Heat to follow back to Verloc, which the assistant commissioner in turn follows back to Vladimir. That tracing would have been impossible without Stevie’s own fragmentation […]. Gemäß Clarks Beschreibung lässt sich so die kreisförmige Plotstruktur durch konzentrische Kreise visualisieren: Vladimir Vladimir Verloc (führt Polizei zu: ) Verloc Stevies Überreste als Spur (führen Polizei zu: ) Stevie / Abbildung 9: Plotstruktur The Secret Agent 167 Vgl. auch Cox (1974: 98): „The circles represent a harmony of form, an ideal justice which Steve would like to create in society; but the obsessed scribbling, the final sense of cosmic disorder, suggests the impossibility of the task.“ Zur Interpretation von Stevies Zeichnungen siehe auch Fleishman (1965: 204f.). Ausführlich zur kulturgeschichtlichen Bedeutung von konzentrischen Totalitätsvorstellungen siehe Sloterdijks Sphärentrilogie, insbesondere das fünfte Kapitel im Band II: Globen (1999). <?page no="207"?> The Secret Agent 193 Durch Hinzunahme dieser Plotstruktur als Bezugsfolie wandelt sich die Semantisierung der konzentrischen Kreise als harmonische Totalitätsvorstellung hin zur Visualisierung des Verlusts einer sinnstiftenden Mitte, da im Zentrum der fiktionalen Welt ein sinnimmuner Kontingenzeinbruch steht (der Zufall bzw. Unfall), der die explosionshafte Auslöschung bzw. Fragmentarisierung des Subjekts mit sich bringt. Die kontingente Natur von Stevies Tod wird durch die Art seines Unfalls unterstrichen. Allem Anschein nach ist Stevie beim Tragen der Bombe in Richtung des Zielobjekts über die Wurzel eines Baumes gestolpert und gefallen (vgl. SA: 166), wodurch die Bombendetonation ausgelöst wurde. Da dieser Unfall den Moment des Fallens umfasst, wird zugleich auf die etymologische Bedeutung des Wortes ‚chance‘ angespielt: „The word chance itself is derived from cadere, the Latin for ‚to fall‘, so chance is what ‚befalls‘ us; […] the random occurence with no obvious cause or design.“ (Jordan 2010: 6) Eine weitere Betonung der Zufälligkeit des Geschehens erfolgt durch die Häufung des Wortes Zufall in Heats Bericht über die Ereignisse und den Stand der Ermittlungen. 168 Angesichts der tödlichen Auswirkungen des Kontingenzeinbruchs im Zentrum von Conrads Roman kann chance eine radikal negative Codierung zugeordnet werden: Ein kontingentes Ereignis (Stevies Unfall) endet in der Auslöschung einer gesamten Familie, d.h. der kleinsten gesellschaftlichen Einheit. Der Verlust der Mitte wird radikalisiert durch die „coruscating whirl of circles“ (SA: 36), welche durch die Pluralisierung von Kreisen verschiedener Art (konzentrisch und exzentrisch) sowie ihre Überkreuzung untereinander entstehen. Die Pluralisierung und Überschneidung der Kreise können mit den Überschneidungen von verschiedenen Handlungsketten im Roman korreliert werden. Diese Überschneidungen wiederum erhöhen aus Akteursperspektive den Eindruck eines unverfügbaren Universums, da die unerwartete Überkreuzung von Handlungsketten eine Durchkreuzung der Intentionen der Akteure zur Folge hat. Ein anschauliches Beispiel bietet die polizeiliche Überführung von Verloc als Mittäter. Die Spur führt die Polizei nur deshalb zu Verloc, weil ausgerechnet derjenige Stofffetzen von Stevies Mantel in der Explosion nicht verbrannte, auf dem Stevies Adresse geschrieben steht. Winnie war (ohne Verlocs Wissen) dazu übergegangen, Stevies Adresse in seine Kleider zu schreiben aus Sorge, dass er in der Stadt verlorengehen könnte. Winnies Handlungen, die dem Schutz Stevies dienen, brechen in der von Verloc initiierten Handlungskette - die Nutzung Stevies als Attentäter - in Form von Kontingenz ein. „One can’t think of 168 Vgl. SA: 112: „He [= Stevie] has destroyed himself by an accident, obviously. Not an extraordinary accident. But an extraordinary little fact remains: the address on his clothing discovered by the merest accident, too. It is an incredible little fact, so incredible that the explanation which will account for it is bound to touch the bottom of this affair.“ (m.H.) <?page no="208"?> 194 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive everything“ (SA: 182), so die resignative Einsicht des secret agent, als er von Winnies Maßnahme bei seiner Überführung erfährt. Das Bild der sich kreuzenden Handlungsketten ließe sich selbstverständlich weiter ausbauen. Diesbezüglich sind etwa die Aktivitäten von Inspektor Heat und dem ihm vorgesetzten Assistant Commissioner aufschlussreich. Während Heat den harmlosen Anarchisten Michaelis als Sündenbock verhaften möchte, weil er Verloc nicht als wertvollen (da seiner eigenen Karriere dienlichen) Polizeiinformanten verlieren möchte, will der Assistant Commissioner demgegenüber ebenfalls aus eigennützigen Motiven eine Verhaftung Michaelis unbedingt vermeiden und nimmt deshalb selbst die Ermittlungsarbeit auf. Ohne das ungewöhnliche Einschreiten des Assistant Commissioner würde Verloc wiederum keine Verhaftung drohen trotz der hinterbliebenen Spuren am Tatort. Die völlige Disparatheit der zunächst unverbundenen Handlungsketten, die erst zusammenfallen müssen, um ein Ereignis eintreten zu lassen (im gewählten Beispiel: Verlocs Überführung der Tat), unterstreicht die Unübersichtlichkeit des Handlungsraums. 169 Die Unübersichtlichkeit des Handlungsraums wird durch die Stadtdarstellung im Roman ebenfalls hervorgehoben. Eine räumlich-kognitive Orientierung erscheint in einer Stadt unmöglich, in der die Beschilderung der Straßen keiner nachvollziehbaren Logik folgt, da Häuser eigenständig einfach wegwandern. 170 Zudem zeugen die städtischen Impressionen der Figuren von einer fragmentarisierten Wirklichkeitswahrnehmung. So ist die figurale Wahrnehmung des partialen urbanen Raums wiederholt durch eine Fokussierung auf einzelne visuelle Details geprägt: Only a fruiterer’s stall at the corner made a violent blaze of light and colour. Beyond all was black, and the few people passing in that direction vanished at one stride beyond the glowing heaps of oranges and lemons. No footsteps echoed. They would never be heard of again. The adventurous head of the Special Crimes Department watched these disappearances from a distance with an interested eye. (SA: 119). Die Konzentration auf isolierte visuelle Details, wie sie in dieser Passage mit dem Assistant Commissioner als Reflektorfigur zu sehen ist, kann als 169 Zur Unübersichtlichkeit der Welt gehört auch Intransparenz auf institutioneller Ebene. So wirft der Assistant Commissioner seinem Untergebenen Inspector Heat vor: „Your idea of secrecy seems to consist in keeping the chief of your department in the dark.“ (SA: 106) 170 Vgl. SA: 12: „This [the number 10] belonged to an imposing carriage gate in a high, clean wall between two houses, of which one rationally enough bore the number 9 and the other was numbered 37; but the fact that this last belonged to Porthill Street […] was proclaimed by an inscription placed above the ground-floor windows by whatever highly efficient authority is charged with the duty of keeping track of London’s strayed houses.“ <?page no="209"?> The Secret Agent 195 Defensivstrategie gegen die von Zeitgenossen vielfach beklagte Reizüberflutung in der modernen Stadt gelesen werden (vgl. Britzolakis 2005: 12). 171 Statt eines Gesamtbildes reduziert sich somit die kognitive Erfassung des Lebensraums auf einzelne Bruchstücke. Zur distanzierenden Funktion, welche diese radikale Einschränkung des epistemolgischen Blickwinkels des Subjekts erfüllt, gehört auch, dass man „Bilder an der Oberfläche [hält] und […] sie nicht ins Bewusstsein eindringen“ (A. Assmann 2002: 256) lässt. Entsprechend diesem „Wahrnehmungsmodus des neuen Zeitalters“ (ebd.) bleibt es auch in der obigen Passage bei dem reinen Festhalten der Impression ohne eine weitergehende Reflexion darüber. Die epistemologisch beschränkte Perspektive von handelnden Akteuren bildet eine entscheidende Grundlage für die im Roman konturierte Widerfahrniskontingenz. Die Interdependenz dieser ausschnitthaften Wirklichkeitswahrnehmung und Widerfahrniskontingenz wird durch die Verknüpfung verschiedener Szenen im Roman mittels Leitmotiven herausgestellt. Wenn Verloc das für ihn fatale Detail der Adresse in Stevies Mantel mit dem Ausrutschen „on a bit of orange peel in the dark and breaking your leg“ (SA: 187) vergleicht, dann erinnert dies an die gerade skizzierte Szene mit den ‚glowing heaps of oranges and lemons against the dark‘. Eine zentrale Funktion dieser leitmotivischen Verknüpfung ist einerseits, wie Britzolakis (2005: 12) zu Recht betont, die Hervorrufung einer ‚unheimlichen Struktur‘: „resembling that of the afterimage or visual trace, which prevents the eye from being overwhelmed with blackness“. Angesichts der radikalen Blickverengung auf ein spezifisches Detail in der ‚Obststand- Impression‘ drängt sich jedoch eine weitere Funktion dieser Verknüpfung auf. Die leitmotivische Verbindung der ‚Obststand-Impression‘ mit dem Scheitern von Verlocs Plan lenkt den Blick zugleich auf den Grund, wieso der Zufall Verlocs sorgfältigen Plan durchkreuzt hat. Aufgrund seiner Standortgebundenheit und spezifischen Aufmerksamkeitsbindung kann ein Akteur nie das Gesamtbild sehen bzw. den Möglichkeitsraum vollständig beim vorausschauenden Planen ausloten. Das gerade skizzierte Leitmotiv der ‚oranges and lemons‘ im Text gewinnt eine zusätzliche Semantisierung, wenn man dessen Verbindungen zur Kapitalismusthematik nachgeht. Da die Aufmerksamkeit des Assistant Commissioner ausgerechnet durch eine Ware gebunden wird, deren auratische Präsenz (‚violent blaze of light and colour‘) die Menschen in den dunklen Hintergrund rücken, lässt sich diese Szene als Darstellung der 171 Zur Reizüberflutung in der Stadt vgl. Britzolakis (2005: 10): „[Stevie’s] role in the novel corresponds to one account of impressionism as positing a ‚primitive eye‘ that ‚represents an initial sense impression before the observer organizes it into a meaning that accords with past experience‘ (Peters [2001: ] 37). Stevie’s response to stimuli is mimetic; his traumatic response to the urban environment is manifested in bodily agitation, jerks, and stuttering.“ <?page no="210"?> 196 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive kognitiven Effekte des vorhin beschriebenen Warenfetischismus par excellence lesen. Die destruktiven Folgen dieses Warenfetischismus werden ebenfalls insofern wieder aufgegriffen, als das ‚violent‘ und die Farben der Waren (orange und gelb) an die Explosion erinnern. Zudem wird auch das Kannibalismusmotiv aufgrund der wortwörtlichen Konsumierbarkeit der Ware (Obst als essbar) implizit fortgeführt. Das Entfernen der Menschen aus dem unmittelbaren kognitiv-affektiven Umfeld des Subjekts, wie sie in dieser kurzen Impression in verdichteter Form visualisiert wird, entspricht metonymisch der im Roman dargestellten Isolation der Menschen voneinander. Die Isolation der Figuren in The Secret Agent zeigt sich in ihrem auffälligen Kommunikationsverhalten: Entweder sie reden aneinander vorbei oder sie reden gar nicht miteinander. Dialogische Brücken zwischen den interagierenden Subjekten sind nicht vorhanden. Vielmehr gibt es nur eine ‚Insellandschaft‘, die an Stevies wilde Kreiszeichnungen erinnern: „[E]very person in The Secret Agent is rendered as a circle of insularity, each insulated from another by his own self-love, by self-illusions and fixed ideas or theories, while like eccentric circles each selfhood impinges upon another by sharing some portion of its attributes, outlook or theory.“ (Stallman 1982 [1960]: 236) Ein besonders prägnantes Beispiel für die Nicht- Kommunikation der Figuren liefert die Ehe zwischen den Verlocs, die dadurch geprägt ist, dass die Eheleute einander keinen Zugang zu ihrem jeweiligen Innenleben gewähren. Ähnliches gilt auch für Winnies Mutter, die ihrer Tochter nicht die wahren Gründe für ihren Auszug aus dem Verloc-Haushalt verrät. Ein groteskes Beispiel für ein systematisches Aneinandervorbeireden bildet zweifellos Winnies vermeintliches Mordgeständnis gegenüber dem Anarchisten Ossipon: Distracted by the vividness of her dreadful apprehensions, […] she had imagined her incoherence to be clearness itself. She had no conscience of how little she had audibly said in the disjointed phrases completed only in her thought. She had felt the relief of a full confession, and she gave a special meaning to every sentence spoken by Comrade Ossipon, whose knowledge did not in the least resemble her own. (SA: 223) Entscheidend ist, dass die kommunikativen Mißverständnisse zwischen den Figuren, wie sie in der Passage thematisiert werden, nicht einfach als Ergebnis mangelnder Artikulationsfähigkeit abgetan werden können. Vielmehr sind sie ein Symptom für die Gefangenheit der Figuren in ihrer eigenen Perspektive. „Das Sich-Hineinversetzen in die Perspektive der zweiten Person verlangt den Vorschuß einer Form von Anerkennung, die in kognitiven oder epistemischen Begriffen nicht vollständig zu erfassen ist, weil sie stets ein Moment der unwillkürlichen Öffnung […] enthält.“ (Honneth 2005: 51) Mit Ausnahme von Stevie sind die Figuren zu solch einer Anerkennung des Anderen nicht in der Lage. So erklärt der auktoria- <?page no="211"?> The Secret Agent 197 le Erzähler Verlocs fatale Fehldeutung von Winnies Reaktion auf Stevies Tod (d.h. ihr Schweigen und ihre Körpersprache) damit, dass Verloc außer Stande sei, seine egozentrische Perspektive aufzugeben: „The mind of Mr Verloc lacked profundity. Under the mistaken impression that the value of individuals consists in what they are in themselves, he could not possibly comprehend the value of Stevie in the eyes of Mrs Verloc.“ (SA: 185) Die Isolation der Individuen bildet eine wesentliche Facette der Entfremdungserfahrung in der abstrakten Gesellschaft: „Die persönlichen faceto-face-Beziehungen der Menschen werden so weit mit unpersönlichen Hintergrundsfaktoren überfremdet, daß Interaktion einen ‚phantomartigen‘ Charakter annimmt (Zijderveld), zum systematischen Aneinandervorbeireden und -handeln zu werden droht.“ (Zapf 1988: 24) Der ‚phantomartige Charakter‘ kommt in Conrads Roman insofern zum Tragen, als die Menschen einander bisweilen entweder als lebendige Tote (vgl. SA: 226) oder als tote Lebendige bzw. gar der Tod selbst erscheinen (vgl. SA: 230). Die herausgearbeitete verdinglichende Wirkung des Kapitalismus kann als einer der entscheidenden unpersönlichen Hintergrundfaktoren bewertet werden, welche die Interaktion der Menschen deformiert. Insbesondere die kapitalistische Ausblendung von qualitativen Eigenheiten wird im Roman als Grund für die gegenseitige ‚Nicht-Lesbarkeit‘ 172 der Figuren herausgestellt. So ist es angesichts der bereits skizzierten Verknüpfung von der Essensmotivik mit der Kapitalismusthematik bezeichnend, wenn ausgerechnet in einem Restaurant - dem Ort, wo man für den Verzehr von Essen als Ware bezahlt - die Besucher (aus Perspektive des Assistant Commissioner) als „denationalised“ (SA: 118) erscheinen und die Atmosphäre der Anonymität betont wird: „[T]hese people were as denationalised as the dishes set before them with every circumstance of unstamped respectability. Neither was their personality stamped on in any way, professionally, socially or racially.“ (SA: 119) 173 Im Lichte der Isolation und der Hermetik der Menschen, wie sie in The Secret Agent entworfen werden, bezieht so mancher Interpret den Titel des Romans nicht auf Verloc, sondern auf alle Städter: „[I]n metropolitan life every citizen is in effect a secret agent - in the sense that his or her social roles become mere masks, external to the self, and thus incapable of nourishing the self.“ (Berthoud 1996: 118) Die Auswirkungen von Verdinglichung auf das Subjekt führen dazu, dass die Nicht-Lesbarkeit von Mitmenschen in Conrads Roman anders als in Daniel Deronda zu deuten ist. Die gegenseitige Hermetik der Menschen 172 Vgl. beispielsweise folgende Textpassagen: „She [= Winnie] […] quieted down to a complete unreadable stillness.“ (SA: 185; m.H.); “He [= Verloc] […] dragged the veil off, unmasking a still, unreadable face“ (ebd.: 203; m.H.). 173 Für eine detaillierte Analyse der Restaurant-Szene mit Blick auf die Thematik von Kolonialismus und Empire in The Secret Agent siehe McLaughlin (2000: 153ff.). <?page no="212"?> 198 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive ist im Zusammenhang mit der abstrakten Gesellschaft zu sehen, die die Isolation des Einzelnen befördert. Der Fokus liegt auf dieser Erfahrung von Isolation und nicht darauf, die Individualität des Einzelnen zu inszenieren, die sich einer vollständigen Erfassung entzieht (Kontingenz des Inkommensurablen). Individuen in diesem emphatischen Sinne existieren in Conrads beklemmender Romanwelt nämlich nicht, in der aufgrund der allgegenwärtigen Verdinglichung nur noch eine Schwundstufe des Subjekts präsentiert wird: Der einzelne wird zum austauschbaren Teil eines abstrakten Handlungssystems, aus dem seine eigene persönliche Realität ebenso herausfällt wie die der anderen Menschen. Damit überträgt sich aber die Indifferenz dieses Systems gegen alles Lebensweltlich-Konkrete auf das Verhalten des einzelnen, der anthropofugale Grundzug der abstrakten Gesellschaft auf die anthropozentrische Lebenswelt, und der Mensch steht so in Gefahr, seiner eigenen Realität, seiner Geschichte, seiner Humanität verlustig zu gehen. (Zapf 1988: 24) Die Figuren erscheinen einander als hermetisch, weil „die Kategorien individuellen Handelns und anthropozenristischer Interaktionen“ (ebd.) durch die Wirkmechanismen der abstrakten Gesellschaft (v.a. durch die kapitalistische Logik) ausgehöhlt werden. Die Nicht-Lesbarkeit des Anderen resultiert somit nicht aus dessen Einzigartigkeit oder komplexer psychischer Struktur, wie etwa im Fall von Gwendolen in Daniel Deronda, sondern ist eine Konsequenz des „Substanzschwund[s] personaler Identität“ (ebd.) aufgrund gesellschaftlicher Abstraktion. Die Entpersönlichung zwischenmenschlicher Beziehungen gipfelt in Kommunikationsverlust und einer Hermetik des Anderen. Als Zwischenfazit der Textanalyse lässt sich festhalten, dass das eigentliche Inkommensurable auf der Ebene der Figurenwelt nicht das Individuelle ist, sondern die Wirkmechanismen der abstrakten Gesellschaft, die sich einem kognitiven Zugriff seitens der Figuren entziehen. Das Inkommensurable ist der undurchschaubare Verblendungszusammenhang, wie er sich exemplarisch im Warenfetischismus der kapitalistischen Gesellschaft zeigt. Die Hermetik der Menschen ist lediglich ein sekundäres Begleitphänomen der kapitalistischen Zirkulation von Geld und Waren. Die ‚Obststand- Impression‘ stellt den Verblendungszusammenhang beispielhaft dar: Aufgrund der Aufmerksamkeitsbindung durch die Ware werden andere Wirklichkeitsbereiche verdunkelt („Beyond all was black“, SA: 119). Die Verknüpfung der Kontingenz des Inkommensurablen, also die nicht erfasste Logik des Kapitalismus, mit Gewalt und Tod bzw. der Detonation der Bombe (siehe oben: „violent“, sowie die orange-gelbe Farben der Früchte) unterstreicht ihre negative Codierung. <?page no="213"?> The Secret Agent 199 2.2 „things do not stand much looking into“: Verlust von Gestaltbarkeitskontingenz in der abstrakten Gesellschaft und die Aporie des impliziten Funktionsmodells Die bisherige Analyse von The Secret Agent konzentrierte sich darauf, die maßgebliche Rolle herauszuarbeiten, die das Gefüge der abstrakten Gesellschaft als Koordinatenraum für die Handlungen der Akteure spielt. Dabei kristallisierte sich ein Verlust an Gestaltbarkeitskontingenz innerhalb der fiktionalen Welt heraus. Selbst bei genaueren Betrachtung des Kreises der Anarchisten oder des Höhepunkts des Romans, Winnies Übertretung des Tötungstabus, ändert sich dieses Bild nicht. Im Gegenteil, der Pessimismus hinsichtlich der Möglichkeit selbstbestimmten Handelns erhält nur weitere Nahrung. Bereits das Kalkül des Botschafters Vladimir, Großbritannien zur Einschränkung von Freiheitsrechten mittels des (vermeintlich) anarchistischen Anschlags zu bewegen, deutet darauf hin, dass die Anarchisten keine ernstzunehmende gesellschaftliche Bedrohung darstellen. Vielmehr können sie, als einigendes Angstobjekt des Bürgertums und der oberen Schichten, dazu dienen, die gesellschaftliche Ordnung zu stabilisieren. Der fanatische Professor, dem aufgrund seiner Radikalität ein Sonderstatus innerhalb des anarchistischen Milieus zugeordnet werden kann, fängt den systemerhaltenden Charakter der Interaktion zwischen Anarchisten und Staatsmacht mit dem Bild des Spiels ein: „The terrorist and the policeman both come from the same basket. Revolution, legality - counter moves in the same game; forms of idleness at bottom identical.“ (SA: 56) Die verächtliche Charakterisierung der ‚revolutionären‘ Spielzüge als ‚forms of idleness‘ seitens des Professors kommt nicht von ungefähr. Die physisch grotesken Anarchisten sind ein müßiger Haufen im doppelten Sinn des Wortes: Sie sind Müßiggänger im Sinne ihrer Passivität und parasitären Abhängigkeit von Frauen; die wenigen anarchistischen Aktivitäten, denen sie nachgehen, wie etwa Phrasendreschen bei ihren Treffen und die Verbreitung von verstaubtem Propagandamaterial, erscheinen als müßige bzw. sinnlose Beschäftigung, da sie in der politischen Sphäre keine Wirkung entfalten (vgl. Berthoud 1996: 108f.). 174 174 Vgl. auch die sarkastische Bewertung von ‚Revolutionären‘ im Allgemeinen seitens der auktorialen Erzählinstanz: „[Mr Verloc] dislike[d] […] all kinds of recognised labour - a temperamental defect which he shared with a large proportion of revolutionary reformers of a given social state. For obviously one does not revolt against the advantages and opportunities of that state, but against the price which must be paid for the same in the coin of accepted morality, self-restraint, and toil. The majority of revolutionists are the enemies of discipline and fatigue mostly. There are natures too, to whose sense of justice the price exacted looms up monstrously enormous […]. Those are the fanatics. The remaining portion of social rebels is accounted for by vanity“ (SA: 42f.). <?page no="214"?> 200 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Die Signatur einer Fremdbestimmtheit von Menschen, die bislang als Erfahrungsdimension der abstrakten Gesellschaft herausgearbeitet wurde, setzt sich auch in den philosophischen Positionen der Anarchisten fort. Selbstbestimmtes Handeln von Subjekten spielt in dem materialistischen Geschichtsbild des monologisierenden Anarchisten Michaelis keine Rolle: „History is […] determined by the tool and the production - by the force of economic conditions.“ (SA: 33) „[H]e saw already the end of all private property coming along logically“ (ebd.: 35). Während der Determinismus bei dem „ticket-of-leave apostle“ (ebd.: 33) Michaelis ein marxistisches Geschichtsgewand trägt, vertritt Ossipon, der ebenfalls zu der anarchistischen „Future of the Proletariat“-Gesellschaft angehört, deterministische Vorstellungen genetischer Prägung. Unter Berufung auf den Mediziner und Kriminologen Cesare Lombroso glaubt er an eine biologische Prädeterminierung zum Verbrechen. Die deterministischen Weltbilder der Revolutionäre liefern ein wichtiges Erklärungsmoment dafür, wieso sie keine Herausforderung für die gesellschaftliche Ordnung darstellen: To the extent that they view human beings as the objects rather than the subjects of history, they adopt a philosophical standpoint indistinguishable from the one reproduced by the system of commodity fetishism. (Lutz 2008: 19) Whether we are examining Ossipon’s criminological theory or Michaelis’s utopian one, at every turn, their theories negate the role of human agency in material history in the same way that the fetishism of commodities erases the social origins of the commodity and transforms subjects into objects in the overall system of production. (ebd.: 20) Aufgrund dieser tiefenstrukturellen Ähnlichkeit spielen letztlich Anarchisten und kapitalistischer Staat nach den Regeln desselben Spiels (vgl. SA: 56). Im Sinne des zuvor beschriebenen Verblendungszusammenhangs, der auf der Ebene der Figurenwelt herrscht, durchschauen die Anarchisten nicht ihre (ungewollte) Komplizenschaft mit dem kapitalistischen System. 175 Während in Ossipons kriminalistischer Theorie und in Michaelis’ materialistischem Geschichtsbild die agency von Menschen verneint werden, sieht sich demgegenüber der fanatische Professor als zerstörerische Kraft (vgl. SA: 65). Sein Credo lautet: „the framework of an established social 175 Die Tatsache, dass auch der Marxist Michaelis nicht die herrschende Systemlogik erkennt, zeigt sich insbesondere an seinem Glauben an das unausweichliche Ende von Privateigentum aufgrund der „inherent viciousness“ (SA: 35) der gegenwärtigen Verhältnisse, die zu Instabilität führe: „The possessors of property had not only to face the awakened proletariat, but they had also to fight among themselves.“ (SA: 35) Demgegenüber inszeniert Conrads Roman die unerbittliche Selbstreproduktion des kapitalistischen Systems und nicht die Logik einer teleologischen Entwicklung, die in der Abschaffung des Kapitalismus gipfelt. <?page no="215"?> The Secret Agent 201 order cannot be effectually shattered except by some form of collective or individual violence“ (SA: 65). Dementsprechend verkauft er nicht nur Sprengstoff an jede Person, die ihn haben will, sondern ist auch zu gegebener Zeit bereit, sich selbst mit einer Bombe, die er immer bei sich trägt, in die Luft zu sprengen. Obgleich ihm die auktoriale Erzählinstanz in seinem Glauben an die revolutionäre Kraft von Gewalt Recht gibt (vgl. ebd.), wird diese vermeintliche Möglichkeit, Gesellschaft durch Handeln zu verändern, am Ende doch durch Hinweise auf die Apathie und das Desinteresse der Massen grundsätzlich in Frage gestellt. 176 Auch auf mikrostruktureller Ebene kann transgressive Gewalt nicht als Motor für tiefgreifende Veränderungen wirken, wie das Beispiel von Winnies Mord zeigt. Der Mord an Verloc befreit sie nicht; sie ist nach wie vor keine „free woman“ (SA: 199), so dass die dauernde Wiederholung ihres Status als ‚frei‘ ironische Züge gewinnt (vgl. Lutz 2008: 9). Winnie betrachtet sich selbst, nachdem sie von Stevies Tod erfahren hat, als frei, weil der ökonomische Vertrag, den ihre Ehe für sie darstellt, durch Verlocs Vertragsbruch aufgehoben ist: „the man whom she had trusted, took the boy away to kill him! “ (SA: 197); „Mrs. Verloc’s doubts as to the end of the bargain no longer existed“ (ebd.: 206f.). Winnie ist trotz des Mordes dennoch nicht frei, weil sie nicht in der Lage ist, Ausbeutungsverhältnissen zu entkommen, sondern dasselbe Verhaltensmuster unreflektiert reproduziert: Die Selbstaufgabe im Abhängigkeitsverhältnis zu einem Mann. 177 Hatte sie sich zuvor zum Wohle Stevies in ihrer Vernunftehe mit Verloc selbstaufopfernd ‚prostituiert‘, so sieht diese ‚free woman‘ nach dem Mord instinktiv nur zwei Handlungsoptionen aufgrund ihrer Angst vor der Justiz: entweder Suizid oder die Selbstversklavung für einen männlichen Beschützer. 178 Die Reproduktion sozialer Machtbeziehungen, wie sie in Winnies Lebensweg manifest wird, bringt Lutz (2008) konzise auf den Punkt: 176 Vgl. die Befürchtungen des Professors: “They [= the crowds] swarmed numerous like locusts, industrious like ants, thoughtless like a natural force, pushing on blind and orderly and absorbed, impervious to sentiment, to logic, to terror too perhaps. That was the form of doubt he feared most. Impervious to fear! […] What if nothing could move them? “ (SA: 65) 177 Vgl. Lutz (2008: 8): „In her marriage to Verloc, she consciously trades one form of servitude for another. She sacrifices her own happiness, and, since her relationship to Verloc is loveless, prostitutes herself in order to provide for Stevie’s security. […] Verloc’s betrayal of the unspoken arrangement that supports their marriage brings ‚home‘ to her what has always been a governing feature of their home: the exploitative character of their relationship.“ Für eine feministische Interpretation der Darstellung von Familie in The Secret Agent, insbesondere der Bewertung von Winnie, siehe Moffat (1994). 178 Vgl. ihr Angebot an Ossipon, den sie zufällig kurz nach dem Mord trifft: „Don’t let them hang me, Tom! Take me out of the country. […] I’ll slave for you.“ (SA: 229; m.H.) Für eine psychoanalytische Interpretation von Winnies Verhalten siehe Martin (2004: 46f.). <?page no="216"?> 202 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive In a society characterized by social and economic domination, the notion of free agency can only be an illusion that possesses no real material foundation. (9) Winnie’s apparent suicide only emphasizes this point more clearly: the wedding ring [= a commodity] left behind on the seat onboard the steamer [she jumped off from to kill herself] suggests the complete absence of any space for an identity outside the forms of structural domination that characterize the novel’s social world. (10) Winnies fehlender Raum für die Entwicklung eigener Subjektivität hat auch eine sprachliche Dimension: Winnie hat im wahrsten Sinne des Wortes keine eigene Stimme. Ihr fehlen die Worte oder sie kann nur melodramatische Klischees, „the phrases of sham sentiment“ (SA: 236), zitieren, bei dem Versuch, ihrer Erlebenswelt Ausdruck zu verleihen (vgl. auch Hawthorn 1979: 88). Durch die übersteigert plakative Befolgung von Konventionen des Melodramas gegen Ende des Romans gewinnt die Handlung geradezu einen ‚mechanischen‘ Ablauf: „Following Verloc’s murder, the novel has a relentless and predictable entropy. At the moment of apotheosis we are confronted with mechanical movement and empty language.“ (Moffat 1994: 483) Insgesamt zieht sich die Unterminierung von Gestaltbarkeitskontingenz als roter Faden durch die fiktionale Welt. Tatsächlich entwirft The Secret Agent eine Kontingenzkonzeption, wonach Widerfahrniskontingenz die prägende Dimension menschlichen Lebens ist, der nichts entgegengesetzt werden kann. Epistemologisch entzieht sich die Welt aufgrund ihrer unüberschaubaren Komplexität („coruscating whirl of circles“) einer Lesbarkeit seitens des Subjekts. Allerdings wird diese Form des Unverfügbaren durch die narrative Anordnung des Materials relativiert, weil diese den Blick auf die Ordnung hinter dem Chaos lenkt, nämlich dem tiefenstrukturellen Wirken kapitalistischer Logik. Diese Kontingenzkonzeption in The Secret Agent lässt sich mit Hilfe einer Analyse der Perspektivenstruktur konkretisieren. Es muss nämlich unterschieden werden zwischen den verschiedenen Perspektiven auf Kontingenz seitens der Figuren und der Perspektivenstruktur des Romans insgesamt, d.h. der Art und Weise, wie diese verschiedenen Perspektiven zueinander in Bezug gesetzt werden. Auf der Ebene der Figurenwelt kann ein Spektrum an verschiedenen Perspektiven hinsichtlich Gestaltbarkeits- und Widerfahrniskontingenz identifiziert werden. Ein illustratives Beispiel für die Unterschiedlichkeit von Wirklichkeitswahrnehmung zeigt der Vergleich zwischen Stevie und Michaelis: Stevies künstlerische Evokation eines chaotischen Universums kontrastiert mit Michaelis’ deterministischem Geschichtsbild, das keinen Raum für Kontingenz als geschichtswirksamen Faktor vorsieht, sondern eine ‚logische‘ Entwicklung der Welt gemäß den klaren Gesetzmäßigkeiten des historischen Materialismus propagiert. Nicht nur Michaelis geht im <?page no="217"?> The Secret Agent 203 Unterschied zu Stevie von einer klaren Lesbarkeit der Welt aus, sondern, wie zuvor erwähnt, auch der ehemalige Medizinstudent Ossipon. Einerseits teilt er Michaelis’ philosophische Position nicht vollständig, da er die Notwendigkeit einer massenhaft revolutionären Erhebung sieht, um die kapitalistische Herrschaft abzuschütteln. (Freilich bewegt ihn dieser Glaube nicht dazu, selbst auf bedeutsame Weise aktiv zu werden.) Während diese Position für eine Wahrnehmung von Gestaltbarkeitskontingenz auf Kollektivebene spricht, d.h. durch eine Massenrevolution könnten sich die Verhältnisse ändern, hängt auch er andererseits letztlich einer deterministischen Position an (genetischer Determinismus). Ist es bei Michaelis die absolute Gesetzmäßigkeit historischer Entwicklungen, die zu einer Aufhebung von Unbestimmtheit im historischen Prozess führt, ist es für Ossipon die Naturwissenschaft, welche die unaufhebbare Verschiebung von Bedeutung und damit ein Moment der Unverfügbarkeit maskiert. 179 Zwar bietet The Secret Agent durchaus eine Streubreite an verschiedenen Perspektiven auf Kontingenz im Sinne einer Nicht-/ Lesbarkeit von Welt, allerdings fügen sich diese allmählich zu einer geschlossenen Perspektivenstruktur zusammen aufgrund einer Reihe an integrationsfördernden Strategien. 180 Ein entscheidender Faktor ist die Gestaltung der Erzählsituation: The Secret Agent kennzeichnet fließende Übergänge zwischen der auktorialen und der personalen Erzählsituation (mit verschiedenen Reflektorfiguren). Die Relativierungen seitens der auktorialen Erzählinstanz von denjenigen Perspektiven, die eine absolute Kontrollierbarkeit der Lebenswirklichkeit und damit Bannung von Kontingenzeinbrüchen entwerfen, deuten darauf hin, dass die gottgleiche Erzählinstanz Stevies Visualisierung von ‚cosmic chaos‘ als Wirklichkeitsmodell bevorzugt. Ein gutes Beispiel liefert die auktoriale Kommentierung von Heats Annahme einer vermeintlich lückenlosen polizeilichen Überwachung von Anarchisten in London. Eine solche panoptische Kontrollmöglichkeit wird von der auktorialen Erzählinstanz als Irrglaube entlarvt: „[It is a matter] of experience that in the close-woven stuff of relations between conspirator and police there occur unexpected solutions of continuity, sudden holes in 179 Aufgrund dieses Moments der Maskierung kann der Naturwissenschaft ein Fetischcharakter zugeordnet werden (vgl. Lutz 2008: 4). Der Fetischcharakter, den Naturwissenschaften funktionell in der Moderne zukommt, wird explizit von Vladimir betont: „[S]cience […] is the sacrosanct fetish. […] They [= the middle classes] believe that in some mysterious way science is at the source of their material prosperity.“ (SA: 26f.) Zur psychoanalytischen Deutung des Fetisch als Maskierung von Mangel und Absenz siehe die Ausführungen zur Lacan’schen Psychoanalyse in Böhme (2006: 427ff.). 180 Grundlegend zu Kriterien zur Skalierung von geschlossenen und offenen Perspektivenstrukturen bzw. integrationsfördernden und synthesestörenden Strategien siehe Surkamp (2003: 120). Die im Folgenden eingeführten Kriterien für eine geschlossene Perspektivenstruktur sind zum größten Teil Surkamp entnommen. <?page no="218"?> 204 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive space and time.“ (SA: 68) Ähnlich wie in Daniel Deronda herrscht auch in The Secret Agent beim Kontingenzeinbruch eine Lücke im panoptischen Überwachungsprozess. Diesem ist nicht nur Heat, sondern auch die Leserin ausgesetzt, da es einen narrativen Zeitsprung zwischen Vladimirs Auftrag des Attentats bis zu dem Zeitpunkt nach dem Unfall gibt (vgl. Greaney 2002: 147; Britzolakis 2005: 9). Auf diese Weise klafft auf narrativer Ebene ausgerechnet genau dort „a sudden hole“, in der auf inhaltlicher Ebene sinnimmune Kontingenz in Form von Stevies Unfall einbricht. Der inhaltlich gestaltete Kontingenzeinbruch wird somit auf narrativer Ebene dupliziert und damit für die Leserin im Akt der Lektüre erfahrbar gemacht. 181 Da die auktoriale These von der Existenz der „sudden holes in space and time“ durch die ästhetische Empirie belegt wird, gewinnt sie zusätzlich an Gewicht. Eine weitere integrationsfördernde Strategie zur Etablierung einer geschlossenen Perspektivenstruktur ist die Dominanz von Isotopien im Text, die darauf ausgerichtet sind, gerade diejenigen binären Oppositionen zu verwischen, die tragend für ein rationalistisches Weltbild mit der fortschrittsoptimistischen Annahme einer Aufhebung von Widerfahrniszugunsten von Gestaltbarkeitskontingenz sind. Ein repräsentatives Beispiel bietet die Grenzverwischung zwischen Mensch und Tier im Zeichen der devolution bzw. Degeneration. In The Secret Agent ist ‚the mark of the beast‘ im Humanen allgegenwärtig, da die Menschen wiederholt mit Tieren verglichen werden. So impliziert beispielsweise der Vergleich des Londoner Lebensraumes mit einem Aquarium (vgl. SA: 117) die Regression des Menschen entlang der darwinistischen Stufen der Evolution, d.h. als Fisch zurück ins Wasser (vgl. auch Fleischman 1965: 208ff.). Da das aufklärerische Programm darauf beruhte, durch instrumentelle Rationalität eine absolute Kontrolle nach innen (über das eigene Selbst) und nach außen (über die Natur) auszuüben und so das Unverfügbare zu bannen, wird mit der Unterminierung des Vernunftsubjekts, wie es mit dem Ausweis seiner animalischen Erblast erfolgt, zugleich ein solches Herrschaftsprogramm fragwürdig. Insgesamt erscheint die Stadt in The Secret Agent aufgrund der durchgängigen Isotopien bzw. der „structure of imagery“ (Rosenfield 1967: 90) als „formless and dark, resembling at once death and the irrationality of the unconscious life“ (ebd: 94). 182 181 Vgl. auch Eagleton (2008: 239): „There is, in fact, a kind of absent centre in almost all of Conrad’s works - some missing factor, enigma or core of silence which resists being represented. […] The Secret Agent revolves on an explosion at Greenwich Observatory which we never actually witness, as well as on the cryptic silence of young Stevie.“ 182 Für eine detaillierte Analyse der Stadtdarstellung und Bildlichkeit in The Secret Agent siehe Rosenfield (1967: 79-122) und Fleishman (1965). Zu einer postkolonialen Interpretation der entworfenen Degeneration in Conrads Roman mit Blick auf die Interdependenz von Empire und Kolonie siehe Britzolakis (2005). <?page no="219"?> The Secret Agent 205 Neben den Isotopien trägt zudem die Gestaltung des Schlusses zur geschlossenen Perspektivenstruktur bei. Der Roman endet mit der unmittelbaren Gegenüberstellung zweier Figuren, die durch London laufen: Ossipon und der Professor. Ein zentraler Aspekt bei der Deutung dieses Kontrastpaares bildet Ossipons existentielle Krise am Ende des Romans aufgrund seines Kontakts mit radikaler Widerfahrniskontingenz: der Begegnung mit dem Tod in Form von Winnie. Ossipon hatte Winnie unmittelbar nach dem Mord zufällig auf der Straße getroffen und aus finanziellen Motiven zugestimmt, sie weg aus England zum Kontinent zu bringen. Als er jedoch Verlocs Leiche sieht, packt ihn ein existentielles Grauen vor der tödlichen Winnie, so dass er sie bereits in London mittels eines Tricks ihres Geldes beraubt und alleine zurücklässt. Er erfährt von ihrem Suizid aus den Zeitungen, welche für Winnies Handlung mit der Phrase „[t]his act of madness or despair“ (SA: 246) eine Pseudo-Erklärung liefern. Dass den „ready-made phrases“ (SA: 26) journalistischer Arbeit keinerlei erklärungswirksame und damit kontingenzaufhebende Kraft zukommt, verdeutlicht Ossipons mechanische Wiederholung dieser Formel, während er im Bewusstsein seines beginnenden Wahnsinns ziellos durch London streift. Es erscheint wenig plausibel, Ossipons Wahnsinn lediglich als Symptom von Schuldgefühlen zu werten in Folge von Winnies Selbstmord, da er bislang weder Skrupel hatte, Frauen auszubeuten, noch eine emotionale Bindung zu Winnie hatte. 183 Vielmehr deutet die Tatsache, dass die Formel ‚this act of madness or despair‘ sowohl auf Winnies Selbstmord als auch auf ihre Ermordung Verlocs anwendbar ist, darauf hin, dass es nicht um Winnie als Person geht, sondern darum, was sie für ihn nach ihrem Tötungsakt repräsentiert: „She was death itself“ (SA: 230). 184 Es ist diese Konfrontation mit einer Erfahrungsdimension, die sich Ossipons naturwissenschaftlichem ‚Lesen‘ bzw. erklärendem Zugriff entzieht, nämlich dem Tod als radikale Widerfahrenskontingenz, die ihn in eine Krise wirft. Während in Gestalt von Ossipon Widerfahrniskontingenz in ihrer subjektauflösenden Kraft auftritt, reklamiert der Professor demgegenüber eine göttliche agency (und damit zugleich Gestaltbarkeitskontingenz) für sich: Er möchte „madness and despair to the regeneration of the world“ (SA: 246) nutzen. Der Gegensatz zwischen Ossipon und dem Professor bewirkt eine potentiell ironisierende Infragestellung der Allmachtsvorstellung des Professors („He was a force“; ebd.), da das Beispiel von Ossipon zeigt, dass 183 Vgl. demgegenüber die Interpretation von Fleishman (1965: 218): „Ossipon is converted, in his agony of conscience [regarding Winnie’s suicide] and awe of death, into a believer in the ultimacy of the value of human life“. 184 Für eine Diskussion von Ossipons Wahrnehmung von Winnie siehe auch Biles (1981) und Lutz (2008: 17): „In Ossipon’s perception of Winnie [as an agent of death], the metaphor of sight plays a central role even though it remains impossible for him to see her in the darkness. In this way, the limitations of his criminological theories are made explicit. What he sees is a product of his fetishistic imagination“. <?page no="220"?> 206 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive ‚acts of madness or despair‘ zur Degeneration (Wahnsinn) und nicht Regeneration führen. Zudem verweist „[the Professor’s] averting his eyes from the odious multitude of mankind“ (ebd.; m.H.) darauf, dass er diese Vorstellung von geschichtswirksamer agency nur aufrecht erhalten kann, weil er das bereits besprochene Problem der beschränkten Effektivität seiner explosiven Waffen angesichts der städtischen Massen verdrängt. So unterstützen die textuellen Signale in der Schlusspassage des Romans ebenfalls die Etablierung von Widerfahrniskontingenz als dominantes Merkmal der innerfiktionalen Welt, in der letztlich keine wirksame agency des Subjekts vorhanden ist. Als Zwischenfazit der bisherigen Analysearbeit insgesamt lässt sich festhalten, dass die literarische Beobachtung von Welt im Falle von The Secret Agent Widerfahrniskontingenz als vorherrschende Erfahrungsdimension des Subjekts festsetzt. Aufgrund der Spezifik der strukturierten Kontingenz oder, genauer gesagt, der Wirkmächtigkeit der abstrakten Gesellschaft ist es unmöglich, so die literarische Diagnose, die gegebenen Strukturen durch Handlungen zu verändern. Stattdessen erfolgt eine unendliche Reproduktion des kapitalistischen Kreisverlaufs, welche die agency von Subjekten auslöscht. So illustriert die nachfolgende städtische Impression geradezu beispielhaft die zu Beginn dieses Kapitels eingeführte These, dass (secret) agency in der Welt von Conrads Roman nur der abstrakten Gesellschaft zukommt: And Mr Verloc, steady like a rock - a soft kind of rock - marched now along a street which could with every propriety be described as private. In its breadth, emptiness, and extent it had the majesty of inorganic nature, of matter that never dies. […] And all was still. But a milk cart rattled noisily across the distant perspective; a butcher boy, driving with the noble recklessness of a charioteer at Olympic Games, dashed round the corner sitting high above a pair of red wheels. A guilty-looking cat issuing from under the stones ran for a while in front of Mr Verloc, then dived into another basement; and a thick police constable, looking a stranger to every emotion, as if he too were part of inorganic nature, surging apparently out of a lamp-post, took not the slightest notice of Mr Verloc. (SA: 11f.) Während die Menschen aufgrund ihrer Verdinglichung Teil der Umwelt werden (Verloc und der ‚police constable‘ als Bestandteile inorganischer Natur), bildet das Bewegungszentrum dieser Passage die abstrakte Gesellschaft, symbolisiert in Gestalt des Metzgerjungen auf seinem Wagen. 185 Vor dem Hintergrund der skizzierten Isotopien ruft „butcher boy“ den kanni- 185 Zwar bewegt sich Verloc in dieser Szene, allerdings wird diese Dynamik durch seinen Vergleich mit einem Stein und damit der Implikation, dass auch er als Bestandteil der inorganischen Natur gesehen werden kann, entscheidend relativiert. Für eine erhellende detaillierte Interpretation der zitierten Romanpassage siehe auch Fleishman (1965: 206f.). <?page no="221"?> The Secret Agent 207 balistischen Kapitalismus auf, „games“ die unendliche Reproduktion des status quo und die „red wheels“ erinnern farbsymbolisch an Blut und die Bombenexplosion (Feuer) sowie an Stevies Kreise (‚wheels‘) bzw. auch an die kapitalistische Zirkulationsbewegung. Das, was sich in dieser Welt bewegt, ist der blutige Kreislauf eines destruktiven Kapitalismus, der aufgrund seiner Abstraktionsleistungen als metonymischer Verweis auf die abstrakte Gesellschaft insgesamt gelesen werden kann. Angesichts dessen gewinnt die aufgerufene Kontrastfolie eines heroischen Zeitalters („Olympic Games“), in der sich das Subjekt noch aufplustern konnte, einen ironischen Beigeschmack. Insgesamt erscheint die agency der abstrakten Gesellschaft als ‚narrative secret‘ (Frank Kermode ) in Conrads Roman, da sie sich erst nach und nach über das Zusammenspiel und die Verdichtung der beschriebenen Isotopien zu erkennen gibt: „a narrative secret [is] a hidden story or pattern whose significance emerges only when the story is retold in order to draw together and reorder details whose connection might otherwise pass unnoticed.“ (Wollaeger 1990: 143 unter Verweis auf Frank Kermode) 186 Die Interdependenz zwischen den unabänderlichen Strukturen der abstrakten Gesellschaft und der im Text als Ganzem modellierten Erfahrung von Wirklichkeit als ‚cosmic chaos‘, d.h. der Intransparenz der Welt, kann chaostheoretisch gefasst werden: Deterministic models of chaos produce behavior that seems random, but which contain fine structure, eventually giving rise to cosmically or globally significant effects. Conrad’s novel reveals that while the anarchists produce chaotic, accidental behavior at the local level, their accidents and abnormalities actually produce order on a large scale, rather than falling into total chaos in the general sense. Time’s irreversibility works to restore order at the global level for the systems with which it is involved, even if its local effects seem to be devastating at the individual level. (Clark 2004: 8) 187 Die Perspektivenabhängigkeit von Widerfahrniskontingenz gilt insbesondere für die Bewertung von Stevies Unfall, der auf der Beobachterebene eine doppelte Semantisierung erfährt. Einerseits stellt der Unfall einen 186 Zwar ist es für Wollaeger (1990: 143) „Conrad’s handling of cannibalism“, das den Status eines narrative secret annimmt, doch da der Kannibalismus auf die Abstraktionsleistungen des Kapitalismus verweist, lässt sich Wollaegers Überlegung problemlos um den Einbezug der abstrakten Gesellschaft in das ‚Geheimnis‘ erweitern. Ähnliches gilt für die häufig anzutreffende These in der Sekundärliteratur, dass der eigentliche Protagonist in The Secret Agent die ‚kannibalistische‘ Stadt sei: „a cruel devourer of the world’s light“ (SA: 250; vgl. z.B. Zuckerman 1968: 297). Diese Deutung widerspricht der These einer ausschließlichen agency der abstrakten Gesellschaft nicht, da London in The Secret Agent den Mikrokosmos der abstrakten Gesellschaft darstellt. 187 Zum Zusammenspiel von Chaos und Ordnung in The Secret Agent vgl. auch grundlegend Lutz (2008). <?page no="222"?> 208 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive radikalen Einbruch von Widerfahrniskontingenz dar, der sich auch auf narrativer Ebene in Form eines ‚sudden hole in space and time‘ niederschlägt. Andererseits ergibt sich eine wesentliche Kontingenzreduktion, wenn man die in The Secret Agent modellierten systemischen Abläufe der abstrakten Gesellschaft berücksichtigt: Stevies Verwandlung in ‚meat‘ folgt, wie bereits skizziert, der kapitalistischen ‚Kannibalismuslogik‘, d.h. der ‚Vereinnahmung‘ des Einzelnen durch das System. Die Art und Weise, wie die ‚Kannibalisierung‘ auf der Oberflächenebene erfolgt, ist kontingent (Tod durch Bombenexplosion, Erstechen); das Ergebnis nicht - so eine mögliche Pointierung der kapitalistischen Logik. Diese doppelte Semantisierung von Stevies Unfall ist das konsequente Ergebnis des skizzierten Zusammenwirkens von Chaos und Ordnung. Die Verschränkung von Chaos und Ordnung prägt auch die epistemologische Position, die Conrads Roman zugeordnet werden kann. Einerseits erfolgt im Sinne eines epistemologischen Skeptizismus die Inszenierung des Unverfügbaren: Die irrationale Welt und die Menschen sind nicht verlässlich ‚lesbar‘, sei es etwa in Form von naturwissenschaftlicher oder revolutionärer ‚Lektüre‘, und dementsprechend herrscht anscheinend (degeneratives) Chaos. Der epistemologische Skeptizismus hebt jedoch nicht nur auf die Grenzen menschlichen Wissens ab, sondern auch auf den Fetisch- Charakter diskursiver Formationen: [T]he novel’s skepticism, most clearly evident in its attitude toward science, is directed primarily at philosophical, economic, and discursive systems, i.e., bourgeois marriage, newspapers, criminology, revolutionary theory, commodity fetishism, pornography, and time, that transform knowledge into a fetish in order to conceal the conditions of social domination that they help to reproduce (Lutz 2008: 3f.). Der epistemologische Skeptizismus wird somit andererseits dadurch modifiziert, dass sich auf Beobachterebene doch ein verbindliches Wirklichkeitsmodell entdecken lässt, worauf das Vorhandensein einer auktorialen Erzählinstanz sowie die geschlossene Perspektivenstruktur deutet. Die Ordnungsstruktur der Welt ist - jenseits aller fetischisierenden Maskierungen - diejenige der abstrakten Gesellschaft mit ihren unentrinnbaren Wirkmechanismen. Als symbolisch für diese Wirkmechanismen kann die Figur des Kreises gelten, die mit Stevies Zeichnung eingeführt wurde: A circle is a plane figure bounded by a single line everywhere equidistant from its centre. It is a closed figure, and the narrative implications of that defining equidistance of the circumference are that motion along the rim of the circle will always in the end return to its starting point; the end will always be the beginning. It’s not that you don’t get anywhere, but that you don’t get anywhere in the end. (Kerr 2003: 345) <?page no="223"?> The Secret Agent 209 Die Auslöschung der gesamten Verloch-Familie hat keinerlei Auswirkungen auf das kapitalistische System, sondern folgt, ganz im Gegenteil, der Systemlogik. Da The Secret Agent kritisch die Aufmerksamkeit der LeserInnen auf die destruktiven Folgen gesellschaftlicher Abstraktion lenkt, kann dem Roman eine aufklärerische Funktion zugeordnet werden: die Offenlegung der gesellschaftlichen Ursachen für den Verlust an Gestaltbarkeitskontingenz sowie Kritik an der damit einhergehenden Indifferenz, Verdinglichung des Menschen und der Entpersönlichung zwischenmenschlicher Beziehungen. Das, was zuvor auf Ebene der Figuren als das Inkommensurable identifiziert wurde, nämlich die Logik und Wirkmechanismen des Kapitalismus, wird auf der Beobachterebene kognitiv erfasst. Im Zuge dieser literarischen Beobachtung von Welt wird das Inkommensurable somit letztlich aufgehoben, weil es sich nicht mehr einem epistemologischen Zugang entzieht. Dies ist zumindest dann nicht der Fall, wenn die LeserInnen den Textlenkungsstrategien folgen, denn diese rücken, wie oben erläutert, die tiefenstrukturelle Logik des Kapitalismus in den Vordergrund. Die Aufhebung des Inkommensurablen mit diesem Erkenntnismoment geht für die RezipientInnen mit einer eindeutigen Lesbarkeit der Figuren einher. Während die Figuren für einander hermetisch sind, erscheinen sie für die LeserInnen als Effekte der kapitalistischen Logik: Sie sind verdinglichte Subjekte. Allerdings verstrickt sich Conrads Roman im Zuge der beschriebenen aufklärerischen Funktion in eine frappierende Aporie, die an diejenige von Adorno und Horkheimer in Dialektik der Aufklärung (1944/ 47) erinnert. Sowohl bei Conrad als auch bei Adorno/ Horkheimer wird aufgrund ihrer nachhaltigen Zeichnung des Scheiterns der Aufklärung - der schonungslosen Herausarbeitung der zerstörerischen Folgen und Übermacht von Kapitalismus und instrumenteller Rationalität - nicht einmal ex negativo ansatzweise erkennbar, wie gesellschaftliche Veränderungen zum Positiven hin durchführbar wären. Da sich menschliche Gestaltbarkeitskontingenz innerhalb Conrads fiktionaler Welt als illusorischer Wahn entpuppt, bleibt die Frage offen, wie die kritisierten Strukturen überhaupt verändert werden könnten. Erschwerend kommt hinzu, dass in Conrads Roman zwar humanistische Werte implizit in der Kritik an Verdinglichung und Entpersönlichung von menschlichen Beziehungen erkennbar werden. Allerdings wird ausgerechnet genau die Figur, welche humanistische Werte verkörpert, nämlich Stevie, als hilflos stammelnder Idiot bzw. angesichts seiner Hypersensi bilität gar als pathologischer Fall ausgewiesen. 188 Das ‚Vakuum‘, in d die 188 Zu Stevies Verkörperung positiver Werte siehe u.a. Berthoud (1996); Fleishman (1965: 203f.): „[Stevie] is out of touch with the practical realities of the world but […] reaches the heart of its moral condition by his awareness of its divergence from a lost ideal state. […] Stevie, for all his foolishness, [is] one of the moral heroes of the novel.“ <?page no="224"?> 210 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive LeserInnen nach der Romanlektüre hinterlassen werden, beschreibt Terry Eagleton (1996) präzise als „stalemate game“ (164): In a series of mutually cancelling moves, it [= the novel’s own game] satirises Winnie Verloc’s blinkered petty-bourgeois viewpoint from the standpoint of the anarchist activity she ignores, while simultaneously satirising the anarchists as petty-bourgeois hypocrites from the standpoint of the ‚fanatical‘ Professor. Conversely, it condemns the Professor’s metaphysical ‚extremism‘ by an appeal to the humanity of Winnie and Stevie, while at the same time questioning such sentiments from a ‚metaphysical‘ vantage point which is at least ‚on terms‘ with that of the Professor himself. (ebd.) The Secret Agent ist folglich von einem fundamentalen Widerspruch geprägt. Einerseits werden die destruktiven Folgen der abstrakten Gesellschaft für das Individuum scharf kritisiert. Andererseits gibt es keine Möglichkeit für Veränderungen aufgrund des Verlusts an agency; selbst ein mögliches regulatives Leitideal in Form von humanistischen Werten, die eine Kontrastfolie zur Instrumentalisierung von Menschen bilden, erscheint mehr als fragwürdig aufgrund der Charakterisierung ihrer figuralen Verkörperung (Stevie) sowie der Tatsache, dass Empathie und Mitleid, wie Stevie sie zeigt, keinerlei Veränderungen zum Besseren hin bewirken (vgl. Eagleton 1996: 161f.). Eine solche Diagnose mag zu einem gewissen Verständnis für Winnies Art und Weise einladen, mit den Abgründen der Lebenswirklichkeit umzugehen: „things do not stand much looking into“ (SA: 141). Der widersprüchliche Eindruck des Romans erhöht sich, wenn man den weiteren Implikationen seines dominanten ironischen Grundtons nachgeht. 189 Zwar ist es möglich The Secret Agent als gradlinige moralische Kritik an der abstrakten Gesellschaft zu lesen, wie es auch bislang in der vorliegenden Arbeit getan wurde. In diesem Zusammenhang scheinen die Ironisierungsstrategien im Dienste der entworfenen Gesellschaftskritik zu stehen, indem sie etwa Sympathielenkung leisten. So argumentiert Berthoud (1996): Irony [in The Secret Agent] evokes tolerant detachment in order to overturn it, for such detachment, like the crowd’s enjoyment of the ‚national spectacle‘ [= dramas of fallen horses] is much further away from true fellowfeeling than Stevie’s piercing shriek [in the face of this suffering] […]. Stevi[e] may be a simpleton, but he has the heart of the matter in him. (110) […] Conrad’s irony presents […] Stevie as ‚one of us‘. It checks the sense of superiority that refrigerates our most altruistic impulses, by disclosing the humanity that survives in the most stricken lives. (112) 189 Eine ausführliche Analyse zu Formen und Funktionen von Ironisierungsstrategien in Conrads Roman findet sich in Greaney (2002: 141ff.). Siehe auch Spector (1958) und Eagleton (1996: 161f.). <?page no="225"?> The Secret Agent 211 Ein wichtiger Wirkungseffekt der Ironisierungsstrategien im Roman sei somit, dass die Figuren aus den „lower ranks of society“ (ebd.) in ihrem Leiden und Nöten ernst genommen werden (z.B. Stevie, ein Kutscher), ohne die LeserInnen dabei zu „‚facile emotion‘, that is to say, emotion conditioned by fashion rather than governed by perception“ (ebd.: 111) einzuladen. 190 Obgleich die Sympathielenkung im Zeichen einer scharfen Gesellschaftskritik sowie die Vermeidung von sentimentalistischem Pathos zentrale Funktionen von Ironie in Conrads Roman sind, wird die Betonung dieser Funktionen den Komplexitäten des Romans nicht vollends gerecht. In satire the author’s position is always clear: he wishes to correct by making either ludicrous or loathsome. Irony, on the other hand, manifests an ambiguity of attitude; neither author nor audience is unequivocal in his response. (Rosenfield 1967: 120) Auf den ambivalenten Effekt von Conrads Ironisierungsstrategien verweist auch Cox, wenn er Interpretationen von The Secret Agent als „a firm moral condemnation“ (1974: 91) der modernen Industriegesellschaft entschieden anzweifelt. Er nennt eine Reihe von Passagen, in denen sprachliche Ironisierungen im Widerspruch zu einem etwaigen „easy moral stance“ (ebd.) stehen: Stevie’s mangled remains nauseate Inspector Heat, but suddenly Conrad suggests to us, with a strange aloofness, that they might have given pleasure to cannibals. What are we to do with this unexpected reflection? Mr Verloc’s greedy swallowing down of the beef is strangely comic in its lack of restraint, as though he were a figure in a Jacobean melodrama. There is a touch of absurdity in the use of the carving knife as the instrument of revenge, as if the narrator is enjoying such sensational links. Conrad appears to be deriving some amusement from the idea of cannibalism, and this does not accord with a straightforward attitude of moral indignation. (Cox 1974: 92) Moralische Entrüstung würde eine emotionale Betroffenheit implizieren. Demgegenüber wirkt der ironische Diskurs der auktorialen Erzählinstanz als eine Strategie der Distanzierung gegenüber der düsteren Welt, die sie beschreibt (vgl. ebd.). Einerseits wird durch die distanzierende Haltung der Erzählinstanz sentimentalistischer Pathos vermieden. Andererseits wird mit diesem „retreat into style“ (Cox 1974: 92.) - bei aller Sympathielenkung 190 Eine solche Lesart geht konform mit Conrads eigener Begründung des gewählten ironischen Grundtons: „Even the purely artistic purpose, that of applying an ironic method to a subject of that kind, was formulated […] in the earnest belief that ironic treatment alone would enable me to say all I felt I would have to say in scorn as well as in pity.