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Varietätenkontakt und Standardisierung im mittelalterlichen Französisch

Theorie, Forschungsgeschichte und Untersuchung eines Urkundenkorpus aus Beauvais (1241-1455)

1210
2014
978-3-8233-7807-5
978-3-8233-6807-6
Gunter Narr Verlag 
Klaus Grübl

Die Datierung des Beginns überregionaler Ausgleichsprozesse in den nordfranzösischen Schreibtraditionen des Mittelalters ist seit jeher umstritten - zumal sie die Frage nach dem Ursprung des Standardfranzösischen impliziert und damit ein nationalphilologisches Kernthema aufruft. Die vorliegende Studie diskutiert in theoretischer und disziplinenge-schichtlicher Perspektive verschiedene Standardisierungsmodelle, die seit den 1830er Jahren in der Romanistik vorgeschlagen wurden, und entwickelt auf dieser Basis eine kritische Synthese des Forschungsstands. Im empirischen Teil der Arbeit wird der Standardisierungsprozeß am Beispiel eines 89 Einzeltexte umfassenden Urkundenkorpus aus der pikardischen Stadt Beauvais anhand graphematischer und morphosyntaktischer Merkmale untersucht. Methodisch zentral ist dabei die Korrelierung von sprachlichen Variablen mit außersprachlichen Merkmalen der schriftlich niedergelegten Rechtsakte. Die diplomatische Analyse ermöglicht es, die sprachliche Variation der Dokumente in institutionengeschichtliche und kommunikationspragmatische Zusammenhänge zu stellen und somit als sprachsoziologisches, maßgeblich durch politisch-identitäre Optionen bedingtes Phänomen zu begreifen.

<?page no="0"?> ROMANICA MONACENSIA Varietätenkontakt und Standardisierung im mittelalterlichen Französisch Theorie, Forschungsgeschichte und Untersuchung eines Urkundenkorpus aus Beauvais (1241-1455) von Klaus Grübl <?page no="1"?> Varietätenkontakt und Standardisierung im mittelalterlichen Französisch <?page no="2"?> ROMANICA MONACENSIA herausgegeben von Wulf Oesterreicher, Gerhard Regn, Wolf-Dieter Stempel und Rainer Warning Band 83 · 2014 <?page no="3"?> Klaus Grübl Varietätenkontakt und Standardisierung im mittelalterlichen Französisch Theorie, Forschungsgeschichte und Untersuchung eines Urkundenkorpus aus Beauvais (1241-1455) <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Die Arbeit wurde im Jahr 2013 mit dem Elise-Richter-Preis des Deutschen Romanistenverbands ausgezeichnet. Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT. © 2014 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0178-1294 ISBN 978-3-8233-6807-6 <?page no="5"?> Meinen Eltern. <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort ................................................................................................................. xi 1 Varietätenkontakt und Standardisierung im mittelalterlichen Französisch: zu Gegenstand und Aufbau der Arbeit................................. 1 2 Die Rolle des Varietätenkontakts im vormodernen Standardisierungsprozeß: zum Begriff der Koine(isierung) ....................11 2.1 Geschichte und Polysemie des Koine(isierungs)begriffs...................... 11 2.2 Zwischen ‘Koineisierung’ und ‘Überdachung’ - eine Typologie von Kontaktszenarien im vormodernen Standardisierungsprozeß ........... 23 2.2.1 Nähesprachliche Koineisierung (Koineisierung strictu sensu: Typ 1a).................................................................................. 24 2.2.2 Medial-mündliche, gemäßigt nähesprachliche Koinebildung auf supralokaler Ebene (Typ 2a) .................................................. 26 2.2.3 Schriftsprachliche Koinebildung (Typ 2a’) ................................. 35 2.2.4 Monotopische Überdachung (Typ 2d) ........................................ 39 2.2.5 Synthese .......................................................................................... 40 3 À la quête des origines - Ursprungs- und Standardisierungstheorien in der französischen Philologie des 19. und 20. Jahrhunderts......................45 3.1 Standardisierungskonzepte der vor-skriptologischen Mediävistik.... 47 3.2 Der Beitrag der Skriptaforschung............................................................ 81 4 Zum aktuellen Stand der Ursprungsfrage - ein kritischer Forschungsbericht........................................................................................109 4.1 Zur Hybridität des französischen Schriftstandards ............................ 110 4.1.1 Vlt. [e] in offener Tonsilbe oder vor Palatalkonsonant ........... 111 4.1.2 - ĔLLOS , - ĔLLIS .................................................................................. 118 4.1.3 Verbalmorphologie...................................................................... 125 4.2 Französisch als schriftsprachliche Koine? ............................................ 137 4.3 Französisch als sprechsprachliche Koine? ............................................ 144 4.4 Fazit: für eine ganzheitliche Konzeption der mittelalterlichen Standardisierungsgeschichte.................................................................. 190 vii <?page no="8"?> 5 Standardisierungsprozesse in französischen Urkunden aus Beauvais (1241-1455)....................................................................................................197 5.1 Fragestellung und Prinzipielles ............................................................. 197 5.2 Korpus....................................................................................................... 209 5.3 Methodik................................................................................................... 222 5.4 Sprachliche Indikatoren des Normenwandels..................................... 231 5.4.1 Die femininen Determinanten le/ me/ te/ se vs. la/ ma/ ta/ sa und das direkte feminine Objektpronomen le vs. la ........................ 232 5.4.2 Die Zweikasusflexion des maskulinen bestimmten Artikels ... 236 5.4.3 Die Graphien <ch> vs. <c> vs. <s> für das Ergebnis von lt. [kj], [tj] oder von [k] vor [e], [i]............................................... 243 5.5 Korpusauswertung (I): Urkunden des Bischofs und der weltlichen Gerichtsbarkeit des Bischofs von Beauvais .......................................... 262 5.5.1 Urkunden der weltlichen Gerichtsbarkeit des Bischofs von Beauvais ........................................................................................ 262 5.5.2 Urkunden des Bischofs von Beauvais ....................................... 285 5.6 Korpusauswertung (II): Urkunden aus dem Ressort der königlichen Verwaltung und Rechtssprechung ........................................................ 292 5.6.1 Urkunden der prévoté de Paris und mutmaßlich damit zusammenhängende Texte ......................................................... 302 5.6.2 Urkunden der königlichen Rechtssprechung in der prévôté d’Angy............................................................................................ 306 5.6.3 Sonstige Urkunden aus dem Ressort der königlichen Verwaltung und Rechtssprechung (bailliage de Senlis - bailliage de Vermandois - châtellenie de Breteuil).......................... 311 5.7 Korpusauswertung (III): Urkunden von Adligen oder Bürgerlichen zugunsten des Hôtel-Dieu de Beauvais (einschließlich einer Urkunde des Kathedralkapitels von Beauvais) sowie Urkunden aus der Grafschaft Clermont-en-Beauvaisis....................................................... 314 5.7.1 Urkunden von Adligen oder Bürgerlichen zugunsten des Hôtel-Dieu de Beauvais (einschließlich einer Urkunde des Kathedralkapitels von Beauvais) - diplomatische Charakteristik............................................................................... 314 viii <?page no="9"?> 5.7.2 Urkunden aus der Grafschaft Clermont-en-Beauvaisis - diplomatische Charakteristik ..................................................... 318 5.7.3 Sprachlicher Befund .................................................................... 319 5.8 Korpusauswertung (IV): Urkundengeschäfte zwischen der Maladrerie Saint-Lazare und Adligen oder Bürgerlichen (einschließlich einer Urkunde des Kathedralkapitels von Beauvais) ................................... 329 5.9 Korpusauswertung (V): Urkundengeschäfte zwischen dem Hôtel- Dieu oder der Maladrerie Saint-Lazare und einer anderen kirchlichen Institution (einschließlich einer Urkunde der Abtei Saint- Germer de Fly)......................................................................................... 336 5.10 Ergebnisse der Korpusstudie ................................................................. 342 Literaturverzeichnis...........................................................................................353 Autorenregister ..................................................................................................391 Anhang I: Urkundensteckbriefe.......................................................................399 Anhang II: Beispieltranskription......................................................................453 Anhang III: Photographische Abbildungen ...................................................457 ix <?page no="11"?> Vorwort Die Geschichte dieses Buchs beginnt vor fast zehn Jahren, im Herbst 2004. Ich hörte damals bei Wulf Oesterreicher eine Vorlesung über „Probleme der Sprachgeschichtsschreibung“, in der es unter anderem um die rätselhafte, in der Forschung kontrovers diskutierte Frage nach dem Ursprung der französischen Standardvarietät ging. Zwar konnte ich wegen des anstehenden Staatsexamens meiner Begeisterung für das Thema zunächst noch nicht uneingeschränkt folgen; doch spätestens nach Abschluß aller Prüfungen im Frühjahr 2006 stand fest, daß meine Doktorarbeit der Skriptaforschung und dem Problem der Standardisierung im mittelalterlichen Französisch gewidmet sein soll. Maria Selig gab mir die entscheidenden Hinweise auf die von Louis Carolus-Barré (1964) edierten Dokumente und auf die Arbeiten des Trierer SFB-Projekts zur luxemburgischen Urkundensprache. Die Lektüre von Harald Völkers Skripta und Variation (2003) wurde zum Schlüsselerlebnis, das mich für viele Jahre inspiriert und angespornt hat. Es folgte die Bekanntschaft mit Martin-D. Gleßgen, der mir im Sommer 2007 in Zürich das nötige Rüstzeug für die philologische Erschließung eines Urkundenkorpus mitgab. In diese Zeit fällt auch ein Besuch bei Hans Goebl, der mich in seinem Salzburger Büro privatissime in die faszinierende Welt der digitalen Sprachgeographie einführte. Per E-Mail half mir Serge Lusignan vom fernen Montréal aus auf die Sprünge. Schließlich konnte ich mit einem Stipendium des DAAD ab Oktober 2007 einen sechsmonatigen Forschungsaufenthalt in Beauvais und Paris finanzieren. Die Dissertation reichte ich im Mai 2012 an der Ludwig-Maximilians-Universität München ein. Ich möchte an dieser Stelle all jenen von Herzen danken, die mich während der langen Jahre der Arbeit an meinem Projekt wissenschaftlich und menschlich unterstützt haben: Mein besonderer Dank gilt Maria Selig. Sie hat meine Arbeit von Beginn an mit kritischem Wohlwollen begleitet und fungierte im Promotionsverfahren als Zweitgutachterin. Ihr bewundernswerter sprachhistorischer Weitblick hat mir immer wieder die Augen für die größeren Zusammenhänge meiner Untersuchung geöffnet. Andreas Dufter danke ich für das Drittgutachten zu meiner Arbeit, vor allem aber dafür, daß er mir stets mit Rat und Tat als Freund zur Seite stand. Martin-D. Gleßgen sei herzlich gedankt für die kontinuierliche Förderung meiner Arbeit. Er vermittelte mir den Kontakt zur École nationale des chartes, wovon ich während meines Aufenthalts in Paris enorm profitiert habe. xi <?page no="12"?> Bruno Ricard, dem ehemaligen Direktor der Archives départementales de l’Oise, danke ich für sein unermüdliches Interesse an meinen Studien. Anläßlich einer von ihm organisierten Journée d’études, die im März 2012, kurz vor der Abgabe meiner Dissertation, in Beauvais stattfand, lernte ich zahlreiche Mitglieder der Familie Carolus-Barré kennen. So durfte ich meine Arbeit an dem Ort und vor den Menschen präsentieren, mit denen sie wohl am tiefsten verbunden ist. Olivier Guyotjeannin danke ich für die immense Bereicherung, die mir der Besuch seiner atemberaubenden Diplomatik-Kurse an der École des chartes verschafft hat. Ohne sein Wissen und seine freundliche Hilfsbereitschaft wären mir wesentliche Einsichten verwehrt geblieben. Auch Françoise Vielliard sei für ihre Unterstützung in Paris von Herzen gedankt, vor allem für die unkomplizierte Bereitstellung der Aufzeichnungen aus dem Nachlaß von Louis Carolus-Barré. In München haben mich Irmgard Fees und Martin Jäger nach Kräften in diplomatischen und paläographischen Fragen unterstützt. Elissa Pustka hat durch technische Hilfe bei der Handhabung meiner Korpusdaten einen wichtigen Beitrag zum Gelingen des Projekts geleistet. Kathrin Heyng und Karin Burger danke ich für die geduldige und zuverlässige Betreuung meiner Publikation beim Gunter Narr Verlag. Für die Mühen des Schlußlektorats danke ich herzlich Katrin Dennerl und ganz besonders Marie-Charlotte Wilhelm. Mein innigster Dank aber gilt meinem Doktorvater, Wulf Oesterreicher, der stets an mich geglaubt hat. Sein lebendiges, begeistertes Interesse gab mir den nötigen Mut, um meine Arbeit erfolgreich zum Abschluß zu bringen. Ohne seine Zuwendung und ohne sein Vorbild wäre ich womöglich kein Romanist geworden. München, im August 2014 xii <?page no="13"?> 1 Varietätenkontakt und Standardisierung im mittelalterlichen Französisch: zu Gegenstand und Aufbau der Arbeit Am Anfang des Projekts, dessen Ergebnis ich hier vorlege, stand die Idee, den Prozeß der ‘Französisierung’ - also des Abbaus der regionalsprachlichen Spezifik - einer mittelalterlichen Urkundenskripta 1 auf empirischer Basis zu beschreiben. Gossens (1957, 429) berühmte Graphik, die hier auf p. 199 abgebildet ist, vermittelt einen ungefähren Eindruck von der zeitlichen Dimension des „Zerfallsprozesses“ der nordfranzösischen Regionalschriftsprachen 2 im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit. Goebl (1970) hat bislang als einziger den Versuch unternommen, den Vorgang der Entregionalisierung einer französischen Skripta auf der Grundlage eines diachronen Urkundenkorpus systematisch nachzuzeichnen. Während seine umfassende Studie zur Normandie aber rein quantitativ ausgerichtet war, soll hier vor allem der Frage nachgegangen werden, welche außersprachlichen Umstände bei der schriftlichen Niederlegung eines Urkundengeschäfts die Wahl einer überregionalen, diatopisch 3 unmarkierten 1 Der Begriff der Skripta wurde von Remacle (1948) zum einen in konzeptioneller Abgrenzung zu den gesprochenen Idiomen des Mittelalters, zum anderen zur regionalen Differenzierung des sprachhistorischen Etiketts ancien français geprägt, nämlich zur Bezeichnung der „variétés régionales de la langue écrite“ (p. 179). Gossen (1967, 5, Anm. 1) schränkte den Begriff explizit auf den Bereich der nicht-literarischen Schriftlichkeit ein, wenngleich er mitunter selbst von „scripta littéraire“ (Gossen 1972, 6) sprach und damit seine eigene Definition unterlief. - Im folgenden verwende ich den Begriff auch ohne spezifizierendes Beiwort zumeist im engeren Sinne von ‘Urkundensprache, Kanzleisprache, diplomatische Schreibtradition’. Allerdings wird auch hier mitunter von literarischen Skriptae die Rede sein; denn wenngleich für den Bereich der literarischen Schriftlichkeit mit anderen kommunikativen und überlieferungsgeschichtlichen Voraussetzungen zu rechnen ist, gelten hinsichtlich der regionalen Variation literarischer Handschriften wohl ähnliche Prinzipien wie im Bereich der Urkundensprache (vgl. Goebl 2011). Der Aspekt der Regionalspezifik kann beim Skriptabegriff selbstverständlich mitgedacht werden; er ist aber meines Erachtens nicht konstitutiv, da sich die Skriptaforschung gerade auch mit zur Überregionalität tendierenden, eher institutionell als räumlich definierten Schreibtraditionen befassen muß. Insofern ist der von mir gelegentlich verwendete Ausdruck der Regionalskripta (vgl. z.B. auch Gleßgen 2001, 260) nicht tautologisch, sondern verdeutlichend zu verstehen. 2 Vgl. zum Gebrauch der Termini Schriftsprache, Schreibsprache usw. Anm. 33. 3 Der Begriff des einzelsprachlichen Diasystems (vgl. etwa Coseriu [1980] 1988) läßt in seiner klassischen Ausprägung eigentlich keine Anwendung auf das Mittelalter zu, da die diasystematische Verortung von Varietäten und Varianten sich am Fixpunkt 1 <?page no="14"?> Schriftvarietät begünstigten. Es gilt also, die pragmatisch-varietätenlinguistische Methodik, die in bahnbrechender Weise von Völker (2003) für die mediävistische Skriptaforschung konzipiert und ins Werk gesetzt wurde, auf die Untersuchung eines diachronen Korpus anzuwenden und dabei die institutionengeschichtlichen, die allgemein-historischen und die sprachlichen Besonderheiten des gewählten Untersuchungs(zeit)raums in gebührender Weise zu berücksichtigen. Beauvais war im Mittelalter ein wichtiges Zentrum der diplomatischen Schriftlichkeit, für das eine reiche Überlieferung, auch in Form von Editionen, zur Verfügung steht. 4 Das Nebeneinander von bischöflichen und von königlichen Einrichtungen, die im Gebiet des Fürstbistums im Spätmittelaldes Standards orientiert, der in vormodernen Sprachräumen aber bezeichnenderweise noch nicht festgelegt ist. Andererseits erlaubt der bei Koch/ Oesterreicher (2008, z.B. 2583) verwendete, gewissermaßen egalitäre Begriff der Topik im Grunde noch keinen statusbezogenen Vergleich von Varianten oder Varietäten, die in einem vormodernen Kommunikationsraum konkurrieren und von den Sprachverwendern mit unterschiedlichen funktionalen Werten belegt werden, so daß sie letztendlich doch schon eine bestimmte Markierung erfahren. Das Problem besteht also darin, daß der Übergang von der ‘Topik’ zur ‘Diatopik’ ein gradueller Prozeß ist. Eine kategoriale Unterscheidung der beiden Begriffe ist deshalb nur mit Bezug auf idealtypische Szenarien wie eine moderne Standardsprache oder einen Sprachraum, in dem alle Idiome ‘gleich’ sind, möglich. Da nun ins Spätmittelalter vermutlich gerade der Beginn des Prozesses der Hierarchisierung der nordfranzösischen Idiome - also der Herausbildung einer einzelsprachlichen Architektur - fällt, erscheint mir mit Bezug auf diese Epoche unter bestimmten Gesichtspunkten der Begriff der Diatopik ebenso gerechtfertigt wie unter anderen Gesichtspunkten der neutrale Begriff der Topik. Ich verwende die beiden Termini daher nebeneinander und mit unterschiedlichen Akzentuierungen; mitunter spreche ich, ohne mich festzulegen, auch von (dia)topischer Variation (vgl. dagegen Völker 2003 und Gleßgen 2008, wo konsequent von Diatopik, Diastratik usw. die Rede ist). Vom Terminologischen unberührt bleibt in jedem Fall, daß es im 13. Jahrhundert selbstverständlich noch keinen französischen Standard gab. Andererseits scheint es aber, daß die spätmittelalterlichen Schreibsprachen in Abhängigkeit von bestimmten außersprachlichen Faktoren zwischen den Polen der Regionalität und der Überregionalität variierten, was wiederum auf die grundlegende Erkenntnis zurückführt, daß die Skriptae sich nicht in fundamentaler Weise voneinander unterschieden, sondern nur regionale Ausprägungen einer Art plurizentrischen, föderativen, im wesentlichen überregionalen Norm der Distanzsprachlichkeit waren. Demgemäß bezeichnet Lusignan (2011) das mittelalterliche Französisch als „langue plurielle“. Vgl. auch Lusignan (2007, 1275): „Le français écrit durant la période médiévale se caractérise à la fois par un important fonds linguistique commun et par certains traits régionaux dont la diversité et l’intensité varient selon les lieux d’écriture, les époques et les documents. Normalement en proportion plutôt faible, [ces traits] paraissent n’avoir jamais constitué une entrave à la communication.“ 4 Vgl. Kap. 5.2 zur korpuslinguistischen Aufbereitung und zur Überlieferung der zwischen 1241 und 1455 verfaßten Urkunden, die ich während eines sechsmonatigen Forschungsaufenthalts von Oktober 2007 bis März 2008 an den Archives départementales de l’Oise in Beauvais transkribiert habe. 2 <?page no="15"?> ter auf verschiedenen administrativen Ebenen agierten, verspricht einen interessanten Vergleich von institutionellen Schreibstätten, deren Urkundenproduktion womöglich zur gleichen Zeit unterschiedlichen Schriftnormen folgte. 5 Als Arbeitshypothese wird hier die Annahme zugrundegelegt, daß die am Ende des 13. Jahrhunderts verhältnismäßig stark pikardisch geprägte Skripta von Beauvais sich im Lauf der Zeit mehr und mehr an der Norm eines überregionalen Französisch orientiert hat. Diesen Prozeß gilt es anhand der überlieferten Texte quantitativ zu beschreiben, um in einem weiteren Schritt die diplomatischen Kontexte und die institutionellen Träger des Normenwandels zu bestimmen. Die korpusbasierte Untersuchung des schriftsprachlichen Entregionalisierungsprozesses stellt aber nicht den einzigen Schwerpunkt dieser Arbeit dar. Der mit Gossens (1957, 429) kartographischer Darstellung thematisierte Vorgang des ‘Zerfalls’ einer Skripta entspricht ja dem sprachhistorischen Prozeß, der gerne mit der Kloss’schen ( 2 1978, 60-63) Metapher der Überdachung konzeptualisiert wird. Der Begriff meint die Herabstufung regionaler, primär gesprochener Idiome, die freilich selbst schon bis zu einem gewissen Grad verschriftlicht sein können wie die nordfranzösischen Skriptae, durch eine die Diskursdomänen der kommunikativen Distanz exklusiv besetzende überregionale Referenzvarietät. 6 Synonym zum Überdachungsbegriff wird - wie im Titel meiner Arbeit - häufig auch von Standardisierung gesprochen 7 , wobei das aus der modernen Sprachplanung übernommene Konzept aber nicht ohne weiteres auf die vormoderne 5 Vgl. zum Begriff des lieu d’écriture Gleßgen (2008) und hier, Kap. 5.3. - Wenngleich ich Gleßgens Ansatz erst später rezipieren konnte als die damit gut kombinierbare, auf einem etwas abstrakteren Niveau angesiedelte Methodik von Völker (2003), ist die Frage nach schreibstättenspezifischen Normen in der Urkundensprache für meine Arbeit mindestens ebenso wichtig. - Vgl. zum Untersuchungskorpus und zu Beauvais im Mittelalter Kap. 5.2. 6 Ist diese prestigebesetzte Sprachform selbst als vulgärsprachliches Idiom im betroffenen Kommunikationsraum verankert oder basiert zumindest mittelbar auf solchen autochthonen Sprachformen, so werden die überdachten regionalen Idiome zu diatopisch markierten Varietäten, sog. primären Dialekten (nach Coseriu [1980] 1988), innerhalb der sich im Überdachungsprozeß formierenden einzelsprachlichen Architektur. Die Überdachung setzt also den fortgeschrittenen Ausbau (die Verschriftlichung) mindestens eines der im Kommunikationsraum vorhandenen Idiome voraus; durch dessen ‘Aufstieg’ zur überregionalen Prestigevarietät werden andere Sprachformen aus dem Bereich der kommunikativen Distanz abgedrängt und in eigenen (weiteren) Ausbaubestrebungen behindert. Vgl. zum Überdachungsbegriff sowie zu den Begriffen des primären Dialekts, des Ausbaus und der Verschriftlichung Koch/ Oesterreicher ( 2 2011, 135-142). 7 Vgl. etwa Muljačić (1990, 185), Echenique Elizondo (2003), Stanovaïa (2003), Selig (2005a) oder den Titel des Sammelbandes von Gärtner/ Holtus/ Rapp/ Völker (Hrsg.) (2001). 3 <?page no="16"?> Sprachgeschichte anwendbar ist. 8 So kann die Zurückdrängung der im 14. Jahrhundert bereits weit ausgebauten 9 pikardischen Skripta durch eine sich im Distanzbereich durchsetzende überregionale Schriftvarietät, die im Ergebnis das zum primären Dialekt herabgestufte, nur mehr gesprochene Pikardisch überdacht, in mancherlei Hinsicht gewiß mit den Vorgängen verglichen werden, die beim - gleichermaßen auf Kosten anderer Idiome erfolgenden - ‘Ausbau’ eines modernen, durch eine sprachpolitische Entscheidung zum Standard erhobenen und entsprechend ‘kultivierten’ Idioms ablaufen. 10 Allerdings ist im vormodernen Kontext natürlich nicht von strategisch geplanten Maßnahmen hinsichtlich der gesellschaftlichen Funktion und der sprachlichen Form einer überdachenden Varietät auszugehen. Eine ‘Selektion’ erfolgt hier höchstens im übertragenen Sinn einer sukzessiven Herausbildung einer Referenzvarietät, die möglicherweise aber zu Beginn der Standardisierung gar nicht als autochthone Sprachform im betroffenen Kommunikationsraum vorhanden war, sondern die ihr spezifisches Gepräge überhaupt erst im Überdachungsprozeß, als Ergebnis des Kontakts verschiedener im Ausbau begriffener Idiome, entwickelt. Die funktionale, diskurstraditionelle ‘Implementierung’ erfolgt gleichermaßen nicht in 8 Vgl. zur sprachhistorischen Adaptation von Haugens (1983) Standardisierungsmodell Koch/ Oesterreicher (2008, 2582f.). 9 Vgl. zum Ausbaubegriff nach Kloss ( 2 1978, 23-63) Koch/ Oesterreicher (2008, 2586): „[...] l’élaboration vise à l’émergence d’une langue historique de plein droit, dont l’espace variationnel englobe également les exigences communicatives de la distance. Du point de vue variationnel, ces exigences motivées universellement constituent le noyau du passage à l’écrit.“ 10 Sowohl in der ursprünglichen (1966) als auch in der erweiterten Fassung (1983) seines viergliedrigen Modells unterscheidet Haugen die Teilprozesse der Selektion [1], der Kodifizierung [2], der Implementierung [3] und des Ausbaus [4]. Qua Kreuzklassifikation sind [1] und [2] auf die Fixierung der sprachlichen Norm gerichtete Entscheidungen (policy planning), [3] und [4] dagegen auf die ‘Kultivierung’ des künftigen Standards zielende Maßnahmen (vgl. Haugen 1983, 272). Andererseits betreffen [1] und [3] den gesellschaftlichen Status (die Funktion) des Standards, [2] und [4] dagegen die sprachliche Form. Auch Lodge (1993) legt dieses Modell seiner französischen Sprachgeschichte zugrunde, wobei er lediglich in umgekehrter Perspektive von acceptation (von seiten der Sprecher) anstatt von implementation (von staatlicher Seite, ‘von oben’) [3] spricht. Koch/ Oesterreicher (2008, 2583) klammern Haugens Begriff der (im wesentlichen bildungspolitisch gesteuerten) Implementierung [3] aus, so daß im Bereich der statusbezogenen ‘Kultivierung’ (bei Koch/ Oesterreicher: Normalisierung) des Standards der extensive Ausbau an die Stelle staatlich gelenkter Verbreitungsmaßnahmen tritt; andererseits wird die sprachmateriell-stilistische ‘Pflege’ des Standards [4] bei Koch/ Oesterreicher auf die strukturellen Prozesse des intensiven Ausbaus beschränkt (dieser Aspekt steht wohl auch schon in Haugens Modell im Vordergrund, wenngleich er die Prozesse der „terminological modernization“ und des „stylistic development“ als funktionale Vorgänge bezeichnet, womit vermutlich ‘zur funktionalen Optimierung’ gemeint ist). 4 <?page no="17"?> dezisionistischer Weise ‘von oben’, sondern im Rahmen eines komplexen sprachsoziologischen Kräftespiels, dessen unterschwellig wirkende (institutionelle) Protagonisten heute meist nicht mehr ohne weiteres identifizierbar sind. Schließlich kann auch von einer expliziten ‘Kodifizierung’ durch Grammatiken und Wörterbücher vor dem 16. oder 17. Jahrhundert noch nicht die Rede sein. Wenn überhaupt ist im vormodernen Kontext höchstens von einer impliziten ‘Festschreibung’ einer Norm durch den als vorbildlich geltenden Sprachgebrauch einer zentralen gesellschaftlichen Instanz auszugehen. Mit Lodge (2010a; 2011) ist denn auch ein scharfer Kritiker der Anwendung des Standardisierungskonzepts auf das französische Mittelalter auf den Plan getreten. 11 Vor dem Hintergrund einer in der französischen Sprachgeschichtsschreibung besonders stark ausgeprägten ‘normativen Ideologie’ besteht Lodges Ansicht nach die Gefahr, daß die Herausbildung der späteren französischen Standardvarietät fälschlicherweise als ein seit jeher ‘von oben’ gelenkter Prozeß verstanden werde. Diese Sichtweise sei insofern abzulehnen, als durch dialektologische Untersuchungen in den 1970er Jahren eindeutig nachgewiesen wurde, daß der französische Standard historisch nicht mit dem autochthonen Dialekt der Île-de-France, dem sogenannten francien, identifizierbar ist, sondern auf eine komposite Varietät zurückgeht, auf eine Koine, die topische Elemente ganz unterschiedlicher Herkunft vereint. Die Entstehung dieser Mischvarietät sei aber, so Lodge, gerade nicht durch einen schriftsprachlichen Kontakt von Idiomen zu erklären, die sich im Ausbauprozeß einander annäherten und zu einer Ausgleichsvarietät verschmolzen. Vielmehr verankert Lodge die Entstehung der Koine - den Prozeß der Koineisierung - in der spontanen Alltagskommunikation der mittelalterlichen Stadt Paris, die im 12. und 13. Jahrhundert aufgrund von massiven Zuwanderungsbewegungen aus dem Umland enormes Wachstum erlebte und somit ein ideales Terrain für die Herausbildung eines neuartigen, topisch gemischten ‘Stadtdialekts’ geboten habe. Les linguistes des années 1970 ont réalisé, correctement, que le français standard comporte trop d’éléments importés d’autres dialectes pour pouvoir remonter, en toute simplicité, à un dialecte médiéval ‘pur’ [...]. La base du français standard devait être une variété mixte. Comment expliquer la formation de cette koinè supra-régionale? Pour l’historiographie standardisante, répugnant à l’idée d’une langue métissée, il a fallu que la koinè d’origine, si koinè il y a, résulte au moins de choix délibérés et intelligents. Elle aurait donc été la création d’un cénacle de clercs éclairés agissant au X e 11 Dies mag insofern überraschen, als Lodge (1993) seine französische Sprachgeschichte noch in ‘transhistorischer’ Perspektive nach Haugens (1983) Standardisierungsmodell konzipiert hatte. 5 <?page no="18"?> siècle dans les intérêts long-terme de la Nation. [12] Comment expliquer la propagation dans la société plus large de cette koinè à l’origine purement écrite? Elle aurait été diffusée du haut de la pyramide dans la masse des locuteurs, un peu comme le français par la dictée des écoles de la Troisième République. Si nous définissons ‘la langue’ comme la langue écrite, littéraire, cette langue trouvera ses origines, par définition, dans les textes écrits, dans une société cléricale. […] Si nous rejetons la synecdoque prescriptiviste pour donner à ‘la langue’ une définition plus large, plus ‘réaliste’, basée sur l’usage de l’ensemble des locuteurs, cette vision des débuts du français est dénuée de sens. Ne serait-il pas plus intéressant de donner au mot ‘langue’ son sens inclusif normal? Ceci nous mènerait à chercher dans la formation de la koinè française les processus normaux de la koinéisation - une explosion démographique à Paris aux XII e -XIII e siècles, due essentiellement à l’immigration, amenant un brassage dialectal dans la masse des locuteurs. (Lodge 2011, 69f.) Lodge lehnt also nicht nur die traditionelle Auffassung vom ‘Franzischen’, dem vermeintlich unmittelbar aus dem Vulgärlatein hervorgegangenen Dialekt der Île-de-France, als Basis des Schriftfranzösischen ab; er kritisiert auch die Vorstellung, der Standard gehe auf eine genuin schriftsprachliche Ausgleichsvarietät zurück. Es bleibe nämlich ungeklärt, wie eine derart ‘elitäre’, im beschränkten Milieu des schriftkundigen Klerus elaborierte Schriftnorm den Weg in die Masse der illiteraten Pariser Stadtgesellschaft gefunden haben soll, wo sie gleichwohl schon am Ende des Mittelalters als Vernakular verbreitet gewesen sei. 13 Die Annahme einer genuin sprechsprachlichen Mischvarietät, die erst später verschriftlicht wurde, impliziert dagegen die primäre Verbreitung als gesprochene Sprache (zumindest in der Stadt Paris) und erst sekundär einen Prozeß der ‘autoritär’ kontrollierten formalen und funktionalen Fixierung und Pflege im Sinne des modernen Standardisierungskonzepts. Terminologisch bringt Lodge seine Position durch die radikale Trennung der Begriffe Koineisierung und Standardisierung zum Ausdruck. Eine Gemeinsamkeit beider Prozesse bestehe zwar im Effekt der Nivellierung von dialektalen Differenzen. Chronologisch - und damit sprachhistoriographisch - sei aber streng zwischen ‘spontanen, nähesprachlichen Mischungs- und Ausgleichsprozessen’ auf der einen und ‘politisch gelenkten, genuin distanzsprachlichen Uniformierungsmaßnahmen’ auf der anderen Seite zu unterscheiden: 12 Vgl. zu dieser - hier von Lodge etwas überspitzt paraphrasierten - Hypothese Cerquiglini (1991; 2007) sowie hier, vor allem Kap. 4.2. 13 Vgl. zur Diskussion dieser Hypothese ausführlich Kap. 4.3. 6 <?page no="19"?> [...] les processus désignés par ces termes [standardisation et koinéisation; K.G.] sont des processus continus (‘on-going’) qui orientent tous les deux en effet vers le nivellement de différences dialectales [...] (et, plus généralement, diasystématiques), quoique par des cheminement radicalement différents. La standardisation comporte l’imposition par le haut d’une langue de référence (ou exemplaire) et associée normalement au pouvoir politique; la koinéisation reflète l’émergence par le bas d’une variété supra-régionale incorporant des formes tirées de différents dialectes en contact et des autres variétés en jeu, et nivelant les variables les plus encombrantes. (Lodge 2010a, 5f.) Im Fall des Französischen sei lediglich das historische Nacheinander eines (nähesprachlichen) Koineisierungs- und eines (‘von oben’ erfolgten) Standardisierungsprozesses der Grund dafür, daß wir heute vor einer strukturell kompositen französischen Schriftvarietät stehen, die außerdem in ganz Frankreich im Bereich der Nähesprache gepflegt wird: „Rien n’empêche [...] qu’une koinéisation ne soit à l’origine d’une standardisation, et qu’une langue standardisée ne contribue à la formation de nouvelles koinès orales“ (Lodge 2010a, 6). Sprechsprachliche Varietätenmischungen könnten also zu Standardsprachen werden, so wie Schriftstandards im Zuge ihrer flächendeckenden Verbreitung durch Bildungsinitiativen und moderne Massenmedien zu einer Reorganisation des Nähebereichs führen, der bislang durch die primären Dialekte (oder andere Idiome) besetzt war. 14 Das von mir oben angesprochene Szenario eines genuin schriftsprachlichen Varietätenkontakts als Ursache der Herausbildung einer überregionalen Referenzvarietät schließt Lodge für das Französische jedoch kategorisch aus. Vielmehr sei die in der spontanen Mündlichkeit des mittelalterlichen Paris entstandene Mischvarietät verschriftlicht und - als mit der königlichen Zentralgewalt assoziierte, prestigebesetzte Skripta - ab dem späteren 13. Jahrhundert auf Kosten der bis dahin in der ‘Provinz’ etablierten Regionalschriftsprachen verbreitet worden. Im Ursprung sei die französische Koine aber keine elitäre, distanzsprachliche Schöpfung, sondern ein „fait des locuteurs“ (Lodge 2010a, 15). Nun ist Lodges Theorie einer gesprochenen, stadtsprachlichen Koine als Vorform des französischen Standards allerdings kaum mit der Beobachtung vereinbar, daß schon die Regionalskriptae des 13. Jahrhunderts einen „important fonds linguistique commun“ (Lusignan 2007, 1275; vgl. Anm. 3) geteilt hätten. Denn wenn die schriftsprachliche Standardisierung erst im Zuge der überregionalen Verbreitung eines im politischen Zentrum verschriftlichten städtischen Mischdialekts begonnen haben soll, wie konnten dann schon die Skriptae des 13. Jahrhunderts, für die man wohl einen jeweils autonomen Ausbauprozeß auf der Basis eines regionalen Idioms an- 14 Vgl. zur Reorganisation des Nähebereichs Koch/ Oesterreicher (²2011, 149-153). 7 <?page no="20"?> zunehmen hätte, sich einer gemeinsamen, überregionalen Norm annähern? 15 Im übrigen wurde etwa für die Geschichte des deutschen Standards eindeutig nachgewiesen, daß die strukturelle Hybridität dieser Sprachform auf eine genuin schriftsprachliche Mischung von topischen Elementen in den großen Kanzleien des 14. und 15. Jahrhunderts zurückzuführen ist. 16 Scheidet diese Erklärungsmöglichkeit für die Genese des französischen Standards wirklich aus, nur weil mit Paris im mittelalterlichen Frankreich ein größeres städtisches Zentrum vorhanden war als im deutschen Sprachraum? 17 Kann es nicht in der überragenden Tradition der literarischen französischen Schriftlichkeit des 12. und 13. Jahrhunderts zu ähnlichen Kontakt- und Ausgleichsprozessen gekommen sein, wie Lodge sie auf der Ebene der gesprochenen Sprache annimmt? 18 Und lagen nicht die Zentren der volkssprachlichen Schriftkultur im Mittelalter gerade außerhalb des Zentrums, vor allem in England, in der Champagne und in der Pikardie? Die Frage nach dem Ursprung des französischen Standards ist also - ungeachtet der selbstbewußten Argumentation von Lodge - noch längst nicht restlos geklärt. Für die empirische Untersuchung meines Urkundenkorpus aus Beauvais erweisen sich die strittigen standardisierungsgeschichtlichen Zusammenhänge allerdings insofern als hochrelevant, als ich es für wünschenswert erachte, nicht nur den Prozeß der Entregionalisierung der Skripta von Beauvais zu beschreiben, sondern auch das Wesen - und damit die Genese - der überregionalen Sprachform zu verstehen, die im Lauf des 14. und 15. Jahrhunderts in der diplomatischen Schriftlichkeit an die Stelle der Regionalskriptae trat. Der bei Lusignan (2007, 1275; vgl. Anm. 3) angesprochene „fonds linguistique commun“, dessen Annahme auf die Skriptatheorie von Remacle (1948) und Gossen (1956; 1957) zurückgeht, deutet auf die Existenz einer schriftsprachlichen Tradition der Überregionalität hin, die freilich nichts mit der gesprochenen Sprache von Paris zu tun hat, sondern die - entgegen Lodges Überzeugung - sehr wohl auf eine ältere, literatursprachliche Form des Varietätenkontakts zurückgehen könnte. Die begriffliche Trennung, die Lodge aufgrund der Unterscheidung von Nähe- und Distanzsprache für den strukturellen Prozeß der Va- 15 Lodge (2004, 75) bestreitet dies allerdings unter Verweis auf Dees (1985). Vgl. dazu Kap. 4.3. 16 Vgl. dazu etwa Besch (2003) und hier, Kap. 2.2.3. 17 Vgl. Lodge (2010a, 15) zur historischen ‘Wahrscheinlichkeit’ der Herausbildung einer sprechsprachlichen Koine: „[…] l’émergence d’un lieu central dominant sur lequel se focalisent les interactions facilite beaucoup les choses, phénomème qui s’est produit en France septentrionale au cours du Moyen Âge, mais pas en Italie, ni en Allemagne.“ 18 Vgl. dazu etwa Greub (2007) und Selig (2008). 8 <?page no="21"?> rietätenmischung (bei Lodge: ‘Koineisierung’) und den funktionalen Prozeß der Überdachung (bei Lodge: ‘Standardisierung’) postuliert, könnte sich somit als ausgesprochen schädlich für das Verständnis der französischen Standardisierungsgeschichte erweisen. 19 Was für Lodge eine Art contradictio in adiecto zu sein scheint, nämlich das Szenario einer schriftsprachlichen Koineisierung am Ursprung des französischen Standards, muß hier mit gebührender Ausführlichkeit auf seine theoretischen und historischen Grundlagen hin untersucht werden. Zudem erscheint eine forschungsgeschichtliche Darstellung der Koineisierungs- und Standardisierungskonzepte wünschenswert, die in der französischen Sprachgeschichtsschreibung des 19., des 20. und des 21. Jahrhunderts vor unterschiedlichem epistemischem Hintergrund vertreten und propagiert wurden. Die von Lodge zu Recht angesprochenen ideologischen Implikationen bestimmter historiographischer Trends stellen nämlich einen Schlüssel zum Verständnis der Frage dar, weshalb bestimmte Konzeptualisierungen zu bestimmten Zeiten dominierten und weshalb alternative, der historischen Wahrheit womöglich näherkommende Erkenntnisprozesse mitunter nachhaltig ‘blokkiert’ wurden. 20 Der Korpusstudie zur Geschichte der Skripta von Beauvais wird deshalb eine umfassende theoretisch-methodologische Untersuchung mit einem kritisch-forschungsgeschichtlichen Teil vorangestellt. Die Studie umfaßt eine an historischen Fallbeispielen entwickelte Diskussion des Begriffs der Koine(isierung), wodurch eine modellhafte Zusammenführung der von Lodge vorschnell dissoziierten Prozesse des Varietätenkontakts und der Standardisierung (im Sinne des Kloss’schen Überdachungskonzepts) erreicht werden soll. Vor allem wird dabei aufzuzeigen sein, daß eine Mischung von Varietäten in ganz unterschiedlichen Phasen des Ausbaus eines Idioms erfolgen kann, so daß vom Ergebnis her nicht immer klar zu entscheiden ist, ob ein topisch kompositer Standard nun auf eine genuin sprechsprachliche oder auf eine genuin schriftsprachliche Varietätenmischung zurückgeht (Kap. 2). Kap. 3 ist der Forschungsgeschichte gewidmet und zeigt unter Rückgriff auf die in Kap. 2 vollzogenen Unterscheidungen, welche Standardisierungskonzepte in der französischen Sprachgeschichtsschreibung der letzten beiden Jahrhunderte vorherrschten. In Kap. 4 werden die aktuell in der Romanistik diskutierten Standardisierungstheorien - darunter vor allem die von Lodge (2004) - ausführlich erörtert und abschließend in ihrer Plausibilität bewertet. Die sich in Kap. 5 anschließende Untersuchung meines Urkundenkorpus aus Beauvais versteht sich in ge- 19 Vgl. zum Reduktionismus einer dichotomischen Trennung von ‘natürlich-spontansprachlichen’ und ‘elitär-interventionistischen’ Aspekten der vormodernen Standardisierungsgeschichte auch López Serena/ Méndez García de Paredes (2011). 20 Vgl. dazu in anderem Zusammenhang Oesterreicher (1998). 9 <?page no="22"?> wisser Hinsicht als mise en pratique des zuvor umrissenen, breiten thematischen Horizonts, wobei auf empirischer Ebene freilich nur eine relativ späte Phase der Herausbildung einer überregionalen Schriftvarietät dargestellt werden kann und zudem eine diskurstraditionelle Beschränkung auf den Bereich der diplomatischen Schriftlichkeit erfolgt. Nichtsdestoweniger sind die historisch tieferliegenden standardisierungsgeschichtlichen Zusammenhänge, die vor dem Aufkommen der volkssprachlichen Urkundenproduktion in Frankreich ganz wesentlich den Bereich der literarischen Schriftlichkeit betroffen haben dürften, stets im Hintergrund mitzudenken und mitgedacht. In diesem Sinne versteht sich die hier vorgelegte Arbeit als Plädoyer für eine ganzheitliche, epochenübergreifende Entstehungsgeschichte des französischen Standards, die die bislang allzu partikulär erfolgten Erklärungsversuche zu relativieren und in einer kritischen Synthese zusammenzuführen vermag. 10 <?page no="23"?> 2 Die Rolle des Varietätenkontakts im vormodernen Standardisierungsprozeß: zum Begriff der Koine(isierung) 21 Of all the imprecise terms used in sociolinguistics, „koine“ may win the prize for the widest variety of interpretations. (Siegel 1993a, 6) 2.1 Geschichte und Polysemie des Koine(isierungs)begriffs Der Ausdruck Koine 22 geht bekanntlich auf einen substantivischen Gebrauch des altgriechischen Adjektivs κοινóς, fem. κοινή zur Bezeichnung der hellenistischen ‘Gemeinsprache’ zurück. 23 Diese schon von den Zeitgenossen als eigene, von den primären griechischen Dialekten klar abgehobene Sprachform betrachtete Varietät entstand wahrscheinlich als gesprochenes „Umgangsidiom“ (Petersmann 1995, 10) am makedonischen Königshof des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. Ihre Grundlage war das sogenannte Großattische, eine überregionale, gesprochene und geschriebene Handels- und Verwaltungssprache, „die sich im Laufe des 5. Jahrhunderts zwischen Athen und den jonisch-sprechenden Angehörigen des Attischen Seebundes herausgebildet hatte“ (Petersmann 1995, 6) 24 und die im hellenophilen Makedonien als vorbildlich angesehen wurde. Von dort aus wurde die mit zahlreichen Ionismen durchsetzte, attisch-basierte Koine dann „als Amts- und Verkehrssprache in die von Alexander unterworfenen Gebiete [...] getragen [...], und dies nicht nur von Beamten, Händlern und Politikern, [...] 21 Vgl. zum Folgenden auch Grübl (2011) und die knappe Skizze in Grübl (2010b). 22 Ich schreibe das Wort im Deutschen ohne Akzent. 23 Vgl. umfassend zur hellenistischen Koine die Beiträge in Brixhe/ Hodot (Hrsg.) (1993-2004); ferner Bubenik (1989 und 1993) sowie Petersmann (1995). 24 Bubenik (1993, 13) beschreibt das Großattische als „de-Atticized Ionicized Attic“; es habe sich dabei um „the variety spoken by the educated middle-class, i.e. the administrative, diplomatic and commercial Attic of the 5th and 4th c.“ gehandelt (Bubenik 1989, 181; vgl. auch Petersmann 1995, 4-6). Dagegen hatte die ältere Forschung noch zur Annahme eines diastratisch niedrigeren Ursprungs tendiert: Thomson (1960, 34) und Hock (1986, 486) verankerten die Genese des Großattischen konkret in der Hafenstadt Piräus, dem wichtigsten Handelszentrum des Attischen Seebunds, wo ungebildete attische, ionische und dorische Dialektsprecher auf engem Raum zusammengelebt und tagtäglich interagiert hätten (vgl. auch Kerswill 2002, 670f.; Tuten 2003, 10). 11 <?page no="24"?> sondern auch vom Heer und von den Kolonisten“ (Petersmann 1995, 8). Im Zuge ihrer kolonialen Expansion bildete die Koine eine komplexe einzelsprachliche Architektur aus, deren nähesprachliche Varietäten, insbesondere die im Zweitsprachenerwerb entstandenen und später nativisierten sekundären Dialekte, sich mit der Zeit immer stärker ausdifferenzierten und die letztlich die ‘vulgärsprachliche’ Basis des Neugriechischen bildeten. 25 Ihr Register [d.h. die Architektur der Koine; K.G.] verfügte [...] über eine Vielzahl sprachlicher Varietäten. Einen Einblick in die höhere Koine vermitteln uns die verschiedenen literarischen Denkmäler, die sich an ein gebildetes Publikum wandten; die Volkssprache hingegen reflektiert sich bekanntlich am getreuesten in den privaten Papyri, Inschriften oder solchen literarischen Denkmälern, die eine breitere Masse ansprechen wollten, wie etwa die heiligen Schriften der Christen oder die Abhandlungen eines Epiktet. Ihrem Wesen nach war die Koine eine lebendige Sprache, die vor allem in ihrer gesprochenen Form [...] auch die Entwicklungs- und Abnutzungserscheinungen lebendiger Idiome teilte. (Petersmann 1995, 4) Entscheidend für die sprachwissenschaftliche Rezeption des Koinebegriffs im 20. Jahrhundert 26 ist die bereits in der gräzistischen Verwendung ange- 25 Vgl. dazu Cardona (1990, 25f.): „Per i grecisti moderni il termine [di koinè; K.G.] [...] indica anche lo strato linguistico che giustifica il neogreco; com’è noto, la lingua greca moderna non continua direttamente nessuno dei dialetti antichi, ma sembra presupporre l’equivalente greco di quello che in occidente chiamiamo il latino volgare“ - Vgl. zur imperialistischen Kulturpolitik Alexanders des Großen Petersmann (1995, 11f.): „Eine besondere Rolle bei der Ausbreitung der Koine kam [...] den makedonischen Soldaten und Kolonisten zu. Wie im Imperium Romanum die römischen Legionen, deren Sprache immer und überall das Lateinische war, wesentlich zur Romanisierung der Provinzen beitrugen, so haben auch die Garnisonen, die Alexander und seine Nachfolger in den von ihnen beherrschten Gebieten zur Sicherung ihrer Macht stationiert hatten, das im makedonischen Heer gesprochene Griechisch in der ganzen östlichen Oikumene verbreitet. Dazu trugen erheblich aber auch die vielen Ansiedlungen von Kolonisten und die neu gegründeten Städte bei [...].“ 26 Cardona (1990, 26f.) und Tuten (2003, 13) nennen an erster Stelle Antoine Meillets Aperçu d’une histoire de la langue grècque (1913); Tuten (2003, 14) verweist ferner auf einen Aufsatz zum Russischen von Roman Jakobson aus dem Jahr 1929. Den ersten Beleg für die romanistische Verwendung des Begriffs sieht Cardona (1990, 28) in Carlo Tagliavinis Origini delle lingue neolatine (1949), wo von einer fränkisch-romanischen Koine (also von einer Mischung genetisch nicht demselben Sprachzweig zugeordneter Sprachformen! ) am Hof der Merowinger- und Karolingerkönige sowie von der literarischen Koine der provenzalischen Trobadors die Rede ist (zu ergänzen wäre hier allerdings Tagliavinis Gebrauch des Terminus mit Bezug auf die „koiné alto-italiana“; vgl. Tagliavini 1949, §84 und „Indice delle materie“). - In Kap. 3.1 wird sich zeigen, daß es in der romanistischen Literatur noch viel ältere Belege gibt, und zwar gerade im Kontext der Diskussion um die Existenz einer im französischen Mittelalter etablierten überregionalen Literatursprache (vgl. z.B. Nyrop 1899, 23 oder Brunot 1905, 325). 12 <?page no="25"?> legte Polysemie von (1) ‘Mischsprache auf pluridialektaler Basis’ und (2) ‘überregionale Referenzvarietät’. 27 Schon die großattische Handelskoine war beides: Mischvarietät und überregionales Umgangsidiom 28 im interdialektalen Kontakt. In hellenistischer Zeit entwickelte sich die Koine dann zur weiträumig gültigen Bezugsnorm, die den griechischen Varietätenraum als geschriebener und gesprochener Protostandard 29 überdachte. 30 27 Vgl. zu dieser grundlegenden Unterscheidung etwa Remacle (1948, 156): „[...] l’expression ‘langue commune’ n’est-elle pas équivoque? Une langue peut être commune par formation ou par extension: il peut s’agir d’une koinê qui amalgame des traits communs à plusieurs dialects; il peut s’agir aussi d’un dialecte qui s’impose au territoire occupé par ses congénères.“ - Vgl. zu Remacle (1948) ausführlich Kap. 3.2. 28 Ich vermeide in diesem Zusammenhang den in der englischsprachigen Forschung häufig gebrauchten Terminus der lingua franca (vgl. etwa Siegel 1985, 359f.; Tuten 2003, 14-21) und seine deutsche Entsprechung Verkehrssprache. Sowohl der historische Begriff der Lingua Franca des östlichen Mittelmeerraums (vgl. Schuchardt 1909) als auch der moderne Begriff der verkehrssprachlichen lingua franca beinhalten meines Erachtens das Moment der Vermittlungsfunktion zwischen Sprechern, zwischen denen ansonsten keine Verständigung möglich wäre. Dieses Merkmal ist bei wechselseitig verständlichen Varietäten wie den primären Dialekten des Griechischen aber gerade nicht gegeben, weshalb ich es im Fall des Großattischen vorziehe, von einem Umgangsidiom zu sprechen. Als Verkehrssprache (lingua franca) fungierte die griechische Koine nach meinem Verständnis erst, als sie unter Alexander dem Großen auch von zahlreichen Sprechern einer nicht-griechischen L1 erlernt und gebraucht wurde. 29 Den Begriff des Protostandards verwende ich hier im vollen Bewußtsein der teleologischen Gefahr, die damit verbunden sein kann. Allerdings erscheint mir das Konzept einer bereits in vor- oder frühmoderner Zeit im Distanzbereich etablierten überregionalen Referenzvarietät, die lediglich noch nicht explizit kodifiziert wurde, die noch in gewissem Maße variabel ist und die keinen offiziellen Status besitzt, prinzipiell legitim und hilfreich. Wie sonst möchte man etwa die Funktion des Lateinischen als Schriftsprache der römischen Antike und des abendländischen Mittelalters begreifen? Problematisch wird die Verwendung des Begriffs natürlich, wenn die weiträumige Gültigkeit eines volkssprachlichen ‘Protostandards’ bei der varietätenlinguistischen Beschreibung von Texten aus einer Zeit unterstellt wird, in der nicht nur de iure, sondern auch de facto noch gar keine überregionale, quasi ‘nationale’ Bezugsnorm etabliert war. Denn dies kann zur vorschnellen Abqualifizierung von vermeintlich ‘peripheren’ Schriftvarietäten führen, die innerhalb eines regional beschränkten Kommunikationsraums oder in bestimmten Diskurstraditionen von den Zeitgenossen aber gerade nicht als Normabweichung, sondern als funktional völlig angemessen, ja sogar als prestigebesetzt empfunden wurden. Hier gilt es, ein sprachhistorisches Bewußtsein für die synchrone Unentschiedenheit des ‘Standardisierungswettbewerbs’ zu schaffen, in dem sich die ausbaufähigen volkssprachlichen Idiome etwa des französischen Mittelalters befanden. Aus diesem Grund werde ich bei der Untersuchung meines Urkundenkorpus aus Beauvais (1241-1455) in Kap. 5 dezidiert nicht mit dem Begriff des Protostandards arbeiten (im Unterschied etwa zu Holtus/ Overbeck/ Völker 2003). Diese Distanzierung gilt dann aber ganz konkret mit Bezug auf das mittelalterliche Französisch, was nicht heißt, daß mit Bezug auf andere Epochen oder Sprachen, wie etwa das Italienische im 16. oder das Deutsche im 17. Jahrhundert, das Konzept eines zwar noch nicht institutionalisierten, de facto aber schon weit- 13 <?page no="26"?> Das unter (2) verzeichnete Bedeutungsmerkmal wäre mithin weiter zu differenzieren in (2a) ‘überregionales Umgangsidiom (ohne Überdachung)’ und (2b) ‘überregionaler (Proto-)Standard (mit Überdachung)’. Da die Koine zudem auch zahlreichen Sprechern einer nicht-griechischen Erstsprache (L1) als geschriebene und gesprochene Verkehrssprache (lingua franca) diente, wäre noch die Bedeutung (3) ‘überregionale Verkehrssprache (im interlingualen Kontakt)’ hinzuzufügen. Während die Unterscheidung zwischen (2a) und (2b) einerseits und (3) andererseits auf dem Kriterium beruht, ob eine autochthon basierte Varietät oder ein fremdsprachliches Idiom als Koine fungiert, also qualitativer - und, was die hellenistische Koine betrifft, perspektivischer - Natur ist, beruht die Differenzierung von (2a) und (2b) auf einem graduellen Statusunterschied. Ein domänen- und gruppenspezifisch (z.B. im Bereich des Seehandels), von den Sprechern nur sporadisch gepflegtes interdialektales Umgangsidiom muß nämlich noch keine Rückwirkung auf den Status der ansonsten im Kommunikationsraum gesprochenen volkssprachlichen Idiogehend überregional anerkannten ‘Vor-Standards’ nicht durchaus adäquat und sinnvoll sein kann (vgl. dazu Muljačić 1990, 186; hier zitiert in Anm. 63). Die Frage nach kommunikationsräumlich oder diskurstraditionell spezifischen Formen der Variation bleibt aber selbstverständlich auch für solche Epochen ein wichtiges Forschungsanliegen, das nicht durch eine vorschnell homogeneisierende, auf den nur ex post bekannten Zielpunkt der historischen Entwicklung fixierte Praxis der Sprachgeschichtsschreibung marginalisiert werden darf. Vgl. dazu programmatisch Oesterreicher (2007). Etwas pragmatischer argumentiert Vàrvaro (1984, 47f.) unter Verweis auf die Unausweichlichkeit des im Konzept der Sprachgeschichte selbst angelegten Teleologismus: „[...] il concetto di storia della lingua sta o cade col presupposto teleologico. Il che non vuol dire che debba cadere, ma solo che lo si possa introdurre esclusivamente nei casi in cui il fine del divenire linguistico sia percepibile e che la storia della lingua vada tutta impostata in base a questa coscienza. Del resto, che lo si dicesse o meno, ogni storia di una lingua che sia stata scritta è stata concepita in funzione di un punto di arrivo e solo cosí ha potuto giustificare il suo ambito; [...] perché mai la trattazione della situazione linguistica della pianura padana nel Medioevo rientra nella storia della lingua italiana, se non in ragione di quel che è accaduto dopo? “ 30 Kloss ( 2 1978, 60-63) schließt übrigens plurilinguale Kontexte, in denen keine autochthone, sondern eine fremdsprachliche Varietät den Distanzbereich besetzt, explizit in seine Überlegungen mit ein. Die volkssprachlichen Idiome sind in einem solchen Fall schlicht nicht-ausgebaute Regionalsprachen oder - wie etwa im Fall der spätestens seit 1945 vom Standardfranzösischen überdachten elsässischen Dialekte - diatopische Varietäten einer anderen historischen Einzelsprache, hier des Deutschen, die von einem ihnen genetisch ‘fremden’, exogenen Standard überdacht sind. Kloss selbst spricht dann allerdings von „dachlose[n] Außenmundarten“; er beschränkt den Begriff des Dachs also auf Standardvarietäten, die eine vulgärsprachliche Basis im Kommunikationsraum haben. Ich halte mich demgegenüber hier an Goossens’ (1973, 11) Sprachgebrauch, wonach auch ‘unverwandte’ Hochsprachen als Dach bezeichnet werden. Vgl. dazu Kloss ( 2 1978, 387, Anm. 78). Vgl. auch Muljačić (1986) und Koch (2010). 14 <?page no="27"?> me haben; auch das literarische Attisch der klassischen Periode blieb von der großattischen Handelskoine unbeeinflußt. Erst die makedonische Reichssprache hat als gesprochene und geschriebene Referenznorm die primären und sekundären griechischen Dialekte überdacht und damit maßgeblich die einzelsprachliche Architektur des Griechischen geprägt. Umgangssprachliche Koinai wie das Großattische (2a) sind also potentielle Dach- oder Standardsprachen (2b); die Extension der Begriffe (2a) und (2b) geht demnach kontinual ineinander über. 31 Das linguistische Konzept der autochthon basierten Koine bzw. - in prozessualer Sicht - der autochthon basierten Koineisierung umfaßt somit zum einen den strukturellen Aspekt der Varietätenmischung, wie sie sich etwa auf der Ebene der großattischen Handels- und Verwaltungskommunikation vollzogen hat (1), zum anderen den funktionalen Aspekt der überregionalen/ supralokalen 32 Gültigkeit einer Sprachform (2), sei es eines eher sporadisch im interdialektalen Kontakt gebrauchten Umgangsidioms wie des Großattischen (2a), sei es einer (de facto) anerkannten (Proto-)Standardvarietät wie der durch Alexanders territoriale Expansion im makedonischen Großreich verbreiteten Koine (2b). Im Fall der großattischen Handelssprache koinzidierten die Merkmale der strukturellen Mischung (1) und der Supralokalität (2a); in hellenistischer Zeit kam es dann zu einer Statusverschiebung von (2a) zu (2b). Das Bedürfnis, terminologisch zwischen dem sprachinternen Konzept der Varietätenmischung (1) und dem funktionalen Konzept der supralo- 31 Da ich mich hier für die Geschichte einzelsprachlicher Varietätenräume im vormodernen Standardisierungsprozeß interessiere, werde ich mich im folgenden auf Koineisierungs-/ Überdachungsprozesse beschränken, die nicht zur Etablierung einer fremdsprachlichen Distanzvarietät, also zu keiner plurilingualen Situation führen, sondern die von der Ebene der autochthonen, volkssprachlichen Idiome ausgehen und im Ergebnis einen tiefgreifenden Umbau der im ‘kommunikativen Haushalt’ (vgl. zum Begriff Luckmann 1997, 16) einer Sprechergemeinschaft angelegten Varietätenhierarchie, nämlich die Herausbildung einer einzelsprachlichen Architektur, bewirken. Ich klammere daher das mit der Begriffsvariante (3) angesprochene fremd-/ verkehrssprachliche Szenario aus der weiteren Betrachtung aus. 32 Man sollte in diesem Zusammenhang besser von Supralokalität als von Überregionalität sprechen, da Umgangsidiome oder (Proto-)Standards natürlich auch nur von regionaler Gültigkeit sein können (wobei die Definition von Regionalität natürlich kontingent ist). Jedenfalls schließt der Begriff der Supralokalität sowohl regional als auch überregional verbreitete Sprachformen ein. - Im übrigen verwirrt der Gebrauch des Begriffs regional standard bei Siegel (1985, 359f.) und Tuten (2003, 16). Während damit normalerweise auch in der Anglistik ‘Regionalstandards’ gemeint sind, wie sie in plurizentrischen Sprachgemeinschaften gelten (vgl. etwa Clyne (Hrsg.) 1992), schließt die Liste der von Siegel so bezeichneten Idiome etwa auch das Bühnendeutsche („Stage German“) und den italienischen Literaturstandard („Literary Italian“) ein, also Sprachstandards, die gerade keine regionale Variation vorsehen. 15 <?page no="28"?> kalen Gültigkeit einer Umgangsvarietät (2a) oder einer einzelsprachlichen Referenznorm (2b) zu unterscheiden, hat Siegel (1985) in einem grundlegenden Beitrag dazu veranlaßt, die sprachexterne Statusfrage hintanzustellen und das Merkmal der strukturellen Hybridität einer im interdialektalen Face-to-face-Kontakt oder einer auf schriftsprachlicher Ebene entstandenen Mischvarietät als zentrales Definiens des Koine(isierungs)begriffs zu statuieren: [...] the definition of a koine as merely a common language or lingua franca is too broad. Of course, all koines fulfill this role to some extent, but this definition ignores the central concept of dialect mixing. [...] Thus, a koine is the stabilized result of mixing of linguistic subsystems such as regional or literary dialects. It usually sevrves [ sic ] as a lingua franca among speakers of the different contributing varieties and is characterized by a mixture of features of these varieties and most often by reduction or simplification in comparison. (Siegel 1985, 363) Dennoch scheint zumindest in der historisch arbeitenden Romanistik weiterhin die funktionale Begriffsauffassung als ‘supralokale Referenzvarietät, (Proto-)Standard, Dachsprache’ im Vordergrund zu stehen. Vor allem in der Italianistik stellen traditionell weniger sprechsprachliche Kontaktphänomene als Ausgleichsprozesse in der literarischen oder administrativen Schriftsprachenbildung 33 einen zentralen Forschungsgegenstand dar: […] parleremo di koinè a proposito di una varietà supralocale, che si estende su un’entità territoriale ampia (una regione, un gruppo di regioni, insomma una parte consistente del territorio che si riconosce in quella determinata lingua), tanto ampia da presentare una sufficiente frammentazione o diversificazione linguistica. (Cardona 1990, 30) Trasportato nel contesto linguistico italiano, il termine koinè […] definisce, a parziale somiglianza del greco antico, una lingua prevalentemente (anche se 33 In der Germanistik wird traditionell zwischen den Termini Schriftsprache (im Sinne einer weitgehend standardisierten, überregionalen Bezugsnorm oder Dachsprache) und Schreibsprache (im Sinne eines nur kleinräumig gebrauchten graphischen Systems ohne Überdachung) unterschieden; als Standardsprachen werden wiederum Schriftsprachen bezeichnet, die auch in die Domänen der Mündlichkeit vorgedrungen sind (vgl. Besch 1967, 15; 2003, 2252f.). Ich folge dieser Differenzierung nicht konsequent, da, wie etwa Gleßgen (2008) gezeigt hat, im Grunde jedes noch so kleinräumig gebrauchte Graphiesystem, das keine einmalige Ad-hoc-Kreation ist, wenigstens Ansätze zur institutionellen Normierung aufweist (vgl. auch Elmentaler 2003, 1, Anm. 1). Außerdem erscheint mir die Unterscheidung zwischen Schrift- und Standardsprache künstlich, da es zahlreiche Beispiele für standardisierte (Schrift-)Varietäten gibt, die zwar als offizielle (Sprech-)Norm gelten, die aber nur von den wenigsten Sprechern der betroffenen Sprachgemeinschaft in der mündlichen Kommunikation tatsächlich gebraucht werden (vgl. etwa den Fall Italiens oder auch die wiederholt beschriebenen diglossischen Tendenzen in Frankreich; vgl. Koch 1997a; Massot 2008). 16 <?page no="29"?> non esclusivamente) d’uso non letterario che ha acquisito una certa stabilità e che tende al livellamento delle particolarità dialettali su una base latina e, in qualche caso, toscana. (Tesi 2007, 149) Auch die Geschichte strukturell nicht-kompositer, im wesentlichen monotopisch basierter Standards (oder vermeintlich monotopischer Standards) wird in diesem Rahmen behandelt, so daß der Koineisierungsbegriff in der romanistischen Tradition weitgehend deckungsgleich mit dem Standardisierungs-/ Überdachungsbegriff zu sein scheint. 34 Im übrigen verkennt auch Siegel nicht die Bedeutung des funktionalen Aspekts für die Koineisierungsproblematik, wenngleich er ihn der terminologischen Klarheit halber nur sekundär in Betracht zieht. So versteht sich von selbst, daß die strukturelle Hybridität (1) zumindest solcher interdialektaler Umgangsidiome, wie ich sie unter (2a) konzeptualisiert habe - im Englischen werden sie als regional koines bezeichnet -, untrennbar mit dem sprachexternen Moment der supralokalen Kommunikation verbunden, ja wesentlich darauf zurückzuführen ist. (2a) kann mithin als Teilmenge in die Extension von (1) inkludiert werden 35 , während (2b) mit (1) nur eine Schnittmenge bildet, im folgenden (2c) genannt, die kontinual in den Begriffsbereich von (2a) übergeht. Der außerhalb von (1) verbleibende Bereich von (2b), im folgenden als (2d) bezeichnet (also 2b = 2c+2d), entfällt auf Standards, die keine kompositen Sprachformen, sondern monotopisch basiert sind (s.u.). Der außerhalb von (2a) und (2c) verbleibende Restbereich von (1), im folgenden (1a), steht schließ- 34 Vgl. zum Koine(isierungs)begriff in der Romanistik (der freilich unterschiedliche nationalphilologische Akzentuierungen aufweist) die Beiträge in Sanga (Hrsg.) (1990) und Knecht/ Marzys (Hrsg.) (1993); vgl. auch Gleßgen/ Pfister (1995), Gsell (1995) und Regis (2012). Zur Dichtersprache der okzitanischen Trobadors und der scuola siciliana sowie zur Kanzleitradition der koinè padana und der damit zusammenhängenden literarischen Varietät der lingua cortigiana vgl. hier Abschnitt 2.2.3. - Im Untertitel des Sammelbandes von Knecht/ Marzys (Hrsg.) (1993) scheint standardisation für die bewußte Planung eines Standards, formation spontanée de koinès dagegen für den ungelenkten Prozeß der Herausbildung einer Referenznorm zu stehen. Vgl. dazu Knecht (1993, 6): „Nous avons opté pour le degré de spontanéité comme critère de comparaison des différents types de koinès. Cette gradation comporte deux extrêmes, allant de la création spontanée à la planification minutieusement organisée.“ 35 Mir ist kein Beispiel für ein rein monotopisch basiertes Umgangsidiom bekannt, wenngleich supralokale Kompromißvarietäten wie das Großattische in der Regel gewiß zu großen Teilen auf dem Dialekt eines sozial-geographischen, meist urbanen Zentrums beruhen (s.u., Kap. 2.2.2). Allerdings scheint die lockere, höchstens implizite Normbindung im Fall (2a) gewisse interdialektale Kompromisse oder kontaktinduzierte Vereinfachungsprozesse zu erlauben, während ein strengerer normativer Anspruch, wie er im Fall (2b) gegeben ist, im Extremfall zur gewissermaßen totalitären Durchsetzung einer weitgehend monotopisch basierten Sprachform wie etwa des florentinischen Literaturstandards in Italien führen kann. 17 <?page no="30"?> lich für Varietätenmischungen ohne supralokale Gültigkeit, sog. immigrant koines, die sich an einem sprachlich gewissermaßen jungfräulichen Ort („linguistically ‘virgin’ territory“; Kerswill/ Trudgill 2005, 196) im Zuge einer Neubesiedlung durch Dialektophone unterschiedlicher Herkunft herausbilden und die seit Trudgill [1986] ( 2 2006) im Fokus insbesondere der angelsächsischen Forschung stehen (vgl. Kerswill 2002; Kerswill/ Trudgill 2005). Schematisch läßt sich die Polysemie des Koine(isierungs)begriffs wie folgt darstellen: 1: Mischvarietät (1 = 1a+2a+2c) 2: supralokal gültige Sprachform (2 = 2a+2c+2d) 1a: lokal begrenzte Varietätenmischung (immigrant koine) 2a: supralokale Varietätenmischung (regional koine) 2b: Standard (‘Überdachung’) (2b = 2c+2d) 2c: hybrider Standard 2d: monotopischer Standard (vgl. Remacle 1948, 156: „koinê par extension“) Abb. 1: Polysemie des Koine(isierungs)begriffs Koch/ Oesterreicher (2008, 2582) versuchen der notorisch für Verwirrung sorgenden 36 Mehrdeutigkeit des Koine(isierungs)begriffs Rechnung zu tragen, indem sie die Konzepte „koinéisation 1 “ bzw. „koinè de iure“ (‘Überdachung’ bzw. ‘Dachsprache, (Proto-)Standardvarietät’) und „koinéisation 2 “ bzw. „koinè de facto“ (‘Varietätenmischung’ bzw. ‘Mischvarietät’), also meine Begriffsvarianten (2b) und (1), einander explizit gegenüberstel- 36 Vgl. dazu etwa Siegel (1985, 359f.; 1993a, 6); Tuten (2003, 13-21 und 84-86); Selig (2008 und 2014); Grübl (2010b); Heinemann (2011). Dabei scheint der traditionellere Begriff der Koine noch anfälliger für unterschiedliche Auslegungen zu sein als der stärker technische Begriff der Koineisierung, wie er von Trudgill [1986] ( 2 2006) zur Bezeichnung sprechsprachlicher Varietätenmischungen geprägt wurde (s.u.). 18 <?page no="31"?> len. 37 Daß ein erfolgreicher Überdachungsprozeß (2b) keineswegs die Existenz einer ‘pluralen’ Mischvarietät (1) wie im altgriechischen, im altkastilischen oder auch im frühneuhochdeutschen Kontext voraussetzt (s.u.), zeigt das Beispiel des italienischen Standards, der sich bekanntlich weitestgehend auf die monotopische (und vor allem auch diaphasisch klar definierte) Basis der florentinischen Literatursprache des Trecento bzw. deren spätere explizite Kodifizierung durch Pietro Bembo zurückführen läßt (Typ 2d; s.o.). Andererseits können aus Prozessen der Dialektmischung hervorgegangene Varietäten (1) auf sehr kleinräumige Sprechergemeinschaften (1a), auf bestimmte Sprechernetzwerke, wie sie durch Migrantengruppen in einer multiethnischen Gesellschaft konstituiert werden 38 , oder, wie im Fall (2a), auf spezifische Kommunikationsdomänen und entsprechend sporadische Sprecherkontakte beschränkt bleiben, ohne je den Status einer Dachsprache zu erlangen. Zu Recht stellen Koch/ Oesterreicher (2008, 2584) weiter heraus, daß es zu Varietätenmischungen (1) gleichermaßen im Bereich der Mündlichkeit (Nähesprache) wie im Bereich der Schriftlichkeit (Distanzsprache) kommen kann (vgl. schon Siegel 1985, 363; s.o.). Auch Selig (2008, 74) geht von dieser konzeptionellen Unterscheidung aus und plädiert dezidiert gegen eine von Trudgills [1986] ( 2 2006) Koineisierungsmodell inspirierte Privilegierung mündlicher gegenüber schriftsprachlichen Varietätenkontakten in der historischen Sprachwissenschaft, wie sie etwa Lodge (2004) zu bescheinigen ist (vgl. dazu ausführlich Kap. 4.3). De-iure-Koineisierungen, also Überdachungsprozesse (2c/ 2d), vollziehen sich dagegen per definitionem im Bereich der kommunikativen Distanz, obschon eine überdachende Varietät - wie das zur hellenistischen Reichssprache avancierte Großattisch - natürlich strukturell das Resultat einer vorgängigen mündlichen De-facto-Koineisierung (1, hier 2a) sein kann. Es erscheint also notwendig, mit Blick auf das konzeptionelle Kontinuum von kommunikativer Nähe und Distanz klar zwischen dem strukturellen Ursprung und späteren Entwicklungsstadien einer Koine zu unterscheiden, da es fortlaufend zu Statusveränderungen in der Varietätenhierarchie kommen kann, die primär mündliche Kontaktprozesse auf der Ebene der Schriftlichkeit abbilden und umgekehrt. Als gemeinsames Merkmal aller bislang unterschiedenen Begriffsausprägungen (1a/ 2a/ 2c/ 2d) kann allerdings der Aspekt der Delokalisierung festgehalten werden. Denn zum einen kommt es im Prozeß der Varietätenmischung (1a/ 2a/ 2c) zu einer Abwahl dialektal stark markierter Formen, oder bestimmte Formen verlieren ihre ursprüngliche topische Markierung 37 Vgl. dazu wiederum Remacles (1948, 156) hier in Anm. 27 zitierte Unterscheidung zwischen koinê par formation und koinê par extension. 38 Vgl. etwa Krefeld (2004, 46-55); zu den italienischen Dialekten in Amerika vgl. etwa Tropea (1978) oder Marcato/ Haller/ Meo Zilio/ Ursini (2002). 19 <?page no="32"?> (wenngleich das Resultat einer solchen Mischung, insbesondere des Typs (1a), erneut mit einem bestimmten sozial-geographischen Ort assoziiert werden kann; s.u.); zum anderen geben als supralokales Umgangsidiom (2a) oder als (über)regionaler Standard (2c/ 2d) akzeptierte Varietäten, auch wenn sie großteils oder ganz monotopischen Ursprungs sind, ihre sprachgeographische Bindung im Prozeß ihrer supralokalen Etablierung bzw. im Überdachungsprozeß auf oder reduzieren diese Bindung zumindest auf ein Niveau, das sie für breitere Gruppen von dialektophonen Sprechern zugänglich und akzeptabel macht. 39 Außerdem ist im Koinebegriff normalerweise der Aspekt der strukturellen und funktionalen Stabilität konnotiert. So hält Siegel (1985, 363) fest, daß auch eine nur kleinräumig gesprochene, aus einem Prozeß des dialect mixing hervorgegangene immigrant koine (1a), die nicht als (über)regionaler Schriftstandard fungiert, in der Regel stabil genug ist, um sie als Gebrauchsnorm mit klarer Funktionalität im kommunikativen Haushalt der sie praktizierenden Sprechergemeinschaft zu beschreiben („that a koine has stabilized enough to be considered at least informally standardized“); 40 für (Proto-)Standards (2c/ 2d) gilt das Stabilitätskriterium ohnehin. Um einer strukturell kompositen Sprachform innere und äußere Stabilität zu bescheinigen, ist es jedoch notwendig, zunächst deren funktionalen Status (1a/ 2a/ 2c) zu bestimmen und dann die relative Chronologie der Stabilisierungsphase gegenüber anderen, für die Statusfrage relevanten Entwicklungsfaktoren wie etwa der territorialen Expansion oder der Nativisierung einer Koine zu klären (vgl. Siegel 1985, 372-376). So erlangte die griechische Koine wohl schon lange vor ihrer Expansion und beginnenden Nativisierung unter Alexander dem Großen strukturelle und funktionale Stabilität als großattische Handelsbzw. makedonische Hofsprache (2a/ 2c), wohingegen im Fall lokal begrenzter, sprechsprachlicher Dialektmischungen des Typs (1a) die Nativisierung erst der entscheidende Schritt in Richtung Stabilisierung sein dürfte. 41 Außerdem kann funktionale Stabilität immer nur im Rahmen einer näher zu definierenden Synchronie oder Entwicklungsphase postuliert werden, denn Statusänderungen, wie sie etwa das 39 So wurde etwa aus dem Kastilischen die Weltsprache Spanisch, aus der florentinischbasierten Literatursprache der Trecentisten wurde das auf der gesamten Apenninenhalbinsel verbreitete Italienische. 40 Tuten (2003, 18) verweist auf eine spätere Publikation Siegels (1987), in der dieser den aus Sicht der modernen Sprachplanung widersprüchlichen Begriff der informal standardization wieder verwirft. Gemeint sind damit jedenfalls sozial verbindliche Gebrauchsnormen: Koinai sind nach Siegel also keine beliebig aushandelbaren Ad-hoc- Produktionen, sondern relativ stabile Systeme, die, wenngleich sie eine gewisse Variabilität erlauben mögen, festen Sprachregeln gehorchen wie autochthone Dialekte auch. Zur Gegenposition s.u. 41 Vgl. dazu im Detail die Diskussion von Siegels (1985) Modell bei Tuten (2003, 23-28). 20 <?page no="33"?> zur makedonischen Reichssprache (2c) gewordene Großattische (2a) erfahren hat, erlauben es logischerweise nicht, in diachroner Perspektive von Stabilität zu sprechen. Hinsichtlich der sprachlichen Merkmalsausprägungen, die eine Koine charakterisieren, kann in rein statusbezogener Perspektive konsequenterweise keine Festlegung getroffen werden, denn wenn selbst Ortsdialekte ‘in Reinform’ zu Dachsprachen ausgebaut werden können, dann ist zumindest theoretisch denkbar, daß ein weiträumig gültiger, aber monotopisch basierter Standard (2d) einen maximalen Grad von topischer Exzentrik hinsichtlich des Kontinuums der primären Dialekte aufweist. Bezeichnenderweise wird die Eignung eines primären Dialekts als Standardvarietät in der Normdiskussion aber häufig gerade mit dessen sprachgeographischer ‘Mittelstellung’ und der daraus resultierenden ‘Kompromißfähigkeit’ seiner sprachlichen Charakteristika zu legitimieren versucht. 42 Die strukturellen Folgen von sprechsprachlichen Dialektmischungen, insbesondere des Typs (1a), werden seit Siegel (1985) und Trudgill [1986] ( 2 2006) mit den Begriffen des levelling und der simplification in der Forschung diskutiert. Sie bestehen zum einen in der dem sozialpsychologischen Akkommodationsprinzip 43 geschuldeten Abwahl von Merkmalen, die nur von einer Minderheit der am dialect mixing beteiligten Sprecher repräsentiert werden oder als sozial stigmatisierte Stereotype gelten, zum anderen im Aufbau von einfacheren, klarer unterschiedenen, transparenteren oder regelmäßigeren Formen, die zuvor nur in einer durch relativ wenige Sprecher repräsentierten oder in keiner der beteiligten Varietäten gegeben waren (sog. Interdialektformen) 44 , die aber in struktureller und kognitiver Hinsicht besonders ‘attraktive’ Muster im sprecherinduzierten Ausgleichsbzw. Restrukturierungsprozeß darstellen. 45 42 Andererseits kann natürlich auch das Produkt radikaler Ausgleichs- und Vereinfachungsprozesse sich derart von den in benachbarten Arealen weiter bestehenden primären Dialekten abheben, daß es zum ‘Exzentriker’ wird wie etwa das Kastilische innerhalb der Iberoromania. Vgl. dazu Koch/ Oesterreicher (2008, 2584). 43 Vgl. Giles (1980); Kerswill (2002); Auer/ Hinskens (2005). 44 Vgl. Tuten (2003, 36-39); Kerswill/ Trudgill (2005, 199); Heinemann (2009, 47, Anm. 17). 45 Levelling und simplification werden in der Literatur nicht klar voneinander abgegrenzt (vgl. z.B. Tuten 2003, 41-43 und 45-47; Kerswill/ Trudgill 2005, 197-199). Tuten (2003, 46f.) zieht in Erwägung, die lernergenerierten Vereinfachungen als Teil des Ausgleichsprozesses zu begreifen, da sie durch niedrigfrequente, teils widersprüchliche Input-Formen aus den contributing dialects hervorgerufen würden und einen mehrheitsfähigen, an ansonsten rekurrenten Strukturmustern orientierten Ausgleich dazu schafften, also letztlich wiederum zur Variantenreduktion beitrügen. - Neben der reinen Frequenz gilt als entscheidendes Kriterium für die Abwahl oder Übernahme einer Variante deren relative Salienz, wobei der Begriff in der Literatur unterschiedlich definiert wird und Salienz teils im positiven Sinne als Grund für die Übernahme 21 <?page no="34"?> Wichtig ist zudem der perzeptive Aspekt (vgl. Selig 2008, 74), daß intensive nähesprachliche Mischungsprozesse im Migrationskontext (1a), die an dauerhafte Sprecherkontake und entsprechend längerfristige sprachliche Akkommodationen gebunden sind, zur Aufgabe der an der Varietätenmischung beteiligten vernakulären Sprachformen führen und im Ergebnis nur noch aus linguistischer Expertensicht als sprachliche Hybride wahrgenommen werden. Die Sprecher selbst übernehmen die durch die sprachinternen Prozesse des levelling und der simplification gekennzeichneten immigrant koines in der Regel spätestens in der zweiten Generation als neues Vernakular, ohne sich dessen struktureller Besonderheit bewußt zu sein. Dagegen kommt es in Situationen des Typs (2a), die Dialektsprecher unterschiedlicher lokaler Provenienz nur gelegentlich und zu spezifischen Kommunikationsanlässen, etwa im Bereich des Handels, zusammenführen, zur Herausbildung einer gleichfalls durch Dialektausgleich und strukturelle Vereinfachung charakterisierten Umgangsvarietät, die allerdings von den Sprechern selbst als mehr oder weniger ‘fremde’ Sprachform wahrgenommen und nur außerhalb ihres engeren Herkunftsmilieus verwendet wird (vgl. dazu den Begriff der „Koinébildung“ bei Selig 2008, 76f.). Als nicht ganz einfach erweist sich der Versuch, solche regional koines (2a) konzeptionell zu verorten: zwar ist ihre Entstehung an medial-mündliche Face-to-face-Kontakte gebunden (vgl. Selig 2008, 74, 76), ihre supralokale Verwendung im Rahmen spezieller kommunikativer Anlässe (Handel, Verwaltung usw.), die eine gewisse Formalisierung der sprachlichen Interaktion vorgeben können, scheint mir aber für eine zumindest weniger nähesprachliche Charakterisierung zu sprechen als im Fall von dauerhaften Kontakten im Alltagsmilieu, wie sie für (1a) zu veranschlagen sind. Womöglich haben primär gesprochene, in supralokalen Kommunikationszusammenhängen verankerte regional koines wie das Großattische aufgrund ihrer weniger starken Affinität zur Nähesprachlichkeit auch bessere ‘Chancen’, in ihrer weiteren Entwicklung als überregionale Schriftstandards (2c) akzeptiert zu werden und ganz in den Distanzbereich vorzudringen. Jedenfalls scheint die relative geographische Entbundenheit, die eine regional koine von vornherein von der Ebene lokal begrenzter Kommunikationssituationen abhebt, eine eher günstige Voraussetzung für eine spätere Implementierung als Dachsprache zu sein (vgl. auch Tuten 2003, 85). Im Fall einer Variante, teils im negativen Sinne als Grund für die Abwahl einer Variante angeführt wird. Kerswill/ Williams (2002, 104-106) erachten strukturelle Faktoren wie phonetischen Kontrast oder semantische Transparenz als Voraussetzung für die (positive) Salienz eines Merkmals, kontingente außersprachliche Faktoren wie die soziodemographische Verteilung seien aber letztlich entscheidend für die Übernahme oder Abwahl einer Variante. Vgl. zur Diskussion auch Tuten (2003, 29-36); Hinskens/ Auer/ Kerswill (2005, 43-45); Heinemann (2009, 43-47). 22 <?page no="35"?> einer kleinräumigen, stärker nähesprachlich geprägten immigrant koine scheint eine derartige ‘Karriere’ schwieriger zu bewerkstelligen, ist sie doch an die Bedingung gebunden, daß die entsprechende sozial-geographische Entität, etwa eine neugegründete Stadt oder ein größerer zuvor unbesiedelter Raum, eine Vorrangstellung im Verschriftlichungsprozeß einnimmt und den Ausbau der aus dem Koineisierungsprozeß hervorgegangenen Mischvarietät auch auf überregionaler Ebene durchsetzen kann. Dieser tour d’horizon dürfte bereits vor Augen geführt haben, mit welch weitreichenden sprachexternen und sprachinternen Fragestellungen sich die nicht ganz leicht zu überblickende Koineisierungsforschung auseinanderzusetzen hat. Die Polysemie des Koine(isierungs)begriffs ist mithin nur symptomatisch für die Komplexität der zur Diskussion stehenden sprachlichen und sprachsoziologischen Prozesse. Ich kann hier nicht im Detail auf sämtliche Aspekte eingehen, die insbesondere die an sprechsprachlichen Kontakterscheinungen des Typs (1a) interessierte angelsächsische Forschung seit Siegel (1985) und Trudgill [1986] ( 2 2006) umtreiben und die sowohl in soziolinguistischer Hinsicht als auch mit Blick auf die sprachinternen Prozesse des Varietätenkontakts zu überaus interessanten, auch in historischer Perspektive fruchtbaren Diskussionen und Ergebnissen geführt haben (vgl. z.B. Tuten 2003; Lodge 2004). Dafür will ich im folgenden versuchen, die vorgeschlagenen Konzepte in einem eigenen, sprachhistorisch ausgerichteten Modell zu synthetisieren und, wie schon von Selig (2008, 77) angemahnt, unter gleichwertiger Berücksichtigung der Ebenen der Mündlichkeit und Schriftlichkeit eine Typologie von Kontaktszenarien im vormodernen Standardisierungsprozeß zu entwerfen. Dieses allgemeine Modell soll in Kap. 3 und 4 als begrifflicher Rahmen für die Auseinandersetzung mit der standardisierungsgeschichtlichen Problematik des französischen Mittelalters dienen. 2.2 Zwischen ‘Koineisierung’ und ‘Überdachung’ - eine Typologie von Kontaktszenarien im vormodernen Standardisierungsprozeß Auf der Grundlage der bisher vorgeschlagenen begrifflichen Differenzierungen (1a/ 2a/ 2c/ 2d) und unter Berücksichtigung der konzeptionellen und medialen Opposition von Mündlichkeit und Schriftlichkeit möchte ich in Anlehnung an Selig (2008, 76ff.) vier Kontaktszenarien unterscheiden, die von potentiellem Interesse für die frühe Standardisierungsgeschichte sind. Es handelt sich dabei natürlich um idealtypische Konstellationen, denen die verschiedenen historischen Fallbeispiele jeweils nur mehr oder weniger nahekommen. 23 <?page no="36"?> 2.2.1 Nähesprachliche Koineisierung (Koineisierung strictu sensu: Typ 1a) Mit dem Terminus der Koineisierung strictu sensu beziehe ich mich auf ungelenkte, nähesprachliche Kontaktprozesse, die typischerweise im Migrationskontext zwischen Sprechern wechselseitig verständlicher vernakulärer Sprachformen stattfinden. 46 Es ist dies der inzwischen klassische Koineisierungsbegriff, wie er durch die oben genannten Arbeiten von Siegel (1985) und Trudgill [1986] ( 2 2006) geprägt und seither vor allem in der angelsächsischen Linguistik intensiv verhandelt wurde. 47 Die soziolinguistischen Rahmenbedingungen dieser Extremform der Varietätenkonvergenz 48 sind zunächst durch einen weitgehenden Verlust der ursprünglichen gesellschaftlichen Netzwerkstrukturen und eine entsprechend hohe Instabilität und Entwicklungsdynamik in der sprachlich-sozialen Interaktion der in der neubesiedelten Umgebung sich formierenden Migrantengemeinschaft gekennzeichnet. Durch längerfristige wechselseitige Sprecherakkommodationen und systematische Reanalysen im Spracherwerb kommt es zur Herausbildung und Stabilisierung (Nativisierung) eines radikal ‘neuen’, durch Prozesse des levelling und der simplification gekennzeichneten Vernakulars, der sogenannten immigrant koine, sowie schließlich zur Aufgabe der Dialektvarietäten, die zuvor von den verschiedenen am Kontaktprozeß beteiligten Gruppen gesprochen wurden und die in die Varietätenmischung eingegangen sind. In historischer Perspektive konnte Tuten (2003) einen überzeugenden Ansatz zur Erklärung der strukturellen Besonderheit des Kastilischen ge- 46 Das Kriterium der wechselseitigen Verständlichkeit schließt neben Varietäten, die (ex post) derselben historischen Einzelsprache zugeordnet werden können, auch Varietäten sehr eng verwandter Sprachen wie etwa des Dänischen und des Norwegischen mit ein. Das Szenario einer Mischung genetisch nicht unmittelbar verwandter sprachlicher Varietäten, wie es etwa bei Tagliavini (1949) für fränkisch-galloromanische Sprachkontake in der Merowinger- und Karolingerzeit in Betracht gezogen wurde (vgl. Cardona 1990, 28 und oben, Anm. 26), sollte jedoch aus dem Koineisierungsbegriff ausgeschlossen bleiben. Vgl. zur Gegenüberstellung von Koineisierungs- und interlingualen Kontaktprozessen wie Pidginisierung und Kreolisierung Siegel (1985, 367-370; 2001, 181-184); Hinskens/ Auer/ Kerswill (2005, 13f. und 46). 47 Dabei werden üblicherweise zwei Typen von immigrant koines unterschieden, und zwar je nach Art des neubesiedelten Raums. Zum einen können solche Koinai in einem relativ weiten geographischen Raum entstehen, der vorher gänzlich unbesiedelt oder von einer indigenen, im Kolonisierungsprozeß assimilierten Bevölkerung bewohnt war (z.B. Neuseeland); zum anderen ereignen sich Koineisierungsprozesse in geographisch relativ eng begrenzten, städtischen Räumen, sogenannten new towns wie Milton Keynes (UK) oder Høyanger (Norwegen). Vgl. Kerswill/ Trudgill (2005, 196). 48 Vgl. Mattheier (1996); Hinskens/ Auer/ Kerswill (2005, 11-13); Kerswill/ Trudgill (2005, 196). 24 <?page no="37"?> ben, indem er die außergewöhnlichen soziohistorischen Rahmenbedingungen der repoblación, die wahrscheinlich zu einer Reihe von intensiven städtischen Mischungsprozessen führten, mit der Herausbildung der vom primären iberoromanischen Dialektkontinuum klar abgehobenen und durch extreme Vereinfachungsprozesse charakterisierten kastilischen Varietät in Zusammenhang brachte. In standardisierungsgeschichtlicher Sicht sind diese migrationsbedingten Koineisierungsprozesse (1a) allerdings nur aufgrund des historisch kontingenten Umstands von Bedeutung, daß - nach ersten, von Burgos ausgehenden Ausbauinitiativen - die Stadt Toledo unter Alfons dem Weisen (1221-1284) eine Vorrangstellung im Verschriftlichungsprozeß einnahm und daß die schließlich in Madrid verankerte kastilische Norm bis zum 16. Jahrhundert zur spanischen Reichssprache avancierte, die die übrigen iberoromanischen Idiome nach und nach überdachte und in den Bereich der Mündlichkeit abdrängte. 49 In der Germanistik hatten Frings (1936) und Schwarz (1936) die - inzwischen überholte - These vertreten 50 , migrationsbedingte Sprecherkontakte im neubesiedelten obersächsisch-schlesischen Raum hätten schon im 11. bis 13. Jahrhundert die sprechsprachliche Grundlage für die Herausbildung der ab dem 16. Jahrhundert durch die Luther-Bibel propagierten frühneuhochdeutschen Schriftsprache geschaffen (vgl. Besch 1967, 350-359; 2003, 2257-2259). Lodge (2004) schlägt einen ähnlichen Ansatz für die Geschichte des französischen Standards vor, dessen strukturelle Hybridität er auf ein durch Immigration aus den umliegenden Gegenden entstandenes Bevölkerungsgemisch und entsprechende Prozesse des nähesprachlichen Dialektausgleichs im mittelalterlichen Paris zurückführt. Selig (2008, 78f.) gibt jedoch zu bedenken, daß die Situation im mittelalterlichen Paris soziolinguistisch „deutlich anders zu beurteilen“ sei als etwa im Fall des Kastilischen, da sowohl die außersprachlichen Rahmenbedingungen als auch die sprachlichen Folgen des Kontakts im Zuge der Neubesiedlung ganzer Landstriche auf der Iberischen Halbinsel um einiges extremer gewesen sein dürften, als dies im Pariser Raum des 12. Jahrhunderts der Fall sein konnte. Zur Benennung dieser ‘schwächeren’ Variante des migrationsbedingten, 49 Zum Sonderfall des heute wieder als autonome Standardsprache etablierten Katalanischen vgl. Veny (2003); zur Geschichte des gallego-portugiesischen Raums vgl. Lorenzo-Vázquez (2003) und Wesch (2003). - Zur Koineisierung im Altkastilischen vgl. auch Penny (2000, 48-53) und Echenique Elizondo (2003). 50 Besch (2003, 2261) weist darauf hin, daß Frings in späteren Publikationen von seiner Extremposition abrückte und zu einer stärkeren Berücksichtigung schriftsprachlicher Kontaktprozesse in späteren Jahrhunderten überging (vgl. Frings/ Schmitt 1944, 77; Frings 1956, Bd. 3, 23f.). 25 <?page no="38"?> auf ein sozial-geographisches (z.B. urbanes) Zentrum gerichteten Varietätenkontakts schlägt Selig (2008, 76) den Terminus Dialektmischung vor. 51 Ich werde auf Lodges (2004) These einer Koineiseiung bzw. Dialektmischung im mittelalterlichen Paris und auf die Frage nach der Bedeutung sprechsprachlicher Kontaktprozesse für die Frühgeschichte des französischen (Proto-)Standards in Kap. 4.3 ausfühlich zu sprechen kommen. Die wesentlichen, bereits in Kap. 2.1 genannten Merkmale eines durch intensive Ausgleichs- und Restrukturierungsprozesse gekennzeichneten nähesprachlichen Koineisierungsszenarios im Migrationskontext (Typ 1a) seien hier noch einmal mit den Worten Tutens (2003, 257f.) zusammengefaßt: The prototypical social context of koineization is characterized by relatively free and unfettered interaction of speakers of mutually intelligible dialects (which by definition share most lexical and structural features), with rapid increase in variation accompanied by equally rapid decline in norm enforcement. As adult and especially child/ adolescent speaker-learners accommodate to one another and re-establish social networks, they develop new linguistic norms, which most often favor the features which have the highest frequency in the prekoine linguistic pool. In addition, speaker-learners sometimes favor features because of their relative salience. [...] Koines can generally be characterized by simplification and mixing/ leveling, but we need not expect all features of a koine to be directly inherited from existing contributing varieties, particularly those which can be shown to have represented simplification from the speaker-learners’ perspective, or those which are exaggerated and/ or selected in order to mark new identities. (Tuten 2003, 257f.) 2.2.2 Medial-mündliche, gemäßigt nähesprachliche Koinebildung auf supralokaler Ebene (Typ 2a) Mit dem Terminus der medial-mündlichen, gemäßigt nähesprachlichen Koinebildung beziehe ich mich auf Kontaktprozesse, die zur Herausbildung sogenannter regional koines (Typ 2a) führen, die also nicht, wie die Koineisierung strictu sensu (1a), auf einen sozial-geographischen Raum beschränkt 51 Im Unterschied zu Selig (2008) führe ich die Dialektmischung nicht als eigenes Kontaktszenario, sondern behandle sie als graduelle Variante der Koineisierung strictu sensu. - Zu einer besonders spektakulären Form des stadtsprachlichen Varietätenkontakts kam es bekanntlich während der Renaissance im Rom (vgl. Ernst 1970). Aufgrund des großen demographischen Übergewichts der nach dem sacco di Roma (1527) zugezogenen Toskaner und aufgrund des hohen sozialen Prestiges des Toskanischen geht die Forschung hier aber nicht von einer Varietätenmischung durch wechselseitige Annäherung von Dialekten aus, sondern von einem einseitigen Prozeß der ‘Toskanisierung’ und ‘Demeridionalisierung’ des romanesco di prima fase. Vgl. dazu auch Mattheiers (1996) Unterscheidung der Begriffe Konvergenz und Advergenz. Vgl. meine Anm. 74. 26 <?page no="39"?> sind, der das unmittelbare Lebensmilieu einer ständig interagierenden, sich im Kolonisierungskontext erst neu formierenden Sprechergemeinschaft ist, sondern die sich auf einer vom sprachlichen Alltag mehr oder weniger abgehobenen, supralokalen Ebene abspielen. Da diese Form der Koinegenese im historischen Kontext an spezifische Situationen gebunden ist, die Dialektsprecher unterschiedlicher geographischer Herkunft nur gelegentlich und zu bestimmten kommunikativen Zwecken, etwa im Bereich des Handels, zusammenführen, kann sie als tendenziell weniger nähesprachlich qualifiziert werden als die dauerhaften, migrationsbedingten Kontaktprozesse des Typs (1a). 52 Gleichwohl kann die Herausbildung einer supralokalen Koine (2a) auf einer in einem städtischen Zentrum entstandenen Dialektmischung (1a) basieren, wobei dann nicht von einer genuin supralokalen Koinebildung im prozessualen Sinn zu sprechen wäre, sondern, resultativ gedacht, vom Statuswechsel einer lokal entstandenen Koine, die sekundär zur Bezugsvarietät für supralokale Sprecherkontakte wird (s.u.). Obschon mit dem Großattischen ein klassisches Beispiel für eine überregionale Koine des Typs (2a) gegeben ist, weist die Forschung zur Herausbildung und kommunikativen Funktionalität solcher Umgangsvarietäten auch in gegenwartssprachlicher Sicht große Lücken auf. Schon Siegel (1985, 363f.; auch 2001, 175f.) unterschied explizit zwischen regional und immigrant koines: It is necessary to distinguish between two types of koines, depending on where they are spoken. The first is the regional koine, which usually results from the contact between regional dialects of what is considered a single language. This type of koine remains in the region where the contributing dialects are spoken, although it may be used outside the region as a trade language with other linguistic groups. The original Greek koine and koineized colloquial Arabic are examples of regional koines. The second type of koine is the immigrant koine. (Siegel 1985, 363f.) Die vor allem durch Trudgill [1986] ( 2 2006) angeregte soziolinguistische Forschung konzentrierte sich aber stark auf die in situ beobachtbaren Kontaktprozesse letzteren Typs. Tuten (2003, 84) bemerkt, daß im Grunde nie 52 Selig (2008, 76) sieht den Terminus „Koinébildung [...] für Situationen vor, in denen in der spontanen Alltagskommunikation durch weitgehend ungerichtete Prozesse des Dialektausgleichs und der Vereinfachung eine überregionale Varietät zusätzlich zu den weiter bestehenden vernakulären Sprachformen entsteht“, verankert das Resultat dieser genuin sprechsprachlichen Varietätenmischung jedoch im Distanzbereich. Zu relativieren wäre meines Erachtens die konzeptionelle Situierung „in der spontanen Alltagskommunikation“, denn die für die Etablierung einer regional koine verantwortlichen supralokalen, domänenspezifischen Sprecherkontakte können nicht gleichermaßen ‘spontan’ und ‘alltäglich’ - und mithin nicht gleichermaßen nähesprachlich - sein, wie dies etwa bei dauerhaften Kontakten im Migrationskontext der Fall ist. 27 <?page no="40"?> geklärt wurde, was unter dem Label regional koine eigentlich zu verstehen ist, „since ‘regional koine’ has received no technical definiton“. 53 Es handelt sich also um einen unscharfen Begriff, dessen Anwendung entsprechende Probleme mit sich bringt. So sind auch die bei Siegel (1985) genannten Beispiele der „original Greek koine“ und des „koineized colloquial Arabic“ viel zu unterschiedlich, um - zumindest extensional - die Konzeptualisierung einer konkreten, stabilen Sprachvarietät mit klar umrissener kommunikativer Funktionalität zu erlauben. Jedenfalls scheint es sich bei sogenannten regional koines um Varietäten mit recht spezifischem pragmatischem Profil zu handeln, deren funktionaler Status im kommunikativen Haushalt einer Sprechergemeinschaft von Fall zu Fall erst genauer bestimmt werden muß. In der neueren Dialektforschung wird die Herausbildung supralokaler Umgangsidiome oft mit dem Phänomen des regionalen Dialektausgleichs in Zusammenhang gebracht, wobei es in beiden Fällen zu Prozessen des levelling kommt, eine regional koine aber definitionsgemäß zusätzlich zu den konservativen Ortsdialekten besteht (vgl. Selig 2008, 76), während der Dialektausgleich zu deren substantieller Homogeneisierung und längerfristig zum Dialektschwund führt (vgl. Berruto 1997, 226f.; Kerswill 2002, 671f.; Hinskens/ Auer/ Kerswill 2005, 12; Kerswill/ Trudgill 2005, 201f.). Damit ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß der Dialektausgleich eine weiterentwickelte Form des mit der regionalen Koinebildung eingeleiteten supralokalen Konvergenzprozesses darstellt. 54 Sobrero (1996, 107f.) zieht für die seit dem 20. Jahrhundert verstärkt zu beobachtende Herausbildung italienischer koinè dialettali 55 (auch dialetti regionali), die von Pellegrini (²1975, 24) als „vernacol[i] annacquat[i]“ bezeichnet wurden 56 , drei unterschiedliche Szenarien in Betracht. Demnach könne 53 In der Tat fällt auf, daß in einschlägigen Beiträgen in der Regel kurz ‘andefiniert’ wird, was eine regional koine von einer immigrant koine grundsätzlich unterscheidet, dann aber der erste Typ sofort beiseitegestellt und zur eingehenden Diskussion des zweiten Typs übergegangen wird. Vgl. etwa Siegel (2001); Kerswill (2002); Kerswill/ Trudgill (2005). 54 Der Gebrauch von konservativen Ortsdialekten gegenüber ‘verwässerten’ Koineformen in einem gegebenen Areal hängt natürlich von den üblichen soziolinguistischen Parametern wie Alter, Geschlecht, Bildungsgrad usw. ab. Es ist also nicht unbedingt davon auszugehen, daß besonders konservative, alte usw. Sprecher überhaupt Koineformen verwenden oder daß besonders progressive, junge usw. Sprecher überhaupt noch die Altdialekte beherrschen. 55 Bei Pellegrini (²1975) steht die griechische Pluralform koinái (bei Sobrero 1996 koinaí mit falscher Akzentsetzung). Ich halte mich hier an den modernen Usus und bilde den Plural nach italienischem Muster (-ø). 56 Im Zusammenhang lautet die Textstelle bei Pellegrini (²1975, 24): „Nelle regioni italiane settentrionali, e altrettanto si può osservare per quelle meridionali, accanto al dialetto schietto che sopravvive ormai soltanto nelle campagne isolate o nelle valli di 28 <?page no="41"?> für die Entstehung einer regionalen Dialektkoine entweder die Ausstrahlung des (koineisierten) ‘Bourgeois-Dialekts’ eines urbanen Zentrums wie z.B. Mailands verantwortlich sein (vgl. auch Pellegrini ²1975, 12-14 und 32f.); oder der Druck der Standardsprache führe Dialektophone in der Provinz zur Vermeidung diatopisch stark markierter Merkmale, wodurch gewissermaßen polygenetisch ein lokal nicht mehr unterschiedener, nivellierter Regionaldialekt entstehe; oder aber es komme zur Ausbreitung von per se gemischten Übergangszonendialekten. Petrini (1988, 34 und 42) geht davon aus, daß die Stabilisierung einer ansonsten hoher idiolektaler Variabilität unterworfenen regional koine nur durch Nativisierung erfolgen könne, und gibt zu bedenken, daß die italienischen Regionaldialekte in der Regel als L1 im urbanen Zentrum einer Region verankert seien, von den Sprechern vom Land dagegen nur sporadisch als Umgangsidiom (L2) gebraucht würden (vgl. auch Tuten 2003, 19f.; Berruto 2005, 84). Es ließe sich somit argumentieren, daß die Herausbildung moderner regional koines normalerweise auf einem Zusammenspiel von lokal begrenzten, urbanen Koineisierungsprozessen des Typs (1a) bzw. einer gemäßigten Form, wie sie von Selig (2008, 76) unter dem Begriff der Dialektmischung verstanden wird, und einer sekundären Ausstrahlung der städtischen Koine in die Provinz beruht, was zunächst zur Etablierung eines in der Stadt bereits nativisierten regionalen Umgangsidioms des Typs (2a) und längerfristig zum regionalen Dialektausgleich und schließlich zum Dialektschwund führt. Auch Kerswill/ Trudgill (2005, 202) berichten, daß koineisierte Stadtdialekte oftmals den Phänotyp nivellierter Regionaldialekte vorwegnähmen („new dialects [des Typs (1a); K.G.] are in advance of the levelled regional dialects, anticipating their shape“), und halten ein „spreading from large urban centres“ für plausibel. Gleichermaßen argumentiert Tuten (2003, 84) für eine „interaction of both processes“, nämlich einer urbanen Dialektmischung und eines regionalen Ausgleichs, wobei ein wichtiger Unterschied zum radikalen Koineisierungsszenario des Typs (1a) in der Allmählichkeit des kontinuierlichen Zuzugs vom näheren Umland und einer entsprechend ‘sanfteren’, dauerhaften Form des Varietätenkontakts in der Stadt liege. So ließe sich für ein drei-, eventuell vierstufiges Modell plädieren: Nach und nach wird dialektaler Input aus dem Umland in die Stadt gebracht, dort kommt es zur sukzessiven Koineisierung bzw. Dialektmischung, und das prestigebehaftete Produkt des urbanen Kontaktprozesmontagna, si parla perlopiù un vernacolo annacquato che tende a ‘civilizzarsi’ accostandosi e accogliendo i caratteri linguistici fondamentali (specie nella morfologia) dei grossi centri cittadini. Si sono in tal guisa determinate le koinái torinese, milanese, trentina, veneta (di base veneziana) ecc.“. In der Originalfassung des Beitrags [1960] kommt der Passus so allerdings nicht vor; bei Sobrero (1996, 106) wird er fälschlicherweise unter Verweis auf die 1960er-Version zitiert. 29 <?page no="42"?> ses wird schließlich als regional koine wieder in die Provinz getragen, wo es längerfristig zu einer - womöglich durch den Druck des Standards noch beschleunigten (vgl. Sobreros (1996) zweites Szenario; s.o.) - Auflösung der Ortsdialekte kommen kann. 57 Im übrigen sei aber nochmals auf Tutens (2003, 84) berechtigten Einwand verwiesen, daß es sich bei den sog. regional koines um ein bis heute nicht klar definiertes und damit um kein operationales Konzept handelt, das die eindeutige Identifizierung und funktionale Bestimmung einer konkreten Sprachform erlauben würde. So relativierte auch schon Pellegrini (²1975) die seinem Gebrauch des Koinebegriffs inhärente Hypostasierung komplexer, dynamischer Kontakt- und Ausgleichsprozesse zu einer regionalen ‘Varietät’, die aber in Wirklichkeit nur ein kaum eingrenzbares, heterogenes abstractum ist: E’ solo per comodità e per rispetto della tradizione che ricorriamo al termine koinè per indicare il fenomeno linguistico di cui discorriamo; la parlata regionale con caratteri comuni uniformi è ovviamente una astrazione poiché essa è nella realtà assai variabile ed è costituita sostanzialmente da un dialetto depurato dai tratti locali più vistosi e che accoglie, di norma, fonemi e morfemi dei grandi centri regionali, con la sostituzione di vocaboli dialettali peregrini e marginali mediante quelli usati nei grandi centri e con quelli corrispondenti italiani, spesso in veste fonetica vernacolare. (Pellegrini ²1975, 12, Anm. 2) La koinè dialettale è un tentativo di superamento della multiformità idiomatica, ma la sua unità è assolutamente teorica. (Pellegrini ²1975, 32) 57 Sicherlich kann dieses Modell nicht pauschal für alle Gegenden geltend gemacht werden, in denen die Herausbildung einer regional koine oder regionaler Dialektausgleich zu beobachten sind. So berichtet Sobrero (1996, 108f.) etwa von einer südwestpiemontesischen und einer ostlombardischen Regionalkoine, die gerade nicht mit der städtisch basierten Koine der Gegend um Turin bzw. Mailand zusammenfielen, was allerdings aufgrund der jeweils gegebenen Entfernung zur Regionalhauptstadt nicht weiter verwunderlich ist. Ein klassisches Beispiel für eine weit über die Stadtgrenzen hinaus gesprochene koinè (a base) urbana ist das Neapolitanische, dessen heutige Verbreitung als Regionaldialekt wohl noch auf die territorialen Grenzen des Königreichs Neapel zurückgeht (vgl. Sobrero 1996, 109). Ein gleichermaßen weiträumiges, wenn auch historisch jüngeres Phänomen liegt im Fall des sogenannten Umgangsbairisch (scherzhaft auch: Fernsehbairisch) vor, das einerseits klar auf dem Münchner Stadtdialekt basiert, das aber auch außerhalb der Metropole - und über den mittelbairischen Dialektraum hinaus - als regionales Umgangsidiom des Typs (2a) gesprochen wird und zudem für weiträumigen Dialektausgleich sorgt (vgl. Reiffenstein 2003, 2968; dort auch ein interessanter Hinweis auf Regensburg, das vermutlich schon seit längerem eine Art mittelbairische Sprachinsel im nordbairischen Dialektgebiet darstellt; auch am schwäbischen Lechrain geben immer mehr Sprecher ihre altdialektalen Formen zugunsten der mittelbairischen Prestigevarianten auf). 30 <?page no="43"?> Nun gelten gewiß andere Voraussetzungen, wenn man historisch weit zurückliegende Fallbeispiele wie etwa die großattische Handelskoine zur Untersuchung heranzieht; denn erst seit dem 20. Jahrhundert zu beobachtende Phänomene wie die weiträumige Verbreitung der italienischen koinè urbane bis hin zum regionalen Dialektausgleich können nicht ohne den soziokulturellen Hintergrund gesteigerter Sprechermobilität, flächendeckender Alphabetisierung und moderner medialer Diffusionskanäle gedacht werden (vgl. Sobrero 1996, 105; Kerswill/ Trudgill 2005, 202). Läßt man die Entwicklung einer regional koine zu einer von wachsenden Sprechergruppen in zahlreichen Domänen verwendeten Alltagsvarietät außer Betracht und beschränkt deren Gebrauch auf Situationen, die schon im historischen Kontext Raum für supralokale Kommunikation bieten konnten, so kommt man recht schnell auf die oben genannten Spezialbereiche des Handels oder der Verwaltung zurück. Historische Beispiele für regional koines sind mithin nur als Spezialsprachen einer supralokal kommunizierenden, womöglich elitären Sprechergruppe vorstellbar, die insofern nicht einmal eine feste Sprechergemeinschaft bildet, als manche Individuen nur zeitweise daran teilhaben und ansonsten nicht supralokal, sondern innerhalb des engeren Herkunftsmilieus kommunizieren dürften wie andere Sprecher auch. Wahrscheinlich hatten historische regional koines wie das Großattische nur L2- Status und wurden im sprachlichen Alltag durch eine dem unmittelbaren Nähebereich angemessene ortsdialektale L1 ersetzt. Man könnte Ansätze zu einer Diglossiesituation im Sinne Fergusons (1959) vermuten, also eine funktionale Unterscheidung von (tendenziell) distanzsprachlicher Regionalkoine und nähesprachlichen Vernakularen (wenngleich es sich bei einer regional koine freilich (noch) nicht um einen voll funktionsfähigen Schriftstandard handelt, der, wie etwa das Klassische Latein, in der Schule erlernt werden könnte). 58 Entsprechend hinfällig ist aufgrund der domänenspezifischen Trennung von high und low variety das Szenario einer potentiellen Weiterentwicklung der regional koine hin zum regionalen Dialektausgleich. Außerdem wäre grundsätzlich zu überlegen, inwiefern im jeweils gegebenen historischen Kontext nicht doch eher der Schrift der Primat über die gesprochene Sprache einzuräumen wäre, zumal dem graphischen Medium gerade im Handels- und Verwaltungskontext eine wichtige, normative Rolle zukommt und sprechsprachliche Supralokalität in vormodernen Gesell- 58 Koch (2008) zeigt am Beispiel des spätantiken und frühmittelalterlichen Lateins, daß Fergusons (1959) Diglossiemodell zu statisch ist, um es tel quel auf dynamische historische Entwicklungsphasen eines (sich erst konstituierenden bzw. eines sich auflösenden) einzelsprachlichen Varietätenraums anzuwenden, und schlägt eine sinnvolle Parametrisierung der klassischen Merkmale des Diglossiebegriffs (natürlicher vs. institutioneller Spracherwerb, hoher Standardisierungsgrad der H-Varietät usw.) nach Lüdi (1990) vor. 31 <?page no="44"?> schaften prinzipiell nicht ohne weiteres vorstellbar ist (vgl. Besch 2003, 2253f.). Auch im 20. Jahrhundert ist entdialektalisierte Umgangssprache ja wesentlich auf den Einfluß schriftsprachlicher Normen zurückzuführen (vgl. Sobreros (1996) zweites Szenario; s.o.). Die oben vorgeschlagene Definition einer historischen regional koine als primär gesprochener Ausgleichsvarietät (bzw. der Koinebildung des Typs (2a) als medial-mündlichen Vorgangs; vgl. auch Selig 2008, 76) ist somit nur unter Vorbehalt möglich, wenngleich die funktionale Einordnung solcher Handels- oder Verwaltungssprachen klarer erscheint als im Fall der oben diskutierten, auch im Alltag gesprochenen Regionaldialekte der Gegenwart. Ich halte hier dennoch am prototypischen Begriffsmerkmal der medialen Mündlichkeit/ gemäßigten Nähesprachlichkeit fest, da in allen mir bekannten Arbeiten zur großattischen Handelskoine von sprechsprachlicher Überregionalität ohne weiteres ausgegangen wird. Daß diese in ähnlichen historischen Fallbeispielen gleichermaßen gegeben oder gar primär gegenüber einer schriftlichen Fixierung gewesen sein muß, bleibt aber selbstverständlich offen. Mithin erweist sich die Abgrenzung von medial-mündlichen Koinebildungen des Typs (2a) gegenüber genuin schriftsprachlichen Koinebildungen (s.u., Szenario 2a’) im sprachhistorischen Rückblick als besonders schwierig und kann - wenn überhaupt - nur bei sehr genauer Kenntnis der jeweiligen soziokulturellen Umstände vollzogen werden. Auch in historischer Sicht plausibel ist allerdings die am Beispiel der modernen koinè dialettali in Erwägung gezogene Rückbindung an ein urbanes Zentrum, das als Ort der Begegnung und damit der supralokalen Kommunikation (im graphischen wie im phonischen Medium) fungiert - und das möglicherweise selbst schon die (womöglich nativisierte) sprachliche Grundlage für eine durch Ausgleichs- und Vereinfachungstendenzen gekennzeichnete Regionalkoine liefert. So wird in allen einschlägigen Darstellungen die Bedeutung eines städtischen (Handels-)Zentrums für die Entstehung eines regionalen Umgangsidioms herausgestellt. Wie das Großattische, das wahrscheinlich im Hafen von Piräus durch kommerziellen Varietätenkontakt auf attischer Dialektgrundlage entstanden ist, geht wohl auch die mittelniederdeutsche Sprache der Hanse des 13. bis 16. Jahrhunderts auf eine im Seehandel verwendete Ausgleichsvarietät Lübecker Prägung zurück und hat sich vom domänenspezifischen Instrument der pragmatischen Schriftlichkeit zur multifunktionalen Schriftsprache entwickelt (vgl. Bischoff 1983, 110-113). Und wie im Fall des Großattischen, das vielleicht auf einer zuzugsbedingten, durch interdialektalen Face-to-face-Kontakt im Athener Seehafen entstandenen nähesprachlichen Dialektmischung (1a) ba- 32 <?page no="45"?