“ (Conrad 2007: 251) [Das Zitat entstammt der „Author’s Note (1920)“ im Anhang der Romanausgabe.] <?page no="226"?> 212 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive beispielsweise für Stevie - dennoch auf der narrativen Ebene ein Moment von Isolation und Distanz reproduziert, welches zuvor auf Ebene der Figurenwelt als destruktives Merkmal der abstrakten Gesellschaft inszeniert wurde. Der wirkungsästhetische Effekt der ironischen Haltung gewinnt im Rahmen des Gesamtkontexts des Romans somit auch problematische Züge. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass die ironische Sicht auf die Welt als Reaktion auf die Aporie interpretiert werden kann, in der sich The Secret Agent verfängt. 191 Als Fazit der Analyse von The Secret Agent lässt sich festhalten, dass die aufklärerische Funktion, die Conrads Roman zugeordnet werden kann, ins Leere läuft. Einerseits geht die aufklärerische Funktion einher mit einer Leseraktivierung, da die LeserInnen im Lektüreprozess selbst das ‚narrative Geheimnis‘, d.h. die secret agency der abstrakten Gesellschaft, interpretativ erschließen müssen. Eine solche Aktivierung der LeserInnen, die verdeckten Wirkmechanismen der abstrakten Gesellschaft potentiell selbst durch ‚detektivische Lektürearbeit‘ zu erkennen, kann als wirkungsästhetische Strategie gegen die inhaltlich dargestellte Mechanisierung des menschlichen Daseins gewertet werden. Zudem leistet das Erkennen der Strukturmerkmale der abstrakten Gesellschaft, des Zusammenspiels von Chaos und Ordnung, eine orientierende Funktion. 192 Andererseits umfasst dieses Erkennen der unendlichen Reproduktionsbewegung der abstrakten Gesellschaft zugleich die Einsicht in den Verlust von Gestaltbarkeitskontingenz. Die Tatsache, dass sich nichts ändert, neutralisiert zwar auf (gegebenenfalls beruhigende Weise) das gesellschaftliche Bedrohungspotential, das ansonsten von Anarchisten ausgehen könnte, doch überwiegt in Conrads Roman eine pessimistische Sicht hinsichtlich des Preises einer eingebüßten menschlichen agency. 193 Es wird eine scharfe 191 Siehe auch Eagleton (1996: 162): „The silence of Stevie is the product of the mutual cancellation of the text’s ideological contradictions: the text can ‚speak‘ only by activating such contradictions, not by surmounting them into a determinate ‚solution‘. It is for this reason that irony is its dominant mode of discourse.“ 192 Anregungen zur orientierenden Funktion von The Secret Agent liefert Greaney (2002: 148) in seinen Ausführungen zur Bedeutung des Genre, dem Conrads Roman angehört: „In a world where it is increasingly difficult to imagine, still less experience, the totality of which we are part, the conspiracy thriller enjoys a new lease of life as a form of what [Frederic] Jameson calls ‚cognitive mapping‘: a means of orienting ourselves in a world where ostentatious power has been replaced by hidden bureaucratic control. For Jameson, the ‚promise of a deeper inside view is the hermeneutic content of the conspiracy thriller‘ [Jameson 1992: 15]; or, rather, the conspiracy thriller purveys for those on the outside the comforting myth that someone, somewhere (behind closed doors, or in the espionage underworld) is still ‚inside‘ the system.‘“ 193 Vgl. auch Eagleton (1996: 165): „‚Nothing can really be changed‘ is the message of the book’s metaphysical materialism, a message both negative and affirmative in its implications. As against revolutionary metaphysics, it is affirmative; in so far as it necessarily banishes along with such revolutionism any ‚spiritual‘ vision beyond the crassly materialist, it is profoundly pessimistic.“ <?page no="227"?> The Secret Agent 213 Gesellschaftskritik artikuliert mit dem gleichzeitigen Verweis auf die Unmöglichkeit, die gesellschaftlichen Strukturen zu ändern - diese Aporie prägt Conrads Roman. Da auch Empathie bzw. Mitleid keinerlei positive oder gemeinschaftsstiftende Wirkungen zeigt, wie das Beispiel von Stevie verdeutlicht, drängt sich der Verdacht auf, dass der ironische Grundzug der literarischen Weltbeobachtung in seiner dominanten Funktion eine (problematische) Kontingenzumgangsstrategie darstellt: Wenn das Leben in der abstrakten Gesellschaft kritisch zu sehen ist, aber keinerlei Möglichkeit der Veränderung besteht, dann wäre der Rückzug von einer solchen durchschauten Lebenswirklichkeit in die Ironie eine Form, damit umzugehen. 194 Der ironische Grundzug in Conrads Roman führt allerdings zu Nihilismus und entzieht damit der zuvor diagnostizierten Kritik an der abstrakten Gesellschaft jegliche Grundlage. 195 Eine Kritik an den Auswirkungen der abstrakten Gesellschaft kann nur auf Basis von spezifischen Werten, die bejaht werden, erfolgen; Kritik umfasst eine Bewertung von Sachlagen. In The Secret Agent erscheinen Werte jedoch völlig kontingent, weil jegliche Werthaltung ironisiert wird: The silence of Stevie is ideologically determinate: the text is unable to endorse the callous inhumanity of the social world, but unable to articulate any alternative value because value itself is ‚metaphysically‘ trivial, an illusion of false consciousness or (in the case of Winnie’s claustral love for Stevie) a mere biological reflex. (Eagleton 1996: 161f.) The Secret Agent als Textganzes liefert zwar eine literarische Blaupause der abstrakten Gesellschaft, allerdings ohne den Ausweis von Momenten der Widerständigkeit sowie ohne eine Codierung der diagnostizierten Formen von Kontingenz. Was bleibt, ist „die Faktizität des Dass“ (Vogt 2011: 210): „The very form of the novel, with its stolid thickness of social texture, makes the world it presents seem unbudgeable.“ (Eagleton 2008: 252); „The world […] is too baldly factual a place to be hospitable to human value“ (ebd.: 253). Die herausgearbeitete Ästhetik der Kontingenz in Conrads 194 Berthoud (1996) kann demgegenüber nur deshalb zu einer anderen Bewertung der Ironie in Conrads Roman kommen, wie sie oben zuvor skizziert wurde, da er den Text als eine implizite Handlungsaufforderung an die LeserInnen interpretiert: Conrad „is certainly asking them [= the readers] to consider that more is required for the amelioration of the human world than abstract principle and generalized feeling“ (119). 195 Zur Doppeldeutigkeit von Conrads Ironie siehe auch Graham (1996: 215): „In one aspect he is a moral ironist, no writer being quicker to pounce on instances of selfdelusion, hypocrisy, moral laziness, sentimentalism […]. Yet in another aspect, and simultaneously […] his irony goes far beyond the ethical, and erodes equally the characters and attitudes that might have offered alternatives to his bilgerats and false pilgrims and treacherous self-seekers.“ <?page no="228"?> 214 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Roman wird in der nachfolgenden Tabelle schlagwortartig zusammengefasst. Dominante Kontingenzformen: Widerfahrniskontingenz: Zufall bzw. Unfall im Zentrum der Erzählung Wirkmechanismen der abstrakten Gesellschaft führen zur Entfremdung und Verdinglichung. Kontingenz als das Inkommensurable: Die Logik des Kapitalismus entzieht sich der kognitiven Erfassung durch die Figuren. ABER: Keine Kontingenz des Inkommensurablen auf Beobachterebene, da Textlenkungsstrategien die zugrundeliegende Ordnungsstruktur der abstrakten Gesellschaft (d.h. die eigengesetzliche Zirkulation des Kapitals) betonen. Epistemologischer Zugang zu dem, was auf Figurenebene als das Inkommensurable erscheint. Codierung der Kontingenzform: Aufgrund des Nihilismus gibt es keine Grundlage zur Codierung von Kontingenzformen (Beliebigkeit von Wertungen). Zeiterfahrung: Desynchronisation: Pluralisierung der Ereignistemporalitäten entspricht Fragmentarisierung der Wirklichkeitserfahrung Zeit als verdinglichende Macht Kontingenzeinbruch als „sudden hole in space and time“ Raum: Unübersichtlichkeit des Handlungsraums Keine geschützten Privaträume: Kommodifizierung wird über Raumsemantik betont Subjektmodell: Schwundstufe des Subjekts aufgrund Verdinglichung Gestaltbarkeitskontingenz: Handlungsmacht kommt nicht dem Subjekt, sondern den Dingen und den nicht fassbaren Wirkkräften der abstrakten Gesellschaft zu Dominante Kontingenzumgangsstrategie: Nihilistischer Rückzug in die Ironie Abbildung 10: Ästhetik der Kontingenz in The Secret Agent <?page no="229"?> Mrs. Dalloway 215 3 Neue Praktiken des Selbst und Sensibilisierung für mythische Signaturen als Antwort auf Kontingenzerfahrung in Virginia Woolfs Mrs. Dalloway (1925) One wanted, she thought, dipping her brush deliberately, to be on a level with ordinary experience, to feel simply that’s a chair, that’s a table, and yet at the same time, It’s a miracle, it’s an ecstasy. - V. Woolf, To the Lighthouse (2000 [1927]: 218) Der Vergleich der beiden Fallstudien zu George Eliot und Joseph Conrad verdeutlicht, wie sich die Kontingenzkonzeption und damit zugleich „die komplexe Interpretation von Modernisierung“ (Seeber 2005: 81) im Übergang vom viktorianischen Roman zum ‚Beginn der modernen Romankunst‘ tendenziell ändert. In beiden Romanen wird eine erhöhte Widerfahrniskontingenz aufgrund der dialektischen Umschläge des Modernisierungsprozesses diagnostiziert. Der Umgang mit diesem Befund ist in beiden Werken jedoch grundsätzlich anders. Während bei Daniel Deronda auf ein organizistisches Modell zurückgegriffen wird, um den zunehmenden Abstraktionsprozessen Einhalt zu gebieten, setzt Conrad den Verlust an Gestaltbarkeitskontingenz im Zuge von Abstraktionsprozessen als absolut. Was bleibt, ist ein resignativer Rückzug in die Ironie. Im Unterschied zu diesen literarischen Kontingenzentwürfen bietet das Œuvre von Virginia Woolf eine gänzlich anders gelagerte Umgangsform mit moderner Kontingenzerfahrung, nämlich die Ausbildung neuer Praktiken des Selbst. Die ästhetische Strömung des Modernismus trug zur Entwicklung eines neuen Subjektmodells bei als Reaktion auf den tiefgreifenden „Strukturwandel der material-technologischen Kultur“ (Reckwitz 2006b: 275) sowie auf die neuen humanwissenschaftlichen Diskurse (z.B. Taylorismus, Sozialpsychologie), die „insbesondere die überindividuelle Strukturiertheit des ‚Technischen‘ und des ‚Sozialen‘ als zwei miteinander verwobene Bedingungen von Subjekthaftigkeit präsentieren“ (ebd.: 276). Die materialtechnologischen Veränderungen umfassten dabei vor allem Urbanisierung, neue Medientechnologien (z.B. Film) sowie Transport-, Organisations- und Produktionstechnologien (vgl. ebd.: 275f.). All diese Entwicklungen förderten die Beschleunigung der Gesellschaft und führten damit zu einer potenzierten Kontingenzerfahrung seitens des Individuums. Wie bereits die Analyse der Stadtdarstellung in The Secret Agent zeigte, erlebt das Subjekt die Zunahme an Kontingenz besonders ausgeprägt in der Großstadt: in den zufälligen und sich ständig verändernden Ansammlungen n fremden Menschen, den unüberschaubar simultan ablaufenden <?page no="230"?> 216 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive und zugleich verschiedenen Geschehnissen sowie der zusammengedrängten Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Realitäten, die in der funktionalen Ausdifferenzierung der Lebenswelt wurzelt. 196 Diese potenzierte Kontingenzerfahrung, insbesondere in Form einer quantitativen Zunahme ständig wechselnder Reize, führt zur Entstehung neuer Praktiken des Selbst, die mit dem bisherigen bürgerlichen Subjektmodell brechen (vgl. Reckwitz 2006b: 275-335.). Bereits der Soziologe Robert Ezra Park (1967 [1925]: 1) betonte unter Rückgriff auf Georg Simmel (1995 [1903]), dass die Stadt nicht lediglich ein Ort ist, sondern „a state of mind“ (vgl. auch Makropoulos 1995: 714). Der Entwurf eines neuen Subjektmodells zur Bewältigung moderner Kontingenzerfahrung zeigt sich besonders deutlich in den modernistischen Romanen von Virginia Woolf. Das bürgerliche Moralssubjekt, das auf dem Paradigma der Konsistenz beruht, wird durch die Aufwertung eines diskontiuierlichen, fragmentarischen Subjekts abgelöst, das sein Erleben an dem Augenblick orientiert. Als exemplarisches Beispiel für die Analyse wurde Virginia Woolfs vierter Roman, Mrs. Dalloway (1925), ausgewählt, weil sie in diesem Text die historische Kontingenzerfahrung des Ersten Weltkrieges illustrativ mit der „soziologische[n] Kontingenzerfahrung der Moderne, die am intensivsten in den Großstädten gemacht wird“ (Baum 2003: 36), verknüpft. 197 Ein Ziel dieses Kapitels ist es, die grundlegende Ambivalenz in der Gestaltung und Bewertung von Kontingenzphänomenen in Mrs. Dalloway herauszuarbeiten. Wie noch zu zeigen sein wird, steht die grundlegende Kontingenzaffirmation, wie sie in dem neuen Subjektmodell und der positiven Wertung des Urbanen manifest wird, in einem Spannungsverhältnis zu den mythischen Signaturen, die Woolfs Roman durchziehen. Im Folgenden wird zunächst auf die Auseinandersetzung mit der historischen Kontingenzerfahrung des Ersten Weltkrieges in Mrs. Dalloway eingegangen, bevor das neue Subjektmodell mit seiner Disposition zur Kontingenzaffirmation analysiert wird. 3.1 Historische Kontingenzerfahrung: Der Erste Weltkrieg Der Erste Weltkrieg wird häufig als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet. 198 Die Menschenverachtung des industrialisierten Krieges wirk- 196 Vgl. Makropoulos (1995: 714) unter Verweis auf Park (1967 [1925]). 197 Eine detaillierte Analyse für die Verknüpfung von „Kontingenz-Erfahrungen historischer [= Erster Weltkrieg], soziologischer und religiös-metaphysischer Art“ (Baum 2003: 37) für die deutschsprachige Literatur liefert Michael Baum in seiner Studie über Kontingenz und Gewalt (2003) in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929). 198 Einen konzisen Überblick über den geschichtswissenschaftlichen Forschungsstand zur Frage nach dem Epochencharakter des Ersten Weltkriegs bietet der Historiker Aribert Reimann in seinem Aufsatz „Der Erste Weltkrieg - Urkatastrophe oder Katalysator? “ (2004). Da Reimann sich intensiv und kritisch mit der aktuellen Forschungs- <?page no="231"?> Mrs. Dalloway 217 te auf Zeitzeugen tief verstörend, da diese Art der modernen Kriegsführung bislang im europäischen Raum nicht praktiziert worden war (vgl. Reimann 2004: 32). Zu der einschneidenden Erschütterung gehört aus „erfahrungstheoretischer Perspektive […] die Veralltäglichung von symbolischer und praktischer Gewalt als wichtigstes Signum des Ersten Weltkrieges“ (ebd.: 35). Mit symbolischer Gewalt sind insbesondere die propagandistischen Feindbilder gemeint, während sich die praktische Gewalt in erster Linie auf die massenhafte (männliche) Gewalterfahrung bzw. das Sterben der Soldaten an den Fronten bezieht (vgl. ebd.; siehe auch Winter 1985). Der hohe Verlust an Soldaten bedeutet, dass fast jede Familie in den kriegsbeteiligten Staaten einen Verwandten als Opfer zu zählen hatte, und so prägte das massenhafte Sterben nachhaltig die soziale Erfahrungsdimension des Ersten Weltkrieges (vgl. Reimann 2004: 37). Die Qualität des Ersten Weltkrieges als eine verstörende Widerfahrniskontingenz stellte die politischen Führungsschichten vor das Problem, „das millionenfache Sterben in eine national integrative symbolische Sinnstiftung zu überführen“ (ebd.). Die spezifische Memorialkultur in Großbritannien kann vor diesem Hintergrund als Teil einer Kontingenzbearbeitungsstrategie gewertet werden. In Mrs. Dalloway erfolgt eine facettenreiche Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg als traumatischem Kontingenzeinbruch. Im Roman werden nicht nur die Versuche kritisiert zur Normalität zurückzukehren, indem das Leiden der psychisch beschädigten Soldaten bagatallisiert oder ausgeblendet wird. Es werden zudem auf tiefenstruktureller Ebene gesellschaftliche Mechanismen und Denkfiguren aufgezeigt, die kriegsfördernd wirken. Dementsprechend liest sich der Roman über weite Teile hinweg als ein kritisch hinterfragender Gegendiskurs zur britischen und amerikanischen Propaganda, die den Ersten Weltkrieg als einen war to end all wars ausgewiesen hatte (vgl. Reimann 2004: 38). Die krisenhafte Schockerfahrung des Ersten Weltkriegs wird in Mrs. Dalloway nicht nur durch das Bombentrauma von Septimus illustriert, sondern auch in anderen Beschreibungspassagen, etwa bei der Darstellung der Auswirkungen des Krieges auf Mr. Brewers Geschäfts- und Privatleben: Mr. Brewer, managing clerk at Sibleys and Arrowsmiths, auctioneers, valuers, land and estate agents; something was up, he thought, and, being paternal with his young men, and thinking very highly of Smith’s abilities, and prophesying that he would, in ten or fifteen years, succeed to the leathlage beschäftigt, wird im Folgenden wiederholt auf seinen Aufsatz für die soziohistorische Kontextualisierung von Mrs. Dalloway zurückgegriffen. Zu den sozialen und demographischen Auswirkungen des Ersten Weltkrieges in Großbritannien siehe Winter (1985); zu dem Ersten Weltkrieg in nationalen Erinnerungskulturen siehe Winter (1995) und (2006). Zur Situierung des Modernismus im Kontext des Ersten Weltkrieges siehe Tate (1998), Booth (1996) und Sherry (2003). <?page no="232"?> 218 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive er arm-chair in the inner room under the skylight with the deed-boxes round him, ‚if he keeps his health,‘ said Mr. Brewer, and that was the danger - he looked weakly; advised football […] when something happened which threw out many of Mr. Brewer’s calculations, took away his ablest young fellows, and eventually, so prying and insidious were the fingers of the European War, smashed a plaster cast of Ceres, ploughed a hole in the geranium beds, and utterly ruined the cook’s nerves at Mr. Brewer’s establishment at Muswell Hill. (MD: 93f.) Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird als eine Form der Widerfahrniskontingenz markiert, ohne dass diese zunächst eine nähere Spezifizierung erfährt: „something happened which threw out many of Mr. Brewer’s calculations“. Der Begriff „calculations“ verweist auf eine Welthaltung, die der Kontingenzbannung durch instrumentelle Vernunft verpflichtet ist. Wie die Analysen von Daniel Deronda und The Secret Agent gezeigt haben, kennzeichnet eine solche instrumentelle Vernunft das kapitalistische System, das den Wert von Land und Dingen abstrahierend auf deren Tauschwert reduziert („auctioneers, valueers, land and estate agents“). Einerseits unterminiert das Kriegsgeschehen die Grundpfeiler des Glaubens an eine instrumentelle Beherrschbarkeit der Welt, da sich die Kalkulationen als fehlerhaft erweisen. Andererseits zeugt die obige Passage von einem deutlichen understatement hinsichtlich der traumatischen Kraft des Krieges. Die Auswirkungen des Krieges werden in einer absurden Komik lediglich auf das Fehlen von Arbeitskräften und vor allem Irritationen in der häuslichen Sphäre reduziert. Statt die Brutalität des Krieges zu benennen, erfolgt eine verharmlosende Verschiebung auf die Zerstörung von einer Statue und Blumenbeeten sowie das erschütterte Nervenkostüm des Kochs. Zudem wird dem Ereignis des Krieges eine darstellbare und damit handhabbare Gestalt verliehen, da mit der Formulierung „prying and insidious […] fingers“ eine Anthropomorphisierung des Krieges erfolgt. Die scheinbar verharmlosenden Verschiebungsleistungen offenbaren jedoch das tatsächliche Ausmaß der ordnungszerstörerischen Kraft des Kriegsgeschehens. Da Ceres in der griechischen Mythologie die Göttin für Fruchtbarkeit, Ackerbau und Ehe ist, signalisiert ihre zerbrochene Statue die Auslöschung dieser lebensgenerierenden Kraft. Das semantische Feld des Ackerbaus wird mit dem Verb „ploughed“ fortgesetzt: Statt Wachstum entsteht durch das Pflügen des Krieges jedoch eine Leerstelle („a hole“). Diese Absenz kann insofern symbolisch als Signatur der traumatischen Qualität des Krieges interpretiert werden, als sich ein Trauma per definitionem der Darstellbarkeit entzieht. 199 Auf den ersten Blick sind die Blumen- 199 Vgl. A. Assmann (1999a: 95): „Trauma wird hier als eine körperliche Einschreibung verstanden, die der Überführung in Sprache und Reflexion unzugänglich ist und deshalb nicht den Status von Erinnerungen gewinnen kann. Das für Erinnerungen konstitutive Selbstverhältnis der Distanz, welches Selbstbegegnung, Selbstgespräch, <?page no="233"?> Mrs. Dalloway 219 beete lediglich Zeichen von Zivilisiertheit - die Überführung von Natur in die Ordnung der Beete -, die vom Krieg beschädigt werden. Die Beschädigung bleibt jedoch gerade nicht auf eine oberflächliche Störung der Ordnung beschränkt. Vielmehr lassen sich die umgepflügten Blumenbeete als Metapher für die physisch-brutale Auslöschung des Menschen im Krieg lesen: „geranium“ ist auch die Farbe von Blut und „hole“ erinnert in diesem Zusammenhang an Schussverletzungen. Darüber hinaus kann das Aufreißen der wohlgeordneten bzw. ‚gezähmten‘ Natur als ein Hinweis auf die Bestialität des Menschen gelesen werden, die sich im Krieg nicht mehr durch zivilisatorische Ordnung bannen lässt. Diese Lesart wird insofern aufgerufen, als Septimus aufgrund seiner Traumatisierung das Zeichen des Tieres im Menschen wahrnimmt (vgl. MD: 74). Der Krieg bewirkt darüber hinaus eine weitere Form von Ordnungsauflösung, die als besonders tiefgreifend gewertet werden kann: die Infragestellung herrschender Erklärungsmodelle von Welt. Auffällig an der oben zitierten Passage ist die Vermengung von Mythos und Logos. Obgleich Mr. Brewer mit seiner mathematisch-kalkulierenden Welthaltung für ein wissenschaftlich-rationales Weltbild steht, wird zugleich ein mythisches Weltbild aufgerufen. Brewers beschränkt sich nämlich nicht auf Kalkulationen, sondern geht der mythischen Aktivität des „prophesying“ (MD: 94) nach. Dies verstärkt wiederum die klangliche Affinität des Firmennamens Sibleys mit Sibyl, also dem Namen für Prophetinnen in der Antike. Nicht zuletzt steht auch Ceres metonymisch für ein mythisches Weltbild. Die Vermengung von Logos und Mythos kann als Hinweis auf eine Funktionsäquivalenz dieser beiden Rationalitäten interpretiert werden. Beide dienen als ein apriorischer Ordnungsrahmen, „in den alle Erfahrungen hineingestellt, in dem alle Erfahrungen erst möglich und Tatsachen erklärbar werden“ (Hübner 1985: 89). Der Krieg löscht jedoch diesen apriorischen Ordnungsrahmen aus: Die Statue ist zerstört und die Kalkulationen greifen nicht mehr. Die Vermengung von Logos und Mythos kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass auch die moderne technologisch-wissenschaftliche Welt von Mythen durchwirkt ist, da nur Mythen und nicht wissenschaftliche Rationalität eine sinnstiftende Strahlkraft auf das Individuum auszuüben vermögen. Begreift man den Mythos auf basaler Ebene als sinnstiftende Erzählung, so war es der Mythos eines „England which consisted almost entirely of Shakespeare’s plays and Miss Isabel Pole in a green dress walking in a square“ (MD: 94), der Septimus dazu bewogen hat, sich freiwillig zum Kriegsdienst zu melden, um dieses England zu retten. Auf den ersten Blick wirkt Septimus Wahrnehmung von England völlig bizarr. Betrachtet Selbstspiegelung, Selbstverstellung, Selbstinszenierung, Selbsterfahrung ermöglicht, kommt beim Trauma nicht zustande, das eine Erfahrung kompakt, unlösbar und unlöschbar mit der Person verbindet.“ Zu Trauma siehe auch Caruth (1996). <?page no="234"?> 220 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive man jedoch Rekrutierungsplakate aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, so wird offenbar, dass seine Wahrnehmung der auf diesen Plakaten inszenierten Ideologie entspricht (vgl. Albrinck 2009: 54f.). Auf Plakaten wie „Remember Belgium“ wird der Kriegsdienst als humanitäre Intervention und Schutz inszeniert: Just as the soldier in the poster [„Remember Belgium“] stands between the family and the fire raging behind it, so the viewer, through enlistment, will be able to stand between other innocents and German barbarism. Viewing such a poster, Septimus could easily translate his military service into direct protection of Miss Isabel Pole and the culture she represents. (ebd.: 55) Zudem waren Plakate im Umlauf, die den Krieg in Analogie zum Sport stellten: „Football held great significance as a sport that could inculcate the ideals of masculinity and team spirit needed for victory“ (ebd.: 56). Die Analogie zum Sport suggeriert, dass der Krieg sich auf ein klar abgrenzbares Feld einzäunen lässt und dass er durchschaubaren Regeln folgt, kurz: dass man sich im Krieg innerhalb eines transparenten Ordnungsraums bewegt, in dem man sich als Mann beweisen kann. Die große sinnstiftende Erzählung, in der die Geschlechterstereotypen und der Ausweis des Krieges als regelgeleitete humanitäre Schutzaktion eingelagert sind, ist der Nationalismus. Gender und nationhood sind miteinander verschränkt. Tatsächlich erwirbt Septimus während des Krieges diejenigen Attribute, die den herrschenden Geschlechterdiskursen zufolge Männlichkeit auszeichnet: There in the trenches the change which Mr. Brewer desired when he advised football was produced instantly; he developed manliness; he was promoted […]. But when Evans […] was killed […], Septimus, far from showing any emotion or recognising that here was the end of a friendship, congratulated himself upon feeling very little and very reasonably. The War had taught him. It was sublime. (MD: 94f.) Während Septimus vor dem Krieg aufgrund seiner physischen Schwäche, ‚Gefühlsduselei‘ und Affinität zu den schönen Künsten nicht dem geltenden Männlichkeitsideal entsprach, ist es ausgerechnet der Krieg, der ihm Männlichkeit beibringt, und das heißt in diesem Zusammenhang gerade auch, wie man als Mann „reasonably“ fühlt. Wenn der Krieg männliche Subjektivität produziert, dann wird mit dieser Figur zugleich ein struktureller Zusammenhang zwischen kriegerischen Auseinandersetzungen und Männlichkeitsidealen hergestellt. Die Wortwahl „reasonably“ leistet in diesem Zusammenhang zudem eine Engführung von Krieg, Männlichkeit und Rationalität. Der Zusammenhang zwischen Männlichkeit und Krieg, der in Mrs. Dalloway inszeniert wird, gewinnt an Kontur, wenn man die Ärzte Holmes und Bradshaw als Repräsentanten eines wissenschaftlichen Weltbilds in <?page no="235"?> Mrs. Dalloway 221 die Analyse einbezieht. 200 Bereits die telling names der Ärzte rufen eine rationalistische Welthaltung auf (vgl. Tambling 1993: 61): Holmes als Name von Arthur Conan Doyles berühmtem Meisterdetektiv, der die durch ein Verbrechen gestörte Ordnung mittels Rationalität am Ende wiederherstellt. ‚Bradshaw‘ ist die ursprüngliche Bezeichnung für den Fahrplan der Eisenbahn. Die Eisenbahn wiederum ist zum Inbegriff für die industrialisierte Welt geworden und ist zudem mit der Einführung der mechanischen Uhr bzw. eines rationellen Zeitrasters verbunden. Die Bemühungen beider Ärzte sind darauf ausgerichtet, die herrschende Ordnung zu stabilisieren, indem sie die Implikationen von Septimus’ Kriegstraumatisierung konsequent ausblenden. Dr. Holmes’ Strategie besteht in der kategorischen Verneinung des Phänomens shell shock. Die menschliche Natur wird im Rahmen von Holmes’ und Bradshaws wissenschaftlichem Weltbild als kontrollierbar und damit handhabbar gewertet. So betont Holmes, „health is largely a matter in our own control“ (MD: 100), und fordert, Septimus müsse sich zusammenreißen. Während Holmes Gestaltbarkeitskontingenz das Wort redet, erkennt Bradshaw zwar die Traumatisierung von Septimus, sucht die ordnungsirritierende Qualität des Kriegsversehrten jedoch durch Segregation zu bannen: Septimus gehöre isoliert in einer Heilanstalt, bis er wieder Normalitätsstandards entspricht. Das Beispiel von Bradshaw fokussiert die Komplizenschaft zwischen der Absolutsetzung einer rationalistischen Welthaltung und einer kolonialisierenden Unterwerfung des Anderen. Für Bradshaw sind psychische Störungen eine Manifestationsform „[of] not having a sense of proportion“ (MD: 106). Da Proportion ein Synonym für Symmetrie und Harmonie ist (vgl. Oxford English Dictionary), ruft es zugleich ein statisches Ordnungssystem auf. Die Verkörperung dieses Ordnungssystems in Form des Mediziners Bradshaw lässt keinen Zweifel daran, dass Proportion in einem den Menschen objektivierenden Rationalismus wurzelt. 201 Entscheidend ist der totalitäre Charakter des gesellschaftlichen Ideals der richtigen Proportion. 200 Zum Zusammenspiel von Männlichkeit und Krieg sowie zu Woolfs Funktionalisierung von Holmes und Bradshaw für eine Kritik an der männlich codierten Disziplinargesellschaft siehe u.a. Tambling (1993: 61ff.), Dowling (1991), Showalter (1994: 150-152), Taylor (1991), Hawthorn (1975: 43f., 61) und DiBattista (1980: 47f.). 201 Diese enge Verbindung zur Rationalität lässt sich bezeichnenderweise ebenfalls auf der Wortbedeutungsebene festmachen, da proportion auch „comparative relation, ratio“ (Oxford English Dictionary; m.H.) bedeutet und ‚ratio‘ wiederum etymologischer Bestandteil von Rationalität ist. Siehe zu diesem Punkt auch Sherry (2003: 289): „In the Liberal England that Woolf represents through Bradshaw’s verbal ritual, this theme word [= ‚proportion‘] preserves the echo and refrain of an ideology of hierarchy. This idea of social echelon discovers further validation, moreover, in the root meaning - as well as derived uses - of ‚rationality‘. Schemes of degree assign the preemptively masculine agents of rationality, like himself, the pride of highest place in an economy of gendered qualities.“ <?page no="236"?> 222 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Denn alles, was sich nicht in dieses System einfügen lässt, muss konvertiert oder ausgemerzt werden: Health we must have; and health is proportion; […]. (MD: 108) Worshipping proportion, Sir William not only prospered himself but made England prosper, secluded her lunatics, forbade childbirth, penalised despair, made it impossible for the unfit to propagate their views, until they, too, shared his sense of proportion […]. (ebd.: 109) Interessant an der obigen Passage ist die erneute Überblendung verschiedener Codes, nämlich des medizinisch-wissenschaftlichen, des religiösen und des ökonomischen Codes. Die Korrelation von Bradshaws „worshipping proportion“ mit wirtschaftlicher Prosperität kann als Hinweis auf eine untergründige Homologie gelesen werden: Sowohl das kapitalistische System als auch Bradshaws statisch wissenschaftliches Ordnungsmuster beruhen auf der Ausblendung von qualitativen Besonderheiten von Menschen und Dingen. Die Überblendung des religiösen und wissenschaftlichen Codes, die mit der Formulierung „worshipping proportion“ erfolgt, ruft einen dialektischen Umschlag des Logos in den Mythos auf, so wie er von Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung (2000 [1944/ 47]) beschrieben wurde (siehe Kap. II.2.1). Die Aufklärung, und dies schließt die Wissenschaft ausdrücklich mit ein, hatte zum Ziel, den Menschen als Herren über die Natur einzusetzen und damit Gestaltbarkeitskontingenz zu ermöglichen (vgl. Adorno/ Horkheimer 2000 [1944/ 47]: 9). Innerhalb der westlichen Disziplinargesellschaft hat dieser Kontrollgestus jedoch kolonialisierende Formen angenommen: „Proportion has a sister, […] a Goddess even now engaged - in the heat and sands of India, the mud and swamp of Africa, the purlieus of London […]. Conversion is her name“ (MD: 109). Die im Zeichen von Wissenschaft gewonnene Gestaltbarkeitskontingenz ist nicht ausschließlich emanzipatorischer Art, sondern sie führt zu einer neuen Form von Unterwerfung: Der Einzelne wird dem Gesetz des Allgemeinen unterworfen und muss seine Individualität unterdrücken (vgl. Adorno/ Horkheimer 2000 [1944/ 47]: 18f.). Der totalitäre Charakter des Glaubens an Proportion wird durch den Hinweis auf die Göttin „Conversion“ herausgestellt. Gleichzeitig erscheint Bradshaws rationalistisches Weltbild als eine Glaubensform (vgl. MD: 109: „worship“, „Goddess“). Damit wird die Dichotomie von Wissenschaft und Religion/ Mythos unterminiert und dem rationalistischen Weltbild selbst mythische Qualitäten verliehen. Kehrt man zur Frage zurück, inwiefern Mrs. Dalloway eine Interdependenz von Krieg, Männlichkeit und Rationalität entwirft, so gründet ein zentrales Verbindungsmoment darin, dass dem männlich kodierten Vernunftsubjekt eine kolonialisierende Dimension zugeordnet wird, die Andersheit auslöscht. Die gewaltsamen Handlungen Englands in seinen Ko- <?page no="237"?> Mrs. Dalloway 223 lonien, um Conversion durchzusetzen (vgl. MD: 109: „dashing down shrines, smashing idols […] to impress, to impose […] her own features“), unterstreichen diese Verbindung. Gemäß der Logik von Woolfs Roman bereiten drei Faktoren maßgeblich den Nährboden für den totalen Krieg: der Kult des männlichen Vernunftsubjekts, das sich selbst im Krieg nicht zu ‚unreasonable‘ Gefühlsexzessen hinreißen lässt, ein pathologisch übersteigerter Glaube an Gestaltbarkeitskontingenz der inneren und äußeren Natur und nicht zuletzt die Bannung von allem Individuell-Partikularen, das nicht ins System der Proportion passt. Bezeichnenderweise gilt in der Geschichtswissenschaft der Erste Weltkrieg als „Kulminationspunkt und Katalysator der Aggressions- und Vernichtungspotenziale des wissenschaftlich-technischen Zeitalters der Hochindustrialisierung, das auf den Schlachtfeldern von 1914 bis 1918 zu sich selber fand“ (Reimann 2004: 38). Betrachtet man den Aktionsradius der Göttin Conversion etwas näher, so fällt auf, dass die gezeichnete Bewegung vom Herzen des Empire ausgeht hin zu den Kolonien (Indien, Afrika), um dann wieder ins Zentrum des Empire („the purlieus of London“) zurückzukehren. Da Conversion eine Schwester von Proportion ist, und Septimus maskuline Rationalität als Inbegriff von Proportion während des Ersten Weltkriegs scheinbar gelernt hat, verweisen diese beiden Göttinnen auf „Parallelen zwischen kolonialen Herrschaftspraktiken [und] […] der mörderisch-rationalen Kriegführung an der Westfront des Ersten Weltkriegs“ (Reimann 2004: 33). Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive war die „Totalisierung der Kriegführung“ (ebd.: 32) im Ersten Weltkrieg kein neues Phänomen, sondern entsprach dem aggressiven Vorgehen in den Kolonien. Insofern leitete sich die verbreitete kollektive Zäsurerfahrung […] nicht so sehr aus einem epochalen Bruch seit 1914, sondern vielmehr aus der Tatsache her, dass die imperiale Aggressivität der europäischen Moderne zum ersten Mal von der geographischen und sozialen Peripherie in das bürgerliche europäische Zentrum zurückschlug und sich dabei ohne zu zögern und mit äußerster Konsequenz aller Instrumente und Methoden der industriellen Moderne bediente. (ebd.: 38) Eine ähnliche Diagnose wird implizit auch in Mrs. Dalloway zum Ausdruck gebracht, indem die Wechselwirkung zwischen kriegerischer Handlung, Kolonialismus, Rationalität und dem männlichen Vernunftsubjekt plastisch gestaltet wird. Vor diesem Hintergrund erscheint rückblickend auch der Name von Septimus’ väterlichem Arbeitgeber, Mr. Brewer, als ein telling name. Mit seiner mathematisch-kalkulierenden Welthaltung und seinem Propagieren des dominanten Männlichkeitsideals trägt Mr. Brewer im wortwörtlichen Sinne auf der Mikroebene zur ‚Fermentierung‘ der Gesellschaft in Richtung <?page no="238"?> 224 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Gewaltsamkeit bei. 202 Eine wichtige Implikation von Woolfs literarischer Interpretation von Modernisierung lautet somit, dass bei einer Fortschreibung von rigider Ausgrenzung von Kontingenz (das Unverfügbare), die im Zeichen von instrumenteller Rationalität und kolonialer Herrschaftspraktiken erfolgt, die Gefahr erneuter kriegerischer Auseinandersetzung gegeben ist. Die gewaltsamen Momente einer rationalistischen Welthaltung werden auch in der Darstellung von Zeiterfahrung betont: Naked, defenceless, the exhausted, the friendless received the impress of Sir William’s will. He […] devoured. He shut people up. […] Shredding and slicing, dividing and subdividing, the clocks of Harley Street nibbled at the June day, counselled submission, upheld authority, and pointed out in chorus the supreme advantages of a sense of proportion, until the mound of time was so far diminished that a commercial clock […] announced, genially and fraternally, as if it were a pleasure to Messrs. Rigby and Lowndes to give the information gratis, that it was half-past one. […] [S]ubconsciously one was grateful to Rigby and Lowndes for giving one time ratified by Greenwich […] (so Hugh Withbread ruminated […]) […]. (MD: 112) Diese Passage, in der das Motiv von Kannibalismus („He devoured“) mit der Präsenz von abstrakter Zeit und Kommerz verbunden wird, erinnert in ihren Implikationen deutlich an The Secret Agent, d.h. an die dort entfaltete Kritik an dem entfremdenden Charakter der ‚chronologischen Disziplinierung‘ und Kommodifizierung. Zudem kann die Erwähnung von Greenwich auch in Mrs. Dalloway als Hinweis auf die imperiale Macht Großbritanniens gelesen werden. Während der wissenschaftlich-medizinische Diskurs und der Glaube an Proportion im Zeichen einer totalitär anmutenden Gestaltbarkeitskontingenz stehen, erfolgt mit der Figur von Septimus Smith eine kritische Hinterfragung der gültigen gesellschaftlichen Ordnung und der damit einhergehenden Verharmlosung des Krieges als „that little shindy of schoolboys with gunpowder“ (MD: 105). Septimus mag zwar den gültigen Männlichkeitsidealen vor dem Krieg nicht völlig entsprochen haben, doch war er in die Gesellschaft integriert. So wie sein gängiger Nachname ‚Smith‘ Teil des Firmennamens „Arrowsmiths“ bildet, fügt er sich durch die Internalisierung herrschender Ordnungs- und Subjektmodelle auch in die symbolische Ordnung ein. Die Übernahme dieser Ordnungsmodelle und damit zugleich sozialer Zeitkategorien leistet eine Kontingenzzähmung. Dazu gehört die Sicherheit eines absehbaren Lebenslaufes, wie er sich in Mr. Brewers Voraussage niederschlägt, dass Septimus in 15 Jahren auf der 202 In diesem Zusammenhang stechen die martialischen Wortkomponenten des Firmennamens „Sibleys and Arrowsmiths“ ins Auge: Pfeil (‚arrow‘) und Bogen sind archaische Kriegswaffen; der (black)smith stellte u.a. Kriegswaffen her. <?page no="239"?> Mrs. Dalloway 225 Karriereleiter aufsteigen werde. Septimus’ Erfahrungen der Barbarei des Krieges zerstören jedoch seinen Glauben an sinnstiftende Ordnungsmodelle und Erzählungen, die bis dahin sein Selbst stabilisiert haben: „War invalidated the fundamental beliefs that gave Septimus’s prewar life meaning. The civilized order of England and its social rubrics, which defined Septimus’s assumptions and expectations about himself and his world, could not stand up against the truth that Septimus discovered in war.“ (DeMeester 2009: 205) Die Wahrheit, die Septimus im Krieg entdeckt, bezieht sich auf die barbarische Natur des Menschen. Seine Halluzinationen versinnbildlichen seine Wahrnehmung des Tierischen im Menschen: „It was horrible, terrible to see a dog become a man! “ (MD: 74) Diese Halluzination gewinnt kritische Akzente aufgrund der Bildlichkeit, mit der Septimus’ enge Freundschaft mit seinem Vorgesetzten Evans zuvor beschrieben wurde: das Bild zweier spielender Hunde (vgl. MD: 94). Der positiv besetzte Wert von Freundschaft wird innerhalb von Septimus’ Wahrnehmungswelt vollständig von dem Wissen um die barbarische Natur des Menschen überlagert. Während die Namen Isabel und Evans jeweils „Gottes Versprechen“ und „Gottes Segen“ bedeuten, 203 hat sich dieses Versprechen für Septimus im Krieg in sein höllisches Gegenteil verkehrt, wie seine kriegsbedingten Halluzinationen unterstreichen: „men were trapped in mines; women burnt alive“ (MD: 98). Septimus’ emotionale Abstumpfung entspricht einer typischen Schutzreaktion von Soldaten auf das Trauma des Krieges. Die Kritik am vorherrschenden Männlichkeitsideal gewinnt dabei in Mrs. Dalloway besonders drastisch an Kontur, da ein typisches Männlichkeitsattribut, nämlich die Unterdrückung von Emotionen, als eine Pathologie des traumatisierten Selbst identifiziert wird. Allerdings zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass Septimus nicht zu wenig fühlt, sondern zu viel (vgl. Showalter 1994: 152): Er schwankt zwischen extremer Angst und euphorischem Hoch. Die Emotionalität von Septimus steht in einem deutlichen Kontrast zu der rigiden Gefühlskontrolle, welche die Führungsschichten als Verhaltensnorm fordern, um gesellschaftliche Stabilität zu gewährleisten. 204 So bewundert Clarissa Lady Bexborough, die trotz der gerade empfangenen Nachricht vom Kriegstod ihres Sohns stoisch einen Bazaar eröffnet als sei nichts geschehen. Die stiff upper lip-Mentalität wird dabei mit der Weltordnung des Empire verbunden. Lady Bexborough gehört als Mitglied des Adels nicht nur zu der Führungsschicht, sondern der Begriff ‚bazaar‘ im ursprüngli- 203 Zur Bedeutung des Namens ‚Isabel‘ siehe Glennon (1985: 20, 14) und Drosdowski (1968: 119); zur Namensetymologie von ‚Evans‘ siehe Reaney (1997: 157) und Glennon (1985: 51). 204 Für eine ausführliche Analyse von Mrs. Dalloway hinsichtlich der Kritik am Ideal der rigiden Gefühlskontrolle, dem die Führungsschichten folgen, siehe Zwerdling (1986). <?page no="240"?> 226 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive chen Sinne bezieht sich auf einen orientalischen Marktplatz. Damit werden die Komponenten Kommerz, Kolonien und britische Führungsschicht aufs engste miteinander verknüpft. Die sinnstiftenden großen Erzählungen, wie etwa diejenige von der imperialen Großmachtstellung Englands, werden jedoch von Septimus’ unverständlichem fragmentarischen Narrativ in Frage gestellt. Septimus hat zwar den Krieg physisch überlebt, seine psychischen Versehrungen werden jedoch in Form der Auflösung seines Egos und der Erfahrung einer sinnlosen Welt manifest. So sinniert er, „It might be possible […] that the world itself is without meaning.“ (MD: 96f.) Dabei kann Septimus’ Verlust des Selbst und einer sinnhaften Welt als interdependent gesehen werden: According to psychologist Erik Erikson, combat damages the soldier’s ego identity, which is ‚[a] sense of identity [that] produces the ability to experience onself as something that has continuity and sameness‘; and therefore, the soldiers’ lives ‚no longer hung together and never would again‘ (quoted in Leed 3-4). War neurosis is the result of a shattered sense of identity, the inability to integrate the veteran’s identity as a warrior into his preand postwar civilian identities. (DeMeester 2009: 204) Ohne ein kohärentes Selbst, das eine Kontinuität von Identität gewährleistet, ist das Subjekt nicht in der Lage, Sinnstiftungen zu vollziehen. Die Fragmentarisierung des Selbst spiegelt sich in der Kontingenzerfahrung einer fragmentarisierten Welt ohne Sinn und Zusammenhang. 205 Ein wesentliches Kennzeichen von Trauma ist dessen Widerständigkeit gegenüber Narrativisierung, d.h. das traumatische Ereignis lässt sich nicht in sinnstiftende Strukturen integrieren. Das Trauma kann erst bearbeitet werden, wenn narrative Sinnstiftung geleistet wird: „the pain and suffering of trauma victims, like Septimus, contain meaning and meaning potentials and […] ‚the pain of the trauma experience be transformed into meaning awareness, as opposed to being repressed and/ or acted out‘ (Lantz 487)“ (DeMeester 2009: 206f.). Das Verhalten der Ärzte verdeutlicht jedoch, dass Septimus’ Bemühungen, seine Erlebnisse und Einsichten zu kommunizieren, abgewehrt und ihnen jeglicher Wahrheitsanspruchs abgesprochen wird, weil sie sich nicht in das Weltbild der wissenschaftlichen Rationalität einfügen lassen. Zudem unterminieren sie die Überführung des massenhaften Sterbens in eine national als sinnstiftend-kohärent empfundene 205 Für eine ausführliche Analyse von Septimus’ Trauma siehe DeMeester (2009), Caramagno (1992: 210-243) und Showalter (1994: 145-150). Caramagno weist Septimus’ Abstinenz von allen Versuchen, wieder eine integrative Identität herzustellen, als Schutzmechanismus aus: „For him, integration is equivalent to self-destruction, because it would require identifying with elements of self he can no longer recognize or understand. This is no comfortable ‚alien subject‘ whom we can accept as both different from and a part of us, that we can integrate and thereby use to profit from our expanded receptivity. Septimus’s alien fragments remain unreadable.“ (1992: 219) <?page no="241"?> Mrs. Dalloway 227 Erzählung. Die Gattung der Detektivgeschichte, die durch den Namen Holmes aufgerufen wird, lenkt dabei die Aufmerksamkeit auf das Zusammenspiel von spezifischen Narrativen und Kontingenzinvisibilisierung: „[T]he detective story […] equates the incomplete, incoherent, baffling story with crime, whereas detection is the making of an intelligible, consistent, and unbroken narrative.“ (Brooks 1994: 49) 206 Die subversive Kraft von Septimus’ Diskurs wird dadurch gebannt, dass sein fragmentarisches und damit vom Trauma gekennzeichnetes Narrativ zu einem reinen Symptom abgestuft wird. Inkohärenz wird aufgelöst, indem Septimus als ein Fall behandelt wird, der sich bruchlos in den rational-medizinischen Diskurs einfügen lässt. Das Spektrum der Disziplinarmacht, die auf die Bannung traumatischer Präsenzen zugunsten einer ‚intelligible and unbroken narrative‘ ausgerichtet ist, zeigt sich darin, dass Bradshaw in seinen Aktivitäten zur Bewahrung der Proportion von „police and the good of society“ (MD: 111) unterstützt wird. Die Gesellschaftskritik in Mrs. Dalloway gewinnt dadurch an Schärfe, dass Septimus’ Erfahrungsgehalte in der Disziplinargesellschaft als exemplarisch ausgewiesen werden: „London has swallowed up many millions of young men called Smith“ (MD: 92). Die Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung „wird durch den Ausstoß eines potenziell nichtfunktionellen Elements gesichert“ (Baum 2003: 45), in diesem Fall durch die unmittelbar bevorstehende Einweisung von Septimus in eine Nervenheilanstalt. Die Mechanismen der Disziplinargesellschaft sind auf Kontingenzschließung hinsichtlich alternativer Subjekt- und Weltmodelle ausgerichtet, da sie Verkörperungen von Kontingenz (das Unverfügbare) bannen. In Septimus wird das „Prinzip der Kontingenz […] ver-körpert, indem der Leib des Helden seine Integrität verliert“ (ebd.: 166). Der Verlust einer psychischen Integrität der Leiberfahrung manifestiert sich bei Septimus in Form seiner Unfähigkeit, eine Grenze zwischen Selbst und Welt zu ziehen (vgl. MD: 24). Sein Trauma bedeutet die Präsenz einer nicht verarbeitbaren Widerfahrniskontingenz inmitten der Disziplinargesellschaft. Die bisher herausgearbeitete Verknüpfung der Kriegsthematik mit Grundstrukturen der Moderne verdeutlicht, dass die Funktionalisierung der Figur des traumatisierten Kriegssoldaten in Mrs. Dalloway weit über eine Kritik am zeitgenössischen Umgang mit shell shock hinausgeht. Die Aufmerksamkeitslenkung auf das Interdependenzgeflecht zwischen kriegerischen Handlungen, instrumenteller Rationalität, Männlichkeit und Kolonialismus lassen den Ersten Weltkrieg als „Chiffre der zeitgenössischen ‚Krise der klassischen Moderne‘ (D. Peukert)“ (Reimann 2004: 38) 206 In seiner Interpretation von Ian McEwans Enduring Love - ein Autor, auf den ich im letzten Kapitel eingehe - bezieht sich Martin Randall (2007: 59f.) ebenfalls auf Brooks These, um die Bedeutung des Detektiv-Plots mit Bezug auf den medizinischen Diskurs in McEwans Roman herauszuarbeiten. <?page no="242"?> 228 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive erscheinen. Der traumatisierte Soldat kann dementsprechend ebenfalls als Inbegriff für verstörende Widerfahrniskontingenz in der Moderne gelesen werden: Septimus epitomizes, embodies the essential characteristics of modernist man. The discoveries the veteran made during the war alienated him from his past by undermining his prewar assumptions about himself and the world that had previously given order and meaning to his life. His traumatic war experiences shattered the cohesion of his consciousness and left it fragmented, a stream of incongruous and disconnected images and bits of memory devoid of the connections and relationships necessary to give meaning to those experiences. (DeMeester 2009: 201). Die Präsenz der historischen Kontingenzerfahrung des Krieges inmitten der soziologischen Kontingenzerfahrung in der Metropole in Mrs. Dalloway ist somit nicht nur dem zeitlichen Setting geschuldet. 207 Vielmehr kann diese Verknüpfung auch als ein Hinweis auf tiefenstrukturelle Kontinuitätslinien zwischen diesen beiden Erfahrungsdimensionen gelesen werden. Mrs. Dalloway liest sich über weite Teile hinweg als Exploration möglicher Umgangsweisen mit der soziologischen Kontingenzerfahrung in der Großstadt. Dabei lassen sich viele Bezüge zu sozialpsychologischen Studien über das städtische Leben herstellen. Georg Simmel rückt beispielsweise in seiner Abhandlung „Die Großstädte und das Geistesleben“ in den Vordergrund, inwiefern die „Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke [im urbanen Raum] hervorgeht“ (1995 [1903]: 116), zu einer Überforderung des Individuums führt, da es diese Reizüberflutung nicht mehr verarbeiten kann. Während Simmel die Blasiertheit der Großstädter, d.h. deren Abstumpfung gegenüber Sinnesreizen, als eine defensive Strategie identifiziert, um mit dieser drohenden Überforderung umzugehen, zeigt Septimus’ Erfahrungsperspektive der Metropole, was passiert, wenn psychische Strategien wie die von Simmel genannte aufgrund eines Traumas nicht mehr greifen. Bei Septimus führt „jeder neue Reiz, jeder neuerliche Reaktionszwang zur Dezentrierung von Subjektivität“ (Baum 2003: 40). Der Erlebnisraum Stadt wandelt sich zur psychotischen Welt. Die Beschleunigungsprozesse in der Moderne, wie sie in der Metropole in verdichteter Form erlebbar werden, erforderten neue Praktiken des Selbst. Es ist vor diesem Hintergrund kein Zufall, dass die modernistische Literatur bei ihrer literarischen Inszenierung neuer Subjektmodelle die Stadt als ein bevorzugtes Thema entdeckt: 207 Vgl. MD: 4f.: „For it was the middle of June. The War was over, except for some one like Mrs. Foxcroft at the Embassy last night eating her heart out because that nice boy was killed“. <?page no="243"?> Mrs. Dalloway 229 [I]t is the advent of modernism with its distrust in any kind of realism and with it in the capacity of the conventional representational practices to depict reality, which has discovered the city as a favourite topic and an ally in its desire to destroy traditional models of identity and habits of perception by juxtaposing them with the experience of city life. (Schlaeger 2003: 26) In Mrs. Dalloway dient die Metropole als Inszenierungsraum für die Entwicklung einer neuen Form der Subjektivität, für welche die gesteigerte Kontingenzerfahrung keine Bedrohung, sondern zur Quelle von Identitätsarbeit wird, und zwar unter Verzicht auf die defensive Strategie der Blasiertheit. Im Folgenden soll zunächst kurz skizziert werden, wie Woolfs Stadtroman die Pluralisierung von Realität und damit ein neues Kontingenzbewusstsein entfaltet, bevor die neuen Praktiken des Selbst als Reaktion auf die soziologische Kontingenzerfahrung genauer herausgearbeitet werden. Ein besonderes Augenmerk wird auf die Präsenz mythischer Gehalte in Mrs. Dalloway sowie auf die Frage nach deren Bedeutung für den Umgang mit Kontingenz in Woolfs Roman gelegt. 3.2 Die soziologische Kontingenzerfahrung in der Metropole und mythische Signaturen: Raum-/ Zeiterfahrung und neue Praktiken des Selbst Die Metropolenerfahrung umfasst in erster Linie die Wahrnehmung von Gleichzeitigkeit: „der simultanen Beobachtung unabhängig voneinander geschehender Ereignisse und der simultanen Konfrontation mit verschiedenartigen, unkoordinierten Sinnesreizen“ (Reckwitz 2006b: 277). Die multiperspektivische Fokalisierung in Mrs. Dalloway bildet eine zentrale Strategie, um die Ko-Präsenz verschiedener Erfahrungsperspektiven im urbanen Raum zu inszenieren. Paradigmatisch lässt sich die Pluralisierung von Realität anhand der skywriting-Szene illustrieren, die gerade aus diesem Grund vielfach in der Forschung diskutiert wird: The sound of an aeroplane bored ominously into the ears of the crowd. There it was coming over the trees, letting out white smoke from behind, which curled and twisted, actually writing something! making letters in the sky! Everyone looked up. […] But what letters? (MD: 21f.) Der Werbe-Schriftzug lässt sich nicht vereindeutigen. Stattdessen liest jedes Individuum ein anderes Wort gemäß seinen oder ihren Assoziationen, sei es „Glaxo“, „Kreemo“ oder „toffee“ (MD: 22). Die kurze visuelle Präsenz der Buchstaben veranschaulicht nicht nur die transitorische Qualität der Bedeutungsstiftungen in der schnelllebigen Metropole. Das Transitorische wird zudem kausal-logisch mit dem flüchtigen Charakter des ständig zirkulierenden Geldes und der Waren verknüpft, auf die metonymisch der Werbe-Schriftzug hindeutet. Die Szene kann zugleich als eine Kritik am autoritativen Weltdeutungsanspruch des Militärs (das Flugzeug als Kriegs- <?page no="244"?> 230 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive technologie) und Kommerzes gelesen werden: „These references to skywriting, dried mild, and toffee clearly satirize both military and commercial capabilities to produce a ‚KEY‘ for reading the world“ (Young 2000: 100). Die Subjektivierung der Wirklichkeitserfahrung findet bei dem Beispiel der skywriting-Szene seine Fortsetzung in den Passagen mit erlebter Rede, die einen Einblick in die unterschiedlichen Assoziationen der Figuren mit dem Flugzeug liefern. Während das Flugzeug bei Mrs. Dempster Fernweh auslöst, ist diese technologische Erfindung für Mr. Bentley ein Symbol für die Transzendenzbemühungen des Menschen: „to get outside his body, […] by means of thought, Einstein, speculation, mathematics“ (MD: 30). Insgesamt verdeutlicht die skywriting-Szene, dass die Stadt in Mrs. Dalloway als ein polysemer Zeichenraum erscheint, bei dem sich das Individuum für eine Bedeutungsmöglichkeit entscheidet. 208 Darüber hinaus ist die skywriting-Szene deshalb interessant, weil in ihr die soziologische und die historische Kontingenzerfahrung auffällig miteinander verschränkt werden. Vincent Sherry (2003: 265) hat in einer detaillierten Analyse dieser Passage herausgearbeitet, wie das Luftspektakel als „a restaged memory of the Great War“ verstanden werden kann. Die semantischen Felder von Bedrohung und Tod sowie das Flugzeug als Kriegstechnologie verweisen auf die Präsenz des Krieges (vgl. MD: 21f.: „bored ominously“ und „Dropping dead down the aeroplane soared straight up“). 209 Zudem könne auch die Uhrzeit - Big Ben schlägt elf - als Hinweis auf das offizielle Kriegsende am elften Tag des elften Monats in der elften Stunde gewertet werden (vgl. Sherry 2003: 265). Sogar die erinnerungskulturelle Praxis der ‚Great Silence‘ werde von der Menge eingehalten: „As they looked the whole world became perfectly silent“ (MD: 22). Nicht zuletzt wird die Kriegserfahrung metonymisch durch die Gegenwart des Kriegsveteranen Septimus in den Blick gerückt. Die Überblendung der Kriegserinnerung mit der Stadterfahrung weist beide Dimensionen als Schlüsselfaktoren für die Auflösung stabiler Bedeutungen in der zeitgenössischen Lebenswelt aus. Auf die gleiche Weise wie das Militär und Kommerz keinen Schlüssel zur Deutung der Welt liefern 208 Vgl. auch Young (2000: 100): „[T]he aerial ad also suggests the need for a collaborative reading set against the kind of stable textual authority Clarissa sees in the car but ignores in the plane. Woolf thus transfers the image of authority to a comunity of readers, exemplified by Mr. Bentley.“ Für Interpretationen der skywriting-Szene siehe u.a. auch Showalter (1994: 135f.), Beer (1996: 161f.) und Wicke (1994: 15f.). Für einen konzisen Überblick über die Konzeptualisierung der Stadt als ‚gelebten und begangenen Raum‘ sowie als Zeichenraum in der Urbanistik siehe Teske (1999: 63-73, 81- 100). 209 Vgl. Sherry (2003: 265): „The linkage between the recently ended war and the enterprise of skywriting was in fact well established already in 1922, when the practice began - under the official and published encouragement of the Air Ministry, which argued that skilled pilots would be kept thus in training, and at no cost to the state.“ <?page no="245"?> Mrs. Dalloway 231 können, so wird auch autoritativ-nationale Sinnstiftung angesichts der traumatischen Kriegserfahrung erschüttert. Unmittelbar vor dem Luftspektakel hatte noch ein „motor car with its blinds drawn and an air of inscrutable reserve“ (MD: 17) die Masse in seinen Bann gezogen, da im Auto ein Staatsoberhaupt vermutet wurde. Ähnlich wie in Daniel Deronda findet sich auch in Woolfs Roman eine Betonung des ersatzreligiösen Charakters von Nationalismus: „they had heard the voice of authority; the spirit of religion was abroad“ (MD: 15). Die Tatsache, dass die Identität des Autoinsassen jedoch eine Leerstelle bleibt, welche die Zuschauer imaginativ füllen, verdeutlicht zugleich den Charakter von Nationen als ‚imagined communities‘ (Benedict Anderson). 