> siert oder zumindest dadurch gestützt worden sein könnte 59 , gibt es auch im Fall der Hansesprache Indizien, die auf eine frühe migrationsbedingte Koineisierung (1a) in Lübeck schließen lassen, deren hybrides gesprochenes Produkt in den städtischen Kanzleien verschriftlicht und zugleich im gesamten hansischen Wirtschaftsraum als geschriebene und möglicherweise auch gesprochene Distanzsprache (2a/ 2c) verbreitet worden sein könnte. 60 All die genannten Beispiele zeigen, daß die Prozesse der regionalen Koinebildung (2a) und der urbanen Koineisierung strictu sensu bzw. ihrer schwächeren Variante der Dialektmischung (1a) weder in der sprachhistorischen Retrospektive (Athen, Lübeck, Neapel) noch in stärker gegenwartssprachlicher Sicht (Mailand, München) klar gegeneinander abzugrenzen sind. Jedenfalls scheint die Entstehung von regional koines normalerweise an ein ökonomisch führendes urbanes Zentrum gebunden zu sein, und auch wenn nicht, wie im Fall Lübecks, von massiven Zuwanderungsbewegungen aus weit entfernten Gebieten, und damit nicht von radikalen Koineisierungsprozessen im engeren Sinne auszugehen ist, so liegt es doch auf der Hand, daß ein städtisches Kultur- und Handelszentrum normalerweise nicht nur supralokaler Bezugspunkt für sporadische, domänenspezifische Sprecherkontakte bzw. für institutionalisierte Fachkommunikation (im phonischen oder graphischen Medium) ist, sondern immer auch naheliegendes Ziel für dauerhafte Niederlassungen aus dem Umland und entsprechenden dialektalen Input. Dies steht auch im Fall von München, Mailand, Neapel oder Athen außer Frage. Auf ein sozial-geographisches Zentrum 59 Die These einer nähesprachlichen, diastratisch eher niedrig verankerten Koinegenese ist im Fall des Großattischen freilich umstritten. Vor allem Bubenik (1989, 181) spricht sich dezidiert gegen diese Annahme aus: „[...] the fundamental basis of Koine was not Vulgar Attic, but Great Attic“ (d.h. eine formalisierte, urban-bürgerliche Handelssprache mit offiziellem Charakter). Vgl. auch Petersmann (1995) und Anm. 24. 60 Die im 12. Jahrhundert gegründete Stadt Lübeck, zweifelsohne das Zentrum der Verschriftlichung der Hansesprache, war im Mittelalter vor allem von Westfalen und anderen Gebieten des niederdeutschen Altlands aus besiedelt worden. Entsprechend geht Peters (1973, 76) zunächst von der Herausbildung einer „ganz neue[n] städtische[n] Umgangssprache“ in der spätmittelalterlichen Stadt, also von einer Koineisierung strictu sensu (1a) aus, nimmt aber an, daß „schon in der gleichen Zeit“ im hansischen Wirtschaftsraum „eine über den Mundarten liegende gesprochene Verkehrssprache“, also eine Art regional koine (2a), entstand, die erst „die Voraussetzung des deutschsprachigen hansischen Schriftwesens“ war und zu einer weiträumigen „Vereinheitlichung des Schreibgebrauchs“ nach Lübecker Vorbild führte (vgl. auch Peters 2000). Besch (2003, 2253f.) spricht sich gegen die Annahme „sprechsprachliche[r] Überregionalität“ der Sprache der Hanse aus und scheint somit eher von einer unmittelbaren Verschriftlichung des Lübischen, ohne sprechsprachliche Zwischenstufe des Typs (2a), auszugehen. Vgl. zur Diskussion auch Sanders (1982, 126-132); Koch (2010, 190). 33 <?page no="46"?> gerichtete Koinebildungen des Typs (2a) dürften daher in der Regel auch gestützt gewesen sein durch dauerhafte Kontaktprozesse vor Ort, was übrigens nicht dem gemäßigt-nähesprachlichen Charakter widerspricht, den ich oben für das pragmatische Profil supralokaler Koinebildungen postuliert habe. Denn selbst wenn, etwa in Lübeck, bereits eine gesprochene städtische Koine vorhanden oder gerade im Entstehungsprozeß gewesen sein sollte, so war die Sprachform, die tatsächlich als Grundlage für das entsprechende überregionale Idiom diente, sicherlich keine diastratisch niedrig markierte Varietät des ‘gemeinen’ Volks. Die Domänenspezifik einer Handelssprache (extensiver Ausbau! ) impliziert notwendig deren diastratisch-diaphasische ‘Aufwertung’ in Richtung kommunikativer Distanz, was einer ansatzweisen Verschriftlichung (im konzeptionellen Sinn) gleichkommt (intensiver Ausbau). 61 Es ist daher - wenn nicht überhaupt eine geschriebene Amtsvarietät als Basis angenommen werden muß - sicherlich nicht von einer ‘vulgären’, sondern von einer ‘urban-bourgeoisen’ Trägerschaft auszugehen (vgl. Bubenik 1989, 181, zitiert in Anm. 24; Sobrero 1996, 108). Selbst primär gesprochene historische regional koines dürften also bereits vom Pol der konzeptionellen Mündlichkeit abgerückt sein und eine gewisse funktionale Disposition zur weiteren Verschriftlichung aufgewiesen haben. Die keinesfalls pauschal zu beantwortende ‘Ursprungsfrage’ - gesprochen oder geschrieben? urban oder supralokal? - legt es nahe, bei der Herausbildung historischer regional koines von einem gemäßigt nähesprachlichen Konvergenzprozeß im supralokalen, domänenspezifischen Kommunikationszusammenhang, allerdings mit sozial-geographischer Rückbindung an die lokal verankerte, möglicherweise schon graphisch fixierte Ausdrucksnorm einer bürgerlich-städtischen Kaufmanns- oder Beamtenschicht auszugehen. Zum Verhältnis der Koinetypen (1a), (2a) und (2c) ist bislang festzuhalten, daß Typ (2a), wie möglicherweise das Großattische, eine Weiterentwicklung von städtischen Dialektmischungsvorgängen des Typs (1a) sein kann („spreading from large urban centres“; Kerswill/ Trudgill 2005, 202) oder zumindest unter dem Einfluß einer dominanten ‘urbanen’ Ausdrucksnorm gedacht werden muß. (2c), also ein supralokal gültiger, strukturell 61 Vgl. dazu die prägnante Feststellung von Muljačić (1990, 186): „[...] un ‘dialetto’ intero non viene mai assunto a base di una futura LE [lingua per elaborazione; K.G.] ma soltanto un suo registro (per lo più il registro alto); [...] una LE il cui uso si estende su sempre nuovi tipi di testi e su sempre più numerosi parlanti [...] non può non cambiarsi durante questi processi.“ - Die einfachen Anführungszeichen stehen im Zitat zur Distanzierung vom nicht-relationalen Gebrauch des Dialektbegriffs. Ich beziehe den Passus zwar nicht auf einen primären Dialekt, sondern auf eine hybride Sprachform; dies macht aber mit Blick auf die ausbaubedingte konzeptionelle Transformation einer Sprachform keinen Unterschied. 34 <?page no="47"?> hybrider Schriftstandard, ist wiederum eine mögliche, ja wahrscheinliche Weiterentwicklung des gemäßigt nähesprachlichen, tendenziell schon distanzsprachlichen Typs (2a); doch kann auch (1a), wie etwa das Kastilische (nach Tuten 2003), mehr oder weniger direkt zum Typ (2c) werden. Im Fall von Lübeck etwa ist nicht entscheidbar, ob das Produkt einer städtischen Koineisierung strictu sensu (1a) direkt zum supralokal gültigen Protostandard (2c) verschriftlicht wurde oder ob zunächst mit einem gemäßigt-nähesprachlichen Zwischenstadium des Typs (2a), also mit (medial-)sprechsprachlicher Überregionalität auf der Basis von (1a) zu rechnen ist. 2.2.3 Schriftsprachliche Koinebildung (Typ 2a’) Unter dem Kürzel (2a’) führe ich einen Typ von Koinebildung, der sich von (2a) dadurch unterscheidet, daß er konzeptionell schon sehr nah am Pol der kommunikativen Distanz angesiedelt und medial ausschließlich an die Schrift gebunden ist, also von vornherein im graphischen Medium stattfindet. 62 Da eine solche schriftsprachliche Koinebildung letztlich nicht ohne den Aspekt der ansatzweisen Überdachung vorstellbar ist - es sei denn, es ginge um die Schaffung einer Art privaten Kunstsprache, die keinerlei Anspruch auf distanzsprachliche Funktionalität im kommunikativen Haushalt einer realen Sprechergemeinschaft erhöbe -, führt der als (2a’) bezeichnete Prozeß im Ergebnis zu dem unter (2c) geführten Typ des strukturell hybriden Schriftstandards. Da aber mit (2c), wie oben gezeigt, auch ein sekundäres Stadium der unter (1a) oder (2a) geführten Kontaktprozesse gemeint sein kann und um die genuin schriftsprachliche Koinebildung gewissermaßen als mediales Gegenstück zur Herausbildung gesprochener regional koines (2a) zu sehen (in den oben besprochenen Fällen des Großattischen und der Hansesprache ist wie gesagt unklar, inwiefern die beiden Entwicklungen überhaupt gegeneinander abgegrenzt werden können), behalte ich die Bezeichnung (2a’) im folgenden bei. Außerdem wird dadurch eine Skalierung ermöglicht, die beginnende Schriftsprachenbildungen (2a’) - Muljačić (1990, 186) spricht hier von „tipi incipienti“ - von voll etablierten, weiter ausgebauten Schriftstandards (2c) absetzt. 63 Mit (2a’) ist also noch nicht 62 Daß allerdings graphisch fixierte Sprachformen gerade in der Frühphase der Verschrift(lich)ung einer volkssprachlichen Varietät noch stark nähesprachliche Züge aufweisen können, zeigt etwa Koch (1993). Damit von einer schriftsprachlichen Koine (im konzeptionellen Sinn) die Rede sein kann, muß die Erschließung des Distanzbereichs aber bereits weitgehend vollzogen sein. 63 Muljačić (1990, 186) setzt seinen rein funktionalen Koinebegriff überhaupt mit den „tipi incipienti“ gleich: „Le koinè sarebbero delle lingue elaborate diventate comuni da poco, specie se premoderne, o in procinto di diventare comuni, dunque un tipo speciale di LE [lingue per elaborazione; K.G.] incipienti per quello che riguarda il loro funzionamento e il loro grado di elaboratezza. [...] Riassumendo possiamo dire che il 35 <?page no="48"?> das ‘Endstadium’ einer die einzelsprachliche Architektur komplett überdachenden Standardvarietät gemeint, sondern nur eine teilausgebaute Vorstufe (ein ‘Protostandard’) mit möglicher Weiterentwicklung zu (2c). 64 Historische Beispiele für (2a’) sind das ab dem 16. Jahrhundert durch die Lutherbibel verbreitete Hochdeutsche oder die als koinè padana, koinè alto-italiana oder koinè lombardo-veneta bezeichneten norditalienischen Schreibtraditionen des 13. bis 15. Jahrhunderts. In beiden Fällen handelt es sich um gemischte Varietäten, die keiner monotopischen Basis zugeordnet werden können und dabei genuin schriftsprachliche Kreationen, also nicht erst, wie etwa das Kastilische (nach Tuten 2003) oder die hellenistische Koine, den ‘Umweg’ über die sprechsprachlichen Stadien (1a) bzw. (2a) gegangen sind. 65 So hat sich das Hochdeutsche nach neuerer Forschungsmeinung termine LE è un termine sopraordinato che comprende dei tipi incipienti i quali, specie se premoderni, vengono chiamati koinè, dei tipi di elaboratezza media che vengono chiamati anche lingue standard prenazionali, e dei tipi di elaboratezza grande o massima che funzionano spesso in tutti i tipi di testi e che vengono chiamati lingue standard nazionali [...].“ 64 Entsprechend wäre natürlich auch für (1a)- oder (2a)-basierte, genuin sprechsprachliche Mischvarietäten, die in die konzeptionelle und mediale Schriftlichkeit vordringen, ein der maximalen Verschriftlichung/ Standardisierung (2c) vorgelagertes Teilausbaustadium anzusetzen, das oberflächlich allerdings nicht unbedingt von genuin schriftsprachlichen Varietätenmischungen des Typs (2a’) unterscheidbar ist - es sei denn, diese sind stark latinisierend oder anderweitig artifizieller Natur wie etwa die sog. koinè padana oder die Sprache der sizilianischen Lyrik (s.u.). 65 Selig (2008, 77f. und 82) betont völlig zu Recht, daß derartige Kontaktszenarien in der neueren angelsächsischen Koineisierungsforschung in der Regel außer Acht gelassen werden (vgl. z.B. Lodge 2004). Ich möchte genuin schriftsprachlichen Varietätenmischungen mit meiner Typologie von Kontaktszenarien sogar noch mehr zu ihrem Recht verhelfen, als dies meines Erachtens in Seligs (2008) Modell getan wird, indem ich zwischen der Herausbildung hybrider Schriftstandards (2a’) auf der einen und (nahezu) monotopischer Schriftstandards (2d) auf der anderen Seite unterscheide. Bei Selig werden beide Typen unter das - entsprechend um plurizentrische Standardisierungsszenarien erweiterte - Konzept der Überdachung gefaßt, was zwar vom jeweiligen Ergebnis her gesehen stimmig ist, aber nicht der prinzipiellen Andersartigkeit der Geschichte etwa des italienischen Standards und des hochdeutschen Standards gerecht wird. Daher beinhaltet mein Modell zwei medial-schriftliche und zwei medial-mündliche Koineisierungstypen, Seligs Modell dagegen nur einen schriftlichen Typ (die Überdachung) und drei mündliche, wobei Seligs „Koinébildung“ meiner medial-mündlichen, gemäßigt nähesprachlichen Koinebildung (2a) entspricht und die graduell unterschiedenen Formen der Koineisierung strictu sensu und der Dialektmischung bei mir unter (1a) zusammengefaßt sind. Widersprüchlich erscheint mir, daß Selig (2008, 77) ihr erweitertes Überdachungskonzept den drei mündlichen, „spontanen“ Typen als „gelenkten Prozeß“ gegenüberstellt; denn gerade wenn die Plurizentrik und synchrone Unentschiedenheit der Konkurrenz verschiedener regionaler Schriftstandards in der Vormoderne herausgehoben werden soll, dann stellt sich, so Selig (2008, 77) selbst, „die Frage, ob eine zentralisierte und kontrollierte Aus- 36 <?page no="49"?> nicht als gesprochene Varietät im mittelalterlichen Kolonisierungskontext (s.o. zur sogenannten Fringsthese), sondern vermutlich erst im 15. Jahrhundert als eine Art ostoberdeutsch-ostmitteldeutsche „Schreiballianz“ (Besch 2003, 2262) auf der Basis der in weiten Teilen des süddeutschen Raums verbreiteten kaiserlich-habsburgischen Geschäftssprache und der Skripta der kursächsischen Wettiner Kanzlei herausgebildet (vgl. Besch 1967 und 2003; Schmid 2007). Für die sog. koinè padana gibt es ab dem 13. Jahrhundert eine Reihe von literarischen Zeugnissen, etwa das Werk des Mailänders Bonvesin da la Riva (ca. 1240-1315), deren stark komposite Sprache allerdings nicht vorbildlich für die literarische Produktion in anderen Gegenden Italiens wirkte. Es ist [...] davon auszugehen, daß die ‘Sprache von Bonvesin da la Riva’ von Anfang an einen kompositen Charakter aufweist, weil sie in einer mehrsprachigen Situation entsteht, in der zumindest das Lateinische, das Französische und das in sich noch weiter differenzierte Lombardische eine Rolle spielen. Bei der Schaffung einer mailändischen Dichtungssprache schöpft Bonvesin da la Riva in einer für uns kaum mehr nachvollziehbaren Weise aus mehreren der ihm geläufigen Sprachen und Varietäten. Die Annahme, Bonvesin knüpfe nur an eine einzige, die ‘authentische’ Erscheinungsform des mailändischen Dialekts an, wird der komplexen sprachlichen Situation des mittelalterlichen Mailand nicht gerecht. (Wilhelm 2007, 86f.) Die daran anknüpfenden administrativen Schreibtraditionen der norditalienischen Kommunen des 14. und 15. Jahrhunderts 66 stellen ihrerseits eine recht eigentümliche Mischung von vereinzelten norditalienischen, zahlreichen lateinischen und zunehmend auch toskanischen Elementen dar. Durante (1981, 152) spricht von einem „volgare latineggiante in cui si attenuano le divergenze dialettali“. Ganz offensichtlich war die Vermeidung topisch stark markierter Skriptaformen den pragmatischen Erfordernissen der supralokalen oder überregionalen diplomatischen Korrespondenz geschuldet: 67 breitung einer überregionalen Sprachform überhaupt denkbar ist“ (meine Kursivierung). 66 Von den 2064 Dokumenten, die Videsott (2009) seiner skriptometrischen Untersuchung norditalienischer Kanzleitexte zugrunde legt, entfallen eines auf das 12. Jahrhundert, 81 auf das 13. Jahrhundert, 722 auf das 14. Jahrhundert, 1045 auf das 15. Jahrhundert und 215 auf den Zeitraum zwischen 1500 und 1525. Damit entstanden ca. 86% der analysierten Dokumente im 14. und 15. Jahrhundert. 67 Vgl. zur Geschichte der literarischen und pragmatischen Schriftlichkeit in Norditalien Vitale (1953 und ²1988); Ghinassi [1976] ( 2 2006); Maraschio (1976); Grignani (1990); Sanga (1990); Marazzini (1994, 224-226); Tavoni (2003, 47-55); Tesi (2007, 47-49, 147- 153 und 172-175); Wilhelm (2007 und 2011); Videsott (2009). Zur sog. lingua cortigiana - „[che] può considerarsi l’applicazione in campo letterario delle koinè regionali [d.h. nicht nur der norditalienischen; K.G.]“ (Tesi 2007, 153) - und zu ihren Anhängern in 37 <?page no="50"?> La definizione di queste scriptae non riguarda solo il Quattrocento, visto che tradizioni diverse esistevano anche prima; ma nel Quattrocento (il riferimento vale in primo luogo per l’Italia settentrionale) esse mostrano una tendenza al ‘conguaglio’, cioè all’eliminazione dei tratti più vistosamente locali, tanto che non è sempre facile circoscriverle geograficamente in un territorio preciso, ‘dialettale’. Nel Quattrocento, dunque, il conguaglio di queste scriptae si fa più marcato, ed esse evolvono verso forme di koinè, termine tecnico con cui si indica una lingua comune superdialettale [...]. La koinè quattrocentesca consiste appunto in una lingua scritta che mira all’eliminazione di una parte almeno dei tratti locali, e raggiunge questo risultato accogliendo largamente latinismi, e appoggiandosi anche, per quanto possibile, al toscano. (Marazzini 1994, 224) I fenomeni di convergenza linguistica che segnano il superamento del dialetto municipale - sottolineiamo che si tratta di convergenze con finalità pratico-comunicative da tenere ben distinte dai fenomeni di standardizzazione in senso ‘toscano’ o ‘italiano’ avvenuti a partire dal Cinquecento dietro la spinta della codificazione grammaticale - si avvertono soprattutto in quei testi di carattere pubblico o ufficiale, dove, ripetiamo, il volgare serve a scopi comunicativi e subentra lentamente al posto del latino. Nei documenti notarili e cancellereschi, negli statuti, nei bandi, nelle corrispondenze diplomatiche come nelle informative dirette al principe emerge un primo tentativo di lingua che consapevolmente si discosta dal dialetto per assumere una fisionomia regionale o sovraregionale. (Tesi 2007, 150) Doch auch aus anderen Gebieten der Romania sind alte, literarische Schreibtraditionen überliefert, die als Beispiele für weitgehend delokalisierte, komposite Kunstvarietäten mit relativ einheitlicher Erscheinungsform und überregionalem Geltungsanspruch gelten können, so etwa die Sprache der okzitanischen 68 oder der sizilianischen Minnelyrik. [...] non dobbiamo [...] dimenticare che essa [scil. la lingua dei poeti siciliani; K.G.] non è una lingua completa, ma una stilizzazione artistica compiuta sul fondamento del dialetto siciliano, già un po’ dirozzato dall’uso fatto tra persone di una certa levatura, tenendo per modelli da un lato il latino, esempio costante di qualunque scrittore medievale, dall’altro il provenzale, che è imitato più davvicino, in quanto costituisce anche il modello letterario, e fissa l’ideario a cui quei poeti in complesso si attengono. (Migliorini 1966, 126) der questione della lingua vgl. Durante (1981, 146-158), Drusi (1995), Giovanardi (1998), Tesi (2007, 195-201) und Ellena (2011). 68 Allerdings wurden gewichtige philologische Einwände gegen die mutmaßliche Homogeneität der okzitanischen Dichtersprache und damit gegen die Existenz einer ‘okzitanischen Koine’ (vgl. Gleßgen/ Pfister 1995; Swiggers 2011) erhoben. So gibt etwa Zufferey (1987, 312f.) zu bedenken, daß die vor allem durch norditalienische Manuskripte aus dem 13. und 14. Jahrhundert überlieferten Texte wahrscheinlich erst im Kopierprozeß einer sprachlichen Vereinheitlichung unterzogen wurden. Vgl. dazu auch Perugi (1995, 7-13) und Tuten (2003, 276, Anm. 15). 38 <?page no="51"?> [I poeti siciliani hanno scritto] in una lingua sovraregionale, di carattere aulico o illustre in accordo con gli argomenti trattati, depurata dai caratteri più spiccatamente locali: in sostanza uno strumento funzionale adatto anche per chi non era siciliano d’origine (come il capuano Pier della Vigna, Giacomo Pugliese, Rinaldo d’Aquino), ma poteva ugualmente usufruire del medesimo codice linguistico di riferimento. Ma la base linguistica di questo codice doveva essere, naturalmente, siciliana [...]. (Tesi 2007, 41) 69 2.2.4 Monotopische Überdachung (Typ 2d) Um den Kreis zu schließen, komme ich noch kurz auf einen letzten Typ zu sprechen, der allerdings gar kein ‘Kontaktszenario’ im strengen Sinne ist, nämlich auf den historisch wohl eher seltenen Fall der von topischen Fremdeinflüssen nahezu ‘reinen’ Verschriftlichung eines primären Dialekts. Zwar bemerken Koch/ Oesterreicher (2008, 2583) völlig zu Recht, daß selbst das schon mehrfach genannte ‘Paradebeispiel’ des florentinischbasierten italienischen Literaturstandards nicht „totalement exempt[e] d’effets de koinéisation 2 “, also nicht frei von punktuellen Beimischungen anderen topischen, etwa sizilianischen oder norditalienischen Ursprungs ist. Außerdem hat nicht zuletzt die umfassende Literatur, die in den 1980er und 1990er Jahren zum Thema Mündlichkeit/ Schriftlichkeit entstand, deutlich gemacht, daß die Verschriftlichung einer Varietät gerade keine Eins-zu-eins-Abbildung von gesprochener Sprache im graphischen Medium bedeutet, sondern daß dieser konzeptionell zu begreifende Vorgang notwendig die Abwahl nähesprachlicher Merkmale und damit den als intensiven Ausbau bezeichneten Prozeß der umfassenden strukturellen ‘Wandlung’ eines zugrundeliegenden, für distanzsprachliche Diskurs- 69 Sanga (1992; 1999a; 1999b; 1999c) stellt die sprachliche Sizilianität der Lyrik der Dichter um Friedrich II. in Frage und argumentiert für die Existenz einer alten, vortoskanischen Koine auf der italienischen Halbinsel, nämlich eines „volgare italiano unitario dell’età longobarda, fortemente latineggiante“ (Sanga 1999a, 23). Demnach sei die sizilianische ‘Urform’ nur ein Phantom, das hinter der überlieferten, vermeintlich toskanisierten Gestalt der Gedichte vermutet werde. In Wahrheit beruhe nämlich das Reimsystem, das gewisse Freiheiten des Reims auch in der toskanischen Dichtung begründete (die sog. rima imperfetta oder rima siciliana), auf der mittellateinischen Tradition des trivokalischen Reims, bei dem i und e sowie u und o zusammenfielen und der nach dem Ende des Langobardenreichs (774) auf die früheste volkssprachliche Dichtung übertragen worden sei. Entsprechend hält Sanga (1999a, 20) die stark sizilianisierte Version von Stefano Protonotaros Pir meu cori allegrari aus den sog. Carte Barbieri für eine „buona traduzione (forse dell’autore stesso) di un testo originariamente italiano“. Vgl. auch Brugnolo (1999a und 1999b), der Sangas These hartnäckig widerspricht, sowie weitere Beiträge in Fassò/ Formisano (Hrsg.) (1999). Vgl. ansonsten zur scuola siciliana und ihrer Rezeption in der Toskana Schiaffini (1957); Migliorini (1966, 122-134); Gensini (1985, 145-158); Baldelli (1993); Casapullo (1999, 219- 227); Tesi (2007, 39-47). 39 <?page no="52"?> zwecke erst einzurichtenden vernakulären Idioms impliziert. 70 Dennoch scheint mir der Unterschied etwa des italienischen Standardisierungsprozesses zur Geschichte hybrider (Proto-)Standards wie des Hochdeutschen oder des an die koinè padana anknüpfenden antitoskanischen Modells der lingua cortigiana grundsätzlich genug zu sein, um die (nahezu) monotopische Überdachung (2d) hier von der schriftsprachlichen Koinebildung (2a’), die einen intensiven, systematischen Mischungsprozeß meint, abzugrenzen. Abgesehen vom disziplinengeschichtlich interessanten Umstand, daß in Wahrheit hybride Standards in der Sprachgeschichtsschreibung gerne zu autochthonen Dialekten eines späteren politisch-kulturellen Zentrums idealisiert wurden 71 , sind (nahezu) monotopische Überdachungsprozesse vor allem hinsichtlich ihrer überregionalen Verbreitung und der damit einhergehenden Verdrängung konkurrierender Ausbauvarietäten aus der bis dahin regionalsprachlich verfaßten Schriftlichkeit von Interesse. Selig (2008, 78) betont zwar zu Recht, daß auch dabei prinzipiell noch mit verändernden Einwirkungen auf die „Ausgangsvarietät“ zu rechnen ist. Abgesehen von genuin nähesprachlichen Restandardisierungsschüben, die schon einen werdenden Standard ‘von unten her’ an die im Kommunikationsraum gesprochenen Varietäten anpassen können (vgl. etwa zum Mittelfranzösischen Koch 2010, 196-198), dürften die von Selig (2008) gemeinten Kontakte, zu denen es im Zuge der Verdrängung konkurrierender Regionalskriptae kommt, aber wohl rein distanzsprachlichen Ursprungs sein, so daß entsprechende Interferenzen qualitativ den unter (2a’) beschriebenen Mischungsphänomenen gleichgesetzt werden können. 2.2.5 Synthese Um eine umfassende Modellierung der besprochenen Kontaktszenarien im Problemhorizont der frühen Standardisierungsgeschichte zu ermöglichen, schlage ich eine Synthese auf der Basis des konzeptionellen Kontinuums von kommunikativer Nähe und Distanz nach Koch/ Oesterreicher ( 2 2011) vor. Das Modell eignet sich in besonderem Maße zur Erklärung standardisierungsgeschichtlicher Fragestellungen, da es in diachroner Ausrichtung vom Nähezum Distanzpol direkt im Sinne der Kloss’schen (²1978, 23-63) Ausbau- 70 Vgl. dazu etwa Koch/ Oesterreicher (2008, 2586): „L’élaboration intensive consiste à développer les moyens linguistiques nécessaires à la distance communicative [...]. Une langue donnée ne peut y arriver qu’en développant par ex. des processus de structuration textuelle, en intensifiant et en différenciant les techniques intégratives au niveau de la syntaxe des phrases (hypotaxe, constructions participiales, etc.), ainsi qu’en ‘enrichissant’ le lexique, notamment grâce à des synonymes différenciés, à des termes abstraits désignant des procès et des qualités, à des hiérarchies de concepts et à des nomenclatures rigoureuses [...].“ Vgl. auch Muljačić (1990, 186; zit. in Anm. 61). 71 Vgl. zum Französischen ausführlich Kap. 3. 40 <?page no="53"?> dynamik interpretiert werden kann. 72 Je näher ein Idiom am Distanzpol angesiedelt ist, desto weiter fortgeschritten ist sein Gebrauch in konzeptionell-schriftlichen Diskurstraditionen, und desto weiter fortgeschritten muß auch sein intensiver Ausbau sein. Die Besonderheit des hier vorgeschlagenen Ansatzes besteht lediglich darin, daß es nicht um primärdialektal basierte, ‘autochthone’ Idiome im Prozeß der Verschriftlichung geht, sondern um Mischvarietäten, die, wie oben gezeigt, gleichermaßen nähewie distanzsprachlichen Ursprungs sein können. Die prototypischen Kontaktszenarien, deren begriffliche Überschneidungen ich in Abb. 1 dargestellt habe, lassen sich mithin in der Reihenfolge, in der sie unter 2.2.1 bis 2.2.3 besprochen wurden, auf dem Kontinuum von kommunikativer Nähe und Distanz verorten. So ist die Koineisierung strictu sensu (1a) ganz am Pol der Nähesprache, die schriftsprachliche Koinebildung (2a’) nahe am Pol der Distanzsprache und die regionale Koinebildung (2a) im mittleren Bereich anzusetzen. (2c), ein kompositer Standard als Produkt eines weit fortgeschrittenen Ausbauvorgangs, steht ganz am Pol der kommunikativen Distanz. (2d) bleibt im Modell unberücksichtigt, da eine primärdialektal basierte Ausbausprache wie das Standarditalienische keine systematische Varietätenmischung ist. Abb. 2: Koine(isierungs)typen und Ausbaudynamik zwischen kommunikativer Nähe und Distanz Die drei horizontalen, von links nach rechts gerichteten Pfeile in Abb. 2 zeigen an, daß eine immigrant koine (1a), eine regional koine (2a) oder eine schriftsprachliche Koine (2a’) jeweils zu einer Standardvarietät (2c) ausgebaut werden können, wobei die Entwicklung natürlich kontingent ist und 72 Vgl. zu einem ähnlichen Ansatz Koch (2010). 41 <?page no="54"?> (1a) eine mögliche Vorstufe (oder eine lokale Basis) von (2a) darstellt (vgl. dazu den nach unten gekippten Pfeil). Obwohl es das Nähe-Distanz-Modell prinzipiell erlauben würde, von der Frage der medialen Realisierung der Kontaktprozesse abzusehen (die Affinität der Phonie zur kommunikativen Nähe und der Graphie zur kommunikativen Distanz ist ja ohnehin impliziert), unterscheide ich explizit zwischen genuin phonischen (I) und genuin graphischen (II) Varietätenmischungen, um der in der historischen Rekonstruktion zwar schwierig zu leistenden, aber faktisch doch notwendigen Abgrenzung zwischen medialmündlichen (2a) und medial-schriftlichen Koinebildungen (2a’) Genüge zu tun. Außerdem muß die ‘mediale Schwelle’ zwischen Phonie und Graphie auch dann an irgendeinem Punkt überschritten werden, wenn von genuin phonischen Kontaktprozessen ausgegangen wird (1a/ 2a) und am Ende des Ausbauprozesses ein supralokal gültiger Schriftstandard (2c) steht (die Annahme gilt zumindest für schriftbasierte Gesellschaften, von denen ich hier ausgehe). Analog zur medialen Dichotomie von (I) und (II) ist der Medienwechsel in der potentiellen Entwicklung von (1a) oder (2a) zum Schriftstandard (2c) durch eine durchgezogene, hier senkrechte Linie in der Mitte angezeigt. Die gestrichelte Linie zwischen (1a) und (2a) in (I) und zwischen (2a’) und (2c) in (II) steht dagegen für eine kontinuierliche Statusänderung ohne Medienwechsel. Selbstverständlich können im Prozeß der Verschriftlichung von (1a) oder (2a) nach dem Medienwechsel noch teilausgebaute graphische Zwischenstadien angesetzt werden, die in funktionaler Hinsicht mit der genuin schriftsprachlichen Ausbauvarietät (2a’) vergleichbar und womöglich ‘phänotypisch’ kaum davon zu unterscheiden sind (vgl. dazu die beiden Doppelpfeile in Abb. 2 und Anm. 64). Die oben angesprochenen historischen Fallbeispiele lassen sich nun mit Hilfe des in Abb. 2 dargestellten Modells beschreiben: So wäre etwa das Kastilische eine nähesprachliche immigrant koine (1a), die mehr oder weniger direkt zum Standard (2c) verschriftlicht wurde; das Großattische ist eine - möglicherweise (1a)-basierte - regional koine (2a), die schließlich zum Standard (2c) wurde; die Geschichte der Hansesprache ist entweder eher der des Kastilischen (1a > 2c) oder eher der des Großattischen (1a > 2a > 2c) vergleichbar; das Hochdeutsche und die koinè padana sind als reine Kanzleiprodukte unter (2a’) einzuordnen (mit erfolgreichem weiterem Ausbau zu (2c) im Fall des Deutschen). Daß am Ende aller Szenarien das gleiche Ergebnis, nämlich ein kompositer Schriftstandard (2c) stehen kann, macht das Modell vor allem mit Blick auf ‘rätselhafte’ Standardisierungsgeschichten interessant, zu deren Klärung mitunter sehr kontroverse Theorien ins Feld geführt werden. Gerade hier ist es wichtig zu sehen, daß (2c) verschiedene mögliche Vorstufen im Spannungsfeld von kommunikativer Nähe und Distanz (1a/ 2a/ 2a’) haben kann und daß vom Ergebnis her nicht ohne weiteres entscheidbar ist, 42 <?page no="55"?> ob die zugrundeliegenden Kontaktprozesse eher nähe- oder eher distanzsprachlicher Art sind. In romanistischer Sicht legt vor allem die Frage nach dem Ursprung des - eindeutig kompositen - französischen Schriftstandards sowie die darüber erst in den letzten Jahrzehnten in Gang gekommene wissenschaftliche Kontroverse (vgl. insbesondere Cerquiglini 1991 und 2007 vs. Lodge 2004) 73 eine mehrdimensionale, konzeptionell offene Betrachtung nahe, die verschiedene mögliche Szenarien des Mischungsprozesses und seiner außersprachlichen Bedingungen in Erwägung zieht und in ihrer jeweiligen Plausibilität sorgfältig gegeneinander abwägt. Mit Kap. 3 soll zunächst ein ausführlicher forschungsgeschichtlicher Rückblick erfolgen, der einen Eindruck von der sprachhistoriographischen Relevanz der ‘Ursprungsfrage’ in verschiedenen institutionellen und paradigmatischen Entwicklungsstadien der historischen Romanistik geben will, wobei insbesondere die nachhaltige Beeinflussung der standardisierungsgeschichtlichen Episteme durch das nationalphilologische Konzept einer vermeintlichen transhistorischen Kontinuität des französischen Sprach- und Kulturzentralismus aufzuzeigen sein wird. In Kap. 4 erfolgt ein kritischer Forschungsbericht zum aktuellen Stand der Ursprungsfrage, wobei im wesentlichen die antagonistischen Theorien von Lodge (2004) und Cerquiglini (1991; 2007) zum sprechsprachlichen bzw. schriftsprachlichen Ursprung der französischen Standardvarietät auf dem Prüfstand stehen werden. 73 Vgl. dazu auch Selig (2008) sowie Grübl (2009; 2010b; 2013). Bei Kabatek (2013, 167- 173) bleibt die aktuelle Kontroverse um den Ursprung des Standardfranzösischen leider unberücksichtigt. 43 <?page no="57"?> 3 À la quête des origines - Ursprungs- und Standardisierungstheorien in der französischen Philologie des 19. und 20. Jahrhunderts Die Frage nach dem Beginn überregionaler Ausgleichsprozesse 74 in der mittelalterlichen Schriftlichkeit Nordfrankreichs - und damit die Frage nach dem Alter des französischen Standards - ist eines der großen Rätsel, das die historische Romanistik seit jeher beschäftigt. Die epistemische Herausforderung, vor die sich die Philologen seit Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Sprache des Mittelalters im 19. Jahrhundert gestellt sahen, war die sprachhistoriographische Überwindung des offensichtlichen Gegensatzes, der zwischen der Homogeneität des modernen, sozial-geographisch klar verankerten Standardfranzösischen und der vergleichsweise extremen, nur schwer systematisierbaren sprachlichen Variabilität bestand, von der die mittelalterlichen Quellen zeugten. Es galt also, eine explikativ-evolutionäre Brücke zu schlagen zwischen zwei Sprachzuständen, die uns in heutiger Sicht grundsätzlich inkommensurabel erscheinen. Während nämlich die exklusive Ausrichtung der einzelsprachlichen Architektur am modernen französischen Standard eine in der Regel eindeutige diasystematische Verortung sprachlicher Varianten erlaubt und während vor allem diatopisch markierte Abweichungen von der seit Mitte des 16. Jahrhunderts definitiv in der Pariser Oberschicht verankerten Norm 75 strenger gesellschaftlicher Sanktionierung unterliegen, kann eine derart klare und globale varietätenlinguistische Ordnung nicht nur aufgrund lückenhafter Überlieferung, sondern schon prinzipiell nicht auf das Mittelalter übertragen werden. Denn als Folge des plurizentrischen Ausbaus der mittelalterlichen Volkssprache macht das weitgehende Fehlen einer für den nordfranzösischen Sprachraum gesamthaft gültigen, überregionalen Norm die Annahme eines nur lose zusammenhängenden, erst im Formationsprozeß begriffenen ‘proto-französischen’ Varietätenraums nö- 74 Mattheier (1996) unterscheidet zwischen Konvergenz, der gewissermaßen paritätischen, wechselseitigen Annäherung oder Mischung von Varietäten, und Advergenz, der Annäherung von Varietäten an eine mehr oder weniger stabile Leitvarietät. Wenn ich hier von Ausgleichsprozessen spreche, impliziert dies potentiell beide Formen des Varietätenkontakts; die terminologische Differenzierung zwischen den Unterbegriffen Konvergenz und Advergenz vollziehe ich nur, wenn dies sachlich nötig erscheint. 75 Vgl. dazu Schmitt (1977); Trudeau (1992); Cerquiglini (2007, 35-51). 45 <?page no="58"?> tig, der mindestens bis zum 16. Jahrhundert noch verschiedene relativautonome regionalsprachliche Subsysteme umfaßte. 76 Wann beginnt aber die hierarchische Ausrichtung des Varietätengefüges an einem Sprachmodell, das als Vorläufer des modernen französischen Standards angesehen werden kann? Ab welchem Zeitpunkt weicht die Plurizentrik regionaler Alternativen dem absoluten Anspruch einer Einheitsnorm? Und wo hat der neue Standard seinen Ursprung? In einer natürlichen oder in einer künstlichen Sprachform? - Cerquiglini (2007) hat die hochinteressante Geschichte der quête des origines in der französischen Linguistik der vergangenen zwei Jahrhunderte nachgezeichnet und dabei deutlich gemacht, wie sehr die ‘spracharchäologischen’ 77 Bemühungen insbesondere des späteren 19. Jahrhunderts im Dienste des zeitgenössischen Bedürfnisses nach nationaler Identitätsstiftung standen. Die ‘Suche’ war nämlich von vornherein am Ziel der Uniformität orientiert, welche die nach 1789 zum nationalen Symbol 78 erhobene Standardsprache seit ihrer Kodifizierung im 17. Jahrhundert auszeichnete. Entsprechend groß war die Energie, die die involvierten Forscherpersönlichkeiten aufbrachten, um die Idee einer möglichst reinen und geradlinigen Abkunft der französischen Nationalsprache historiographisch zu untermauern und dabei die Gegenindizien, die angesichts der sprachlichen Polymorphie der mittelalterlichen Quellen objektiv gegeben waren, argumentativ aus dem Feld zu räumen. Die räumliche Dimension der auf historische Kontinuität bedachten nationalphilologischen Identitätssuche führte - naheliegenderweise - zu einer teleologischen Rückprojektion des neuzeitlichen, seit der Großen Revolution ideologisch verschärften sprachlichen Monozentrismus auf die Varietätenverhältnisse im mittelalterlichen Kommunikationsraum. So wurde der Stadt Paris als ‘natürlichem Mittelpunkt’ Frankreichs eine frühzeitige normbildende Stellung zugedacht, die ihr nach heutiger Forschungslage je- 76 Vgl. Reichmann (1990) zu dieser wesentlichen Prämisse der historischen Varietätenlinguistik. 77 Cerquiglini (2007, 54) weist auf den zeitgenössischen Begriff der archéologie nationale hin (vgl. auch Ackermann 1839, III). Die Begeisterung für das Mittelalter wurde im nachnapoleonischen Frankreich durch den verspätet rezipierten Historismus ausgelöst (in diesem Zusammenhang sei etwa auf die Gründung der École des chartes im Jahr 1821 verwiesen; 1831 erschien Victor Hugos spätromantisches Meisterwerk Notre-Dame de Paris). Doch erst um 1870 kam es zur vollständigen Institutionalisierung einer französischen ‘Nationalphilologie’: Gaston Paris (1839-1903), seit 1872 Inhaber des Lehrstuhls für französische Sprache und Literatur des Mittelalters am Collège de France, verlieh der französischen Mediävistik in der Dritten Republik ihr charakteristisches Gepräge. Vgl. dazu Gumbrecht (1984), Bähler (2004a) sowie die Beiträge in Zink (Hrsg.) (2004). 78 Vgl. im Überblick zum Thema ‘Nation und Sprache’ in Frankreich Schmitt (2000). 46 <?page no="59"?> doch erst ab dem späteren 13. Jahrhundert tatsächlich zukam (vgl. dazu Kap. 4.4). [...] l’érudition [du XIXe siècle; K.G.] 79 va s’employer [...] [à] réhabiliter la langue médiévale, [à] en reconstruire l’unité et la cohérence, [à] critiquer les textes, [à] montrer enfin l’hégémonie précoce d’un prestige central. L’histoire de la langue devient linéaire et cohérente, estimable et gratifiante [...]; elle témoigne d’une grandeur primitive et comme constitutive; elle rassure une identité linguistique nationale en l’enracinant. La science va nous offrir le tableau flatteur d’une perfection transhistorique [...]. (Cerquiglini 2007, 11) Auf den folgenden Seiten versuche ich die Geschichte der sprachwissenschaftlichen Behandlung der Ursprungsfrage seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Überblick nachzuzeichnen. Dabei will ich veranschaulichen, wie die unterschiedlichen Koineisierungskonzepte, die ich in Kap. 2.2 vorgestellt habe, sich in der sprachhistoriographischen Praxis unterschiedlicher Epochen wiederfinden, sei es explizit oder implizit oder gar ante litteram. 80 3.1 Standardisierungskonzepte der vor-skriptologischen Mediävistik Die Frage nach dem Ursprung und der Verbreitung des Standards impliziert die Frage nach der (dia)topischen Variation im Mittelalter. Denn Standardisierung bedeutet die ‘Selektion’ und ‘Verbreitung’ einer überregionalen Referenzvarietät auf Kosten anderer, bislang gleichermaßen im Distanzbereich gepflegter regionaler Schreibtraditionen. 81 Es geht hier also um die Frage, wie die mediävistische Philologie im 19. Jahrhundert zum einen mit dem Phänomen der diatopischen Variation auf der Ebene der Schriftlichkeit umging und wie sie zum anderen deren beginnende Überwindung durch eine sich durchsetzende überregionale Sprachnorm konzeptualisierte, wobei die Frage nach Beschaffenheit und Herkunft dieser Referenzvarietät von besonderem Interesse ist. 79 Das Zitat aus dem kurzen Einleitungskapitel von Cerquiglini (2007, 9-11) bezieht sich nicht exklusiv, aber doch ganz wesentlich auf die Sprachforschung des 19. Jahrhunderts. 80 Dieses ‘deduktive’ Vorgehen läßt sich durch die ausführliche Herleitung der Koine- (isierungs)begriffe aus der sprachwissenschaftlichen Literatur in Kap. 2.2 rechtfertigen. Freilich versteht sich mein Versuch, die Theorien zur Entstehung der französischen Standardvarietät in eben dieses begriffliche Raster zu fassen, nicht als zwangsläufige, objektive Kategorisierung, sondern lediglich als ein Vorschlag zur Ordnung und zum besseren Verständis der unterschiedlichen Ansätze. 81 Vgl. dazu Haugen (1983); Koch/ Oesterreicher (2008, 2582-2589; 2 2011, 136f.). 47 <?page no="60"?> Zunächst einmal wurde die (dia)topische Variation natürlich als charakteristisches Merkmal der mittelalterlichen Schreibsprachen wahrgenommen. So war die sprachgeographische Verortung vornehmlich literarischer Handschriften bereits obligatorischer Bestandteil der philologischen Untersuchungen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die - zumeist als Vorwort - die frühesten Editionen mittelalterlicher Texte begleiteten. Doch waren diese noch stark vom romantischen Zeitgeist geprägten Arbeiten nicht eigentlich am Studium der mittelalterlichen Idiome (bzw. ihrer graphischen Repräsentation) interessiert als vielmehr daran, die tradierten Texte aufgrund von (dia)topischen Merkmalsausprägungen gewissermaßen kulturräumlich zu ‘beheimaten’. Entsprechend urteilte der Wallonist Jules Feller, neben seinem Lütticher Kollegen Louis Remacle einer der Begründer der Skriptaforschung des 20. Jahrhunderts: 82 La génération des philologues français qui a précédé celle de Gaston Paris fut plus préoccupée de rechercher et de publier les œuvres de littérature nationale que d’étudier dans ces textes les parlers provinciaux. (Feller 1931, 35f.) Und: Les philologues du siècle dernier ont beaucoup travaillé pour assigner les textes du moyen âge à tel ou tel dialecte particulier. Ce n’était pas en vue d’étudier le dialecte en soi, mais pour attribuer à chaque œuvre une patrie. (Feller 1931, 34) 83 Zwar ist dieser etwas überspitzt formulierten Einschätzung relativierend entgegenzuhalten, daß die historisch-vergleichenden Grammatiken von F. Schlegel (1808), Bopp (1816), J. Grimm (1819-1837) und Diez (1836-1844) sich bereits deutlich vom Zweck der philologischen Textkritik emanzipiert 82 Zum Beitrag der Wallonistik s.u., Kap. 3.2. 83 Vgl. dazu auch Völker (2003, 12, Anm. 48 und 13, Anm. 50). - Der literarisch-philologische Traditionsstrang reißt natürlich zum Ende des 19. Jahrhunderts hin keineswegs ab; es läßt sich lediglich eine immer stärkere Verselbständigung historisch-dialektologischer Fragestellungen beobachten, was gleichwohl nicht zur Verdrängung der traditionellen Textphilologie aus dem romanistischen Kanon führte (vgl. dazu auch Koschwitz 1882; Völker 2003, 19). Erst mit dem methodischen Durchbruch der modernen Sprachgeographie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts - und stärker noch durch den strukturalistischen Paradigmenwechsel - kam es zum zeitweiligen Verlust des sprachwissenschaftlichen Interesses an der Mediävistik, die in der Folge weitgehend dem literaturwissenschaftlichen Feld überlassen wurde. Schließlich vermochte die Skriptaforschung seit Gossen (1942; 1951; 1956; 1957; 1967) die linguistische Aufmerksamkeit wieder verstärkt auf das Mittelalter zu ziehen, wenn auch nunmehr nicht literarische Texte, sondern Urkunden das bevorzugte Untersuchungsobjekt darstellten. Vgl. zur Geschichte der mediävistischen Dialektologie und Skriptaforschung Monfrin (1974, hier XXXI-XXXIII); vgl. zur Geschichte der Romanistik im allgemeinen Gauger (1981). 48 <?page no="61"?> hatten; 84 zumindest in Deutschland hatte sich also bereits vor 1850 ein ausgeprägtes sprachwissenschaftliches Interesse konstituiert, das auch seine institutionelle Legitimation durch die Einrichtung entsprechender Lehrstühle erfuhr. 85 Was aber die sprachliche Variation auf der Ebene der mittelalterlichen Schriftlichkeit angeht, so wurde diese zwar erkannt und ganz selbstverständlich als Kriterium zur geographischen Einordnung der überlieferten Texte genutzt; vor 1860 kann jedoch in der Tat kaum von einer systematischen Auseinandersetzung mit diesem Gegenstand die Rede sein. 86 So legitimiert auch der Gründungsakt der École des chartes (1821) das zum damaligen Zeitpunkt noch nicht als wissenschaftliche Disziplin etablierte philologische Studium keineswegs als Selbstzweck, sondern als praktische Hilfswissenschaft, die die angehenden Archivare dazu befähigen sollte, „à lire les divers manuscrits et à expliquer les dialectes français du Moyen Âge“ (Ordonnance royale du 22 février 1821, article 3; zitiert in Vielliard 1997, 51). Die Fähigkeit, ‘die Dialekte des Mittelalters zu erklären’, sollte freilich keinem linguistischen Anspruch genügen, sondern stand im Dienste der diplomatischen Analyse, nämlich des sprachlichen Verständnisses und der geographischen Zuordnung der Dokumente. 87 84 Nichtsdestoweniger war das sprachwissenschaftliche Interesse natürlich engstens mit der Faszination für die überlieferten Texte verbunden. Das gilt auch für Raynouards 1821 erschienene Grammaire comparée. 85 Vgl. zur Einrichtung neuphilologischer (unter anderem auch romanistischer) Lehrstühle an den deutschen Universitäten (Gießen 1824, Bonn 1830, Halle und Rostock 1833, Marburg 1836, Tübingen 1844) Gauger (1981, 28f.), Gumbrecht (1984, 71f.) und Kalkhoff (2010, 277-285) (Gauger nennt für Gießen das Jahr 1827; ich halte mich hier an die Angabe von Kalkhoff). 86 Völker (2003, 16) nennt als wichtiges Datum einen von der Section d’histoire du Comité des travaux historiques et des Sociétés savantes angeregten Wettbewerb des französischen Bildungsministeriums aus dem Jahr 1865. Mit einem Preisgeld von 1500 Francs sollte die „meilleure étude sur un de nos anciens dialectes de province (langue du Nord ou langue du Midi)“ (Kursivierung im Original) ausgezeichnet werden, die vor allem auf „chartes et autres documents diplomatiques originaux antérieurs à l’avénement [sic] des Valois“ basieren sollte. Überhaupt ist der Aufschwung der mediävistischen Dialektologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ganz klar im Zusammenhang mit der Hinwendung zu diplomatischem Quellenmaterial zu sehen, welches aufgrund seiner im Vergleich zu literarischen Manuskripten ungleich besseren Datier- und Lokalisierbarkeit eine relativ sichere Datengrundlage darstellte. Vgl. dazu Völker (2003, 12-21). 87 Eine sehr frühe sprachwissenschaftliche - wenn auch nicht dialektologische - Abschlußarbeit entstand an der École des chartes unter der Ägide von François Guessard: De la négation dans les langues romanes du midi et du nord de la France von Alfred Schweighaeuser (1849); erst 1861 bzw. 1862 folgten die thèses von Paul Meyer (Recherches sur la langue parlée en Gaule aux temps barbares (V e -IX e siècle)) und Gaston Paris (Du rôle de l’accent latin dans la langue française) (vgl. Vielliard 1997, 55). Vgl. zur Geschichte des philologischen Unterrichts an der École des chartes auch Monfrin (1958) und Vielliard (2001). 49 <?page no="62"?> Als sprachwissenschaftliches Ausnahmetalent ist vor diesem Hintergrund der früh verstorbene chartiste Gustave Fallot (1807-1836) zu bezeichnen. Angeregt durch Grimms Deutsche Grammatik 88 sowie durch die Arbeiten Raynouards (1821) und Orells (1830), legte er eine leider fragmentarisch gebliebene Beschreibung der diatopischen Variation im Mittelalter vor, die von seinem Freund Paul Ackermann 1839 postum veröffentlicht wurde. 89 Bemerkenswert an den Recherches sur les formations grammaticales de la langue française et de ses dialectes au XIII e siècle ist nicht nur die strenge synchrone Methode, mithilfe derer Fallot ein umfassendes Korpus volkssprachlicher Urkunden auf drei große Dialektzonen verteilt. Ausgehend von seiner merkmalsbasierten Grobgliederung der nordfranzösischen Dialektlandschaft (nach heutigem Verständnis: Skriptalandschaft) kommt Fallot nämlich zu dem Schluß, daß das spätere Standardfranzösische erst sekundär auf der Grundlage der drei primär verschriftlichten ‘Hauptdialekte’ normand, bourguignon und picard entstanden sei. Der Île-de-France als dialektal inhomogener (letztlich dem Burgundischen zugeschlagener) Übergangszone räumt Fallot dabei keinerlei Priorität ein. 90 Les anciennes provinces de France ont [...] eu d’abord un langage identique au fond, mais différent dans le détail. Lorsque l’on a commencé d’écrire, dans chacune de ces provinces, en langage vulgaire, on n’a pu écrire que dans l’idiome, ou, pour mieux dire, dans le dialecte de la province. Ce n’est que plus tard que la langue française proprement dite est née du mélange et de la fusion de ces différents dialectes; et ce n’est que bien plus tard encore qu’elle les a fait déchoir tous du rang de langages écrits, et relégués au rang de patois. Tous ces langages écrits, dans les diverses provinces, étaient égaux entre eux; aucun n’avait encore acquis de prépondérance sur l’autre; c’étaient de véritables dialectes d’une seule et même langue; et il fallait que des circonstances extérieures de mixition et de communication entre eux dans un centre commun fissent naître et, si je puis ainsi dire, dégageassent d’eux tous une langue commune, qui par cela même qu’elle les aurait combinés pour se former, serait plus parfaite, plus ample dans ses ressources que pas un d’eux, et les étoufferait. (Fallot 1839, 10f.; meine Kursivierung) In den von Paul Ackermann angefügten „Notes“, die zum Großteil noch aus Fallots Feder stammen, aber nicht mehr in den Text der Recherches eingearbeitet wurden, heißt es weiterhin: 88 Vgl. Ackermann (1839, V). 89 Es handelte sich dabei um keine thèse d’archiviste-paléographe; diese wurden an der École des chartes erst 1849 eingeführt (vgl. Guyotjeannin 1997). Fallot schloß die Schule bereits im Jahr 1834 ab. 90 Vgl. dazu auch Cerquiglini (2007, 89-91). 50 <?page no="63"?> Le langage de Normandie a été formé le premier, celui de Bourgogne ensuite, celui de Picardie vers 1260-1280 seulement. La langue française proprement dite est née vers la fin du XIII e siècle, et dès avant; au milieu du XIV e , elle est en haute vigueur. (Fallot 1839, 449) Die aus heutiger Sicht wünschenswerte Präzisierung, ob es sich bei der im späten 13. Jahrhundert entstandenen französischen ‘Koine’ um eine schriftsprachliche Varietätenmischung unseres Typs (2a’), um eine nähesprachliche Koineisierung strictu sensu (1a) oder um eine Art regional koine (2a) gehandelt haben soll, geht aus Fallots Studie freilich nicht hervor. 91 Obschon wiederholt explizit von „langages écrits“ die Rede ist, welche Fallot in funktionaler Hinsicht, bezüglich ihres „rang“, von den „patois“ unterscheidet, zu denen sie später degradiert wurden, bleibt durchaus vage, ob die im Zitat erwähnten „circonstances extérieures de mixition et de communication“ eher als schrift- oder als sprechsprachliche Kontakte in einem (geographischen? ) „centre commun“ zu deuten sind. Jedenfalls hat Fallot mit seiner grundsätzlichen Anerkenntnis einer Mischvarietät als Basis des französischen Schriftstandards eine überaus progressive Position bezogen, deren solide methodische Fundierung im Kontext der sich im 19. Jahrhundert erst langsam etablierenden französischen Linguistik klar heraussticht. 92 91 Die im „Chapitre I“ angekündigten weiteren „observations à faire sur le langage de Paris et de l’Ile-de-France“ (Fallot 1839, 21) finden sich leider nirgends in Fallots unvollendet gebliebenem Werk. Vgl. auch Ackermann (1839, IV): „Fallot n’était pas content de la rédaction de son premier chapitre; il se proposait de le remanier [...]. Enfin ce chapitre n’était pas fini.“ 92 Cerquiglini (2007, 75-92) zeigt jedoch auch die idealisierenden Momente auf, die Fallots Arbeit als durchaus zeittypisches Werk kennzeichnen. Vor allem die in der „Introduction“ (XXVIII-XXXIX) entwickelte Theorie der kontinuierlichen ‘Reinigung’ und ‘Harmonisierung’ des Sprachbaus („long travail d’épuration et d’élaboration harmonique“, XXXVIII) von den ersten Sprachdenkmälern bis hin zum siècle classique zeugt von Fallots evolutionistischer Sicht. Vgl. dazu auch den Gedanken der ‘Perfektion durch Mischung’ am Ende des oben zitierten Passus. - Vgl. zu Fallot ferner Dees (1984, 104-109) und Bergounioux (1989, 24f.). Ich hege allerdings Zweifel an Bergounioux’ Behauptung, Fallot habe Friedrich Diez rezipiert („découvert [...] dans le texte“): erstens findet der Name Diez an keiner einzigen Stelle in Fallots Recherches Erwähnung (sehr wohl aber die Namen Raynouard, Orell und Coquebert de Montbret); zweitens ist wenig wahrscheinlich, daß der am 6. Juli 1836 verstorbene Fallot den im selben Jahr erschienenen ersten Band von Diez’ Grammatik (das „Vorwort“ datiert vom Januar 1836; vgl. Diez 1836, V) noch in seinen Schriften verarbeiten konnte. Vielliard (1997, 51) betont, daß Diez’ Grammatik in Frankreich vor den 1860er Jahren kaum rezipiert wurde. Das älteste Exemplar, das die Bibliothek der École des chartes besitzt, ist Gaston Paris’ und Auguste Brachets zwischen 1874 und 1876 erschienene Übersetzung der dritten deutschen Auflage. Ampère (1841) ist die älteste mir bekannte Studie aus Frankreich, in der Diez stellenweise zitiert wird (vgl. auch Guessard 1840-1842). 51 <?page no="64"?> Bei Fallots Zeitgenossen stießen die unkonventionellen Thesen freilich auf scharfe Kritik. Während Ampère (1841) noch wohlwollend zu vermitteln suchte und lediglich für eine frühere sprachliche Autonomie und Vorbildstellung der Île-de-France plädierte (als Gewährsmann diente ihm Conon de Béthune: „mon langaige ont blasmé li François“ 93 ), 94 lehnte Génin (1845) Fallots Abhandlung rundweg und mit wenig freundlichen Worten ab. Il y a tout d’abord quelque chose d’étrange à donner le nom de bourguignon au français parlé dans l’Île-de-France et au bord de la Loire, c’est-àdire au français qui est devenu la langue de Paris et l’idiome littéraire de notre pays. Il est bien certain que, dès le XII e siècle, on considérait le langage de l’Ile-de-France comme le meilleur. (Ampère 1841, 343f.) [...] quant à l’entreprise de Fallot, la science n’a, je crois, rien perdu à ce qu’elle soit demeurée interrompue. [...] Il faut observer que les patois n’ont jamais existé que comme langage, et nulle part à l’état de langue littéraire écrite. Cela est si vrai qu’il serait impossible de montrer un seul texte, dix lignes rédigées véritablement en picard. Cependant la Picardie peut disputer la gloire d’avoir fourni le plus grand nombre d’écrivains au moyen âge. C’est que même avant la centralisation moderne, il y eut toujours un centre; dès avant Philippe Auguste, ce centre était Paris. Il y avait un peuple français et une langue française, à laquelle le trouvère picard ou bourguignon se faisait une loi de se conformer, au mépris du ramage de son pays. De toutes parts on tendait à l’unité. Venez me dire ensuite qu’il était impossible au provincial d’éviter tout provincialisme, j’en demeure d’accord; mais, de bonne foi, est-ce là ce qu’on peut appeler un dialecte? [95] [...] 93 Ich zitiere nach Pfister (1973, 217). 94 Ampère kommt damit auf vier nordfranzösische Dialekte: das Normannische, das Pikardische, das Burgundische und das Französische der Île-de-France. Diese Einteilung ist klassisch: sie findet sich in zahlreichen zeitgenössischen Arbeiten wieder (vgl. Littré 1863, Bd. 1, XLIII; Pellissier 1866, 78; Brachet 1867, 44f.) und wird durch eine vielzitierte Äußerung von Roger Bacon († 1294) bestätigt: „Nam et idiomata ejusdem linguae variantur apud diversos, sicut patet de lingua Gallicana, quae apud Gallicos et Picardos et Normannos et Burgundos multiplici variatur idiomate. Et quod proprie dicitur in idiomate Picardorum horrescit apud Burgundos, immo apud Gallicos viciniores.“ (Opus majus III, 66; zit. in Lusignan 2 1987, 68). Bei Gaston Paris [1868] (1909a, 156) wird das Tableau schließlich um einen fünften Dialekt, das Poitevinische („encore mal reconnu“), erweitert. 95 Interessanterweise argumentiert Génin hier ganz ähnlich, wie Feller (1931) und Remacle (1939a; 1948) es etwa ein Jahrhundert später zur Grundlegung der Skriptatheorie tun werden: Die regionalen Schreibsprachen seien zu wenig dialektal und zu ‘französisch’, um sie als autonome, primärdialektal basierte Ausbauprodukte einzustufen. Vielmehr hätten die Schreiber in der Provinz von vornherein versucht, die Sprache der Île-de-France zu realisieren, was ihnen freilich nicht ohne gewisse Interferenzen gelungen sei. Vgl. dazu ausführlich Kap. 3.2. 52 <?page no="65"?> Avant donc de mettre en fait les dialectes, mettons-y le français. Cherchons le français, c’est le principal; le reste n’est que très-accessoire. (Génin 1845, 270f.; meine Kursivierung) Cerquiglini (2007, 105-107) betrachtet die Zurückweisung von Fallots Beitrag als Indiz für eine entscheidende Weichenstellung, die um 1850 in der französischen Sprachhistoriographie geschehen sei und die diese nachhaltig geprägt habe. Während Fallots strenge Empirie noch vom quasi naturwissenschaftlichen Anspruch des historisch-vergleichenden Paradigmas zeuge, sei die Ablehnung, auf die sein Ansatz in Frankreich stieß, bezeichnend für die Durchsetzung eines epistemischen Hangs zur nationalen Überhöhung der Sprachgeschichte. So sei der deskriptive Formalismus der in Deutschland praktizierten ‘historischen Linguistik’ (linguistique historique) zugunsten der narrativen Konstruktion einer weniger der Objektivität der sprachlichen Daten als vielmehr der nationalen Identitätsstiftung verpflichteten ‘Sprachgeschichte’ (histoire linguistique) in den Hintergrund getreten: L’option formalisante et abstraite des Recherches [de Gustave Fallot; K.G.] n’était pas tenable; elle ne fut d’ailleurs pas tenue longtemps. On sent chez Ampère une inaptitude à résister aux représentations et aux habitudes, aux aspirations et aux partis pris, à l’Histoire, qui fait pression et retour. Une autre thèse s’installe, de façon subreptice mais efficace et surtout durable; c’est Ampère qui, si l’on ose dire, renverse le courant. On s’est interrogé sur le retard dont, en manière d’étude du langage, la science française a souffert, au XIX e siècle, par rapport à l’Allemagne. [...] L’orientation germanique, en l’occurrence le romanisme comparé, est une théorie du développement organique et autonome des parlers; conçue à l’imitation des sciences naturelles, elle se consacre à l’origine et à l’évolution des espèces du langage, les langues. Elle est véritablement une linguistique historique, c’est-à-dire l’une des variétés de la linguistique. Appliqués à l’archéologie de leur langue nationale les érudits français, au sein même de leur activité scientifique, ne peuvent se déprendre d’une tradition pluriséculaire, et laisser dans l’ombre la valeur institutionnelle, la dimension littéraire, la fonction sociale de leur objet. Dans la mutation des structures qu’ils examinent avec soin, ils voient l’émergence d’une identité. L’orientation française tient pour également pertinent et valorise l’emploi d’une langue, dont elle décrit non seulement l’évolution mais la fortune. Parente (pauvre) des sciences sociales alors embryonnaires, elle est une histoire linguistique (comme il en est d’économique, de culturelle, de sociale); et cette histoire est événementielle. [...] La linguistique (historique) entend fournir la représentation formalisée, un modèle de ses données. Malgré ses maladresses, c’est ce à quoi s’essaie Fallot [...]. L’histoire (linguistique) formalise moins qu’elle ne raconte; elle subordonne la modélisation au récit. La réhabilitation de l’ancienne langue devient relation d’une genèse, chronique d’une marche heureuse vers l’idiome national. (Cerquiglini 2007, 105-107; Kursivierungen im Original) 53 <?page no="66"?> Für die Darstellung der Ursprungsgeschichte bedeutet dies, daß sich seit Ampère (1841) - in krassem Gegensatz zu Fallots vorsichtiger Koineisierungsthese avant la lettre - eine teleologische Sicht durchsetzte, die bereits die frühesten mittelalterlichen Textzeugnisse im Sinne des zentralistischen Uniformitätsgedankens zu deuten suchte: „De toutes parts on tendait à l’unité“ (Génin 1845, 271; s.o.). Cerquiglini führt zahlreiche Beispiele für diese historiographische Tendenz an. So stellen etwa Chevallet (1853/ 2 1858) 96 oder Pellissier (1866) 97 die frühzeitige sprachliche Hegemonie der Île-de-France als unbestreitbaren acquis dar: Par l’avénement [sic] de la maison des ducs de France à la couronne des Carolingiens [d.h. ab dem Jahr 987; K.G.], le dialecte français partagea la fortune de cette maison, et prit de jour en jour une supériorité marquée sur les autres dialectes, comme la nouvelle royauté ne tarda pas à établir sa suprématie sur tous les feudataires du royaume. La cour de France était devenue, pour les seigneurs du Nord, le modèle et l’école de la galanterie, de la courtoisie et des belles manières; la langue parlée dans la maison royale était l’expression naturelle de ces débuts de la civilisation et de la politesse. (Chevallet 1853/ 2 1858, 34; Kursivierung im Original) Ces dialectes ont tous au début des droits égaux, de même que tous les seigneurs féodaux, avides d’indépendance, s’arrogent un pouvoir que les Carlovingiens ne sont pas en état de leur disputer. Les quatre plus répandus de ces dialectes féodaux de la langue d’oïl sont: le français ou dialecte de l’Ilede-France, le picard, le normand et le bourguignon. [...] De ces dialectes, le français prend très-vite le premier rang, à la faveur des circonstances politique [sic]. Le jour même où la dynastie germanique tombe avec les Carlovingiens, une dynastie nationale fait son avénement [sic] en France. Cette dynastie, vraiment française, c’est celle des Capétiens, ducs de France, c’est-à-dire seigneurs féodaux du cœur même du pays. En cette même année 987, le dialecte de l’Ile-de-France devient la langue commune du royaume, c’est le français proprement dit, et les dialectes de la veille descendent au rang de patois, comme les seigneurs deviennent les vassaux des Capétiens. Paris, capitale du royaume, impose au royaume entier sa langue et son goût [...]. (Pellissier 1866, 78f.) Die Ineinssetzung von politischem und sprachlichem Aufstieg der Île-de- France erscheint in ihrer Absolutheit programmatisch. Sowohl Chevallet als auch Pellissier vergleichen den nach ihrer Überzeugung rein monotopischen Überdachungsprozeß (Typ 2d; vgl. Kap. 2.2.4) explizit mit der feudal- 96 Cerquiglini (2007, 121-124 und 218) zitiert den Autor, Albin d’Abel de Chevallet, fälschlicherweise unter dem Namen „du Chevallet“. 97 Cerquiglini (2007, 124f.) zitiert den Autor unter dem falschen Namen „Pélissier“, die Originalausgabe seiner Studie (1866) mit dem falschen Titel „Précis d’histoire de la langue française“. Unter dem Titel Précis d’histoire de la langue française depuis son origine jusqu’à nos jours erschien erst im Jahr 1873 die „2 e édition revue et augmentée“. 54 <?page no="67"?> herrschaftlichen Unterwerfung des Provinzadels unter die französische Krone: gegen Ende des 10. Jahrhunderts werden die Dialekte zu ‘Vasallen’ des Pariser Einheitsfranzösisch, und damit zu minderwertigen patois. Ob die postulierte frühzeitige Existenz einer sprachlich wie politisch geeinten Nation ab 987 überhaupt den historischen Tatsachen entspricht, wird nicht im Ansatz hinterfragt. 98 98 Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß das 19. Jahrhundert auch nach Fallot (1839) noch bemerkenswert weitsichtige sprachhistorische Abhandlungen hervorgebracht hat, die nicht in dem Maße wie Pellissier oder Chevallet der Versuchung einer anachronistischen Rückprojektion des nachrevolutionären Zentralismus auf das mittelalterliche Frankreich unterlagen. So hält insbesondere Littré (1863) an Fallots These eines späten Beginns der normativen Ausstrahlung des Pariser Französisch fest, was er - historisch angemessen - mit der relativ späten Konsolidierung der königlichen Zentralgewalt im Lauf des 13. Jahrhunderts in Zusammenhang bringt: „Tant que [l]e système [féodal] fut en pleine vigueur et que la royauté n’eut, sur de grands vassaux aussi puissants qu’elle, d’autre prérogative que de recevoir d’eux foi et hommage, les langues d’oc et d’oïl florirent avec leurs dialects et si, dans les onzième et douzième siècles, on eût annoncé aux troubadours que le moment approchait où leur brillant idiome perdrait, dans son propre pays, sa primauté, qui aurait ajouté foi à des prophéties si peu vraisemblables? Pourtant il en fut ainsi; l’unité royale grandissant, la diversité provinciale diminua, et peu à peu le parler d’Île-de-France, de Paris et d’un rayon plus ou moins étendu prévalut.“ (Littré 1863, Bd. 2, 101f.). - Bemerkenswert erscheint auch Littrés Vermutung, das „parler d’Île-de-France“ habe sich im Zuge seiner überregionalen Ausbreitung ab dem 14. Jahrhundert noch im Kontakt mit den übrigen Regionalsprachen verändert und erst dadurch sein charakteristisches Gepräge erhalten: „Mais ce dialecte de la langue d’oïl, en devenant langue générale et en s’exposant ainsi à toutes sortes de contacts, fit à ses voisins des emprunts multipliés, ou plutôt en reçut des empreintes qui ne sont pas d’accord avec son analogie propre, et c’est ce qui les rend reconnaissables encore aujourd’hui. On observe, dans le français moderne, des formes qui dérivent du picard, du normand, du bourguignon. Pour nous, l’habitude masque ces disparates; mais, dès qu’on se familiarise avec les patois ou les dialectes, et que l’on en considère l’origine et l’histoire, on découvre les amalgames qui se sont faits. Ce furent, en effet, des amalgames dus aux circonstances qui déterminaient l’influence et la pression des provinces sur le centre; ce ne furent pas des néologismes qu’amenait le besoin de nouveaux mots pour de nouvelles idées. Il n’y eut pas choix bien ou mal entendu, attraction plus ou moins heureuse; il y eut fusion et, partant, confusion.“ (Littré 1863, Bd. 2, 102; meine Kursivierung). - Wenn Littré hier auch nicht an eine besonders tiefgreifende, systematische distanzsprachliche Varietätenmischung (Typ 2a’) gedacht haben mag, klingt doch recht klar die Idee an, daß auch ein monotopisch basierter Überdachungsprozeß (Typ 2d) keineswegs die Durchsetzung eines autochthonen Dialekts ‘in Reinform’ bedeuten muß (und kann), sondern daß hier durchaus mit zumindest punktuellen Entlehnungen aus anderen Varietäten gerechnet werden muß. Vgl. dazu das Beispiel des florentinischbasierten, aber doch von vereinzelten nord- oder süditalienischen Kontakten geprägten Standarditalienischen (Kap. 2.2.4; Typ 2d) sowie Seligs (2008, 78 und 82) Vorschlag, den Überdachungsprozeß prinzipiell plurizentrisch zu konzeptualisieren. - Im übrigen distanziere ich mich von der etwas umständlichen Kritik, der Cerquiglini (2007, 118-120) Littrés Ausführungen unterzieht. Zwar ist offensichtlich, daß auch 55 <?page no="68"?> Nachdem sich die französische Philologie in der Dritten Republik als voll institutionalisierte Fachwissenschaft etabliert hatte 99 , wurde die - nunmehr prominent von Gaston Paris propagierte - These vom monotopischen Ursprung des französischen Standards zum sprachhistorischen Dogma. In der Tat kann die Autorität der von Paris vertretenen Lehrmeinung kaum überschätzt werden; mit der 1872 gegründeten Zeitschrift Romania verfügten er und seine Mitstreiter über ein mächtiges Publikations- und Rezensionsinstrument. 100 So nimmt es nicht wunder, daß zentrale sprachhistorische Konzepte, die über Jahrzehnte hinweg in romanistischen Handbüchern reproduziert wurden, sich zum ersten Mal in Paris’ Schriften programmatisch vorformuliert finden. Der autochthone Dialekt der Île-de-France als direkte Fortsetzung des dort gesprochenen Vulgärlateins sei also das Französische schlechthin, die Urform der exemplarischen Varietät, die im Mittelalter als Literatur- und Verwaltungssprache das französische Königreich und in der Neuzeit als langue universelle die ganze Welt eroberte. Auch die Geschichte des Worts français, dessen ursprüngliche Bedeutung ‘Dialekt der Francia (d.h. des Kapetinger-Stammlands im 10./ 11. Jhdt.)’ entsprechend der territorialen Ausdehnung der Monarchie nach und nach hinter die erweiterte Bedeutung ‘li- Littré teleologisch argumentiert, wenn er die spätere sprachliche Modellfunktion der Île-de-France gewissermaßen ur-ursprünglich auf die (zumindest ideelle) Ausrichtung des Feudalsystems an Paris durch Hugo Capet zurückführt. Dies reicht aber meines Erachtens nicht aus, um Littré zu unterstellen, er habe durch die Hintertür doch wieder das berüchtigte Datum 987 als Beginn der sprachlichen Sonderstellung von Paris ins Spiel gebracht („que ce dialecte [...] avait reçu dès longtemps son bâton de maréchal“; Cerquiglini 2007, 118). Wenn man die fragliche Passage bei Littré (1863, Bd. 2, 101) nicht überinterpretiert, läßt sie sich schlicht dahingehend paraphrasieren, daß der Beginn der Kapetingermonarchie in der historischen Retrospektive einen ersten möglichen Anhaltspunkt zur Erklärung der späteren politischen und sprachlichen Bedeutung der Île-de-France darstellt; nichtsdestoweniger hat die Kontingenz der historischen Entwicklung erst im 13. Jahrhundert zu einer tatsächlichen Vormachtstellung dieser Region geführt. 99 Ab 1866 vertritt Gaston Paris seinen Vater Paulin am Collège de France, ab 1869 unterrichtet er an der neugegründeten École Pratique des Hautes Études. 1872 erfolgt die Ernennung zum Lehrstuhlinhaber am Collège de France, im selben Jahr gründet Paris zusammen mit Paul Meyer die Zeitschrift Romania. 1877 entsteht an der Sorbonne eine maîtrise de conférence für französische Sprache und Literatur des Mittelalters, deren Inhaber, Arsène Darmesteter, auf Betreiben von Paris und Meyer später zum Lehrstuhlinhaber ernannt wird (die diesbezüglichen Angaben in der Literatur sind widersprüchlich: Bergounioux (1991, 250) nennt das Jahr 1883, Bähler (2004a, 289) das Jahr 1882, Hafner (2006, 36) das Jahr 1878). 100 Vgl. zur Nachwirkung von Paris’ Schriften auch den repräsentativen, von Mario Roques herausgegebenen Band von Mélanges (Paris 1909). 56 <?page no="69"?> terarisches/ Nationalsprache Französisch’ zurückgetreten sei 101 , spreche eindeutig für einen monotopischen Ursprung des französischen Standards. Le dialecte parlé dans cette province [d.h. in der Île-de-France; K.G.] et dans les provinces voisines [...] s’appelait donc [...] français, et si ce terme, comme le nom de la contrée, s’applique par exception à l’ensemble de la langue d’oïl opposée à la langue d’oc, il veut proprement dire le dialecte central, et sert souvent, dans les textes anciens, à le distinguer du Normand, du Picard et du Bourguignon [sic]. Les mêmes causes qui firent que peu à peu la Gaule tout entière s’appela royaume de France, répandirent le Français [sic] hors de ses limites originaires, et en firent la langue des hommes cultivés du royaume entier: mais au commencement ce n’est, il faut bien le répéter, qu’un dialecte de la langue d’oïl. (Paris [1868] 1909a, 156f.) Dabei habe die Unauffälligkeit der sprachlichen Merkmalsausprägungen, die einen ausgewogenen Kompromiß zwischen den übrigen Sprachformen Nordfrankreichs darstellten, den Dialekt des Zentrums zur ‘natürlichen’ Referenzvarietät prädestiniert: Ce n’est pas même un dialecte bien nettement défini; il se rapproche, suivant la partie du domaine où on l’observe, de l’un des dialectes voisins; dans son foyer propre, à Paris et dans le Parisis, il nous présente entre les sons et les formes des autres dialectes un intermédiaire ou plutôt un équilibre qui le rendait parfaitement propre à les supplanter par la suite [...]. A partir du XII e siècle, cette prédominance du dialecte de l’Ile de France sur les autres devient de plus en plus sensible; à la fin du moyen-âge il les a tous remplacés comme langue littéraire et s’est même imposé en cette qualité aux peuples qui avaient jadis donné à la langue d’oc une si riche littérature. Langue officielle du royaume, langue de la justice à partir du XVI e siècle, langue de la poésie, et depuis le XVII e siècle aussi de la littérature scientifique, le français, adopté par tous les habitants de notre pays qui ont quelque instruction, a réduit les dialectes, jadis ses rivaux, à l’état de simples patois, qu’on se croit en droit de mépriser et qu’on s’efforce de faire disparaître. Grâce à l’influence politique et intellectuelle de la France, [...] il a pénétré, par une fortune sans exemple, dans le monde tout entier. (Paris [1868] 1909a, 157) Allerdings räumt Paris auch ein, daß der beispiellose Aufstieg des Dialekts der Île-de-France zur überregionalen Literatur- und Verwaltungssprache durchaus nicht spurlos an diesem vorübergegangen sei, und bezieht sich dabei auf die strukturellen Veränderungen, die wir heute unter dem Begriff des intensiven Ausbaus verstehen: Cette glorieuse destinée exerça sur le développement du dialecte de l’Ile-de- France une influence considérable. Au point de vue strictement philologique, l’avènement d’un dialecte au rang de langue littéraire est un accident 101 Vgl. zu diesem Problem auch Bader (1969) und Schneidmüller (1987). 57 <?page no="70"?> des plus graves, qui amène nécessairement de grandes perturbations dans l’organisme. [...] Il est sans doute fort heureux que le français se soit développé comme il l’a fait; mais ce développement a été souvent contraire à ses tendances organiques. [...] A la place de l’harmonie qui règne dans les idiomes laissés à eux-mêmes, la culture littéraire, qui manie la langue despotiquement, sans en connaître la nature et les lois intimes, introduit souvent l’arbitraire et le conventionnel. (Paris [1868] 1909a, 158) Nichtsdestoweniger resümiert Paris: Quoiqu’il en soit, le dialecte français devint la langue française. C’est ce dialecte, depuis son origine la plus reculée jusqu’à nos jours, en l’embrassant également dans sa forme classique et dans son usage vulgaire, que je comprends sous ce nom [...]. (Paris [1868] 1909a, 159) Zwanzig Jahre später verkündet er in seiner berühmten Rede „Les parlers de France“ vor der Versammlung der Sociétés savantes: De bonne heure [...], il s’est formé des centres d’influence qui ont assimilé autour d’eux les parlers de la région voisine, en effaçant de plus en plus les petites différences qui auraient empêché de s’entendre. Le plus puissant de ces centres a été naturellement Paris, où était le foyer principal de la vie nationale; il a constamment agi dès le moyen âge, il continue d’agir sans cesse [...]. (Paris [1888] 1909b, 439) Das nationale Pathos, das sich hier deutlicher als in der oben zitierten Vorlesung von 1868 102 vernehmen läßt, ist Ausdruck der kontinuitäts- und identitätsstiftenden Funktion, die der Mittelalterphilologie in der Paris’schen Konzeption zukommt (es ist hier aber wohl auch dem repräsentativen, stärker populärwissenschaftlichen Zuschnitt der Rede vor den Sociétés savantes geschuldet). 103 102 Es handelt sich um die Eröffnungsvorlesung des cours libre, den Paris in der rue Gerson unter dem Titel „Grammaire historique de la langue française“ hielt. Diese öffentlichen Abendvorlesungen waren 1866 vom ministre de l’Instruction publique, Victor Duruy, eingeführt worden; 1869 gingen sie offiziell im Programm der neugegründeten École Pratique des Hautes Études auf. Vgl. Bähler (2004a, 124-127). 103 Zum nationalen Element in Gaston Paris’ gedanklichem Universum vgl. Bähler (2004a, 375-456). In ihrem Beitrag zu Zink (Hrsg.) (2004) spricht sich Bähler dafür aus, den längst zum Topos geratenen Vorwurf, Paris’ gesamte Wissenschaftskonzeption sei ‘national kontaminiert’, zu relativieren (vgl. Bähler 2004b, 35-40). Zwar stehe die französische Mediävistik der Dritten Republik ganz klar im Dienste der nationalen Identitätssicherung; andererseits sei es aber verfehlt, das wissenschaftliche Ethos des begeisterten Patrioten Paris in Zweifel zu ziehen oder ihm gar revanchistische Absichten zu unterstellen. Abgesehen von Paris’ persönlicher Verbundenheit mit Friedrich Diez und anderen deutschen Gelehrten komme in zahlreichen Äußerungen seine große Bewunderung für die deutsche Wissenschaft und insbesondere für die methodische Klarheit der historisch-vergleichenden Grammatik zum Ausdruck. Paris sei eher an einer Universalisierung und Entnationalisierung der Wissenschaft gelegen 58 <?page no="71"?> Die Bezeichnung francien hat Paris freilich erst ein Jahr später zum ersten Mal verwendet, allerdings ohne den Begriff überhaupt zu definieren, in einer unauffälligen Fußnote zu einem in der Romania (1889) erschienenen Artikel über den burgundischen Dichter Hugues de Berzé: [...] le francien, comme le normand, dit oi (il est vrai qu’on pourrait changer pou en poi, mais pou est la forme francienne). (Paris 1889, 570, Anm. 1) Sehr wahrscheinlich ließ Paris sich terminologisch von Hermann Suchier inspirieren, der wiederum ein Jahr zuvor in seinem Beitrag zum ersten Band von Gröbers Grundriss [1888] ( 2 1904-1906) das deutsche Wort francisch geprägt hatte, wohl um die Zweideutigkeit des Ausdrucks français ‘1. Dialekt (Skripta) der Île-de-France; 2. französische Nationalsprache/ Standardfranzösisch’ zu umgehen. 104 Es war also der Deutsche Suchier, der dem Dialekt der Île-de-France seinen - historisch nicht belegten - Namen gab. 105 Zugleich formulierte er das Paradox, mit dem sich die Standardisierungsforschung lange Zeit konfrontiert sah: der postulierten Frühzeitigkeit der literarischen Blüte und überregionalen Ausstrahlung des Île-de-France- Dialekts steht nämlich der ernüchternde Befund entgegen, daß Manuskripte aus dieser Region frühestens aus den vierziger Jahren des 13. Jahrhunderts überliefert sind: 106 Die francische Mundart in ihrer einheimischen, von fremden Beeinflussungen unberührten Form ist zwar auch im 12. Jahrhundert litterarisch verwendet worden [...], doch sind uns Handschriften aus dieser Zeit nicht erhalten. Erst kurz vor Mitte des 13. Jahrhunderts tauchen Texte auf, die, in Paris oder der Umgegend von Paris geschrieben, uns die dort gesprochene, allmählich zur Schriftsprache von ganz Frankreich entwickelte Mundart in annähernder Reinheit zeigen. (Suchier [1888] 2 1904-1906, 727) Suchier versuchte diesem potentiell widersprüchlichen Sachverhalt durch eine Theorie gerecht zu werden, die vor den Beginn der handschriftlichen Überlieferung des ‘reinen Francisch’ im 13. Jahrhundert eine Phase stellt, in der eine immerhin ‘francisch’-basierte, ansonsten aber Elemente aus unterschiedlichen Dialekten vereinende überregionale Koine als Literatursprache gedient haben soll. Als „normannische Litteratursprache“ bezeichnet Suchier diese Ausgleichsvarietät nicht aufgrund einer tatsächlichen dialektagewesen als an einem mit philologischen Mitteln geführten ‘Wettkampf der Nationen’. 104 Vgl. zur Geschichte des Worts francien Chaurand (1983); Bergounioux (1989); Cerquiglini (2007, 127-163). 105 Im übrigen lag mit Metzke (1880/ 1881) bereits eine umfassende Untersuchung der Sprache der Île-de-France auf der Grundlage von Urkunden aus dem 13. und 14. Jahrhundert vor. Die Arbeit war bei Gustav Gröber noch zu dessen Breslauer Zeit entstanden (vgl. Völker 2003, 18f., Anm. 73). 106 Vgl. dazu auch Butterfield (2009, 57-59). 59 <?page no="72"?> len Verwurzelung in der Normandie, sondern aufgrund der Tatsache, daß sie im 11. und 12. Jahrhundert am Hofe der „anglonormannischen“ Könige zu literarischer Blüte gelangte: Es haben sich im Mittelalter in Frankreich zwei Mundarten zu Schriftsprachen herausgebildet, die eine im Norden, die andere im Süden [nämlich das Okzitanische; K.G.]. Die litterarischen Denkmäler, die uns aus dem 11., reichlicher erst aus dem 12. Jahrhundert erhalten sind, zeigen, dass die Bildung dieser mit keiner Mundart sich total deckenden, sondern aus der Ausgleichung mehrerer mundartlicher Züge hervorgegangenen Schriftsprachen den Anfängen der zusammenhängenden Litteratur vorausgegangen ist. Die Ausgleichung hatte sich zunächst im höheren Verkehr vollzogen, bevor sie in der Schrift zum Ausdruck kam. Die f r a n z ö s i s c h e Literatur feierte, wenn von der nur im Gesange lebenden oder doch in Handschriften uns nur getrübt überlieferten Heldensage abgesehen wird, ihre erste Blüte am Hofe der anglonormannischen Könige, von der Zeit Heinrichs I. bis zur Zeit Heinrichs II. und seiner Söhne. Die Schriftsteller dieses Kreises haben sich einer Sprache bedient, die nur geringe mundartliche Schattierung zulässt und daher als eine einheitliche Sprache, als Schriftsprache, bezeichnet werden darf. [...] Schon im Anfang des 12. Jahrhunderts lässt sich eine anglonormannische Gruppe von einer kontinentalen Gruppe von Schriftstellern sondern [...]. Das Anglonormannische hat sich sodann allmählich weiter und weiter von der Sprache des Kontinents entfernt. [...] Ungeachtet dieser Abweichungen ist unverkennbar, dass die Litteratursprache der kontinentalen und der anglonormannischen Dichter dieselbe mundartliche Grundlage hat, welche die älteste erreichbare Gestalt der französischen Schriftsprache für uns darstellt. Wir nennen diese die normannische, doch soll damit nicht gesagt sein, dass sie einer Mundart der Normandie entspricht; vielmehr liegt ihr wahrscheinlich die Mundart des Herzogtums Francien zu Grunde, von der sie sich nur in wenigen prinzipiellen, der Normandie angehörigen Zügen entfernte. (Suchier [1888] 2 1904-1906, 726f.; meine Kursivierungen, Sperrung im Original) Die Ablösung der ‘normannischen’ durch die ‘rein francische’ Phase sei auf das Ende der englischen Herrschaft über Westfrankreich zurückzuführen (1204 eroberte Philipp II. August unter anderem die Normandie, und damit das Stammland der englischen Könige): Nach der Rückgabe der Normandie an Frankreich (1204) verwildert das Französische in England mehr und mehr; in Frankreich macht die normannische Litteratursprache, die wir als ein durch mundartliche Einflüsse etwas temperiertes Francisch bezeichnet haben, der reinen francischen Mundart Platz, aus der sich die noch jetzt übliche französische Schriftsprache entwickelt hat. (Suchier [1888] 2 1904-1906, 743) Interessant ist hier zweierlei: Zum einen hält Suchier grundsätzlich an der monotopischen These fest, wonach der Île-de-France-Dialekt die unmittel- 60 <?page no="73"?> bare Basis der modernen französischen Schriftsprache sei. Zum anderen setzt er aber die Ausbreitung der „reinen francischen Mundart“ als überregionaler Referenzvarietät erst für das 13. Jahrhundert an und macht damit ein Zugeständnis an die sprachliche Polymorphie der älteren literarischen Produktion, die sich schon insofern schwerlich als von einem zentralfranzösischen Irradiationszentrum beeinflußt darstellen läßt, als Handschriften aus der Île-de-France erst ab den 1240er Jahren überliefert sind und die großen Zentren der höfischen Dichtung sich vor dem 13. Jahrhundert bekanntermaßen nicht in Paris befanden, sondern in den vom Haus Anjou- Plantagenêt kontrollierten westfranzösischen Gebieten einschließlich Englands. Also kommt Suchier zur Annahme einer „zunächst im höheren Verkehr“ zustandegekommenen und dann graphisch niedergelegten „Schriftsprache“ (das Szenario erinnert an unsere tendenziell distanzsprachliche, aber anfangs noch phonisch realisierte regional koine (2a), der wir eine starke Affinität zur Verschriftlichung bescheinigt haben; s.o., Kap. 2.2.2). Gleichwohl stand für Suchier im Grundsatz fest, daß auch diese ältere Literatursprache letztlich auf der „Mundart des Herzogtums Francien“ basierte. Entsprechend hatte er das ‘Normannische’ im Vorwort zu Warnkes Edition (1885) der Lais der Marie de France, wo er seine Theorie der französischen Schriftsprachenentwicklung erstmals knapp skizzierte, auch als „Altfrancisch“ bezeichnet. 107 Eine Einschränkung, die Suchier in seinem Beitrag zum Grundriss nicht weiter vertieft, gilt für die epische Dichtung, deren mündlicher Ursprung sich per se der schriftlichen Überlieferung und damit dem philologischen Zugriff entziehe: „wenn von der nur im Gesange lebenden oder doch in Handschriften uns nur getrübt überlieferten Heldensage abgesehen wird“ (s.o.). Diese Parenthese darf als versteckte Referenz auf Gaston Paris gelesen werden, für den das Heldenepos nicht nur die französische ‘Nationalgattung’ des Mittelalters war 108 , sondern deren Entstehung und Hochzeit 107 Vgl. Suchier (1885): „[...] die gewöhnlich als Normannisch bezeichnete Sprache [konnte] nur im östlichen Neustrien, nur in Ile de France, mit der Volksmundart zusammenfallen [...]“. - In seiner Altfranzösischen Grammatik (1893, 5) nennt Suchier schließlich fünf sprachliche Merkmale, durch die sich die ‘normannische Literatursprache’ vom ‘Franzischen’ des 13. Jahrhunderts unterschied (z.B. ou vs. eu; ei vs. oi; Erhalt der aus - ĀBAT entwickelten Imperfektformen vs. analogischer Angleich an die Formen aus - ĒBAT ). Später betonte Wacker (1916, 12), daß Suchiers Bezeichnung „‘Altfranzisch’“ insofern gerechtfertigt sei, als das ‘Normannische’ in allen fünf Fällen den älteren Lautstand aufweise, das ‘(Neu-)Franzische’ dagegen die jüngere Entwicklung. Im Fazit ihrer Dissertation Über das Verhältnis von Dialekt und Schriftsprache im Altfranzösischen hielt Wacker (1916, 87) sogar fest, daß die ‘normannische’ Schriftsprache „mit dem Dialekt der Ile-de-France identisch“ sei (vgl. zu Wackers Arbeit auch meine Anm. 149). 108 Vgl. dazu umfassend Bähler (2004a, 459-542). 61 <?page no="74"?> im 9. und 10. Jahrhundert er wie selbstverständlich mit der Stadt Paris und der Île-de-France als ‘idealem Mittelpunkt Frankreichs’ 109 in Verbindung brachte. Zwar hatte sich Paris in seiner zum Klassiker avancierten Histoire poétique de Charlemagne (1865) noch nicht explizit zur geographischen Dimension der Epengenese geäußert. Nachdem in dieser Frage aber ein gewisser Klärungsbedarf entstanden war, versäumte Paris es nicht, das Wort zu ergreifen und nunmehr um so klarer Stellung zu beziehen. Der Anlaß ergab sich ein knappes Jahrzehnt nach Suchiers Beitrag, als nämlich Ferdinand Brunot (1896b) in einem der ersten Kapitel, die er zu der von Petit de Julleville (1896-1899) herausgegebenen Sprach- und Literaturgeschichte beisteuerte (vgl. Brunot 1896a; 1896b; 1897), erneut das Paradox feststellte, daß die Île-de-France als mutmaßliche Heimat der französischen Schriftsprache erst zu einem relativ späten Zeitpunkt literarische oder diplomatische Manuskripte aufweisen könne. 110 Unmißverständlich entgegnete Paris in seiner - insgesamt sehr positiven - Rezension, daß die Stadt Paris, wenn nicht ein frühes Zentrum der volkssprachlichen Schriftkultur, so doch ganz sicher ein Zentrum der epischen, mündlichen Dichtung gewesen sei: Sur la question de l’emploi littéraire [du dialecte de l’Île-de-France; K.G.] [...], l’auteur aurait pu préciser davantage. Il part d’abord, il me semble, d’une donnée un peu exagérée quand il dit que l’on „chercherait vainement, au moins dans ce qui nous est parvenu, des œuvres écrites en français de France, à une époque où certaines provinces, particulièrement la Normandie, ont déjà toute une littérature“. Il aurait fallu tenir compte non seulement de ce qui a été „écrit“, mais de ce qui a été composé, récité, chanté [...]. Je crois, pour ma part, que l’Ile-de-France a été de bonne heure un centre, sinon proprement litteraire, au moins poétique, et par là même un centre de langue pour les poètes [...]. (Paris [1897] 1909c, 193; meine Kursivierung) Zudem steht außer Frage, daß auch Suchiers Theorie von der ‘normannischen Koine’ unter dem gedanklichen Einfluß von Gaston Paris zustandegekommen ist. Dieser hatte nämlich im Vorwort zu seiner 1872 erschienenen Edition der Vie de saint Alexis ebenfalls eine These vertreten, wonach der sprachlichen Profilierung der Île-de-France - und damit der Geschichte des ‘eigentlichen’ Französisch - eine Frühphase vorausgegangen sei, von der unter anderem die dialektal noch nicht individuierte, teils normandi- 109 Vgl. dazu auch Olschki (1913a und 1913b); Vossler ( 2 1929, 22-40); Rauhut (1963). 110 Im übrigen gebraucht Brunot (1896b) noch an keiner einzigen Stelle den Terminus francien. Erst im selbständig veröffentlichten ersten Band seiner Histoire (1905) tritt der Neologismus an die Stelle der Periphrasen français écrit oder français de France (s.u.). 62 <?page no="75"?> sche, teils zentralfranzösische Züge aufweisende Sprache des Alexiuslieds 111 zeuge. Dieses wichtige Literaturdenkmal des 11. Jahrhunderts sei demnach noch nicht im späteren Dialekt der Île-de-France oder der Normandie verfaßt worden, sondern in einer Art ‘franko-normandischem Uridiom’, das im gesamten Westen der Nordgalloromania, nämlich im Gebiet der früheren westfränkischen Provinz Neustrien gesprochen worden sei, bis es dann erst im 12. Jahrhundert zur Ausdifferenzierung der heutigen französischen Dialekte und insbesondere zur sprachlichen Trennung von Île-de-France und Normandie gekommen sei: [...] la Neustrie, composée à peu près des provinces que j’ai énumérées tout à l’heure, - et spécialement de l’Ile-de-France et de la Normandie, - a eu originairement un seul et même dialecte: ce n’est qu’à une époque qui n’est pas antérieure au XII e siècle que se sont manifestées entre le langage des Français et celui des Normands certaines différences, et elles se sont produites de telle façon que c’est tantôt le dialecte français, tantôt le dialecte normand qui a conservé l’usage ancien. (Paris 1872, 42) Die Strategie, der Paris’ Erörterung folgt, ist offensichtlich: Da das Alexiuslied aufgrund seiner sprachlichen Merkmale weder der Île-de-France noch der Normandie als Ursprungsgebiet eindeutig zugeordnet werden kann, weicht Paris in genetischer Argumentation auf eine ältere Sprachstufe aus. So kann er einerseits die heutige Normandie (und konkret die Stadt Rouen) 112 als wahrscheinlichen Entstehungsort des Alexius anerkennen; 113 andererseits deklariert er die Entstehungszeit als Phase der noch nicht eingetretenen dialektalen Differenzierung zwischen Zentral- und Westfrankreich und stellt so die spätere Sprache der Île-de-France unter das genetische ‘Dach’ des im 11. Jahrhundert noch weiträumig gesprochenen ‘neustrischen’ Idioms. Dadurch wird die Sprache des Alexiuslieds, wenn sie 111 Paris stützt seine Edition im wesentlichen auf das Hildesheimer Manuskript L, das wahrscheinlich im 12. Jahrhundert in England niedergeschrieben wurde. Die Redaktion des Archetyps setzt Paris dagegen für die Mitte des 11. Jahrhunderts an. Vgl. Paris (1872, 45f.): „Ecrit environ cent ans après le poème dans un pays où le dialecte normand, importé en 1066, avait déjà commencé à s’altérer, il a dû avoir pour original un très-bon texte, notablement plus ancien, que le copiste a reproduit avec de louables efforts de fidélité, mais sans pouvoir s’empêcher de mêler à chaque instant aux formes de son modèle celles qui lui étaient familières.“ 112 Vgl. Paris (1872, 43-45). 113 Vgl. Paris (1872, 43): „Si ce fait est vrai [le fait que l’Alexis est antérieur à la séparation des dialectes normand et français], et il me paraît difficile de le contester, il devient assez indifférent de savoir si notre poème a été composé en France proprement dite ou en Normandie.“ - 1885 veröffentlichte Paris eine kleine Studienausgabe des Alexius; deren zweite, im Jahr 1903 erschienene Auflage enthielt ein „Avertissment“, in dem Paris die Entstehung des Alexiuslieds wiefolgt lokalisiert: „[...] le poème [...] a été composé, probablement dans la partie de la Normandie la plus voisine de l’Ile de France, aux environs de l’an 1040“ (Paris [ 2 1903] 1980, V). 63 <?page no="76"?> auch synchron betrachtet noch zwischen Westen und Zentrum oszilliert, genealogisch mit der späteren Nationalsprache identifiziert, und dem Alexius fällt eine Rolle zu, die die älteren Sprachdenkmäler des 9. und 10. Jahrhunderts noch nicht erfüllen können: er wird zum ältesten Monument einer im engeren Sinne französischen Nationalliteratur. Les quatre ou cinq échantillons, si courts et si précieux, que nous possédons de la langue française jusqu’au XI e siècle, sont tous étrangers au groupe occidental. Pour les Serments de 842, [...] il est difficile de le décider; mais il y a des probabilités pour qu’il se rattache plutôt au groupe oriental. Le fait n’est pas douteux pour la Cantilène de sainte Eulalie, écrite à la fin du IX e siècle dans l’abbaye de Saint-Amand, entre Tournai et Valenciennes, et qui offre des traits complètement inconnus au français proprement dit [...]. - Ecrit un peu plus tard que la Cantilène, mais dans le même pays, le Fragment de Valenciennes offre des particularités analogues: il a des formes inconnues à tous les textes français [...] et des traits de phonétique déjà tout-à-fait wallons [...]. - Il est difficile de dire à quel dialecte appartiennent les poèmes de Clermont, ni même s’ils sont tous les deux écrits dans le même; mais il est très-probable que c’est dans un dialecte intermédiaire entre la langue du nord et celle du midi, et à coup sûr assez éloigné de celui qui est plus tard devenu la langue littéraire de l’ancien pays de Gaule tout entier. Comparé à ces monuments antérieurs, l’Alexis au contraire apparaît tout de suite comme écrit dans ce dernier dialecte; il offre toutes les formes qui sont communes au groupe oriental [sic; lies: occidental] et qui pour la plupart ont prévalu dans le français proprement dit; il en a d’autres qui sont propres au normand et le distinguent du français, mais il est probable que ces divergences se sont produites postérieurement à l’époque de notre poème. (Paris 1872, 41f.) 114 Der etwas jüngere, gegen Ende des 11. Jahrhunderts verfaßte Archetyp, der als Vorlage für das in anglonormannischer Skripta niedergeschriebene Oxforder Manuskript des Rolandslieds 115 gedient haben soll, gehört nach Paris’ Theorie einem Stadium an, in dem sich die Differenzierung der Dialekte 114 Am Ende seiner „Préface“ kommt Paris (1872, 135) zu dem Schluß: „[...] je pense qu’on voudra bien reconnaître que le texte de ce poème, tel que je le livre au public, offre un spécimen admissible de la bonne langue française telle qu’elle devait se parler et s’écrire au milieu du XI e siècle.“ - Im übrigen zeigt Cerquiglini (1989, 74-94) anhand von Paris’ editionsphilologischer Praxis, daß diesem nicht nur an der Herstellung von Kontinuität ‘nach vorne’, also vom Alexius hin zum Französischen, sondern auch von Kontinuität ‘nach hinten’, nämlich zur (klassisch-)lateinischen Grammatik gelegen war. So geht Paris bei seiner Lachmannschen Rekonstruktion des Archetyps weit über den handschriftlichen Befund hinaus und schafft insbesondere im Bereich der Zweikasusflexion die Fiktion einer latinisierenden Regelmäßigkeit, die so aber keineswegs aus den tatsächlich überlieferten Varianten hervorgeht. 115 Das Manuskript Digby 23 (abgekürzt: Ms. O) wurde wahrscheinlich im zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts in England niedergeschrieben. Vgl. Kaiser (1999, 401f.). 64 <?page no="77"?> bereits deutlicher bemerkbar machte. So überrascht es kaum, daß Paris diesen anderen Gründungstext der französischen ‘Nationalliteratur’ gleich unmittelbar in der Île-de-France verankert (den mündlichen Ursprung der schließlich zum Rolandslied arrangierten Kantilenen sieht Paris allerdings in der Bretagne). 116 Im übrigen führt Suchier [1888] ( 2 1904-1906, 740) Paris’ Untersuchung des Alexiuslieds explizit als Referenz für die „Grammatik der N o r m a n n i s c h e n L i t t e r a t u r s p r a c h e des 11. und 12. Jahrhunderts“ (Sperrung im Original) an. Und auch die bei Niemeyer verlegte Reihe der „Bibliotheca Normannica“ hatte Suchier 1879 als Alleinherausgeber unter Berufung auf Paris’ Theorie vom ‘neustrischen Urdialekt’ gegründet: Die Französische Schriftsprache hat zu ihrer Grundlage die Mundart des Herzogtums Francien, welches mit der Thronbesteigung Hugo Capets (987) die Führung des Romanischen Frankenreichs übernahm. Unsere wichtigsten Quellen für diese Sprache sind die Werke der in Francien geborenen Schriftsteller und die in der Francischen Mundart geschriebenen Urkunden und Handschriften. Es haben jedoch auch Schriftsteller ausserhalb Franciens sich der Schriftspache bedient, um damit einem grösseren Leserkreise entgegen zu kommen. Wir sehen aus den erhaltenen Literaturdenkmälern, dass die κοινή 117 besonders in der Normandie und in England angewendet wurde, und dürfen glauben dass sie in diesen Ländern auch dem mündlichen Verkehre diente. Es ist wahrscheinlich dass diese Verkehrssprache in die Zeit hinaufreicht, wo die Normandie mit Francien zu dem Reiche Neustrien verbunden war [Der folgende Text ist als Fußnote eingefügt: ] Aehnlich äusserte sich Gaston Paris [...], doch hielt man damals (1872) noch die Sprache der Normannischen Schriftsteller mit den in der Normandie gesprochenen Volksmundarten für identisch. (Die letztere nenne ich N o r m a n d i s c h zum Unterschiede von dem auf die Schriftsprache angewen- 116 Vgl. Paris ( 9 1907, XXIXf.): „Le plus probable [...] est qu[e la légende de Roland] repose sur un poème originairement composé dans la Bretagne française, remanié ensuite à plusieurs reprises dans diverses parties de la région occidentale de notre pays, et qu’elle a pour dernier auteur ou arrangeur un ‘Français de France’, qui a dû achever son œuvre, à laquelle il a donné une inspiration plus largement nationale, sous le règne de Philippe I er .“ Vgl. auch obiges Zitat aus Paris [1897] (1909c, 193). - Auch Vossler ( 2 1929, 25f.) hält fest, daß „[e]inige der ältesten und wichtigsten Stücke“ der altfranzösischen Chanson de geste „in franzischer Mundart gedichtet zu sein [scheinen]“, und unterscheidet zwischen der „Heimat der dichterischen Sprache“ und der „Heimat [...] der Stoffe“: „Die epischen Stoffe mit ihrem, sei es sagenhaften, sei es geschichtlichen Untergrund, sind aus den verschiedensten Gegenden des Landes und Auslandes zusammengeflossen; aber der Geburtsort des Dichters ist doch wohl etwas anderes als der seines Gegenstandes.“ 117 Suchier verwendet den Begriff hier im Sinne einer im wesentlichen monotopisch basierten Koine de iure. 65 <?page no="78"?> deten Ausdruck N o r m a n n i s c h .) (Suchier 1893, 1f.; Sperrungen im Original) 118 Das Einvernehmen zwischen dem deutschen Professor und dem französischen Chefphilologen scheint also nahezu perfekt gewesen zu sein. Suchier korrigierte Paris’ Thesen lediglich insofern, als er seit seinem Vorwort zu den Lais (1885) nicht mehr von einem gesprochenen, primärdialektalen Idiom des früheren Neustrien ausging, sondern von einer „Schriftsprache, die vor den Anfängen der Normannischen Literatur als Hof- und Verkehrssprache existiert haben wird“ (s.o.). Die modifizierte Theorieversion stellt zwar insofern einen Fortschritt dar, als Suchier aufgrund neuer dialektologischer Untersuchungen 119 zu der Einsicht gelangt war, „dass das Normannische niemals eine Volksmundart der Normandie gewesen“ sein kann, und deshalb für die Annahme einer von den normandischen 120 Primärdialekten abgehobenen, literarischen Varietät plädiert. Da Suchier freilich im Gegenzug davon ausgeht, daß die ‘normannische’ Schriftsprache zwar keine normandischen Dialekte abbildet, dafür aber einen älteren, zentralfranzösischen Lautstand konserviert haben soll 121 , also eine Art höfisches Surrogat des ‘Altfranzischen’ darstellt, konvergieren er und Paris letztlich doch wieder in der Annahme, daß das (Anglo-)Normannische ursprünglich auf dem Dialekt der Île-de-France (bzw. unter anderem der Île-de-France) basierte: Für Paris ist dieser Dialekt im 11. Jahrhundert noch Teil des ‘neustrischen’ Kontinuums, das sich erst später in den zentralfranzösischen und den normandischen Dialektraum aufgliederte und das er mit der - für ihn nur im Rückblick komposit erscheinenden - Sprache des Alexiuslieds identifiziert. Suchier dagegen erkennt zwar die Notwendigkeit, eine von den Dialekten der Normandie unabhängige schriftsprachliche Ebene zu postulieren, führt die dort angesiedelte literarische Varietät aber nichtsdestoweniger auf eine primärdialektale Basis zurück, die er, noch kleinräumiger als sein französischer Kollege, gleich direkt in der Île-de-France lokalisiert: demnach stellt die ‘altfranzische’ „Volksmundart“ die Grundlage der „Hof- und Verkehrssprache“ dar, die schließlich zur Sprache der „Normannischen Literatur“ wurde. Der dialektalen Hybridität der mittelalterlichen Texte versucht Paris also durch die Annahme einer archaischen, großräumigen Dialektzone gerecht zu werden, in der das, was später dialektal getrennt war, noch innerhalb einer gesprochenen Varietät, nämlich des ‘Neustrischen’, existierte. Suchier dagegen plädiert für eine von den Primärdialekten nur mittelbar 118 Vgl. auch Suchier (1879, XIIf. und passim) sowie Suchier (1885). 119 Nämlich durch die Studie von Joret (1883); vgl. Suchier (1885). 120 Suchiers terminologischer Differenzierung zwischen Normannisch ‘Literatursprache’ und Normandisch ‘Primärdialekte’ folgt übrigens noch Goebl (1970). 121 Vgl. meine Anm. 107. 66 <?page no="79"?> beeinflußte Schriftsprache, die er dafür um so enger sprachgeographisch rückbindet, nämlich an einen archaischen Île-de-France-Dialekt. Beide Philologen argumentieren genetisch: Paris auf rein dialektaler Ebene (aus ‘Neustrisch’ wird ‘Franzisch’ und daraus wiederum ‘Französisch’), Suchier auf schriftsprachlicher, immerhin dialektbasierter Ebene (aus dem ‘Altfranzischen’ wird die ältere, ‘normannische’ Literatursprache; aus dem ‘Franzischen’ des 13. Jahrhunderts wird schließlich das ‘Französische’). 122 - Der Kreis der wechselseitigen Befruchtung schließt sich mit einer begeisterten Kurzrezension, die Gaston Paris (1888, 635f.) Suchiers Beitrag zum Grundriss in der Romania widmete. 1891 erschien Suchiers Arbeit dann in französischer Übersetzung als Monographie unter dem Titel Le français et le provençal. Der Übersetzer Pascal Monet gibt darin das deutsche Wort francisch konsequent durch francien wieder. Ferdinand Brunot kommt schließlich die Rolle dessen zu, der für die nachhaltige Verbreitung der These vom monotopischen Ursprung des Französischen gesorgt hat, und zwar durch seine monumentale Histoire de 122 In einer bemerkenswerten, leider wenig rezipierten Arbeit beobachtete schon Robson (1956, v.a. 120-122), wie sehr in der Philologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts - und namentlich bei G. Paris und Suchier - versucht wurde, der sprachlichen Heterogeneität der schriftlichen Überlieferung mithilfe von sprachgenetischen Theorien gerecht zu werden. So wurden Textzeugnisse, die einen aus dialektologischer Sicht kompositen Charakter aufwiesen, nach historisch-vergleichender Methode dahingehend interpretiert, daß sie intermediäre Stadien im Prozeß der dialektalen Ausgliederung repräsentierten. Als genetischer Bezugspunkt diente ein zentralfranzösischer ‘Urdialekt’, dessen Annahme es erlaubte, vor allem auch die wichtigen Texte, die im 12. Jahrhundert in England entstanden waren, in direkter Filiation vom Vulgärlatein der Île-de-France abzuleiten. Überdies wurden die sprachgenetischen Modelle auf allgemein-historischer Ebene mit der Annahme ethnisch-kultureller Entwicklungen in Zusammenhang gebracht, so daß die Herstellung sprachlicher Kontinuität letztlich auch der geschichtsübergreifenden nationalen Identitätsstiftung diente (auch was ‘anglonormannisch’ war, war damit letztlich ‘franz(ös)isch’). Vgl. Robson (1956, 120-122): „The data was interpreted in terms of a framework of intermediary dialect stages: thus the Old French dialects underlying the extant thirteenth-century texts and documents were assumed to have arisen by a process of divergence from a unitary ‘Early Old French’ which in turn derived from a reconstructed ‘Vulgar Latin’, or common Romance language, of the Roman imperial period. [...] Every intermediary stage in the chain of linguistic divergences carried with it the assumption of a national, or racial, community. In this way the linguistic history of the French, in France and England, between the age of Charlemagne and the age of St. Louis, came to be presented as a continuous and rapid disintegration of a preestablished language of Northen France. [...] the extant twelfth-century graphic evidence of the oldest large body of Romance manuscripts (the three great poetic manuscripts, and the translations of the Psalter and the Books of Kings from insular scriptoria) continued to be treated as representative of a divergent dialect, differing in important respects from an earlier standard ‘Francien’, which was always postulated, but never directly attested in any surviving writing.“ 67 <?page no="80"?> la langue française, die lange Zeit als das Standardwerk zur externen französischen Sprachgeschichte angesehen wurde und die - zumindest was den Umfang betrifft - bis heute unerreicht geblieben ist. Im Unterschied zur Erstfassung (1896b), die von Petit de Julleville herausgegeben und von Paris [1897] (1909c) rezensiert worden war, gebraucht Brunot im ersten Band (1905) seiner Sprachgeschichte systematisch den Terminus francien und ergänzt seine Darstellung durch all die von Paris angemahnten Präzisierungen zu Wesen und Verbreitung der fraglichen Sprachform. An den Beginn des entsprechenden Abschnitts stellt Brunot folgende Definition: Le francien ne doit pas être considéré comme un amalgame, une sorte de κοινή analogue à la κοινή grècque. C’est essentiellement le parler d’une région, comme le normand est le parler d’une autre. (Brunot 1905, 325) Dieser Passus ist unzählige Male zitiert worden. 123 Isoliert betrachtet bildet er die Grundlage für das forschungsgeschichtliche Urteil, daß Brunot ein eingefleischter Vertreter der monotopischen Überdachungsthese gewesen und damit - wie Gaston Paris - der teleologischen Versuchung erlegen sei, die französische Sprachgeschichte ab dem Mittelalter als nationalen récit zu konzipieren. 124 So bezeichnet etwa Cerquiglini (2007, 155) Brunot als „celui qui devait succéder à Gaston Paris comme figure républicaine de la grammaire historique“ (vgl. auch Hafner 2006, 50f.). Ganz klar im Sinne des Paris’schen Kontinuitätsgedankens liest sich denn auch die folgende Definition aus dem Vorwort zum ersten Band von Brunots Histoire: [...] définissons la langue française - sans tenir compte des dialectes ni des patois - en disant qu’elle est la continuation de ce que les savants commencent, pour plus de propriété, à appeler le francien, c’est-à-dire la forme spéciale prise par le latin parlé, tel qu’il s’était implanté à Paris et dans la contrée avoisinante, et tel qu’il s’y est développé par la suite des temps, pour s’étendre peu à peu hors de son domaine propre, dans tous les pays où des raisons politiques, économiques, scientifiques, littéraires l’ont fait parler, écrire ou comprendre. (Brunot 1905, V) Interessanterweise formuliert Brunot andere Stellen aus dem unmittelbaren Kontext des ersten Bandes der Histoire aber viel weniger apodiktisch. So schickt er seiner Beschreibung der mittelalterlichen Dialekte, die den Kern von Kapitel VI („Les dialectes de l’ancien français“, pp. 296-331) bildet, eine sehr differenzierte Erörterung von „Questions générales“ (pp. 296- 304) voraus. Diese betreffen im wesentlichen die in der zeitgenössischen Auseinandersetzung zwischen Graziadio Isaia Ascoli und Paul Meyer diskutierte Frage, ob Dialekte auf realen sprachlichen Grenzlinien(-bündeln) 123 Vgl. zu seiner Interpretation auch Völker (2011, 96f.). 124 Paris selbst ist übrigens schon 1903 verstorben, nicht 1905, wie Cerquiglini (2007, 158) behauptet. Mithin hat er Brunots Histoire gar nicht mehr zu Gesicht bekommen. 68 <?page no="81"?> beruhten und damit natürliche Entitäten darstellten oder ob der dialektalen Abgrenzung vielmehr eine auf kulturellen Überformungsprozessen 125 basierende, perzeptive Kategorisierung zugrunde liege, der auf der Ebene der Primärdialekte ein jedoch nur willkürlich zu unterteilendes sprachgeographisches Kontinuum entgegenstehe (Meyer und mit ihm Paris stellten von diesem Standpunkt aus insbesondere die Existenz der französisch-okzitanischen Sprachgrenze in Frage, was natürlich wiederum beträchtliche nationale Implikationen birgt). Brunot kommt nach einem prägnanten Referat der beiden Forschungspositionen hinsichtlich der mittelalterlichen Dialekte Frankreichs zu folgendem ausgewogenen Schluß, den er durch Zitate aus Paris’ Rede vor den Sociétés savantes [1888] (1909b) und aus Darmesteters Cours de grammaire historique [1891] ( 7 1910) untermauert: Si on admet les principes de M. P. Meyer, ce n’est pas seulement entre le français et le provençal que la barrière s’abaisse, c’est entre tous les parlers romans de l’ouest. [...] Tout le domaine du roman continental, exception faite du roumain, ne forme donc qu’une masse, au sein de laquelle il est chimérique le plus souvent de vouloir tracer des démarcations. Personne, bien entendu, ne songe, en vertu de ces considérations, à nier l’individualité trop évidente des langues italienne, espagnole ou française, mais cette individualité n’est plus admise que comme le résultat d’une culture historique et littéraire, qui échappe, par conséquent, aux lois du développement spontané. [...] De même [...] les dialectes, là où ils existent réellement, - et leur existence historique sur certains points ne peut être niée „sans se heurter à des faits incontestables“ 126 - s’expliquent de la même manière. „Dans les pays civilisés, et qui ont une longue histoire, dit M. Paris, les phénomènes naturels sont sans cesse contrariés par l’action des volontés. Il y a eu des influences exercées par des centres intellectuels et politiques.“ 127 „Dans chaque région, 125 Diese die Sprecherwahrnehmung determinierenden Prozesse wurden in der zeitgenössischen Diskussion mit der Wirkung regionaler Zentren in Zusammenhang gebracht, von deren kulturellem Gewicht homogeneisierende sprachliche Impulse für das Umland ausgingen (im Mittelalter auch ganz konkret in Form der regionalen Schriftsprachen). Das Szenario erinnert an die Herausbildung der italienischen koinè dialettali, deren sprachwissenschaftliche Beschreibung etwa ein Jahrhundert später von Pellegrini (1960) angestoßen wurde; vgl. dazu auch Sobrero (1996) und oben, Kap. 2.2.2. 126 Brunot zitiert hier nicht wörtlich. Im Zusammenhang lautet die Stelle: „Il faut cependant ajouter une réserve sans laquelle cette affirmation risquerait de se heurter dans votre esprit contre des faits incontestables: la théorie n’est parfaitement vraie que dans un développement linguistique livré à lui-même.“ (Paris [1888] 1909b, 436; meine Kursivierung). 127 Brunot zitiert wiederum nicht wörtlich. Eigentlich lautet die Stelle: „Dans un pays civilisé et qui a une histoire aussi longue que le nôtre, les phénomènes naturels sont sans cesse contrariés par l’action des volontés. Il y a eu des influences par des centres 69 <?page no="82"?> dit à son tour Darmesteter 128 , un des parlers locaux, propre à une ville ou à une aristocratie, s’éleva au-dessus des parlers voisins, gagna en dignité et rejeta les autres dans l’ombre. Les parlers locaux restés dans l’ombre sont des patois; ceux qui se sont élevés à la dignité littéraire sont des dialectes. Ainsi il se forma, dans divers centres, des langues écrites qui, rayonnant à l’entour, s’imposèrent comme langues nobles aux populations des régions voisines, et créèrent une province linguistique, un dialecte, dans lequel les patois locaux furent de plus en plus effacés et étouffés. Ces dialectes s’étendaient par initiation littéraire et non plus par tradition orale [...].“ Mais ce n’est pas ici le lieu d’insister davantage sur ces difficultés théoriques. Pratiquement, les divergences qui existent entre philologues n’empêchent pas de reconnaître qu’il a existé au moyen âge un certain nombre de dialectes qui, de création naturelle ou non, sans être probablement identiques au parler d’un endroit ou d’un territoire géographiquement déterminé, ont servi à la production littéraire 129 , et qui peuvent, sans qu’on abuse trop du langage, être appelés du nom de la région où ils étaient en usage. Il importera cependant de se souvenir que ces noms de picard, normand, lorrain, ne sont employés et ne doivent l’être qu’avec une valeur toute relative. (Brunot 1905, 300-304) Im Anschluß an die vielzitierte Passage, in der Brunot sich explizit gegen die Charakterisierung des francien als Koine ausspricht (s.o.), heißt es außerdem: Toutefois il est bien entendu que sur un domaine même restreint comme celui de l’Ile-de-France il ne peut y avoir longtemps unité linguistique spontanée. C’est l’influence de la capitale qui a tendu à faire de ce pays un centre de plus en plus uniformisé, sans jamais parvenir toutefois complètement à ce résultat; il n’eut point de lui même une langue uniforme. intellectuels et politiques, que j’ai déjà signalées et auxquelles je reviendrai [...]“ (Paris [1888] 1909b, 436). 128 Brunot zitiert nicht wörtlich. Im Original lautet die Stelle: „Dans chaque région un de ces parlers locaux, propre à une ville ou à une aristocratie, s’éleva au-dessus des parlers voisins, gagna en dignité et rejeta les autres dans l’ombre. Les parlers locaux restés dans l’ombre sont des patois; ceux qui ont été élevés à la dignité littéraire sont des dialectes. Ainsi il se forma dans divers centres des langues écrites qui, rayonnant à l’entour, s’imposèrent comme langues nobles aux populations des régions voisines et créèrent une province linguistique, un dialecte, dans lequel les patois locaux furent de plus en plus effacés ou étouffés. Ces dialectes s’étendaient par initiation littéraire et non plus par tradition orale [...].“ (Darmesteter [1891] 7 1910, 30; Kursivierung im Original). - Im übrigen ist auch Darmesteter ein Anhänger der monotopischen Standardisierungsthese: „La royauté, sortie du duché de l’Ile-de-France, a son siège à Paris. La cour royale fait monter en dignité le dialecte qu’elle parle, et l’impose graduellement à l’aristocratie et aux écrivains. Dès le XII e siècle, la prééminence est assurée au français de l’Ile-de-France, et l’éclat de la royauté sous Philippe-Auguste et sous saint Louis en assure définitivement la suprématie“ (Darmesteter [1891] 7 1910, 38). 129 Meine Kursivierung. 70 <?page no="83"?> Il convient même d’ajouter que si Paris exerce une influence, le parler de Paris de son côté en reçoit d’autres, et que tel phénomène qui se produit en francien dans le cours des siècles n’y est pas, nous le verrons, un phénomène autochtone, mais la suite d’un mouvement commencé ailleurs. Souvent, sans atteindre jusqu’à Paris, l’influence s’est exercée sur une partie plus ou moins grande du francien. (Brunot 1905, 325f.; meine Kursivierung) Ich meine, eine gewisse Inkonsequenz läßt sich hier nicht leugnen. Einerseits verweigert Brunot sich zu Beginn des dem francien gewidmeten Abschnitts (p. 325) beinahe reflexartig der Annahme einer Mischvarietät als Basis des französischen Standards; andererseits macht er aber recht differenzierte Zugeständnisse, die eigentlich nicht mit der Absolutheit vereinbar sind, mit der er zuvor die monotopische These formuliert hat („Le francien ne doit pas être considéré comme un amalgame“). Wie kann Brunot zum einen annehmen, daß im Mittelalter einige Dialekte als Literatursprachen gedient hätten, „sans être probablement identiques au parler d’un endroit ou d’un territoire géographiquement déterminé“ (p. 303), diese Möglichkeit aber 22 Seiten weiter für das francien rundweg ausschließen („C’est essentiellement le parler d’une région“; p. 325)? Wie kann er ausdrücklich darauf bestehen, daß das francien kein ‘Amalgam’ sei (p. 325), nur zwei Absätze weiter aber die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß „si Paris exerce une influence, le parler de Paris de son côté en reçoit d’autres“ (p. 326)? Ich will hier keine Diskursanalyse betreiben und spekulieren, daß die latenten Widersprüche beim ansonsten so klar argumentierenden Brunot womöglich Ausdruck eines gewissen malaise angesichts der uneingestandenen Fragwürdigkeit der vertretenen Position sein könnten. Es ist allerdings eine Tatsache, daß die Anhänger der monotopischen Standardisierungsthese sich - trotz des großen Erfolgs, von dem ihre wissenschaftliche Arbeit gekrönt war - mitunter durchaus in der Defensive befanden und sich vielleicht deshalb um so dringender veranlaßt sahen, ihre Lehre auf möglichst griffige Formeln zu bringen und sie mit der nötigen Autorität durchzusetzen. So lag bereits mit Lücking (1877) eine bemerkenswerte Studie vor, die sich das ehrgeizige Ziel gesetzt hatte, die Paris’sche (1872) These vom ‘neustrischen’ Urdialekt als genetischem Vorläufer der Sprache der Île-de- France, und damit der französischen Literatursprache, zu widerlegen. 130 Am Ende seiner umfänglichen Untersuchung kommt Lücking (1877, 215f.) zu dem Ergebnis, daß „die centralfranzösische Mundart [...] sich weder aus 130 Vgl. Lücking (1877, III): „Die nachstehende Untersuchung verdankt ihren Ursprung dem Zweifel an der Richtigkeit der G. P ARIS ’schen These, dass die Sprache des Alexiusliedes eine gegen den Unterschied von Normannisch und Französisch indifferente, neustrische Mundart repräsentire [sic], eine Annahme, aus welcher folgt, dass dieselbe eine directe Quelle der neufranzösischen Gesammtsprache [sic] ist.“ - Lückings Arbeit zitieren auch Völker (2003, 13 und 15) und Hafner (2006, 47, Anm. 10). 71 <?page no="84"?> der Sprache des Westens [d.h. des ‘Neustrischen’; K.G.] noch aus der des Ostens, noch aus der des Nordens l a u t g e s e t z l i c h ableiten [lässt]“ (Sperrung im Original); damit betrachtet er Paris’ Theorie als widerlegt. Die Tatsache, daß „sie [andererseits aber] keine Merkmale [besitzt], welche sich nicht in einer oder zwei von diesen Mundarten ebenfalls vorfinden“, führt Lücking weiter zu der Einsicht, daß „das Centralfranzösische [...] sich freilich aus der Sprache des Westens, des Ostens oder des Nordens erklären [lässt], wofern man die divergirenden [sic] Merkmale a u s d e m U e b e r g r e i f e n e i n e r a n d e r e n M u n d a r t herleitet, d.h. wenn man sich das Centralfranzösische, ähnlich wie F ALLOT , als aus einer F u s i o n verschiedener Mundarten hervorgegangen denkt“ (Sperrungen im Original). Alternativ zur Fallotschen Erklärung des francien als Mischvarietät (ob unseres Typs 1a, 2a oder 2a’ bleibt wiederum unbestimmt) zieht Lücking die arealtypologisch plausibel erscheinende Möglichkeit in Betracht, daß die „Eigenthümlichkeit [sic] der Sprache der nordfranzösischen Centrallandschaften [...] von Alters her i n d e r e i g e n t h ü m l i c h e n C o m b i n a t i o n von Lautveränderungen bestanden haben [kann], von denen jede einzeln genommen auch in den benachbarten Mundarten stattfand“ (Sperrungen im Original), daß also die Île-de-France eine klassische Übergangszone mit intermediären Dialektmerkmalen sei, an denen jeweils auch eine andere, benachbarte Region partizipiere. Lückings Dissertation wurde von Fritz Neumann in der Zeitschrift für romanische Philologie (1878b) und von niemand Geringerem als Gaston Paris in der Romania (1878) besprochen. Beide Rezensenten kommen ob der breiten Korpusgrundlage und der methodischen Präzision der Arbeit zu einem recht positiven Urteil, wenngleich sich Gaston Paris natürlich herausgefordert sah, seine anhand des Alexiuslieds entwickelte Theorie zu verteidigen. So gesteht er Lücking zwar eine Reihe von Detailkorrekturen zu, lehnt jedoch eine generelle Revision seines Standpunkts von 1872 ab. Was die von Lücking formulierte Alternative betrifft, wonach der komposite Charakter des francien entweder auf eine ‘Fusion’ à la Fallot zurückgehen könne oder aber der sprachgeographischen Mittelstellung der Île-de-France zuzuschreiben sei, optiert Paris - wenig überraschend - für letzteren Erklärungsansatz (vgl. Paris 1878, 139). Ein ähnlicher Reflex der Zurückweisung, wie ich ihn bei Brunot (1905, 325) ausgemacht habe, zeigt sich auch schon in Nyrops Grammaire historique (1899), die der dänische Philologe seinem „vénéré maître et très cher ami“ Gaston Paris noch zu dessen Lebzeiten als „témoignage de profond dévouement“ widmete (p. XI und Widmungsseite): Les differents dialectes de l’ancienne langue étaient tous des langues littéraires; chaque auteur se servait du parler de son pays: il n’y avait pas de κοινή. Cependant le francien commence de bonne heure à prendre le pas sur ses congénères, ce qui est dû surtout aux circonstances politiques: la 72 <?page no="85"?> royauté a son siège à Paris, et la cour royale fait monter en dignité le dialecte qu’elle parle, que parle la capitale, et dont se sert l’administration. [...] On a souvent soutenu que la langue littéraire française était le résultat d’une fusion de plusieurs dialectes; cette thèse est radicalement fausse. [...] Il est indubitable que la langue littéraire française est tout simplement le développement du latin vulgaire parlé à Paris et dans les alentours [...]. (Nyrop 1899, 21-23) Der Verweis auf das ‘gegnerische’ Lager („on a souvent soutenu que“) bezieht sich wahrscheinlich konkret auf einen Beitrag von Meissner (1872), den Nyrop in seiner Bibliographie (p. 420) verzeichnet. Meissner hatte versucht, die bei Littré (1863, Bd. 2, 102; vgl. meine Anm. 98) formulierte, auf den Bestand von lexikalischen Dubletten (français - François) oder Wortfamilien mit konträren Lautentwicklungen (roi - reine) gestützte These einer „Vermischung der Dialecte“ im Französischen gegen den „mannichfachen Widerspruch“ (p. 191) zu verteidigen, den Paul Meyer, Gaston Paris und insbesondere Auguste Brachet (1871, 7-9) gegen diese Auffassung geäußert hatten. 131 Pointiert kritisiert Meissner den exzessiven Monozentrismus, der seiner Ansicht nach den Blick der französischen Philologen verstellt: Eine Entwickelung einer Sprache ohne Einwirkung der Dialecte anzunehmen, ist gegen alle Erfahrung. Brachet und Gaston Paris begehen denselben Fehler, nur in einer andern Form, den die französischen Grammatiker vor dem Aufschwung der Sprachwissenschaft begingen. Früher glaubten sie, dass die Akademie die Sprache mache und ihr alleiniges Eigenthum sei, jetzt wollen sie, dass [die Stadt] Paris die Sprache mache, und zwar, dass Neu-Französisch fertig aus dem Lateinischen, wie Minerva aus dem Haupte Jupiters, hervorgegangen sei. (Meissner 1872, 194f.) Nyrop (1899, 23) räumt zwar diesbezüglich ein, daß „dès les plus anciens temps, le francien emprunte des vocables isolés aux autres dialectes, méridionaux que septentrionaux“, rückt aber dennoch nicht von seiner zuvor geäußerten, radikalen Zurückweisung der Koineisierungsthese ab. Viel- 131 Brachet hatte in seiner Grammaire historique (1867, 47-49), zu der Littré das Vorwort schrieb, und in der Erstausgabe seines Dictionnaire des doublets (1868, 27-30) noch Littrés Position vertreten. Erst nachdem er von Adolf Mussafia und Adolf Tobler entsprechend kritisiert worden war, nutzte er den drei Jahre später erschienenen Supplément-Band (1871) zum Dictionnaire, um seinen Standpunkt zu revidieren und nunmehr gegen Littré zu argumentieren. In der Tat entspricht Brachets neue Sicht zum Großteil eher dem heutigen Forschungsstand als Littrés dialektale Etymologien: so ist das Nebeneinander von diphthongierten und nicht-diphthongierten Formen in bestimmten Verbalparadigmen (je viens - nous venons) selbstverständlich lautgesetzlich durch die Akzentstelle zu erklären, so daß es hier keineswegs der Annahme diatopischer Variation bedarf. Meissner (1872) diskutiert jedoch auch andere Fälle von Doppelformen, die sich einer lautgesetzlichen Erklärung sperren und mithin durchaus als diatopische (dialektale und/ oder skripturale) Varianten angesehen werden müssen. 73 <?page no="86"?> mehr scheint er kategorisch zwischen systematischer Dialektmischung und vereinzelten Entlehnungen zu differenzieren, was aus seinem Hinweis hervorgeht, daß die in der Forschung diskutierten Lehnwörter wie cap (vs. chef) oder écaille (*échaille) allesamt durch die betroffenen Sachbereiche zu erklären seien und mithin vor allem die Kulturgeschichte beträfen: 132 Ces mots, qui intéressent surtout l’histoire de la civilisation, montrent que le francien a fait des emprunts aux autres dialectes de la Gaule - comme il en a fait au latin et aux langues orientales [...] - mais ils ne fournissent aucune preuve de la prétendue fusion des dialectes, théorie insoutenable à laquelle Littré a encore prêté son autorité. (Nyrop 1899, 24) Ferner führt Nyrop in seiner Bibliographie (p. 418) zwar Lückings Arbeit (1877) auf, die darin vorgebrachten Argumente scheint er aber zu ignorieren. Diese beziehen sich nämlich keineswegs auf vereinzeltes lexikalisches Material, für das verschiedene dialektale Herkunft angenommen werden könnte, sondern auf die im Neufranzösischen fossilierten systematischen Mischungsphänomene auf lautlicher und morphologischer Ebene. Auch bei Nyrop läßt sich also eine gewisse Tendenz zur Ausblendung unliebsamer sprachhistorischer Fakten feststellen. Um abschließend den Erfolg zu illustrieren, der der francien-These - trotz der angesprochenen Widerstände - in der Romanistik des 20. Jahrhunderts beschert war, möchte ich die Darstellung aus dem bis 1993 (! ) in zwölffacher Auflage erschienenen Handbuch von Wartburg (1934) zitieren. Das entsprechende Kapitel trägt den bezeichnenden Titel „Le dialecte de l’Ile-de-France langue nationale“ (pp. 78-81). Wartburg beschreibt darin zunächst die „Causes linguistiques“, die dem francien zum Aufstieg als Nationalsprache verholfen hätten: 133 Là où se rejoignent trois grandes rivières (Seine, Marne, Oise) s’est formé le centre naturel du pays. Dans les premiers siècles la France linguistique n’allait que jusqu’à la Loire. La région de l’Ile-de-France en était le centre à tous points de vue. [...] Géographiquement Paris était le centre de l’Ile-de- France. - Les communications convergeaient également vers Paris. Il n’est pas étonnant que son dialecte ait gardé une sorte de juste milieu. Quelque forte que dût être la position du normand p.ex. ou du picard au 12 e s. [134] , ces dialectes devaient avoir quelque chose d’extravagant, de rébarbatif pour les autres régions (ex. cacher ‘chasser’). Tous ces traits dialectaux avaient quelque chose de périphérique, d’excentrique, qui devait ne pas plaire aux autres régions. Ainsi nous voyons, dès la 2 e moitié du 12 e s., les auteurs tâ- 132 Diese Unterscheidung mag implizit auch Brunot (1905, 325f.; s.o.) getroffen haben. 133 Vgl. zur Interpretation von Wartburgs Kapitel zum „dialecte de l’Ile-de-France“ auch Cerquiglini (1991, 114f.) und Völker (2011, 92f.). 134 In späteren Auflagen (z.B. 3 1946, 90) schließt Wartburg hier noch das 13. Jahrhundert mit ein: „au 12 e et au 13 e s.“. 74 <?page no="87"?> cher de se défaire de leurs particularités provinciales. [...] A la fin du siècle les poètes picards commencent à remplacer leurs formes propres par celles du centre; ils cessent d’écrire blanke, ils préfèrent blanche. On choisit les formes qui sont en usage sur le plus grand territoire possible. On veut éviter ce qui est limité à une petite région. Un auteur picard se défait de ce qui est particulièrement picard, le champenois renonce à ce qui n’est que champenois, la Normandie sacrifie les normandismes. Et ainsi on se rencontre sur une base commune. Cette base ne pouvait être que le parler du centre, de l’Ile-de-France et de Paris. Mais c’est surtout en évitant les particularités dialectales, donc par un choix négatif, qu’on a réalisé cette unité. On peut dire que ce sont le sentiment de la mesure, le besoin d’un équilibre qui ont contribué puissamment à faire du dialecte de Paris la Koiné. Naturellement il ne l’est pas devenu sans se plier par ci par là, sans accepter quelques retouches que lui proposaient les dialectes. (Wartburg 1934, 78f.) In der kurzen Passage finden sich die wesentlichen Aspekte der monotopischen Standardisierungsthese prägnant zusammengefaßt. Nicht nur inhaltlich, auch in ihrem sprachlichen, oft metaphorischen Ausdruck sind sie immer wiederkehrende Topoi in der französischen Sprachgeschichtsschreibung: 135 Die Île-de-France sei das ‘natürliche’ Zentrum Nordfrankreichs, Paris wiederum das Zentrum der Île-de-France. Aufgrund dieser privilegierten sprachgeographischen Lage stelle der Dialekt von Paris einen ‘ausgewogenen Kompromiß’ zwischen den nordfranzösischen Idiomen dar („une sorte de juste milieu“); demgegenüber seien die Eigentümlichkeiten der übrigen Dialekte - trotz deren literarischer Bedeutung im 12. (und 13.) Jahrhundert - bald als zu deutlich ausgeprägt, als ‘exzentrisch’ oder gar ‘rauhbeinig’ empfunden worden; ein Streben nach Ausgleich und Maß habe die Schreiber aus der ‘Provinz’ schließlich zum Varietätenwechsel veranlaßt („le sentiment de la mesure“, „le besoin d’un équilibre“). Dieser Wechsel sei aber lediglich einer ‘Abwahl’, einem „choix négatif“ gleichgekommen: es mußten nur bestimmte Merkmale unterdrückt werden, um der prestigereichen Zielnorm gerecht zu werden und den natürlichen Ausgleichsdialekt der Île-de-France zu realisieren. Nur vereinzelte Spuren hätten die heutigen patois nach ihrer Verdrängung aus der Schriftlichkeit noch in der Nationalsprache hinterlassen; im wesentlichen gehe die „Koiné“ aber eindeutig auf den „dialecte de Paris“ zurück (vgl. dazu die Diskussion bei Nyrop 1899, 23f.). 136 135 Vgl. dazu die bei Dieckmann (2000) zusammengestellten Zitate. 136 Vgl. dazu auch Vossler ( 2 1929, 27), von dessen sprachhistorischer Darstellung Wartburg sich ganz offensichtlich anregen ließ: „Wir kennen [...] das Franzische des 10., 11. und 12. Jahrhunderts überhaupt nicht, d.h. wir kennen es nur negativ als eine nicht-champagnische, nicht-pikardische, nicht-normannische usw., mehr oder weniger blasse nordfranzösische Mundart. In seiner ursprünglichen Gestalt ist das Franzische nicht offen in die Schranken des literarischen Kampfes getreten. Es hat gesiegt, 75 <?page no="88"?> Im folgenden Abschnitt stellt Wartburg die „Causes historiques“ dar, wobei er einen weiten Bogen schlägt vom Jahr 987 über die anfängliche Schwäche der Kapetingermonarchie, der gleichwohl unter kirchlichem Protektorat schon früh eine wichtige symbolische Funktion für die nationale Einheit zugekommen sei, bis hin zur territorialen Konsolidierung und dem institutionellen Ausbau der Königsmacht im 13. und 14. Jahrhundert: La victoire que l’Ile-de-France a remportée sur les autres régions [...] a aussi des causes historiques. Je veux parler du fait que l’Ile-de-France a donné au pays sa nouvelle dynastie. L’an 987 est une date extrêmement importante pour la langue française. Ce n’est pas que le pouvoir royal ait été très fort vers 1000 ou vers 1050. [...] Mais si la royauté n’a pas beaucoup de pouvoir réel, elle n’en est pas moins une force spirituelle. Cette force, elle la doit en premier lieu à ceux qui l’ont sauvée de l’anarchie carolingienne pour donner un centre au pays de France. La seule institution durable était alors l’Eglise. Et ce sont les grands représentants de l’Eglise qui ont poussé à l’élection de Hugues Capet. [...] L’Eglise et le roi tâchaient de défendre le faible contre le fort. Le peuple pouvait donc aimer dans l’un et l’autre pareillement ses protecteurs. [ 137] De là aussi ce caractère populaire de la royauté capétienne. Il en résultait pour le peuple une liaison étroite entre son idéal politique et religieux, entre ses sentiments nationaux et sa ferveur chrétienne. De là ce caractère politicoreligieux des chansons de geste, à commencer par la Chanson de Roland. N’oublions pas que les chansons de geste ont été chantées surtout devant le peuple réuni sur les places de foire ou devant les pèlerins, qu’elles étaient destinées à faire de la propagande pour une religiosité militante. Les plus anciennes chansons de geste ont été composées probablement dans l’Ile-deohne eigentlich dabeigewesen zu sein. Es hat keinen geräuschvollen Eroberungszug geführt, sondern unbemerkt sich eingenistet. Daß es bei dieser schmiegsamen Taktik manche seiner ursprünglichen lautlichen Eigenarten aufgeben und den Nachbardialekten sich anpassen mußte, versteht sich.“ - Vgl. auch Koschwitz (1882, 91): „Wie in der Natur der Sache liegt, finden sich [...] nur wenig positive Indizien für die franzische Mundart, und ist dieselbe hauptsächlich nur aus dem Fehlen der den übrigen Mundarten eigenen Charakteristiken zu bestimmen.“ - Vgl. auch Metzke (1880, 95): „Positive Indicien für ihren Heimatort bieten die Documente und Reime aus Ile-de- France [...] nur wenige [...]. Wichtiger sind die negativen Characteristica, mittels deren man, in Verbindung mit den positiven, Texte aus dem Gebiet der centralfranzösischen Mundart zuweisen kann [...].“ 137 Vossler ( 2 1929, 31) zitiert in diesem Zusammenhang das Pariser Konzil von 829, auf dem, so Vossler, „die ethisch-politischen Pflichten des Königtums“ definiert wurden: „Justitia regis est, neminem injuste per potentiam opprimere, sine acceptione personarum inter virum et proximum suum judicare, advenis et pupillis et viduis defensorem esse, furta cohibere, adulteria punire ... ecclesias defendere, pauperes eleemosynis alere, justos super regni negotia constituere, senes et sapientes et sobrios consiliarios habere ... patriam fortiter et juste contra adversarios defendere.“ 76 <?page no="89"?> France. [...] L’Ile-de-France est déjà comme le centre religieux, idéal du pays. Ou, plus exactement, c’est l’abbaye de St-Denis. [138] [...] Longtemps avant d’être le centre des forces matérielles du royaume, Paris en a donc été le centre idéal. Cette position particulière a contribué à faire sortir l’Ile-de-France du rang des autres provinces et à donner à son idiome une dignité particulière. Plus tard, quand la force matérielle des rois augmenta, sa victoire en fut accélérée. (Wartburg 1934, 79-81) 139 In historischer Sicht sei der Île-de-France also schon im Hochmittelalter die Rolle des ‘nationalen’ Zentrums zugekommen: seit der Wahl Hugo Capets seien Paris und die nahegelegene Abtei von Saint-Denis zum ‘ideellen Mittelpunkt’ Frankreichs geworden, wobei sich aus dem engen Schulterschluß von Königtum und Kirche eine symbolische Projektionsfläche für die politische und christliche Identität des ‘Volks’ ergeben habe („Il en résultait pour le peuple une liaison étroite entre son idéal politique et religieux, entre ses sentiments nationaux et sa ferveur chrétienne“). Davon zeuge nicht zuletzt die ‘Popularität’ der wahrscheinlich in der (Sprache der) Îlede-France entstandenen epischen Dichtung mit ihrer politisch-religiösen Progaganda. 140 Interessanterweise ergänzt Wartburg seine Darstellung in der 5. Auflage des Handbuchs ( 5 1958) um einen immerhin 18 Zeilen umfassenden Ab- 138 An dieser Stelle erfolgt ein Verweis auf Olschki (1913a). Auch Vossler ( 2 1929, 37f.) beruft sich auf Olschki (1913a; 1913b), der die überragende Bedeutung der Abtei von Saint-Denis als Hauptgrund für das frühe literarische Prestige der Stadt Paris sieht: „Saint-Denis gab der benachbarten Stadt die ihr fehlenden Traditionen“ (Olschki 1913a, 68). 139 Vgl. dazu auch Vossler ( 2 1929, 25): „Die franzische Schriftsprache [...] ist, als Kunstsprache [d.h. als Sprache der Kunst; Anm. K.G.] betrachtet, am Grundstock der politischen Mystik, am Stamm des französischen Nationalgefühles, am Pfeiler des königlichen Einheitsgedankens emporgewachsen. Gehalten und getragen von der nationalen Dichtung, ist sie über die benachbarten Mundarten hinausgewachsen. Erst nachträglich, erst in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts etwa sind wirtschaftliche und politische Mächte und andere Glücksfälle ihr zu Hilfe gekommen.“ Wenige Seiten weiter heißt es: „Franzien war zunächst mehr dem Gedanken als der grammatischen Form nach der Mittelpunkt des literarischen und schriftsprachlichen Lebens. Die Gedankenwelt der epischen Dichter, selbst wenn sie pikardisch oder normannisch sprachen, kreiste über dem franzischen Königsland. Der Grundstock des nationalen Einheitsgedankens hat die sprachlichen Formen der Nachbargebiete sozusagen an sich gezogen und hat sie einander angeglichen. Einigermaßen begreiflich kann man sich diesen geheimnisvollen und beinahe triebhaften Vorgang vielleicht dadurch machen, daß man sich über die wichtigsten gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen und Anschauungen, die der Zentralisation des Landes förderlich waren, Rechenschaft gibt.“ (Vossler 2 1929, 29). 140 Freilich deutet Köhler (1978) die im Rolandslied dargestellte Schwäche Karls des Großen als zeitgenössische Kritik an der faktischen Machtlosigkeit der frühen Kapetingerkönige. 77 <?page no="90"?> schitt, der das zunehmend ungleiche Verhältnis zwischen dem idiome de Paris und seinen regionalen Konkurrenten näher beschreibt: Dès la fin du 11 e s. le prestige de l’idiome de la région parisienne a été tel que ceux qui désiraient écrire en langue vulgaire, en subissaient l’attraction. Au 12 e s. on assiste à une éclosion de vie littéraire dans beaucoup de régions françaises; presque partout celle-ci est plus intense que dans l’Ile-de-France; et pourtant la plupart de ces auteurs cherchent à se rapprocher autant que possible de l’idiome de Paris. Il va sans dire qu’ils n’y réussissent que partiellement et que de nombreux éléments [...] trahissent leur lieu d’origine. C’est ainsi que presque chaque région, tout en s’efforçant d’écrire en un français commun, développe une variété à elle de la langue littéraire nationale. [...] La vitalité de ces variétés de la langue écrite diffère beaucoup selon les régions. Elles se maintiennent en général jusqu’au 14 e s., mais en se soumettant de plus en plus à l’autorité du parler directeur. Avec l’augmentation de la force matérielle des rois la victoire de celui-ci s’accentuera de plus en plus. (Wartburg 5 1958, 92f.) 141 Sprachlich habe sich die ideelle Vorrangstellung der Île-de-France also schon gegen Ende des 11. Jahrhunderts ausgewirkt, und zwar dahingehend, daß sich bereits in der wichtigen Literatur des 12. Jahrhunderts, die paradoxerweise gerade nicht in der Île-de-France entstand, die Ausstrahlung des francien deutlich bemerkbar gemacht habe („et pourtant la plupart de ces auteurs cherchent à se rapprocher autant que possible de l’idiome de Paris“). Die Existenz regionaler Schreibsprachen im Mittelalter zeuge mithin lediglich von der unvollständigen Beherrschung der ‘nationalen’ Literatursprache durch die gleichwohl an dieser sich zu orientieren suchenden Dichter und Schreiber aus der ‘Provinz‘ („C’est ainsi que presque chaque région, tout en s’efforçant d’écrire en un français commun, développe une variété à elle de la langue littéraire nationale“). Mit dem erfolgreichen Ausbau der Königsmacht im 13. und 14. Jahrhundert sei die „autorité du parler directeur“ immer weiter gewachsen; die regionalen Skriptaformen seien dadurch mehr und mehr in den Hintergrund getreten und schließlich gänzlich ausgeschaltet worden. Der sozialhistorische Parallelismus, den Cerquiglini (2007, 105-107) bereits in der Sprachgeschichtsschreibung der 1840er Jahre feststellt (vgl. Chevallet 1853/ 2 1858 und Pellissier 1866; s.o.), findet bei Wartburg ein 141 Der zitierte Abschnitt wurde unmittelbar nach dem vorletzten Satz der alten Version ( 1 1934 bis 4 1946) eingefügt, also nach „Cette position particulière a contribué à faire sortir l’Ile-de-France du rang des autres provinces et à donner à son idiome une dignité particulière.“ (s.o.). Der letzte Satz der alten Version wurde in der 5. Auflage, wie oben zitiert, umformuliert und als Schlußsatz des Kapitels vom vorhergehenden Text abgesetzt. - Seit der 5. Auflage wurden keine Veränderungen am Text mehr vorgenommen. 78 <?page no="91"?> formvollendetes Echo: Ende des 10. Jahrhunderts bringt die Île-de-France die Kapetingermonarchie und mit ihr die Nationalsprache hervor; mit dem territorialen und institutionellen Ausbau der Königsmacht wird schließlich auch die überregionale Hegemonie des Pariser Dialekts bestätigt. Durch die in der 5. Auflage eingefügte Passage, die die nach Wartburgs Auffassung bereits von Beginn an gegebene Ausrichtung der Regionalskriptae am „parler directeur“ darstellt, wird außerdem der zuvor im Abschnitt über die „Causes linguistiques“ angesprochene Mechanismus plausibel, der die spätmittelalterlichen Schreiber über einen einfachen „choix négatif“ von den Regionalskriptae zur (ihnen anfangs noch nicht vollkommen realisierbaren) Zielnorm des zur Nationalsprache gewordenen Dialekts der Île-de- France geführt haben soll: es ging ja nicht darum, erst eine neue Sprache zu erlernen; lediglich mußten die letzten vereinzelten Interferenzen beseitigt werden, damit beispielsweise aus einer scripta franco-picarde ein reines français littéraire wurde. - Diese Darstellung reflektiert offenkundig den zu Wartburgs Zeit noch recht innovativen Ansatz der Skriptaforschung, wie sie in den 1930er und 1940er Jahren von den Wallonisten Jules Feller und Louis Remacle konzipiert und seither prominent durch den Schweizer Carl Theodor Gossen vertreten wurde (vgl. dazu auch meine einleitenden Gedanken zu Kap. 1). Dementsprechend verweist Wartburg seit der 5. Auflage seines Handbuchs in einer Fußnote (p. 92f., Anm. 2) auf Remacles wegweisende Monographie Le problème de l’ancien wallon (1948) sowie auf Gossens programmatische „Considérations sur le franco-picard“ (1956). Zum einen hat sich Wartburg gegen Ende der 1950er Jahre also bereits der fortschrittlichen Auffassung angeschlossen, wonach es sich bei den regionalen Schreibsprachen nicht, wie in der historischen Dialektologie des 19. Jahrhunderts noch ohne weiteres angenommen, um ein naturgetreues Abbild der gesprochenen Idiome handelt, sondern um davon abgehobene, großräumige, distanzsprachliche Varietäten. Zum anderen hält Wartburg aber, was nämlich das „idome de Paris“ betrifft, noch ganz und gar an der schon in der 1. Auflage von 1934 geäußerten Überzeugung fest, wonach die „langue littéraire nationale“ jene zum „parler directeur“ gewordene autochthone Sprachform mehr oder weniger in Reinform auf schriftsprachlicher Ebene widerspiegle; davon ausgenommen bleiben lediglich ausbaubedingte stilistische Verschiebungen sowie punktuelle Entlehnungen aus dem Latein oder aus anderen primären Dialekten, die in den französischen Standard eingegangen sind (s.o.). Die fundamentale Erkenntnis der französischen Skriptaforschung, wonach eine regionale Schreibsprache keinen lokalen Primärdialekt abbildet, so daß für die nordfranzösischen Provinzen jeweils mit einer volkssprachlichen Diglossiesituation 142 zu rechnen ist, gilt 142 Hinzu kommt natürlich noch der lateinisch-französische Bilingualismus. Den Di- 79 <?page no="92"?> nach Wartburgs Auffassung also gerade nicht für die Île-de-France: hier soll ein monotopischer Verschriftlichungs- und Überdachungsprozeß stattgefunden haben, der den unmittelbar aus dem Vulgärlatein entstandenen Dialekt von Paris zu einer überregionalen Koine par extension (2d) erhoben hat, vergleichbar dem florentinischbasierten Standarditalienischen. Der stillschweigend postulierte, vom Autor offenbar nicht als problematisch wahrgenommene Gegensatz zwischen diglossischer ‘Provinz’ und sprachlich völlig homogener ‘Hauptstadt’ erinnert stark an die bereits bei Brunot (1905; s.o.) festgestellte argumentative Inkonsequenz... Ich breche meinen historischen Abriß über die Behandlung der Ursprungsfrage in der französischen Sprachwissenschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts an dieser Stelle ab. Auf den wichtigen, auch bei Völker (2003, 35-42) dargestellten Paradigmenwechsel, den die Skriptaforschung seit den 1930er Jahren gegenüber der historischen Dialektologie vollzogen hat, komme ich im folgenden Kapitel (3.2) noch ausführlich zu sprechen. Es sei hier aber bereits festgehalten, daß das federführend von Feller, Remacle und Gossen entwickelte Postulat eines „allgemeinfranzösischen Grund[s]“ 143 , aus dem die regionalen Schriftsprachen des Mittelalters ganz wesentlich geschöpft hätten, so daß diese nur sehr indirekt die jeweils zugrundeliegenden gesprochenen Dialektvarietäten repräsentierten, - daß diese gegenüber dem 19. Jahrhundert überaus fortschrittliche Einsicht sich zunächst gleichwohl noch sehr gut mit der exzessiven Zentromanie vertrug, welche die ‘Gründungsväter’ der französischen Nationalphilologie in der oben dargestellten Weise zur teleologischen Rückprojektion des republikanischen Uniformitätsgedankens auf die sprachlichen Verhältnisse im Mittelalter geführt hatte. Nur so ist zu erklären, daß die Annahme einer frühen sprachlichen Vorbildfunktion der Île-de-France und der Stadt Paris sich trotz tiefgreifender paradigmatischer Wechsel, die die Sprachwissenschaft im Lauf des 20. Jahrhunderts prägten, als bemerkenswerte und kaum hinterfragte Konstante in der französischen Sprachgeschichtsschreibung gehalten hat. Die wenigen Seiten, auf denen Wartburg ( 5 1958) sein (aktualisiertes) sprachhistorisches Credo zusammenfaßt, zeugen in anschaulicher Weise von der doch recht eigenartigen forschungsgeschichtlichen (més)alliance, welche ideologische Motivationen des 19. Jahrhunderts und die - wie anzunehmen wäre - davon im Grunde unberührte, zunächst in Belgien entwickelte Skriptaforschung des 20. Jahrhunderts auf dem wichtigen Feld der Standardisierungsforschung eingegangen sind. Zwar hat die Skriptastanzbereich teilen sich also im Mittelalter das Latein und die französischen Regionalskriptae. Den Nähebereich füllen dagegen die französischen Primärdialekte aus. 143 Gossen (1957, 433). In der französischen Version des Beitrags gebraucht Gossen (1956, 101) den Ausdruck „fonds commun français“. Der Begriff ist jedoch nicht mit Delbouilles (1970, 189) „fonds commun“ gleichzusetzen (s.u.). 80 <?page no="93"?> forschung im Ansatz bereits eine sprachtheoretische Erkenntnis methodisch umgesetzt, die wir seit den 1980er Jahren auf das Schlagwort der konzeptionellen Alterität von lokaler Nähesprache und überregionaler Distanzsprache bringen können. Bezeichnenderweise hat sich dieser forschungsgeschichtliche ‘Vorsprung’ aber nur im Bereich des vormals historisch-dialektologischen Felds, nämlich mit Bezug auf die weiterhin sprachgeographisch definierten Räume ausgewirkt, in denen auch im 20. Jahrhundert noch primäre Dialekte des Französischen gesprochen wurden: an erster Stelle rangieren hier wohl nicht ganz zufällig die dialektal bis heute relativ ‘prominente’ Pikardie 144 (Gossen) und der schon im Mittelalter politisch von Frankreich unabhängige wallonische Teil des heutigen Belgien (Feller, Remacle). Der mutmaßliche „foyer principal de la vie nationale“ (Paris [1888] 1909b, 439) blieb dagegen noch lange Zeit vom skriptologischen Skeptizismus verschont. Erst durch die (Neu-)Auswertung zum Teil längst verfügbarer dialektologischer und philologischer Daten 145 sowie durch umfassende methodologische Arbeit auf dem Gebiet der historischen Varietätenlinguistik und mediävistischen Schriftlichkeitsforschung 146 konnte die im Grunde immer noch durch nationalphilologische Denkschemata begründete Aussparung der mittelalterlichen Île-de-France als vermeintlich nicht-diglossischen, der Toskana des Trecento vergleichbaren Raums in den vergangenen vier Jahrzehnten nach und nach überwunden werden. 3.2 Der Beitrag der Skriptaforschung Ich habe die in den 1930er bis 1960er Jahren entwickelte Skiptaforschung 147 insofern als progressiven sprachhistorischen Ansatz charakterisiert, als sie auf eine strikte methodische Trennung zwischen historisch-dialektologischem und schrifthistorischem Erkenntnisinteresse abzielt 148 und damit grundsätzlich anerkennt, daß gesprochene und geschriebene Sprache innerhalb eines Kommunikationsraums diatopisch unterschiedlich stark markiert sein und diglossisch funktionieren können. Als konservativer Zug, 144 Man denke nur an den erfolgreichen Kinofilm Bienvenue chez les Ch’tis! (2008). 145 Vgl. dazu Kap. 4.1. 146 Vgl. dazu Kap. 4.2 bis 4.4. 147 Vgl. zur Geschichte der Disziplin im Überblick Völker (2003, 35-53). 148 Völker (2003, 55, Anm. 236) präzisiert treffend, daß „der Unterschied zwischen skriptologischem und historisch-dialektologischem Erkenntnisinteresse bei gleichzeitig großen materiellen und methodischen Überschneidungen perspektivischer Natur [ist]: Während das Interesse der Skriptaforschung auf der Ebene der geschriebenen Sprache liegt, zielt die historische Dialektologie auf die dahinter liegenden Dialekte ab.“ Diese sind uns freilich nicht direkt, sondern eben nur in konzeptioneller und medialer Brechung durch die handschriftliche Überlieferung zugänglich. 81 <?page no="94"?> in dem sich die Skriptaforschung nicht erkennbar von der traditionellen Sprachhistoriographie unterscheidet, muß dagegen ihr weitgehendes Festhalten an einer monotopischen Standardisierungsthese gelten, welche den Ursprung des französischen Schriftstandards im autochthonen Dialekt, also in einer unmittelbar aus dem Vulgärlatein hervorgegangenen gesprochenen Varietät der Île-de-France sieht. Was den gegenüber der herkömmlichen Philologie progressiven, ja revolutionären Aspekt der Skriptaforschung betrifft, so finden sich in den historisch-dialektologischen Arbeiten, die im späteren 19. und frühen 20. Jahrhundert in Deutschland und in Frankreich entstanden, in der Tat nur vereinzelte und dabei nicht weiter vertiefte, geschweige denn methodologisch ausgearbeitete Überlegungen zu konzeptionellen oder auch nur medialen Unterschieden zwischen der geschriebenen Sprache bzw. der Graphie der überlieferten Texte und den möglicherweise dahinterstehenden gesprochenen Varietäten bzw. einer vorstellbaren lautlichen Realisierung der Schriftzeugnisse. 149 Vielmehr scheint die in den 1870er und 1880er Jahren 149 Vgl. dazu Völker (2003, 26-30). Eine frühe Ausnahmefigur, deren wissenschaftliche Karriere - vielleicht bezeichnenderweise - recht unglücklich verlief, ist Charles Bonnier, dem Völker (2003) als Zeichen später Anerkennung seine Dissertation gewidmet hat. In seiner Abschlußarbeit, die von Paul Meyer an der École des chartes in den Jahren 1887 und 1888 zweimal zurückgewiesen wurde, hatte Bonnier auf der Grundlage eines Urkundenkorpus aus Douai (1203-1275) bereits die wesentlichen Erkenntnisse zur konzeptionellen Eigenständigkeit der regionalen Schreibtraditionen gegenüber den gesprochenen Dialektvarietäten des Mittelalters formuliert, wie sie freilich erst über ein halbes Jahrhundert später von Remacle (1939a; 1948) methodologisch ausgearbeitet und als bis heute gültige Lehrmeinung verbreitet wurden. Bonnier selbst fand nach seinem Scheitern in Paris akademische Zuflucht in Halle und wurde dort 1888 von Hermann Suchier promoviert. Bonniers Arbeit zur Urkundensprache von Douai erschien 1889/ 1890 in der Zeitschrift für romanische Philologie; sie wurde von Meyer (1890) mit zwei vernichtenden Kurzrezensionen in der Romania bedacht. Vgl. zu Bonnier auch Remacle (1948, 147f.) und Monfrin (1974, XXIV, Anm. 1). - Zweifel an der dialektologischen Interpretierbarkeit literarischer Texte wurden zwar häufiger geäußert (vgl. etwa Wailly 1868; Raynaud 1876; Neumann 1878a; vgl. auch Völker 2003, 13-18); in der philologischen Praxis (vor allem der deutschen Romanistik) scheinen diese theoretisch-methodologischen Bedenken jedoch weitgehend ignoriert worden zu sein (vgl. Völker 2003, 19-21). Wichtige Beiträge, die sich gegen die naive Auffassung von der dialektologischen Lokalisierbarkeit literarischer Texte wandten, sind die Rezension von Heinrich Morf (1914) und die Dissertation von Gertrud Wakker (1916). Morf (1914, 256f.) kritisierte „die ganze Methode, die von der traditionellen Auffassung ausgeht, daß ein französischer Dichter sich in seinen Reimen streng an die Klänge der örtlichen oder regionalen Mundart halte, der er angehört und die er selber spricht. Danach muß denn der altfranzösische Dichter, der in seinen Reimen Züge verschiedener Mundarten aufweist, aus einem Grenzgebiete stammen, dessen Sprache rittlings auf den zwei - oder gar mehr - Regionen sitzt, deren Züge in seinen Versen kombiniert erscheinen. Man hat auf diese Weise den größten Teil der altfranzösischen Literaturdenkmäler in ‘Grenzgebieten’ lokalisiert, und von allen diesen 82 <?page no="95"?> zunehmend erfolgte Hinwendung zu nicht-literarischen, datierten und (vermeintlich) präzise lokalisierbaren Quellen als Grundlage philologischer Untersuchungen den Glauben an die direkte dialektologische Verwertbarkeit der mittelalterlichen Schriftzeugnisse noch bestärkt zu haben. 150 Die gegenüber literarischen Texten in der Regel deutlicher ausgeprägte diatopische Markierung diplomatischer Quellen bot nicht zuletzt Anlaß zum historischen Vergleich mit den modernen Dialekten, wobei die teilweise tatsächlich gegebenen Übereinstimmungen zwischen mittelalterlichen Skripta- und modernen Dialektmerkmalen zu dem Schluß führten, daß jene das unmittelbare, graphisch fixierte Abbild der mittelalterlichen Primärdialekte seien. Der dialektologische Erkenntnisgewinn, den entsprechende Beiträge (vgl. etwa Wailly 1868, Raynaud 1876 oder Neumann 1878a) gegenüber der traditionellen, hauptsächlich auf literarischen Handschriften basierten philologischen Praxis versprachen, scheint bisweilen zu einer regelrechten Euphorie unter den beteiligten Forschern geführt zu haben. Zur Begründung der Entscheidung, ausschließlich Urkunden als empirische Basis für seine thèse d’École des chartes heranzuziehen, schrieb etwa Gaston Raynaud: Les chartes sont les seuls documents dont nous nous soyons servi pour cette étude, car seules elles présentent dans toute sa pureté et sa fidélité la langue vulgaire à une époque et dans une localité déterminées. [...] Les chartes [...] sont à l’abri de l’imagination ou du caprice des scribes; elles sont sans prétention, dans un but d’utilité pratique, elles offrent donc la langue vulgaire Grenzgebieten ist das franzisch-pikardische das beliebteste.“ Demgegenüber sprach Morf sich für die Annahme einer „nördliche[n] Schriftsprache“ aus, bei der „in Wahrheit die Verhältnisse [...] liegen wie bei der provenzalischen κοινή.“ - Wacker (1916) kam auf der Grundlage von Hermann Suchiers Theorie der ‘normannischen’ Literatursprache (s.o.) zu einem Phasenmodell der französischen Schriftsprachenentwicklung, bei dem sie zwischen einer ‘altfranzisch-normannischen’ Periode des 12. Jahrhunderts und einer ‘franzisch-pikardischen’ Periode des 13. Jahrhunderts unterschied. Das Zusammenspiel dieser Traditionen und der wechselnde Einfluß verschiedener kultureller Zentren erklärten die dialektal heterogenen Formen in den literarischen Werken des Mittelalters, so daß es unsinnig sei, „in der Sprache eines Denkmals in jedem Falle einen einheitlichen Dialekt zu suchen, der zu Schlüssen auf die Heimat des Verfassers berechtigt. Bildung und Beruf eines Dichters sind für seine Sprache meist maßgebender als seine Heimat.“ (Wacker 1916, 87). Grundsätzlich läßt Wacker übrigens keinen Zweifel daran, daß der „Einfluß des Franzischen auf die Schriftsprache“ sowohl im 12. als auch im 13. Jahrhundert „überragend“ geblieben sei. 150 Vgl. zur zeitgenössischen Kritik an literarischen Quellen als Basis dialektologischer Studien und dem damit verbundenen Aufschwung der linguistischen Urkundenforschung Völker (2003, 12-21); zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden der vor allem von Suchier in Halle geförderten deutschen und der unter Meyer und Paris an der École des chartes bzw. der École des Hautes Études entwickelten französischen Schule der mediävistischen Dialektologie vgl. Völker (2003, 17-34). 83 <?page no="96"?> dans toute sa vérité, et sont de beaucoup les sources les plus précieuses pour l’étude des dialectes. (Raynaud 1876, 53f.) Bonnardot (1872) kam hinsichtlich einer lothringischen Kriegsschadensliste von 1337 zu folgendem, nicht weiter begründeten Urteil: [...] le patois y est pris sur le fait, saisi et figuré sur le parchemin tel qu’il est sorti de la bouche des paysans lorrains. (Bonnardot 1872, 330) Koschwitz (1882) zog in einer Sammelrezension, die unter anderem die historisch-dialektologischen Arbeiten von Metzke (1880/ 1881), Görlich (1882) und d’Herbomez (1882) zum Gegenstand hatte, eine überaus optimistische Zwischenbilanz: Die vorangehende Aufzählung zeigt, wie gewaltig in den letzten Jahren die Litteratur über die französischen Mundarten, besonders des Mittelalters, zugenommen hat. Glücklicherweise ist mit dem Umfange auch die Gründlichkeit derartiger Untersuchungen gewachsen. Immer mehr werden, wenn möglich, nach Ort und Zeit bestimmte Urkunden zu Rate gezogen, immer mehr, wenn freilich auch noch viel zu wenig, werden bei Durchforschung mittelalterlicher Dialekte auch die modernen patois berücksichtigt. (Koschwitz 1882, 94) Und auch Gaston Paris begrüßte den Beitrag, den die systematische Erschließung diplomatischer Quellen für die historische Linguistik versprach: Il est à désirer que toutes les chartes en langue vulgaire du XIII e et du XIV e siècle soient publiées avec la plus grande fidélité et analysées au point de vue grammatical et lexicographique. (Paris [1888] 1909, 444) 151 151 Im unmittelbaren Kontext dieser Äußerung gibt Paris [1888] (1909, 444) allerdings zu bedenken, daß die „documents d’archive“ des 13. und 14. Jahrhunderts sprachlich bereits stark von der „langue officielle“ beeinflußt, nicht „exempts de l’influence de la langue dominante“ seien. Auch die Einsicht, daß „[l]es textes littéraires offrent presque toujours une langue plus ou moins composite“ (443f.), wird in diesem Zusammenhang von Paris klar geäußert. Dies steht jedoch nicht im Widerspruch zu Paris’ eigener philologischer Praxis, die ja im oben dargestellten Fall des Alexiuslieds (1872) darin bestand, einen Archetyp zu rekonstruieren, der seinerseits sehr wohl als Repräsentant eines tatsächlich im Mittelalter gesprochenen Primärdialekts, hier des ‘Neustrischen’, angesehen wurde. Die in der Rede vor den Sociétés savantes anerkannte Kompositheit literarischer Textzeugnisse ist laut Paris nämlich lediglich der Tatsache geschuldet, daß „nous ne les avons guère, pour l’époque ancienne, dans leur forme originale“ (444). Dagegen sei es aber gerade der Vergleich mit den modernen patois, der eine Rekonstruktion der dialektal ‘reinen’ Urform ermögliche: „c’est parfois au contraire l’étude des parlers vivant [sic] qui nous conduit à restituer ou à deviner cette forme [sc. la forme originale des textes littéraires].“ Der Dialektologe steht also nach Paris’ Auffassung vor einem zweifachen Problem: die älteren, hauptsächlich literarischen Texte erschienen aufgrund der Kopialüberlieferung in ihrer dialektalen Originalität getrübt; die erst ab dem 13. Jahrhundert auftauchenden diplomatischen Originalmanuskripte stünden dagegen bereits zum Zeitpunkt ihrer Redaktion stark 84 <?page no="97"?> Auch wenn sich kaum einer der Pioniere der ‘altfranzösischen Dialektologie’ explizit zur Frage früher Standardisierungstendenzen in den untersuchten Textkorpora äußerte, kann ihnen eigentlich nicht entgangen sein, daß es neben diatopisch stark markierten Urkunden, die sie entsprechend für dialektologische Untersuchungen heranzogen, auch solche gab, in denen sich der Einfluß des französischen Protostandards bereits deutlich bemerkbar machte und die aufgrund der fehlenden diatopischen Merkmale nicht als Grundlage für das Studium eines parler provincial dienen konnten. Das Beispiel von Krause (1896, 59), der einen Teil der für das Gebiet des heutigen Départements Oise überlieferten Urkunden mit der Bemerkung aus unter dem Einfluß der „langue officielle“. - Auch Brunot (1905, 303) schien sich durchaus der Schwierigkeiten bewußt zu sein, die der Versuch einer dialektologischen Auswertung mittelalterlicher Schriftzeugnisse mit sich brachte: „[...] les compositions littéraires, les chartes mêmes sont loin de nous offrir avec certitude l’image de la langue parlée à l’époque et à l’endroit où elles ont été écrites, de sorte qu’on ne saurait les interpréter avec trop de réserve et de défiance“. Und auch Meyer (1890, 349) hatte in seinem Verriß von Bonnier (1889/ 1890) zugestanden, daß die „graphie imparfaite des écrivains du moyen âge n’a pas la précision d’un phonographe“, was zu gewissen Problemen bei der phonetischen Interpretation der Handschriften führen könne. Jedoch bezieht sich dieses Argument, wie Völker (2003, 28, Anm. 109) zu Recht betont, lediglich auf die Frage der medialen Kodierung, nicht auf das grundsätzlichere Problem der konzeptionellen Verschiedenheit von gesprochener und geschriebener Sprache. Gaston Paris’ standardisierungsgeschichtlich begründete Relativierung der dialektalen Reinheit der mittelalterlichen Schriftsprachen bekräftigt Meyer (1890, 350) allerdings durch den Hinweis, „que dans la France centrale et septentrionale les chartes représentent l’idiome local avec moins d’exactitude que dans les provinces du Midi, parce que de bonne heure le français de Paris a exercé une influence assez sensible sur l’idiome écrit de la première de ces deux régions.“ - Letztlich bleibt festzuhalten, daß die bei Paris, Brunot, Meyer und anderen im Ansatz durchaus vorhandene Erkenntnis von varietätenlinguistischen Zusammenhängen, die auf die weitgehende methodologische Unvereinbarkeit von dialektologischen Forschungsinteressen und konzeptionell-schriftsprachlich verfaßtem, womöglich schon unter dem Einfluß überregionaler Standardisierungstendenzen entstandenem Quellenmaterial hindeuten, sich schlechterdings nicht auf die zeitgenössische philologische Praxis ausgewirkt hat. Zwar finden sich mitunter zutreffende und durchaus scharfsinnige Einzelbeobachtungen, die entsprechende Einsichten auf empirischer Basis nahelegen (vgl. dazu die Literaturhinweise bei Remacle 1948, 144 und 148f.). Abgesehen von Bonniers skandalträchtiger Arbeit (1889/ 1890) (s.o.) scheint die Zeit aber schlichtweg nicht reif gewesen zu sein für eine kritische Synthese, die auf der Grundlage der offensichtlichen Ungereimtheiten der sprachlichen Daten zu einer umfassenden und eigenständigen Theorie der mittelalterlichen Schriftlichkeit in klarer Abgrenzung vom dialektologischen Erkenntnisinteresse gelangt wäre. Wie hier am Beispiel des Werks von Paris, Meyer oder Brunot angedeutet, sieht sich der aufmerksame Leser der zeitgenössischen Forschungsliteratur nicht selten mit widersprüchlichen Äußerungen konfrontiert, die von den Autoren selbst jedoch nicht als solche wahrgenommen worden zu sein scheinen und die wir heute allenfalls konstatieren, nicht aber auflösen können. 85 <?page no="98"?> seiner Studie ausschloß, sie seien „völlig francisch. Daher, obwohl Originalurkunden, wertlos“, nimmt Völker (2003, 25) zum Anlaß für die Vermutung, daß auch andere Autoren, die sich nicht explizit zur Auswahl ihrer Datenbasis äußerten, insgeheim ähnlich verfuhren wie Krause und diatopisch wenig profilierte Texte einfach unbeachtet ließen. Die zeitgenössische Methodik dürfte mithin im wesentlichen darin bestanden haben, diatopisch schwach oder gar nicht markierte, standardnahe Texte von vornherein auszusondern und die verbleibenden, diatopisch stärker geprägten Dokumente als willkommene Zeugnisse der mittelalterlichen Dialekte anzusehen, ohne sich der medialen und konzeptionellen Besonderheit der untersuchten, als zuverlässige Datenbasis betrachteten Texte bewußt zu sein. Schließlich wurde aber die uns heute naiv erscheinende Schriftgläubigkeit, wie sie in den zitierten Kommentaren zum Ausdruck kommt 152 , durch die Intervention der belgischen Romanisten Jules Feller (1931) 153 und Louis Remacle (1939a; 1948) grundlegend in Frage gestellt. 154 Feller (1931, 38f.) bezeichnete die von Gaston Paris etwa im Zusammenhang mit der Edition des Alexiuslieds (s.o.) vertretene Überzeugung, wonach die Ausdifferenzierung der mittelalterlichen Dialekte noch nicht weit fortgeschritten gewesen sein könne, als Trugschluß, der eben auf der falschen Vorannahme beruhe, daß die in der Tat verhältnismäßig wenig ausdifferenzierte Sprache der überlieferten Texte als getreues Abbild der in den verschiedenen Regionen gesprochenen Dialekte zu verstehen sei. 155 Vielmehr sei die relative Ähnlichkeit der nordfranzösischen Schreibspra- 152 Ähnliche Äußerungen sind bei Remacle (1948, 145-147) und Völker (2003, 26, Anm. 101-103) nachgewiesen. 153 Es sollte nicht unerwähnt bleiben, daß Feller seine im Jahr 1931 erstmals ausführlich dargestellte Meinung zur Beschaffenheit der altwallonischen Schriftsprache sich bereits drei Jahrzehnte zuvor gebildet hatte: „A peu près tout ce qu’on donne comme wallon des chroniques, des histoires et des myroirs composés en Wallonie, a voulu être écrit en français et n’est wallon que dans certaines expressions et par intermittence“ (Feller 1901; zitiert in Remacle 1948, 11). Auch Bayot (1929, LXXVII) hatte im Vorwort zu seiner Edition des Poème moral Zweifel an der ‘Wallonizität’ des von ihm untersuchten Texts zum Ausdruck gebracht: „Si le poème paraît originaire de la Wallonie, il ne s’ensuit pas qu’il soit rédigé en un patois wallon. Quelques traits trahissent l’influence de la langue centrale. Le dialecte écrit par l’auteur est un dialecte littéraire d’où il élimine les particularités locales trop accusées.“ - Vgl. auch Lejeune (1941, 82) und Haust (1941, 235). 154 Zu den frühen kritischen Positionierungen von Bonnier (1889/ 1890), Morf (1914) und Wacker (1916) vgl. Anm. 149. 155 Vgl. dazu die folgende, programmatische Aussage von Gaston Paris aus dem Vorwort seiner Alexius-Edition: „S’il est un fait que la philologie historique et comparative ait mis hors de doute, c’est que les différences orthographiques, à l’origine, correspondent toujours à des différences phoniques, en d’autres termes que tout caractère distinct a d’abord représenté un son distinct“ (Paris 1872, 35). 86 <?page no="99"?> chen auf die Tatsache zurückzuführen, daß die mittelalterlichen Schreiber von Beginn an versucht hätten, ‘französisch’ zu schreiben. Pourquoi Gaston Paris fait-il si bon marché de la variété dialectale? La raison première est évidemment celle-ci: ces textes provinciaux, qu’il connaissait mieux que personne, ne lui apparaissaient pas assez différents de la langue du Centre pour nécessiter un classement linguistique à part. Raison très légitime en soi, mais basée sur une illusion, à savoir que la langue des textes représentait exactement celle des dialectes. Il concevait une unité sensible non par le fait que les auteurs avaient francisé, mais par la persuasion que les dialectes offraient peu de divergences originales. (Feller 1931, 38f.) Für Gaston Paris war die relative Ähnlichkeit der nordfranzösischen Schreibtraditionen insofern unproblematisch, als er annahm, daß die mittelalterlichen Dialekte - und mit ihnen die darauf basierende Schriftlichkeit - überhaupt noch nicht den hohen Grad an diatopischer Differenzierung aufwiesen wie in der Neuzeit. Paris schloß also von diatopisch schwach differenzierten Schreibsprachen auf diatopisch schwach differenzierte Primärdialekte und setzte damit den Grad der Dialektizität der gesprochenen Sprache pauschal mit dem topischen Differenzierungsgrad der geschriebenen Sprache im Mittelalter gleich. 156 Der in der Ähnlichkeit der regionalen Schreibsprachen sich manifestierende fonds commun 157 erklärt sich demnach in diachroner Sicht, nämlich als relativ wenig ausgegliederter Entwicklungsstand des nordgalloromanischen Vulgärlateins - wobei der Eindruck, daß etwa die Sprache des ‘neustrischen’ Archetyps des Alexiuslieds ‘komposit’ oder ‘heterogen’ sei, in Paris’ vor-skriptologischer Logik überhaupt erst im anachronistischen Rückblick des Kenners der modernen Dialekte entsteht. Feller ging dagegen gerade von seiner eigenen, muttersprachlichen Dialektophonie aus; zudem kannte er die normative Eigendynamik supralokaler Graphiesysteme aus seiner Erfahrung mit dem Versuch der Verschriftung des modernen Wallonisch. 158 So kam er zu der Überzeugung, daß es sich bei der Sprache der mittelalterlichen Schriftzeugnisse nicht einfach um eine wenig ausgegliederte Form des Nordgalloromanischen handeln konnte, sondern um ein „français régional“ 159 , einen „langage mixte“ 156 Darüber hinaus gilt das in Anm. 151 Gesagte: die literarischen Texte erschienen aufgrund der Kopialüberlieferung in ihrer ursprünglichen dialektalen Reinheit beeinträchtigt; die Urkunden des 13. und 14. Jhdts. stünden bereits unter dem Einfluß der langue du roi. 157 Der Begriff geht auf Gossen (1956, 101) zurück. Erst Delbouille (1970, 189), der den Ausdruck ebenfalls verwendet, hat aber die Ähnlichkeit der Skriptae als historischen Reflex der ursprünglichen Einheit der noch nicht ausgegliederten nordgalloromanischen Idiome gedeutet (s.u.). 158 Vgl. Feller (1931, 45-56); Völker (2003, 36, Anm. 144). 159 Die Parallele zum modernen Begriff des français régional erscheint durchaus statthaft, wenngleich es sich bei Feller natürlich nicht um eine gesprochene, sondern um eine 87 <?page no="100"?> (Feller 1931, 49), den er als Ergebnis eines synchron wirksamen, durch überregionale Kontakte bedingten Nivellierungseffekts auf schriftsprachlicher Ebene ansah. Als Hauptargument diente Feller die Existenz von hyperkorrekten, an französischen Formen orientierten Analogiebildungen wie octable für octave 160 , die er unter anderem in einer wallonischen Urkunde von 1271 nachwies. Mithin verstand Feller die regionalen Schreibtraditionen als eine Art interlanguage 161 , deren Oszillieren zwischen überregionalem Protofranzösisch, dialektalen und ‘pseudo-französischen’ „formes fabriquées par analogie“ (Feller 1931, 35) von einer unzureichenden Beherrschung des werdenden Standards durch die Schreiber aus der Provinz zeuge. A notre sens poètes et chroniqueurs, secrétaires et rédacteurs de chartes, de lois et règlements, voulaient tous écrire en français. Quand ils n’atteignaient pas l’expression correcte, c’est parce que leur connaissance du français était bornée. (Feller 1931, 49; meine Kursivierung) Zwar bemerkt Völker (2003, 37), daß Feller es an dieser Stelle versäumt habe „zu definieren, was er unter ‘français’ verstand“. In einer anläßlich eines Referats von Maurice Delbouille auf dem Lütticher Wallonistenkongreß von 1939 abgegebenen Stellungnahme äußerte sich Feller jedoch etwas konkreter: Je persiste [...] à croire que le français, soit parlé, soit écrit, a pour substrat un dialecte, un seul. Lequel? Sera-ce le lorrain, le bourguignon, le wallon, quelque autre dialecte excentrique? L’histoire et la raison désignent un dialecte central. 162 Ganz ähnlich wie Wartburg (1934/ 5 1958) ging Feller also von einem streng monotopischen Überdachungsprozeß unseres Typs 2d aus und stellte den Primat des Île-de-France-Dialekts im französischen Verschriftlichungsprozeß als historische und sprachgeographische Evidenz dar, zu deren Gewähr er sich lapidar auf rationale Erwägungen („la raison“) berief. Entsprechend paraphrasierte auch Louis Remacle die Position seines 1940 verstorbenen Lütticher Kollegen, dem er im Vorwort seiner Monographie die Ehre geschriebene Varietät handelt, die aus dem Kontakt von Primärdialekt und überdachender (Proto-)Standardsprache hervorgegangen ist. 160 Statt afr. octave ‘Zeitraum von acht Tagen’ wird hyperkorrektes octable gebildet in Analogie zu aus - ĀBILE ( M ) entstandenen Formen wie stable, table, fable, denen im gesprochenen Wallonisch Formen auf -âve (stâve, tâve, fâve) entsprechen. Vgl. Feller (1931, 87). 161 Vgl. zum Begriff etwa Telmon ( 11 2006, 100). 162 Es scheint zwar ein umfassendes Compte rendu du 21 e Congrès de Linguistique, de Littérature, d’Art et de Folklore wallons (Liège, 13-15 août 1939) existiert zu haben, das den Wortlaut der Referate und Diskussionsbeiträge wiedergab; der Band ist aber meines Wissens (vielleicht kriegsbedingt? ) nie publiziert worden. Die zitierte Passage ist allerdings bei Remacle (1948, 152) belegt. Vgl. außerdem Piron (1940). 88 <?page no="101"?> zuerkannte, „d’avoir émis le premier des idées nettes sur la nature de notre ancienne langue écrite“ (Remacle 1948, 11): 163 Feller [...] croyait à la primauté originelle du francien dans la langue écrite de tout le domaine d’oïl. [...] Pour Feller, c’est le francien au fond qui s’est écrit dès le début en Wallonie comme dans les provinces françaises. (Remacle 1948, 152) Interessant ist nun aber die Art und Weise, wie Remacle sich selbst in der Ursprungsfrage positionierte. Bereits anläßlich eines kürzeren Beitrags, der 1939 in der Emeritierungsfestschrift für Jean Haust erschien, hatte Remacle versucht, Fellers eher theoretisch gehaltene Überlegungen durch empirisch gesicherte Befunde zu untermauern. So wandte er die von Feller konzipierte Methode der Unterscheidung von gemeinfranzösischen, dialektalen und hyperkorrekten Formen auf drei um 1400 im ostbelgischen Stavelot niedergeschriebene Textfragmente an und kam zu dem - Fellers These vollauf bekräftigenden - Fazit, daß die Sprache der von Remacle selbst edierten und zum Vergleich abschnittsweise wörtlich ins Neuwallonische übersetzten Dokumente „française d’intention“ sei; es handle sich um eine „langue ‘littéraire’ [...] assez composite“, die zwar „foncièrement française“, aber auch „parsemée de wallonismes“ sei und darüber hinaus vereinzelte Pikardismen und Latinismen enthalte (Remacle 1939a, 324f.). Piron (1940, 331f.) stimmte Remacle in einer Kurzrezension uneingeschränkt zu: schon die neuwallonische Übersetzung der Fragmente aus Stavelot zeige eindeutig, daß die darin enthaltenen ‘franzischen’ oder ‘franko-pikardischen’ Formen - im Unterschied zu den wenigen echten oder durch hyperkorrekte Analogiebildung ‘verschleierten’ Wallonismen - niemals in einer „série diachronique“ (Feller 1931, 82) „allant d’un état latin primitif à un état wallon actuel“ (Remacle 1939a, 315) stehen könnten (z.B. doit oder avoit vs. neuwallonisch deût bzw. aveût, avéve; vgl. Remacle 1939a, 321). Jedoch rief das von Feller (1931) und Remacle (1939a) gezogene Fazit, daß die wallonischen Schreiber des 13. und 14. Jahrhunderts sich bewußt und willentlich an einer francien-basierten Schriftnorm orientiert hätten, neben sehr positiven Reaktionen auch überaus heftige Kritik aus den Reihen der belgischen Linguistik hervor. In einer erregten, in der Jahreschronik des Bulletin de la Commission Royale de Toponymie & Dialectologie gut dokumentierten Debatte 164 wurde unter anderem die historische Plausibilität einer außerhalb der Grenzen des französischen Königreichs wirksamen sprachlichen Vorbildstellung der Île-de-France in Frage gestellt (s.u.). Na- 163 Ganz ähnlich bei Haust (1941, 235): „[...] Feller a longuement mûri les idées originales qu’il développe en 1931 et dont on ne peut, sans injustice, lui dénier le mérite.“ 164 Vgl. Haust (1932); Piron (1939, 158-163); Remacle (1939b, 178); Bárczi (1940); Piron (1940) und (1941); Lejeune (1941); Haust (1941); Baguette (1943); Massart (1944). 89 <?page no="102"?> mentlich Marius Valkhoff (1938; 1939), der wie Remacle ausführlich in den Mélanges Haust - allerdings gegen Feller - Stellung bezog, hielt an der traditionellen Lehrmeinung fest, daß die Ähnlichkeit der nordfranzösischen Schreibtraditionen lediglich als Reflex der im Mittelalter erst schwach ausdifferenzierten Primärdialekte zu deuten sei, nicht als synchron wirksamer, zentripetaler Normierungseffekt: Plus on remonte l’histoire de l’évolution des langues et des dialectes romans, plus ceux-ci se rapprochent les uns des autres; le fait que l’ancien wallon écrit ressemble au francien est donc un phénomène naturel et n’implique point l’existence d’un dialecte parlé, tout différent. (Valkhoff 1939, 387) Delbouille (1939) 165 nahm in der Auseinandersetzung eine gemäßigte und recht differenzierte Position ein: Zwar geht er ebenfalls von der Prämisse aus, daß die französischen Primärdialekte sich im Hochmittelalter noch relativ ähnlich gewesen seien („les dialectes parlés sont encore très proches les uns des autres jusqu’au 12 e s.“); die im 8. bis 12. Jahrhundert sich langsam entwickelnden regionalen Literatursprachen hält er jedoch keineswegs für ein bloßes ‘Abbild’ der damals gesprochenen Varietäten. Zwar hätten jene sich in einem genuin plurizentrischen Prozeß nach und nach auf der Basis der in den einzelnen Regionen gesprochenen Dialekte herausgebildet und dabei jeweils entsprechende diatopische Charakteristika angenommen. Nichtsdestoweniger hätten sie aber einen beträchtlichen Anteil an sprachlichen Gemeinsamkeiten bewahrt, so daß - trotz ihrer regionalen, gewissermaßen polygenetischen Fundierung - letztlich doch eine gesamtfranzösische „langue commune“ entstanden sei, die die überregionale Kommunikation gewährleistete und die schließlich als Grundlage für den modernen Standard diente. - Das Szenario erinnert an unsere schriftsprachliche Koinebildung (2a’), wenn auch bei Delbouille weniger die (synchrone) Vermischung diatopisch heterogener Merkmale im Vordergrund steht als vielmehr die (diachrone) Bewahrung eines historischen fonds commun: Cette langue écrite, lentement constituée par des générations de clercs et de poètes, était déjà une langue commune dont les éléments essentiels se retrouvaient dans la plupart des parlers d’oïl, mais qui se colorait de traits dialectaux dans les diverses régions du nord de la France. Au prix de faciles transpositions phonétiques ou morphologiques, cette langue était compréhensible partout dans le nord de la France, mais ne s’identifiait à aucun dialecte. [...] 165 Zitiert in Remacle (1948, 152f.). Vgl. außerdem die späteren Beiträge von Delbouille (1959; 1962; 1970). 90 <?page no="103"?> Chaque province s’est constitué, du 8 e au 13 e s., une langue écrite qui lui était propre. C’est dans cette langue que sont écrits tous les documents [...]. (Delbouille [1939]; zit. in Remacle 1948, 152f.) Die eher konvergente als divergente Entwicklung der regionalen Schreibsprachen erkläre sich zum einen durch die erst mäßige Ausdifferenzierung der nordfranzösischen Dialekte zur Zeit der literarischen Schriftsprachengenese, zum anderen durch den überall in gleicher Weise wirksamen Einfluß der lateinischen Graphiekonventionen; hinzu komme die wechselseitige Beeinflussung durch interregionalen Austausch. 166 Deshalb hätten sich die regionalen Schreibtraditionen weniger untereinander, um so deutlicher aber von den jeweils ‘darunter liegenden’ gesprochenen Varietäten unterschieden, so daß in jeder Provinz ein - wir würden sagen: diglossischer - Gegensatz zwischen einer konservativen, zur Überregionalität tendierenden Schriftsprache und kleinräumigen, mit der Zeit immer stärker individualisierten Primärdialekten bestanden habe. 167 Zwar räumt Delbouille ein, daß von bestimmten, kulturell führenden Gegenden durchaus normierende Impulse auf die Nachbarregionen ausgangen seien 168 , und gesteht diese Rolle in späterer Zeit selbstverständlich auch der Île-de-France zu. Er verwahrt sich aber strikt gegen die pauschale Annahme, daß das Zentrum bereits von Beginn an tonangebend gewesen sei. Gerade aufgrund der lange Zeit nicht nachweisbaren literarischen Aktivität der Île-de-France sei 166 Mit „échanges“ kann sowohl personeller Austausch (vgl. dazu Delbouille 1970, 198f.) als auch Manuskriptzirkulation gemeint sein. Delbouille (1970, 189f.) führt außerdem „la tendance conservatrice de tout usage écrit“ und „le souci des auteurs de rendre leurs œuvres accessibles au public de régions différentes de la leur“ als Argumente an. 167 Delbouille (1970, 193-196) präzisiert in diesem Zusammenhang, daß die regionalen Schreibsprachen im Lauf des Mittelalters ein immer schärferes diatopisches Profil angenommen hätten, parallel zur zunehmenden Ausdifferenzierung der gesprochenen Dialekte. Die Beobachtung, daß etwa die wallonischen Urkunden des 13. Jahrhunderts viel stärker ‘dialektal’ seien als die älteren, literarischen Texte, spreche eindeutig gegen die Annahme einer frühzeitigen, d.h. noch vor dem 13. oder 14. Jahrhundert beginnenden ‘Ausstrahlung’ einer im Zentrum verankerten Norm. Bis zum 14. Jahrhundert sei es daher mitnichten zu einer Zentralisierung, sondern ganz im Gegenteil zu einer zunehmenden Regionalisierung der Schriftlichkeit gekommen. - Diese an sich einleuchtende Argumentation erscheint lediglich insofern fragwürdig, als Delbouille die älteren literarischen Texte hinsichtlich des Grads ihrer diatopischen Markierung unvermittelt mit den jüngeren, im Original erhaltenen Urkundentexten vergleicht und dabei außer Acht läßt, daß die literarische Kopialüberlieferung eine tendenziell nivellierende Wirkung auf das in der verlorenen Originalfassung möglicherweise noch stärker ausgeprägte diatopische Profil der tradierten Texte hat (vgl. dazu Greub 2007; s.u., Kap. 4.3). 168 Delbouille (1970, 195) nennt beispielsweise die Normandie des 12. und die Pikardie des 13. Jahrhunderts. Dieser Periodisierungsvorschlag findet sich übrigens schon bei Wacker (1916); vgl. meine Anm. 149. 91 <?page no="104"?> eine ‘zentripetale’, auf Paris gerichtete Standardisierungstendenz vor dem 13. Jahrhundert historisch kaum zu rechtfertigen. Vielmehr spreche die Herkunft und sprachliche Eigenart der überlieferten Texte klar für die Annahme eines plurizentrischen Verschriftlichungsprozesses. 169 Ce n’est pas au 13 e s. [...] que les provinces d’oïl ont commencé de connaître des textes vulgaires écrits. C’est entre le 8 e et le 12 e s. que la littérature vulgaire s’est développée dans le nord de la France. C’est au cours de cette période que se sont constituées les variétés écrites de l’ancien français. Les textes conservés de ce temps sont wallons, picards ou normands, c’est-àdire qu’on trouve une langue écrite dans ces régions longtemps avant l’apparition de textes franciens. Et ces faits, loin de confirmer l’hypothèse d’une origine francienne de la langue écrite, montrent qu’en réalité on s’est essayé dans chaque province à noter le dialecte local à l’aide de l’alphabet latin. La langue écrite n’est pas née à Paris un beau matin. Elle s’est constituée progressivement, dans chaque province, à la suite de nombreuses séries d’essais. [...] Qu’à partir de certaine époque, tel ou tel dialecte ait exercé son influence sur les régions voisines, même dans la langue écrite 170 , et qu’à ce point de vue le francien ait, da par sa situation, joui d’avantages particuliers 171 , c’est 169 Lejeune (1941, 86f.) führt neben dem literarischen Vorrang des (anglo-)normannischen Westens und der Champagne auch die politische Schwäche des französischen Königtums bis zum 13. Jahrhundert als Argumente gegen die „puissance supposée à cette ‘langue centrale’“ an. Vgl. außerdem Delbouille (1970, 196f.): „L’absence dans nos bibliothèques de toute œuvre littéraire francienne antérieure au XIII e siècle ne peut s’expliquer par la perte intégrale des textes qui l’auraient constituée. Le nombre des œuvres du temps qui nous sont parvenues pour d’autres régions rend pareille hypothèse absolument invraisemblable.“ - Darüber hinaus argumentiert Delbouille (1970, 189), daß die vermeintliche Identität der sprachlichen Merkmale, die zugleich in der französischen Schriftsprache und in den gesprochenen Varietäten des Zentrums vorkommen, lediglich auf einer optischen Täuschung beruhe. Sie erkläre sich nämlich ganz einfach dadurch, daß die zentralen Dialekte in sprachgeographischer Sicht natürlicherweise den ‘kleinsten gemeinsamen Nenner’ des Nordgalloromanischen darstellten und damit weitgehend dem historischen „fonds commun“ ähnelten, den die konservative, transdialektale Schriftsprache repräsentiere: „Ce qui nous apparaît comme francien dans tous les textes était, pour moi, le souvenir d’un temps où les dialectes d’oïl étaient encore à peu près identiques et possédaient dès lors par eux-mêmes les caractères qui unissaient chacun d’eux au francien, situé au centre du domaine et se présentant naturellement, de ce fait, comme une sorte de commun dénominateur entre tous ses voisins.“ - Delbouilles „commun dénominateur“ erinnert im übrigen stark an Wartburgs „juste milieu“ (s.o.). 170 Man fragt sich, weshalb Delbouille eine Beeinflussung auf der Ebene der Schriftsprache als weniger wahrscheinlich darstellt als einen sprechsprachlichen Kontaktprozeß. 171 Hier argumentiert Delbouille freilich wieder ganz traditionell: allein schon aufgrund ihrer sprachgeographischen Lage („de par sa situation“) sei die Île-de-France im Standardisierungsprozeß privilegiert gewesen. Vgl. hierzu auch die in Anm. 169 zitierte Stelle aus Delbouille (1970, 189). 92 <?page no="105"?> non seulement chose vraisemblable, mais encore chose évidente. Mais, à mon sens, ce serait s’abuser que de croire à une primauté originelle, permanente et absolue, du dialecte parlé ou écrit de l’Ile-de-France. (Delbouille 1939; zitiert in Remacle 1948, 153) Remacles Monographie (1948) schließlich ist als Versuch einer umfassenden Synthese der seit Feller (1931) in der belgischen Romanistik geführten Debatte um das Wesen des ancien wallon zu verstehen. 172 Im ersten Teil seiner Studie (pp. 25-96: „La segmentation dialectale de la Belgique romane au moyen âge“) kam Remacle anhand einer detaillierten diachronen Untersuchung von 53 ausgewählten Merkmalen des Neuwallonischen zu dem Ergbenis, daß die Ausgliederung der wallonischen Dialektlandschaft im 13. Jahrhundert bereits im wesentlichen vollzogen gewesen sein mußte. Als Anhaltspunkte dienten ihm auf den Lautstand des Neuwallonischen hinweisende Formen, die er direkt in mittelalterlichen Texten oder indirekt über historische Grammatiken nachwies und die, wenn sie auch nur isoliert und schriftlich belegt waren, doch als starkes Indiz für bestimmte Entwicklungen auf der Ebene der gesprochenen Dialekte zu werten waren. Wie sonst hätte ein aus dem Neuwallonischen bekanntes Dialektmerkmal schon im Mittelalter zufällig graphisch fixiert werden können, wenn es nicht zu diesem Zeitpunkt bereits in der gesprochenen Sprache vorhanden war? - Damit konnte Valkhoffs Einwand, daß die nordgalloromanischen Idiome sich im 13. und 14. Jahrhundert noch relativ ähnlich gewesen seien, als widerlegt gelten. Auf dieser Grundlage machte Remacle sich im zweiten Teil seines Buchs an die quantitative Analyse einer Lütticher Urkunde von 1236 (pp. 97-139: „La langue d’une charte écrite à Liège en 1236“), wobei er sich wiederum der von Feller (1931) vorgeschlagenen Methode bediente, die er bereits in seinem Beitrag zur Festschrift für Jean Haust angewandt hatte. Und auch das Ergebnis dieser neuen Untersuchung, die vor dem Hintergrund des im ersten Teil gewonnenen diachronen Befunds als methodisch abgesichert gelten konnte, bestätigte die von Feller (1931) aufgestellte These: Lediglich 12,7% der gesamten in der Urkunde vorkommenden Wortformen (tokens) könnten nämlich als echte Wallonismen gelten, während 41,4% davon eindeutig als nicht-wallonisch zu kennzeichnen seien (z.B. guarder vs. neuwallonisch wârder mit durchgehendem Erhalt von germanischem * W -). 173 Anhand eines ‘prospektiven’ Vergleichs der untersuchten 172 Vgl. dazu auch Völker (2003, 38-42). 173 Daneben verzeichnet Remacle allerdings auch 47,5% von „formes communes“, d.h. von Wortformen, die - ausgehend vom mutmaßlichen Lautstand um 1236 - (noch) nicht entweder dem Wallonischen oder den zentralfranzösischen Dialekten zugeordnet werden könnten und die somit als neutral einzustufen seien. Darüber hinaus nimmt Remacle (1948, 131f.) von 35 Wortformen zwar an, daß sie wahrscheinlich mehrheitlich nicht-wallonisch sind, schließt sie jedoch aus seiner Rechnung aus, da verläßliche 93 <?page no="106"?> Formen mit dem modernen Französisch (pp. 132-135) ergibt sich für Remacle schließlich der Befund, daß die Sprache der Lütticher Urkunde bereits zu 75% als ‘französisch’ zu bezeichnen sei: 174 [...] ce que j’affirmerai sans crainte, c’est que, pour les trois quarts de ses éléments, [...] la langue de la charte est déjà du français. C’est là un fait incontestable et, à mes yeux, capital. (Remacle 1948, 137) Zwar geht Remacle nicht so weit zu behaupten, daß die nicht-wallonischen Merkmale der untersuchten Urkunde den gesprochenen Dialekt der mittelalterlichen Île-de-France abbildeten: Je ne m’aventurerai certes pas jusqu’à dire que le texte est écrit en francien: ce qu’on connaît sous le nom de francien c’est la scripta francienne, plutôt que le dialecte oral de l’Ile-de-France; et je n’ai pas le moyen de rechercher dans quelle mesure celui-ci intervient dans notre document. (Remacle 1948, 137) Und: Je n’aperçois le francien que sous la forme de la scripta francienne, et je ne crois pas que celle-ci soit la notation fidèle du francien parlé. (Remacle 1948, 112) Im Unterschied zu Feller ([1939], zit. in Remacle 1948, 152) und Wartburg (1934/ 5 1958), die ja ohne weiteres vom „parler du centre“ bzw. dem „dialecte central“ (s.o.) als Basis der französischen Schriftsprache ausgingen, gilt bei Remacle (1948) der skriptologische Vorbehalt gegenüber einer vorschnellen Ineinssetzung von Dialekt und Schriftsprache also prinzipiell Anhaltspunkte hinsichtlich der Chronologie des spezifisch wallonischen Lautwandels, dem sie eventuell erst später unterlagen (so daß es sich im Jahr 1236 noch um „formes communes“ gehandelt hätte), fehlen. - Remacles (1948, 132) Schlußbilanz enthält allerdings einen Rechenfehler: als Bezugsgröße der genannten Prozentzahlen setzt er nämlich eine Gesamtsumme von 393 tokens an; in Wirklichkeit ergibt die Summe der in Relation gesetzten Wortformen jedoch 400 (nämlich 187 „formes communes“, 163 „formes non wallonnes“ und 50 „formes wallonnes“); daher überschreitet die Summe von Remacles Prozentangaben auch die 100%-Marke (47,5 + 41,4 + 12,7 = 101,6). Außerdem ergäbe sich mit den 35 nicht klassifizierten Wortformen (s.o.) für die gesamte Urkunde eine Summe von 435 Wortformen, nicht von 428, wie Remacle schon zu Beginn seiner Analyse (p. 113) schreibt. Vgl. zur durchaus komplexen Auswertung im einzelnen Remacle (1948, 111-135). - Ein später und scharfer Kritiker, der Remacles Methode grundlegend in Zweifel zog, war Antonij Dees (1985). Vgl. zur kritischen Würdigung von Remacles Studie Völker (2003, 38-42); zu Dees’ methodischen Einwänden vgl. Völker (2003, 57-66). 174 Hierzu hat Remacle nicht einfach die zuvor ermittelten Prozentzahlen für die „formes communes“ und die „formes non wallonnes“ addiert, sondern umsichtig eine Reihe von Formen wie z.B. totes (wahrscheinlich [o]) ausgeschlossen, deren Graphie noch nicht den späteren Lautstand des Französischen (z.B. toutes [u]) erahnen läßt. 94 <?page no="107"?> auch für die Île-de-France. Abgesehen von diesem theoretischen caveat vertritt Remacle jedoch durchaus die Ansicht, daß die nicht-indigenen Merkmale, welche die wallonische Skripta als eine Art „ancien-français régional“ (p. 139) erscheinen ließen, im wesentlichen dem normierenden Einfluß einer zentralfranzösischen, in der Île-de-France gepflegten Schreibtradition geschuldet sind, die zumindest mittelbar auf dem gesprochenen francien basierte. Explizit wird dies, als Remacle in den „Conclusions générales“ (pp. 140-183), die seine Studie als umfassender, in fünfzehn Einzelaspekte gegliederter Ausblick abrunden, ausführlich auf die Standardisierungsproblematik zu sprechen kommt. Ausgehend von Fellers (1931) monotopischer These und Delbouilles (1939) eher in Richtung einer schriftsprachlichen Koinebildung (2a’) zielender Argumentation (s.o.), stellt Remacle sich selbst die entscheidende Frage nach der „origine de la langue écrite“ (pp. 152-157). Doch wenngleich er Delbouilles „longue expérience de l’ancien français“ sowie die „grande précision“ (p. 154) seiner Ideen würdigt, bleibt er im wesentlichen Fellers (1931) und seiner eigenen Position (1939a) treu, wonach die nicht-wallonischen Merkmale eben auf eine „influence francienne ou centrale“ (pp. 160-162) bzw. auf die „attraction de Paris“ (pp. 158f.) zurückzuführen seien. Den Kritikern dieser Auffassung gesteht Remacle zwar zu, daß Feller und er sich etwas zu weit vorgewagt haben mögen, als sie den wallonischen Schreibern des Mittelalters die ‘Absicht, französisch zu schreiben’ unterstellten: [...] lorsque, Feller et moi, nous prêtions à nos auteurs médiévaux la volonté ou l’intention d’écrire en français, nous nous aventurions un peu - sans le savoir, bien entendu. Et nos contradicteurs n’ont pas eu tort de nous rappeler qu’au moyen âge, le prestige et l’attraction du Centre, de Paris et du francien n’avaient ni la réalité, ni l’efficacité que nous croyions... (Remacle 1948, 159) Doch sofort wird klar, daß sich diese Relativierung lediglich auf die empirisch-methodische Fundierung der Fellerschen These, keineswegs aber auf deren eigentlichen Wahrheitsgehalt bezieht. Vielmehr sieht sich Remacle durch die quantitativen Verhältnisse, die er mithilfe seiner minutiös durchdachten Analysemethode ermitteln konnte, in der Überzeugung bestätigt, daß die nicht-wallonischen, ‘proto-französischen’ Merkmale in der wallonischen Skripta vom geographischen Zentrum herkommen müßten; ja er erwägt sogar, daß die gewonnene linguistische Erkenntnis zum Anlaß für eine Revision der Geschichtsschreibung genommen werden könne, nach der eine überregionale kulturelle Ausstrahlung des Zentrums vor dem 13. Jahrhundert bislang als nicht plausibel galt: Mea culpa! Rendu prudent par les critiques, je me suis abstenu cette fois d’attribuer aucun sentiment à l’auteur de la charte liégeoise de 1236. Mais, après une analyse et une statistique, j’ai affirmé que la scripta du document 95 <?page no="108"?> était déjà du français aux trois quarts, et du non-wallon pour environ soixante-dix, c’est-à-dire pour le tiers 175 de ses mots [...]. J’ai affirmé ces proportions, non comme des hypothèses, mais comme des faits. Ces faits, on peut les suspecter, les vérifier, les discuter. Mais, une fois qu’on les accepte, suffit-il de dire qu’ils s’expliquent par une influence extra-wallonne, centrale ou francienne? Je me demande s’il ne faut pas, au contraire, proclamer hautement qu’ils révèlent cette influence. Au stade indo-européen, nul n’hésite à exploiter au profit de l’histoire les données de la linguistique. Pourquoi craindrions-nous de le faire à l’échelon de l’ancien français, pour une époque sur laquelle l’histoire elle-même a d’ailleurs bien des choses à nous apprendre? (Remacle 1948, 159; meine Kursivierung) 176 Freilich formuliert Remacle seine Position nicht durchgehend derart kühn. Vielmehr distanziert er sich immer wieder selbst von der monotopischen These, um sie auf den Prüfstand zu stellen und nicht der Versuchung einer vorgefertigten Meinung zu erliegen. Letzlich weicht er aber an keiner Stelle von der zentralistischen Überzeugung ab, in der er sich durch seinen empirischen Befund bestärkt sieht: En formulant la déduction précédente [vgl. obiges Zitat; Remacle 1948, 159], j’espère n’avoir pas cédé au parti pris. Et poutant, est-elle vraisemblable? L’influence centrale a-t-elle rayonné, dès 1236, à une telle distance, jusqu’à ce pays de Liège, qui se trouvait aux confins du monde germanique et qui relevait même de l’Empire? Sans aucun doute. (Remacle 1948, 160; meine Kursivierung) 177 175 Mit dem ‘Drittel’ sind die Wörter gemeint, für deren token-Anteil zuvor ein Wert von 41,4% ermittelt wurde (s.o.). Remacle (1948, 136) zieht abschließend allerdings einen etwas niedrigeren Wert in Erwägung, da er zugesteht, daß von den Wörtern dieser Kategorie möglicherweise die Wörter abgezogen werden müßten, „qui, dans leur graphie, s’écartent de la forme phonétique de leurs correspondants wallons, mais qui pouvaient en 1236 se prononcer à la wallonne“ (Remacle 1948, 123f.). 176 Eine ähnliche Stellungnahme findet sich in Jean Hausts (1941) extrem ablehnender Rezension zu der Antrittsvorlesung, die Rita Lejeune (1941) im März 1939 als Nachfolgerin auf Fellers (1920-1930) und Hausts (! ) (1932-1938) Lütticher Lehrstuhl gehalten hat („Soit dit sans ambages, c’est bien malgré moi que R[ita] L[ejeune] a recueilli cette partie de ma succession.“; Haust 1941, 234): „La ‘langue centrale’, poursuit-on [dans Lejeune 1941, 87; Anm. K.G.], n’exerça guère son rayonnement à cette époque: ceux qui parlent de son influence déterminante ‘sur les débuts de l’ancienne littérature wallonne n’ont pas toujours tenu un compte exact des données géographiques, historiques et culturelles du pays wallon’ [...]. - Possible, mais ils tiennent surtout compte des faits.“ (Haust 1941, 237f.). Vgl. zur Geschichte des Lütticher Lehrstuhls auch Remacle (1946, 1101f.). 177 Zur Stützung der monotopischen These führt Remacle an dieser Stelle überdies das Zeugnis einiger „romanistes éminents“ an, nämlich von G. Paris, A. Darmesteter, K. Nyrop und W. von Wartburg, nach deren Ausweis die ‘Vorherrschaft’ des Île-de- France-Dialekts bereits zu Beginn des 12. Jahrhunderts deutlich geworden sei. Zwar 96 <?page no="109"?> Auch Delbouilles plurizentrischen Gegenentwurf einer konservativen „langue commune“ (s.o.) diskutiert Remacle eingehend. Doch als es um die entscheidende Frage geht, ob es sich beim Französischen wirklich um eine „langue [...] commune par formation“, also um eine schriftsprachliche Defacto-Koine (2a’) à la Delbouille, handle oder nicht doch vielmehr um eine monotopisch basierte Koine de iure (2d), beruft Remacle sich wiederum ganz auf das Ergebnis seiner quantitativen Analyse: Gerade die für das 13. Jahrhundert festgestellte, ‘meßbare’ Diglossie zwischen überregionaler Schriftsprache und gesprochenem Wallonisch spreche eindeutig gegen Delbouilles plurizentrische These. Wie könne es nämlich sein, daß eine überregionale Schriftsprache, die in ihrem Entstehungsprozeß aus dem Formeninventar aller - oder zumindest der wichtigsten - Regionalidiome geschöpft haben soll, sich im 13. Jahrhundert bereits derart klar vom gesprochenen Wallonisch absetzte? [...] l’expression „langue commune“ 178 n’est-elle pas équivoque? Une langue peut être commune par formation ou par extension: il peut s’agir d’une koinê qui amalgame des traits communs à plusieurs dialectes; il peut s’agir aussi d’un dialecte qui s’impose au territoire occupé par ses congénères. Feller croyait que le francien était devenu la langue commune de tout le domaine d’oïl: il se trompait, dans une certaine mesure. 179 Est-il vrai que la langue commune que nous appelons le français s’est créée de l’autre manière, comme une koinê 180 , et que ses éléments „essentiels“ se retrouvent un peu partout? Il faudrait le démontrer. Mais en attendant, rappelons-nous ce que nous avons appris par l’analyse de notre charte de 1236. Il va de soi que la scripta de 1236 n’est plus celle, par exemple, de l’an 900. Si, en 900, la langue écrite était le dialecte oral fidèlement noté par l’écriture, nous savons qu’en 1236, ce n’est plus le cas: la scripta liégeoise, chacun l’admet, ne coïncide plus alors avec le wallon liégeois. Nous savons gibt Remacle in einer Fußnote (p. 162, Anm. 1) zu bedenken, daß die Behauptungen der zitierten Autoritäten angesichts der im Zentrum erst relativ spät nachweisbaren literarischen Aktivität möglicherweise nicht unbedingt zuträfen („Les affirmations contenues dans les passages cités ci-dessus ne méritent peut-être pas une confiance totale“); schließlich datiere das älteste überlieferte „poème francien“ des Garnier de Pont-Sainte-Maxence erst aus dem Jahr 1173. Zumindest was Remacles eigenen Beitrag, also die Untersuchung der Urkunde von 1236, angehe, sei die Existenz von „traits qui ne pouvaient être que franciens ou centraux“ aber eine unbestreitbare Tatsache. 178 Die Anführungszeichen verweisen auf die in Remacle (1948, 152f.) ausführlich zitierten Stellungsnahmen Delbouilles auf dem 21. Wallonistenkongreß (Lüttich, 1939). 179 Remacle bleibt hier leider vage. Mit Fellers ‘Irrtum’ ist aber wohl dessen Versteifung auf das gesprochene ‘Franzisch’ gemeint; Remacle (1948, 112) geht demgegenüber ja vorsichtig von einer „scripta francienne“ als Basis des Schriftfranzösischen aus. 180 Remacle verwendet den Terminus koinê also nur mit Bezug auf eine ‘echte’ Mischvarietät. 97 <?page no="110"?> même qu’elle a dû recevoir d’ailleurs un certain nombre de ses éléments, qui ont toujours été étrangers au wallon liégeois [...]. Peut-être suis-je dans l’erreur; mais il me semble qu’en 1236, et surtout plus tard, on doit précisément compter parmi ces éléments d’origine étrangère des traits qu’on doit tenir en même temps pour des éléments „essentiels“ de la scripta commune. (Remacle 1948, 156; meine Kursivierung des letzten Satzes) In der Tat kann sich Remacle hier auf Skriptaformen berufen, die das gesprochene Wallonisch mit großer Wahrscheinlichkeit nie gekannt hat und die zudem bereits sehr früh, nämlich vor dem 9. Jahrhundert, zur dialektalen Ausgliederung des Nordens gegenüber Zentralfrankreich geführt haben dürften (z.B. germ. * W - > fr. g(u)-; epenthetische Konsonanten wie in sembler oder tendre; Erhalt von -able/ -ible; vgl. Remacle 1948, 88f. und 120f.). Damit kann auch Delbouilles Argument, die Entstehung der „langue commune“ gehe auf eine Zeit zurück, in der die Dialekte sich noch relativ ähnlich gewesen seien, nicht mehr gelten, setzt dieser doch selbst einen Zeitraum vom 8. bis zum 13. Jahrhundert für die plurizentrische Schriftsprachenbildung an. Remacle fährt also fort: La personnalité du dialecte wallon [...] ne dessine dans notre scripta de 1236 qu’un très pâle filigrane. [...] Cinquante an plus tard, la discordance entre la langue écrite et le dialecte parlé sera plus nette encore. On dirait donc que le wallon, notre important dialecte du nord-est, occupe à l’égard de la scripta commune une position exceptionnelle. M. Delbouille croit que la langue écrite „était déjà une langue commune dont les éléments essentiels se retrouvaient dans la plupart des parlers d’oïl“. J’ignore si l’expression „la plupart“ correspond à la réalité; mais à mon avis, il serait téméraire d’affirmer qu’elle englobe le dialecte de la Wallonie. (Remacle 1948, 156f.) Unter der Überschrift „Les deux traditions“ (pp. 177f.) faßt Remacle mithilfe einer Graphik abschließend zusammen, wie die historische Entwicklung des gesprochenen Wallonisch, der scripta wallonne und des Französischen seiner Ansicht nach zu konzipieren sei: 98 <?page no="111"?> Abb. 3: Entwicklung des wallonischen Dialekts, der wallonischen Skripta und des Französischen nach Remacle (1948, 177) Interessant ist hier, daß Remacle die beiden äußeren Säulen, nämlich die Entwicklung des wallon und des français, gleichermaßen auf der Ebene der gesprochenen Sprache anzusiedeln scheint. Man mag dem Autor zugute halten, daß er an anderer Stelle (pp. 112/ 137; s.o.) bereits explizit darauf hingewiesen hat, daß prinzipiell zwischen dem „dialecte oral de l’Ile de France“ und der „scripta francienne“ zu unterscheiden sei; zudem räumt Remacle unmittelbar unterhalb der Graphik ein, daß diese in mancherlei Hinsicht gewiß reduktionistisch sei („On n’enferme pas la vie en un schéma“; p. 177). Man kann sich dennoch des Eindrucks nicht erwehren, daß Remacle die zuvor von ihm selbst klar getroffene Unterscheidung zwischen gesprochener und geschriebener Sprache der Île-de-France im Schlußkapitel in substantieller Weise unterläuft. Wie sonst sollte man es verstehen, daß Remacle in seiner Graphik - parallel zur Entwicklung des gesprochenen Wallonisch - aus dem „latin vulgaire“ das „francien“ des 10. bis 12. Jahrhunderts werden läßt und daraus dann unmittelbar das (gesprochene? geschriebene? ) „ancien français“ der Jahre 1236ff. ableitet? - Ich meine, die Graphik kann gar nicht anders als dahingehend interpretiert werden, daß auf zentralfranzösischem Boden aus dem Vulgärlatein das gesprochene ‘francien’ und daraus wiederum ‘das (Standard-)Französische’ hervorgegangen sein soll, wobei aber keineswegs zwischen gesprochener und geschriebener Sprache differenziert wird. So ist auch in Remacles zusammenfassender Beschreibung der Graphik zu lesen, daß die wallonische 99 <?page no="112"?> Skripta sich im Spannungsfeld von gesprochenem Wallonisch und ‘dem zentralen Dialekt oder dem Französischen’ entwickelt haben soll, nicht etwa unter dem Einfluß der „scripta francienne“: [...] la scripta de Wallonie apparaît comme la composante de forces diverses, l’une verticale, celle de la tradition, les autres horizontales: l’influence du parler local, sans cesse décroissante; l’influence du dialecte central ou du français, sans cesse croissante. (Remacle 1948, 178; meine Kursivierung) Sowohl die Graphik als auch der dazugehörige Kommentar stehen also im Widerspruch zu Remacles eigener Skriptatheorie. Fast hat es den Anschein, als habe der zuvor (pp. 112/ 137) noch explizit in Frage gestellte Glaube an eine dialektale, sprechsprachliche Verwurzelung des französischen Standards sich im Schlußkapitel durch die Hintertür wieder eingeschlichen. Die Diglossie-Annahme, deren Notwendigkeit am Beispiel der Wallonie in beeindruckender Weise demonstriert wurde, scheint für die Île-de-France letztlich doch nicht zu gelten. Vielmehr suggeriert die Graphik eine Identität von francien und français; Remacle verharrt damit im wesentlichen auf dem Standpunkt von Feller (1931) und Wartburg (1934/ 5 1958). Des weiteren ist in diesem Zusammenhang zu bemängeln, daß Remacle (1948, 112) sich bereits, als es darum ging, die sprachlichen Charakteristika des ‘francien’ zu bestimmen, ganz auf die Aussagen der historischen Grammatik, namentlich auf Bourciez’ Précis historique de phonétique française ( 5 1921), verlassen hat. 181 Remacle hat sich dabei aber weder die Frage gestellt, auf welchen (schriftlichen? dialektologischen? ) Quellen Bourciez’ historische Grammatik des ‘francien’ überhaupt basiert, noch hat er sich die Mühe gemacht, die womöglich von Bourciez’ lautlicher Rekonstruktion abweichenden Merkmale der (freilich erst ab den 1240er Jahren bezeugten) „scripta francienne“ zu untersuchen. Überhaupt erscheint Remacles Methode fragwürdig, die „formes communes“ der Urkunde von 1236 als gemeinsame Formen von gesprochenem Wallonisch und gesprochenem ‘francien’ zu definieren („puisque je songe surtout aux origines, ce qui m’intéresse en réalité, ce sont les formes communes aux dialectes oraux“), wäre doch mit Bezug auf den distanzsprachlichen Varietätenkontakt, der die besondere Physiognomie der wallonischen Skripta bedingte, viel eher die Frage zu stellen, ob es womöglich Formen gab, die das gesprochene Wallonisch (oder mehrere Dialekte des Nordens) zwar nicht mit dem „dialecte oral de l’Ile-de-France“, dafür aber mit der „scripta francienne“ bzw. einem 181 Dies ist auch einer der Hauptkritikpunkte von Dees (1985, 96): „[...] Remacle, qui de son propre aveu ignore à peu près le francien, a négligé de se documenter sur le dialecte en question: malgré tout ce qui est affirmé dans son étude au sujet de la provenance centrale de toute une série de formes du texte de 1236, il n’est pas sûr qu’il ait jamais vu une charte parisienne par exemple.“ 100 <?page no="113"?> regional gar nicht festgelegten ‘Schriftfranzösisch’ geteilt haben könnte. Zwar tritt in Remacles Graphik auf der Stufe des Jahres 1236 der Begriff „ancien français“ an die Stelle von „francien“. Man könnte also (entgegen der Gesamtlogik der Graphik) wohlwollend interpretieren, daß damit bereits eine schriftsprachliche Varietät gemeint sein soll, aus deren Kontakt mit dem gesprochenen Wallonisch die „scripta wallonne“ hervorgegangen ist. Auch dann bleibt aber unverständlich, weshalb Remacle ein Wort, das für die Synchronie des Jahres 1236 (noch) als „forme commune“ gelten soll, unbedingt nach Delbouilles Vorbild als diachron konvergent entwickelte Dialektform definiert („puisque je songe surtout aux origines“; s.o.), dabei aber übersieht, daß die überregionale „scripta commune“ bzw. das „ancien français“ des Jahres 1236 - völlig unabhängig von der Existenz gleich oder unterschiedlich entwickelter Formen im wallonischen und im zentralfranzösischen Dialekt - ja durchaus Formen aufweisen könnte, die auch im Wallonischen und womöglich in anderen nördlichen Dialekten vorkommen, nicht aber im gesprochenen ‘francien’. Insofern bestätigt sich, was die Graphik ohnehin klar zum Ausdruck bringt, nämlich daß für Remacle „ancien français [écrit]“ unter dem Strich auch „francien [oral]“ bedeutet; eine alternative Sichtweise, die eine vom gesprochenen ‘francien’ abweichende überregionale Schriftsprache als Bezugspunkt der Regionalskriptae zuließe, bleibt für Remacle außerhalb des Denkbaren. Die Problematik von Remacles Ansatz liegt letztlich darin begründet, daß er sich Delbouilles Annahme zu eigen macht, wonach ‘gemeinsame’ Skriptaformen auf einer diachronen Formenidentität auf der Ebene der gesprochenen Dialekte basierten, daß er diese - im Prinzip legitime - Idee aber im Rahmen seiner monotopischen Überdachungstheorie umdeutet, so daß der Delbouillesche Gedanke der diachronen Formengleichheit eine verhängnisvolle Einengung erfährt: Da Remacle nämlich - im Unterschied zu Delbouille - keine plurizentrische „scripta commune“ als überregionalen Bezugspunkt der „scripta wallone“ ansetzt, sondern das a priori zur Basis des „ancien français“ erklärte, im einzelnen aber nicht objektiv rekonstruierte ‘francien’, muß für Remacle schlechterdings alles, was in der wallonischen Skripta nicht autochthon-wallonisch ist, ‘franzisch’ oder zumindest ‘unter anderem franzisch’ sein. Daß aber womöglich schon Bourciez seine historische Phonetik des ‘francien’ nur aufgrund einer auf schriftliche Belege gestützten, teleologischen und damit absurden lautlichen Rückprojektion des Standardfranzösichen, nicht aber aufgrund von historisch-dialektologischen Untersuchungen zur Île-de-France gewonnen hat 182 , läßt Remacle leider völlig außer Acht. 182 Dieser Verdacht drängt sich auf, wenn wir in Bourciez’ ( 5 1921, XIV) einleitendem Kapitel zur externen Sprachgeschichte lesen: „C’est ce dialecte de l’Ile-de-France, sous la 101 <?page no="114"?> Im Ergebnis, d.h. mit Blick auf den statistischen Ertrag, dürften sich Remacles Fehlannahmen zwar insofern ‘neutralisiert’ haben, als Bourciez in Wahrheit keine ‘Phonetik’ des tatsächlichen Île-de-France-Dialekts verfaßt hat, sondern eine im Grunde paradoxe ‘Lautgeschichte’ des französischen Schriftstandards. Somit hätte Remacle nämlich, wenn auch malgré lui, faktisch doch den richtigen Bezugspunkt für seine vergleichende Untersuchung der wallonischen Skripta gewählt, nämlich die „scripta commune“, und nicht den „dialecte oral de l’Ile-de-France“. Vom Wortlaut der Remacleschen Ausführungen her liegt aber offenkundig ein schwerer methodologischer Irrtum vor, der auf der unhinterfragten Vorannahme beruht, daß die „scripta commune“ identisch mit dem Primärdialekt der Île-de- France sei. Die Essenz dieses monotopischen Standardisierungskonzepts findet sich denn auch bei Carl Theodor Gossen wieder, dem das Verdienst zukommt, die Skriptaforschung auf der Grundlage von Remacles Theorie als eigene historische Disziplin innerhalb der Romanistik etabliert zu haben: 183 Die allgemeine Auffassung ging [...] und geht zum Teil noch dahin, daß in jeder französischen Sprachlandschaft zunächst, als man in Vulgärsprache zu schreiben begann, der lokale Dialekt zur Schriftsprache erhoben worden sei. In der Folge habe dann der ebenfalls zur Schriftsprache erhobene Dialekt von Paris diese regionalen Dialektschriftsprachen konkurrenziert und mit der Zeit, dank seinem größeren Prestige als Sprache des Königshofes, forme spéciale où on le parlait à Paris, qui, pour des motifs politiques, a fini par supplanter les autres comme langue littéraire.“ Auch der lauthistorische Hauptteil des Précis zeigt eindeutig, daß Bourciez den ‘Dialekt von Paris’ diachron mit dem späteren ‘literarischen Französisch’ identifizierte. 183 Gossen hat sich in seinen Schriften immer wieder explizit auf Remacles Monographie bezogen und dem Lütticher Dialektologen seine Reverenz erwiesen (vgl. auch Völker 2003, 43, Anm. 172 und 173). Beispielhaft sei hier der erste Absatz aus Gossens (1953/ 1954) in der Vox Romanica erschienener Rezension von Remacles Buch zitiert: „Für die Erforschung des Verhältnisses von gesprochenem Dialekt und Schriftsprache im Altfranzösischen kann die Tragweite dieses Werkes des Lütticher Gelehrten kaum überschätzt werden. Es war Zeit, die ‘idées reçues’ über das Wesen der altfranzösischen Schriftsprache einmal an einem konkreten Fall auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen. Remacle hat diese Prüfung mit beneidenswerter Sachkenntnis - Kenntnis der modernen Mundart, der seit 1600 bestehenden Dialektliteratur und der mittelalterlichen Texte - und mit peinlichster wissenschaftlicher Umsicht fürs Altwallonische vorgenommen. Vom Grundsatz ‘Si on allait y voir! ’ geleitet, erbringt der Verfasser den schlagenden Beweis, daß die experimentelle Analyse viel eher zur wahren Erkenntnis führt als die gescheitesten Spekulationen theoretischer Art.“ (Gossen 1953/ 1954, 155). Noch in seinen Skriptastudien bezeichnete Gossen (1967, 14) Remacles Beitrag als „Pionierleistung“, dank derer sich die Einschätzung, „[d]aß die Urkundensprache [...] ein besseres und echteres Bild von den im Mittelalter gesprochenen Dialekten zu vermitteln vermag als die Sprache der Literaturdenkmäler, [...] als Illusion erwiesen [hat].“ - Vgl. zu Gossen auch Völker (2003, 42-47). 102 <?page no="115"?> aus dem Felde geschlagen. Wie erklärt sich aber die auffallende Tatsache, daß die sog. regionalen Dialektschriftsprachen von den ersten Texten an [...] in einer M i s c h s p r a c h e geschrieben sind? Weder die normannische noch die pikardische Schriftsprache, noch die anderen, basieren einzig und allein auf dem regionalen Dialekt. Sie besitzen einen betont französischen Grundcharakter, und die dialektalen Merkmale scheinen wie auf eine gemeinsame Grundfärbung aufgesetzt. [...] Als die provinziellen Schreiber das Lateinische als Schriftsprache aufgaben, standen sie vor der Wahl, entweder ihren eigenen Dialekt schriftlich zu fixieren zu suchen und ihn damit zur Schriftsprache zu erheben, oder aber eine in jenem Zeitpunkt, d.h. im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts bereits vorhandene und durch die Dichtungen verbreitete Schriftsprache zu übernehmen. Ein Blick in eine Urkunde, aus welcher Gegend Nordfrankreichs sie auch stammen mag, belehrt uns, daß sie ersteres nicht taten. Trotz aller möglichen dialektalen Färbung, die ein solches Dokument aufweisen kann, Mundart ist das nicht! [...] Dies drängt den Schluß auf, daß eine gemeinsame Basis bestanden haben muß. (Gossen 1957, 432f.; Sperrung im Original) Soweit die Ausgangsbeobachtung: In ihren sprachlichen Merkmalen hätten sich die Regionalskriptae einerseits stark von den gesprochenen Dialekten unterschieden, die sie jeweils überdachten; andererseits seien sie einander so ähnlich gewesen, daß die Schlußfolgerung naheliege, von einer gemeinsamen schriftsprachlichen Grundlage auszugehen. - Worin besteht nun aber diese „gemeinsame Basis“ nach Gossen? Diese kann mit höchster Wahrscheinlichkeit nur das Französische von Paris geboten haben, das neben der Unterstützung durch den Königshof auch vom Umstand profitierte, daß es rein sprachlich gesehen eine mittlere Linie einhält, d.h. in ganz Nordfrankreich mehr oder weniger verständlich war. (Gossen 1957, 433) Wenig überraschend kommt dafür, wie auch bei Remacle (1948), nur „das Französische von Paris“ in Frage. Zur Begründung führt Gossen die schon aus Wartburg (1934, 78-81) bekannten historischen und sprachgeographischen Argumente an: zum einen das Prestige des am Königshof gepflegten Idioms, zum anderen das „juste milieu“ seiner sprachlichen Merkmale; beide Faktoren hätten die langue centrale gegenüber den anderen nordfranzösischen Idiomen ausgezeichnet. - Was nun den Zeitpunkt der beginnenden ‘Ausstrahlung’ dieser Sprachform betrifft, geht Gossen allerdings weit über Remacles vorsichtige Beschränkung auf die im 13. Jahrhundert quantifizierbaren Verhältnisse hinaus und vertritt die wiederum an Wartburg (1934) anknüpfende Auffassung, wonach die „Schriftsprache von Paris und Umgebung“ sich bereits „in der Zeit vom 10. bis 11. Jahrhundert [...] ver- 103 <?page no="116"?