210 Im Unterschied zu George Eliot erfolgt bei Woolf jedoch nicht eine organizistische Stabilisierung von Nationalismus. Vielmehr wird die durch das Auto repräsentierte Autorität, die das Subjekt im Sinne Althussers dazu anruft, „to attend their Sovereign, if need be, to the cannon’s mouth“ (MD: 20), durch das polyseme Spiel der Signifikanten beim Luftspektakel abgelöst: „Everyone looked up. […] (and the car went in at the gates and nobody looked at it)“ (MD: 22). Diese Polysemierung der Wirklichkeit wird wiederum mit der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg verknüpft. Insgesamt inszeniert die skywriting-Szene paradigmatisch, wie die historische und soziologische Widerfahrniskontingenz (Kriegsgeschehen und urbaner Lebensraum) in Mrs. Dalloway ineinandergreifen und welche Auswirkungen dieser Kontingenzerfahrung zugeordnet werden können: die Ablösung von autoritativer Sinnarretierung zugunsten subjektspezifischer Deutungsarbeit. Die Szene liest sich damit zugleich als impliziter metafiktionaler Kommentar: The opening tableaux in Mrs. Dalloway of Londoners puzzling over the decipherment of the skywriter’s ambiguous message and over the identity of the great personage of uncertain sex glimpsed (perhaps) in the motor-car in Bond Street (19-32) clearly are to be taken as, among other things, cautionary parables of the interpretive reading of Mrs. Dalloway itself, with its relativistic collage of discrepant points of view that seem designed with such a palpable intent to frustrate the interpretive will to power. (Herbert 2001: 117). Die programmatische Schwierigkeit der Sprache in modernistischen Texten, die sich (so wie bei Woolf) häufig u.a. aus ungewöhnlicher Syntax und einer lyrischen Überhöhung der Sprache ergibt, übt bei der Leserin potentiell eine dynamische Lektürehaltung ein. Damit ist die Bereitschaft gemeint, offen für das polyseme Bedeutungsspiel von literarischem (und urbanem) Text zu sein. Zu diesem Spiel mit Polysemie gehört auch die 210 Für eine ausführliche Analyse von ‚imagined communities‘ in Mrs. Dalloway siehe Walker (2010). <?page no="246"?> 232 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive auffällige Häufung von vagen referentiellen Bezügen in Mrs. Dalloway. Wenn beispielsweise Clarissas Gedanken um „[a] thing there was that mattered“ (MD: 202) kreisen, dann ist es der Leserin überlassen zu versuchen, auf Basis der kontextuellen Signale dieses ‚Ding‘ zu spezifizieren. Eine solche dynamische Lektürehaltung auf Seiten der Leserin bildet das Korrelat zur inszenierten Subjektivierung der Wirklichkeitssicht innerhalb der Textwelt und der damit verbundenen Notwendigkeit, eigene Orientierungsleistungen zu vollbringen. Zu der perspektivischen Auffächerung von Realität in Mrs. Dalloway gehört zudem die Einführung eines impliziten Kontrasts zwischen abstrakt geometrischem Raum und dem erlebten Raum, d.h. der „kulturellen, alltagspraktischen Aneignung des Raumes“ (Zimmer 2006: 55). Die Forschung betont vielfach, dass es bei Mrs. Dalloway möglich ist, die Bewegung zentraler Figuren durch London auf einem Stadtplan weitestgehend nachzuzeichnen. 211 Diese klare Benennung der Londoner Straßen und Adressen verweist einerseits auf die kartographische Repräsentation Londons. Andererseits wird über das multiperspektivische Erzählen zugleich die Raumkonzeption unterminiert, die mit einem solchen Kartenmaterial und Stadtplänen verknüpft ist. Während Karten durch eine panoramatische Schau eine objektive Lesbarkeit sowie eine totalisierende Erfassung der Stadt suggerieren, rückt die Akteursperspektive der Fokalisierungsinstanzen ein jeweils individualisiertes mapping der Stadt in den Vordergrund. Die Suggestion einer statischen Identität Londons durch abstrahierende Kartographierung wird durch den Fokus auf das sinnliche Erleben von Raum ersetzt, d.h. statt der Realität der Großstadt herrschen prozessual hergestellte städtische Realitäten, die in den Praktiken der Akteure wurzeln; diese Praktiken sind wiederum von soziokulturellen Parametern (z.B. gender und class) beeinflusst. 212 So erfährt Elisabeth als weibliche flâneuse beispielsweise ihre Busfahrt in London und den anschließenden kurzen Gang in Richtung St. Paul’s Cathedral als aufregendes Abenteuer, weil eine solche Bewegungsfreiheit in der Stadt bislang ein männliches Privileg war. Die Pluralisierung von Erfahrungsräumen unterminiert nicht nur panoptische Raumkonstruktionen der Disziplinargesellschaft im Allgemeinen. Vielmehr können einzelne Formen der subjektiven Raumerfahrung auch als kritische Infragestellung städtebaulicher Diskurse gelesen werden, die Bradshaws Ideal der Proportion verpflichtet sind. In diesem Zusammen- 211 Vgl. bspw. Fleishman (1975: 71ff.), Dowling (1991: 52ff.), Rosner (2009: 41) und Hawthorn (1975: 66). 212 Zur Unterscheidung zwischen dem „‚geometrischen‘ oder ‚geographischen‘ Raum der panoptischen oder theoretischen, visuellen Kontruktionen“ (de Certeau 1988: 182) und der Stadt als einem Netz von Praktiken siehe de Certeau (1988). Zu der figurenspezifische Raumerfahrung und der Bedeutung von deren jeweiligen Routen durch die Stadt siehe Wood (2003). Eine umfassende Analyse zur Semantisierung des Raums in Mrs. Dalloway liefert Lusin (2007: 63-67, 88-95, 116-118, 138-140). <?page no="247"?> Mrs. Dalloway 233 hang hat Nora Wiechert in ihrer Studie zu Urban Green Space and Gender in Anglophone Modernist Fiction (2009) herausgearbeitet, inwiefern Septimus’ psychotischer Zusammenbruch in Regent’s Park als ein subversiver Kommentar auf die zeitgenössische „parks movement“ interpretiert werden kann: The parks movement, both within Europe and the United States, was heavily influenced by ideas regarding the beneficial effect of nature on people as well as the existence of proportion within nature and its proper expression in architecture. […] As Paul Waley points out, the park was not only supposed to cater to people’s moral and bodily well-being, but their cultural and intellectual improvement; further serving as a site that commemorated collective memory and the imperial past, as well as representing aestheticised nature and the sciences […]. Regent’s Park in London is a perfect example of this convergence between architectural and social uses of proportion. (Wiechert 2009: 39) Eine solche therapeutisch-normalisierende Funktion der Parklandschaft wird jedoch gerade durch Septimus’ psychotisches Erleben in Regent’s Park karikiert und als Fiktion entlarvt (vgl. ebd.: 24). Mehr noch, sein Zusammenbruch erfolgt in der Nähe des Sir Cowasjee Jehangir Fountain, der metonymisch auf Großbritanniens Kolonialherrschaft verweist. 213 Auf diese Weise wird auf die tiefenstrukturelle Affinität hingewiesen, die zwischen dem „parks movement“ mit dem damit verbundenen Leitwert der Proportion und den imperialistisch-kriegerischen Handlungen herrscht, die im Zeichen der Göttin Conversion stehen. Septimus’ Bombentrauma illustriert auf drastische Weise die kryptologische Gewalt dieser Denkfiguren. Die Interdependenz von Raum- und Zeiterfahrung bringt es mit sich, dass die Pluralisierung von Raumerfahrung mit einer Überlagerung verschiedener Zeitmodalitäten einhergeht. In analoger Weise zum Kontrast zwischen abstrakt-geometrischem Raum (Karte) und Erlebnisraum durchzieht die Gegenüberstellung zwischen clock time und mind time den Roman. In der Forschung wird in diesem Zusammenhang vielfach auf den Einfluss von Henri Bergson und Albert Einsteins Relativitätstheorie für die Zeitkonzeption im modernistischen Roman hingewiesen, d.h. dem „Aufdecken subjektiver Zeitdimensionen“ (Kohl 1998: 160). Die Darstellung des Bewusstseinstroms verschiedener Figuren in Form von erlebter Rede setzt der standardisierten Zeit, so wie sie durch die „commercial clock“ (MD: 112) und die Schläge des Big Ben repräsentiert wird, eine menschliche „Ei- 213 Auf der Gedenktafel des Sir Cowasjee Jehangir Fountain steht geschrieben: „This fountain was erected by the Metropolitan Drinking Fountain and the Cattle Trough Association was the gift of Sir Cowasjee Jehangir (Companion of the Star of India) a wealthy parsee gentleman of Bombay as a token of gratitude to the people of England for the protection enjoyed by him and his Parsee fellow countrymen under the British Rule in India.“ <?page no="248"?> 234 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive genzeit“ (Kohl 1998: 160) entgegen. Big Ben versinnbildlicht abermals die zuvor diskutierte Engführung eines männlich kodierten Herrschaftsregimes (Westminster) mit Standardisierung und Rationalisierung. Bezeichnenderweise wurde die chronologische Disziplinierung im Ersten Weltkrieg durchgesetzt, nämlich indem das Militär den Soldaten Armbanduhren als Teil ihrer Ausrüstung gab; es hatte demgegenüber „vor dem Krieg noch als ‚unmännlich‘ gegolten […], eine Uhr zu tragen“ (ebd.: 160). Die Kontrastierung zwischen clock time und mind time bzw. äußerer und innerer Zeit ist allerdings nicht als eine kritische Zurückweisung des äußeren Zeitregimes an sich zu verstehen. Vielmehr geht es um die Ablehnung einer disziplinierenden Funktionalisierung standardisierter Zeit. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist, dass der autoritative Anspruch des herrschaftlichen Big Ben nicht nur durch menschliche Eigenzeit in Frage gestellt wird, sondern zudem durch die zeitlich versetzten Schläge St. Margaret’s (vgl. MD: 54; siehe auch Bowlby 1993: 150). Die weibliche Codierung dieser imitativ-subversiven Zeit wird dadurch verstärkt, dass Peter Walsh St. Margaret’s mit Clarissa assoziiert: It is half-past eleven, she says, and the sound of St. Margaret’s glides into the recesses of the heart and buries itself in ring after ring of sound, like something alive which wants to confide itself, to disperse itself, to be, with a tremor of delight, at rest - like Clarissa herself, thought Peter Walsh, coming downstairs on the stroke of the hour in white. (MD: 54) Die äußere Zeit wandelt sich in dieser Bildlichkeit von einem disziplinierenden Regime zu etwas affektiv Verbindendem. Die Glockenschläge gleiten „into the recesses of the heart“ und werden als eine Form von Selbstoffenbarung des Anderen und der Teilhabe („confide itself, disperse itself“) erlebt. Dieses Bild lässt sich als Evokation einer integrativen Verknüpfung von äußerer und innerer Zeit lesen. 214 Die Notwendigkeit einer solchen integrativen Vermittlung zwischen äußerer und innerer Zeit unterstreicht das Schicksal von Septimus, dessen ausschließliche Bindung an eine innere Zeit zu einer psychotischen Wahrnehmung von Welt führt (vgl. V. Nün- 214 Für eine anders gelagerte Interpretation dieser Passage siehe Bowlby (1993: 150-151). Bowlby arbeitet die von Walsh genannte Parallele zwischen St. Margaret’s und Clarissa in ihren Implikationen detailliert heraus: „Whereas Septimus Smith is the extreme ‚case‘ of someone who has lost all contact with the external, common orders of daily life and daily time, Clarissa is questionably situated like St Margaret’s, neither within nor without, somewhere between utter differing and absolute conformity. She is close enough to sound or seem as if she simply echoes established authority, and distant enough for her chimes to verge on an expression of doubt or an ironic doubling.“ (ebd.: 151) Zur liminalen Position von Clarissa siehe auch Littleton (1995: 52): „Clarissa submits to social convention by subverting it in ways that express herself without destabilizing her own position.“ <?page no="249"?> Mrs. Dalloway 235 ning 2002: 304). Die soziale Zeit wirkt „auch verbindend, denn sie schafft die Basis für die Kommunikation der Figuren untereinander“ (ebd.). Neben der Kontrastierung von clock time und mind time gehört zur Pluralisierung von Zeitmodalitäten in Mrs. Dalloway die Evokation von biologischen Rhythmen und einer kosmisch-mythischen sowie historischen Zeitkonzeption (vgl. Lusin 2007: 141). 215 Eine historische Zeitkonzeption verkörpern beispielsweise die Monumente, d.h. die Statuen von Kriegshelden, an denen Peter Walsh bei seinem Spaziergang durch die Stadt vorbeigeht, da diese Bestandteil von Englands offizieller Nationalgeschichtsschreibung sind (siehe hierzu auch Cohen 2004: 98f.). Biologische Rhythmen werden u.a. in Form des Reproduktionszyklus betont, denn während sich Clarissa in der Menopause befindet, steht ihre Tochter an der Schwelle zu sexueller Reife. 216 Mit Blick auf die Gestaltung von und den Umgang mit moderner Kontingenzerfahrung ist die Inszenierung einer mythisch-natürlichen Zeitkonzeption von besonderer Bedeutung. Einerseits erhöht diese die Zahl an Zeitmodalitäten und führt somit zu einer Kontingenzsteigerung. Andererseits lässt sich die Einführung eines mythisch-natürlichen Urgrunds in Mrs. Dalloway als Kontingenzaufhebungsstrategie verstehen. Die Instabilität dieser Strategie wird sich zeigen, sobald sich der Analysefokus auf das damit verbundene Subjektmodell richtet. Dem Bildkomplex ‚Wasser‘ kommt eine Schlüsselrolle für die Inszenierung einer „allem Dasein zugrundeliegenden Dimension kosmischer Unendlichkeit“ (Lusin 2007: 157) zu. Wie Caroline Lusin hervorhebt, sind alle Figuren in Woolfs Roman „mit dem Element Wasser assoziiert und scheinen dadurch über einen gemeinsamen ‚Urgrund‘ des Lebens miteinander verbunden“ (ebd.). Lusin zeichnet den „Geltungsbereich dieses Motivs als allumfassenden, ewigen ‚Seinsgrund‘“ (ebd.: 158) detailliert nach, indem sie u.a. auf die besondere Bedeutung der singenden alten Frau in der Nähe von Regent’s Park eingeht: 215 Im Gegensatz zu mir unterscheidet Carolin Lusin (2007: 141) bei ihrer Analyse von Mrs. Dalloway zwischen der kosmisch-natürlichen und der mythischen Zeitkonzeption im Roman. Sie führt für diese Unterscheidung eine Reihe von Differenzkriterien ein. Während der Mythos mit dem Zyklischen verbunden ist, geht es bei der kosmisch-natürlichen Zeit um „der scheinbar unendlichen linearen Fortdauer dieser Art von Zeit“ (ebd.: 145). Darüber hinaus stehe bei Geschichte und Mythos der Konstruktcharakter dieser Zeitsemantisierung im Vordergrund, während die kosmischnatürliche Zeit „zwar als Begriff ebenfalls von Menschen konstruiert, doch ihrem Wesen nach und in ihrem Verlauf menschenunabhängig“ (ebd.: 295) sei. Die Schwierigkeit, diese Unterscheidung bei der Romananalyse klar aufrecht zu erhalten, zeigt sich allerdings in Formulierungen wie der „mythischen Fortdauer des Seins als solchem“ (ebd.: 178) bzw. der „mythische[n] Permanenz des Seins als solchem“ (ebd.: 179). Aufgrund des fließenden Übergangs zwischen den beiden Kategorien wird in der vorliegenden Arbeit auf die Beibehaltung dieser Differenzierung verzichtet. 216 Zur Analogie zwischen dem Vergehen von Zeitstunden und dem weiblichen Reproduktionszyklus im Roman siehe Showalter (1994: 140ff.). <?page no="250"?> 236 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive In Gestalt einer alten Frau, die ein semantisch undefinierbares Lied singt, gewinnt die Spannung zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft eine überzeitliche, mythische Dimension. […] [D]iese Frau, die allein durch ihren Rock als solche zu identifizieren ist, [verkörpert] in ihrer Geschlechts-, Körper- und Zeitlosigkeit das Prinzip einer grenzenlosen Kontinuität, die einer entlegenen Vergangenheit entstammt und sich bis in die fernste Zukunft erstreckt. (ebd.: 178f.) 217 Diese mythische Zeitdimension wird dabei abermals mit dem Wasser als Seinsgrund verbunden, denn das Lied der Frau wird beschrieben als „the voice of an ancient spring sprouting from the earth“ (MD: 88; siehe auch Lusin 2007: 158, 179). Die Valorisierung dieser kosmisch-mythischen Dimension ergibt sich aus deren Verknüpfung mit der Teilhabe an einem ganzheitlichen Sein. Es ist nämlich die Teilhabe am „zeitliche[n] Urgrund des Lebens“ (Lusin 2007: 284), welche die unüberbrückbare Isolation der Individuen aufhebt (vgl. ebd.: 157). Wie das nachfolgende Beispiel veranschaulicht, kann das Individuum nur dann einen Zugang zu diesem mythischen Seinsgrund finden, wenn die mentalen Kontrollinstanzen gelockert werden: Quiet descended on her, calm, content, as her needle, […] collected the green folds together and attached them, very lightly, to the belt. So on a summer’s day waves collect, overbalance, and fall; collect and fall; and the whole world seems to be saying ‚that is all‘ more and more ponderously, until even the heart in the body which lies in the sun on the beach says too, That is all. Fear no more […], says the heart, committing its burden to some sea, which sighs collectively for all sorrows, and renews, begins, collects, lets fall. And the body alone listens to the passing bee; the wave breaking […]. (MD: 43) Die repetitive Aktivität des Nähens hat einen mesmerierenden Effekt auf Clarissa, so dass ein semi-bewusster Zustand eintritt. Die Entgrenzung des Selbst erfolgt im Zuge des Einklangs mit dem unendlichen Auf und Ab des Meeres. Zudem wird eine solche Entgrenzung durch die Evokation des Todes in Form des leitmotivischen Cymbeline-Zitats „Fear no more“ aufgerufen. 218 Der Tod stellt die radikalste Form der Entgrenzung des Selbst dar. Es ist dieser Zustand des Einklangs mit dem zeitlos-mythischen Urgrund des Seins, welches dem Individuum ein Gefühl des Glücks beschert: „calm, content“. 219 217 Für eine archetypische Interpretation der alten Frau und ihr Lied siehe auch Wicke (1994: 18), Abel (1992: 95), Miller (1982: 189-191) und Fleishman (1975: 81-84, 92). 218 Ausführlich zur Bedeutung des leitmotivischen Zitats aus Shakespeares Cymbeline in Mrs. Dalloway siehe u.a. Fleishman (1975: 86), Showalter (1994: 141), V. Nünning (2002: 305f.) und Dowling (1991: 62). 219 Der Bezug dieser Passage zu Vorstellungen von Kollektivität lässt sich erweitern, wenn man Clarissas Sichtweise auf ihre Party am Ende des Romans übernimmt und <?page no="251"?> Mrs. Dalloway 237 Auf Basis der vorangegangen Überlegungen lässt sich nun genauer spezifizieren, inwiefern die eingeführte mythisch-kosmische Dimension eine Kontingenzbannungsstrategie darstellt. Wie oben erwähnt, umfasst die gesteigerte Kontingenzerfahrung in der Metropole in erster Linie die Gleichzeitigkeit verschiedener Realitäten sowie das Vorhandensein schnell wechselnder Sinnesreize. Während die quantitative Zunahme an Reizen zur Widerfahrniskontingenz werden kann, sofern das Individuum dafür keine Umgangsstrategien entwickelt, steht die Pluralisierung von Welt im Zeichen eines Kontingenzbewusstseins des Inkommensurablen. Zu diesem Bewusstsein des Inkommensurablen gehört die für den Modernismus typische Sprachskepsis, d.h. dem Aufzeigen, dass sich Realität sprachlich nicht fassen lässt. Teil dieser Sprachskepsis ist das wiederholte Vorführen des Scheiterns sprachlicher Kommunikation sowie die Isolation des Individuums, die aus dem Misslingen von Kommunikation resultiert: Because our sense-impressions are the touchstone of what is real, and because these impressions are finally incommunicable, we are all at some level solitary monads sealed off from each other. Characters at the beginning of Mrs Dalloway are linked by seeing the same motor car or aeroplane, but while this points to the interwovenness of apparently separate lives in the modern city, it is also a kind of irony. […] [B]ringing together characters in this deliberately arbitrary, external way also shows up just how isolated from each other they actually are, sharing the same experiences from different perspectives. (Eagleton 2008: 319) 220 Der Isolation des Individuums, die sich sprachlich nicht überbrücken lässt, wird durch die Einführung eines mythisch-kosmischen Seinsgrund entgegengewirkt, weil diese die Teilhabe an einer allumfassenden Ganzheit verspricht. Zwar mag das Subjekt sich isoliert fühlen, doch lenken die untergründigen Verknüpfungen zwischen den Figuren die Aufmerksamkeit darauf, dass die Teilhabe an einem gemeinschaftlichen Sein auf einer existentiellen Ebene erfahrbar ist. 221 Darüber hinaus bietet dieser Urgrund des Seins einen stabilisierenden Anker gegen die Schnelllebigkeit der modernen Welt. die Feier als ein sozial-integratives Ereignis wertet: „Clarissa’s rôle as hostess is aptly symbolised in her sewing - drawing together the folds of her dress with her needle - drawing people together at her party.“ (Hawthorn 1975: 86) Für eine Interpretation der Szene als ein moment of being siehe Lusin (2007: 284-286). 220 Eine ähnliche Lesart hat auch Quick (1974: 129-130) formuliert. Zum Scheitern von Kommunikation in Mrs. Dalloway siehe auch Hawthorn (1975: 24, 60). 221 Solch untergründigen Verknüpfungen zwischen den Figuren erfolgen u.a. mittels der Wasser- und Netzbildlichkeit in Mrs. Dalloway sowie der alter ego-Konstellation zwischen Clarissa und Septimus. Für eine detaillierte Analyse der Netz-Bildlichkeit und weitere „clusters of imagery“ (Dowling 1991: 60) in Woolfs Roman siehe Dowling (1991: 60-69). <?page no="252"?> 238 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Wie schwierig es ist, diese Kontingenzbannungsstrategie mit neuen Praktiken des Selbst zu verbinden, die Kontingenz valorisieren und einen produktiven Umgang mit der urbanen Kontingenzerfahrung erlauben, zeigt sich bei genauerer Betrachtung des positiv codierten Subjektmodells in Mrs. Dalloway. In seiner Differenzmarkierung zum bürgerlichen Moralsubjekt entspricht Woolfs Subjektmodell in großen Teilen der Form von Subjektivität, die Andreas Reckwitz (2006b) in seiner Studie über Subjektkulturen seit der Moderne als „Avantgarde-Subjekt“ (275) bezeichnet: Die Avantgarde-Bewegungen antworten auf die Friktionen bürgerlicher Subjektivität: Im Sinne einer Auseinandersetzung um die kulturelle Hegemonie werden Modernität im allgemeinen und die Modernität des Subjekts im besonderen offensiv umdefiniert. Das emphatisch moderne ist nun das transgressive Subjekt, eines, das sich in permanenten Grenzüberschreitungen übt und das Moderne im permanent Neuen, Sich-Verändernden, Wechselhaften, chronisch Ungeordneten und Kontingenten ausmacht, vor allem in einer unberechenbaren Selbstüberschreitung der Erfahrung auf der ästhetischen Ebene des Wahrnehmens und Erlebens. (ebd.: 280) Während das bürgerliche Moralsubjekt, so wie es am Beispiel von Daniel Deronda konturiert wurde, auf der Vorstellung einer konsistenten und ganzheitlichen Identität sowie der Forderung nach Selbstkontrolle beruht, ist das Avantgarde-Subjekt durch Diskontinuität und eine Exteriorisierung des Selbsts in Form von Transgressionsbewegungen gekennzeichnet. Im Folgenden sollen die Spezifika von Woolfs Subjektmodell genauer herausgearbeitet und vor allem gezeigt werden, auf welche Weise die mythisch beschworene Kollektivität letztlich durch Narzissmus ersetzt wird. 222 Es ist diese Ersetzungsbewegung, welche die Brüchigkeit der Kontingenzbannungsstrategien in Mrs. Dalloway offenbar werden lässt. Eine Schlüsselszene für das Verständnis des neuen Subjektmodells in Mrs. Dalloway bieten Clarissas Reflexionen, als sie sich in die Privatheit ihres Schlafzimmers zurückzieht: She pursed her lips when she looked in the glass. It was to give her face point. That was her self - pointed; dartlike; definite. That was her self when some effort, some call on her to be her self, drew the parts together, she alone knew how different, how incompatible and composed so for the world only one centre, one diamond, one woman who sat in her drawingroom and made a meeting-point […]; […] never showing a sign of all the other sides of her - faults, jealousies, vanities, suspicions […]. (MD: 40) In dieser Passage wird das essentialistische Subjektmodell, d.h. die Vorstellung eines kernhaften Selbst, als Fiktion ausgewiesen. Die eigentliche Existenzform ist ein Selbst, das in disparate Teile zerfällt und somit das Gegen- 222 Für eine Analyse von Woolfs Subjektbzw. Individualitätsbegriff in ihren nichtfiktionalen Schriften siehe V. Nünning (1990: 31-45). <?page no="253"?> Mrs. Dalloway 239 teil von „definite“ ist. Es sind soziale Erfordernisse („some call on her“), die das Subjekt dazu nötigen, sich als stimmiges, kernhaftes und berechenbares Selbst zu präsentieren. Das Subjekt bündelt sich auf ein Zentrum hin („pointed, dartlike“), wie im Bild des Diamanten zum Ausdruck gebracht wird. Entscheidend ist jedoch, dass das Subjekt um die Künstlichkeit dieses geschaffenen („composed“) einheitlichen Selbst weiß. 223 Das scheinbar definite und kernhafte Selbst, das Clarissa bei sozialen Anlässen präsentiert, ist das einer ‚perfect hostess‘, wie Peter ihr vorwirft. Dabei werden alle Identitätsfacetten ausgeblendet, die nicht zu dieser Rolle passen. Das Schicksal von Septimus, der nicht mehr in der Lage ist, ein solch scheinbar stimmiges Selbst zu entwerfen, verdeutlicht, dass das (soziale) Überleben in der Gesellschaft von der Fähigkeit abhängt, zwischen diesen beiden Modi - der indefiniten und der scheinbar definiten Identitätsform - bewusst wechseln zu können. Die eigentliche Existenzform des Subjekts entspricht einem indefiniten Sein: Das Subjekt zerfällt in heterogene Teile. Diese zentrifugale Qualität des Selbst erklärt, wieso diese Subjektform in Mrs. Dalloway wiederholt mit dem Motiv des Meeres, d.h. einer ozeanischen Entgrenzung, und dem Tod als radikalste Form der Entgrenzung verknüpft wird. Angesichts dieser heterogenen Disparatheit und Entgrenzung des Subjekts stellt sich jedoch die Frage, wodurch ein solches Selbst ein Mindestmaß an Stabilität erhält. Einen entscheidenden Hinweis zur Beantwortung dieser Frage liefert Clarissas „transcendental theory“ (MD: 167). In Übereinstimmung mit der Selbstüberschreitungsbewegung des Avantgarde-Subjekts, so wie sie im obigen Zitat von Reckwitz beschrieben wurde, vertritt Clarissa die Vorstellung einer Exteriorisierung des Selbst: she felt herself everywhere; not ‚here, here, here‘; and she tapped the back of the seat; but everywhere. […] So that to know her, or any one, one must seek out the people who completed them; even the places. Odd affinities she had with people she had never spoken to […] - even trees, or barns. It ended in a transcendental theory which, with her horror of death, allowed her to believe, or say that she believed (for all her scepticism), that since our apparitions, the part of us which appears, are so momentary compared with 223 Für eine detaillierte Interpretation dieser Passage siehe auch Hawthorn (1975: 11): „[Clarissa] thinks that she is composed of incompatible parts, and the connotations of artificiality brought to mind by the word ‚composed‘ are focused more sharply by the diamond image, calling to mind artificiality and the Philistine display of wealth, as well as a certain hardness not suggestive of the sympathetically human.“ Hawthorn geht in seiner Interpretation auch auf die ambivalenten Codierungen der wiederkehrenden Diamanten-Bildlichkeit im Roman ein (vgl. ebd.). <?page no="254"?> 240 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive the other, the unseen part of us, which spreads wide, the unseen might survive, be recovered somehow attached to this person or that […]. (ebd.) 224 Auf den ersten Blick scheint es so, als ob diese Form des Weiterlebens nach dem Tod den Eintritt in eine mythische Kollektivität bedeutet. Die mythische Signatur würde demnach auf individueller Ebene weitergesponnen: Das Individuum ist auch nach seinem Tod weiterhin Teil des „ebb and flow of things“ (MD: 9). Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass das Selbst, das nach dem Tod weiterlebt, das formlose Selbst ist: „the unseen part of us, which spreads wide“. In der Forschung wird die oben beschworene Entgrenzung des Selbst durchweg als Bewegung hin zu Gemeinschaft gedeutet. Exemplarisch für solch eine Lesart sind Terry Eagletons Ausführungen: The self […] is a network of strands and fibres which curl around the roots of other lives, so that […] one is never the proprietor of one’s own being. The web which for George Eliot was a metaphor of society is now an image of personal identity. There is, then, an obscure region into which the self sends down its tentacular roots, a place far beyond language, where our lives are unconsciously intertwined. The two main characters of Mrs Dalloway, Clarissa and Septimus, feel a kind of vital contact with each other without ever meeting. (2008: 321) Allerdings verdeutlicht Clarissas transzendentale Theorie, dass gerade nicht die Teilhabe an einem mythischen Seinsgrund, der alles miteinander verbindet, zur Stabilisierung des disparaten Subjekts führt. Vielmehr ist es die Funktionalisierung des Anderen als eine eigene Facette, welche dem multiplen Selbst ein Mindestmaß an Stabilität verleiht: „one must seek out the people who completed them“ (MD: 167). Die Verbindung mit dem Anderen findet somit ausschließlich zu den eigenen Bedingungen statt, denn der Andere wird auf seine komplementierende Funktion reduziert. Es erfolgt keine Entgrenzung des Selbst im Sinne der Existenz eines Bereichs, der von allen geteilt wird. Das Netz ist nicht gemeinschaftlich. 225 224 Die Akkuratheit von Peters Erinnerungen an Clarissas „transcendental theory“ wird durch den Zugang zu Clarissas Bewusstseinstrom bzw. ihren Reflexionen über den Tod bestätigt: „did it matter that she must inevitably cease completely; all this must go on without her; did she resent it; or did it not become consoling to believe that death ended absolutely? but that somehow in the streets of London, on the ebb and flow of things, here, there, she survived, Peter survived, lived in each other, she being part, she was positive, of the trees at home; of the house there, ugly, rambling all to bits and pieces as it was; part of people she had never met; being laid out like a mist between the people she knew best, who lifted her on the branches as she had seen the trees lift the mist, but it spread ever so far, her life, herself.“ (MD: 9f.) 225 In der Sekundärliteratur zu Mrs. Dalloway herrschen große Divergenzen, was die Bewertung von Clarissa Dalloway betrifft. Während eine Gruppe von Kritikern in Clarissa lediglich einen oberflächlichen Snob sieht, werten andere Studien sie als eine <?page no="255"?> Mrs. Dalloway 241 Die Funktionalisierung des Anderen, um dem eigenen Auseinanderbrechen entgegenzuwirken, lässt sich besonders deutlich anhand von Clarissas Erleben des urbanen Raums veranschaulichen. Anhand der nachfolgenden Passage soll zunächst kurz auf die neuen Praktiken des Selbst in der Metropole eingegangen werden, bevor darauf aufbauend auf die narzisstische Logik dieser Praktiken eingegangen wird. Wie zuvor skizziert, führt die „Beschleunigung und Strukturierung von Gleichzeitigkeit wie Gleichräumlichkeit durch die Verkehrs-, Medien- und Organisationstechnologien“ (Reckwitz 2006b: 279) zu einer erhöhten Kontingenzerfahrung, die besonders verdichtet in der Metropole erlebbar wird. Durch die Ausbildung der „Dispositionen einer alltäglichen Ästhetisierung der Wahrnehmung“ (ebd.) wird eine Subjektform entworfen, die mit der soziologischen Kontingenzerfahrung in der Metropole umzugehen weiß. Insbesondere Clarissas Erleben der Metropole veranschaulicht diese neuen Praktiken des Selbst: For Heaven only knows why one loves it so, how one sees it so, making it up, building it round one, tumbling it, creating it every moment afresh; but regenerative Kraft (vgl. z.B. Gilbert/ Gubar 1989: 318) bzw. als „prototype of the artist“ (Quick 1974: 136), deren Medium Parties sind (vgl. Littleton 1995: 45: „Clarissa’s view is congruous with most analyses of the novel, which interpret her parties as an offering - fundamentally for other people and for the external force, not as acts with a principally private significance.“). Neuere Analysen, wie diejenige von Alex Zwerdling (1986: 137), betrachten Clarissa als eine Figur, die unter dem gesellschaftlichen Zwang der Konventionen ihre Ideale aufgeben musste. (Zu diesen unterschiedlichen Bewertungen Clarissas siehe auch Marder 1986: 52f.). Auffällig ist, dass in der Diskussion der unterschiedlichen Facetten von Clarissa die narzisstischen Gehalte ihrer ‚transcendental theory‘ ausgeblendet werden. Zwar existieren Analysen, die Clarissas narzisstische Projektionen behandeln, doch diese richten ihren Analysefokus vornehmlich auf die Schlussszene des Romans (d.h. Clarissas imaginative Identifikation mit Septimus) und nicht auf die Passagen, in denen eine ozeanische Entgrenzung des Ich propagiert wird. Die Vernachlässigung der narzissistischen Elemente in Clarissas ‚Todesphilosophie‘ lässt sich paradigmatisch anhand der Romananalyse von Marder (1986: 59f.) illustrieren: „Woolf defines identity in terms of overlapping visionary and social domains. On the visionary plane the self is open and luminous, a bit of mind-stuff within a flowing universal medium. Suspended like a cell in this plasma, the individual being knows other people, objects and ideas through direct experience, that is, by penetration and merging. The heroine of Mrs. Dalloway enjoys a transcendent consciousness in which, as Jean O. Love has suggested, all humans ‚take part and are at one, even while they experience illusions of separateness‘ [Love 1980: 146]. But this mythic vision is constantly qualified by Woolf’s social realism. Clarissa moves in fashionable society as if the other mythic world were non-existent. On the ‚sociological‘ plane the self is definite, impermeable and limited. […] Its sympathies are determined by narrow self-interest.“ Der von Marder (aber auch von anderen Kritikern) skizzierte internal split von Clarissa erklärt die unterschiedlichen Leserreaktionen auf diese Figur. Für die Frage nach der Behandlung der Kontingenzthematik in Mrs. Dalloway ist allerdings entscheidend, dass „self-interest“ auch auf Ebene der von Marder beschriebenen „visionary plane“ zu finden ist. <?page no="256"?> 242 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive the veriest frumps, the most dejected of miseries sitting on doorsteps (drink their downfall) do the same; can’t be dealt with, she felt positive, by Acts of Parliament for that very reason: they love life. In people’s eyes, in the swing, tramp, and trudge; in the bellow and the uproar; the carriages, motor cars, omnibuses, vans, sandwich men shuffling and swinging; brass bands; barrel organs; in the triumph and the jingle and the strange high singing of some aeroplane overhead was what she loved; life; London; this moment of June. (MD: 4) Das urbane Kaleidoskop an fragmentarisierten Sinneseindrücken (z.B. „people’s eyes“, „the bellow and the uproar“) regt Clarissa dazu an, eine „quantitative Potenzierung, eine qualitative Intensivierung und eine sequentielle Diskontinuierung dieser Reize zu betreiben“ (Reckwitz 2006b: 295). Diese dynamische Verflechtung zwischen innerpsychischem und externem Geschehen wird in der obigen Passage durch die Parallelstruktur der asyndetischen Reihungen inszeniert. Das hektische Chaos der urbanen Sinneseindrücke, die durch die asyndetische Reihung „In people’s eyes, in the swing, tramp [….] and the strange singing of some aeroplane overhead“ manifest wird, korrespondiert mit dem aufs innerpsychische Geschehen bezogene Asyndeton „making it up, […] creating it every moment afresh“. Das Leben erscheint für Clarissa nicht als ein Prozess organischer Entwicklung, vielmehr wird die Lebenswelt in Form einer diskontinuierlichen Kette von intensiven Augenblicksmomenten erfahren. Das Subjekt bildet dabei die Instanz, welche diese Momente schöpferisch entwirft und wieder zusammenfallen lässt. Die neuen Praktiken des Selbst betonen und bejahen das Kontingente innerhalb des Subjekts, wie es sich etwa in Form des unkontrollierbaren Bewusstseinsstroms zeigt. Dieses Subjektmodell in Mrs. Dalloway erklärt, wieso die identifizierten Zwänge der abstrakten Gesellschaft sich bei Woolf, im Gegensatz zu Conrad, nicht zur Diagnose einer vollständigen Fremdbestimmung des Subjekts verdichten. Die schöpferische Kraft des Subjekts sowie dessen Partikularität widersetzen sich Vereinnahmungsversuchen seitens der kapitalistischen Disziplinargesellschaft. Clarissas Erlebnisperspektive belegt allerdings zugleich die narzisstische Logik, welche diese neuen Praktiken des Selbst unterfüttert. Clarissa erfährt London deshalb als glückhaft, weil sie sich im urbanen Raum nicht genötigt fühlt, ein kernhaftes Selbst zu präsentieren. Sie glaubt, in dem ‚ebb and flow of things‘ der Londoner Straßen aufzugehen. Allerdings erscheint der Andere nur in seiner ‚Ankerfunktion‘ für ihr eigenes Selbst. Ihr Selbst wird dadurch stabilisiert, dass sie den Anderen als Quelle oder ‚Material‘ der eigenen ästhetischen Identitätsarbeit nutzt (vgl. MD: 4: „creating it“). Im Zuge dieser narzisstischen Logik projiziert sie beispielsweise ihre eigenen Glücksgefühle auf „the most dejected of miseries sitting on doorsteps“ (MD: 4). <?page no="257"?> Mrs. Dalloway 243 Die drohenden Pathologien dieser neuen Subjektform verdichten sich in Septimus’ Identitäts- und Welterleben, weil diese alter ego-Figur in vielfacher Hinsicht als eine übersteigerte Form von Clarissas Identitätsentwurf gelesen werden kann. 226 Die Exteriorisierung des Selbst hat sich bei ihm zu der Unmöglichkeit potenziert, zwischen Selbst und Welt unterscheiden zu können. Auch bei Septimus kommt die „momentorientiere Semantik modernistischer Zeitlichkeit“ (Reckwitz 2006b: 293) zum Tragen. Bezeichnenderweise ist der Moment, in dem er sich besonders intensiv mit dem Weltganzen verbunden fühlt, jedoch zugleich der Gipfelpunkt seines Gefangenseins im Solipsismus (vgl. MD: 24-26). Statt Konnektivität herrscht Diskonnektivität. Die narzisstische Grundstruktur von Clarissas Identitätsarbeit hat sich bei Septimus zu Solipsismus gesteigert. Das positiv codierte Subjektmodell, das als Alternative zum rationalen Vernunftsubjekt eines Bradshaws oder Holmes’ eingeführt wird, birgt somit narzisstische Elemente. Narzissmus bedeutet immer auch eine Bannung von Kontingenz in Form des Individuell-Partikularen, weil der Andere nicht als solcher wahrgenommen wird. Allerdings umfasst das neue Subjektmodell eine Reihe von Elementen, welche einer solchen Kontingenzbannung klar entgegenstehen. Gedacht sei vor allem an die positive Codierung einer Rezeptivität des Subjekts. Diese Rezeptivität bedingt, dass man nicht mehr versucht, die Welt nach dem eigenen Willen (notfalls gewaltsam) zu formen. Zur Kontingenzaffirmation gehört ebenso die Wertschätzung von Uneindeutigkeit, wie sie in Clarissas nostalgischen Erinnerungen an Bourton zum Ausdruck gebracht wird. In Clarissas Erinnerungen steht Bourton für eine Zeit der Offenheit und Experimentierfreudigkeit, in der noch kein Zwang herrschte, ein kernhaftstimmiges Selbst präsentieren zu müssen. So kann beispielsweise die aufblühende lesbische Liebe zu Sally sowie die Begeisterung für sozialistische Ideen als ein Zeichen für einen solchen größeren Freiheitsraum gewertet werden. Das Subjekt hat noch nicht dem Druck nachgegeben, gesellschaftlich konform zu leben. Angesichts der Tatsache, dass die herrschenden Schichten eine rigide Gefühlskontrolle fordern, überrascht es nicht, dass Clarissa ausgerechnet in Bourton ihre intensivste Gefühlsbindung erlebt. Wenn vorhin im Zusammenhang von Clarissas bewusstem Entwurf eines „dartlike; definite“ (MD: 40) Selbst gesagt wurde, dass die Fähigkeit zur gesellschaftlichen Konformität ein wichtiger Überlebensfaktor ist, so kann dies im wortwörtlichen Sinne verstanden werden. Diesen Punkt verdeutlichen die Ereignisse in Bourton. Bourton erscheint in Clarissas Erinnerungen als Erfahrungsraum weiblicher Bindungen: „the female-centered world anterior to heterosexual 226 Für eine konzise Übersicht der textuellen Signale, die auf eine alter ego-Konstellation hindeuten, siehe Hawthorn (1975: 29f.) und Showalter (1994: 145f.). <?page no="258"?> 244 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive bonds“ (Abel 1989: 34). Diese pastorale Welt wird durch eine maskuline Intervention beendet (vgl. ebd.: 32): Then came the most exquisite moment of her whole life passing a stone urn with flowers in it. Sally stopped; picked a flower; kissed her on the lips. […] The others disappeared; there she was alone with Sally. And she felt that she had been given a present, wrapped up, and told just to keep it, not to look at it - a diamond, something infinitely precious, wrapped up, which, as they walked (up and down, up and down), she uncovered, or the radiance burnt through, the revelation, the religious feeling! - when old Joseph and Peter faced them: ‚Star-gazing? ‘ said Peter. It was like running one’s face against a granite wall in the darkness! It was shocking; it was horrible! (MD: 38f.) Interessant an dieser Textpassage ist die Wiederkehr der Diamanten- Bildlichkeit. So wie Clarissa zuvor ihr Selbst auf ein Zentrum hin gebündelt hatte, so gibt sie ihrer Lebensgeschichte retrospektiv ein Zentrum. Bourton erscheint als wichtigste Phase in ihrem Leben. Sie fokussiert ihre gesamten Erinnerungen auf Sally, genauer gesagt auf den Moment, bevor die pastorale Welt verlorenging. Das bedrohliche Potential, das der maskulinen Intervention anhaftet, zeigt sich drastisch anhand des plötzlichen Unfalltods von Clarissas Schwester (Sylvia), die in ihrer Jugend von einem Baum erschlagen wurde: „[A]ll Justin Parry’s fault - all his carelessness“ (MD: 85). Aufgrund der pastoralen Anklänge von Sylvias Namen erscheint eine edenische Existenzform abermals durch das Patriarchat beendet, wie es durch den phallischen Baum und dem Vater als Verursacher des Unfalls aufgerufen wird (vgl. Abel 1989: 33ff.; Minow-Pinkney 1993: 108). Angesichts der Tatsache, dass das pastorale Bourton für eine offenere Existenzform steht, die Experimentieren erlaubt, lässt sich Sylvias Tod als gesellschaftliche Sanktionierung dieser Offenheit interpretieren. 227 Sylvias (aber auch Septimus’) Schicksal zeigen, was passiert, wenn das Subjekt sich nicht auf eine klar definierte Identität festlegen lässt: „To behave ‚like a lady‘, as patriarchy’s ‚perfect hostess‘, is thus a cautious programme for survival.“ (Minow-Pinkney 1993: 108f.) Die Kontrastierung der Bourton-Zeit mit der Gegenwartsebene des Romans zeigt nicht nur, wie junge Menschen im Zuge ihrer Sozialisation ihre Ideale verlieren. 228 Darüber hinaus wird auf einer tiefenstrukturellen Ebene die Gesellschaftskritik fortgesetzt, die im Zusammenhang mit der historischen Kontingenzerfahrung des Krieges ausgeführt wurde: die Kri- 227 Vor diesem Hintergrund erscheint es nur konsequent, wenn Septimus, der besonders ausgeprägt die Auflösung eines ganzheitlich-konsistenten Selbst verkörpert, die Forderung aufstellt: „Men must not cut down trees.“ (MD: 26) 228 Vgl. zu einer solchen Deutung Zwerdling (1986: 136f.). <?page no="259"?> Mrs. Dalloway 245 tik an einem Identitätsdenken, das Uneindeutigkeit und Nicht-Konformität drastisch bestraft. Clarissa verspürt nach dem Verlust der edenischen Bourton-Welt eine innere Zerrissenheit, die aus der Spannung zwischen ihrem eigentlichen formlos-disparaten und dem sozial geforderten Selbst herrscht. Innerhalb der Disziplinargesellschaft ist eine gesellschaftliche Anpassung, auch um den Preis der inneren Zerrissenheit, jedoch eine notwendige Überlebensstrategie. Zwar herrscht innerhalb der dargestellten Textwelt keine uneingeschränkte Kontingenzöffnung für neue Praktiken des Selbst, weil gesellschaftliche Zwänge dominieren. Allerdings hebt die Valorisierung eines indefiniten Selbst im Roman die Kontingenzinvisibilisierung auf, durch die das herkömmliche Modell des bürgerlichen Moralsubjekts naturalisiert wurde. Mit Blick auf den Umgang mit Kontingenz hinterlässt das neue Subjektmodell, so wie es anhand von Clarissa prägnant gestaltet wird, einen ambivalenten Eindruck. Auf der einen Seite kann in mehrerer Hinsicht eine klare Kontingenzaffirmation festgestellt werden. Die neuen Praktiken des Selbst ermöglichen dem Subjekt, mit der soziologischen Kontingenzerfahrung umzugehen, indem aus den fragmentarisierten und beschleunigten Sinneseindrücken ästhetischer Genuss gewonnen wird (vgl. Reckwitz 2006b: 313). Dabei wird eine „radikale Außenorientierung mit radikaler Innenorientierung“ (ebd.: 327) verknüpft, denn die „Elemente der Außenwelt [existieren] nicht als Objekte des Handelns, sondern als Gegenstände der Wahrnehmung“ (ebd.). Während das bürgerliche Moralsubjekt sein Handeln auf Basis der sorgfältigen Beobachtung des eigenen Inneren ausgerichtet hatte, 229 wird in Mrs. Dalloway ein Subjekt valorisiert, „das die äußeren Reize zum Aufbau einer außergewöhnlichen inneren ästhetischen oder emotionalen, einer psychischen Komplexität verwendet, die weit über die psychische Struktur des spätbürgerlichen Subjekts hinausgeht“ (Reckwitz 2006b: 331). Der Vorstellung eines homogenen Subjekts wird dabei eine entschiedene Absage erteilt. Stattdessen präsentiert Woolfs Roman „Fluidität und bewusste Heterogenität […] als erstrebenswerte und zugleich ‚natürliche‘ Eigenschaften des Subjekts“ (ebd.: 293). Damit wird Kontingenz im Sinne des Unverfügbaren und Zufälligen in das Subjekt hineingenommen, denn der dargestellte assoziative Bewusstseinsstrom der Figuren entzieht sich dem kontrollierenden Zugriff des Individuums (vgl. auch ebd.: 296). Neben der Kritik an einer Verabsolutierung instrumenteller Rationalität zugunsten einer größeren Rezeptivität des Subjekts gehört zu dieser Kontingenzaffirmation auch das inszenierte „momentanistisch[e] Zeitbewusstsein“ (Reckwitz 2006b: 326). Demnach orientiert sich das Subjekt „weder an 229 Vgl. Reckwitz (2006b: 331). Ein illustratives Beispiel für diese Form der „klassische[n], moralorientierte[n] Bürgerlichkeit“ (ebd.) liefert Daniel Derondas Ratschlag an Gwendolen: „Turn your fear into a safeguard“ (DD: 452). <?page no="260"?> 246 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive der langfristigen Sequenz der eigenen Biografie noch an Zusammenhängen, welche die Biografie transzendieren (Familie, Gesellschaft)“ (ebd.: 326f.), wie es noch bei Daniel Deronda der Fall war, „sondern am singulären, gegenwärtigen Moment“ (ebd.: 327). Eine Dimension dieses momentanistischen Zeitbewusstseins bildet der fließende Wechsel zwischen dem present self und dem past self, d.h. die kontinuierliche Präsenz der Vergangenheitsebene in der Bewusstseinswelt der Figuren. Die Erinnerungen an das eigene, jüngere Selbst können beim diskontinuierlichen Augenblickserleben eine identitätsstabilisierende Funktion ausüben, weil sie dem Subjekt das Gefühl von Kontinuität durch die Zeit bieten können. 230 So sieht sich beispielsweise Peter Walsh immer noch als der abenteuerlustige Held seiner Jugendzeit, und diese Identitätskontinuität wird durch verschiedene Textelemente semantisch abgerundet (z.B. durch die Wahrung seiner Angewohnheit, mit seinem Taschenmesser zu spielen). Zu dieser Kontingenzaffirmation treten jedoch Momente hinzu, die auf eine problematische Kontingenzbannung zielen. Die Kontingenzbannungsstrategien gehen mit der Abwehr der drohenden Isolation des Subjekts einher. So ermöglicht die Verbindung des Subjekts zu einem mythischen Seinsgrund nicht nur den Eingang in ein ganzheitlich-gemeinschaftliches Sein, sondern verheißt auch eine der Flüchtigkeit der modernen Welt zugrundeliegende Ordnung. Auf Ebene des Subjekts verbindet sich diese Denkfigur mit einer narzisstischen Logik, welche Kontingenz im Sinne des Inkommensurablen schließlich wieder ausblendet. Der Versuch, die Teilhabe an einem kosmischen Urgrund mit den neuen Praktiken des Selbst zu verknüpfen, scheitert, weil die ästhetisierende Haltung zur Welt dazu einlädt, „das andere Subjekt weniger als Interaktionspartner denn als symbolische Projektionsfläche zu betrachten“ (Reckwitz 2006b: 328). Clarissa selbst ist sich des blinden Flecks in ihrer ‚transcendental theory‘ nicht bewusst. Es gehört zur Komplexität von Woolfs Roman, dass sich im Text jedoch klare Signale finden lassen, welche die Aufmerksamkeit auf die Gefahren 230 Vgl. Miller (1982: 184). Zur ambivalenten Codierung von Zeit im Roman siehe DiBattista (1980: 33): „Time contributes to the stability of personality in its role as the preserver, the advocate of the individual self in the uniqueness of experience. On the other hand, time is the destroyer, the agent of mutability and change, the threat to continuity […].“ Zu dem Zusammenspiel unterschiedlicher Zeitkonzeptionen sowie der Bedeutung von Erinnerung für die Identitätsarbeit in Mrs. Dalloway siehe Birke (2008: 111-122), V. Nünning (2002: 303-307) und Lusin (2007: 157-159, 177-179, 257-261, 280-287). Im Gegensatz zu vielen zeitgenössischen ‚fictions of memory‘ steht der Wahrheitsgehalt von Erinnerungen in Mrs. Dalloway außer Frage: „Septimus’ war experience overshadows his earlier memories - but it is not the access to the past as such that is presented as precarious in this novel. A direct tapping into past experience appears possible in this work“ (Birke 2008: 121). Zum Gattungsbegriff ‚fictions of memory‘ siehe Birke (2007). <?page no="261"?> Mrs. Dalloway 247 dieses blinden Flecks lenken. Die Tatsache, dass „das Soziale […] zum Objekt der Ästhetik [wird]“ (Reckwitz 2006b: 313), zeigt sich nicht nur in Clarissas Wahrnehmung der Obdachlosen Londons, sondern auch in ihrem Glauben, dass ihre sinnliche Haltung zur Welt unter Verzicht auf rationalistische Zurichtungen den „Albanians, or was it the Armenians? “ (MD: 132) hilft. Zwar werden in Mrs. Dalloway die Göttinnen Proportion und Conversion durchaus als kriegsfördernde Faktoren bewertet. Dennoch verdeutlicht der Verweis auf den Genozid an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs, dass angesichts dieser historischen Realität eine Ästhetisierung des Sozialen zum Teil des Problems wird. 231 Insgesamt bleiben in Mrs. Dalloway die Spannungsmomente zwischen einer Kontingenzaffirmation und einer -bannung in ihrer Widersprüchlichkeit bestehen. Das Wechselspiel zwischen Kontingenzaffirmation und -bannung durchwirkt auch die Auseinandersetzung mit der Wahlfreiheit des Individuums in Mrs. Dalloway. Im Vordergrund steht dabei die Frage, ob die getroffene Wahl zu einem guten Leben geführt hat. Da die Wahlfreiheit eine wesentliche Dimension der modernen Kontingenzerfahrung bildet, soll dieser Aspekt in einem eigenen Unterkapitel nachfolgend beleuchtet werden. 3.3 Kontingenzbewusstsein und das Problem der Wahl Die Befreiung des Individuums aus traditionellen Bindungen und verpflichtenden Vorgaben geht damit einher, dass der Einzelne mit der Notwendigkeit konfrontiert wird, kontinuierlich wählen zu müssen. Aus diesem Grund wird die Moderne häufig auch als „die Epoche der Wahl“ (Schmid 1998: 188) bezeichnet. Die Literatur beobachtet dabei seismographisch, in welchen Bereichen sich wählbare Optionen für das Individuum eröffnen. In Daniel Deronda sehnt sich beispielsweise Gwendolen vergeblich danach, dass ihr dieselben Wahloptionen wie einem Mann offenstehen. Demgegenüber verdeutlichen Elizabeths Gedanken an ihre berufliche Zukunft in Mrs. Dalloway, wie Wandlungen im Geschlechterverhältnis zu Kontingenzöffnungen in der Nachkriegsgesellschaft geführt haben. Allerdings verdeutlicht Miss Kilmans Schicksal zugleich, dass diese Kontingenzöffnungen wiederum klassenspezifisch sind. Während für Clarissas Tochter ein Spektrum an Möglichkeiten für die Gestaltung ihrer Zukunft 231 Siehe auch Minow-Pinkney (1993: 104): „Clarissa’s […] point is that callousness of feeling causes oppression, and that it is therefore useless to react to injustice with the very kind of insensitivity which brought it into being in the first place. She rejects politics as incompetent […]. However, a world groaning under injustice can hardly wait for a total change of the political system brought about by simply loving roses. Mrs Dalloway is such a ‚pure‘ revolutionary that she ends up being reactionary. […] This view is a further consequence of the Romantic suspicion of abstract political thought, and its effect is to leave Clarissa in a state of total political quiescence.“ <?page no="262"?> 248 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive offensteht, fristet Miss Kilman trotz ihrer exzellenten Qualifikationen ihr Dasein nur knapp oberhalb des Existenzminimums, da sie ihre lukrative Stelle aufgrund freundlicher Äußerungen über Deutschland verloren hat. Im Gegensatz zu Peter Walsh kann Miss Kilman nicht auf ein middle upper class bzw. upper class-Netzwerk zurückgreifen, um beruflich wieder Fuß zu fassen. Die Kontingenzöffnungen innerhalb gesellschaftlicher Bereiche (z.B. Berufswelt) stellt das Individuum vor die Schwierigkeit, überhaupt eine Wahlentscheidung treffen zu können, da traditionelle Orientierungsrahmen zunehmend erodieren (vgl. Schmid 1998: 189). Die Wahlentscheidung ist aber deshalb so wichtig, weil es darum geht, ein gutes Leben zu führen, und zwar im Sinne eines bejahenswerten Lebens (vgl. ebd.: 245). Die Schwierigkeit zu entscheiden, welche Option zu einem guten Leben führt, zeigte sich an prominenter Stelle bei Daniel Deronda, der sich lange Zeit passiv treiben ließ aufgrund seiner Fähigkeit, sämtliche Positionen empathisch einnehmen zu können. In George Eliots Roman wird das Wahldilemma durch Rückgriff auf ein problematisches organizistisches Paradigma gelöst, das Kriterien für die richtige Wahl bereitstellt. In The Secret Agent stellt sich die Frage nach der richtigen Wahl nicht mehr, da das Subjekt im Zuge seiner Verdinglichung seine Handlungsmächtigkeit einbüßt. In Mrs. Dalloway wird das moderne Wahldilemma vor allem durch die Darstellung von Clarissas Erlebnisperspektive erkundet. Clarissas Möglichkeitssinn äußert sich darin, dass für sie die in ihrer Jugend getroffene Wahl des Ehemanns keine abgeschlossene Entscheidung ist. Vielmehr wird die Wahloption zwischen Richard oder Peter imaginativ offengehalten, indem sie immer wieder beide Alternativen einander gegenüberstellt: „So she would still find herself arguing in St. James’s Park, still making out that she had been right - and she had too - not to marry him.“ (MD: 8) Für Clarissa ist die Beantwortung der Frage, ob sie mit der Wahl ihres Ehemanns richtig gehandelt hat, deshalb so wichtig, weil sie damit gleichzeitig prüfen kann, ob ihr Leben insgesamt bejahenswert ist. Clarissas Gedanken an ihre Eltern belegen den hohen Stellenwert, die der Frage nach dem Führen eines bejahenswerten Lebens zukommt: For she was a child […] and at the same a grown woman coming to her parents who stood by the lake, holding her life in her arms which, as she neared them, grew larger and larger in her arms, until it became a whole life, a complete life, which she put down by them and said, ‚This is what I have made of it! This! ‘ And what had she made of it? What, indeed? (MD: 46) Die Frage nach dem guten Leben stellt sich nur aufgrund der existentiellen Zeitdimension (vgl. Kap. II.3.3), d.h. der Endlichkeit des Lebens, oder, mit den Worten Heideggers formuliert, aufgrund des ‚Sein zum Tode‘ (vgl. Schmid 1998: 88). „Würde es diese Grenze nicht geben, wäre die Gestal- <?page no="263"?> Mrs. Dalloway 249 tung des Lebens gleichgültig.“ (ebd.) Für Clarissa stellt sich die Frage nach einer gelungenen Lebensgestaltung umso drängender, gerade weil sie sich ihres nahenden Todes bewusst ist. Sie hat eine sehr schwere Krankheit überstanden, die sie sichtlich gealtert zurückgelassen hat. Ihre Gedanken an den Tod werden zudem durch ihre Menopause und die damit verbundene Beendigung des biologischen Reproduktionszyklus verstärkt (vgl. auch Showalter 1994: 127). In Clarissas Erinnerungen und in ihrem Interaktionsverhalten mit Peter offenbart sich ein wesentlicher Grund, wieso sie sein Liebeswerben damals abgelehnt hat. Es sind seine unablässigen Versuche, Zugang zu ihrer Innerlichkeit zu erhalten, die sie als unerträglich empfindet: For in marriage a little licence, a little independence there must be between people living together day in day out in the same house, which Richard gave her, and she him. […] But with Peter everything had to be shared; everything gone into. And it was intolerable […]. (MD: 8) Angesichts von Clarissas Wertschätzung einer Entgrenzung des Selbst erscheint dieser Ablehnungsgrund auf den ersten Blick überraschend. Da Clarissa eine weiblich codierte Form der Entgrenzung schätzt, löst sich dieser Widerspruch jedoch auf; dieser Form der Entgrenzung wird durch die maskuline Intervention - vor allem derjenigen Peters nach Sallys Kuss - Einhalt geboten. Tatsächlich kann sich Clarissa innerhalb der patriarchalischen Gesellschaft nur in der Privatsphäre ihres Zimmers ungestört zu ihrem eigentlichen formlos-disparaten Selbst verhalten. Wie Beate Rössler in ihrer Studie über Der Wert des Privaten (2001) betont, sind bestimmte Formen des praktischen Selbstverhältnisses - Deliberationen über konfligierende Wünsche und Selbstbilder, über die Genese von Wünschen usf. -, als Bedingung autonomer Entscheidungen, und ein daraus resultierendes autonomes Leben und Verhalten […] als gelungene nur zu entwickeln, wenn es geschützte private Bereiche und Dimensionen des Lebens gibt. (137) Da Peter solche Räume der Privatheit Clarissa nicht zugestehen würde, beruht ihre Entscheidung für Richard auf dem Wunsch nach einer autonomen Lebensführung (vgl. auch Littleton 1995: 52; Hawthorn 1975: 13). Clarissas entschiedene Verteidigung ihrer Privatheit zeigt sich besonders deutlich in ihrer Interaktion mit Peter Walsh. Als er sie unerwartet Zuhause aufsucht, macht sie Anstalten ihr Abendkleid wegzulegen: „like a virgin protecting chastity, respecting privacy“ (MD: 43; m.H.). Die im Vergleich aufgerufene sexuelle Codierung wird fortgeführt, indem Walshs Bemühungen, in Clarissas Innenraum einzudringen, mit seiner Angewohnheit verknüpft werden, dauernd mit seinem Taschenmesser zu spielen. Demgegenüber lässt Richard Clarissa im buchstäblichen als auch übertragenen Sinne einen Rückzugs- und Schutzraum zur Wahrung ihrer <?page no="264"?> 250 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Privatheit. Clarissa nutzt ihr privates Schlafzimmer im Speicher, um sich mit ihrem eigentlichen heterogenen Selbst und ihren getroffenen Wahlentscheidungen kritisch auseinanderzusetzen. Die Kargheit ihres Zimmers unterstreicht dabei die Distanzierung von ihrem sozialen Selbst, das sie bei gesellschaftlichen Anlässen inszeniert. Privatheit bezieht sich in einem grundlegenden Sinne auf Dinge, zu denen man „selbst den Zugang (konkret-physisch; metaphorisch) […] kontrollieren kann/ soll/ darf“ (Rössler 2001: 23). Clarissas Beispiel verdeutlicht das Ineinandergreifen von verschiedenen Dimensionen von Privatheit. Ihre privaten Räume umfassen nicht nur einen lokalen Raum, sondern auch den Körper sowie den psychischen Binnenraum. Diese drei Komponenten finden sich in verdichteter Form in ihrem privaten Schlafzimmer. In diesem lokalen Raum, der ihrer Nutzung vorbehalten ist, erinnern die weißen Bezüge von Clarissas Bett an ihr Gefühl, ihre Jungfräulichkeit und damit körperliche Integrität gewahrt zu haben. Zugleich bietet dieser Raum ihr die Ruhe, um mit ihren Gedanken alleine sein zu können. Genauso gut ließe sich jedoch argumentieren, dass mit dem ‚room of one’s own‘ erst die „Voraussetzungen geschaffen [werden] für das Gefühl körperlicher Integrität“ (ebd.: 270). 232 Die hohe Bedeutung von Privatheit zum Schutz der Autonomie des Subjekts gegen männlich codierte Penetrationsbemühungen wird nicht zuletzt durch Septimus’ Selbstmord verstärkt. Das Eindringen von Holmes, dem Repräsentanten einer kolonialisierenden Wissenschaft, in die Privaträume von Rezia und ihrem Mann treibt Septimus dazu, Selbstmord zu begehen. Diesem Selbstmord kommt umso mehr Gewicht zu, weil er Clarissas alter ego ist. Auf diese Weise wird implizit die überlebenssichernde Kraft von Privaträumen - in lokaler, körperlicher aber auch dezisionaler Hinsicht - für Clarissa erneut unterstrichen. Der Grund, wieso Clarissa sich mit ihrer getroffenen Wahl dennoch nicht abfinden kann, ist der Preis, den sie für ihre gesellschaftliche Konformität mit Richard zahlen muss: die innere Zerrissenheit. Es lässt sich argumentieren, dass die eigentliche Wahloption, der Clarissa nachtrauert, weniger Peter betrifft als vielmehr die mit der Bourton-Zeit verknüpfte formlosere Existenzform. Zu dieser Existenzform gehört eine spontane leibliche Expressivität, wie der unerwartete Kuss von Sally Seton verdeutlicht. Zwar verbindet Clarissa in ihrer Erinnerung diese Existenzform vor allem mit Sally, doch ist die anhaltende Faszination, die Peter auf sie in der Gegenwart ausübt, ebenfalls seinem Ausleben leiblicher Intimität und Emotionalität geschuldet. Sie schwankt zwischen zwei Männern, dem konventionellen Richard und dem abenteuerlustigen Peter, und dies gründet 232 Woolf selbst hat die Bedeutung von privaten Räumen für weibliche Emanzipationsbemühungen in A Room of One’s Own (1931 [1929]) thematisiert: „a woman must have money and a room of her own if she is to write fiction“ (6). <?page no="265"?> Mrs. Dalloway 251 sich darauf, dass Clarissa von der besonderen Form von Intimität angezogen ist, die durch gelebte körperliche Expressivität ermöglicht wird. 233 Richards Unfähigkeit, seiner Zuneigung für Clarissa körperlichen Ausdruck zu verleihen, zeigt, wie das Ausleben leiblicher Impulse durch rigide Verhaltenskonventionen in dieser Gesellschaftsschicht vollständig unterdrückt wird. Statt durch körperliche Expressivität versucht Richard, seine Liebe zu Clarissa durch den Kauf von Rosen zu artikulieren. Auf diese Weise rückt Warenfetischismus, d.h. die Aufladung der Ware mit Gefühlen und Wertungen, zwischen Clarissa und Richard in den Vordergrund und ersetzt körperliche Spontaneität und Nähe (vgl. MD: 126-131). Demgegenüber verweigert sich Peter einem solchen normalisierenden Oberschichtenkorsett, was womöglich ein Grund für seinen Außenseiterstatus ist. Seine fehlende Impulskontrolle zeigt sich auf der Gegenwartsebene deutlich, als er Clarissa in ihrem Zuhause aufsucht und spontan zu weinen anfängt, und zwar ohne jegliche Zurückhaltung oder Scham: and then to his utter surprise, suddenly thrown by those uncontrollable forces, thrown through the air, he burst into tears; wept; wept without the least shame, sitting on the sofa, the tears running down his cheeks. And Clarissa had leant forward, taken his hand, drawn him to her, kissed him, - actually had felt his face on hers before she could down the brandishing of silver-flashing plumes like pampas grass in a tropic gale in her breast, which, subsiding, left her holding his hand, patting his knee, and feeling as she sat back extraordinarily at her ease with him and light-hearted, all in a clap it came over her, If I had married him, this gaiety would have been mine all day! (MD: 50f.; m.H.) Peters Weinen veranlasst Clarissa dazu, ihn spontan zu berühren. Die körperliche Expressivität, die beide zeigen, führt zu einem Moment der Nähe, der von Clarissa als glückhaft („light-hearted“, „gaiety“) erlebt wird. Körperliche Berührungen sind eine Möglichkeit, sich der Nähe des Anderen zu versichern. Zwar hat Peter kein Gespür dafür, wie wichtig Clarissa ihre Privatheit ist, allerdings zeigt Clarissas innerliche Zerissenheit zwischen ihm und Richard, dass die von ihr erwünschte Privatheit und Zurückhaltung auch isolierend und kalt sein können (vgl. MD: 51: „and Richard, Richard! she cried, as a sleeper in the night starts and stretches a hand in the dark for help. […] I am alone for ever, she thought, folding her hands upon her knee.“ m.H.) Für die Frage nach dem Umgang mit Kontingenz bildet leibliche Expressivität eine wichtige Facette, denn Berührungen bewegen sich zwischen Widerfahrnis- und Gestaltbarkeitskontingenz. Im Fall des Kusses von Sally Seton und der oben beschriebenen Interaktion mit dem weinenden Peter erscheint die Berührung als verkörperlichte Intuition des Ge- 233 Diesen Hinweis verdanke ich Meinhard Winkgens. <?page no="266"?> 252 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive spürs für den Anderen. Die Intransparenz des Anderen ist nicht aufgehoben, doch ermöglicht die körperliche Expressivität eine besondere Form von Nähe. Auf diese Weise gewinnt die Beziehung zwischen intransparenten Individuen an Komplexität. Körperliche Expressivität, wie Peter sie lebt, wird mit verschiedenen Formen von Intimität verknüpft. Die Beschreibung von Peters Liebesbeziehung zu Clarissa und Freundschaft zu Sally Seton hebt die Erfahrung einer intensiven emotionalen und geistigen Intimität hervor. So erinnert sich Peter an einen „moment of great intimacy“ (MD: 54) mit Clarissa sowie an deren gemeinsame gedankliche Welt: „They went in and out of each other’s minds without any effort.“ (ebd.: 69) Dies deckt sich mit Clarissas Erinnerungen an ihre Zeit mit Peter (vgl. ebd.: 8: „with Peter everything had to be shared“). Analog dazu wird die Erfahrung von Intimität in der Freundschaft zwischen Peter und Sally betont: „They had been very, very intimate, she and Peter Walsh“ (ebd.: 205); „They had been so intimate - he and Sally Seton“ (ebd.: 210). In dieser erlebten Rede, in der zuerst Sally und dann Peter Fokalisierungsinstanzen sind, wird die damalige enge Verbindung zwischen den beiden Figuren durch die syntaktische Verschränkung im Chiasmus („she and Peter Walsh“; „he and Sally Seton“) sowie die fast identische Formulierung des Hauptsatzes („they had been […] intimate“) zugleich auf der formalen Ebene inszeniert. Auffällig an Clarissas Identitätsarbeit ist, dass Intimität zwar nach wie vor ein Sehnsuchtsideal ist, sie diese Nähe dennoch - trotz der durch Peters Ausbruch hervorgerufenen Glücksgefühle - als latent bedrohlich ausweist. Es ist Peters Messer, das in ihrer Wahrnehmung metonymisch für seine leibliche Expressivität steht, d.h. für seine fehlende Zurückhaltung, Grenzen einzuhalten. Wie zuvor beschrieben, werden sein Aufbrechen von Distanz und sein Eindringen in Privatheit auf diese Weise mit ‚Verletzung‘ in Verbindung gebracht. Clarissas Sorge um den Schutz von Grenzen (siehe oben) erklärt ihre Ambivalenz hinsichtlich körperlicher Intimität. 234 Clarissa entwickelt ein ausgeprägtes Kontingenzdenken, um mit ihrem emotionalen Schwanken zwischen Peter und Richard, d.h. zwischen zwei unterschiedlichen Existenzformen, umzugehen: In ihrer Imagination hält Clarissa nach wie vor beide Wahloptionen aufrecht. Einerseits wird auf diese Weise die getroffene Wahl, nämlich die Entscheidung für Richard, ihrer vermeintlichen Endgültigkeit beraubt und Peter als Alternative offengehalten. Andererseits kommt sie im Laufe des Tages zu einer Reaffirmation ihrer getroffenen Entscheidung, Richard gegenüber Peter vorzuziehen. Damit bejaht sie ihre Entscheidung als wesentliches Verwirklichungsmoment eines guten Lebens. Voraussetzung dieser Bejahung ist die Wahrnehmung einer Kontinuität zwischen ihrem gegenwärtigen und ver- 234 Gegen diese Logik kann kritisch eingewendet werden, dass körperliche Intimität nicht zwangsläufig das Aufgeben sämtlicher Privatheit bedeutet. <?page no="267"?> Mrs. Dalloway 253 gangenen Ich. Während Septimus’ Erinnerungen aufgrund ihrer traumatischen Qualität zu seinem Identitätsverlust beitragen, fördert Clarissas reflexive Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit das Gefühl einer Kontinuität des Selbst: „When Clarissa reaffirms her decision [not to marry Peter], she aligns past self with present. […] Reexamniation […] reveals who we are when we see how past connects with present.“ (Caramagno 1992: 233) Es ist die Nachricht vom Selbstmord eines jungen Mannes (Septimus), die als Katalysator für Clarissas Bejahung ihrer getroffenen Entscheidung dient. Die in der Forschung vielfach analysierte Schlüsselszene beschreibt ihren Rückzug vom Partygeschehen, um über die Bedeutung seines Suizids zu reflektieren. Im Kontext der vorliegenden Arbeit ist diese Szene deshalb so interessant, weil sich bei dem eingeführten Lösungsmodell für das Dilemma der Wahlfreiheit die mythischen Signaturen fortsetzen, und zwar gerade auch in ihren problematischen Dimensionen. Um diese Dimension genauer zu erfassen, ist es zunächst nötig, kurz darauf einzugehen, wieso sich Clarissa mit Septimus identifiziert. Die auffälligen motivischen Wiederholungen zwischen Clarissas imaginativem Nacherleben von Septimus’ Tod und ihren Erinnerungen an Bourton lenken die Aufmerksamkeit auf seine Stellvertreterfunktion für die Realisierung einer Wahloption, von der sie angezogen und fasziniert ist: der Tod als Möglichkeit zur Bewahrung der Integrität ihres indefiniten Selbst und den mit dieser Existenzform verbundenen Glücksgefühlen. A thing there was that mattered; a thing, wreathed about with chatter, defaced, obscured in her own life, let drop every day in corruption, lies, chatter. This he had preserved. Death was defiance. Death was an attempt to communicate, people feeling the impossibility of reaching the centre which, mystically, evaded them; closeness drew apart; rapture faded; one was alone. There was an embrace in death. But this young man who had killed himself - had he plunged holding his treasure? ‚If it were now to die, ‚twere now to be most happy,‘ she had said to herself once, coming down, in white. (MD: 202) Die Verquickung von Eros und Thanatos in dieser Passage resultiert aus Clarissas Deutung von Septimus Freitod als Versuch, die unüberbrückbare Isolation des Einzelnen im Leben zu überwinden: „There was embrace in death.“ Da Gemeinschaft nur über die Entgrenzung des Selbst erfahren werden kann, bedeutet die radikale Form der Entgrenzung im Tod zugleich eine Vereinigung mit dem Anderen sowie die Teilhabe am mystischkosmischen Urgrund. Nur im Tod und nicht bei der vergänglichen Leidenschaft ist dieses „embrace“ von Dauer. 235 Die Frage, ob Septimus beim 235 Bezeichnenderweise wird diese Denkfigur nicht nur durch das das leitmotivische Othello-Zitat aufgerufen, sondern auch durch die Erwähnung einer „stone urn with flowers“ (MD: 38; m.H.) in der Kussszene mit Sally. <?page no="268"?> 254 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Sturz „his treasure“ gehalten habe, richtet sich somit darauf, ob er sich durch diesen Akt den Moment der Leidenschaft und sein eigentliches, nicht gesellschaftlich angepasstes Selbst gewahrt hat. Clarissas eigenes sehnsüchtiges Verlangen betrifft genau diese zwei Aspekte. Indem Septimus Clarissa die einzige Alternative vor Augen führt, wie ihre Sehnsüchte eingelöst werden können, nämlich durch den Tod, ermögliche er es ihr, so die psychoanalytische Argumentation von Elizabeth Abel (1989), sich von ihrer Fixierung auf ihre Jugendzeit in Bourton zu lösen und die „imperfect pleasures of adulthood“ (ebd.: 40) anzunehmen. Ein deutliches Zeichen dafür, dass Clarissa sich weiterentwickle, sei ihre imaginative Wiederholung und Neubewertung der maskulinen Intervention in die pastorale Welt angesichts von Septimus’ Tod: ‚She had schemed; she had pilfered. She was never wholly admirable […]. And once she had walked on the terrace at Bourton‘ […] [MD: 203]. With this naming of the original scene, Woolf abruptly terminates Clarissa’s recollection, replaying with a brilliant stroke Peter Walsh’s interruption, the sudden imposition of the granite wall. This time, however, the masculine intervention is enacted not by Peter but by Richard, and not as external imposition but as choice. Clarissa’s unexpected thought of Richard abruptly and definitively terminates the memory of Sally, pivoting the scene from past to present, the mood from grief to joy […]. (Abel 1989: 40) Clarissa akzeptiere, dass eine Rückkehr zur „pastoral pre-Oedipal world“ (ebd.: 41) nicht möglich sei und so erscheine ihre Kontemplation der alten Dame von Gegenüber, „an emblem of age“ (ebd.: 40), statt ihres Schwelgens in Jugenderinnerungen als ein konsequentes Zeichen für ihre „positive commitment to development“ (ebd.). So bestechend Abels psychoanalytische Deutung der Schlussszene ist, unterschätzt sie dennoch den tatsächlichen Ausprägungsgrad von Clarissas Möglichkeitssinn. 236 „Commitment“ bedeutet Festlegung und dies ist ein Akt, den Clarissa bislang möglichst vermieden hat. Den Umstand, dass man in der Zeit nicht alle Optionen offenhalten kann, begegnet sie mit der Strategie der Imagination, die es erlaubt, die nicht realisierte Option als virtuelle Alternative aufrechtzuerhalten (vgl. Guth 1989: 22). Die Art und Weise, wie sie versucht, Septimus’ Gefühlswelt und mögliche Motive für seinen Selbstmord nachzuvollziehen, erlaubt es ihr, imaginativ den Freitod zur Bewahrung der Integrität des Selbst zu erleben, ohne sich jedoch auf ein konkretes Handeln festlegen zu müssen. Deborah Guth (1990) hat in diesem Zusammenhang detailliert die drei verschiedenen Deutungsmuster herausgearbeitet, die Clarissa anwendet, um Festlegungen zu vermeiden. 236 Ein weiteres Problem bei Abels positiver Deutung des Schlusses gründet darin, dass sie die hohen psychischen Kosten für Clarissas gesellschaftliche Anpassung ausblendet (vgl. zu dieser Kritik an Abels Interpretation Dowling 1991: 111). <?page no="269"?> Mrs. Dalloway 255 In Clarissas erster Deutung von Septimus’ Handeln sieht sie ihn in der Rolle des romantischen Rebellen, dessen Tod ein Akt des „defiance“ (MD: 202) ist (vgl. Guth 1990: 36). Da diese Zelebrierung seines Todes jedoch zur Nachahmung auffordert, wechselt Clarissa abrupt den Deutungsrahmen und entwirft Septimus stattdessen in der Rolle eines Opfers der Gesellschaft, insbesondere eines Opfers von Sir William Bradshaw (MD: 202; siehe Guth 1990: 37). Allerdings ist auch diese Deutung für Clarissa problembehaftet, da die „pagan configuration“ (Guth 1990: 37) sie in einem existentiellen Niemandsland zurücklässt (vgl. ebd.). Als dritte Interpretationsfolie führt Clarissa somit das Christentum ein. Nun erscheint Septimus in der Rolle von Christus, und Clarissa stilisiert sich zur mater dolorosa: [I]nosfar as Jesus’ death was freely assumed, this model legitimizes the substitution of one life for another without implicating Clarissa, as the pagan model would, in the actual sacrifice. It sanctifies her survival as part of a divine plan and transforms her from guilty beneficiary of another’s suffering into the intended object of a consious act of love. […] As mater dolorosa, she can grieve and rejoice at a death which in no way calls on her to follow, and be sanctified in her very passivity. (ebd.: 38) Die besondere Leistung des Opfermodells besteht somit darin, dass es „Passivität in bedeutsame Handlung“ (Brittnacher 2000: 92) verwandelt. Die Fragwürdigkeit von Clarissas Kontingenzbannungsstrategie wird besonders offensichtlich, wenn man ihre Rekonstruktion und Deutung der Ereignisse mit Septimus’ Erlebnisperspektive unmittelbar vor seinem Selbstmord kontrastiert. Als Grund für seinen Selbstmord erscheint seine Angst vor Holmes, der auf dem Weg zu ihm ist: „Holmes would get him“ (MD: 163). Der Sprung aus dem Fenster bietet aus Septimus’ Sicht die einzige Fluchtmöglichkeit. 237 Zwar kann Septimus Selbstmord als Akt zur Bewahrung seiner Autonomie gewertet werden - auch wenn seine Fähigkeit, autonome Entscheidungen zu fällen durch seine Traumatisierung stark eingeschränkt ist. Doch wird zugleich die von Clarissa später be- 237 Für eine ähnliche Deutung von Septimus’ Selbstmord siehe Guth (1989: 19f.). Demgegenüber lesen etwa van Buren Kelley (1973), Fleishman (1975: 87) und Hawthorn (1975: 33) Septimus’ Handlung als einen Akt des Gebens. Eine dritte Lesart bietet Marder (1986: 63): „The sacrificial leap is both an act of defiance and an admission of guilt. In part Septimus is defending his integrity, and in part he is collaborating with his oppressors. The confusion of motives emerges in his last cry, ‚I’ll give it you! ‘ (226), which telescopes a desire to punish Holmes, to punish himself, and simply to give his persecutors what they want.“ Während bei der Deutung von Septimus’ Selbstmord als freiwilligen Akt des Gebens sein Gefühl des in die Enge getrieben Werdens ausgeblendet wird, bleibt bei Marders Lesart erklärungsbedürftig, wieso sich Septimus auch aus Schuldgefühlen umbringt, da die Beschreibungspassage von seinem Suizid keine textuellen Signale hierfür bietet. Vielmehr wird Septimus’ Lebensfreude und die damit einhergehende Unwilligkeit zu springen betont: „He did not want to die. Life was good.“ (MD: 164) <?page no="270"?> 256 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive schworene Sinnstiftung durch das Opfermodell karikiert, indem Septimus sein Handeln als „tiresome, […] rather melodramatic business“ (MD: 163) bewertet. Er ist sich somit der potentiell zuschreibbaren Theatralität seines Handelns bewusst. Dementsprechend kann sein Ausruf „I’ll give it you! “ (MD: 164) als trotziger Bezug darauf gelesen werden, dass er mit seinem Selbstmord Holmes und Bradshaw „their idea of tragedy“ (MD: 163) bzw. das gewünschte Melodrama liefert. Die Stilisierung von Septimus als Opfer gesellschaftlicher Mächte, so wie Clarissa es im Rahmen ihrer zweiten Deutung vollzieht und wie es von Septimus’ Erlebnisperspektive kurz vor seinem Selbstmord nahegelegt wird, lässt sich als Element eines kulturkritischen Gegendiskurses zur Disziplinargesellschaft lesen. Die Widerständigkeit gegen die Disziplinargesellschaft erfolgt insbesondere über ein kritisches Offenlegen des Leidens des Individuums an den herrschenden Machtkonfigurationen. Als Gegenmodell zu Proportion und Conversion wird u.a. die Zelebrierung des Individuell-Partikularen und die Rezeptivität des Subjekts eingeführt. In einem scharfen Spannungsverhältnis zu dieser kulturkritischen Funktionalisierung des Opfermotivs steht Clarissas späteres Gutheißen von Septimus’ Selbstmord als eschatologische Handlung. Zielte der kulturkritische Gegendiskurs mittels des Opfermotivs zuvor noch auf eine gesellschaftliche Veränderung, vollzieht Clarissa demgegenüber eine Neutralisierung der Kritik an den Machtkonfigurationen der Moderne, indem sie Septimus als „Surroga[t] für die eingebüßten religiösen Sinnstiftungen“ (Brittnacher 2000: 91) nutzt: Statt in den ordnungsfeindlichen, sinnzersetzenden und konfliktträchtigen Parametern von Moderne und Rationalität nach Ordnung, Sinn und Einheit zu fahnden, greift das Opfer auf ein archaisches Lösungsmodell zurück, dem mit seinem unvordenklichen Alter zugleich überzeitliche Geltung zuwächst, um die Desintegrationserfahrungen der Moderne zu überwinden. (ebd.) Auf tiefenstruktureller Ebene ähneln sich somit die Logik der Zweckrationalität, wie sie die Disziplinargesellschaft durchwirkt, und die mythische Logik des Opfers, weil beide auf eine Kontingenzbannung zielen. Da das Opfer die „Allegorie einer fraglosen Ordnung [ist], in der selbst das Leiden als Vorbedingung des Heils seinen Platz hat“ (ebd.: 92), erfolgt eine Kontingenzschließung hinsichtlich gesellschaftlicher Veränderung. Zwar ist Widerfahrniskontingenz bzw. der Tod inmitten von Clarissas Party hineingebrochen („Oh! thought Clarissa, in the middle of my party, here’s death“; MD: 201). Allerdings funktionalisiert sie den Tod von Septimus zur Sinnstiftung und damit zu einer Entkräftung von Widerfahrniskontingenz. Die „moralische Dignitität“ (Brittnacher 2000: 93) des Opfers erlaubt „wieder das große Ja, die erlösende Geste der Zustimmung“ (ebd.) zu dieser <?page no="271"?> Mrs. Dalloway 257 souverän-sakralen Handlung. Nur vor diesem Hintergrund erklärt sich, dass Clarissa „so happy“ (MD: 203) zur Party zurückgehen kann. 238 Es stellt sich die Frage, ob einer dieser unterschiedlichen Funktionalisierungen des Opfermotivs - die ordnungskritische oder die ordnungsaffirmierende Funktion - im Roman als Ganzem überwiegt. Die auffällige Diskrepanz zwischen Clarissas Rekonstruktion und Deutung von Septimus’ Selbstmord und der zuvor gegebenen Innensicht von Septimus wirft ein kritisches Licht auf Clarissas Opfermodell. Ihre Deutungsarbeit erscheint als narzisstische Projektion, bei der sie den Anderen als Ersatzträger zum Ausagieren ihres libidinös besetzten Todestriebs nutzt. Das Ausblenden von Alterität (Kontingenz des Inkommensurablen) wird zudem dadurch unterstrichen, dass Clarissa nicht einmal den Namen von Septimus kennt; er ist lediglich „this young man“ (MD: 202). Andererseits tragen verschiedene Elemente im Roman dazu bei, dass die LeserInnen Clarissas Vision eines sakralen und damit sinnstiftenden Opfers potentiell als gültig anerkennen. Erstens greift Clarissa in ihrer Deutung die Selbstwahrnehmung von Septimus als Christusfigur auf. Es herrscht somit zumindest teilweise eine Perspektivenkonvergenz mit dem Opfer selbst. 239 Diese Perspektivenkonvergenz ist umso entscheidender als Clarissa sich von den negativ codierten Repräsentanten der Disziplinarmacht explizit distanziert: The glaring discrepancy between Septimus’s pathetic plunge and Peter’s smug approval as the ambulance carries him off (‚the triumphs of civilization‘) serves to make Clarissa’s vision of meaning appear an act of spiritual acknowledgement, a true resurrection of Septimus from the oblivion to which he has been whisked. Similarly her denunciation of the converters, 238 Siehe auch die Deutung von Dowling (1991: 82f.): „We must not lose sight of the facts. When Clarissa hears of Septimus’s death she is entertaining his murderer. The forces that restrained Clarissa from self-fulfillment in her youth are the same forces that caused both the war and Septimus’s derangement. English society is rotten to the core with the suppression of emotion, and Clarissa is simply the most sophisticated example of a hierarchy of efficient thought police. […] While Clarissa herself wishes for a symbolic absorption of Septimus, he actually remains a stubborn, unassimilable fact. Postwar English society does not integrate him but spits him out. […] When Clarissa threw her coin into the Serpentine she was demonstrating her wealth and position, as well as her optimism for the future. […] In effect, Septimus is flinging Clarissa’s filthy lucre back in her face, and Clarissa’s response is ghoulishly to feed off his disaster.“ 239 Es ist interessant, dass nicht nur Clarissa, sondern auch der traumatisierte Septimus auf das archaische Opfermodell zurückgreifen, um dem eigenen Leiden an der Welt eine Sinndimension abzuringen: „Look the unseen voice bade him, the voice which now communicated with him who was the greatest of mankind […], the Lord who had come to renew society, […] the scapegoat, the eternal sufferer, but he did not want it“ (MD: 27). <?page no="272"?> 258 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Holmes and Bradshaw, blurs the fact that she frees Septimus from their meanings only to impose her own. (Guth 1989: 24) Ein weiterer maßgeblicher Faktor, der Clarissas Sicht unterstützt, ist die Einbettung des sinnstiftenden Opfermodells in ein den Roman durchziehendes mythisches Muster. Durch die Meeresmotivik im Roman erscheint die wiederkehrende Bewegung des Auf und Ab als ‚the ebb and flow of things‘. Damit wird der Stadtraum „auf einer metaphorischen Ebene mit dem Naturraum - dem Meer - überblendet“ (Lusin 2007: 139). Gemäß dieser mythischen Struktur ermöglicht der Sturz von Clarissas alter ego- Figur ihre erneute Aufwärtsbewegung bzw. ihr ‚renewal‘, weil der imaginative Nachvollzug seines Todes es ihr ermöglicht, die Verbindung mit dem eigentlichen Sein zu spüren. 240 Durch die sakrale Opfermotivik gewinnt nicht nur das „dramatisch entmachtete Subjekt sein Souveränitätsrecht zurück“ (Brittnacher 2000: 93), sondern eine mythische Bedeutsamkeit des Lebens wird zugleich bestätigt. Der Fragmentarisierung des modernen Ichs und der erfahrenen Welt wird somit durch eine Rezeptivität für den existentiellen Rhythmus des Lebens entgegengewirkt: „To understand life, or achieve a ‚vision‘, […] a sympathetic ‚vibration‘ of rhythmical repetition must occur in the individual, in harmony with the rhythm that makes the ‚shape‘ in life’s chaos.“ (Marsh 1998: 160) In Mrs. Dalloway führt die offene Multiperspektivität, d.h. die Perspektiven der verschiedenen Figuren, nicht zur Inszenierung einer fragmentarisierten Wirklichkeitserfahrung ohne jegliche Einheitsmomente. Im Gegenteil: „Woolf’s narrative forms reveal an impulse to unity, but they must also be loose enough to accomodate different viewpoints within the whole“ (Eagleton 2008: 313). Gipfelpunkt dieser „impulse to unity“ ist Clarissas Party. Sie selbst sieht ihr Fest als ein „offering“ (MD: 133), weil in diesem künstlerischen Akt ihre Liebe zum Leben zum Ausdruck kommt und zudem ein Rahmen geschaffen werde, der ein integratives Zusammenkommen zumindest für eine kurze Zeit ermögliche. 241 Für 240 Vgl. auch Guth (1989: 18): „[T]he frame of ascent and descent has a prominent place, both because it expresses the rising and falling moods of Clarissa’s day and because it provides a means of access to the connexion between Clarissa and her symbolic double, Septimus. […] [W]hile the frame establishes the nature of this ‚unseen‘ bond and prepares the reader for the unity that Clarissa affirms at the end, its structural symmetry also serves to hide the self-deception on which this visionary experience of unity is based.“ 241 Für eine kritische Diskussion und Hinterfragung dieser Selbstsicht siehe Guth (1989: 24): „Clarissa never has to confront the reality of her double and grapple with the problems he invokes. Septimus lives and dies offstage, his presence in the text having served as a perfect foil for his total absence in her mind until after his death, when communion becomes an exercise in wish-fulfilment. In other words, Woolf’s careful construction of the double motif within the text leads the reader to see a form of reunification at the end while what in fact occurs is the imaginative appropriation of an <?page no="273"?> Mrs. Dalloway 259 die LeserInnen laufen mit Clarissas Party tatsächlich sämtliche Fäden zusammen, weil ein Großteil der verschiedenen Fokalisierungsinstanzen sowie die Personen, die in Form von Erinnerungen aufgerufen worden sind, an Clarissas Party teilnehmen. Selbst der tote Septimus ist im Zuge von Clarissas imaginativem Nacherleben seines Todes inmitten des Festes präsent. Der einheitsstiftende Impuls wird somit sowohl durch das physische Zusammenkommen verschiedener Figuren als auch durch die Verdichtung der mythischen Signaturen in Gestalt des Opfermodells am Ende des Romans besonders deutlich. Nicht zuletzt gehört zur einheitsstiftenden Form auch der Verzicht auf eine Unterteilung des Romantextes in separate Kapitel. 242 Eine gewisse Offenheit der einheitsstiftenden Form in Mrs. Dalloway wird durch die multiperspektivische Struktur des Romans gewahrt. Diese Multiperspektivität führt dazu, dass antagonistische Momente zur Einheitsstiftung bestehen bleiben, etwa in Gestalt textueller Signale, welche die Aufmerksamkeit auf die Gefahr narzisstischer Projektionen lenken. Zu diesen textuellen Signalen gehört zudem die Tatsache, dass Clarissas Bemühungen eines integrativen Zusammenkommens sich nur auf ihre eigene soziale Schicht richten (siehe hierzu auch Marder 1986: 65; Rosenfeld 1998: 147). 243 Trotz dieser Ambivalenzen im Text, die eine offene Form fördern, dominieren die mythischen Elemente im Roman und damit einheitsstiftende Impulse. 244 So wie Clarissa rezeptiv für den Rhythmus des Lebens ist, d.h. anonymous death.“ Ähnlich argumentiert auch Marder (1986: 64): „For psychological reasons having to do with her own dependence on the system, Clarissa can see Septimus’s triumph, but is blind to his defeat. Moved by Woolf’s narrative art, many readers have taken Clarissa’s equation of suicide and personal integrity more or less at face value. But it is hard to see how this attitude can be justified.“ Marder (1986: 64) setzt sich in diesem Zusammenhang kritisch mit Lesarten auseinander, die Septimus’ Suizid ausschließlich archetypisch oder symbolisch deuten, ohne dabei auf die Problematik des Opfermodells einzugehen. Für eine Interpretation von Clarissas Feier als ein lebensaffirmierendes und kommunales Ereignis siehe u.a. Showalter (1994: 153), Fleishman (1975: 87-89), Quick (1974: 134-136) und Hawthorn (1975: 85). 242 Viele Interpreten werten darüber hinaus auch die fließenden Übergänge zwischen den Fokalisierungsinstanzen als ästhetische Inszenierung von Clarissas ‚transcendental theory‘, d.h. der Vorstellung einer vernetzten Gemeinschaft, die auf existentieller Ebene besteht. (Zu einer solchen Lesart siehe exemplarisch Naremore 1973: 105). Allerdings hat die Analyse der skywriting-Szene gezeigt, dass bei genauerer Betrachtung diese Technik der fließenden Übergänge zugleich die Isolation der Figuren hervorheben kann. Somit lässt sich diese narratologische Form bei Mrs. Dalloway nicht auf eine Funktion festlegen, sondern sie ist ebenfalls von Ambivalenzen geprägt. 243 Für eine Analyse der „class attitudes“ in Mrs. Dalloway vgl. Rosenfeld (1998), Zwerdling (1986), Hawthorn (1975: 101ff.), Eagleton (2008: 308-313, 320, 322f.) und Primamore (1998). 244 Vgl. auch Richardson (1997): „Fragmentation and disjunction however are only half of the novel’s business. The text also contains an equal though opposite urge to cre- <?page no="274"?> 260 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive eine Verbindung zu dem allen zugrundeliegenden kosmischen Urgrund spürt, so werden auch die LeserInnen potentiell dazu angeregt, wiederkehrende Rhythmen und Muster zu identifizieren, wie die myth sche Auf und Ab-Bewegung der Welt. Clarissas Glaube an eine kosmische Inter konnektivität aller Menschen und Dinge wird auf der Strukturebene des Romans durch ein „figurative system of connection“ (Dannenberg 2008: 105) inszeniert: „relationships are no longer story based through plots of kinship or friendship but are only cognitively constructed though the perception of correspondences“ (ebd.). 245 Clarissas Wahrnehmung von Septimus als alter ego-Figur - eine Wahrnehmung, die durch verschiedene Textsignale auch für die Leserin gestützt wird -, verdeutlicht paradigmatisch die Verlage rung von Konnektivität auf der Basis von Verwandtschaft (‚Blutszuge hörigkeit‘) oder Freundschaft, wie sie noch in Daniel Deronda entworfen wurde, hin zu Korrespondenzbeziehungen. Die alter ego-Konstellation in szeniert Clarissas Glauben: „to know her, or any one, one must seek out the people who completed them“ (MD: 167). Dem Zufall kommt bei der Gestaltung einer solchen Konnektivität in Woolfs Roman eine wichtige Rolle zu. Clarissa kann sich nur deshalb mit Septimus identifizieren, weil sie zufällig von seinem Suizid während ihrer Party erfährt. Ihre daraufhin erfolgende Identifikation mit Septimus lenkt die Aufmerksamkeit der Leserin auf die Analogie-Beziehung, die zwischen diesen Figuren angelegt ist: „In modernist coincidence, analogous relationships link characters and objects on the same spatial and temporal level.“ (Dannenberg 2008: 106) 246 Gleichzeitig enthält Mrs. Dalloway Signale, die auf die Perspektivengebundenheit dieser Analogie-Beziehungen hinweisen, etwa Clarissas problematisches Benutzen von Septimus als Projektionsfläche für ihre eigenen psychischen Bedürfnisse. Als Fazit der Analyse von Mrs. Dalloway lässt sich eine grundlegende Ambivalenz in der Behandlung von Kontingenzphänomenen feststellen. Die herausgearbeitete Kontingenzaffirmation im Roman beruht nicht zuletzt auf Woolfs kritischer Einschätzung des Zeitgeistes, nämlich dass es nur wenige Schritte von einem ‚maskulinen Kult von Ordnung‘ bis hin zum Faschismus sind (vgl. Eagleton 2008: 313). In Mrs. Dalloway werden gegen Dogmatismus die Flüchtigkeit und Subjektivität von Impressionen gesetzt, linear-deterministische Erzählungen durch hybride Formen abgeate, unite, and interconnect“. (97) „Ultimately, the forces of connection and interanimation triumph over disorder and death“. (100) 245 Für eine ausführliche Analyse von Kausalität und Zufall in Mrs. Dalloway vgl. Richardson (1997: 96-100): „Direct connection from event to event is replaced by analogical relations between events, as the governing causal agency shifts from the actions of characters to the arrangement of the text.“ (ebd.: 99) 246 Vgl. auch Fleishman (1975: 81): „The clearest indication that multiple points of view make up an underlying structure of experience - if not a group mind or unity of consciousness - are the instances of eerie coincidence.“ <?page no="275"?> Mrs. Dalloway 261 löst und disziplinierende Normierungen abgelehnt zugunsten einer Wertschätzung von Rezeptivität für das Individuell-Partikulare (vgl. ebd.). Die neuen Praktiken des Selbst, die als Antwort auf die soziologische Kontingenzerfahrung entwickelt werden, gewinnen nicht nur aus der kontingenten Welt die Erfahrung von Genuss. Vielmehr basiert das neue Modell des transgressiven Subjekts auf einer Naturalisierung von Kontingenz: Diskontinuität, Heterogenität und Fluidität erweisen sich als der eigentliche Existenzmodus des Subjekts. Glückhafte Momente erfährt das Subjekt, wenn es nicht gezwungen ist, die gesellschaftliche Fiktion eines definiten Selbst aufrechtzuerhalten. Die mythischen Signaturen in Woolfs Roman zeugen allerdings auch von einem Leiden an moderner Kontingenzerfahrung und der Sehnsucht nach einem überzeitlichem Seinsgrund und sinnstiftenden Ordnungsmodellen (Kontingenzaufhebung). Das Freiheitsdilemma, das zum Problem der richtigen Wahl führt, wird in Mrs. Dalloway durch die Einführung eines archaischen Opfermodells überdeckt bzw. nur scheinbar gelöst. Nur durch dieses Opfermodell wandelt sich der Tod „from a shattering intrusion to a restoring moment“ (Quick 1974: 134). Nicht zuletzt gehören zu dem ambivalenten Umgang mit Kontingenz auch die narzisstischen Elemente, die aus der ästhetisierenden Welthaltung des transgressiven Subjekts sowie seiner identitätsstabilisierenden Strategie resultieren. In letzter Konsequenz führt die Ästhetisierung des Sozialen zu politischer Passivität. Mrs. Dalloway verbindet somit auf paradoxe Weise eine Kontingenzaffirmation bei gleichzeitiger Kontingenzaufhebung. Der Roman suggeriert, dass diese doppelte Ausrichtung kein Gegensatz ist, denn erst die Sensibilisierung für den mythischen Urgrund des Lebens ermögliche es dem Individuum, Kontingenz zu affirmieren. Das ist zumindest die Schlussfolgerung die sich angesichts der Tatsache aufdrängt, dass nur diejenigen Figuren, die rezeptiv für den kosmischen Seinsgrund und der Konnektivität allen Seins sind, zugleich das neue Subjektmodell verkörpern. Entsprechend dieser Logik werden LeserInnen durch die Anordnung des Textmaterials potentiell dazu angeleitet, sowohl die neuen Praktiken des Selbst einzuüben als auch eine erhöhte Wahrnehmung des mythischen Seinsgrunds auszubilden. Die neuen Praktiken des Selbst führen zu einer positiven Codierung von Kontingenz des Inkommensurablen. Die Multiperspektivität des Romans inszeniert die gesteigerte Kontingenzerfahrung im urbanen Raum. So wie Clarissa im Trubel der Stadt Glücksmomente erlebt, so können auch die LeserInnen aus der poetischen Inszenierung gesteigerter Kontingenzerfahrung ästhetischen Genuss ziehen und eine Disposition ausbilden, die eine solche gesteigerte Kontingenzerfahrung nicht mehr als bedrohlich erlebt: „What Clarissa and the narrator celebrate are the differences within <?page no="276"?> 262 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive the web of life. Even if Clarissa does not quite live out this ideal, it is the message of the novel.“ (Dowling 1991: 127) Gleichzeitig werden LeserInnen dazu angeregt, in dieser novel of pattern mythische Signaturen zu identifizieren, sei es der ‚Auf und Ab‘-Rhythmus des Lebens oder die subterrane Konnektivität allen Seins. Die Implikation dieser Leserlenkungsstrategie ist, dass so eine Haltung eingeübt wird, die es LeserInnen ermöglicht, auch außerhalb der Textwelt für Analogiebeziehungen, die auf mythische Konnektivität deuten, empfänglich zu sein. Damit wird potentiell eine Strategie zur Kontingenzaufhebung geschult. Die diagnostizierten Brüche in Woolfs Roman zeugen allerdings von der Schwierigkeit, diese beiden Umgangsweisen mit Kontingenz miteinander zu verbinden, d.h. eine Bejahung von Kontingenz (dem Unverfügbaren) als Quelle für Identitätsarbeit und eine Aufhebung von Kontingenz, wie sie etwa durch die Teilhabe an einem kosmischen Urgrund oder die Reaktivierung eines archaischen Opfermodells erfolgt. In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass die Träger des neuen Subjektmodells merkwürdig isoliert erscheinen: It should be noted […] that the characters who are drawn to this sense of cosmic unity are cut off from ordinary personal relationships. (Naremore 1973: 109) The major characters have sacrificed one kind of closeness for another, which they feel is somehow more real. (ebd.: 110) Dieses ‚cutting off from ordinary personal relationships‘ deutet darauf hin, dass das neue Subjektmodell (mit seiner Bejahung von Kontingenz) und die Vorstellung vom mythischen Urgrund (Kontingenzaufhebung) nur auf Basis einer problematischen Homologie miteinander verknüpft werden können. Wie oben erläutert, ist das Netz gerade nicht gemeinschaftlich, weil die narzisstischen Momente, die in den neuen Praktiken des Selbst vorhanden sind, in die entworfene ‚transcendental theory‘ einfließen. Das Ergebnis ist eine eigentümliche Spannung zwischen der ethischen Wertschätzung der Kontingenz des Inkommensurablen und dessen Auslöschung im Zuge eines narzisstischen Weltzugangs, der aus dem Bedürfnis einer Stabilisierung des Selbst resultiert. Zu der widersprüchlichen Struktur von Mrs. Dalloway gehört zudem der Umgang mit leiblicher Expressivität. Einerseits wird die Unterdrückung von Emotionalität am Beispiel des kriegstraumatisierten Soldaten scharf kritisiert sowie körperliche Spontaneität (Peter, Sally) als anziehend beschrieben. Andererseits spielt bei der im Roman bevorzugten Form der Verbindung zwischen Individuen, nämlich ‚mythischer Konnektivität‘, leibliche Expressivität keine Rolle. Diese naheliegende Form, die Isolation des Einzelnen zugunsten spontan gelebter intimer Zwischenmenschlichkeit zu überwinden, blitzt als Alternative zur herrschenden Vereinzelung zwar <?page no="277"?> Mrs. Dalloway 263 kurz auf, wird jedoch als handlungsleitende Perspektive nicht ernst genommen und somit aus der multiperspektivischen Darstellung ausgeschlossen. Der ambivalente Umgang mit und das Verwerfen von leiblicher Expressivität als einer zentralen Praktik des Selbst in Mrs. Dalloway lässt sich in Bezug zu den unterschiedlichen Konzeptualisierungen des Transgressiven in den Avantgarde-Bewegungen setzen. Konstitutiv für das Avantgarde-Subjekt ist die permanente Grenzüberschreitung, doch kann diese, wie Reckwitz (2006b: 322; 328) hervorhebt, unterschiedlichen Codes folgen: ‚Artifizialität‘ oder ‚Naturalisierung‘. Während das Modell der Artifizialität die „kulturelle Kontingenz des Subjekts“ (ebd.: 322) betont, basiert das zweite Modell auf einer Naturalisierung des Körpers, wonach die natürlichen Impulse des Leibes nicht länger gesellschaftlich unterdrückt, sondern ausgelebt werden sollen. Der erste Code wird anhand von Clarissas Subjektform inszeniert. Wie zuvor erwähnt, wird ihr indefinites Selbst als eigentliche Seinsform ausgewiesen und damit zugleich ihr ‚soziales Selbst‘ als eine konstruierte und somit veränderliche Identitätsform markiert, die sie nur aufgrund des Konformitätsdrucks bei gesellschaftlichen Anlässen inszeniert. Gemäß des Codes der Artifizialität erscheint damit die „sozialkulturelle ‚Gemachtheit‘ des Subjekts […] als notwendige Bedingung seiner Nichtfestgelegtheit“ (ebd.: 297). Zudem hat die Analyse von Clarissas Erleben der Metropole den Blick darauf gelenkt, inwiefern ihr diese „sozial-kulturelle […] [bzw.] ‚artifizielle‘ Umwelt“ (ebd.) als Arsenal an Reizen für ihre ästhetische Identitätsarbeit dient. Demgegenüber ist die Darstellung von Peter durch den Code der Naturalisierung geprägt. Wie die Analyse gezeigt hat, ist für Peter bzw. das „expressionistische Subjekt“ (Reckwitz 2006b: 303) das spontane und unmittelbare Ausleben von Gefühlsextremen und Affekten kennzeichnend, und zwar ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Disziplinierungsgebote. Zu Peters Expressivität gehört insbesondere, dass er seinem sexuellen Begehren freien Lauf lässt, wovon seine zahlreichen Frauengeschichten zeugen. Entscheidend ist, dass solche „rush[es] of emotion“ (MD: 167) und „uncontrollable forces“ (ebd.: 50) nicht als Ergebnis sozialer Konstruktion, sondern als Ausdruck der naturhaften Vitalität des Leibes erscheinen. Es ist Peters Ausleben seiner „ekstatische[n] Natur“ (Reckwitz 2006b: 303), die ihm das Gefühl von Lebendigkeit verleiht, und zugleich eine spürbare Form von Intimität ermöglicht, nämlich ‚ek-statische Berührungen‘ zwischen Subjekten. 247 Gleichzeitig macht ihn diese Subjektform zu einer gesellschaftlichen „oddity“ (MD: 208). Das Transgressive wird bei Peter somit „als ein ‚Ausleben‘ der durch die bürgerliche Gesellschaft unterdrückten lebendigen Natur des Subjekts codiert, das Subjekt wird nicht artifizialisiert, sondern 247 Zur Bedeutung von „ekstatische[r] Natur“ und „ekstatischer Lebendigkeit“ in der Konstruktion des „expressionistischen Subjekts“ siehe Reckwitz (2006b: 303). <?page no="278"?> 264 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive in einem vitalistischen Sinne naturalisiert“ (Reckwitz 2006b: 322). Einerseits ist in Mrs. Dalloway eine Faszination mit dem Leib als phänomenaler und vitaler Erlebenseinheit, der Intimität mit dem Anderen ermöglicht, deutlich erkennbar. Andererseits distanziert sich der Roman von einem Fokus auf das vitalistische und transgressive Eigenleben des Leibes, wie er beispielsweise in den modernistischen Romanen von D.H. Lawrence vorliegt, zugunsten einer „Transgression des Subjekts qua Artifizialisierung“ (ebd.: 322). Insgesamt erscheint Mrs. Dalloway als ein Roman, der von Brüchen durchzogen ist. Dementsprechend ist David Dowlings (1991) nachfolgender Visualisierung der Romanstruktur zuzustimmen: If we think of the narrator of Mrs. Dalloway as a painter, she is someone busily brushing over the cracks in her canvas, blurring the joins so as to give the impression of a seamless whole. If we look closer we see nothing but oppositions, some of which I have discussed here; and if we look even closer, the whole edifice starts to look shaky and to fall apart, undermined by the narrator’s tunnels and by the subconscious tunnels of her characters. (71) Despite the patterning in the novel, then, it remains essentially disorganized […]. (72) Um eine Visualisierung der Woolfschen Ästhetik der Kontingenz gemäß der in dieser Arbeit angelegten Kategorien zu erhalten, fasst die nachfolgende Matrix die zentralen Analyseergebnisse stichwortartig zusammen. <?page no="279"?> Mrs. Dalloway 265 Dominante Kontingenzformen: Widerfahrniskontingenz: Historische Kontingenzerfahrung: Erster Weltkrieg Soziologische Kontingenzerfahrung: Reizüberflutung in der Metropole Kontingenz als das Inkommensurable: Betonung des Individuell-Partikularen und dessen Widerständigkeit gegen instrumentelle Vereinnahmung Codierung der Kontingenzform: Negative Codierung: Historische Kontingenzerfahrung des Ersten Weltkriegs als traumatisch Ambivalente Codierung: Soziologische Kontingenzerfahrung: positive Kontingenzcodierung: disparate Sinnesreize als Quelle von Genuss negative Kontingenzcodierung: Sehnsucht nach einem stabilisierenden überzeitlichen Seinsgrund Das Inkommensurable und Heterogene: als Quelle einer Glückserfahrung; innere Kontingenz des Subjekts (u.a. Diskontinuität, Heterogenität) als eigentliche Seinsform; positive Kontingenzcodierung als Grund für die Isolation des Individuums negative Kontingenzcodierung Zeiterfahrung: Pluralisierung der Zeitmodalitäten: mind time, clock time, historische Zeit, kosmisch-mythische Zeitdimension Orientierung am Moment Notwendigkeit einer integrativen Verknüpfung zwischen innerer und äußerer Zeit Raum: Pluralisierung von Raumerfahrung: Akteursperspektive ersetzt panoramatische Kartographierung Privatheit als Bedingung autonomer Lebensführung Verwandlung Londons in ‚mythischen Naturraum‘ <?page no="280"?> 266 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Subjektmodell: Kritik am männlichen Vernunftsubjekt Alternativsubjekt: das transgressive Subjekt Diskontinuität, Heterogenität und Fluidität als eigentliche Subjektform (indefinites Selbst); Exteriorisierung des Selbst Fragmentarisierte Sinneseindrücke als Quelle ästhetischen Genusses Rezeptivität gegenüber Partikularität und den Rhythmen des Lebens Identitätsstabilisierung durch narzisstische Projektionen Pathologien der neuen Subjektform: Solipsismus und Psychose (Septimus) Gestaltbarkeitskontingenz / Handlungsmächtigkeit: Disziplinargesellschaft setzt Gestaltbarkeitskontingenz Grenzen: Sanktionierung indefiniter Subjektformen Dennoch: Erweiterung von Wahloptionen, u.a. durch Veränderung des Geschlechterverhältnisses Freiheitsdilemma: Das Problem der richtigen Wahl Ästhetisierung des Sozialen führt zu politischer Passivität Dominante Kontingenzumgangsstrategien: Neue Praktiken des Selbst, die auf Kontingenzaffirmation beruhen: ästhetische Welthaltung: disparate Reizüberflutung als Quelle von Identitätsarbeit Valorisierung des Kontingenten im Subjekt Strategien, die auf Kontingenzaufhebung abzielen: Kontingenzaufhebung durch Sensibilisierung für mythische Signaturen: Kosmischer Seinsgrund als stabilisierender Anker Sinnstiftung durch archaisches Opfermodell Innere Widersprüchlichkeit des Romans: Bejahung von Kontingenz des Inkommensurablen steht im Widerspruch zu den narzisstischen Momenten bei den neuen Praktiken des Selbst sowie der ‚transcendental theory‘ Abbildung 11: Ästhetik der Kontingenz in Mrs. Dalloway <?page no="281"?> Under the Net 267 4 Kontingenzaffirmation als Basis eines ‚guten Lebens‘ in Iris Murdochs Under the Net (1954) Form is the temptation of love and its peril, whether in art or life: to round off a situation, to sum up a character. But the difference is that art has got to have form, whereas life need not. - Murdoch (1999a: 285) Die besondere Stellung von Iris Murdoch innerhalb einer Kultur- und Literaturgeschichte von Kontingenz ist ihrer eigenwilligen Verknüpfung des „Lob[es] der Kontingenz“ (Munz 2004: 138) mit einer platonisch inspirierten Metaphysik des Guten geschuldet. In ihren philosophischen Betrachtungen zur Frage nach moralischer agency innerhalb einer kontingenten Welt grenzt sich Murdoch dezidiert von den dominanten Strömungen der 1950er und 1960er Jahre ab, d.h. von „the relaxed empirical ethics of the British tradition (a cheerful amalgam of Hume, Kant and Mill“ (Murdoch 2006 [1970]: 49) sowie von dem durch Sartre repräsentierten Existenzialismus. 248 Murdochs kritische Auseinandersetzung mit diesen philosophischen Theorien hatte zum Ziel, „die Bedingungen und Möglichkeiten einer moralphilosophischen relevanten Rede vom Guten, um die ihr ganzes Denken kreist, zu entfalten“ (Munz 2004: 144). Mit Murdoch wandelt sich Kontingenz bzw. der Zufall von einem „ethically neutral concept“ (Jordan 2010: 116) zu einer zentralen Komponente präskriptiver Ethik: „contingency is seen as a new component of how to be good“ (ebd.). Murdochs positive Umwertung von Kontingenz (das Unverfügbare) prägt nicht nur ihre philosophischen Werke, sondern auch ihr literarisches Schreiben. Tatsächlich stehen ihre Romane für an entirely new development in how chance was viewed in the twentieth century. […] Chance in the novel no longer purely describes to us how we do live; it, now, however partially and falteringly, demonstrates to us how we should live, and instructs us how this may be possible. (Jordan 2010: 115) Für Murdoch steht fest: „human life has no external point or […]. We are what we seem to be, transient mortal creatures subject to necessity and chance.“ (SoG: 77) So verwundert es nicht, dass die Figuren in ihren Romanen immer wieder die Widerständigkeit der Wirklichkeit gegenüber menschlichen Ordnungs- und Kontrollversuchen erleben. Zu den zentralen Themen von Murdochs Romanen gehört die Darstellung eines epistemolo- 248 Im Folgenden wird Iris Murdochs Aufsatzsammlung The Sovereignty of Good (2006 [1970] mit der Abkürzung SoG angegeben. <?page no="282"?> 268 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive gischen und moralischen Entwicklungswegs, der die Figuren weg von einer selbstbezogenen Weltsicht hin zu einem ‚guten Leben‘ führt, das auf der Anerkennung von Alterität und Akzeptanz kontingenter Realität beruht. Für Murdochs Behandlung der Kontingenzthematik dient im Folgenden ihr literarisches Erstlingswerk Under the Net (1954) als exemplarische Fallstudie, weil in diesem Werk bereits die zentralen Themen und Motive ihres literarischen Œuvres angelegt sind (vgl. Conradi 2001: 5, 35; Ridenhour 2003: 1). Für die Analyse von Under The Net wird im Folgenden auch auf Murdochs philosophische Schriften Bezug genommen, um eine Reihe von zentralen Romanpassagen differenzierter zu erschließen. So kann auf dieser Basis beispielsweise die Signifikanz von Schlüsselbegriffen, die im Roman auftauchen und in ihren philosophischen Texten expliziert werden, besser erarbeitet werden. Allerdings bildet dieses Vorgehen lediglich einen Baustein der Analyse, nicht zuletzt weil man schlecht beraten wäre, in Murdochs Romanen lediglich eine Illustration ihrer philosophischen Theorien zu sehen. Wie Heather Widdows (2005: 7) treffend bemerkt: „[S]eeking Murdoch’s philosophy in her novels is a perilous activity, the more so because she uses her novels to question and explore some of the ideas in her philosophy.“ 249 Im Folgenden wird zunächst der moralische und epistemologische Entwicklungsweg der Hauptfigur genauer beleuchtet, um das implizite Ideal einer Kontingenztoleranz herauszuarbeiten. Dabei wird auch auf die Relevanz der Gattung, d.h. der pikaresken Elemente in Under the Net, eingegangen. In einem zweiten Schritt wird das Raum-/ Zeitgefüge mit Blick auf die inszenierte Kontingenzerfahrung genauer untersucht. Das dritte Unterkapitel widmet sich der Karnevalisierung von Welt im Roman und der damit verknüpften Kontingenzsensibilisierung. Die Untersuchung schließt mit der Analyse einer weltanschaulichen Figur, die zentral für die 249 Ähnlich formuliert es auch Alasdair MacIntyre, der von Widdows in diesem Zusammenhang ebenfalls zitiert wird: „Iris Murdoch’s novels are philosophy but they are philosophy which casts doubt on all philosophy, including her own.“ (zitiert nach Tracy 1996: 69) In der Forschung zu Murdoch hat die Interpretation von ihren Romanen im Lichte ihrer philosophischen Texte eine lange Tradition. Für eine Analyse von Under the Net mit Bezug auf Murdochs Philosophie siehe beispielsweise Byatt (1994 [1965]), Sander (1982) und Conradi (2001). Da Murdoch eine Denkerin der Kontingenz ist, wird in den meisten Interpretationen von Under the Net auch auf diesen Aspekt explizit eingegangen, siehe beispielsweise exemplarisch Viebrock (1965). Das Neue an der vorliegenden Untersuchung der Kontingenzthematik in Under the Net bildet die Anwendung der im Theorieteil eingeführten Analysekategorien, die den Blick für Aspekte im Text öffnen, deren Relevanz für die Kontingenzthematik noch nicht hinreichend erfasst wurde, z.B. das Raum-/ Zeitgefüge. Zur Bedeutung von Kontingenz innerhalb Murdochs Moralphilosophie siehe die grundlegenden Aufsätze von Antonaccio (1996) und Munz (2004). Aufgrund der hohen Dialogizität zwischen Murdochs literarischen und philosophischen Werken ist es sinnvoll, Murdochs Philosophie als Bezugsfolie für die literarische Textinterpretation miteinzubeziehen. <?page no="283"?> Under the Net 269 in Under the Net entwickelte Kontingenzbearbeitungsstrategie ist: die Immanenz der Transzendenz. 4.1 Der Bildungsweg des Pikaros: Die Überwindung von Solipsismus zugunsten einer Akzeptanz von Alterität und Kontingenz Die verstärkte Rückkehr zu Romantraditionen des 18. Jahrhunderts in der unmittelbaren Nachkriegszeit zeigt sich auch bei Under the Net, der Züge des Bildungsromans mit Elementen des pikaresken Romans kombiniert. 250 Wie die Pikaros des 17. und 18. Jahrhunderts ist auch Jake Donaghue, der unzuverlässige Ich-Erzähler und Anti-Held der Geschichte, ein gesellschaftlicher Außenseiter, der auf der Suche nach einem Heim, aber auch sich selbst ist: „I followed him slowly, trying to work out who I was.“ (UTN: 10) Entsprechend dieser quest-Struktur, die maßgeblich für die pikareske Form ist, 251 ist Jake die meiste Zeit des Romans über damit beschäftigt, entweder eine Bleibe oder eine konkrete Person zu suchen, angefangen von seiner Liebe, Anna Quentin, bis hin zu seinem ehemaligen Freund Hugo Belfounder. Jakes Außenseiterstatus zeigt sich in seiner Ablehnung traditioneller Lebensentwürfe, und zwar sowohl in beruflicher als auch privater Hinsicht. Er lehnt berufliches Engagement jeglicher Art konsequent ab und hält sich stattdessen durch Schmarotzen sowie seine gelegentliche Übersetzungsarbeit von Romanen des französischen Schriftstellers Jean Pierre Breteuil über Wasser. Sich aktiv politisch zu betätigen, ist Jake ebenfalls fremd. Auf diese Weise wird Jake als „the modern, the classless intellectual“ (Bradbury 1962: 48) gezeigt, der eine distanzierende Welthaltung einnimmt. Zu dieser Distanzierungsbewegung gehören auch seine Bindungsängste gegenüber Frauen im Privatleben sowie seine auffällige Ausblendung der eigenen Vergangenheit: Past familial or social experiences seem to have had little meaning for these characters [= picaros] and do not furnish any kind of stability or continuous background for them. […] The typical picaro’s problem with identity is partially a result of his dissociation from the past. (Hague 1986: 218) Jakes Dissoziation von der eigenen Vergangenheit zeigt sich nicht nur in den frappierenden Aussparungen seiner Erzählung, etwa in Form der fehlenden Informationen zu seiner familiären Herkunft oder seiner Weige- 250 Für eine Analyse von pikaresken Elementen in Under the Net siehe Hague (1986) und Conradi (2001: 38-40). 251 Vgl. Wicks (1989: 48): „Is not the essential picaresque pattern a quest for ‚home‘ - home in the sense of material and social success (Lazarillo), or in the spiritual sense of union with God (as in Guzmán and Simplicissimus), or even in the mythic sense of a return to Paradise? “ <?page no="284"?> 270 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive rung, die Ursache und Genese seiner „shattered nerves“ (UTN: 23) zu erklären. Die Ablehnung der eigenen Vergangenheit manifestiert sich zudem in seiner fehlenden Auseinandersetzung mit seinem früheren literarischen Schaffen. Jake hatte, angeregt durch die Gespräche mit seinem Freund Hugo, die philosophische Schrift The Silencer veröffentlicht. Da er Hugo jedoch nichts von der Veröffentlichung, in der er über weite Teile hinweg Hugos Ideen übernahm, erzählt hatte, fühlt sich Jake als Verräter und bricht aus schlechtem Gewissen ohne Begründung die Freundschaft zu Hugo ab. In der darauffolgenden Zeit bemüht sich Jake, die Existenz der Publikation The Silencer zu vergessen, was nicht allzuschwer ist, da das Buch sowohl bei Kritikern und dem Publikum durchfällt. Mit der Ablehnung tradierter Lebensentwürfe, der Dissoziation von der eigenen Vergangenheit sowie der quest nach Heim und Identität wird ein Grundelement der pikaresken Welterfahrung aufgerufen: „the common denominator of the picaresque myth is the ‚disintegration‘ of an orthodox tradition and ‚the collapse of personality or its submission to an experience of nothingness‘.“ 252 Zu den weiteren pikaresken Elementen, die sich in Under the Net identifizieren lassen, zählen die episodische Handlungsstruktur sowie die ausgeprägte Komik. Besonders relevant für die Kontingenzthematik ist darüber hinaus der Ausweis von Zufällen als Vorsehung. Die Dominanz von Zufällen auf der Plot-Ebene ist ebenso typisch für das Pikareske wie deren Codierung als schicksalhaft. Jake zeichnet sich durch einen (fast) unerschütterlichen Glauben an das Prinzip der Vorsehung in seinem Leben aus: „My fates are such that as soon as I interest myself in a thing a hundred accidents happen which are precisely relevant to that thing.