> breitet haben [muß]“, nämlich noch „vor dem Beginn der großen literarischen Produktion“: 184 Die Schriftsprache von Paris und Umgebung muß sich in der Zeit vom 10. bis 11. Jahrhundert aus den oben geschilderten historischen Gründen 185 und vor dem Beginn der großen literarischen Produktion verbreitet haben, so daß die Entstehung von wirklichen regionalen Schriftsprachen, deren Grundlage einzig und allein der betreffende Ortsdialekt gewesen wäre, unmöglich gemacht war. Das Prestige der „langue du roi“ muß groß genug gewesen sein, um die Schreiber, als sie sich vor die Wahl einer Schriftsprache gestellt sahen, zu veranlassen, sie zu verwenden. (Gossen 1957, 433f.) Die Logik erscheint prinzipiell nachvollziehbar: die frühzeitige Verbreitung eines gewissermaßen präexistenten Pariser Schriftstandards habe die Herausbildung dialektbasierter Regionalschriftsprachen verunmöglicht, und dies noch bevor die großen Werke der altfranzösischen Literatur entstanden seien, da diese ja sonst noch nicht in der „langue du roi“ hätten verfaßt werden können. Auf den befremdlichen Umstand aber, daß die damit bereits für das „10. bis 11. Jahrhundert“ (! ) postulierte Existenz einer „Schriftsprache von Paris und Umgebung“ sich überhaupt erst ab Mitte des 13. Jahrhunderts direkt belegen läßt, geht Gossen nicht einmal ansatzweise ein. 186 - Schließlich folgt noch die aus Feller (1931) bekannte, später wieder- 184 In dem von Remacles und Gossens Skriptatheorie inspirierten Abschnitt, um den Wartburg seine sprachhistorische Darstellung anläßlich der 5. Auflage seines Handbuchs (1958) ergänzt hat, geht Wartburg freilich ein Stück weit hinter den ‘maximalistischen’ Periodisierungsvorschlag von Gossen (1957) zurück. Während Wartburg nämlich in den früheren Auflagen nur wenig konkret davon sprach, daß „[l]’an 987 est une date extrêmement importante pour la langue française“, um sogleich zu relativieren, daß „[c]e n’est pas que le pouvoir royal ait été très fort vers 1000 ou vers 1050“ (Wartburg 1934, 79), legt er sich, was den tatsächlichen Beginn der überregionalen Ausstrahlung des Pariser Französisch betrifft, in der 5. Auflage auf das späte 11. Jahrhundert fest: „Dès la fin du 11 e s. le prestige de l’idiome de la région parisienne a été tel que ceux qui désiraient écrire en langue vulgaire, en subissaient l’attraction“ (Wartburg 5 1958, 92). 185 Unter Berufung auf Brunot (1905), Olschki (1913a), Vossler ( 2 1929), Wartburg (1934/ 3 1946) und Thérive (1954) vertritt Gossen (1957, 428-431) die Auffassung, daß unter den Kapetingern „Paris [...] zum ideellen Mittelpunkt Nordfrankreichs [wird], noch bevor es zum wirtschaftlichen und politischen wird“; es sei „selbstverständlich, daß der Einfluß dieses Zentrums, d.h. des Französischen von Paris und Umgebung, proportional zum Wachstum der Achtung, welche die nordfranzösischen Menschen der neuen Dynastie entgegenbringen, zunimmt“, so daß „[u]ngefähr vom Jahre 1100 an [...], trotz der Kleinheit des vom König unmittelbar beherrschten Gebietes, der Einfluß des Pariser Französischen als Kultursprache auch in den abgelegeneren Gegenden Nordfrankreichs spürbar gewesen sein [dürfte].“ 186 Ein Moment der Selbstkritik findet sich allerdings in Gossen (1956, 121): „Je me rends parfaitement compte de m’être hasardé dans le règne de l’hypothèse en émettant certaines idées contenues dans cet article, et qu’il sera avant tout malaisé de prouver 104 <?page no="117"?> um von Wartburg ( 5 1958) aufgegriffene Interferenztheorie, wonach die dialektalen Elemente in den Regionalskriptae ein Zeichen für die unvollkommene Beherrschung des Französischen durch die Schreiber aus der Provinz seien: Doch gelang ihnen dies naturgemäß nicht ganz, und so flochten sie eigene mundartliche Elemente ein, woraus dann mit der Zeit die provinziellen oder regionalen Schreibtraditionen entstanden, die für längere oder kürzere Zeit Konvention wurden. (Gossen 1957, 434) 187 Zusammenfassend hält Gossen fest: Es ist demnach nicht so, daß die regionalen Dialekte bis etwa 1400 als Schriftsprache Verwendung fanden und dann zu patois absanken [...], weil sie von der zentralen Hochsprache verdrängt wurden. Die Entwicklungskurven von Dialekt und Hochsprache verlaufen nicht aufeinander, um dann plötzlich mit dem endgültigen Sieg der Hochsprache abzubrechen, sondern nebeneinander. Alle Landschaften Nordfrankreichs besaßen im Mittelalter ihre eigene Mundart. Die Entwicklung der Mundarten läuft aber neben derjenigen der Schriftsprachen her. D i e M u n d a r t e n b e e i n f l u s s e n d i e s e , b e g r ü n d e n s i e j e d o c h n i c h t . (Gossen 1957, 434; Sperrung im Original) Wiederum zeigt sich also, wie sehr die Skriptatheorie dazu beigetragen hat, die These vom monotopischen Ursprung des französischen Schriftstandards als weithin anerkannte romanistische Lehrmeinung zu befestigen: Aufgrund der großen, von Beginn der volkssprachlichen Überlieferung an comment le français de Paris a pu s’imposer dans les provinces à une époque prélittéraire.“ 187 Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß Gossen die Gültigkeit der Interferenztheorie in seiner bereits 1953 erschienenen Rezension von Remacles Monographie mit Bezug auf die pikardische Skripta relativiert hatte. Ein ‘Trachten’ nach einer ‘franzischen’ Sprachnorm sei zwar noch bei den „aus der Pikardie stammenden höfischen Sänger[n] von vor 1200“ zu beobachten, zumal „die höfische Dichtung [...] in der Pikardie [...] immer mehr oder weniger Nachahmung franzischen Wesens“ geblieben sei. Aufgrund der kulturhistorischen Bedeutung, die die Pikardie im Lauf des 13. Jahrhunderts gerade im Bereich neuartiger, von der höfischen Tradition unabhängiger, „bürgerliche[r] Dichtungsformen“ erlangte, sei es jedoch zu einer spürbaren Stärkung der regionalen Identität auch auf Skriptaebene gekommen. So erklärt sich Gossen, daß der dialektale Anteil in den pikardischen Urkunden des 13. Jahrhunderts beständig zugenommen habe, vermutet aber, „daß das pikardische Element sich in der Scripta verhältnismäßig spät durchsetzte, also sich gewissermaßen auf eine bereits bestehende, wohl franzische Scripta pfropfte“, und spricht eben deshalb von einer ‘franko-pikardischen’ Schreibtradition. Nichtsdestoweniger ist er sich mit Remacle und Feller „unbedingt“ darin einig, „daß man die pikardische Scripta ebensowenig mit dem damals gesprochenen pikardischen Dialekt identifizieren darf wie die wallonische Scripta mit der wallonischen Mundart des Mittelalters“ (Gossen 1953/ 1954, 158). 105 <?page no="118"?> gegebenen Ähnlichkeit der regionalen Schriftsprachen müsse man eine gemeinsame Grundlage annehmen; als solche sei aus historischen und innersprachlichen Gründen nur eine zentralfranzösische Varietät in Frage gekommen, die in der bereits früh zum ‘ideellen’, später dann zum realen politischen Zentrum avancierten Île-de-France verankert war. - Dagegen scheinen die Regionalskriptae für Gossen von vornherein nur ‘abhängige’ Glieder gewesen zu sein, nur Subsysteme innerhalb eines gewissermaßen präexistenten ‘nationalen’ Varietätenraums: „Toutes ces scriptae provinciales étaient donc, dans leur fonds, déjà bien plus nationales que provinciales“ (Gossen 1956, 108). Zwar ist bei Gossen nicht explizit vom gesprochenen Pariser Dialekt als Basis des späteren Standards die Rede, sondern - skriptologisch aufgeklärt - von einer „Schriftsprache von Paris und Umgebung“, welche sich bereits „vor dem Beginn der großen literarischen Produktion verbreitet haben“ muß. 188 Implizit scheint aber auch Gossen von einer weitgehenden Übereinstimmung zwischen Pariser Dialekt und Pariser Schriftsprache ausgegangen zu sein, denn sonst könnte er nicht wie selbstverständlich das Argument vorbringen, daß diese „rein sprachlich gesehen eine mittlere Linie“ eingehalten habe. Jedenfalls hätte eine alternative Annahme, wonach die ‘Mittelstellung’ des idiome central nicht auf sprachgeographischen, primärdialektalen Gegebenheiten beruht hätte, sondern auf anderweitigen Gründen wie etwa schriftsprachlichen Ausgleichsprozessen, im epistemologischen Horizont der zeitgenössischen Sprachhistoriographie dringend weiterer Erläuterung bedurft. Entsprechend konnte Wartburg ( 5 1958, 92f.), wie wir oben gesehen haben, Remacle und Gossen auch ohne weiteres nachträglich als Gewährsmänner für seinen bereits 1934 vertretenen Standpunkt einsetzen, wonach es sich beim zur „Koiné“ (2d) gewordenen „idiome de la région parisienne“ um ein autochthon verwurzeltes „parler directeur“ gehandelt habe, um den „dialecte de Paris“ - nicht etwa um eine exklusiv schriftsprachliche, gar von den gesprochenen Dialekten wesentlich abweichende Varietät. 189 188 Auch Vossler ( 2 1929, 28) vertrat diesbezüglich eine differenzierte Sichtweise: „[...] jede schriftsprachliche Koiné [ist], wie schon Dante wußte, in gewissem Sinne ein Abstraktum, ein Ideal, auf das man von allen Seiten zusteuert, ein Punkt, dessen Stelle in der Lagerung der Mundarten zwar angedeutet, aber nicht festgelegt ist, eine Norm, die vom Grammatiker konstruiert, aber von keiner Mundart, auch von der zentralsten nicht ohne weiteres erfüllt wird. Da es nordfranzösische Grammatiker im Mittelalter nicht gab, so stellt sich die Einheit der Schriftsprache vorerst als eine zentripetale Bewegung, noch nicht als ein festes, ausgesprochen franzisches, allseitig gegliedertes und gereinigtes System von Sprachformen dar.“ 189 Ich zitiere hier nochmals die entscheidende Stelle, die sich beinahe wortgleich schon in der 1. Auflage von Wartburgs Handbuch findet: „Là où se rejoignent trois grandes rivières (Seine, Marne, Oise) s’est formé le centre naturel du pays. Dans les premiers 106 <?page no="119"?> siècles la France linguistique n’allait que jusqu’à la Loire. La région de l’Ile-de-France en était le centre à tous points de vue. [...] Géographiquement Paris était le centre de l’Ile-de-France. - Les communications convergeaient également vers Paris. Il n’est pas étonnant que son dialecte ait gardé une sorte de juste milieu. Quelque forte que dût être la position du normand, p.ex., ou du picard au 12 e et au 13 e s., ces dialectes devaient avoir quelque chose d’extravagant, de rébarbatif pour les autres régions (ex. cacher ‘chasser’). Tous ces traits dialectaux avaient quelque chose de périphérique, d’excentrique, qui devait ne pas plaire aux autres régions. Ainsi nous voyons, dès la 2 e moitié du 12 e s., les auteurs tâcher de se défaire de leurs particularités provinciales. [...] On peut dire que ce sont le sentiment de la mesure, le besoin de l’équilibre qui ont contribué puissamment à faire du dialect de Paris la Koiné.“ (Wartburg 5 1958, 89f.; vgl. auch 1 1934, 78f.). 107 <?page no="121"?> 4 Zum aktuellen Stand der Ursprungsfrage - ein kritischer Forschungsbericht Ich möchte mich nun den neueren Standardisierungstheorien zuwenden, durch die die traditionelle Annahme eines monotopischen, primärdialektalen Ursprungs der französischen Schriftsprache in der Île-de-France grundlegend in Frage gestellt wurde. Dabei sind zwei konkurrierende Erklärungsansätze zu unterscheiden, die in der wissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahre vertreten wurden: einer, der als Basis des französischen Standards eine gesprochene Mischvarietät - genauer: eine Koine unseres Typs (1a) - annimmt (vgl. dazu Lodge 2004), und ein anderer, der von einer schriftsprachlichen Varietätenmischung, also von unserem Typ (2a’), ausgeht (vgl. dazu vor allem Cerquiglini 1991 und 2007). Beiden Ansätzen, dem sprechsprachlichen und dem schriftsprachlichen, ist die Grundannahme gemeinsam, daß die spezifische Konfiguration sprachlicher Merkmalsausprägungen, durch die der französische Standard noch heute gekennzeichnet ist, keine unmittelbare Rückführung desselben auf einen in dieser Form jemals vorhandenen Primärdialekt innerhalb des nordgalloromanischen Kontinuums zuläßt, sondern daß es sich um eine Varietätenmischung handeln muß, um eine hybride, komposite Sprachform, die Kennzeichen unterschiedlicher topischer Herkunft vereint, sei es nun auf sprech- oder auf schriftsprachlicher Grundlage. Daß diese Prämisse Gültigkeit hat, möchte ich in Abschnitt 4.1 erläutern, wobei ich bereits auf die wesentlichen Argumente zu sprechen komme, die Lodge (2004) zur Stützung seiner These einer sprechsprachlichen Varietätenmischung als Basis des Standardfranzösischen anführt. Cerquiglinis schriftsprachlicher Koineisierungshypothese ist Abschnitt 4.2 gewidmet, Lodges sprechsprachliche Koineisierungshypothese wird ausführlich in Abschnitt 4.3 diskutiert. Das Kapitel schließt mit einem Fazit (4.4), das die notorisch zu eng gestellte Frage nach Zeit und Ort der Herausbildung des späteren Schriftstandards problematisiert und daraus das Desiderat ableitet, die mittelalterliche Standardisierungsgeschichte als plurisäkularen und entsprechend vielschichtigen Prozeß zu begreifen. 109 <?page no="122"?> 4.1 Zur Hybridität des französischen Schriftstandards 190 Um zur Annahme einer Varietätenmischung als Basis des französischen Standards zu gelangen, mußte zunächst evidenziert werden, daß es sich bei diesem nicht, wie traditionell angenommen, um eine autochthone, primärdialektal verwurzelte Varietät handelt. Entsprechende Hinweise finden sich zwar, wie oben in Kap. 3.1 gezeigt, bereits in einigen sprachhistorischen Untersuchungen des 19. Jahrhunderts (vgl. Fallot 1839; Meissner 1872; Lücking 1877); zu einer richtiggehenden Beweisführung, die das nationalphilologische Konstrukt des ‘francien’ als eines zum Standard erhobenen Primärdialekts nachhaltig ins Wanken brachte, kam es jedoch erst in den 1970er und 1980er Jahren. Vor allem als Ergebnis der Arbeit am Atlas linguistique et ethnographique de l’Île-de-France et de l’Orléanais (ALIFO = Simoni-Aurembou 1973a/ 1978) entstand eine Reihe von dialektologischen Beiträgen, die recht eindeutige Indizien gegen die historische Identifizierbarkeit des französischen Standards mit den Primärdialekten der Île-de-France erbrachten, soweit diese Varietäten im 20. Jahrhundert noch relikthaft nachgewiesen werden konnten (vgl. [Simoni-]Aurembou 1973b und 1976; Fondet 1980 und 1995). Ich kann hier nicht im Detail auf die komplexe areallinguistische Datenlage eingehen, die sich aus den in den 1960er und 1970er Jahren durchgeführten Erhebungen für den ALIFO ergeben hat. Ähnlich wie Lodge (2004, 53-71) will ich nur die fünf wichtigsten in der Forschungsliteratur diskutierten lautlichen und morphologischen Merkmale vorstellen, deren standardfranzösische Ausprägung sich in auffälliger Weise vom Typ der zentralfranzösischen Primärdialekte abhebt (s.u., Abb. 4). Wichtige Anhaltspunkte zur Rekonstruktion älterer städtischer oder vorstädtischer Vernakulare bietet außerdem die Studie von Wüest (1985) zur literarischen Repräsentation des sog. patois de Paris in burlesken oder satirischen Texten des 17. und 18. Jahrhunderts (vgl. dazu auch Nisard 1872; Rosset 1911; Birk 2004). Lodge (2004, 53-71) geht bei seinem Versuch, die Pariser ‘Hinterlanddialekte’ (abgekürzt: „HDP“) zu rekonstruieren, zunächst von ALF-Daten aus (vgl. Gilliéron/ Edmont 1902-1910) und berücksichtigt neben den von Wüest (1985) untersuchten und anderen literarischen Zeugnissen 191 noch weitere Quellen, darunter insbesondere die Studie von Agnel (1855) zu zeitgenössischen Pariser Vorstadtvarietäten sowie die Arbeit von Thurot (1881/ 1883) zur Geschichte der Orthoepiedebatte in der französischen Grammatikographie seit dem frühen 16. Jahrhundert (vgl. auch Lodge 2004, 17-24). Die in Abb. 190 Vgl. zum Folgenden auch Grübl (2013). 191 Sein Korpus von sechzehn literarischen „texts imitating low-class Parisian speech“ (16.-18. Jahrhundert) wertet Lodge (2004, 173-190) systematisch erst im Kapitel zur „proto-industrial city“ aus. 110 <?page no="123"?> 4 dargestellten Verhältnisse beziehen sich aber vorerst nur auf die Datenlage, wie sie aus den um 1970 durchgeführten Erhebungen für den ALIFO hervorgeht. Merkmal Standardvarianten Vernakuläre Varianten im Gebiet der Île-de- France 1 vlt. [e] in offener Tonsilbe ( SĒTA ( M ) > soie) oder vor Palatalkonsonant ( TĒCTU ( M ) > toit) 192 <oi>; <ai>; <ei>; <e> [wa ] (< [wε]) oder [ε] [wε] oder [ε] (auch [we] oder [e]); vereinzelt [wa] 2 - ĔLLOS , - ĔLLIS <eau> [ o ] [ jo ] 3 3. Pl. Präs. Ind. -ent (verstummt) -ont [ ɔ ̃ ] 4 1. Pl. Präs. Subj. / 1. Pl. Impf. / 1. Pl. Kond. -ions [ jɔ ̃ ] -eins / -ains [ε ̃ ] 5 3. Pl. Impf. Ind. / 3. Pl. Kond. -aient [ε] -eint / -aint [ε ̃ ] Abb. 4: Gegenüberstellung von standardsprachlichen und vernakulären Varianten in der Île-de-France um 1970 (nach [Simoni-]Aurembou 1973b und 1976; Fondet 1980 und 1995) 4.1.1 Vlt. [e] in offener Tonsilbe oder vor Palatalkonsonant Die Variabilität dieses vokalischen Merkmals hat im Standardfranzösischen deutliche Spuren hinterlassen und stellt die historische Phonologie bis heute vor offene Fragen. Dem Graphem <oi> entspricht seit der Französischen Revolution die Standardaussprache [ wa ], eine im ancien régime noch stigmatisierte, diastratisch niedrig markierte Variante, die in der Pariser Stadtbevölkerung verbreitet war und der ‘höfischen’ Aussprache [ wɛ ] gegenüberstand. Neben diesen beiden Varianten, die möglicherweise schon im späten 13. Jahrhundert in Paris koexistierten 193 , kennt das Französische 192 Die Entwicklung vor Palatalkonsonant betrifft unter dem Nebenton auch vlt. [ε]: z.B. VĔCTŪRA > voiture (vgl. Rheinfelder 4 1968, §§100, 249, 264). Um die Darstellung nicht unnötig zu verkomplizieren, beschränke ich mich im folgenden auf Beispiele für haupttoniges [e]. 193 Vgl. Michaëlsson (1959, 290-292); Rheinfelder ( 4 1968, §§41f.); Wüest (1979, 200; 1985, 241). Chauveau (2012) spricht sich gegen die traditionelle Annahme aus, daß [wa] 111 <?page no="124"?> aber gleichfalls von alters her die für die westfranzösischen Dialekte charakteristische Aussprache [ε] (Graphie <ai>, <e> oder <ei>), die im heutigen Standard vor allem für Ethnonyme (français, anglais usw. 194 ), für die Verbendungen des Imperfekts und des Konditionals sowie für vereinzelte Wörter wie raie, monnaie, craie, faible, secret, tonnerre oder seigle gilt (bis 1835 war allerdings in den meisten Fällen, vor allem in den Verbendungen, noch die Graphie <oi> Standard). Vor erhaltenem Nasalkonsonanten steht im Neufranzösischen regelmäßig [ε], vor verstummtem Nasalkonsonanten [ ɛ ̃ ] (z.B. plein, pleine). 195 Was die Verhältnisse auf dialektaler Ebene angeht, so beobachten [Simoni-]Aurembou (1973b, 383-385; 1976, 267-273) und Fondet (1995, 196- 202), daß die typisch ostfranzösische Variante [ w ε] um 1970 auch in den Vernakularen des Pariser Umlands vorherrschend war, allerdings nur bis ca. 40 Kilometer westlich und ca. 20 Kilometer südlich der Stadt. Jenseits dieser Grenze zeigt der ALIFO, vor allem beim Ergebnis von vlt. [e] vor Palatalkonsonant (droit, froid, toit), eine kompakte [ε]-Zone; 196 und sogar innerhalb des von [ w ε] dominierten engeren Pariser Umlands, z.B. bei Pontoise, ließen sich vereinzelte [ε]-Formen nachweisen, nämlich in Wörtern wie froid, droit (vlt. [e] vor Palatalkonsonant) oder auch croire, moi, toi (vlt. [e] in offener Tonsilbe). 197 Interessanterweise wurden die [ε]-Formen an den Orten, wo sie mit [ w ε]-Formen konkurrierten, von den Sprechern als die älteren Varianten wahrgenommen; typischerweise kamen sie in Redewendungen oder in Sprichwörtern vor und stellen somit wahrscheinlich nicht das Ergebnis einer Reduktion von [ w ε] dar, sondern haben sich direkt aus dem Diphthong [ ej ] entwickelt. 198 [Simoni-]Aurembou (1976, 279) und Fondet (1995, 202) kommen deshalb zu dem Ergebnis, daß das Gebiet der Aussprache [ε], die sich ja auch im Standard teilweise durchgesetzt hat, ursprünglich von Westen her bis mindestens an die Tore der Stadt Paris herschon im späten 13. oder im 14. Jahrhundert in Paris verbreitet gewesen sein soll. Vgl. dazu weiter unten. 194 Vgl. aber den Eigennamen François sowie die Ethnonyme chinois, danois usw. 195 Vgl. dazu auch Wüest (1979, 198-204). 196 Vgl. dazu die Karten in [Simoni-]Aurembou (1973b, 384) (Karte 4) und [Simoni-] Aurembou (1976, 279) (Karte 5). 197 Einen Sonderfall stellen die Verbendungen des Imperfekts und des Konditionals dar. Vgl. dazu weiter unten, Abschnitt 4.1.3. 198 Andernfalls hätten auch die aus vlt. [o] (oder nebentonigem vlt. [ ɔ ]) vor Palatalkonsonant entstandenen Diphthonge (z.B. croix, voix, foyer) reduziert werden müssen; hier zeigt der ALIFO jedoch durchgehend das Ergebnis [ w ε] (vgl. dazu auch Wüest 1979, 200). Georges Straka hat in einem Diskussionsbeitrag zu [Simoni-]Aurembou (1973b, 397) die Vermutung geäußert, daß die Präsenz von [ w ε] (für vlt. [o] vor Palatalkonsonant) in den Île-de-France-Dialekten dem Vordringen von [ w ε] auf Kosten von autochthonem [ε] (für vlt. [e] in offener Tonsilbe oder vor Palatalkonsonant) Vorschub geleistet haben könnte. 112 <?page no="125"?> angereicht haben muß; [ w ε] dürfte sich dagegen erst später, vom Nordosten her kommend, im Zentrum verbreitet haben. Diese Annahme entspricht der schon von Haudricourt (1948) vertretenen Position, wonach die Aussprache [ε] im Pariser Französisch eine ältere Schicht repräsentiert als die prestigebesetzte Variante [ w ε], die möglicherweise erst im 12. oder 13. Jahrhundert mit der Graphie <oi> aus Nordostfrankreich übernommen wurde. Somit sei das Pariser Französisch bis zum Spätmittelalter ein „parler récepteur“ gewesen: L’évolution normale de ẹi à Paris était la confusion avec ęi (issu de ai) 199 , de même que ẹ de vert s’est confondu avec le ę de ver. Il n’est pas vraisemblable que le Parisien [sic] ait participé à l’évolution graduelle qui a amené, par exemple, de rei à roi. On doit supposer qu’il y a eu emprunt, à un autre dialecte, de formes déjà partiellement ou totalement mutées, tout comme nous constatons aujourd’hui que les patois empruntent au français, une par une, des formes qui leur sont étrangères. Certes, la notion du parler parisien comme parler récepteur ne va pas sans bouleverser un peu la conception que nous nous faisons aujourd’hui des rapports mutuels des parlers français. Mais il suffit de se rappeler que ce n’est qu’assez tard que le parler de la capitale s’est imposé nettement comme langue de la littérature et de la culture et l’on sera beaucoup plus tenté d’admettre que, sur un point de phonologie historique tel que celui qui nous a retenu ici, un parler autre que parisien ait pu fonctionner comme dialecte directeur. (Haudricourt 1948, 218) Die variationelle Vielschichtigkeit, die sich im ALIFO abzeichnet, steht allerdings im Widerspruch zu dem Tableau, das sich aus dem - wesentlich grobmaschigeren - Datennetz des ALF ergibt. Entsprechend kommt Lodge (2004; 2010b) 200 , der sich vor allem auf ALF-Daten beruft, zu ganz anderen Ergebnissen als [Simoni-]Aurembou (1973b; 1976) und Fondet (1980; 1995). Im direkten Vergleich mit dem differenzierten Befund, den der ALIFO gerade bezüglich der Variation von [ε]/ [ w ε]/ [ wa ] erlaubt, wird jedoch klar, daß die von Lodge (2004, 64) auf der Basis von ALF-Daten 201 generierte Karte keine primärdialektalen Verhältnisse abbilden kann. Sie zeigt für ganz Ostfrankreich einschließlich der Île-de-France eine kompakte [ wa ]-Zone und daran unmittelbar anschließend das Gebiet von [ w ε], welches die Pikardie und weite Gebiete in westlicher und südlicher Richtung der Île-de- France umfaßt, so daß das Gebiet von [ε] sich auf den äußersten Westen, im 199 Vgl. z.B. plaie, mai, paix usw. (meine Anmerkung). 200 R. Anthony Lodge hat seine Theorie 2004 in monographischer Form vorgestellt und in den folgenden Jahren in zahlreichen Aufsätzen propagiert (z.B. 2005, 2008, 2010b, 2013). Ich zitiere hier vor allem aus der Monographie und aus dem Sammelbandbeitrag von 2010. 201 Vgl. ALF 1047 (poire), 1238 (soir), 428 (droit), 460 (endroit), 612 (froid). 113 <?page no="126"?> wesentlichen die Basse-Normandie und die Bretagne, beschränkt. Nichtsdestoweniger scheint Lodge den im ALF für das ausgehende 19. Jahrhundert dokumentierten Isoglossenverlauf direkt auf die Dialekte des Mittelalters zu projizieren, denn er faßt [ wa ] und [ε] als autochthone Varianten Ostbzw. Westfrankreichs auf, die im 12. und 13. Jahrhundert von dialektophonen Binnenmigranten nach Paris transportiert worden und dort mit ‘angestammtem’ [wε] in Konkurrenz getreten seien. Entsprechend bezeichnet er [ wa ] als „Incursion[s] from the east“ (Lodge 2010b, 36) und nimmt an, daß die „westward-moving bulge in the Paris area“ (Lodge 2004, 64), also die nach Westen gerichtete ‘Beule’, die der Nord-Süd-Verlauf der modernen [ w ε]/ [ wa ]-Isoglosse in der Pariser Gegend aufweist, den Schluß nahelegt, „that these particular forms [d.h. unter anderem die Variante [ wa ]; K.G.] entered Paris from the east [...]“ (Lodge 2010b, 36). Unter Dialektologen besteht freilich Einhelligkeit darüber, daß es sich bei den [ wa ]-Belegen, die der ALF in der Tat unter anderem für Ostfrankreich zeigt, um tertiärdialektale Erscheinungen, also um späte Entlehnungen aus dem französischen Standard handelt. Je suppose [...] que [wa] était à l’origine une prononciation essentiellement parisienne. La plupart des dialectes français périphériques sont restés fidèles à [wę]. Il est vrai que l’ALF atteste de façon sporadique des formes en [wa] dans presque tous les dialectes d’oïl, mais ce sont le plus souvent des formes parachutées, récemment empruntées. Au fond, comme le français a changé de norme à une époque relativement tardive, nous avons la rare chance de bien pouvoir distinguer les emprunts récents du fonds ancien des patois. (Wüest 1979, 201) In die gleiche Richtung zielt folgender Kommentar aus dem Atlas linguistique et ethnographique de la Champagne et de la Brie (ALCB = Bourcelot/ Taverdet 1966/ 1969/ 1978), der einen großen Teil des Gebiets abdeckt, in dem Lodge den Ursprung von [ wa ] vermutet (der Kommentar bezieht sich auf die Varianten des Worts mois, die im Untersuchungsgebiet vorkommen): La prononciation < mwè/ mwé > est courante dans les cantons de Givet et de Fumay [im Norden des Départements Ardennes; K.G.] [...] et en Belgique [...]; il en est de même dans l’ensemble de la Brie chez les personnes qui ont dépassé la soixantaine; bien plus, celles-ci emploient encore ces formes patoises dans la conversation française. Dans le centre et le sud de la Haute-Marne, les types < mṑ/ mṓ > sont exclusivement réservés au patois et meurent lentement. 114 <?page no="127"?> Presque partout on tend à se rapprocher de la prononciation française < mwá >, mais dans certaines régions [...], on en reste à: < mwà > ou < mwā́ >. (Bourcelot/ Taverdet 1966, Karte 98: „(Le) MOIS“) 202 Auch hier läßt sich also eine ähnliche historische Schichtung der Varianten beobachten, wie sie von [Simoni-]Aurembou (1973b, 385; 1976, 269) im Gebiet des ALIFO beschrieben wurde: Une chose est certaine, c’est que lorsque les témoins prononcent wa/ wè, wè est senti comme plus ancien que wa, et lorsqu’ils prononcent wè/ è, c’est è qui est senti comme plus ancien. ([Simoni-]Aurembou 1973b, 285) Auch [Simoni-]Aurembou (1973b, 383; 1976, 270f.) betont, daß es sich bei den seltenen [ wa ]-Belegen, die bei den Erhebungen für den ALIFO ermittelt wurden, um Entlehnungen handeln muß, wenn sie auch nicht von einem Kontakt mit dem modernen Standard ausgeht, der [ wa ] ja erst seit dem späten 18. Jahrhundert kennt, sondern von einem „rayonnement ancien du parler parisien“. Jedenfalls scheint außer Frage zu stehen, daß es sich bei [ wa ] um einen genuinen Parisianismus handelt. 203 Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die von Lodge (2004, 90-92) vertretene These, wonach es sich bei [ε] und [ wa ] um aus dem Westen bzw. aus dem Osten nach Paris ‘importierte’ Formen handle, angesichts der detaillierten variationellen Befunde, die der ALIFO ermöglicht, nicht zu überzeugen vermag. Vielmehr deuten die Daten darauf hin, daß [ε] zumindest im westlichen Umland von Paris die ältere, autochthone Variante ist. In dialektologischer Sicht erscheint die Île-de-France als Übergangszone, in der die Verbreitungsgebiete von [ε] und [ w ε] sich überlappten, auch in Ab- 202 Die spitzen Klammern markieren im ALCB die phonetische Notation. - Ein Nebeneinander von [ w ε], [ wa ] und anderen Varianten zeigen auch die Karten 68 (froid), 193 (ce soir) und 651 (poire). Vgl. Bourcelot/ Taverdet (1966 und 1969). 203 Im übrigen zeigt der ALF vereinzelte [wa]-Belege auch in Westfrankreich, was Lodges kartographische Darstellung gänzlich ad absurdum führt. - Was die geographische Verteilung von [wε] und [ε] betrifft, so beschränkt sich das Gebiet letzterer Variante nach Ausweis des ALF in der Tat auf die westlichen Randgebiete (vgl. Wüest 1979, 203). Die für den ALIFO erhobenen Daten (s.o.) deuten dennoch klar darauf hin, daß das Gebiet von [ε] sich ursprünglich bis nach Zentralfrankreich erstreckte. So gibt auch Wüest (1979, 202-204) zu bedenken, daß der Befund, den die mittelalterlichen Skriptae des Westens zeigen, nämlich überwiegend <ei>, die im ALF dokumentierte Durchsetzung von [ w ε] auf der Ebene der gesprochenen Dialekte noch nicht ‘vorhersehen’ ließen: „[...] on constate que le changement ei > oi > wę est presque aussi régulier dans certaines régions de l’Ouest qu’à Paris même. C’est un résultat que les scriptae médiévales ne laissent pas prévoir. [...] Comme l’usage du graphème oi pour ei est particulièrement tardif à l’Ouest, je pense que le changement ei > oi n’a atteint cette région qu’à une époque où une certaine tradition scriptuaire existait déjà.“ - Es liegt also nahe anzunehmen, daß die [wε]-Formen, die der ALF für weite Gebiete des Westens attestiert, sich dort erst verhältnismäßig spät durchgesetzt haben. 115 <?page no="128"?> hängigkeit von verschiedenen lautlichen oder morphologischen Kontexten. 204 Was die Variation in der mittelalterlichen Schriftlichkeit betrifft, so kann die in Manuskripten des 13. und 14. Jahrhunderts zu beobachtende sukzessive Ausbreitung der ursprünglich nur im flandrisch-pikardischen Raum üblichen Graphie <oi> 205 als klarer Beleg für das hohe kulturelle Prestige der nordöstlichen Schreibvariante gelten. Das Vordringen von <oi> in den Skriptae läßt jedoch keinen Rückschluß auf den Zeitpunkt und auf das (dia)systematische Ausmaß zu, in dem die vermutlich mit <oi> assoziierte (Lese-)Aussprache [ w ε] sich in Zentral- und Westfrankreich auf Kosten von autochthonem [ε] durchsetzen konnte. Les anciennes graphies françois, estoit, monnoie, etc. ne prouvent aucunement que le passage de ei à oi ait jamais été général en parisien. Il est vraisemblable que, dans tous ces mots et dans bien d’autres, les deux prononciations [nämlich [ε] und [wε]; K.G.] ont dû se maintenir côte à côte pendant assez longtemps. La vaste extension de la graphie par oi est le fait d’une époque où les formes de l’est avaient une valeur sociale supérieure, au XII ième siècle la littérature est surtout champenoise, au XIII ième siècle surtout picarde. (Haudricourt 1948, 212) Die hohe graphematische Variabilität, von der Pariser Dokumente des späten 13. und des 14. Jahrhunderts zeugen 206 und die noch im System des modernen Schriftfranzösischen ihren Niederschlag gefunden hat (<oi>, <ai>, <ei>, <e>), spricht in der Tat für eine längerfristige Koexistenz von Aussprachevarianten im städtischen Kommunikationsraum. Diese dürften - bis zu ihrer komplementären Festlegung auf bestimmte morphologische (Imperfekt, Konditional) oder lexikalische Kontexte (français vs. danois; raie, monnaie usw.) - in gewissem Maß frei variiert haben und mit unterschiedlichen, historisch wechselnden diasystematischen Werten belegt gewesen sein. 207 Sehr überzeugend erscheint in diesem Zusammenhang die Überle- 204 Vgl. dazu auch Taverdet (1974) und Chauveau (1989, 79-143). 205 Pfister (1993, 29f.) kann bei einer stichprobenartigen Auswertung von literarischen und diplomatischen Manuskripten aus dem Zeitraum 1170-1236 nur einen einzigen Beleg für die Verbreitung der Graphie <oi> außerhalb von Nordostfrankreich feststellen, nämlich in einer Urkunde aus La Rochelle (Poitou) von 1220. Vgl. auch Weigelt (1887, 105f.) und die entsprechenden Karten in Dees (1980, 116, 158, 165, 170, 191, 194); vgl. ferner Pfister (1973, 244-246 und 252f.) und Monjour (1989, 21). 206 Vgl. Michaëlsson (1959); Lodge (2004, 90-92). 207 Bekanntlich war die die Variation von [ε] und [wε] im 16. und 17. Jahrhundert ein beliebter Gegenstand der Sprachkritik. Haudricourt (1948, 209) berichtet von einem Brief von Étienne Pasquier aus dem Jahr 1572, worin dieser die heutige Standardaussprache von „reyne, allét, tenét“ [ε] ganz zeittypisch als höfisch-gekünstelte Variante von „royne, alloit, tenoit“ [ w ε] ablehnt (vgl. Smith 1966). Sylvius alias Jacques Dubois (1478-1555) scheint der einzige Grammatiker des 16. Jahrhunderts gewesen zu sein, der der Aussprache [ε] gegenüber [wε] in den Endungen des Imperfekts und Kondi- 116 <?page no="129"?> gung von Morin (2008), wonach die Spezifik der Distribution von [ε] und von [wa] (< [wε]) im heutigen Standard als Ergebnis eines historischen Kontaktprozesses interpretiert werden kann. Demnach sei [ε(j)], die autochthone Form der Île-de-France, ab dem 13. Jahrhundert teilweise von der gelehrten, mit dem Graphem <oi> assoziierten Aussprachevariante [wε] verdrängt worden, sauf dans des formes très fréquentes, comme les désinences de l’imparfait, dont la graphie s’est ajustée au cours du XVIII e siècle (et encore plus tard dans le dictionnaire de l’Académie Française) (il) disoit > (il) disait. (Morin 2008, 2915) Dieses Szenario wird noch plausibler, wenn man die dialektale, oxytone Verbform der 3. Pl. Impf. Ind. in Betracht zieht (ils diseint; vgl. Abb. 4, Merkmal 5), in deren Endung der nachvokalische Nasalkonsonant einen Wandel des Diphthongs [ej] über [oj] zu [wε] grundsätzlich verhindert (vgl. plein). Wenn [wε] also keine autochthone Pariser Form ist, sondern eine über das Graphem <oi> aus dem Nordosten ‘importierte’ Prestigevariante, dann könnte der lange Zeit sozial niedrig markierte Parisianismus [wa] ursprünglich eine ‘über das Ziel hinausgeschossene’, verballhornte Aussprache von [wε] gewesen sein, die erst in nachmittelalterlicher Zeit entstand. Diese Hypothese läßt sich wiederum gut mit der graphematischen Analyse von Chauveau (2012) vereinbaren, der die gängige Interpretation der in Pariser Steuerlisten des späten 13. Jahrhunderts belegten Schreibung <oa> 208 als frühen Reflex einer aufkommenden [wa]-Aussprache zurückweist (unter anderem aus dem Grund, daß <oa> auch in Manuskripten aus Lothringen und aus der Normandie belegt ist). Eine moderate Datierung der volkstümlichen Öffnung von [wε] zu [wa] auf das 15. oder 16. Jahrhundert könnte auch die Tatsache begreiflich machen, daß sich für die Pariser Aussprache [wa] im Französischen nie ein eigenes Graphem herausgebildet hat; denn gegen Ende des Mittelalters war <oi> als Standardschreibung bereits so gut etabliert, daß sich keine konkurrierende Graphievariante mehr entwickeln konnte, zumal für eine traditionell stigmatisierte Form wie [wa]. 209 tionals den Vorzug gab, und zwar mit dem Argument, daß sie näher an der lateinischen Ausgangsform geblieben sei (vgl. Trudeau 1992, 30-35). Vgl. auch den Überblick über normative Äußerungen zur Aussprache der Imperfektendungen im 16. und 17. Jahrhundert bei Fouché ( 2 1967, 243). Vaugelas trat bereits für die [ε]-Aussprache ein; Voltaire verwendete die <ai>-Graphie, noch lange bevor die Académie française diese im 19. Jahrhundert offizialisierte. 208 Vgl. Michaëlsson (1959, 290-292); Lodge (2004, 91f.). 209 Vgl. auch Pope (²1952, §525): „In Late Middle French the modern lowered pronunciation wa made its appearance in vulgar speech, at first before r. This broad pronunciation, however, found no favour with the educated classes or the grammarians (Pals- 117 <?page no="130"?> 4.1.2 - ĔLLOS , - ĔLLIS Hinsichtlich der Variation [o]/ [jo] (z.B. fr. beau, peau) ist die Lage im Grunde eindeutig, denn im gesamten Gebiet, das der ALIFO abdeckt, ist die dialektale Entwicklung [ jo ] (vgl. [Simoni-]Aurembou 1973b, 387-390). Selbst an zwei nahe bei Paris gelegenen Enquête-Punkten, für die der ALF [ o ] verzeichnet, konnten im Zuge der Erhebungen für den ALIFO noch vereinzelte [ jo ]-Belege nachgewiesen werden. Auch Wüest (1979, 297f.; 1985, 243) und Lodge (2004, 69 und 92f.) halten [ jo ] für die autochthone Variante im Gebiet der Île-de-France. Aufgrund der Tatsache, daß [ jo ] (repräsentiert durch das Graphem <iau>) in satirischen Texten des 18. Jahrhunderts als Marker für den patois de Paris eingesetzt wird, kommt Wüest (1985) zu der Ansicht, daß der Unterschied zwischen [ o ] und [ jo ] bzw. ihren Vorstufen [ eaw ] (> [ eo ]) und [ jaw ] nicht dialektaler, sondern soziolektaler Natur gewesen sein muß. Für diese Annahme spricht bereits folgendes Verdikt von Théodore de Bèze aus dem 16. Jahrhundert: Vitanda est autem vitiosissima vulgi Parisiensis pronuntiatio in hac triphtongo, nempe l’iaue, & siau, pro seau, beau, ruisseau, & simila. (Bèze 1584, 52) 210 Auch [Simoni-]Aurembou (1973b) bezeichnet [ o ] als ‘gelehrte’, [ jo ] dagegen als ‘provinzielle’ und - mit Bezug auf Paris - ‘populäre’ Variante: Notre aire -yó très homogène semble [...] bien être celle d’une ancienne prononciation populaire parisienne et provinciale -yó opposée à une prononciation savante -ó. ([Simoni-]Aurembou 1973b, 390) Mit Koch/ Oesterreicher (²2011, 16) wäre von einer Varietätenkette zu sprechen: die primärdialektale Variante [ jo ] erhält innerhalb des städtischen Kommunikationsraums Paris, wo sie der gelehrten, höfischen, möglicherweise genuin schriftsprachlichen Variante [ o ] gegenübersteht, eine diastratisch niedrige Markierung. Einzig Lodge (2004, 64f.) erwägt - unter Berufung auf ALF-Daten - auch für [ o ] < [ eaw ] einen dialektalen, nämlich ostfranzösischen Ursprung: grave excepted), in either the sixteenth or seventeenth century, and was not fully accepted until the upheaval of the Revolution had destroyed the old tradition [...].“ 210 Vgl. auch Wüest (1979, 298, Anm. 46) sowie Lodge (2004, 119). - Auch wenn Bèze hier von einem ‘Triphthong’ spricht, ist die Aussprache, die er den Graphien <eau> und <iau> zuordnet, in Wirklichkeit schon diphthongisch, also [ eo ] bzw. [ io ] oder [ jo ]. Dies geht aus Bèzes (1584, 43-45) Beschreibung des ‘Diphthongs’ (gemeint ist: des Digraphs) <au> hervor: „HÆC quoque diphthongus aliter pronuntiatur quam scribatur...“. Entsprechend datiert Rheinfelder ( 4 1968, §324) die Reduktion des Triphthongs [ eaw ] zum Diphthong [ eo ]/ [ə o ] auf das 16., die Monophthongierung zu [ o ] auf das 17. Jahrhundert. 118 <?page no="131"?> The origin of the undifferentiated variant ([ o ] < [əo] < [ eaw ]) is uncertain. It is possible that it was an endogenous innovation of upper-class Parisian speech. However, the concentration of monophthongal forms in dialects spoken to the east of Paris (and their presence in western dialects too) makes one suspect that an exogenous origin is in fact more plausible. (Lodge 2004, 65) Zieht man zur Verifizierung dieser Hypothese aber wiederum die gegenüber dem ALF zuverlässigeren Regionalatlanten heran, so drängt sich der Verdacht auf, daß es sich bei den [ o ]-Belegen, die der ALF in der Tat punktuell für die östlich von Paris gelegenen Gebiete zeigt, gleichermaßen um formes parachutées, also um tertiärdialektale Phänomene handelt wie bei den oben besprochenen Vorkommnissen von [ wa ]. Beispielsweise zeigt der ALCB für ruisseau (Karten 209/ 210) überwiegend, für eau 211 (Karte 315) ausschließlich [ jo ]. Und selbst die ALF-Karten, die Lodge (2004, 64f.) als Belegquellen anführt, bestätigen meines Erachtens keineswegs die Annahme einer primärdialektalen [ o ]-Zone östlich von Paris. Zwar zeigen die Wörter manteau (Karte 810) und eau (Karte 432) in den Départements Seine-et-Oise, Seine-et-Marne, Marne und Aube sowie in der südlichen Aisne und der nördlichen Haute-Marne mehrheitlich den standardfranzösischen Ausgang [ o ]; bei seau (Karte 1208) finden sich jedoch an 22 von 24 Enquête-Punkten, die ich in den genannten Départements überprüft habe, Formen mit [ jo ]- oder [ jø ]-Diphthong. 212 Wenn Lodge (2004, 93) sich ferner zur Stützung seiner These auf den zweiten Skriptaatlas von Dees (1987, 129, 156 und 160) beruft, der die Graphie <eau> angeblich als typisch ostfranzösisches Phänomen ausweist, so ist schlechterdings nicht nachvollziehbar, wie Lodge zu dieser Einschätzung gelangt ist. 213 Denn ein Blick in die zitierten Karten, die das prozentuale Verhältnis der Graphien <-ia-> und <-ea-> in den Okkurrenzen der Wörter beau, nouveau, beauté und château 214 darstellen, zeigt, daß die Gegenden, die Lodge anhand der ALF-Karten als mögliche Herkunftsregion von [ eaw ] > [ o ] ausgemacht haben will, gerade nicht die entsprechende Graphie <ea(u)> aufweisen, sondern <ia(u)>: - Im Fall von château verzeichnet Dees (1987, 160) zu 100% <ia(u)>-Belege für die Départements Aisne, Marne, Aube und Yonne (letzteres ist nur 211 Bei ĂQUA ( M ) liegt freilich eine Sonderentwicklung vor: á-kw-a(m) > é-jw-e > e-áw-e. Vgl. dazu Rheinfelder ( 4 1968, §§541 und 544), der anmerkt, daß „[d]ie im Afz. belegten Formen von ăqua […] noch nicht befriedigend erklärt [sind].“ 212 Auch bei rideau (Karte 1157) findet sich relativ häufig [ jo ], wenn auch insgesamt [ o ] überwiegen dürfte. 213 Vgl. auch schon Morin (2008, 2914). 214 Ich nenne hier der Einfachheit halber die neufranzösischen Formen. 119 <?page no="132"?> mit einer Okkurrenz vertreten) sowie zu 95% <ia(u)>-Belege für die Haute-Marne. - Im Fall von beauté (Dees 1987, 156) ergeben sich 98% (Aisne), 100% (Marne), 83% (Aube), 67% (Yonne) und 77% (Haute-Marne) für die Graphie <-ia(u)->. - Bei den Adjektiven beau und nouveau kommt Dees (1987, 129) auf 100% (Aisne), 100% (Marne), 90% (Aube), 100% (Yonne) und 77% (Haute- Marne) für <-ia(u)->. Für die noch weiter östlich gelegenen Regionen Moselle/ Meurthe-et-Moselle und Vosges verzeichnet Dees zwar auf drei Karten insgesamt dreimal 0% für <-ia(u)->, d.h. 100% für <-ea(u)->; diese Zahl stützt sich aber in zwei Fällen auf nur einen einzigen Beleg, in einem Fall auf nur zwei Belege 215 ; in drei weiteren Fällen wird aufgrund fehlender Belege überhaupt keine Angabe gemacht. Fragt man sich, welche Gegenden nach Dees (1987) überhaupt verhältnismäßig niedrige Zahlen für <ia(u)> und entsprechend höhere für <ea(u)> aufweisen, so bleiben auf dem Festland nur die außerhalb des französischen Herrschaftsgebiets liegende Wallonie im äußersten Nordosten sowie die Franche-Comté im äußersten Südosten mit Werten zwischen 17% und 36% für <ia(u)> (sowie einmal 0% aufgrund von nur zwei Belegen). Ich halte es aber für unwahrscheinlich, daß von den beiden peripheren Regionen im oder nach dem 13. Jahrhundert normative Impulse für den Schreibusus in Frankreich ausgingen: die Franche-Comté ist meines Wissens nie als schriftkulturell besonders produktive Region in Erscheinung getreten; die Wallonie gilt zwar als wichtiger Schreibraum des 10. und 11. Jahrhunderts 216 , im 13. Jahrhundert dürfte die Rolle, die sie in normativer Hinsicht gegenüber dem französischen Königreich spielte, aber marginal gewesen sein. Interessanter erscheinen demgegenüber die Werte, die Dees (1987) für das Anglonormannische des 13. Jahrhunderts ermittelt hat. 217 Abgesehen von dem nur auf einem einzigen Beleg basierenden Wert von 100% im Fall von château ergeben sich nämlich 0% für <-ia(u)-> im Fall von beauté (bei vier Belegen) sowie 13% im Fall von beau/ nouveau (bei insgesamt sechs Belegen). Zwar war die Blütezeit der anglonormannischen Literatur im 13. Jahrhundert bereits überschritten, doch ist mit Sicherheit davon auszugehen, daß englische Manuskripte auf dem Kontinent auch nach dem Verlust 215 Dees (1987) versieht alle Prozentzahlen, die aufgrund von nur zwei oder weniger Okkurrenzen zustandekommen, mit einem Fragezeichen. 216 Vgl. Pfister (1973, 244-246 und 252f.). 217 Im ersten, urkundenbasierten Skriptaatlas von Dees (1980) war England noch nicht als ‘Region’ vertreten. 120 <?page no="133"?> der angevinischen Herrschaft über Westfrankreich im Jahr 1204 noch zahlreich kopiert wurden. Insofern ist durchaus vorstellbar, daß eine Präferenz für die Graphie <eau> auf der Insel im oder nach dem 13. Jahrhundert noch die Schreibgewohnheiten in Frankreich beeinflussen konnte. 218 Abb. 5 faßt die hier relevanten Zahlen aus dem Skriptaatlas von Dees (1987) in tabellarischer Form zusammen: 219 beau / nouveau beauté château Aisne 100 98 100 Marne 100 100 100 Aube 90 83 100 Yonne 100 67 (100) Haute-Marne 77 77 95 [Moselle / Meurtheet-Moselle] (0) (0) - [Vosges] - (0) - Région parisienne 86 81 86 Wallonie 36 17 (0) Franche-Comté 20 25 33 Angleterre 13 0 (100) Abb. 5: Prozentualer Anteil der Graphie <-ia(u)-> gegenüber <-ea(u)-> nach Dees (1987, 129, 156, 160) Wie aus der Übersicht hervorgeht, zeigt auch die Île-de-France im 13. Jahrhundert noch verhältnismäßig hohe Werte für <ia(u)>: 86% bei beau/ nouveau, 81% bei beauté und 86% bei château. Lodges (2004, 92f.) Auszählung von 75 Urkunden der prévôté de Paris ergibt für die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts sogar zu 100% Belege für <iau>, und auch im Zeitraum 1300- 1365 scheint <ea(u)> mit einem Anteil von ca. 9% noch eine Randerscheinung gewesen zu sein. Erst im Werk von Christine de Pizan, die im ersten Drittel des 15. Jahrhundert schrieb, stellt Lodge eine Umkehrung des Ver- 218 Vgl. Lusignan (2012, 45-53) zur eminent wichtigen Rolle Englands beim Ausbau der mittelalterlichen französischen Literatursprache. 219 Die Prozentzahlen zeigen den Anteil von <-ia(u)->; subtrahiert von 100 ergeben sie den Vergleichswert für <-ea(u)->. Hellgrau hinterlegt sind die östlichen Regionen, in denen Lodge den Ursprung von [eaw] vermutet (in eckigen Klammern die beiden Randgebiete, die Lodge (2004, 65) auf seiner ALF-basierten Karte gar nicht ins mutmaßliche Ursprungsgebiet mit einzubeziehen scheint); dunkelgrau hinterlegt sind die von Lodge nicht berücksichtigen Regionen, die tatsächlich verhältnismäßig hohe Werte für <-ea(u)-> zeigen. Eingeklammert sind Werte, die auf nur zwei oder weniger Belegen basieren. „-“ zeigt an, daß gar keine Belege gefunden wurden. 121 <?page no="134"?> hältnisses fest (80% <eau> vs. 20% <iau>). Lodge (2004, 93) kommt zu folgendem Schluß: The ‘-iau’ variant does not represent, therefore, some sporadic aberration, but the indigenous form shared initially by HDP and the speech of Paris. The innovation in Parisian speech is in fact the ‘-eau’ variant which subsequently became established as the standard form. We cannot exclude the possibility that the ‘-eau’ variant developed endogenously in the speech of Paris during the thirteenth century, but Dees’s maps suggest instead an exogenous, eastern origin for this form (Dees 1987: 129, 156, 160), which began to be diffused into the speech of the city no earlier than the end of the thirteenth century. (Lodge 2004, 93) Es erscheint sinnvoll, die relativ langfristige Dominanz der Graphie <iau> in Paris unter anderem auf deren sprechsprachliche Fundierung in den autochthonen Dialektvarietäten der Île-de-France zurückzuführen. Lodges komplementäre Annahme, daß die innovative Aussprache [ eaw ] im Mittelalter aus Ostfrankreich nach Paris befördert worden sei, erweist sich jedoch in Anbetracht der Datenlage, wie sie aus Dees’ (1987) Untersuchung und aus den modernen Sprachatlanten hervorgeht, als unhaltbar. 220 Die Herkunft der Graphie <eau>, die sich in den meisten Regionen erst spät gegen dialektal fundiertes <iau> durchgesetzt zu haben scheint, muß somit als ungelöstes Problem der französischen Skriptaforschung gelten. Mit Sicherheit wissen wir nur, daß die im 16. Jahrhundert mit <eau> assoziierte Aussprache [eo]/ [ə o ] in Paris gegenüber autochthon-populärem [ jo ] sozial hoch markiert war (vgl. Bèze 1584, 52). Außerdem läßt sich aufgrund der von Dees (1987) für das 13. Jahrhundert ermittelten Skriptadaten ein anglonormannischer, literatursprachlicher Ursprung von <eau> in Erwägung ziehen. Mithin könnte [ eaw ] eine genuin distanzsprachliche Variante gewesen sein, deren hohes gesellschaftliches Prestige womöglich gerade auf dem Umstand beruhte, daß sie im domaine d’oïl nicht dialektal verwurzelt war. Es könnte sich ursprünglich um eine reine Leseaussprache gehandelt haben, die zunächst nur in elitären Kreisen bekannt war und als soziales Distinktionsmerkmal gepflegt wurde. Jedenfalls steht fest, daß der Triphthong sich bis zum 17. Jahrhundert zur - vorerst weiterhin elitären - Standardaussprache [ o ] entwickelte; daß diese sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts als tertiärdialektales Phänomen von Paris aus in ganz Frankreich verbreitet hat, zeigen die oben genannten Karten des ALF. Zu Lodges Methodik der ALF-basierten Rekonstruktion der ‘Pariser Hinterlanddialekte’ („HDP“) sei im übrigen grundsätzlich angemerkt, daß 220 Auch die von Lodge alternativ in Betracht gezogene Erklärung von [ eaw ] als ‘endogene’ Pariser Innovation vermag nicht zu überzeugen, da eine Entwicklung des Approximanten [ j ] zu stärker vokalischem [ e ] oder [ə] phonetisch kaum plausibel erscheint. Vgl. Rheinfelder ( 4 1968, §324); Morin (2008, 2914). 122 <?page no="135"?> vorderhand gar nicht ersichtlich wird, warum Lodge für die heutigen Standardvarianten [ o ] und [ wa ] unbedingt einen primärdialektalen, hier ostfranzösischen Ursprung annimmt. Denn zumindest was das nähere Pariser Umland betrifft, scheint Lodge durchaus klar zu sein, daß die ALF-Daten, auch wenn sie schon über ein Jahrhundert alt sind, tendenziell ‘oberflächlichere’, d.h. für standard- oder stadtsprachliche Einflüsse anfälligere Befunde liefern als der feinmaschigere und methodisch umsichtiger konzipierte ALIFO. Entsprechend argumentiert Lodge völlig korrekt, wenn er aus der Tatsache, daß auf seinen ALF-basierten Dialektkarten die standardsprachlich geprägte Pariser Gegend jeweils ‘beulenartig’ in eine Dialektzone hineinragt, die gerade nicht die standardsprachliche Variante zeigt, den Schluß zieht, daß die prestigebesetzte, standardaffine Stadtsprache auf tertiärdialektaler Ebene in das Pariser Umland diffundiert hat. Daraus ergibt sich ja auch die plausible Vermutung, daß in der Île-de-France ursprünglich, d.h. auf primärdialektaler Ebene, andere Varianten wie beispielsweise [ jo ] verbreitet waren. Was aber die Frage nach der Herkunft der heutigen Standardvarianten [ o ] und [ wa ] betrifft, bleibt Lodge meines Erachtens allzu sehr der sprachgeographischen Perspektive verhaftet - ja er scheint dort, wo die Vertreter der monotopischen Standardisierungsthese auf einen primärdialektalen Ursprung des Französischen in der Île-de-France pochten, geradezu krampfhaft nach einem primärdialektalen Ursprung der fraglichen Formen außerhalb der Île-de-France zu suchen: The particular bulge-like configuration common to each of these five isoglosses in the ALF has perhaps something important to say about the linguistic history of the region. It suggests that in each case one of the variants originated outside the HDP box, and that at some point it took root in Paris, from where it subsequently diffused out into a city’s immediate hinterland, to form a bulge visible on the modern dialect maps. (Lodge 2004, 67; meine Kursivierung) Wir haben bereits gesehen, daß die Annahme eines ostfranzösischen Ursprungs im Fall von [ wa ] und [ o ] < [eaw] überaus problematisch ist. Fragwürdig erscheint Lodges Argumentation auch insofern, als sie unterstellt, daß die vermeintliche Dialektvariante [ eaw ] irgendwann im Mittelalter von Ostfrankreich nach Paris gewandert sei und daß sich dann - während eines Zeitraums von mehreren Jahrhunderten und trotz soziolinguistisch komplett unterschiedlicher Bedingungen - in wundersamer Gleichförmigkeit sowohl in der östlichen Provinz als auch in der Stadt aus [ eaw ] das moderne [ o ] entwickelt habe. Außerdem widerspricht Lodge sich ein Stück weit selbst, wenn er einerseits betont, daß die Migrationsbewegung, die im 12. Jahrhundert zur demographischen Explosion von Paris geführt hat, hauptsächlich aus einem Umkreis von nicht mehr als 70 Kilometern um das mit- 123 <?page no="136"?> telalterliche Stadtgebiet kam 221 , wenn er andererseits aber einen migrationsbedingten Import von sprachlichem Material mithilfe von Varianten wie [ε] oder [ o ] < [ eaw ] plausibel machen will, für die er selbst ein westbzw. ostfranzösisches Herkunftsgebiet anzunehmen scheint, das, zumindest nach dem, was die Dialektkarten (Lodge 2004, 64f.) suggerieren, doch deutlich außerhalb dieses 70-Kilometer-Radius liegen dürfte. 222 Daß Lodge - trotz angekündigter Vorbehalte - der Versuchung erliegt, die Isoglossenverläufe, die der ALF für das Ende des 19. Jahrhunderts zeigt, dynamisch im Sinne von sprachlichen Migrationsbewegungen des Mittelalters zu interpretieren, ohne sich der Tatsache bewußt zu sein, daß bei den ALF-Daten auch außerhalb des Pariser Umlands mit tertiärdialektalen Phänomenen zu rechnen ist, sei hier nochmals mit einer (oben bereits teilweise zitierten) Äußerung belegt: It needs to be emphasised that the isoglosses traced out here depict the dialect situation as it was found by Gilliéron and Edmont in the late nineteenth century, not as it might have existed in medieval times. Isoglosses can and do move over time. Indeed, maps 5 to 9 [diese entsprechen den fünf hier diskutierten Merkmalen nach Fondet (1995); K.G.] show precisely that. [...] Maps 5-9 [...] show the bulges in each isogloss around the city of Paris, suggesting that these particular forms entered Paris from the east or west, and that, having established themselves there, they subsequently began diffusing out on the other side of the city. (Lodge 2010b, 36-39; meine Kursivierung) Aus den Dialektkarten des späten 19. Jahrhunderts sei also abzulesen, daß eine Dialektform aus ihrem östlichen oder westlichen ‘Stammland’ in die Stadt Paris gewandert sei. Die Ausbuchtungen, die später auf der dem jeweiligen Stammland abgewandten Seite von Paris entstanden, entsprächen der tertiärdialektalen Ausstrahlung der prestigereichen Stadtsprache, in die die ‘Importvarianten’ („incursions“) eingegangen seien. - Wie wir gesehen haben, ist eine fundamentale Voraussetzung, auf der Lodges Hypothese beruht, aber fatalerweise nicht erfüllt: denn die fraglichen Varianten, die aus den östlichen Dialekten nach Paris transportiert worden sein sollen 221 Vgl. Lodge (2004, 47): „It appears that the majority of immigrants originated within a 70km radius around the city, though the different segments of that circle were not represented equally. Population surpluses in the area located just north and northeast of Paris provided the main basis of the maintenance and growth of the city’s population throughout the medieval and early modern periods.“ - 70 Kilometer entsprechen in etwa der Luftlinie zwischen Paris (Île-de-la-Cité) und Beauvais. 222 Lodges [ε]-Zone umfaßt im wesentlichen die Basse-Nordmandie und die Bretagne, seine [ o ]-Zone im wesentlichen die Départements Marne und Aube sowie die südliche Aisne und einen Teil von Seine-et-Marne (dieser liegt zwar innerhalb des 70-Kilometer-Radius, scheint aber schon Teil der ‘Beule’ zu sein, die in die [ jo ]-Zone hineinragt und die Lodge selbst wohl als tertiärdialektales Phänomen interpretieren würde; vgl. obiges Zitat, Lodge 2004, 67). 124 <?page no="137"?> ([ wa ], [ eaw ]), scheinen im Mittelalter in ihrem vermeintlichen Stammland gar nicht existent gewesen zu sein. 223 4.1.3 Verbalmorphologie Die drei Merkmale aus dem Bereich der Verbalmorphologie möchte ich hier gemeinsam behandeln. Erstaunlicherweise sind die standardfranzösischen Verbformen der 3. Pl. Präs. Ind. (ils chant-ent), der 1. Pl. Präs. Subj. / 1. Pl. Impf. / 1. Pl. Kond. (nous chant-ions / chantass-ions / chanter-ions) sowie der 3. Pl. Impf. Ind. / 3. Pl. Kond. (ils chant-aient / chanter-aient) auf dialektaler Ebene im Gebiet des ALIFO nicht nachzuweisen; dafür kommen sie allesamt in den Dialekten der Normandie vor. Die für die zentralfranzösischen Primärdialekte charakteristischen Formen lauten dagegen ils chantont [ ɔ ̃ ], nous chant(er/ ass)-eins [ε ̃ ] und ils chant(er)-eint [ε ̃ ]. 224 Die oxytone Variante der 3. Pl. Präs. Ind., ils chant-ont, ist auch in den von Wüest (1985, 249) untersuchten literarischen Zeugnissen des patois de Paris belegt. 225 Fondet (1995, 194) berichtet von Formen der 3. Pl. Impf. Ind. auf -aint, die in den anonymen Agréables conférences de deux paysans de Saint-Ouen et de Montmorency sur les affaires du temps aus dem 17. Jahrhundert zur Kennzeichnung der Pariser Vorstadtdialekte eingesetzt werden. 226 Die auffällige geographische Verteilung der Verbalflexive führt Fondet (1995) zu der naheliegenden Vermutung, daß die heutigen Standardformen normandischen Ursprungs sein könnten, eine These, die durch ein weiteres Merkmal, nämlich die Existenz von Futur- und Konditionalformen mit epenthetischem -dim Standardfranzösischen und in der Normandie, nicht aber in den Dialekten der Île-de-France, noch erhärtet wird. 227 Eine mögliche Erklärung für diese „étonnante convergence“ sieht Fondet darin, daß 223 Vgl. dazu auch folgendes Zitat von Schützeichel ( 2 1974, 318): „Es ist [...] sehr die Frage, wie weit heutige Verbreitung einer sprachlichen Erscheinung für das Mittelalter aussagen kann und ob es demnach ohne weiteres möglich ist, neuzeitliche Mundarträume mit gerade passenden mittelalterlichen Territorien in Beziehung zu setzen, wiewohl gar nicht geleugnet werden soll, daß die Konfrontierung von Dialektgeographie und Territorialgeographie in vielen Fällen zu erstaunlichen Ergebnissen geführt hat.“ 224 Vgl. dazu auch die ALF-Karten 679 (habitent), 1064 (portent), 401 (devaient), 513 (étaient), 1366 (viendraient), 512 (étions), 515 (serions), 518 (soyons) und 100 (ayons); ferner die Karte Nr. 1 in Fondet (1995, 203). - Zur Frage der Graphie (-aint vs. -eint) s.u. 225 Das Standardfranzösische kennt nur die vier einsilbigen Präsensformen sont, ont, vont, font. 226 Auch Wüest (1985) untersucht die Agréables conférences, berücksichtigt diese Formen aber nicht. 227 Im Gebiet des ALIFO sind lediglich kontrahierte Verbformen des Typs il vourra (fr. il voudra) oder il faura (fr. il faudra) belegt. Die Epenthese tritt allerdings regelmäßig in Wortstämmen wie gendre auf. Vgl. Wüest (1985, 245f.); Fondet (1995, 193). 125 <?page no="138"?> schon im Frühmittelalter die Normandie und im 12. Jahrhundert das anglonormannische England kulturell führende Regionen gewesen seien, die ihre sprachlichen Eigenheiten in der Interaktion mit Zentralfrankreich durchgesetzt hätten. [...] la France dialectale tout entière, du Nord et du Midi, présente des formes oxytoniques à la troisième personne du pluriel, exception faite des départements du Calvados, de l’Eure, de la Seine-Maritime, de la Manche et de l’Ille-et-Vilaine. [...] La langue officielle se distingue donc, comme le normand, de l’ensemble du domaine d’oïl. Une conclusion s’impose: elle a, pour une raison qu’il faudrait éclaircir, puisé sa troisième personne du pluriel dans ce secteur normand. [...] il est curieux de constater que la région qui n’a pas adopté la troisième personne du pluriel en -ont méconnaît également sa correspondante -aint de l’imparfait [...]. En effet, [...] le français / vy ε ̃dré / se cantonne dans le Calvados, l’Eure, l’Oise et dans une partie de l’Orne et de la Manche. C’est donc à la Normandie et à l’Oise (partie du domaine picard) que le français doit, semble-t-il, la finale -aient d’imparfait/ conditionnel à la finale non prononcée [...]. [...] les finales verbales paroxytoniques [lies: inaccentuées; K.G.] [de la troisième personne au pluriel du présent] (du moins tant qu’un -e final était prononcé) et la finale -aient d’imparfait paraissent bien soit résiduelles en proto-français comme en normand, soit héritées, par le français d’une partie de la Normandie, de même que la première personne du pluriel en -ions et les formes dérivées d’infinitifs en d. Il y a là une étonnante convergence qui s’explique peut-être mieux si l’on considère l’ensemble des faits suivants: dès le début du IX e siècle - période de l’empire de Charlemagne -, la langue romane rustique est perçue dans la Gaule du Nord comme distincte du latin [...] 228 ; les Serments de Strasbourg de 842 (où se lit la forme du futur prindrai : „prendrai“) et la Séquence de sainte Eulalie de 880 (qui comporte déjà des formes verbales en -ent) font partie de la langue interrégionale des clercs, nombreux dans les abbayes romanes de la future Normandie. Plus tard, à la suite des invasions normandes du X e siècle, de la conquête de l’Angleterre par Guillaume le Conquérant (1066), et en tout cas au XII e siècle, l’usage de l’anglo-normand par la cour d’Angleterre a pu favoriser des échanges entre le pouvoir central et ce pays comme avec la Normandie, échanges dont le style ogival des édifices religieux, de part et d’autre de la Manche, est un signe tangible. (Fondet 1995, 192-194) 229 228 An dieser Stelle verweist Fondet auf Cerquiglini (1991); vgl. dazu Abschnitt 4.2. - Zur Kritik an der bislang gängigen Interpretation der im Konzilsbeschluß von Tours (813) angesprochenen rustica romana lingua als eigener Sprache, die von den Zeitgenossen nicht mehr als Teil des spätlateinischen Varietätenraums wahrgenommen worden sei, vgl. Banniard (2004). 229 Fondets Argumentation erscheint hier allerdings etwas verkürzt. So wird nicht verständlich, inwiefern im 12. Jahrhundert ‘der Gebrauch des Anglonormannischen 126 <?page no="139"?> Lodge (2004) stellt die Dinge wiederum etwas anders dar, obschon er sich wiederholt auf Fondets (1980; 1995) Arbeiten beruft. Verwirrung herrscht bei Lodge allerdings, was die Variation der Formen der 1. Pl., -ions vs. -eins, betrifft. Dies wird schon insofern deutlich, als Lodge (2004, 67) seine anhand von ALF-Daten generierte Karte zwar mit der Verbform éteins beschriftet - mit Fondet (1995, 193-195) darf man dafür wohl die moderne Aussprache [ et ε ̃ ] annehmen -, in den einschlägigen Kapitelüberschriften (pp. 66, 69, 89, 178) aber stets vom Flexiv -iens, also von einem Diphthong [ j ε ̃ ] oder gar von zweisilbigem [ i. ε ̃ ], die Rede ist. Im Fließtext (p. 66) nennt Lodge die beiden Endungen alternativ („-iens/ -eins“), ohne zu erklären, worin der Unterschied bestehen könnte. Die Beispielformen, die Lodge in Texten aus dem 13., 14. und 17. Jahrhundert sowie bei Agnel (1855, 54 und 60) nachweist, beziehen sich wiederum ausschließlich auf die diphthongischen (oder zweisilbigen) Formen -iens (darunter die Varianten -ien, -iem, -yen, -iem(m)es oder -ia(i)ns) (pp. 89, 178f.). 230 Und auch was das Flexiv der 3. Pl. Impf. Ind. betrifft, ist zunächst nur von einer monophthongischen Form -aint [ε ̃ ] die Rede (p. 67f.); in den Beispielen tauchen dann aber ohne weitere Kommentierung die Varianten -ien(t), -ia(i)nt, -iont und -ions auf (pp. 70 und 177f.). Man mag Lodge zugutehalten, daß die Polymorphie, die die zugrundegelegten Texte im Bereich der Verbalendungen aufweisen, in der Tat sehr unübersichtlich ist. Allerdings leitet Lodge aus seiner nur oberflächlichen Betrachtung der verbalmorphologischen Variation im Mittelalter sehr weitreichende Schlußfolgerungen für die Frage nach dem Ursprung des Standardfranzösischen ab. Lodge stellt nämlich -iens (= -eins? ) als autochthone Form der Île-de-France-Dialekte („HDP“) dar, die ab dem 13. Jahrhundert in der gesprochenen Sprache von Paris durch die aus dem Westen importierte heutige Standardvariante -ions konkurrenziert worden sei: [...] the non-HDP ‘western’ variant -ions appears to have become established quite early in Parisian usage, alongside the HDP form -iens. However, competition between forms of the 4th person imperfect persisted for a long time. (Lodge 2004, 89) durch den englischen Königshof den Austausch zwischen der Zentralmacht und England sowie mit der Normandie begünstigen’ hätte sollen. Auch ist die Tatsache, daß im Mittelalter diesseits und jenseits des Ärmelkanals gotische Kathedralen errichtet wurden, wohl nicht das beste Indiz für eine rege volkssprachliche Interaktion zwischen England und dem Kontinent. 230 In Lodge (2010b, 36 und 38) heißt es in einer Tabelle und einer Karte „-iens“ bzw. „étiens“, doch im dazugehörigen Text ist nur noch vom Flexiv „-eins“ (oder „-ains“) die Rede, welches Lodge dreimal in der ältesten volkssprachlichen, von Videsott (2010) edierten Urkunde der chancellerie royale aus dem Jahr 1241 nachweist (s.u.). 127 <?page no="140"?> Die von Lodge vernachlässigte Unterscheidung von monophthongischen 231 und diphthongischen (oder zweisilbigen) Formen der 1. Pl. (-iens vs. -eins) erweist sich jedoch als zentral für das Verständnis der relevanten variationellen und standardisierungsgeschichtlichen Zusammenhänge. Denn geht man wie Fondet (1995) zunächst nur von dem Befund aus, den die Erhebungen für den ALIFO erbracht haben, so stellt sich heraus, daß im Untersuchungsgebiet um 1970 nicht -iens [jε ̃ ], sondern ausschließlich -eins [ε ̃ ] als dialektale Form der 1. Pl. Impf. / 1. Pl. Kond. nachzuweisen war. Auch die von Lodge (2004, 66) zitierten ALF-Karten 512 (étions) und 515 (serions) zeigen ausschließlich monophthongische Formen, also -eins, und zwar für weite Gebiete Zentralfrankreichs. Moderne Dialektvarianten der 1. Pl. Präs. Subj. sind in den ALF-Karten 518 ((que nous) soyons) und 100 ((que nous) ayons) verzeichnet, wobei in Formen wie [ sw ε j ε ̃ ] bzw. [ε j ε ̃ ] allerdings eine lautgesetzliche Entwicklung zu -iens vorzuliegen scheint. 232 In der 1. Pl. Präs. Subj. geht die Endung [ε ̃ ] lautgesetzlich auf die entsprechenden Formen der 1. oder der 3. lt. Konjugationsklasse (ohne I -Stämme) zurück ( CANTĒMUS > chanteins [ε ̃ ]; MITTĀMUS > metains [ε ̃ ]). Die Graphie, -ains oder -eins, spielt dabei keine Rolle, da sich aus beiden Formen letztlich [ε ̃ ] ergibt (vgl. fr. pain, plein). 233 Im Imperfekt und im Konditional läßt sich [ε ̃ ] dagegen nur in Analogie zur oxytonen Form der 3. Pl. (chant(er)-aint) erklären, deren lautgesetzliche, paroxytone Endung (* CANTĒBANT > chantéjent; * CANTĀRE HABĒBANT > chanteréjent) in Zentralfrankreich zu Gunsten einer oxytonen Form aufgegeben worden sein dürfte, möglicherweise unter dem Einfluß der oxytonen Form der 3. Sg. (chant(er)éjt). 234 Fou- 231 Es ist klar, daß auch die Endung -eins zunächst diphthongisch ausgesprochen wurde, wahrscheinlich als [ε ̃jns ]. Ausgehend vom modernen Sprachzustand, spreche ich aber der Einfachheit halber von einer ‘monophthongischen’ Form. 232 Zur Herleitung der Formen s.u. Auf die gleichermaßen im ALF dokumentierten Varianten je seins oder j’ains, die analog zu einer einsilbigen Form der 3. Pl. (ils seint) gebildet zu sein scheinen und die typischerweise mit dem klitischen Subjektpronomen der 1. Sg. stehen, komme ich ebenfalls weiter unten zu sprechen (vgl. auch Fondet 1995, 195f.). 233 Eine denkbare Ableitung von [ε ̃ ] aus den Indikativ-Präsens-Formen der 1. oder 2. lt. Konjugation ( CANTĀMUS , DEBĒMUS ) lasse ich hier außer Acht, da die Endung im Französischen nur für den subjonctif présent belegt ist. - Lorentz (1886, 11 und 13) verneint überhaupt die Existenz lautgsetzlicher Fortsetzungen von - ĀMUS oder - ĒMUS im Französischen, freilich ohne die Belege aus der von Videsott (2010) edierten Urkunde der chancellerie royale aus dem Jahr 1241 zu kennen (s.u.). 234 Die Tatsache, daß sich in der 3. Sg. Impf./ Kond. bis zum 11. Jahrhundert eine einsilbige Endung durchsetzte (in der Eulaliasequenz finden wir noch lautgesetztlich paroxytones sostendreiet), erklärt Rheinfelder (1967, §435) als Analogie zur einsilbigen Endung der Perfektform (chant-a(t)). In Analogie zur 3. Sg. seien schließlich auch die 1./ 2. Sg. und die 3. Pl. Impf./ Kond. einsilbig geworden. Vgl. auch Fouché ( 2 1967, 240f.). 128 <?page no="141"?> ché ( 2 1967, 241) bemerkt zur relativen Chronologie der Entwicklung, daß der Ultimavokal der 3. Pl. nach der spontanen Diphthongierung von vlt. [e] in offener Tonsilbe (ca. 8. Jhdt.), aber noch vor dem Einsetzen der Nasalierung (ca. 9. Jhdt.) verstummt sein muß 235 ; es dürfte sich demnach um recht alte Formen handeln („on est en présence de formes très anciennes“). Was hat es nun aber mit der diphthongischen oder zweisilbigen Endung -iens auf sich, die zwar kaum in den modernen Dialekten vorzukommen scheint, dafür aber um so zahlreicher in den mittelalterlichen Texten belegt ist? - Lautgesetzlich ist die Endung aus - ĀMUS in nachpalataler Stellung entstanden (lex Bartsch); -iens steht also regelmäßig in den Imperfekt- und Konditionalformen der Verben, die aus der 2. lt. Konjugationsklasse hervorgegangen sind ( HAB - Ē - BĀMUS > àv-e-ámus > av-(i-)jens). 236 Nach Rheinfelder (1967, §433) trat das Flexiv der 1. Pl. „von Anfang an überall“ als Ergebnis von - ĒBĀMUS auf, also auch bei den Verben der 1. und 4. lt. Konjugation, die für die 1.-3. Sg. und 3. Pl in den mittelalterlichen Skriptae des Nordwestens noch aus - ĀBAM usw., in den östlichen Skriptae auch aus - ĪBAM usw. entwickelte Imperfektformen aufwiesen (also * CANTĒBĀMUS , * VENĒBĀMUS ). Im übrigen galten die Endungen der 1./ 2. Pl. Impf./ Kond. prinzipiell als zweisilbig, wenn auch schon seit dem 12. Jahrhundert - je nach metrischer Erfordernis - monosyllabische Varianten belegt sind (seit dem 17. Jahrhundert gilt Zweisilbigkeit grundsätzlich nur nach Obstruent- Liquid-Cluster; vgl. Pope 2 1952, 347; Fouché 2 1967, 242; Rheinfelder 1967, §436). - Lautgesetzlich ergibt sich -iens auch in der 1. Pl. des subjonctif présent, wenn die Endung - IĀMUS oder - ĀMUS in nachpalataler Stellung vorliegt, also bei den I -Stämmen der 3. lt. Konjugation ( CAP - IĀMUS ), bei allen Verben der 2. lt. Konjugation (-jámus < - EĀMUS ) sowie bei estre (sej-jens < 235 Vgl. zur Chronologie der Lautentwicklungen auch Rheinfelder ( 4 1968, §§41 und 185). 236 Vgl. dazu Wolf/ Hupka (1981, §263). Rheinfelder (1967, §433) erklärt zwar den Ausfall des intervokalischen - B - (nämlich als „Dissimilation bei Verben, deren Stamm auf b oder p ausgeht“; z.B. HABĒRE , * SAPĒRE ), nicht aber die Reduktion des durch den Schwund von - B in den Hiat geratenen Ē zu [j], von der er gleichwohl stillschweigend auszugehen scheint. Problematisch könnte diese Annahme jedoch mit Blick auf die Tatsache sein, daß in der Imperfektendung ursprünglich ein langer Vokal vorlag (im Unterschied etwa zu Formen wie CĂVĔA ( M ) > cage oder VĪNĔA ( M ) > vigne): die entsprechende Silbe war also schwer und konnte nicht ohne weiteres aufgegeben werden (vgl. dazu auch Lorentz 1886, 16). Vielleicht deshalb leitet Fouché ( 2 1967, 239) die Formen anders her, nämlich in Analogie zur 1.-3. Sg./ 3. Pl., wo eine spontane Diphthongierung von vlt. [e] in offener Tonsilbe eingetreten ist: - ĒBĀMUS > ej-ámos > ejíens (lex Bartsch; Fouché nimmt hier allerdings zunächst einen Akzent auf dem ersten Element des Diphthongs an) > ijíens („par fermeture de ẹ sous l’action de -yí- [in meiner Notation: -jí-; K.G.]“) > iiéns (schließlich Akzentverlagerung). Pope ( 2 1952, 347) geht zwar nicht von einer Analogie zur spontanen Diphthongierung in den Formen der 1.-3. Sg./ 3. Pl. aus, kommt aber zu dem gleichen Ergebnis wie Fouché, indem sie die Herausbildung eines hiattilgenden „intervocalic palatal glide“ ansetzt. 129 <?page no="142"?> * SIJĀMUS ) 237 und aveir (aj-jens < HABEĀMUS ). Nach Rheinfelder (1967, §428) hat sich -iens aufgrund der Häufigkeit der von der regelmäßigen Palatalisierung betroffenen Lexeme im Lauf des 13. Jahrhunderts auf die subjonctif- Form aller Verben ausgebreitet, wobei die Generalisierung der diphthongischen Endung zunächst im Nordosten zu beobachten sei. 238 Fouché ( 2 1967, 203-205 sowie 191) geht dagegen davon aus, daß die lautgesetzlichen Endungen des subjonctif (neben -iens auch -ins < - ĒMUS nach Palatal) zunächst weitgehend durch -eins ersetzt wurden, welches in einem weiteren Schritt der Indikativendung -ons (< * CANT - ŬMOS , analog zu SŬMUS ) 239 angeglichen worden sei, so daß es zu einem Synkretismus kam, von dem bereits das Oxforder Manuskript des Rolandslieds zeugt. 240 Im 13. Jahrhundert habe sich dann -iens, und zwar ausgehend von den wenigen, aber frequenten Formen, die in in ihrer lautgesetzlichen Entwicklung bewahrt worden seien (seiens, aiens, faciens u.a.), auf Kosten von -ons ausgebreitet, wobei auch Fouché einen östlichen Ursprung von -iens nicht ausschließt: Peut-être les formes franciennes en -iens [...] viennent-elles de l’Est; mais il n’est pas nécessaire de le supposer et l’analogie a pu jouer parallèlement ici et là, bien qu’à des époques différentes. Quoiqu’il en soit, les nouvelles formes en -iens [...] se sont combinées avec les anciennes en -ons, et il en résulte une nouvelle terminaison -ions qui appararaît déjà au début du XIV e siècle. (Fouché 2 1967, 205) Ob Fouchés Charakterisierung von -iens als „forme[s] francienne[s]“ dialektologisch gerechtfertigt ist, wird im Folgenden noch zu diskutieren sein. Jedenfalls ist davon auszugehen, daß aus einer Kreuzung von -iens und -ons im 14. Jahrhundert die heutige subjonctif-Endung -ions entstand, die sich aber erst im Lauf des 15. Jahrhunderts gegenüber -iens durchsetzen konnte. In den Formen der 1. Pl. Impf./ Kond. scheint -ions, wiederum als 237 Nach Rheinfelder ( 4 1968, §§101f.) ist hier von der Form * SIĀMUS auszugehen, deren Hiat durch Einfügung eines Gleitkonsonanten behoben worden sei, wodurch sich wiederum die Bartschsche Diphthongierung von [a] in offener Tonsilbe ergeben habe (sej-jens). Vgl. dazu auch Fouché ( 2 1967, 206) und Pope ( 2 1952, 347). 238 Nach Lorentz (1886, 16) galt im Subj. Präs. von vornherein Einsilbigkeit, da hier kein silbenbildendes Ē vorlag wie in den - ĒBĀMUS -Formen. Da der im Impf./ Kond. zunächst entstandene Hiat aber bald getilgt worden zu sein scheint (s.o.), ist unklar, inwieweit wir für das 13./ 14. Jahrhundert noch zwischen der von jeher einsilbigen Endung des Subj. Präs. einerseits und der ursprünglich zweisilbigen Endung des Impf./ Kond. andererseits unterscheiden müssen. 239 Vgl. Fouché ( 2 1967, 190 und 203); Rheinfelder (1967, §426). Das Vorliegen von SŬMUS ist zwar ein Argument für die Durchsetzung von -ons im Präs. Ind.; -ons im Präs. Subj. wird dadurch aber nicht erklärt. Möglicherweise könnte man hier die Formengleichheit in der 3. Pl. Ind./ Subj. (chantent - chantent) als Argument für die analogische Generalisierung von -ons in der 1. Pl. Ind./ Subj. geltend machen. 240 Vgl. Pope ( 2 1952, 343). 130 <?page no="143"?> Kreuzung von -iens und -ons, sich schon etwas früher, nämlich im 13. und 14. Jahrhundert in Nordfrankreich verbreitet zu haben (erstmals belegt ist -ions wiederum im Oxforder Roland; vgl. Pope 2 1952, 347; Fouché 2 1967, 242; Rheinfelder 1967, §436). Die Ausbreitung von -ions im subjonctif présent dürfte also auch durch die frühere Durchsetzung von -ions im Impf./ Kond. motiviert gewesen sein. Hinsichtlich der schreibsprachlichen Variation im Mittelalter ergibt sich insofern ein recht eindeutiges Bild, als -iens im 13. Jahrhundert noch klar gegenüber innovativem -ions dominierte. In den prestigeträchtigen Skriptae des Nordostens, unter anderem in den Romanen Chrétiens, scheint -iens fast ausschließlich vorzukommen, so daß es zum einen naheliegt, mit Rheinfelder (1967, §428) und Fouché ( 2 1967, 205) einen nordöstlichen Ursprung der Form anzunehmen; zum anderen erschiene es völlig unangebracht, für das 13. Jahrhundert bereits von einer niedrigen sozialen Markierung von -iens auszugehen, wie sie in den modernen Zeugnissen des patois de Paris zum Ausdruck kommt. Dees (1980, 243) ermittelt zu 100% Formen der 1. Pl. Impf. Ind. auf -iens oder -iemes 241 für die Gebiete Hainaut, Wallonie, Ardennes, Marne und Vosges; zwischen 90% und 94% ergeben sich für die Regionen Nord, Meuse, Moselle/ Meurthe-et-Moselle, Haute- Marne, Bourgogne und Franche-Comté. 242 In welcher Form sich die Konkurrenz von -iens und -ions in Paris dargestellt hat, zeigt Lodge (2004, 89) anhand einer diachronen Untersuchung der Urkunden der prévôté de Paris (1249-1365): -iens war demnach als Endung der 1. Pl. Impf. Ind. zwar kontinuierlich rückläufig; im 13. Jahrhundert überwog aber noch -iens/ -iemes gegenüber -ions/ -iom, und zwar im Verhältnis 2: 1. Dees (1980, 243) kommt auf immerhin 56% für -iens/ -iemes in der Pariser Gegend. Was die 1. Pl. Präs. Subj. betrifft, so geht Pope ( 2 1952, 343) unter Berufung auf Metzke (1881, 90f.) davon aus, daß -iens noch im 14. Jahrhundert in der Pariser Schriftsprache dominierte. 243 241 Ich unterscheide hier nicht weiter zwischen -iens und -iemes; bei letzterer Variante handelt es sich um eine typisch pikardisch-flandrische Form, die aus einer Kreuzung von -iens und -ames (1. Pl. Perf.) oder somes (1. Pl. Präs. Ind von estre) hervorgegangen sein könnte. Vgl. Fouché ( 2 1967, 242) sowie Dees (1980, 244). 242 Im zweiten Skriptaatlas von Dees (1987, 443 und 455) ergeben die entsprechenden Auszählungen bei der 1. Pl. Impf. Ind. ebenfalls hohe Werte für -iens im Nordosten, allerdings nur 11% in der Île-de-France. Bei der 1. Pl. Kond. zeigen die Île-de-France und das Département Marne Werte von über 70% für -iens; die Ergebnisse für die übrigen Gebiete sind nicht aussagekräftig, da sie nur auf sehr geringen Belegzahlen beruhen und entsprechend von Dees mit einem Fragezeichen versehen wurden. 243 Vgl. Pope ( 2 1952, 343): „This form gained ground in the central region in the later thirteenth and fourteenth centuries, and preponderates in Parisian documents of the fourteenth century [...]“. Vgl. dazu auch Fouché ( 2 1967, 205): „[...] -iens continue à prévaloir dans les documents parisiens jusqu’au XV e siècle“. 131 <?page no="144"?> Nun stellt sich die Frage, welcher Zusammenhang zwischen den diphthongischen (oder zweisilbigen) -iens-Formen und den monophthongischen -eins-Formen besteht, die zu unterscheiden Lodge offenbar nicht für notwendig erachtet. Zunächst einmal erscheint es doch abwegig, die überregional verbreitete, prestigeträchtige Skriptaform -iens des 12. und 13. Jahrhunderts kurzerhand mit der in den Sprachatlanten des 20. Jahrhunderts dokumentierten Dialektvariante -eins [ε ̃ ] zu identifizieren, zumal es sich ja schon ausdrucksseitig um klar unterschiedene Formen handelt. Erstaunlich ist allerdings, daß auf dialektaler Ebene im 20. Jahrhundert nahezu ausschließlich -eins [ε ̃ ] vorkommt, während in den von Lodge (2004, 173f.) zusammengestellten „texts imitating low class Parisian speech“ aus dem 16. bis 18. Jahrhundert überwiegend -iens als sozialer Marker eingesetzt wird. 244 Wie läßt sich eine derart extreme diasystematische Abwertung der mittelalterlichen Prestigevariante erklären? Mir scheint, daß Lodge (2010b) selbst einen Schlüssel zum besseren Verständnis der allomorphischen Variation im Mittelalter geliefert hat, nämlich durch seine an Videsott (2010) anknüpfende Beschreibung der drei subjonctif-présent-Formen 245 metains (< MITTĀMUS ), tesmognein (< TĒSTIMŌNIĒ - MUS ) und confermain (< CŌNFIRMĒMUS ) aus der ältesten heute bekannten französischen Königsurkunde aus dem Jahr 1241. Lodges und Videsotts Einschätzung, wonach die drei Belege als „formes orales caractéristiques pour l’Île-de-France“ (Videsott 2010, 377) einzustufen seien, scheint mir hier in der Tat zuzutreffen, denn für die nicht pauschal zu rechtfertigende Annahme, daß schriftlich überlieferte Varianten in authentischer Weise dialektale Formen einer bestimmten Region widerspiegeln, spricht in diesem Fall zum einen die Tatsache, daß Formen auf -eins oder -ains - im Unterschied zu solchen auf -iens! - in den mittelalterlichen Texten nur extrem selten überliefert sind 246 ; zum anderen ist die Parallele zu der von Fondet (1995) noch im 20. Jahrhundert in der Île-de-France nachgewiesenen Imperfekt- und Konditionalendung [ε ̃ ] doch bemerkenswert. Lorentz (1886, 42) zitiert mittelalterliche Belege für -eins im Imperfekt und im Konditional aus 244 Es sei denn man zweifelt in ähnlicher Weise an der Authentizität der in diesen Texten dargestellten Sprache, wie es Ferdinand Brunot (1939, Bd. X.1, 269) tat: „Le langage des personnages qu’on met en scène manque totalement d’authenticité. C’est de l’article de Paris, fabriqué de toutes pièces avec des éléments toujours pareils, des j’ons, des j’avions, et quelques mots assez peu variés.“ - Vgl. dazu auch Wüest (1985, 238f.). 245 Videsott (2010, 377) selbst scheint die Belege allerdings als Indikativformen fehlzudeuten, wenn er schreibt, sie „semblent être calquées sur la terminaison du subjonctif présent, à la 1 ère personne du pluriel“, und sie mit der „terminaison devenue standard (-ons)“ vergleicht. 246 Dees (1980, 243) berücksichtigt die Varianten auf -eins/ -ains nicht. Bei Fouché ( 2 1967) tauchen sie nur als rekonstruierte Formen mit Asterisk auf; bei Pope ( 2 1952) finden sie keine Erwähnung. 132 <?page no="145"?> Joinvilles Histoire de Saint Louis (um 1300; vgl. Wailly (Hrsg.) 1874) sowie aus einer zeitgenössischen Abschrift einer französischen Urkunde aus dem Jahr 1281 (vgl. Quantin (Hrsg.) 1873, Nr. 708, 361-363). Obschon Lorentz die beobachtete Variation (neben -eins findet er -eiens, -eeiens und -eieins) als graphisches Phänomen herunterspielt und insbesondere „in der Sprache Joinvilles“ die Imperfekt-/ Konditionalendung -eins für „gleichwertig mit regelrechtem -iens“ hält, scheinen mir vor allem die Belege von Interesse zu sein, die sich in der besagten Urkundenabschrift finden. Es handelt sich dabei um ein sogenanntes Transsumpt 247 , durch das König Philipp III. im März 1282 einen Tauschhandel bekräftigte, welcher ein Jahr zuvor zwischen Humbert de Beaujeu, connétable royal und seigneur de Saint-Maurice- Thizouaille (im heutigen Departement Yonne), und dem Domkapitel von Auxerre (Yonne) geschlossen worden war. Die königliche Rahmenurkunde ist auf lateinisch verfaßt, nur der Wortlaut der inserierten Tauschurkunde ist auf französisch wiedergegeben. Die Datierungsformel verrät den Abfassungsort des Transsumpts („apud Sarmesias in Belsia“), das heutige Sermaises auf halbem Weg zwischen Paris und Orléans. Neben zahlreichen Imperfektformen auf -iens finden sich vier Okkurrenzen von poveins (sowie einmal teneeins), die möglicherweise erst im Kopierprozeß eingeflossen sind (falls nicht, scheinen sie vom Kopisten zumindest nicht als störend empfunden worden zu sein). Jedenfalls würden die seltenen -eins-Formen sowohl zu den von Videsott (2010) beschriebenen subjonctif-Formen auf -eins/ -ains in der ältesten volkssprachlichen Königsurkunde passen als auch zum dialektalen Profil des wahrscheinlichen Redaktionsorts Sermaises, der etwa 70 Kilometer südlich von Paris, im heutigen Département Loiret liegt, in einem Gebiet, für das auch der ALF [ε ̃ ]-Belege in der 1. Pl. Impf. Ind. / Kond. liefert. 248 Eine Herleitung der auch bei Fondet (1995, 193-195) beschriebenen [ε ̃ ]- Formen aus -iens ([ j ε ̃ ]/ [ i. ε ̃ ]) ist übrigens insofern kaum denkbar, als [ j ε] im Französischen zwar typischerweise nach Palatal (chier > cher), aber gerade nicht vor Nasalkonsonant monophthongiert wurde (chien). Ich halte es somit für sehr wahrscheinlich, daß -eins in Zentralfrankreich prinzipiell von -iens verschieden war. Neben den seltenen Belegen aus den zitierten Königsurkunden von 1241 und 1282 spricht dafür auch der Umstand, daß im ALF (Karten 518 und 100) für die 1. Pl. Präs. Subj. der Verben être und avoir außer den bereits genannten Varianten [ sw ε j ε ̃ ] und [ε j ε ̃ ] die in Analogie zu 247 In der französischen Terminologie spricht man von einem vidimus confirmatif. Vgl. Cárcel Ortí (Hrsg.) ( 2 1997, Nr. 69); Guyotjeannin/ Pycke/ Tock ( 3 2006, 286). 248 Auch Auxerre, der wahrscheinliche Redaktionsort der vidimierten Originalurkunde, liegt im modernen Dialektgebiet von -eins. Vgl. dazu Fondet (1995, 203) und die ALF- Karten 512 und 515. 133 <?page no="146"?> einer monophthongischen Form der 3. Pl. (ils seint) 249 gebildeten Verbformen je seins [ s ε ̃ ] und j’ains [ε ̃ ] belegt sind. Diese werden ausschließlich in Verbindung mit dem klitischen Subjektpronomen der 1. Sg. gebraucht und bilden somit ein typisch sprechsprachliches Muster ab 250 , das vermutlich sehr alt ist, denn der Ultimavokal der Ausgangsform (* SĬANT > sei(e)nt) muß noch vor der Nasalierung des Diphthongs im 9. Jahrhundert verstummt sein (vgl. Fouché 2 1967, 241; s.o.). [ sw ε j ε ̃ ] und [ε j ε ̃ ] kommen im ALF zwar ebenfalls mehrheitlich in Verbindung mit je/ j’ vor; sie stehen in einigen wenigen Fällen aber auch mit dem standardfranzösischen Pronomen nous, was darauf hindeutet, daß es sich bei diesen Varianten um jüngere Konkurrenzformen handelt, die möglicherweise erst im Zuge der schriftsprachlichen Etablierung von -iens als Flexiv der 1. Pl. in Zentralfrankreich Fuß gefaßt haben. Außerdem habe ich oben bereits meine Zweifel an der Auffassung dargelegt, wonach der Diphthong [ w ε] (< Ĭ / Ē vor Palatalkonsonant), der ja in der ersten Silbe von [ sw ε j ε ̃ ] vorliegt, in der Île-de-France primärdialektal verwurzelt ist. Auch unter diesem Aspekt erscheint eine tertiärdialektale Implementierung der zweisilbigen Varianten soyens und ayens ‘von oben’ nicht unwahrscheinlich. Im übrigen zeigt die bei Quantin (Hrsg.) (1873, Nr. 708) dokumentierte Form poveins, daß in den zentralfranzösischen Dialekten im 13. Jahrhundert nicht mehr zwischen lautgesetzlich entstandenem -eins und lautgesetzlich entstandenem -iens unterschieden wurde, denn ausgehend von POTĒBĀMUS wäre als regelmäßiges Ergebnis pov-(i)iens [ j ε ̃(ns) ] zu erwarten, nicht pov-eins [ε ̃(jns) ]. Fouchés ( 2 1967, 203- 205 sowie 191) oben referiertes Szenario, wonach es im subjonctif zunächst zu einer Generalisierung von -eins gekommen sei, dürfte also bereits den Endpunkt der primärdialektalen Entwicklung in Zentralfrankreich markieren, und dies auch in den Formen des Imperfekts und des Konditionals. Für die Geschichte der Variation von -eins und -iens seit dem Mittelalter ergeben sich mithin die folgenden Feststellungen: Zunächst einmal verbietet es die massive, regelmäßige Präsenz von -iens in den prestigereichen Skriptae des Nordostens, diese schriftsprachliche, durch literarische Diskurstraditionen überregional verbreitete Variante mit der vermutlich von alters her in den zentralfranzösischen Dialekten gebräuchlichen Form -eins gleichzusetzen. Die Tatsache, daß -eins in den mittelalterlichen Texten nur sehr vereinzelt nachzuweisen ist, deutet darauf hin, daß es sich dabei seit jeher um eine diatopisch beschränkte, typisch sprechsprachliche Form handelte, die den Weg in die Schriftlichkeit überhaupt nur ansatzweise geschafft hat. Aus der königlichen Pariser Skripta scheint -eins gegen Ende 249 Also seint statt seient < * SĬANT (s.o.). Vgl. auch Fouché ( 2 1967, 241) und Fondet (1995, 195f.). Vgl. ferner zu mittelalterlichen Belegen von Formen der 3. Pl. Präs. Subj. auf -eint/ -aint Fouché ( 2 1967, 206). 250 Vgl. dazu auch Hausmann (1979). 134 <?page no="147"?> des 13. Jahrhunderts wieder recht schnell verschwunden zu sein, was zeigt, daß es sich bei dieser Schreibtradition um eine anfangs noch stärker dialektal markierte Varietät handelte, die in einem weiteren Entwicklungsschritt - wie die übrigen nordfranzösischen Skriptae auch - einen weitgehenden Entregionalisierungsprozeß durchlaufen hat (vgl. dazu Kap. 4.3 und 4.4). Die im 13. Jahrhundert punktuell zu beobachtende Variation von -eins und -iens zeugt mithin von einer ungleichen Konkurrenz zweier im zeitgenössischen Varietätensystem ganz unterschiedlich verorteter Formen. Auf schriftsprachlicher Ebene hat das in Zentralfrankreich dialektal fundierte -eins offenbar nur eine marginale, vorübergehende Rolle gespielt. Wie aus den von Dees (1980, 243; 1987, 443, 455) und Lodge (2004, 89) für das 13. Jahrhundert errechneten Zahlenverhältnissen hervorgeht, hat in den Texten aus der Île-de-France zunächst die aus dem Nordosten stammende Prestigevariante -iens klar dominiert. Erst nach und nach scheint die vermutlich aus einer Kreuzung von -iens und -ons hervorgegangene heutige Standardvariante -ions sich im Pariser Schreibgebrauch durchgesetzt zu haben; als Endung des subjonctif konnte die neue Form sich vermutlich erst im 15. Jahrhundert gegenüber -iens behaupten. Man könnte nun überlegen, ob nicht das ungleiche diasystematische Verhältnis, das in den modernen Inszenierungen des patois de Paris zwischen dialektalem -iens und hochsprachlichem -ions besteht, im Grunde in ähnlicher Weise zu beurteilen ist wie die asymmetrische Variation von diatopisch beschränktem -eins und überregionalem -iens in der Pariser Skripta des 13. Jahrhunderts. Es stellt sich also die oben schon aufgeworfene Frage, wie der eigentlich paradoxe Sachverhalt erklärt werden kann, daß -iens, die prestigebesetzte, überregional verbreitete Form der nordöstlichen Skriptae des 13. Jahrhunderts in den satirischen Texten der Neuzeit als diastratrisch niedrig markierte Variante der Pariser Vorstadtdialekte fungiert. - Eine mögliche Erklärung bietet die Weiterentwicklung des nasalierten Diphthongs [ε ̃j ] zu [ε ̃ ]. Rheinfelder ( 4 1968, §206) datiert den Beginn der Monophthongierung auf das 12. Jahrhundert, nach Morin (2008, 2920) hat sich die monovokalische Aussprache aber erst im 17. Jahrhundert durchgesetzt. Jedenfalls muß die dialektale Endung [ε ̃j ] solange als grundsätzlich verschieden von [ j ε ̃ ] wahrgenommen worden sein, wie die Aussprache des fallenden Diphthongs geläufig war. Im Augenblick der Reduktion von [ε ̃j ] zu [ε ̃ ] hat der Unterschied zu [ j ε ̃ ] sich jedoch auf die Präsenz des vorvokalischen Halbkonsonanten beschränkt, so daß es zu einer Identifizierung der Varianten -iens und -eins [( j) ε ̃ ] gekommen sein könnte - und folglich zu einer Übertragung der niedrigen sprachsoziologischen Werte von [ε ̃j ] auf [ j ε ̃ ]. Die seit dem 13. Jahrhundert zu beobachtende Verdrängung der mit -iens gebildeten Verbformen aus dem Bereich der Schriftlichkeit ließe sich somit als Effekt einer im Sog von [ε ̃(j) ] erfolgten diasystematischen Abwertung von [ j ε ̃ ] interpretieren. Ein konkretes Resultat dieses Prozesses könn- 135 <?page no="148"?> ten die im ALF (518 und 100) belegten Verbformen [ sw ε j ε ̃ ] und [ε j ε ̃ ] darstellen, die ja erst später in der Île-de-France Fuß gefaßt zu haben scheinen als die einsilbigen, vermutlich autochthonen Varianten je seins und j’ains. Daß in den satirischen Texten des 16. bis 18. Jahrhunderts ausschließlich -iens, nicht das in den Sprachatlanten des 20. Jahrhunderts überwiegend dokumentierte -eins [ε ̃ ] zum Einsatz kommt (vgl. Lodge 2004, 178f.), könnte durch die größere lautliche Salienz der diphthongischen Endung erklärt werden. Allerdings nennt auch Agnel (1855, 53-83), dem keine satirischüberzeichnende Absicht zu unterstellen ist, neben -ions lediglich -iens als Variante der ländlichen Gebiete um Paris im 19. Jahrhundert. Man müßte mithin annehmen, daß die Kenntnis der diphthongischen Standardendung -ions sich in den Dialekten der Île-de-France zu Gunsten von diphthongischem -iens ausgewirkt hat, nämlich durch eine tertiärdialektale ‘Rückkreuzung’ des französischen -ions (< -iens X -ons; s.o.) mit der autochthonen Variante -eins (also -iens < -eins X -ions). Die Hypothese, daß [ j ε ̃ ] in nachmittelalterlicher Zeit als eine Art Schibboleth des patois de Paris generalisiert worden sein könnte, läßt sich im übrigen durch die Existenz von Formen der 3. Pl. Präs. Ind. auf -ient (vgl. Lodge 2004, 70 und 177f.; s.o.) erhärten, denn in diesem morphologischen Kontext ist der Halbkonsonant nicht lautgesetzlich erklärbar. Nichtsdestoweniger bleibt der Widerspruch unauflöslich, der zwischen diesem Szenario und dem eindeutigen Befund der modernen Sprachatlanten besteht, die als dialektale Endung sowohl der 1. als auch der 3. Pl. Präs. Ind. bis auf wenige Ausnahmen den Monophthong [ε ̃ ] verzeichnen. Angesichts dieses eher diffusen Bilds möchte ich es mir nicht anmaßen, hier für das schwierige Problem der allomorphischen Variation im Bereich der Verbalflexive eine definitive Lösung anzubieten. Um das sich wandelnde diasystematische Verhältnis der während mehrerer Jahrhunderte im Pariser Kommunikationsraum konkurrierenden Endungen -eins, -iens und -ions adäquat zu beschreiben, bedarf es umfassender und detaillierter Studien, die eine Zusammenführung moderner Dialekt- und mittelalterlicher Skriptadaten ermöglichen, wobei auch überregionale Standardsierungstrends zu berücksichtigen sind, durch die die Variation in den spätmittelalterlichen Texten der Île-de-France vermutlich entscheidend geprägt wurde. Es liegt jedenfalls auf der Hand, daß Lodges (2004) vorschnelle standardisierungsgeschichtliche Interpretation der allomorphischen Variation im Pariser Raum der Komplexität der zu berücksichtigenden dialektologischen und skriptologischen Zusammenhänge nicht gerecht wird. Dennoch ist prinzipiell der von Lodge vertretenen Auffassung zuzustimmen, wonach die variationelle Vielschichtigkeit der hier unter 4.1.1 bis 4.1.3 diskutierten lautlichen und morphologischen Phänomene ganz eindeutige Hinweise darauf gibt, daß das Standardfranzösische historisch keineswegs mit einer autochthonen Varietät der Île-de-France identifiziert 136 <?page no="149"?> werden kann. Dialektologisch ist eindeutig nachzuweisen, daß weder [ wa ] (für <oi>) noch [ o ] (für <eau>) noch -ions in Zentralfrankreich primärdialektal verwurzelt sind, so daß nach alternativen Erklärungen für die Konventionalisierung ebendieser Merkmalsausprägungen im Standardfranzösischen gesucht werden muß. Schon Marie-Rose Simoni-Aurembou hat die wichtigen sprachhistoriographischen Implikationen der von ihr initiierten dialectologie d’Île-de-France sehr deutlich gesehen und mit folgenden Worten auf den Punkt gebracht: A partir de ces précieux restes que nous avons découverts dans des enquêtes qui relèvent de l’archéologie, nous souhaitons avoir fait apparaître un paysage français un peu différent de celui que l’on croit connaître. Il est nécessaire de bien distinguer Paris de ce qui est maintenant la banlieue, et qui, très longtemps, a été tout simplement la campagne, une campagne qui ne vivait pas la vie de Paris et dont les habitants ne parlaient pas comme les Parisiens. Et il ne faut pas oublier que ce n’est qu’à la fin du Moyen Age que cette région parisienne acquiert le pouvoir politique et le prestige culturel qu’elle n’abandonnera plus. Il est fort probable que vers le 12 ème , 13 ème s., c’est-àdire à une étape importante de la formation de la langue, elle a été ouverte aux influences de l’ouest, de l’est, et que peut-être elle a reçu plus qu’elle n’a donné. ([Simoni-]Aurembou 1976, 273) 251 4.2 Französisch als schriftsprachliche Koine? Wenn nun feststeht, daß das Französische nicht, wie traditionell angenommen, auf einen autochthonen Dialekt der Île-de-France zurückgeführt werden kann, so stellt sich die Frage nach den Umständen, unter denen die 251 Vgl. zu einem ähnlichen Fazit auch schon Haudricourt (1948, 218) (s.o.). - Interessante Anschlußflächen der von Marie-Rose Simoni-Aurembou angestoßenen dialektologischen Erforschung der Île-de-France ergeben sich auch mit Blick auf die Frankokanadistik. So zeigt Simoni-Aurembou (1991), daß eine Reihe von sprachlichen Erscheinungen des kanadischen Französisch, die in der Forschung in der Regel pauschal auf ‘westfranzösischen’ (oder konkreter: normandischen) Einfluß zurückgeführt werden (wie beispielsweise die betonte Verbendung -ont der 3. Pl. Präs. Ind.), dialektologisch ebenso in der Île-de-France nachgewiesen werden können. Damit ergibt sich endlich die Möglichkeit, die linguistischen Befunde mit dem historischen Umstand zur Dekkung zu bringen, daß die französische Besiedlung Nordamerikas vor allem von der Île-de-France und von Paris ausging. Mit Bezug auf das sog. francien zieht Simoni- Aurembou (1991, 73f.) folgenden Schluß: „Si l’on considère que l’Ile-de-France est le lieu d’où est sortie tout armée la langue française littéraire, il n’y faut en effet chercher aucun trait dialectal. Et l’oubli systématique du domaine d’oïl central dans la genèse des parlers canadiens français n’est que l’une des conséquences de cette croyace en l’existence du francien.“ Vgl. zur systematischen Ausblendung der Île-de-France aus dem dialektologischen Interesse auch Simoni-Aurembou (1999, 553-563). 137 <?page no="150"?> den Standard kennzeichnende Mischung von sprachlichen Merkmalsausprägungen unterschiedlicher topischer Herkunft zustandegekommen ist. [Simoni-]Aurembou (1976, 273), die die Indizien für die sprachgeographische Unvereinbarkeit des Französischen mit dem primärdialektalen Profil der Île-de-France in akribischer Feldforschung zusammengetragen hat, scheint die Herausbildung der Schriftsprache („la formation de la langue“; s.o.) zwar nicht gänzlich von Paris ablösen zu wollen, hält es aber für wahrscheinlich, daß die Stadt bis zum Ende des Mittelalters noch ‘offen’ für sprachliche Einflüsse aus anderen Regionen war, die in der Folge in den Standard eingegangen sind. Die Frage, ob diese Einflüsse dialektal-sprechsprachlicher oder vielmehr schriftsprachlicher Natur waren, stellt Simoni- Aurembou allerdings nicht. 252 Dagegen argumentiert Fondet (1995) unter Berufung auf Cerquiglini (1991) dezidiert für eine schriftsprachliche Genese des Standards. Da kein autochthon verwurzelter Dialekt als Basis für das Französische identifiziert werden könne, müsse es sich dabei um eine von der sprechsprachlichen Ebene unabhängige Ausgleichsvarietät gehandelt haben, eine „langue interrégionale des clercs“ (s.o., Kap. 4.1.3); diese sei bereits ab dem 9. Jahrhundert in den großen Abteien Nordfrankreichs elaboriert worden und im 12. Jahrhundert vor allem in England zu literarischer Blüte gelangt, also noch lange bevor Paris im Spätmittelalter zum politischkulturellen Zentrum des Königreichs wurde. In der Tat war Cerquiglini (1991) einer der ersten Sprach(wissenschafts)historiker in Frankreich 253 , die sich vehement gegen die Annahme eines autochthonen Île-de-France-Dialekts als monotopischer Basis des späteren Standards aussprachen und die sich bemühten, die ideologischen Hintergründe dieser nationalphilologischen Projektion des 19. Jahrhunderts aufzuzeigen. Denn die ‘Erfindung des Franzischen’ (Cerquiglini 2007, 127) hat als Paradefall einer teleologisch verzerrten Sprachgeschichtsschreibung zu gelten, die den Glanz der zum republikanischen Symbol erhobenen langue une et indivisible in identitätsstiftender Absicht auf deren Anfänge übertrug. Demgegenüber plädiert Cerquiglini (1991, 112) in schriftlichkeitstheoretischer Perspektive für die Annahme einer ‘transdialektalen Schreibtradition’ als Urform des französischen Standards. Deren Wurzeln reichten zurück bis in die karolingische Epoche, die Entstehungszeit der ältesten volkssprachlichen Texte (Straßburger Eide, 842; Eulaliasequenz, ca. 880). Da die Herausbildung einer vernakulären Literaturtradition im Mittelalter nicht losgelöst von der universellen lateinischen Schriftlichkeit gedacht werden könne, sei davon auszugehen, daß die Verschriftlichung der 252 Mit Bezug auf die phonetische Variante [ o ] spricht [Simoni-]Aurembou (1973b, 390) allerdings von einer „prononciation savante“ (s.o.). 253 Vgl. auch schon Chaurand (1983) und Bergounioux (1989). 138 <?page no="151"?> bis dahin nur gesprochenen romanischen Idiome einen am überräumlichen und überzeitlichen Modell des Lateins orientierten Prozeß der distanzsprachlichen ‘Dekontextualisierung’ und normativen ‘Stabilisierung’ 254 bewirkte. Als Ergebnis des literarischen Ausbaus der Volkssprache sei mithin kein bloßes Abbild eines regional begrenzten, gesprochenen Idioms zu erwarten, sondern eine dem Latein quasi ebenbürtige Kunstvarietät mit weiträumigem, dauerhaftem Geltungsanspruch („La mise en écrit n’enregistre pas les idiomes, elle les immortalise.“; Cerquiglini 2007, 170). Diese Analogie sei auch insofern plausibel, als die mittelalterlichen Schreiber als Agenten des Ausbauprozesses zweisprachig und gleichermaßen in der lateinischen wie in der volkssprachlichen Schriftkultur geschult waren. Daher sei kaum davon auszugehen, daß für die im literarischen Bereich spätestens im 12. Jahrhundert voll etablierte vernakuläre Schriftlichkeit grundsätzlich andere konzeptionelle Bedingungen gegolten hätten als für die stets parallel und komplementär dazu gepflegte lateinische Tradition. Vor diesem kulturgeschichtlichen Hintergrund werde verständlich, daß die literarischen Skriptae des 12. Jahrhunderts bereits zur idealen Norm eines „ancien français commun“ konvergierten, als regionale Spielarten einer von der primärdialektalen Ebene prinzipiell abgehobenen „langue des lettres et des lettrés“, welche von vornherein als topisch möglichst unspezifische Varietät mit maximaler kommunikativer Reichweite („à vocation commune“; p. 114) zu distanzsprachlichen Diskurszwecken elaboriert worden sei. La genèse d’un usage écrit, traditionnel et interrégional, n’est [...] pas la promotion politique d’un dialecte particulier, le francien. Elle est une pratique, qui tend à constituer un françois, langue des lettres et des lettrés. [...] elle est issue du milieu des clercs, désireux de fabriquer des textes en français, et souhaitant pour cela mettre au point une langue qui, avec la même dignité que le latin, voire une pérennité et une universalité comparables, puisse dire le courage du héros, l’amour de Dieu et des femmes. Le français national, notre français, ne provient donc pas d’un terroir, mais de la littérature. De cette scripta essentiellement poétique, [...] interrégionale d’oïl dans les textes littéraires [...] qu’élaborent les clercs, d’expérience en expérience, jusqu’à ce qu’elle se fige en ancien français commun. Le français résulte de ce travail séculaire d’écriture, de cette édification cléricale. (Cerquiglini 1991, 118f.) 255 254 Cerquiglini (2007, 212) spricht von einer „décontextualisation stabilisante“, womit die bei Koch/ Oesterreicher (²2011, 136) angesprochenen Prozesse des intensiven Ausbaus zur strukturellen ‘Einrichtung’ eines Idioms für distanzsprachliche Diskurszwecke gemeint sein dürften. 255 In seiner neuesten Monographie argumentiert Cerquiglini (2007, 165-210) ganz ähnlich, wenn er auch seine ursprüngliche These von der literarischen Schriftsprachen- 139 <?page no="152"?> Zumal als auch außerhalb des domaine d’oïl rezipierte, ja sogar produzierte Sprache der narrativen Großgattungen 256 habe das „français écrit commun“ 257 im Mittelalter gänzlich unabhängig von einer spezifischen dialektalen Basis funktioniert, als gewissermaßen ortlose Kunstsprache, die für unterschiedliche phonische Realisierungen offen gewesen sei („un français [...] sans attache particulière consciente, mais à l’intention interdialectale, bon à toute bouche qui voulût bien le prononcer“; Cerquiglini 2007, 212). Überhaupt ist die Frage nach etwaigen sprechsprachlichen Wurzeln des späteren Standards im Kontinuum der nordgalloromanischen Idiome für Cerquiglini obsolet. Einen geographischen Raum definieren zu wollen, von dem aus eine autochthone Sprachform sich in einem ‘horizontalen’ Verdrängungsprozeß auf Kosten ihrer alloglotten Konkurrenten in den übrigen Regionen ausgebreitet habe 258 , sei im Fall des Französischen prinzipiell unangemessen. Vielmehr versteht Cerquiglini die Herausbildung des französischen Standards als Prozeß der funktionalen ‘Vertikalisierung’ des volkssprachlichen Varietätenraums. An dessen Spitze stehe im Ergebnis kein zur Literatursprache avancierter Primärdialekt, sondern eine genuin schriftsprachliche Referenzvarietät, die, dem Lateinischen nacheifernd, in immer zahlreichere Diskursdomänen der kommunikativen Distanz vordringen konnte. C’est au latin que le vernaculaire, graduellement et non sans difficultés, arrache les armes [...]. L’antagonisme est une émulation; les langues maternelles entendent moins réduire qu’imiter cet idiome paternel, maître des savoirs et de l’écrit, expression transnationale d’une culture. À cet égard, observer qu’au XII e siècle le français fut une sorte de langue européenne de l’épopée importe sans doute davantage que de débattre du territoire qu’occupait le francien de ce temps. Expansion géographique ou extension fonctionnelle? Dans son émergence, le français repousse moins les parlers dialectaux qu’il ne s’arroge une latinité et s’orne de ses attributs. [...] Il s’agit moins de conquérir la province que de s’emparer d’un prestige, d’une étergenese seit der Karolingerzeit durch den Aspekt des weiteren, administrativen Ausbaus des französischen Protostandards in der königlichen Verwaltungsschriftlichkeit ab dem 13. Jahrhundert ergänzt: „[...] la genèse de la langue nationale ne peut se réduire à l’émergence hégémonique d’un parler central. Les choses sont plus complexes; elles passent par l’élaboration littéraire, puis administrative, d’une langue commune écrite.“ (Cerquiglini 2007, 211). Vgl. dazu auch Grübl (2009) und weiter unten. 256 Cerquiglini (2007, 167; s.u.) nennt explizit nur das Epos. Bekanntlich wurde aber auch der Höfische Roman außerhalb Nordfrankreichs rezipiert, und es ist sicher nicht übertrieben, insbesondere dem Werk Chrétiens den Status von mittelalterlicher Weltliteratur zuzusprechen. 257 Im statusbezogenen Sinn einer ‘Koine de iure’ nach Koch/ Oesterreicher (2008, 2582). Vgl. auch Gsell (1995). 258 Vgl. zur ‘Ölfleckmetapher’ Cerquiglini (1991, 116). 140 <?page no="153"?> nité et de l’écrit. Car c’est bien de ce dernier qu’il est question. (Cerquiglini 2007, 167f.) Cerquiglini geht also von einer Koine unseres Typs (2a’) aus (vgl. Kap. 2.2.3), die, wie das Hochdeutsche, von vornherein im Bereich der Schriftlichkeit entstanden sei. Entsprechend blendet er die Frage nach einer möglichen sprachgeographischen Rückbindung einzelner in den Standard eingegangener Merkmale aus und betont vielmehr die aus dem Verschriftlichungsprozeß resultierende topische Negativität des Französischen: es handle sich dabei um eine Art kleinsten gemeinsamen Nenner 259 der nordgalloromanischen Idiome, um eine Sprachform, deren kaum ausgeprägtes dialektales Profil geradezu materieller Ausdruck ihrer kommunikativen Funktionalität als überregionaler Distanzvarietät gewesen sei. So gelang Cerquiglini ein überzeugender Gegenentwurf zu der herkömmlichen Erklärung, wonach die geringe topische Salienz des französischen Standards ein ureigenes Charakteristikum des ‘Franzischen’ gewesen sei, das etwa Metzke (1880, 95) 260 , Vossler ( 2 1929, 27) 261 oder Wartburg (1934, 78f.) als natürlichen Ausgleichsdialekt im Zentrum Nordfrankreichs ansahen und - in Ermangelung früher handschriftlicher Belege - vor allem negativ, in Abgrenzung zu den peripheren oïl-Idiomen definierten. Cerquiglini (2007, 182-192) stellt demgegenüber grundsätzlich die Existenz eines so auffällig ‘farblosen’ Vernakulars in Frage („[u]n dialecte résolument non dialectal“, p. 182), das nach traditioneller Lehrmeinung überdies fast in Reinform zum Standard geworden sein soll. Ein weiteres Argument, auf das Cerquiglini seine Dekonstruktion 262 der francien-These stützt, ist der seit jeher als paradox geltende Umstand 263 , daß aus der Île-de-France als vermeintlichem Entstehungsraum der altfranzösischen Literatursprache 264 erst mit deutlicher Verspätung gegenüber anderen Regionen volkssprachliche Manuskripte überliefert sind. 265 Die großen Werke der höfischen Literatur entstanden im 12. Jahrhundert bekanntlich in den westlichen, vom Haus Anjou-Plantagenêt kontrollierten Gebieten, vor allem in England, sowie in 259 Ich übernehme hier den Begriff, mit dem Delbouille (1970, 197) das mittelalterliche Französisch verglich, wenn auch im Rahmen einer anders akzentuierten Skriptatheorie, die nämlich in der Ähnlichkeit der mittelalterlichen Schriftsprachen vor allem die Bewahrung der gemeinsamen lateinischen Basis sah. Vgl. Kap. 3.2. 