“ (UTN: 36) Jakes unbedingtes Festhalten an Vorsehung ist zugleich eine Kontingenzbewältigungsstrategie, da der Zufall seiner Grundlosigkeit beraubt wird. Angesichts der hohen Dichte an pikaresken Elementen in Murdochs Erstlingswerk stellt sich die Frage nach dem Grund für die Attraktivität dieser spezifischen Gattungstradition für viele britische RomanautorInnen in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Ein wesentliches Erklärungsmoment mag in der kontingenten Welterfahrung liegen, die mit dem Pikaresken verknüpft wird: „Picaresque presents a protagonist enduring a world that is chaotic beyond ordinary human tolerance, but it is a world closer to our own experiential one, or ‚history,‘ than are the worlds of romance or satire.“ (Wicks 1989: 42) Insofern scheint diese Gattungstradition eine bevorzugte Form in Zeiten krisenhafter gesellschaftlicher Umbruchserfahrungen zu sein, wie sie etwa Großbritannien in den 1950er Jahren durchlebte: „the hero of the new English novel [in the 1950s] is ‚training for a life in a 252 Hague (1986: 218); Zitat im Zitat: Blackburn (1979: 22). <?page no="285"?> Under the Net 271 society which is breaking up‘“. 253 Ein wichtiger Aspekt hierbei ist die (karnevalistische) Komik, die kennzeichnend für das Pikareske ist. Auf die Frage, welche Beziehungen zwischen Formen und Funktionen der Komik in Under the Net und der inszenierten Kontingenzthematik hergestellt werden können, werde ich im dritten Unterkapitel zurückkommen. Im Mittelpunkt der nachfolgenden Betrachtung steht zunächst eine genauere Analyse von Jakes Entwicklung, der im Zuge seiner verschiedenen episodenhaften Abenteuer lernt, seinen Solipsismus zugunsten einer Akzeptanz von Kontingenz als dem Nicht-Identischen und Unkontrollierbaren zu überwinden. Am Anfang seiner Entwicklung ist Jake in seiner solipsistischen Welt verhaftet. Seine starke Egozentrik betont er selbst gleich zu Beginn seiner Erzählung, als er seine Beziehung zu Finn, der für ihn eine Art Begleiter und Diener darstellt, näher charakterisiert: „I count Finn as an inhabitant of my universe, and cannot conceive that he has one containing me“ (UTN: 9). Jakes Unvermögen, die Wirklichkeit anderer Menschen anzuerkennen, führt dazu, dass er den Anderen lange Zeit ausschließlich als Projektionsfläche für seine Fantasien und Bedürfnislagen nutzt. So erscheint für ihn beispielsweise Anna lediglich als quest-Objekt mit Bezug auf seine eigenen Bedürfnisse und nicht als Individuum, das ein von ihm getrenntes Leben führt. Jakes Projektionsarbeit ist dabei aufs engste mit seiner Ablehnung von Kontingenz verknüpft: „I hate contingency. I want everything in my life to have sufficient reason.“ (UTN: 26) 254 Sein unbedingter Glaube an Vorsehung sowie die Ordnungsmuster, Theorien und Bilder, die er netzartig über die ihn umgebende Wirklichkeit wirft, sind dem Bemühen geschuldet, die kontingente Verfasstheit von Welt zu verdrängen. Die kollektive Dimension dieses Netzes an Mustern und Bildern, die auf die Wirklichkeit projiziert werden, zeigt sich besonders anschaulich an Jakes Wahrnehmung von Anna, also der Frau, die er begehrt. Aus gender-theoretischer Perspektive korreliert seine Wahrnehmung von Anna mit patriarchalischen Geschlechterstereotypen, angefangen von der Reduktion der Frau auf ein Objekt des Begehrens mit der damit einhergehenden Ausblendung ihrer Individualität bis hin zu den Bezügen zu kunstgeschichtlichen Bildtraditionen in der westlichen Repräsentation von Frauen (vgl. Rowe 2002: 66f.). Die Kontrastposition zu Jake nimmt im Roman Hugo Belfounder ein, der die Sensibilisierung für Kontingenz als das Nicht-Identische fordert. Es geht um das Bewusstsein für die Widerständigkeit des Einzelnen und Par- 253 Hague (1986: 215); Zitat im Zitat: Pritchett (1957: 39). Zum Modernisierungsprozess in den 1950er Jahren siehe Kap. II.2.2 dieser Arbeit. 254 Seine Unfähigkeit zum Denken im Konjunktiv nimmt dabei absurde Formen an, etwa wenn er sich stets von Wetterumschwüngen überrascht zeigt: „Changes of weather always take me by surprise, nor can I when the climate is set one way at all bring to my imagination what it is like for it to be set the other.“ (UTN: 176) <?page no="286"?> 272 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive tikularen gegenüber systematischen Vereinheitlichungsversuchen und Abstrahierungen. Eine Schlüsselpassage in diesem Zusammenhang findet sich in Jakes Publikation The Silencer, in der er seine Gespräche mit Hugo Belfounder zusammengefasst hat: What I speak of is the real decision as we experience it; and here the movement away from theory and generality is the movement toward truth. All theorizing is flight. We must be ruled by the situation itself and this is unutterably particular. Indeed it is something to which we can never get close enough, however hard we may try as it were to crawl under the net. (UTN: 91) Mit dem Bild des Netzes, das Wittgensteins Tractatus 6.341 entnommen ist (vgl. Byatt 1994 [1965]: 11), wird eine deutliche Kritik an begrifflichabstrakter Theoriebildung geübt, weil diese das Partikulare ausblendet und somit Heterogenes gleichmacht. 255 Die Abstraktionsmomente des Begrifflichen verhindern, dass das Bestimmte sprachlich erfasst werden kann, und so führt theorizing, gemäß Hugo, uns weiter weg von der außersprachlichen Realität. Aufgrund der von ihm festgestellten Verschleierungstendenz der Sprache korreliert Hugo Wahrheit mit Schweigen: „truth can be attained, if at all, only in silence. It is in silence that the human spirit touches the divine.“ (UTN: 92) Zwar ist Schweigen nicht Hugos Lebensdoktrin, doch manifestiert sich seine kritische Abwendung von theorizing nicht zuletzt darin, dass er gemäß Jake „destitute […] of anything which could be called a metaphysic or general Weltanschauung“ (UTN: 65) ist. Bezeichnenderweise wird die Unmöglichkeit, mit Sprache zur Realität an sich vorzustoßen, bereits durch die Art der Darstellung dieser sprachphilosophischen Position veranschaulicht. Die Leserin erfährt Hugos Argumentation immer aus zweiter Hand, und zwar im Zuge der Zusammenfassungen von Jake, der wiederum freimütig zugibt, seine Darstellung von Geschehnissen nach diversen Kriterien wie Stil, Spannungsbogen und insbesondere einer inszenierenden Selbstdarstellung zu bearbeiten. 256 Die trügerische Natur von Sprache wird nicht nur in Form von Jakes erzählerischer Unzuverlässigkeit in den Vordergrund gerückt, sondern auch auf inhaltlicher Ebene durch kommunikative Missverständnisse sowie zahlrei- 255 Viebrock weist auf zwei unterschiedliche Sinngebungen in der Metapher des Netzes hin, die Under the Net durchziehen: „das Netz als Tarn- und Schutzmittel und das Netz als Falle“ (1965: 350). Zwar möchte Jake an seinem Netz aufgrund von dessen schützende (im Sinne von kontingenzabwehrende) Funktion festhalten. Allerdings muss er im Laufe der Geschehnisse erkennen, wie sehr seine Ordnungsnetze seine Sicht auf die wahre Wirklichkeit verstellt haben. Für eine erhellende Darstellung vom Netz als philosophische Metapher in der Geschichte der Philosophie siehe Emden (2007). 256 Vgl. UTN: 20, 70. Jakes erzählerische Unzuverlässigkeit und der indirekte Zugang der Leserin zu Hugos Philosophie werden auch von Conradi (2001: 47) unter Bezugnahme auf Swinden (1973) thematisiert. <?page no="287"?> Under the Net 273 che konspirative Lügen und manipulative Verschleierungsversuche der Figuren. Die von Hugo eingeforderte Aufmerksamkeit für das Partikulare bedeutet ein Aufbrechen von Solipsismus, denn die Anerkennung des Nicht- Identischen geht damit einher, dass man den Anderen nicht mehr als Erweiterung des Selbst wahrnimmt, so wie Jake dies lange Zeit praktiziert (vgl. UTN: 268). Jakes wiederholte Fehleinschätzung von Personen und Beziehungskonstellationen verweist auf die kontingente Natur des Individuums, das sich einer vollständigen Erfassung entzieht: Humans […] inspire ‚readings‘ of reality that are in accordance with our desires. […] Yet humans are also representative of reality’s dramatic refusal to conform to any, and all, projected meanings, for it is the case that individuals, including ourselves, feel, behave and change unpredictably and inexplicably. (Laverty 2007: 5) In Under the Net ist das konkrete Individuum eine Manifestation von Kontingenz, weil es aufgrund seiner jeweils spezifischen Besonderheit und der damit einhergehenden Momente des Nicht-Identischen die Kategorien eines identitätslogischen Denkens sprengt. Die bisherigen Ausführungen legen nahe, die Vielzahl an Masken und Verschleierungen, Einsperrungen und Ausbruchsversuchen, die den Roman leitmotivisch durchziehen, als Varianten eines übergeordneten Themas zu deuten, und zwar als metaphorische Anspielungen auf den unabschließbaren Befreiungsprozess des Individuums (in diesem Fall Jake) aus dem Netz von selbstgesponnenen Illusionen. Diese Illusionen entspringen den Abwehrmechanismen der Psyche, vor allem gegenüber einer kontingenten Realität. Innerhalb der Murdoch’schen Welt ist der epistemologische Entwicklungsweg des Subjekts aufs engste mit der moralischen Frage nach dem guten Leben verquickt. Dies zeigt sich durch den extensiven Gebrauch platonischer Bildlichkeit bei der Darstellung von Jakes allmählicher Überwindung seines Solipsismus. Innerhalb ihrer philosophischen und literarischen Werke nutzt Murdoch Platons Höhlengleichnis, um das Gute als eine nicht durch narzisstische Illusionen verstellte Wirklichkeitssicht zu veranschaulichen: The self, the place where we live, is a place of illusion. Goodness is connected with the attempt to see the unself, to see and to respond to the real world in the light of a virtuous consciousness. […] ‚Good is a transcendent reality‘ means that virtue is the attempt to pierce the veil of selfish consciousness and join the world as it really is. […] (SoG: 91) [T]he world is aimless, chancy, and huge, and we are blinded by self. (ebd.: 97) <?page no="288"?> 274 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Plato has given us the image of this deluded worship [of the self] in his great allegory. (ebd.: 98) Bekanntlich stellt Platons „great allegory“, d.h. sein Höhlengleichnis, den stufenweisen Aufstieg zu der höchsten Form der Erkenntnis, nämlich dem Reich der Ideen dar. Gemäß Platon gleichen Menschen in Höhlen geketteten Wesen, die die wirkliche Welt nicht kennen, sondern sie halten Schatten, die von einem Feuer an die Höhlenwand geworfen werden, für die Wirklichkeit. Erst wenn sie ans Tageslicht gelangen und die Sonne sehen, können die Menschen erkennen, wie die Wirklichkeit tatsächlich ist. Die Sonne stellt in diesem Gleichnis die Idee des Guten dar, wobei das Gute Ziel und Ursprung allen Seins ist. Nur im Lichte des Guten vermöge der Mensch das Sein zu erkennen. In der Murdoch’schen Deutung dieses Gleichnisses repräsentiert das Feuer „the self, the old unregenerate psyche, that great source of energy and warmth“ (SoG: 98), und die Schatten an der Wand, die durch dieses Feuer geworfen werden, sind dementsprechend das Ergebnis narzisstischer Projektionen. Die Wirklichkeit ist der Bereich, wo die narzisstischen Verstellungen überwunden werden: Der Wirklichkeit müsse mit der Vorstellungskraft für das Kontingente, unvertretbare Einzelne begegnet werden. Diese Vorstellungskraft für das Kontingente ist nicht gleichzusetzen mit der Fantasie, welche die Wirklichkeit nach eigenen Prinzipien ordnen möchte. Dennoch löst sich die Realität nicht einfach postmodern auf in kleine, unverbundene Einzelwahrheiten, sondern das sie organisierende Konzept ist die Idee des Guten und die daran anschließende ästhetisch, erkenntnistheoretisch und moralisch relevante Konzeption von Liebe und Schönheit. (Munz 2004: 149) Zwar sei es eine empirische Tatsache, dass es dem Menschen nicht gelinge, „[to] join the world as it really is“ (SoG: 91), d.h. er hat keinen direkten Zugang zur transzendenten Realität des Guten. Dennoch beeinflusse das Gute unser Verhalten, denn es ziehe uns als „magnetic centre“ (ebd.: 97) an. Damit entwickelt Murdoch ein präskriptives moralphilosophisches Konzept, wonach das Gute der Zielpunkt menschlichen Handelns sein sollte (siehe auch Munz 2004: 148f.). Die Liebe, verstanden als „knowledge of the individual“ (SoG: 27), dient als Orientierungshilfe bei der Annäherung an das Gute: „Love is the tension between the imperfect soul and the magnetic perfection which is conceived of as lying beyond it.“ (ebd.: 100) Innerhalb der Murdoch’schen Philosophie sind Epistemologie, Moral und Anthropologie somit aufs engste miteinander verbunden. Basis der Epistemologie ist ein spezifisches Menschenbild, wonach es zur Wesenseigenschaft des Menschen gehört, „dass er die Wirklichkeit ‚sieht‘ und zugleich das Gute begehrt“ (Trampota 2003: 17). Der moralische Standpunkt eines Akteurs bedingt dabei die Stufe seiner Wirklichkeitserkenntnis. Um die Frage nach dem Wahrheitsgehalt einer Sichtweise oder Theorie zu be- <?page no="289"?> Under the Net 275 antworten, muss die moralische Frage zuerst gestellt werden: Inwiefern kommt eine spezifische Sichtweise auf die Welt den narzisstischen Bedürfnissen eines Individuums entgegen? 257 „It is in answering the moral question that we resolve the epistemic question.“ (Laverty 2007: 34) Die Erkenntnisfähigkeit ist mit der Tugendhaftigkeit des Akteurs konstitutiv verschränkt. Diese kurzen Hinweise auf Murdochs Philosophie verdeutlichen, dass für Murdoch die Annäherung an das Gute und die eigentliche Wirklichkeit eine Frage der richtigen Wahrnehmung ist. Vor diesem Hintergrund kommt der Dominanz der Isotopielinie ‚Sehen‘ in Under the Net eine gesteigerte Bedeutung zu. Im Roman finden sich eine Fülle von Hinweisen auf u.a. Spiegelungen, Helligkeitsverhältnisse und Feuer(werke). 258 Im Folgenden sollen nun einige Stationen von Jakes Entwicklungsweg mit Bezug auf Murdochs Metaphysik des Guten exemplarisch analysiert werden. Die Beschreibung von Jakes Aufenthalt in Paris verdeutlicht in besonderem Maße die Unabschließbarkeit der Aufgabe, eine selbstbezogene Wirklichkeitssicht zu überwinden. Jake war auf die Bitte seiner Freundin Maggie hin nach Paris gereist. In Paris bietet Maggie ihm eine lukrative Stelle an, wonach er hohe Gehaltssummen für das gelegentliche Schreiben von Drehbüchern erhalten würde. Jake lehnt allerdings das Angebot instinktiv ab, ohne dass ihm seine Beweggründe hierfür klar sind. Mehr noch, er ist im Nachhinein über sein Verhalten entsetzt: As I looked about me, Paris recomposed itself like a reflexion which ceases to waver as the water becomes still. At last it was as still as glass. What had I done? […] Refused an easy step out of the world of continual penury into the world of perpetual money. And what for? For nothing. At that moment my action seemed to me completely pointless. […] Nothing in the world was more important than money. […] Madge had been right when she had said that it was real life. It was the one thing needful; and I had rejected it. I felt 257 Vgl. Laverty (2007: 33): „[O]ur conceptions of reality, no matter how seemingly scientific or neutral, are intextricable from human consciousness. The epistemic difficulty also presents a moral difficulty because philosphical theories satisfy deep emotional needs, egoistic in character. Murdoch gives the appeal of determinism as an example. She identifies Heidegger’s concept of Being and Derrida’s theory of language as ‚new forms of determinism‘ […]. She argues that we find these theories appealing because they satisfy a ‚deep human wish: ‚to give up, to get rid of freedom, responsibility, remorse, all sorts of personal individual unease, and surrender to fate and the relief of it could not be otherwise‘ [Murdoch, Metaphysics as a Guide to Morals] […]‘. An individual is going to have to overcome these deep psychological needs if she is to evaluate a philosophical theory justly.“ 258 Zum Leitmotiv von reflection und enchantment in Under the Net siehe Porter (1969). Eine umfassende Analyse von reflections in Murdochs Roman liefert zudem Gerold (2009). <?page no="290"?> 276 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive like Judas. […] Money. The heart of reality. The rejection of reality the only crime. (UTN: 202f.) Entscheidend an dieser Passage ist die Einbettung von Jakes (momentaner) Erkenntnis von der wahren Natur der Realität in die Beschreibung von Paris als einer spiegelnden Oberfläche. Erst als die Oberfläche eine perfekte Spiegelung erlaubt („At last it was still as glass“), kommt in Jake das Entsetzen über sein Verhalten in vollem Ausmaß hoch, denn er erkennt, das Realität (vermeintlich) gleich Geld ist. Die Jake umgebende perfekt spiegelnde Oberfläche verweist allerdings auf die Projektionsarbeit seines Selbst zu diesem Zeitpunkt: Die „world of perpetual money“ ist gerade nicht „the heart of reality“, sondern gehört zur Welt des Scheins („reflexion“). Dies wird kurz darauf deutlich, als Jake, vom Weingenuss gelöst, eine neue Erkenntnis gewinnt: The sun began to rise over my intellectual landscape and I saw at last, in an outburst of clarity, the real shape of that which had before so obscurely compelled me to what had seemed to be a senseless decision. It wasn’t just that I didn’t want to enter Madge’s world and play Madge’s game. (UTN: 205; m.H.) All that mattered was a vision which I had had of my own destiny and which imposed itself upon me as a command. What had I to do with scriptwriting? […] The business of my life lay elsewhere. There was a path which awaited me […]. This was the substance and all other things were shadows, fit only to distract and deceive. What did I care for money? It was as nothing to me. In the light of that vision it shrivelled like autumn leaves […]. When I had had these thoughts a profound contentment filled me, and I resolved at the same instant to go and look for Anna. (UTN: 206f.; m.H.) In Analogie zum platonischen Höhlengleichnis wird das Bild der Sonne in dieser Passage für die Erkenntnis der wahren Natur der Dinge verwendet, die von den irreführenden Schatten unterschieden werden muss. Aufgrund des Glücksgefühls in Form von „profound contentment“, das Jake im Zuge dieses Erkenntnismoments erfüllt, lässt sich die platonische Kopplung des Seins mit dem Guten, wie sie durch die Sonne als Idee des Guten repräsentiert wird, um eine weitere Überlegung ergänzen. Jakes Gefühlsreaktion impliziert, dass das Führen eines guten Lebens auf Basis einer Erkenntnis des Seins letztlich auch als das Führen eines glücklichen Lebens verstanden werden kann. 259 259 Die allegorische Qualität, die Jakes Ablehnen des Stellenangebots zukommt, arbeitet Conradi (2001: 50) heraus: „Madge asks him to use his art, if only part-time, to prettify capitalism; Lefty wishes him to serve the revolution. Though this is to make the book sound unduly allegorical, the echo is there. Jake is declaring for the independence of art, which best serves society when it serves its own truth, in rejecting both Lefty and Madge.“ <?page no="291"?> Under the Net 277 Der Schluss des Romans zeigt, dass es sich bei Jakes neuer Erkenntnis über den alternativen Pfad, der ihn erwartet, nicht abermals um eine Täuschung handelt. Jake gibt seine Übersetzungstätigkeit auf und begibt sich daran, seine eigene Stimme zu finden, indem er sich wieder der Schriftstellerei widmet. Jakes Betreten dieses Pfades erscheint am Ende tatsächlich insofern als „substance“ (UTN: 206) und nicht Schatten, als seine Schriftstellerei in die semantische Nähe von Prokreativität und Leben gerückt wird. In dem Raum, wo er sich zum ersten Mal wieder mit seinem kreativen Schreiben auseinandersetzt (nämlich in Mrs Tinckhams Laden), befindet sich zugleich ein frischer Wurf an bunt gemischten Kätzchen, die als „one of the wonders of the world“ (ebd.: 286) bezeichnet werden. Allerdings ist Jakes Entwicklung keine geradlinige Reise, sondern von vielen Rückfällen in die Höhle der Schatten geprägt. Kaum hat er die oben beschriebene Erkenntnis über seinen wahren Lebensweg gewonnen, verstrickt er sich abermals im Netz seiner Illusionen, als er sich auf die Suche nach Anna in den Straßen und Gärten von Paris begibt. Die dabei erfolgende Bewegung weg von seiner zuvor gewonnenen Annäherung an die ‚Sonne‘ kommentiert Jake explizit, als er sagt: „The events of the morning already seemed far away, and equally far away the moment of insight which had succeeded them.“ (UTN: 210) Kennzeichnend für Jakes Verhältnis zu Anna ist, dass er ihr einerseits die Qualität einer magnetischen Unergründbarkeit zuordnet (vgl. ebd.: 31). Andererseits ist er fortwährend damit beschäftigt, sie in Rollen und Bilder zu pressen. Symptomatisch hierfür sind seine Einrahmungen von Anna, die sowohl im wortwörtlichen als auch übertragenen Sinne zu verstehen sind: „I contemplated her coolly, framing her head in my arms.“ (ebd.: 45) 260 Jakes bildhafte Fixierungen von Anna setzen sich fort, als er sie endlich an der Seine entdeckt: „As I looked at her, her face seemed suddenly radiant like a saint’s face in a picture, and all the thousands of surrounding faces were darkened.“ (ebd.: 213) Ähnlich wie bei Jakes verfehlter Wahrnehmung von Geld als wahrer Wirklichkeit fällt bei seiner Perzeption Annas die Anwesenheit von stillen, perfekt spiegelnden Oberflächen auf: The river was […] a black mirror […]. Anna’s image was quite still beneath her. […] I agitated my hands, hoping that either I or my image might attract Anna’s attention. […] Anna continued to look up [at the fireworks]. […] [S]he sat as still as a spellbound princess […]. A moment later something dropped with a sharp clatter onto the parapet beside my hand. […] It was the stick of one of the rockets. As I lifted it, in the light of the next star burst, I read the name which was written upon it: BELFOUNDER. […] [T]aking a careful aim I threw it into the water so that it fell directly into Anna’s reflexion, and at the same time I waved and called. The image was scattered and the glass disturbed for a long way between the two bridges. Anna lowered her 260 Zum Motiv von ‚Einrahmungen‘ in Under the Net siehe auch Gerold (2009: 34-35). <?page no="292"?> 278 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive head; and while leaned towards her until I nearly toppled head first into the river, she fixed her eyes upon the rocket stick […]. (ebd.: 214f.; m.H.) Bezeichnenderweise zerbirst Annas Spiegelbild erst durch den Stock des Feuerwerkskörpers mit Belfounders Namen. Dies kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass erst die Sensibilisierung für Kontingenz als das Inkommensurable, so wie sie durch Belfounder repräsentiert wird, die Spiegelungen des Egos stören kann. Annas hypnotische Fixierung auf das Feuerwerk sowie anschließend auf den Stock - beides Dinge, die metonymisch für Belfounder stehen - liefern bereits einen ersten Hinweis darauf, wen sie wirklich liebt: nicht Jake, sondern Hugo. Jake ist aufgrund seiner Selbstbezogenheit allerdings nicht in der Lage, diese Beziehungskonstellation zu durchschauen. Jake bleibt seinen narzisstischen Fantasien von Anna weiterhin verhaftet, als er ihr durch Paris folgt und sich vorstellt, ihre Gedankenwelt sei ausschließlich von ihm erfüllt. Die narzisstische Qualität von Jakes Wahrnehmung Annas zeigt sich besonders deutlich anhand der Fantasien, die er mit der Wiederbegegnung mit ihr verknüpft: „Our embrace would close the circle of the years and begin the golden age.“ (UTN: 218) Als Ziel von Jakes pikaresker quest erweist sich somit die Suche nach dem Heim in einem mythischen Sinne: die Rückkehr in eine edenische Zeit. Jakes Verlust des Heims, mit dem die Geschichte beginnt, liest sich in diesem Zusammenhang als Echo auf eine viel ursprünglichere und radikalere Vertreibung, nämlich aus dem Paradies. Eine solche Codierung der „eject[ion] from home“ (Wick 1989: 66) ist typisch für das Genre des Pikaresken: In Guillén’s conception of the picaro as new Adam, the first and most radical ejection would recapitulate humanity’s expulsion from the Garden of Eden, and the resulting wandering journey is thus an attempt, filled with many ejections from lesser substitute gardens, to […] reenter the Garden, to find home. (ebd.) Dieses eigentliche quest-Objekt des Pikaros lenkt die Aufmerksamkeit auf die psychoanalytischen Implikationen des Höhlenmotivs. Als Hohlraum ruft die Höhle im metaphorischen Sinne die Gebärmutter auf und evoziert damit eine Erfahrung ursprünglicher Seinsfülle. Damit rückt die Schutzfunktion des Höhlenraums gegenüber Kontingenzerfahrung erneut in den Vordergrund. Dass Jake sich mit seinen narzisstischen Bildern von Anna wieder in der platonischen Höhle befindet, wird durch die Wiederkehr des Höhlenmotivs angedeutet: „As I saw Anna turning toward the gardens my heart leapt up, as the heart of Aeneas must have done when he saw Dido making for the cave.“ (UTN: 216) Die De-Individualisierung Annas in Jakes narzisstischer Verblendung zeigt sich nicht zuletzt in seiner Verwechslung von ihr mit einer anderen Frau (vgl. ebd.: 218). Jakes Depression nach seiner Rückkehr aus Paris, wo er Anna im Gewühl verloren hat, kann als Reaktion auf sein Scheitern der Wiedergewin- <?page no="293"?> Under the Net 279 nung Edens gedeutet werden. Da Jake mit der Kontingenz des Lebens, die außerhalb Edens gegeben ist, nicht zurecht kommt, sucht er sich einen Ersatzschutzraum, indem er bezeichnenderweise als orderly in einer Abteilung für Kopfverletzungen in einem Londoner Krankenhaus arbeitet. Die Ordnungsstrukturen des Krankenhauses wirken bei Jake der Erfahrung von Kontingenz entgegen, weil der Tagesablauf und die internen Hierarchien als unbedingt vorgegeben werden (vgl. auch Hague 1986: 216). Die Affinität des Krankenhauses zu einem edenischen Schutzraum für Jake wird symbolisch dadurch unterstrichen, dass in dem Garten, der an das Krankenhaus angrenzt, Kirschbäume wachsen, denn innerhalb der christlichen Tradition gilt die Kirsche als eine Frucht des Paradieses. Allerdings wandelt sich das Krankenhaus von einem Ort der Kontingenzaufhebung zu einem Ort der Kontingenzerfahrung, als Jake zufälligerweise Hugo als Patient im Krankenhaus trifft und ihn nachts aufsucht, um Erklärungen für die vergangenen Ereignisse zu erhalten. Das Höhlenmotiv wird dabei erneut aufgerufen, wenn Jake das Krankenhaus bei Nacht mit „the cave of the Sibyl“ (UTN: 245) vergleicht. Angesichts der Bedeutung des Höhlenmotivs verweist Jakes und Hugos Flucht aus dem Krankenhaus nach ihrem Gespräch auf eine epistemologische Entwicklung, zumal dem Ausbruch aus der dunklen Höhle des Krankenhauses unmittelbar die Wahrnehmung der aufgehenden Sonne folgt. 261 Tatsächlich führt die Begegnung mit Hugo zu einem Zerreißen des Netzes, mit Hilfe dessen Jake die Wirklichkeit geordnet hatte. Auffällig ist, dass Jake zu Beginn seines Gesprächs mit Hugo zunächst eine wissenschaftliche Haltung einnimmt: „I must get the facts; theories could come later. My mood at that moment was almost scientific.“ (UTN: 253) Das Ideal eines objektivwissenschaftlichen Sammelns von reinen Fakten, das unabhängig von theorizing und damit jenseits von evaluativ aufgeladenen Mustern der Welterfassung erfolgen könne, wird jedoch in der darauffolgenden Interaktion zwischen Hugo und Jake sofort unterminiert. Beide reden aneinander vorbei, weil sie entsprechend ihrer jeweiligen Begriffsnetze mit dem Personalpronomen „she“ jeweils andere Frauen meinen: ‚When will you see her again? ‘ I asked. ‚Is she really going away? ‘ ‚I don’t know,‘ said Hugo. ‚I really don’t know what she plans to do. She’s like the weather. One simply never knows with Sadie.‘ 261 Es ist Hugo aufgrund seines Gesundheitzustandes nicht erlaubt, das Krankenhaus zu verlassen. Da er jedoch fest dazu entschlossen ist, hilft Jake ihm dabei, das Gelände zu verlassen. Diese Episode wird durchgehend als Flucht- und Befreiungsaktion dargestellt (vgl. z.B. UTN: 263: „In a moment we should be free.“) Zum Motiv der aufgehenden Sonne siehe UTN: 264: „I threw back my head to run, and saw with surprise that the garden was clearly revealed in the grey morning light […]. The light was increasing fast. […] [W]hen we reached Shepherd’s Bush Green the sun was shining through a mist.“ <?page no="294"?> 280 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive ‚You mean Anna, yes,‘ I said. ‚I mean Sadie! ‘ said Hugo. The names of the two women rang out like blasts of a horn which echo through a wood. A pattern in my mind was suddenly scattered and the pieces of it went flying about me like birds. (ebd.: 253f.) Dieser Dialog zwischen Jake und Hugo liest sich als eine satirische Kritik an einer simplifizierenden empiristischen Konzeption von Wahrheit, wonach die Ansammlung von Fakten unweigerlich zur Wahrheit führt. Das Missverständnis zwischen Jake und Hugo verdeutlicht, dass die Ermittlung von Fakten nicht von den Begriffsnetzen der jeweiligen Akteure getrennt werden kann und damit auch nicht von ihrer moralisch gefärbten Wahrnehmung von Welt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Jake stets alle Ereignisse in das Erklärungsraster „Hugo liebt Anna und Sadie liebt Hugo“ eingefügt, da er aufgrund seiner eigenen Liebe zu Anna es sich nicht vorstellen konnte, dass Hugo Sadie ihrer Schwester vorziehen könnte. Die narzisstische Projektion seiner eigenen Gefühlswelt auf Hugo verstellt Jakes Blick auf die wahren Beziehungsverhältnisse. Insgesamt lenken die Geschehnisse in Under the Net die Aufmerksamkeit immer wieder auf die konstitutive Verschränkung von Fakten und Werten: „various values pervade and colour what we take to be the reality of our world“ (Murdoch 1993: 26). Bereits die platonische Bildlichkeit im Roman generiert eine Engführung von Epistemologie und Moral. Jakes Wirklichkeitswahrnehmung (und dies schließt seine Sammlung von Fakten ausdrücklich mit ein) ist von seinem moralischen Standpunkt bzw. von seiner Annäherung an das transzendente Gute gefärbt, d.h. von seinem Vermögen, die kontingente Realität in all ihrer Mannigfaltigkeit anzuerkennen, insbesondere die Wirklichkeit anderer. Indem der Welt des phänomenalen Bewusstseins eine moralische Qualität zugeordnet wird, erfolgt eine deutliche Absage an die Fakten-Werte-Dichotomie, die in der damaligen angloamerikanischen Moralphilosophie weit verbreitet war. 262 Neben der Unterminierung einer Fakten-Werte-Dichotomie wird zudem der Anspruch hinterfragt, jemals Zugang zur absoluten Wahrheit oder zum absoluten Sinn des Lebens erhalten zu können. Der folgende Wort- 262 Murdoch wandte sich in ihren philosophischen Schriften entschieden gegen die Neokantianer, die eine Fakten-Werte-Dichotomie vertraten. Wie Trampota in seiner vergleichenden Untersuchung von Kants und Murdochs Ethik herausstellt, ist Kants Ethik „von einer strikten Fakten-Werte-Dichotomie geprägt, welche die Welt des phänomenalen Bewusstsein zunächst einmal jeglicher moralischer Qualität beraubt, um dann auf dem (Um-)Weg über die reine praktische Vernunft, die auf der Ebene allgemeiner Maximen operiert, gewissermaßen ‚aus der Distanz‘ wieder ein moralisches Licht auf einzelne Punkte in dieser Erfahrungswelt zu werfen.“ (2003: 164) Für einen ausführlichen Einblick in Murdochs philosophische Kritik an der Fakten- Werte-Dichotomie siehe das Kapitel „Fact and Value“ in ihrer Abhandlung Metaphysics as a Guide to Morals (1993: 25-56). <?page no="295"?> Under the Net 281 wechsel zwischen Hugo und Jake illustriert den relativierenden Gestus von Under the Net: ‚[…] The trouble with you, Jake, is that you want to understand everything sympathetically. It can’t be done. One must just blunder on. Truth lies in blundering on.‘ (UTN: 257) ‚I’m going to become a watch-maker,‘ said Hugo. […] ‚You’re mad,‘ I said. ‚Why do you say that, Jake? ‘ said Hugo. ‚Every man must have a trade, Yours is writing. Mine will be making and mending watches […].‘ ‚And what about the truth? ‘ I said wildly. ‚What about the search for God? ‘ ‚What more do you want? ‘ said Hugo. ‚God is a task. God is detail. It all lies close to your hand. […] You’re always expecting something, Jake […].‘ (ebd.: 258) Entscheidend an dieser Passage ist die Verknüpfung von Kontingenzbewusstsein mit einer abgerüsteten Sinnerwartung, die jedoch zugleich stabilisierend für das Individuum wirken kann. Das Aufbrechen von Ordnungsmustern durch die Kontingenz des Inkommensurablen, d.h. des irreduziblen Partikularen, wird bei Hugo nicht als bedrohlich ausgewiesen. Vielmehr steht dieses Kontingenzbewusstsein im Zeichen einer Verzauberung von Welt: „God is detail.“ Damit führt Hugo einen „sinnlichkeitsbezügliche[n] Sinnbegriff [ein]: Sinn hat, wer merkt (im Unterschied zu dem, der nicht merkt, weil ihm zuständige Sinne fehlen, oder weil er - und sei es denkend durch Abstraktionsorgien - nur spinnt)“ (Marquard 2008: 34). Im Unterschied zu Hugo hängt Jake einem „emphatische[n] Sinnbegriff [an]: Sinn hat, was sich - gegebenenfalls absolut - lohnt (was wichtig ist, erfüllt, zufrieden, glücklich macht und nicht verzweifeln läßt, emphatisch - als ihr Wert und Zweck - bezogen auf das Menschenleben, die Geschichte, die Welt).“ (Marquard 2008: 36) Es ist ein überzogener emphatischer Sinnbegriff, wie er von Jake vertreten wird, den Hugo als übersteigerte Erwartungshaltung kritisiert: „You’re always expecting something, Jake.“ Es bietet sich an dieser Stelle der Argumentation an, Odo Marquards Überlegungen „Zur Diätetik der Sinnerwartung“ (2008: 33) aufzugreifen, da diese Bezugsfolie eine differenzierte Analyse von Hugos Kritik an Jakes Sinnerwartung ermöglicht. Für Marquard erklärt sich die moderne Erfahrung eines Sinndefizits nicht aus einem vorhandenen Sinnmangel, sondern primär aus dem Übermaß des Sinnanspruchs (vgl. ebd.: 41). 263 Basis dieser These ist die Überlegung, dass Sinn „ein Deckname für Glück“ (ebd. 42) ist, d.h. er ist ein „Begriff für das Lohnen des Lebens“ (ebd.). 264 Entscheidend ist nun, 263 Eine ähnliche These vertritt auch Hans Blumenberg in Lebenszeit und Weltzeit (1986), wie Marquard selbst betont. 264 In Gänze heißt es bei Marquard (2008: 42f.): „Sinn ist ein Deckname für Glück. Es ist plausibel, daß er - als Begriff für das Lohnen des Lebens - gerade im 19. Jahrhundert ins Spiel kommt: zu einer Zeit, wo - als Folge des Erfolgs der kantischen Pflichtethik <?page no="296"?> 282 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive dass „das Glück nicht direkt intendiert werden kann; und so kommt es - durch diese Pseudonymisierung des Glücks bis hin zum Glücksdecknamen Sinn - zum Unsinn der direkten Sinnintention“ (ebd.: 43). Obgleich Sinn für den Menschen nur auf mittelbarem Wege zu realisieren ist, d.h. über „die bestimmten und detaillierten und institutionalisierten Lebenspensen: z.B. Beruf, Familie, umgrenzte Verantwortungen, bestimmte Verrichtungen und Routinen“ (ebd.: 48), werden diese kleinen Sinnangebote angesichts eines eingeforderten großen Sinns abgelehnt. 265 Genau diese Ablehnung von „‚kleinen‘ Sinnantworten“ (ebd.: 48) zugunsten eines maßlosen Sinnanspruchs wirft Hugo Jake vor, wenn er auf dessen Frage „What about the search for God“ (UTN: 258) mit dem Hinweis auf die Bedeutung von Beruf und die Sensibilisierung fürs Detail antwortet, also für den „Verzicht auf die direkte Sinnintention“ (Marquard 2008: 47) plädiert. Zu den kleinen Sinnantworten gehören auch - metaphorisch gesprochen - Jakes punktuelle Annäherungen an die Sonne. Die Passage, in der Jake beschreibt, wie ihm die wahren Beweggründe, wieso er Maggies Stellenangebot abgelehnt hat, klar werden, deutet in diesem Zusammenhang auf eine weitere Ausprägung von Sinn hin. In diesem Fall handelt es sich um einen „verständlichkeitsbezügliche[n] Sinnbegriff: Sinn hat, was verständlich ist“ (Marquard 2008: 34). In Under the Net erfährt dieser Sinnbegriff jedoch eine entscheidende Einschränkung. Ein sinnhaftes Leben, verstanden als ein glückliches und gutes Leben, ist nur bei einer Annäherung an das wahre Wesen der Wirklichkeit, der platonischen Sonne, möglich, wie Jakes Glücksgefühl in Folge seines Erkenntnismoments illustriert. Es ist innerhalb der Murdoch’schen Welt allerdings gerade nicht eine totalisierende und damit alles ins Licht der Verständlichkeit rückende Weltsicht, des kategorischen Imperativs und ihrer sogenannten Eudämonismuskritik, ihrer Kritik der Glücksethik - das Glücksproblem als zentrales Positivproblem aus der Philosophie verbannt war, und zwar so sehr, daß auch noch dort, wo - weil man das Glücksproblem als zentrales Positivproblem nicht auf Dauer aus der Philosophie verbannen kann - das Glücksproblem wiederkehrte, das Problem des Glücks nicht mehr unter seinem eigenen Namen auftreten durfte, sondern nur mehr unter Decknamen: dann also - zunächst und seither immer wieder - als Problem des Sinns.“ 265 Vgl. Marquard (2008: 43f.): „Mit direkter Sinnintention meine ich ein Verhalten, das demjenigen gleicht, das Hegel - in anderem Zusammenhang - durch die kleine Geschichte illustriert hat von jenem Mann, der Obst wollte und darum Äpfel, Birnen, Pflaumen, Kirschen und Quitten verschmähte, denn er wollte nicht Äpfel, sondern Obst, und nicht Birnen, sondern Obst […]. Ganz ähnlich ergeht es dem, der das Glück - pseudonymisiert zum Sinn - direkt intendiert; denn so einer will nicht lesen, sondern Sinn, nicht schreiben, sondern Sinn, nicht arbeiten, sondern Sinn, nicht faulenzen, sondern Sinn, nicht lieben, sondern Sinn […]. Auch er wählt den einzigen mit Sicherheit erfolgreichen Weg, gerade das nicht zu erreichen, was er doch will: nämlich Sinn; denn Sinn ist - jedenfalls für uns Menschen - stets nur auf dem Weg über Beruf, Familie, Einsamkeit, Staat, Kunst, Wirtschaft, Wissenschaft, Pflichten, Neigungen, Mitleid und so weiter zu erreichen, und ihn anders erreichen zu wollen ist Unsinn.“ <?page no="297"?> Under the Net 283 die Glück bzw. emphatischen Sinn generiert. Vielmehr erlaubt erst die Ausbildung eines Kontingenzbewusstseins und damit die Akzeptanz nicht erfassbarer Bereiche die Hinwendung zum Guten. Sinn und Glück erscheinen als Resultat einer Balance zwischen „der Vereinheitlichungstendenz im Lichte des Guten und der partikularisierenden Tendenz“ (Munz 2004: 157) verbunden mit einer Offenheit für kleine Sinnantworten. Der Schluss von Murdochs Roman unterstreicht die produktiven Effekte, die durch die Abrüstung einer übersteigerten Sinnerwartung entstehen. Der Zugang zu Sinnangeboten durch bestimmte Tätigkeiten zeigt sich deutlich bei Jakes Beschreibung seines Entschlusses, wieder zu schreiben: I began to glance through them [= manuscripts], looking with surprise on what I had done. There was a long poem, the fragment of a novel, a number of curious stories. […] These things were mediocre, I saw that. But I saw too, […] the possibility of doing better - and this possibility was present to me as a strength which cast me lower and raised me higher than I had ever been before. I took out Hugo’s copy of The Silencer, and the sight of it gave me joy. This too was only a beginning. It was the first day of the world. I was full of that strength which is better than happiness, better than the weak wish for happiness which women can awaken in a man to rot his fibres. (UTN: 283) Die Gefühlseuphorie, die er mit dem Begriffen „joy“ und „strength which is better than happiness“ zum Ausdruck bringt, evoziert einen emphatischen Sinnbegriff oder vielmehr die Präsenz von Glück. Entscheidend ist, dass dieser emphatische Sinn auf dem „Umweg über bestimmte Pensen“ (Marquard 2008: 44) erfahren wird. Zu diesem Umweg gehört auch Jakes Entschluss, halbtags im Krankenhaus zu arbeiten, um ein drohendes Sinndefizit abzuwenden, das aus der einseitigen Ausrichtung auf die Schriftstellerei resultieren könnte. Im Zuge seiner physischen Arbeit im Krankenhaus verspürt Jake nämlich zum ersten Mal „a feeling […] of having done something“ (UTN: 233). Demgegenüber habe seine intellektuelle Arbeit in Form seiner bisherigen Schriftstellerei zum Leiden an Sinnmangel geführt (vgl. ebd.: 234). Jakes Lösung ist eine Kombination intellektueller und physischer Arbeit und damit die Einführung eines durch spezifische Pensen strukturierten Tagesablaufs, der sinnstabilisierend wirkt: It occurred to me that to spend half the day doing manual work might be very calming to the nerves of one who was spending the other half doing intellectual work […]. [T]his way of living […] would ensure that no day could pass without something having been done, and so keep that sense of uselessness, which grows in prolonged periods of sterility, away from me forever. (ebd.: 235) Sinnstiftung bedeutet somit nicht eine prinzipielle Kontingenzaufhebung. Vielmehr wird die Sinnfrage „mitentschieden durch die Besorgung der nächsten Dinge; durch die Erledigung des Details“ (Marquard 2008: 50). <?page no="298"?> 284 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Die Abrüstung überzogener Sinnerwartungen geht in Under the Net einher mit einer Abrüstung des Subjekts. Gemeint ist eine Rekonzeptualisierung von (moralischer) agency, die sich vom Bild des autonomen Vernunftsubjekts deutlich absetzt. In ihren philosophischen Schriften kritisiert Murdoch sowohl den Neokantianismus, der die damalige angloamerikanische Moralphilosophie beherrschte, als auch den Existentialismus, weil beide „the solitary omnipotent will“ (SoG: 8) betonen: „Immense care is taken to picture the will as isolated. It is isolated from belief, from reason, from feeling, and is yet the essential centre of the self.“ (ebd.: 7). Entsprechend dieser Betonung des vernünftigen Willens wurde in der zeitgenössischen Philosophie moralisches Handeln im Wesentlichen auf Entscheidungsakte reduziert. Murdoch beschreibt das Bild des entworfenen rational agent und die damit verknüpften handlungstheoretischen Konsequenzen wie folgt: [T]he point about this person is that he is essentially and inescapably an agent. The image whereby to understand morality, it is argued, is not the image of vision but the image of movement. […] Good must be thought of, not as part of the world, but as a movable label affixed to the world; for only so can the agent be pictured as responsible and free. (SoG: 3f.) Actions are, roughly, instances of moving things about in the public world. Nothing counts as an act unless it is a ‚bringing about of a recognizable change in the world.‘ (ebd.: 5) Morality resides at the point of action. (ebd.: 15) Murdoch kritisiert an diesem Menschenbild und der darauf aufbauenden Konzeption von Moral die Vernachlässigung der inneren Welt des Subjekts, die bedingt, was für eine Welt jemand sieht bzw. zu sehen fähig ist (vgl. Trampota 2003: 124f.). Da aber gerade diese Wahrnehmungswelt bestimmend für unser Handeln sei, komme Entscheidungen im sittlichen Leben lediglich eine sekundäre Bedeutung zu (vgl. ebd.; SoG: 35-36). Die herausgearbeitete Bedeutung der platonischen Bildlichkeit in Under the Net zeigt eine starke Übereinstimmung mit Murdochs oben skizzierter philosophischer Position. Bereits in ihrem Debütroman kommt der moralischen Sehkraft ein epistemisches und moralisches Primat vor Entscheidungs- und Handlungsakten zu. Neben der platonischen Bildlichkeit tragen weitere Elemente zur literarischen Unterminierung des rational agent mit der damit einhergehenden moralphilosophischen Konzeption bei. Bei einer näheren Betrachtung von Jakes Handeln fällt unweigerlich das Ausbleiben rationaler Entscheidungsprozesse als Grundlage für sein Handeln auf. Immer wieder wird die Spontaneität seiner Entscheidungen betont. Dazu kommt die Wahrnehmung des eigenen Verhaltens als rätselhaft, wie Jakes Reaktion auf Maggies Stellenangebot zeigt. Das anhand von Jake entworfene „image of movement“ (SoG: 3) unterstützt somit keinesfalls das <?page no="299"?> Under the Net 285 Bild eines rational agent, der zielgerichtet handelt, wie bereits Jakes eigene Ausführungen zu seinem Bewegungsverhalten unterstreichen: „when I am unfixed [=i.e. without a home] I am volatile, and then I fly at random from point to point like a firecracker“ (UTN: 35; m.H.). Darüber hinaus lässt sich Murdochs Verlagerung des „handlungstheoretischen Schwerpunkt[s] vom Willen zur moralischen Wahrnehmung“ (Trampota 2003: 18) besonders anschaulich anhand von Jakes kontemplativer Haltung illustrieren, die ihn nach seiner Aussprache mit Hugo im Krankenhaus überkommt: During this time I didn’t at first think of anything special. […] I just sat quietly and let things take shape deeply within me. I could just sense the great forms moving in the darkness, beneath the level of my attention and without my aid, until gradually I began to see where I was. My memories of Anna had been completely transformed. Into each one of them a new dimension had been introduced. […] I could feel my very memory images altering, like statues that sweat blood. I had no longer any picture of Anna. She faded like a sorcerer’s apparition; and yet somehow her presence remained to me, more substantial than ever before. It seemed as if, for the first time, Anna really existed now as a separate being and not as part of myself. […] When does one ever know a human being? Perhaps only after one has realized the impossibility of knowledge and renounced the desire for it and finally ceased to feel even the need of it. But then what one achieves is no longer knowledge, it is simply a kind of co-existence; and this too is one of the guises of love. (UTN: 267f.; m.H.) Diese Passage beschreibt die Veränderung von Jakes Wahrnehmungsmustern. In dem Moment, als Jake sein starres Bild von Anna, also sein bisheriges kognitives Raster auflöst, wird Raum frei, damit sie sich in seiner Wahrnehmung von einem Kunstwerk („statues“) zu einer lebendigen Person wandeln kann („sweat blood“). Diese Wandlung Annas von einer toten Statue zu einer lebenden Person unterstreicht das gewaltsame Moment, das zuvor in der Objektivierung des Anderen - der Reduktion des Anderen zur reinen Projektionsfläche der eigenen Begehrensstruktur - innewohnt. Wissen wird von Jake implizit als ein Instrument der Bemächtigung ausgewiesen, und insofern erfordert die Anerkennung des Anderen zugleich ein Verzicht auf den Anspruch, den Anderen (vermeintlich) gänzlich zu erfassen oder erfassen zu wollen (‚renounce the desire for knowledge‘). Liebesfähigkeit bedeutet gemäß Jakes obigen Überlegungen die Anerkennung der Kontingenz von Individuen. 266 Der Verzicht auf einen kognitiven Bemächtigungsgestus im Zeichen der Liebe wird von Jake im Moment seiner oben beschriebenen Epiphanie vollzogen. Auffällig an der Passage ist die Betonung des intuitiven Charak- 266 Siehe auch Viebrock (1965: 356): „In der - zunächst von Jake als erwidert missverstandenen - Liebe zu Anna realisiert sich eine Liebeskonzeption, die ebenfalls durch die Kategorie Kontingenz mitbestimmt ist.“ <?page no="300"?> 286 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive ters der Einsicht, die durch die Formulierungen „let things take shape“, „just sense“ sowie „beneath the level of my attention“ hervorgehoben wird. Die Rezeptivität des Subjekts löst die bisherige Projektionstätigkeit ab. Die kognitiv nicht erfassbaren bzw. kontingenten Bereiche können zwar nicht sprachlich eingeholt, sehr wohl jedoch gespürt und erahnt werden. Dies legt Jakes Epiphanie zumindest nahe. Entscheidend ist, dass das Subjekt sich für diese Erfahrungsdimension öffnet: „In Murdochs Bild des guten Lebens wendet sich der Handelnde entschieden einer Wirklichkeit jenseits seiner eigenen Interessen und Wünsche zu und wartet geduldig darauf, dass dadurch eine Dynamik in ihm angestoßen wird, die wir gewöhnlich als ‚Liebe zum Guten‘ bezeichnen.“ (Trampota 2003: 138) In der philosophischen Begrifflichkeit Murdochs lautet das Schlüsselwort in diesem Zusammenhang attention: I have used the word ‚attention‘, which I burrowed from Simone Weil, to express the idea of a just and loving gaze directed upon an individual reality. I believe this to be the characteristic and proper mark of the active moral agent. (SoG: 33) Vor diesem Hintergrund kommt dem Gebrauch dieses Wortes in der obigen Schlüsselpassage, sprich Jakes Spüren von Formen „beneath the level of […] [his] attention“ (UTN: 167; m.H.), eine gesteigerte Bedeutung zu. Erst in dieser kontemplativen Haltung, in der er sich für die kontingente Wirklichkeit öffnet, ist Jake zum moralischen Sehen fähig. Es ist ein solches moralisches Sehen, das gemäß Murdoch die wahre Freiheitsdimension des Menschen verkörpert. „The freedom which is a proper human goal is the freedom from fantasy […]. Freedom is not strictly the exercise of the will, but rather the experience of accurate vision which, when this becomes appropriate, occasions action.“ (SoG: 65) Ein solches Freiheitsverständnis wird in Under the Net durch die platonische Bildlichkeit in Verbindung mit dem Leitmotiv des Ausbrechens aus Räumen impliziert. Jake und Hugos Ausbruch aus dem Krankenhaus bzw. aus der „cave“ (UTN: 245), nachdem Jakes Begriffsnetz durch Hugos Ausführungen zerrissen worden ist, koppelt den epistemologischen Erkenntnisgewinn, dem bei Murdoch eine ethische Qualität zukommt, implizit an einen Freiheitsgewinn. Die vorangegangene Analyse erlaubt eine genauere Spezifizierung dessen, was mit der zuvor erwähnten Abrüstung des Subjekts in Under the Net gemeint ist. In erster Linie geht es um die Forderung nach einem Abbau des eigenen Egoismus, indem das Subjekt seine Aufmerksamkeit auf die kontingenten Partikularitäten seiner Umgebung richtet, seien es Personen oder Dinge, und seine Wirklichkeitswahrnehmung von ihnen beeinflussen lässt (vgl. Trampota 2003: 18). Dabei umfasst die Abrüstung des Subjekts bei genauerer Betrachtung sowohl die Forderung nach einem ‚Weniger‘ als auch nach einem ‚Mehr‘ an Subjekt. Durch die Aufmerksamkeitslenkung auf Prozesse des Innenlebens, die der Reduktion des Menschen auf ein <?page no="301"?> Under the Net 287 rational agent entgegenstehen, kommt es zu einer Erweiterung des Subjektverständnisses innerhalb eines moralphilosophischen Rahmens. Dies entspricht einem ‚Mehr an Subjekt‘. Gleichzeitig impliziert die positive moralische Codierung von Rezeptivität eine Ablehnung der Subjekt/ Objekt- Dichotomie, wie sie mit dem rational agent verknüpft wird. Gemäß der Subjekt/ Objekt-Dichotomie übt das Subjekt Verfügungsgewalt über das oder den Anderen aus: „Actions are, roughly, instances of moving things about in the public world.“ (SoG: 5) Mit der Beschreibung von Liebe als „co-existence“ (UTN: 268) auf Basis des Verzichts auf den Willen zum Wissen, d.h. eines Bemächtigungsanspruchs gegenüber dem Anderen, wird das Subjekt in positiver Hinsicht entmachtet. Dies entspricht einem ‚Weniger‘ an Subjekt. Der Fokus aufs Machen oder Tun wird durch eine kontemplative Haltung ersetzt, in der das Subjekt dafür offen ist, dass ihm/ ihr etwas widerfährt. Das Individuum überlässt sich dem Sein und erlaubt so seine Affizierung durch das Objekt (vgl. ebd.: 267: „let things take shape“.) 267 Das Mehr und Weniger des Subjekts in Under the Net laufen beide auf eine Revision des Menschenbildes der damals dominanten neokantianischen und existentialistischen Moralphilosphie hinaus. Als Zwischenfazit der bisherigen Ausführungen lässt sich die Rekonzeptualisierung von agency im Lichte der platonischen Idee vom Guten festhalten. Moralisches Handeln beginnt für Murdoch bei dem Versuch, zu einer Wirklichkeitssicht zu gelangen, die nicht vom eigenen Narzissmus verformt ist. Dementsprechend bevorzugt Murdoch für die Darstellung epistemologisch-moralischer Entwicklung „metaphors of […] vision“ (SoG: 15) und nicht metaphors of movement. Moralische agency und Kontingenzbewusstsein sind dabei konstitutiv miteinander verbunden, weil die wirklichkeitsgetreue Wahrnehmung des konkreten Individuell-Partikulären bedeutet, die Existenz von unkontrollierbaren und nicht kartografierbaren Bereichen zu akzeptieren. Trotz der vielen metaphors of vision in Under the Net kommen Jakes Bewegung durch den Raum sowie seiner Raumwahrnehmung ebenfalls eine hohe Signifikanz zu. Die Beschreibungen des Raums in Murdochs Roman sind für die Kontingenzthematik nicht alleine bedeutsam, weil eine platonische Bildlichkeit sie durchwirkt. Jakes Bedürf- 267 Die inszenierte Abrüstung des Subjekts in Under the Net verdeutlicht auf besonders anschauliche Weise, dass es zu kurz greifen würde, diesen Roman ausschließlich vor dem Hintergrund von Murdochs platonisch gefärbter Moralphilosophie zu lesen. Vielmehr drängt sich aufgrund der literarischen Beschreibungspassagen eine Fülle von produktiven Brückenschlägen zu weiteren philosophischen Theorien auf. Gedacht sei etwa an Adornos negative Dialektik, im Rahmen derer er ein reziprokes Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt einfordert, d.h. eine Haltung dem Anderen gegenüber, die diesem einen höheren Subjektstatus gewährt. Ein solches schließt die Bereitschaft mit ein, sich vom Objekt affizieren zu lassen. Eine ähnliche Forderung nach Auflösung einer starren Subjekt/ Objekt-Dichotomie bzw. nach einer Abrüstung des Subjekts findet sich beispielsweise auch in Peter Sloterdjiks Sphären-Triologie. <?page no="302"?> 288 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive nis nach einem Schutzraum bzw. einer ‚Höhle‘ gegen unkontrollierbare Kontingenzeinbrüche, die er zu Beginn des Romans als bedrohlich empfindet, stellt zwar einen wichtigen Aspekt dar. Allerdings legen Jakes detaillierte Beschreibungen Londons nahe, dem Raum an sich - unabhängig von platonischen Färbungen - eine hohe Gewichtung beizumessen. Ziel des nachfolgenden Kapitels ist es, die Relevanz der Raum- und Zeitgestaltung in Under the Net für die Kontingenzthematik genauer herauszuarbeiten. 4.2 Raumbindung als Kontingenzbewältigungsstrategie in einer sich beschleunigenden Gesellschaft Ein Indikator für die hohe Bedeutung, die der Raum bei Jakes Wirklichkeitswahrnehmung einnimmt, ist die außerordentliche Fülle an detaillierten Stadtbeschreibungen in seinem Erzähldiskurs. Die Bedeutung dieser Detaillfülle geht über die Funktion ästhetischer Illusionsstiftung hinaus, die typisch für den realistischen Roman ist. Vielmehr unterstreichen Jakes minutiöse Beschreibungen einzelner Örtlichkeiten in London seine starke Verbundenheit mit diesem städtischen Lebensraum. Diese Verbundenheit thematisiert Jake selbst explizit bereits in den Eröffnungszeilen seiner Erzählung. Jakes Geschichte beginnt mit seiner Rückkehr von einer kurzen Auslandsreise: „I hate the journey back to England anyway; and until I have been able to bury my head so deep in dear London that I can forget that I have ever been away I am inconsolable“ (UTN: 7). Jakes Liebe zu London, die in diesen Zeilen zum Ausdruck kommt, und seine starke Verwurzelung in diesem Lebensraum manifestieren sich in seinen hervorragenden Ortskenntnissen und insbesondere seiner aufmerksamen Registrierung räumlicher Details (vgl. Martz 1971: 72). 268 Jake ist ein Londoner mit Leib und Seele. Aufgrund seiner engen Affinität zu dieser Stadt spielt London eine konstitutive Rolle bei seinem Identitätsentwurf (vgl. auch Ridenhour 2003: 11). Seine Londoner Raumwahrnehmung liefert dabei Hinweise auf seine Kontingenztoleranz: The various picaresque episodes of Under the Net occur in very specific places. Nowhere in the novel can be found an ambiguous location. […] 268 Die Bedeutung Londons in Murdochs literarischen Werken wird in der Forschung wiederholt konstatiert: „London is a real presence in the books, indeed seems to figure sometimes as an extra character, and even when her people are having a hellish time there, which is often, the author’s loving and patient apprehension of the city comes through. This is the more noticeable in that, Dickens and Woolf apart, London has lacked distinguished celebrants.“ (Conradi 2001: 5) Siehe auch Martz (1971), Bove (2008) sowie Ridenhour: „Murdoch makes frequent use of London in her work, employing a specificity of detail and geography that points to both a celebration of the city and an awareness of its reflection of the motives and actions of its inhabitants.“ (Ridenhour 2003: 3) <?page no="303"?> Under the Net 289 [T]he evocation of specific addresses becomes almost totemistic in the novel. (ebd.: 14) Jake can rely on his knowledge of the city just as he feels he can rely on his informed and reflective worldview. Jake’s recitations of the landmarks and patterns of the city are like arcane knowledge - incantations against the unknown […]. (ebd.: 12) Jakes Orientierungsvermögen im Raum kann somit als eine Abwehr von Kontingenz begriffen werden, weil in seiner Kartografierung des Raums keine Bereiche auftauchen, die sich seinem Netz entziehen. Die Funktion einer Kontingenzaufhebung, auf die Jakes räumliches Wahrnehmungsnetz ausgerichtet ist, wird durch seinen Rückgriff auf die Ordnungskategorie einer Zentrum/ Peripherie-Dichotomie verstärkt. There are some parts of London which are necessary and others which are contingent. Everywhere west of Earls Court is contingent, except for a few places along the river. I hate contingency. I want everything in my life to have a sufficient reason. (UTN: 26) Das Wohnen im zentralen und damit ‚notwendigen‘ Stadtteil von London dient Jake, seinen eigenen Ausführungen zufolge, im wahrsten Sinne als kompensatorischer Ersatz für seine fehlende sinnhafte Verortung im historischen Prozess. So betont er, dass sein Bekannter Dave es sich nur leisten kann, im kontingenten Teil Londons zu wohnen, weil er zwei Gegengewichte hat. Erstens beschäftigt er sich als Philosoph von Berufs wegen mit „the central knot of being“ (ebd.) und zweitens berge sein Judentum ein kontingenzaufhebendes Moment: „since he is Jewish he can feel himself to be a part of History without making any special effort“ (ebd.). Demgegenüber müsse er, Jake, wesentlich härter arbeiten, um sich ebenfalls als notwendiger Teil des historischen Prozesses zu begreifen. Sein Lösungsmodell für diese Herausforderung bzw. seine Strategie zur Aufhebung von Kontingenz beschränkt sich nicht auf seinen Glauben an Vorsehung. Vielmehr legen die bisherigen Hinweise zur Raumwahrnehmung nahe, dass Jake versucht, die drohende Kontingenzerfahrung in der Zeit durch das Wohnen in einem ‚notwendigen‘ und damit kontingenzfreien Raum zu kompensieren. Es zeichnet sich somit eine auffällige Dualität in der Kontingenzfärbung von Raum und Zeit in Under the Net ab. Bei genauerer Betrachtung erscheint der hohe Stellenwert, den der Raum für Jake einnimmt, 269 nicht lediglich als eine merkwürdige Idiosynkrasie. Stattdessen kann seine Aufwertung des Raumes als kompensatorische Strategie in Reaktion auf die Beschleunigungsprozesse der moder- 269 Jakes Privilegierung von Raum als Wahrnehmungskategorie geht so weit, dass er sogar das Lesen eines Buches als Raum- und nicht Zeiterfahrung beschreibt: „Starting a novel is opening a door on a misty landscape; you can still see very little but you can smell the earth and feel the wind blowing.