260 Vgl. dazu auch die Rezension von Koschwitz (1882, 91). 261 Vgl. dazu meine Anm. 136. 262 Vgl. auch Völker (2011, 99). 263 Vgl. etwa Suchier [1888] ( 2 1904-1906, 727) oder Vossler ( 2 1929, 27); vgl. Kap. 3.1. 264 Vgl. vor allem Hilty (1968; 1973; 1993). Wir erinnern uns, daß schon Gaston Paris die These vertrat, daß die Île-de-France im 9. Jahrhundert ein Zentrum der mündlichen Dichtung gewesen sei. Vgl. Kap. 3.1. 265 Vgl. dazu vor allem Pfister (1973). 141 <?page no="154"?> der Champagne. 266 Cerquiglini geht sogar so weit zu bezweifeln, daß in der mittelalterlichen Île-de-France überhaupt ein Primärdialekt verankert gewesen sei, der sich klar von den Idiomen der umliegenden Gebiete unterschieden habe: [...] l’Ile-de-France ne se distinguait par aucun dialecte. Jusqu’aux portes, et sans doute dans les rues de la modeste bourgade parisienne, on devait parler picard, normand ou orléanais. (Cerquiglini 1991, 118) In Wahrheit sei das ‘Franzische’ nur die Imagination eines autochthonen Unterbaus für die französische Schriftsprache. Davon zeuge schon das notorische Unvermögen der historischen Dialektologie, das Sprachgebiet des francien im Mittelalter überhaupt zu definieren. 267 [...] mettre en doute la réalité du francien est une promenade de santé [...]. Curieux dialecte, en effet, que l’on ne s’accorde pas même à définir. L’extension géographique qu’on lui prête [...] est des plus flottantes. [...] Le domaine du francien est un reste, le territoire sans unité géographique ni politique que définit sa seule non-appartenance au normand, au picard, au champenois, au berrichon. [...] Peu importe, d’ailleurs, son extension; le francien [...] est une inscription symbolique. Il n’est que l’espace, quel qu’il soit, inséré dans la fragmentation dialectale et qui échappe à cette fragmentation, le non-dialectal trouant la carte des parlers, le frayage de ce qui l’excède. Le francien n’est rien d’autre que l’irruption hétérogène de la langue au sein des dialectes, de la norme s’imposant à la disparate. (Cerquiglini 2007, 182f.) So plausibel Cerquiglinis stilistisch brillant geführte Argumentation auch grundsätzlich erscheint, sie läßt eine entscheidende Frage offen: Wie nämlich ist es zu erklären, daß ein genuin literarisches, mutmaßlich schon seit der Karolingerzeit elaboriertes „français écrit commun“, das uns allerdings vor dem späteren 13. Jahrhundert gar nicht in Reinform gegenübertritt, sondern höchstens als ideale Norm aus den regionalsprachlich gefärbten Skriptae abstrahiert werden kann, - wie ist zu erklären, daß diese ‘ortlose’ Kunstsprache, die ja ursprünglich gar nicht mit der Île-de-France in Verbin- 266 Vgl. Lejeune (1941, 86f.); Lodge (2004, 82). Zur Problematik der häufig zitierten Passagen etwa des Conon de Béthune oder des Garnier de Pont-Sainte-Maxence, die traditionell als Belege für die Vorbildstellung einer bereits im späten 12. Jahrhundert mit der Île-de-France assoziierten literarischen Norm angesehen werden, s.u., Kap. 4.3. Vgl. auch Cerquiglini (2007, 173-182). 267 Wir erinnern uns, daß bereits Fallot (1839) die Île-de-France als dialektal inhomogene Übergangszone ansah (die er letztlich dem Burgundischen zuschlug). Auch Lücking (1877, 215f.) hielt die Idee einer zentralfranzösischen Übergangszone mit einer intermediären Konfiguration von Merkmalsausprägungen, die jeweils auch in einem der benachbarten Areale vorkamen, für plausibel (vgl. Kap. 3.1). Vgl. zu Cerquiglinis francien-Kritik im einzelnen Cerquiglini (1991, 114-124) und Cerquiglini (2007, 127- 163). 142 <?page no="155"?> dung gestanden haben soll, sich ab Mitte des 13. Jahrhunderts nach und nach in Form der (zunächst noch zaghaft praktizierten) königlichen Verwaltungssprache konkretisiert 268 , die wohl zu Recht als unmittelbarer, institutionell identifizierbarer Vorläufer des späteren Standardfranzösischen gilt? Denn auch wenn nichts prinzipiell gegen die Annahme spricht, daß der Ausbau der königlichen Skripta unter dem Einfluß einer präexistenten literarischen Norm erfolgte, so muß doch erklärt werden, weshalb gerade die königlichen Schreiber sich von vornherein an diesem überregionalen Sprachmodell orientiert haben sollen und keine stärker dialektal profilierte Skripta entwickelten, wie dies offenbar in den übrigen Regionen geschah, die sich erst später den neuartigen Schreibgepflogenheiten der königlichen Institutionen anpaßten. Des weiteren stellt sich die Frage, inwieweit es überhaupt legitim ist, angesichts der doch beträchtlichen Unterschiede, die zwischen den mittelalterlichen Regionalskriptae hinsichtlich einzelner Merkmale bestehen konnten, bereits für die Zeit vor dem Ende des 13. Jahrhundert von der Existenz einer schriftsprachlichen Koine in Nordfrankreich auszugehen. Schließlich wurde durch die Arbeiten von Dees (1980; 1985; 1987) und von Pfister (1993) nicht nur die Remaclesche These eines francien-basierten „fonds commun“ (Gossen 1956, 101) in den Regionalskriptae ins Wanken gebracht. Der darin geführte Nachweis ausgeprägter, durchaus auf den Einfluß von dialektalem ‘Substrat’ 269 zurückzuführender Unterschiede zwischen den regionalen Schreibtraditionen stellt auch grundsätzlich die Existenz - oder zumindest den Grad der Wirksamkeit - einer ‘gesamtfranzösischen’, überregionalen Norm vor dem Ende des 13. Jahrhunderts in Frage, sei diese nun francien-basiert wie in der klassischen Skriptatheorie oder, wie von Cerquiglini (1991; 2007) postuliert, von ‘überräumlicher’, distanzsprachlicher Konzeption. 270 Auch darf die politi- 268 Vgl. zum Gebrauch des Französischen durch die königlichen Institutionen weiter unten, Kap. 4.3. 269 Ich gebrauche den Terminus hier nicht im Sinn einer untergegangenen ‘Sprache der Eroberten’. 270 Vgl. dazu Pfister (1993, 39f.): „Vers 1200, [...] la France du Nord connaît une bipartition assez nette qui s’était annoncée au IX e siècle déjà. Linguistiquement la France septentrionale est divisée en une partie orientale (Champagne, Picardie, Hainaut, Wallonie, Lorraine) qui s’oppose à une partie occidentale (France de l’Ouest, Centre et partie normande et anglo-normande).“ - Vgl. zur Arbeit der von Antonij Dees begründeten ‘Amsterdamer Schule’ Völker (2003, 57-66). Ein wichtiger Einwand, den Völker (2003, 60, Anm. 260) gegen Dees’ grundsätzliche Ablehnung des Remacleschen Skriptabegriffs und des dafür wesentlichen Konzepts einer gesamtfranzösischen (bei Remacle francien-basierten) Koine vorbringt, bezieht sich darauf, daß Dees (1980) zur Erstellung seines auf der Auswertung von ca. 3300 Urkunden aus dem 13. Jahrhundert basierenden Atlas prinzipiell nur solche Stücke heranzog, deren Herstellung (aufgrund der von Carolus-Barré (1964) beschriebenen Methodik) möglichst kleinräumig lokalisierbar war. Diese methodische Vorentscheidung ist zwar hinsicht- 143 <?page no="156"?> sche Realität der Nordgalloromania im Mittelalter nicht unberücksichtigt bleiben. Denn angesichts der Tatsache, daß erst durch die Regentschaft Philipps II. Augusts (1180-1223) die territorialen und administrativen Voraussetzungen für die sukzessive Zentralisierung des Königreichs geschaffen wurden 271 (Belgien, Lothringen und Burgund blieben freilich noch lange Zeit politisch von Frankreich unabhängig), drängt sich die Frage auf, inwieweit vor dem 13. Jahrhundert überhaupt die außersprachlichen Voraussetzungen für die Herausbildung einer ‘protofranzösischen’ Norm gegeben waren. 4.3 Französisch als sprechsprachliche Koine? Genau an diesen schwer zu lösenden Fragen setzt Lodges (2004) Theorie vom sprechsprachlichen Ursprung der französischen Standardvarietät in der mittelalterlichen Stadt Paris an. Als „data and chronology problem“ bezeichnet Lodge den Umstand, daß uns kaum Originalmanuskripte aus der Zeit vor 1200 überliefert sind, so daß schlichtweg die empirische Grundlage fehle, um auf die frühzeitige Etablierung einer überregionalen Schriftvarietät in Nordfrankreich schließen zu können. Zudem hätten die Untersuchungen von Pfister (1993) und Dees (1980; 1985; 1987) keinerlei Indizien für die Existenz einer überregionalen Norm vor dem Ende des 13. Jahrhunderts erbracht und damit Remacles Skriptatheorie eindeutig widerlegt. Schon prinzipiell sei, so Lodge, die Annahme nicht plausibel, daß sich im Mittelalter zunächst eine stabile ‘gesamtfranzösische’ Norm herausgebildet habe, aus der erst sekundär regionale Schreibtraditionen entstanden. Zu erwarten sei vielmehr eine Entwicklung in entgegengesetzter Richtung, also von der lokalen über die regionale hin zur überregionalen Ebene (vgl. Lodge 2004, 74f.; 2010b, 32f.). lich der Zielsetzung, die räumliche Variation in den Urkundensprachen kartographisch darzustellen, folgerichtig und unabdingbar; jedoch wurde dabei der varietätenlinguistisch fundamentale Zusammenhang ausgeblendet, daß in volkssprachlichen Urkunden mit räumlich begrenztem Kommunikationsradius in der Regel topisch stärker markierte Skriptaformen zum Einsatz kamen, während, wie Völker in seiner Dissertation gezeigt hat, in Texten mit überregionalem Geltungsanspruch vermehrt topisch neutrale Sprachformen verwendet wurden. Völker betont in diesem Zusammenhang völlig zu Recht, daß „der Wert der schwerer lokalisierbaren Urkunden für die sprachhistorische Gesamtperspektive gar nicht hoch genug angesetzt werden kann. Denn die betreffenden Dokumente sind [...] von ihrem Wesen her Quellen für überregional verwendete Sprache. Damit stellen sie für die Sprachgeschichtsschreibung Dokumente von einer eigenständigen und unersetzlichen Bedeutung dar, die mit den Arbeiten von Dees nicht erfaßt wird.“ 271 Vgl. dazu Monfrin (1972a, 53f.), Bautier (1990b) und weiter unten, Kap. 4.3. Vgl. zur Bedeutung der Regentschaft Philipps II. umfassend Bautier (Hrsg.) (1982). 144 <?page no="157"?> Ein wichtiges Argument gegen die Annahme einer genuin distanzsprachlichen Koine à la Cerquiglini (1991) ergebe sich ferner aus der Unlösbarkeit der Frage, wie eine solche literarische Schriftnorm zu einer Varietät werden konnte, die - so Lodges Überzeugung - am Ende des Mittelalters bereits am Königshof und von der Pariser Stadtbevölkerung gesprochen wurde. Diese von Lodge (2004, 75; 2010b, 33) als „‘implementation problem’“ bezeichnete Aporie löse sich jedoch auf, wenn man von einer sprechsprachlichen Varietätenmischung am Ursprung des Standardfranzösischen ausgehe. Die Implementierung sei in diesem Fall nicht ‘von oben’, aus der Schriftlichkeit, sondern ‘von unten’, aus dem Bereich der Mündlichkeit erfolgt. Im Lauf des 12. Jahrhunderts sei nämlich aus einem Prozeß der zuzugsbedingten Dialektmischung, zu dem die demographische Explosion von Paris führte, eine neuartige Stadtsprache hervorgegangen, die - so suggeriert Lodge - in der Folge als sozial hoch bewertete, ‘akrolektale’ Varietät am Kapetingerhof gebraucht und von den zeitgenössischen Dichtern aus anderen Gegenden Nordfrankreichs imitiert worden sei: If we move forward, temporarily, to the end of the Middle Ages, it is clear that Parisian speech was indeed, by then, a mixed dialect (a koine) containing forms drawn from several regions of northern France. How did a supraregional written koine believed to have emerged before the twelfth century come to be accepted as the spoken language of most Parisians by the end of the Middle Ages? An acrolectal variety was almost certainly cultivated in the royal court as early as the twelfth century, setting the ‘courtois’ apart from non-noble elements in society. It is more or less certain that this acrolect exerted an influence on the forms used by the literary entertainers of the day: the much-quoted passage from Conon de Béthune, in which the poet apologises for showing traces of a dialect not approved of by the royal circle, is clear testimony to this fairly obvious fact [...]. By the same token, however, it is most doubtful that strong influence was exerted in the opposite direction, that is, that members of the royal court were moved to imitate in their speech a set of linguistic forms presented to them by literary entertainers. Writing need not remain a mere record, and can influence the community of speech [...], but it is doubtful whether, given levels of literacy in the thirteenth or fourteenth centuries, the prestige of vernacular written forms, and even familiarity with them, were sufficient for this to happen on a significant scale, even among elites. (Lodge 2010b, 33) 272 272 Lodge (vgl. auch 2004, 75f.) leitet den höfischen Akrolekt, auf dessen Existenz er aus dem Zeugnis des Conon de Béthune schließt, hier zwar nicht explizit aus der Pariser Stadtsprache des 12. Jahrhunderts ab. Wenn er aber annimmt, daß die bei Conon angesprochene höfische Modellvarietät keinesfalls auf eine Imitation literarischer Sprache durch die königliche Gesellschaft zurückgeführt werden könne („it is most doubtful that [...] members of the royal court were moved to imitate in their speech a set of linguistic forms presented to them by literary entertaines“, s.o.), und zugleich 145 <?page no="158"?> Zweifelsohne hat Lodge recht anzunehmen, daß die enorme demographische Entwicklung, die Paris im 12. und 13. Jahrhundert erlebte, nicht ohne Folgen für die Struktur der Varietäten geblieben sein kann, die im städtischen Kommunikationsraum in Kontakt kamen. Aus historischen Untersuchungen ist bekannt, daß Paris schon unter der Regentschaft Ludwigs VI. (1108-1137) einen geradezu spektakulären Aufschwung erlebte, der von Ludwig VII. (1137-1180) noch weiter gefördert wurde 273 und der unter Philipp II. (1180-1223), dem nicht umsonst sein Biograph Rigord den Beinamen Augustus verlieh, seinen wirtschaftlichen, kulturellen und städtebaulichen Höhepunkt erreichte. 274 [...] quand Abélard arrive à Paris [aux environs de 1100], la situation est encore fort peu brillante: Paris est une ville de très médiocre importance, où le roi ne réside guère, où les bâtiments sont encore ceux de l’époque mérovingienne ou au mieux carolingienne, qui tombent plus ou moins de vétusté [...]. C’est précisément la génération à laquelle appartient Abélard, ainsi que son exact contemporain Louis VI (né aussi, semble-t-il, en 1078), qui va voir brusquement, grâce à la fois à l’exceptionnelle personnalité de ce roi et à l’essor économique général de la France du Nord, le développement de la ville sur tous les plans, mieux même son explosion au point qu’il serait légitime de tenir Paris pour une ville neuve du XII e siècle. (Bautier 1992a, [23]) Aufgrund von Schätzungen kann angenommen werden, daß die Île-de-la- Cité um 1100 nicht mehr als 2.500 bis 3.000 Bewohner zählte. Für die Zeit Philipps II., also für das späte 12. und frühe 13. Jahrhundert, erwägt Bautier (1992b, [42]) bereits zehnmal so viele, für das Ende des 13. Jahrhunderts weit über 100.000 Menschen, die den historischen Kern auf der Seine- Insel und die neubesiedelten Stadtteile auf dem rechten und linken Flußufer bewohnten. Lodge (2004, 107) und Baldwin (2010, 30) gehen für das postuliert, daß die neue, aus der Pariser Dialektmischung hervorgegangene Sprechvarietät ‘die Basis für die anschließende Elaboration und Standardisierung bot’ (Lodge 2004, 76), dann scheint er doch von einem wesentlichen Zusammenhang zwischen den Entwicklungen in der Pariser Stadtsprache und dem am Kapetingerhof gepflegten ‘Akrolekt’ auszugehen. Andernfalls müßte man sich fragen, weshalb Lodge die Existenz eines höfisch-literarischen Traditionsstrangs, worauf die Passage bei Conon schließen läßt, zwar anerkennt, diesen aber nicht weiter in seiner Standardisierungsgeschichte berücksichtigt. Bei Lodge (1997, 136f.) heißt es unter Verweis auf Conon im übrigen noch eindeutig: „[...] il est clair que c’est dans la seconde moitié du XII e siècle que la variété du français parlée à la cour du roi à Paris apparut comme le plus prestigieux des vernaculaires parlés dans l’aire du gallo-roman du Nord.“ 273 Der wichtigste Berater Ludwigs VII. war Suger, der Abt von Saint-Denis. 274 Vgl. zur Geschichte von Paris im 12. und 13. Jahrhundert Bautier (1978; 1982; 1992a; 1992b), Baldwin (2010) und Sohn (2012). Vgl. zu den umfassenden baulichen und infrastrukturellen Maßnahmen, die insbesondere Philipp II. der Stadt angedeihen ließ, vor allem Bautier (1992b) und Baldwin (2010, 17-30). 146 <?page no="159"?> späte 13. Jahrhundert sogar von ca. 200.000 Einwohnern aus. 275 Fest steht, daß Paris unter Philipp II. ein bedeutendes regionales Handelszentrum, eine der größten zeitgenössischen Städte überhaupt und, als international überragendes Zentrum der Wissenschaft 276 , Anziehungspunkt für Gelehrte und Studenten aus ganz Europa war. Zudem konnte Paris am Ende des 12. Jahrhunderts als ‘wahre Hauptstadt’ des französischen Königreichs gelten (vgl. Bautier 1992b, [25]), das durch die glückliche Politik Philipps II. endlich die territoriale Festigung erreicht hatte, derer die frühen Kapetinger notorisch entbehrten. 277 Als Sitz der expandierenden staatlichen Institutionen, und insbesondere der chancellerie 278 , war die Stadt zum unangefochtenen administrativen Zentrum des Landes geworden. [...] si l’on veut marquer en quelques mots la place qu’occupe Philippe Auguste dans notre histoire nationale, on peut dire qu’au début du règne, l’avenir du petit domaine du roi de l’Ile-de-France, enserré entre ceux de voisins plus puissants et en expansion, était loin d’être assuré. [...] A sa mort, il y a vraiment et définitivement un roi de France, qui se fait obéir de tous ses feudataires, et la Couronne - c’est à dire l’Etat - n’a plus de contrepoids dans l’espace français. [...] D’une principauté féodale, un peu plus éminente que les autres parce que son chef bénéficiait du titre royal, Philippe Auguste avait fait un Etat, la France, et il lui avait définitivement donné une capitale, Paris. (Bautier 1982, 26f.) Lodge (2004, 39-48) argumentiert zutreffend, daß die Bevölkerungsexplosion, die Paris vor allem zwischen 1110 und 1170 erlebt haben dürfte, nur durch massive Zuwanderungsbewegungen erklärt werden kann. Dabei scheint die neue Stadtbevölkerung vor allem aus dem näheren Umland von Paris gekommen zu sein, insbesondere aus der fruchtbaren und dicht besiedelten plaine de France, die sich unmittelbar nördlich und nordöstlich an das heutige Stadtgebiet anschließt. 279 Mit ebendieser Binnenmigration, die im wesentlichen aus einem Radius von ca. 70 Kilometern um die mittelalterliche Stadt erfolgt sein soll, erklärt Lodge die spezifische Mischung von sprachlichen Formen, die das Standardfranzösische charakterisiert. Als ‘Kronzeugen’ für seine These einer migrationsbedingten städtischen Dialektmischung, aus der das sprachgeographisch auffällig heterogene Profil des späteren Standards hervorgegangen sei, führt Lodge die fünf hier in Kap. 4.1 besprochenen sprachlichen Merkmale an, deren Import aus der 275 Jacquart (1996, 105) setzt für das Jahr 1320 ca. 200.000 Einwohner an. 276 Vgl. Bautier (1992b, [32-38]). 277 Vgl. dazu vor allem Bautier (1982); auch Pfister (1973, 222f.). 278 Vgl. zur chancellerie royale Lot/ Fawtier (1958, Bd. 2, 85-96). 279 Vgl. dazu auch Fourquin (1956, 89); Jacquart (1996, 107f.). 147 <?page no="160"?> Provinz in die ‘boomende’ Metropole des 12. Jahrhunderts er anhand seiner ALF-basierten Dialektkarten plausibel zu machen versucht: It is unlikely [...] that a written standard came first, to be subsequently extended to speech. On the other hand, the cartographical data we examined [...] make it look as though developments could have occurred the other way round: that dialect-mixing may well have happended first in the everyday speech of Paris, and that the ‘new’ spoken variety resulting from this provided the basis for subsequent elaboration and standardisation. (Lodge 2004, 76) Nun dürfte aufgrund der im vorangehenden Kapitel getroffenen Richtigstellungen bereits deutlich geworden sein, daß Lodges migrationslinguistischer Ansatz bei näherer Betrachtung nicht zu überzeugen vermag. Wie wir gesehen haben, weist Lodges Argumentation - neben eindeutigen Irrtümern wie den falsch interpretierten Karten von Dees (1987, 129, 156, 160) - eine Reihe von offenen Widersprüchen auf, wie etwa den, daß einerseits behauptet wird, der Zuzug, der zum demographischen „take-off“ von Paris geführt haben soll, sei vor allem aus dem nördlichen und nordöstlichen Hinterland der mittelalterlichen Stadt gekommen (vgl. Lodge 2004, 47; vgl. auch Selig 2008, 78), daß andererseits aber die mutmaßlichen Ursprungsgebiete der späteren Standardformen, die qua Binnenmigration nach Paris gelangt sein sollen, im wesentlichen weit außerhalb des angesetzten 70-Kilometer-Radius um Paris verortet werden. Zwar spricht Lodge in diesem Zusammenhang selbst ausdrücklich von „Features introduced from outside the HDP“ (Lodge 2004, 88; meine Kursivierung); und auch das Trudgillsche (1986) Koineisierungsmodell, an dem Lodge sich orientiert, schließt selbstverständlich nicht aus, daß sich in einer städtischen Koine zum Teil Formen durchsetzen können, die nur von einer Minderheit der an der ursprünglichen Dialektmischung beteiligten Migranten gesprochen wurden (nur dadurch kommt es ja zu einer Mischung, und nicht zur exklusiven Durchsetzung eines Mehrheitsdialekts). 280 Jedoch berücksichtigt Lodge nicht, daß in der modernen Koineisierungsforschung dialektale Minderheitsformen einhellig als ‘markiert’ betrachtet werden 281 und daß prinzipiell eigentlich nicht damit zu rechnen ist, daß sich derartige Formen in der späteren Koine durchsetzen, es sei denn es gibt einen besonderen sprach- 280 Vgl. dazu das Beispiel der Anfang des 20. Jahrhunderts zum Zentrum der norwegischen Aluminiumindustrie ausgebauten Stadt Odda, wo der Zuzug von Migranten überwiegend westnorwegischen Ursprungs (81%) auch zur überwiegenden Durchsetzung westnorwegischer Sprachformen in der städtischen Koine geführt hat; die Koine weist dennoch auch einige ostnorwegische Formen auf, obschon der Anteil von Migranten ostnorwegischer Herkunft bei lediglich 5% lag. Vgl. Kerswill (2002, 674). 281 Vgl. Trudgill (1986, 98). 148 <?page no="161"?> strukturellen (‘objektiven’) 282 oder sprachsoziologischen (‘subjektiven’) Grund dafür, daß sie in der Kontaktsituation ausnahmsweise ‘attraktiver’ wirken als die entsprechenden Mehrheitsvarianten. 283 Wenn Lodge also annimmt, daß beispielsweise die typisch west- und heute standardfranzösischen Verbalflexive -ent oder -aient sich im Pariser Französisch durchgesetzt haben, obwohl es sich dabei aller Wahrscheinlichkeit nach um Minderheitsformen handelte, so vermißt man einen zumindest ansatzweisen Erklärungsversuch, der die eigentlich nicht zu erwartende Durchsetzung der minoritären Formen plausibel machen würde. Zwar sind solche Rekonstruktionen im historischen Rückblick bekanntlich schwer zu leisten und damit notgedrungen spekulativ. Die moderne Koineisierungsforschung zeigt aber durchaus mögliche Erklärungsmuster auf. Beispielsweise können unter bestimmten Umständen Prozesse der ‘Identitätsprojektion’ 284 dazu führen, daß Formen, denen man aufgrund von demographisch-frequentiellen oder linguistischen Kriterien nur eine relativ geringe Durchsetzungswahrscheinlichkeit zusprechen würde, aufgrund ihrer ‘subjektiven’ Assoziation mit einer gesellschaftlich vorbildlichen Sprechergruppe letztendlich doch die Oberhand in einer Varietätenmischung gewinnen. So könnte es ex negativo im Fall von -ont oder -aint zu einer Meidung - und entsprechend zur Durchsetzung der ‘exogenen’ Minderheitsformen -ent bzw. -aient - gekommen sein, gerade weil auch im unmittelbaren Hinterland von Paris, mit dem bekanntlich intensiver Kontakt bestand, die ‘ruralen’ Varianten -ont und -aint gebraucht wurden und die Städter sich möglicherweise von dieser Aussprache abheben wollten. 285 Bei Lodge (2004) fällt die Frage nach den Gründen für die Durchsetzung der einen oder anderen Variante jedoch unter den Tisch, so daß man vergeblich nach einer Erklärung für den Verlust von Formen sucht, die zunächst noch von einer Mehrheit der aus dem Umland immigrierten ‘Neu-Pariser’ gesprochen worden 282 So die Terminologie bei Auer/ Barden/ Grosskopf (1998); vgl. auch Kerswill (2002, 687). 283 Vgl. dazu den Begriff der Salienz; vgl. meine Anm. 45. - Zwar scheinen nach Fondet (1995, 203) die Isoglossenverläufe der typisch normandischen Verbalflexive -ent und -aient (vs. -ont bzw. -aint) die Ostgrenze des heutigen Départements Eure knapp zu überschreiten und damit innerhalb des von Lodge angesetzten 70-Kilometer-Radius um Paris zu liegen. Das eigentliche Kerngebiet der beiden Formen befindet sich aber eindeutig weiter westlich; vor allem sind diese nicht in der plaine de France, dem wahrscheinlichen Herkunftsgebiet eines Großteils der neuen Pariser Stadtbevölkerung, nachweisbar. 284 Vgl. Auer (1998); Kerswill (2002, 680f.). 285 Ein bekanntes Beispiel für eine solche Stadt-Land-Opposition ist die Geschichte von it. [ ʎ: ] < - GL -, z.B. im Wort vegliare, wo das lautgesetzliche Ergebnis aus VIG ( I ) LĀRE , atosk. vegghiare [g: j], mit der ländlichen Aussprache etwa von figghio (anstatt figlio < FĪLIU ( M ), also [g: j] statt [ ʎ: ] < - LJ -) assoziiert und deshalb von den Florentinern als diastratisch stigmatisiert empfunden und aufgegeben wurde. Vgl. Patota (2007, 94f.). 149 <?page no="162"?> sein dürften. Insofern erscheint die Frage berechtigt, ob im Fall von -ent und -aient nicht doch die auf Cerquiglini (1991) zurückgehende, auch von Fondet (1995) vertretene Annahme eines schriftsprachlichen Urprungs geeigneter sein könnte, um die standardsprachliche Verbreitung von Varianten zu erklären, die im Hinterland von Paris vermutlich stark minoritär waren. Die frühe literarische Dominanz des (Anglo-)Normannischen könnte, wie oben angedeutet, durchaus ein Grund für die Durchsetzung der beiden Verbalflexive im Standardfranzösischen sein. Die einzige ‘exogene’ Standardvariante, die der ALF für die unmittelbar nördlich und nordöstlich von Paris liegenden Gebiete der plaine de France dokumentiert, ist -ions (vs. -eins) als Endung der 1. Pl. Kond. / Impf. Ind. (vgl. ALF 512: serions; 515: étions). Nach Fondet (1995, 203) erstreckt sich eine relativ kompakte -ions-Zone bis etwa zur Südgrenze des heutigen Départements Oise und, von Westen her gesehen, bis knapp vor die Ostgrenze der Eure. Dieser Befund deckt sich in etwa mit der entsprechenden Karte bei Dees (1980, 243), die für das 13. Jahrhundert im gesamten Nordosten, Osten und Südosten Nordfrankreichs sehr hohe Werte bei den Skriptaformen -iens oder -iemes dokumentiert, in der Oise und in den westlich von Paris liegenden Gebieten aber überwiegend -ions-Formen anzeigt. Hier könnte also - im Unterschied zu -ent und -aient - ein sprechsprachlicher Ursprung in der plaine de France mit späterer Durchsetzung in einer gesprochenen Pariser Koine ebenso plausibel gemacht werden wie eine literatursprachliche Verbreitung aus dem Westen oder aus dem Norden (im 13. Jahrhundert dürfte vor allem die Literatur aus der Pikardie sprachlich normgebend gewirkt haben 286 ). Als hinfällig erweist sich Lodges Migrationsthese im Fall von [wε] vs. [ε] (< vlt. [e] in offener Tonsilbe oder vor Palatalkonsonant), wenn man auf der Basis der für den ALIFO durchgeführten Erhebungen anerkennt, daß die Île-de-France wahrscheinlich seit jeher eine Kontaktzone der beiden Entwicklungen darstellt und daß [ wa ] keine primärdialektale Form aus Ostfrankreich ist, sondern eine genuin stadtsprachliche, auch phonetisch plausible Weiterentwicklung von [ w ε]. Von den sprechsprachlichen Entwicklungen unberührt bleibt freilich die Tatsache, daß der Ursprung des Graphems <oi> mit hoher Wahrscheinlichkeit in den nordostfranzösischen Skriptae liegt. Auch Lodges (2004, 90-92) Untersuchung der entsprechenden Variation in den Dokumenten der prévôté de Paris scheint mir recht eindeutig für die Hypothese zu sprechen, daß <oi> sich schon früh aus den nordostfranzösischen Skriptae in Richtung Zentrum und Westen verbreitet 286 Vgl. dazu Wacker (1916); Delbouille (1970, 195); Wüest (2003, 222). Vgl. zur Bedeutung pikardischer Skriptaformen noch im England des 14. und 15. Jahrhunderts Kristol (1989, 363-367). 150 <?page no="163"?> hat 287 - auch wenn Lodge (2004, 91) selbst in schwer nachvollziehbarer Argumentation aus dem weitgehenden Rückgang von <ai>-Schreibungen während des 13. und 14. Jahrhunderts auf einen ‘exogenen Ursprung’ einer mutmaßlich durch <ai> repräsentierten [ε]-Lautung schließt, die im Koineisierungsprozeß von ‘autochthonem’ [ w ε] (repräsentiert durch <oi>? ) verdrängt worden sei. Wenn nämlich <oi> schon im 13. Jahrhundert in den Verbendungen des Imperfekts und des Konditionals eindeutig vorherrschte (vgl. Lodge 2004, 90), andererseits aber bekannt ist, daß die Aussprache gerade in diesem morphematischen Kontext bis in die Neuzeit hinein stark variierte und häufiger Gegenstand des sprachnormativen Diskurses war 288 , dann steht meines Erachtens außer Frage, daß hier bereits sehr früh eine schriftsprachliche Standardisierung erfolgte, von der die Ebene der gesprochenen Sprache weitgehend unberührt blieb. Als ebenso hinfällig erweist sich die Migrationsthese im Fall von [o]/ <eau> vs. [jo]/ <iau>. Hier unterläuft Lodge, wie oben gezeigt wurde, die fatale Fehlinterpretation der Deesschen Karten (1987, 129, 156, 160). Auch die Annahme einer spontanen Entwicklung [jaw] > [eaw] in der gesprochenen Sprache von Paris scheidet als Erklärungsmöglichkeit aus, da sie phonetisch nicht plausibel ist. 289 Was aber meine oben geäußerte Vermutung einer anglonormannischen Herkunft von <eau> betrifft, so erweist sich schon eine einfache Recherche in der Base de Français Médiéval (BFM) als aufschlußreich. Die Suche nach der Form beau ergibt 318 Treffer, die allesamt auf lediglich drei Texte entfallen, nämlich La vie d’Edouard le confesseur (ca. 1245) von Matthieu Paris, Le Livre de seyntz medicines (1354) von Henri de Lancastre und die anonyme Estoire de Griseldis en rimes et par personnages (1395). Während die BFM für letzteren Text unter der Rubrik „dialecte“ den Hinweis „non vérifié“ verzeichnet, werden die Texte von Matthieu Paris und Henri de Lancastre (bzw. die den verwendeten Editionen zugrundegelegten Manuskripte) jeweils als „anglo-normand“ ausgewiesen. 290 Es erscheint somit deutlich sinnvoller, die im übrigen erst relativ spät erfolgte Durchsetzung von <eau> gegenüber <iau> in der Pariser Schriftsprache durch literatursprachlich-anglonormannischen Einfluß zu erklären, als von einem dialektalen, ostfranzösischen Ursprung von <eau> 287 Vgl. dazu auch Pfister (1973, 244-250); Dees (1980, 191 und 194). 288 Wohlgemerkt galt Étienne Pasquier im 16. Jahrhundert die heutige Standardaussprache von „allét, tenét“ [ε] als (von ihm angeprangerte) höfische Variante, nicht etwa als diastratisch niedrig markierte Form! Vgl. meine Anm. 207. 289 Vgl. dazu auch Rheinfelder ( 4 1968, §324). 290 Vgl. http: / / bfm.ens-lyon.fr/ IMG/ pdf/ Liste_BFM112.pdf; Zugriff am 12. August 2013. 151 <?page no="164"?> auszugehen (eine Hypothese, die, wie gesagt, jeglicher Datengrundlage entbehrt). 291 Doch nicht nur was die raumlinguistischen Grundlagen von Lodges Migrationsszenario angeht, auch hinsichtlich der Chronologie des postulierten städtischen Koineisierungsprozesses bleiben zahlreiche Fragen offen. Wie gesagt beruft Lodge sich auf historische Untersuchungen, wonach die demographische Explosion von Paris, die zur städtischen Koineisierung geführt haben soll, vor allem zwischen 1110 und 1170 stattfand. Auch der metasprachliche Kommentar des Conon de Béthune, aus dem Lodge auf die frühe Existenz eines ‘Akrolekts’ am Kapetingerhof schließt, stammt mit Sicherheit noch aus dem letzten Viertel des 12. Jahrhunderts, wahrscheinlich aus den Jahren 1179/ 1180. 292 Somit scheint Lodge die Herausbildung einer primär gesprochenen französischen Modellvarietät im wesentlichen bereits für das 12. Jahrhundert anzusetzen. Im Widerspruch dazu steht allerdings die Beobachtung, daß die sukzessive Durchsetzung der vermeintlich ostfranzösischen Graphievariante <eau> (vs. <iau>) in den Urkunden der prévôté de Paris erst ab dem Jahr 1329 erfolgte (Lodge 2004, 92f.). Denn geht man wie Lodge davon aus, daß es sich bei der mutmaßlich mit <eau> assoziierten Aussprache [ eaw ] um eine primär gesprochene ‘Importvariante‘ des 12. Jahrhunderts handelte, dann bleibt völlig unklar, weshalb diese sich erst mit derartiger Verspätung gegenüber anderen, bereits im 13. Jahrhundert mehrheitlich belegten Protostandardformen wie <oi>, -aient (3. Pl. Impf. Ind.) oder -ent (3. Pl. Präs. Ind.) in der Schrift durchsetzen konnte. Überdies ist ja bis ins 18. Jahrhundert hinein noch [ jo ] als diastratisch niedrig markierte Variante in der Pariser Stadtsprache nachzuweisen. So gesehen scheint mir die relativ späte Durchsetzung der Graphievariante <eau> in Paris viel weniger für Lodges Szenario einer vorgängigen Konventionalisierung von [ eaw ] in der Mündlichkeit zu sprechen als für einen lediglich auf schriftsprachlicher Ebene wirksamen überregionalen Standardisierungseffekt, der erst im 14. Jahrhundert einsetzte und von dem das gesprochene Pariser Französisch noch bis in die Neuzeit hinein weitgehend unberührt blieb. Problematisch erscheint ferner der bei Lodge anklingende Versuch 293 , Conon de Béthunes Klage über die Schelte des jungen Philipp II. und der Königsmutter, Adèle von Blois-Champagne („mon langaige ont blasmé li 291 Auch die Datenbank der Plus anciens documents linguistiques de la France zeigt für die lothringische Urkundenskripta eine klare Mehrheit von <iau>-Formen, vor allem in Toponymen, die (nach heutiger Orthographie) mit Beaugebildet sind (vgl. DocLing; Zugriff am 12. August 2013). 292 Vgl. dazu Pfister (1973, 217f.); Cerquiglini (2007, 80-82). 293 Vgl. Anm. 272. 152 <?page no="165"?> François“ 294 ), als indirekten Beleg für die Existenz einer genuin sprechsprachlichen, mit Paris assoziierten Norm am Kapetingerhof zu werten. Zwar ist bekannt, daß um 1180, also um die Zeit der Inthronisierung des damals erst 15-jährigen Philipp, Paris bereits eine wichtige Funktion als Sitz des expandierenden königlichen Verwaltungsapparats zukam. 295 Die Kapetinger selbst aber residierten zu dieser Zeit noch keineswegs fest in Paris (vgl. Pfister 1973, 223), und auch die von Rauhut (1963, 283) vertretene Auffassung, wonach Paris während der Regentschaft Philipps II. zur bevorzugten königlichen Residenz und damit „endgültig zur Hauptstadt“ geworden sei, ist keineswegs historisch gesichert. 296 Mithin kann die Passage zwar als Beleg für eine Art von sprachlichem Snobismus am (wandernden! ) Kapetingerhof gewertet werden, und möglicherweise basierte diese höfische Varietät auch auf den Primärdialekten, die innerhalb der damaligen Krondomäne gesprochen wurden. 297 Für die Zeit um 1180 aber bereits eine Verwurzelung des königlichen françois in der Stadtsprache von Paris zu postulieren, wie Lodge dies aufgrund von Conons Äußerung (in Verbindung mit der Annahme, ein literarischer Ursprung einer gesprochenen Norm sei undenkbar) implizit tut, entbehrt jeglicher historischer Plausibilität. 298 Überhaupt sollte die Passage nicht dahingehend überinter- 294 Ich zitiere nach Pfister (1973, 217). 295 Vgl. v.a. Bautier (1978) und s.o. 296 Vgl. Bautier (1978, 35): „La royauté [...] demeure fondamentalement itinérante jusqu’à l’époque moderne.“ - Bautier (1978, 18) gilt freilich weniger die Anwesenheit des „roi-personne-physique“ als Hauptstadtkriterium, sondern die administrative Niederlassung dessen, was er als „Couronne“ oder als „Roi-personne-morale“ („avec une majuscule“) bezeichnet, also der königlichen Staatsgewalt und ihrer zentralen Institutionen. So gesehen erscheint es in der Tat legitim, bereits für die ersten beiden Jahrzehnte der Regentschaft Philipps II. von Paris als Hauptstadt zu sprechen - auch wenn der König selbst meist abwesend war. Vgl. auch Bautier (1978, 44): „Certes le roi - même s’il tient de préférence à Paris ses assemblées générales [...] - continue à parcourir en tout sens son royaume allant de résidence en résidence [...], mais progressivement les institutions centrales qui vont s’étoffant, sont normalement fixées, au moins partiellement, à Paris [...].“ - Vgl. auch Baldwin (2010, 125f.): „Like his father and grandfather before him, Philip Augustus opened the first decade of his reign by carrying his government around in his baggage as he traveled troughout the small royal domain. This permitted him to attend personally to his affairs, judge, collect revenues, wage war, oversee his lands and be seen by his subjects. It was easier to carry the government to the countryside than the reverse. These ambulatory habits, to be sure, persisted into the remaining decades of his reign.“ 297 Zumindest gibt es keinen Grund anzunehmen, daß sich die Sprache der Kapetinger wesentlich davon unterschied. Der domaine royal umfaßte im Jahr 1180 die Orte Mantes, Compiègne, Senlis, Saint-Denis, Melun, Étampes, Sens, Courtenay, Orléans und Bourges. 298 Vgl. zu einer interessanten Interpretation der Verse des Conon de Béthune auch Cerquiglini (2007, 176-182). 153 <?page no="166"?> pretiert werden, daß daraus auf eine beginnende Hierarchisierung der nordgalloromanischen Idiome zugunsten der Île-de-France geschlossen werden könne, wie dies auch noch Pfister (1973, 219 und 250) nahegelegt hat. 299 Denn die Tatsache, daß sich die Königsmutter und ihr Sohn über Conons langaige mokierten, zeugt zwar, wie gesagt, von einer Art sprachlichem Snobismus der Kapetinger; daraus ist aber keineswegs zwingend abzuleiten, „daß Ende des 12. Jahrhunderts die Sprache der späteren Ile-de- France mit Paris im Zentrum eine deutliche Sonderstellung erreicht hat“ (Pfister 1973, 219) - oder gar daß der am Königshof gepflegte ‘Akrolekt’ „exerted an influence on the forms used by the literary entertainers of the day“ (Lodge 2010b, 33). Denn ähnlich wie heute zum Beispiel ein Münchner aufgrund seines Akzents in bestimmten Berliner Kreisen ‘anecken’ und sich situativ entsprechend unwohl fühlen kann, mag Conon, der die königliche Arroganz ja ausdrücklich als unangemessen anprangert („ne chil ne sont bien apris ne cortois“), sich in der Konfrontation mit einer ihm fremden Aussprachenorm zwar vorübergehend stigmatisiert und unterlegen gefühlt haben; es ist jedoch kaum anzunehmen, daß der pikardische Dichter aufgrund dieser Erfahrung in seiner sprachlichen Identität derart geschwächt wurde, daß er, um sein soziales Image fürchtend, fortan einer ‘vornehmeren’ Pariser Aussprachenorm nacheiferte, ebensowenig wie sich heute der aus der Bundeshauptstadt in die Heimat zurückgekehrte Bayer weiter um die Sprachnormen scheren dürfte, die ihm im Norden als vorbildlich hingestellt wurden. Schließlich sollte auch nicht übersehen werden, daß mos („S’il m’ont repris se j’ai dit mos d’Artois“), wie Cerquiglini (2007, 180) richtig erkennt, keineswegs in der heutigen Bedeutung ‘Wörter’ verstanden werden muß, sondern daß damit schlichtweg ‘Klang, Akzent, Aussprache’ gemeint sein dürfte. Wie sonst könnte Conon auch darauf beharren, daß seine Lieder den François auf jeden Fall verständlich sein mußten („Encoir ne soit ma parole franchoise, si la puet on bien entendre en franchois“)? Die mots d’Artois scheinen also nicht auf einen substantiellen (lexikalischen, morphosyntaktischen o.ä.) Unterschied zwischen zwei klar definierten Sprachvarietäten abzuheben, sondern auf eine lediglich regional gefärbte Aussprachekonvention. Ebenso wie der Münchner in Berlin nicht bairischen Dialekt, sondern standarddeutsch mit Akzent spricht, dürfte auch Conon - übrigens nicht nur einer der größten französischen trouvères, sondern auch eine wichtige Figur der zeitgenössischen Politik 300 - sich in vollendeter literarischer (Sprach-)Form, wenn auch mit pikardischem Akzent, ausgedrückt haben. So gesehen bietet die Episode, von der Conon berichtet, kaum Anhaltspunkte zur Beantwortung der Frage nach 299 Bekanntlich nahm Pfister (1993) eine andere Position ein (s.o.). 300 Vgl. Cerquiglini (2007, 180f.). 154 <?page no="167"?> den topischen Wurzeln des französischen Standards oder nach dem Zeitpunkt seiner beginnenden Ausstrahlung, und insbesondere die von Lodge suggerierte Hypothese, wonach aus dem Gedicht Rückschlüsse auf die zeitgenössischen Entwicklungen in der Pariser Stadtsprache zu ziehen seien, erscheint weitgehend unbegründet. 301 Eine weitere Form des französischen Standards, die im Zusammenhang mit der Chronologie der von Lodge beschriebenen Kontaktprozesse Fragen aufwirft, ist das Verbalflexiv -ions (1. Pl. Kond./ Impf. Ind.). Zwar ist die Form von Anfang an in den Texten der prévôté nachweisbar, woraus Lodge (2004, 89) schließt, daß sie schon ‘ziemlich früh’ im Pariser Französisch etabliert worden sei; mehrheitlich scheint sich -ions aber erst im Lauf des 14. Jahrhunderts gegenüber -iens und anderen Varianten durchgesetzt zu haben. 302 - Muß man in Lodges Logik also annehmen, daß einige der im 12. Jahrhundert mutmaßlich nach Paris getragenen sprechsprachlichen Formen erst längere Zeit ‘subkutan’ im städtischen Kommunikationsraum existierten, bis sie im 13. oder 14. Jahrhundert an die Ebene des inzwischen verschrifteten Protostandards vordrangen? Oder geht Lodge davon aus, daß bestimmte Varianten wie -ent oder -aient überhaupt früher, andere, wie -ions oder <eau> ([ eaw ]? ), aber erst deutlich später als dialektaler ‘Input’ nach Paris gelangten? In der Zusammenfassung seines Mittelalterkapitels scheint Lodge (2004, 102) letzterer Annahme zuzuneigen: „[...] it would appear that koinéisation in Paris occured progressively, with different exogenous elements being absorbed into the Parisian system at different times“. - Wie aber paßt eine derartige zeitliche Streckung der in Frage stehenden soziolinguistischen Prozesse zu dem von der modernen Stadtsprachenforschung geprägten Koineisierungskonzept, das sich per definitionem auf Situationen bezieht, bei denen es innerhalb relativ kurzer Zeit und un- 301 Vgl. zu den Passagen bei Garnier de Pont-Sainte-Maxence und Aimon de Varennes, die traditionell ebenso als Belege für eine frühe sprachliche Vorbildstellung der Îlede-France gewertet werden, Cerquiglini (2007, 173-176). Demnach sei Garniers Aussage („Mis languages est bons, car en France fui nez“; ca. 1174) in Opposition zum Kompositionsort Canterbury, der im Gedicht ebenfalls genannt wird, zu verstehen, also im Sinne von ‘ich bin Kontinentalfranzose, daher ist meine Sprache authentisch und korrekt’. Im Florimont von Aimon de Varennes (ca. 1188) stehe langue de françois in Opposition zu Aimons wahrscheinlicher Muttersprache, dem Frankoprovenzalischen, und zum Kompositionsort Châtillon-sur-Azergues im Lyonnais („Il [le roman] ne fut mie fait en France, / Maix en la langue de fransois / Le prist Aymes en Loënois. / Aymes i mist s’entension, / Le roman fit a Chastillon ...“; zit. nach Pfister 1973, 219). Entsprechend müsse hier France keineswegs mit der engen Bedeutung ‘Îlede-France’ interpretiert werden, sondern könne ebenso gut für den gesamten nordfranzösischen Sprachraum stehen. 302 Vgl. dazu Kap. 4.1.3. 155 <?page no="168"?> ter sehr extremen gesellschaftlichen Bedingungen zum Varietätenkontakt und zum Sprachwandel kommt? New-dialect formation, as conceptualised by Trudgill and others [...], refers to the emergence of distinctive, new language varieties following the migration of people speaking mutually intelligible dialects to what, to all intents and purposes, is linguistically ‘virgin’ territory. [...] As such, it is an extreme, and often very rapid, form of dialect convergence. (Kerswill/ Trudgill 2005, 196) Unter diesem Aspekt kritisiert auch Selig (2008, 80), daß die „zeitlichen [...] Dimensionen“ der von Lodge postulierten Kontaktprozesse unklar bleiben, obschon sie die Plausibilität eines urbanen Varietätenkontakts während des 12. Jahrhunderts nicht grundsätzlich in Abrede stellt: Wenn Lodge auf das Modell der „koinéisation“ verweist, scheint er sich auf eine örtlich beschränkte und relativ kurzzeitige Kontaktsituation festzulegen. Eine solche Annahme scheint gerechtfertigt und man ist geneigt, in der mittelalterlichen ‘boom-town’ Paris zahlreiche Prozesse des ungerichteten, ungelenkten, in der spontanen Alltagskommunikation ablaufenden Dialektkontaktes anzusetzen, die zu einer Mischung von Varianten unterschiedlicher regionaler Herkunft in einer zuvor und nachher regional fokussierten 303 Varietät führen. Zu betonen ist aber, dass es sich bei den von Lodge genannten phonologischen und morphologischen Erscheinungen teilweise um Variationsmöglichkeiten handelt, die bis ins 18. Jahrhundert im Pariser Französisch weiter bestehen [...]. Die von Lodge gesammelten Daten sprechen also gerade nicht für eine zeitlich begrenzte Phase der Dialektmischung, sondern für eine Jahrhunderte lange dialektale Kontaktsituation. (Selig 2008, 80) Auch mit Blick auf die bei aller Variation doch unstrittige topische Rückbindung des Pariser Französisch an das sprachliche Hinterland empfiehlt Selig (2008, 78f.), vom ‘radikalen’ Koineisierungsbegriff der neueren Stadtsprachenforschung abzurücken und demgegenüber von einer „einfachen Dialektmischung“ im mittelalterlichen Paris, wenn nicht von „normale[n] Diffusionsprozesse[n] in einer dialektalen Kontaktzone“ auszugehen. Lodge selbst betont [...], dass der Großteil der neuen Pariser Bevölkerung mit sehr großer Wahrscheinlichkeit aus dem Pariser Hinterland in einem Radius von 70 km kam. [...] Selbstverständlich werden in der mittelalterlichen Metropole auch Sprecher anderer Dialekte und anderer Sprachen aufeinander getroffen sein. Die Frage ist nur, ob wir von einem ähnlichen Ausmaß des sozialen und sprachlichen Identitätsverlustes wie in Koineisierungssituationen auszugehen haben. Wir wissen, dass spätestens im 13. Jahrhundert das Bewusstsein von der Existenz eines spezifischen Pariser 303 S.u. zur Erläuterung des Begriffs. 156 <?page no="169"?> Stadtdialektes ausgeprägt war 304 [...], dass also spätestens in dieser Zeit Prozesse der Fokussierung und der Herausbildung stadtspezifischer stabiler Normen gegriffen haben. Auch die Bindung des Pariser Stadtdialektes an das Hinterland der Stadt geht aus den Quellen des 13. Jahrhunderts hervor [...]. Es gibt also nur bedingt Anzeichen für eine Entwicklung, die soziolinguistisch gesehen als Bruch, als eindeutige und starke Diskontinuität beurteilt werden kann. 305 [...] Der Fall des mittelalterlichen Pariserischen ist daher deutlich anders zu beurteilen als der des mittelalterlichen Kastilischen, das eindeutige Indizien für massiven Dialektabbau und für Vereinfachungsprozesse aufweist und das während der ‘repoblación’ bzw. während der kolonialen Expansion in deutlich radikalere Kontaktsituationen eingebettet war. (Selig 2008, 78f.) 306 Von Interesse ist der im Zitat angesprochene, auf Le Page (1980) zurückgehende Begriff der Fokussierung („focusing“). Lodge (2004, 28, 30 und 77) versteht darunter die ‘Verdichtung’ der sozialen Netzwerkstrukturen innerhalb einer Gemeinschaft, deren Mitglieder mehr untereinander als nach außen kommunizieren. In soziolinguistischer Sicht favorisiere ein solches Szenario die Herausbildung und Stabilisierung einer neuen Norm: Increase in the town’s population will eventually cause the density of communication between the inhabitants of the town to exceed that with people from outside. This will lead to a certain degree of sociolinguistic focusing and to the emergence of new linguistic norms somewhat different from those of the hinterland dialects: the speech of the town is thereby modified and gradually rises above the regional dialect continuum to form a new dialect of its own. (Lodge 2004, 30) In der klassischen Version von Trudgills (1986) Koineisierungsmodell bezieht sich der Begriff der Fokussierung allerdings weniger auf die sozialen Rahmenbedingungen als auf die sprachlichen Folgen des Dialektkontakts, die überdies in der Regel erst in der dritten Generation einer Migrantengemeinschaft voll durchschlagen. Während nämlich in der ersten Generation, 304 Vgl. dazu auch meine Anm. 315. 305 Vgl. zur zeitgenössischen Wahrnehmung topischer Unterschiede im Nordgalloromanischen Lusignan ( 2 1987, 67-77 und 1999, 110-115). S.u. zur Frage, ob die Sprache von Paris als verschieden von der Sprache der Île-de-France wahrgenommen wurde. 306 Auch Selig (2008, 80) bemerkt in diesem Zusammenhang, daß bei den Endungen der 3. Pl. Präs. Ind. (fr. -ent) und der 3. Pl. Impf. Ind. / 3. Pl. Kond. (-aient) ein Fall von räumlicher Diskontinuität vorliegt, da diese westfranzösischen Formen nicht im unmittelbaren Pariser Umland belegt sind. Wie oben angedeutet, muß dieser Umstand aber keineswegs als Nachweis eines vom sprachlichen Hinterland abgekoppelten, auf Paris beschränkten Dialektmischungsprozeß gewertet werden, sondern stellt ein sehr gutes Argument für einen schriftsprachlichen Ursprung der heutigen Standardflexive, etwa im Anglonormannischen, dar. 157 <?page no="170"?> also unter den Migranten selbst, noch sehr hohe Variation herrscht und es nur zur gelegentlichen „short-term accommodation“ (vgl. Trudgill 1986, 3f.) kommt und während auch die zweite Generation noch großteils an den von den Eltern gesprochenen Varietäten festhält, kommt es zur ‘Fokussierung’, d.h. zur Durchsetzung einer neuartigen, koineisierten Einheitsnorm, normalerweise erst bei den Enkeln der ursprünglichen Einwanderer. 307 In dialect contact and dialect mixture situations there may be an enormous amount of linguistic variability in the early stages. However, as time passes, focusing takes place by means of a reduction of the forms available. This reduction takes place through the process of koinéization, which consists of the levelling out of minority and otherwise marked speech forms, and of simplification, which involves, crucially, a reduction of irregularities. [...] The result of the focusing associated with koinéization is a historically mixed but synchronically stable dialect which contains elements from the different dialects that went into the mixture, as well as interdialect forms that were present in none. (Trudgill 1986, 107f.) Kerswill/ Trudgill (2005, 201) haben das Dreigenerationenmodell dahingehend relativiert, daß der Prozeß der Fokussierung unter Umständen auch schneller einsetzt, daß er aber auch länger andauern und überhaupt nicht zum Abschluß kommen kann („the focusing may take several generations to occur, and, in some cases, it may never be completed“). 308 Jedenfalls scheint die Geschwindigkeit, mit der ein Koineisierungsprozeß ganz oder auch nur teilweise zum Abschluß kommt, entscheidend von den zeitlichen und räumlichen Umständen der Zuwanderung, vom sprachlichen Abstand zwischen den beteiligten Varietäten und insbesondere von der Struktur der sozialen und kommunikativen Netzwerke abzuhängen, welche die sich konstituierende Migrantengemeinschaft prägen: The type of linguistic input involved, especially in terms of the linguistic differences between speakers, may have an effect on the speed with which an embryonic new dialect ‘focuses’, or acquires norms and stability [...]. Non-linguistic factors will be crucial, and may override linguistic ones: a new settlement where people are isolated from each other will take much longer to form a ‘speech community’ than one where there is intensive contact. People may migrate as individuals or in groups. Clear social divisions in the new society will inhibit linguistic uniformity, but will instead promote the appearance of distinct sociolects with focused norms for their use. (Kerswill/ Trudgill 2005, 197) 307 Vgl. Trudgill (1986, 95-97); Kerswill (2002, 679-695). 308 Vgl. dazu auch Kerswill (2002, 670): „Koineization [...] typically takes two or three generations to complete, though it is achievable within one.“ 158 <?page no="171"?> Eine Voraussetzung für den relativ raschen Ablauf eines Koineisierungsprozesses scheint zu sein, daß es an dessen Beginn zu der besonderen soziolinguistischen Situation kommt, die Lodge unter dem Begriff des focusing versteht, nämlich zu einer extremen ‘Verdichtung’, ja zur grundlegenden Neuordnung der sozialen Netzwerkstrukturen innerhalb einer sich erst konstituierenden und dabei intensiv interagierenden Sprechergemeinschaft (vgl. Selig 2008, 75). Diese Prämisse dürfte vor allem auf die von der Koineisierungsforschung privilegiert untersuchten new towns des 20. Jahrhunderts zutreffen. Häufig genannte Beispiele für solche Migrantengemeinschaften sind die 1967 zur Entlastung der englischen Ballungsräume gegründete Planstadt Milton Keynes, deren Einwohnerzahl im Jahr 1971 (! ) bereits knapp 50.000 betrug, oder das norwegische Høyanger, das, ähnlich wie Odda (s.o., Anm. 280), seit den späten 1910er Jahren zum Zentrum der Aluminiumindustrie ausgebaut worden war (1916: 120 Einwohner; 1920: 950 Einwohner; 1986: ca. 3000 Einwohner). 309 Die Tatsache, daß hier innerhalb eines Zeitraums von wenigen Jahren die Ansiedlung einer mitunter aus weit entfernt liegenden Gebieten stammenden 310 , sich erst komplett neu formierenden Migrantengemeinschaft erfolgte, läßt mit Recht vermuten, daß es in dieser Situation zu einem weitgehenden Verlust der ursprünglichen gesellschaftlichen Netzwerkstrukturen kam und daß dadurch ein entsprechend hohes sprachsoziologisches Entwicklungspotential freigesetzt wurde. Auch bei koineisierten Migrantenvarietäten im pluriethnischen Kontext (wie beispielsweise beim Italienischen in nordamerikanischen Großstädten) 311 dürfte die soziolinguistische Bedingung weitgehend erfüllt sein, daß es zu einer Konzentration der kommunikativen Prozesse innerhalb einer in kürzester Zeit zusammengetretenen und überdies sozial verhältnismäßig homogenen 312 Migrantengemeinschaft kam, was zur ‘Fokussierung’ einer neuen, relativ einheitlichen Sprachnorm führte, die zudem stark mit der neuen Identität als ethnische Minderheit assoziiert wur- 309 Vgl. Trudgill (1986, 95). 310 Dies trifft im Fall von Høyanger zu, im Fall von Milton Keynes nicht. Entsprechend divergierten die in Kontakt gekommenen Dialektvarietäten in Høyanger stark, in Milton Keynes dagegen nur geringfügig. 311 Vgl. Tropea (1978); Marcato/ Haller/ Meo Zilio/ Ursini (2002). 312 Vgl. dazu Kerswill (2002, 695): „[...] a socially homogeneous community is likely to koineize faster than one with considerable social divisions.“ Vgl. auch Kerswill/ Trudgill (2005, 197, s.o.). - Kerswill (2002, 690f.) bemerkt, daß es in Høyanger erst in der dritten Generation zur Fokussierung einer neuen Norm kommen konnte, weil in den frühen Jahren der Besiedlung das Prinzip der sozialen Segregation nach Wohngegenden herrschte. Zudem kamen Unternehmer und leitende Angestellte vor allem aus Ostnorwegen, die Arbeiter dagegen überwiegend aus dem Westen des Landes. Die soziale Differenzierung nach Stadtvierteln deckte sich also weitgehend mit den (erheblichen) sprachlichen Unterschieden. 159 <?page no="172"?> de. Kerswill (2002, 695) hält außerdem fest, daß eine einmal stabilisierte Koine in der Regel kaum mehr durch weiter anhaltende massive Zuwanderung verändert wird, wenn die Kerngruppe der ursprünglichen Migranten bzw. deren Kinder und Kindeskinder am Ort der Dialektmischung verbleiben und einen identitären ‘Fokus’ für die später Dazugekommenen bilden (sog. founder principle). Nun ist es selbstverständlich unmöglich, im historischen Rückblick auf die Urbanisierung des mittelalterlichen Paris all die hier angesprochenen Fragestellungen im Detail zu klären, und so soll auch keineswegs der Eindruck erweckt werden, als wäre es Lodges (2004) Aufgabe gewesen, die heute kaum mehr rekonstruierbaren soziolinguistischen Prozesse unter Bezugnahme auf die aktuellen Ergebnisse der modernen Stadtsprachenforschung umfassend darzustellen. Kritik verdient allerdings die mitunter stark pauschalisierende Art und Weise, in der Lodge sich der einschlägigen soziolinguistischen Begrifflichkeiten bedient und diese je nach Erfordernis der von ihm vertretenen Thesen in die eine oder andere Richtung strapaziert, ohne dabei die recht subtilen, aber nicht unerheblichen Differenzierungen und Parametrisierungen zu berücksichtigen, die die moderne Koineisierungsforschung erarbeitet hat. Zwar ist unbestritten, daß das mittelalterliche Paris aufgrund des enormen Bevölkerungszuwachses, den die Stadt im 12. und 13. Jahrhundert erlebte, ein Ort des Varietätenkontakts und mithin des beschleunigten Sprachwandels war, und es ist Lodges großes Verdienst, diesen linguistisch hochrelevanten Sachverhalt in das Zentrum der französischen Sprachgeschichtsschreibung gerückt zu haben. 313 Auch läßt die seit Ende des 12. Jahrhunderts bestehende, von Philipp II. stark geförderte Verbindung zwischen dem König und dem Pariser Großbürgertum 314 vermuten, daß sich im Lauf des 13. Jahrhunderts ein robustes 313 So sieht das auch Selig (2008, 79). 314 Vgl. dazu Cazelles (1972, 95-118; v.a. 117f.); Bautier (1992b, [28-30]); Baldwin (2010, 35-39). - Bei Bautier (1978, 39) findet sich der Hinweis auf eine paläographische Studie von Gasparri (1973), die zu dem Ergebnis kommt, daß bereits unter Ludwig VII. (1137-1180) vor allem Pariser Kleriker in der (damals noch ausschließlich lateinisch urkundenden) chancellerie tätig waren. Bautier resümiert entsprechend: „Ainsi dès le début du règne [de Louis VII] la chancellerie en quelque sorte s’est faite parisienne“. Was allerdings das Kanzleipersonal während der Zeit des sich langsam etablierenden französischsprachigen Urkundenwesens betrifft, kommt Lusignan (2004) zu einem anderen Ergebnis. Seine prosopographischen Untersuchungen zeigen, daß die Schreiber in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts aus sämtlichen Gegenden Nordfrankreichs, teilweise sogar von außerhalb kamen: „Notre essai de prosopographie du personnel en poste durant la première moitié du XIV e siècle a permis de déterminer l’origine géographique probable de 45 d’entre eux: 39 viennent du pays d’oïl, deux du pays franco-provençal et quatre des régions occitanes. À l’intérieur du pays d’oïl, on constate que presque toutes les grandes aires dialectales sont représentées. Les régions qui fournissent le plus de notaires sont la Normandie, Paris et ses environs, le 160 <?page no="173"?> städtisches Selbstbewußtsein entwickelte, das seinen sprachlichen Ausdruck in einer diastratisch hoch bewerteten Pariser Stadtvarietät fand. Fraglich bleibt aber zum einen, ob Lodges (2004, v.a. 27-32) mechanistische Anwendung des Trudgillschen Koineisierungskonzepts der Realität der sprachlichen Prozesse im mittelalterlichen Paris tatsächlich gerecht zu werden vermag. Zum anderen bleibt zu klären - und hier scheint mir das Kernproblem der Lodgeschen Theorie zu liegen -, ob es überhaupt legitim ist, den späteren Standard aus der gesprochenen Sprache im mittelalterlichen Paris abzuleiten, auch wenn es dort zweifelsohne zu vielfachen Varietätenkontakten und zu entsprechenden Sprachwandelphänomenen kam. Zunächst einmal gibt es keine Hinweise darauf, daß das mittelalterliche Pariser Französisch von den Zeitgenossen als grundverschieden von der Sprache des Umlands wahrgenommen wurde. Im Gegenteil scheinen die Île-de-France und Paris eher als sprachliche Einheit in Abgrenzung zu den übrigen Idiomen der Nordgalloromania (v.a. Pikardisch, Burgundisch und Normandisch) angesehen worden zu sein. 315 Vor diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache, daß der Zuzug aus dem Pariser Hinterland nicht ‘auf einen Schlag’, sondern während eines Zeitraums von mehreren Jahrzehnten (oder gar zwei Jahrhunderten) erfolgt sein dürfte, besteht, wie Selig (2008, 79; s.o.) treffend bemerkt, kein Anlaß dazu, die Entwicklungen in der Pariser Stadtsprache als soziolinguistischen „Bruch“ zu beurteilen, der zu einer sprachräumlichen Diskontinuität zwischen Stadt und Umland geführt hätte. Auch ist bekannt, daß das mittelalterliche und frühneuzeitliche Paris stets enge wirtschaftliche Verbindungen mit dem Umland unterhielt, wodurch auch die sprachliche Rückbindung an das Hinterland grundsätznord-ouest de la Bourgogne, la Champagne et les pays picards. On peut penser que ces hommes avaient comme langue maternelle les parlers français les plus divers.“ (Lusignan 2004, 140). Vgl. dazu auch Völker (2011, 102-104). 315 Vgl. dazu wiederum Lusignan ( 2 1987, 67-77); auch Lodge (1997, 135f.). Bacon unterscheidet im 13. Jahrhundert vier „idiomata“ einer „lingua Gallicana“, wobei der Dialekt der „Gallic[i]“, die Bacon an anderer Stelle auch als „veri[s] Gallici[s]“ bezeichnet, das Gebiet der heutigen Île-de-France und die Stadt Paris umfaßt haben dürfte. Ob die von Bacon an anderer Stelle vorgenommene terminologische Doppelung von „Parisiense et Gallicum“ sich tatsächlich auf eine begriffliche Unterscheidung zweier als distinkt wahrgenommener Sprachformen bezieht oder ob es sich dabei eher um eine Art Tautologie handelt (ob also lt. et hier im Sinne von vel zu verstehen ist), bleibt zwar vom sprachlichen Befund her unentscheidbar; letztere Lesart wird aber sowohl von Lusignan ( 2 1987, 69) als auch von Lodge (1997, 135) bevorzugt. Insofern teile ich nicht die oben zitierte Einschätzung von Selig (2008, 79), wonach „spätestens im 13. Jahrhundert das Bewusstsein von der Existenz eines spezifischen Pariser Stadtdialektes ausgeprägt war (Lusignan 1986).“ Selig relativiert diese Aussage ja selbst, indem sie im unmittelbaren Kontext der Passage „die Bindung des Pariser Stadtdialektes an das Hinterland der Stadt“ betont. Vgl. dazu auch Lebsanft (2005, 363); s.u. 161 <?page no="174"?> lich eher gefördert als behindert worden sein dürfte. 316 Unter diesem Aspekt könnte zwar prinzipiell die Annahme plausibel erscheinen, wonach sich die von Lodge untersuchten Dialekt- und späteren Standardformen erst nach und nach, über einen Zeitraum von etwa einem Jahrhundert hinweg 317 , in der Pariser Stadtsprache durchgesetzt haben sollen. Diese Annahme, die übrigens im Einklang mit den soziolinguistischen Erkenntnissen über die Folgen ‘normaler’ Urbanisierungsprozesse steht (also solcher, die nicht abrupt auf sprachlich ‘jungfräulichem’ Gebiet, sondern in zeitlicher und räumlicher Kontinuität aus dem städtischen Hinterland heraus erfolgen 318 ), verträgt sich allerdings kaum mit der Vermutung, daß bereits die Äußerung des Conon de Béthune aus dem späteren 12. Jahrhundert ein ‘klarer Beleg’ („clear testimony“, s.o.) für die Etablierung einer diastratisch hoch markierten Sprechnorm am Kapetingerhof sei, die, wie durch Lodges Argumentation nahegelegt wird, bereits auf einer ‘neuen städtischen Koine’, also einer ‘historisch kompositen, aber synchron stabilen’ Varietät im Sinne Trudgills basiert habe. Wie Selig (2008, 79; s.o.) ferner feststellt, ist das Pariser Französisch weder durch Interdialektformen noch durch systematische Vereinfachungsprozesse gekennzeichnet, was recht klar darauf hindeutet, daß die außersprachlichen Rahmenbedingungen und strukturellen Auswirkungen des Varietätenkontakts im mittelalterlichen Paris nicht derart ‘revolutionär’ gewesen sein können wie etwa im mittelalterlichen Kastilien oder in den innerhalb weniger Jahre besiedelten new towns des 20. Jahrhunderts. Es erscheint somit kaum angebracht, für das Paris des 12. und 13. Jahrhunderts von einem ähnlich umfassenden sprachlichen Vereinheitlichungsprozeß - ja womöglich überhaupt von einer abgeschlossenen Koineisierung im Sinne Trudgills (1986), also von der ‘Fokussierung’ und Stabilisierung einer neuen Einheitsnorm, sei es nun am Ende des 12. oder erst am Ende des 13. Jahrhunderts - auszugehen. Schon der wechselseitige ‘Akkommodationsbedarf’ dürfte in Paris bei weitem nicht so groß gewesen sein wie etwa im norwegischen Høyanger, das Sprecher aus ganz unterschiedlichen Gegenden Norwegens mit entsprechend stark divergierenden Ausgangsvarietäten zusammenführte (vgl. Kerswill 2002, 691). Wenn die neue Pariser Stadtbevölkerung, wie anzunehmen ist, vor allem aus der 316 Vgl. dazu Fourquin (1956, 75) und Baldwin (2010, 39-43). Die anhaltende Kommunikation mit dem Umland schließt freilich nicht aus, daß bestimmte stadtsprachliche Marker verstärkt zur Abgrenzung gegenüber den ländlichen Varietäten eingesetzt wurden (s.o.). 317 Wenn man von der ältesten Urkunde der prévôté de Paris (1249), die Lodge untersucht, bis zum Zeitraum zwischen 1340 und 1365 rechnet, für den Lodge (2004, 93) die ersten nicht isoliert auftretenden <eau>-Belege ermittelt. 318 Vgl. schon Trudgill (1986, 110-119) zum Fall von Norwich. Zu München vgl. Kufner (1962, 74). 162 <?page no="175"?> plaine de France kam, dann ist, wie oben dargelegt, vielmehr mit einer strukturellen Dominanz der nördlichen Hinterlanddialekte in der Stadtsprache sowie mit einer relativ raschen ‘Einmischung’ davon abweichender Minderheitsvarietäten zu rechnen. 319 Was nun die späteren Standardformen betrifft, die sich partout nicht im nördlichen Hinterland von Paris auf dialektaler Ebene nachweisen lassen ([ o ] für <eau> sowie -ent und -aient; s.o.), scheint Lodge das ‘starke’, Trudgillsche Koineisierungskonzept als willkommenes Modell zu nutzen, um die Existenz solcher nicht-autochthoner Formen im Standardfranzösischen plausibel zu machen. Führt man sich jedoch vor Augen, daß die Situation im mittelalterlichen Paris eine Anwendung des Trudgillschen Konzepts wahrscheinlich nur bedingt, d.h. in einer relativ ‘milden’ Variante rechtfertigt, so erweist sich die Frage nach dem Weg, auf dem so ‘exzentrische’ Formen wie [ o ]/ <eau>, -ent oder -aient in den französischen Standard (und in das heutige gesprochene Französisch) gelangt sind, weiterhin als ungeklärt. Andererseits scheint Lodge die Radikalität des Trudgillschen Modells selbst zu relativieren, wenn er konstatiert, daß die Etablierung der Protostandardformen in den Pariser Texten nicht auf einmal, sondern sukzes- 319 Ein Aspekt, auf den Lodge nur am Rande eingeht, ist die Frage nach der sozialen Stratifizierung der mittelalterlichen Stadt (vgl. dazu Cazelles 1972, 33-79; Lorentz/ Sandron 2006, 73-77; Baldwin 2010, 17-62). Zwar kann Lodge (2004, 50-52) sich auf historische Untersuchungen berufen, wonach im neugegründeten Stadtteil auf dem rechten Seineufer (la Ville) keine soziale Segregation stattfand, so daß es zu einer Unterscheidung von ‘reichen’ und ‘armen’ Wohngegenden gekommen wäre, und entsprechend nachvollziehbar erscheint die Annahme, daß von den Händlern, Handwerkern, Tagelöhnern und Bediensteten, die in der Ville lebten, in der Tat ‘jeder mit jedem’ kommunizierte und daß es aufgrund eines langfristigen Prozesses von wechselseitigen Akkommodationen zur Herausbildung einer neuen gesprochenen städtischen Norm kam. Nichtsdestoweniger bleibt meines Erachtens die Frage offen, ob es nicht in der sozialen Makrostruktur der Stadt, die sich ein Stück weit auch topographisch im Unterschied zwischen Ville (Bürgertum), Cité (königliche und bischöfliche Institutionen) und Université (Studenten, Klerus) niederschlug, zu einer verstärkten sozialen und mithin auch sprachlichen Differenzierung gekommen sein könnte. Auch die Frage nach den gesellschaftlichen Gruppen, die überhaupt Zugang zur Schriftlichkeit hatten und als professionelle Schreiber an der Produktion etwa der Pariser Verwaltungsdokumente beteiligt waren, muß in diesem Zusammenhang gestellt werden. Im übrigen erscheint kaum nachvollziehbar, weshalb Lodge den Prozeß der reallocation, also die ‘Ummarkierung’ von dialektalen zu soziolektalen Formen innerhalb des städtischen Varietätensystems, überhaupt erst für die Zeit nach 1350, die Phase der ‘proto-industriellen’ Stadt, ansetzt. Diese Periodisierung scheint bei Lodge (2004, 32f.) allein dem urbanisierungsgeschichtlichen Modell von Hohenberg/ Lees (1985) geschuldet zu sein; sie entbehrt aber einer Fundierung in den sprachlichen Daten. Jedenfalls erscheint es methodisch kaum vertretbar, allein aus der reicheren Dokumentation standardferner Varietäten in späteren Jahrhunderten (etwa in literarischen Texten, die fingierte Mündlichkeit inszenieren) auf eine nur schwach ausgeprägte Diastratik im Mittelalter zu schließen. Vgl. dazu auch Selig (2008, 73, Anm. 2). 163 <?page no="176"?> sive, über einen Zeitraum von etwa einem Jahrhundert hinweg erfolgt sei, und daraus auf eine analoge Staffelung der dialektalen Übernahmen in die gesprochenen Varietäten der Stadt schließt. Die sprachgeographische Exzentrik bestimmter von Lodge untersuchter Merkmale paßt also nicht unbedingt zu den soziolinguistischen Umständen der mittelalterlichen Urbanisierung von Paris, die - ungeachtet des gewiß beträchtlichen quantitativen Aspekts des Zuzugs - insgesamt doch eher für eine längerfristige, sich aus dem unmittelbaren sprachlichen Hinterland speisende Form des Dialektkontakts sprechen. Wie wir gesehen haben, ist diese Art des Kontakts zur Erklärung von Variationsphänomenen wie [ w ε] vs. [ε] (Osten vs. Westen) oder -ions vs. -eins (Nordwesten vs. Südosten) vollkommen ausreichend, und auch das levelling-out, also die Meidung bestimmter ländlich markierter Formen in der Pariser Stadtsprache läßt sich durch längerfristigen Kontakt benachbarter diatopischer Varietäten gut erklären. Unklar und mangels Anwendbarkeit des Trudgillschen Koineisierungskonzepts auch weiterhin offen bleibt aber die Frage nach der Herkunft der nicht im unmittelbaren Hinterland der Stadt verwurzelten und mithin vermutlich quantitativ gar nicht ausreichend in der neuen Stadtbevölkerung repräsentierten Formen wie <eau> ([(e)o]? ), -ent oder -aient. Um die Durchsetzung der späteren Standardvarianten in der gehobenen Pariser Stadtsprache zu erklären, müßte deren diastratische Überlegenheit im spätmittelalterlichen Varietätenkontakt nachgewiesen werden. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang Cazelles’ (1972, 140-144) Hinweis auf Michaëlssons (z.B. 1961) anthroponymische Untersuchung von Pariser Steuerlisten aus der Zeit Philipps III. (1285-1314). Nach Cazelles zeigt nämlich die Häufigkeit der Namen le Breton und l’Anglois, daß die Pariser Immigranten, die nicht aus dem unmittelbaren Hinterland der Stadt stammten, vor allem aus dem Westen (Bretagne) und aus England kamen, wobei anzunehmen sei, daß gerade der auffällige Akzent der Immigranten ein entscheidendes Kriterium für die Vergabe der Herkunftsnamen war. [...] ces qualificatifs d’origine devaient être attribués aux immigrants d’Angleterre et de Bretagne, d’une manière générale, à cause de leurs accents particuliers. Le ‘faux français’ d’Angleterre, comme le breton parlé par ces nouveaux venus à Paris devaient paraître particulièrement singuliers aux Parisiens de vieille souche. (Cazelles 1972, 142) Es erscheint allerdings kaum denkbar, daß eine von den Parisern als fremd oder gar als bizarr wahrgenommene Sprechweise als Modell für die Übernahme minoritärer Varianten in die gehobene Stadtsprache gedient haben soll. Als Erklärung für die Durchsetzung der Minderheitsformen bietet sich somit nur die von Lodge so entschieden zurückgewiesene Hypothese einer Standardisierung ‘von oben’ an. Der Wandel der spätmittelalterlichen Pariser Skripta zeugt in dieser Sicht keineswegs von einer sukzessiven graphi- 164 <?page no="177"?> schen Adaptation städtischer Sprechnormen, sondern von der fortschreitenden Ausbildung einer bzw. Ausrichtung an einer überregionalen Schriftvarietät, in die vor allem westliche ((anglo-)normannische) und nördliche (pikardische) Formen Eingang fanden. Zwar wirkten die Pariser Institutionen, die sich im 13. Jahrhundert nach und nach der Volkssprache zu bedienen begannen, in zunehmendem Maße an der langsamen Stabilisierung der neuartigen, ‘pan-französischen’ Skripta mit. Sie erschufen diese aber nicht in monozentrischer Form als bloßes Abbild irgendeiner in Paris gesprochenen Varietät, um sie den übrigen nordfranzösischen Provinzen, gewissermaßen als fertiges Produkt, zur Übernahme vorzusetzen. In diesem Zusammenhang erscheint ein ganz wesentlicher methodischer Aspekt von Lodges Theorie fragwürdig, nämlich seine nicht weiter hinterfragte Vorannahme, daß ‘das Französische gegen Ende des Mittelalters von den meisten Parisern als gesprochene Sprache angenommen’ worden sei (vgl. Lodge 2004, 75 und obiges Zitat, Lodge 2010b, 33). Ein schriftsprachlicher Ursprung dieser mutmaßlichen städtischen Sprechvarietät kommt für Lodge ja deshalb nicht in Frage, weil angesichts einer verschwindend geringen Alphabetisierungsrate im Mittelalter auszuschließen sei, „that a partially standardised written language profoundly modified the speech of a sizeable part of the Paris population during the Middle Ages“ (Lodge 2004, 75). Nun stellt sich aber die Frage, wie Lodge überhaupt zu der Vorstellung kommt, daß am Ende des Mittelalters bereits halb Paris (oder gar „most Parisians“) ‘französisch’ gesprochen habe. Die Indizien, auf denen diese starke These aufbaut, gewinnt Lodge aus besagten Urkunden der prévôté de Paris (1249-1365). Zwar räumt Lodge prinzipiell ein, daß es naiv sei anzunehmen, die schriftlich konzipierten Urkundentexte könnten als naturgetreues Abbild der gesprochenen Sprache von Paris verstanden werden. Unter Berufung auf Dees (1985) - und in Ermangelung direkter Quellen für die gesprochene Sprache der spätmittelalterlichen Stadt - optiert Lodge aber letztlich doch für die Methode, aus der Variation, die sich in den zeitgenössischen Urkunden ermitteln läßt, auf die sprechsprachlichen Verhältnisse im Paris des 13. und 14. Jahrhunderts zu schließen: The written forms we encounter in these documents cannot be interpreted in a simple referential way. Medieval French spellings could stand for a multiplicity of pronunciations and could travel independently of speech. Our thirteenth-century Parisian scribes did not invent a writing system ex nihilo: they were building on a conventional system matching up sound and letters which was thoroughly well established before they set to work. [...] However, the fact that we are dealing with speech refracted through the prism of a writing system, and that the relationship between speech and writing was complex, does not mean that there was no relationship between the two codes, particularly in the early stages of the development of a writ- 165 <?page no="178"?> ing system. When we encounter particular Old French spelling variants rather than alternatives, we must not infer that the writer intended particular pronunciations in each particular case, but, analysed quantitatively, we might expect that variation in the writing system to correlate in some measure with variation in the speech of the community. (Lodge 2004, 84f.) Just kommt Lodge aufgrund der diachronen Auswertung der 75 von ihm ausgewählten Urkunden der prévôté zu dem Schluß, daß die darin zu beobachtende fortschreitende Reduktion des Variantenreichtums es erlaube anzunehmen, daß auch das gesprochene Pariser Französisch einen derartigen Vereinheitlichungsprozeß durchgemacht habe, ja daß der in den schriftlichen Dokumenten abzulesende Standardisierungsprozeß nur die Folgeerscheinung einer vorgängigen sprechsprachlichen Koineisierung sei: We saw that the Parisian writing system embodied a specifically Parisian mixture of dialect forms, and, while resisting the temptation to see these spellings naïvely as direct representations of speech, we followed Dees’s thinking that variability in the writing system, analysed quantitatively, correlated up to a point with variation in speech. No valid reconstruction of the spoken language is possible, of course, but it would appear that koinéisation in Paris occured progressively, with different exogenous elements being absorbed into the Parisian system at different times. (Lodge 2004, 102) Lodge schließt also aus einer in den schriftlichen Zeugnissen des 13. und 14. Jahrhunderts zu beobachtenden Standardisierungstendenz auf eine vorgängige Standardisierung (‘Fokussierung’) in der gesprochenen Sprache der Stadt Paris und legitimiert dies durch die von Dees (1985) vertretene Überzeugung, daß schriftsprachliche Variation im Mittelalter ‘bis zu einem gewissem Grad’ mit sprechsprachlicher Variation korreliere. Weshalb aber soll die Variantenreduktion zuerst in der gesprochenen Sprache stattgefunden und sich dann in den Urkunden niedergeschlagen haben? Für Lodge ist dieser Schluß zwingend, da er eine Standardisierung in entgegengesetzter Richtung, also ‘von oben nach unten’, für das Mittelalter unter Verweis auf die niedrige Alphabetisierungsrate grundsätzlich ausschließt. - Und wie steht es um die Gültigkeit der Deesschen Prämisse, auf die Lodge sich in seiner Argumentation wiederholt beruft? In der Tat beruhen Dees’ Arbeiten ganz wesentlich auf der Annahme, daß die in den Texten des 13. Jahrhunderts zu beobachtende Variation Rückschlüsse auf das topische Profil der zugrundeliegenden gesprochenen Idiome erlaubt, daß also beispielsweise ein hoher Anteil von Formen ohne epenthetische Konsonanten (z.B. ven(d)redi) vor allem in den Dokumenten aus solchen Regionen zu erwarten ist, wo auch die gesprochenen Varietäten keine Epenthese kennen. Die grundsätzliche Richtigkeit dieses Zusammenhangs hat Goebl (2006) durch seinen dialektometrischen (bzw. skriptometrischen) Vergleich von Daten aus dem ALF und aus Dees’ Urkundenatlas eindrucksvoll unter Beweis gestellt. 166 <?page no="179"?> Nun ist jedoch zu beachten, daß Dees (1985) seine Erkenntnis der ‘Dialektalität’ von geschriebener Sprache im 13. Jahrhundert ausschließlich aus dem synchronen Vergleich von Texten aus verschiedenen Regionen der Nordgalloromania gewinnt. 320 Wenn Lodge aber aus der diachronen Reduktion von Varianten in der Schrift zwischen 1249 und 1365 auf eine vorgängige (oder gleichzeitige) Reduktion dieser Varianten in der gesprochenen Sprache ein und desselben (sozial-)geographischen Raums, nämlich der spätmittelalterlichen Stadt Paris schließt, so könnte er einem folgenschweren Irrtum aufsitzen. Im synchronen Vergleich unterschiedlicher Schreibräume aus dem jeweiligen topischen Profil von geschriebener Sprache auf das jeweilige topische Profil von gesprochener Sprache zu schließen, setzt nämlich implizit voraus, daß für die untersuchten Räume ein ähnlicher Grad von normativer Abhängigkeit bzw. Autonomie der Schrift gegenüber der gesprochenen Sprache angenommen wird. Zwar gilt diese Prämisse keineswegs immer (so könnte zum Zeitpunkt x in Raum A ein Schreiber a aus irgendwelchen Gründen bewußt einer Norm folgen, die gerade nicht die topischen Kennzeichen von Raum A aufweist, während ein Schreiber b in Raum B weiterhin die ‘seinem’ Raum zugeordnete Schriftvarietät verwendet); auf Dees’ großangelegten Vergleich von nordfranzösischen Schreibräumen im 13. Jahrhundert dürfte sie aber zutreffen, da prinzipiell nicht anzunehmen ist, daß der Abstand zwischen gesprochener und geschriebener Sprache in den untersuchten Regionen zum selben Zeitpunkt unterschiedlich weit fortgeschritten war. 321 Wenn nun aber ein Schreiber a in Raum A zum Zeitpunkt x eine größere Varianz oder topische Spezifik in der Schrift aufweist als im selben Raum A ein Schreiber b zu einem deutlich späteren Zeitpunkt y, so bedeutet dies keineswegs zwangsläufig, daß Schreiber b inzwischen auch in der Mündlichkeit einer Art Einheitsnorm folgt, sondern zeigt schlichtweg, daß es während des Zeitraums, der zwi- 320 Die Angemessenheit dieser Methode kann durch den (vielleicht nicht ganz naheliegenden) Vergleich mit heutigen Texten aus unterschiedlichen Gebieten einer plurizentrischen Sprachgemeinschaft wie etwa der spanischen, der englischen oder der deutschen veranschaulicht werden, wo beispielsweise die Orthographie oder Verwendung bestimmter Lexeme oder bestimmter Vergangenheitstempora Hinweise auf die Herkunft, und damit unter Umständen auch auf einen primär- oder sekundärdialektalen Hintergrund eines Schreibers geben kann. 321 Eine andere Meinung vertritt Wüest (2003, 220): „La sociolinguistique nous fournit [...] un modèle qui permet d’expliquer pourquoi, dans certaines régions, les dialectes écrits au Moyen Âge pouvaient s’écarter considérablement des dialectes parlés, alors que cela n’était pas le cas dans d’autres régions. La raison en est que tous les dialectes parlés n’avaient pas le même prestige, et que tous les scribes n’étaient pas également fiers de leur propre dialecte. Certains scribes devaient éprouver un sentiment d’insécurité linguistique vis-à-vis de leur propre façon de parler, ce qui pouvait les amener à imiter, en écrivant, des modèles jugés plus prestigieux.“ Vgl. jedoch Anm. 270. 167 <?page no="180"?> schen x und y liegt, zu einem Prozeß der Deregionalisierung in der Schriftlichkeit gekommen ist. Aus der Tatsache, daß im Lauf des 13. und 14. Jahrhunderts eine Variantenreduktion in der Skripta der prévôté de Paris stattgefunden hat, auf eine analoge, ja primäre und dauerhafte Vereinheitlichung in der gesprochenen Sprache zu schließen, ist dagegen höchst spekulativ. Im übrigen zeigen die von Lodge selbst analysierten Quellen für die sprachliche Variation im Paris des 16. bis 18. Jahrhunderts, daß in der Stadt bis weit in die Neuzeit hinein keineswegs nur (proto)standardfranzösisch gesprochen wurde (vgl. Selig 2008, 80; s.o.). Warum also sollte dies zu Beginn des 14. Jahrhunderts so gewesen sein? Selbst Lodge (2004, 105) relativiert im Kapitel zur „proto-industrial city“ (1350-1750) die Pertinenz der mutmaßlich am Ende des Mittelalters erreichten Verfestigung einer spezifischen Pariser Sprech- und Schreibnorm: „Koinéisation in medieval times may have involved the emergence in Paris of a new, relatively stable mixture of dialect features, but it did non entail homogeneity [...].“ Vielmehr sei es in ‘proto-industrieller’ Zeit aufgrund von „persistent and often violent demographic fluctuation“ zu „more variation in language, not less“ gekommen, und vor allem seien die nach dem Koineisierungsprozeß ‘übriggebliebenen’ Dialektformen als diastratische Varianten ‘realloziert’ worden 322 , woraus sich die in den Texten des 16. bis 18. Jahrhunderts dokumentierte starke soziale Variation ergebe. - Es scheint fast, als versuchte Lodge sich hier aus der argumentativen Bredouille zu befreien, in die er sich durch seine übereilte Ineinssetzung von gesprochener und geschriebener Sprache im Mittelalter gebracht hat. Warum aber soll man überhaupt die Etablierung einer mündlichen Norm im 12. bis 14. Jahrhundert annehmen, wenn die mutmaßlich dadurch erzielte relative Einförmigkeit für die Folgezeit wieder aufgebrochen werden muß? Zwar werden in der Stadtsprachenforschung Reallokationsprozesse in der Tat als Folge einer abgeschlossenen Koineisierung dargestellt, und es gibt zahlreiche gut dokumentierte Studien zu entsprechenden Fallbeispielen aus dem 20. Jahrhundert. 323 Wieder ist es aber die Chronologie der veranschlagten soziolinguistischen Prozesse, die bei Lodge zu Ungereimtheiten führt. Wenn nämlich die Ummarkierung dialektaler zu soziolektalen Varianten 324 ein Prozeß ist, 322 Vgl. dazu Selig (2008, 73, Anm. 2). 323 Vgl. dazu Kerswill (2002). 324 Kerswill/ Trudgill (2005, 199) schließen auch diaphasische oder allophonische Variationsphänomene mit ein: „Even after koineisation (mixing, levelling, and simplification), some competing variants left over from the original mixture may survive. Where this happens, reallocation may occur, such that variants originally from different regional dialects may, in the emerging new dialect, become social-class variants, stylistic variants, or, in the case of phonology, allophonic variants [...].“ - Was die Variation von [wε]/ [wa] vs. [ε] betrifft, besteht im modernen Französisch in der Tat eine kombinatorische Allophonie je nach lexikalisch-morphematischem Kontext. 168 <?page no="181"?> der sich in enger zeitlicher Nähe mehr oder weniger unmittelbar aus der Koineisierung ergibt (es darf ja nicht erst zu einem Aussterben von Varianten kommen), dann ist mit Recht die Frage zu stellen, weshalb Lodge eine „epochale[r] Umdeutung“ (Selig 2008, 73) der beiden Entwicklungsschritte vornimmt, mit dem Ergebnis, daß die Koineisierung (1100-1350) und die Reallokation (1350-1750) in seiner Theorie zu streng separierten und dabei jeweils mehrere Jahrhunderte umspannenden Ereignissen werden. Sinnvoller erschiene es demgegenüber, auch für das Spätmittelalter ein gewisses Maß an sprechsprachlicher Variation unterhalb dessen, was uns die spärliche schriftliche Überlieferung zeigt, zuzulassen, anstatt einen hypothetischen gesprochenen Protostandard zu postulieren, nur um diesen als eine Art Steigbügel für die ab Mitte des 13. Jahrhunderts sich herausbildende Pariser Skripta zu benutzen. Auch die von Lebsanft (2005) interpretierte lettre de rémission aus dem Jahr 1388 325 , durch die ein Pariser Handwerker durch König Karl VI. begnadigt wurde, nachdem er im Streit einen neu zugezogenen Pikarden erstochen hatte, zeigt, daß im Spätmittelalter durchaus nicht alle Bewohner von Paris dieselbe (diatopische) Varietät sprachen. Der als streitsüchtig bekannte Pikarde hatte den Pariser provoziert, so daß dieser ihn wegen seines pikardischen Akzents verhöhnte. Daraufhin sah sich auch der Pikarde dazu veranlaßt, die Sprechweise des Parisers nachzuäffen. Diese wird allerdings im Wortlaut des Gnadenerweises als „langage de France“ bezeichnet, was wiederum ein Indiz für eine intakte sprachliche Kontinuität zwischen Stadt und Umland im späten 14. Jahrhundert darstellt. 326 325 Vgl. auch Lusignan ( 2 1987, 71) und Lodge (1993, 98). 326 Noch in der Grammatikographie des 16. Jahrhunderts wird die französische Norm keineswegs pauschal mit der Pariser Stadtsprache oder der Sprache der Île-de-France identifiziert (vgl. Trudeau 1992; Cerquiglini 2007, 35-51). Zwar lokalisiert Palsgrave [1530] (1852, 34) in der Außenperspektive des Engländers die Zielnorm seiner französischen Grammatik wie selbstverständlich zwischen Seine und Loire (ein Topos, der bereits aus in England verfaßten Französischlehrwerken des 14. und 15. Jahrhunderts bekannt ist; s.u.). In Frankreich selbst war die Sicht auf das zeitgenössische Diasystem aber differenzierter. Bei Meigret [1550] (1888) etwa wird die Norm eindeutig diastratisch, nämlich beim „courtizan Françoęs“, verankert, dessen Sprache, die „nayve Françoęze“, sich gegenüber anderen Varietäten gerade daduch auszeichnet, daß sie nicht räumlich beschränkt ist, sondern überall verstanden wird (vgl. Schmitt 1977, 221f.; vgl. Trudeau 1992, 75: „[…] si Meigret localise les ‘fautes’ ou des ‘vices’ de prononciation régionaux, jamais il ne rattache la ‘nayve Françoęze’ à un lieu géographique précis. Malgré le constant appel à l’usage et à la ‘nayve Françoęze’, ces concepts ne renvoient sans doute pas au seul français de Paris.“; vgl. zu Unterschieden zwischen Meigrets courtizan und Castigliones cortegiano Trudeau 1992, 79-85). Gewiß konzentrieren sich die honnêtes gens, die Angehörigen des Adels und der bourgeoisie de robe, in der Hauptstadt, weshalb die Norm ab Mitte des 16. Jahrhunderts unweigerlich mit Paris assoziiert, also gewissermaßen sekundär geographisch verankert 169 <?page no="182"?> Lodges Behauptung, der französische Protostandard sei ‘gegen Ende des Mittelalters von den meisten Parisern als gesprochene Sprache angenommen’ worden, beruht mithin auf einer fragwürdigen Korrelierung von schriftsprachlicher und sprechsprachlicher Variation anhand des analysierten diachronen Urkundenmaterials. 327 Die auf der Grundlage dieser Quellen entwickelte ‘Beweisführung’ ist nicht nur, wie Lodge (2004, 82) selbst einräumt, „of a very indirect sort“; sie erscheint insofern unangemessen, als sie die prinzipiell immer mögliche Autonomie schriftsprachlicher Standardisierungsprozesse gegenüber der Ebene der in einem bestimmten Raum gesprochenen Varietäten systematisch verkennt. Die Ausschließlichkeit, mit der Lodge die topische Kompositionalität des französischen Standards aus der städtischen Nähesprache heraus zu erklären versucht, basiert letztlich auf einer optischen Täuschung, welche Lodge glauben macht, hinter der teilstandardisierten Schreibnorm, deren Herausbildung in den spätmittelalterlichen Pariser Dokumenten zu beobachten ist, stehe notwendig eine fokussierte Sprechnorm, der am Ende des 13. Jahrhunderts bereits ein Großteil der Pariser Bevölkerung gefolgt sei. wird. Noch Henri Estienne schließt aber die volkstümlichen Pariser Varietäten explizit aus dem Normbegriff aus (vgl. Estienne [1582] (1999, 261): „vulgus semper excipio“; Estienne [1579] (1896, 180): „ainsi ne faut-il pas estimer que tout ce qui est du creu de Paris soit recevable parmi le pur et nayf langage François“), während er zur Bereicherung des bel usage gelegentliche Entlehnungen aus den regionalen Varietäten durchaus empfiehlt und sich dabei auch auf die griechische Koine beruft. - Im übrigen erscheint der Gedanke, daß die gepflegte, medial-mündliche Ausdrucksweise des Adels und des Pariser Großbürgertums im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit bereits ‘von oben’, aus der Schriftlichkeit, beeinflußt werden konnte, keineswegs derart abwegig, wie Lodge (2004, 75) dies unter Verweis auf die niedrigen Alphabetisierungsraten darstellt. Distanzsprachlichkeit ist eben auch im phonischen Medium möglich, und dies gerade im Kontext der teils hochformalisierten Alltagspraxis einer gesellschaftlichen Elite. Lodges Annahme, von nicht-autochthonen sprachlichen Formen geprägtes, stilisiertes Distanzsprechen sei nur in weitgehend alphabetisierten Gesellschaften möglich, ist kulturhistorisch unzutreffend (vgl. Ong ²2002; Zumthor 1983). Selbst das Hochdeutsche, dessen struktureller Abstand zum Niederdeutschen um ein Vielfaches größer ist als der des Schriftfranzösischen zu den Primärdialekten der Île-de-France, war bereits im 18. Jahrhundert, also noch vor Beginn der großen Alphabetisierungswelle, als elitäre Kultursprache im niederdeutschen Raum etabliert (vgl. Scheuermann 2004). Und auch in Deutschland sollte es zu einer sekundären sprachgeographischen Lokalisierung des Standards in einer Stadt kommen, die historisch rein gar nichts mit dessen Entstehung zu tun hatte: seit Siebs (Hrsg.) (1898) gilt bekanntlich Hannover als geographischer Referenzort für die hochdeutsche Orthoepie. 327 Vgl. dazu auch Selig (2008, 80, Anm. 1): „Der Nachweis [der räumlichen Diskontinuität bei den Verbendungen -ent und -aient] beruht auf der Interpretation der mittelalterlichen Pariser Dokumente als unmittelbarer und unverfälschter Wiedergabe des gesprochenen Pariserischen. Man kann hier bekanntlich ganz anderer Meinung sein.“ 170 <?page no="183"?> Wie Völker (2011) betont, stellt die schichtenübergreifende, sprechsprachliche Verbreitung einer Norm in der Regel keine Voraussetzung für einen Standardisierungsprozeß dar, sondern ist vielmehr dessen - womöglich langfristige - Folge. Dies veranschaulicht nicht nur Haugens (1983) vierstufiges Standardisierungsmodell, wonach die Selektion einer Norm völlig unabhängig von ihrer (späteren) Implementierung erfolgen kann. Auch Standardisierungsgeschichten wie die deutsche oder die italienische zeigen, daß eine Standardvarietät zur Zeit ihrer Herausbildung (‘Selektion’) und Kodifizierung keineswegs als gesprochene Sprache im vom Standardisierungsprozeß betroffenen Kommunikationsraum verbreitet sein muß. Wie sonst wäre es zu erklären, daß ein kompositer Schriftstandard wie der deutsche, der weder aus einer primären Dialektvarietät noch aus einer nähesprachlichen Dialektmischung abgeleitet werden kann, sich schon während des 15. und frühen 16. Jahrhunderts im gesamten von der Standardisierung betroffenen Kommunikationsraum (einschließlich des niederdeutschen Sprachgebiets! ) zu verbreiten begann 328 , wo doch im vorreformatorischen Deutschland kaum mit wesentlich höheren Alphabetisierungsraten zu rechnen sein dürfte als im spätmittelalterlichen Paris? Ähn- 328 Vgl. dazu Moser (1977, Teil I, 275f.), der das Verhältnis des grundsätzlich auf oberdeutsch-bairischer Basis beruhenden Schreibusus der kaiserlichen Kanzlei Maximilians I. zu ‘außerbairischen’ Schreibtraditionen wie folgt beschreibt: „Beim Vergleich der regionalen Schriftsysteme hat sich die […] Beobachtung bestätigt, daß man aufgrund ihrer Ähnlichkeit um die Wende des 15. zum 16. Jahrhundert (und wohl schon früher) beinahe von mehreren ‘Subsystemen’ eines einheitlichen Graphemsystems sprechen kann […]. Das gilt besonders für den bair.-österr., ostfränk., schwäb. und ostmdt. Usus […]. Die Wurzeln dieser Vereinheitlichung lassen sich zum Teil sehr weit zurückverfolgen […]. […] Das Spannungsverhältnis des untersuchten [kaiserlichen] Kanzleiusus zur Schreibe gleichzeitiger Texte [d.h. aus dem Zeitraum 1490- 1518] kann nicht nur regional, sondern auch soziologisch, als Ausdruck gehobener, Provinzialismen meidender Schreibdisziplin interpretiert werden. Bei den wichtigsten Parallelen und Übereinstimmungen mit außerbair. Schrifttraditionen hat die Einzelanalyse immer wieder ergeben, daß sie auf gehobener Ebene am deutlichsten faßbar waren. Besonders die bedeutenderen ostmdt. Kanzleien, an ihrer Spitze die kursächsische, stehen der kaiserlichen überraschend nahe. Ihr Usus entspricht in entscheidenden Punkten dem der kaiserlichen Kanzlei besser als dem gleichzeitigen Usus einer zum Vergleich herangezogenen Franziskanerregel, die ostmdt. Schreibtradition auf niedrigerer Ebene repräsentiert.“ - Vgl. auch Rudolf (1962, 132) zur deutschen Urkundensprache Südböhmens im 14. Jahrhundert: „Obwohl die Prager Kanzlei […] bis 1350 kennzeichnende bair. Formen aufwies und unsere Urkunden dem mittelabair. Gebiet Südböhmens angehören, wurden doch grob mundartliche Züge vermieden […]. […] Um so auffallender sind die mitteld. Züge in unserem Gebiet. Sie zeigen […], daß im Mittelalter jedes Schreiben Kunst war und daß die Entstehung der Schriftsprache in erster Linie eine Tatsache der Kulturentwicklung war.“ - Vgl. zum Vordringen der hochdeutschen Schriftsprache im niederdeutschen Raum z.B. Gabrielsson (1983). 171 <?page no="184"?> liches gilt für das auf florentinischer Grundlage verschriftlichte Italienische, das ebenfalls schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts als überregionale Schriftvarietät etabliert war, und dies auch in peripheren Gebieten, wo mitunter noch heute ein substantieller, diglossischer Gegensatz zwischen den gesprochenen Primärdialekten des Italienischen und der geschriebenen Sprache besteht. Die Zurückweisung des Einflusses der Schriftlichkeit begründet Lodge mit einem generellen Primat der Mündlichkeit in der mittelalterlichen Gesellschaft und hält es für unwahrscheinlich, dass im Mittelalter eine skripturale Koine von der sozialen Oberschicht in die Oralität der breiten Massen hinunter diffundiert sein könnte. Bei näherer Betrachtung überzeugt dieses Argument nicht, denn es zielt ausschließlich auf den vierten von Haugens Entwicklungsschritten ab - nämlich die vertikakle, schichtenübergreifende Ausbreitung der Standardvarietät in der Gesellschaft - und [ist] somit in der Geschichte des Französischen ohnehin ohne jede Relevanz für das Mittelalter: Die Diffusion des Standards in die Oralität der breiten Bevölkerungsmassen hinein ist selbst im zentralistischen Frankreich ausschließlich ein Phänomen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts [...]. Auf die Auswahl einer protostandardisierenden Basisvarietät im ausgehenden Mittelalter kann dieser später anzusetzende Verlauf der Entwicklung somit keinen Einfluss ausgeübt haben, und vor diesem Hintergrund ist das angenommene Primat der Mündlichkeit im Mittelalter für den ersten von Haugens Faktoren ohne Bedeutung. (Völker 2011, 101f.) [...] für das Französische [ist] charakteristisch, dass ein Großteil der Kodifizierungsarbeit im 16. und 17. Jahrhundert sicherlich jenseits der breiten Bevölkerungsschichten geleistet wurde, und dass diese so erarbeitete und zunächst ‘aristokratische’ Standardvarietät erst später im Zuge der Revolution einen massiven Funktionsausbau erfuhr - und sich noch später im Zuge des Schulausbaus im 19. Jahrhundert und mit den Medien des 20. Jahrhunderts in allen gesellschaftlichen Schichten durchsetzte. Wenn Anthony Lodge demgegenüber ein allgemeines Primat einer breiten Mündlichkeit zur Grundlage seiner Hypothese macht, so trägt dies nicht dem Umstand Rechnung, dass Selektion und Kodifizierung durchaus en très petit comité geleistet werden können und dass somit im Rahmen dieser ersten beiden von Haugens Faktoren ein allgemeines und in der breiten Bevölkerung abgestütztes Primat der Mündlichkeit kein notwendiger Bestandteil dieses Prozesses ist [...]. (Völker 2011, 107) Wir sollten also anerkennen, daß uns die Ebene der gesprochenen Sprache im mittelalterlichen Paris nicht nur weitgehend verschlossen bleibt, sondern daß es für die Auswahl des Protostandards auch prinzipiell unerheblich ist, ob die Varietät, die sich ab Mitte des 13. Jahrhunderts in der Pariser Verwaltungsschriftlichkeit manifestiert, als gesprochene Sprache in der mittelalterlichen Stadt verankert war oder nicht. Für Lodge stellt sich eine Rückbindung der Pariser Skripta an die gesprochene Stadtsprache nur des- 172 <?page no="185"?> halb als zwingend dar, weil er von der - prinzipiell richtigen - Überlegung ausgeht, eine genuin schriftsprachliche Mischvarietät könne nicht schon im Mittelalter in die Gesellschaft der illitterati ‘hinunterdiffundiert’ sein. Die dabei stillschweigend vorausgesetzte Annahme, daß die in den Urkunden der prévôté dokumentierte Varietät im 13. und 14. Jahrhundert bereits in Paris gesprochen wurde, leitet Lodge jedoch allein aus dem Deesschen Grundsatz ab, wonach im Mittelalter generell ein sehr enger Zusammenhang zwischen schriftsprachlicher und sprechsprachlicher Variation bestanden habe. Lodge geht sogar so weit anzunehmen, daß die in den Urkunden der prévôté längerfristig zu beobachtende Variantenreduktion eine simultane Variantenreduktion in der gesprochenen Sprache der mittelalterlichen Stadt widerspiegle, und überträgt somit das von Dees in synchroner Perspektive für die Skriptae des 13. Jahrhunderts formulierte Prinzip auf die Diachronie der Pariser Urkundensprache. Gegen diesen Analogieschluß ist jedoch einzuwenden, daß nicht ohne weiteres von einem langfristig konstanten Grad der normativen Abhängigkeit der Schrift von der gesprochenen Sprache ausgegangen werden kann. Und selbst in synchroner Sicht ergeben sich Zweifel an der von Lodge unterstellten Gültigkeit der Deesschen Prämisse, denn diese wurde allein auf der empirischen Grundlage von Urkunden entwickelt, deren kommunikativer Radius verhältnismäßig kleinräumig lokalisierbar ist, und läßt somit die mögliche Bandbreite der sozialen und stilistischen Variation der - auch überregional eingesetzten - mittelalterlichen Skriptae außer Acht. Lodges pauschale Annahme einer starken Korrelation von schriftlicher und mündlicher Variation im 13. und 14. Jahrhundert ist somit ungerechtfertigt. Daß vielmehr prinzipiell mit einer divergenten Konzeption und sprachsoziologischen Funktionalität von gesprochener und geschriebener Sprache im Spätmittelalter zu rechnen ist, hat sehr eindringlich Schützeichel ( 2 1974) mit Bezug auf die deutsche Urkundensprache formuliert: Wichtig ist [...] doch die immer wieder an den verschiedensten Stellen gemachte Beobachtung, daß die Urkundensprache von vornherein von der örtlich gebundenen Mundart wegstrebt, von der Mundart, mit der sie nach Satzbau und Stil ohnehin kaum etwas gemein hat. Die Verhältnisse liegen im einzelnen oft sehr verwickelt. Aber das eigentümliche Spannungsverhältnis zwischen der Mundart und der sprachsoziologisch höheren Urkundensprache tritt allenthalben zutage, und es lassen sich recht deutliche Tendenzen beobachten, die in der Schrift das allzu Mundartliche und lokal Gebundene mehr und mehr aufgeben zugunsten von Formen und Lauten von überlandschaftlicher Geltung. (Schützeichel 2 1974, 324) Distanziert man sich von Lodges fragwürdigen Vorannahmen und relativiert man insbesondere die standardisierungsgeschichtliche Relevanz der Frage nach einer frühen sprechsprachlichen Verbreitung von Varianten wie <eau> oder <oi>, deren Zuordnung zu einer bestimmten Aussprache ohne- 173 <?page no="186"?> hin keineswegs evident ist 329 , so zeigt sich, daß das von Lodge als zentrales Argument gegen Cerquiglini (1991) vorgebrachte „implementation problem“ sich in Wahrheit gar nicht stellt. So ist überhaupt nicht einsehbar, weshalb es für einen Pariser Schreiber im 13. oder 14. Jahrhundert ein Problem hätte darstellen sollen, beispielsweise estoient oder beau zu schreiben, aber e(s)taint [ et ε ̃ ] oder [ bjo ] zu sagen. Daher sollte uns ‘das mittelalterliche Primat der Mündlichkeit’ nicht dazu verleiten, in der Schrift generell ein mehr oder weniger naturgetreues Abbild der gesprochenen Sprache zu sehen. Zwar konnten gerade im Bereich der auf lokale Belange beschränkten pragmatischen Schriftlichkeit in vormoderner Zeit gewiß noch dialektal markierte Schreibtraditionen zum Einsatz kommen; doch stellt diese vor allem von Dees (1985) propagierte Erkenntnis lediglich einen Teil der Wahrheit dar. Das mittelalterliche Primat der Mündlichkeit ist nämlich keineswegs nur ein Argument für die sprechsprachliche Beeinflussung der Schrift als der Rede nachgeordnetes, nur durch diese erschließbares System. Unter bestimmten Umständen ist ganz im Gegenteil von einem diglossischen Verhältnis auszugehen, also davon, daß die Schrift relativ autonom, als dem Lateinischen konzeptionell ebenbürtige Distanzvarietät erlernt und praktiziert wurde. 330 Daß vor allem in Situationen der überregionalen Kommunikation die geschriebene Sprache weitgehend unabhängig von der Ebene der sprechsprachlichen Variation funktionieren konnte, wird durch 329 Der meiner Formulierung implizite Widerspruch (‘die Frage nach der sprechsprachlichen Verbreitung der Grapheme <eau> und <oi>’) zeugt im übrigen von der grundsätzlichen Absurdität des Unterfangens, ein mittelalterliches Schriftsystem phonetisch auszudeuten. Diese fundamentale Einsicht liegt ja auch Gossens (1967) Skriptastudien zu Grunde. 330 Vgl. dazu Selig (2008, 78): „Bereits die Verschriftlichung der vernakulären Sprachformen ist ein Prozess, der Dialektausgleich begünstigt. Schriftsprachliche Normen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich von den an einem Ort gültigen nähesprachlichen Normen bewusst distanzieren und deshalb durch Strategien der De-Regionalisierung gekennzeichnet sind.“ (Selig 2008, 78). - Auch für einen Deutschschweizer wie Jakob Wüest ist die Einsicht in das diglossische Funktionieren von gesprochener und geschriebener Volkssprache im Mittelalter eine Selbstverständlichkeit: „Il y a [...] une [...] raison pour être circonspect vis-à-vis de la thèse selon laquelle le dialecte parisien se serait imposé tel quel comme langue standard. C’est que, ‘de l’oral à l’écrit, il y a un monde’ [...]. Une langue standard écrite ne sera jamais la même chose qu’un dialecte parlé. Cette différence se retrouve aujourd’hui entre le français écrit et le français parlé, et il y a lieu de penser que cette opposition a été encore plus tranchée par le passé, dans la ville même de Paris.“ (Wüest 2003, 221). Das Diktum „De l’oral à l’écrit, il y a un monde“ zitiert Wüest nach Morel/ Danon-Boileau (1998, 7). Wenngleich sich Wüests Distanzierung von der monotopischen These hier auf die traditionelle Auffassung bezieht, wonach sich der Primärdialekt von Paris als Standard durchgesetzt habe, scheint mir der Passus ebenso gut geeignet zu sein, um gegen Lodges These von einem Pariser Mischdialekt als topischer Basis des Standardfranzösischen zu argumentieren. 174 <?page no="187"?> die neueren, historisch-varietätenlinguistisch ausgerichteten skriptologischen Arbeiten von Völker (2003) und Gleßgen (2008) ganz eindeutig belegt. Es erweist sich mithin als unnötig, die dialektal nicht im Pariser Hinterland nachweisbaren Formen des Standards mit Gewalt in den gesprochenen Stadtvarietäten des Mittelalters zu verankern. Gerade die sukzessive Aufnahme der Formen -ions und <eau> in die Pariser Verwaltungsschriftlichkeit spricht recht eindeutig dafür, daß es sich dabei um aus anderen Skriptae übernommene Innovationen handelte, wobei die Frage nach dem Zeitpunkt, ab dem diese genuin schriftsprachlichen Übernahmen auch in die gesprochene Stadtsprache diffundierten, für die frühe Geschichte der Standardisierung in Frankreich von nachrangigem Interesse ist. Für die Frage nach sprechsprachlichen Elementen in der Pariser Verwaltungsschriftlichkeit erweisen sich meines Erachtens nur die im 13. und 14. Jahrhundert langsam verdrängten Formen, die in den Île-de-France-Dialekten des 20. Jahrhunderts noch relikthaft nachgewiesen werden konnten, als interessant. Vermutlich zeigt gerade die - heute erst ansatzweise erforschte (Videsott 2013) - Veränderung der Pariser Schreibgewohnheiten, die wir etwa in den von Lodge untersuchten Dokumenten der prévôté nachvollziehen können, daß auch die Pariser Skripta zunächst noch eine ganz ‘normale’, regionale Schreibtradition war. Sie scheint nämlich in einer ersten Ausbauphase noch stärker die in der Île-de-France dialektal verankerten Varianten (-eins/ -ains, <iau>) abgebildet zu haben 331 und erst ab dem späteren 13. Jahrhundert von einem Prozeß der Deregionalisierung erfaßt worden zu sein, in dessen Verlauf sich zunehmend Formen anderen regionalen Ursprungs durchsetzen konnten. Im übrigen ist es historisch plausibel, wenn sich in den frühen Urkunden, die im Namen des prévôt de Paris ausgestellt wurden, noch verstärkt regionalsprachliche Formen finden, denn die prévôté war bis zum Beginn der 1280er Jahre eine noch überwiegend mit lokalen Rechts- und Verwaltungsangelegenheiten befaßte königliche Institution 332 , die dementsprechend in einem viel kleineren geographischen Radius kommunizierte als die für das gesamte Königreich zuständige chancellerie. Interessanterweise wurden die Akte der prévôté schon seit Beginn der 1260er Jahre beinahe ausnahmslos auf französisch verfaßt, während die königliche Kanzlei noch 331 Vgl. dazu auch die Verbalflexive in den in Kap. 4.1.3 angesprochenen Urkunden aus Quantin (Hrsg.) (1873, Nr. 708, 361-363) und Videsott (2010); vgl. auch Lodge (2010b). - Vgl. zum Projekt der editionsphilologischen Erschließung und sprachwissenschaftlichen Auswertung der französischen Königsurkunden des 13. Jahrhunderts Videsott (2010; 2011; 2013). 332 Vgl. zur Organisation der prévôté de Paris Desmaze (1863), Lot/ Fawtier (1958, Bd. 2, 372-385) und Carolus-Barré (1963). Vgl. auch Lodge (2004, 83). 175 <?page no="188"?> bis zum Ende der Regentschaft Philipps IV. (1285-1314) so gut wie ausschließlich in lateinischer Sprache urkundete. Carolus-Barré (1963, 422 und 1976, 153-155) hat die Vermutung geäußert, daß der Niedergang des bischöflichen und erzdiakonalen Notariatswesens im Paris des späteren 13. Jahrhunderts unter anderem auf die innovative Verwendung der Volkssprache durch die prévôté (als lokaler Repräsentantin der königlichen Gerichtsbarkeit mit Sitz im Châtelet) zurückgeführt werden kann. Lusignan (2003, 63f.) berichtet, daß die territoriale Zuständigkeit der Pariser prévôté, die sich ursprünglich nur über das Stadtgebiet und 116 Gemeinden im näheren Umland erstreckte, sich unter Philipp IV. aus bislang unerforschten Gründen beträchtlich erweitert hat, so daß die - weiterhin ausnahmslos auf französisch verfaßten - Akte der prévôté sich nunmehr auf Angelegenheiten im gesamten Königreich beziehen konnten. Diese Ausdehnung des kommunikativen Radius könnte erklären, weshalb es sich bei der frühen Skripta der Pariser prévôté noch um eine topisch relativ stark profilierte Schreibtradition handelte und weshalb es seit Beginn der 1280er Jahre zu einem Prozeß der sukzessiven Ent- oder Überregionalisierung kam. Die Pariser Urkundensprache der 1260er und 1270er Jahre war also vermutlich noch eine Art franco-francilien - so wie es sich Remacles (1948, 139) Ansicht nach bei der wallonischen Skripta um ein franco-wallon handelte, also um eine im wesentlichen zwar schon zur Überregionalität tendierende Schreibsprache, die aber noch eine Reihe von regionalsprachlichen, dialektal motivierten Besonderheiten aufwies, vergleichbar etwa den gesprochenen français régionaux des 19. und 20. Jahrhunderts. 