“ (UTN: 277f.; m.H.) <?page no="304"?> 290 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive nisierten Gesellschaft gewertet werden. Einen ersten Hinweis auf solch eine Lesart liefert die Eröffnung von Jakes Erzählung, in der seine Aussage zur starken Verbundenheit mit London in Ausführungen zum alptraumhaften Charakter von Zugfahrten eingebettet ist: „Trains are bad for the nerves at the best of times. What did people have nightmares about before there were trains? “ (UTN: 7) Für eine Person, die nach eigener Aussage auf Schutzräume zur Stabilisierung der eigenen Identität angewiesen ist, 270 muss eine Zugfahrt insofern als alptraumhaft erscheinen, als die Zugfahrt mit der Erfahrung einer Raumschrumpfung einhergeht. 271 Zu den Beschleunigungsprozessen in der Moderne gehört nicht nur die technische Beschleunigung, wie sie durch die Eisenbahn verkörpert wird, sondern auch diejenige des sozialen Wandels sowie die Beschleunigung des Lebenstempos (vgl. Kap. II.2.1). Die beschleunigte Veränderung der Lebenswelt führt häufig zu einem „Steuerungsbzw. Kontingenzbewältigungsproblem“ (Rosa 2005: 43) auf Seiten der Individuen, da sie „ihr Leben langfristig planen […] müssen, um ihm eine gewisse zeitresistente Stabilität zu verleihen, ohne dies angesichts der wachsenden Kontingenz der sozialen Verhältnisse jedoch rational tun zu können“ (ebd.). Es kommt zu Desynchronisationserscheinungen, insbesondere zur Erfahrung eines Auseinanderfallens von „akteursleitenden Zeithorizonte[n]“ (ebd.: 46), und zwar „der Perspektiven von Alltagszeit, biografischer Zeit und historischer Zeit“ (ebd.). Prägnantes Beispiel für eine solche Desynchronisation sind Jakes Bemühungen, nicht aus der historischen Zeit herauszufallen: „I find I have to work harder and harder every year to keep in with History.“ (UTN: 26) Darüber hinaus rufen Jakes „shattered nerves“ (UTN: 23), deren Ursache und Genese von ihm nicht weiter erklärt werden, den breiten Diskurs zum neuen „geschwindigkeitsinduzierten Krankheitsbil[d]“ (Rosa 2005: 83) 270 Vgl. UTN: 23: „What is more important for the purposes of this tale, I have shattered nerves. […] I have them; and one effect of this is that I can’t bear being alone for long. […] But more than this, I hate living in a strange house, I love to be protected. I am therefore a parasite, and live usually in my friends’ houses.“ 271 Zur Raumschrumpfung bzw. time-space compression (David Harvey) siehe die Ausführungen im Kap. II.2 der vorliegenden Arbeit. Nach der Einführung der Eisenbahn wird der Prozess der Raumschrumpfung „im 20. Jahrhundert weiter vorangetrieben durch die Erfindung und Verbreitung des Automobils und des Flugzeugs“ (Rosa 2005: 164). Jake hasst zwar das Reisen in Zügen und Flugzeugen, allerdings stellen für ihn Reisen im Automobil nach eigener Aussage kein Problem dar. Auf den ersten Blick scheint damit die These von Jakes Ablehnung von Raumschrumpfung als Folge des modernen Transportwesens in Frage gestellt. Allerdings fällt auf, dass die einzigen Automobilfahrten, die von ihm geschildert werden, seine Busfahrten innerhalb Londons sind. Jakes Sicherheit im Umgang mit Londons öffentlichem Verkehrswesen, d.h. er weiß immer genau, welche Buslinie wohin fährt, liest sich als Bestandteil seiner genauen Kenntnisse Londons. Damit bilden die Automobilbzw. Busfahrten innerhalb Under the Net Elemente von Jakes Raumbindung und gehören nicht zu seiner Erfahrung der Raumschrumpfung. <?page no="305"?> Under the Net 291 auf, der prominent in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kursierte, nämlich den Diskurs zur Nervosität bzw. Neurasthenie. 272 Kehrt man vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen zu Murdochs Romananfang zurück, so lässt sich die dort identifizierbare Abfolge an Themen in eine spezifische Kausalitätsbeziehung setzen, die über die Plot-Ebene hinausgeht. Die Erzählung eröffnet mit Jakes Feststellung, „that something had gone wrong“ (UTN: 7), handelt dann von seiner Verbundenheit mit London gefolgt von den Bemerkungen über seine Aversion gegen Zugfahrten, an die sich wiederum die Information über den Verlust der Bleibe anschließt. Das Auseinanderbrechen von Jakes Universum „into a mess of […] poor pieces“ (ebd.: 9), die aus dem Verlust der Unterkunft resultiert, wird somit in die diskursive Nähe zur negativ codierten Eisenbahn gerückt, und damit zugleich in die Nähe einer Vernichtung von Raum durch Zeit. Die obigen Überlegungen verdeutlichen, dass diese diskursive Nähe nicht nur als ein reines Oberflächenphänomen zu werten ist. Vielmehr lässt sich auf tiefenstruktureller Ebene eine Kausalitätsbeziehung zwischen Jakes Verlust an stabilisierender Ordnung sowie seiner „profound sense of homelessness“ (ebd.) und der Veränderung des Raum-Zeit- Gefüges in der Moderne herstellen. Diese Kausalität wird durch die Abfolge der Themen angedeutet. Der Mobilisierung der Gesellschaft setzt Jake Schutz- und Ruheorte entgegen: „When I am fixed I am immobile. But when I am unfixed I am volatile, and then I fly at random from point to point like a firecracker or one of Heisenberg’s electrons until I settle down again in another safe place.“ (UTN: 35) Einen wichtigen Schutzhafen für Jake bildet Mrs. Tinckhams Laden. Diesem Ort kommt insofern gesteigerte Bedeutung zu, als Jake ihn am Anfang und Ende der Erzählung besucht, so dass dieser Ort zu einer Rahmenbzw. Kreisstruktur des Romans beiträgt. 273 Die Neutralisierung der modernen Beschleunigungserfahrungen in diesem Schutzort zeigt sich darin, dass Zeit dort nicht zu vergehen scheint, weil sich nichts verändert. Der Laden nimmt in Jakes Beschreibung den Charakter eines sakralmythischen Ortes an, an dem Mrs. Tinckham wie eine „earth goddess surrounded by incense“ (ebd.: 18) bzw. als „aged Circe“ (ebd.: 283) wacht. Angesichts Jakes ausgeprägter Aversion gegenüber Zügen ist es erklärungsbedürftig, dass er am Ende der Geschichte die Augen von Mrs Tinckhams Katzen, die sich im Laden befinden, ausgerechnet mit „the lights of a 272 Zu den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als Zeitalter der Nervosität siehe Rosa (2005: 83). 273 Zur Kreisstruktur des Romans siehe auch Bradbury (1962: 47f.): „At the beginning of the book we find Jake homeless and jobless, his only centre the accommodation address provided by Mrs. Tinckham. At the end of the novel Jake is in much the same state. Few things have changed for him; after talk of love he is no nearer to being in it; after much exchange of money […] he has much the same bank balance as he had in the beginning. But a process of renewal has taken place within him“. <?page no="306"?> 292 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive railway terminus in the fog“ (UTN: 276) vergleicht. Jakes Assoziation steht auf den ersten Blick in einem deutlichen Spannungsverhältnis zu der Codierung des Ladens als Schutzraum, weil die mit der Zugfahrt verbundene Erfahrungswelt von ihm zuvor negativ bewertet worden ist. Da dieses Element am Ende der Geschichte auftaucht, liegt die These nahe, dass Jakes Entwicklung hin zur Kontingenztoleranz eine Zusammenführung von zuvor als antagonistisch gewerteten Elementen der Lebenswelt erlaubt. Um diese These zu überprüfen, soll zunächst das Motiv der mechanischen Uhr in Under the Net näher untersucht werden. Die mechanische Uhr steht in einem engen Zusammenhang mit der Welt der Eisenbahn, weil die Fahrplankonsolidierung der Bahn die nationale Standardisierung der Zeit erzwang (vgl. Rosa 2005: 163). Die mechanische Uhr bildete dabei die technische Voraussetzung für eine solche Standardisierung. Die hohe Signifikanz des Motivs der mechanischen Uhr für die Erkundung des Raum-/ Zeitgefüges deutet sich bereits durch das Auftauchen dieses Motivs zu Beginn und am Ende der Erzählung an, d.h. auch diesem Motiv kann eine rahmende Funktion zugeordnet werden. Jake selbst fasst den wiederkehrenden Verlust seiner Bleibe mit den für ihn bedrohlichen Folgen der Ordnungsauflösung in das Bild vom Universum als mechanische Uhr: „This was what always happened. I would be at pains to put my universe in order and set it ticking, when suddenly it would burst again into a mess of the same poor pieces, and Finn and I be on the run.“ (UTN: 9; m.H.) Entscheidend für die „Emanzipation der Zeit vom Raum“ (Rosa 2005: 61) in der Moderne, die schließlich zu der oben beschriebenen Raumschrumpfung führte, war die Einführung der mechanischen Uhr bzw. der standardisierten Zeit, weil dadurch die Zeit losgelöst von der Qualität des Ortes angegeben werden konnte (vgl. ebd.: 62). Umso mehr erstaunt die positive Codierung der mechanischen Uhr in Jakes Bildlichkeit, wurde doch eben noch argumentiert, dass er die Raumschrumpfung als bedrohlich empfindet, weil er personale Identität mit einem festen Ort verknüpft. Dieses Spannungsmoment löst sich auf, wenn man die solipsistische Qualität von Jakes Universum berücksichtigt. In diesem solipsistischen Universum repräsentiert die mechanische Uhr keine standardisierte Kollektivzeit. Aufgerufen wird vielmehr die Bildtradition von Gott als Uhrmacher, womit Jake zugleich einen gottgleichen Status für sich reklamiert. Im weiteren Verlauf der Erzählung fällt auf, dass nicht nur die Raumbeschreibungen sehr detailreich sind, sondern dass auch wiederholt genaue Zeitangaben gemacht werden (vgl. z.B. „The next day round about ten o’clock“, „When 4.30 approached“, „It was about 9.15“, „it was only half-past eleven“ und „The time was then about twenty to three“; UTN: 55, 85, 88, 127, 137). Neben der Ordnungsfunktion dieser Zeitangaben für die Plot-Ebene lassen sich noch zwei weitere zentrale Funktionen festhalten. Einerseits unterstützen diese genauen Zeitangaben Jakes genaue Konturie- <?page no="307"?> Under the Net 293 rung des Raumes, da sich der Raum in der Zeit verändern kann. Besonders anschaulich wird dies bei Jakes veränderter Wahrnehmung des Krankenhausgeländes bei Nacht (vgl. ebd.: 243f.). Andererseits können Jakes genaue Hinweise zur Uhrzeit, ähnlich wie in Virginia Woolfs Romanen, als Verweise auf eine standardisierte Kollektivzeit gelesen werden, die Jakes Solipsismus entgegensteht, auch wenn er selbst diese Signalwirkung nicht wahrnimmt. Das Motiv der mechanischen Uhr taucht am Ende der Erzählung wieder auf, als Hugo Jake im Krankenhaus mitteilt, dass er Uhrmacher werden möchte. Kurz zuvor hatte Jake die wichtige Erkenntnis gewonnen, dass er das Beziehungsverhältnis zwischen Hugo, Sadie, Anna und sich selbst vollkommen falsch gedeutet hat. Bezeichnenderweise greift auch Hugo den Topos von Gott als Uhrmacher auf, und zwar als er seine Berufswahl Jake gegenüber begründet: „[Watchmaking is] an old trade. Like baking bread. […] God is a task. God is detail. It all lies close to your hand.“ (UTN: 258) Dieses Mal dient die Bildlichkeit von Gott als Uhrmacher jedoch nicht dem Solipsismus des Individuums. Vielmehr wird die Uhr mit der Aufmerksamkeit auf das Partikulare („detail“) verknüpft. Ausgehend von diesem Befund lässt sich darüber hinaus Hugos Berufswahl auch als Sinnbild für eine gelungene Zusammenführung des Allgemein-Abstrakten und des Partikularen lesen: Das Allgemein-Abstrakte (nämlich die standardisierte Uhrzeit) wird im Objekt der Uhr konkretisiert und zugleich mit einer Aufmerksamkeitslenkung auf das Partikulare verbunden. Hugos Berufswahl des Uhrmachers ist somit nicht willkürlich, sondern seiner Welthaltung geschuldet (vgl. auch Conradi 2001: 56). 274 Es lässt sich eine Analogie zwischen der Semantisierung der mechanischen Uhr am Ende der Geschichte und der Bedeutung ziehen, die der bildlichen Präsenz der Eisenbahn in Mrs. Tinckhams Laden zugeordnet werden kann. Aufgrund der Raumschrumpfung steht die Eisenbahn in erster Linie für eine spezifische Zeiterfahrung, nämlich eine standardisierte Kollektivzeit, die von qualitativen Besonderheiten abstrahiert. (Erinnert sei an die für die Bahn typische Angabe von Raumdistanzen in Form von Reisezeit, bspw. London - Oxford: 45 Minuten.) Demgegenüber liegt der Fokus in Mrs. Tinckhams Laden auf der Unergründbarkeit des Partikularen. Konkret geht es um einen Wurf junger Kätzchen, von denen zwei wie Siamkatzen und zwei wie Mischlingskatzen aussehen. Jake verzichtet auf 274 Vgl. demgegenüber Viebrocks Interpretation von Hugos Berufswahl: „Die Antinomie von Kontingenz-Notwendigkeit wird […] von Jake […] als Gegensatz von order und mess in lässiger erzählerischer Weise entfaltet; dabei ist die angestrebte Ordnung die einer Art mechanistischen Universums, das Jake gerne wie ein Uhrwerk basteln und in Gang setzen möchte, ein Wunschtraum, den in genau dieser Weise sein Freund Hugo, der Kontingenz seines bisherigen Daseins entsagend, verwirklicht, als er - sicher in absichtlicher ironischer Analogie zum Gott mechanistischer Vorstellungen im 18. Jahrhundert - Uhrmacher zu werden beschließt“ (1965: 354; m.H.). <?page no="308"?> 294 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive abstrahierende Erklärungen, um diesen Zufall der Natur zu erklären, und betont stattdessen, „It’s just one of the wonders of the world.“ (UTN: 286) Jakes Vergleich der Augen von den erwachsenen Katzen mit den Lichtern einer Eisenbahnstation verbindet das Abstrakt-Standardisierende (metonymisch aufgerufen durch das Motiv des Zuges) und das mysteriös Partikulare (evoziert durch die Katzen). Die Lichtmetaphorik in Jakes Vergleich deutet die Grundlage für einen solchen verbindenden Gestus an: Es ist das Licht eines Kontingenzbewusstseins, das eine Balance zwischen Abstrakt- Standardisierendem und Konkret-Partikulärem erlaubt. Ziel dieses Unterkapitels war es, die Bedeutung des Raum-/ Zeitgefüges in Under the Net für die Kontingenzerfahrung differenzierter herauszuarbeiten. Dabei wurde gezeigt, dass nicht nur die Bezüge zum Platonismus bei der Raumdarstellung wichtig sind. Vielmehr stehen die Raum- und Temporalstrukturen im Zeichen einer sich beschleunigenden Gesellschaft. Angesichts der engen Verknüpfung zwischen der Raum- und Kontingenzthematik lohnt es sich, einen genaueren Blick auf Jakes Beschreibung desjenigen Stadtteils zu werfen, wo „contingency reaches the point of nausea“ (UTN: 156). Wie die nachfolgende Argumentation zeigt, führt die Analyse von Jakes Beschreibung dieses besonderen Ortes unweigerlich zu einer Erweiterung der Kontingenzthematik um die Aspekte von Tod und Karnevalismus. 4.3 Kontingenzsensibilisierung und -toleranz durch eine Karnevalisierung von Welt Es ist „a suburb of Southern London“ (UTN: 156), in dem Jakes Meinung nach die Kontingenz übelkeitserregende Dimensionen annimmt. In diesem Stadtteil befindet sich Belfounders Filmstudio. Die von Jake attestierte Kontingenz beschränkt sich allerdings nicht nur auf die periphere Ortslage des Studios. Vielmehr gelangt Jake in eine Welt, in der die Grenzen zwischen Sein und Schein kurzzeitig verwischen, so dass der ontologische Status von Realität ins Rutschen gerät. Diese Grenzverwischung tritt auf, als Jake angesichts einer großen Menschenmasse, die einem Sprecher lauscht, annimmt, der Filmdreh von The Truth About Catiline! wäre gerade in vollem Gange. Es handelt sich allerdings um eine von Belfounder genehmigte politische Veranstaltung, bei der Lefty Todd zu den Angestellten des Filmstudios spricht und sie als Aktivisten des Kommunismus gewinnen möchte. Darüber hinaus wird der Wahrheitsanspruch des historischen Films satirisch untergraben, wenn es heißt, dass zwar drei führende Althistoriker als Berater tätig sind, allerdings unklar sei, ob die ungewöhnliche Darstellung von Catilinas Frau im Film neueren Forschungsergebnissen oder lediglich der Inanspruchnahme von künstlerischer Freiheit geschuldet sei (vgl. ebd.: 157). Die historische Wahrheit erweist sich in diesem Licht als höchst kontingent im Sinne eines konjunktivischen Denkens: Es könnte <?page no="309"?> Under the Net 295 auch anders sein. Allerdings ist wichtig festzuhalten, dass eine ontologische Verunsicherung nur kurzzeitig in dieser Episode aufgerufen wird. Wie die vorangegangene Analyse der platonischen Bildlichkeit verdeutlicht hat, befinden wir uns in Under the Net nicht in einem Baudrillardschen Universum der Simulakra. Das Studio erweist sich vor allem als Ort der Kontingenzerfahrung, weil es Schauplatz eines Versinkens von Ordnung ins Chaos ist. Es kommt zu einem Kampf zwischen den Anhängern Leftys und den United Nationalists, bei dem die jeweiligen Kontrahenten für die Beobachter ununterscheidbar werden. Als Hugo, Jake und Lefty sich einen Weg aus dem Studio frei sprengen wollen, bricht zudem die gesamte Filmkulisse zusammen, so dass eine Fragmentarisierung von Welt und (scheinbar) menschlichen Körpern eintritt (vgl. UTN: 169). Das ausgebrochene Chaos, die Auflösung sämtlicher Ordnungsstrukturen an diesem Ort, umfasst zudem eine Unterminierung der Dichotomie von Zentrum und Peripherie. In der Londoner Peripherie wird das Zentrum des römischen Imperiums wieder zum Leben erweckt, denn der im Dreh befindliche Film spielt in Rom. Somit ist eine klare räumliche Unterscheidung zwischen Zentrum/ Peripherie unmöglich. 275 Besonders brisant an den dargestellten Auflösungs- und Grenzverwischungserscheinungen sind die zeitpolitischen Implikationen, die ihnen zugeordnet werden können. Das Versinken dieser römischen Filmkulisse im Chaos bzw. das Auseinanderfallen der Gebäude kann als Anspielung auf den Zustand des eigenen Empire gelesen werden, d.h. als Bezugnahme auf Auflösungserscheinungen des britischen Imperiums nach dem Zweiten Weltkrieg. 276 275 Die Fragwürdigkeit von Jakes Aufteilung Londons in kontingente und nichtkontingente Bereiche betont auch Ridenhour (2003: 13): „This division of the city is as arbitrary as any other net thrown over any other concept, and there is evidence that it is just as false. Several pivotal events occur in ‚unnecessary‘ parts of the city.“ Zur Verknüpfung von Raum und Kontingenz siehe auch Viebrock (1965: 349): „Alle Orte der Handlung liegen im kontingenten London, westlich, südlich, östlich der City, einschließlich Sohos. Diese kontingenten Bezirke sind der rechte Nährboden für die absurden Situationen und die ambivalenten Episoden in ihnen. Das Moment des Irreführenden, Irrationalen, Absurden, das den nach Sinn und Sicherheit seiner Existenz suchenden Jake narrt und trügt, ist als Aspekt dieser Kontingenz zu verstehen, die sich in der epischen Bewegung dialektisch entfaltet, so daß Widersinn in Sinn umschlägt, wie Täuschung in Ent-Täuschung.“ 276 Zur Geschichte des britischen Empire in den 1950er Jahren siehe Lynn (2006). Zum Motiv des Fragmentarischen und Chaos in der englischen Nachkriegsliteratur siehe auch Jordan (2010: 52): „As John Brannigan has argued, the post-Second World War act of imagining Europe as a composite identity, a place of civilization and culture […], was a mammoth, and perhaps, impossible task […]. Europe was […] literally fragmented by the war into previously non-existent geographical entities, and this idea of disintegration and fragmentation was echoed again and again by individuals, and became a totemic collective articulation of emotion and experience.“ <?page no="310"?> 296 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Der übelkeitserregende Grad an Kontingenz, den Jake mit diesem Teil Londons assoziiert, lässt sich allerdings über die bisher herausgearbeiteten Kontingenzfacetten mit einer weiteren Eigenheit erklären. Bei genauerer Betrachtung erweist sich Jakes Besuch des Studios als metaphorischer Gang in die Unterwelt. Es gibt eine Reihe an textuellen Signalen, die diese Lesart stützen. Schon zu Beginn des Studiobesuchs wird das Motiv der Unterwelt aufgerufen, als Jake die drei Wächter am Studioeingang als „Cerberi“ (UTN: 157) bezeichnet und sie damit dem dreiköpfigen Hund gleichsetzt, der den Eingang zum Hades bewacht. Wie in der griechischrömischen Mythologie ist es nicht ohne weiteres möglich, die Unterwelt wieder zu verlassen: „A superhuman voice was saying NO ONE IS TO LEAVE“ (ebd.: 170; m.H.). Erst durch Jakes Trick mit seinem Hund Mars, bei dem er ihm befiehlt, sich tot zu stellen, kann er das Studio verlassen bzw. die Polizeisperre überwinden. Bezeichnenderweise ‚erwacht‘ Mars auf Geheiß Jakes erst wieder zum Leben jenseits des Studiobzw. Totenreichs. Das Motiv der Wiedererweckung von den Toten wird ferner durch das christliche Motiv der Auferstehung vertieft, indem Jake mit Mars sofort in Richtung „New Cross Road“ (ebd.: 172) eilt. Der Tod lässt sich als eine besonders radikale Form von Widerfahrniskontingenz begreifen; er kann zu jeder Zeit ins Leben einbrechen und entzieht sich jeglicher Kontrolle. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, wenn Jake ausgerechnet der Unterwelt eine übelkeitserregende Kontingenz zuordnet. Dem humoristischen Grundton des Romans entsprechend wird die Bedrohung des Todes allerdings ins Komische verwandelt und in ein karnevalistisches Weltempfinden eingebettet. Gemäß Bachtin zeichnet sich das karnevalistische Bewusstsein insbesondere dadurch aus, dass Tod und Leben als Bestandteil eines ständigen Prozesses der Erneuerung begriffen werden, so dass der Tod keine absolute Grenze markiert (vgl. Bachtin 1995 [1965]: 69-77). Die karnevalistischen Lach-Riten sind dabei Ausdruck von Vitalität und schöpferischer Kraft. Ein weiterer zentraler Zug des Karnevals ist die Aufhebung und Inversion von sozialen Hierarchien sowie das Verlachen von gesellschaftlichen Autoritäten. In Jakes Auferweckung von Mars kommen diese karnevalistischen Momente zusammen. Der (Schein)Tod markiert keine Grenze, sondern es folgt sogleich die Auferstehung; eine Auferstehung, die von der herumstehenden Menge mit „an immense roar of laughter“ (UTN: 172) begrüßt wird. Das Lachen der Menge erscheint als ein karnevalistisches Verlachen der Autoritäten bzw. der Polizei, die durch den Pikaro überlistet worden sind. Als unmittelbare Reaktion auf das Lebendigwerden des Hundes kann das Lachen der Menge zudem als Ausdruck von Vitalität gewertet werden. Die Tatsache, dass nicht einzelne Leute, sondern die Menge insgesamt lacht, verweist auf die <?page no="311"?> Under the Net 297 kollektive Dimension des Karnevals: Es geht im Karneval um die lachende Regeneration und Vitalisierung der Gemeinschaft. 277 Wenn das Bedrohungspotential des Todes als radikaler Kontingenzeinbruch durch das karnevalistische Lachen positiv in eine regenerative Kraft verwandelt wird, so kommt Jakes fehlende Teilnahme am Lachen der Menge, mit der die Episode endet (d.h. Jake selbst lacht nicht über die Geschehnisse), eine tragende Bedeutung zu. Kontingenz ist für ihn weiterhin negativ codiert. Demgegenüber wird im Karneval insofern Kontingenz affirmiert, als es (zumindest ein Stück weit) zu einer Aufhebung dominanter gesellschaftlicher Hierarchisierungen und Ordnungsstrukturen kommt. 278 Im karnevalistischen Verlachen von autoritativen Ansprüchen auf absolute Wahrheiten liegt ein kontingenzaffirmierendes Moment. Darüber hinaus hängt Jakes Distanzierung vom Karneval auch mit seiner solipsistischen Welthaltung zusammen. Solipsismus und karnevalistisches Weltempfinden schließen sich aufgrund der Ausrichtung des Karnevals auf die Erfah- 277 Die Analyse der Studio-Szene als karnevalistische Inszenierung ließe sich erweitern um die Identifikation von Elementen, die Bachtin als karnevalistische Mesalliancen bezeichnet, d.h. die Zusammenführung von Bereichen, die normalerweise getrennt werden (z.B. die Vermischung des Profanen mit dem Sakralen). Zu solch einer karnevalistischen Mesalliance zählen die heroische Rhetorik und die Bezugnahmen auf epische Schlachten der griechisch-römischen Mythologie, mit denen die Schlägerei zwischen Linken und Nationalisten auf dem Studiogelände beschrieben werden: „In the distance we could see Lefty, still mounted on his chariot, […] while round him, as about the body of Hector, the battle raged to and fro with particular ferocity. Nearby the long banner which said SOCIALIST POSSIBILITY rose and fell upon the surge. Now one end of it descended as the standard bearer fell before an onslaught, […] but eager hands soon raised it once more to flutter its thoughtful message above the scene.“ (UTN: 165; m.H.) In dieser Passage resultiert der komische Effekt nicht nur aus der Analogisierung der blutigen Schlägerei mit einem Kampf mythischen Ausmaßes, sondern der Hinweis auf die „thoughtful message“ gehört nicht zur Isotopielinie ‚Kampf/ Schlacht‘, so dass eine weitere karnevalistische Mesalliance gebildet wird. Weitere Details wie etwa der Vergleich Leftys mit einem „circus dog“ (ebd.: 167; m.H.) verstärken den Eindruck eines karnevalistischen Treibens. Die herausgearbeiteten karnevalistischen Züge bedeuten allerdings nicht, dass die in der Studioszene implizierte zeitpolitische Diagnose aufgehoben wird. Das epische Gewicht, welches dem Kampf zwischen Anhängern des Sozialismus und den Nationalisten beigemessen wird, kann bei aller Komik dennoch auch als Hinweis auf die potentielle gesellschaftliche Sprengkraft der sozialistischen Bewegung gelesen werden. 278 Die Frage, inwieweit bei dem karnevalistischen Treiben tatsächlich von einem hierarchiefreien und subversiven Fest gesprochen werden kann, so wie es Bachtin vorschlägt, ist in der Fastnachtforschung umstritten. Eine Schwierigkeit liegt in der Quellenlage, d.h. es herrscht Skepsis, ob eine „verkündete ‚Volkskultur‘ des Spätmittelalters und der Renaissance im 20. Jahrhundert überhaupt noch nachprüfbar bzw. aus den literarischen und nichtliterarischen Quellen eruierbar ist“ (Schwamborn 1998: 23). Bachtin selbst hat bei seiner kulturgeschichtlichen Analyse des Karnevals deskriptive und utopisch-weltanschauliche Momente miteinander vermengt (vgl. Lachmann 1995: 19). Zur Kritik an Bachtins Konzeptualisierung der Fastnacht als subversiv siehe Dentith (1995: 63-76). <?page no="312"?> 298 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive rung von Gemeinschaft aus. Besonders deutlich wird dieses antagonistische Moment bei Jakes Aufenthalt in Paris, bei dem er davon absieht, am karnevalistischen Treiben der Stadt anlässlich des Nationalfeiertags am 14. Juli teilzunehmen und bewusst eine distanzierende und isolierende Attitüde einnimmt: „No one is left outside; until the whole city has turned into one enormous party. To be alone in such a carnival is a strange experience. I decided to refrain from drinking. After a few drinks I knew that a sentimental loneliness would begin to spoil my detachment.“ (UTN: 211) Auch inmitten dieses karnevalistischen Lachens ist der Tod präsent, und zwar in dem Moment, als Jake eine verzerrte Spiegelung seiner geliebten Kirche, der Notre-Dame, in der Seine sieht: I could see mirrored beneath it [= Notre-Dame] in the unflecked river a diabolic Notre-Dame, sketched there but never quite motionless, like a skull which appears in a glass as the reflexion of a head. Very gently the illumined image bulged and fragmented, absorbed in its own quiet rhythm, ignoring the crowds […]. (ebd.: 212; m.H.) Die Spiegelung wird von Jake wahrscheinlich als diabolisch gewertet und mit dem Tod assoziiert, gerade weil sie sich Ordnungs- und Fixierungsversuchen widersetzt. Statt einer klaren Gestalt erscheint ein grotesker und zerstückelter (Architektur)Körper. Einerseits ruft der groteske Spiegelkörper der Kirche, wie er durch die Adjektive „bulged and fragmented“ (s.o.) beschrieben wird, ein zentrales Element des Karnevals auf. Gemäß Bachtin kommt dem Körper ein ‚kosmischer‘ (und nicht individueller) Charakter zu, der zugleich im Zeichen der karnevalistischen Dynamik steht, denn der groteske Körper erscheint nie als „fertig und abgeschlossen, [sondern] er ist immer im Entstehen begriffen“ (Bachtin 1995 [1965]: 358). Der groteske Körper dient im Kontext des karnevalistischen Treibens einer sinnlichen Verknüpfung von Gegensätzen. Diese typischen Elemente sind auch in der Notre-Dame Spiegelung enthalten: Eine kosmische Dimension tritt in Form der Kirche selbst in Erscheinung, wobei zugleich die Gegensätze ‚heilig/ diabolisch‘ miteinander vermengt werden („diabolic Notre-Dame“). Die unabschließbare Natur des grotesken Körpers wird durch die dynamische Natur der Spiegelung („never quite motionless“) herausgestellt. Andererseits fällt jedoch die fehlende Konnektivität zwischen dem gespiegelten grotesken Architekturkörper und dem feiernden Volk auf, denn die diabolische Notre-Dame ist „absorbed in its own quiet rhythm, ignoring the crowds“. Diese Diskonnektivität kann als Ergebnis von Jakes Projektionsarbeit interpretiert werden. So wie seine negative Codierung von Kontingenz ihn dazu verleitet, beim Anblick eines dynamischen Körpers das Diabolische und den Tod wahrzunehmen, so projiziert er seine eigene Distanz zur Menge auf das Spiegelbild. Da das Groteske einen eklatanten Bruch mit kulturellen Ordnungskonventionen vollzieht, kann es als eine Manifestationsform von Kontingenz <?page no="313"?> Under the Net 299 gewertet werden. Das Groteske fungiert als „Platzhalter für das [kulturell] Unintegrierbare“ (Fuß 2001: 73). Der Aspekt des kulturell Unintegrierbaren erstreckt sich nicht nur auf die karnevalistische Auflösung von Dichotomien zugunsten einer subversiven „chimärische[n] Struktur des Sowohl- Als auch“ (ebd.: 115), sondern auch auf die Evokation des Todes mit dem Bild des grotesken Schädels. Aufgrund von Jakes distanzierender Haltung zum Karneval kann er diesen Kontingenzformen jedoch keine regenerative Kraft abgewinnen. So überrascht es dann nicht, dass die unmittelbar auf diese Erscheinung folgenden Ereignisse von einer Verlusterfahrung handeln (dem Verlust Annas); eine Verlusterfahrung, die zugleich sein Verharren in seinem solipsistischen Universum verdeutlicht. Dass der Karneval demgegenüber darauf ausgerichtet ist, solipsistische Einkapselungen aufzubrechen, zeigt sich in der Wirkung, welche die karnevalistische Klangwelt auf Jake hat: „The noise broke over me suddenly and I turned my head away from it as if someone had thrown pepper in my eyes, and plunged back under the trees“ (UTN: 219). Die Analogisierung der Karnivalsakustik mit Pfeffer in den Augen kann als Hinweis auf die Störung von Jakes solipsistischer Projektionsarbeit gelesen werden. Folglich sieht sich Jake genötigt, sich wieder vom karnevalistischen Treiben zu entfernen. Angesichts der prominenten Rolle, die dem Tod mit Blick auf Kontingenzerfahrung in Under the Net zukommt, vermag die Wiederkehr dieses Motivs ausgerechnet in der Episode, in der Jake die Augen für das wahre Beziehungsverhältnis zwischen Sadie, Anna und Hugo geöffnet werden, nicht zu überraschen. Jakes „wrench which dislocated past, present and future“ (UTN: 256) widerfährt ihm im Krankenhaus. Der bisherige Schutzraum des Krankenhauses wird zum Ort der Kontingenzerfahrung, als Jake erkennen muss, dass Menschen nicht in seine vorgefertigten Muster passen. Bezeichnenderweise wird unmittelbar vor dieser Erkenntnis das Krankenhaus mit der Unterwelt korreliert, als Jake die Nachtschwester als „a sort of nocturnal goddess, a Piddingham of the underworld“ (ebd.: 245) charakterisiert. Wie bereits in der Studio-Episode wird Jake zudem von einem lebendigen Toten beim Verlassen der Unterwelt begleitet, in diesem Fall Hugo: „I observed him closely as one might observe a picture or a dead man.“ (ebd.: 265) Auf diese Weise wird abermals die Kontingenzerfahrung bzw. -sensibilisierung mit dem Motiv des Todes verbunden. Jakes Wandlung im Laufe der Ereignisse bzw. seine Akzeptanz von Kontingenz zeigt sich gerade auch an seinem gewandelten Lachverhalten. Am Ende des Romans verzichtet Jake auf Erklärungsversuche für Phänomene des Lebens und reagiert stattdessen mit Gelächter. Obgleich Jake zunächst Mrs. Tinckham gegenüber angibt, dass der gemischte Wurf ihrer Kätzchen ganz einfach erklärt werden könne, bricht er kurz darauf seine Erklärungsversuche ab mit der Feststellung: „I had no idea what it is a matter of. I laughed and Mrs Tinckham laughed. ‚I don’t know why it is,“ I <?page no="314"?> 300 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive said. „‚It’s just one of the wonders of the world.‘“ (UTN: 286) Da sich diese Interaktion um die Geburt der Kätzchen dreht, wird Jakes Lachen in einen Kontext von Vitalität und Regeneration eingebettet. Ein solches rekreatives Lachen ist zugleich „ein die Kontingenz respektierendes Lachen“ (Colsman 2000: 55), weil Jake „das Aufstellen von die Wirklichkeit simplifizierenden Hypothesen in bezug auf ihm unerklärliche Erscheinungen [aufgibt] zugunsten eines Respekts vor der Unergründlichkeit der Welt“ (ebd.: 54f.). 279 Während Jake bisher die Kontingenz des Zufalls durch den Glauben an Vorsehung aufhob, belässt er am Ende der Geschichte den Zufall in seiner mysteriösen Unergründbarkeit als Wunder bestehen. Die bislang herausgearbeitete Verbindung zwischen Lachen und Kontingenz bewegt sich auf der Inhaltsebene des Romans, d.h. es wurde der Frage nachgegangen, welche Bedeutung dem Lachen von Figuren innerhalb der Romanhandlung zukommt. Darauf aufbauend stellt sich in einem zweiten Schritt die Frage, welche Funktionspotentiale den komischen Elementen zugeordnet werden können, und zwar jenseits der Tatsache, dass Komik ein Gattungsmerkmal des pikaresken Romans ist. Eine wichtige Form von Komik in Under the Net sind die karnevalistischen Inversionen, Übertreibungen und Mesalliancen in Jakes Diskurs. Wenn Jake sich beispielsweise aufgrund seiner Ablehnung eines lukrativen Geldangebots als Judas fühlt, so ruft dies aufgrund der Verkehrung der christlichen Wertehierarchie in Kombination mit der übertriebenen Selbstkategorisierung als Kriminellem einen potentiell komischen Effekt hervor. Der komische Effekt dient einem Verlachen von Jakes Wirklichkeitssicht in diesem Moment. Damit wäre eine zentrale Funktion des Humors identifiziert: Das Verlachen des solipsistischen Helden steht im Dienste einer Kritik seiner narzisstisch verstellten Wirklichkeitssicht (siehe auch Colsman 2000: 40). Das Verlachen des Solipsisten bzw. die Distanzierung von dessen kontingenzallergischer Wirklichkeitssicht bedeutet zugleich, dass dem humoristischen Wirkungspotential des Romans eine kontingenzaffirmierende Funktion zugeordnet werden kann. Zwar mag Jake lange Zeit nicht über Manifestationen von Kontingenz lachen können, doch wird demgegenüber bei der Leserin über Strategien des Komischen eine karnevalistische Welthaltung gefördert, durch die das Kontingente seiner bedrohlichen Kraft beraubt wird. 279 Für eine detaillierte Analyse von Formen und Funktionen des Lachmotivs in Under the Net siehe Colsman (2000: 35-56). Colsman wertet das Lachen in Murdochs Werken als ein Schlüsselphänomen, weil sich im Lachen „grundlegende Veränderungen des solipsistischen Helden konkret manifestieren“ (ebd.). Allerdings lässt Colsman bei ihrer minutiösen Analyse von Textstellen, bei denen Figuren lachen, ausgerechnet das Lachen der Menge am Ende der Studioszene aus. Als Folge hiervon beschränkt sie das Element von karnevalistischem Lachen auf die Beschreibung des Volkstreibens am Nationalfeiertag in Paris. <?page no="315"?> Under the Net 301 Zur Untermauerung dieser These soll kurz ein weiteres Beispiel aus dem Roman herangezogen werden. Es geht um die Beschreibung einer Theaterprobe im Londoner Riverside Miming Theatre, das Jake im Zuge seiner Suche nach Anna betritt. Jakes Beschreibung des Mime Theatre birgt, wie so viele Szenen im Roman, platonische Assoziationsgehalte. Die Schauspieler tragen in dieser ‚Höhle‘ des Theaters Masken, während sie sich schweigend auf der beleuchteten Bühne bewegen. Schweigen ist bei dem Mime Theatre oberstes Gebot, denn auch das Publikum habe sich ruhig zu verhalten. Die Masken verweisen auf die Verschleierung der Wirklichkeit und damit auf die Notwendigkeit, aus der platonischen Höhle auszubrechen. 280 Das Schweigen erinnert an Hugos Aussage, dass nur mittels Schweigen der Verschleierungstendenz der Sprache entkommen werden könne. 281 Die Privilegierung von Schweigen, die explizit von Hugo vorgenommen wird und auch im Mime Theatre praktiziert wird, erfährt allerdings eine humorvolle karnevalistische Relativierung, da kurz darauf Jake eine Travestie des Mime Theatre aufführt. Um von den Nachbarn unbehelligt weiter ein Gespräch belauschen zu können, gibt Jake vor, taubstumm zu sein. Seine Gestikulationen, mit denen er versucht, die ihn beobachtenden Leute zum Weggang zu bewegen, werden allerdings als Zeichen für Irrsinn gedeutet. Auf diese Weise wird die Interaktion mit seinen Mitmenschen zunehmend absurder und potentiell lustiger für die LeserInnen. Dieses Element von Komik im Roman dient einer karnevalistischen Welthaltung, weil der Wahrheitsanspruch einer Position - nämlich die Korrelation von Schweigen mit der Annäherung an das Gute - verlacht wird. Die Travestie-Episode legt nahe, dass es keinen einfachen Königsweg zur Aufhebung des Netzes gibt und, mehr noch, wir auf Sprache angewiesen sind. 282 Jake selbst wählt am Ende seines geschilderten Entwicklungs- 280 Zum Riverside Miming Theatre als platonische Höhle siehe auch Nicol (1999: 84). 281 Für eine Interpretation des Mime Theatre, das Annas Theaterprojekt ist, siehe auch Byatt: „Anna’s ‚general‘ theory[,] which Hugo does not understand, is her attempt to reproduce in her art his respect for the unutterably particular, the simply true, the fact or experience uncorrupted by ideas or personal feelings.“ (1994 [1965]: 20) „Anna’s […] emphasis [in her Mime theatre] is on the expunging of the self“ (ebd.: 21). Annas Aufgabe dieses Projekts kann als Folge ihres Bewusstwerdens der eigenen Verdrängungsarbeit gewertet werden: „Her very involvement in the theatre is a retreat from truth […], for Anna accepts it as a loving tribute from Hugo, though she knows that he has no love to spare for her, only for her sister Sadie. Furthermore, she has sacrificed her own art for the sake of involving herself in an art which, she believes, reflects Hugo’s interests.“ Spear (1995: 22) 282 Eine Relativierung von Schweigen als anzustrebendes Ideal erfolgte bereits vorher im Kontext der Gespräche zwischen Hugo und Jack über den wirklichkeitsverschleiernden Effekt von Sprache: „‚But at this rate almost everything one says […] turns out to be a lie. […] In that case one oughtn’t to talk,‘ I said. ‚I think perhaps one oughtn’t to,‘ said Hugo, and he was deadly serious. Then I caught his eye, and we both laughed enormously, thinking of how we had been doing nothing else for days on end.“ <?page no="316"?> 302 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive wegs nicht das Schweigen, sondern Worte in Form seiner Schriftstellerei (vgl. auch Nicol 1999: 83). Was allerdings demgegenüber in Under the Net dezidiert nicht verlacht wird, ist das Ideal einer ethisch codierten Wahrnehmungsweise, die das Individuum für die Wirklichkeit des Anderen sensibilisiert und zum Abbau von narzisstischen Verblendungen führt. Die karnevalistische Weltsicht ist insofern mit diesem Ideal im Einklang, als das karnevalistische Lachen sich gegen verkrustete kulturelle Ordnungsformationen richtet, insbesondere gegen autoritär ausgesprochene Wahrheiten. Die Stoßrichtung des Karnevalismus birgt damit eine Affinität zum moralischen Sehen, weil es bei beidem um die Sensibilisierung für die Begrenztheit der eigenen Perspektive und der eigenen Wahrheitsansprüche geht. Um zu einer abschließenden Bewertung der Bedeutung von Kontingenz für moralisches Handeln zu kommen, so wie es in Murdochs Roman entworfen wird, erfolgt im nächsten Teilkapitel eine Zusammenführung der entfalteten Argumentationsstränge mit Blick auf Murdochs Konzeptualiserung des Guten als immanente Transzendenz. 4.4 Die Immanenz der Transzendenz: Kontingenzbewusstsein im Lichte des Guten Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen ist die herausgearbeitete Signifikanz der platonischen Bildlichkeit in Under the Net. Die Bezugnahme auf Platons Höhlenallegorie ruft als Assoziationsgehalt die Existenz des Guten auf. Die Analyse von Jakes erstmaliger Wahrnehmung von Anna als eigenständiger Person (vgl. UTN: 267) hatte gezeigt, dass moralisches Handeln bzw. die Annäherung an das Gute als die Öffnung des Subjekts für die kontingente Realität verstanden werden kann. Das Gute ist bei Murdoch somit kein konkretes Objekt. Vielmehr geht es um eine Erfahrung der Transzendenz im ursprünglichen Wortsinn, nämlich als ein „Übersichhinausgehen“ (Tugendhat 2007: 15). In Under the Net ist ein solches Übersichhinausgehen jedoch nicht auf etwas Übersinnliches bezogen, sondern es ist „ein Übersichhinausgehen innerhalb des Seins des Menschen“ (ebd.). Mit Ernst Tugendhat lässt sich diese Figur als eine Form von „immanente[r] Transzendenz“ (ebd.) philosophisch benennen. Die Transzendenz des Guten bedingt die Unabschließbarkeit der Aufgabe, der Mannigfaltigkeit und Kontingenz der Welt durch Aufmerksamkeit gerecht zu werden. Da es keinen direkten Zugang zum Guten gibt, bildet das Gute einen anzustrebenden Zielpunkt (vgl. Munz 2004: 145). Die Unabschließbarkeit der Aufgabe, die Wirklichkeit so wie sie ist wahrzunehmen (im Sinne eines ‚loving attention to the real‘), wird durch Jakes (UTN: 67) Zur Relativierung des Ideals von Schweigen siehe auch Conradi (2001: 47): „The puritan ideal of total silence is hedged around with irony.“ <?page no="317"?> Under the Net 303 wiederholte Rückfälle in alte egozentrische Sehgewohnheiten nach Momenten der Erkenntnis angedeutet. Die Rahmenbzw. Kreisstruktur des Romans kann in diesem Zusammenhang als Hinweis auf die Unabschließbarkeit des Entwicklungsweges gelesen werden. 283 Under the Net verbindet damit „a sense of unity and form“ (SoG: 84), wie sie durch die Kreisstruktur zum Ausdruck gebracht wird, mit einer Sensibilisierung für die Offenheit von Entwicklung und für „the minute and absolute random detail of the world“ (ebd.). In Murdochs Roman bildet das Gute zwar kein externes Telos, d.h. es ist nicht jenseits des lebensweltlichen Raumes angesiedelt. Allerdings wird das Gute als internes Telos nahegelegt: Jakes Gefühlsreaktionen auf seine Annäherung an das Gute implizieren, dass das Führen eines moralischen Lebens zugleich ein glückliches Leben ist (siehe auch Widdows 2005: 84). Es bleiben allerdings noch offene Fragen bezüglich des Status des Guten in Under the Net sowie in Murdochs philosophischen Schriften. Nicht umsonst gilt Murdochs philosophische Konzeptualisierung des Guten als besonders schwer analytisch nachzuvollziehen: „Difficulty in defining the good arises in part from the ‚unsystematic presentation of her ideas and the difficulty of the issues being considered […] [which] […] make it hard to be sure what she [= Murdoch] means by the Good‘ (Burns, 1997, p. 303)“ (Widdows 2005: 71). Ihr diffuser Begriff des Guten thematisiert Murdoch selbst, wenn sie schreibt: „A genuine mysteriousness attaches to the idea of goodness and the Good. […] The indefinability of Good is connected with the unsystematic and inexhaustible variety of the world“ (SoG: 96). Da das Gute Einzelkategorien und das Partikulare transzendiert, kann das Gute niemals auf eine einzelne Gegebenheit oder Handlung reduziert werden (vgl. Munz 2004: 145). Gerade die transzendente Natur des Guten mache es so schwierig, das Gute zu bestimmen. Das Gute lässt sich gerade nicht als eine „semantisch klar bestimmbar[e] Größe […] verstehen - da ihr Inhalt nicht abhängig von einem spezifischen, kulturell-geschichtlichen Kontext sein kann“ (ebd.). Fest steht, dass die Rede vom Guten bei Murdoch jedoch nicht nur metaphorisch gemeint ist, denn sie wird nicht müde zu betonen: „There is a magnetic centre.“ (SoG: 97) 284 Als Beleg für die Existenz des 283 Dieser prozedurale Aspekt ist bereits im Begriff des Guten angelegt, denn was gut ist, kann stets noch besser werden (vgl. Tugendhat 2007: 29). Die Offenheit von Jakes weiterer Entwicklung betonen auch Fries (1969: 459) und Conradi (2001: 63). Conradi setzt die Offenheit des Romanendes in Bezug zu Murdochs philosophischen Schriften, in denen sie betont, dass sich der moralische Wandel eines Individuums stets langsam vollzieht und nie zu einem Endpunkt gelangt (vgl. ebd.: 62; SoG: 23). Demgegenüber steht für Kritiker wie Byatt (1994 [1965]: 38), Porter (1969: 385), Bradbury (1962: 52) und Nicol (1999: 85) Jakes endgültige Befreiung aus dem Netz seiner Illusionen fest. 284 Siehe hierzu auch Widdows (2005: 82): „Murdoch’s intention is precisely to claim ontological status for the good. In order to do justice to Murdoch’s good, it is impera- <?page no="318"?> 304 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Guten dienen Murdoch phänomenologische Erfahrungsgehalte aus dem Alltag; der Mensch fühle sich vom Guten angezogen. 285 Murdochs Betonung der ontologischen Existenz des Guten wird in der philosophischen Diskussion als Ergebnis ihres Bemühens gewertet, einen drohenden Relativismus abzuwehren: Yet Murdoch does seem to believe that it is possible to know whether one is truly acting in a way which takes us towards the good. One suspects that it is this need to ensure that her philosophy does not collapse into an individualist subjectivism which led her to the arguments for the good, and not just to the argument for perfection but to the ontological argument, which […] complicates rather than clarifies her position. (Widdows 2005: 163) Vor dem Hintergrund der Ambiguität des Guten in Murdochs philosophischen Schriften kommt es nicht überraschend, dass im literarischen Raum, der ohnehin polyvalent ist, verschiedene Lesarten des Guten möglich sind. Einerseits kann man Under the Net so interpretieren, dass das Gute als ein magnetisches Kraftzentrum existiert, welches das Individuum anzieht. Damit würden die ontologischen Implikationen der platonischen Bildlichkeit übernommen werden. Jakes phänomenologische Erfahrungen können in diesem Zusammenhang als Beleg für die Anziehungskraft des Guten bewertet werden, die in Momenten der Aufmerksamkeit greift. Andererseits ist es ebenso gut möglich, auf ontologische Überlegungen zu verzichten, und stattdessen zu argumentieren, dass Murdochs Roman der Leserin eine Metapher für das Gute nahebringt, die handlungsleitend werden könnte. Schließlich formen Metaphern zu einem wesentlichen Teil unsere Begriffsbzw. Wahrnehmungsnetze - ein Tatbestand, den George Lakoff und Mark Johnson mit der griffigen Formulierung Metaphors We Live By (1980) auf den Punkt gebracht haben. Die Komik des Romans fördert dabei potentiell die Bereitschaft der LeserInnen, die Metapher oder das Modell des Guten als handlungsleitendes Element in ihr Netz der Wirklichkeit aufzunehmen. Der für mich zentrale Punkt im Kontext dieser Arbeit ist allerdings nicht, dass diese zwei Lesarten des Romans möglich sind. Entscheidend ist vielmehr, dass - egal welche der beiden Lesarten privilegiert wird - Under the Net eine Akzeptanz von Kontingenz als Grundlage für das Führen eines guten Lebens inszeniert. Das gute Leben ist dabei zugleich zu verstehen als das Führen eines glücklichen Lebens. Ein sinnerfülltes Leben läuft nicht auf die Aufhebung von Kontingenz hinaus, sondern auf Kontingenztoleranz. tive to accept that for her the good does exist in some absolute sense. The alternative is to accuse her of using an ontological argument which she does not intend to be about ontological status.“ Zu Murdochs ontologischer Argumentation siehe ihr Kapitel „The Ontological Proof“ in Metaphysics as a Guide to Morals (1993: 391-430). 285 Zur Problematik von Murdochs Argumentation siehe Widdows (2005: 82-86, 159- 163). <?page no="319"?> Under the Net 305 Mehr noch, die Sensibilisierung für das Konkret-Partikuläre eröffnet die Möglichkeit einer Verzauberung der Welt im positiven Sinne: „For Hugo each thing was astonishing, delightful, complicated and mysterious. During these conversations I began to see the whole world anew.“ (UTN: 66) Allerdings gelangt Jake tatsächlich erst zu einem neuen Sehen, nachdem er die kontingente Eigenheit des Anderen und die Unergründbarkeit des Zufalls akzeptiert hat. Der Fokus auf das irreduzible Partikulare wirft zugleich ein erklärendes Licht auf den auffälligen Gebrauch an mythologischen Vergleichen und Anspielungen in Under the Net, auf den ich abschließend kurz eingehen möchte. Einerseits laden textuelle Signale dazu ein, einzelne Figuren als Repräsentanten mythologischer Gestalten zu interpretieren. Dementsprechend kommt Malcolm Bradbury zu folgender Deutung des Romans: If, as seems intended, the mythological story of Vulcan, Mars and Venus is used to provide a loose framework for the novel, Belfounder certainly stands for Vulcan. Indeed, this association is worked out with a good deal of surrealistic ingenuity, even down to the use of such locales as Hammersmith and such arts as fireworks, the film and finally watchmaking to convert the myth into the new mythology of Miss Murdoch’s fiction. (1962: 49f.) Bei dem Versuch, die Bedeutung dieser Identifikation herauszuarbeiten, läuft die Interpretation jedoch ins Leere: And surely if the story of Mars, Venus and Vulcan is used as a kind of scaffolding, its use cannot but seem playful and light. (ebd.: 53) [I]n Under the Net the mythological background is used half-fancifully, half to remind us of the primitive sources of the imagination […]. (ebd.: 54) Die Formulierung „a kind of scaffolding“ und die Betonung der spielerischen Natur der Vergleiche deuten bereits die interpretatorische Problematik an. Trotz der durchaus vorhandenen textuellen Signale, die Hugos Identifikation als Vulcan nahelegen, passt die mythologische Geschichte um Vulcan, Venus und Mars nicht richtig zur dargestellten Handlung. So wundert es nicht, dass es Bradbury schwer fällt, diesen mythologischen Anspielungen eine klare Funktion zuzuordnen, wie sich in den relativierenden Ausdrücken „a kind of“ oder „half-fancifully“ zeigt. Den mythologischen Anspielungen kann eine andere dominante Funktion zugeordnet werden als die von Bradbury genannte. Einerseits laden sie die Leserin dazu ein, die dargestellten Geschehnisse in vorgängige Ordnungsmuster zu überführen. Diese spezifische Form von Ordnungsstiftung entspricht auch derjenigen Jakes. Es gehört zu den Eigenheiten von Jakes Diskurs, dass er immer wieder explizite Vergleiche zwischen Personen oder Geschehnissen seiner Lebenswelt und griechisch-römischer My- <?page no="320"?> 306 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive thologie zieht. Dieser Rekurs auf die Mythologie ist nicht nur Ausdruck von Jakes bildungsbürgerlichem Wissen, sondern ist zudem Manifestation seines Bedürfnisses nach Ordnungsstiftung bzw. Kontingenzabwehr. Die Geschehnisse folgen in seiner Wahrnehmung bereits bekannten Plot- Mustern. Dabei irritiert die Kontingenz des Anderen seine mythologischen Netze. Er und Anna werden beispielsweise nicht ein Liebespaar wie Aeneas und Dido, so wie Jake es sich in Paris vorgestellt hatte (vgl. UTN: 216). 286 Vor diesem Hintergrund machen die LeserInnen potentiell eine ähnliche Erfahrung wie Jake. Es ist nicht Jake, der Hugo explizit mit Vulcan vergleicht, sondern es sind implizite Signale, die zu einer solchen Identifikation einladen. Eine Leserin, die nun ein solches ordnungsstiftendes Netz über den Roman wirft, muss allerdings erfahren, dass auch die textuelle Welt von Under the Net sich gegenüber einer solchen Deutung als widerständig erweist. Die Figuren lassen sich nicht auf spezifische Rollen reduzieren. Auf diese Weise werden auch die LeserInnen potentiell für das Eigensein des (textuellen) Anderen sensibilisiert. Der spezifische Gebrauch von mythologischen Anspielungen kann vor diesem Hintergrund als metakognitive Strategie gewertet werden. Durch die Nichterfüllung der aufgerufenen Deutungsschemata werden die LeserInnen potentiell dazu angeregt, über die eigenen kognitiven Prozesse und Ordnungsmuster zu reflektieren. 287 Wie die Analyse des Modells einer immanenten Transzendenz gezeigt hat, bildet das Herzstück der dominanten Kontingenzumgangsstrategie in Under the Net die Entwicklung eines Modells des guten Lebens auf Basis von Kontingenzbewusstsein. Kontingenztoleranz wird in epistemologischmoralischer Hinsicht aufgewertet. Die Anerkennung einer kontingenten 286 Auch andere Bilder, die Jake von Personen hat, erweisen sich als falsch, so wie etwa sein idealisiertes Bild von Hugo als Heiligem, das in einem Missverhältnis zu Hugos Verhalten Sadie gegenüber steht (d.h. seinem Stalking). Hugo selbst weist Jake darauf hin, dass er, Jake, sich viel zu schnell beeindrucken lasse. Siehe demgegenüber Conradis Interpretation von Under the Net, in der er Hugo in der Rolle des „holy fool“ (2001: 44) und Jake als „common fool“ (ebd.) sieht. Die Charakterisierung von Hugo als Heiligem gewinnt an Überzeugungskraft vor dem Hintergrund Murdochs philosophischer Schriften, in denen sie zwischen dem Heiligen und dem Künstler unterscheidet: „The saint is unconsciously good, silent, and for him it is action that counts. The artist is consciously, aesthetically creating his life.“ (ebd.: 18) Murdoch selbst charakterisiert Belfounder als einen ihrer „would-be saints […] who have the certainty and power which come as gifts of faith, and possess a mysterious radiance beneath their ordinariness“ (ebd.). Demgegenüber gehöre Jake zu den „would-be artists […] who are imposing form on to essentially uncontrollable nature“ (ebd.). Conradi liefert in The Saint & the Artist (2001) eine ausführliche Interpretation von Murdochs Werken im Lichte dieser Unterscheidung. 287 Eine weitere Funktion der mythologischen Anspielungen oder vielmehr der aus ihnen resultierenden Komik ist die Affirmation von Jakes Überzeugung „that the present age was not one in which it was possible to write an epic“ (UTN: 21). <?page no="321"?> Under the Net 307 Realität, insbesondere der Wirklichkeit anderer, bedeutet eine Annäherung an die wahre Wirklichkeit sowie an das Gute. Das Führen eines guten Lebens erscheint zugleich als ein sinnerfülltes Leben. Entscheidend bei dieser Korrelation ist, dass Sinn nicht an eine übersinnliche Instanz (wie Gott) gekoppelt wird. Vielmehr speist sich ein sinnerfülltes Leben sowohl aus der Annäherung an das Gute als auch aus einer Reduzierung der Sinnerwartung zugunsten der Annahme von kleinen Sinnangeboten. Indem Under the Net die Notwendigkeit dieser beiden Elemente, also des Guten und der Pensen des Alltags, für ein sinnerfülltes Leben hervorhebt, zeigt sich der Roman in einem unmittelbaren Antwortverhältnis zu einem der dringendsten Probleme des Individuums in der modernen Gesellschaft: Personal meaninglessness […] becomes a fundamental psychic problem in circumstances of late modernity. We should understand this phenomenon in terms of a repression of moral questions which day-to-day life poses, but which are denied answers. ‚Existential isolation‘ is not so much a separation of individuals from others as a separation from the moral resources necessary to live a full and satisfying existence. The reflexive project of the self generates programmes of actualisation and mastery. But as long as these possibilities are understood largely as a matter of the extension of the control systems of modernity to the self, they lack moral meaning. (Giddens 1991: 9) Alltagsroutinen reichen zur Sinnstiftung, wie Giddens betont, nicht aus, wenn sie in einem moralischen Vakuum angesiedelt sind. Die Besonderheit von Murdochs Roman gründet darin, dass im literarischen Raum ein Modell des guten Lebens auf Basis von Kontingenzbewusstsein entworfen wird, das für die Rezipientin potentiell handlungsleitend werden kann und somit einen möglichen Ausweg aus der ‚existentiellen Isolation‘ aufzeigt. Die Komik des Romans sowie metakognitive Strategien in Form eines Aufrufens von Ordnungsmustern bei deren gleichzeitiger Unterminierung fördern dabei die potentielle Öffnung der Leserin für eine Kontingenzakzeptanz. Das Modell des guten Lebens ist konstitutiv mit anthropologischen Annahmen verquickt. So wird das Subjektmodell des rational agent verworfen, weil es der Bedeutung der intransparenten Innerlichkeit des einzigartigen Individuums nicht gerecht wird. Wie die vorangegangene Diskussion von Schlüsselpassagen aus Under the Net gezeigt hat, umfasst das alternative Subjektmodell ein ‚Mehr‘ aber auch ein ‚Weniger‘ an Subjekt. Mit der Aufgabe des narzisstischen Bemächtigungsgestus gegenüber des/ dem Anderen kommt der aufmerksamen Rezeptivität des Subjekts eine größere Bedeutung zu. Wie sich bei der genaueren Betrachtung von Jakes Entwicklungsweg herausgestellt hat, sind auf moralischem Terrain weniger Handlungs- und Entscheidungsakte für moralische agency bedeutsam, <?page no="322"?> 308 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive sondern vielmehr auf fundamentalerer Ebene die Art und Weise, wie das Individuum die Welt wahrnimmt. Zur besseren Übersicht fasst die nachfolgende Tabelle die wichtigsten Ergebnisse stichwortartig zusammen. Dominante Kontingenzformen: Kontingenz als das Nicht-Identische: Fokus auf das Eigensein des Individuell- Partikularen und dessen Widerständigkeit gegen Ordnungsmuster Widerfahrniskontingenz: Zufall Codierung der Kontingenzform: Selbstzentriertes Subjekt (Jake vor seiner Entwicklung) Moral agent (z.B. Jake nach seiner Entwicklung, Hugo) Kontingenzabwehr: Zufall als Zeichen des Wirkens von destiny Kontingenzaffirmation: Unergründbarkeit des Zufalls wird mit Leben und Kreativität in Verbindung gebracht Kontingenz als das Nicht-Identische und Nicht-Notwendige als bedrohlich codiert Positive Codierung: Zum guten Leben gehört Kontingenzaffirmation; sinnlichkeitsbezüglicher Sinnbegriff Akzeptanz von kontingenter Wirklichkeit, v.a. des Inkommensurablen, als Form von Liebe Epistemologisch: Sensibilisierung für Kontingenz als Annäherung an die wahre Wirklichkeit <?page no="323"?> Under the Net 309 Zeiterfahrung: Dissoziation von der eigenen Vergangenheit Desynchronisationserscheinungen als Folge einer beschleunigten Zeit; Herausfallen aus der historischen Zeit wird durch starke Raumbindung kompensiert (s.u.) Aufhebung der Dissoziation von der eigenen Vergangenheit Routinemodell der Zeit als sinnstiftend (reduzierter Sinnbegriff) Raum: Raumbindung als Kontingenzbewältigungsstrategie Aufteilung in kontingente und nichtkontingente Räume (Zentrum/ Peripherie); Identitätsstabilisierung durch Wohnen im nichtkontingenten Raum; Leitmotiv: Schutzräume bzw. ‚platonische Höhlen‘ Raum als Projektionsfläche für narzisstische Spiegelungen; Quest nach Eden Raum und Tod: karnevalistische Unterwelt als höchste Ausprägung räumlicher Kontingenz Rehabilitierung des Raumes, um Raumschrumpfung entgegenzuwirken Starke Raumbindung bzw. Rehabilitierung des Raumes bleibt bestehen Ausbruch aus ‚platonischer Höhle‘ <?page no="324"?> 310 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Subjektmodelle: Implizite Kritik am rational agent und am narzisstischen Subjekt Entwurf eines Alternativsubjekts: moral agent ‚mehr Subjekt‘: Betonung der intransparenten Innerlichkeit des Subjekts ‚weniger Subjekt‘: Rekonzeptualisierung von agency (s.u.) Aufhebung einer strikten Subjekt/ Objekt- Dichotomie; Aufgabe des Bemächtigungsgestus gegenüber dem Anderen zugunsten von Rezeptivität Gestaltbarkeits- kontingenz / Handlungsmächtigkeit: Rekonzeptualisierung von (moral) agency: Aufmerksamkeit (attention) als handlungstheoretischer Grundbegriff; Fokus auf Rezeptivität des Subjekts Moralisches Handeln nicht beschränkt auf Entscheidungs- und Handlungsakte, sondern beginnt bei Wirklichkeitswahrnehmung Dominante Kontingenzumgangsstrategien: Entwicklung eines potentiell handlungsleitenden Modells des guten Lebens auf Basis von Kontingenzaffirmation: Aufwertung von Kontingenztoleranz in epistemologisch-moralischer Hinsicht: Kontingenzbewusstsein bedeutet Annäherung an die wahre Realität und ist Voraussetzung für das Führen eines guten Lebens (Modell einer immanenten Transzendenz) Reduzierte Sinnerwartung: Kompatibilität der Wahrnehmung kontingenter Wirklichkeit und dem Führen eines sinnerfüllten Lebens Sensibilisierung für das konkret- Partikulare als Grundlage einer Verzauberung von Welt Einübung einer karnevalistischen Welthaltung: kontingenzrespektierendes Lachen Abbildung 12: Ästhetik der Kontingenz in Under the Net <?page no="325"?> If Nobody Speaks of Remarkable Things 311 5 Der Entwurf universeller Gemeinschaft und die Sakralisierung der Lebenswelt als Antwort auf den ‚Crash der Moderne‘: Jon McGregors If Nobody Speaks of Remarkable Things (2002) The story I tell is of a contemporary world sprinkled with natural and cultural sites that have the power to ‚enchant‘. It is a story born of my own discomfort in the presence of two images circulating in political and social theory. The first is the image of modernity as disenchanted, that is to say, as a place of dearth and alienation (when compared to a golden age of community and cosmological coherence) or a place of reason, freedom, and control (when compared to a dark and confused premodernity). - Bennett (2001: 3) In den bisherigen literarischen Fallstudien wurde die Herauslösung des Individuums aus gemeinschaftlichen Beziehungen als eine wesentliche Quelle für das Leiden an Widerfahrniskontingenz in der Moderne identifiziert. Besonders deutlich zeigt sich dies in Daniel Deronda und The Secret Agent, aber auch in Under the Net zeugen Jakes Außenseiterstatus und sein Gefühl, nicht im Einklang mit seiner historischen Zeit zu sein, von seiner fehlenden Einbindung in Formen von Gemeinschaft. Tatsächlich „verdichtet sich in dem Begriff [der Gemeinschaft] […] das ganze Unbehagen an der Moderne“ (Gertenbach et al. 2010: 10): „Im semantischen Speicher der Gegenwartsgesellschaft erscheint Gemeinschaft oftmals als Element, das von der Moderne verdrängt, ausgelöscht, verhindert oder verbannt wurde.“ (ebd.: 9f.) Die literarischen Reaktionen auf eine solche Verlustdiagnose sind ganz unterschiedlicher Art, angefangen von Versuchen, herkömmliche Gemeinschaftskonzepte zu reaktivieren, bis hin zu alternativen Entwürfen von Gemeinschaft oder der Betonung von „postraditionale[r] Vergemeinschaftung“ (ebd.: 61), d.h. eines „Formwandel[s] von Gemeinschaft“ (ebd.: 61) in der Gegenwartsgesellschaft. Während bei Daniel Deronda der Judaismus bzw. Zionismus als Ideal einer organizistischen Gemeinschaft eingeführt wird, findet sich bei Woolf ein großes Misstrauen gegenüber nationalistisch gefärbten Gemeinschaftskonzepten aufgrund der damit verknüpften Gefahr des Totalitarismus. 288 Statt eines organizisti- 288 In Mrs. Dalloway wird diese Gefahr dadurch aufgezeigt, dass Septimus auf das Fahrzeug, in dem ein Staatsoberhaupt vermutet wird, mit Entsetzen reagiert. Er assoziiert den religiös gefärbten Nationalismus („the voice of authority; the spirit of religion“, MD: 15) mit dem Horror des Krieges: „When Septimus sees the ‚gradual drawing to- <?page no="326"?> 312 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive schen Paradigmas mit nationalistischer Prägung wird in Mrs. Dalloway ein mythisch-kosmischer Seinsgrund inszeniert, an dem der Einzelne teilhat, so dass gemeinschaftliche Bindungen (scheinbar) vorherrschen. Der Entwurf eines spezifischen Gemeinschaftsmodells bildet ebenfalls eine zentrale Strategie in Jon McGregors Debütroman If Nobody Speaks of Remarkable Things (2002), um dem Individuum ein ‚gutes Leben‘ inmitten moderner Kontingenzkultur, wie sie anhand des städtischen Lebens und eines ‚Crashs‘ 289 bzw. Autounfalls im Roman exemplarisch inszeniert wird, zu ermöglichen. Diese Strategie ist aufs engste mit einer Sakralisierung der Lebenswelt verbunden, die ‚remarkable things‘ zum Vorschein bringen lässt. Die Analyse dieses Romans lenkt nicht nur die Aufmerksamkeit auf Kontinuitätslinien bei den literarischen Umgangsstrategien mit Kontingenz, sondern erlaubt es zudem, die zentrale Bedeutung von Gemeinschaft für die Kontingenzthematik weiter herauszuarbeiten. Nicht zuletzt bietet Jon McGregors Roman einen interessanten Vergleich zu David Mitchells Ghostwritten, der im Anschluss an dieses Kapitel im Hinblick auf Kontingenz im globalisierten Zeitalter untersucht wird. Im Folgenden wird zunächst auf das Gemeinschaftsmodell in If Nobody Speaks of Remarkable Things (INSRT) eingegangen und dargelegt, inwiefern diese Form von Gemeinschaft auf das Bedürfnis nach Sinnstiftung reagiert. Darauf aufbauend wird die literarische Sakralisierung von Lebenswelt analysiert. 5.1 Das Ideal universeller Gemeinschaft: Metonymischer Individualismus Konzeptualisierungen von Gemeinschaft sind eng mit der Kontingenzthematik verknüpft, weil Gemeinschaft die drängende Frage danach aufwirft, wie mit Kontingenz als dem Inkommensurablen umgegangen wird. Das Denken über Gemeinschaft ist nämlich von einer fundamentalen Paradoxie geprägt: it holds a self-contradictory proposition in its most basic definition - that multiple individuals become ‚a body of individuals.‘ ‚A body,‘ after all, indicates a person, an individual, a singleness of being. So how can community be a condition of multiple, disparate, and distinct individuals as well as of a single body of being? (Lee 2009: 1) gether of everything to one centre before his eyes, as if some horror had come almost to the surface and was about to burst into flames‘ (15), he recasts in typically apocalyptic terms the image of a cultural unity already proposed by the narrative and offered as the result of that quintessential moment of urban stillness, the traffic jam.“ (Katz 2010: 5). 289 Claudia Liebs Studie Crash. Der Unfall der Moderne (2009), in der sie die kultur- und literaturgeschichtliche Bedeutung des Autounfalls in der Moderne analysiert, lieferte den Anstoß für die Formulierung „Crash der Moderne“ im Titel dieses Kapitels. <?page no="327"?> If Nobody Speaks of Remarkable Things 313 Wie Gemeinschaft gedacht werden kann, ohne dass die Individualität des Einzelnen einem totalitären Ganzen unterworfen wird, bildet eines der zentralen Themen in der Gegenwartsliteratur (vgl. Lee 2009, Schoene 2010). Literarische Modellierungen von Gemeinschaft geben nicht nur Aufschluss über die Bewertung des Inkommensurablen, d.h. ob eine Affirmation des Individuell-Partikularen bzw. Alterität herrscht oder stattdessen Homogenität angestrebt wird. Die privilegierten Gemeinschaftsmodelle erscheinen außerdem häufig als Reaktion auf das Gefühl erhöhter Widerfahrniskontingenz in der Moderne: „All manifestations of first-person plural ‚we‘ serve a need, answer a desire, respond to an anxiety, forestall a fear, or guard against a threat.“ (Lee 2009: 26) In INSRT antwortet die inszenierte Gemeinschaftsform auf die Erfahrung von Anonymität und Isolation in der Großstadt, dem paradigmatischen Ort der Moderne, wie sie von der Ich-Erzählerin im Roman beschrieben wird: „I wanted someone to see me, I wanted someone to come rushing in, to take hold of me and say hey […] what’s wrong. But there was no one there, and no one came.“ (INSRT: 53) Die Vereinsamung inmitten städtischer Anonymität bedeutet zugleich den Verlust von Sinnressourcen, um mit Widerfahrniskontingenz umgehen zu können. Die Ich- Erzählerin ist nach einem one-night stand ungewollt schwanger (Widerfahrniskontingenz). Sie fühlt sich nicht nur von ihrer Umgebung und ihren Mitmenschen entfremdet, sondern sogar von ihrem eigenen Körper, weil dieser sie ‚verraten‘ habe. Ihre Überforderung, mit dieser Situation emotional umgehen zu können, hängt wesentlich mit ihrer sozialen Isolation zusammen. Zudem muss sie immer wieder an ein schreckliches Ereignis denken, das sich vor drei Jahren ereignet hat und bei dem sie Zeugin war. Gegen Ende des Romans erfährt die Leserin, dass es sich um einen Autounfall handelt, bei dem ein kleiner Junge überfahren wurde. Der Autounfall stellt eine weitere Form von Widerfahrniskontingenz dar, und zwar eine, die ein „exquisites Krisenphänomen“ (Lieb 2009) darstellt, weil ein solcher Unfall „die schöne heile Welt der Technik sinn- und zwecklos aus den Angeln [hebt]“ (ebd.). Die traumatische Qualität, die dieser (scheinbar) sinnlose Kontingenzeinbruch für die Erzählerin hat, wird durch die Gestaltung der Erzählsituation hervorgehoben. Während auf der Ebene der Gegenwart die namentlich nicht benannte Ich-Erzählerin 290 versucht, mit ihrer 290 In McGregors zweitem Roman So Many Ways to Begin (2006) erfahren die LeserInnen den Namen dieser Figur, nämlich Kate Carter. Berthold Schoene interpretiert das Auftauchen von denselben Figuren in verschiedenen Romanen als Hinweis auf die ‚gemeinschaftliche Existenz‘ von Individuen im Sinne von Jean-Luc Nancy: „This kind of interpermeation of consecutive novels in terms of characters, thematic concerns and even structural peculiarities, which is equally typical of David Mitchell’s work, must be regarded as typical of narratives of compearance. Such narratives will not tolerate any of their cast paling into the background as purely vehicular supernumeraries; rather, these works insist that all lives are not only mirrored but crucially <?page no="328"?> 314 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Schwangerschaft zurecht zu kommen, wird der Tag des Autounfalls im Rahmen eines zweiten Handlungsstrangs dargestellt, der auf der Vergangenheitsebene angesiedelt ist. Die Ereignisse dieses Tages werden in Form einer heterodiegetischen Erzählsituation mit fließenden Übergängen zwischen externer und interner Fokalisierung dargestellt. Als Fokalisierungsinstanzen dienen die verschiedenen Anwohner der Straße. Der strikte Wechsel der beiden Handlungsstränge verdeutlicht formal die anhaltende Präsenz des Kontingenzeinbruchs vor drei Jahren bzw. die fortwährende Erinnerung daran im Leben der Ich-Erzählerin. 291 (Für die LeserInnen wird der Zusammenhang zwischen den beiden Handlungssträngen allerdings erst gegen Ende des Romans ersichtlich, weil dann deutlich wird, dass der Autounfall das schreckliche Ereignis ist, das die Ich-Erzählerin nach wie vor beschäftigt.) Entscheidend für die Kontingenzthematik ist, dass in INSRT ein Modell von Gemeinschaft entworfen wird, das sinnlose Widerfahrniskontingenz zugunsten religiös-mythischer Sinnstiftung aufhebt. Dem Roman kann dabei eine spezifische Entwicklungslogik zugeordnet werden, die sich in drei Schritten vollzieht. In der Eröffnungsszene wird die Stadt als Ideal universeller Gemeinschaft eingeführt. Dieses Ideal städtischer Gemeinschaft, das eine religiös-sakrale Aufladung erhält, wird zweitens zugleich durch das Aufzeigen von Pathologien des Großstadtlebens konterkariert, nämlich soziale Isolation und Vereinsamung. In einem dritten Schritt wird ein Subjektmodell vorgestellt, das es erlaubt, das etablierte Ideal von Gemeinschaft zu leben, so dass eine Entwicklung von disconnection hin zu connection erfolgt. Die Schlusspassagen des Romans bringen die Leserin zurück zum eingangs entworfenen Ideal städtischer Gemeinschaft, wodurch der Roman eine Rahmenstruktur erhält. Diese abstrakten Überlegungen werden im Folgenden anhand von Textpassagen konkretisiert und erläutert. informed by each other.“ (2010: 170) Das Nancy’sche Konzept der ‚compearance‘ bezieht sich auf die ‚gemeinschaftliche Existenzform‘ des Individuums: „McGregor’s novel makes a perfect case study in Nancean compearance, demonstrating how the life of the individual is not simply communally determined, but essentially generated by as well as generative of community as mutual exposition and being-in-common, which is tautly relational even at its most anonymous and seemingly detached.“ (ebd.) Auf das Konzept der Komparenz (‚compearance‘) wird im Laufe der obigen Argumentation später ausführlicher eingegangen. 291 Zum Erzähltempus in INSRT vgl. Schoene (2010: 169f.): „For the most part, in If Nobody Speaks of Remarkable Things the lived present is recounted in the past tense, burdened by the memory of the day of the accident, which is recounted in the present tense, thus not so much divorcing tense from time, and language from its grammatically accurate representation of the world, as probing and re-charting their worldcreative co-alignment.“ Der Gebrauch des Präsens im Handlungsstrang auf der Vergangenheitsebene kann als eine weitere Strategie gewertet werden, um das Fortwirken vergangener Ereignisse in der Gegenwartszeit zu betonen. <?page no="329"?> If Nobody Speaks of Remarkable Things 315 Das Ideal von Gemeinschaft, das in der Eröffnungsszene 292 des Romans anhand einer nicht näher spezifizierten Stadt entworfen wird, lässt sich als universalistisch beschreiben. Gemeinschaft setzt voraus, dass die Individuen etwas Gemeinsames verbindet (vgl. Lee 2009: 22). Bei Daniel Deronda wird dieses Gemeinsame als die Blutszugehörigkeit zu einem Volk ausgewiesen. Dementsprechend beruht dieses homogene Gemeinschaftsmodell auf identitätslogischem Denken, das eine Unterscheidung zwischen Inklusion und Exklusion zur Gemeinschaft erlaubt. Demgegenüber bedeutet ein universalistisches Gemeinschaftskonzept the most expansive understanding of commonality. It is a view of commonality based on no particularities - no specific shared experience, history, ideology, race, gender, class, nationality, religion, or any other aspects by which one distinguishes oneself from another. […] Only by negating the understanding of commonality as substance - of similar history, identityclaims, objectives […] - can commonality evade being a tool that some use to conscript others into a unidirectional ‚we‘. (Lee 2009: 79) In den Eröffnungsseiten wird ein solches Gemeinschaftskonzept durch die Beschreibung des „non-stop wonder of the song of the city“ (INSRT: 3) entworfen: „It’s a wordless song, for the most, but it’s a song all the same, and nobody hearing it could doubt what it sings. And the song sings the loudest when you pick out each note.“ (ebd.: 1) Da die Stadt anthropomorphisiert wird - sie singt und hat einen Körper („skin on the veins of the city“, ebd.) - ist das städtische Individuum Teil einer organischen Ganzheit. Im Sinne des Universalismus setzt die Zugehörigkeit zu diesem städtischen Körper gerade keine Homogenität im oben beschriebenen Sinne voraus (z.B. Religion, Nationalität, race). Es wird kein Kriterium eingeführt, das über Inklusion und Exklusion zu diesem städtischen Körper entscheidet. Dieser allumfassende Charakter von Gemeinschaft wird im Laufe der Eröffnungssequenz durch verschiedene Textsignale betont. Am Anfang des Kapitels überwiegt die Beschreibung von Maschinengeräuschen (z.B. Verkehr, Klimaanlagen, Sirenen), so dass die menschlichen Einwohner der Stadt nicht wirklich in Erscheinung treten. Dies ändert sich jedoch mit dem Eintreten einer wunderbaren Stille: „in some rare and sacred dead time, sandwiched between the late sleepers and the early risers, there is a miracle of silence. Everything has stopped.“ (INSRT: 3; m.H.); „We are in that moment now“ (ebd.: 4; m.H.). Der religiöse Diskurs, der bereits zuvor durch das ‚wonder of the song of the city‘ (ebd.: 3; m.H.) sowie weitere Begriffe 292 Streng genommen, gibt es keine numerisch oder durch Titel markierte Kapitel in INSRT. Lediglich ein Seitenumbruch oder ein kurzer Strich vor Beginn des ersten Absatzes markiert die ‚Kapitel‘ des Handlungsstrangs, der sich um das Tagesgeschehen vor drei Jahren dreht. Das Fehlen von optisch markierten Kapiteleinteilungen betont die enge Vernetzung von Vergangenheit und Gegenwart. <?page no="330"?> 316 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive aus dem semantischen Feld der Kirche (z.B. „bell-toll“, „choir“, ebd.) eingeführt wurde, gewinnt bei der Beschreibung der Stille an Dichte („sacred“, „miracle“). Das inszenierte Gemeinschaftsmodell erhält auf diese Weise zunehmend religiös-sakrale Züge, wodurch ihm zugleich eine sinnstiftende Dimension zugeschrieben wird. Als Moment der intensivsten Gemeinschaftszugehörigkeit erscheint dabei nicht die ‚bewegte‘ Stadt, sondern das Moment des Stillstands: trapped by traffic lights which synchronise red as the system cycles from old day to new, hundreds of feet resting on accelerators, hundreds of pairs of eyes hanging on the lights, all waiting for the amber, all waiting for the green. The whole city has stopped. (ebd.: 4f.) Das „all“ ist allumfassend in dem Sinne, dass niemand aufgrund von Partikularitäten ausgeschlossen wird. Der Rhythmus der Stadt, d.h. die Bewegungs- und damit einhergehenden Klangmuster, generiert „urban bonds and urban differences“ (Katz 2010: 3): pausing and waiting […] are acts of suspension in both time and place. […] [W]hat could be more characteristic of city life than the multiple acts of pausing, waiting, stopping, and starting that occur in the course of moving through a city and establish the transient ties and differences among people set beside each other at these moments? (ebd.) In einem solchen Moment der ‚suspension in both time and place‘ sind alle durch einen gemeinsamen Akt der Aufmerksamkeit („hundreds of pairs of eyes hanging on the lights“) miteinander gemeinschaftlich verbunden. Damit ist ein zweites Kernelement des Gemeinschaftskonzepts benannt: Um die universelle Gemeinschaft zu spüren, bedarf es einer besonderen Aufmerksamkeit des Individuums. Dementsprechend wird auch die Leserin aufgefordert, an dieser Gemeinschaft durch erhöhte Aufmerksamkeit teilzuhaben: „If you listen, you can hear it. The city, it sings.“ (INSRT: 1) „So listen.“ (ebd.: 2) „We are in that moment now, there is silence and the whole city is still.“ (ebd.: 4; m.H.) Das ‚Wir‘ umfasst nicht nur alle Städter, sondern auch die LeserInnen. Nach diesem Moment der Stille beleuchtet der Text das Leben einzelner Städter. Es ist, also ob der intensive Gemeinschaftsmoment erst den Blick freigibt für das Individuum, wodurch die Qualität der Gemeinschaft als ‚body of individuals’ weiter unterstrichen wird: and already the city is moving on, already tomorrow is here. The music is coming from a curryhouse […]. The restaurant is almost empty, a bhindi masala in one corner, a special korma in the other, and the carpark is deserted except for a young couple standing with their arms around each other’s waists. […] They dance with a style more suited to the ballroom than to the bollywood movies the music comes from. […] The waiters have come across to the win- <?page no="331"?> If Nobody Speaks of Remarkable Things 317 dow, they are laughing, they are calling uncle uncle to the man in the kitchen […] and he steps out of the door to watch […] and he smiles and nods and thinks of his wife sleeping at home […]. But here […] there are only these: sparkling eyes, smudged lipstick, fading starlight, […] laughter, and a slow walk home. (INSRT: 5f.; m.H.) Diese Passage am Ende des ‚Eröffnungskapitels‘ betont erneut universelle Gemeinschaft, indem der multikulturelle Charakter der Stadt hervorgehoben wird. Die Beschreibung des Restaurants, das bhindi masala und korma anbietet und in dem Bollywood-Musik gespielt wird, legt die Vermutung nahe, dass die Bewohner indischer Abstammung sind. Die städtische Gemeinschaft ist globalisiert - so die Implikation. Es ist überdies bezeichnend, dass das letzte Wort dieses Eingangskapitels, in dem das Ideal von Gemeinschaft eingeführt wird, „home“ lautet. Tatsächlich legt die Sakralisierung der Gemeinschaft nahe, dass eine Form von Gemeinschaft entworfen wird, die „Wärme, Geborgenheit, Liebe, Freundschaft und Vertrautheit“ (Gertenbach et al. 2010: 9) umfasst. Dementsprechend zeigen diese ‚Schnappschüsse‘ der Städter diese in Momenten der Verbundenheit (das tanzende Liebespaar) und in familiäre Strukturen integriert („uncle“, „wife“), die mit dem Heim verbunden werden. Das Ideal von Gemeinschaft verknüpft somit die transitorische Erfahrung einer universellen Gemeinschaft mit herkömmlichen Bindungen in Form von Familie und Freundschaft. Wie noch zu zeigen sein wird, werden in INSRT gemeinschaftliche Nahbeziehungen als eine zentrale Grundlage ausgewiesen, um die eigene Teilhabe an einer universellen Gemeinschaft (imaginativ) wahrnehmen zu können. Dadurch dass die Stadt nicht näher spezifiziert wird, kommt ihr ein exemplarischer Charakter zu. Die Metapher vom Lied der Stadt ermöglicht es, die Paradoxie von Gemeinschaft als durch ‚einen Körper aus Individuen‘ konstituiert zu denken: Das Lied bzw. das „harmony humming“ (INSRT: 2) ruft Gemeinschaft auf, aber eine Gemeinschaft, die dann am deutlichsten hervortritt, wenn man sich auf individuelle Noten konzentriert, die das Lied bilden. Die organizistische Bildlichkeit weist die Stadt als Körper aus, ohne dabei jedoch das Individuum in seiner Partikularität zu verneinen. Dieser Fokus auf das Individuell-Partikulare, das an einer größeren Ganzheit partizipiert, zieht sich leitmotivisch durch den Roman. Ein illustratives Beispiel hierfür ist die Beschreibung eines Kunstwerkes, das kurz darauf auf die städtischen Massen übertragen wird: thousands and thousands of six-inch red clay figures […]. Each one almost identical, each one unique. […] (ebd.: 231) There was a pedestrian crossing further up the road, the signal was red and I looked at all the people waiting to cross, a huge crowd of them, motion- <?page no="332"?> 318 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive less, blankfaced, looking up at the lights. They looked like the figures in the art gallery. (ebd.: 232) 293 Die Kontingenz des Inkommensurablen wird auf diese Weise hervorgehoben und zugleich mit metonymischen Denkfiguren verknüpft. So fühlt sich beispielsweise die Frau, die im Haus Nr. 19 wohnt, während ihrer Schwangerschaft als „part of a species, part of something that nature was doing and she had no control of“ (ebd.: 227; m.H.). Nicht nur findet sich in dieser Passage eine ähnliche pars pro toto-Beziehung wie am Romananfang (der einzelne als Teil eines größeren Ganzen: Lied/ Spezies), sondern diese metonymische Beziehung wird erneut in organischer Bildlichkeit beschrieben. Das entworfene Ideal einer Gemeinschaft basiert auf Metonymie als Grundfigur, wie die wiederholte Betonung von metonymischen Beziehungsverhältnissen verdeutlicht. Metonymie ist dabei zu verstehen als eine Denkfigur, die „continuity, contiguity, and interconnection“ (Morris 2013: 16) hervorhebt: [A]s Jakobson pointed out, the metonymic mode is ordered by the principle of contiguity […]. On the syntagmatic axis of language, the rules of contiguity allow, in theory, for ever expanding inclusiveness. Sentences can be prolonged indefinitely by means of the conjunction ‚and‘. Jakobson includes synecdoche within the concept of metonymy. In order to understand either figure of speech, it is necessary to relate the part or attribute to the larger whole. The synecdoche ‚hand,‘ as in the phrase ‚factory hand,‘ has to be comprehended as part of the whole embodied worker, while ‚worker‘ can be understood as a synecdoche for a whole working class, which can only be understood in terms of the material process of production and thence of the capitalist system. Alternatively ‚hand‘ could be read as a synecdoche for the biological body, while, in turn, the biological body could figure as a synecdoche of the larger world of all biological life, and so on through ever expanding spheres of the physical universe. (ebd.: 26) In INSRT findet sich eine Fülle an Synekdochen für Gemeinschaft bzw. ein größeres Ganzes, angefangen von den einzelnen Noten oder Stimmen als Teil des Liedes über die Teile eines organischen Körpers bis hin zum einzelnen Menschen als Teil der Spezies. Entscheidend für das Gemein- 293 Zum Kunstwerk siehe auch Schoene (2010: 173): „The installation in question is inspired by Antony Gormley’s Field (1991), a version of which (‚Field for the British Isles‘), comprising 35,000 handmade terracotta figures) won the Turner Prize in 1994, while an even larger reconfiguration (‚Asian Field‘, comprising a staggering 180,000 figures) featured at the Sydney Biennale in 2007. Gormley’s vision encapsulates a sense of the world that - like her author, as well as Mitchell in Ghostwritten and Cloud Atlas - Kate finds herself at a loss adequately to put into words: ‚I wanted to count them, give them all names, make up stories for each of them, but it seemed impossible to even begin‘ (231).“ <?page no="333"?> If Nobody Speaks of Remarkable Things 319 schaftskonzept in McGregors Roman ist die gleichwertige Betonung von „contiguity“, denn ein pars pro toto-Verhältnis gilt genauso bei dem Gemeinschaftskonzept in Daniel Deronda, bei dem der einzelne Teil der jüdischen Volksgemeinschaft ist. Contiguity bedeutet ‚aneinandergrenzend‘ bzw. ‚unmittelbare Nachbarschaft‘. Tatsächlich lenkt die Darstellung des Alltagslebens in der Nachbarschaft bzw. der Straße, in der die Ich-Erzählerin aufgewachsen ist, die Aufmerksamkeit darauf, wie eng verflochten das Leben der einzelnen Bewohner miteinander ist. Es gibt kein Leben in Isolation, sondern nur in Interaktion bzw. in unmittelbarer Nachbarschaft. Der Handlungsstrang auf der Vergangenheitsebene, der den Alltag der Anwohner des späteren Unfallorts darstellt, zeigt, wie die Bewohner einander wahrnehmen und wie ihr Handeln aufgrund des Interdependenzgeflechts unkontrollierbare Auswirkungen auf andere Stadtbewohner hat: If Nobody Speaks of Remarkable Things will not tolerate individual selfseclusion; in McGregor’s rendition of community everybody’s every move, feeling and thought are forever accentuated, reflected, contrasted, paralleled or otherwise cast into relief by everybody else’s. In McGregor’s vision communal relatedness precedes whatever bonds we are socialised into or choose to form consciously. (Schoene 2010: 160) McGregors Darstellung des Individuums kann als ‚metonymischer Individualisms‘ charakterisiert werden. Danach wird das Individuum nicht als abgekapselt, sondern stets als Teil eines größeren Ganzen (Körper, Lied, Spezies) und in seiner Interdependenz mit anderen gesehen. 294 In Daniel Deronda herrscht zwar auch ein enges Beziehungsgeflecht zwischen den dargestellten Figuren, allerdings wird dieses gerade nicht als Form von universeller Gemeinschaft ausgewiesen, sondern das Ideal von Gemeinschaft bleibt auf den Judaismus beschränkt. Im Gegensatz dazu wird bei McGregor von Beginn an Gemeinschaft als Interpretationsrahmen für die dargestellten menschlichen Interaktionen eingeführt, denn diese sind Bestandteil des ‚song of the city‘. Contiguity wird insbesondere über die Raumdarstellung inszeniert, denn die dynamische Produktion von Raum durch das Zusammenwirken verschiedener Akteure steht im Vordergrund. Ein solches sense of place 294 Vgl. auch Schoene (2010: 159f.): „The difference between [Rachel] Cusk’s and McGregor’s representations of community […] is rooted in their divergent renditions of subjectivity. Cusk’s novel is informed […] by the myth of the individual and her unique separateness from her partners and peers […]. By contrast, McGregor’s singular beings […] [exist] in mutual inextricability as both neighbours and strangers […]. Steeped in each other’s lives, they are worlds removed from Cusk’s hardcore individuals portrayed as solitary islands of thought, feeling and self-reflection, who fastidiously brush themselves down after each agoraphobic venture into the community.“ <?page no="334"?> 320 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive wird bereits auf den ersten Seiten inszeniert, welche die Aufmerksamkeit auf die Rhythmen der Großstadt lenken, und zwar in ihren temporalen und räumlichen Dimensionen. Als ein weiteres Beispiel dient folgende Passage aus dem Handlungsstrang, der auf der Vergangenheitsebene angesiedelt ist: They listen, and there’s a rumbling from somewhere […], they stand and they look […] [a]nd a dozen chairs roll past the end of the street, office chairs with swivel bases […], racing down the steep main road, eleven riders clinging onto them, […] hollering encouragement to each other […] and then they are gone, the noise fading quickly, and the people in the street turn to look at one another, blinking, saying what the and then carrying on with what they were doing […]. (INSRT: 176f.) Die antizipatorische Pause erinnert deutlich an das beschriebene Stillstehen des Verkehrs zu Beginn des Romans. Auch diese Passage beschreibt eine Gemeinschaftserfahrung durch geteilte Aufmerksamkeitsbindung. Die Praktiken von Akteuren im Raum verändern dessen atmosphärische Qualität und generieren Gemeinschaftserfahrungen - im obigen Beispiel die Erlebnisgemeinschaft der waghalsigen Bürostuhlfahrer sowie die Erlebnisgemeinschaft der Zuschauer dieses Spektakels. Der Ort erscheint somit als relationales Gebilde zwischen Akteuren, das durch Praktiken generiert und kreativ angeeignet wird (vgl. de Certeau 1988: 179ff.). In der oben zitierten Passage erscheint die Gemeinschaftserfahrung von nur flüchtiger Natur. Diese transitorische Qualität zusammen mit der Betonung der Kontingenz des Inkommensurablen innerhalb der Gemeinschaft sowie dem universellen Charakter von Gemeinschaft laden auf den ersten Blick dazu ein, McGregors Gemeinschaftskonzept als dekonstruktivistisch zu begreifen. So liest Berthold Schoene (2010: 168ff.) McGregors Roman als ein eindrucksvolles Beispiel für einen Entwurf von Gemeinschaft im Sinne von Jean-Luc Nancys Konzept der undarstellbaren Gemeinschaft (1988). Unter Rückgriff auf Martin Heideggers Fundamentalontologie definiert Nancy die menschliche Existenz als Mitsein (vgl. Nancy 1988: 36f.; vgl. Gertenbach et al. 2010: 161). Er ersetzt damit die Vorstellung von Gemeinschaft als einer abgeschlossenen Einheit durch ein differenzlogisches Konzept: „Einem dekonstruktiven Verständnis folgend, setzt eine Gemeinschaft gerade nicht die vermeintliche Homogenität, sondern eine innere Differenz, eine nicht einholbare Besonderheit ihrer Mitglieder konstitutiv voraus.“ (Wetzel 2003: 252 zitiert nach Gertenbach et al. 2010: 166) Gemeinschaft bestehe in verbindenden Zwischenräumen (zwischen Differenzen) und sei prinzipiell unvollendbar (vgl. Gertenbach et al. 2010: 168). Ein <?page no="335"?> If Nobody Speaks of Remarkable Things 321 zentrales Konzept von Nancy in diesem Zusammenhang ist ‚Komparenz‘: 295 [it] describes people’s coming into being in necessary relation to one another while retaining their unique separateness. According to Nancy, human living proceeds communally, yet inoperatively, which means that people’s selfand world-formation as contemporaries occur in significant, even crucial, yet ultimately arbitrary and purposeless exposition to one another. (Schoene 2010: 156) Komparenz hebt somit auf die Kontingenz des Inkommensurablen („unique separateness“) im Mitsein ab. Das, was die Menschen gemäß Nancy ‚in-common‘ haben, ist ihre Unterschiedlichkeit und gerade nicht eine geteilte (immanente) Identität: „Because we share this difference, we are in relation to one another. ‚Being‘ is thus properly understood as Mit-da-sein.“ (Norris 2012: 147) Gemeinschaft als Mit-da-sein sei widerständig gegenüber der Instrumentalisierung für eine bestimmte Zwecksetzung (s.o.: „arbitrary, purposeless“). 296 Für Schoene zeichnet sich die dargestellte Nachbarschaft in INSRT durch Komparenz (‚compearance‘) aus: Instead of sharing the same fate or being bound by a common sense of identity, the inhabitants of McGregor’s street are simply contemporaries, linked to one another as much by their strictly anonymous adjacency as by a vague, residual sense of neighbourly conviviality and solicitude. Ultimately, what holds them together is compearance rather than identity, crystallising into a more traditional semblance of community only momentarily 295 Vgl. Nancy (1988: 129f.): „Die singulären Seienden erscheinen zusammen: Dieses Zusammen-Erscheinen macht ihr Sein aus, teilt sie einander mit. Die Unterbrechung der Gemeinschaft aber, die Unterbrechung einer Totalität, die sie vollenden würden, ist das eigentliche Gesetz der Komparenz. Das singuläre Seiende erscheint anderen singulären Seienden, es wird ihnen als singuläres mitgeteilt.“ 296 Wie diese kurzen Ausführungen verdeutlichen, unterscheidet sich Nancys Konzeptualisierung von Gemeinschaft radikal von herkömmlichen Verwendungsweisen des Begriffs. Nancy versucht, Gemeinschaft jenseits einer Metaphysik der Präsenz zu denken, weil eine solche Metaphysik mit problematischen Exklusionen bis hin zur Vernichtung von Alterität einhergehe. Da Gemeinschaft sich bei Nancy auf die ontologische Dimension des Mitseins bezieht, ist Gemeinschaft stets gegeben: „Es ist uns nicht möglich, nicht zusammen-zu-erscheinen.“ (Nancy 1988: 75) Der entscheidende Punkt, auf den es mir bei der Interpretation von McGregors Roman ankommt, ist, ob in diesem Text ein solches dekonstruktivistisches Verständnis von Gemeinschaft inszeniert wird: „[C]ommunity, in Nancy, can only be affirmed or denied. The choice or instance of decision which presents itself in this context relates to whether the shared finitude of existence is recognized and affirmed as such (together with the unworking of collective identity this implies) or whether this finitude is negated in the continued appeal to metaphysical figures of essence or ground, and to an identitarian understanding of political community.“ (James 2006: 192f.) <?page no="336"?> 322 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive when a near-fatal car accident disrupts the quotidian uneventfulness of life in the street. (Schoene 2010: 156f.) Das vorhin diskutierte Beispiel des Spektakels der waghalsigen Fahrer von Bürostühlen wäre ein Beispiel für die inoperative Gemeinschaft: [the neighbourhood’s] occasional pulling together does not work to unify them into operative wholes; rather, they always quickly relapse into broken mosaics of irremediably atomised subjectivities, who touch and do not touch on one another, who - however closely interconnected - never form an entirety. (ebd.: 156) Allerdings liefern Schoenes eigene Ausführungen einen zentralen Hinweis darauf, dass McGregors inszenierte Gemeinschaft mit ihrer Anerkennung des Inkommensurablen nicht einfach als Illustration der ‚undarstellbaren Gemeinschaft‘ gelesen werden kann. Schoene erwähnt die „traditional semblance of community“ am Ende des Romans. Entscheidend ist, dass diese traditionelle Form von Gemeinschaft nicht ein Moment unter anderen ist, sondern als Kulminationspunkt einer Entwicklung aufgefasst werden kann, die einem dekonstruktivistischen Gemeinschaftsentwurf entgegensteht. Am Anfang von INSRT wird ein Ideal von Gemeinschaft eingeführt, das indirekt mit Wärme, Geborgenheit bzw. den Attributen des Heims konnotiert wird (siehe oben). Demgegenüber leidet die Ich-Erzählerin auf der Gegenwartsebene unter der Anonymität und Isolation in der Stadt. Erst die allmählich aufkeimende Freundschaft zwischen ihr und einem jungen Mann ermöglicht es ihr, das Gefühl der Entfremdung zu überwinden und eine positive Bindung zu ihrem ungeborenen Kind zu verspüren. Die Anonymität des städtischen Lebens wird ebenso in dem Handlungsstrang auf der Vergangenheitsebene in den Vordergrund gerückt, indem auf die Nennung von Eigennamen vollständig verzichtet wird. Die Anwohner der Straße werden ausschließlich durch Epitheta wie „the girl with the short blonde hair and the small square glasses“ (INSRT: 87), „the boy with the sore eyes“ (ebd.: 55) oder „[t]he woman at number nineteen“ (ebd.: 41) identifiziert. Die Fokussierung auf auffällige äußerliche Charakteristika entspricht dem Wahrnehmungsmodus von Städtern: „[In] a community of strangers, we need a quick, easy-to-use set of stereotypes, cartoon outlines, with which to classify the people we encounter.“ (Raban 2008 [1974]: 26) Entscheidend ist, dass in McGregors Roman eine direkte Kausalität zwischen der Schwierigkeit, welche die Ich-Erzählerin hat, mit Widerfahrniskontingenz umzugehen (ihrer Schwangerschaft sowie dem Unfall, bei dem sie Zeuge war), und ihrer sozialenVereinsamung eingeführt wird. Komparenz reicht demnach für die sinnstiftende Form von Gemeinschaft, wie sie zu Beginn des Romans entworfen wurde, nicht aus. Ein dekonstruktivistisches Gemeinschaftsideal umfasst eine Akzeptanz von Alterität und damit zugleich eine Nicht-Lesbarkeit des Anderen. Zwar <?page no="337"?> If Nobody Speaks of Remarkable Things 323 wird Kontingenz des Inkommensurablen auch bei McGregor betont, allerdings deutet das auffällige Leitmotiv der Zwillinge darauf hin, dass gemeinschaftliche Bindungen letztlich doch auf das Ideal einer Transparenz des Anderen hinauslaufen. Es finden sich gleich drei Zwillingspaare im Roman. Der junge Mann, Michael, mit dem sich die Ich-Erzählerin anfreundet, ist der eineiige Zwillingsbruder einer ihrer Nachbarn von vor drei Jahren (‚the boy from number eighteen‘). Dieser war in sie verliebt gewesen, ohne dass sie es gemerkt hatte. Der Junge, Shahid Mohammed Nawaz, der vor drei Jahren angefahren wurde, ist ebenfalls ein Zwilling. Mehr noch, es stellt sich heraus, dass die Ich-Erzählerin mit Zwillingen schwanger ist. Die Zwillinge stehen für eine ganz besondere Beziehung von Intimität, wie Michaels Beschreibung seines Verhältnisses zu seinem Bruder verdeutlicht: „It’s not like people think he says, we’re not telepathic or anything like that, but we’ve always been very close, we’ve always known most stuff about each other. Connected he says, like we’re connected.“ (INSRT: 202) ‚Connection‘ umfasst damit Zugang zur Innerlichkeit des Anderen bzw. eine Form von Intimität. Alterität ist etwas, das unter besonderen Umständen (wie der Zwillingsbeziehung) in erheblichem Maße überwindbar ist. Beide Handlungsstränge im Roman sind durch eine Bewegung von disconnection hin zu connection geprägt. Auf der Gegenwartsebene fühlt sich gegen Ende die Ich-Erzählerin mit Michael eng verbunden, was ihr wiederum ermöglicht, eine Beziehung zu ihrem noch ungeborenen Kind aufzubauen: I feel a warmth, and I realise that I am holding Michael’s hand, and that this makes me feel safer, more able to open my eyes and look at the blur on the screen. […] I realise that this is what I wanted that night last week, to simply make a connection and keep hold of it. (INSRT: 261) I see the tiny foetal clutch of new life. I look and I don’t speak, and all I can think of is names, names hurtling through my head like asteroids. […] I feel Michael’s other hand reaching for mine, his two hands wrapping tightly around mine, I hear him whisper oh my God. (ebd.: 262) Entsprechend des Gemeinschaftsideals, das zu Beginn des Romans eingeführt wurde, wird das Erleben von Gemeinschaft („connection“, ‚holding hands‘) verbunden mit dem Fokus auf das Individuum, wie es durch die „Magie der Namen“ (Denneler 2001: 18) signalisiert wird („names hurtling through my head like asteroids“). 297 Auf der Vergangenheitsebene lässt 297 Die emphatische Wertaufladung von Eigennamen, wie sie in INSRT erfolgt, hängt damit zusammen, dass in der Gegenwartsgesellschaft der Name „anscheinend jenen Rest von Zeichenidentität [verbürgt], der in Zeiten der allumfassenden Inszenierung unserer sozialen Welt, des unablässigen Rollen- und Signifikantenspiels, verlorengegangen zu sein scheint“ (Denneler 2001: 21). <?page no="338"?> 324 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive sich eine analoge Entwicklung zu connection feststellen, die schließlich in eine Art ‚communion‘ bzw. Metaphysik der Präsenz gipfelt. 298 Die allmähliche Überlagerung eines dekonstruktivistischen Konzepts von Gemeinschaft durch die Figur einer sakralen Ganzheit, die auf einer Metaphysik der Präsenz beruht, lässt sich anhand der Rolle des Zufalls im Roman illustrieren. Die Ich-Erzählerin überlegt, ob es irgendein „premonition or a warning or a clue“ (INSRT: 10) für den Unfall gegeben habe, der sich damals ereignet hatte: „I wonder if there was, actually, if there was something I missed because I wasn’t paying attention.“ (ebd.) Wie den LeserInnen am Ende von INSRT klar wird, rekonstruiert der Handlungsstrang auf der Vergangenheitsebene alle Handlungsketten, deren Zusammenfall schließlich zu dem Unfall führte. Entscheidend ist, dass auch für die LeserInnen der Unfall überraschend kommt, weil es keine Textsignale gibt, die das Ereignis ankündigen. Inszeniert wird somit ein objektiver Zufall, d.h. das ursachelose Zusammenfallen verschiedener Handlungsstränge bzw. Kausalitätsketten. Das komplexe Ineinandergreifen der Handlungen der Figuren demontiert die klassische Kausalitätszurechnung, wonach von einer Ursache und einer Wirkung auszugehen ist (vgl. Reichardt 2010: 59). Der Autounfall erscheint „als Schnittpunkt mannigfaltiger Prozesse“ (ebd.: 61), d.h. es gibt „viele aufeinander wirkende Ursachen und Wirkungen […], die ihrerseits wechselseitig aufeinander einwirken“ (ebd.). Aufgrund dieses komplexen Beziehungsverhältnisses herrscht Unvorhersehbarkeit. 299 Die Inszenierung eines objektiven Zufalls passt zu einem dekonstruktivistischen Gemeinschaftskonzept, wie oben beschrieben. Das flüchtige ‚Zusammenziehen‘ der Menschen zu einer Gemeinschaft, wie sie als Reaktion auf den gemeinsam erlebten Unfall erfolgt, erscheint dementsprechend ebenfalls als kontingent. Die ausführliche Beschreibung des Unfalls und die Reaktion der Menschen führt jedoch eine sakrale Dimension ein, so dass statt eines objektiven Zufalls der Eindruck eines zugrunde liegenden mythischen Musters entsteht, ähnlich wie bei Mrs. Dalloway. Der Eindruck einer sakralmythischen Dimension wird durch die religiöse Wortwahl und insbesondere die Wahrnehmung eines analogischen Zufalls aufgerufen. Der religiöse Diskurs ist besonders verdichtet bei der nachfolgenden Beschreibung der Reaktion eines Anwohners auf den Unfall: 298 Die parallele Entwicklung von ‚disconnection‘ zu ‚connection‘ in beiden Handlungssträngen wird durch motivische Wiederholungen betont. So wird beispielsweise direkt nach dem gemeinschaftlichem Miterleben des Autounfalls und seiner Folgen das Motiv vom Umfassen der Hände aufgegriffen: „And as these streets are travelled, in the time it takes for a hand to be clasped and unclasped, Shahid Mohammed Nawaz wakes gently“ (INSRT: 274f.). 299 Vgl. Reichardt (2010: 61): „Voraussagen können […] nur noch statistisch gemacht werden.“ <?page no="339"?> If Nobody Speaks of Remarkable Things 325 At the end of the street, the man with the ruined hands […] thinks of the boy’s mother, saying his name, he echoes her, […] Shahid Mohammed, Shahid Nawaz, […] he thinks oh Allah have mercy let the whole world hear. He imagines what would happen if the whole street called his name, joining with the mother’s small voice, the whole street lifting the words and the words spreading through this city, taking flight like a flock of birds […], a chorus of name-saying, a brief redemptive span of attention. […] He imagines this, he whispers the name alone, […] like a prayer, he has no faith but the words keep coming, […] let the whole world listen for a moment, his name is […] Shahid Mohammed Nawaz, and he is dying. (INSRT: 271f.) Diesem imaginierten Akt der kollektiven Namensnennung, der religiös gefärbt ist (z.B. „redemptive“, „like a prayer“), kommt insofern gesteigerte Bedeutung zu, als zum ersten Mal in diesem Handlungsstrang ein Eigenname genannt wird. Als ob das Gebet des Mannes erhört wird, spricht nun auch der Sanitäter im Krankenwagen Shahids Namen aus. Tatsächlich erscheint der Akt der Namensnennung des Individuums als ‚redemptive‘, denn Shahid erwacht im Krankenwagen wieder zum Leben. Statt einer poststrukturalistischen Zeichenverwendung entwerfen die Schlussszenen des Romans eine Metaphysik der Präsenz: Das Wort wird im biblischen Sinne lebendig (vgl. Johannes-Evangelium 1,1ff.). 300 Die religiöse Zeichnung gewinnt durch die Namensbedeutung an Kontur. Shahid ist einer der Namen für Gott im Koran und kann zudem sowohl Zeuge als auch Märtyrer bedeuten. Da ‚Nawaz‘ im Persischen das Wort für „one who caresses, cherishes or soothes“ ist, lässt sich Shahid Nawaz übersetzen als ‚von Gott geliebt‘. 301 Das metaphysische „Zusammenfallen von Namen und Identität“ (Denneler 2001: 20) ist aufgrund der Namensetymologie in einer religiösen Dimension eingelagert. Selbst die Automarke des Unfallwagens, Fiat, lässt sich mit dem religiösen Diskurs verknüpfen, da sie mit der Genesis-Erzählung in Verbindung gebracht werden kann (Genesis 1: 3: „fiat lux“); eine Assoziation, die durch die weiße Farbe des Fiats verstärkt wird. 302 Zusammen mit der Namensmagie wird zugleich ein analogischer Zufall inszeniert. Michaels Bruder hatte vergeblich versucht, Shahid vor dem herannahenden Auto zu retten. In der Erinnerung der Ich-Erzählerin hatte er sich „like a blessing“ (INSRT: 9) bewegt. Aus nicht näher erklärten Gründen stirbt Michaels Bruder kurz darauf, als Shahid sterbend im Krankenwagen liegt und er selbst zurück in seiner Wohnung ist: 300 Zum religiösen Diskurs gehören auch die intertextuellen Referenzen auf die Teilung des roten Meeres (vgl. Exodus 14): „And the ambulance passes through the city, the traffic parting around it like the red sea“ (INSRT: 274). 301 Siehe folgende Internetseite zur Namensetymologie: http: / / genealogy.familyeducation.com/ surname-origin/ nawaz [aufgerufen am 11.06.2012]. 302 Die Anspielungen auf unterschiedliche Religionen unterstreichen den universellen Charakter der imaginierten Gemeinschaft. <?page no="340"?> 326 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive In his room, the young man with the dry eyes hammers at his chest with a weak fist. Suddenly, almost silently, he is dying, and he stands and thrashes around the room […], knocking a small clay figure to the floor. And there is an interruption in the way of things, a pause, […] something unexpected. Something remarkable. In the ambulance, Shahid breathes suddenly. (273; m.H.) 303 Die starken Schmerzen in seiner Brust deuten auf eine mögliche Herzattacke hin, ausgelöst durch die physische Überanstrengung beim Versuch, Shahid zu retten; eine angeborene Herzschwäche, die durch die physische Überlastung akut wird, wäre im Rahmen einer ‚realistischen‘ Lesart ebenso gut als Erklärung vorstellbar (vgl. Prescott 2009: 63; Schoene 2010: 174). Allerdings werden solche medizinischen Erklärungen durch den analogischen Zufall in Frage gestellt. 304 Der frappierende Zusammenfall von Tod und Leben sowie die Tatsache, dass beide (Shahid und „the young man with the dry eyes“) Zwillinge sind, implizieren das Vorhandensein von kosmisch-mythischen Verbindungen zwischen den Stadtbewohnern. Dieser Eindruck wird durch die religiöse Wortwahl in den Beschreibungspassagen des Unfalls und des nachfolgenden Geschehens verstärkt. Der analogische Zufall verweist, ganz wie bei Virginia Woolf, auf eine mythische Dimension des Lebens. Es drängt sich sogar - ähnlich wie bei Mrs. Dalloway - der Eindruck eines archaischen Opfermotivs auf: Der stärkste Moment einer sakralen Gemeinschaftserfahrung entsteht im Augenblick des Todes eines Menschen. 305 303 Das Zerbrechen der Tonfigur kann als Verweis auf die zuvor beschriebene Kunstwerkinstallation gelesen werden (vgl. auch Schoene 2010: 175). 304 Vgl. auch Prescott (2009: 63): „On the other hand, the elusive description of his death as ‚an interruption in the way of things‘ (273) seems more akin with magic realism than medical explanation, suggesting that in death, the young man metaphysically takes the place of the injured child.“ 305 Holly Prescott (2009) entwickelt eine interessante Interpretation des Opfermotivs in INSRT, indem sie sich auf die photographische Tätigkeit von Michaels Bruder konzentriert. Michaels Bruder photographiert seine Nachbarn ohne deren Wissen und notiert Informationen über seine Nachbarn auf der Rückseite dieser Bilder. Ein solches Sammeln von visuellen Daten weise Affinitäten mit der szientistischen Wissenskultur (‚scientific knowledge‘) auf, die nach der Möglichkeit einer „observation and re-observation“ (ebd.: 58) des Untersuchungsgegenstands verlange. In INSRT erfolge eine Distanzierung vom Monopolanspruch wissenschaftlicher Welterklärung, indem „narrative as a multiplicituous mode of knowledge which transmits qualitative as well as quantitative aspects of experience“ (ebd.: 63) betont werde: „McGregor uses th[e] undocumented event [= the car accident] as an opportunity to restore knowledge to its traditional, narrative mode. […] [A]bsence of a visual record encourages local residents to regain participation in cycles of speaking, listening and recounting through which narrative knowledge legitimises itself (Lyotard [1986: ] 21). The omniscient narrator speculates over ‚the narratives people will tell of this day‘ […]. They will ‚disagree‘ as to why Shahid failed to move from in front of the car […].“ (ebd.: 61) Eine solche „narrative diversity“ (ebd.) werde demgegenüber von <?page no="341"?> If Nobody Speaks of Remarkable Things 327 Das Individuum in McGregors Roman erscheint eingebettet in ein organisches Ganzes, das sakral aufgeladen ist. Das Konzept von Gemeinschaft als sakraler ‚body of individuals‘ wird durch die Rahmenstruktur formal inszeniert. Sowohl am Anfang als auch Ende des Romans wird das Innehalten der Stadt in ‚some sacred time‘ beschrieben, wobei Passagen aus den Eröffnungsseiten wortwörtlich am Ende wieder auftauchen. 306 Damit findet die auf inhaltlicher Ebene entworfene Ganzheitsfigur auf formaler Ebene ihr Äquivalent, weil diese eine Abgeschlossenheit und Einheit des Textes impliziert. Der religiöse Diskurs auf der inhaltlichen Ebene des Romans legt nahe, ebenso auf der Formebene Bezüge zum religiösen Feld herzustellen. Eine solche religiöse Semantisierung der Form drängt sich im Licht der ursprünglichen Wortbedeutung von ‚heilig‘ geradezu auf. Etymologisch geht ‚heilig‘ zurück auf „das körperliche ‚Ganzsein‘ [engl. ‚whole‘]“ (Böhm 2009: 57). Ein solches ‚körperliches Ganzsein‘ weist der Textkörper von McGregors Roman aufgrund seiner Rahmenstruktur auf, die im Dienste von ‚closure‘ steht. Die beiden zentralen Formen von Widerfahrniskontingenz in McGregors Roman, nämlich die ungewollte Schwangerschaft und der Autounfall, werden in einer formal-ästhetischen Figur der Geschlossenheit eingebettet und damit ihres bedrohlichen Potentials beraubt. Tatsächlich erscheinen beide Formen des Kontingenzeinbruchs als Quellen des Wunderbaren. Dem kommt angesichts der kulturgeschichtliden audiovisuellen Massenmedien mit ihrer „language of ‚confirmation‘“ (ebd.) und der polizeilichen Berichterstattung nicht geleistet. Auf Basis dieser Überlegungen betont Prescott, dass der Tod von Michaels Bruder bzw. des Photographen als symbolisches Opfer zu deuten sei: „a sacrifice is made so that such narrative knowledge may retain its place above a ‚scientific‘ fixing of meanings through images: namely, the death of the photographer“ (ebd.: 58). Problematisch an dieser Lesart ist allerdings, dass Prescott mit keinem Wort auf das Projekt des ‚urban archiving‘ eingeht, dem Michaels Bruder nachgeht. ‚Urban archiving‘ wird in INSRT mit dem aufmerksamen Blick für das Wunderbare und Partikulare verknüpft und dementsprechend positiv codiert. (Auf ‚urban archiving‘ gehe ich im Laufe der weiteren Argumentation ausführlicher ein.) Die Photographien werden als Bestandteil dieses Projekts ausgewiesen, so dass die These von einer vermeintlichen negativen Codierung von Photographie innerhalb McGregors Roman zu hinterfragen ist. Allerdings stimme ich der These zu, dass in McGregors Roman das positive Potential von (literarischem) ‚narrative knowledge‘ betont werde, und teile zudem die kritische Bewertung der photographischen Tätigkeit von Michaels Bruder, wie ich später erläutere. 306 Die fast identischen Textelemente lauten: „Even the traffic […] [is] held still in this moment, trapped by the traffic lights which synchronise red as the system cycles from old day to new, hundreds of feet resting on accelerators, hundreds of pairs of eyes hanging on the lights, all waiting for the amber, all waiting for the green.“ (INSRT: 4f.; m.H.) Am Romanende heißt es: „four queues of traffic sit facing each other, trapped by traffic lights which have synchronised red for the ambulance to pass, dozens of feet resting on accelerators, dozens of pairs of eyes hanging on the lights. All waiting for the amber. All waiting for the green.“ (ebd.: 275; m.H.) <?page no="342"?> 328 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive chen Bedeutung des Autounfalls in der Moderne eine gesteigerte Bedeutung zu. In ihrer Studie Crash: Der Unfall der Moderne (2009) identifiziert Claudia Lieb den Autounfall in zweierlei Hinsicht als eine Leitfigur in der Literatur des 20. Jahrhunderts: thematisch und poetologisch. Das vormoderne Grundmodell vom Unfall als göttlichen Eingriff wird in der Moderne umkodiert zu einem Verständnis vom Unfall „als gewaltsame[n] Ereignis, das für den Einzelnen anormal und chaotisch, absichtslos und unvorhersehbar ‚geschieht‘, für die Masse aber [statistisch] kalkulierbar und voraussehbar erscheint“ (Lieb 2009: 11). Die Prominenz des Autounfalls in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts erklärt Lieb mit drei Faktoren. Erstens gehöre er zur Alltagserfahrung der Moderne. Zweitens komme „er dem Erzählprinzip der Moderne entgegen, das den Einzelnen, das Individuum privilegiert“ (ebd.: 13), da der Autounfall wenige Figuren und nicht ein Kollektiv betreffe. Drittens speise sich seine Attraktivität für die Literatur auch aus seinem allegorischen Potential, das sich aus der Vorsilbe ‚auto(s)‘ (gr. selbst) ergibt (vgl. ebd.: 14). In McGregors Roman wird dieses allegorische Potential insofern ausgeschöpft, als es bei beiden Kontingenzeinbrüchen um den Kontrollverlust des Individuums geht. So wie der ‚selbststeuernde‘ Autofahrer die Geschehnisse nicht kontrollieren kann, so leidet die Ich-Erzählerin unter dem Kontrollverlust über den eigenen (schwangeren) Körper. Dadurch dass sich die Widerfahrniskontingenz zu einer Quelle des Wunderbaren wandelt, die zugleich eine Gemeinschaftserfahrung ermöglicht, erscheint der Verlust von Handlungsmächtigkeit jedoch nicht negativ codiert in McGregors Roman. 307 Die Umcodierung von Kontrollverlust von etwas Bedrohlichem zu etwas Positivem hängt mit dem privilegierten Subjektmodell und der spezi- 307 Während bei McGregor der Autounfall mit einer Metaphysik der Präsenz verbunden wird, diagnostiziert Lieb demgegenüber in vielen Texten der Moderne einen Zusammenfall von Sprachkrise und Autounfall. Gemäß Lieb werden „um 1900 die Rede und das Schreiben thematisiert, um mit den Mitteln des Autounfalls ad absurdum geführt zu werden“ (2009: 159). Besonders anschaulich zeige dies Otto Julius Bierbaums Prinz Kuckuck (1906/ 07): „Es fällt Bierbaum zu, missglücktes Sprechen ins Vokabular des Automobilen zu kleiden und es am Beispiel eines Autounfalls vorzuführen. Insgesamt bleibt festzuhalten: Prinz Kuckuck, einer der ersten literarischen Texte überhaupt, die einen Autounfall inszenieren, nutzt diesen bereits zu einem selbstreflexiven Kommentar. Der Unfall induziert den Kollaps des Rhetorischen […]“ (ebd.: 165-66). Auch Kafka gehört zu den Beispielen, die Lieb anführt, da er in seiner ‚kleinen Automobilgeschichte‘ aus seinem ersten Reisetagebuch „das Risiko, das vom Schreiben ausgeht, mit demjenigen des Automobils [parallelisiert], und dies führt zwangsläufig zum Crash“ (ebd.: 201). Weitere Autoren, denen sich Lieb widmet, sind Döblin und Musil, die beide „eine Poetik des Autounfalls als Poetik der Moderne aus[arbeiten], die sich formal im Aufbrechen von Kontinuität und Linearität, in Formen der Achronizität und dem Einsatz von Leerstellen verfolgen lässt. Döblins Modell eines am Unfall orientierten, sinnlosen Erzählens setzt sich thematisch vom zeitgenössischen Film ab, während Musil modernes Erzählen in Analogie zur mathematischen Unkalkulierbarkeit eines Autounfalls denkt.