333 Der mit der Zeit wachsende ‘gemeinfranzösische’ Anteil der Pariser Skripta kann freilich weder auf einen Primärdialekt der Île-de-France (Remacle 1948) noch auf einen koineisierten Stadtdialekt von Paris (Lodge 2004) zurückgeführt werden; es handelt sich dabei vielmehr um einen Effekt der schriftsprachlichen Überregionalisie- 333 Der Vergleich mit den gesprochenen français régionaux hinkt freilich insofern, als bei diesen die regionale Verschiedenheit sekundär zur Einheit des bon usage ist, während die mittelalterlichen Regionalskriptae vermutlich keine von einer gemeinsamen Ausgangsnorm wegstrebenden Varietäten waren, sondern genuin regionalsprachliche Schöpfungen, die sich in einem langwierigen Prozeß der plurizentrischen Konkurrenz und wechselseitigen Beeinflussung einander immer weiter annäherten. - Wichtiges Quellenmaterial zur linguistischen Beschreibung einer scripta francilienne steht auch in Form der ca. 80 Urkunden aus der Edition von Carolus-Barré (1964) zur Verfügung, die zwischen 1241 und 1286 nicht im nördlichen, pikardischen Teil des heutigen Départements Oise angefertigt wurden, sondern im südlichen Grenzgebiet zur région parisienne. Hier bietet sich insbesondere eine Untersuchung der fünf Variablen an, deren standardsprachliche Ausprägung nach Lodge (2004) nicht dem primärdialektalen Ausgang im Pariser Hinterland entspricht (lediglich die Isoglosse -ions/ -eins scheint unmittelbar nördlich von Paris zu verlaufen, so daß in der gesamten Oise mit primärdialektalem -ions zu rechnen sein dürfte; vgl. Fondet 1995, 203). 176 <?page no="189"?> rung durch Zurückdrängung von in der Île-de-France dialektal verwurzelten Varianten (<iau>, <e>/ <ei>/ <ai>, -eins) zugunsten von Skriptaformen anderer regionaler Herkunft (<eau>, <oi>, -ions). Das Jahr 1280 dürfte auch insofern einen wichtigen Schritt in der Herausbildung einer überregionalen französischen Schriftsprache markieren, als seit diesem Zeipunkt in allen nordfranzösischen bailliages königliche Notariate nach dem Modell der Pariser prévôté eingerichtet wurden, die sich rasch als überaus effiziente Organe der freiwilligen Gerichtsbarkeit (fr. juridiction gracieuse) erwiesen und das bis dahin dominierende kirchliche Notariatswesen teilweise zum Erliegen brachten. Eingeleitet wurde diese Entwicklung durch einen Reformerlaß Philipps III. (1270-1285), dessen Bestimmungen uns leider nur indirekt durch das Zeugnis des Philippe de Beaumanoir [1283] (1899/ 1900) überliefert sind. 334 Wie in der Pariser prévôté wurde in den neugestalteten bailliages und prévôtés 335 ausschließlich auf französisch geurkundet. Bereits Monfrin (1972a, 53f.) hat die Vermutung geäußert, daß die flächendeckende Einrichtung dieser königlichen Notariate einen wesentlichen Impuls für die Vereinheitlichung der nordfranzösischen Urkundenskriptae gab. 336 Aus der administrativen Zentralisierung folgt aber nicht zwangsläufig, daß die in den 1260er und 1270er Jahren entwickelte lokale Skripta der Pariser prévôté im Prozeß des Ausbaus einer überregionalen königlichen Urkundensprache normativ dominierte. Vielmehr scheint es zur Herausbildung einer topisch kompositen, interdialektalen Schreibvarietät gekommen zu sein, die einen Kompromiß zwischen den traditionellen, schon ihrerseits weitgehend zur Überregionalität tendierenden nordfranzösischen Schreibsprachen bot. Denn wie Lodges diachrone Analyse der Dokumente der prévôté zeigt, erfuhr die Pariser Skripta im späteren 13. und früheren 14. Jahrhundert noch eine Reihe von charakteristischen Innovationen (z.B. in Form von -ions, <oi> und auch <eu> 337 ), 334 Vgl. zur Ordonnance Philipps III. und zur Organisation der freiwilligen Gerichtsbarkeit in Frankreich seit 1280 grundlegend Carolus-Barré (1935) und Bautier (1990b). 335 Ein königlicher bailliage war in der Regel in mehrere prévôtés (oder auch châtellenies) unterteilt. Dagegen war die prévôté de Paris - „en dépit de son nom traditionnel“ (Carolus-Barré 1976, 154) - ein vollwertiger bailliage. Vgl. auch Carolus-Barré [1944] (1998a, 99). 336 Vgl. zu dieser Hypothese auch Selig (2005a, 261). 337 Lodge (2004, 86-88) hält [ew] (graphisch <eu>) als Ergebnis von betontem vlt. [o] in offener Silbe für eine autochthone Variante des Pariser Raums. Daß vielmehr [ow] (graphisch <ou>) die primärdialektale Form der Île-de-France sein dürfte, während das Graphem <eu> eine aus dem Nordosten eingeführte Innovation darstellt, hat bereits Pfister (1973, 246-250) gezeigt. Bezeichnenderweise werden die in den älteren Urkunden der prévôté de Paris zwar schon minoritären, aber durchaus noch üblichen <ou>-Formen im 14. Jahrhundert fast vollständig verdrängt. Ein weiterer Fehler unterläuft Lodge (2004, 59f.), wenn er fr. bouche als Beispiel für die spontane Diphthongierung von lt. Ō / Ŭ „in stressed open syllables“ anführt ( BŬC . CA ! ). 177 <?page no="190"?> die sich meines Erachtens als normative Beiträge vor allem der nördlichen Regionen deuten lassen. Zudem hat ja die Pariser prévôté im Vergleich etwa zu den nordpikardischen Kommunalstädten oder zu den großen Herrscherkanzleien Lothringens (s.u.) verhältnismäßig spät das Französische als Urkundensprache angenommen. So gesehen waren vermutlich selbst die ältesten auf französisch verfaßten Akte der Pariser prévôté keine sprachlichen Kreationen ex nihilo, sondern dürften ihrerseits in der Tradition von andernorts bereits etablierten Formen der volkssprachlichen Verwaltungsschriftlichkeit gestanden haben. Die Tatsache, daß nun die chancellerie royale, die für das gesamte Königreich zuständig war und im Namen des Königs selbst urkundete, im Vergleich zum Notariatswesen in den bailliages und prévôtés noch deutlich länger am Lateinischen als Urkundensprache festhielt 338 , führt Carolus-Barré (1976, 155) auf den Umstand zurück, daß die Kapetinger seit dem 13. Jahrhundert auch über beträchtliche Gebiete im okzitanischen Sprachraum (vor allem die Grafschaft Toulouse) regierten, deren Verwaltung in der Tradition des römischen Rechts stand und somit engstens mit dem Gebrauch des Lateinischen verbunden war: Depuis la réunion des sénéchaussées méridionales de Beaucaire-Nîmes et de Carcassonne-Béziers, le Capétien règne également [...] sur des pays de droit écrit, où exercent leurs fonctions diverses de nombreux juristes imbus du droit romain et rompus à l’usage de la langue latine. On peut se demander si une telle situation n’aurait pas incité la royauté à maintenir - un premier temps - l’usage d’une seule et même langue commune, le latin, pour la promulgation de textes destinés à être appliqués à l’ensemble du royaume. (Carolus-Barré 1976, 155) Lusignan (2003) bestätigt diese Vermutung, indem er zeigt, daß, selbst nachdem im Oktober 1330 die Zahl der französischen Königsurkunden erstmals die Zahl der lateinischen Königsurkunden überschritten hatte, noch 73% der Akte, die für die in der römischen Rechtstradition stehenden okzitanischen Gebiete bestimmt waren, auf lateinisch verfaßt wurden. Dagegen entfällt auf die Gebiete des domaine d’oïl, in denen das Gewohnheitsrecht herrschte, ein Anteil von lediglich 9% lateinischer Urkunden. Für die nordokzitanische Übergangszone zwischen römischem und Gewohnheitsrecht (Saintonge, Auvergne, Forez, Mâconnais) ergibt sich ein ungefähres 338 Eine erste Wende zugunsten des Französischen geschah nach der Inthronisierung Philipps VI. (1328-1350), und zwar im Oktober 1330. Zwischen 1330 und 1350 dominierte also die Volkssprache, doch unter der Regentschaft Johanns II. (1350-1364) wurde sie erneut vom Lateinischen zurückgedrängt. Erst unter Karl V. (1364-1380) konnte sich das Französische wieder gegen das Latein durchsetzen, zu dessen endgültiger Abschaffung als königlicher Rechtssprache es bekanntlich durch den Erlaß von Villers-Cotterêts (1539) kam. Vgl. dazu Lusignan (2003 und 2004, 68-153). 178 <?page no="191"?> Gleichgewicht von 46% lateinischen gegenüber 54% französischen Urkunden (gegenüber 82% zu 18% vor Oktober 1330). Lusignan (2003, 60) leitet aus diesem Befund die interessante Hypothese ab, daß die chancellerie Philipps VI. (1328-1350) eine Politik der Eindämmung des römischen Rechts verfolgte und mit dem Gewohnheitsrecht auch die französischen Sprache in den nordokzitanischen Gebieten zu verbreiten suchte, in denen die beiden Rechtstraditionen aufeinanderstießen. 339 Leider konnte in den Archiven bislang kein Dokument gefunden werden, aus dem die Hintergründe der im Oktober 1330 vollzogenen Umstellung der königlichen Verwaltungspraxis zugunsten des Französischen explizit hervorgehen würden. Was das sprachliche Profil des königlichen Französisch betrifft, so nimmt Völker (2011, 110) an, daß diese an der Spitze der sozialen Hierarchie stehende, der überregionalen Kommunikation dienende Schreibtradition dem Anspruch einer topisch möglichst unspezifischen Distanzvarietät gerecht zu werden hatte. Lusignan (1999; 2004) identifiziert das im 14. Jahrhundert nach und nach auf der Grundlage der königlichen Notariatssprache elaborierte Kanzleifranzösisch als unmittelbaren Vorläufer des späteren Standards und betont neben dem praktischen Aspekt, daß die königliche Skripta als Instrument der Kommunikation mit sämtlichen französischen Provinzen (seit Oktober 1330 zunehmend auch denen im okzitanischen Raum) diente, auch deren symbolisch-ideologische Funktion, den universellen Herrschaftsanspruch der französischen Könige zu repräsentieren. Diese ‘Nobilitierung’ komme auch durch latinisierende Tendenzen zum Ausdruck, die ab ca. 1330 auf allen sprachlichen Ebenen zu beobachten seien: Forcés d’utiliser le français, les notaires s’empressèrent de lui imposer une forme écrite plus solennelle et plus majestueuse inspirée du latin. Dès le règne de Philippe VI [1328-1350], on remarque l’évolution rapide de l’orthographe française de la chancellerie, qui multiplie les consonnes quiescentes rappelant souvent l’étymologie latine des mots. Le latin influa également sur le vocabulaire et la syntaxe des chartes royales. La chancellerie réalisa en faveur du français l’ambition que Dante avait formulée pour l’italien d’en faire une langue de grammaire, constante dans le temps et dans l’espace. L’expérience française confirmait l’hypothèse du De vulgari eloquentia, qu’une telle langue ne pouvait être qu’aulique. [...] À la différence des formes régionales de la langue, le français du roi n’appartenait à aucun espace géographique particulier. Il s’écrivait de façon à peu près identique à la chancellerie, dans les baillages au nord de Paris, et sans doute ailleurs en pays d’oïl, et il était compris un peu partout en 339 Es wurde auch spekuliert, daß Philipp VI. des Lateinischen nicht mächtig war und deshalb den Gebrauch seiner Muttersprache in den in seinem Namen ausgestellten Urkunden favorisierte. Vgl. Lusignan (2004, 113). 179 <?page no="192"?> France. Il réalisait l’idéal d’une langue au-dessus des dialectes, que depuis le XIII e siècle, le discours idéologique sur la supériorité du français de Paris appelait de ses vœux. (Lusignan 2004, 149) Ce français de la chancellerie et du notariat royal échappe aux particularismes locaux; il apparaît comme une langue uniforme sans ici ni ailleurs, à l’image de la souveraineté royale qui s’affirme uniment sur l’ensemble de la France; il est la langue identitaire du roi. (Lusignan 1999, 123) Es leuchtet ein, daß die im 14. und 15. Jahrhundert Schritt für Schritt vollzogene Ablösung der lateinischen durch die französische Rechtssprache nur unter der Voraussetzung geschehen konnte, daß die kommunikative Leistungsfähigkeit und überregionale Akzeptanz dieses innovativ gebrauchten Idioms sichergestellt waren. 340 Das Französische konnte nicht an die Stelle des Lateins treten, ohne sich dessen hochdifferenzierte Ausdrucksmöglichkeiten anzueignen und ohne dessen überzeitlichen und überräumlichen Geltungsanspruch auf die eigene Form zu übertragen. Die schriftsprachliche Vereinheitlichung ging also Hand in Hand mit der administrativen Zentralisierung des Königsreichs, wobei die von den königlichen Institutionen gebrauchte Skripta wohl nur eine Tendenz zur Überregionalität perfektionierte, die in mehr oder weniger starker Ausprägung - je nach intendierter kommunikativer Reichweite eines Schriftstücks - bereits in literarischen Manuskripten und in Urkunden des 13. Jahrhunderts vorhanden war. L’utilisation croissante du français par l’administration royale contribua fortement à l’unification de la langue. [...] les actes émanant des administrations royales bailliagières ont un caractère dialectal beaucoup moins marqué que les autres documents administratifs régionaux. Les officiers royaux n’étaient pas souvent originaires de la région qu’ils desservaient et sans doute cherchaient-ils à s’adresser aux institutions centrales dans une langue plus commune. C’est d’ailleurs dans les régions qui échappent à l’autorité royale comme la Wallonie ou la Lorraine que les particularismes linguistiques persistent le plus longtemps dans les actes, jusqu’à l’époque moderne. Mais le français que diffuse l’administration royale n’est pas inspiré en tout point du dialecte de Paris. (Lusignan 1999, 119) Angesichts der administrativen Notwendigkeit, möglichst großräumig zu kommunizieren, erscheint es in der Tat kaum vorstellbar, daß die in ganz Frankreich rekrutierten königlichen Notare und Kanzleischreiber sich einer lokal sehr spezifischen Sprachform bedienten und dem Pariser Volk gewis- 340 Ganz abgesehen von der Entwicklung in Frankreich wurde das Französische auch schon in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts als Verwaltungssprache in den durch die Kreuzzüge besetzten Gebieten des Nahen Ostens gebraucht. Vgl. dazu Carolus-Barré (1976, 148). - Vgl. zur Ablösung des Lateinischen und des Okzitanischen durch die französische Verwaltungssprache im Süden Frankreichs Brun (1923). 180 <?page no="193"?> sermaßen nach dem Mund schrieben. 341 Die Tatsache, daß das zunächst in den königlichen bailliages und später auch von der königlichen Kanzlei praktizierte Französisch seit Ende des 13. Jahrhunderts zum flächendeckenden Modell und Motor der Standardisierung wurde, impliziert also gerade nicht, daß diese Sprachform besonders ‘pariserisch’ war. Sie scheint ganz im Gegenteil als topisch unspezifische, überregionale Varietät funktioniert zu haben, und dies nicht nur aufgrund der pragmatischen Erfordernis der großräumigen Rechts- und Verwaltungskommunikation, sondern auch aufgrund ihrer symbolischen Bestimmung als vulgare aulicum, als „Sprache des höchsten und vornehmsten politischen Ortes“ 342 und somit als Repräsentantin des gesamtfranzösischen königlichen Herrschaftsanspruchs. Folgerichtig wird die Skripta der königlichen Institutionen bei Völker (2003) nicht als diatopische, sondern als diastratische Varietät definiert. Selig (2008, 82f.) gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken, daß sich aus Lodges sprechsprachlicher Koineisierungshypothese eine geradezu fatale Folge für die Konzeptualisierung des Überdachungsprozesses im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Frankreich ergibt. Dadurch daß Lodge nämlich versucht, die topische Kompositionalität des französischen Standards allein aufgrund der nähesprachlichen Kontaktprozesse zu erklären, die sich im Paris des 12. und 13. Jahrhunderts abgespielt haben mögen, wird die überregionale Verbreitung des Protostandards in sehr traditioneller Weise zu einem rein zentralistischen Vorgang reduziert. Denn auch wenn in Lodges Theorie der dialektale Input für den späteren Standard aus ganz Nordfrankreich kommt, impliziert seine „spoken koine hypothesis“ gleichwohl, daß das Französische letzten Endes allein in Paris entstand und daß auch seine überregionale Verbreitung, die Überdachung also, allein von der Hauptstadt ausging. Durch diese Konzeptualisierung wird leider die reduktionistische, auf die räumliche Dimension beschränkte Vorstel- 341 Lusignan (2004, 140-142) faßt das Französisch der Pariser Kanzlei als verschriftete Form einer interdialektalen Umgangssprache auf, genauer: einer ‘diatechnischen’ Mischvarietät, derer sich die aus allen möglichen Gegenden des Königreichs stammenden Kanzleischreiber im berufsalltäglichen Austausch bedient hätten. Völker (2011, 103) hält fest, daß Lusignans Hypothese zwar „ähnlich wie diejenigen von Lodge und Cerquiglini in den Anfängen der französischen Standardsprache von einem Varietätenausgleich ausgeht“, daß „[a]nders als bei Lodge [...] in Lusignans Hypothese dieser Ausgleich jedoch nicht an einen geographischen Ort gebunden [ist] - und anders als bei Cerquiglini nicht ausschließlich an die Skripturalität.“ Unklar bleibe, so Völker, weshalb Lusignan zunächst einen medial-mündlichen (aber nicht unbedingt nähesprachlichen? ) Ausgleich annimmt, wo doch die Verbreitung der kompositen Kanzleisprache eindeutig auf schriftsprachlichem Wege geschah. 342 Trabant (2003, 72). - Vgl. zur symbolisch-identitären Funktion des Französischen als königliche Reichssprache auch Blanc (2010). 181 <?page no="194"?> lung bestätigt, daß sich der Standard als eine Art fertiges Produkt wie ein Ölfleck vom geographischen Zentrum aus in die ‘Provinz’ verbreitet habe. 343 Andere Standardisierungsbeiträge, die auch nach dem 12. Jahrhundert noch aus ‘peripheren’ Gegenden kamen - und zwar nicht nur in Form von Sprechermigration, sondern vor allem auch auf schriftsprachlicher Ebene -, werden dagegen a priori ausgeblendet. Die Untersuchungen vormoderner Verschriftlichungssituationen zeigen [...], dass das durch die Überdachungsmetaphorik nahe gelegte Bild eines ‘Schirms’, der sich über den anderen Dialekten aufspannt, selbst aber unverändert bleibt, gerade nicht zutrifft. Die Etablierung einer überregionalen Schriftsprache kann auch mit wesentlichen sprachlichen Veränderungen der Ausgangsvarietät verknüpft sein, weil Prozesse des Dialektausgleichs auch innerhalb des schriftlichen, distanzsprachlichen Überdachungsprozesses auftreten. [...] Lodges Hypothese bietet einen Weg, das Grundproblem der altfranzösischen Schreibsprachenforschung elegant und einfach zu lösen. Die Dialektmischung, die den späteren Standard kennzeichnen wird, wird an einer begrenzten Periode der Immigration an einem bestimmten Ort festgemacht. Genau darin liegt aber auch die Gefahr seines Modells. Denn Lodge verlagert die Erklärung in einen Prozess, dem wir uns allenfalls annähern können, der aber mangels schriftlicher Dokumentierung immer den Status einer Hypothese behalten wird. Dadurch trägt er dazu bei, dass die alten, simplifizierenden Modelle der Überdachung als bloß passiver Übernahme des neuen Standards und der Verschriftlichung als unmittelbarer Wiedergabe der gesprochenen Sprache beibehalten werden können. [...] Aber der Rest von Nordfrankreich besteht auch im Mittelalter nicht nur aus ländlichen Gemeinden! Und der Gedanke, dass die städtischen Kanzleien, die Patrizier, die Kaufleute, die Beamten der herzöglichen und gräflichen Verwaltungen vollkommen passiv die sich ausbreitende Sprache des Königs übernahmen und an die Stelle ihrer ursprünglichen Normen setzten, dürfte eher der „ideology of standardisation“ (Lodge 2004: 6) geschuldet sein als einem unvoreingenommenen Blick auf die mittelalterliche Situation. [...] Wir sollten also der ‘Provinz’ ihr Recht zurückgeben und die Dynamik der Verschriftlichungssituation nicht von vorne herein durch den Blick auf die spätere Hauptstadt minimieren. Wir sollten anerkennen, dass bis ins 13. Jahrhundert hinein die Impulse und überregional wirksamen Einflüsse aus der ‘Provinz’, nicht aus Paris kamen, und dass die ‘Provinz’ nach dem 13. Jahrhundert aktiv und selbständig am Verschriftlichungsprozess teilnimmt. (Selig 2008, 78-83) Die Berechtigung von Seligs Einwänden kann anhand zahlreicher sprachhistorischer Fakten demonstriert werden. So beobachtet Kristol (1989), daß 343 Vgl. dazu auch Selig (2010, 316-320). 182 <?page no="195"?> die Graphie sprachdidaktischer Traktate aus England 344 noch gegen Ende des 14. Jahrhunderts pikardisch beeinflußt ist - auch wenn die Autoren vorgaben, sich am Pariser Sprachmodell zu orientieren: 345 A la fin du XIV e siècle, au moment où l’influence sur la graphie française en Angleterre se fait indubitablement plus forte, ce n’est pas simplement le modèle francien ou parisien qui est adopté. De l’affirmation que le parler de Paris constitue la langue de référence (qui est effectivement bien attestée dans les manuels anglais de la fin du XIV e siècle) à l’emploi effectif de cette langue il y a manifestement un grand pas qui n’est pas vraiment franchi au cours de la période observée. Le moins qu’on puisse dire, c’est que la tradition picarde a gardé une force de rayonnement non négligeable. [...] De toutes nos observations, il découle que la victoire finale du modèle linguistique parisien 346 [...] a occulté jusqu’ici le fait que pendant très longtemps, la norme de l’écrit français est restée polycentrique. (Kristol 1989, 366; Kursivierung im Original) Die Tatsache, daß die vorgebliche Orientierung mancher Sprachlehrwerke aus England am Pariser Sprachmodell nicht zu einer tatsächlichen Befolgung der Pariser Schreibnormen führte, legt den Verdacht nahe, daß der Verweis auf ‘das gute Französisch von Paris’ als bloßer Topos eingesetzt wurde. Der Begriff vom vorbildlichen français de Paris scheint also - wie übrigens zum Teil noch heute (vgl. Pustka 2008a) - oft nur die Projektion eines diastratisch und diaphasisch hoch markierten, als Erstsprache erworbenen Kontinentalfranzösisch gewesen zu sein, wobei der Bezug zur tatsächlich gesprochenen Stadtsprache womöglich nur imaginär war und nicht unbedingt auf eigener Erfahrung beruhte. Lusignan (2004, 225-231) hat gezeigt, daß in den bedeutenden villes de commune des Nordens im 14. Jahrhundert stark pikardisierende Abschriften von königlichen Urkunden angefertigt wurden, deren Originalversio- 344 Vgl. dazu auch Lusignan ( 2 1987, 101-111). 345 So schreibt etwa John Barton, der sich stolz als „escolier de Paris, nee et nourie toutez voiez d’Engleterre“ bezeichnet: „[...] j’ey baille aus avantdiz Anglois un Donait francois pur les briefment entroduyr en la droit language du Paris et de pais la d’entour [...].“ (John Barton, Donait francois, ca. 1400-1409; zit. in Kristol 1989, 353). 346 Hier ist zu betonen, daß le modèle linguistique parisien mit Bezug auf das Spätmittelalter noch nicht als ‘la langue parlée de Paris’ verstanden werden kann, sondern lediglich als ‘la forme du français écrit employée par les institutions royales’. Auch Kristol (1989, 366) relativiert seine oben zitierte Aussage, indem er zu bedenken gibt, daß die Grapheme <eu> und <oi> (statt anglonormannisch <ou> und <ei>) pikardischen Ursprungs sind, „même si la langue de Paris les a adoptés au cours de son histoire. Ainsi, certains phénomènes que, jusqu’à présent, on a simplement tenus pour parisiens parce qu’ils se sont infiltrés dans le parler de la capitale, auraient aussi bien pu rayonner directement à partir de la Picardie.“ 183 <?page no="196"?> nen im überregionalen français du roi verfaßt waren. 347 Andererseits scheinen in königliche Akte aus der Zeit Philipps VI. inserierte pikardische Urkundentexte graphisch kaum angepaßt worden zu sein. Lusignan (2004, 231) leitet daraus die schon von Carolus-Barré (1976, 150f.) für die Zeit Ludwigs IX. (1226-1270) formulierte These ab, daß die königliche Kanzlei im 14. Jahrhundert keine Politik der orthographischen Vereinheitlichung betrieb. 348 Andererseits ist das - von Gossen (1963, 240) als „Lokalpatriotismus“ bezeichnete - Phänomen der Pikardisierung königlicher Schriftstücke durch die städtischen Kanzleien des Nordens ein eindrucksvoller Beleg für die noch im 14. Jahrhundert stark ausgeprägte schriftsprachliche Plurizentrik in Nordfrankreich. Selig (2008, 83) kommt zu dem Schluß, daß der Überdachungsprozeß nicht als eindimensional-räumlicher und kontinuierlich fortschreitender Prozeß konzeptualisiert werden darf; vielmehr sei mit einer maximalen, nur varietätenlinguistisch zu erfassenden Komplexität der in Frage stehenden schriftkulturellen Aneignungsprozesse zu rechnen. Neben nur teilweisen, auf bestimmte sprachliche Merkmale oder auf bestimmte Diskurstraditionen beschränkten Formen der Deregionalisierung seien zum Teil auch „gegenläufige Bewegungen, nämlich Verstärkungen der Regionalität“ zu beobachten. Auch Lanher (1975; 1986) berichtet von einer fortschreitenden ‘Dialektalisierung’, die beim Vergleich der von ihm edierten ältesten volkssprachlichen Urkunden aus den Archives départementales des Vosges (1235-1271) mit später entstandenen Originalen oder Abschriften älterer Texte zu beobachten sei. Vor allem die aus den bedeutenden bischöflichen oder weltlichen Kanzleien Lothringens hervorgegangenen Stücke hätten in den 1230er bis 1260er Jahren noch kaum regionalsprachliche Besonderheiten aufgewiesen und seien damit in diastratischer Hinsicht klar von den dialektal verhältismäßig stark markierten Urkunden unterschieden gewe- 347 Vgl. dazu Carolus-Barré (1998b, 617): „[...] au Moyen-Age, on appelait commune une association de bourgeois liés par serment en vue de s’entraider, jouissant de certaines libertés, en particulier du droit de s’administrer eux-mêmes et défendre collectivement leurs privilèges, à charge d’obligations déterminées envers leur seigneur.“ Schon diese kurze Definition macht verständlich, daß ein wesentliches Identitätsmerkmal der mittelalterlichen Kommunalstädte deren besonderes Autonomieverständnis war. - Vgl. zum Pikardischen im Mittelalter auch Lusignan (2012). 348 Regionalsprachliche (z.B. pikardische) Urkundentexte wurden in der königlichen Kanzlei zur Zeit Ludwigs IX. noch ausschließlich durch lateinische Rahmenurkunden vidimiert. Der Wortlaut des inserierten Originals wurde dabei typischerweise durch Formeln wie „litteras ... scriptas in gallico inspeximus in hec verba“ oder „litteras ... in gallico scriptas, verbo ad verbum vidimus in hac forma“ angekündigt. Vgl. dazu Carolus-Barré (1976, 151): „Bien évidemment la confirmation par l’autorité royale de tels actes écrits in gallico ne prouve aucunement que le français était employé à la Chancellerie. Elle prouve même le contraire, puisque les formules de la titulature, de la corroboration et de la date sont rédigées en latin.“ 184 <?page no="197"?> sen, die zur gleichen Zeit von freien, semiprofessionellen Schreibern für Personen von niedrigerem feudalherrschaftlichem Rang angefertigt wurden. Erst ab ca. 1300 sei auch in den Urkunden der großen Herrscherkanzleien ein wachsender Anteil an Regionalismen zu beobachten - eine Entwicklung, die vor dem Hintergrund der politischen Unabhängigkeit Lothringens vom französischen Königreich verständlich wird. 349 [...] si telle charte, généralement issue d’une grande chancellerie, ne compte que peu de traits dialectaux, telle autre, due à la main d’un scribe qui rédige pour le compte d’une personnalité de moindre importance, traduit une méconnaissance non négligeable de la ‘bonne’ langue écrite française. D’un côté, un texte que ne renierait pas le meilleur scribe de l’Ile-de-France, ou peu s’en faut, de l’autre, ou peu s’en faut, une langue plus dialectale. [...] Là, un scribe ‘savant’, passant selon le besoin de son métier du latin au français, et utilisant dès lors une langue plus artificielle, collant au latin, déjà étymologique et très proche de la koiné utilisée sur l’ensemble du domaine français; ici, un scribe sans grande culture, ou même sans connaissance autre que celle d’une graphie très élémentaire, et transcrivant de façon plus phonétique, sans référence aucune à un étymon latin sous-jacent. (Lanher 1975, XXXVIf.) Dès la fin du XIII e siècle, une ‘dégradation’ apparaît. Les traits dialectaux en nombre limités deviennent plus présents et les textes déjà ‘français’ connaissent l’évolution générale. (Lanher 1986, 123) Zum einen wird durch die Kookkurrenz von latinisierenden Tendenzen und geringer ‘Dialektalität’ in den Urkunden der sozial herausragenden Lothringer Schreibstätten die von Lusignan (2004, 149; s.o.) für die königliche Kanzlei des 14. Jahrhunderts vertretene Annahme bestätigt, daß in der Schriftproduktion der an der Spitze der Feudalhierarchie stehenden Institutionen ein vulgare aulicum von überräumlicher und überzeitlicher Geltung angestrebt wurde. Zum anderen stellt sich angesichts der sprachlichen Überregionalität, von der die diastratisch hoch markierten Lothringer Urkundentexte bereits in den 1230er und 1240er Jahren zeugen, die Frage, wie hier bereits eine Orientierung an einem Pariser Sprachmodell wirksam gewesen sein soll, wenn volkssprachliche Urkunden aus der Île-de-France überhaupt erst ab dem Jahr 1241 (und vorerst nur in recht spärlicher Produktion) in Erscheinung treten. 350 Und wie sollte gar eine nähesprachliche 349 Vgl. zur Untersuchung der ältesten Lothringer Urkunden des 13. Jahrhunderts auch Trotter (2005) und Gleßgen (2008). 350 Lanhers (1975, XXXVIf.) Hinweis auf den „meilleur scribe de l’Ile-de-France“ scheint allerdings der seit Remacle (1948) in der Skriptaforschung dominierenden Auffassung von einer frühen Vorbildfunktion des Pariser Französisch geschuldet zu sein. Auch Lanhers (1986, 123) Aussage, daß die Lothringer Kanzleitexte um 1230 „n’ont rien à envier à la chancellerie royale“, ist offensichtlich der monotopischen Ideologie 185 <?page no="198"?> Pariser Koine à la Lodge vorbildlich gewirkt haben für die Schriftproduktion der zum Heiligen Römischen Reich gehörigen Lothringer Kanzleien, die schon Jahrzehnte früher in der Volkssprache zu urkunden begannen als der französische König? - Die Annahme einer starken Tendenz zur Überregionalität in den Schriftstücken der Lothringer Herrscherkanzleien des 13. Jahrhunderts wird nicht zuletzt durch die Ergebnisse von Gleßgens (2008) minutiöser Gesamtauswertung der 289 ältesten in den Archives départementales de la Meurthe-et-Moselle aufbewahrten volkssprachlichen Urkunden (1232-1265) bestätigt: Si nos résultats s’inscrivent dans la tradition scriptologique, ils nuancent sensiblement notre vue sur les phénomènes d’élaboration à l’écrit. Comme nous l’avons vu, les cinq lieux d’écriture étudiés [évêques de Toul, de Metz et de Verdun, comtes de Bar et ducs de Lorraine] 351 ont développé chacun une norme rédactionnelle propre dans le domaine des formes graphiques et morphologique [sic]; or, ces normes s’inscrivent toutes dans une tendance supra-régionale et latinisante forte: les formes régionales sont minoritaires et interviennent souvent avec des finalités pragmatiques définies. Il s’agit, bien entendu, d’une tendance à la supra-régionalisation et non pas d’une tendance à l’imitation du français central [...]. Des variables picardes [...] ou bourguignonnes [...] disposent de suffisamment de prestige pour être introduites en Lorraine tout comme des variantes parisiennes dont la description précise fait d’ailleurs toujours défaut [...]. La formation des normes d’oïl au XIII e siècle (et certainement encore au XIV e siècle) s’inscrit dans la logique des normes pluricentriques que nous connaissons dans les langues standard actuelles comme l’anglais, l’espagnol ou encore le français. (Gleßgen 2008, 521f.) In der Lothringer Urkundenschriftlichkeit besteht also ein klarer variationeller Zusammenhang von schwacher diatopischer und hoher diastratischer Markierung - ein Phänomen, das von Koch/ Oesterreicher (²2011, 16) auf übereinzelsprachlicher Ebene mit dem Begriff der Varietätenkette beschrieben wird. Wenn in den Texten der großen Lothringer Kanzleien regionalsprachliche Formen zum Einsatz kommen, dann geschieht dies zumeist unter spezifischen pragmatischen Bedingungen, etwa zum Zweck der Akkommodation an einen bestimmten Adressaten. Ein letzter Punkt, der in Lodges Theorie gänzlich unberücksichtigt bleibt, ist die zur Erklärung früher schriftsprachlicher Ausgleichsprozesse wichtige Frage nach der protostandardisierenden Wirkung überregional zirkulierender literarischer Manuskripte. Greub (2007) hat anhand ververhaftet. Die älteste heute bekannte französische Originalurkunde, die von der königlichen Kanzlei angefertigt wurde, datiert nämlich erst aus dem Jahr 1241 (vgl. Videsott 2010). 351 Vgl. zum Begriff des lieu d’écriture im Detail Kap. 5.3. 186 <?page no="199"?> schiedener Szenarien gezeigt, daß im Kopierprozeß prinzipiell mit einer Neutralisierung topisch stark markierter Formen zu rechnen ist. Deshalb könnte sich durch die überregionale Zirkulation und mehrfache Abschrift gerade der bedeutendsten literarischen Texte bereits vor Beginn der volkssprachlichen Urkundenproduktion ein ‘gesamtfranzösischer’, dialektal relativ unspezifischer Literaturstandard herausgebildet haben, der allerdings nicht das Ergebnis einer bewußten Orientierung an einem bestimmten regionalspachlichen Modell war, sondern der sich unwillkürlich infolge einer generellen Privilegierung transdialektal geläufiger Formen bei der Abschrift literarischer Manuskripte etabliert hat. […] il y a inégalité entre la tendance à la neutralisation des formes spécifiques et la tendance à la spécification des formes neutres: celle-ci est très faible, tandis que la première est relativement forte. Cela découle logiquement du fait qu’il n’y a écart entre les deux pôles du diasystème, et, par conséquent, pression systémique vers une modification, que dans le cas de formes spécifiques. Tendantiellement [sic], et toute choses égales par ailleurs, une copie sera donc plus neutre linguistiquement que le texte copié. […] Il convient de souligner que cette neutralisation est indépendante de toute volonté délibérée de donner au texte copié une plus grande aptitude à la communication à distance, ou de le rendre plus conforme à un modèle (parisien) préexistant. (Greub 2007, 431f.) Es erscheint somit nicht undenkbar, daß der von Remacle (1948) und Gossen (1956; 1957) beschriebene fonds commun in den französischen Urkundenskriptae von einem vorgängigen literatursprachlichen Ausgleich herrührt. In der Altgermanistik etwa wird schon seit langem angenommen, daß die oberdeutsche Literatursprache der Staufischen Klassik eine durch die Vermeidung von Regionalismen gekennzeichnete, überregionale Kunstvarietät war, derer sich die mobilen, mit den topischen Besonderheiten verschiedener deutscher Sprachlandschaften vertrauten Dichter in bewußter Abgrenzung von sprechsprachlichen Registern bedienten: Die durch den ‘reinen’, d.h. [dialekt]neutralen Reim der Dichter und die konservative Behandlung der Reimwörter durch die Schreiber aufgekommenen orthographischen Normierungstendenzen bilden vermutlich die wesentlichen Voraussetzungen dafür, daß in einer noch begrenzten Anzahl von Skriptorien im Süden von einer begrenzten Anzahl von Schreibern, die an die lat[einische] Normalorthographie gewöhnt waren, im Laufe des 13. Jhs. auf ostalem[annisch]-bair[ischer] Basis ein übermundartliches Schriftoberdeutsch geschaffen wurde, das wegen seiner Einheitlichkeit die Lokalisierung von Hss. aus dieser Zeit außerordentlich erschwert. Es handelt sich um eine relativ variantenarme, grammatisch geregelte Schreibsprache mit einem dem Lat[einischen] vergleichbaren Normanspruch. […] Die in der 1. Hälfte des 13. Jhs. geschriebenen Handschriften, von denen in den meisten Fällen nur noch Fragmente erhalten sind, lassen […] 187 <?page no="200"?> eine hauptsächlich anhand von graphematischen und morphologischen Merkmalen seit den Anfängen der Germanistik immer wieder diskutierte Vorstellung von einer ‘mittelhochdeutschen Schriftsprache’, die vielfach mit der Sprache der höfischen Klassik bzw. ‘höfischen Dichtersprache’ gleichgesetzt wurde […], plausibel erscheinen. (Gärtner 2004, 3030f.) 352 Es liegt nur allzu nahe, auch der nordfranzösischen Literatursprache, dem von den Zeitgenossen ausdrücklich besungenen françois der höfischen Dichtung 353 , eine vergleichbare sprachsoziologische Dimension beizumessen. Auch wenn die Standardisierung bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts vielleicht nicht so weit fortgeschritten war wie in der oberdeutschen Literatursprache 354 - vor allem Dees (1985) bestritt ja die Existenz einer französischen, literarischen oder verwaltungssprachlichen Koine vor dem 14. Jahrhundert, Pfister (1993) bestätigte diese Annahme zumindest für die Zeit bis zum Jahr 1236 355 -, so steht doch außer Frage, daß die sprachliche Adaptation von Manuskriptvorlagen, die andere topische Merkmale aufwiesen als die Zielvarietät (d.h. die Sprache des Kopisten oder seines Auftraggebers), alles andere war als eine mechanische Eins-zu-eins-Übersetzung regionalsprachlicher Varianten. Vor allem die Erfordernisse von Assonanz oder Reim konnten zur Bewahrung - und damit zur stilistischen Aufwertung - topisch ‘fremder’ Varianten führen, während im Versinnern unter Umständen stärker adaptiert wurde. 356 Im übrigen muß selbst Dees’ (1987) Feststellung, daß die im Urkundenatlas (1980) ausgewerteten Texte ein 352 Vgl. dazu auch Bach ( 8 1965, 206-220) und von Polenz ( 10 2009, 46-52). Schützeichel (²1974, 295) betont am Ende seiner Untersuchung der Koblenzer Urkundensprache, daß „die überlandschaftlichen sprachlichen Kräfte“, die den „über drei Jahrhunderte währende[n] Umgestaltungsprozeß der Urkundensprache“ erst im 16. Jahrhundert zum Abschluß brachten, „auf der Ebene der Literatursprache vielfach schon vor dem Auftreten der deutschen Sprache in den Urkunden im mittelfränkischen Gesamtgebiet [d.h. vor Mitte des 13. Jhdts.] sichtbar [wurden].“ Doch auch in den von Schützeichel untersuchten Urkunden treten „schon vor dem Ende des 13. Jahrhunderts […] erste Zeugnisse der südlichen das, als, und, uf, mit sowie Formen der Typen lieb und bruder auf […]“ (Schützeichel ²1974, 294). 353 Vgl. dazu die Übersicht über metasprachliche Kommentare in der mittelalterlichen Dichtung bei Brunot (1905, 328-331). 354 Möglicherweise ist dieser Umstand dadurch zu erklären, daß die Gattung des Höfischen Romans in Nordfrankreich entstand. Die Texte sind vielleicht deshalb sprachlich ‘organischer’ gewachsen und variantenreicher überliefert als in Deutschland, wo die höfische Erzähltradition mitsamt ihren stilistisch-soziologischen Implikationen mit etwa fünfzigjähriger Verspätung als bereits hochentwickeltes ‘Produkt’ übernommen wurde. 355 Pfister (1993, 18) wählte das Datum von Remacles (1948) Lütticher Urkunde als zeitlichen Endpunkt seiner Studie. 356 Vgl. dazu Woledge (1970) und Schøsler (2005). Vgl. zu den vielfältigen Formen des „binnensprachlichen Texttransfer[s]“ in der deutschen Sprachgeschichte den interessanten Sammelband von Besch/ Klein (Hrsg.) (2008). 188 <?page no="201"?> deutlicher ausgeprägtes topisches Profil aufweisen als die literarischen Manuskripte, als implizite Anerkenntnis der Tatsache gelten, daß die mittelalterlichen Schreiber keineswegs die gesprochene Sprache einer bestimmten Region wiedergaben. 357 Wie sonst sollte man die geringere Dialektalität der literarischen Zeugnisse erklären, wenn nicht durch die Wirkung überregionaler Ausgleichsprozesse? Die Frage nach möglichen Zusammenhängen zwischen frühen Ausgleichsprozessen in der literarischen Schriftlichkeit und der ab dem 13. Jahrhundert zu beobachtenden überregionalen Standardisierung in der Urkundenssprache, die seit den 1280er Jahren durch die flächendeckende Etablierung des königlichen Notariatswesens vorangetrieben wurde, ist bis heute leider weitgehend unerforscht geblieben. Immerhin besteht mit den Plus anciens documents linguistiques de la France ein großangelegtes Projekt, dessen Ziel es ist, die normativen Zentren der mittelalterlichen Kanzleisprachen zu bestimmen und - in einem weiteren Schritt - deren überregionale Interaktion zu erfassen. 358 Im Bereich der literarischen Manuskriptkultur bleiben varietätenlinguistische Untersuchungen zur Filiation überregional zirkulierender Kodizes dagegen ein dringendes Desiderat. 359 Vor allem die bedeutendsten, in zahlreichen Abschriften überlieferten Werke der mittelalterlichen Literatur wie die Romane Chrétiens oder der (allerdings jüngere) Roman de la rose dürften eine nicht zu unterschätzende Größe im Prozeß der Herausbildung einer überregionalen, ‘protofranzösischen’ Schriftvarietät dargestellt haben. Jedenfalls ist die Identifikation der in der Herstellung literarischer Manuskripte führenden Schreibstätten und die linguistische Beschreibung der durch sie propagierten Normen eine unabdingbare Voraussetzung für die Klärung der Frage nach einer möglichen Modellwirkung literarischer Skriptae für die sich erst später herausbildenden regionalen Urkundensprachen und deren sukzessive überregionale Annäherung. L’élaboration d’une tradition écrite vernaculaire est un processus ancien. Nous avons toutes les raisons de croire que celle-ci commence de manière systématique dès le IX e siècle à travers la mise à l’écrit des toponymes vernaculaires en contexte latin […]. Ces formes ponctuelles constituent un véritable laboratoire d’expérimentation graphématique pour les scribes depuis 357 Vgl. dazu Wüest (2003, 216). Zum skriptometrischen Vergleich der beiden Atlanten von Dees (1980; 1987) vgl. Goebl (2011). 358 Vgl. dazu Gleßgen (2010 und i.Dr.) sowie http: / / www.rose.uzh.ch/ docling/ . 359 Erste Voraussetzungen für eine umfassende skriptologische Auswertung literarischer Texte des Mittelalters unter Berücksichtigung kodikologischer und pragmatischer Aspekte werden im Moment durch die Arbeit am Nouveau Corpus d’Amsterdam geschaffen (der Sammlung von Handschriften, die schon Dees’ (1987) zweitem Atlas zugrunde lag). Vgl. dazu Kunstmann/ Stein (Hrsg.) (2007). 189 <?page no="202"?> la Réforme carolingienne. Le réseau scriptologique de la langue d’oïl se constitue très probablement comme celui de la langue d’oc dès l’époque prétextuelle, bien avant les textes écrits pleins du XII e siècle, de nature littéraire ou religieuse. En français, les chartes n’interviennent qu’après ces deux étapes (toponymes en contexte latin, puis textes littéraires). On comprend mieux le degré de développement des conceptions de norme dans les grands lieux d’écriture, dans la mesure où celles-ci ont été forgées à travers plusieurs siècles déjà, avant de se trouver cristallisées dans ces documents juridiques. (Gleßgen 2008, 522). 360 4.4 Fazit: für eine ganzheitliche Konzeption der mittelalterlichen Standardisierungsgeschichte Ich möchte abschließend noch einmal auf meine Typologie von Koineisierungsszenarien zurückkommen, die ich in Kap. 2.2 hergeleitet und unter 2.2.5 zu einem Schema verdichtet habe. Der entscheidende Aspekt des Modells ist, daß alle Koinetypen, deren Entstehungskontexte anhand des konzeptionellen Kontinuums von kommunikativer Nähe und Distanz zu unterscheiden sind (1a, 2a, 2a’), durch einen erfolgreichen Ausbauprozeß in das gleiche Ergebnis, nämlich einen kompositen Schriftstandard (2c), münden können. Dadurch erweist sich das Modell vor allem mit Blick auf ‘rätselhafte’ Standardisierungsgeschichten als interessant, zu deren Klärung mitunter sehr kontroverse Theorien ins Feld geführt werden. Denn es ermöglicht die Einsicht, daß (2c) alternative Vorformen im Spannungsfeld von kommunikativer Nähe und Distanz ha- 360 Man könnte diesem Periodisierungsvorschlag entgegenhalten, daß er den Unterschied zwischen dem rein medial zu fassenden Prozeß der sog. Verschriftung und dem konzeptionellen Ausbau einer vernakulären Sprachform, der sog. Verschriftlichung, verschwimmen läßt. Letzterer Prozeß erfolgt nämlich durch die systematische Erschließung neuartiger, genuin volkssprachlicher Diskurstraditionen und ist somit in der nördlichen Galloromania wohl erst für das 11. oder 12. Jahrhundert anzusetzen (vgl. dazu Oesterreicher 1993 und 2013; Selig 2011). Insofern bedarf Gleßgens Formulierung, die „élaboration d’une tradition de l’écrit vernaculaire“ habe in Nordfrankreich „de manière systématique“ bereits im 9. Jahrhundert begonnen, der Relativierung. Richtig ist aber die Feststellung, daß die Konventionalisierung in der Graphiegeschichte keineswegs erst im 13. Jahrhundert einsetzt. Die in den ältesten volkssprachlichen Urkunden ‘kristallisierten’ Schreibnormen dürfen also nicht als Kreationen ex nihilo betrachtet und mangels sprachhistorischem Weitblick kurzerhand lieber mit zeitgenössischen Sprechnormen (‘Dialekten’ oder ‘Stadtdialekten’) in Verbindung gebracht werden als mit jahrhundertelangen schrifthistorischen Entwicklungen, vor allem jenen im Bereich der literarischen Manuskriptkultur. - Vgl. zur relativen Autonomie der schreibsprachlichen gegenüber der sprechsprachlichen Variation im Mittelalter auch Gleßgen (2012). Vgl. zur graphematischen Untersuchung auvergnatischer Toponyme in lateinischen Texten des 9. bis 11. Jahrhunderts Carles (2011). 190 <?page no="203"?> ben kann, wobei vom Ergebnis her nicht ohne weiteres entscheidbar ist, ob die Kontaktprozesse, die zur Varietätenmischung geführt haben, eher nähe- oder eher distanzsprachlicher Natur sind. Insofern mahnt das Modell zur Vorsicht vor übereilten Schlüssen, zu denen die einseitige Privilegierung des einen oder des anderen Mischungsszenarios führen kann. Insbesondere zeigt es die Beschränktheit des erst kürzlich von Lodge (2010a; 2011) formulierten Ansatzes auf, wonach es zum Prozeß der ungelenkten Varietätenmischung - in Lodges Terminologie: ‘Koineisierung’ - allein in der spontanen, gesprochenen Alltagssprache kommen könne, während die Etablierung einer überregionalen Referenzvarietät - in Lodges Terminologie: ‘Standardisierung’ - nur als ‘von oben’ erfolgende, zentral geplante Durchsetzung eines gewissermaßen schon ‘fertigen’ Sprachmodells vorstellbar sei. Das in Kap. 2.2 fundierte Koineisierungsmodell zeigt dagegen, daß eine trennscharfe, kategorische Unterscheidung von Varietätenmischungen (Koinai de facto) und überregionalen Bezugsvarietäten (Koinai de iure) in der historischen Wirklichkeit oftmals nicht möglich ist und sich daher aus der Sicht der historischen Varietätenlinguistik auch kaum empfiehlt. Vielmehr ist es im von mir so bezeichneten Fall (2a’), z.B. beim Hochdeutschen, gerade der Überdachungsprozeß, der die Konvergenz konkurrierender (Schrift-)Varietäten begünstigt. Es kommt also zur Mischung durch Überregionalisierung oder - wenn man so möchte - zur ‘Koineisierung’ durch ‘Standardisierung’, wobei die Mischung freilich als genuin schriftsprachlicher und die Überdachung als ungelenkter, nicht zentral kontrollierter Prozeß zu verstehen ist. 361 Der Fall des Französischen gab in Kap. 4.1 bis 4.3 Anlaß zur Anwendung der im Modell getroffenen begrifflichen Unterscheidungen. Während Cerquiglini (1991; 2007) für eine in die vorliterarische Zeit zurückreichende, genuin schriftsprachliche Varietätenmischung (Typ 2a’) als Basis des Standardfranzösischen plädiert, versucht Lodge (2004) dessen topische Heterogeneität aus einer nähesprachlichen, medial-mündlichen Koineisierung (‘strictu sensu’, Typ 1a) heraus zu erklären, zu der es in der rasant wachsenden Metropole Paris des 12. und 13. Jahrhunderts gekommen sein soll. Die Annahme einer regional koine (2a), also einer medial-mündlichen Kompro- 361 Der Begriff der informal standardization wurde, wie in Kap. 2.1 angemerkt, schon Siegel (1985, 363) als contradictio in adiecto angekreidet. Aus der Sicht der modernen soziolinguistischen Standardisierungsforschung (vgl. etwa Haugen 1983) bleibt dieser Widerspruch natürlich unauflöslich. In historischer Perspektive läßt er sich aber dadurch vermeiden, daß man den allzu ‘sprachplanerisch’ konnotierten Terminus Standardisierung durch die Kloss’sche Metapher der Überdachung ersetzt. Es geht hier aber letztlich nur um terminologische Probleme, die kein ‘epistemisches Hindernis’ (vgl. Oesterreicher 1998) für die mediävistische Standardisierungs-/ Überdachungsforschung darstellen sollten. 191 <?page no="204"?> mißvarietät, die im überregionalen, tendenziell wohl eher schon distanzsprachlichen Verkehr (etwa im Bereich des Handels) ensteht, wurde bislang nicht als Theorie zur Entstehung der französischen Koine ausformuliert. Man könnte aber Lusignans (2004, 140) am Rande geäußerte Hypothese, die Skripta der königlichen Kanzlei gehe auf eine zunächst mündlich realisierte ‘diatechnische’ Varietät zurück, also auf eine Art Büro- oder Arbeitssprache, die im interdialekten Kontakt der aus unterschiedlichen Gegenden Frankreichs stammenden Kanzleischreiber gepflegt worden sei, als Annahme einer dem Typ (2a) in medialer und konzeptioneller Hinsicht vergleichbaren Ausgleichsvarietät am Ursprung des Standardfranzösischen werten. 362 Die detaillierte Überprüfung der aktuell in der Forschung konkurrierenden Ansätze hat nun ergeben, daß Lodges nähesprachliche Koineisierungshypothese, so plausibel sie aus der Sicht moderner kontaktlinguistischer Theorien auch prima facie erscheinen mag, als Erklärung für die topische Kompositionalität des französischen Schriftstandards abzulehnen ist. Lodge setzt sich in grob reduktionistischer Weise über zentrale Aspekte der französischen Schriftgeschichte hinweg, indem er genuin distanzsprachliche Standardisierungsbeiträge, die vor, während und nach dem 13. Jahrhundert aus verschiedenen Gegenden des domaine d’oïl kamen, komplett ignoriert. Die Herausbildung der französischen Schriftsprache konzipiert Lodge als zentralistischen, allein in der künftigen Hauptstadt lokalisierten Prozeß, dem eine bloß passive Übernahme der aus einem gesprochenen städtischen Mischdialekt hervorgegangenen Pariser Skripta durch die ‘Provinz’ entsprochen haben soll. Abgesehen von zahlreichen Widersprüchen und Fehleinschätzungen, die den aufmerksamen Leser von Lodges Theorie irritieren, mag seine Sociolinguistic History of Parisian French zwar willkommene Impulse für die historische Erforschung der gesprochenen städtischen Varietäten geben; hinsichtlich des Desiderats einer umfassenden Aufarbeitung der französischen Standardisierungsgeschichte, die, wie Völker (2011, 102) zutreffend anmerkt, wohl erst ab dem 19. Jahrhundert den Bereich der gesprochenen Sprache nachhaltig betrifft, ist der konzeptionelle - und zugleich der räumliche - Fokus von Lodges Untersuchung aber ganz offensichtlich zu eng gesetzt. Lodges systematische Ausblendung von genuin distanzsprachlichen Standardisierungsbeiträgen, die im Konzert der mittelalterlichen Zentren der literarischen und der diplomatischen Schriftkultur zu unterschiedlichen Zeiten aus ganz unterschiedlichen Regionen gekommen sein dürften, verunmöglicht eine auch nur an- 362 Allerdings kritisiert Völker (2011, 103) zu Recht, daß Lusignan keine Gründe nennt, „die die Notwendigkeit oder zumindest die Vorteile einer oralen Ausgleichsvarietät im beschriebenen Rahmen nachvollziehbar machten [...].“ 192 <?page no="205"?> satzweise Erfassung der vermutlich bis ins 14. Jahrhundert hinein noch überaus komplexen, teils gegenläufigen Ausgleichsvorgänge, die im politisch noch längst nicht homogenen nordfranzösischen Schreibraum je nach regionalem und institutionellem Kontext in die eine oder andere Richtung wirken konnten. Zwar stellt, wie vor allem Lusignan (1999; 2003; 2004) gezeigt hat, die schrittweise Etablierung einer überregionalen Skripta der königlichen Institutionen im Lauf des 14. Jahrhunderts eine wichtige Etappe im Prozeß der schriftsprachlichen Einigung Frankreichs dar. Selbstverständlich wurden davon aber zunächst nur die nordfranzösischen Gebiete erfaßt, die Teil des französischen Königreichs waren (vgl. dagegen zu Lothringen Lanher 1975 und 1986; zu England Kristol 1989), und selbst innerhalb Frankreichs ist mindestens bis zur Ordonnance von Villers-Cotterêts (1539) durchaus noch mit partikulären Tendenzen in der regionalen Schriftlichkeit zu rechnen, wie etwa in den pikardischen Kommunalstädten des Nordens, die ihre sprachliche Identität relativ lange gegenüber der königlichen Zentralgewalt behaupteten (vgl. Lusignan 2004, 225-231; 2007; 2012). Daß schließlich die Tatsache, daß die königlichen Institutionen vom Machtzentrum Paris aus gesteuert wurden, keineswegs zwangsläufig impliziert, daß die von ihnen verwendete Sprache genuin ‘pariserisch’ war, wurde oben ausführlich erläutert. Hier gilt im Prinzip nichts anderes als für moderne Hauptstädte wie Berlin oder Rom, die zwar Regierungssitz und kulturelles Zentrum, nicht aber Ursprungsort der jeweiligen nationalen Standardvarietät sind. 363 Die Manifestation überregionaler Konvergenzen schon in den frühesten volkssprachlichen Originalurkunden aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts spricht insgesamt recht klar für die Annahme einer genuin distanzsprachlichen Koine (2a’) als Basis der französischen Schriftsprache. So gesehen war Remacles (1948) und Gossens (1956; 1957) Gedanke, wonach der fonds commun der nordfranzösischen Urkundenskriptae von einem älteren, literarischen (oder gar vorliterarischen) Ausgleich herrühren müsse, nicht prinzipiell falsch. Lediglich die vorschnelle Identifizierung dieses fonds commun mit einem schon im 10. oder 11. Jahrhundert zur monotopischen Leitvarietät erhobenen Primärdialekt der Île-de-France war Ausdruck eines ideologisch verzerrten Standardisierungskonzepts, das seinen Ursprung in der französischen Nationalphilologie des späteren 19. Jahrhunderts hat und das die Skriptaforschung noch lange Zeit unhinterfragt propagierte. 363 Vgl. dazu wiederum Völker (2011, 89, Anm. 19): „Wenn wir einen Blick auf einige ‘jüngere’ Hauptstädte wie Rom, Washington oder Berlin werfen, so wird deutlich, dass Hauptstadtfunktionen auch in der kommunikations- und mobilitätsaffineren Moderne nicht zwingend an eine sprachliche Vorbildfunktion gebunden sind. Das Paris des ausgehenden Mittelalters ist eine ‘junge Hauptstadt’.“ 193 <?page no="206"?> Zwar besteht, wie gesagt, kein Zweifel, daß die überregionale Vereinheitlichung der mittelalterlichen Schreibsprachen ganz wesentlich mit der flächendeckenden Etablierung der königlichen Verwaltungsstrukturen ab dem späteren 13. Jahrhundert zusammenhängt - der französische Schriftstandard basiert also vermutlich unmittelbar auf der langue du roi des 14. Jahrhunderts. Jedoch sollte nicht übersehen werden, daß zwischen dem sukzessiven Ausbau einer überregionalen königlichen Verwaltungssprache seit ca. 1280 und der schon Jahrzehnte früher einsetzenden Verwendung der Volkssprache in Privaturkunden aus peripheren Gegenden des domaine d’oïl ein normativer Zusammenhang bestanden haben dürfte. Es steht fest, daß etwa in Luxemburg oder in Lothringen schon in den 1230er bis 1260er Jahren zur Überregionalität tendierende Schreibvarietäten zum Einsatz kamen, und zwar insbesondere dann, wenn der kommunikative Radius einer Urkunde relativ weiträumig war oder wenn die ausfertigende Institution hohes gesellschaftliches Prestige genoß und dies in der sprachlich-formalen Gestaltung zum Ausdruck brachte. Topische Neutralisierung scheint also schon früh ein Verfahren der hohen diastratischen Markierung von schriftlich niedergelegten Rechtsakten gewesen zu sein (vgl. Völker 2003; Gleßgen 2008). Die überzeugenden Fallstudien von Greub (2007) schließlich geben Anlaß zu der Vermutung, daß die schon in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts belegten Formen der urkundensprachlichen Überregionalität wahrscheinlich mit wiederum älteren normativen Tendenzen in der literarischen Schriftlichkeit in Verbindung zu bringen sind (vgl. auch Schøsler 2005). Angesichts der Tatsache, daß schon im 12. Jahrhundert, zur Blütezeit der höfischen Literatur, eine rege Zirkulation und Vervielfältigung literarischer Manuskripte stattfand, erscheint der Gedanke plausibel, daß dieser produktive Umgang mit dem volkssprachlichen Text, dessen wesentliche Herausforderung ja in der Vermittlung zwischen topisch heterogenen Formen und deren Anverwandlung für ein spezifisches adliges Zielpublikum bestand, - daß diese an ein hohes Sprachbewußtsein gebundene künstlerisch-intellektuelle Arbeit sich an sprachsoziologisch relevanten Normvorstellungen orientierte und daß die Ausdrucksideale der höfischen Literatur, die im 13. und 14. Jahrhundert beständig tradiert und weiterentwickelt wurden, das normative Gepräge der später einsetzenden französischen Urkundensprache zumindest teilweise beeinflußten. Die große Herausforderung für die künftige Erforschung der mittelalterlichen Schreibsprachen und ihrer sukzessiven Annäherung besteht mithin in der Notwendigkeit, die bislang allzu partikulären, auf immer nur einen Zeitraum, einen geographischen Ort oder einen bestimmten Diskursbereich fixierten Ursprungshypothesen in einem gesamthaften, zeitlich wie räumlich und diskurstraditionell möglichst breit angelegten Forschungshorizont zu diskutieren und miteinander in Einklang zu bringen. Es mag sein, 194 <?page no="207"?> daß sich die Geschichte des französischen Standardisierungsprozesses ab Mitte des 14. Jahrhunderts vorwiegend als Prozeß der Advergenz 364 beschreiben läßt, also als Vorgang der einseitigen Anpassung bis dahin noch regional profilierter Schreibtraditionen an eine vorbildliche - nämlich die königliche - überregionale Varietät. Bis hin zu dieser Zeit der schrittweisen Durchsetzung einer als überregionales Modell de facto etablierten Schriftvarietät muß aber mit einem plurizentrisch basierten, konvergenten Prozeß der wechselseitigen Annäherung regionaler Varietäten gerechnet werden. Diese Annahme erscheint nicht nur in politisch-historischer (Pfister 1973; Bautier 1978), in institutionengeschichtlicher (Monfrin 1972a; Carolus-Barré 1976; Lusignan 2003) und in schriftlichkeitstheoretischer Perspektive (Greub 2007; Selig 2008) sinnvoll; die essentielle schriftsprachliche Plurizentrik des mittelalterlichen Nordfrankreich wird nicht zuletzt durch die verfügbaren sprachlichen Daten bestätigt, die zum Teil bis weit ins 14. oder gar 15. Jahrhundert hinein nicht eindeutig auf die Hegemonie eines bestimmten, topisch wie auch immer fundierten Sprachmodells schließen lassen. Um so mehr leuchtet ein, daß am Ende des langfristigen plurizentrischen Kontakts der regionalen Skriptaformen ein prinzipiell ‘ortloses’, topisch neutrales Modell der Distanzsprachlichkeit steht. Der Phänotyp der im 14. Jahrhundert zur Leitvarietät gewordenen langue du roi erklärt sich pragmatisch aus ihrem dem Latein nachempfundenen, überräumlichen Geltungsanspruch. Die faktische Mischung von Formen unterschiedlicher sprachgeographischer Herkunft ist also materieller Ausdruck der ureigenen Funktionalität des späteren Standards als überregionale Koine de iure. 364 Im Sinne Mattheiers (1996). 195 <?page no="209"?> 5 Standardisierungsprozesse in französischen Urkunden aus Beauvais (1241-1455) 5.1 Fragestellung und Prinzipielles In diesem letzten großen, empirischen Teil meiner Arbeit möchte ich zeigen, wie schriftsprachliche Standardisierungsprozesse, die während längerer Zeit in einem bestimmten Kommunikationsraum 365 wirken, mithilfe von editionsphilologisch adäquat erschlossenen mittelalterlichen Textzeugnissen varietätenlinguistisch mit größtmöglicher Präzision beschrieben werden können. Als Untersuchungskorpus dienen 89 Urkunden, die zwischen 1241 und 1455 366 im institutionellen (und wohl auch geographischen) Umfeld der Bischofsstadt Beauvais verfaßt wurden und die uns, bis auf zwei Ausnahmen 367 , im Archivbestand zweier mittelalterlicher Hospitäler, 365 Vgl. zum Begriff in historischer Perspektive Selig (2010). 366 Die Datierung französischer Urkunden folgte seit der Regierungszeit Philipps I. (1060-1108) bis zum Jahr 1564 dem sog. Osterstil (fr. style pascal); das Jahr begann also am Ostersonntag (vgl. Carolus-Barré 1964, XXIX und LXII; Grotefend 13 1991, 13). Alle Urkunden, die zwischen dem 1. Januar und Karsamstag datiert sind, wurden deshalb in den modernen Stil (fr. nouveau style) konvertiert, so daß beispielsweise eine Urkunde, deren Datierungsformel den 5. März 1275 nennt, im Korpus auf den 5. März 1276 (n.st.) datiert wurde. 367 Es handelt sich um die Urkunden Nr. 1 und Nr. 182 aus Carolus-Barré (1964). Letztere stammt aus dem Fundus des Priorats von Wariville; als Akt der bischöflichen Rechtssprechung - Aussteller ist der bailli de Beauvais - ist sie allerdings von zentralem Interesse für meine Untersuchung. Nr. 1, die älteste volkssprachliche Urkunde im Bestand der Archives départementales de l’Oise, wurde möglicherweise in der Abtei Saint-Lucien de Beauvais angefertigt (vgl. Carolus Barré 1964, LXXXIII); jedenfalls läßt sie sich keinem der redaktionellen Milieus zuordnen, in denen die übrigen frühen Urkunden aus meinem Korpus mutmaßlich entstanden sind. Allerdings handelt es sich in sprachlicher Hinsicht um ein interessantes Dokument, da die nicht-pikardischen Formen im Text überwiegen. Die Urkunde könnte mithin zur Stützung von Gossens These herangezogen werden, wonach die pikardische Skripta erst im Lauf des 13. Jahrhunderts ein deutlicher ausgeprägtes regionalsprachliches Profil entwickelt habe. Vgl. dazu Gossen (1953/ 1954, 157f.). - Das Korpus enthält auch drei Abschriften (LBHD363, LBHD449 und LBHD505), die bei der sprachlichen Auswertung nicht berücksichtigt werden. Ich habe die Urkunden dennoch ins Korpus integriert, da die kopierten Originale ebenfalls Teil des Korpus sind (nämlich LBHD348, LBHD366 und LBHD457) und die Abschriften somit einen interessanten sprachlichen Vergleich ermöglichen. Bemerkenswert ist, daß das Original in allen drei Fällen weitestgehend à la lettre kopiert wurde, und dies selbst bei einem zeitlichen Abstand von 55 Jahren (zwischen LBHD366 und LBHD449) bzw. 78 Jahren (zwischen LBHD457 und LBHD505) (der Abstand zwischen LBHD348 und LBHD363 beträgt lediglich vier Jahre). Vgl. dazu auch Kap. 5.7.3. 197 <?page no="210"?> der Maison-Dieu de Beauvais und der Maladrerie Saint-Lazare de Beauvais 368 , überliefert sind. Aus den Arbeiten von Gossen (1942; 1951; 1956; 1963; 1967, 95-98 und 213-241; 1971; 2 1976) und aus der philologisch hervorragend edierten Sammlung von Carolus-Barré (1964) geht hervor, daß die volkssprachlichen Urkunden, die im späteren 13. Jahrhundert im Beauvaisis entstanden sind, in der Regel ein klar ausgeprägtes pikardisches Skriptaprofil aufwiesen. Diese Beobachtung entspricht der skriptologischen Grundannahme, wonach die mittelalterlichen Urkundensprachen - bei aller Tendenz zur Überregionalität - bis zu einem gewissen Grad das dialektale Relief des jeweiligen Areals, im Fall von Beauvais also des südwestpikardischen Raums 369 , abbildeten. Wenn es nun darum gehen soll, in diachroner Sicht die Veränderung der zwischen 1241 und 1455 im Kommunikationsraum Beauvais gepflegten Schreibtraditionen nachzuzeichnen und dabei die mutmaßlich wirksamen überregionalen Standardisierungsprozesse zu erfassen, dann bietet sich zunächst ein Blick auf die berühmt gewordene Graphik 370 an, anhand derer Gossen (1957, 429) versucht hat, den „approximativen Beginn“ und den „approximativen Abschluß“ des „Zerfallsprozesses“ darzustellen, der die französischen Urkundenskriptae auf ihrem Weg in die Neuzeit früher oder später ereilt hat. 368 Als Hospiz für Leprakranke, als sog. léproserie, war die Maladrerie Saint-Lazare ein Ort der Reklusion und lag außerhalb der Stadtmauern, im Südosten des heutigen Stadtgebiets von Beauvais. Das Hôtel-Dieu befindet sich heute noch am nördlichen Eingang zum historischen Stadtzentrum, unmittelbar bei der Porte de l’Hôtel-Dieu. 369 Vgl. dazu genauer Gossen (1942, 95-130 und 140f.); auch Gossen (1951, 125-127) und Carolus-Barré (1964, CXIV). 370 Eine Reproduktion der Karte findet sich etwa bei Berschin/ Felixberger/ Goebl (1978/ 2 2008, 208) oder bei Duval (2009, 43). 198 <?page no="211"?> Abb. 6: Chronologie der Auflösung bzw. Ablösung französischer und okzitanischer Regionalskriptae nach Gossen (1957, 429) 371 371 Während im Norden „die senkrechte Jahreszahl über dem Strich [...] den approximativen Beginn des Zerfallsprozesses einer Regionalschriftsprache“ und „die senkrechte Jahreszahl unter dem Strich den approximativen Abschluß dieses Prozesses [bezeichnet]“, bestimmen die kursiv gesetzten Jahreszahlen im Süden den Zeitpunkt der „Substition [ sic ] einer occitanishen [ sic ] Schriftsprache durch die französische“ (Gossen 1957, 429). Während also im Süden eine okzitanische Schreibtradition abrupt durch die im 14. Jahrhundert bereits klar profilierte französische Skripta der königlichen Verwaltung abgelöst wurde - die Sprachverschiedenheit von Französisch und Okzitanisch führte zum Sprachwechsel (vgl. dazu grundlegend Brun 1923) -, stehen wir in Nordfrankreich vor einem Prozeß des längerfristigen Varietätenkontakts, der die fortschreitende Verdrängung regionalsprachlicher Varianten durch innovative, überregionale Formen bewirkte, bis hin zur kompletten Auflösung des regionalsprachlichen Charakters: „von diesem Zeitpunkt an [ist] die ortsübliche Schriftspra- 199 <?page no="212"?> Von entscheidender Bedeutung für die Konzeption dieser Graphik ist Gossens Überzeugung, wonach die nordfranzösischen Skriptae seit jeher einen überregionalen, „betont französischen Grundcharakter“ besessen hätten, so daß „die dialektalen Merkmale [...] wie auf eine gemeinsame Grundfärbung aufgesetzt“ erschienen (Gossen 1957, 432). 372 Namentlich der pikardischen Skripta bescheinigte Gossen (1957, 433), sie sei „ein hybrides, auf einem allgemeinfranzösischen Grund gewachsenes Gebilde, in dem das Dialektale nur bis zu einem gewissen Grad durchschimmert“, und versuchte diesem Eindruck durch das Kompositum franko-pikardisch (fr. francopicard) gerecht zu werden, wobei das erste Glied der Fügung, wie ich in Kap. 3.2 erläutert habe, für die Sprache der Île-de-France steht, deren Prestige Gossens Ansicht nach schon in vorliterarischer Zeit so groß gewesen sein muß, daß es den Ausbau der Regionalskriptae von Anfang an wesentlich beeinflussen konnte. In seiner Annahme einer überregional verbreiteten ‘franzischen’ Basis aller Skriptae sah Gossen sich auch durch die bereits angesprochene Beobachtung bestätigt, daß das regionalsprachliche Profil gerade der ältesten pikardischen Urkunden gegenüber den späteren Originalen noch relativ schwach ausgeprägt erscheint. 373 Erst mit dem Aufblühen der pikardischen Handelsstädte und der wachsenden kulturhistorischen Bedeutung der Region im Lauf des 13. Jahrhunderts sei es zu einer zunehmenden ‘Dialektalisierung’ der Skripta gekommen: Un fait [...] est certain: dans les premières chartes picardes, l’élément dialectal est moins prononcé que par la suite. On pourrait presque dire que la scripta franco-picarde se picardisa de plus en plus au cours du XIII e siècle. (Gossen 1956, 104) Als Ausdruck einer starken regionalen Identität, als eine Art „Lokalpatriotismus“ des pikardischen Stadtbürgertums und seiner Schreiber (Gossen 1963, 240), sei denn auch die Tatsache zu verstehen, daß die Pikardismen in der Urkundensprache sich noch bis ins späte 15. Jahrhundert hinein als vergleichsweise vital erwiesen. Entsprechend spät, um das Jahr 1500, setzt Gossen in seiner Graphik den Beginn der Verdrängung dialektal motivierche der hochsprachlichen angeglichen“ (Gossen 1957, 429). - Ein Faktor, der die Verhältnisse in Südfrankreich allerdings verkompliziert, ist die Tatsache, daß die königliche Verwaltung in den okzitanophonen Gebieten, deren Urkundenwesen fest in der römischen Rechtstradition verwurzelt war, sich zunächst noch des Lateinischen als Amtssprache bediente und erst später zum Gebrauch des Französischen überging. Vgl. dazu Lusignan (2003); s.o., Kap. 4.3. 372 In einem französischsprachigen Beitrag heißt es: „Les traits dialectaux ne semblent que greffés sur ce fonds commun français“ (Gossen 1956, 101). Vgl. dazu auch Kap. 3.2. 373 Vgl. Gossen (1953/ 1954, 157f.); vgl. auch meine Anm. 367. 200 <?page no="213"?> ter Formen aus der pikardischen Skripta an und läßt das Ende dieses Prozesses offen („? “). Es sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen, daß die Untersuchung meines Korpus aus Beauvais eine pauschale Festlegung des Entregionalisierungsprozesses der in der Pikardie gepflegten Schreibtraditionen auf die Zeit nach 1500 nicht gerechtfertigt erscheinen läßt. Schon in seiner Dissertation hat Gossen (1942) selbst deutlich gemacht, daß die mittelalterliche Pikardie keineswegs als einheitlicher Schreib-Raum angesehen werden kann; vielmehr scheint die dialektale Binnengliederung der Region sich auch auf Skriptaebene niedergeschlagen zu haben, so daß grob zwischen einer nordost- und einer südwestpikardischen Schreibtradition zu unterscheiden ist. Und so legt auch die Tatsache, daß die Jahreszahl „1500“ in Gossens (1957, 429) Graphik relativ weit im Norden, an der Grenze des französischen Königreichs „beim Tode Franz I. (1547)“, steht, die Vermutung nahe, daß sich Gossens Periodisierungsvorschlag - ebenso wie bei seiner Studie zur Zweikasusflexion in den von Espinas (1913, Bd. 4) edierten Urkunden (Gossen 1971) - vor allem auf die Skripta des nördlichen Teils der Pikardie bezieht, auf das Gebiet also, in dem Kommunalstädte 374 wie Douai, Tournai, Amiens oder Saint-Quentin schon sehr früh eine beträchtliche Anzahl von volkssprachlichen Urkunden hervorbrachten und in der Tat verhältnismäßig lange an ihren pikardischen - wenn man so will: ‘lokalpatriotischen’ - Schreibgewohnheiten festhielten. 375 Daß der Prozeß der Entregionalisierung im weiter südlich gelegenen Beauvais dagegen mindestens ein Jahrhundert früher eingesetzt hat und wohl auch entsprechend früher zum Abschluß kam, wird bei der Analyse meines Korpus noch im einzelnen zu illustrieren sein. Hinsichtlich der Arbeitshypothesen, die die Untersuchung meines Korpus aus Beauvais prinzipiell leiten sollen, seien hier nochmals einige Grundsätze festgehalten, die sich im wesentlichen aus den in Kap. 1 angestellten Vorüberlegungen zum Problem der mittelalterlichen Standardisierung, aus den in Kap. 2 vorgeschlagenen Präzisierungen zum Begriff der Koineisierung sowie aus den in Kap. 4 getroffenen Klarstellungen zum Desiderat einer angemessenen Periodisierung des mittelalterlichen Standardisierungsprozesses in Nordfrankreich ergeben: Ich konzipiere die schriftsprachliche Standardisierung im mittelalterlichen Nordfrankreich als plurisäkularen Prozeß. Jedoch sind dessen einzelne, in Kap. 4.4 grob umrissene Phasen bislang in der Forschung nicht mit ausreichender Klarheit unterschieden und hinsichtlich ihres kulturhistorisch, sprachgeographisch und diskurstraditionell jeweils zu spezifizierenden 374 Vgl. zum Begriff Carolus-Barré (1998b, 617). 375 Vgl. dazu Monfrin (1972a, 36) und Lusignan (2004, 225-231). 201 <?page no="214"?> Beitrags zur Herausbildung der französischen Schriftsprache miteinander in Beziehung gebracht worden, so wie das etwa in der deutschen Sprachgeschichtsschreibung bereits mit überzeugenden Resultaten geschehen ist. Aufgrund dieser noch weitreichenden Forschungslücken kann die hier vorgestellte Korpusstudie nicht den Anspruch erheben, eine Art Universalerklärung der mittelalterlichen Standardisierungsgeschichte in Frankreich zu liefern. Vielmehr beschränke ich mich ganz dezidiert auf einen bestimmten - zeitlichen, regionalen und diskurstraditionellen - Ausschnitt des Standardisierungsprozesses, nämlich auf die in der Urkundensprache des Kommunikationsraums Beauvais zwischen 1241 und 1455 konkret zu beobachtenden Formen des schriftsprachlichen Varietätenkontakts. Die Arbeitshypothese lautet, daß dieser Kontakt während des angesetzten Untersuchungszeitraums zu einem fortschreitenden Abbau regionalsprachlicher Formen zugunsten der diatopisch neutralen Varianten geführt hat, die ab dem späten 13. Jahrhundert vermutlich durch die sich überregional etablierenden Institutionen der königlichen Rechtssprechung propagiert wurden. Zwar kann die noch in verhältnismäßig grober diachroner Perspektivierung formulierte Hypothese eines fortschreitenden Rückgangs regionalsprachlicher Formen sich auf die unbestreitbare historische Tatsache berufen, daß solche Formen, die um das Jahr 1300 noch kennzeichnend für die in der Pikardie gepflegte Urkundensprache sind, im 16. Jahrhundert nicht oder kaum mehr darin vorkommen. Diese Evidenz impliziert aber selbstverständlich nicht, daß wir uns dem Korpus mit den teleologischen Scheuklappen desjenigen nähern wollten, der bereits weiß, wie die Sprachgeschichte ‘ausgegangen’ ist, und somit Gefahr liefen, Befunde auszublenden, die gegebenenfalls zur Erkenntnis von standardisierungsgeschichtlichen Diskontinuitäten, ja von zeitweisen normativen Gegenbewegungen zum letztendlich vollzogenen Prozeß der Entregionalisierung der pikardischen Urkundenskripta führen könnten. Als Korrektiv wird hier die im übernächsten Kapitel noch ausführlicher zu begründende Methodik dienen, wonach jede einzelne Urkunde als Medium einer sprachlich konstituierten (Rechts-)Handlung zu verstehen ist, in dem bestimmte sprachliche Varianten mit einem spezifischen außersprachlichen Kontext korrelieren, zu dessen parametrisierender Beschreibung neben Zeit und mutmaßlichem Ort des schriftlichen Handlungsvollzugs vor allem die Rolle der beteiligten Personen und Institutionen in Anschlag zu bringen ist. Die in diesem Sinne zu leistende varietätenlinguistische Rekontextualisierung jedes einzelnen Dokuments als Zeugnis einer zwar typisierbaren, aber doch immer einmaligen kommunikativen Handlung soll die Versuchung einer unangemessenen telischen Linearisierung der beobachteten Kontaktphänomene auf das nur ex post bekannte Ergebnis der Standardisierungsgeschichte hin möglichst geringhalten. Insofern stellt die Diachronie als den historischen Sprachbenutzern weitgehend unzugängliche Sicht des Linguisten auf das 202 <?page no="215"?> zeitliche Nacheinander der untersuchten Urkunden erst einen sekundären Schritt der Abstraktion dar, welcher dem primär zu leistenden Verständnis der in den Textzeugnissen jeweils fossilierten Pragmatik einer synchron bedeutsamen sprachlichen Variation epistemisch nachgeordnet ist. Letztlich vermag die diachrone Perspektivierung der sprachlichen Daten doch nur einen quantitativen Eindruck vom längerfristigen Wandel des mittelalterlichen Varietätengefüges zu vermitteln, während die eigentliche, pragmatische Erklärung für die Wahl bestimmter Varianten sich immer nur synchron, aus dem Kontext eines aktuellen Diskursereignisses heraus formulieren läßt. Eine weitere Bemerkung, die ich meiner Untersuchung vorausschicken möchte, gilt einem terminologischen Problem, das in unmittelbarem Zusammenhang mit der in Kap. 4 diskutierten Frage nach dem ‘Ursprung’ des französischen Schriftstandards steht, nämlich dem der angemessenen Benennung, ja überhaupt der Benennbarkeit der in den historischen Textzeugnissen dokumentierten sprachlichen Varietäten. Zwar steht zu vermuten, daß der zunehmende Abbau regionalsprachlicher Formen in den französischen Urkundenskriptae unter dem Prestigedruck der überregionalen Varianten erfolgte, derer sich ab ca. 1280 die königlichen Institutionen der freiwilligen Gerichtsbarkeit in den nordfranzösischen bailliages und prévôtés bedienten (vgl. dazu Kap. 4.3). Doch ist mit dieser Annahme keinerlei Aussage über eine bestimmte sprachgeographische Rückbindung der königlichen Verwaltungsskripta verbunden. Es wurde ja gezeigt, daß diese komposite Schriftvarietät weder auf einer autochthonen Sprachform der Île-de- France basierte (dem ‘Franzischen’) noch auf einem in Paris gesprochenen Migrantendialekt à la Lodge (2004); deshalb verbietet sich eine primär räumlich konnotierte Bezeichnung als ‘zentralfranzösisch’, ‘pariserisch’ o.ä. Vielmehr schloß das königliche Verwaltungsfranzösisch an eine in der diplomatischen Schriftlichkeit des früheren 13. Jahrhunderts bereits wohletablierte Tradition der Überregionalität an, die primär in den peripheren Gebieten des domaine d’oïl zur weiträumigen Schriftkommunikation gepflegt wurde (vgl. Völker 2003), die diastratisch höher bewertet war als stärker dialektal beeinflußte Lokalskriptae (vgl. Lanher 1975 und 1986; Gleßgen 2008) und die vermutlich ihrerseits geprägt war vom überräumlichen Modell der lateinischen Urkundensprache sowie der zur Überregionalität tendierenden höfischen Literatursprache des 12. Jahrhunderts (vgl. Greub 2007). Somit ist es zwar richtig, daß die diatopisch neutrale Schriftvarietät, die in letzter Instanz zum Standardfranzösischen führt, ab ca. 1280 durch ihre institutionelle Identifizierung mit der königlichen Rechtssprechung einen im Überdachungsprozeß entscheidenden Prestige- und Kodifizierungsschub erfuhr, so daß sie als standardisierendes Modell auch in anderen institutionellen oder diskurstraditionellen Kontexten wirkte. Die königliche Skripta entsteht am Ende des 13. Jahrhunderts aber keineswegs aus 203 <?page no="216"?> dem Nichts, sondern perfektioniert lediglich eine viel ältere Tradition der schriftsprachlichen Überregionalität, was allerdings die Frage nach einem angemessenen Namen für diese genuin ortlose, erst sekundär institutionalisierte Sprachform nicht einfacher macht. Vor dem Hintergrund dieses Bezeichnungsproblems scheint mir eine weitere - wenngleich kaum zu beantwortende - Frage relevant zu sein, die Frage nämlich, ab welchem Zeitpunkt die spätmittelalterlichen Schreiber eine stark zur Überregionalität tendierende Ausdrucksweise überhaupt als eigene Varietät wahrnahmen, die sie als alternatives Subsystem von den anderen, regionalsprachlich markierten Skriptae unterschieden. Ich meine, damit ist das eigentliche Wesen des Standardisierungsprozesses angesprochen, welches nämlich in dem Bewußtseinswandel besteht, der nach und nach dazu geführt hat, daß die Schreiber die volkssprachlichen Skriptae nicht mehr als gleichwertige, vor allem ‘nach außen’, gegen das Lateinische hin abgegrenzte Sprachformen auffaßten 376 , sondern begannen, sie - und die damit assoziierten gesprochenen Idiome - nach Maßgabe einer als exemplarisch empfundenen überregionalen Norm varietätisch zu hierarchisieren. Das Jahr 1280 ist möglicherweise als eine Art ‘Scharnier’ dieses - in bestimmten Regionen gleichwohl erst viel später vollzogenen - Bewußtseinswandels anzusehen, da sich ab diesem Zeitpunkt im Bereich der pragmatischen Schriftlichkeit 377 ein konkreter, institutionell definierter diskursiver Rahmen herausbildet, in dem die vielgestaltigen überregionalen Tendenzen, die bereits früher die diplomatische und in erster Linie die literarische Schriftlichkeit prägten, zusammenflossen und gewissermaßen offizialisiert wurden. Die schier unüberwindbare Schwierigkeit für den aus großer zeitlicher Distanz urteilenden Linguisten besteht aber darin, daß wir aufgrund unserer Kenntnis des modernen Standards beständig Gefahr laufen, bereits vereinzelte normative Entscheidungen eines mittelalterlichen Schreibers, die auf den vermeintlichen Zielpunkt der sprachhistorischen Entwicklung hinweisen, im Rückblick totalisierend, als eine Art ‘Vorwegnahme’, ja als partielle Aktualisierung einer bereits konstituierten Norm wahrzunehmen und somit hinsichtlich ihres tatsächlichen varietätenlinguistischen Status in der historischen Synchronie zu überschätzen. Was wir heute in einer Skripta des 14. Jahrhunderts als ‘schon französisch’ oder als ‘noch pikardisch’ erkennen, kann von den Zeitgenossen vollkommen anders und überhaupt jenseits unserer modernen, standardsprachlich induzierten terminologi- 376 Vgl. dazu Lusignan (²1987, 82-86). 377 Im Bereich der höfischen Literatursprache dürfte es einen derartigen, diastratisch und diaphasisch zu bestimmenden diskursiven Rahmen bereits im 12. Jahrhundert gegeben haben. Eben deshalb erscheint es auch plausibel, von einer vorgängigen Standardisierung in der literarischen Schriftlichkeit auszugehen (vgl. Kap. 4.3). 204 <?page no="217"?> schen Kategorien perzipiert und pragmatisch funktionalisiert worden sein. 378 Gerade hinsichtlich des Problems der historisch adäquaten Benennung bestimmter Skriptaformen ist deshalb besondere Vorsicht geboten. Um der weitgehenden Inkommensurabilität der mittelalterlichen und der heutigen Normvorstellungen Rechnung zu tragen, sollten variationelle Befunde in den Urkunden also nicht vorschnell mithilfe von modernen Termini und den damit verbundenen varietätenlinguistischen Konzepten kategorisiert werden. Vielmehr sind zunächst nur statistisch auffällige Korrelationen zwischen der Wahl von bestimmten Varianten und einem bestimmten pragmatischen, vor allem institutionellen Kontext zu diagnostizieren. Die weitere Interpretation der Befunde, etwa die Frage, ob eine besonders hohe Frequenz von überregionalen, nicht-pikardischen Formen in einer Urkunde aus Beauvais bereits von einem einigermaßen konsequenten normativen Trend zur ‘Französisierung’ zeuge, ja ob man den damals tätigen Schreibern bereits das Konzept einer überregional gültigen Schriftnorm unterstellen könne, die diastratisch höher bewertet wurde als stärker pikardisierende Schreibtraditionen, muß dagegen einer behutsam abwägenden Schlußbetrachtung vorbehalten bleiben, die nur unter Berücksichtigung des gegebenenfalls aufgrund anderer Texte für eine Synchronie rekonstruierbaren variationellen Gesamttableaus sowie mit Blick auf eventuelle Diskontinuitäten in der weiteren normativen Entwicklung zu leisten ist. Nun stellt sich aber immer noch die Frage, wie die überregionalen Formen, die sich anstelle von regionalsprachlichen Varianten in der pikardischen Urkundenschriftlichkeit nach und nach durchgesetzt haben, unter Berücksichtigung der Kategorien, die für die zeitgenössischen Schreiber tatsächlich relevant waren, angemessen bezeichnet werden können. Denn wenngleich anzunehmen ist, daß ab ca. 1280 die institutionellen Voraussetzungen für die langsame, aber nachhaltige Verfestigung eines überregionalen, ‘gesamtfranzösischen’ Normbewußtseins in der pragmatischen Schriftlichkeit geschaffen wurden, erschiene es mir doch verfrüht, schon für das späte 13. Jahrhundert von der Konkurrenz einer ‘pikardischen’ und einer - wie auch immer zu benennenden - überregionalen Schriftvarietät auszugehen, die von den Schreibern in Beauvais klar auseinandergehalten oder gar hierarchisiert worden wären. Der in diesem Zusammenhang von Holtus/ Overbeck/ Völker (2003, 103f.) eingeführte Begriff des Protostandards als „quasi virtueller Stand der sprachlichen Entwicklung, der im 13. Jahrhundert noch nicht als ein fest etablierter ‘Standard’ bezeichnet werden kann,“ versucht insofern, den historischen Verhältnissen gerecht zu werden, als er 378 Vgl. zur Notwendigkeit der Berücksichtigung der „Innensicht der historischen Akteure“, deren Sprachbewußtsein jedoch in der Regel implizit bleibt und sich nur aus der „lebensweltliche[n] Einbettung“ ihres Sprachhandelns, also aus der Pragmatik der überlieferten Texte rekonstruieren läßt, Selig (1995, 7-9). 205 <?page no="218"?> das Noch-Nicht der varietätischen Hierarchisierung der nordfranzösischen Idiome unter dem Dach einer überregional gültigen Schriftnorm unterstreicht. Es wird versichert, daß das Konzept nur als „Meßlatte“ zur Beschreibung der „jeweils abweichenden Sprachphänomene“ dienen soll und daß dadurch „Begriffe wie ‘franzisch’, ‘zentralfranzösisch’ etc. vermieden werden [sollen], die zu eindeutig auf diatopische Aspekte bezogen sind und diastratische oder diatechnische Implikationen von vorneherein bei der Standardbildung ausschließen.“ - All dies ist richtig und zeugt von der sprachhistorischen Umsicht, mit der die Autoren ans Werk gegangen sind. Nichtsdestoweniger scheint mir ein Stück weit die Gefahr der anachronistischen Hypostasierung zu bestehen, wenn mit Bezug auf das 13. Jahrhundert vereinzelte Varianten, die zunächst womöglich nur aus einer punktuellen Neutralisierung regionalsprachlicher Formen zum Zweck der weiträumigen Schriftkommunikation resultieren, kurzerhand als ‘Protostandard’ angesprochen werden, da dies doch die zeitgenössische Existenz einer gewissermaßen ‘kompletten’, formal wie funktional bereits klar profilierten Schriftvarietät suggeriert, die sich im Rückblick als Vorform des künftigen Standards identifizieren ließe. Für den verhältnismäßig frühen Zeitraum zwischen 1237 und 1281, in dem die von Holtus/ Overbeck/ Völker (2003) untersuchten luxemburgischen Urkunden entstanden sind, erscheint mir die Annahme einer derartigen ‘Varietät’ - im Sinne eines synchron voll aktualisierbaren sprachlichen Subsystems - allerdings fragwürdig.Vermutlich gab es im 13. Jahrhundert noch gar nicht die ‘eine‘, bereits annähernd stabile Varietät, die den späteren Schriftstandard erkennbar präfigurierte. Wie die von Lodge (2004, 85-97) untersuchten Dokumente der prévôté de Paris zeigen, hat ja die sukzessiv ausgebaute Skripta der königlichen Verwaltung ihr charakteristisches Gepräge erst nach und nach, im verstärkten Kontakt mit den bis dato etablierten regionalen Schreibtraditionen, erhalten. Zwar ist wie gesagt anzunehmen, daß mit der flächendeckenden Institutionalisierung der königlichen juridiction gracieuse ab ca. 1280 die pragmatischen Voraussetzungen für den beschleunigten Ausbau einer überregionalen Schriftvarietät geschaffen wurden. In Ermangelung hinreichend detaillierter diachroner Untersuchungen verfügen wir jedoch heute noch über kein empirisches Fundament, das es uns zu bestimmen erlaubte, wie ein - wenn überhaupt schon einigermaßen gefestigtes - überregionales Französisch im späten 13. oder im 14. Jahrhundert hinsichtlich der Ausprägung einzelner Merkmale genau ausgesehen hat. Deshalb erscheint es mir unangebracht, in meiner Korpusstudie die Abwahl einer pikardischen Form zugunsten einer uns aus dem Neufranzösischen bekannten Variante kurzerhand auf das Modell eines in der historischen Synchronie womöglich noch gar nicht konstituierten ‘Protostandards’ zurückzuführen. Die Hypothese, wonach eine derartige überregionale Schriftnorm 206 <?page no="219"?> im 14. Jahrhundert innerhalb der königlichen Institutionen im Ausbau begriffen war, erhärtet sich zwar in dem Moment, wo wir eine Tendenz zur Verwendung von diatopisch neutralen Formen in einem gegebenen Text konkret mit der königlichen Rechtssprechung in Verbindung bringen können. Um jedoch in der Annahme einer direkten Rückführbarkeit des französischen Schriftstandards auf die königliche Verwaltungsskripta nicht unangemessen zu präjudizieren, will ich bei meiner Untersuchung zunächst anhand von skriptologischen, etwa bei Gossen ( 2 1976) zusammengestellten Kriterien, die wiederum auf dialektologische Grenzziehungen verweisen, lediglich zwischen (südwest)pikardischen (im folgenden abgekürzt „pik.“ oder, bei genauerer Eingrenzbarkeit, auch „swpik.“) und nicht-(südwest)pikardischen Formen unterscheiden (wobei ich letztere nicht mit einer Abkürzung etikettiere, da es sich dabei nur um die jeweils komplementäre Variantenkategorie handelt, die potentiell Formen von ganz unterschiedlichem varietätenlinguistischem Status beinhaltet). 379 Dieses Vorgehen erscheint mir auch insofern geboten, als wir mit Gossens (1957, 433) Skriptabegriff ohnehin von einem „allgemeinfranzösischen Grund“, also von einer starken überregionalen Komponente (die wir freilich nicht auf das ‘Franzische’ 379 Aufgrund der hohen Variabilität der mittelalterlichen Graphien ist deren phonetische Interpretation bekanntlich ein heikles, oftmals unmögliches Unterfangen (vgl. dazu grundlegend Gossen 1972). Bei meiner Klassifizierung einer Skriptaform als ‘(südwest)pikardisch’ will ich mich deshalb nicht auf die Aussage versteifen, daß einer bestimmten Graphie bei deren medialer Transkodierung in jedem Fall eine bestimmte, historisch-dialektologisch eindeutig rekonstruierbare Lautung entsprechen mußte. Die Annahme einer typisch regionalsprachlichen Skriptavariante erscheint mir allerdings dann ausreichend legitimiert zu sein, wenn die entsprechende Form typischerweise in Urkunden vorkommt, die mit einiger Wahrscheinlichkeit in der (südwestlichen) Pikardie niedergeschrieben wurden (wobei ausschließlich außersprachliche Lokalisierungskriterien heranzuziehen sind; vgl. dazu weiter unten), und wenn die Form sich einigermaßen plausibel als möglicher graphischer Reflex einer dialektalen Aussprache des (südwest)pikardischen Raums interpretieren läßt. Dies dürfte bei zwei der drei für meine Untersuchung ausgewählten Merkmale relativ sicher der Fall sein, nämlich bei den femininen Determinanten le, me, te, se und bei der Graphie <ch> für das Ergebnis von lt. [k] vor [e], [i], [tj], [kj], zumal die entsprechenden Lautformen ([ l ǝ] bzw. [ ʃ ]) in den modernen pikardischen Dialekten gut dokumentiert sind. Freilich soll mit der Klassifizierung der Artikelform le bzw. der Graphie <ch> als ‘typisch (südwest)pikardisch’ keineswegs präjudiziert werden, daß die Varianten la bzw. <c> nicht ebenfalls in Urkunden auftreten könnten, die in der Pikardie niedergeschrieben wurden und die möglicherweise hinsichtlich anderer Merkmale typisch (südwest)pikardische Skriptazüge aufwiesen. Gerade die Graphie <c> für das Ergebnis von lt. [k] vor [e], [i], [tj], [kj] ist hier mit Vorsicht zu behandeln, da nicht auszuschließen ist, daß auch sie - gewissermaßen als ‘innerpikardische’ Variante von <ch> - in der Urkundensprache insbesondere der nordöstlichen Pikardie den dialektalen Lautwert [ (t)ʃ ] repräsentieren sollte. Vgl. dazu ausführlicher Kap. 5.4.3. Vgl. außerdem zum Sonderfall der Zweikasusflexion Kap. 5.4.2. 207 <?page no="220"?> zurückführen wollen! ) als wesentlichem Bestimmungsmerkmal der nordfranzösischen Skriptae auszugehen haben, welcher obendrein in den ältesten pikardischen Urkunden des 13. Jahrhunderts noch stärker ausgeprägt gewesen sein soll als in späterer Zeit. 380 Mit „(sw)pik.“ bzw. der dadurch negativ definierten Restkategorie werden somit keine a priori postulierten ‘Varietäten‘ bezeichnet, die als idealisierte schriftsprachliche Pendants zu den gesprochenen Idiomen des Mittelalters zu verstehen wären, sondern lediglich die spezifische Ausprägung bestimmter diatopischer Variablen, welche jedoch in ein und demselben Text in unterschiedlicher Realisierung auftreten und zudem einer Reihe von generell invarianten (‘allgemeinfranzösischen‘) Formen gegenüberstehen können. Wenn die Skriptae tatsächlich von vornherein zur Überregionalität tendierende, wohl durch literarische Modelle beeinflußte Mischvarietäten waren, die seit jeher innerhalb eines nur lose zusammenhängenden, plurizentrischen einzelsprachlichen Varietätenraums interagierten und im Spätmittelalter noch weitgehend gleichberechtigt nebeneinander standen, dann wäre es in der Tat verfehlt, in die komplexe, eigengesetzliche Variabilität der mittelalterlichen Schreibsprachen mit modernen varietätenlinguistischen Status konnotierte Begriffspaare wie ‘(standard)französisch vs. (dialektal) pikardisch’ zu projizieren, die eine Wertigkeit von vermeintlich klar gegeneinander abgegrenzten sprachlichen Subsystemen implizieren und damit dem genuin kompositen Wesen der mittelalterlichen Skriptae sowie der Pragmatik ihrer Variation zuwiderlaufen. Es gab im 13. Jahrhundert schlichtweg kein Modell einer ‘rein pikardischen’ oder einer ‘rein französischen’ Schreibtradition, so daß es sich dem Sprachhistoriker verbietet, derartige Normen anachronistisch zu postulieren! Die hier vorgenommene Etikettierung von ‘(südwest)pikardischen’ vs. sonstigen Varianten ist daher zunächst als rein formale, auf sprachräumlichen Kriterien beruhende Unterscheidung einzelner Merkmalsausprägungen aufzufassen, ohne daß damit eine Definition oder gar soziale Bewertung von idealisierend angenommenen, historisch aber noch gar nicht konstituierten ‘Varietäten‘ unterstellt werden soll. Die in einem weiteren Schritt zu leistende Korrelation ‘(südwest)pikardischer’ oder sonstiger Varianten mit bestimmten außersprachlichen Bedingungen ihres Gebrauchs wird es erlauben, Affinitäten zwischen Formen der (Über-)Regionalität und bestimmten kommunikativen, im wesentlichen institutionellen Kontexten 380 Gegen die Auffassung, die Skriptae tendierten von vornherein zur Überregionalität, argumentiert Dees (1985) auf der Grundlage der für seinen Urkundenatlas erhobenen Daten. Jedoch hatte Dees (1980) dafür nur kleinräumig lokalisierbare Urkunden herangezogen, woraus sich der einseitige, nicht auf die gesamte Urkundenproduktion der Zeit übertragbare Befund eines verhältnismäßig großen Anteils an dialektal motivierten Formen in den Skriptae ergibt. Vgl. dazu Völker (2003, 60, Anm. 260). 208 <?page no="221"?> festzustellen. Ab wann man freilich von der Existenz eines halbwegs stabilisierten, deskriptiv faßbaren ‘Protostandards’ in der französischen Urkundenschriftlichkeit ausgehen kann, dürfte allein aufgrund der im Kommunikationsraum Beauvais zu beobachtenden variationellen Verhältnisse kaum zu entscheiden sein und ist letztlich auch eine Frage der varietätenlinguistischen Theorie. 381 5.2 Korpus Die 89 meiner Untersuchung zugrundegelegten Urkunden sind allesamt bereits ediert, und zwar in den Sammungen von Leblond (1919), Leblond (1922) und Carolus-Barré (1964). Aufgrund der angewendeten Editionsprinzipien und der sonstigen Qualität kann allerdings nur die von Carolus-Barré (1964) besorgte Ausgabe dem hier verfolgten hohen sprachwissenschaftlichen Anspruch gerecht werden. Die von mir während eines sechsmonatigen Forschungsaufenthalts an den Archives départementales de l’Oise in Beauvais geleistete Inaugenscheinnahme der von Carolus-Barré edierten Urkunden hat ergeben, daß diese mit bewundernswerter Akribie nahezu perfekt transkribiert 382 und hinsichtlich einer Reihe von diplomatischen Merkmalen 383 beschrieben wurden. Die außergewöhnlich hohe Qualität der Edition überrascht freilich insofern nicht, als Louis Carolus-Barré (1910-1993), der als archiviste-paléographe die École nationale des chartes absolviert hatte, wohl einer der besten französischen Diplomatiker und Mittelalterhistoriker des 20. Jahrhunderts war. 384 Zudem darf seine Edition, die für die 1974 von Jacques Monfrin begründete, heute federführend von Martin-Dietrich Gleßgen fortgesetzte Reihe der Documents linguistiques de la France 385 Modell stand, als Antwort auf die philologische Unbekümmertheit verstanden werden, die die in den 1950er und 1960er Jahren namentlich von Carl Theodor Gossen entwickelte Skriptaforschung im Umgang mit ihrem Quellenmaterial bedauerlicherweise an den Tag legte. So hatte Carolus-Barré (1952b und 1952c) bereits anläßlich einer Rezension von Gossens (1951) Pe- 381 Vgl. zum Problem der varietätenlinguistischen Modellierung des Standards selbst mit Bezug auf moderne Sprachgemeinschaften Krefeld (2011). 382 Die von mir vorgenommenen paläographischen oder typographischen Korrekturen lassen sich an einer Hand abzählen. Sie sind in der xml-Datei, in der ich etwa zwei Drittel der von Carolus-Barré (1964) edierten Urkunden zum Zweck der linguistischen Auswertung retranskribiert habe, entsprechend kenntlich gemacht. 383 Vgl. dazu genauer unten. 384 Vgl. dazu den Nekrolog von Gasnault (1994). 385 Vgl. dazu Monfrin (1974); Monfrin (Hrsg.) (1974ff.); Gardette/ Monfrin (Hrsg.) (1974ff.); Monfrin (Hrsg.) (1984ff.). Vgl. zur Geschichte der Reihe Gleßgen (i.Dr.). 209 <?page no="222"?> tite grammaire de l’ancien picard und einer Replik auf den daraufhin von Gossen (1952) vorgebrachten Rechtfertigungsversuch unmißverständlich seinen Standpunkt deutlich gemacht, wonach eine rigorose Quellenkritik unabdinge Voraussetzung für den Gewinn valider skriptologischer Befunde ist. Carolus-Barré konnte nachweisen, daß Gossens (1951) Mangel an Professionalität im Umgang mit der diplomatischen Überlieferung ihn gerade in dem für seine sprachgeographisch inspirierte Methodik 386 so entscheidenden Verfahrenspunkt der Lokalisierung eines Urkundengeschäfts zu erheblichen Fehlinterpretationen geführt hatte. Nicht nur daß Gossen die von ihm untersuchten Texte ungeprüft bereits vorliegenden Editionen von teils inakzeptabler philologischer Qualität entnommen hatte; selbst die fundamentale Unterscheidung von Originalurkunden und deren späteren Abschriften hatte Gossen in seinem Korpus nicht berücksichtigt und sich bei der Lokalisierung der Texte durch dafür weitgehend unbrauchbare, in sich kaum konsequente Archivierungskonventionen in die Irre führen lassen. 387 Demgegenüber vereint Carolus-Barrés (1964) mustergültige Sammlung der 202 ältesten volkssprachlichen Urkunden (1241-1286), die in den Archives départementales de l’Oise aufbewahrt werden, sämtliche editionsphilologischen Vorzüge, die sich ein Sprachhistoriker nur wünschen kann: 388 aufgelöste mittelalterliche Abkürzungen sind in der Textausgabe durch Kursivierung kenntlich gemacht; das Layout der Urkunden wird durch eine durchgehende Numerierung der ursprünglichen Zeilenumbrüche erkennbar; Verschreibungen und Selbstkorrekturen eines Schreibers sind im Apparat erläutert; eventuelle Ergänzungen einer späteren Hand erscheinen typographisch abgesetzt an genau der Stelle im Text, wo sie im Original eingefügt wurden. Jede Urkunde wird zudem begleitet von einem kurzen Regest, einer präzisen Beschreibung ihrer äußeren diplomatischen Merkmale 389 (Beschaffenheit und Zurichtung des Beschreibstoffs, Beson- 386 Gossen war in Zürich von Jakob Jud promoviert worden (vgl. Gossen 1942, II und 1). Wohlgemerkt schloß die radikale begriffliche Trennung, die Gossen mit Remacle (1948) zwischen den gesprochenen Idiomen des Mittelalters und der Ebene der Skriptae zog, ein starkes sprachgeographisches Erkenntnisinteresse keineswegs aus. Gossen betrieb allerdings eine Form der Sprachgeographie, die primär auf der Ebene der Schriftlichkeit operierte und sich nur sekundär und fallweise für die Rückführbarkeit skriptologischer Phänomene auf dialektologische Grenzen interessierte. Vgl. dazu Völker (2003, 44 und 46). 387 Vgl. zu Carolus-Barrés Kritik an Gossens unreflektierter Methodik Völker (2003, 47- 49). Vgl. zu Gossen Völker (2003, 42-47). 388 Vgl. zu den Editionsprinzipien im einzelnen Carolus-Barré (1964, XXIX-XXXIV). 389 Vgl. zu den äußeren diplomatischen Merkmalen Guyotjeannin/ Pycke/ Tock ( 3 2006, 63-71). Vgl. zur internationalen Terminologie der Diplomatik im folgenden grund- 210 <?page no="223"?> derheiten des Layouts und der Schrift, Sigillographisches) sowie dem vollständigen Zitat eventuell vorhandener Dorsual- oder Kanzleivermerke. Weiterhin finden sich zahlreiche detaillierte Anmerkungen zum historischen Kontext und zur Überlieferung einzelner Rechtsakte sowie - zumeist paläographische - Querverweise auf lateinische Urkunden, die sich für die Beschreibung der edierten französischen Dokumente als relevant erweisen. Das wissenschaftliche Kernstück und zugleich die disziplinengeschichtlich herausragende Leistung besteht jedoch in der umfassenden, in sechs Kapitel gegliederten diplomatisch-philogischen Studie, die Carolus-Barré (1964, XXXV-CXXII) seiner Urkundenedition vorangestellt hat. Ausgehend von den zwölf Jahre zuvor an Gossens (1951) unsystematischer Praxis der Urkundenlokalisierung geäußerten Kritikpunkten, formuliert die Untersuchung eine ausgefeilte, im wesentlichen auf diplomatischen Kriterien gegründete Methodik der Schreibortbestimmung, die in einem weiteren Schritt an den 202 edierten Dokumenten mit großer Umsicht zur Anwendung gebracht wird. Den bis heute gültigen Grundsatz, daß eine Lokalisierung nur dann als abgesichert gelten kann, wenn sie ausschließlich aufgrund von außerpsrachlichen Kriterien geleistet wird, formulierte Carolus- Barré (1964, LXX) stilistisch brillant, indem er den Philologen ihre bislang unhinterfragte zirkuläre Methodik vorhielt: 390 [...] on sait que tout philologue averti est en mesure de reconnaître grosso modo, par analogie avec les ‘parlers’ régionaux encore en vigueur (bien qu’en voie de disparaître) la région approximative où fut écrit un texte présentant des caractères dialectaux, et que l’expérience permet au médiéviste érudit de distinguer aisément une charte lorraine d’un document normand ou poitevin. Mais ne s’agit-il pas là trop souvent [...] d’une connaissance plus ou moins empirique. Tel document aura été écrit en Picardie parce qu’il contient des formes picardes... tout comme l’opium fait dormir parce qu’il a une vertu dormitive! Afin d’éviter une telle pétition de principe, ne convient-il pas de déterminer l’origine locale d’une charte, en se servant d’une méthode qui fasse précisément abstraction de ses caractères philologiques? - En la soumettant à un examen approprié relevant d’une discipline étrangère à la phiolologie: la critique diplomatique (qui n’est autre que la logique appliquée à l’étude des documents). (Carolus-Barré 1964, LXX; Kursivierung im Original) Zwar mögen die derart erarbeiteten - im übrigen ganz im Sinne Gossens vor allem auf sprachgeographische Erkenntnis zielenden - Lokalisierungsvorschläge von Carolus-Barré mitunter etwas ‘kleinteilig’ wirken oder aufgrund zahlreicher offengelassener Alternativen der Zuordnung gar enttäusätzlich Cárcel Ortí (Hrsg.) (²1997). Vgl. außerdem zur Urkundenlehre de Boüard (1948) und Bresslau ( 4 1969/ 1968). 390 Vgl. zur Würdigung von Carolus-Barrés Beitrag auch Völker (2003, 135). 211 <?page no="224"?> schen. Dies spiegelt allerdings nur die Kontingenz der Zusammensetzung des geographisch recht weit gestreuten und auch institutionell sehr inhomogenen Oise-Korpus wider. Es steht jedoch völlig außer Frage, daß Carolus-Barré durch seine mit beispielhafter Strenge ins Werk gesetzte Quellenkritik bis zum heutigen Tag gültige Maßstäbe für die Skriptaforschung gesetzt hat. Insbesondere hat seine Studie gezeigt, daß der Philologe von Fall zu Fall nicht umhinkommt, die Notwendigkeit einer objektiv unentscheidbaren, nur approximativen oder eben weiträumigen Lokalisierung anzuerkennen, da die historischen Akteure der Rechtsakte - und damit auch die für die Herstellung der Urkunden verantwortlichen Institutionen - in der Regel keineswegs nach dialektologischer Maßgabe an einem einzigen, klar definierten Ort angesiedelt waren. Nun stellt sich die Frage, weshalb ich für meine Studie nur ganze zwei Urkunden aus der Edition von Carolus-Barré (1964) ausgewählt habe, wo diese in ihrer außergewöhnlichen philologischen Qualität doch ein hervorragend bestelltes Terrain für weitergehende sprachwissenschaftliche Untersuchungen bieten sollte. 391 Der Grund für meine Zurückhaltung liegt zum einen in dem bereits angesprochenen Nachteil, daß der geographische und institutionelle Zuschnitt des Korpus leider ziemlich diffus ist. Als Kriterium für die Aufnahme einer Urkunde in die Sammlung diente Carolus-Barré nämlich lediglich der Umstand, daß sie zum Fonds der Archives départementales gehörte, welche freilich erst 1796 gegründet wurden und in die seither die Bestände zahlreicher historischer Institutionen integriert worden sind. Zum anderen läßt die relativ frühe Entstehungszeit der Urkunden sie für das hier verfolgte standardisierungsgeschichtliche Interesse lediglich bedingt geeignet erscheinen. Bereits Monfrin (1972a, 40) hatte Carolus-Barré in einem grundlegenden Beitrag zum sprachhistorischen Wert der Urkundenforschung für die institutionelle Disparatheit des Oise-Korpus und die daraus resultierende Schwierigkeit, die überlieferten Rechtsakte zu lokalisieren, bedauert: L’examen qu’il [= Carolus-Barré; Anm. K.G.] a conduit patiemment sur 202 pièces de son recueil envisage pour chacun [sic] toutes les possibilités; il est fort instructif, mais dans beaucoup de cas un peu décevant: il n’est possible de formuler qu’une présomption d’origine. Il faut dire que le dossier assez disparate qu’il avait en mains n’était peut-être pas des plus faciles à exploiter. Dans d’autres régions (Vosges, Haute-Marne), d’actives chancelleries seigneuriales [...], urbaines [...], ou ecclésiastiques [...] ont produit des séries d’actes suffisamment homogènes pour qu’une étude diplomatique en règle permette de se faire une idée assez précise de leur élaboration. (Monfrin 1972a, 40f.) 391 Vgl. dazu auch Carolus-Barré (1964, CVIII-CXII). 212 <?page no="225"?> Im Unterschied zu dem von Gleßgen (2008) untersuchten Korpus der ältesten lothringischen Urkunden aus den Archives départementales de la Meurthe-et-Moselle (1232-1265) scheinen mir die edierten Texte aus der Oise aufgrund der von Carolus-Barré selbst so beflissen herausgearbeiteten diplomatischen Kriterien in der Tat nur recht eingeschränkt mit varietätenlinguistisch aussagekräftigem Ergebnis bestimmten institutionellen Schreibstätten 392 oder redaktionellen Milieus zugeordnet werden zu können. Gleßgen (2008) geht ja davon aus, daß das Selbstverständnis gerade der mächtigsten historischen Akteure in den Urkunden, die unter ihrer institutionellen Obhut angefertigt wurden, sowohl auf der Ebene der äußeren diplomatischen Merkmale als auch sprachlich zum Ausdruck kam, nämlich durch die Verfestigung kanzleispezifischer 393 Normen der ‘medialen’ Gestaltung. 394 Aufgrund dieser Normen konnten die professionell mit 392 Vgl. zum Begriff des lieu d’écriture Gleßgen (2008, 417-421) und hier, weiter unten. 393 Der Begriff der ‘Kanzlei‘ ist polysem. Im engeren, institutionengeschichtlichen Sinn bezeichnet er ein „organisiertes und regelmäßig arbeitendes Büro“ eines weltlichen oder geistlichen Fürsten. In einer weiteren, „technisch-diplomatischen“ Verwendung kann darunter ganz allgemein das redaktionelle Milieu verstanden werden, in dem eine Urkunde hergestellt wurde; es kann sich also beispielsweise auch um ein klösterliches Skriptorium handeln (Kruisheer 1979, 258). In seiner weiteren Bedeutung kann der Terminus Kanzlei somit als synonym zu Gleßgens lieu d’écriture gelten. Gleßgen scheint auch den Ausdruck rédacteur synonym zu verwenden, der in der Diplomatik allerdings ganz konkret die Person bezeichnet, die eine Urkunde im Konzept erstellt oder deren Wortlaut diktiert (daher auch dt. Diktator; im Unterschied zum Schreiber, der die Urkunde mundiert oder ingrossiert, d.h. ins reine schreibt, wobei Redaktor und Schreiber natürlich auch in einer Person zusammenfallen können) (vgl. Cárcel Ortí (Hrsg.) 2 1997, Nr. 272; Guyotjeannin/ Pycke/ Tock 3 2006, 26). Ich verwende daher im folgenden entweder den Ausdruck Schreibstätte oder, wenn eine genaue Identifizierung nicht möglich erscheint, den Begriff des redaktionellen Milieus. Im übrigen erscheint mir Gleßgens (2008, 417) Behauptung, wonach der Begriff der Schreibstätte in der historischen Schriftlichkeitsforschung bislang so gut wie unbekannt gewesen sei, etwas überzogen. Dies mag vielleicht für Frankreich gelten; in der Germanistik und auch in der Italianistik ist die sprachhistorische Forschung gerade auch zur standardisierenden Wirkung bestimmter Kanzleitraditionen dagegen eine seit langem sehr gut etablierte Disziplin (vgl. etwa de Boor/ Haacke 1957, v.a. XXIX-XXXV; L.E. Schmitt 1966; Besch 1967; Schützeichel 2 1974; Moser 1977; Glaser 1985; Kirschstein/ Schulze/ Ohly/ Schmitt 1991; Elmentaler (Hrsg.) 2000; Greule (Hrsg.) 2001; Elmentaler 2003; Czajkowski/ Hoffmann/ Schmid (Hrsg.) 2007; Besch/ Klein (Hrsg.) 2008; Stichlmair 2008; Elspaß/ Negele (Hrsg.) 2011; Greule/ Meier/ Ziegler (Hrsg.) 2012; Vitale 1953 und 1983/ ²1988; Ghinassi 1976/ 2 2006; Maraschio 1976). Vgl. dazu auch Monfrin (1972a, 41, Anm. 1) und Völker (2003, 75-78). 394 Gleßgen (2008, 416) verwendet den Begriff der Medialität mit Bezug auf die materielle und die sprachliche Gestalt der Urkunden, welche die dokumentierte Kommunikationssituation mit all ihren pragmatischen Implikationen semiotisch überformten: „Le genre des chartes (originales) a la caractéristique d’allier une grande part de contenu linguistique à des éléments externes saillants, sachant que ces documents étaient destinés à agir aussi par leur matérialité, par la mise en page et par la calligraphie. Les 213 <?page no="226"?> dem Urkundenwesen befaßten Zeitgenossen die Dokumente vermutlich in ähnlicher Weise zuordnen wie wir heute die graphische Umsetzung eines corporate design, etwa beim Internetauftritt oder auf dem Briefpapier eines Unternehmens. Während jedoch 127 (knapp 43%) der 289 von Gleßgen untersuchten lothringischen Urkunden aus den fünf großen fürstlichen Kanzleien der Region zu stammen scheinen 395 und die Stücke sich, wie Gleßgen zeigt, in der Tat recht eindeutig aufgrund ihrer visuellen und sprachlichen Charakteristika unterscheiden lassen, stößt man bei dem Versuch, die aus der Oise überlieferten Urkunden in ähnlicher Weise zu klassifizieren, sehr schnell an Grenzen. So läßt sich aufgrund der von Carolus-Barré geleisteten inhaltlichen und paläographischen Untersuchungen lediglich in fünf Fällen eine einigermaßen zahlreiche Serie von acht bis fünfzehn Stücken je einer potentiellen Schreibstätte zuweisen, nämlich der Augustinerabtei Saint-Martin-aux-Bois 396 (knapp 40 Kilometer nordöstlich von Beauvais), der Benediktinerabtei Notre-Dame de Breteuil 397 (ca. 30 Kilometer nördlich von Beauvais), der Augustinerabtei Saint-Barthélemy de Noyon 398 sowie dem königlichen bailli von Senlis 399 und der Zisterzienserabtei Notre-Dame chartes originales permettent donc d’étudier en détail une ‘situation médialisée’ particulière. Il devient possible par là de cerner le rôle de la forme linguistique dans de tels processus et d’étudier sous un nouvel angle l’impact médial de la parole écrite.“ - Vgl. zum Begriff der Medialität in der mediävistischen Forschung auch Kiening (2007). 395 Im einzelnen entfallen je 20 Stücke auf die Kanzleien der Bischöfe von Metz und von Toul, 12 Stücke auf die Kanzlei der Bischöfe von Verdun, 37 Stücke auf die der Herzöge von Lothringen und 38 Stücke auf die der Grafen von Bar. Vgl. Gleßgen (2008, 428). 396 Es handelt sich um die acht bis vierzehn Originale Nr. 17, 18, 43, 44, 45, 46, 93, 191 und womöglich auch 11, 12, 19, 20, 27 und 132. Carolus-Barré konnte Nr. 17 und 18 derselben Hand zuordnen, Nr. 43 bis 46 einer weiteren Hand. 397 Es handelt sich um die zwölf bis fünfzehn Originale Nr. 10, 33, 95, 96, 97, 98, 99, 114, 148, 197, 198, 202 sowie möglicherweise auch 13 und 100 und - unter Vorbehalt - 180. Nr. 95 bis 99 stammen von derselben Hand, Nr. 197, 198 und 202 von einer weiteren Hand; bei Nr. 148 und 180 bleibt die Zuordnung zur selben Hand ungewiß. 398 Es handelt sich um die zehn bis dreizehn Originale Nr. 62, 63, 64, 68, 69, 70, 71, 72, 88 und 94 sowie möglicherweise auch 106, 115 und 139. Nr. 62 und 64 stammen von derselben Hand, Nr. 68 und 69 von einer weiteren Hand. 399 Es handelt sich um die zehn Originale Nr. 133, 151, 167, 169, 170, 171, 178, 181, 184 und 199. Nr. 167, 169, 170 und 181 stammen von derselben Hand. Vgl. Carolus-Barré (1964, XLV-XLVII) zum Sonderfall der Urkunde Nr. 175 vom Dezember 1283: sie wurde zwar, wie die genannten Urkunden ab einschließlich Nr. 167, im Namen von Adam Halot, damals bailli de Senlis, ausgestellt und trägt das Siegel der baillie de Senlis; sie fällt jedoch hinsichtlich ihres Formulars klar aus der Reihe und deutet somit auf einen anderen redaktionellen Hintergrund hin. Als elfte Urkunde ließe sich allerdings Nr. 129 aus dem Jahr 1277 (n.st.), ausgestellt vom prévôt de Senlis, einem dem bailli untergeordneten Beamten, in die Serie integrieren. - Es sei hier noch angemerkt, daß der seit dem Jahr 1265 bestehende königliche bailliage de Senlis ein sehr großes 214 <?page no="227"?> de Chaalis 400 (ca. 10 Kilometer südöstlich von Senlis). Mit Ausnahme des bailli de Senlis (der erst ab 1277 im Korpus vertreten ist) handelt es sich hier allerdings nicht um Institutionen, deren politisches Gewicht dem der lothringischen Herrscherkanzleien auch nur annähernd vergleichbar wäre. Dementsprechend konnte ich bei der Inaugenscheinnahme der 53 Urkunden, die sich aufgrund inhaltlicher Kriterien potentiell den Abteien zuweisen lassen, keine vergleichbar stark ausgeprägten, distinktiven Gestaltungsnormen auf der Ebene des Layouts und der Pergamentzurichtung erkennen, so daß letztlich nur die 22, maximal 24 Stücke, die mindestens paarweise von derselben Schreiberhand stammen, mit einiger Sicherheit redaktionell zugeordnet werden können. 401 Zudem besteht eine Einschränkung hinsichtlich der linguistischen Vergleichbarkeit der fünf genannten (und auch der übrigen mutmaßlichen) Schreibstätten aus dem Oise-Kor- Gebiet umfaßte, von dem als Enklave auch die Bischofsstadt Beauvais umgeben wurde (vgl. dazu Guenée 1963). Bei den genannten Urkunden aus der Sammlung von Carolus-Barré handelt es sich jedoch ausschließlich um verhältnismäßig kleinräumig lokalisierbare Rechtsakte, die allesamt durch kirchliche Archivbestände aus dem Gebiet der Diözesen Senlis oder Soissons (Dekanat Coyolles), also aus dem südlichen, nichtpikardischen Teil des bailliage, überliefert sind (Nr. 133: abbaye de la Victoire, Diözese Senlis; Nr. 151 und 199: abbaye du Parc-aux-Dames, Diözese Senlis, Nr. 167 und 184: abbaye de Lieu-Restauré, Diözese Soissons (Dekanat Coyolles); Nr. 169: chapitre collégial Saint-Thomas de Crépy-en-Valois, Diözese Senlis; Nr. 170: prieuré de Saint- Arnoul de Crépy-en-Valois, Diözese Senlis; Nr. 171: évêché de Senlis, Diözese Senlis; Nr. 178: abbaye de Saint-Vincent de Senlis, Diözese Senlis; 181: chapitre cathédral de Senlis, Diözese Senlis). Aus dem frühen 15. Jahrhundert ist allerdings eine Reihe von Akten überliefert, die von einem Repräsentanten des als Statthalter des bailli de Senlis eingesetzten prévôt d’Angy ausgestellt wurden und die erstaunlicherweise umittelbar das Herrschaftsgebiet des Bischofs von Beauvais innerhalb der cité épiscopale betrafen; vgl. dazu Labande [1892] (1978, 252-256) und s.u., Kap. 5.6.2. Vgl. auch die Urkunden Nr. 397 aus Leblond (1919) und Nr. 377 aus Leblond (1922). 400 Es handelt sich um die elf Originale Nr. 34, 119, 131, 160, 164, 165, 173, 174, 194, 195 und 196. Nr. 195 und 196 stammen von derselben Hand, Nr. 160 und 164 von einer weiteren Hand. 401 Auch Gleßgen (2008, 440-442) bescheinigt den klösterlichen Urkunden aus seinem Korpus einen gegenüber den fürstlichen Kanzleiprodukten geringeren optischen Wiedererkennungswert. Eine sprachliche Untersuchung der 53 Urkunden, die sich den vier Abteien aus der Oise mutmaßlich zuordnen lassen, habe ich zunächst stichprobenartig begonnen, dann aber wieder abgebrochen, da mir der dafür nötige Arbeitsaufwand in keinem gesunden Verhältnis zum erwartbaren varietätenlinguistischen Ertrag zu stehen schien. Noch größere Schwierigkeiten dürften freilich die hier gar nicht genannten Schreibstätten aus dem Oise-Korpus bereiten, denen schon von vornherein weniger potentiell daraus hervorgegangene Urkunden zugeschlagen werden können. Die mit Abstand am leichtesten zugängliche, sehr konsistente Serie ist eindeutig mit den zehn oder elf oben genannten Urkunden aus dem administrativen Umfeld des bailli de Senlis gegeben, zumal die Akte einen sehr kurzen Zeitraum von nicht einmal einem Jahrzehnt abdecken. 215 <?page no="228"?> pus. Diese liegen nämlich mitunter nicht nur geographisch sehr weit auseinander (beispielsweise beträgt die Entfernung zwischen Notre-Dame de Breteuil und Chaalis knapp 80 Kilometer; die zwischen Noyon und Senlis immerhin ca. 55 Kilometer), sie gehören auch unterschiedlichen Dialekträumen an: während sich etwa die Abteien Saint-Martin-aux-Bois, Notre- Dame de Breteuil und Saint-Barthélemy de Noyon im pikardischen Gebiet befinden, sind die weiter südlich gelegenen Orte Senlis und das heutige Fontaine-Chaalis dem zentralfranzösischen Raum zuzuordnen. 402 Nun will ich gar nicht abstreiten, daß die bei Carolus-Barré (1964) versammelten Dokumente für sprachgeographisch ausgerichtete Studien, etwa zur Abgrenzbarkeit der ‘Schreiblandschaften’ im 13. Jahrhundert, gewiß ein interessantes Untersuchungsfeld bieten. Insbesondere würde sich die Frage stellen, welche Merkmalsausprägungen die vermutlich im südlichen Teil des heutigen Départements Oise, also auf zentralfranzösischem Boden, entstandenen Urkunden kennzeichnen und welche regionalsprachlichen Formen diese ältesten Skriptadokumente aus der Île-de-France vom späteren französischen Schriftstandard unterscheiden. 403 Im Hinblick auf das primäre, standardisierungsgeschichtliche Interesse meiner Arbeit habe ich mich jedoch für die Wahl eines anderen Untersuchungskorpus entschieden, welches gegenüber der diplomatisch und varietätenlinguistisch nur schwer zu handhabenden Sammlung von Carolus-Barré (1964) eine Reihe von ganz entscheidenden Vorteilen bietet. Die Editionen von Leblond (1919 und 1922) versammeln insgesamt mehr als 100 volkssprachliche Urkunden aus dem Bestand der Maison- Dieu und der Maladrerie Saint-Lazare de Beauvais. Nach Abzug von 402 Vgl. dazu auch Carolus-Barré (1964, CXI und CXIIIf.) und Gossen (1942, 134-139; 1967, 205-211). Vgl. zur dialektologischen Abgrenzung der Pikardie grundlegend Dubois (1957) und Loriot (1984). 403 Es sei hier erwähnt, daß die ca. 80 Dokumente aus der Sammlung von Carolus-Barré (1964), die vermutlich im südlichen Teil der heutigen Oise entstanden sind, durch noch umfangreicheres Datenmaterial ergänzt werden können, das Louis Carolus-Barré im französischen Nationalarchiv handschriftlich transkribiert hat. Nach Carolus- Barrés Tod im Jahr 1993 hat seine Witwe die Aufzeichnungen der École nationale des chartes in einem grünen Koffer übergeben, wo sie sich heute noch befinden. Mit dem Einverständnis von Madame Carolus-Barré durfte ich die Transkripte bei einem Aufenthalt an der École des chartes im Frühjahr 2008 photokopieren. Leider bin ich bislang nicht dazu gekommen, das Material auszuwerten. - Im übrigen beinhaltet die Sammlung von Carolus-Barré (1964) auch einige Hinweise auf Urkunden, die in einer überregionalen Skripta verfaßt wurden, so z.B. Nr. 39 aus dem Jahr 1259 („La charte 39 est de langue purement française“), Nr. 41 aus dem Jahr 1260 („Nullement dialectal“), Nr. 47 aus dem Jahr 1259 oder 1260 („Nullement dialectal“) oder Nr. 123 aus dem Jahr 1275 („Cette charte paraît avoir été écrite volontairement en pur français, mais à la fin le clerc a inconsciemment écrit ‘pour che que che soit’“); vgl. Carolus- Barré (1964, LXXXVIII, Anm. 1, 2, 4 und XCVIII, Anm. 1; Fettdruck im Original). 216 <?page no="229"?> Kriegsverlusten 404 , nicht auffindbaren oder beschädigten, mir mit bloßem Auge nicht lesbaren Stücken umfaßt das Korpus noch 84 Originale und drei Abschriften, die heute in den Archives départementales de l’Oise in Beauvais lagern und die von mir vollständig neu transkribiert, diplomatisch analysiert und linguistisch ausgewertet wurden. Die Editionen von Victor Leblond (1862-1930) - der freilich kein ausgebildeter Archivar war, sondern Mediziner im städtischen Krankenhaus von Beauvais, korrespondierendes Mitglied der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres und ein bemerkenswert aktiver Hobbyhistoriker 405 - erwiesen sich für meine Neutranskription zwar als willkommene Grundlage, sie sind qualitativ jedoch in keinerlei Hinsicht mit der Sammlung von Carolus-Barré (1964) vergleichbar. So habe ich die vielfach unpräzisen oder gar unbrauchbaren Kurzregesten von Leblond korrigiert oder komplett neu erstellt; die von Leblond mitunter fehlerhaft oder nur teilweise transkribierten Urkundentexte wurden korrigiert, ergänzt und nach Maßgabe der Editionsprinzipien aufbereitet, die für das an der Universität Zürich angesiedelte Projekt der Plus anciens documents linguistiques de la France gelten (und die denen von Carolus-Barré (1964) nicht unähnlich sind). 406 Die so erstellten Texte habe 404 Die in den Archives communales gelagerten Stücke fielen im Juni 1940 einem für die ganze Stadt verheerenden deutschen Luftangriff zum Opfer. Vgl. etwa Chastenet (1972, 121-125). 405 Vgl. Dussaud (1930). 406 Die Editionsprinzipien wurden mit dem Ziel entwickelt, die Urkundentexte elektronisch zu publizieren und dabei verschiedene Versionen ein und desselben Dokuments anzubieten, von einer rein diplomatischen Transkription mit Faksimile-Ansicht bis hin zu einer weitgehend der Lesbarkeit verpflichteten Adaptation, die modernen redaktionellen Prinzipien folgt. In dem xml-basierten Transkript, das der elektronischen Edition jeder einzelnen Urkunde zugrunde liegt, wird daher beispielsweise neben der Originalinterpunktion aus dem mittelalterlichen Dokument (in der Datei: „/ .“) zugleich auch eine vom Herausgeber eingefügte Interpunktion sichtbar, die modernen syntaktischen Regeln folgt (in der Datei: z.B. „./ / .“, wenn ein modernes Satzzeichen einem Punkt in der Handschrift entspricht; einfacher Punkt, Komma o.ä. steht dagegen, wenn an der fraglichen Stelle in der Handschrift kein Punkt gesetzt wurde; vgl. zur Interpunktion in altfranzösischen Urkunden Mazziotta 2009). Ebenso wurden einerseits die ursprünglichen Zeilenumbrüche kenntlich gemacht (im xml-Format: „<zw/ >“), andererseits wurde eine der besseren Lesbarkeit verpflichtete, auf semantischen und syntaktischen Kriterien basierende Abschnittsgliederung eingeführt (im xml-Format: „<div></ div>“; in der Edition werden die Sinnabschnitte dann durch fortlaufende arabische Numerierung angezeigt). Auch Originalmajuskeln (z.B. „((J))“) können im Transkript von den Majuskeln unterschieden werden, die vom Herausgeber, etwa zur Auszeichnung von Namen oder am Satzbeginn, eingeführt wurden (z.B. „J“). Aufgelöste Abkürzungen, die Leblond (1919; 1922) prinzipiell nicht kenntlich gemacht hat, sind in der xml-Datei und hier durch geschweifte Klammern angezeigt (z.B. „{et}“; in der Edition dann durch Kursivierung); Verschreibungen oder Selbstkorrekturen eines Schreibers werden im Apparat kommentiert. Zur Kennzeichnung betonter Ultimasilben, die graphisch nicht auf -t, -z oder -ee(s) 217 <?page no="230"?> ich in einer xml-Datei gespeichert und sprachwissenschaftlich annotiert. 407 Zudem erhielt jede Urkunde - auch die beiden zusätzlich aus der Sammlung von Carolus-Barré (1964) aufgenommenen Stücke, CB001 und CB182 408 - einen sogenannten Urkundensteckbrief, in dem die Ergebnisse meiner diplomatischen Analyse tabellarisch zusammengefaßt sind. 409 Die Informationen betreffen im einzelnen (a) die Archivsignatur (cote), (b) das Datum und gegebenenfalls den Ort der Ausstellung (date) 410 , (c) die Art der dokumentierten Rechtshandlung (type juridique), (d) die beteiligten Parteien und andere Akteure, die Aufschluß über den redaktionellen Hintergrund geben können 411 , (e) das erhaltene oder nur angekündigte Siegel (sceau [annoncé]), (f) Kanzleivermerke, Unterfertigungen oder Dorsualvermerke (mentions hors teneur - signatures - mentions dorsales), (g) eine eventuell identifizierbare Schreiberhand (scribe), (h) Besonderheiten auf der Ebene der ausgehen, wird ein accent aigu gesetzt. Grundsätzlich wurden nach modernen Gepflogenheiten die Buchstaben <u> und <v> sowie <i> und <j> unterschieden, da dadurch die Lesbarkeit in entscheidender Weise verbessert wird; selbst Holtus/ Overbeck/ Völker (2003, 115), die die paläographische Unterscheidung der Buchstaben in der Edition ihrer luxemburgischen Urkunden exakt nachvollziehen, verneinen im übrigen deren varietätenlinguistischen Erkenntniswert. Ebenso wurde bewußt auf die bei Holtus/ Overbeck/ Völker (2003) vollzogene Unterscheidung zwischen langem und rundem <s> verzichtet, da diese die Lesbarkeit meines Erachtens ganz erheblich beeinträchtigt. Es mag zwar sein, daß die diesbezügliche Variation mitunter als Kriterium der Schreiberhandbestimmung dienen kann; ein Paläograph wird jedoch ohnehin immer die Originalhandschrift konsultieren und niemals auf der Basis einer Edition zu irgendwelchen Schlüssen kommen. Vgl. zur teils durchaus berechtigten Kritik an Holtus/ Overbeck/ Völker (2003) die Rezension von Roques (2004); zu einem positiveren Urteil kommt Selig (2005b); vgl. auch Burdy (2004). - Vgl. zu den für die Plus anciens documents linguistiques geltenden Editionsprinzipien im Überblick Gleßgen (2005); vgl. zur Anwendung dieser Prinzipien auch meine Beispieltranskription der Urkunde LBHD437, 1326 mit vollständig ausformulierten Kurzregest im Anhang II. 407 Vgl. dazu genauer Kap. 5.4. 408 Im folgenden werden die Urkunden aus den drei zugrundegelegten Editionen abgekürzt zitiert, beispielsweise als CB001, als LBHD284 oder als LBSL278. Das Kürzel CB steht dabei für Carolus-Barré (1964), LBHD steht für Leblond (1919) und LBSL für Leblond (1922). Die arabischen Ziffern bezeichnen die laufende Nummer einer Urkunde in der Edition, wobei ich beispielsweise noch zwischen LBSL377a und LBSL377b differenziere, wenn Leblond zwei aneinandergeheftete Urkunden unter einer Nummer führt oder, wie im Fall von LBHD479a, eine Nummer irrtümlich doppelt vergeben hat (wobei LBHD479b, eine lateinische Urkunde, nicht Teil meines Korpus ist). 409 Die 89 chronologisch geordneten Steckbriefe sind im Anhang I vollständig abgedruckt. Wie die ausformulierten Kurzregesten wurden die Urkundensteckbriefe in französischer Sprache verfaßt, da sie die angestrebte elektronische Publikation der Dokumente begleiten sollen. 410 In den seltensten Fällen wird der Ausstellungsort in der Urkunde genannt. In der französischen Terminologie wird unter dem Begriff des Datums sowohl die date de temps als auch die date de lieu verstanden. 411 Vgl. dazu im Detail Kap. 5.3 und 5.5 bis 5.9. 218 <?page no="231"?> äußeren Merkmale (Beschreibstoff, Layout, Schrift; particularités externes) sowie (i) die mutmaßlich für die Herstellung einer Urkunde verantwortliche Institution, also die Schreibstätte oder - abstrakter - das redaktionelle Milieu (lieu d’écriture - milieu rédactionnel). 412 In einer letzten Rubrik (k) (remarques) finden sich Hinweise auf gegebenenfalls vorhandene Abschriften oder lateinische Urkunden, die den gleichen Vorgang betreffen, sowie auf sonstige inhaltliche, redaktionelle oder sprachliche Besonderheiten, die für die Zuordnung einer Urkunde hilfreich sein können. 413 Worin besteht nun aber der besondere Wert der 87 neu transkribierten Texte aus den beiden Editionen von Leblond? - Das Korpus eignet sich natürlich insofern für eine diachrone Studie, als es einen verhältnismäßig langen Zeitraum von knapp zwei Jahrhunderten abdeckt (1262-1455). 414 Zugleich erweist sich das Korpus in geographischer wie institutioneller Hinsicht als überaus homogen. In fast allen 87 Fällen ist entweder die Maison- Dieu oder die Maladrerie Saint-Lazare der Begünstigte (bénéficiaire) des dokumentierten Urkundengeschäfts, also die Partei, die den größten Nutzen aus der Rechtshandlung zieht und deshalb auch ein begründetes Interesse an der Archivierung des Dokuments hat. Doch auch die anderen Personen oder Institutionen, die in den Urkunden als Protagonisten auftreten, sind sehr häufig unmittelbar in Beauvais angesiedelt. Somit kann in der Regel davon ausgegangen werden, daß - ganz im Unterschied zur Sammlung von Carolus-Barré (1964) - die diatopische Variation in den Texten allenfalls eine marginale Rolle spielt. Dadurch wird sozusagen der Blick frei für die Untersuchung der nicht primär räumlich verfaßten außersprachlichen Parameter, welche die Wahl bestimmter Varianten in den Texten pragmatisch determinieren, und das im Zentrum des Interesses stehende Phänomen der überregionalen Standardisierung kann vor dem Hintergrund der sprachsoziologischen, vor allem institutionengeschichtlichen Dimension der spätmittelalterlichen Sprachvariation gesehen und erklärt werden. Es sei im übrigen nochmals betont, daß meines Erachtens gerade die nach dem Jahr 1280 entstandenen französischen Urkunden von allergrößtem sprachhistorischem Interesse sind - auch wenn diese bislang ein skriptologisch weitgehend unbeachteter Untersuchungsgegenstand geblieben 412 Erscheint eine Zuordnung nur aufgrund von inhaltlichen Kriterien oder aufgrund der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Archivbestand möglich, nicht aber aufgrund von ‘harten’, vor allem äußeren Merkmalen, so erfolgt die Angabe der mutmaßlichen Schreibstätte unter Zusatz eines Fragezeichens. 413 Vgl. zur Methodik der Schreibortbestimmung genauer Kap. 5.3 und 5.5 bis 5.9. 414 Die älteste volkssprachliche Urkunde aus Leblond (1919), LBHD284, stammt aus dem Jahr 1262. Da ich die älteste Urkunde aus Carolus-Barré (1964), CB001, noch hinzunehme, ergibt sich der im Titel genannte und letztlich untersuchte Zeitraum von 214 Jahren (1241-1455). 219 <?page no="232"?> sind. Diese bedauerliche Forschungslücke ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund zu verstehen, daß Jacques Monfrin (1924-1998), Professor für romanische Philologie an der École nationale des chartes, bei der Konzeption der von ihm besorgten Reihe der Documents linguistiques de la France (s.o.) die Parole ausgegeben hatte, daß die Département für Département zu edierenden ältesten volkssprachlichen Urkunden höchstens bis zum Jahr 1270 erfaßt werden sollten, da nach dieser Zeit nicht nur die Menge der überlieferten Rechtsakte unüberschaubar werde, sondern es in den 1270er Jahren auch zu einer entscheidenen Wende in der diplomatischen Schriftlichkeit gekommen sei, die sich in sprachlicher Hinsicht nachhaltig ausgewirkt habe: A partir de 1270-1280 environ, les conditions changent. Ce n’est pas tout à fait arbitrairement que j’ai choisi la date de 1270 comme limite des relevés que j’ai communiqués plus haut. Elle correspond à un tournant, au moins dans les régions où un assez grand nombre d’exemples permet de percevoir une évolution. On a l’impression, jusque vers 1265-1270, d’une assez grande liberté de rédaction. L’acte n’est pas coulé dans un moule préétabli; les rédacteurs s’efforcent de présenter au mieux l’affaire en cause. Ensuite on perçoit un raidissement, on se rend compte que la formule l’emporte; les actes documentant des affaires analogues se ressemblent de plus en plus étroitement; les clauses finales de garantie et de renonciation calquées sur des modèles latins apparaissent de plus en plus souvent. (Monfrin 1972a, 53) Konkret ist die angesprochene Veränderung auf die hier bereits mehrfach erwähnte, vermutlich von Philipp III. (1270-1285) auf den Weg gebrachte rechtshistorische Innovation der flächendeckenden Einrichtung eines königlichen Notariatsdiensts in den nordfranzösischen bailliages und prévôtés zurückzuführen. 415 Die neuartigen Organe der freiwilligen Gerichtsbarkeit erwiesen sich rasch als großer Erfolg und brachten das bis dato dominierende kirchliche Notariatswesen weitgehend zum Erliegen, vermutlich unter anderem weil die königlichen Beamten ausschließlich auf französisch urkundeten. Der somit vollzogene Ausbau der königlichen Verwaltungsstrukturen hat zu einer merklichen Professionalisierung des volkssprachlichen Urkundenwesens und wohl auch zu einer gesteigerten Mobilität der Beamten und ihres Schreibpersonals geführt. Der dadurch wiederum vorangetriebene Ausbau einer überregionalen Kanzleisprache, deren wachsendes Prestige zum sukzessiven Abbau regionalsprachlicher Skriptaformen führte, wurde allerdings von Monfrin noch ganz aus dialektologischer Per- 415 Vgl. zur Ordonnance Philipps III. und zur Organisation der freiwilligen Gerichtsbarkeit in Frankreich seit 1280 grundlegend Carolus-Barré (1935) und Bautier (1990b). Vgl. auch oben, Kap. 4.3. 220 <?page no="233"?> spektive, gewissermaßen als Schaden für den sprachhistorischen Zeugniswert der nach 1280 entstandenen Urkunden beurteilt: Comme les actes émanés de bureaux d’écritures [sic] des bailliages et prévôtés sont toujours en français, on pourrait penser que la dialectologie va y gagner. Malheureusement le personnel qu’emploient ces bureaux n’est pas forcément un personnel local; les officieurs royaux des bailliages, dont la carrière se poursuit parfois en des lieux divers, amènent souvent leurs clercs avec eux. De plus, ces services sont en relation constante avec la cour royale et les bureaux parisiens. Il est à craindre qu’ils ne s’efforcent d’éliminer les caractères trop voyants d’un dialecte particulier. Et ces actes, répandus par milliers, donnent très vite le ton. [...] Si bien qu’en gros, vers 1280, les chartes cessent d’être, pour le dialectologue, une source de premier ordre. (Monfrin 1972a, 53f.) Für das hier verfolgte standardisierungsgeschichtliche Interesse ist freilich gerade der Prozeß der Herausbildung einer überregionalen königlichen Verwaltungssprache von zentraler Bedeutung. Die dadurch hervorgerufene, mindestens zwei Jahrhunderte lang bestehende Konkurrenz von traditionell-regionalsprachlichen und innovativ-überregionalen Skriptaformen wird am Beispiel des spätmittelalterlichen Beauvais in ganz besonderer, mitunter ideologisch anmutender Schärfe greifbar werden, da im institutionellen Umfeld dieser bedeutenden cité épiscopale die Einflußbereiche der bischöflichen und der königlichen Rechtssprechung aufeinandertrafen und sich vielfach überschnitten. Im übrigen möchte ich auch dem häufig geäußerten Vorurteil begegnen, die Sprache gerade der späteren Urkunden werde zu starr, zu formelhaft, kurz: zu ‘juristisch’, um daraus noch sprachhistorischen Gewinn ziehen zu können. 416 Denn zum einen wird sich zeigen, daß die frei formulierten Urkundenteile im Spätmittelalter durchaus noch Raum für die sprachliche Ausdruckskraft einzelner Redaktoren geboten haben; zum anderen ist zu betonen, daß das Recht im Prozeß des schriftsprachlichen Ausbaus eine der zentralen Diskursdomänen darstellt, aus der zahlreiche distanzsprachliche Innovationen, besonders im Bereich der lexikalischen, aber auch der syntaktischen Latinismen, zumindest zeitweise ihren Weg auch in andere Diskursbereiche und mitunter sogar in die spätere Standardsprache gefunden haben. 417 Auch hier wird die Korpusstudie, wenn auch am Rande, interessante Einblicke geben können. Zu weiteren Details, die die Zusammensetzung des Korpus, die Beschaffenheit des Quellenmaterials oder den historischen Hintergrund der 416 Vgl. etwa Gossen (1942, 23f.); auch die oben zitierte Passage aus Monfrin (1972a, 53). 417 Vgl. zum schriftkulturellen Ausbau des Französischen im Spätmittelalter Frank (1998) und Frank-Job (2008). Zu distanzsprachlich induziertem Wandel in der Geschichte des Französischen vgl. etwa Koch (2004, 606-614). 221 <?page no="234"?> darin dokumentierten Vorgänge, Institutionen und Figuren betreffen, will ich mich an dieser Stelle nicht äußern. Die wesentlichen Informationen, die zum Verständnis der varietätenlinguistischen Zusammenhänge nötig sind, werde ich im Verlauf meiner Studie an jeweils dafür geeigneter Stelle geben. Im übrigen verweise ich auf die im Anhang I abgedruckten Urkundensteckbriefe mit ausführlichen Informationen zu den diplomatischen Merkmalen der untersuchten Dokumente. Zur Einführung in den historischen Kontext sei zudem auf das ausführliche, beiden Editionen geltende Vorwort von Leblond (1922a) verwiesen, das einen sehr guten Eindruck von der inhaltlichen Bandbreite und der institutionengeschichtlichen Relevanz der Urkundensammlung vermittelt. 418 Im folgenden Abschnitt möchte ich allerdings noch etwas genauer auf die Methodik der Untersuchung und insbesondere auf das zugrundegelegte Verfahren der Schreibortbestimmung zu sprechen kommen. 5.3 Methodik Ich habe in Abschnitt 5.1 bereits die methodologisch relevante Grundannahme dargelegt, wonach eine Urkunde (fr. acte écrit) als Medium einer sprachlich konstituierten Rechtshandlung (fr. acte juridique) aufzufassen ist. In diesem Medium korrelieren bestimmte sprachliche Varianten mit einem spezifischen außersprachlichen Kontext, der neben Zeit und mutmaßlichem Ort des schriftsprachlichen Handlungsvollzugs auch die rechtliche und soziale Stellung der beteiligten Personen und Institutionen umfaßt. Da - im Unterschied zur literarischen Schriftlichkeit - die außersprachlichen Bezüge des kommunikativen Akts im Urkundentext weitgehend explizit gemacht werden, erweist sich der diplomatische Diskurs als privilegierter Untersuchungsgegenstand einer historischen Varietätenlinguistik, deren Erkenntnisinteresse auf die Erfassung der pragmatischen Dimension der sprachlichen Variation im Mittelalter gerichtet ist. Wie oben erwähnt, wurde eine derartige, pragmatisch-varietätenlinguistisch 419 fundierte Methodik der synchronen Skriptaforschung unlängst 418 Vgl. außerdem zur (spät)mittelalterlichen Geschichte von Beauvais und Umland Louvet [1614] (1977), Delettre (1843, Bd. 2), Doyen (1842, Bd. 1), Labande [1892] (1978), Chastenet (1972), Ganiage/ Le Clère/ Lemaire (1987), Guyotjeannin (1987), Durand (1990) und Lemaire (1993). Vgl. zum mittelalterlichen Hospitalswesen Montaubin (Hrsg.) (2004). 419 Vgl. zum historisch-varietätenlinguistischen Ansatz in der (deutschen) Romanistik der letzten zwanzig Jahre etwa Selig (1995); Koch (1997b); Oesterreicher (1997); Gärtner/ Holtus/ Rapp/ Völker (Hrsg.) (2001); Aschenberg/ Wilhelm (Hrsg.) (2003); Völker (2003); Gärtner/ Holtus (Hrsg.) (2005); Schrott/ Völker (Hrsg.) (2005); Hafner/ Oesterreicher (Hrsg.) (2007). Vgl. auch die germanistischen Beiträge von Bauer (Hrsg.) 1988; 222 <?page no="235"?> von Gleßgen (2008) in einem Beitrag zu den lothringischen lieux d’écriture des 13. Jahrhunderts vorgestellt. Gleßgens Ansatz beruht auf dem eleganten Verfahren, daß das varietätenlinguistische Raster, das am Untersuchungskorpus angesetzt wird, prinzipiell mit nur einem außersprachlichen Parameter operiert, eben den lieux d’écriture oder ‘Schreibstätten’. Durch die Fokussierung variationsrelevanter außersprachlicher Faktoren im institutionellen Konzept der Schreibstätte, das ja weitgehend der historischen Realität mittelalterlicher Kanzleien oder Skriptorien entspricht, wird eine Dissoziation der in der historisch-dialektologischen Tradition noch übermäßig privilegierten sprachgeographischen Dimension und den erst neuerdings in den Blick geratenen sprachsoziologischen Implikationen der Urkundenschriftlichkeit vermieden. Denn in der Tat scheint das, was die traditionelle Skriptaforschung - und übrigens auch die neuere Skriptometrie 420 - geradezu selbstverständlich als diatopische Variation interpretiert (bzw., bei sprachgeographisch paradoxem Befund, von der Untersuchung ausschließt) 421 , eine im wesentlichen institutionell, durch kanzleispezifische Normen geleitete schriftsemiotische Überformung von handlungsrelevanten Merkmalen des außersprachlichen Kontexts zu sein, in den eine Urkunde als ‘verschriftete Rechtshandlung’ situativ eingebettet ist. Nach dieser medientheoretisch fundierten Auffassung ist die in einer Urkunde kristallisierte sprachliche Variation zunächst Ausdruck des sozialen und territorialen Selbstverständnisses der für die Anfertigung verantwortlichen Institution; sie umfaßt also sowohl diatopische als auch diastratische Aspekte. Darüber hinaus kann sie auch das Ergebnis einer kommunikativen Anpassung an einen Diskursgegenstand (also ein Phänomen der Diaphasik) oder an einen Adressaten sein, dem seinerseits implizit ein bestimmter gesellschaftlicher (‘diastratischer’) und unter Umständen auch ein damit verbundener sprachgeographischer (‘diatopischer’) Status zugeschrieben wird. Der lieu d’écriture ist somit ein institutioneller Ort der sozial-geographi- Brandt (Hrsg.) (1994); Bister-Broosen (Hrsg.) (1999); Gerner/ Glauninger/ Wild (Hrsg.) (2002); Elmentaler (2003); Czajkowski/ Hoffmann/ Schmid (Hrsg.) (2007); Stichlmair (2008); Elspaß/ Negele (Hrsg.) (2011). 420 Vgl. dazu schon Goebl (1970) sowie die auf den Atlanten von Dees (1980; 1987) basierenden Beiträge von Goebl/ Schiltz (2001) und Goebl (2005; 2006; 2011); vgl. zu Norditalien auch Videsott (2009). Hans Goebl wurde übrigens 1970 als Schüler von Carl Theodor Gossen in Wien promoviert. - Zur nicht selten gegebenen Unmöglichkeit, Urkundentexte überhaupt im sprachgeographischen Sinne eindeutig zu lokalisieren, vgl. grundlegend Carolus-Barré (1964, LXVIII-LXXXII) sowie zusammenfassend Völker (2003, 134-140). Vgl. grundlegend zur Problematik der für die herkömmliche Skriptaforschung kennzeichnenden Methodik einer nur summarischen, varietätenlinguistisch nicht weiter differenzierenden Auswertung von großräumig angesetzten historischen Korpora Reichmann (1990). 421 Vgl. etwa Krause (1896, 59f.). 223 <?page no="236"?> schen Semiose, an dem nicht nur die Konstruktion der eigenen (sprachlichen) Identität stattfindet, sondern auch fremde (sprachliche) Identitäten wahrgenommen und repräsentiert werden. Bei Gleßgen (2008) erfolgt der heuristische Zugriff auf den unterstellten variationspragmatischen Nexus zunächst über die äußeren diplomatischen Merkmale, also über die visuell erfahrbaren, materiellen Eigenschaften der Dokumente 422 , welche nach Gleßgens Überzeugung in gleicher Weise medialer Ausdruck der implizit kommunizierten ‘Schreibereinstellungen’ 423 sind wie die verwendeten sprachlichen Varianten. In Verbindung mit den inneren diplomatischen Merkmalen der ausstellenden und der begünstigten Partei 424 führt die Analyse der Pergamentgestaltung, des Layouts und der Schrift zu einer ersten, tentativen institutionellen Zuordnung, die in einem weiteren Schritt anhand der diagnostizierten sprachlichen Variation in einem hermeneutischem Verfahren verifiziert wird. 425 422 Selbstverständlich können nur Originalurkunden, keine Abschriften, als authentische Medien der ursprünglichen Kommunikationssituation gelten, und zwar sowohl hinsichtlich der äußeren diplomatischen Merkmale als auch hinsichtlich der sprachlichen Variation. Vgl. dazu Gleßgen (2008, 414f.). - Vgl. zur Semiotik und zum Kunstwerkcharakter der äußeren diplomatischen Merkmale grundlegend Rück (1991). 423 ‘Schreiber’ ist hier als pars pro toto, nämlich stellvertretend für die ‘Schreibstätte’ zu verstehen. 424 Guyotjeannin/ Pycke/ Tock ( 3 2006, 71-85) gehen unter der Überschrift „LES CARAC- TERES INTERNES“ nur auf das sogenannte Diktat (lt. dictamen) ein, also auf den Aufbau und den sprachlich-stilistischen Aspekt des Urkundentexts mit seinen charakteristischen formelhaften Anteilen. Gleßgen (2008, 421f.) rechnet weiterhin die Protagonisten der beurkundeten Rechtshandlung (z.B. Aussteller, Begünstigter, Siegler; vgl. dazu im einzelnen weiter unten) zu den inneren diplomatischen Merkmalen. Dem schließe ich mich in meiner Untersuchung an und werde auch sogenannte Kanzleivermerke (fr. mentions hors teneur) mit einbeziehen, die oftmals wertvolle Hinweise auf den Entstehungskontext eines Dokuments geben. 425 Vgl. zur Bedeutung der idiolektalen Variation grundlegend Merisalo (1988) sowie Völker (2003, 157-167 und 190-192). Monfrin (1972a, 41f.) bemängelt zwar, daß Carolus-Barré (1964) bei seiner Lokalisierungsmethode die Rolle des einzelnen Schreibers („celui qui a tenu la plume“) nicht ausreichend berücksichtigt und dadurch in gewisser Weise die Illusion geschaffen habe, das Wissen um den genauen Entstehungsort einer Urkunde könne für die Vorhersagbarkeit bestimmter sprachlicher Formen garantieren. Monfrins Kritik bezieht sich allerdings lediglich auf das unter dialektologischem Aspekt relevante Problem, daß ein Schreiber nicht zwangsläufig aus dem Ort stammen mußte, an dem er tätig war. Die Frage, inwieweit ein Schreiber sich - ganz unabhängig von seiner Herkunft - der ‘Hausnorm’ einer Kanzlei zu unterwerfen hatte, für die er arbeitete, stellt Monfrin dagegen nicht. Dennoch scheint er die Bedeutung schreibstättenspezifischer Normvorgaben indirekt anzuerkennen, wenn er auf besonders gut organisierte, in der sozialen Hierarchie sehr hochstehende Kanzleien verweist, die ihr Personal weiträumig zu rekrutieren pflegten: „Plus on monte dans l’hiérarchie, et plus on a affaire à des bureaux organisés, dont l’aire de recrutement peut être assez large.“ - Im übrigen scheint mir Carolus-Barré (1964) bei seinen Loka- 224 <?page no="237"?> Nun steht und fällt jede Methodik mit der Qualität des zugrundegelegten Korpus. Gleßgen (2008) kann sich wie gesagt auf eine recht umfangreiche Sammlung von Originalurkunden stützen, die größtenteils aus fünf sehr bedeutenden, anhand der äußeren diplomatischen Merkmale relativ leicht identifizierbaren Kanzleien hervorgegangen sind. Die 289 untersuchen lothringischen Urkunden stammen zudem aus einem überschaubaren Zeitraum von lediglich 33 Jahren (1232-1265), was sie für einen erfolgversprechenden paläographischen Vergleich prädestiniert. Im Unterschied dazu will ich aber ein Korpus untersuchen, das lediglich 86 Originalurkunden umfaßt und dabei über 214 Jahre ‘gestreckt’ ist. Es stellt sich somit die Frage, ob eine Anwendung des Konzepts der Schreibstätte überhaupt möglich und zielführend ist. Zunächst einmal steht fest, daß das Konzept der Schreibstätte für die hier verfolgte standardisierungsgeschichtliche Fragestellung von besonderem methodologischem und epistemischem Wert ist, da es gerade darum geht herauszufinden, welche gesellschaftlichen Träger der diplomatischen Schriftlichkeit unter welchen kommunikativen Bedingungen als Motoren im überregionalen Standardisierungsprozeß fungierten und welche sich unter welchen Umständen eher zögerlich gegenüber dem sprachlichen Innovationsprozeß verhielten. Für den zugrundegelegten pragmatisch-varietätenlinguistischen Ansatz ist die Frage nach der Institution, die für die sprachliche Form einer Urkunde verantwortlich ist, daher essentiell. In den historischen Hilfswissenschaften gilt freilich nur eine Schreibortzuweisung als abgesichert, die aufgrund eines klassischen Schriftvergleichs, d.h. anhand von paläographischen Kriterien, geleistet wird. 426 Dabei sind diejenigen Urkunden der ausstellenden Institution als Schreibstätlisierungen das Konzept der institutionellen Schreibstätte implizit viel stärker berücksichtigt zu haben, als dies in seiner Darstellung zum Ausdruck kommt. Denn wenngleich er - wohl auch um den Erwartungen der zeitgenössischen Philologie gerecht zu werden - seine Ergebnisse letztlich auf sprachgeographischer Ebene formuliert, lokalisiert er die Entstehung einer Urkunde zunächst immer in einer Institution (die eben auch durch ihren geographischen Sitz definiert ist) und stützt sich dabei, soweit möglich, sogar in erster Linie auf paläographische, also ‘idiolektale’ Kriterien. - Die für die Schreibstättenforschung relevante Frage, ob die Bedeutung der idiolektalen Variation höher einzuschätzen ist als die der institutionellen, beantwortet Gleßgen (2008, 420f.) eindeutig: „[...] nous avons retenu comme hypothèse de travail qu’il existe une certaine homogénéité linguistique à l’intérieur d’un lieu d’écriture et que les scriptoria et chancelleries soumettaient alors les scribes à une certaine discipline linguistique et paléographique. [...] Notre hypothèse de travail suppose enfin qu’il existe un lien entre la forme linguistique choisie d’un lieu d’écriture et l’image identitaire du plus haut représentant de ce lieu, qu’il s’agisse d’un évêque, d’un abbé, d’un prince, d’un seigneur ou encore d’un scribe de ville ou d’un curé de village.“ - Vgl. zur - mir großteils nicht nachvollziehbaren - Kritik an Gleßgens Ansatz Burdy (2011). 426 Vgl. zur sog. klassischen Methode Kruisheer (1979) und Burgers (2001). 225 <?page no="238"?> te zuzuweisen, die für unterschiedliche Empfänger (besser: Begünstigte) 427 bestimmt sind, aber von demselben Aussteller stammen und von derselben Hand niedergeschrieben wurden. Andererseits ist von einer Anfertigung durch die empfangende/ begünstigte Partei auszugehen, wenn von derselben Hand niedergeschriebene Urkunden denselben Empfänger/ Begünstigten haben, aber unterschiedliche Aussteller. Schließlich bleibt immer noch die Möglichkeit einer Anfertigung durch Dritte zu erwägen, da selbst ein in mehreren Dokumenten von derselben Hand auftretender Aussteller oder Empfänger/ Begünstigter die Urkunden von einer außenstehenden Institution anfertigen lassen konnte, was vor allem dann denkbar erscheint, wenn nicht anzunehmen ist, daß der Aussteller bzw. der Empfänger/ Begünstigte über eigenes zur Anfertigung der Urkunden qualifiziertes Personal verfügte. Soll die Schreibstätte bestimmt werden, in der ein Dokument tatsächlich verfaßt und niedergeschrieben wurde, ist also zunächst immer von einer im Prinzip unabhängigen institutionellen Größe auszugehen, die nur unter bestimmten Umständen mit dem Aussteller oder dem Empfänger/ Begünstigten eines Schriftstücks identifiziert werden kann. 428 In jedem Fall ist je- 427 Auch wenn die Begriffe, wie etwa bei Kruisheer (1979), in der Literatur nicht konsequent auseinandergehalten werden, will ich im folgenden zwischen dem Empfänger oder Adressaten (fr. destinataire) und dem Begünstigten (fr. bénéficiaire) einer Urkunde unterscheiden. Der Empfänger ist derjenige, der eine Urkunde erhält; der Begünstigte ist derjenige, der den größten Nutzen aus einem Rechtsakt zieht. Selbstverständlich können Empfänger und Begünstigter identisch sein; das ist aber nicht zwangsläufig der Fall. So kann etwa ein Mandat an einen Empfänger gerichtet sein, der kraft seiner amtlichen Autorität dafür Sorge tragen soll, daß ein Begünstigter in den Besitz eines Guts kommt. Jedenfalls ist der Begünstigte in der Regel der Protagonist, der das größte Interesse an der Anfertigung und an der Aufbewahrung einer Urkunde hat. Oftmals sind uns Urkunden daher im Archivbestand der begünstigten Partei überliefert oder wurden vom Begünstigten, so dieser dazu imstande war, sogar im Konzept vorbereitet oder komplett angefertigt. Kruisheer (1979) spricht dann von einer „Empfängeranfertigung“. - Auf der anderen Seite kann neben dem in der Intitulatio genannten Aussteller einer Urkunde (fr. auteur de l’acte écrit), ein sog. disposant (oder auteur de l’acte juridique) als Urheber der Rechtshandlung auftreten, z.B. eine Privatperson, die vor einer mächtigeren Instanz wie dem bailli ihre Absicht bekennt, einen Rechtsakt vollziehen zu lassen (confessio), weil sie selbst nicht über die dafür nötige Autorität - d.h. zumeist konkret: über kein eigenes Siegel - verfügt. Vgl. dazu Guyotjeannin/ Pycke/ Tock ( 3 2006, 25f.) sowie die entsprechenden Lemmata bei Cárcel Ortí (Hrsg.) ( 2 1997). - Auch in meinen Urkundensteckbriefen (Anhang I) unterscheide ich nötigenfalls zwischen auteur und disposant bzw. zwischen destinataire und bénéficiaire. Wenn der Aussteller einer Urkunde auch Urheber der Rechtshandlung bzw. wenn der Empfänger auch der Begünstigte einer Urkunde ist, bleibt das Feld disposant bzw. destinataire leer. 428 Eine weitere, dem Linguisten näherstehende Möglichkeit der Identifizierung bietet der sogenannte Diktatvergleich, also die stilistische Untersuchung formelhafter und frei formulierter Textpassagen. Urkunden können nämlich von unterschiedlichen Händen mundiert, aber trotzdem von demselben Redaktor im Konzept erstellt oder 226 <?page no="239"?> doch eine ausreichend große Menge von möglichst zeitnah entstandenen Urkunden unabdingbare Voraussetzung für eine valide paläographische Argumentation. Angesichts dieser bewährten Standards ergeben sich für meine diachrone Studie gewisse methodische Schwierigkeiten. Da für die zu unterscheidenden institutionellen Schreibstätten jeweils nur mit einer begrenzten Anzahl von zeitlich mitunter weit auseinanderliegenden Dokumenten zu rechnen ist, wird in der Regel die Grundlage für einen paläographischen Vergleich fehlen. Selbst eine Orientierung an den äußeren Merkmalen der Pergamentzurichtung und des Layouts dürfte sich insofern als schwierig erweisen, als nicht nur die Sprache, sondern auch der materielle Aspekt der Urkunden zeitlichem Wandel unterliegt. Prinzipiell muß ich daher eine größere Unsicherheitstoleranz bei der Zuweisung einzelner Texte zu ihren potentiellen Schreibstätten in Kauf nehmen als eine synchrone Untersuchung, die sich weitgehend auf die durch eine ausreichende Materialbasis abgestützte vergleichende Identifizierung von Schreiberhänden berufen kann. Im Gegenzug muß hier der Frage nach den Protagonisten der Rechtsakte und deren institutionellem Hintergrund, also den inneren diplomatischen Merkmalen, ein stärkeres argumentatives Gewicht zukommen. Nun soll jedoch nicht der Eindruck entstehen, als bewegte ich mich mit meinem - notwendig überschaubaren - diachronen Korpus von vornherein auf verlorenem Posten. Denn zum einen ist es mir selbst bei der etwas schwierigen Materialbasis, die mir zur Verfügung steht, in Einzelfällen durchaus gelungen, eine mehrfach auftretende Schreiberhand zu identifizieren. 429 Zum anderen darf gerade aus der Sicht der historischen Hilfswissenschaften bezweifelt werden, ob die von Gleßgen so gewinnbringend andiktiert worden sein; andererseits können Urkunden von derselben Hand niedergeschrieben, aber von unterschiedlichen Diktatoren redigiert worden sein (vgl. zur Unterscheidung von dictamen und scriptio Kruisheer 1979; auch Tock 1991, 216). Allerdings kann die Entscheidung, ob eine Urkunde nun vom Aussteller oder vom Empfänger/ Begünstigten angefertigt wurde, wiederum dadurch erschwert werden, daß selbst das Diktat eines von der einen Partei angefertigten Dokuments unter dem Einfluß der anderen Partei stehen konnte: entweder durch eine petitio, mit der der Empfänger/ Begünstigte (bei Tock 1991: impétrant) beim Aussteller die Ausfertigung einer Urkunde beantragt und dabei schon einen bestimmten Wortlaut vorgibt, oder durch eine sogenannte Vorurkunde, die dem Empfänger/ Begünstigten als Modell für eine im Namen eines bestimmten Ausstellers zu redigierende Urkunde bereits vorlag. Vgl. dazu Tock (1991, v.a. 217). 429 Vgl. dazu die entsprechende Rubrik (scribe) in den Urkundensteckbriefen sowie im einzelnen Kap. 5.5 bis 5.9. - Die paläographischen Analysen wären mir ohne die fachkundige Anleitung durch Martin Jäger, M.A. von der Bayerischen Staatsbibliothek nicht möglich gewesen. Ihm habe ich auch für die Durchsicht meiner Transkriptionen herzlich zu danken. - Vgl. zu den Kriterien der paläographischen Analyse im Überblick Völker (2003, 157-159); ansonsten auch Bischoff ( 4 2009) und Stiennon ( 2 1991). 227 <?page no="240"?> gewendete Methode der Schreibstättenbestimmung anhand von Layout- Kriterien für meine Urkunden aus dem späten 13. bis 15. Jahrhundert überhaupt noch tragfähig ist. Ab der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts scheint es nämlich im Bereich der Layout-Gestaltung (und auch hinsichtlich der verwendeten Schriftarten) zu einer relativ weitreichenden, bestimmten Moden unterworfenen Normierung gekommen zu sein, so daß sich beispielsweise um 1350 oder um 1380 bestimmte Layout-Typen nicht primär institutionell unterscheiden lassen, sondern vor allem in Abhängigkeit von der Art und dem Grad der ‘Feierlichkeit’ einer Rechtshandlung, also in diskurstraditioneller oder diaphasischer Hinsicht. 430 Überdies erweist sich der Professionalisierungsschub, der das Urkundenwesen im Lauf des 14. Jahrhunderts ganz maßgeblich geprägt hat, sogar als vorteilhaft für die hier schwerpunktmäßig verfolgte Orientierung an den inneren diplomatischen Merkmalen. Denn das zunehmend bürokratisierte Kanzleiwesen des 14. Jahrhunderts ist tendenziell zu einer expliziten Form der Kennzeichnung der aus einer Institution hervorgegangenen Dokumente durch Unterfertigungen und Kanzleivermerke übergegangen, was vielfach die zweifelsfreie Zuweisung zu einer bestimmten Schreibstätte ermöglicht. Im Zuge dieser Entwicklung ist auch mit einem Rückgang der im 13. Jahrhundert noch gängigen Praxis der sog. „Empfängeranfertigung“ (Kruisheer 1979) 431 zu rechnen. So ist etwa bei einer äußerlich und redaktionell erkennbar standardisierten Urkunde, die zu Beginn des 15. Jahrhunderts vom garde du scel du bailliage de Senlis, établi de par le roi en la prévôté d’Angy 432 namentlich ausgestellt und unterfertigt wurde, schlichtweg nicht mit einer Anfertigung durch irgendeine andere Institution zu rechnen. Bei der Arbeit mit meinem Korpus ist mir daher die Schreibortbestimmung mit abnehmendem Alter der Urkunden zunehmend leichtgefallen. 433 430 Vgl. zur komplexen Typologie (spät)mittelalterlicher Urkunden im Überblick Guyotjeannin/ Pycke/ Tock ( 3 2006, 103-221). Vgl. zu den ‘Moden’, die das 14. Jahrhundert im Bereich der äußeren Merkmale erlebt hat, grundlegend Spiegel (1992). 431 Vgl. meine Anm. 427. 432 Vgl. etwa LBSL387, LBSL388, LBSL389, LBSL401, LBHD509 oder LBHD511. Ich zitiere hier nicht, sondern gebe die Titulatur in modernisierter französischer Graphie wieder. 433 Auch de Boor/ Haacke (1957, XXX) betonen, daß für den Linguisten mit Urkunden aus dem 14. bis 16. Jahrhundert einfacher zu arbeiten ist als mit solchen des 13. Jahrhunderts, da die jüngeren Urkunden - auch in sprachlicher Hinsicht - viel deutlicher von den jeweils dahinterstehenden Kanzleitraditionen geprägt sind: „Für das 14. und namentlich für das 15./ 16. Jh. können wir mit der ‘Kanzlei’ als einen [sic] festen Begriff rechnen. Wir haben plastische Vorstellungen davon, wie dort gearbeitet wird und was sie für die Formung der Sprache bedeutet. Für das 13. Jh. sind wir noch nicht so weit. Hier müssen wir erst einmal an geeigneten Stellen, wo deutsches Urkundenmaterial reichlich vorliegt, klären, ob und wieweit der Begriff der Kanzlei überhaupt schon verwendbar ist, ob und wieweit also eine sprachliche Konzentration 228 <?page no="241"?> Es bleibt nichtsdestoweniger festzuhalten, daß eine diachrone sprachwissenschaftliche Untersuchung, der ein quantitativ begrenztes Korpus zugrunde liegt, nicht umhinkommt, die eine oder andere unsichere oder auch offene Schreibortzuweisung in Kauf zu nehmen. Die jeweils in Anschlag zu bringenden inneren und äußeren diplomatischen Merkmale haben für sich betrachtet nur Indiziencharakter. Bei jeder Urkunde kann nur die spezifische Kombination verschiedener Kriterien über die Plausibilität einer Zuordnung entscheiden. Die unvermeidbaren unsicheren oder bewußt offengelassenen Zuordnungen (die in den Urkundensteckbriefen durch ein Fragezeichen markiert sind) können nur dadurch kompensiert werden, daß der aus den betreffenden Urkunden gewonnene sprachliche Befund im Zweifelsfall nicht überbewertet wird (was sich ohnehin erübrigt, wenn der Befund nicht auffällig ist). 434 Im übrigen möchte ich mir gar nicht den Zwang auferlegen, in jedem Fall zu einer eindeutigen Schreibortbestimmung kommen zu müssen. Denn wie Völker (2003) gezeigt hat, kann bereits die lediglich auf inneren diplomatischen Merkmalen beruhende Feststellung von rekurrenten kommunikativen Konstellationen in der Urkundenschriftlichkeit zu aussagekräftigen varietätenlinguistischen Ergebnissen führen. 435 So werde ich bei einer Reihe vor allem älterer Urkunden lediglich festhalten können, daß darin ein bestimmter Begünstigter (z.B. die Maison-Dieu de Beauvais) mit einem bestimmten Typ von Aussteller (z.B. einem seigneur mittleren oder niederen Rangs) in einem bestimmten Typ von Urkunde (z.B. einer Schenkung) kommuniziert. In Ermangelung sicherer (paläographischer) Kriterien für schon stattgefunden hat.“ - Zur Relativierung des Kanzleibegriffs mit Bezug auf das 13. und frühere Jahrhunderte vgl. auch Klewitz (1937). 434 In diesem Zusammenhang sei an die inständige Warnung erinnert, die Carolus-Barré (1952b, 117) anläßlich seiner sehr verhaltenen Rezension von Gossens Petite grammaire de l’ancien picard (1951) der zeitgenössischen Philologie ins Stammbuch schreib: „La localisation des chartes pose [...] un problème qui intéresse autant le paléographe et le diplomatiste que le philologue. Pour le résoudre avec certitude il faudrait connaître dans chaque cas le clerc qui a tenu la plume [...] et le milieu où il a appris à écrire et éventuellement poursuivi ses études. Or, en fait, ces renseignements nous manquent toujours. - Il faut donc nous contenter d’une forte vraisemblance, suffisamment étayée par des données concordantes susceptibles d’entraîner la conviction. En un tel domaine, la plus grande prudence est requise, et, crainte d’erreur, dans le doute il vaut mieux s’abstenir.“ 435 Bei Völker (2003, 134-140) ist das Konzept der kommunikativen Reichweite eine Kategorie der diatopischen Analyse (z.B. Aussteller in Luxemburg, Begünstigter in der Champagne). Da es in meinem Korpus jedoch weniger um eine räumliche Distanz der in der Regel in oder um Beauvais ansässigen Parteien gehen wird, möchte ich das Konzept der kommunikativen Reichweite eher als diastratische Kategorie auffassen. Man könnte verallgemeinernd auch von einer ‘diakommunikativen’ Dimension sprechen, denn es geht letztlich um die Frage ‘wer kommuniziert mit wem worüber? ’. 229 <?page no="242"?> eine konkrete Schreibortzuweisung muß jedoch offenbleiben, ob eine solche Urkunde nun beim Aussteller, beim Begünstigten oder gar im Zuge eines Unterhandels von einer dritten Instanz angefertigt wurde. Ich werde also mit unterschiedlichen Bestimmtheitsgraden arbeiten, wobei das Optimum der diplomatischen Analyse die konkrete Identifizierung einer institutionellen Größe oder Schreibstätte ist (z.B. ‘bischöfliche Rechtssprechung durch den bailli de Beauvais - bischöfliche Kanzlei’), während die Minimalanforderung lediglich auf die Diagnose von (rekurrenten) kommunikativen Konstellationen abzielt. Zwischen diesen Polen liegt die wenigstens ungefähre Bestimmung des redaktionellen Milieus (z.B. ‘Umfeld der bischöflichen Administration’ oder ‘Umfeld der königlichen Administration’). Im einzelnen werde ich die entsprechenden Klassifizierungen und die ihr zugrundegelegten diplomatischen Kriterien in den Analysekapiteln 5.5 bis 5.9 so detailliert wie möglich erläutern. Es bleibt mithin festzuhalten, daß es sich beim lieu d’écriture um ein sehr nützliches heuristisches Konzept der Standardisierungsforschung handelt. Die gerade bei älteren Urkunden vielfach bestehende Unmöglichkeit der zweifelsfreien Zuordnung zu einer bestimmten ‘Kanzlei’ 436 als institutionell identifizierbarer administrativer Einheit stellt aber nicht zwangsläufig ein Hindernis für die varietätenlinguistische Argumentation dar. Denn selbst wenn sich aufgrund historischer Untersuchungen herausstellen sollte, daß eine regelmäßig ausstellende oder empfangende Institution wie beispielsweise ein Hospital oder eine Kommune bis zu einem bestimmten Zeitpunkt gar kein eigenes ‘Schreibbüro’ unterhielt, sondern auf Gelegenheitsschreiber oder auf das Personal einer anderen Einrichtung zurückgriff, dann kann es aufgrund der Regelmäßigkeit einer solchen Beziehung ja nichtsdestoweniger zur Herausbildung einer redaktionellen Norm gekommen sein, die kennzeichnend für die spezifische kommunikative Konstellation war und die den Schreibern von der Institution, die eine Urkunde in Auftrag gab, entweder explizit auferlegt oder auch nur in diffuser Weise, über die oben angesprochenen gesellschaftlichen Repräsentationen, suggeriert wurde. 437 Im Gegenteil können selbst für Urkunden, die mit Gewißheit aus ein und derselben Kanzlei hervorgegangen sind, ganz unterschiedliche redaktionelle Normen gegolten haben, etwa in Abhängigkeit 436 Hier ist zudem mit Klewitz (1937) darauf zu hinzuweisen, daß cancellaria mit Bezug auf die Zeit vor dem späteren 13. Jahrhundert nur als Hilfsbegriff zur Bezeichnung des Personenkreises zu verstehen ist, der für die Anfertigung der Urkunden zuständig war. Man darf sich also nicht unbedingt ein ständiges, nach modernen Maßstäben organisiertes ‘Büro’ darunter vorstellen. 437 Für die Inspiration dieser Überlegung danke ich herzlich Olivier Guyotjeannin, von dessen freundlicher Hilfsbereitschaft ich im gelegentlichen E-Mail-Verkehr ganz außerordentlich profitiert habe. 230 <?page no="243"?> von der Art einer Rechtshandlung oder von einer beteiligten Partei. Dies wird in meinem Korpus besonders deutlich am Beispiel der Urkunden des bailli de Beauvais und des official de Beauvais. Aufgrund von identischen Schreiberhänden und von eindeutigen Kanzleivermerken kann hier als gesichert gelten, daß sowohl die Offizialatsurkunden als auch die im Namen des bailli ausgestellten Dokumente vom selben Personal angefertigt wurden, nämlich dem der bischöflichen Kanzlei. 438 Ausnahmslos wurden die Urkunden des Offizials jedoch in lateinischer Sprache abgefaßt, die des bailli dagegen in französischer. Hier galten also schon auf der Ebene der Sprachenwahl vollkommen unterschiedliche Normvorgaben, auch wenn es sich in verwaltungstechnischer Sicht eindeutig um dieselbe Kanzlei handelte, die die Schriftstücke produziert hat. Bevor ich zur systematischen Analyse meines Korpus nach dem Kriterium verschiedener Schreibstätten oder rekurrenter kommunikativer Konstellationen komme, seien noch kurz die sprachlichen Merkmale vorgestellt, die ich als Indikatoren des Normenwandels zur Untersuchung heranziehen will. 5.4 Sprachliche Indikatoren des Normenwandels Bei der linguistischen Untersuchung der Texte beschränke ich mich auf drei sprachliche Merkmale, die im Kontext des Wandels zwischen konservativ-(südwest)pikardischer und innovativ-überregionaler Norm in der Verwaltungsschriftlichkeit von Beauvais besonders saliente Marker darstellen: (1) die Singularform des bestimmten femininen Artikels, des direkten femininen Objektpronomens und der tonlos entwickelten Reihe der femininen Possessivbegleiter, also pik. le/ me/ te/ se vs. la/ ma/ ta/ sa; (2) die Flexion des bestimmten maskulinen Artikels in traditionell der Form des casus rectus (CR) vorbehaltenen syntaktischen Funktionen: 439 Sg./ Pl. li vs. Sg. le, Pl. les; 438 Vgl. dazu Kap. 5.5.1 und insbesondere die Urkunde LBHD453. 439 Solche Funktionen sind das Subjekt und seine Appositionen, das Subjektsprädikativ sowie Apostrophen, denen eine lateinische Vokativform entspricht. Wenn ich hier von einer ‘CR-Funktion’ spreche, so ist damit wohlgemerkt keine morphosyntaktische Kategorie des Determinierers gemeint, sondern eine der genannten syntaktischen Funktionen, in denen traditionell die Verwendung der etymologischen CR- Form des Artikels, also li, zu erwarten wäre. Vgl. dazu auch die folgenden Abschnitte 5.4.1 und 5.4.2. Vgl. zur klassischen Unterscheidung von CR- und CO-Funktionen etwa Rheinfelder (1967, §§27-32). 231 <?page no="244"?> (3) die Graphien <ch> vs. <c> vs. <s(s)> 440 für das Ergebnis der Entwicklung von lt. [kj], [tj] oder von [k] vor [e], [i] (wobei <ch> vermutlich die typisch südwestpikardische Skriptavariante darstellt). Ohne dem Ergebnis der Untersuchung vorgreifen zu wollen, möchte ich an dieser Stelle betonen, daß es sich bei den ausgewählten Erscheinungen um Merkmale von durchaus unterschiedlichem varietätenlinguistischem Stellenwert handelt. Unter diesem Gesichtspunkt seien die drei Merkmale im folgenden jeweils noch etwas genauer charakterisiert. 5.4.1 Die femininen Determinanten le/ me/ te/ se vs. la/ ma/ ta/ sa und das direkte feminine Objektpronomen le vs. la Nach Gossen ( 2 1976, §63) ist der Gebrauch des Artikels le mit femininen Substantiven bzw. des direkten Objektpronomens als Pro-Form für eine feminine Nominalphrase nicht auf einen Verlust der Genuskategorie zurückzuführen, sondern stellt das Ergebnis einer spezifisch pikardischen Lautentwicklung dar. 441 Ein wichtiger Unterschied zur homonymen Form des maskulinen Artikels besteht in der Eigenschaft, daß der feminine Artikel sich nicht mit Präpositionen zu einem Portemanteau-Morphem verbinden kann; es steht also à le 442 , en le oder de le und nicht au, el/ ou oder d(o)u wie bei den maskulinen Formen. Im Unterschied zum maskulinen Artikel kennt die feminine Form le, Pl. les normalerweise keine Kasusflexion. Zwar berichtet Gossen ( 2 1976, §63) von Fällen, in denen in Analogie zum Maskulinum ein femininer Artikel li als Form des casus rectus (CR) gebildet wird; 443 diese sind jedoch selten und in meinem Korpus überhaupt nicht belegt. Beim Artikel stellt Gossen ( 2 1976, §63, 121) eine relativ hohe Variation zwischen le und la fest, und zwar sowohl in den seiner Untersuchung zugrundegelegten Urkunden (zu denen auch die in Leblond (1919) edierten Stücke sowie einige Texte aus Carolus-Barré (1964) gehören) 444 als auch in den dafür herangezogenen literarischen Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts („A côté des formes dialectales, l’article francien la existe dans tous les textes“). 445 Für die Urkunden des 14. Jahrhunderts verzeich- 440 Im folgenden ist <ss> mitzuverstehen, wenn ich ohne weitere Differenzierung von <s> spreche. 441 Vgl. auch Rheinfelder (1967, §231) und Holtus/ Overbeck/ Völker (2003, 189f.). 442 Entsprechend den für das Korpus geltenden Editionskriterien unterscheide ich - wie im Neufranzösischen - die Präposition à von der Verbform a. 443 Vgl. auch Moignet (1973, 13), Dees (1980, 45) oder Holtus/ Overbeck/ Völker (2003, 187-189). 444 Vgl. Gossen ( 2 1976, 36). 445 Gossen ( 2 1976) hat weder die zugrundegelegten literarischen Handschriften noch die herangezogenen Urkunden im Original gesichtet. Lediglich bei den Textausgaben, 232 <?page no="245"?> net Gossen ( 2 1976, §63, 121) einen starken Anstieg des Anteils an überregionalen Artikelformen gegenüber der traditionellen pikardischen Form le. Das direkte Objektpronomen le scheint dagegen nicht in vergleichbarer Weise von der überregionalen Variante la konkurrenziert worden zu sein („La forme francienne est excessivement rare, et dans les chartes et dans les textes litt[éraires]“; Gossen 2 1976, §63, 122). Für die Possessivbegleiter pik. me/ te/ se vs. ma/ ta/ sa diagnostiziert Gossen ( 2 1976, §67) wiederum eine recht starke Variation, wobei er detailliertere Angaben nur zu den untersuchten literarischen Texten macht. Für den Bereich der Urkundensprache äußerst sich Gossen lediglich zu den Texten, die er ohnehin nicht im pikardischen, sondern im zentralfranzösischen Raum lokalisiert; dort freilich scheinen die Formen ma/ ta/ sa eindeutig zu überwiegen: „Il n’y a que les chartes de Laon, de Compiègne, de Senlis et du Soissonnais dans lesquelles le type francien domine.“ 446 Um die diachrone Entwicklung der bei Gossen ( 2 1976, §§63 und 67) beschriebenen Phänomene in meinem Urkundenkorpus nachzuzeichnen, habe ich die entsprechenden Formen in einer dafür angelegten xml-Datei metasprachlich annotiert. Wie die folgende Übersicht zeigt, unterscheidet die Auszeichnung beim Artikel und beim Possessivbegleiter - wie auch beim bestimmten maskulinen Artikel (vgl. Kap. 5.4.2) - zwischen traditionell dem Gebrauch des casus rectus (CR) und traditionell dem Gebrauch des casus obliquus (CO) zugeordneten syntaktischen Funktionen einer Nominalphrase, in der ein Determinierer vorkommt (auch wenn die Unterscheidung bei den fraglichen femininen Formen morphologisch wie gesagt nicht die von Ernest Langlois (Adam le Bossu), von Hermann Suchier (Philippe de Beaumanoir und Aucassin et Nicolette) oder von Adolf Tobler (Li dis du vrai aniel) besorgt wurden, kritisiert Gossen ( 2 1976, 45) eine ‘pikardisierende’ Editionspraxis und hat es vorgezogen, sich an die im kritischen Apparat verzeichneten Originalvarianten der Leithandschrift zu halten oder - im Fall von Langlois - auf eine diplomatische Paralleledition zurückzugreifen: „Vu le caractère hybride de la scripta franco-picarde, il est illégitime de la ‘picardiser’, comme l’ont fait plusieurs éditeurs de textes. [...] Il va sans dire que, dans la mesure du possible, nous avons ‘dépicardisé’ de telles éditions [...].“ - Leider zeigt der Abgleich meiner eigenen Transkriptionen mit den Urkundeneditionen von Leblond (1919; 1922), daß auch hier einige Texte mitunter stark ‘pikardisiert’ oder ‘depikardisiert’ wurden, wobei Leblond allerdings keiner strengen Systematik gefolgt zu sein scheint, sondern sich nur bei einzelnen Urkunden, die eine hohe interne Variation aufweisen, zu einer Vereinheitlichung gerade auch im Bereich der femininen Determinanten hinreißen ließ (ebenso stark betroffen sind die maskulinen Possessivbegleiter pik. men/ ten/ sen vs. mon/ ton/ son sowie die Graphien <ch> vs. <c> für das Ergebnis von lt. [k] vor [e], [i], [tj], [kj]). Vgl. dazu die unter Kap. 5.5 bis 5.9 zitierten Textpassagen, wo ich des öfteren auf Leblonds Transkriptionen verweise. 446 Vgl. zur Konkurrenz der Determinierer- und Pronominalformen in sprachgeographischer Perspektivierung auch die Karten in Dees (1980, 28, 44, 46, 89). 233 <?page no="246"?> zum Ausdruck kommt), sowie zwischen den drei genannten Kategorien (Artikel - Possessivum - Objektpronomen). 447 447 Auf die Erfassung von Determinierer- oder Pronominalformen mit Vokalelision wurde naheliegenderweise verzichtet. Auch Namen, die eine Artikelform beinhalten (z.B. Guilleaume de la Ruele, Jaque de le Court; LBSL372) wurden grundsätzlich nicht berücksichtigt. Dies gilt auch für die Untersuchung des maskulinen Artikels (z.B. Jaque le Fort de Chauny; LBHD470 und LBHD474; vgl. Kap. 5.4.2) und des graphischen Merkmals <ch> vs. <c> vs. <s> (vgl. Kap. 5.4.3). 234 <?page no="247"?> Annotation 448 Bedeutung <dfaf></ dfaf> 449 fem. Artikel Sg. in CR-Funktion 450 la <dfbf></ dfbf> fem. Artikel Sg. in CO-Funktion la <ofbf></ ofbf> fem. direktes Objektpronomen Sg. la <pfaf></ pfap> fem. Possessivbegleiter Sg. in CR-Funktion ma/ ta/ sa <pfbf></ pfbf> fem. Possessivbegleiter Sg. in CO-Funktion ma/ ta/ sa <dfap></ dfap> fem. Artikel Sg. in CR-Funktion pik. le <dfbp></ dfbp> fem. Artikel Sg. in CO-Funktion pik. le <ofbp></ ofbp> fem. direktes Objektpronomen Sg. pik. le <pfap></ pfap> fem. Possessivbegleiter Sg. in CR-Funktion pik. me/ te/ se <pfbp></ pfbp> fem. Possessivbegleiter Sg. in CO-Funktion pik. me/ te/ se Abb. 7: Metasprachliche Annotation der femininen Determinanten und des femininen direkten Objektpronomens 448 Die zu annotierende sprachliche Form steht jeweils zwischen dem sog. Anfangs-tag und dem sog. End-tag: z.B. <dfap>la</ dfap>. Für die manuelle Auszeichnung erwies sich der xml-Editor Exchanger XML Lite 3.2 als sehr benutzerfreundliches Werkzeug. Durch einfache XPath-Suchanfragen konnten die annotierten Formen in dem Programm auch bequem ausgezählt werden. Die Ergebnisse habe ich in einer Microsoft Excel-Datei gespeichert und verrechnet. Weitere technische Details zur korpuslinguistischen Aufbereitung der Urkundentexte möchte ich dem Leser an dieser Stelle ersparen, zumal die diachrone Staffelung der einzelnen Texte ohnehin deren separate Auszählung erfordert hat und es mir nicht, wie etwa Völker (2003, 97-102), möglich war, komplexe Suchanfragen auf größere und dabei variabel geschnittene synchrone Subkorpora anzuwenden. In meiner Untersuchung bildet vielmehr jede einzelne Urkunde ein synchrones Subkorpus, das für sich auf bestimmte Variationsverhältnisse hin untersucht werden mußte. Vgl. zur rechnerischen Umsetzung in Excel auch Kap. 5.4.3. 449 Die vier Buchstaben in der Abkürzung „dfaf“ standen ursprünglich für d = déterminant, f = féminin, a = fonction cas sujet (singulier) (vs. b = fonction cas régime (singulier)), f = forme française (vs. p = forme picarde). Wie in Kap. 5.1 ausführlich dargelegt, möchte ich vorsichtshalber lieber nicht von ‘(proto-)französischen’, sondern lediglich von ‘nicht-(südwest)pikardischen’ oder von ‘überregionalen’ Formen sprechen. Davon bleiben meine schon vor langer Zeit festgelegten und letztlich als arbiträr zu verstehenden Annotationskonventionen aber unberührt. 450 Wie beim maskulinen Artikel gilt, daß „CR“ bzw. „CO“ hier nicht für eine morphosyntaktische Kategorie des Determinierers steht, sondern für die syntaktischen Funktionen, in denen traditionell die Verwendung des CR zu erwarten wäre. Vgl. dazu auch den folgenden Abschnitt, 5.4.2. 235 <?page no="248"?> Da ich trotz separater Auszählung der zehn aufgeführten Fälle keine signifikanten Korrelationen zwischen bestimmten syntaktischen Funktionen und dem Einsatz einer pikardischen oder nicht-pikardischen Form feststellen konnte (die analogisch gebildete CR-Form li ist wie gesagt überhaupt nicht in meinem Korpus vertreten), werde ich in den Analysekapiteln 5.5 bis 5.9 stets nur die Summe aller pikardischen bzw. aller nicht-pikardischen Okkurrenzen in CR- oder CO-Funktion wiedergeben. Auch die kategoriale Unterscheidung zwischen Artikel und Possessivbegleitern hat zu keinen signifikanten Resultaten geführt und wird daher - abgesehen von den Tabellen, in denen die genauen Werte für alle zehn Fälle angegeben sind - bei der Analyse nicht weiter vollzogen. Die einzige Auffälligkeit, die eine oben zitierte Beobachtung von Gossen ( 2 1976, §63, 122) zu bestätigen scheint, besteht darin, daß in meinem Korpus tatsächlich keine einzige Okkurrenz von la als direktem Objektpronomen nachzuweisen ist. Vielmehr steht in dieser Funktion le auch in relativ späten Urkunden, die im Bereich der Determinierer und anderer Merkmale einer überregionalen Norm folgen. Da im gesamten Korpus allerdings nur neun Okkurrenzen des direkten Objektpronomens zu verzeichnen sind, will ich auch diese bei der Analyse zur Summe aller le-Formen addieren und werde bei den wenigen späteren Urkunden, die eine Diskrepanz zwischen der Form der Determinierer (la/ ma/ ta/ sa) und der Form des Objektpronomens (le) aufweisen, gesondert auf diesen Befund zu sprechen kommen. 5.4.2 Die Zweikasusflexion des maskulinen bestimmten Artikels Im Unterschied zur femininen Artikelform le handelt es sich bei der Flexion des maskulinen Artikels - und überhaupt ganzer Nominalphrasen - nicht um eine spezifisch pikardische, dialektal induzierte Erscheinung, sondern um ein Merkmal, das potentiell die Gesamtheit der Texte aus dem französischen Mittelalter betrifft und das traditionell auf sehr großes Interesse in der linguistischen Forschung stößt. 451 Zwar gilt als ausgemacht, daß die sechs Kasus des klassischen Lateins durch lautliche Abschleifung der zunehmend synkretistischen Nominalflexive wohl schon in den zur späten Kaiserzeit auf dem Gebiet der Galloromania gesprochenen Varietäten auf 451 Vgl. zur altfranzösischen Artikel- und vor allem zur Substantivflexion etwa D’Arbois de Jubainville (1872), Laubscher (1921), Rheinfelder (1967, 10-48 und 106-112), Moignet (1966; 1973, 13-32 und 87-99), Schøsler (1973; 1984; 2002; 2013), Hamlin/ Arthurs (1974), Daniels (1975), Dees (1978), Plank (1979), Woledge (1979), Hupka (1982), Cerquiglini (1983; 1989, 74-94), Spence (1985), Pensado (1986), Van Reenen/ Schøsler (1986; 1988; 2000), Stefenelli (1987), Klausenburger (1990), Stanovaïa (1993; 2003), Buridant (2000, 62-83), de Carvalho (2000), Holtus/ Overbeck/ Völker (2003, 178-186 und 234-253), Völker (2003, 169-192), Chambon/ Davidsdottir (2007), Detges (2009). 236 <?page no="249"?> zwei Kasus reduziert wurden, so daß sich grosso modo nur mehr ein Subjekts- und ein Objektskasus gegenüberstanden. 452 Bemerkenswert ist jedoch die Tatsache, daß in den überlieferten Texten des 9. bis 14. Jahrhunderts die etymologischen (oder auch hyperkorrekt generalisierten) 453 Regeln der Zweikasusflexion nur teilweise befolgt wurden, wobei nicht nur eine diachrone Entwicklung festzustellen ist, die auf einen längerfristigen typologischen Wandel durch Deklinationsabbau hindeutet 454 , sondern auch frappierende diatopische Unterschiede, die allerdings über einen verhältnismäßig langen Zeitraum hinweg auffällig konstant geblieben zu sein scheinen. 455 Während die aus dem reduzierten spätlateinischen System ererbten Deklinationsregeln nämlich in den westfranzösischen Skriptae, vor allem im Normannischen und im Anglonormannischen 456 , schon in den ältesten literarischen oder diplomatischen Handschriften kaum mehr beachtet wurden, erweist sich die Zweikasusflexion in den Schreibtraditionen des Nordens und Ostens teilweise bis ins späte 14. oder gar bis ins 15. Jahrhundert hinein als erstaunlich vital. Der ab Mitte des 13. Jahrhunderts dokumentierten Skripta des Pariser Machtzentrums wird - bei aller Fragwürdigkeit ihrer dialektalen Fundierung 457 - seit jeher eine wichtige Rolle beim spätmittelalterlichen Abbau der Zweikasusflexion in den nordöstlichen Gebieten zugeschrieben. Da sie nämlich von vornherein eher dem progressiven, westlichen Typ folgte und Nominalphrasen in Subjektsfunktion überwiegend nicht als CR markierte, sondern in Analogie zu den aus dem lateinischen Akkusativ entwickelten CO-Formen, habe das wachsende überregionale Prestige der von der königlichen Verwaltung elaborierten Schreibtradition im Lauf des 14. Jahrhunderts zu einer Generalisierung der obliquen Formen auch im Norden und im Osten des domaine d’oïl geführt. 458 Hinsichtlich des funktionalen Status der in den mittelalterlichen Texten nur noch teilweise intakten Kasusflexion hat Cerquiglini (1983 und 1989, 452 Im altfranzösischen Pronominalsystem gibt es auch Relikte des lateinischen Dativs (vgl. nfr. lui). - Vgl. zur spätlateinischen Kasusreduktion in gesamtromanischer Perspektive etwa de Dardel (1964), Lüdtke (1987), de Dardel/ Wüest (1993), Renzi (1994, 139-144; 2010). 453 Um beide Fälle einzuschließen, spreche im folgenden auch von etymologisierenden Regeln. Im Bereich der Artikelflexion ist freilich nur zwischen etymologisch (li, im 15. Jahrhundert auch ly) und analogisch (le(s)) gebildeten Artikelformen in CR-Funktion zu unterscheiden. 454 Vgl. zur diachronen Perspektive vor allem Schøsler (1973; 1984, 171-250) und Van Reenen/ Schøsler (1986). 455 Vgl. zur diatopischen Perspektive Schøsler (1984, 171-219) sowie Stanovaïa (1993 und 2003). 456 Man denke etwa an die Oxforder Handschrift des Rolandslieds. 457 Vgl. dazu Völker (2003, 153), Videsott (2013) und mein Kap. 4.3. 458 Vgl. dazu ausführlich Stanovaïa (1993). Vgl. zum Abbau der Zweikasusflexion in Texten aus der nördlichen Pikardie Gossen (1971). 237 <?page no="250"?> 74-94) ernstzunehmende Einwände gegen die in der historischen Grammatik noch heute verbreitete Annahme erhoben, wonach in den überlieferten Texten ein typologischer, regional gestaffelter Wandel in progress zu beobachten sei. Vielmehr seien die handschriftlich belegten etymologisierenden CR-Formen auf eine latinisierende Strategie von mittelalterlichen Schreibern zurückzuführen, die ihren volkssprachlichen Texten eine dem Lateinischen nachempfundene Grammatizität und Würde verleihen wollten. Zudem werde die tatsächliche Bedeutung der Zweikasusflexion von den meisten Linguisten überschätzt, da die in Frankreich besonders von Gaston Paris propagierte Lachmannsche Methode ganze Generationen von Philologen dazu veranlaßt habe, in den von ihnen besorgten Textausgaben eine in den Handschriften gar nicht vorhandene Deklination zu ‘rekonstruieren’, wodurch die Illusion einer aus dem Latein ererbten, geradezu klassischen Regelmäßigkeit geschaffen worden sei, derer die authentischen Idiome des Mittelalters freilich weitestgehend entbehrt hätten. 459 Von linguistischer Seite konnten die derart formulierten Verdachtsmomente gegen die typologische Klassifizierbarkeit des mittelalterlichen Französisch als (Noch-)Kasussprache dahingehend erhärtet werden, daß etwa Schøsler (1984) die sehr geringe Funktionalität der - hochgradig synkretistischen und hinsichtlich der Numeruskategorie weitgehend kontraikonischen - altfranzösischen Nominalflexion bei der sprecherseitigen Zuweisung und hörerseitigen Interpretation von semantischen Rollen und syntaktischen Funktionen in der verbalen Argumentstruktur nachgewiesen hat. 460 Bei der Untersuchung meines Korpus beschränke ich mich auf den Bereich der Artikelflexion, da diese zum einen eine gegenüber den Substantiven relativ ökonomische Handhabung der Daten verspricht (insbesondere müssen keine Deklinationsklassen unterschieden werden, deren tatsächlicher Systemwert, wie Chambon/ Davidsdottir (2007) zeigen, ohnehin fraglich ist). Zum anderen hat der Artikel als Kopf und damit als zentraler Ort der morphologischen Markierung in der Nominalphrase (also eigentlich: in der Determiniererphrase) 461 zu gelten, so daß die notorische Frage nach dem Zeitpunkt des Verstummens von auslautendem [s] als vermeintlich noch funktionalem nominalem Kasusmarker (afr. Sg. li murs - le mur; Pl. li mur - les murs) in ihrer Bedeutung relativiert werden muß. Geht man nämlich 459 Vgl. dazu auch Cerquiglini (2007, 53-74, hier 64): „La reconstruction de l’archétype est une recherche de paternité.“ 460 Zu einem ähnlichen Fazit kommen auch Chambon/ Davidsdottir (2007) und Detges (2009). 461 Vgl. dazu etwa dt. der/ dem/ den Mann oder fr. [ləpla] vs. [lepla]. Vgl. zur Diskussion ‘NP vs. DP’ grundlegend die Beiträge in Coene/ D’hulst (Hrsg.) (2003) sowie - speziell zum Altfranzösischen - Boucher (2003). Vgl. zur Relevanz der Artikelflexion auch Van Reenen/ Schøsler (2000, 341). 238 <?page no="251"?> davon aus, daß durch die Opposition der Artikelformen li vs. le, les die eigentliche Markierungsleistung der altfranzösischen Kasusflexion erbracht wurde, so erweist sich die Frage nach dem Zeitpunkt des Zusammenbruchs dieser Opposition durch Generalisierung der ursprünglichen CO- Formen als vorrangig gegenüber einer Beschreibung der Substantivdeklination, die ja aufgrund des lautgeschichtlich prekären Status des nominalen Flexivs [s] in synchroner Perspektive kaum systematisierbar ist. Die pikardische Skripta - und damit die Skripta von Beauvais - gehört nun zu jenen konservativen Schreibtraditionen, in denen die etymologisierenden Regeln der Kasusunterscheidung noch relativ lange befolgt wurden. 462 Da andererseits die überregionale Skripta der königlichen Institutionen sich im Bereich der Nominalflexion insofern progressiv verhält, als sie die Kasusopposition schon seit ihrem ersten Auftreten weitgehend ignoriert 463 , stellt die Artikelflexion für mein standardisierungsgeschichtliches 462 Vgl. Carolus-Barré (1964, CXI) und Gossen (1971). - Ich vereinfache hier, wenn ich von ‘den konservativen Skriptae’ in ihrer Gesamtheit spreche, denn, wie Stanovaïa (1993, v.a. 170-175) für den Bereich literarischer Handschriften zeigt, scheint die Substantivflexion in jeder Region grosso modo einer eigenen normativen Tendenz gefolgt zu sein. Stanovaïa unterscheidet deshalb fünf Schreibräume (anglonormannisch, normannisch, zentral, champagnisch und pikardisch) und zeigt, daß etwa die pikardische Skripta sich nicht nur durch etymologisch korrekte CR-Formen bei den Substantiven des Typs murs auszeichnete, sondern ebenso durch systematische Hyperkorrektur bei Substantiven des Typs pere oder sire, die in Analogie zur Hauptklasse (murs) in CR-Funktion mit einem -s versehen wurden. Derartige Differenzierungen sind im Bereich der Artikelflexion freilich nicht nötig, da keine Deklinationsklassen zu unterscheiden sind. - Sehr interessant ist im übrigen die kulturhistorische Schlußfolgerung, die Stanovaïa (1993, 174) aus ihrer Beobachtung zieht, daß die literarische Skripta des Zentrums bisweilen sehr heterogene Züge aufweist, indem sich teilweise in ein und demselben Manuskript sehr konservative, regelmäßig deklinierende Texte und sehr progressive Texte mit weitgehend aufgegebener Kasusflexion gegenüberstehen: „Nous voyons dans cette diversité de formes et de textes, le désir des scribes du Centre de copier minutieusement les textes donnés, de suivre le plus exactement possible la graphie du manuscrit copié sans rien y changer. Par contre, les scribes picards et champenois essayent, semble-t-il, de corriger à leur manière, des textes copiés et ce n’est pas par hasard que plusieurs chercheurs ont qualifié leur travail comme ‘picardisation’ ou ‘champagnisation’ de manuscrits.“ So gesehen dürfte es sich beim Begriff ‘der literarischen Skripta des Zentrums’ in seiner Anwendung auf die französische Schriftgeschichte vor Mitte des 13. Jahrhunderts um eine Hypostasierung von sehr heterogenen, sich nach und nach amalgamierenden regionalen Einflüssen handeln. Dies ändert allerdings nichts an der Tatsache, daß die Sprache der ab Mitte des 13. Jahrhunderts überlieferten Originalurkunden aus dem Zentrum sich im Bereich der Nominalflexion insgesamt deutlich progressiver verhielt als die Skriptae des Nordens und Ostens. 463 Ich vertrete wie gesagt den Standpunkt, daß die Skripta der königlichen Institutionen nur sehr bedingt und vermutlich in mit der Zeit abnehmendem Maße dialektale Besonderheiten des zentralfranzösischen Raums repräsentierte. In einem wichtigen Bei- 239 <?page no="252"?> Interesse einen idealen Untersuchungsgegenstand dar. In meiner Korpusstudie soll es somit vor allem um die Frage gehen, inwieweit sich in den Texten aus Beauvais, die besonders früh von ‘Verstößen’ gegen die Kasusmarkierung gekennzeichnet sind, ein normativer Einfluß durch die Organe der königlichen Zentralverwaltung nachweisen läßt. Eine wichtige Rolle wird dabei auch die von Stanovaïa (1993) vertretene Position spielen, wonach der in Texten aus bestimmten Regionen im 13. und 14. Jahrhundert noch regelmäßig vollzogenen Kasusflexion längst keine morphosyntaktische Realität in den zugrundeliegenden Dialektvarietäten mehr entsprochen habe, so daß die etymologisierenden CR-Formen in der Skripta nicht als Abbild der sprechsprachlichen Morphosyntax, sondern lediglich als schriftsprachliche Reminiszenz an die lateinische Deklination zu verstehen seien. Diese orthographische Tradition sei allerdings nur von den besonders gut ausgebildeten Schreibern in den ‘kulturkonservativen’ Gebieten des Nordens und Ostens gepflegt worden, bis sie früher oder später auch dort, vermutlich unter dem Einfluß der königlichen Skripta, mehr oder weniger abrupt aufgegeben worden sei: Nous avons constaté une corrélation évidente entre les formes employées et la provenance régionale du manuscrit. Un texte écrit n’étant pas une reproduction exacte de l’usage parlé, nous ne voyons pas dans ses traits particuliers le reflet de traits dialectaux. Nous supposons que, en tant que forme écrite et par cela conservatrice, les scripta [sic] avaient gardé les traces d’une trag hat kürzlich Videsott (2013) gezeigt, daß Dees (1980) in seinem Subkorpus „Région parisienne“ Texte von sehr unterschiedlicher institutioneller Provenienz - und damit von sehr unterschiedlichem varietätenlinguistischem Status - zusammengeführt hat. Vermutlich ist aber die Skripta der königlichen Verwaltung in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts einem starken Trend der Überregionalisierung gefolgt, während Texte aus nur lokal agierenden Pariser Institutionen von minderer politischer Bedeutung womöglich in höherem Maße dialektale Eigenheiten der Île-de- France abbildeten. Nichtsdestoweniger zeigen die von Dees (1980, 17, 36-38, 41-43, 68, 72, 82, 87, 134f., 200, 220-222) zum Bereich der Determinierer-, der Substantiv- und der Pronominalflexion erstellten Karten sehr schön die Zweiteilung des nordfranzösischen Schreibraums, wobei der Westen sich sehr progressiv verhält und der Nordosten sehr konservativ. Die „Région parisienne“ folgt, ungeachtet der sehr heterogenen Zusammensetzung des von Dees zugrundegelegten Subkorpus, in etwas gemäßigter Form dem westlichen Typ und ragt dabei wie eine Art Brückenkopf in die Osthälfte des domaine d’oïl hinein. Die Oise erscheint ihrerseits deutlich konservativer als die südlich daran anschließende „Région parisienne“, nimmt aber oft eine Art Mittelstellung zwischen dem Zentrum und den extrem konservativen nordpikardischen Gebieten ein. Deutliche Unterschiede im Bereich der Nominalflexion stellt auch Carolus-Barré (1964, CXI) beim Vergleich der von ihm edierten Urkunden aus dem südlichen, nicht-pikardischen und jenen aus dem nördlichen, pikardischen Teil der Oise fest. Insofern ist bei Dees’ (1980) Subkorpus „Oise“ mit einer ähnlich diffusen, schon in diatopischer Hinsicht heterogenen Zusammensetzung zu rechnen wie beim Subkorpus „Région parisienne“. 240 <?page no="253"?> déclinaison détruite; il y avait même des scripta qui la restauraient. Cette conservation (ou restauration) d’un système détruit avant le XII e siècle, amène à un emploi irrégulier, inconséquent, et même chaotique, des formes dans certains manuscrits, et par contre, à un emploi strictement régulier, parfois hypercorrect, dans les autres, pendant toute la période de l’ancien français. Le changement rapide des habitudes graphiques des scribes qui a eu lieu au cours du XIV e siècle, a définitivement effacé toutes les traces et tous les souvenirs de la déclinaison bicasuelle. (Stanovaïa 1993, 179) Sollten sich in meinem Korpus philologische Indizien dafür ergeben, daß die Nominalflexion von den in Beauvais tätigen Schreibern nach Maßgabe bestimmter pragmatischer Erfordernisse gehandhabt oder zu einem bestimmten Zeitpunkt abrupt aufgegeben wurde, so würde dies in der Tat dafür sprechen, daß es sich beim ‘Abbau’ der Zweikasusdeklination, der sich in grober korpuslinguistischer Perspektive auf die Gesamtheit der nordfranzösischen Manuskripte sukzessive vollzogen zu haben scheint, in Wahrheit nicht um einen in Echtzeit dokumentierten typologischen Wandel handelte, sondern um die - wohl institutionell gestaffelte - Abschaffung eines plötzlich als obsolet empfundenen schriftsprachlichen Konservatismus (vgl. etwa dt. im Hause). Die häufig problematisierten diatopischen Unterschiede in der Handhabung der Zweikasusflexion müßten dann mit Stanovaïa (1993) durch ein Nebeneinander von konservativen und progressiven Schreibusus, die synchron in unterschiedlichen Regionen herrschten, erklärt werden. Da in meinem Korpus keine CR-Formen nachweisbar sind, die in einer CO-Funktion 464 auftreten, kann ich mich auf die Untersuchung sämtlicher Artikelformen in CR-Funktion beschränken. Wie die folgende Übersicht zeigt, wurden Singular- und Pluralformen prinzipiell separat annotiert. In den Analysekapiteln 5.5 bis 5.9 werde ich die Zahlen jedoch stets in der Summe besprechen, da keine signifikanten numerusabhängigen Unterschiede aufgefallen sind. 464 Vgl. zur Unterscheidung von Form und Funktion nochmals meine Anm. 439; vgl. auch Anm. 468, weiter unten. 241 <?page no="254"?> Annotation Bedeutung <dmae></ dmae> mask. Artikel Sg. in CR-Funktion mit Vokalelision l’ 465 <dman></ dman> mask. Artikel Sg. in CR-Funktion analogisch le 466 <dmcn></ dmcn> mask. Artikel Pl. in CR-Funktion analogisch les <dmaj></ dmaj> mask. Artikel Sg. in CR-Funktion etymologisch li <dmcj></ dmcj> mask. Artikel Pl. in CR-Funktion etymologisch li Abb. 8: Metasprachliche Annotation der maskulinen definiten Artikelformen in CR- Funktion Gesondert werde ich allerdings die Artikelform mit Vokalelision l’ in satzphonetischer Umgebung vor Vokal behandeln. Denn wenngleich in der historischen Grammatik häufig nur die obliquen Artikelformen des Maskulinums als elisionsfähig dargestellt werden 467 , erscheint es mir angebracht, l’ nicht pauschal mit le zu identifizieren. Die als <dmae></ dmae> annotierten Fälle umfassen insgesamt 20 l’-Formen, die als Determinierer vor Substantiven stehen, welche morphologisch nicht als CR markiert sind (am häufigsten ist l’un; dagegen kommen CR-markierte Substantive im Korpus stets in Verbindung mit li vor, wie beispielsweise im Syntagma li uns; vgl. etwa LBHD479a). 468 Hinzu kommen jeweils eine Okkurrenz von l’aut{re} 465 Die häufigen Schreibungen des Typs del an (vgl. etwa LBSL278: del escaanche) wurden für die Edition in der Form de-l’_an transkribiert, da die am stärksten modernisierte Leseausgabe der Urkunden die am Neufranzösischen orientierte Form de l’an zeigen soll. Freilich wurden Kontraktionen des Typs au, du usw. sowie l’ vor Vokal in Verbindung mit Präpositionen für die Untersuchung nicht berücksichtigt, da es sich hier um keine CR-Funktionen handelt. 466 ‘Analogisch’ meint hier in Analogie zur CO-Form. - Die (süd)ostfranzösische Variante lo kommt in meinem Korpus nicht vor. Vgl. dazu auch Dees (1980, 39). 467 Vgl. etwa Rheinfelder (1967, §231). Nach Moignet (1973, 13f.) zeigt li im Singular gelegentliche Vokalelision in Verstexten („où elle offre une commodité métrique“); li im Plural könne dagegen niemals elidiert werden. 468 Holtus/ Overbeck/ Völker (2003, 182) berichten allerdings von einer Form leueskes in Subjektsfunktion und behandeln le und l’ folgerichtig separat. Demgegenüber bleibt jedoch unklar, weshalb die Autoren (p. 180) sieben Belege für li und drei Belege für l’ aus der Urkunde wIV071 gegen 99 Belege für le abgrenzen und das „Verhältnis der lezu den [...] li-Varianten“ mit „ca. 91%“ (= 99/ 109) beziffern. Die Suche im fraglichen Urkundentext ergibt nämlich, daß die drei l’-Belege in wIV071 gerade nicht in Syntagmen des Typs leueskes vorkommen; es scheint sich vielmehr um levesque de mez (zweimal) und um le veske de mez in Subjektsfunktion zu handeln (pp. 366f., ll. 89, 98 und 106; die Okkurrenzen werden von den Autoren nicht zitiert), was eine Klassifizierung als analogisch markierte Formen zumindest diskussionswürdig erscheinen läßt und eine Behandlung als CR-Form eindeutig verbietet. In diesem Zusammenhang ist grundsätzlich zu kritisieren, daß die Autoren begrifflich nicht klar zwischen 242 <?page no="255"?> und l’uis, wo aufgrund einer Abbreviatur keine Flexion des Substantivs ersichtlich wird bzw. ohnehin mit keiner etymologischen Kasusmarkierung am Substantiv gerechnet werden kann (< lt. ALTER bzw. vlt. ŪSTIU ) 469 , sowie vier Okkurrenzen von l’en (vgl. nfr. l’on). 470 Ob man diese 26 Formen letztlich doch in die Nähe der le-Formen rücken und damit als ‘Verstöße’ gegen die Zweikasusflexion werten möchte, bleibt eine zu diskutierende, gewiß nicht ganz abwegige Option. Zunächst werde ich aber nur die Summe der eindeutig analogisch gebildeten Artikelformen le und les zur Summe der etymologisch gebildeten Formen li ins Verhältnis setzen. 5.4.3 Die Graphien <ch> vs. <c> vs. <s> für das Ergebnis von lt. [kj], [tj] oder von [k] vor [e], [i] Bei der dritten und letzten Variable, die ich zur Untersuchung heranziehe, handelt es sich um ein graphisches Merkmal, dessen Ausprägung <ch> wahrscheinlich eine typisch pikardische Lautentwicklung widerspiegelt, der funktionalen und der morphologischen Ebene unterscheiden. Wiederholt vorkommende Formulierungen der Art „die Form le im Rektus“ (Holtus/ Overbeck/ Völker 2003, 181) sind insofern verquer, als le morphologisch gerade nicht als CR-Form markiert ist, sondern lediglich in einer Nominalphrase stehen kann, deren syntaktische Funktion, z.B. als Subjekt, traditionell eine etymologische Markierung als CR erwarten ließe. Ich frage mich deshalb, ob auch die angesprochenen drei l’-Belege aus wIV071 nicht einfach aus syntaktischen Gründen als ‘Rektusformen’ verbucht wurden. 469 Die beiden Formen finden sich in derselben Urkunde, LBSL403: ... et est{oit} l’uis seellé ... (Leblond 1922, 584 transkribiert hier estant) und ... sauf se l’un a droit plus p{ri}villegié q{ue} l’aut{re} ... (die geschweiften Klammern stehen hier wie im folgenden generell für aufgelöste Abbreviaturen). Im zweiten Fall scheint die Parallelisierung mit l’un ohne CR-Markierung freilich recht eindeutig für eine Behandlung als analogisch gebildete Form zu sprechen. - Vgl. zur belegten Form ŪSTIUM statt lt. ŌSTIUM Rheinfelder ( 4 1968, §245); vgl. auch „Vío puertas abiertas e uços sin cañados …“ (Cantar de Mio Cid, 3). 470 Geht man mit Rheinfelder (1967, §231; vgl. meine Anm. 467) davon aus, daß l’ hier morphologisch als CO markiert ist, so erscheint die Verbindung mit en/ on im Sinne der etymologischen Kasusflexion paradox, denn nebentonig aus lt. HOMO entwickeltes en/ on ist eine - wenngleich lexikalisierte - CR-Form. Man könnte in diesem Zusammenhang die These formulieren, daß die Vermeidung eines Hiats bei *li on und anderen Verbindungen des Artikels mit vokalisch anlautendem Substantiv als satzphonetischer Auslöser für die Generalisierung zunächst von l’ vor Vokal und dann auch von le vor Konsonant gewirkt hat. Interessant ist vielleicht auch Rheinfelders (1967, §383) Hinweis, wonach sich ein früher Beleg von on (in der Variante om) in Verbindung mit der Artikelform l’ im Trojaroman von Benoît de Sainte-Maure findet. Dees (1987, 519) lokalisiert Benoîts Chronique des ducs de Normandie nämlich in der Vendée/ Deux-Sèvres, also im westlichen Teil des französischen Sprachgebiets, wo die Zweikasusflexion schon verhältnismäßig früh aufgegeben worden zu sein scheint. Vgl. zu l’on und Varianten auch Moignet (1973, 14). 243 <?page no="256"?> nämlich die der postalveolaren Affrikate [ ʧ ] aus lt. [kj] oder [tj] sowie aus lt. [k] vor [e] oder [i] (z.B. ĔCCE ĬSTA ( M ) > apik. [ ʧestə ] > pik. [ ʃ ε t ]). 471 Es geht also um ein klassisches Phänomen, das in der Dialektologie als wichtiges Kriterium der Abgrenzung des Pikardischen und des Normandischen von den übrigen französischen Dialekten dient. Im Verbund mit der nur wenige Kilometer weiter südlich verlaufenden Nordgrenze der Palatalisierung von lt. [g] oder [k] vor [a] wird die entsprechende Isoglosse nach ihrem ‘Entdecker’ bekanntlich als Joret-Linie bezeichnet. 472 Auch mit Gossen ( 2 1976, §38, 91f.), Monjour (1989, 301f.) und Holtus/ Overbeck/ Völker (2003, 118) ist davon auszugehen, daß die Schreibung <ch>, die typischerweise in Urkunden aus dem südwestpikardischen Raum auftritt 473 , mit hoher Wahrscheinlichkeit einen schriftsprachlichen Reflex der postalveolaren Affrikate [ ʧ ] (später deaffriziert zu [ ʃ ]) darstellt. Als schwierig erweist sich dagegen die phonetische Interpretation der neben <ch> und lautlich unproblematischem <s(s)> 474 vorkommenden Variante <c>. Denn <c> kann nicht nur als überregionale Form den Lautwert [ts] oder [s] repräsentiert haben, sondern scheint in Urkunden insbesondere aus dem nordöstlichen Teil der Pikardie gleichermaßen für [ (t)ʃ ] gestanden zu haben wie im Südwesten die Graphie <ch>. L’affriquée étant orthographiée c ou ch, le problème est avant tout d’ordre graphique. [...]. Les chartes nous apprennent qu’au XIII e s., la Flandre, le Hainaut, une partie de l’Artois et Saint-Quentin préfèrent le signe c pour rendre l’affriquée, tandis que le reste du territoire emploie surtout ch. Il est vraisemblable que les régions plus proches de la région parisienne, et qui en subissent l’influence, donnent la préférence à la graphie ch pour la distinguer du c francien [...]. Dans les chancelleries du Nord, moins exposées au contact avec le francien, on rendait ć par c ou ch. Au XIV e s., la graphie ch prend le dessus dans tout le domaine picard. (Gossen 2 1976, 91f.) 471 Vgl. zu dem Merkmal in der mittelalterlichen Urkundensprache Goebl (1970, 231- 242), Mantou (1972, 195-198), Gossen ( 2 1976, 91-94, §§38f.), Dees (1980, 29, 129, 145) und Holtus/ Overbeck/ Völker (2003, 116-130). 472 Auch das Merkmal lt. [g], [k] vor [a] bietet sich selbstverständlich für eine skriptologische Untersuchung an. Schon bei oberflächlicher Betrachtung fällt hier eine sehr starke Variation der Graphien <c>, <k> und <ch> auf. - Vgl. zu den modernen Dialektgrenzen Joret (1883); Dubois (1957); Monjour (1989, 281-301). 473 Hier darf selbstverständlich nicht zirkulär argumentiert werden, so daß eine Urkunde etwa deshalb als ‘südwestpikardisch’ eingestuft würde, weil sie mutmaßlich typisch südwestpikardische Formen enthält. Eine gültige Lokalisierung kann nur aufgrund von außersprachlichen Kriterien erfolgen. Vgl. dazu grundlegend die in Kap. 5.2 zitierte Passage aus Carolus-Barré (1964, LXX). 474 Vgl. zur phonetischen Interpretation von <s> auch Goebl (1970, 239f.) mit Bezug auf die normandische Urkundensprache. 244 <?page no="257"?> Aufgrund dieser Einschätzung sowie der von Gossen ( 2 1976, 92) an gleicher Stelle geäußerten Beobachtung, daß man in den Urkunden aus Beauvais <c> „ayant la valeur de ĉ“ (d.h. [ts]) oder <s> selbst in „mots d’origine populaire“ finde, könnte man annehmen, daß das Problem der Unterscheidung von <c> 1 für [ (t)ʃ ] und <c> 2 für [(t)s] die Untersuchung meines Korpus nicht allzu stark belasten sollte. Es bleibt jedoch unklar, weshalb Gossen so sicher davon ausgehen zu können meint, daß <c> in den Urkunden aus Beauvais den Lautwert [ts] vertreten habe. Denn eine freie Variation von <c> und <s>, worauf Gossen vermutlich anspielt, könnte doch ebenso gut bedeuten, daß im ersten Fall [ ts ] oder [ ʧ ] gelesen wurde und im zweiten Fall [s] oder [z]. Die daraus resultierende ‘Synonymie’ der Grapheme <c> 1 und <ch> mag zwar unschön erscheinen; dies stellt aber meines Erachtens keinen ausreichenden Grund dar, um den Befund von vornherein im Sinne einer strengen und eindeutigen Systematik von Graphem-Phonem-Korrespondenzen zu deuten. Mit der Interpretation von <c>, dessen Frequenz im späteren 14. Jahrhundert freilich stark zuzunehmen scheint, bleibt also ein gewisses Restrisiko verbunden, und die intuitiv naheliegende Deutung des Anstiegs von <c> als Prozeß der ‘Depikardisierung’ und somit der überregionalen Standardisierung zugunsten einer [ts]- oder [s]-Aussprache kann letztlich nicht zweifelsfrei bewiesen werden. Vor allem bei einigen Urkunden des 13. Jahrhunderts, die eher <c> als <ch> aufweisen, ist meines Erachtens keineswegs auszuschließen, daß der variationelle Befund keinen Effekt der Überregionalität (und schon gar nicht der lautlichen) darstellt, sondern lediglich auf ein im allgemeinen noch unfestes System der Graphem-Phonem-Korrespondenzen im - womöglich idiolektalen - Repertoire der Schreiber hindeutet. In diesem Zusammenhang ist auch an Gossens (1953/ 1954, 157f.) Hypothese zu erinnern, wonach die pikardische Skripta erst in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ein deutlicher ausgeprägtes regionalsprachliches Profil entwickelt habe, während die ältesten Texte noch in einer Art überregionalen Koine verfaßt worden seien („daß das pikardische Element sich in der Scripta verhältnismäßig spät durchsetzte, also sich gewissermaßen auf eine bereits bestehende, wohl franzische Scripta pfropfte“). 475 Könnte <c> in den Urkunden der 1240er bis 1270er Jahre somit einfach als Zug einer konservativen scripta commune angesehen werden, völlig ungeachtet einer regionalspezifischen lautlichen Realisierung der Graphie? - Ich werde auf diese Frage bei meinen Analysen zurückkommen, freilich ohne die zuletzt angedeutete Hypothese eindeutig bestätigen oder verwerfen zu können. Für die Urkunden des 14. und 15. Jahrhunderts dürfte die Unterscheidung zwischen <ch> als südwestpikardischer und <c> 2 als in- 475 Vgl. dazu auch meine Anm. 367. 245 <?page no="258"?> novativ-überregionaler Variante allerdings zutreffen, zumal nach Gossens ( 2 1976, 92) oben zitierter Beobachtung in den nordostpikardischen Urkunden <c> 1 für [ (t)ʃ ] im Lauf des 14. Jahrhunderts der südwestpikardischen, gegenüber innovativem <c> 2 für [(t)s] eindeutig abgegrenzten Graphie <ch> gewichen ist. Letztlich zeigt die angedeutete Problematik aber, daß die phonetische Interpretation von Skriptaphänomenen eine mitunter sehr heikle Angelegenheit ist, so daß es prinzipiell ratsam erscheint, sich bei der Untersuchung so weit wie möglich auf die Ebene der Graphie zu beschränken und Rückschlüsse auf eine mögliche lautliche Realisierung - wenn überhaupt - einem vorsichtigen Ausblick vorzubehalten. Dementsprechend unterscheide ich bei der Untersuchung kategorisch zwischen den drei variierenden Graphien <ch> vs. <c> vs. <s> (<z> ist für das fragliche Merkmal nicht im Korpus belegt). Es ergeben sich damit folgende Kürzel zur Annotation der in den Texten vorhandenen Ausprägungen des graphischen Merkmals für das Ergebnis von lt. [kj] oder [tj] oder von [k] vor [e], [i]: 246 <?page no="259"?> Annotation Bedeutung <kec></ kec> <c> für lt. [k] vor [e] <kic></ kic> <c> für lt. [k] vor [i] <kjc></ kjc> <c> für lt. [kj] <tjc></ tjc> <c> für lt. [tj] <kjs></ kjs> 476 <s> oder <ss> für lt. [kj] <tjs></ tjs> <s> oder <ss> für lt. [tj] 477 <kech></ kech> <ch> für lt. [k] vor [e] <kich></ kich> <ch> für lt. [k] vor [i] <kjch></ kjch> <ch> für lt. [kj] <tjch></ tjch> <ch> für lt. [tj] Abb. 9: Metasprachliche Annotation der Graphien <ch> vs. <c> vs. <s> für das Ergebnis von lt. [kj], [tj] oder von [k] vor [e], [i] Um schon im Vorfeld der systematischen Auswertung in Kap. 5.5 bis 5.9 einen schärferen Blick auf die in Frage stehende Variation und ihre innerwie außersprachlichen Implikationen zu ermöglichen, sei hier vorweggenommen, daß die Untersuchung der Graphie <s> zu einem relativ klaren variationellen Befund geführt hat, der es erlaubt, das Phänomen als Sonderfall anzusehen. <s(s)> für inlautendes [s] oder [z] kommt nämlich nur in den sechs Lexemen 478 paruisse (LBHD335, 1274 n.st.), indulgenses (LBHD365, 1284 n.st.), resons (LBHD409, 1302), pourchassiemes 479 (LBHD430, 1318), fran- 476 Für lt. [k] vor [e] oder [i] ist die Graphie <s> oder <ss> im Korpus nicht belegt. - Mit der Annotation <kjs></ kjs> oder <tjs></ tjs> wurden auch <ss>-Graphien erfaßt. 477 Man müßte für Fälle wie raison < [tj] oder huis < [stj] eigentlich ein Graphem <is> ansetzen, das die Lautung [jz] in intervokalischer Stellung (vgl. allerdings resons; z.B. in LBHD409, 1302) bzw. [js] mit auslautendem [s] repräsentiert. Andererseits wäre für Fälle wie huis oder pourchasser eigentlich eine Entwicklung von [s] aus [stj] bzw. aus [ptj], nicht einfach aus [tj], anzusetzen. All diese Fälle wurden aber der Übersichtlichkeit halber zunächst als <tjs></ tjs> annotiert. Eventuell auffällige Befunde werden bei der Analyse wiederum genauer auf spezifische lautliche Kontexte hin untersucht. Vgl. zur Unterscheidung der genannten Fälle auch Rheinfelder ( 4 1968, §§518-530). Der lateinische Nexus [skj] (> fr. [js]; z.B. PISCIŌNE ( M ) > poisson) ist in meinem Korpus - abgesehen vom Lehnwort science (LBHD444, 1329 und LBSL362, 1348) - nicht belegt. 478 Ich zitiere im folgenden stets die älteste im Korpus belegte (Flexions-)Form unter Angabe der Urkunde und ihres Entstehungsjahrs. 479 Die in LBHD430 belegten Endungen der 1. Person Plural Indikativ Imperfekt des Typs -iemes sind ansonsten im Korpus eher selten. 247 <?page no="260"?> chises (LBHD444, 1329) und huiss{ier} (LBSL403, 1415 n.st.) vor. Ansonsten steht <s> für den Auslaut der fünf Lexeme tiers (LBHD369, 1287), puis (< * POSTIUS ; LBHD376, 1288) 480 , huys (LBHD437, 1326 n.st.), ains (LBSL376, 1380) 481 oder puys (< PUTEU ( M ), LBSL389, 1403), wobei die Graphie hier weder mit <c> noch mit <ch> variiert, was auf eine lautliche Neutralisierung in wortfinaler Position hindeutet (vgl. dagegen as tierches vendenges in LBHD455, 1349): „Il faut croire qu’il y avait une forte tendance à réduire cette finale à -s“ (Gossen 2 1976, 94, §39). Von den sechs erstgenannten Lexemen mit <s> im Wortinnern sind indulgenses und pourchassiemes im Korpus auch mit <c>-Graphie belegt. 482 Doch lediglich paruisse (LBHD335, 1274 n.st.) kommt gelegentlich auch mit <ch>-Graphie vor (dann immer als p{ar}roiche, z.B. in LBHD464, 1365) und ist somit das einzige Lexem im Korpus, dessen Graphie zwischen <s> und <ch> variiert. 483 Es bleiben damit fünf Lexeme, die ausschließlich mit <s>- Graphie im Wortinnern auftreten und die mir auch unter semantischem Aspekt eine Sonderstellung einzunehmen scheinen: denn huiss{ier} (d’armes du roy) ist ein - überdies von huys (s.o.) abgeleiteter - Amtstitel, und auch indulgenses, resons, pourchassiemes und franchises bringen im diplomatischjuristischen Kontext ganz spezifische fachsprachliche Konzepte zum Ausdruck, was anhand der folgenden Textpassagen kurz veranschaulicht sei: 484 (1) ... et si renonche à tous previleges de crois pris [sic] {et} à prenre,/ / . {et} à tous respis de roi, de conte et de tout autre grant seigneur,/ / . enpetré / . ou à enpetrer,/ / . {et} à toutes in<zwt/ >dulgenses [Syllabes re- 480 In LBHD366, 1284 auch schon in der Zusammensetzung puisq{ue}. Später auch zahlreiche Belege für depuis. 481 In LBHD444, 1329 findet sich auch schon das Kompositum ainsné. Daneben sind die Formen enchois (LBHD402, 1298), anchois (LBHD420, 1310) und ainçois (LBSL402, 1414) mit inlautend entwickeltem [tj]-Nexus belegt; diese sind aber nicht ains zuzurechnen, sondern repräsentieren ein eigenes Lexem. 482 Z.B. indulgences in LBHD409, 1302; pourchacer in LBSL402, 1414. 483 Paruisse ist im übrigen auch das einzige mit <s>-Schreibung belegte Lexem, dessen Etymon den Nexus [kj] beinhaltet. Alle übrigen <s>-Graphien stehen für ein Ergebnis von [stj] (huiss{ier}, puis, huys), [ptj] (pourchassiemes) oder von [tj] nach sonstigem Konsonanten (indulgenses, tiers, ains) oder in intervokalischer Stellung (resons, franchises, puys). 484 Im folgenden zitiere ich längere Textpassagen aus dem Korpus fortlaufend numeriert. Besonders hervorzuhebende Formen erscheinen kursiviert. Sowohl die Originalinterpunktion aus der Handschrift als auch die von mir eingeführte moderne Interpunktion werden angezeigt (vgl. dazu Anm. 406). Aufgelöste Abbreviaturen stehen in geschweiften Klammern. Anmerkungen in französischer Sprache, die die Edition begleiten, erscheinen in eckigen Klammern. In (1) trennt ein Zeilenwechsel („<zwt/ >“) die erste Silbe der Form indulgenses ab. Im Druck erscheinende Trennungsstriche wurden von mir eingefügt, um allzu große Wortzwischenräume zu vermeiden. 248 <?page no="261"?> liées par un trait d’union en fin de ligne.] d’apostoile donnees ou à donner ... (LBHD365, 1284 n.st.) (2) ... et ai renonchié en che fet, sur me devant dite foy,/ / . à che que je porroie dire ou opposer / . que la choze n’ait ensi esté fete,/ / . composee,/ / . ordenee / . {et} acordee [Un tiret remplit la ligne.],/ / . à exception de mal,/ / . de trequerie,/ / . de fraude,/ / . de decepcion,/ / . à tous privileges de crois prise {et} à penre,/ / . à tous respis,/ / . graces,/ / . indulgences,/ / . otroiés {et} à otro<zwt/ >ier,/ / . donnés / . {et} à donner,/ / . empetrés / . {et} à empetrer,/ / . d’apostole,/ / . de roy / . ou d’autre prinche,/ / . à toutes constitucions vielles {et} nouveles,/ / . à tous usages / . {et} à toutes coustumes de lieu {et} de pays,/ / . et à toutes autres excepcions,/ / . allegacions,/ / . resons,/ / . cavillacions, barres {et} deffenses de droit {et} de fet ... (LBHD409, 1302) (3) ... se contre les choses, convenances, la p{er}mutation {et} l’escange dessus dis nous alyons, ou cil qui cause aroient de nous aloyent, pourchassiemes ou pourchassoient à-aler ... (LBHD430, 1318) (4) ... ((r))enonçanz du tout exp{re}ssem{en}t en ce fait le dit p{re}neur, p{ou}r lui, p{ou}r ses diz h{oir}s {et} pour celui ou ceus qui de lui ou de ses diz h{oir}s auroient cause ... à touz p{r}ivileges, graces et franchises donnez {et} à-donner, de pape, de roy ou d’aut{re}s ... (LBHD444, 1329) (5) ... ((J))ehan d’Avesnes escuier, seigneur de l’Espine, huiss{ier} d’armes du roy n{ost}re-s{eigneur} et garde de par icellui seigneur du bailliage de Beauvais ... (LBSL403, 1415 n.st.) Bei indulgenses, resons und franchises handelt es sich also um juristische Fachtermini, die offenbar nicht mit pikardischer Graphie <ch> - und womöglich auch nicht in pikardischer Aussprache [ (t)ʃ ] - gängig waren. Mit huiss{ier} und pourchassiemes dürften zwar volkstümliche Wortbildungen vorliegen; die Lexeme haben aber eine spezifisch juristisch-administrative Bedeutungsvariante ausgebildet, so daß sie in den Urkunden anscheinend ebenso nur als überregionale Varianten mit <s>-Graphie verwendet wurden (bei huiss{ier} ist, wie gesagt, außerdem in Betracht zu ziehen, daß das Wort von huys mit wortfinalem <s> für lt. [stj] abgeleitet ist). Es ist selbstverständlich nicht auszuschließen, daß in anderen Texten auch eine Form ? huichier oder ? pourcachions stehen könnte; 485 für mein Korpus empfiehlt sich jedoch eine separate Behandlung der fünf Lexeme indulgenses, resons, pourchassiemes, franchises und huiss{ier} als nicht in pikardischer Graphie belegter juristischer Spezialwortschatz. Da aufgrund phonologischer Kriterien auch tiers, puis, huys, ains und puys als Sonderfälle einzustufen sind, 485 Vgl. etwa Tobler/ Lommatzsch (1925-2002), s.v. „porchacier“. - Ich zitiere hier nach der CD-ROM, ohne Angabe des Bandes. 249 <?page no="262"?> kommt - bis auf die Ausnahme von paruisse ([s] < [kj]) - allen im Korpus belegten <s>-Graphien ein Sonderstatus zu. Die lexikologische Dimension erweist sich ebenso bei einer Reihe von Formen als aufschlußreich, die im Korpus ausschließlich mit <c>-Graphie belegt sind. Schon Gossen ( 2 1976, §38, 92-94) hat bei der Behandlung der Variable <c> vs. <ch> (vs. <s>) zwischen „Mots de formation populaire“ und „Mots savants“ unterschieden und gezeigt, daß einige gelehrte Wörter aus dem religiösen und insbesondere aus dem juristischen Bereich nur selten oder gar nicht in pikardischer Schreibung nachweisbar sind. Auch für mein Korpus gilt, daß, wie bei den genannten Lexemen mit <s>, von zahlreichen Wörtern mit <c>-Graphie keine pikardische Variante belegt ist (z.B. *dechechon, *dechevanche, *gra(i)che), was den Schluß nahelegt, daß hier offenbar von vornherein ausschließlich latinisierende und zugleich überregionale Formen gebraucht wurden (z.B. decepcion, LBHD406, 1301; decevance, LBHD430, 1318; grace, LBHD348, 1277). 