“ (ebd.: 315) <?page no="343"?> If Nobody Speaks of Remarkable Things 329 fischen Art der Verzauberung und Sakralisierung der Lebenswelt in INSRT zusammen. Diese Aspekte werden im nachfolgenden Abschnitt genauer beleuchtet. 5.2 Verzauberung und Sakralisierung der Lebenswelt: Die Sensibilisierung für das Partikulare Ähnlich wie in Under the Net wird in INSRT ein Subjekt privilegiert, das sich darin übt, aufmerksam gegenüber seiner Umwelt und seinen Mitmenschen zu sein. Eine solche Rezeptivität des Subjekts für das Individuell- Partikulare bildet in McGregors Roman die zentrale Voraussetzung für eine Verzauberung von Welt. Das implizite Funktionsmodell des Romans ist darauf ausgerichtet, eine Haltung bei der Leserin einzuüben, die für das Wunderbare im Leben empfänglich ist. INSRT lenkt die Aufmerksamkeit auf ‚enchanted sites‘ des modernen Lebens, indem die ästhetischqualitativen Besonderheiten alltäglicher Dinge und Gegebenheiten (wie etwa ein plötzlicher Regenschauer) in den Vordergrund gerückt werden. Mit diesem Fokus auf das Wunderbare richtet sich INSRT gegen die große Erzählung einer Entzauberung von Welt und plädiert für einen ‚sinnlichen Sinnbegriff‘ (Odo Marquard; vgl. Kap. II.4.1). Eine solche gesteigerte Aufmerksamkeit für das Wunderbare im Alltag ermöglicht es zugleich, sich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen: „[A]ttention to the everyday […] is […] attention to […] a commonality of experience that is endlessly forming and reforming in human activities and encounters - if only we deigned to notice it.“ (Sheringham 2009: 398) Die intensivste Form einer „communality of experience“ bilden in McGregors Roman die Reaktionen der Anwohner auf den Autounfall. INSRT bietet viele Beispiele dafür, wie der Alltag Momente des Wunderbaren bereithalten kann. Diese Darstellung von ‚remarkable things‘ korrespondiert mit der Phänomenologie von enchantment, wie sie Jane Bennett in ihrer Studie über The Enchantment of Modern Life (2001) entwickelt hat. Bennett charakterisiert ‚enchantment‘ als „a state of wonder“ (5), in dem chronologische Zeit temporär aufgehoben und körperliche Bewegung eingestellt sei; es sei ein Moment akuter sensorischer Aktivität, welche die Welt als „a collection of singularities“ (ebd.) lebendig werden lasse (vgl. ebd.). Diese Aspekte können in der nachfolgenden Passage aus INSRT identifiziert werden: The tall girl watches the tissue-thin vapours twirling upwards from the mugs of tea, illuminated by the sunlight, she can see each drop of moisture, lighter than air, spiralling together like a flock of birds turning into the sun, like a tiny waterfall reversed, a playful moment, she feels as though if she put her hand in the way it would tickle she says mm oh I feel better now. (160; m.H.) <?page no="344"?> 330 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Zeit ist zwar nicht aufgehoben, doch sie erscheint durch den Gebrauch des Partizip Präsens („spiralling“, „turning“) statt des Infinitivs verlangsamt, weil das Partizip Präsens den anhaltenden Verlauf der Handlung betont. Da nicht die Abfolge mehrerer Handlungen, sondern das Andauern der Handlung, eine Momentaufnahme, unterstrichen wird, kommt es zu einer Reduktion des ‚narrative drive‘. Die Aufmerksamkeitsbindung durch ‚Singularitäten‘ zeigt sich in der Wahrnehmung jedes einzelnen Feuchtigkeitstropfens („each drop of moisture“). Gleichzeitig zeugen Textdetails wie diese von der erhöhten sensorischen Aktivität bei gleichzeitiger körperlicher Ruhe. Nicht zuletzt kann der Ausweis dieses Moments als „playful“ mit enchantment verknüpft werden. Neben der Sensibilisierung für die wunderbare Partikularität von Dingen (Kontingenz des Inkommensurablen) kann gemäß Bennett (2001) auch ein erhöhter Spielcharakter („giv[ing] greater expression to the sense of play“, 4) als Strategie zur Evokation von enchantment dienen. Das in der zitierten Passage beschriebene Moment des enchantment erhält eine religiös-sakrale Bedeutung durch religiöses Vokabular („illuminated“) sowie das Aufgreifen religiös codierter Leitmotivik im Roman. Die in der Passage erwähnten „flock of birds“ tauchen an mehreren Stellen in Beschreibungspassagen auf, insbesondere im Kontext von religiösen Bezügen. So erklärt ‚der Mann mit den ruinierten Händen‘ seiner Tochter, wie wichtig es ist, offen für das Wunderbare im Leben zu sein: he says in the place where you [= the daughter] were born in there would be flocks of thousands of birds, gathering at dusk, and when they turned in mid-air the whole sky would go dark as though Allah was flipping the shutters closed for a second. And not any of those thousands collided he says, do you think this is special? […] He says there are remarkable things all the time, right in front of us, but our eyes have like the clouds over the sun and our lives are paler and poorer if we do not see them for what they are. He says, if nobody speaks of remarkable things, how can they be called remarkable? (INSRT: 239; m.H.) Die Ausführungen dieser Figur lesen sich als metapoetischer Kommentar zum Roman: „if nobody speaks of remarkable things“, ist es die Aufgabe der Literatur, dies zu tun. So legt es zumindest die Lektüre von McGregors Roman nahe. Die Phänomenologie von enchantment durchzieht INSRT, da es viele lyrische Beschreibungspassagen solcher Momente gibt. Besonders ausgeprägt ist die Inszenierung von enchantment in der Rahmenstruktur. Wie bereits erwähnt, wird explizit das Wunder der Stille („miracle of silence“, INSRT: 3) in einem heiligen Moment der Zeit (‚sacred time‘) am Anfang und Ende des Romans hervorgehoben. Dies ist die Steigerung einer verlangsamten Zeit. Berücksichtigt man die ursprüngliche Bedeutung von ‚enchant‘, so kann zudem die Beschreibung des Lieds der Stadt als eine <?page no="345"?> If Nobody Speaks of Remarkable Things 331 Strategie des enchantment gelesen werden: „the word enchant is linked to the French verb to sing: chanter. To ‚en-chant‘: to surround with song or incantation; hence, to cast a spell with sounds, to make fall under the sway of a magical refrain“ (Bennett 2001: 6). Dazu passt die rhythmische und lautmalerische Qualität der Passagen, in denen das Lied der Stadt beschrieben wird (vgl. z.B. „loose drains and manhole covers clack-clacking like cast-iron castanets“, INSRT: 1). Mit seinem impliziten Funktionsmodell, bei der Leserin eine offene Haltung für enchantment hervorzubringen, kann McGregors Roman als literarischer Beitrag zur Revision der grand récit von einer Entzauberung der Welt gelesen werden. Eine solche Widerständigkeit gegen diese große Erzählung identifiziert Bennett - neben dem bereits erwähnten Sinn fürs Spielerische sowie der Sensibilisierung für Singularität - als dritte Strategie, um enchantment als Erfahrungsdimension zu kultivieren (vgl. Bennett 2001: 4). Die Infragestellung der Geschichte von der Entzauberung der Welt sei deshalb wichtig, so Bennett, da diese Erzählung performativ zu der Etablierung desjenigen Zustands beigetragen hat, den sie beschreibt (vgl. ebd.). Enchantment berge jedoch ethisches Potential, das es zu erhalten gelte: enchantment can aid in the project of cultivating a stance of presumptive generosity, (i.e., of rendering oneself more open to the surprise of other selves and bodies and more willing and able to enter into productive assemblages with them). (ebd.: 131) Without modes of enchantment, we might not have the energy and inspiration to enact ecological projects, or to contest ugly and unjust modes of commercialization, or to respond generously to humans and nonhumans that challenge our settled identities. (ebd.: 174) Die von Bennett identifizierten ethischen Potentiale von enchantment finden sich auch in McGregors Roman. Immer wieder geht es um die Sensibilisierung für die Partikularität des Anderen sowie die damit verbundene Öffnung für den Anderen, wie sie exemplarisch in der sich entwickelnden Beziehung zwischen der Ich-Erzählerin und Michael erfolgt. Die Gestaltung des Verhältnisses von Individuum und Masse in INSRT deutet ebenfalls auf eine solche erhöhte Wahrnehmung für das Besondere. Es sind gerade die individuellen Besonderheiten, die eine Quelle von enchantment als „surprise of other selves“ (Jane Bennett) darstellen. Mehr noch, die Lebensgeschichten der verschiedenen Figuren implizieren, dass das Leiden und die Verzweiflung in der Welt überhaupt nur ertragen werden können, weil es auch ‚moments of enchantment‘ gibt: „To be enchanted is, in the moment of its activation, to assent wholeheartedly to life“ (ebd.: 159). Das emphatische Plädoyer für enchantment, das sowohl in McGregors Roman als auch in aktuellen kulturtheoretischen Studien formuliert <?page no="346"?> 332 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive wird, 308 überrascht auf den ersten Blick. Immerhin gibt es eine lange und sehr einflussreiche Tradition (v.a. im Zuge der Frankfurter Schule), die enchantment ablehnt, weil dadurch die RezipientInnen passiviert und manipuliert würden. Tatsächlich bestreiten die Befürworter von enchantment nicht deren Gefahren, allerdings betonen gerade deshalb Theoretiker wie Bennett, dass es um ein Leben mit Momenten von enchantment gehe, und nicht um ein „enchanted way of life“ (Bennett 2001: 10) ohne jegliche Kritikfähigkeit. 309 Auch in McGregors Roman kommt diese Differenz zum Tragen, denn im Vordergrund steht die Wahrnehmung von besonderen Augenblicken und nicht eine ‚Verzauberung‘ des Lebens an sich. Es sind die Momente von enchantment, welche es ermöglichen, Widerfahrniskontingenz nicht einfach als Sinn zerstörend, sondern ebenso als sinn- und gemeinschaftsstiftend zu erleben. Angesichts der Dichte des religiösen Diskurses in INSRT stellt sich die Frage, ob die Möglichkeit von enchantment zwangsläufig an den Glauben an eine göttliche Schöpfung der Welt gekoppelt ist. Zwar ist die religiöse Wortwahl in McGregors Roman sehr auffällig, doch steht innerhalb der fiktionalen Welt die Existenz eines Gottes nicht zweifelsfrei fest. Auf diese Offenheit verweisen die zahlreichen ‚als ob‘-Vergleiche, wie in der bereits zitierten Passage: „the whole sky would go dark as though Allah was flipping the shutters closed for a second“ (INSRT: 231; m.H.). Die „Strategi[e] der ästhetischen Wiederverzauberung“ (Böhm 2009: 12, FN 10) dient im Roman einer „Lebens- und Kontingenzbewältigungsfunktion“ (Jörg Herrmann zitiert in ebd.: 22), ohne eindeutig eine religiöse Botschaft zu formulieren. Der Glaube an Gott ist keine unabdingbare Voraussetzung für die Wahrnehmung von ‚remarkable things‘, so wie sie innerhalb der Textwelt zur Darstellung gelangen. 310 In INSRT erfolgt nicht nur eine Verzauberung von Welt. Vielmehr kann darüber hinaus von einer Sakralisierung der Lebenswelt gesprochen werden, zumindest dann, wenn eine konstruktivistische Definition anlegt wird, so wie sie Nadine Christina Böhm in ihrer Studie Sakrales Sehen (2009) entwickelt. Böhm (2009) definiert Sakralisierungen als „Zuschreibungen von ‚Qualitäten‘, die als heilig erkannt worden sind“ (103). 311 Mit dieser Defini- 308 Vgl. beispielsweise Felski (2008: 51-76) und Böhme (2006). 309 Siehe auch Felski (2008: 75): „Modern enchantments are those in which we are immersed but not submerged, bewitched but not beguiled, suspensions of disbelief that do not lose sight of the fictiveness of those fictions that enthrall us.“ 310 Zum Verhältnis von Religion und enchantment siehe auch Bennett (2001: 10): „Although the experience of enchantment is often linked to a belief in a designed universe, it need not be. I identify sites on the contemporary cultural landscape that are capable of inspiring wonder“. 311 Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass das Sakrale das Heilige voraussetzt, weil es als dessen Medium fungiert (vgl. Böhm 2009: 14f.). Die methodische Schwierigkeit bei der Analyse von Sakralisierung liegt allerdings darin, dass die Bezugsgröße des <?page no="347"?> If Nobody Speaks of Remarkable Things 333 tion wird „der Konstruktcharakter auf Basis assoziativer Verknüpfungen dieser Kulturtechnik herausgestellt“ (ebd.). Während die Stimmung von enchantment durch Strategien wie eine Erhöhung des spielerischen Moments und einen Fokus auf die wunderbaren Spezifika von Dingen gefördert werden kann, ist eine Sakralisierung von Welt „von einer schon etablierten Zeichenebene, also zum Beispiel religiösen Symbolen, wie auch von der kulturellen Bewertung dieser Zeichen abhängig“ (ebd.). In McGregors Roman wird eine solche Zeichenebene intensiv durch das religiöse Register bedient (z.B. „moving through the locked moment like a blessing“ [9], „miracle“ [3], „sacred“ [3]) und die Erwähnungen Gottes. Diese Technik der Sakralisierung verstärkt die ästhetische Verzauberung von Welt in INSRT, ohne dabei die Existenz einer göttlichen Kraft innerhalb der Textwelt festzuschreiben. Vielmehr erscheinen die Sakralisierungen „als ‚mediale Strukturen‘ […], die eine (Meta-)Kommunikation über religiöse Themen darstellen“ (Böhm 2009: 22). Das Sakrale im Alltag wird als Möglichkeitshorizont zugelassen. Böhms Ausführungen zur Sakralisierung als Kulturtechnik werfen ein interessantes Licht auf die bereits diskutierte Verlangsamung des narrativen Tempos durch den Gebrauch des Partizip Präsens in INSRT sowie den Moment des Stillstands, der in der Rahmenstruktur behandelt wird. Böhm betont unter Bezugnahme auf Waldenfels’ Phänomenologie des Heiligen, dass das Heilige nicht greifbar ist: „Das Heilige ist als ereignishafter Prozess zu denken, während das Sakrale […] sich durchaus in konkreten Formen, Symbolen, in Zeichen und Zeichenhandlungen niederschlägt.“ (Böhm 2009: 55) Für Böhm entspringen Sakralisierungen „dem Impetus, den der différance analogen Strukturprozess des Heiligen anzuhalten, und in Formen handhabbar, verfügbar zu machen“ (ebd.: 89). Vor diesem Hintergrund können die ‚Standbilder‘ bzw. die Passagen in Zeitlupentempo bei McGregor ebenfalls als Versuch der „Arretierung des Signifikationsprozesses“ (ebd.: 90) verstanden werden, der „Heiliges als Sakrales inszeniert“ (ebd.). Die Aufmerksamkeitslenkung auf das Wunderbare und das Sakrale sowie die damit einhergehende Aktivierung von Sinnressourcen werden im Roman als eine zentrale Funktion von Literatur ausgewiesen. Diese metapoetische Dimension wird durch drei Textelemente aufgerufen: das Projekt „urban archiving“ (INSRT: 215)‚ die eingezogene Rivalität zu den Nachrichtenmedien sowie die Semantisierung der Formebene von INSRT. Heiligen unscharf bleibt. Es ist „nicht geklärt, und vielleicht nicht klärbar […], ob ein von konkreten religiösen Formen abstrahiertes Heiliges überhaupt existiert“ (ebd.: 15). Da sich aus methodischen Gründen das Heilige nicht als „feststehende Kategorie“ (ebd.: 15, FN 16) überzeugend entwickeln lässt, gestaltet Böhm ihre Auseinandersetzung mit dem Verhältnis des Heiligen zum Sakralen „multiperspektivisc[h], asymptotisc[h]“ (ebd.). <?page no="348"?> 334 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Das Projekt des ‚urban archiving‘ wird im Zusammenhang mit Michaels Bruder eingeführt, der das Modell eines rezeptiven und aufmerksamen Subjekts verkörpert. Michaels Bruder verstand sich als „an archaelogist of the present“ (ebd.: 153): [H]e hated the way everything was ignored and lost and thrown away. (ebd.) He [= Michaels Zwillingsbruder] sort of collects things […], things he finds in the street, like till receipts and study notes and pages torn from magazines, and one time he took a whole pile of shattered car-window pieces and made a necklace out of them […]. He said they were urban diamonds […]. (ebd.) Diese Passage zeigt, dass sich mit ‚urban archiving‘ verschiedene Momente verbinden. Das erste Element betrifft die Inhalte des Archivs: Es geht um die Erweiterung des kulturellen Archivs um Elemente aus dem Bereich, der normalerweise nicht von Archiven erschlossen und eigens aufbewahrt wird (vgl. Baßler 2002: 21 unter Verweis auf Groys 1999). Groys nennt diesen Bereich den ‚profanen Raum‘. Im Falle von urban archiving geht es um den Abfall der Stadt, der achtlos weggeworfen und danach entsorgt wird. Indem Michaels Zwillingsbruder diesen Abfall sammelt und damit zugleich für die Nachwelt festhält, wird das „Verhältnis zwischen dem valorisierten, hierarchisch aufgebauten kulturellen Gedächtnis einerseits und dem wertlosen profanen Raum andererseits [neu austariert]“ (Groys 1999: 56; siehe Baßler 2002: 21). Dieses Projekt des urban archiving liest sich als metapoetischer Kommentar zum Roman insgesamt, weil auch INSRT das kulturelle Archiv um Elemente aus dem ‚profanen Raum‘ erweitert. Die Erweiterung des Archivs erfolgt, um den Blick für die Kontingenz des Inkommensurablen als Quelle des Wunderbaren zu öffnen. Es geht um die mit der Archivierungsleistung verbundene Sensibilität für die Einzigartigkeit von Menschen und Dingen, d.h. für das Wunderbare im städtischen Lebensraum. Die Verquickung von urban archiving mit der Verzauberung der Lebenswelt veranschaulicht die veränderte Wahrnehmung von Abfall: Aus dem Glas der zerbrochenen Autoglasscheibe (Abfall) werden „urban diamonds“. Das aufmerksame Subjekt ist durch kreative Aneignung fähig, Schönheit im urbanen Alltagsleben, im Zerbrochenen und scheinbar Wertlosen, zu erkennen. Der aufmerksame Blick auf das Individuum in seiner je spezifischen Besonderheit wird in McGregors Roman durch die Schnappschüsse betont, die Michaels Zwillingsbruder als Bestandteil seines Projekts von seinen Nachbarn gemacht hat. Auf jedem Bild hat er individualisierende Informationen über die Person notiert, die er fotografiert hat. Die positive Codierung seiner Photographien wird dadurch verstärkt, dass sie mit Vitalität und Regeneration in Verbindung gebracht werden: <?page no="349"?> If Nobody Speaks of Remarkable Things 335 the boy with the sore eyes, […] taking polaroid photographs of […] [the rain], shot after shot […], plucking each newborn image from the camery and laying it wetly aside […], he watches and presses the shutter release (INSRT: 211; m.H.). Die Erwähnung des Kameraverschlusses („shutter“) leistet überdies eine Verknüpfung mit der zuvor besprochenen Beschreibung des Vogelschwarms als Beispiel für das Wunderbare (vgl. INSRT: 231: „as though Allah was flipping the shutters closed for a second“; m.H.). Auf diese Weise wird unterstrichen, dass Michaels Bruder empfänglich für ‚remarkable things‘ ist. Allerdings sei kritisch angemerkt, dass trotz der genannten Textsignale, die das archivarische Vorgehen von Michaels Bruder positiv codieren, dieses Sammeln von Schnappschüssen und Informationen über Nachbarn ohne deren Wissen einen unangenehmen Beigeschmack von Voyeurismus und der Verletzung von Privatheit nach sich zieht. Die Einführung von Elementen im Roman, die darauf gerichtet sind, einer solchen negativen Beurteilung vorzubeugen, bestätigt nur die fragwürdige Natur dieses Vorgehens. So sieht sich beispielsweise Michael genötigt zu betonen, dass sein Bruder kein pathologischer Fall war: „[H]e sent me a list of all the clothes you’d worn that week, really detailed […]. [I]t wasn’t creepy or anything, he wasn’t being obsessive, it was just, you know, observations.“ (INSRT: 153; m.H.) Die Verbindung zwischen Michaels Bruder (dem Photographen) und Gott, wie sie oben anhand des Motivs ‚shutter‘ indirekt eingeführt wird, kann als verräterischer Hinweis auf die problematische Machtdynamik des male gaze 312 gelesen werden. Trotz der starken Leserlenkungsstrategien erscheint das Projekt des ‚urban archiving‘ aufgrund dieser problematischen Dimension in einem ambivalenten Licht. Die photographische Archivierung verhindert, dass das Individuum in der anonymen Masse völlig untergeht, allerdings bleibt der Archivar und Träger dieses Projekts, „the boy from number 18“, in seiner Isolation verhaftet. Keiner der Nachbarn bemerkt seinen Tod; seine Leiche wird erst in seiner Wohnung gefunden, als sein Bruder aus Sorge die Polizei kontaktiert, weil er drei Tage lang nichts von ihm gehört hat. Aus den Schilderungen von Michaels Bruder sowie der Ich-Erzählerin geht hervor, dass „the boy from number 18“ keine engen persönlichen Kontakte mit Menschen aus der Nachbarschaft hatte. Die Isolation des Archivars unterstreicht, dass eine aufmerksam-rezeptive Haltung, die dem Projekt unterliegt, zwar wichtig für die Wahrnehmung des Wunderbaren ist. Allerdings darf das Subjekt nicht dabei stehen bleiben. Die aufblühende Freundschaft zwischen Michael und der Ich-Erzählerin sowie die beschriebenen intimen Bindungen (z.B. Ehepaare, Eltern/ Kinder) implizieren vielmehr, dass sich das 312 Zum male gaze siehe Mulvey (1999). <?page no="350"?> 336 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Individuum im Sinne einer ‚openness to the suprise of other selves‘ nicht auf eine Beobachterhaltung zurückziehen, sondern sich auf eine Beziehungsdynamik mit dem Anderen einlassen sollte. Neben dem Projekt des urban archiving liest sich die inszenierte Medienrivalität als ein weiterer metapoetischer Kommentar. Mit dem Anspruch, die Aufmerksamkeit auf ‚remarkable things‘ zu lenken, setzt sich McGregors Roman von massenmedialen Nachrichtenmedien wie Zeitung und Fernsehen ab. So erfahren wir durch ein Gespräch zwischen der Ich- Erzählerin und ihrer Freundin Sarah, die ebenfalls Zeugin des Autounfalls war, dass die Nachrichten nicht über den Autounfall berichtet haben: „There was nothing about it on the news she said, I knew there wouldn’t be but it didn’t seem right. It just kind of happened and passed she said, and then we left and there was nothing to prove it had happened at all.“ (INSRT: 24) Für das massenmediale Nachrichtensystem bemisst sich der Nachrichtenwert eines Ereignisses vor allem nach seinem Neuigkeitsgehalt. Der Autounfall ist aufgrund seiner statistischen Wahrscheinlichkeit sowie der fehlenden Berühmtheit der Betroffenen für die Massenmedien keine Berichterstattung wert. Demgegenüber misst INSRT dem Tod eines jeden Individuums einen hohen Ereignis- und Nachrichtenwert bei. Der Kontrast zwischen der Betonung des Nachrichtenwerts des Autounfalls in INSRT und der davon abweichenden Selektivität der Massenmedien bei der Berichterstattung wird dadurch unterstrichen, dass sich der Autounfall am Todestag von Lady Diana ereignet (vgl. Schoene 2010: 172). Lady Dianas Tod wurde als ein transnationales Medienereignis 313 inszeniert, bei dem Bilder von Trauernden aus verschiedenen Ländern eine globale Anteilnahme am Tod dieses Individuums bezeugten. Eine solche globale Anteilnahme am Tod eines Einzelnen wird ebenso in INSRT aufgerufen, und zwar als sich der Mann mit den verbrannten Händen vorstellt, die gesamte Welt höre dem Gebet für Shahid zu. Damit entwirft INSRT einerseits zugleich eine Gemeinschaft, die nicht von massenmedialen Bilderströmen abhängig ist und die den Tod eines jeden Individuums betrauert. Auf diese Weise grenzt sich INSRT von dem audiovisuellen Nachrichtensystem ab. Andererseits lenkt der Verweis auf Lady Dianas Tod als transnationales Medienereignis zugleich die Aufmerksamkeit auf die zentrale Rolle, die sowohl den Bildals auch Printmedien (inklusive Literatur) für die Ausbildung einer ‚imagined community‘ (Benedict Anderson) zukommt: „Indem […] der globale Alltag zum integralen Bestandteil von Medienwelten wird, vollzieht sich eine Art Globalisierung der Emotionen und Empathie“ (Beck 2004: 67). Die Medienrivalität zwischen Literatur und dem audiovisuellen Nachrichtensystem lässt sich genauer anhand der Funktionen beschreiben, die 313 Zu transnationalen Medienereignissen siehe exemplarisch die Beiträge in Lenger/ Nünning (2008). <?page no="351"?> If Nobody Speaks of Remarkable Things 337 dem cineastischen Schreibstil in INSRT zugeordnet werden können. Der cineastische Schreibstil im Roman lässt sich exemplarisch anhand der Passage herausarbeiten, in der die Ich-Erzählerin ihre Wahrnehmung des Unfalls und der nachfolgenden Ereignisse beschreibt: He was the first to move, the boy from number eighteen. […] He was there and then it was over, and it was so sudden that I felt as though a camera flash had exploded in my face. Everything went white, ghostly, like old news footage, faded and stained. […] I remember the girl next to me dropping her can of beer and swaying backwards, as though from a shockwave. […] I can see a slow-motion image of the beer, frothing from the top of the can, a coil of it rising up like smoke, hanging in the light a moment before spreading flat into the grass […]. (INSRT: 7) In Anlehnung an Irina Rajewskys Typologie für Intermedialität wird eine fernsehmediale Wahrnehmung erstens durch „explizite Systemerwähnung“ (Rajewsky 2002: 79) nahegelegt, d.h. durch die Benennung des Bezugssystems (z.B.: „news footage“, „slow-motion image“; INSRT: 9). Zweitens wird die Illusion des Filmischen dadurch herbeigeführt, dass eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen der filmischen slow-motion-Technik und bestimmten Textelementen hergestellt wird: Durch den Gebrauch des Partizip Präsens (in Kombination mit der expliziten Systemerwähnung) wird slow motion literarisch inszeniert. Es handelt sich in diesem Fall um eine „Systemerwähnung qua Transposition“ (Rajewsky 2002: 117). Der cineastische Schreibstil im Roman kann als Inszenierung einer fernsehmedial präformierten Wahrnehmung der Lebenswelt gelesen werden. Darüber hinaus lässt sich dieser Schreibstil auch im Kontext von Medienrivalität interpretieren, und zwar als Hinweis darauf, dass Literatur die Versäumnisse der Fernsehberichterstattung nachholt. Dies wird besonders deutlich, als bei der Beschreibung des Unfallhergangs auf das Genre der live news-Berichterstattung rekurriert wird: „if this was live on CNN the correspondent would be saying no the brakes are not active yet no not by a long way now back to you in the studio“ (INSRT: 253). Durch das Zitieren dieses Nachrichtengenres wird dem Geschehen nicht nur ein Ereigniswert für eine begrenzte Gruppe an Individuen, sondern für ein größeres Kollektiv zugeordnet. Im literarischen Raum erfolgt eine anders gelagerte Evaluierung von Ereignishaftigkeit als in den Nachrichtenmedien. Es ist gerade diese anders ausgerichtete Wahrnehmungssensibilität für das Besondere, welche - so die Lesart von McGregors Roman - die Leistungsstärke von Literatur ausmacht. Das Funktionspotential, das in McGregors Roman implizit der Literatur zugeschrieben wird, kann keinesfalls als bescheiden gewertet werden. Dies zeigt sich spätestens dann, wenn man weitere Semantisierungen der formalen Struktur in die Analyse mit einbezieht. Die Abschnitte, die von der Ich- Erzählerin auf der Gegenwartsebene erzählt werden, umfassen durchgän- <?page no="352"?> 338 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive gig neun Paragraphen, die jeweils aus neun Sätzen bestehen. Ihre Schwangerschaft legt eine spezifische Deutung der Zahlensymbolik nahe: Die literarische Erzählung wird ebenfalls als ‚miracle of birth‘ semantisiert. Die regenerative Kraft der literarischen Erzählung wurzelt gemäß des modellierten Funktionsmodells in der Einübung einer Haltung, die für Verbindungen zum Anderen und die ‚verzauberte‘ Dimensionen des Alltagsdaseins offen ist. Wie die bisherige Argumentation gezeigt hat, dient der starke Fokus auf das Wunderbare im Alltag nicht nur dazu, Partikularität als Quelle von enchantment in den Blick zu rücken. Vielmehr wird ein solcher sinnlicher Sinnbegriff zudem als zentrale Grundlage für den gelingenden Umgang mit Widerfahrniskontingenz bewertet. Eine solche rezeptive und aufmerksame Welthaltung erlaubt es in INSRT sogar, Widerfahrniskontingenz in einen Moment sakraler Sinn- und Gemeinschaftsstiftung zu transformieren. Die sakral-mythische Zeitdimension sowie die Entwicklung hin zu connection, die den Text durchweben, werfen allerdings die Frage nach der Handlungsmächtigkeit des Subjekts auf. Der Zusammenfall von Tod und Leben am Ende des Romans, d.h. das Wiedererwachen Shahids im Moment des Todes von Michaels Bruder, ruft den unendlichen Kreislauf des Lebens auf. Dieser Kreislauf wird über die Semantisierung der Formebene in eine sakral aufgeladene Totalitätsfigur und damit in mythische Zeit eingelagert (siehe oben). Wie eine Rezensentin treffend bemerkt: „how does an assertion of necessary community through the workings of fate in Jon McGregor’s suburban community […] relate to possibilities of agency in th[is] nove[l]? ” (Edwards 2010: 398) Die Handlungsmächtigkeit des Subjekts wird in INSRT nicht durch einen schicksalhaften Determinismus überlagert. Ganz im Gegenteil werden die Handlungen der einzelnen Anwohner detailliert beschrieben, die von einem gemeinschaftlichen Zusammenhalt zeugen, angefangen von der Ersten Hilfe einer heraneilenden Ärztin, über das Rufen eines Krankenwagens, das Kontaktieren der Eltern bis hin zum lautlosen inneren Gebet des Mannes mit den verbrannten Händen. Gemeinschaft ist demnach nicht einfach gegeben, sondern sie wird durch solche Interaktionen hergestellt. Dies entspricht dem privilegierten Subjektmodell des Romans, denn, wie oben erläutert, reicht attention im Murdoch’schen Sinne (siehe Kap. III.4) bzw. eine Beobachterposition für die Etablierung von Gemeinschaft nicht aus. Allerdings legt der starke Fokus auf die Wahrnehmung des Inkommensurablen eine Rekonzeptualisierung von agency nahe, ähnlich wie bei Murdoch. Auch INSRT entwirft die Wahrnehmungswelt als bestimmend für unser Handeln, so dass moralisches Handeln mit einer Sensibilität und Öffnung für Alterität und dem Inkommensurablen beginnt. Nachdem die dominanten Kontingenzformen und die zentralen Strategien für den Umgang mit dem Unverfügbaren in INSRT herausgearbeitet <?page no="353"?> If Nobody Speaks of Remarkable Things 339 worden sind, werden im nachfolgenden Abschnitt diese Strategien einer kritischen Betrachtung unterzogen. Ein besonderes Gewicht liegt dabei auf der Verortung von INSRT innerhalb von Entwicklungen der Gegenwartsliteratur sowie auf weitere Bezügen, die zu den bisherigen Fallstudien gezogen werden können. 5.3 Blinde Flecken der textuellen Umgangsstrategien mit Kontingenz In einer globalisierten Welt stellt sich die Frage nach der Gemeinschaft neu: „how we connect one to the other, starting with the most intimate levels of everyday existence (our lives as family members, lovers and friends) via our communal neighbourhoods right up to the abstract heights of the nation and the globe as a whole“ (Schoene 2010: 180). Da größere Gemeinschaften immer, wie Benedict Anderson dargelegt hat, ‚imagined communities‘ sind, spielen Massenmedien (und dazu gehört auch die Literatur) bei der Konstruktion von nationalen oder globalen Gemeinschaften eine Schlüsselrolle. Vor diesem Hintergrund betont Berthold Schoene in seiner Studie zu The Cosmopolitan Novel (2010), dass der englische Gegenwartsroman auf die Herausforderungen der Globalisierung durch „a practice of communal world-narration“ (ebd.: 12f.) reagiert: „Nothing less, in fact, than the world as a whole will do as the imaginative reference point, catchment area and addressee of the cosmopolitan novel.“ (ebd.: 13) INSRT sei ein Beispiel für die neue Gattung der ‚cosmopolitan novel‘, denn dessen Bezugspunkt sei „global humanity as a whole“ (ebd.: 173), wie er anhand folgender Beispiele belegt: [T]he accident that happens in McGregor’s street later that day, gathering the neighbourhood into one community of witnesses, is deliberately crafted after that most memorable of personal tragedies in recent history. Unprecedentedly Princess Diana’s death (re-)united in grief and sympathy not only the British nation, jaded and divided after eighteen years of Conservative rule, but large parts of the global population as well. (ebd.: 172) Globale Menschheit werde auch durch die Kunstinstallation mit den ‚thousands and thousands of six-inch red clay figures‘ inszeniert. Beim Anblick dieser Figuren verspürt die Ich-Erzählerin den Wunsch, allen Figuren Namen und eine Lebensgeschichte zu geben, aber dies erscheine unmöglich. Ein solcher Impuls liege auch INSRT zugrunde: „The novel can only hope to grasp humanity through focalised exemplification, by attempting, as McGregor does, to capture the trauma of coping with the loss of just one life out of so very many.“ (ebd.: 173) Tatsächlich impliziert das metonymische Denken, das McGregors Roman durchzieht, eine globale Perspektive aufgrund seiner ‚ever expanding inclusiveness‘. Mit dem stillen Gebet am Ende des Romans wird das Szena- <?page no="354"?> 340 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive rio einer Weltgemeinschaft entworfen, die sich „purely out of compassion“ (Schoene 2010: 173) konstituiert. Das „purely“ muss allerdings gleich relativiert werden, weil der organizistische Diskurs in INSRT den Einzelnen als Bestandteil eines organischen Ganzen ausweist, so dass die inszenierten Verbindungen und Verflechtungen zwischen den Figuren als ‚naturhaft‘ erscheinen. McGregors kosmopolitische Perspektive bzw. sein Entwurf einer universellen Gemeinschaft blendet Machtverhältnisse und tiefgreifende Antagonismen, die sich aus Faktoren wie race, class, gender, religion oder nationality ergeben, weitestgehend aus. Die Mikrophysik der Macht wird durch die positive Wertaufladung eines organisch-kosmischen Ganzen überschrieben. Es ist in diesem Zusammenhang kein Zufall, dass die Hinweise auf Glokalisierung in der Stadt bzw. Nachbarschaft von nur oberflächlicher Natur sind. Sie beschränken sich auf die Erwähnung ausländischer Restaurants oder Hinweise auf die Zuwanderungsgeschichte einzelner Straßenanwohner. Zu diesem Befund passt auch, dass die kosmisch-globale Perspektive nicht mit der Inszenierung eines offenen sense of place im Sinne von Doreen Massey (vgl. Kap. II.3.3) einhergeht. Es wird zwar eine prozessuale Ortsidentität sowie eine globale Menschheitsgemeinschaft aufgerufen, allerdings wirkt die Stadt bzw. die Nachbarschaft, wo sich der Autounfall später ereignet, als eine abgeschlossene Welt in sich. In ihrem Vorwort zu McGregors Roman beschreibt Sally Vickers (2007) überzeugend den Lektüreeindruck „that it [=the city] is no one place, but a mythic street, on a mythic day, in a mythic summer, for this is really a mythic book, for all its seeming naturalism“. Eine historisierende Perspektive auf gesellschaftliche Machtverhältnisse, gerade auch im globalen Kontext, gehört nicht zu den Bauprinzipien von McGregors Roman. Die harmonisierende Perspektive („harmony humming“, INSRT: 2) - die Affirmation von Leben und Aufhebung von bedrohlicher Widerfahrniskontingenz im Zeichen von enchantment und Sakralisierung - wird nur dadurch ermöglicht, dass gesellschaftliche Machtkonstellationen nicht in den Vordergrund gestellt werden. McGregors literarischer Entwurf, wie die paradoxe Figur von Gemeinschaft gedacht werden kann, weist auffällige Ähnlichkeiten mit Mrs. Dalloway auf. Sowohl McGregor als auch Virginia Woolf verbinden „[the] concept of community as diverse unity“ (Sim 2010: 176, FN2) mit einer mythischen Zeitdimension sowie einem Fokus auf die Rolle des Alltäglichen. 314 Aufmerksamkeit für die Dinge des Alltags bzw. Partikularität erlaubt es dem Individuum, synchron mit mythischer Zeit zu leben: 314 Vgl. auch Schoene (2010: 177f.): „McGregor enacts in his narrative precisely ‚the politics of connection‘ that Berman detects in the modernist novel. Like Woolf, he appears to conceive of ‚subjectivity as coming into being always in fluctuating relation to a small group of affiliated yet singular others‘. In the same vein, he conceives of communal affiliation as oppositional to ‚both atomistic individualism and to conven- <?page no="355"?> If Nobody Speaks of Remarkable Things 341 Woolf’s early shorter fiction invites the reader to reconsider their engagement with the object world and the nature of ordinary things. As in her later fiction, these texts challenge the reader to suspend their natural attitude and regain, in the Romantic tradition, a renewed sense of curiosity and wonder at the world. (Sim 2010: 57f.) Diese Aussage trifft ebenso auf McGregor’s INSRT zu. Das Alltägliche erhält bei beiden Autoren eine ethische Wertaufladung, weil es die Grundlage für das Gemeinsame und damit die Gemeinschaft bildet. „To recognize or create - even imaginatively - a common ground through an awareness of our mutual share in the ordinary […] is the space within which an ethics of care for […] the other arises.“ (Sim 2010: 177) Der Alltag erscheint als der „common meeting-place“ (ebd.: 185) zwischen den Individuen: „the ordinary serves as the starting point for a relation of intimacy and sense of ethical responsibility“ (ebd.: 188). Während Lorraine Sim (2010) eine solche Ethik bei Woolf in einer Fülle von Texten nachweist, angefangen von Mrs. Dalloway bis hin zum Essay „Mr Bennett and Mrs Brown“, zeigt sich eine solche Haltung bei McGregor darin, dass die enge Verflochtenheit des Alltagslebens der Anwohner sowie ihr gemeinschaftlicher Zusammenhalt bei dem Unfall im Vordergrund stehen. Nicht umsonst bildet der Ausgangspunkt für die beschworene Weltgemeinschaft am Ende von INSRT zunächst die Nachbarschaft. Sowohl die Eröffnungs- und Schlusszene von McGregors Roman sind einem metonymischen Denken verpflichtet, das contiguity auf der Mikroebene - nämlich „between people who are ‚real and present‘ to each other“ (Walker 2010: 203) - mit der abstrakten Vorstellung einer all umfassenden Menschheitsgemeinschaft verbindet. Woolf und McGregor schreiben beide gegen die vermeintliche Entzauberung der Welt in der Moderne an und erschließen auf diese Weise Sinnressourcen für das Individuum, um mit Widerfahrniskontingenz umzugehen. Sie favorisieren „the restorative power of the ordinary“ (Sim 2010: 199), zumindest dann, wenn eine rezeptiv-aufmerksame bzw. ästhetisierende Haltung gegenüber dem Alltäglichen und den Dingen eingenommen wird. „[T]he ordinary is […] [then] figured as a space of resistance against the negative features or effects of modernity, such as instrumentalism, rationalism, patriarchy, social alienation and war.“ (ebd.: 197) Die vielfältigen Parallelen, die sich zwischen Woolf und McGregor ziehen lassen, erlauben es, McGregors INSRT als einen ‚neo-modernistischen‘ Text zu charakterisieren. 315 tional modes of construing community in which the group exists as a ‚monolithic, consistent, whole‘‘ (Berman 2001: 121-2).“ 315 Vgl. Schoene (2010): „[I]n terms of style and thematic concerns McGregor is probably most aptly described as a neo-modernist writer exploring the workings of the individual mind and adapting his narration accordingly.“ (169); „McGregor’s title alerts <?page no="356"?> 342 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive Der Ausweis des Alltäglichen als Quelle von Wunderbarem umfasst dennoch auch problematische Aspekte. McGregors Strategie einer Sakralisierung der Lebenswelt birgt die Gefahr, den Alltag als sinnstabilisierende Erfahrungsdimension doch wieder zu entwerten. Wie oben erläutert, basiert die Affirmation von Alltäglichkeit auf deren Ästhetisierung und spirituellen Aufladung, so dass die Aufmerksamkeit für Dinge des Alltags als Mittel erscheint, um das Alltägliche zu transzendieren: „the everyday […] [functions] [a]s the gateway to the ‚sublime‘. Quotidienneté […] is only ‚pertinent‘ because it is the setting for sublime experience“ (Sheringham 2009: 357). Eine sinnhafte Erfahrung von Alltag ist jedoch nicht notwendigerweise auf enchantment und Sakralisierung angewiesen: What needs ‚factoring in‘ if one is to apprehend the everyday street is not something extra - aesthetic, subjective or intellectual - added from the outside, but our lived experience of it, our participation and immersion in its fields, the ways in which we make it part of our world and recognize it as such. (ebd.: 386) Eine solche Praxisdimension wird bei McGregor zwar beschrieben, gleichzeitig durch die Sakralisierungsfigur fast völlig überlagert, so dass das Ergebnis eine „mythic street, on a mythic day“ (Vickers 2007) ist. Der mythisch-sakrale Diskurs in McGregors Roman kann als Beleg dafür gelesen werden, wie schwierig es ist, dem Vorschlag von Hans Blumenberg und Odo Marquard zu folgen und unsere Sinnerwartungen in der Moderne zugunsten von kleinen Sinnangeboten abzurüsten (vgl. Kap. III.4). Um einen Überblick über die Ästhetik der Kontingenz in INSRT zu erhalten, fasst die folgende Matrix die wichtigsten Analyseergebnisse stichwortartig zusammen. us to suburbia’s epiphanic potential for a discovery of the miraculous in the ordinary, a feature characteristic of much modernist writing.“ (155) <?page no="357"?> If Nobody Speaks of Remarkable Things 343 Dominante Kontingenzformen: Kontingenz des Inkommensurablen: Wahrnehmung von Individuen in der Masse; Einzigartigkeit alltäglicher Dinge Widerfahrniskontingenz: Autounfall; (ungewollte) Schwangerschaft Codierung der Kontingenzform: Negative Codierung: Autounfall als objektiver Zufall Schwangerschaft (Kontrollverlust und Isolation) Positive Codierung: Kontingenz des Inkommensurablen als Quelle von enchantment Transformation von negativer Widerfahrniskontingenz (Autounfall / Schwangerschaft) in positive Erfahrung: Erleben von enchantment sowie Intimität und Gemeinschaft (Schwangerschaft als Form von ‚connection‘; Autounfall als analogischer Zufall) Zeiterfahrung: Rhythmen der Stadt: Synchronizität mit mythischsakraler Zeit Entwicklung: von disconnection zu connection Raum: Stadt als Ideal universeller Gemeinschaft: Erzeugung von Gemeinschaft durch räumliche Interaktion im Alltag (‚Mitsein‘) Vernachlässigung von Machtkonstellationen in der globalisierten Welt zugunsten einer kosmischglobalen Perspektive auf die Menschheitsgemeinschaft exemplarische Stadt; ‚mythic street‘ Subjektmodell: Modell eines aufmerksam-rezeptiven Subjekts metonymischer Individualismus Gestaltbarkeitskontingenz / Handlungsmächtigkeit: Rekonzeptualisierung von (moral) agency wie bei Murdoch: moralisches Handeln beginnt bei Wirklichkeitswahrnehmung Subjekt soll nicht nur Beobachterposition einnehmen, sondern auf den Anderen zugehen Dominante Kontingenzumgangsstrategien: Sensibilisierung für das Partikulare als Grundlage einer Verzauberung bzw. Sakralisierung von Welt Modell universeller Gemeinschaft auf Basis metonymischen Denkens Abbildung 13: Ästhetik der Kontingenz in If Nobody Speaks of Remarkable Things <?page no="359"?> Ghostwritten 345 6 Kontingenz im Zeitalter der Globalisierung: David Mitchells Ghostwritten (1999) Was ‚alle Menschen‘ bis vor sehr kurzem ohne Ausnahme ‚von Natur aus‘ charakterisierte, war ihre gemeinsame und universelle Neigung und Fähigkeit, die ungeheure Mehrheit der Menschen außerhalb des eigenen ethnischen Behälters schuldlos zu ignorieren. […] Unter den Effekten der Globalisierung ragt […] die Tatsache hervor, daß sie das anthropologisch Unwahrscheinlichste, das ständige Rechnen mit dem fernen Anderen, […] zur neuen Norm erhoben hat. - Sloterdijk (1999: 981) Die Verknüpfung der Kontingenzthematik mit der Vorstellung einer Weltgemeinschaft bildet eine wesentliche Gemeinsamkeit zwischen McGregors If Nobody Speaks of Remarkable Things und David Mitchells Ghostwritten. Allerdings verlagert sich bei Mitchell der Blick von der Menschheit im Allgemeinen zu spezifischen Machtkonstellationen und -dynamiken innerhalb der global vernetzten Welt. Im Gegensatz zu McGregor werden Phänomenen der Glokalisierung, insbesondere in ihren soziokulturellen, ökonomischen und ökologischen Auswirkungen, erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt. Wie in Kapitel II.2 erläutert, bilden Globalisierungsprozesse eine der wesentlichen Quellen für die gesteigerte Kontingenzerfahrung in der Moderne. Die weltweite mediale Vernetzung sowie die erhöhte Migration machen dem Einzelnen stärker bewusst, dass der eigene Lebensentwurf kontingent ist, weil er oder sie sich fortwährend mit Alternativen konfrontiert sieht. Solche Alternativen werden nicht nur in Form von mediascapes 316 transponiert, sondern auch dadurch, dass soziokulturelle Differenzen (z.B. Religion), die zuvor räumlich getrennt waren, heute „an einem Ort, in einer Stadt, immer öfter sogar in einer Familie, in einer Biographie präsent [sind]“ (Beck 1998: 7; vgl. auch Heinz 2006: 24). Im Zentrum der nachfolgenden Analyse steht Mitchells Inszenierung eines Möglichkeitssinns, der in einer globalen Perspektive wurzelt, nämlich „an 316 Der Begriff ‚mediascape‘ wurde (zusammen mit ‚ethno-, techno-, finance-‘ und ‚ideoscape‘) von Arjun Appadurai (2000 [1996]) geprägt, um kulturelle Dimensionen von Globalisierung analytisch besser in den Blick zu rücken: „The suffix -scape allows us to point to the fluid, irregular shapes of these landscapes […]. These terms with the common suffix -scape also indicate that these are not objectively given relations that look the same from every angle of vision but, rather, that they are deeply perspectival constructs, inflected by the historical, linguistic, and political situatedness of different sorts of actors: nation-states, multinationals, diasporic communities, as well as subnational groupings and movements […], and even intimate face-to-face groups“. (33) <?page no="360"?> 346 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive imagination of alternative ways of life and rationalities, which include the otherness of the other. It puts the negotiation of contradictory cultural experiences into the centre of activities: in the political, the economic, the scientific and the social.“ (Beck 2002: 18) Die innovative „global narrative form“ (Barnard 2009: 211) von Ghostwritten zielt darauf ab, eine globale Menschheitsgemeinschaft zu imaginieren und Praktiken des Selbst im Akt der Lektüre einzuüben, die dem Subjekt eine Orientierung in der globalisierten Welt ermöglichen. Noch vor der ersten Zeile des Eröffnungskapitels in Ghostwritten wird das Thema Globalisierung mit Kontingenz auf programmatische Weise verknüpft. Dem Inhaltsverzeichnis des Romans ist ein Epigraph aus Thornton Wilders The Bridge of San Luis Rey (1927) vorweg geschaltet, das mitten in die Kontingenzthematik hineinführt: …And I, who claim to know so much more, isn’t it possible that even I have missed the very spring within the spring? Some say that we shall never know, and that to the gods we are like the flies that the boys kill on a summer day, and some say, on the contrary, that the very sparrows do not lose a feather that has not been brushed away by the finger of God. Wilders Roman handelt von dem Versuch eines Franziskaner Mönchs, Bruder Juniper, das Wirken eines göttlichen Plans in der Welt zu beweisen, indem er den Tod der Opfer bei einem Brückeneinsturz in Peru untersucht: „Why did this happen to those five? If there were any plan in the universe at all, if there were any pattern in a human life, surely it could be discovered mysteriously latent in those lives so suddenly cut off.“ (Wilder 2000 [1927]: 9) Für den gläubigen Juniper bedeutet das Brückenunglück ein „perfect laboratory“ (ebd.: 10) für dieses Vorhaben, da der Unfall nicht „dependent upon human error“ (ebd.) war oder gar „elements of probability“ (ebd.) aufweist. Die Frage, ob ein göttlicher Plan im Universum herrscht, lässt Wilders Roman allerdings offen. Eine solche epistemologische Unsicherheit wird bereits in der oben zitierten Passage deutlich, weil selbst der auktoriale Erzähler seine Allwissenheit in Frage stellt („have missed the very spring within the spring“). 317 In Analogie zu Junipers ‚Laboratorium‘ kann auch Mitchells Roman als literarische Versuchsanordnung verstanden werden, um die Frage nach Kontingenz in der Welt zu erkunden. Blättert man weiter zur Kapitelübersicht von Ghostwritten, eröffnet sich einem eine globale Perspektive, weil die Kapitelüberschriften Orte auf der ganzen Welt benennen, angefangen von Tokyo, Hong Kong über Mongo- 317 Für eine erhellende Diskussion der Kontingenzthematik in Wilders Roman, insbesondere ihrer Verflechtung mit der Frage ‚how does one live? ‘, siehe Alfes (1973) und Papajewski (1957). <?page no="361"?> Ghostwritten 347 lia, Petersburg und London bis hin zu Clear Island. Auffällig ist, dass die Kapitelüberschriften implizit eine Gleichgewichtung von Metropolen wie Tokyo und London mit eher unbekannten Orten wie die irische Clear Island leisten. Tatsächlich wird in Ghostwritten das traditionelle Zentrum/ Peripherie-Modell zugunsten der Vorstellung eines dezentrierten, weltweiten Wirkungsgeflechts abgelöst. 318 Strukturell ist Mitchells Roman in neun lose miteinander verknüpfte Episoden unterteilt mit einem kurzen Coda am Ende, das die Leserin zu den Ereignissen zurückführt, die zu Beginn des Romans dargestellt worden sind. Die Episoden, die jeweils in einem unterschiedlichen Land spielen, folgen einer Bewegung westwärts von Okinawa über u.a. Petersburg bis hin zu New York und dann wieder Japan. Verflechtungen zwischen den Episoden, die auch für sich als Kurzgeschichten gelesen werden könnten, werden auf Ebene des Plots dadurch hergestellt, dass sich die Lebenswege der Figuren kreuzen und Handlungen einzelner Figuren Auswirkungen auf andere Protagonisten haben. So stellt sich beispielsweise heraus, dass der Ghostwriter aus dem Kapitel „London“ ausgerechnet der Frau das Leben rettet, die in dem anschließenden Kapitel „Clear Island“ die Hauptfigur ist. Weitere Verknüpfungen erfolgen durch Leitmotive bzw. die Wiederholung spezifischer Textelemente (z.B. Phrasen, Dinge, Tiere). Schicksal oder Zufall, Determinismus oder Kontingenz - diese Leitfrage wird nicht nur im Epigraph, sondern zugleich durch den Titel von Mitchells Roman aufgerufen. Ghostwritten bezieht sich auf eine Fülle an Ghostwritings und Geistern innerhalb der textuellen Welt. Diese umfassen Einbrüche des Übernatürlichen in Form von Geistern der Toten, gespenstische Aufeinandertreffen mit Doppelgängern, einen Geist in der Maschine kreiert durch eine Wissenschaftlerin, das Ghostwriting der Geschichte anderer Leute, wie im Falle des hauptberuflichen Ghostwriters im Kapitel „London“, und vor allem aber auch die Erfahrungsdimension einiger Figuren, dass sie durch „forces around us“ (GW: 287) oder durch eine Gottheit bestimmt werden. Es ist dieser Verdachsmoment, dass der Mensch womöglich durch Kräfte jenseits seiner Kontrolle ‚ghostwritten‘ ist, welche aufs engste mit der drängenden Frage des Romans verknüpft ist: „Why do 318 Zur Bedeutung der geographischen Orte siehe auch Schoene (2010: 102): „Without doubt it is their remarkable community spirit and local distinctiveness that inspired Mitchell to erect his novel on such eclectic geographical pillars as Okinawa - an East China Sea archipelago that became part of Japan in the late nineteenth century, but now has a strong national independence movement - and Clear Island, […] the Irish republic’s southernmost inhabited patch of land. In an effort to show that remoteness alone is never a safeguard against glomicity, however, one of the corporate spies Mitchell introduces into the Clear Island community identifies herself as originally from New Zealand’s ‚Halfmoon Bay, Stewart Island, south of the South Island‘ (346), a place that in terms of position and world-political import matches Clear Island almost exactly.“ <?page no="362"?> 348 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive things happen the way they do? “ (ebd.: 60) Um die Vernetzung der Kontingenzthematik mit Dimensionen der Globalisierung genauer zu fokussieren, wird im Folgenden zunächst skizziert, inwiefern Ghostwritten als ‚fiction of globalization‘, also eine literarische Reflexion von Globalisierungsprozessen gelesen werden kann, bevor die durch das Epigraph aufgeworfene Frage nach Determinismus oder Kontingenz vertiefend behandelt wird. 6.1 Gobalisierungsprozesse in Ghostwritten Die narrative Struktur von Ghostwritten inszeniert eines der Hauptelemente des globalisierten Zeitalters: das „Bewusstsein, in der Welt als einem globalen Ort zu leben“ (Beck 2007: 151). 319 Dieses Bewusstsein wird bei der Leserin potentiell dadurch gefördert, dass die Handlungsorte der einzelnen Episoden auf den ganzen Globus verteilt sind und die Leserin zugleich dazu motiviert wird, Vernetzungen zwischen den Episoden herzustellen. Textstrategien, welche die Leserin zu solch einer detektivischen Vernetzungsarbeit anregen, sind das Auftreten von Figuren aus einer Episode in anderen, wobei die Identifikationsarbeit der Leserin überlassen wird. Darüber hinaus tauchen auch andere Elemente von Episoden quer verstreut im Roman auf. Ein Leitmotiv unter vielen bildet beispielsweise das wiederholte Auftauchen von Fledermäusen, seien diese als Tiere im Märchen (vgl. Kapitel „Mongolia“) oder in Form von Vornamen, wie derjenige des Radiomoderators Bat Segundo im Kapitel „Night Train“. Zudem lassen sich zahlreiche versteckte Verbindungen zwischen den Kapiteln feststellen, etwa zwischen dem Kapitel „Mongolia“, in dem erwähnt wird, dass eine Figur einen Film „about art thieves in Petersburg“ (GW: 159) gesehen habe, und dem späteren Kapitel „Petersburg“, das von Kunsträubern in Petersburg handelt. 320 Die Kreisstruktur des Romans, wonach man am Ende wieder bei den Ereignissen am Anfang angelangt ist, bildet ebenfalls eine Textstrategie zur Aktivierung der Vernetzungsleistungen seitens der LeserInnen. Da die LeserInnen während der Lektüre zunehmend Verbindungen zwischen den Episoden erkennen, kann die Rückkehr zum Anfangspunkt des Romans am Ende als implizite Aufforderung interpretiert werden, durch eine er- 319 Siehe auch Robertson (1992: 27): „In an increasingly globalized world there is a heightening of civilizational, societal, ethnic, regional and, indeed, individual, selfconsciousness. There are constraints on social entities to locate themselves within world history and the global future.“ Die zentrale Rolle von Medien für die Verwandlung der Welt in ein ‚globales Dorf‘ wurde zu einem frühen Zeitpunkt von Marshall McLuhan betont (vgl. z.B. McLuhan 1962, 1964). Bis heute erfreut sich die Metapher global village großer Beliebtheit zur Beschreibung der globalisierten Welt. 320 Für eine ausführliche Darlegung von Querverbindungen zwischen den Kapiteln siehe Schoene (2010: 103-105). <?page no="363"?> Ghostwritten 349 neute Lektüre weitere Verbindungslinien zwischen den Episoden zu identifizieren. Zwar ließe sich ein solcher hermeneutischer Zirkel geometrisch gesprochen eher in Form der Spirale statt des Kreises beschreiben, doch bleibt das zirkuläre Element durch die Rückkehr zum Anfang erhalten. Die schiere Fülle an Verbindungslinien zwischen den einzelnen Episoden leisten zwei Funktionen. Erstens weisen sie Vernetzung von verschiedenen Orten als zentrales Merkmal von Globalisierung aus. Damit korreliert der literarische Befund mit aktuellen Globalisierungstheorien, denn „[g]leichgültig wie Globalisierung verstanden wird, zentral ist immer die zunehmende Vernetzung und eine (enträumlichte) Nähe“ (Heinz 2006: 24). Zweitens dient der Roman zugleich als Trainingsfeld, um eine Fähigkeit einzuüben, die in einer globalisierten Welt dem Individuum Orientierung erlaubt: „vernetztes Denken“ (ebd.). Ein solches vernetztes Denken entspricht dem Modus von ‚transversaler Vernunft‘ (Wolfgang Welsch), d.h. unserem selbstreflexivem Vermögen, Übergangsleistungen zwischen verschiedenen Rationalitäten und Deutungsschemata zu vollziehen (siehe Kap. II.3). Inhalts- und Formebene sind somit aufs engste miteinander verknüpft. Zu dieser engen Verknüpfung gehört zudem die Semantisierung der Kreisstruktur des Romans. Mit Blick auf Globalisierung erinnert eine solche Kreisstruktur an die runde Form des Globus. Die Semantik dieser geometrischen Form ruft „connotations of wholeness and inclusiveness“ (Tomlinson 1999: 10) hervor. Die enträumlichte Nähe, die zur weltweiten Vernetzung gehört, bezieht sich auf zwei Phänomene. Zunächst ist damit die eingangs skizzierte Präsenz von Differenzen an einem Ort gemeint, wie sie paradigmatisch vom Protagonisten Marco im Kapitel „London“ erlebt wird: „I had to wait eight minutes to use my bank machine, and in that time I counted eleven different languages walking past.“ (GW: 283) Darüber hinaus geht es bei der enträumlichten Nähe um die Zeit-Raum-Kompression in Folge von technologischen Entwicklungen (v.a. Transport- und Medientechnologien), wie sie bereits am Beispiel der Zugfahrt im Kapitel über Under the Net beschrieben wurde. In Ghostwritten kann der abrupte Wechsel zwischen den Kapiteln als eine ästhetische Inszenierung einer solchen Kompression gelesen werden. Das Gefühl der Entfernung zwischen den Ländern schrumpft dramatisch durch die ‚spatialen Sprünge‘ von einem Land zum nächsten zwischen den Kapiteln. Die Konzeptualisierung von Globalisierung als Vernetzung bedeutet, dass Kontingenz zum integrativen Bestandteil einer dynamischen Ganzheit wird. Netzwerke zeichnen sich nämlich durch „Dezentrierung[,] Entgrenzung, Relativität und Unvorhersagbarkeit“ (Heinz 2006: 30) aus. Die Unvorhersehbarkeit als eine Form von Kontingenz ergibt sich aus der Komplexität des Systems, die eine Monokausalität den Boden entzieht. Zu dieser Komplexität gehört, dass der Wert einer Verknotung im Netz sich <?page no="364"?> 350 Ästhetiken der Kontingenz in diachroner Perspektive relativ zu allen anderen Knotenpunkten bemisst. Im Netzwerk haben die Einheiten keinen Eigenwert, sondern bei diesen Knoten sind es die Verbindungslinien, die zählen (vgl. ebd.: 29). Da die Beziehungen zwischen den Knotenpunkten wic