486 Interessanterweise hat die Mehrheit der aus der römischen Rechtstradition übernommenen Fachtermini erst im 14. Jahrhundert Einzug in die französische Urkundensprache gehalten; die frühesten Belege stammen aus den 1280er Jahren. Wie die oben zitierten Textbeispiele (1) bis (5) zeigen, hat die neuartige juristische Terminologie den diplomatischen Diskurs vor allem im Bereich der sogenannten Sekundärklauseln 487 geprägt, wodurch es im 14. Jahrhundert zu einer weitreichenden Standardisierung des Formulars auch im dispositiven Teil der Urkunden kam. Aus linguistischer Sicht erweist sich die Theorie der lexical diffusion als geeignetes Modell zur Beschreibung der beobachteten graphematischen Distribution. 488 Grundlegend ist dabei die Annahme, daß der Lautwandel 486 Auch Dees (1980, 168f.) und Gossen ( 2 1976, §38, 93) kennen keine Form *gra(i)che für GRĀTIA . 487 Vgl. dazu Guyotjeannin/ Pycke/ Tock ( 3 2006, 80-83). 488 Vgl. dazu grundlegend Malkiel (1967; 1971), Wang (1969), die Beiträge in Wang (Hrsg.) (1977) und Labov (1981); vgl. auch Bakken (2001), Phillips (2006) und Pustka (2008b). Vgl. außerdem schon Schuchardt [1885] (1972, 24f.): „Die Veränderung eines Lautes [...] besteht aus der Summe der allerkleinsten Verschiebungen, ist also von der Zahl seiner Wiederholungen abhängig. [...] Die grössere oder geringere Häufigkeit im Gebrauche der einzelnen Wörter, welche ja bei den Analogiebildungen eine so hervorragende Rolle spielt, ist auch für ihre lautliche Umgestaltung von hoher Wichtigkeit [...]. Sehr selten gebrauchte Wörter bleiben zurück, sehr häufig gebrauchte eilen voran; von beiden Seiten also bilden sich Ausnahmen von den Lautgesetzen.“ - Auch bei de Boor/ Haacke (1957, XXXIIIf.) heißt es ante litteram (mit Bezug auf den Vokalismus): „Die Diphthongierung der alten Längen î, û, iu und die Differenzierung der neuen Diphthonge von den alten ei, ou, öu enthüllt sich mindestens in ihrem schriftlichen Niederschlag als ein sehr verwickelter und regional sehr unterschiedlich ablaufender Prozeß, und es erweist sich, daß ein so wichtiger Lautvorgang sich keineswegs in allen Wörtern oder Wortgruppen gleichmäßig rasch vollzieht.“ 250 <?page no="263"?> ein Phonem nicht simultan und ausnahmslos in allen den Wandel bedingenden Kontexten erfaßt, wie dies von den Junggrammatikern postuliert wurde. 489 Vielmehr sei davon auszugehen, daß der Wandel zunächst immer nur eine bestimmte Gruppe von Lexemen betrifft, von wo aus er nach und nach auch andere Bereiche des Lexikons erfassen, einzelne Wörter oder Wortgruppen aber auch aussparen könne. Besonders aufschlußreich sei in diesem Zusammenhang die Beschreibung von solchen Phasen der sprachlichen Entwicklung, in denen bestimmte Lexeme einen Lautwandel bereits vollzogen hätten, andere aber noch nicht; denn im synchronen Nebeneinander einer Reihe von ‘progressiven’ und einer Reihe von ‘konservativen’ Wörtern werde oftmals die (außersprachliche) Ursache eines lautlichen Wandels erkennbar, etwa ein Entlehnungsprozeß aus einer Kontaktsprache oder aus einer bestimmten Varietät. Von den juristischen Fachtermini in der Urkundensprache des späten 13. und des 14. Jahrhunderts ist zwar nicht unbedingt anzunehmen, daß diese zum Teil erkennbar nicht erbwörtlich entwickelten Lexeme (vgl. etwa die Suffixvarianten -tion, -cion oder -sion für lt. - TIŌNEM ) tatsächlich zu einem Lautwandel in der pikardischen Empfängervarietät geführt haben. Es ist aber die Frage zu stellen, inwieweit die offenbar von vornherein nur in überregionaler, nicht-pikardischer Form gebräuchlichen Latinismen in der Urkundensprache eine Art Einfallstor für die zumindest graphische Standardisierung auch im Bereich des Erbwortschatzes dargestellt haben könnten, so daß die ausschließliche, latinisierende <c>-Schreibung in frequenten Wörtern wie exceptions, p{re}decesseurs, procés oder civil (s.u.) auf die Dauer einer Zunahme der <c>-Schreibung auch in Erbwörtern wie ce, cent, certain oder recevoir Vorschub leistete. Die überregionale Standardisierungstendenz, die vermutlich im Kontext der flächendeckenden Etablierung des königlichen Notariatswesens ab den 1280er Jahren eingesetzt hat, könnte demnach gestützt worden sein durch das gleichzeitige, massive Vordringen der aus dem Lateinischen entlehnten, frisch elaborierten französischen Rechtsterminologie. Nun stellt sich die Frage, wie mit den entsprechenden Okkurrenzen in meinem Korpus methodisch umzugehen ist. Denn es erscheint unangemessen, offensichtlich nicht erbwörtlich entwickelte Formen, die überhaupt nicht in pikardischer Graphie belegt sind, bei der Untersuchung ohne Unterschied zum graphisch zwischen <c> und <ch> variierenden Erbwort- 489 Vgl. Osthoff/ Brugmann (1898, XIII): „Aller lautwandel, so weit er mechanisch vor sich geht, vollzieht sich nach ausnahmslosen gesetzen, d.h. die richtung der lautbewegung ist bei allen angehörigen einer sprachgemeinschaft, ausser dem fall, dass dialektspaltung eintritt, stets dieselbe, und alle wörter, in denen der der lautbewegung unterworfene laut unter gleichen verhältnissen erscheint, werden ohne ausnahme von der änderung ergriffen“ (Kleinschreibung und Kursivierung im Original). 251 <?page no="264"?> schatz zu behandeln. Außerdem gibt es unterschiedliche Arten von Lehnwörtern, so daß auch eine interne Differenzierung nötig erscheint. So ist etwa das Suffix in decepcion oder circonvention (s.u.) eindeutig latinisierend und deutet weder auf eine spezifisch pikardische noch auf eine ansonsten denkbare nordfranzösische Lautentwicklung hin. Dagegen erscheint ein Wort wie grace als halbgelehrte Bildung, wo der regelmäßig zu erwartende Lautwandel (fr. *graise, pik. ? graiche) lediglich in abgeschwächter Form eingetreten ist. Wörter wie decevance oder licence schließlich treten in lautgesetzlich ganz regulärer Form auf; dennoch sind von diesen Wörtern keine pikardischen Varianten in meinem Korpus nachweisbar (*dechevanche, *lichenche), so daß sich der Verdacht aufdrängt, daß es sich dabei um assimilierte Lehnwörter oder um Lehnprägungen 490 handelt. Ich habe mich also entschieden, die im Korpus belegten Suffixvarianten -tion, -sion oder -cion prinzipiell von der Untersuchung auszuschließen, da die Graphien <ti>, <si> oder <ci> auf eine Lautform [sj] mit erhaltenem Palatalkonsonanten in der Ultimasilbe hindeuten und somit nicht mit der hier untersuchten Graphie <c> oder <s> für den erbwörtlich entwickelten Laut [(t)s] oder [z] gleichzusetzen sind. In allen übrigen Fällen wurden die <c>- oder <s>-Graphien dagegen zunächst ganz regulär annotiert. Sobald sich aber herausgestellt hat, daß ein als potentieller Latinismus erkanntes Lexem im Korpus tatsächlich ausschließlich als <c>-Variante belegt ist, wurde es mit einer zusätzlichen Annotation <lat></ lat> für ‘Latinismus’ versehen (z.B. <lat><kic>civil</ kic></ lat>). 491 Als Kriterium zur Klassifizierung einer Form als ‘Latinismus’ gilt also letztlich die Tatsache, daß sie im Korpus kein einziges Mal in der Graphie <ch> belegt ist. Die folgende Liste der 49 derart identifizierten Lexeme dürfte die Plausibilität dieses Vorgehens grundsätzlich bestätigen. 492 490 Vgl. zum Begriff und zu weiteren Unterscheidungen Betz (1949, 9-32; 1959). 491 Eine Form wie decevance wurde vierfach annotiert, einmal als <kec></ kec>, einmal als <tjc></ tjc> und zweimal als <lat></ lat>. Auch Formen wie deception oder exception, deren Suffix nicht berücksichtigt wurde, wurden jeweils als <kec></ kec> und als <lat></ lat> annotiert, da ja theoretisch trotz eindeutig latinisierendem Suffix eine pikardische Form der Wortbildungsbasis denkbar wäre. 492 Wie üblich wurden sowohl Komposita als auch Derivate als von ihren Basen unabhängige Lexeme betrachtet. Partizipien gelten dagegen nicht als eigene Lexeme, sondern als Verbformen. 252 <?page no="265"?> Lexem Erstbeleg im Korpus Kommentar 1 abscence LBSL351, 1315 <sc> für lt. [s] wurde nicht untersucht. 2 acept{er}ent LBSL339, 1290 3 acertené LBHD511, 1437 4 benefices LBHD487, 1390 5 cedé LBHD510, 1434 6 celebrer LBHD487, 1390 7 c{er}tifficac{i}on LBHD461, 1361 Nur wortinitiales <c> wurde in Betracht gezogen. - Ein Beleg für ch{er}teffier, neben c{er}tiffier, auch in LBHD461; certefions schon in LBHD455b, 1336; sehr häufig Formen wie chertain (z.B. LBHD462, 1363), aber auch certains (z.B. LBSL378. 1381). 8 cesse (de paye) LBHD514, 1455 aber chessé in LBHD437, 1326, neben cesserent in LBHD474, 1370 9 circoncision CB182, 1285 zweimal <c> vor <i> 10 circonvention LBHD430, 1318 Hier wurde nur wortinitiales <c> vor <i> in Betracht gezogen. 11 civil LBHD453, 1347 12 concessié LBSL366, 1358 vgl. Nr. 8 13 consequence LBSL403, 1415 14 decembre LBHD392, 1293 15 decepcion LBHD406, 1301 Hier wurde nur <c> vor <e> in Betracht gezogen. - Häufig Formen wie decheus, z.B. in LBSL344, 1310. 16 decevance LBHD430, 1318 Zweimal <c>. - Vgl. aber esp{er}anche (LBSL366, 1358)/ esperance (LBHD510, 1434); finanche (LBHD416, 1308)/ finances (LBHD397, 1294), convene{n}ches (LBHD416, 1308)/ convenances (LBHD430, 1318). 17 delivrance LBSL351, 1315 18 diocés LBHD378, 1288 253 <?page no="266"?> 19 domicille LBSL378, 1381 20 exceptions LBHD383, 1291 Nur <c> vor <e> wurde berücksichtigt, nicht das latinisierende <ti> im Suffix. 21 excepté LBHD409, 1302 22 grace LBHD348, 1277 23 licence LBSL366, 1358 zweimal <c> 24 licencia LBSL366, 1358 Lediglich das erste <c> im Wort wurde berücksichtigt, da <ci> für [sj] als Teil des Stamms auf keine erbwörtliche Entwicklung hindeutet (vgl. dagegen etwa * ALTIĀRE > hausser; * TRACTIĀRE > traçer; * CAPTIĀRE > chasser; vgl. Rheinfelder 4 1968, §524). 25 malice LBHD489, 1390 26 neccessairez LBSL376, 1380 27 neccessité LBSL374, 1377 28 observances LBSL402, 1414 29 office LBSL377a, 1380 30 officiers LBSL398, 1407 Hier kann <c> angesetzt werden gegenüber <ie> für diphthongierten Haupttonvokal (< lt. - ĀRIOS ; vgl. Rheinfelder 4 1968, §275). 31 pacifié LBSL377a, 1375 32 pitance LBHD512, 1441 33 plançon LBSL399, 1409 Hier handelt es sich mit Sicherheit nicht um einen Latinismus. Tobler/ Lommatzsch (1925-2002, s.v. „plançon“) 493 zitieren mehrere Beispiele für planchon. 34 p{re}cedentes LBHD475, 1370 35 p{re}decesseurs LBHD388, 1292 aber dechés (LBSL362, 1348) neben decest (LBSL376, 1380); auch anchesseurs (z.B. in LBHD378, 1288) 493 Ich zitiere hier nach der CD-ROM und daher ohne Angabe des Bandes. 254 <?page no="267"?> 36 prejudice LBHD475, 1370 37 presence LBSL387, 1402 38 principal LBHD365, 1284 39 procedé LBHD437, 1326 40 procés LBHD487, 1390 41 puissance LBSL398, 1407 42 receveur LBSL378, 1381 neben rechevoir (LBHD376, 1288)/ recevoir (LBHD366, 1284) und p{er}chevoir (LBHD474, 1370)/ percevoir (LBHD510, 1434) 43 science LBHD444, 1329 Latinisierendes <sc> am Wortanfang wurde nicht berücksichtigt. 44 sentence LBHD369, 1287 45 service LBHD512, 1441 46 silence LBHD369, 1287 47 successeurs LBHD392, 1293 48 succession LBHD369, 1287 49 violence LBSL377a, 1380 Abb. 10: Im Korpus ausschließlich mit <c>-Graphie belegte Lexeme (‘Latinismen’) Allerdings zeigt das Beispiel plançon (Nr. 33), daß selbst ein Wort, das mit Sicherheit keine rechtssprachliche Entlehnung, sondern ein Erbwort ist, in meinem Korpus nur mit <c>-Graphie verteten sein kann, wobei es sich hier erwartungsgemäß um einen verhältnismäßig späten Einzelbeleg handelt. Auch bei den übrigen Wörtern, die hier als ‘Latinismen’ ohne <ch>-Variante geführt werden, kann ich natürlich nicht ausschließen, daß sie in anderen Texten auch mit <ch>-Graphie vorkommen könnten. Der Zufall spielt hier gewiß eine Rolle, zumal bestimmte Lexeme in meinem Korpus nur selten oder nur einmal vertreten sind. Des weiteren hat die lexikologische Voruntersuchung des Korpus ergeben, daß darin auch neunzehn Lexeme ausschließlich mit <ch>-Graphie belegt sind: 255 <?page no="268"?> Lexem Erstbeleg im Korpus Kommentar 1 anchoiseurs LBHD348, 1277 2 apetichier CB001, 1241 3 apartenanches LBHD378, 1288 In den jüngeren Urkunden erscheint das Wort stets abgekürzt als appartenan{c(h)es} oder als apparten{anc(h)es} (z.B. in LBHD489, 1390). 4 apendanches LBHD392, 1293 In den jüngeren Urkunden erscheint das Wort stets abgekürzt als appendan{c(h)es} (z.B. LBHD489, 1390); die Form ist aber kein einziges Mal im Korpus mit <c>-Graphie belegt. 5 apperchuy LBHD409, 1302 vgl. dagegen p{er}chevoir (LBHD474, 1370)/ percevoir (LBHD510, 1434) 6 blechiés LBHD420, 1310 7 cauchie LBHD402, 1298 fr. chaussée; auch die Reduktion von nachpalatalem lt. - ĀTA > íe ist ein typisch pikardisches Phänomen (vgl. Gossen 2 1976, 55, §8) 8 denonchié LBSL351, 1315 9 despendanches LBSL372, 1375 10 escaanche LBSL278, 1265 11 eschache LBSL362, 1348 12 (en le p{re}miere) fache (dou seel) LBSL339, 1290 Dagegen sind von der Verbform fr. fasse (< FACIAT ) sowohl die Variante fache (z.B. LBSL373a, 1375) als auch als die Variante face (LBHD487, 1390) belegt. 13 fachons LBHD464, 1365 < FACTIŌNES 14 fianchié CB001, 1241 15 glachee LBHD509, 1434 16 (voie) kariereche LBHD359, 1279 17 plache LBHD443, 1329 In LBHD515, 1455 stehen die Personennamen Hebert de la Place (Variante: Hebert de le Place) und Freminot de le 256 <?page no="269"?> Place. Namen wurden jedoch grundsätzlich nicht berücksichtigt. 18 pourchel LBHD474, 1370 19 seme{n}che LBHD383, 1291 aber semencee neben semencher in LBSL399, 1409 Abb. 11: Im Korpus ausschließlich mit <ch>-Graphie belegte Lexeme (‘Pikardismen’) Die Liste dieser vorläufig als ‘Pikardismen’ bezeichneten und im Korpus entsprechend annotierten Formen (<pik></ pik>) erscheint insofern heterogener als die der ‘Latinismen’, als sich hier Erbwörter aus dem alltäglichen Sprachgebrauch (cauchie, pourchel, seme{n}che) und semantisch abstrakte, bürokratisch anmutende Wortbildungen (despendanches, apartenanches, escaanche) gegenüberstehen, die wohl auch in der ersten, längeren Liste als ausschließliche <c>-Varianten nicht überrascht hätten. Das etwas unbefriedigende Bild zeigt einmal mehr, daß eine trennscharfe Unterscheidung von Erb- und Lehnwörtern, die von den mittelalterlichen Schreibern so oder so behandelt worden wären, in der Skriptaforschung kaum zu bewerkstelligen ist. 494 Vielmehr wäre für jedes einzelne Lexem eine eigene Wortgeschichte zu schreiben 495 , wofür ein bescheidenes Korpus wie das hier untersuchte freilich nur ein Augangspunkt sein kann und durch zahlreiche weitere Texte aus dem gesamten Sprachgebiet ergänzt werden müßte. Auf den distanzierenden Anführungszeichen, die hier um die Ausdrücke ‘Latinismen’ und ‘Pikardismen’ gesetzt werden, ist deshalb mit Nachdruck zu bestehen. Denn ich möchte diese nur tentativ angesetzten Kategorien im folgenden primär als methodisches Werkzeug für die Analyse meines kontingent zugeschnittenen Korpus verstanden wissen, nicht als historisch-lexikologische ‘Typologie’ von genereller Gültigkeit (wenngleich im Bereich der ‘Latinismen’ die Kategorisierung als juristisches Lehngut einschließlich nur semantischer Prägungen wohl überwiegend zutreffen dürfte). Von methodischer Relevanz scheint mir die Unterscheidung zwischen ‘Latinismen’ und ‘Pikardismen’ allemal zu sein, denn es würde ein lexikologisch undifferenziertes, standardisierungsgeschichtlich verzerrtes Bild entstehen, wenn ich bei der Auswertung meines Korpus lediglich die Zahlen für sämtliche <c>-Graphien den Zahlen für sämtliche <ch>-Graphien gegenüberstellte. Wenn schon eine zu größerer Sicherheit führende wortgeschichtliche Einzeldarstellung im Rahmen dieser Untersuchung nicht möglich ist, so gebietet es doch die methodische Korrektheit, bei der 494 Vgl. dazu auch Gossen ( 2 1976, §38, 92f.). 495 Vgl. dazu programmatisch das von Malkiel (1967) formulierte Motto „Each word has a history of its own“. 257 <?page no="270"?> Auswertung diejenigen Formen separat zu behandeln, die innerhalb meines Korpus als auschließliche <c>- oder als ausschließliche <ch>-Varianten lexikalisch komplementär verteilt sind. Mindestens dafür leistet die Unterscheidung zwischen ‘Latinismen’, ‘Pikardismen’ und frei zwischen <c> und <ch> oder zwischen <s> und <ch> variierenden Formen eine wichtige operationale Grundlage, welche überdies einer gewissen wortgeschichtlichen Plausibilität nicht ermangeln dürfte, zumal im Bereich der teils hochfrequenten ‘Latinismen’. Die rechnerische Umsetzung dieser Methodik erfolgt in der Excel-Tabelle, in die alle mithilfe des xml-Editors gewonnenen Auszählungsergebnisse eingetragen wurden, wobei sowohl der rein graphematische Befund als auch das Ergebnis der lexikologisch differenzierten Auswertung sichtbar werden. Zur Veranschaulichung sei ein fiktives Zahlenbeispiel für die Auswertung einer Urkunde gegeben: 258 <?page no="271"?> Graphie <ch> vs. <c> vs. <s> kec 4 kic kjc 2 tjc 4 Summe <c> 10 Summe <c> ‘Latinismen’ 8 Summe <c> frei variierend mit <ch> 2 kjs (Lexem paruisse, frei variierend mit <ch>) tjs (‘Latinismen’ oder <s> am Wortende) Summe <s> 0 kech 5 kich kjch 2 tjch 3 Summe <ch> 10 Summe <ch> ‘Pikardismen’ 1 Summe <ch> frei variierend mit <c> oder <s> 9 gesamt <ch>/ <c>/ <s> 20 gesamt frei variierend <ch>/ <c> oder <ch>/ <s> 11 % <ch> von gesamt <ch>/ <c>/ <s> 50% % <ch> von frei variierend <ch>/ <c> oder <ch>/ <s> 82% Abb. 12: Fiktives Beispiel für die rechnerische Umsetzung der lexikologisch differenzierten graphematischen Analyse in Excel Entscheidend ist hier die Differenz zwischen den beiden blau unterlegten Prozentsätzen: Der obere Wert (im Beispiel: 50%) ist das Ergebnis der Division der Summe aller <ch>-Graphien in einer Urkunde („Summe <ch>“, im Beispiel: 10, grau unterlegt) durch die Summe aller <ch>-, <c>- oder <s>-Graphien in dieser Urkunde („gesamt <ch>/ <c>/ <s>“, im Beispiel: 20, gelb unterlegt). Der Wert von 50% entspricht also dem Anteil sämtlicher vor- 259 <?page no="272"?> handener <ch>-Graphien an der Summe sämtlicher Merkmalsvorkommnisse. Der untere blau unterlegte Wert (im Beispiel: 82%) gibt das Ergebnis der lexikologisch differenzierten Auswertung des graphematischen Befunds wieder. Hier wurde nämlich von der Summe aller in der Urkunde belegten <c>-Graphien („Summe <c>“, im Beispiel: 10, grau unterlegt) die Zahl der als ‘latinisierend’ identifizierten <c>-Graphien (im Beispiel: 8, grau unterlegt) abgezogen, so daß nur noch die im Korpus nicht lexematisch distribuierten, frei mit <ch> variierenden <c>-Graphien übrigbleiben (im Beispiel: 2, grau unterlegt). Diese werden sodann zur Zahl der nicht lexematisch distribuierten <ch>-Graphien (im Beispiel: 9, grau unterlegt) addiert. Analog zur Subtraktion der ‘Latinismen’ auf seiten der <c>-Graphien finden dabei nur die frei mit <c> oder <s> variierenden <ch>-Graphien Berücksichtigung, indem von der Summe sämtlicher <ch>-Graphien (im Beispiel: 10, grau unterlegt) erst noch die Zahl der in der Urkunde nachgewiesenen ‘Pikardismen’ abgezogen wird (im Beispiel: 1, grau unterlegt). 496 Zu dieser Summe der frei variierenden <ch>-,<c>- und <s>-Graphien (im Beispiel: 11, gelb unterlegt) wird schließlich die Zahl der frei mit <c> oder <s> variierenden <ch>-Graphien (im Beispiel: 9, grau unterlegt) ins Verhältnis gesetzt; so ergibt sich der vom Anteil lexematisch (oder positionell) distribuierter Graphien bereinigte Prozentsatz von 82%. Fälle wie das fiktive Beispiel, das zum Zweck der besseren Nachvollziehbarkeit mit einfach zu handhabenden Zahlen versehen wurde, sind im Korpus keineswegs selten: Urkunden, die auf den ersten Blick - also bei lexikologisch undifferenzierter Auswertung - im Bereich der <ch>/ <c>/ <s>-Schreibung nur gemäßigt ‘pikardisch’ erscheinen, erreichen nach Ausblendung der ‘Latinismen’ (und auch lexematisch oder positionell distribuierter <s>-Graphien) plötzlich sehr hohe Werte von bis zu 100% für den frei variierenden <ch>-Anteil und entpuppen sich somit hinsichtlich der Behandlung der tendenziell als Erbwortschatz einzustufenden Lexeme als konservative Texte. In standardisierungsgeschichtlicher Perspektive sind nichtsdestoweniger beide oben blau unterlegte Werte von Interesse: der Anteil der nicht lexematisch distribuierten <ch>-Formen an der Summe der im Korpus graphisch frei variierenden Merkmalsokkurrenzen (im Beispiel: 82%), indem 496 Von gegebenenfalls vorhandenen <s>-Graphien werden ebenso nur die frei mit <ch> variierenden paruisse-Formen berücksichtigt, nicht die lexematisch oder positionell distribuierten Fälle von <s> für [s] oder [z] < lt. [tj]. - Daß bei den ausschließlich mit <s>-Graphie belegten Wörtern ‘Latinismen’ wie indulgenses in derselben Kategorie erscheinen wie Wörter, bei denen es vermutlich zu einer Neutralisierung im Auslaut gekommen ist (einschließlich des Amtstitels huiss{ier}), erweist sich für die hier durchgeführten Berechnungen als irrelevant. 260 <?page no="273"?> er anzeigt, in welchem Ausmaß die typisch südwestpikardische Variante in den Wörtern, wo sie im Korpus vorkommen kann, tatsächlich realisiert wird; der Anteil sämtlicher im Korpus belegter, auch lexemtisch gebundener <ch>-Formen an der Summe sämtlicher Merkmalsvorkommnisse (im Beispiel: 50%), da im Vergleich mit dem in der Regel höheren Prozentsatz der (um die ‘Pikardismen’ verringerten) frei variablen <ch>-Graphien (im Beispiel: 82%) ein quantitativer Eindruck von der Bedeutung der im Korpus nicht in pikardischer Graphie belegten, vor allem juristischen ‘Latinismen’ entsteht. 497 Die etwas heterogene Gruppe der - nicht besonders zahlreichen - als ‘Pikardismen’ ausgesonderten Lexeme dürfte zwar keine standardisierungsgeschichtliche Rolle spielen; ihr Abzug von der Summe aller Merkmalsvorkommnisse erscheint bei der Berechnung der freien Variationsverhältnisse aber insofern geboten, als ansonsten die Möglichkeit von im Korpus nicht belegten überregionalen Formen (z.B. *pourcel oder *escheance) a priori unterstellt würde, wo auf seiten der ‘Latinismen’ de facto von einer Ausschließlichkeit der belegten überregionalen Varianten ausgegangen wird. Jedenfalls verspricht die bei der Auswertung approximativ vollzogene Unterscheidung zwischen Erbwörtern und Lehnwörtern interessante Einblicke in den Zusammenhang von rechtshistorischen und sprachlichen Innovationen. 497 Der vom Anteil der lexematisch oder positionell gebundenen Graphien bereinigte Prozentsatz liegt nur dann über dem Prozentsatz sämtlicher <ch>-Graphien, wenn die Zahl der ‘Pikardismen’ in einer Urkunde größer ist als die der ‘Latinismen’ oder wenn die Zahl der <ch>-Graphien nach Abzug der ‘Pikardismen’ bei null liegt. Der erste Fall liegt bei fünf älteren Urkunden vor (CB001, LBSL278, LBHD335, LBSL320, LBHD359), der zweite Fall bei drei Urkunden des 15. Jahrhunderts (LBHD498, LBHD500, LBHD509). 261 <?page no="274"?> 5.5 Korpusauswertung (I): Urkunden des Bischofs und der weltlichen Gerichtsbarkeit des Bischofs von Beauvais 5.5.1 Urkunden der weltlichen Gerichtsbarkeit des Bischofs von Beauvais 498 Seit Beginn des 13. Jahrhunderts wurde die weltliche Gerichtsbarkeit im Herrschaftsgebiet des évêché-comté de Beauvais 499 durch einen bischöflichen Vogt, den bailli de Beauvais, ausgeübt. 500 Zwar stand dieser Einrichtung seit 1265 ein königlicher bailli mit Sitz in Senlis gegenüber (der königliche bailliage war seinerseits in drei prévôtés unterteilt; Beauvais lag im Gebiet der prévôté d’Angy); doch mindestens bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts konnte die curia episcopi die weltliche Gerichtsbarkeit noch weitgehend autonom, ohne Einmischung der königlichen Zentralgewalt, ausüben. 501 498 Vgl. Grübl (2010a) zu einer ersten Teilauswertung dieses Subkorpus. 499 Der Bischof von Beauvais war zugleich pair de France, weshalb mitunter auch vom comté-pairie de Beauvais (übrigens mit schwankendem Genusgebrauch) die Rede ist (vgl. Carolus-Barré 1952a, 97). Vgl. zur Geschichte der französischen Fürstbistümer Noyon und Beauvais im Hochmittelalter grundlegend Guyotjeannin (1987). 500 Carolus-Barré (1952a, 98 und 103) nennt das Jahr 1214; Guyotjeannin (1987, 163) berichtet von der isolierten Erwähnung eines bailli Enguerrand bereits im Jahr 1203. Ab 1219 übten vermutlich zwei baillivi [episcopi Belvacensis] die weltliche Gerichtsbarkeit des Bischofs aus; spätestens ab 1234 wurde das Amt nur noch von einer Person bekleidet. Vgl. auch Labande [1892] (1978, 66f., 70f., 178-181, 277). - Die geistliche Gerichtsbarkeit nach kanonischem Recht übte der bischöfliche Offizial aus, dessen Urkunden allerdings bis weit ins 14. Jahrhundert hinein noch in lateinischer Sprache verfaßt wurden. 501 Nur vorübergehend agierte ein baillivus domini regis im Jahr 1220 in Beauvais, da der gewählte Bischof, Milon de Nanteuil, in Palästina weilte und die Ausübung seiner weltlichen Macht der königlichen Obhut anvertraut hatte. Nach Labande [1892] (1978, 252-256) sei es ab 1353 verstärkt zu Versuchen von seiten der königlichen Zentralgewalt gekommen, Einfluß auf die Belange der Rechtssprechung in Beauvais zu gewinnen; schließlich sei im Jahr 1432 ein Statthalter des bailli de Senlis als Vertreter der königlichen Rechtssprechung definitiv in Beauvais etabliert worden. Carolus- Barré (1952a, 102, Anm. 3) weist diese Einschätzung jedoch zurück. Vielmehr begründet er die Interventionen der königlichen Justiz im 15. Jahrhundert durch die besonderen Umstände des Hundertjährigen Kriegs und setzt die endgültige Etablierung eines Beamten der königlichen Rechtssprechung erst für die Jahre 1581/ 1582 an. Jedenfalls umfaßt auch mein Korpus neun Urkunden, die unmittelbar das Ressort der weltlichen Gerichtsbarkeit in Beauvais betreffen und die in den Jahren 1380 (LBSL377a), 1402/ 1403 (LBSL387, LBSL388 und LBSL389), 1409 (LBSL399), 1413 (LBSL401), 1428 (LBHD505, ein Vidimus), 1434 (LBHD509) und 1437 (LBHD511) von einem Repräsentanten des Statthalters des königlichen bailli de Senlis in der prévôté 262 <?page no="275"?> Mein Korpus umfaßt sechzehn Urkunden, die im Namen des bailli de Beauvais oder des garde du bailliage de Beauvais, des Amtsvertreters im Vakanzfall 502 , ausgestellt wurden; in einer weiteren Urkunde (LBHD369) tritt der bailli als Mitaussteller neben anderen auf. Eine Urkunde (LBHD379), die gleichfalls einen Akt der bischöflichen Rechtssprechung darstellt, wurde vom prévôt de Beauvais, einem dem bailli untergeordneten Beamten ausgestellt. 503 Zwei weitere Urkunden (LBHD406 und LBHD449) trugen das Siegel der cour du comté de Beauvais 504 und bieten somit ein starkes Indiz für die Annahme, daß auch sie im redaktionellen Umfeld der bischöflichen Rechtssprechung entstanden sind. Insbesondere LBHD406 verspricht einen interessanten Befund: die Urkunde wurde unter dem Siegel der curia Belvacensis von zwei königlichen Beamten ausgestellt, die während der Sedisvakanz im Jahr 1301 das sogenannte Regalienrecht 505 in Beauvais ausübten, indem sie die bischöfliche Rechtssprechung vertraten. Die folgende Übersicht zitiert jeweils die Titulatur des Ausstellers im Protokoll sowie die Ankündigung des Siegels in der Korroborationsformel der zwanzig fraglichen Urkunden. Außerdem erfolgt eine Bestimmung des Siegeltyps (bei nicht erhaltenem Siegel in eckigen Klammern): d’Angy ausgestellt wurden. Vgl. dazu ausführlicher Kap. 5.6.2. - Vgl. zur Geschichte des bailliage royal de Senlis vor allem Guenée (1963). 502 Vgl. Carolus-Barré (1952a, 99). 503 Vgl. Carolus-Barré (1952a, 99f.); Guyotjeannin (1987, 115f. und 163). 504 LBHD449 ist eine gesiegelte Abschrift (copie sous le sceau) aus dem Jahr 1339, die das ebenfalls im Korpus enthaltene Original von 1284, LBHD366, sprachlich beinahe exakt reproduziert. Ich schließe die Urkunde daher zunächst von der sprachlichen Untersuchung aus. Das Siegel von LBHD449 ist fragmentarisch erhalten. Das Siegel von LBHD406 ist nicht erhalten, wird aber in der Urkunde als „le seel de la court de la conté de Biauvais“ angekündigt (das Substantiv comté/ conté erscheint im Korpus ausnahmslos als Femininum). - Da ich meine Urkunden sowohl als linguistische als auch als historische Quellen behandle, zitiere ich aus dem Korpus - wenn nicht abgesetzt mit fortlaufender Numerierung - bevorzugt in doppelten Anführungszeichen. Objektsprachliche Kursivierung wird hier nur eingesetzt, wenn ein sprachlicher Ausdruck ohne kontextuellen Bezug auf eine diplomatische Quelle besprochen wird. Ferner dient Kursivierung innerhalb von doppelten Anführungszeichen der Hervorhebung bestimmter Elemente. Aufgelöste Abbreviaturen stehen in geschweiften Klammern (vgl. Anm. 406). 505 Vgl. dazu Hägermann (2003) und Lalou (2003). 263 <?page no="276"?> Urkunde Jahr Aussteller (Zitat) Siegelankündigung (Zitat) Siegeltyp / Konservierungsstand CB182 1285 Willaumes de Hangest li Joi<zwt/ >nes [Syllabes reliées par un trait d’union en fin de ligne.] en che tanz baillis de Biauvés En tesmoi{n}gnaige de la [sic] quele chose, nous ... avons ches p{re}sentes letres seelees de n{ost}re seel ... [persönliches Siegel], nicht erhalten LBHD369 1287 Lambers de Nery canchelier {et} chanoine de Biauvés,/ / . mestres Robers de Autreche, chanoine de Biauvés, {et} Guillaumes de Hangest li Juenes, baillieus de Biauvés à che tans Ou temoignage de la quele chose, nous, arbitres desus dis, avons ches let<zwt/ >tres seellees de nos seaus./ / . [drei persönliche Siegel], nicht erhalten LBHD379 1288 Guillaumes Coquevil prevos de Biauvés à che tans ... ou temongnage de cheste chose,/ / . j’ai ches lettres seelees de mon seel./ / . persönliches Siegel, erhalten LBSL339 506 1290 Fremins li Cos baillieus de Biauvais à chel tans Ou tesmong<zwt/ >nage de le quel chose, nous, Frenins [sic] li Cos baillieus desus dit, de l’acort {et} de l’assentement le dit official avons ceste letre seelee de nostre seel, de qoi nous usons en le bail lie de Biauvais persönliches Siegel, erhalten 506 LBSL339 zitiert auch den Wortlaut einer Bevollmächtigungsurkunde aus demselben Jahr. Das Inserat bleibt hier von der sprachlichen Untersuchung ausgeschlossen. 264 <?page no="277"?> LBHD406 1301 Thomas de Sarnai clerc ((n))ostre segneur le roi, chanoine de Soissons, {et} Jehan de Monci, regal leurs à Biauvais à ce tamps En-temongnage / . de la-quel chose,/ / . nous, regalleurs desus dis, avons mis en ches p{r}esentes lettres / . le seel de la court de la conté de Biauvais ... [Amtssiegel der curia Belvacensis], nicht erhalten LBHD437 1326 ((W))atier Hesselin de Moy baill{ieus} de Beauvés En tesmoing de che, nous <zw/ > avons fait seeller [Leblond (1919, 583): seeler] ches p{re}sentes l{ett}res dou seel de le court de le conté de Beauvés ... Amtssiegel der curia Belvacensis, erhalten LBHD449 1339 [Abschrift unter dem Siegel der cour du comté de Beauvais, ohne Aussteller] ((D))onné par copie sous le seel de le court de le comté de Beauvez [Leblond (1919, 602): Beauvais] ... Amtssiegel der curia Belvacensis, fragmentarisch erhalten LBHD453 1347 li baill{ieus} de Beauvés [anonym] En tesm{oing} de che, nous avo{n}s fait seeller ches p{rese}ntes l{ett}res dou seel de le court de le comté de Beauvez ... [Amtssiegel der curia Belvacensis], nicht erhalten LBSL366 1358 Estene de Creilg baill{ieus} de Beauvez En tesmoing de che, nous avons fait seell{e}r ches p{rese}ntez l{ett}rez du seel de le court de le comté de Beauvez./ / . Amtssiegel der curia Belvacensis, fragmentarisch erhalten LBHD470 1368 Jaque le Fort de Chauny baillif de Beauvez En tesmoing de che, nous avons fait seell{e}r ches p{rese}ntez l{ett}rez du seel de le court de le comté de Beauvez./ / . Amtssiegel der curia Belvacensis, fragmentarisch erhalten 265 <?page no="278"?> LBHD474 1370 ((J))aque le Fort baill{if} de Beauvés 507 En tesmoing de che, nous avons fait seeler ches p{rese}ntes [Amtssiegel der curia Belvacensis, neben dem Siegel 507 Auf dem Pergament wurden strenggenommen zwei Rechtsakte niedergeschrieben, denn im Anschluß an die Korroborations- und die Datierungsformel - und damit außerhalb des Tenors - der vom bailli ausgestellten Urkunde treten unvermittelt in der 1. Person „maistre,/ / . freres {et} sereurs“ des Hôtel-Dieu de Beauvais auf und ratifizieren das oben vom bailli beurkundete Tauschgeschäft: „Et nous, maistre,/ / . freres {et} sereurs,/ / . qui toutes les choses dessus desclairies / . et chascune d’ichelles / . avons veu {et} dilige{m}ment co[nsi]deré [Une tache empêche la lecture de ce mot.] / . avec n{ost}re bon conseil,/ / . et qui les savons bien avoir esté {et} estre f{ai}c{t}es {et} accordees,/ / . traitties {et} passees / . au p{rou}fit de nous, de nos successeurs et de n{ost}re d{i}c{t}e Maison Dieu,/ / . à greigneur seureté,/ / . confirmacion {et} approbacion de toutez les choses devant touchees [Leblond (1919, 662): couchees],/ / . les quelez nous loons,/ / . greons,/ / . ratiffions et approuvons,/ / . avons mis à ches p{rese}ntez l{ett}res n{ost}re seel, duquel nous usons {et} avons accoustumé à user,/ / . avec le seel de le court de le comté de Beauvés./ / . Donn{é} l’an {et} le chinquiesme jour d’aoust dessus dis./ / .“ (LBHD474, 1370) - Im Steckbrief zu LBHD474 spreche ich deshalb von auteurs successifs. Die beiden angekündigten Siegel sind nicht erhalten. Die Urkunde stellt vor allem insofern ein interessantes Dokument dar, als sie nach der Niederschrift mit zwei anderen, lateinischen Urkunden zusammengeheftet wurde: bei der einen handelt es sich um eine Offizialatsurkunde, die exakt den gleichen Inhalt wie die französische Urkunde des bailli wiedergibt. Die französische und die lateinische Parallelurkunde wurden auch nur jeweils einmal, im Verbund, mit den beiden angekündigten Siegeln versehen. Sie wurden zudem von derselben Hand niedergeschrieben, vermutlich von Renaud de Saint-Quentin, der im Text von LBHD474 als „Regnault de Saint Q{ue}ntin, clerc tabellion juré de le court de Beauvés,/ / . à che co{m}mis {et} envoyé de p{ar} nous / . p{ar} co{m}mission {et} co{m}mandem{en}t à lui fais,/ / .“ bezeichnet wird und der die confessio der Urheber des Rechtsakts, nämlich der „religieuses p{er}sonnes {et} honestes / . le maistre,/ / . les freres / . {et} les sereurs / . de la [Leblond (1919, 659): le] Maison Dieu de Saint Jehan de Beauvés“, als Beauftragter des bailli - und zugleich des Offizials - anhörte und verschriftlichte. Renaud hat auch auf der Plika beider Urkunden seine Unterfertigung hinterlassen („Reginald{us}“, mit einem schwer lesbaren Buchstaben davor, der ein B sein könnte). Es ist mithin davon auszugehen, daß die Offizialatsurkunden und die Urkunden des bailli de Beauvais vom selben Personal, vermutlich in der bischöflichen Kanzlei, angefertigt wurden. Vgl. dazu auch LBHD453, 1347, wo der - gleichfalls als Vertreter des bailli agierende - „garde dou seel de le court de le comté de Beauvez“, ein gewisser Philippe le Portier, sich in einem auf der Plika hinterlassenen Kanzleivermerk als „offic{ialis} sigillifer[o]“ bezeichnet, obwohl die Urkunde im Namen des bailli, nicht des Offizials, ausgestellt wurde. In LBDL339, 1290, beruft sich der bailli, Firmin le Coq, bei einem Schiedsspruch wiederholt auf das Einverständnis des Offizials, der in der Urkunde auch als Zeuge auftritt. - Die zweite lateinische Urkunde, die mit LBHD474 zusammengeheftet wurde, ist eine kurze Bestätigung der vom bailli und vom Offizial beurkundeten Rechtsakte durch den Bischof von Beauvais (hier scheint allerdings ein anderer Schreiber am Werk gewesen zu sein; hinsichtlich Pergamentzurichtung und Layout ist die Urkunde den beiden anderen aber ähnlich). - Von Renaud de Saint-Quentin wurden sehr wahrscheinlich auch die Urkunden 266 <?page no="279"?> l{ett}rez du seel de le court de le comté de Beauvés,/ / . avec le seel des dis religieux qui mis y-est./ / . des Hôtel-Dieu de Beauvais], beide nicht erhalten LBSL372 1375 ((H))ue Gosselin garde de la baillie de Beauvés En tesmoing de che, nous avons fait seeller ches presentez lettres du seel de le court de le comté de Beauvés./ / . [Amtssiegel der curia Belvacensis], nicht erhalten LBSL374 1377. - Beauvais. Ph{ilipp}e Brocart bailli de Beauvés En [Tout ce qui suit a été rajouté d’une encre plus claire.] tesmoing de ce, nous avonz mis n{ost}re seel à ces p{rese}ntes ... [persönliches Siegel? ], nicht erhalten LBHD479a 1377 Philippe Brocart baillif de Beauvés En tesmoing de che {et} [sic] nous avons fait seeller ches p{rese}ntes lettres du seel de le court de le comté de Beauvés./ / . Amtssiegel der curia Belvacensis, unvollständig erhalten LBSL373b [1376- 1378] Ph{ilipp}e Brocart baillif de Beauvés En tesmoing de che, nous avons fait seeller ches p{rese}ntes l{ett}res du seel de le court de le comté de Beauvés ... Amtssiegel der curia Belvacensis, erhalten LBSL377b 1380 Guilbert Doublet bailli de Beauvés En tesmoing de ce, nous avons fait seeller ces p{rese}ntes l{ett}res du seel de le court de le comté de Beauvés./ / . [Amtssiegel der curia Belvacensis], nicht erhalten LBSL378 1381 ((G))uilbert Doublet bailli de Beauvez ((E))n tesmoing de ce, nous avons mis n{ost}re seel à-ces [persönliches Siegel und Amtssiegel der curia Bel- LBSL373b und LBSL377b niedergeschrieben, möglicherweise auch die - allerdings zwischen 31 und 41 Jahre ältere! - gesiegelte Abschrift LBHD449 (s.u.). 267 <?page no="280"?> p{rese}nt{es} l{ett}res, avec le quel nous avons fait mettre le seel de la court de la conté de Beauvez./ / . vacensis? ], nicht erhalten 508 LBHD489 1390 ((G))uilleaume de Chantemelle escuier, bailli de Beauvaiz En tesmoing de ce, nous avons fait seeller ces p{rese}ntes l{ett}res du seel de la court de la conté de Beauv{aiz} ... [Amtssiegel der curia Belvacensis], nicht erhalten LBSL403 1415. - Beauvais. ((J))ehan d’Avesnes escuier, seigneur de l’Espine, huiss{ier} d’armes du roy n{ost}res{eigneur} et garde de par icellui seigneur du bailliage de Beauvais 509 ... les-quelles ces [sic] l{ett}res no{us} avons seellé de n{ost}re seel, avec le-quel no{us} avons fait mett{re} le seel de la [Leblond (1922, 586): le] court de la [Leblond (1922, 586): le] conté de Beauv{ais} ... persönliches Siegel, erhalten [Amtssiegel der curia Belvacensis? ] 510 LBHD503 1415 ((J))ehan d’Avesnes escuier, seign{eu}r de l’Espine, huissier d’armes du roy n{ost}re-s{ire} et bailli de Beauv{ais} ... qui fure{n}t f{ai}c{t}es {et} donn{ees} soubz n{ost}re seel, avec le quel seel nous avons fait mettre le seel de la court de la conté de Beauvais ... [Amtssiegel der curia Belvacenis; persönliches Siegel? ], nicht erhalten 511 Abb. 13: Übersicht über die im Korpus enthaltenen Urkunden der weltlichen Gerichtsbarkeit des Bischofs von Beauvais (1285-1415) 508 Gegen die Annahme einer zweifachen Besiegelung spricht hier, daß die Plika nur einen Einschnitt zur Siegelanbringung aufweist. 509 Bemerkenswert erscheint mir hier, daß Jean d’Avesnes sich als garde du bailliage von königlichen Gnaden bezeichnet. Leider wird dies in der Sekundärliteratur nicht kommentiert. 510 Die Plika weist keinen weiteren Einschnitt zur Anbringung eines zweiten Siegels auf. 511 Wiederum scheint es, als sei nur ein einziges Siegel angebracht worden. 268 <?page no="281"?> Bei aller Vorsicht, die eine Schreibortbestimmung grundsätzlich erfordert, scheinen mir von den zwanzig Urkunden mindestens sechzehn mit einiger Wahrscheinlichkeit derselben institutionellen Schreibstätte zugeordnet werden zu können, nämlich der bischöflichen Kanzlei von Beauvais. Im einzelnen können für die Annahme eines konstanten redaktionellen Umfelds die folgenden - teils auf innere, teils auf äußere diplomatische Merkmale bezogenen - Argumente geltend gemacht werden: (a) Die Urkunden LBHD474, LBSL373b und LBSL377b stammen von derselben Hand 512 und sind jeweils auf der Plika, dem zur Befestigung des Siegels nach oben geknickten unteren Pergamentrand, mit der Unterfertigung von Renaud de Saint-Quentin („Reginald{us}“) versehen. Renaud wird im Text aller drei Dokumente genannt und - im übrigen auch graphisch einheitlich - als „clerc tabellion juré de le court de Beauvés“ bezeichnet. Zwar wäre prinizipiell nicht auszuschließen, daß Renaud de Saint-Quentin die Texte einer anderen Person zur Niederschrift diktiert hat; aufgrund der Identität der Schrift und der Unterfertigungen auf der Plika erscheint die Annahme, daß Renaud selbst der Schreiber war, allerdings sehr plausibel. Erstaunlich ist, daß auch LBHD449, die gesiegelte Abschrift von LBHD366, die Unterfertigung „Reginald{us}“ auf der Plika zeigt, obwohl das Stück zwischen 31 und 41 Jahre älter ist als die Serie der wahrscheinlich von Renaud de Saint-Quentin angefertigten Urkunden aus den Jahren 1370 bis 1380. Da LBHD449 ohnehin von der sprachlichen Analyse ausgenommen bleibt, soll uns die Frage, ob wir es hier mit ein und demselben Reginaldus zu tun haben, nicht weiter beschäftigen. Abgesehen von kleineren Unterschieden, die durch den großen zeitlichen Abstand bedingt sein könnten, ist paläographisch aber tatsächlich nicht auszuschließen, daß die über vierzig Jahre auseinanderliegenden Unterfertigungen und die Schrift aller vier Urkunden von derselben Hand stammen. (b) Die durch LBHD453, LBSL366 und LBHD470 beurkundeten Rechtsakte wurden im Namen des bailli vor einem als dessen Statthalter eingesetzten „garde du 513 seel de le court de le comté de Beauvez“ vollzogen, nämlich den jeweils im Text genannten Philippe le Portier (LBHD453), Robert le Moine (LBSL366) und Nicole le Vernys (LBHD470). Die drei Siegelbewahrer fungieren explizit in bischöflicher Mission („à che establi {et} 512 In den Urkundensteckbriefen spreche ich vom Schreiber E. - Die Beschreibung der paläographischen Merkmale der einzelnen Schreiberhände liegt im Moment erst stichpunktartig in deutscher Sprache vor. Geplant ist eine ausformulierte Version in französischer Sprache, die die Edition der Urkunden begleiten soll. Auch um die Darstellung hier nicht mit Details zu überfrachten, gehe ich auf die paläographischen Merkmale wenn überhaupt nur am Rande ein. 513 LBHD453 hat die Variante dou. 269 <?page no="282"?> deputé de p{ar} 514 mon-s{eigneur} de Beauvés“). Unter der Plika von LBSL366 findet sich die Unterfertigung von Robert le Moine. Auf Philippe le Portier verweist ein lateinischer Kanzleivermerk auf der Plika von LBHD453 („Solvit mi{hi} Ph{ilipp}o Portarii tu{n}c sup{ra}no{min}ati offic{ialis} sigillifero“), wobei die Urkunde nicht im Namen des Offizials, sondern des bailli ausgestellt ist, der in LBHD453 ausnahmsweise anonym bleibt. Die Tatsache, daß der Siegelbewahrer sich hier routinemäßig als „offic{ialis} sigillifer[o]“ bezeichnet, ist, wie oben (Anm. 507) schon angedeutet, ein schöner Beleg dafür, daß der bailli als Repräsentant der weltlichen und der Offizial als Repräsentant der geistlichen Gerichtsbarkeit des Bischofs sich desselben Kanzleipersonals zur Anfertigung ihrer Urkunden bedienten. Auch Renaud de Saint-Quentin hat - vgl. wiederum Anm. 507 - lateinische Offizialatsurkunden unterfertigt. Für eine enge institutionelle Kooperation spricht weiterhin der Umstand, daß sich der in LBSL339 agierende bailli, Firmin le Coq, bei einem Schiedsspruch wiederholt auf das Einverständnis und den Rat des Offizials beruft („de l’acort le dit official {et} de sen {con}sel p{ro}no{n}chai men dit {et} m’ordenanche“), der obendrein in der Zeugenliste auftaucht („maistre Fremin le Mannier, official de Beauvais“). (c) LBHD369 liefert ein starkes Indiz für die Annahme, daß die Urkunde in der bischöflichen Kanzlei angefertigt wurde; denn hier gibt sich einer der beiden Mitaussteller, die neben dem bailli als vom Bischof bestellte 515 Schiedsrichter in einem Erbschaftsstreit fungieren, als „Lambers de Nery canchelier {et} chanoine de Biauvés“ zu erkennen, also als Mitglied des Kathedralkapitels (canonicus) und zugleich als Vorsteher der bischöflichen Kanzlei (cancellarius). 516 514 In LBSL366 ist par ausgeschrieben. 515 „A le parfin, aprés mout de alt{er}cations, par le co{m}mandement mon seigneur de Biauvés {et} par le conseil de boennes gens {et} de sages,/ / . les devant dites parties seur toutes les choses desus dites se mistrent en arbitres de haut {et} de bas: / / . ch’est assavoir en nous, Lambers, Ro<zwt/ >bers {et} Guillaumes de Hangest, baillieus desus dis, tiers arbtres [sic; Leblond (1919, 446): arbitres] esleus des parties desus dites; / / . et nous, au co{m}mandement mon seignor de Biauvés, arbitres esleus des parties desus dites, pour bien de pés presimes le fés [fr. faix, du latin FASCIS ‘faisceau, fardeau, charge’] de la mise seur nous./ / .“ (LBHD369, 1287) - Außerdem scheinen die Modalitäten des Schiedsgerichts zuvor in einem von der curia episcopi besiegelten Rechtsakt festgelegt worden zu sein: „Les queles parties devant dites promistrent par leur foi donnee en nostre main à tenir f{er}mement à tous jours quanques nous dirions, ordenerions ou esta<zwt/ >blirions pour bien de pés des choses devant dites [...], si co{m}me nous veismes {et} entendimes par les lettres dou compromis des parties, seellees dou seel de le court mon seigneur de Biauvés./ / .“ (LBHD369, 1287). 516 Ursprünglich war die Hauptaufgabe des Kanzlers vermutlich die des Siegelbewahrers. Der im Korpus ab LBHD453, 1347 belegte Amtstitel des „garde dou seel de le 270 <?page no="283"?> (d) Die Plika von LBSL372 trägt die Unterfertigung des garde du bailliage („H. Gosselin“) sowie den Vermerk „Ita fuit“, was darauf schließen läßt, daß die von einem clerc angefertigte Urkunde dem kommissarischen bailli zur abschließenden Beglaubigung vorgelegt wurde. LBHD479a wurde von einem gewissen „Candé“ unterfertigt, den wir aufgrund des Vermerks „P{ar} le brevet du dit baill{if}“ als Ingrossator eines anläßlich der confessio angefertigten Kanzleiprotokolls, eines sogenannten brevet, identifizieren können. LBHD489 wurde vom bailli selbst unterfertigt („G. de Cha{n}telemelle“). Außerdem weisen alle drei Urkunden annähernd den gleichen Wortlaut im Protokoll und in der Datierungsformel auf: (6) ((A))-tous cheux qui ches p{rese}ntes litteras [sic; Leblond (1922, 510): lettres] verront et orront,/ / . ((H))ue Gosselin garde de la baillie de Beauvés, salut./ / . ((S))avoir faisons que p{ar}-devant nous / . co{m}me par-devant justiche / . furent presens en leurs personnez: / / . [...]. Donné l’an de grace mil trois chenz soixante et quatorze, le ./ / .XXIIII e ./ / . jour de janvier./ / . (LBSL372, 1375) (7) ((A)) tous cheux qui ches p{rese}ntes lettres verront {et} orront,/ / . Philippe Brocart baillif de Beauvés, salut./ / . ((S))avoir faisons que pardevant ((n))ous co{m}me p{ar}-devant ((j))ustiche / . furent p{rese}ns en leurs personnes [...]. Donné l’an de grace mil .ccc. soixante dix {et} sept,/ / . le ./ / .XXII e ./ / . jour du moys de jullet. (LBHD479a, 1377) (8) ((A)) tous ceulz qui ces presentes lettres verront ou orront,/ / . ((G))uilleaume de Chantemelle escuier, bailli de Beauvaiz, salut./ / . ((S))avoir faisons que par-devant nous comme par-devant ((j))ustice vindrent {et} furent p{rese}ns en leurs p{er}sonnes [...]. Donné l’an de grace mil trois-cens quatre vins {et} dix,/ / . le vint huitiesme jour du mois d’avrilg,/ / . aprez Pasques. (LBHD489, 1390) Dieser Wortlaut findet sich - entsprechend abgewandelt - auch in den Urkunden der vor Renaud de Saint-Quentin als vom bailli beauftragten clerc tabellion juré vollzogenen Rechtsakte wieder (wobei LBDL373b eine etwas anders lautende Datierungsformel aufweist): (9) ((A))-tous cheux qui ches p{rese}ntes l{ett}res verront {et} orront,/ / . Ph{ilipp}e Brocart baillif de Beauvés, salut./ / . Savoir faisons que p{ar}devant Regnault de Saint-Quentin, clerc tabellion juré de le court [Leblond (1922, 515): conté.] de Beauvés,/ / . auquel en che cas {et} en greign{eu}r nous adjoustons [Leblond (1922, 515): adjoutons] pleniere foy,/ / . fu p{rese}ns en sa p{er}sonne [...]. court de le comté de Beauvez“ spricht für eine mit der Zeit eingetretene Differenzierung der Funktionen innerhalb der Kanzlei. Vgl. dazu Cárcel Ortí ( 2 1997, Nr. 280). 271 <?page no="284"?> [...] qui furent f{ai}c{t}es {et} donnees le ./ / .XVI e ./ / . jour d’avrilg, aprés Pasques./ / . (LBSL373b, [1376-1378]) (10) ((A))-tous ceulz qui ces p{rese}ntes l{ett}res verront {et} orront,/ / . Guilbert Doublet bailli de Beauvés,/ / . salut./ / . ((S))avoir faisons que p{ar}-devant Regnault de Saint Quentin clerc tabellion juré de le court de Beauvés,/ / . au quel en-ce cas {et} en-grengn{eu}r ((n))ous adjoustons pleniere foy,/ / . fu p{rese}ns en sa p{er}sonne [...]. Donné l’an de grace mil .ccc./ / . quatre vins,/ / . le .XII e ./ / . jour du mois de octobre./ / . (LBSL377b, 1380) (e) Die vom prévôt de Beauvais ausgestellte Urkunde, LBHD379, führt in der Zeugenliste einen gewissen Fourdine Rolant auf, „clerc le p{re}vost à che tans“, der vermutlich auch das Diktat des prévôt niedergeschrieben hat. 517 Der prévôt wiederum wird in der zwei Jahre später ausgestellten Urkunde LBSL339 als Zeuge genannt („Will{aume} Coquevil, p{re}vost de Biauvais“). (f) Wie aus den in Abb. 13 zusammengestellten Zitaten hervorgeht, weist die Korroborationsformel in LBHD437 den gleichen Wortlaut auf wie in neun anderen Urkunden, die unter (a) bis (d) der bischöflichen Kanzlei als Schreibstätte zugewiesen wurden: „En tesmoing de che, nous avons fait seeller ches p{re}sentes l{ett}res dou seel de le court de le conté de Beauvés“ (LBHD437; vgl. auch LBHD453, LBSL366, LBHD470, LBHD474, LBSL372, LBHD479a, LBSL373b, LBSL377b und LBHD489). 518 Dies ist für sich genommen zwar noch kein sonderlich starkes Argument für eine Schreibstättenbestimmung. Da es sich bei dem Rechtsakt jedoch um einen kraft amtlicher Befugnis vollzogenen Schiedsspruch im Streit zweier Parteien handelt, nämlich des Hôtel-Dieu und eines säumigen Zinszahlers, schiene mir die Annahme einer Anfertigung durch den Begünstigten im Widerspruch zur erforderlichen Neutralität des bailli zu stehen. Dieses Argument gilt im übrigen auch für LBHD369 und LBSL339 sowie für die beiden jüngsten Urkunden aus der Serie, LBSL403 und LBHD503. (g) LBSL403 und LBHD503 wurden im Namen von Jean d’Avesnes ausgestellt, der im März 1415 noch garde du bailliage, also kommissarischer bailli war, im September desselben Jahres aber bereits als bailli fungierte. Die Urkunden wurden vermutlich von derselben Hand niedergeschrieben. 519 LBHD503 trägt unter der Plika die Unterfertigung eines gewissen „Piq{u}et“, der im Tenor allerdings nicht genannt wird. Die Datierungsformel von LBSL403 beinhaltet ausnahmsweise die Ortsangabe und präzisiert 517 Zum Wert der Zeugenliste für die Schreibortbestimmung vgl. auch Tock (1991, 223). 518 Zu graphischen Varianten vgl. die Zitate in Abb. 13; tironisches et vor „nous avons“ in LBHD479a beurteile ich als Lapsus. 519 Schreiber H in den Urkundensteckbriefen. - LBHD503 ist im Anhang III abgebildet (Abb. 41). 272 <?page no="285"?> den situativen Vollzugsrahmen der Rechtshandlung („qui fur{ent} f{ai}c- {t}es, donn{ees} {et} p{ro}nonc{ees} en jug{ement} en n{ost}re audi{cion} aud{it} Beauv{ais}“), wobei die formelhafte Referenz auf die ‘Anhörung’ der Parteien durch den bailli freilich keinen sicheren Rückschluß auf die genaueren Umstände der Niederschrift des Wortlauts der Urkunde erlaubt. Ansonsten finden sich keine Hinweise auf den redaktionellen Kontext der beiden Dokumente, die von den übrigen Stücken um einen Zeitraum von mindestens 25 Jahren abgesetzt sind. Es besteht aber auch kein Anlaß zu der Annahme, daß sie nicht, wie üblich, in der bischöflichen Kanzlei angefertigt wurden. Die späte Entstehungszeit, die nicht zuletzt im erkennbar standardisierten, durchaus kunstvollen visuellen Aspekt der beiden Stücke zum Ausdruck kommt, sowie die Identität der Schreiberhand sprechen vielmehr für einen festen institutionellen Rahmen. Auf die Frage, weshalb in der Korroborationsformel sowohl das persönliche Siegel von Jean d’Avesnes als auch das Amtssiegel der curia Belvacensis angekündigt werden, offenbar aber jeweils nur ein einziges Siegel (bei LBSL403 das persönliche Siegel von Jean) angebracht wurde, vermag ich in Ermangelung zeitgenössischer vom bailli ausgestellter Vergleichsurkunden leider keine Antwort zu geben. Soweit die sechzehn Stücke, deren Zuweisung zur bischöflichen Kanzlei ich aufgrund der genannten inneren und äußeren Merkmale für gut legitimierbar halte. Natürlich hat jedes der geltend gemachten Kriterien für sich genommen nur Indizienwert, und bei jeder Urkunde entscheidet letztlich die Kombination verschiedener Merkmale über die Plausibilität ihrer Zuordnung. Beweiskraft im strengen diplomatischen Sinn hat nur das paläographische Kriterium der identischen Schreiberhand; so gesehen können hier lediglich die unter (a) aufgeführten, von Renaud de Saint-Quentin unterfertigten Stücke sowie die beiden jüngsten Urkunden im Subkorpus, LBSL403 und LBHD503, mit Sicherheit der bischöflichen Kanzlei zugeordnet werden. Ich meine jedoch gezeigt zu haben, daß sich gerade bei den Urkunden des 14. und 15. Jahrhunderts auch anhand anderer diplomatischer Merkmale eine ausreichend überzeugende Indizienkette für eine institutionelle Zuordnung knüpfen läßt. Ohnehin ist selbst bei extremer Skepsis gegenüber einer - notgedrungen - probabilistisch verfahrenden Schreibstättenbestimmung 520 anzuerkennen, daß auch die auf einen bestimmten institutionellen Aussteller fokussierte Untersuchung von normativen Tendenzen in der Urkundenschriftlichkeit eine legitime und sinnvolle Fragestellung ist. Denn auch bei einer - nach dem 13. Jahrhundert zunehmend unwahrscheinlichen - Anfertigung einer Urkunde durch die begünstigte oder eine dritte Partei kann es, wie in Kap. 5.3 erläutert, aufgrund von Vorur- 520 Vgl. dazu grundlegend Tock (1991). 273 <?page no="286"?> kunden oder von sonstigen normativen Repräsentationen zur Orientierung an einer mit dem Aussteller assoziierten Tradition der materiellen und der sprachlichen Gestaltung gekommen sein. Die linguistische Untersuchung der Urkundentexte stellt unter diesem Aspekt ein wichtiges hermeneutisches Instrument dar, um die anhand von diplomatischen Kriterien tentativ vorgenommenen, probabilistischen Schreibortbestimmungen nach Möglichkeit zu bestätigen oder zu falsifizieren. Andererseits müssen die in der Skriptaforschung unvermeidbaren unsicheren Schreibortbestimmungen natürlich dadurch kompensiert werden, daß der aus den betreffenden Urkunden gewonnene sprachliche Befund im Zweifelsfall nicht überbewertet wird. Es bleiben die vier Dokumente CB182, LBHD406, LBSL374 und LBSL378, deren Zuordnung zur bischöflichen Kanzlei als institutioneller Schreibstätte argumentativ weniger gut abgesichert werden kann. Im Fall von LBSL374 erscheint sie sogar fragwürdig: (h) LBSL378 trägt auf der Plika die Unterfertigung eines im Tenor nicht genannten „Serveau“. Ansonsten finden sich keine Hinweise auf den redaktionellen Kontext. Die Korroborationsformel unterscheidet sich vom Text sowohl der chronologisch unmittelbar vorhergehenden als auch der chronologisch unmittelbar nachfolgenden Urkunde in der Serie, nämlich von LBSL377b (die ein Jahr zuvor ebenfalls im Namen von Guilbert Doublet ausgestellt und von Renaud de Saint-Quentin redigiert wurde) und von LBHD489. Wiederum erscheint unklar, weshalb in der Urkunde eine doppelte Besiegelung angekündigt, offenbar aber nur ein (nicht erhaltenes) Siegel angebracht wurde. (i) Bei CB182, dem ältesten Stück aus der Serie, finden sich ebenfalls keine Hinweise auf den redaktionellen Kontext. Zumal aufgrund des Alters der Urkunde kann eine Anfertigung durch den Begünstigten der Rechtshandlung, den prieuré de Wariville, nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. Allerdings schlägt auch Carolus-Barré (1964, CV und 322) die Urkunde ohne weiteren Kommentar dem geographischen Schreibort Beauvais - und damit auf institutioneller Ebene wohl implizit der bischöflichen Kanzlei - zu. (k) LBSL374 fällt sowohl durch einen vergleichsweise nüchternen Aspekt (sparsame Initialengestaltung, Siegel auf sogenannter attache parisienne 521 ) als auch durch einige Besonderheiten des Diktats auf. Interessant ist vor allem, daß der zunächst auf dem Pergament niedergeschriebene Text offenbar im Nachhinein an einigen Stellen ergänzt wurde, und zwar mit einer helleren Tinte, mit der auch die unterhalb des Textblocks hinterlassene Unterfertigung eines gewissen „Aulbin“ geschrieben worden zu 521 Vgl. Guyotjeannin/ Pycke/ Tock ( 3 2006, 91 und 214-216). 274 <?page no="287"?> sein scheint. Im einzelnen wurde ein l an die Präposition in „rue del Che- {va}l{ie}r“ angefügt; ein tironisches et wurde bei „ t{er}re {et} masure“ ergänzt. Der Name „Guiot“ wurde durch den Zusatz „la Caille“ ergänzt, wobei der Schreiber des ursprünglichen Texts bereits eine Lücke dafür gelassen hatte. Eine weitere Lücke im Text wurde durch „Jeh{an} d’Auchy bouleng{ie}r“ geschlossen, der, wie schon im ursprünglichen Text zu lesen ist, als Bevollmächtigter der Maladrerie Saint-Lazare auftrat, um von besagtem Guiot la Caille und dessen Grundherrn, Jean le Queux, die Erlaubnis einzuholen, auf deren Terrain einen Pfeiler zur Abstützung ihres Anwesens in der rue du Chevalier zu errichten. Weiterhin wurde einmal ein Subjektpronomen ils eingefügt sowie schließlich die gesamte Korroborations- und Datierungsformel (abgesehen vom ersten Wort, en) im Anschluß an den vorgeschriebenen Text: „En [Tout ce qui suit a été rajouté de l’encre plus claire.] tesmoing de ce, nous avonz mis n{ost}re seel à ces p{rese}ntes, qui furent f{ai}c{t}es {et} donn{ees} en nos plais [Long tiret en fin de ligne.], tenus par nous à Beauvés le m{er}credi premier jour de jullet, l’an mil .CCC.LXXVII./ / .“ - Angesichts der Tatsache, daß es sich bei der beurkundeten Rechtshandlung um keinen Schiedsspruch in einem Streit handelt, also nicht um einen Akt der juridiction contentieuse, sondern der freiwilligen Gerichtsbarkeit, nämlich die besagte Baugenehmigung, kann - trotz der relativ späten Entstehungszeit - meines Erachtens nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, daß LBSL374 bereits vom Begünstigten vorgeschrieben und anläßlich der plais, die der bailli in Beauvais hielt, korrigiert, komplettiert und abschließend korroboriert wurde. Zwar kann dieser Vermutung die Frage entgegengehalten werden, weshalb dann ausgerechnet der Name des bevollmächtigten Vertreters der Maladrerie Saint-Lazare im Tenor der Urkunde ergänzt werden mußte. Abgesehen von Jean le Queux und Guiot la Caille, von denen wohl nicht anzunehmen ist, daß sie über qualifiziertes Schreibpersonal verfügten, bieten sich aber lediglich der bailli als Aussteller oder die Maladrerie als Begünstigter für eine Schreibstättenzuweisung an. Jedenfalls gibt die Urkunde keinen Anhaltspunkt für die Intervention einer dritten Institution. Die Frage nach dem redaktionellen Milieu muß hier also offenbleiben. (l) LBHD406 stellt, wie oben angedeutet, einen Sonderfall dar, da die Urkunde während der Vakanz des Bischofsstuhls von zwei königlichen Beamten ausgestellt wurde, die in Beauvais vorübergehend die weltliche Gerichtsbarkeit ausübten. Der Name Lecourt, den die Unterfertigung auf der Plika zeigt („.SS.P. Lecourt .ss.dd.“) findet im Tenor des Rechtsakts keine Erwähnung. Von den vier zuletzt, unter Punkt (h) bis (l) besprochenen Urkunden können zwei lediglich unter Vorbehalt der bischöflichen Kanzlei als Schreibstätte zugeordnet werden (CB182 und LBSL378). LBHD406 ist unter besonderen institutionellen Rahmenbedingungen entstanden, wobei aber 275 <?page no="288"?> nicht auszuschließen ist, daß die vertretungsweise in Beauvais tätigen regalleurs sich des ortsansässigen Personals der bischöflichen Kanzlei bedienten; im Gegenteil spricht ja die Tatsache, daß die Urkunde das Siegel der curia episcopi trug, für eine enge institutionelle Zusammenarbeit. LBSL374 schließlich erscheint sowohl hinsichtlich der Pergamentzurichtung und des Layouts als auch redaktionell als recht ungewöhnliches Dokument. Es bleibt zu überprüfen, ob sich die festgestellten diplomatischen Besonderheiten auch auf sprachlicher Ebene bemerkbar machen. Die folgende tabellarische Übersicht zeigt die wichtigsten Ergebnisse der sprachlichen Auswertung für die neunzehn Originale aus der hier untersuchten Serie. 522 522 Auf pp. 289-291 finden sich drei Säulendiagramme zur Visualisierung der normativen Entwicklungen. Darin integriert sind bereits die Ergebnisse der Untersuchung von drei weiteren Urkunden (LBHD443, LBHD461 und LBHD512), die ich in Abschnitt 5.5.2 behandle. 276 <?page no="289"?> Urkunde CB182 LBHD369 LBHD379 LBSL339 LBHD406 Jahr 1285 1287 1288 1290 1301 Gesamtbelegzahl la/ ma/ ta/ sa oder le/ me/ te/ se 14 20 8 37 24 % le/ me/ te/ se von gesamt 79% 85% 88% 100% 25% Gesamtbelegzahl mask. Artikel li/ le(s) in CR- Funktion 5 8 8 10 6 % li von gesamt li/ le(s) 100% 75% 100% 100% 67% Gesamtbelegzahl <ch>/ <c>/ <s> 16 35 22 38 28 % <ch> von gesamt <ch>/ <c>/ <s> 75% 74% 95% 74% 64% % <ch> von frei variierend <ch>/ <c> oder <ch>/ <s> 92% 96% 100% 87% 75% 277 <?page no="290"?> Urkunde LBHD437 LBHD453 LBSL366 LBHD470 LBHD474 Jahr 1326 1347 1358 1368 1370 Gesamtbelegzahl la/ ma/ ta/ sa oder le/ me/ te/ se 20 20 17 21 38 % le/ me/ te/ se von gesamt 100% 25% 41% 24% 21% Gesamtbelegzahl mask. Artikel li/ le(s) in CR- Funktion 16 8 5 4 10 % li von gesamt li/ le(s) 75% 100% 0% 0% 0% Gesamtbelegzahl <ch>/ <c>/ <s> 46 41 43 32 69 % <ch> von gesamt <ch>/ <c>/ <s> 79% 71% 65% 81% 72% % <ch> von frei variierend <ch>/ <c> oder <ch>/ <s> 97% 100% 96% 100% 98% 278 <?page no="291"?> Urkunde LBSL372 LBSL374 LBHD479a LBSL373b LBSL377b Jahr 1375 1377 1377 [1376- 1378] 1380 Gesamtbelegzahl la/ ma/ ta/ sa oder le/ me/ te/ se 15 12 15 5 5 % le/ me/ te/ se von gesamt 13% 50% 20% 60% 60% Gesamtbelegzahl mask. Artikel li/ le(s) in CR- Funktion 13 7 9 1 1 % li von gesamt li/ le(s) 0% 0% 22% [100%] [100%] Gesamtbelegzahl <ch>/ <c>/ <s> 39 25 47 6 6 % <ch> von gesamt <ch>/ <c>/ <s> 72% 24% 64% 100% 0% % <ch> von frei variierend <ch>/ <c> oder <ch>/ <s> 100% 33% 97% 100% 0% 279 <?page no="292"?> Urkunde LBSL378 LBHD489 LBSL403 LBHD503 Jahr 1381 1390 1415 1415 Gesamtbelegzahl la/ ma/ ta/ sa oder le/ me/ te/ se 45 29 20 31 % le/ me/ te/ se von gesamt 4% 3% 0% 3% Gesamtbelegzahl mask. Artikel li/ le(s) in CR- Funktion 12 11 26 5 % li von gesamt li/ le(s) 0% 0% 0% 0% Gesamtbelegzahl <ch>/ <c>/ <s> 43 69 55 24 % <ch> von gesamt <ch>/ <c>/ <s> 2% 4% 0% 0% % <ch> von frei variierend <ch>/ <c> oder <ch>/ <s> 3% 6% 0% 0% Abb. 14: Zentrale Ergebnisse der sprachlichen Auswertung der Urkunden der weltlichen Gerichtsbarkeit des Bischofs von Beauvais Es zeigt sich, daß die drei untersuchten sprachlichen Merkmale nicht zur gleichen Zeit vom Normenwandel erfaßt wurden: Bei den femininen Determinanten und Objektpronomen zeichnet sich eine Trendwende bereits in der Urkunde LBHD453, 1347 ab, die nur noch einen Wert von 25% für die pikardischen Varianten le/ me/ te/ se aufweist (zum Sonderfall LBHD406, 1301 s.u.). Bis einschließlich LBSL377b, 1380, also während eines Zeitraums von über drei Jahrzehnten, bewegen sich die Werte für le/ me/ te/ se aber noch durchweg im zweistelligen Prozentbereich (zu den relativ hohen Werten bei LBSL374, LBSL373b und LBSL377b s.u.); erst mit LBSL378, 1381 erfolgt - zumindest in diesem Subkorpus - der endgültige Einbruch auf Werte von 0% oder nur knapp darüber. 280 <?page no="293"?> Dagegen scheint die typisch südwestpikardische Graphie <ch> bis zur zweiten Hälfte der 1370er Jahre noch ziemlich stabil gewesen zu sein. Zwar sind geringfügige Schwankungen bereits vor dieser Zeit zu beobachten, und inbesondere unter Berücksichtigung des latinisierenden Fachwortschatzes und positionell gebundener Graphien ist auch für die älteren Urkunden ein gewisser Mindestanteil von <c>- oder <s>-Schreibungen zu verzeichnen (ca. 25% als arithmetisches Mittel der Werte von CB182, 1285 bis LBSL372, 1375). Doch erst die Urkunde LBSL374, 1377, die wir oben als redaktionellen Sonderfall mit sehr unsicherer Schreibstättenzuordnung dargestellt haben, zeigt einen gegenüber den früheren Texten deutlich reduzierten Anteil an <ch>-Graphien im Bereich der lexematisch freien Okkurrenzen von lediglich 33% (andererseits verhält sich LBSL374 im Bereich der femininen Determinanten mit einem Variantenverhältnis von eins zu eins noch vergleichsweise konservativ). Erstaunlich ist, daß ein extremer Unterschied in der Behandlung des graphischen Merkmals zwischen LBSL373b, [1376-1378] und LBSL377b, 1380 besteht, wo doch beide Urkunden die Unterfertigung von Renaud de Saint-Quentin tragen und von derselben Hand niedergeschrieben wurden. Auch LBHD474, 1370, die erste Originalurkunde aus der Renaud zugeordneten Serie, weist einen überaus konservativen Anteil von 98% für lexematisch frei variierendes <ch> auf, so daß man anzunehmen geneigt ist, daß der Schreiber innerhalb kürzester Zeit seine Graphiegewohnheit radikal umgestellt hat. Insofern scheint der normative Wandel von <ch> zu <c> oder <s> als präferierten Varianten nicht nur mindestens dreißig Jahre später stattgefunden zu haben als die Trendwende zugunsten von la/ ma/ ta/ sa 523 , sondern auch in ungleich radikalerer Form (zum Sonderfall LBHD406 s.u.). Eine Parallele zwischen den während eines Zeitraums von mindestens drei Jahrzehnten zunehmend rückläufigen pikardischen Determinantenformen le/ me/ te/ se und der zwischen 1375 und 1380 im Bereich des Erbwortschatzes mehr oder weniger abrupt aufgegebenen <ch>-Schreibung besteht freilich insofern, als nach 1380 beide pikardische Merkmalsausprägungen in den hier untersuchten Urkunden so gut wie nicht mehr nachzuweisen sind. Es könnte also kurz vor dem Jahr 1380 zur definitiven und ausnahmslosen Durchsetzung eines gewandelten Normbewußtseins gekommen sein, das nichtsdestoweniger im Bereich der pikardischen Determinantenformen, die spätestens seit 1350 523 Aufgrund der hier zugrundegelegten Daten ist festzustellen, daß die Trendwende von le/ me/ te/ se zu la/ ma/ ta/ sa spätestens gegen Ende der 1340er Jahre stattgefunden hat; sie kann aber auch schon zu einem bis zu einundzwanzig Jahre früheren Zeitpunkt eingetreten sein, denn die letzte der älteren vom bailli ausgestellten Urkunden, mit der wir LBHD453 als erstes in der Behandlung der femininen Determinanten progressives Dokument vergleichen können, ist LBHD437 aus dem Jahr 1326. 281 <?page no="294"?> nach und nach abgebaut wurden, sich schon seit längerem angebahnt hatte. 524 Das Flexionsmerkmal beim maskulinen Artikel ist wiederum einem anderen normativen Rhythmus gefolgt. Hier nämlich scheint es um die Mitte des 14. Jahrhunderts zu einem totalen Zusammenbruch gekommen zu sein (vgl. LBHD453 vs. LBSL366; zu den Werten von LBHD479a, LBSL373b und LBSL377b s.u.), was den Schluß nahelegt, daß die Zweikasusflexion von den in der bischöflichen Kanzlei tätigen Diktatoren und Schreibern ab ca. 1350 nicht mehr als normgerecht empfunden wurde - und dies gewissermaßen über Nacht. Dieser Befund kann als starkes Indiz für die Richtigkeit der in Kap. 5.4.2 erläuterten These gelten, wonach der in den spätmittelalterlichen Manuskripten dokumentierte Abbau der Nominalflexion nicht auf einen - gewissermaßen in Echtzeit festgehaltenen - typologischen Wandel hindeutet, der eine Region nach der anderen kontinuierlich erfaßt hätte. Die Daten sprechen vielmehr für die bewußte Aufgabe eines plötzlich nicht mehr als zeitgemäß angesehenen schriftsprachlichen Konservatismus, dem wohl schon seit längerem keine morphosyntaktische Realität mehr in den mündlichen Varietäten entsprach (auch LBHD369, LBHD406 und LBHD437 zeigen ja schon Ansätze zu einer progressiveren Handhabung der Zweikasusflexion; s.u.). Insofern ist das Flexionsmerkmal des Artikels hier streng von den beiden anderen untersuchten Phänomenen zu unterscheiden. Denn daß die Varianten le/ me/ te/ se und die <ch>-Schreibung ein schriftsprachlicher Reflex der in der Pikardie gesprochenen Sprache waren, kann aufgrund unserer Kenntnis der modernen Dialekte als unzweifelhaft gelten. Dagegen scheint die in den älteren Urkunden noch regelmäßig auftretende Zweikasusflexion gerade kein Phänomen der spezifisch pikardischen, dialektalen Grammatik widerzuspiegeln. Sie steht vermutlich für ein gelehrtes, schriftkulturelles Traditionsbewußtsein, dessen Existenz sich im Spätmittelalter wohl regional auf den Nordosten Frankreichs eingrenzen läßt, das aber nicht auf der Grundlage der damals in diesen Gebieten gesprochenen Varietäten, sondern vielmehr in klarer Abgrenzung davon gepflegt worden 524 Die residualen <ch>-Okkurrenzen in den späten Urkunden LBSL378, 1381 und LBHD489, 1390 sind „le thierche fois“ (interessanterweise in Verbindung mit le) bzw. „elle le rechut“ (hier könnte le ein feminines Pronomen sein; die Referenz ist kontextuell aber nicht eindeutig, weshalb der Beleg nicht gezählt wurde; allerdings kommt le einmal eindeutig als feminines Objektpronomen in dieser Urkunde vor), „renoncerent en che yce fait“ (in dieser seltsamen Doppelung der Demonstrativa) und „machonnerie“ (vs. „maçonneries“ in der gleichen Urkunde). 282 <?page no="295"?> sein dürfte. Es handelte sich also weder um ein spezifisch pikardisches noch um ein dialektal-sprechsprachliches Phänomen. 525 Im übrigen können die Relikte der Artikelflexion, die hier in drei nach 1350 verfaßten Urkunden auftreten (LBHD479a, LBSL373b und LBSL377b), leicht als archaisierende Stilphänomene ausgemacht werden (da in LBSL373b und LBSL377b überhaupt nur je eine Okkurrenz vorkommt, habe ich die scheinbaren Extremwerte von 100% in Abb. 14 eingeklammert): in LBHD479a, einer auf Lebenszeit befristeten Mietvereinbarung, steht zweimal die Formel „tant {et} si longuement co{m}[m]e [ilz viveront {et}] li uns d’eulz vivera“ (Varianten in eckigen Klammern); in LBSL373b und LBSL377b steht jeweils die Formel „li[ ]quelz recognut {et} af[f]erma en verité“ (Graphievarianten in eckigen Klammern). Der demgegenüber langsamere, mehr oder weniger kontinuierlich fortschreitende Abbau von le/ me/ te/ se zugunsten von überregionalem la/ ma/ ta/ sa mag dadurch erklärbar sein, daß die pikardischen Varianten in der gesprochenen Sprache - ganz ungeachtet ihrer sukzessiven Verdrängung aus der Schriftlichkeit - selbstverständlich nach wie vor gebraucht wurden. Nichtsdestoweniger lassen sich relativ hohe Werte für die pikardischen Varianten in Texten jüngeren Datums ebenfalls zu einem beträchtlichen Anteil durch besondere, teils formelhafte Kontexte erklären: zwei von sechs Okkurrenzen in LBSL374 gehen zum einen auf „le Maison Dieu Saint Ladre de Beauvés“ und zum anderen auf einen Straßennamen zurück („le rue del Che{va}l{ie}r de Beauvés“); zwei von drei Okkurrenzen in LBHD479a finden sich in der Ankündigung des Amtssiegels in der Korroborationsformel: „seel de le court de le comté de Beauvés“. In LBSL373b und LBSL377b sind jeweils alle drei Okkurrenzen auf „clerc tabellion juré de le court de Beauvés“ und auf die formelhafte Siegelankündigung (vgl. LBHD479a) zurückzuführen. Und auch die beiden Okkurrenzen in LBSL372 gehen auf „seel de le court de le comté de Beauvés“ zurück. - All diese Verwendungen sind aufgrund ihrer Formelhaftigkeit oder aufgrund ihres Bezugs auf unikale, namentlich genannte Referenten aus dem alltagsweltlichen Erfahrungshorizont der Stadt Beauvais (‘die Ritterstraße’, ‘die 525 Dieses Fazit steht in diametralem Gegensatz zu der von Van Reenen/ Schøsler (2000, 332 und passim) vertretenen Auffassung, wonach es um 1300 in den nordöstlichen Gebieten des domaine d’oïl zu einer ‘Verstärkung’ („reinforcement“) der Nominalflexion auf dialektaler - und in der Folge auch auf skripturaler - Ebene gekommen sei. Angesichts meiner Korpusbefunde scheint mir Van Reenens und Schøslers Interpretation der Diatopik und der Diachronie der Zweikasusdeklination ein Lehrbeispiel dafür zu sein, zu welch weitreichenden Fehleinschätzungen eine nur gesamthaft verfahrende, nicht weiter nach philologischen und textpragmatischen Kriterien differenzierende Auswertung historischer Großkorpora à la Dees (1980) führen kann. Die Behauptung, die unterschiedliche Behandlung der Zweikasusflexion in den Regionalskriptae sei dialektal fundiert, wird bei Schøsler (2013, 177f.) aufrechterhalten. 283 <?page no="296"?> Maladrerie Saint-Lazare’ - und wohl auch ‘die cour du comté’) als Sonderfälle einzustufen. Der Gebrauch des Artikels in Verbindung mit den vermutlich auch in der gesprochenen Sprache geläufigen Namen derart lokaltypischer, einmaliger Referenten hat zweifelsohne die Wahl der pikardischen Variante nahegelegt. 526 Was die oben als redaktionell ungewöhnlich beschriebene Urkunde LBSL374 angeht, so bestätigt die sprachliche Untersuchung in der Tat eine gewisse Sonderstellung des Dokuments. Während nämlich der Anteil von le/ me/ te/ se gegenüber la/ ma/ ta/ sa mit 50% für die Entstehungszeit noch verhältnismäßig hoch ist, liegen die Werte im Bereich der frei variierenden <ch>-Schreibungen mit 33% relativ niedrig. Überhaupt ist die Urkunde die einzige, die keine extrem hohen oder extrem niedrigen Werte für frei variierendes <ch> aufweist, sondern von einer gewissen Inkonsequenz bei der Behandlung des Merkmals zeugt. Eine Erklärung für das sprachliche Verhalten ist aus den Umständen des beurkundeten Rechtsgeschäfts jedoch nicht abzuleiten; andererseits vermag der sprachliche Befund die redaktionellen Besonderheiten, die das Dokument kennzeichnen, nicht weiter zu enträtseln. Eine letzte Bemerkung zur Urkunde LBHD406, die ich oben ebenfalls schon als Sonderfall eingestuft habe (vgl. auch Abb. 35 im Anhang III): Obwohl sie älteren Datums ist (August 1301), zeigt sie sich teilweise in der Behandlung der Artikelflexion (nur 67% für li) und vor allem beim verhaltenen Einsatz von le/ me/ te/ se (nur 25%) ‘unpikardisch-progressiv’; selbst in der Korroborationsformel steht „le seel de la court de la conté de Biauvais“. Ihre Sprache entspricht also nicht der Norm, die für die bischöfliche Kanzlei (und wohl für Beauvais im allgemeinen) um 1300 zu erwarten wäre. Ich habe bereits erläutert, daß die Urkunde während der Vakanz des Bischofsstuhls von zwei königlichen Beamten, sogenannten „regalleurs“, ausgestellt wurde. Die bevorzugte Wahl der überregionalen, in der Wahrnehmung der beiden Aussteller diatopisch unmarkierten Varianten kann mithin durch eine besondere behördliche Situation erklärt werden, wobei vorstellbar ist, daß der Schreiber, der das Diktat aufgenommen hat (vermutlich ein gewisser Lecourt, dessen Unterfertigung sich auf der Plika findet), unter anderen Umständen eine pikardische Graphie bevorzugt hätte (sofern er denn ortsansässig war). Als interessant erweist sich in diesem Zusammenhang auch ein Blick auf den zeitgenössischen Dorsualvermerk, den die Urkunde trägt und mit dem sie vor ihrer Archivierung, wahrscheinlich durch einen Angehörigen der Maison-Dieu, versehen wurde: „Le 526 In LBSL378, 1381 steht le in „le p{re}mie{re} fois“ und „le thierche fois“ (vs. „la seconde fois“); in LBHD489, 1390 steht le als direktes Objektpronomen in „qui sur tout ce qui ensieut le [c’est-à-dire ‘sa femme’; Leblond (1919, 682) donne ici la] licencia {et} auctorisa“; in LBHD503, 1415 steht „au t{er}me de le S{ain}t Remy“. 284 <?page no="297"?> lestre de .iii. maison{s} qui su{n}t en le rue Saint Martin“. Während die Urkunde selbst also in einem zur Überregionalität tendierenden Französisch niedergeschrieben wurde, erfolgte ihre Archivierung in einer orts- und zeittypischen Skripta, unter ausschließlicher Verwendung der pikardischen Variante des femininen Artikels. 5.5.2 Urkunden des Bischofs von Beauvais Das Korpus beinhaltet drei Urkunden, die im Namen des Bischofs von Beauvais ausgestellt wurden. In LBHD443, 1329 und LBHD461, 1361 ist der Bischof alleiniger Aussteller und Siegler (das Siegel von LBHD443 ist nicht erhalten). In LBHD512, 1441 tritt der Bischof als Mitaussteller neben dem Hôtel-Dieu auf; die Urkunde trägt auch das Siegel beider ausstellender Parteien. Bei allen drei Rechtsakten handelt es sich um außergerichtliche Beilegungen eines sich anbahnenden Konflikts. Doch nur in LBHD443 tritt der Bischof als neutrale Instanz auf, indem er einen zwischen dem Hôtel-Dieu und dem Hôpital Saint-Thomas des Pauvres Clercs getroffenen Kompromiß bestätigt: (11) ((S))ache{n}t tout que par devant ((n))ous / . {com}me par devant justiche / . vinrent les dictes parties / . en leurs p{ro}pres personnes,/ / . et du dit descort / . {et} debat / . recognurent et confesserent / . eauls avoir fait accort./ / . [...] ((L))e quel accort les dictes p{ar}ties promirent en parole de prestre / . et par l’obligacion de tous leurs biens à-tenir / . et à warder / . et non venir encontre ou temps avenir; / / . et le quel accort, en tant {com}me en nous est,/ / . touque ou puet touquier pour cause des dictes Maisons,/ / . ((n))ous voulons,/ / . loons,/ / . ratefions,/ / . aggreons / . et par le teneur de ches presentes lettres approuvons./ / . (LBHD443, 1329) Die Tatsache, daß der Bischof hier sowohl als unparteiischer Aussteller fungiert, dessen Autorität für die Gültigkeit der zwischen den Hospitälern getroffenen Übereinkunft bürgen soll, als auch als Urheber einer Rechtshandlung, indem er den Kompromiß ratifiziert, kann als Indiz für die Anfertigung von LBHD443 durch die bischöfliche Kanzlei geltend gemacht werden. 527 Ferner sticht das Dokument durch eine außerordentlich kunst- 527 Tock (1991, 221) hat für ein Korpus von lateinischen Bischofsurkunden aus Arras die weitgehende Gültigkeit einer zuvor an der Diözese Lüttich erprobten Faustregel bestätigt, wonach vom Bischof ausgestellte Urkunden, in denen dieser als Urheber einer Rechtshandlung auftritt, sehr häufig von der bischöflichen Kanzlei angefertigt wurden. Freilich beziehen sich Tocks Untersuchungen auf das 12. Jahrhundert, und selbst wenn man von dem großen zeitlichen Abstand zu den hier untersuchten Stücken absehen möchte, ist ungewiß, ob die in Arras und in Lüttich gepflegten Traditionen in gleicher Form jemals für Beauvais gegolten haben. 285 <?page no="298"?> volle, mit keinem anderen der zeitgenössischen Dokumente aus dem Korpus vergleichbare Urkundenschrift heraus, so daß ihre äußeren Merkmale sich als Ausdruck des bischöflichen Repräsentationsanspruchs interpretieren lassen. 528 In den beiden späteren Urkunden tritt der Bischof selbst als Partei im Konflikt mit dem Hôtel-Dieu auf, weshalb die Annahme einer Anfertigung durch den Begünstigten (LBHD461) bzw. den Mitaussteller (LBHD512) oder gar durch eine dritte Instanz nicht prinizipiell ausgeschlossen werden kann. - LBHD512 ist ein besonderes Dokument, da es sich um eine Urkunde im strengen Wortsinn (charte) handelt; das Protokoll nennt nämlich lediglich die Aussteller (intitulatio) und beinhaltet keine Adresse und keinen Gruß wie die übrigen, im Briefstil verfaßten Dokumente des 14. und 15. Jahrhunderts (lettres), die mein Korpus beinhaltet: (12) ((N))ous, Jehan par la permission divine evesque et conte de Beauvais, vidame de Gerberroy et per de France, et les maistre, freres et seurs [sic] de l’Ostel Dieu de Beauvais, savoir faisons à tous p{rese}ns et àvenir ... (LBHD512, 1415) Diese für das 15. Jahrhundert recht ungewöhnliche stilistische Option bringt einen hohen repräsentativen Anspruch zum Ausdruck. Unter diesem Aspekt erscheint eine Anfertigung des - auch visuell sehr sorgfältig gestalteten - Dokuments durch die bischöfliche Kanzlei wahrscheinlich, wenngleich dem formalen Anspruch einer Bischofsurkunde wohl auch im Fall einer Anfertigung durch das Hôtel-Dieu Genüge getan worden wäre. LBHD461 sticht hinsichtlich der äußeren Merkmale nicht aus den zeitgenössischen Dokumenten heraus. Für eine Zuweisung zur bischöflichen Kanzlei spricht allerdings die Tatsache, daß im Tenor auf eine Petition angespielt wird, mit der das Hôtel-Dieu den Bischof nach erfolglosen Vorverhandlungen mit dessen bevollmächtigtem Vertreter um förmliche Stellungnahme - und damit um Beilegung des Konflikts - ersucht hatte. Entsprechend tritt der Bischof in der in seinem Namen ausgestellten Urkunde, durch die dem Hôtel-Dieu die fraglichen Rechte zuerkannt werden, als alleiniger Urheber der Rechtshandlung auf, was mit Tock (1991; vgl. meine Anm. 527) als Indiz für eine Anfertigung durch die bischöfliche Kanzlei gewertet werden kann: (13) ... et derrainem{en}t / . n{ost}re p{ro}cur{eur} disant le contraire [de ce qu’avaient dit les religieux; K.G.],/ / . et sur ce par aucuns de nos gens 528 Mit Lieftinck (1954) wäre von einer sogenannten cursiva formata zu sprechen, also von einem Schrifttyp, dessen Leitformen zwar die Kriterien der das alltägliche Geschäftsschrifttum kennzeichnenden Kursivität erfüllen, der aber mit derartiger Regelmäßigkeit und Sorgfalt ausgeführt wird, daß das Ergebnis beinahe gebaut und gleichförmig wirkt wie ansonsten nur eine Buchschrift. Vgl. dazu auch Abb. 37 im Anhang III. 286 <?page no="299"?> heust esté faite informacion, sanz le cose ou debat mettre à fin,/ / . si co{m}me les dis maist{re}s,/ / . frerez {et} sereurs disoie{n}t,/ / . supplianz sur che p{ar} no{us} estre p{our}vueus [sic] dehuem{en}t./ / . ((S))achent tout q{ue} nous, desirant le bien {et} le p{our}fist du dit Hostel,/ / . et q{u}i [Leblond (1919, 631): que] volons ycheux demourer en pais / . et finer yceux debas, heue delib{er}acion sur les choses dess{us} dites,/ / . avons ordené {et} ordenons {et} enssem{en}t [Leblond (1919, 631): ensemblement] ottroyons aus dis maistre, freres {et} sereurs q{ue} d’ores en ava{n}t {et} à tous jours, eulx {et} leurs successeurs puissent franq{ue}ment {et} sans contredit ... (LBHD461, 1361) Andererseits kann die vom Hôtel-Dieu eingereichte Bittschrift auch teilweise als Vorlage für das Diktat der Bischofsurkunde gedient haben. 529 Es bleibt festzuhalten, daß die redaktionelle Zuweisung zur bischöflichen Kanzlei in allen drei Fällen eine sehr naheliegende Option darstellt, zumal der Bischof zweifelsohne das im Vergleich zum Hôtel-Dieu größere und besser organisierte Schreibbüro unterhielt. Bei LBHD443 erscheint die Zuordnung aufgrund der Umstände des Rechtsakts und der auffälligen äußeren Gestaltung des Schriftstücks besonders wahrscheinlich. Letztlich kann aber in keinem der drei Fälle mit völliger Gewißheit von einer Anfertigung durch die bischöfliche Kanzlei ausgegangen werden, da Kanzleivermerke fehlen, die eindeutig auf den redaktionellen Kontext schließen ließen, und da keine ungefähr zeitgleich entstandenen bischöflichen Vergleichsurkunden vorliegen. Eine Schreibstättenbestimmung kann daher nur unter Vorbehalt erfolgen. Jedenfalls ist die kommunikative Konstellation, die den beurkundeten Rechtshandlungen jeweils zugrunde liegt, als ähnlich zu beurteilen, denn alle drei Urkunden wurden vom Bischof ausgestellt, und in allen drei Urkunden tritt das Hôtel-Dieu entweder als Begünstigter oder als Mitaussteller auf. Unter diesem Aspekt erscheint mir ein diachroner linguistischer Vergleich der drei Dokumente auch unter vorsichtigem Verzicht auf eine definitive Schreibstättenzuweisung sinnvoll. Die Ergebnisse der sprachlichen Auswertung entsprechen denn auch den normativen Trends, die bei der Untersuchung der Urkunden der weltlichen Gerichtsbarkeit des Bischofs erkennbar wurden. Zum visuellen Abgleich habe ich die Ergebnisse der Auswertung der drei Bischofsurkunden und die in Abschnitt 5.5.1 besprochenen Werte für die Urkunden der weltlichen Gerichtsbarkeit in drei Säulendiagrammen nebeneinandergestellt. Daraus ist allerdings nicht abzuleiten, daß ich letztlich doch mit einiger Sicherheit davon ausgehe, daß die insgesamt 22 Stücke in derselben Schreibstätte entstanden sind; der visuelle Eindruck soll lediglich die linguistische Plausibiliät der - diplomatisch nicht restlos abzusichernden - Annahme illustrieren, daß wahrscheinlich die große Mehrheit der unter- 529 Vgl. zu derartigen Fällen Tock (1991, 216f.). 287 <?page no="300"?> suchten Dokumente einem gemeinsamen redaktionellen Hintergrund entstammt. Urkunde LBHD443 LBHD461 LBHD512 Jahr 1329 1361 1441 Gesamtbelegzahl la/ ma/ ta/ sa oder le/ me/ te/ se 27 9 22 % le/ me/ te/ se von gesamt 96% 56% 0% Gesamtbelegzahl mask. Artikel li/ le(s) in CR- Funktion 8 7 9 % li von gesamt li/ le(s) 88% 0% 0% Gesamtbelegzahl <ch>/ <c>/ <s> 21 31 28 % <ch> von gesamt <ch>/ <c>/ <s> 90% 48% 0% % <ch> von frei variierend <ch>/ <c> oder <ch>/ <s> 100% 68% 0% Abb. 15: Zentrale Ergebnisse der sprachlichen Auswertung der Urkunden des Bischofs von Beauvais 288 <?page no="301"?> Abb. 16: Feminine Determinanten und direktes feminines Objektpronomen (Kap. 5.5) - prozentualer Anteil von le/ me/ te/ se 289 <?page no="302"?> Abb. 17: Zweikasusflexion des maskulinen bestimmten Artikels (Kap. 5.5) - prozentualer Anteil von li/ ly in CR-Funktion 290 <?page no="303"?> Abb. 18: Graphien <ch> vs. <c> vs. <s> (Kap. 5.5) - prozentualer Anteil von <ch> an der Gesamtsumme der Belege und an der Summe lexematisch frei variierender Belege 291 <?page no="304"?> Auffällig erscheint lediglich, daß in LBHD461 - ähnlich, wie oben für LBSL374 festgestellt wurde - sowohl im Bereich der femininen Determinanten und Objektpronomen als auch beim graphischen Merkmal <ch> vs. <c>/ <s> relativ stark zwischen (südwest)pikardischen und überregionalen Formen gemischt wird, wobei im Text aber keine systematische Verteilung der Varianten festzustellen ist. 530 Auch läßt sich kein Zusammenhang zwischen diesem (marginalen) Befund und den diplomatischen Merkmalen der Urkunde herstellen, weshalb ich hier nur knapp die in Abschnitt 5.5.1 dargestellten Beobachtungen zum unterschiedlichen Verlauf des Normenwandels in Abhängigkeit von den drei untersuchten Merkmalen wiederholen kann. Der Vergleich zwischen LBHD443 und LBHD461 zeugt von der Radikalität, mit der die - nicht spezifisch pikardische - Artikelflexion um die Mitte des 14. Jahrhunderts aufgegeben wurde; dagegen erscheinen die typisch pikardischen Formen im Bereich der femininen Determinanten und der <ch>/ <c>/ <s>-Schreibung auch im Jahr 1361 noch einigermaßen vital gewesen zu sein. Gegen Mitte des 15. Jahrhunderts (LBHD512) sind freilich überhaupt keine pikardischen Skriptavarianten mehr nachweisbar. 5.6 Korpusauswertung (II): Urkunden aus dem Ressort der königlichen Verwaltung und Rechtssprechung Ich möchte hier anders verfahren als bei den wahrscheinlich der bischöflichen Kanzlei zuzuordnenden Stücken und zunächst die Ergebnisse der linguistischen Untersuchung von sechzehn Urkunden vorstellen, die vermutlich aus dem Ressort von fünf unterschiedlichen Instanzen der königlichen Verwaltung und Rechtssprechung stammen. Erst in einem weiteren Schritt sollen die sprachlichen Auffälligkeiten unter Bezugnahme auf die diplomatischen Merkmale und den institutionellen Hintergrund der Texte besprochen werden. Ich gehe hier also vom sprachlichen Befund aus, nicht vom diplomatisch-institutionengeschichtlichen wie in Kapitel 5.5. Diese Vorgehensweise ist zum einen der Tatsache geschuldet, daß die im folgenden zu behandelnden Urkunden aus dem Bereich der königlichen Administration von keinem ähnlich tiefgreifenden Normenwandel zeugen wie die in 5.5 untersuchten, wahrscheinlich größtenteils aus der bischöflichen Kanzlei hervorgegangenen Texte. Eine genauere, auf diplomatischen Kriterien beruhende Untersuchung des sprachlichen Befunds erscheint somit nur bei einzelnen, variationell auffälligen Urkunden notwendig. Zum anderen können die sechzehn hier behandelten Stücke wohl institutionell 530 Vgl. etwa „sur ce q{ue}“, „yceux debas“, „c{er}tiffier“ vs. „ches p{rese}ntes l{ett}res“, „sur che“, „ch{er}teffier“ sowie „par la grace de Dieu“, „en la d{i}c{t}e maison“, „la d{i}c{t}e vente“ vs. „le porte“, „le cose“, „le d{i}c{t}e Maison Dieu“. 292 <?page no="305"?> mit dem königlichen Verwaltungsapparat in Verbindung gebracht werden; aufgrund ihrer mutmaßlichen Herkunft aus fünf unterschiedlichen Instanzen der weitverzweigten königlichen Zentralverwaltung können jedoch die diplomatischen Indizien, die auf den Entstehungskontext der Dokumente schließen lassen, nicht zu einer derart einheitlichen und konkreten Vorstellung gebündelt werden, wie dies im Bereich der bischöflichen, allein auf Beauvais und - in redaktioneller Hinsicht - auf die bischöfliche Kanzlei konzentrierten Institutionen möglich war. Während die in Beauvais angesiedelte bischöfliche Verwaltung nämlich den angestammten Kernbereich der feudalherrschaftlichen Machtausübung innerhalb des Fürstbistums bediente, handelt es sich bei den im Korpus bezeugten Interventionen der königlichen Zentralmacht zumeist um punktuelle Eingriffe, die im Rahmen sehr spezifischer feudalrechtlicher Zusammenhänge erfolgten und deren vertiefte Untersuchung für meine linguistische Arbeit nur dann Sinn macht, wenn der historische Hintergrund von unmittelbarem Interesse für die Erklärung eines auffälligen sprachlichen Befunds ist. Eine relativ homogene Serie stellen lediglich acht Urkunden der königlichen Rechtssprechung dar, die zwischen 1380 und 1437 vom Siegelbewahrer oder vom lieutenant des prévôt d’Angy ausgestellt wurden. Hier ist vermutlich von einer zumindest zeitweisen physischen Präsenz eines Repräsentanten der königlichen Zentralgewalt in Beauvais auszugehen. Dementsprechend lassen sich innerhalb dieser Serie auch in bescheidenem Rahmen bestimmte Aussteller und Schreiberhände identifizieren. Wie oben (Anm. 501) erwähnt, ist die Frage nach den genauen historischen Umständen der Interventionen von Beamten der prévôté d’Angy in Beauvais aber bis heute nicht letztgültig geklärt. 531 Jedenfalls steht fest, daß die gens du roi während des hier interessierenden Zeitraums entweder nur vorübergehend und subsidiär in Beauvais agierten (vgl. dazu auch das bereits unter 5.5.1 behandelte Beispiel der von zwei regalleurs ausgestellten Urkunde LBHD406, 1301) oder gar aus größerer räumlicher Entfernung mit einem in Beauvais ansässigen Adressaten kommunizierten. Die Frage nach einer festen, auch geographisch identifizierbaren königlichen Schreibstätte erweist sich somit entweder als hinfällig, oder sie überschreitet den territorialen Fokus meiner Untersuchung. Deshalb kann ich hier nicht mit dem Begriff der ‘Kanzlei’ im Sinn eines 531 Vgl. Doyen (1842, Bd. I, XCIV-XCVI); Labande [1892] (1978, 252-256 und 282f.); Carolus-Barré (1952a, 102, Anm. 3). Die umfassendsten Informationen zur königlichen Verwaltung und Rechtssprechung im bailliage de Senlis bietet die überaus detailreiche Studie von Guenée (1963). Grundlegend zur Institutionengeschichte der königlichen bailliages und sénéchaussées sind Dupont-Ferrier (1902) sowie der siebenbändige, monumentale Katalog der Gallia regia (= Dupont-Ferrier 1942/ 1942/ 1947/ 1954/ 1958/ 1961/ 1966). 293 <?page no="306"?> lokal etablierten Schreibbüros argumentieren und muß mich im wesentlichen auf die Feststellung von rekurrenten kommunikativen Konstellationen in den überlieferten Rechtsakten beschränken. Es folgt eine tabellarische Übersicht über die Ergebnisse der sprachlichen Auswertung der sechzehn für dieses Kapitel zugrundegelegten Urkunden. Im Anschluß daran finden sich wiederum drei Säulendiagramme, die einen visuellen Eindruck von der normativen Lage im Subkorpus vermitteln (die Abkürzung „k.W.“ steht darin für Fälle, in denen mangels Textbelegen kein Wert ermittelt werden konnte). Nach einer kurzen globalen Interpretation des sprachlichen Befunds werde ich unter 5.6.1 bis 5.6.3 gesondert auf die Texte zu sprechen kommen, deren variationelles Profil sich (geringfügig) vom allgemeinen Trend abhebt. Urkunde LBHD397 LBHD444 LBHD445a LBHD445b Jahr 1294 1329 1336 1336 Gesamtbelegzahl la/ ma/ ta/ sa oder le/ me/ te/ se 5 16 13 5 % le/ me/ te/ se von gesamt 0% 0% 0% 0% Gesamtbelegzahl mask. Artikel li/ le(s) in CR- Funktion 0 4 2 0 % li von gesamt li/ le(s) - 25% 0% - Gesamtbelegzahl <ch>/ <c>/ <s> 9 48 24 9 % <ch> von gesamt <ch>/ <c>/ <s> 0% 0% 0% 0% % <ch> von frei variierend <ch>/ <c> oder <ch>/ <s> 0% 0% 0% 0% 294 <?page no="307"?> Urkunde LBHD446 LBHD477 LBSL1377a LBSL387 Jahr 1336 1375 1380 1402 Gesamtbelegzahl la/ ma/ ta/ sa oder le/ me/ te/ se 3 4 23 16 % le/ me/ te/ se von gesamt 0% 0% 13% 0% Gesamtbelegzahl mask. Artikel li/ le(s) in CR- Funktion 1 1 22 7 % li von gesamt li/ le(s) 0% 0% 14% 0% Gesamtbelegzahl <ch>/ <c>/ <s> 0 6 71 43 % <ch> von gesamt <ch>/ <c>/ <s> - 0% 17% 0% % <ch> von frei variierend <ch>/ <c> oder <ch>/ <s> - 0% 18% 0% 295 <?page no="308"?> Urkunde LBSL388 LBSL389 LBSL397 LBSL398 Jahr 1402 1403 1406 1407 Gesamtbelegzahl la/ ma/ ta/ sa oder le/ me/ te/ se 15 16 5 28 % le/ me/ te/ se von gesamt 0% 31% 60% 0% Gesamtbelegzahl mask. Artikel li/ le(s) in CR- Funktion 5 7 1 8 % li von gesamt li/ le(s) 0% 0% 0% 0% Gesamtbelegzahl <ch>/ <c>/ <s> 36 44 19 50 % <ch> von gesamt <ch>/ <c>/ <s> 0% 0% 11% 0% % <ch> von frei variierend <ch>/ <c> oder <ch>/ <s> 0% 0% 12% 0% 296 <?page no="309"?> Urkunde LBSL399 LBSL401 LBHD509 LBHD511 Jahr 1409 1413 1434 1437 Gesamtbelegzahl la/ ma/ ta/ sa oder le/ me/ te/ se 22 12 37 21 % le/ me/ te/ se von gesamt 0% 0% 0% 0% Gesamtbelegzahl mask. Artikel li/ le(s) in CR- Funktion 11 6 11 8 % li von gesamt li/ le(s) 0% 0% 0% 0% Gesamtbelegzahl <ch>/ <c>/ <s> 50 25 62 52 % <ch> von gesamt <ch>/ <c>/ <s> 2% 0% 2% 0% % <ch> von frei variierend <ch>/ <c> oder <ch>/ <s> 2% 0% 0% 0% Abb. 19: Zentrale Ergebnisse der sprachlichen Auswertung der Urkunden aus dem Ressort der königlichen Verwaltung und Rechtssprechung 297 <?page no="310"?> Abb. 20: Feminine Determinanten und direktes feminines Objektpronomen (Kap. 5.6) - prozentualer Anteil von le/ me/ te/ se 298 <?page no="311"?> Abb. 21: Zweikasusflexion des maskulinen bestimmten Artikels (Kap. 5.6) - prozentualer Anteil von li/ ly in CR-Funktion 299 <?page no="312"?> Abb. 22: Graphien <ch> vs. <c> vs. <s> (Kap. 5.6) - prozentualer Anteil von <ch> an der Gesamtsumme der Belege und an der Summe lexematisch frei variierender Belege 300 <?page no="313"?> Es fällt auf, daß überhaupt nur sechs der sechzehn Texte kasusflektierte Artikelformen oder pikardische Varianten im Bereich der femininen Determinanten 532 und der <ch>/ <c>/ <s>-Graphie aufweisen. Vor allem diese Dokumente (LBHD444, LBSL377a, LBSL389, LBSL397, LBSL399 und LBHD509) sind im folgenden einer genaueren varietätenlinguistischen und diplomatischen Analyse zu unterziehen. Der bei den übrigen zehn Urkunden erzielte Negativbefund bestätigt dagegen voll und ganz die eingangs formulierte Arbeitshypothese, wonach in Texten, die in Verbindung mit der königlichen Zentralgewalt stehen, mehrheitlich oder gar ausschließlich überregionale Formen und keine kasusflektierten Artikel zu erwarten sind. Auch von den sechs noch genauer zu untersuchenden Dokumenten zeigt keines sonderlich hohe Werte für pikardische Formen oder im Bereich der Kasusflexion. Der einzige Fall, in dem ein Wert von über 50% zu verzeichnen ist, liegt bei der Urkunde LBSL397, 1406 mit einem Anteil von 60% für le/ me/ te/ se vor; den nächsthöheren Wert stellen 31% für die femininen Determinanten in LBSL389, 1403 dar. Einschränkend ist freilich darauf hinzuweisen, daß von den sechzehn hier untersuchten Texten nur die sechs ältesten, vor 1380 entstandenen in normativer Opposition zu den zeitgleich verfaßten der mutmaßlich der bischöflichen Kanzlei zuzuordnenden Texte stehen. Denn die jüngeren der in 5.5 behandelten Urkunden zeigen ja ähnlich niedrige Werte für die drei fraglichen Merkmalsausprägungen wie die hier ausgewerteten Dokumente. Meines Erachtens stellen die sechs vor 1380 entstandenen Stücke, die ich der königlichen Verwaltung zugeordnet habe, nichtsdestoweniger ein starkes Indiz dafür dar, daß bis 1380 ein deutlicher normativer Unterschied zwischen Urkunden aus dem redaktionellen Umfeld des Bischofs von Beauvais und Urkunden aus dem Ressort der königlichen Zentralmacht bestand - zumal sich bei fünf der sechs älteren Stücke ein kompletter Negativbefund für le/ me/ te/ se, li und <ch> ergeben hat. Es bleibt lediglich zu überprüfen, welche Instanzen der königlichen Administration durch die sechs vor 1380 entstandenen Stücke repräsentiert sind, denn der empirische Befund kann selbstverständlich nur für den institutionellen Bereich aussagen, den die zugrundegelegten Texte tatsächlich betreffen. Im folgenden ist daher zum einen der Frage nach dem institutionellen Hintergrund der sechs vor 1380 entstandenen Texte im Subkorpus nachzugehen (vgl. dazu vor allem Abschnitt 5.6.1). Zum anderen soll anhand der sechs Dokumente, deren Untersuchung für die konservativ-pikardischen Merkmalsausprägungen keinen (völligen) Negativbefund erbracht hat - und die interessanterweise mehrheitlich aus der Zeit nach 1380 stammen -, untersucht werden, ob ein Zusammenhang zwischen dem variationellen Befund 532 Feminine Objektpronomen sind in diesem Subkorpus nicht belegt. 301 <?page no="314"?> und den diplomatischen Merkmalen der Urkunden hergestellt werden kann (vgl. dazu vor allem 5.6.2 und 5.6.3). 5.6.1 Urkunden der prévoté de Paris und mutmaßlich damit zusammenhängende Texte Von den zehn Urkunden, deren Untersuchung einen Negativbefund für die (südwest)pikardischen Varianten und für kasusflektierte Artikelformen ergeben hat, sind hier drei Dokumente zu behandeln, nämlich LBHD445a, LBHD445b und LBHD446. Hinzu kommt ein vierter Text, LBHD444, der lediglich im Bereich der Artikelflexion einen Wert über null aufweist, nämlich 25% oder eine li-Form bei insgesamt vier Okkurrenzen des maskulinen Artikels in CR-Funktion. Diese li-Form findet sich in der Passage „sur lesquiex li porterres de ces lett{re}s seroit creus par son simple s{er}ement, sanz faire ent autre preuve“; dagegen steht dreimal le in der Subjekts-NP „le dit p{re}neur“. Es fällt auf, daß li in Verbindung mit zwei anderen CR- Formen auftritt, nämlich „porterres“ (mit nicht-etymologischem -s) und „creus“. Allerdings ist der Kontext der deklinierten Varianten eindeutig als formelhaft zu erkennen. Die vier genannten Urkunden erweisen sich aufgrund ihrer verhältnismäßig frühen Entstehungszeit (1329 bzw. 1336) als besonders interessante Dokumente. Im Vergleich mit den zeitgenössischen Texten, die ich in Kap. 5.5 der bischöflichen Kanzlei zugewiesen habe, zeigt sich ein deutlicher normativer Unterschied. LBHD444 und LBHD 445b wurden vom garde de la prévôté de Paris ausgestellt, namentlich von „((H))ugue de Crusi“ bzw. „Pierres Bel Agent“ (die von PETRUS abgeleitete CR-Form erscheint angesichts noch heute gängiger Namen mit ‘fossiliertem’ -s wie Jules oder Georges nicht weiter spektakulär). Bereits in Kap. 4.3 habe ich erläutert, daß die prévôté de Paris eine auf der Ebene der nordfranzösischen bailliages angesiedelte königliche Verwaltungseinheit mit Sitz im Châtelet war. Lusignan (2003, 63f.) hat beobachtet, daß die territoriale Zuständigkeit der Pariser prévôté, die sich zunächst nur über das Stadtgebiet und 116 Gemeinden im näheren Umland erstreckte, sich unter Philipp IV. (1285-1314) aus bislang ungeklärtem Grund beträchtlich erweitert hat, so daß die - ausnahmslos auf französisch verfaßten - Urkunden der prévôté sich auf Angelegenheiten im gesamten Königreich beziehen konnten. Es steht zu vermuten, daß die Beglaubigung eines Rechtsakts durch die Pariser prévôté bestimmten Zeitgenossen als besonders effizientes notarielles Verfahren galt und daß mit den vom garde de la prévôté de Paris ausgestellten Urkunden eine erhöhte Rechtssicherheit verbunden wurde. Mit LBHD444 und LBHD445b dürften eben solche Dokumente vorliegen. Inhaltlich handelt es sich bei LBHD444 um ein Tauschgeschäft zwischen dem Hôtel-Dieu de Beauvais und einem gewissen „Colart de Saulonnieres 302 <?page no="315"?> l’ainsné“, der als écuyer wohl kein eigenes Siegel führte und deshalb den Rechtsakt, als dessen Urheber er auftritt, vom prévôt de Paris als Instanz der freiwilligen Gerichtsbarkeit beglaubigen ließ. 533 Wie genau man sich den behördlichen Rahmen der Beurkundung vorzustellen hat, wer die confessio von Colart redigierte und wo die Urkunde schließlich gesiegelt wurde, vermag ich nicht zu bestimmen. Fest steht lediglich, daß der Grundbesitz, um den es in der Urkunde geht, sich keine fünfzehn Kilometer westlich von Beauvais befand, im heutigen Ons-en-Bray, also keineswegs in der Nähe von Paris. Unter der Plika der Urkunde findet sich die Unterfertigung eines gewissen „Laon{ais}“, der im Tenor allerdings nicht erwähnt wird. Vielmehr wird dort berichtet, Colart sei persönlich vor dem garde de la prévôté erschienen („p{ar}-devant nou{s} pour ce p{er}sonelment establis“; mit kasusflektierter Partizipalform), wobei aber fraglich bleibt, ob hier lediglich eine Fiktion geschaffen wird und der Rechtsakt in Wahrheit vor einem Vertreter des prévôt vollzogen wurde oder ob Colart tatsächlich vor den prévôt selbst trat, den man freilich in Paris vermuten würde. Auch LBHD445b wurde im Namen des prévôt de Paris ausgestellt, allerdings sieben Jahre später als LBHD444 und diesmal mit dem explizitem Hinweis, daß der Urheber des Rechtsakts, Guillaume de Châteauvillain, nicht dem garde de la prévôté selbst gegenüberstand, sondern zwei „clers notaires jurés de par nostre-s{eigneur} le roy ou Chastellet de Par{is}“, welche Guillaumes confessio anhörten und vermutlich die Urkunde redigierten bzw. niederschrieben. Unter der Plika finden sich auch die Unterfertigungen der beiden Notare („P{ierre} de Lyons“, „{Hugues de} Sailleville“). (14) Savoir faizons que p{ar} devant Hue de Sailleville et Pierres de Lyons, clers notaires jurés de par nostre-s{eigneur} le roy ou Chastellet de Par{is}, aus quiex, q{u}ant aus choses qui s’ensuient ou et [sic] à-nous rapporter et meittre en fourme publique, nous adjoustons foy pleniere, en ce cas {et} en plus grant, en lieu de-nous co{m}mis et deputés,/ / . p{er}sonelment establi honorable ho{m}me et discret maistre / ./ . Guill{aum}e de Chatiauvillain segneur de Troissereurs,/ / . afferma par sa foy p{ar} devant les diz notaires jurés, co{m}me en figure de jugement, que ... (LBHD445b, 1336) Es handelt sich bei dem Rechtsakt um eine Bestätigung der Echtheit von Guillaumes Siegel, welches an LBHD445a angehängt ist, einer Urkunde, mit der Guillaume dem Hôtel-Dieu wenige Wochen zuvor das Recht auf den Bezug einer jährlichen, von seinen Vorfahren gestifteten Kornrente bestätigt hatte. Die Tatsache, daß Guillaume vor die Notare der prévôté de Pa- 533 Vgl. dazu auch die Korroborationsformel: „nous, à la requeste du dit p{re}neur [c’està-dire de Colart; K.G.], avons fait seeller ces lett{re}s du seel de la-dite p{re}vosté de Paris“ (LBHD444, 1329). 303 <?page no="316"?> ris getreten ist, erklärt sich hier also nicht durch den Umstand, daß er selbst kein persönliches Siegel geführt hätte. LBHD445a und LBHD445b wurden, nachdem letztere gesiegelt worden war, mit einem Pergamentstreifen aneinandergeheftet. Bemerkenswert ist, daß nicht nur die Urkunde des garde de la prévôté de Paris, sondern auch die zuvor von Guillaume ausgestellte Bestätigungsurkunde keinerlei pikardische Varianten enthält. 534 Das Gleiche gilt für LBHD446 535 , ein äußerlich sehr schlicht gehaltenes Mandat mit abgehängtem Siegel, durch das Guillaume einem gewissen Thomassin de Guehengnies den Auftag erteilte, die offenbar schon seit zwei Jahren überfällige Kornrente an das Hôtel-Dieu auszuliefern und auch künftig dieser Verpflichtung regelmäßig nachzukommen: (15) Si te ma{n}de que au dis maistres, freres {et} seurs [sic] tu paies {et} delivres .xvi./ / . muys de frume{n}t qui dehus leur sont pour les arr{er}ages de deux annees derraineme{n}t passees, des p{re}miers fruis à venir 536 en ma d{i}te grange, et que d’ores en ava{n}t tu leur paies paisibleme{n}t chascun an les diz ./ / .viii./ / . muys de frument de rente, en tele maniere que il n’en retournent plus plaintes p{ar} devers moy. (LBHD446, 1336) Es dürfte nun klar werden, weshalb ich in der Überschrift zu diesem Abschnitt von ‘mutmaßlich mit den Urkunden der prévôté de Paris zusammenhängenden Texten’ spreche. Zwar besteht der unterstellte Zusammenhang lediglich darin, daß Guillaume de Châteauvillain, der Aussteller von LBHD445a und LBHD446, zugleich als Urheber des Rechtsakts auftritt, der in LBHD445b vor den Notaren der prévôté de Paris vollzogen wurde. Sprachlich sind die von Guillaume ausgestellten Dokumente den beiden im Namen des königlichen prévôt vollzogenen Rechtsakten allerdings so ähnlich, daß sich die Frage stellt, ob nicht auch Guillaumes Urkunden von einer Person aus dem Umfeld der königlichen Verwaltung redigiert oder niedergeschrieben wurden. Eine Figur, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen könnte, ist ein gewisser Jean de Saint-Just, der in LBHD446 nicht nur als „cl{er}c du roy“, sondern auch als „ami especial“ von Guillaume bezeichnet wird: (16) Thomassin de Gaangnies, je te fais savoir que tout l’enpeescheme{n}t que je avoie mis en .viii./ / . muys de frume{n}t de re{n}te que doivent prendre p{ar} an les maistres, freres {et} seurs [sic] de l’Ostel Dieu de 534 Nur in LBHD445a finden sich Formen des maskulinen Artikels in CR-Funktion, einmal le und einmal les. 535 Hier findet sich keine Okkurrenz des graphischen Merkmals, dafür einmal les als Form des maskulinen Artikels in CR-Funktion und dreimal la. 536 Die Urkunde ist auf den 28. Mai datiert; es wurde also noch nicht geerntet. 304 <?page no="317"?> Byauvés sur ma grange de Trois Sereurs, je ay osté {et} oste, à la priere de mon ami especial mes-s{ire} Jeh{an} de S{aint} Just cl{er}c du roy n{ost}res{ire}./ / . (LBHD446, 1336) Fungierte Jean womöglich als Vermittler im Streit zwischen Guillaume und dem Hôtel-Dieu? In den anderen beiden Urkunden findet die Figur freilich keine Erwähnung. Auch wurden LBHD445a, LBHD445b und LBHD446 von unterschiedlichen Händen niedergeschrieben, was den Nachweis eines Zusammenhangs noch erschwert. Lediglich die Beschaffenheit des Pergaments und das Layout von LBHD445a und LBHD445b weisen gewisse Parallelen auf. Während die Schrift von LBHD445a aber sehr ‘gebaut’, sehr regelmäßig und durchaus repräsentativ wirkt, zeigen LBHD445b und LBHD446 einen deutlich kursiveren Duktus und wurden offensichtlich mit geringerer Sorgfalt aufs Pergament gebracht. 537 Fest steht jedenfalls, daß Guillaume seigneur de Troissereux war. Auch seine „granche“ (LBHD445a), aus der die Kornrente für das Hôtel-Dieu stammte, befand sich in Troissereux, das keine zehn Kilometer nördlich von Beauvais liegt. Aus sprachgeographischer Sicht würde man also erwarten, daß die beiden von ihm ausgestellten Urkunden, deren Begünstigter jeweils das Hôtel-Dieu ist, überwiegend pikardische Formen enthalten. Da dies nicht der Fall ist, liegt die Vermutung eines redaktionellen Zusammenhangs mit einer Instanz der königlichen Zentralmacht nahe, zumal zur Zertifizierung von Guillaumes Siegel die prévôté de Paris als Organ der freiwilligen Gerichtsbarkeit ausgewählt wurde. Überhaupt scheint die Familie derer von Châteauvillain in enger Verbindung zum Königshaus gestanden zu haben. 538 Einen schlagenden Beweis für den vermuteten diplomatischen Zusammenhang vermag ich aber nicht zu erbringen. Der sprachliche Befund stellt nichtsdestoweniger ein Indiz dafür dar, daß LBHD445a und LBHD446 unter vergleichbaren redaktionellen Umständen wie LBHD445b (und LBHD444) entstanden sein könnten. Die zur Überregionalität tendierende Skripta, in der die Texte niedergeschrieben wurden, läßt jedenfalls die Annahme, das Hôtel-Dieu als Begünstigter könnte die beiden Urkunden angefertigt haben, ziemlich unplausibel erscheinen (vgl. dazu auch Kap. 5.7). Als Ergebnis ist festzuhalten, daß die zwei im Korpus enthaltenen Urkunden der prévôté de Paris und die zwei vermutlich damit in Zusammenhang stehenden, von Guillaume de Châteauvillain ausgestellten Dokumente eine überregionale Skripta repräsentieren, die in deutlichem normativem 537 Vgl. dazu Abb. 38 (LBHD445a) und Abb. 39 (LBHD445b) im Anhang III. 538 Vgl. dazu Vuilhorgne (1922, 436, Anm. 2): „Le possesseur de la terre de Troissereux est en 1346 Guillaume de Châteauvillain, chevalier, seigneur de Pleurre, au service du roi Philippe de Valois en 1349.“ - Vgl. außerdem zur Familie derer von Châteauvillain P[ère] Anselme/ du Fourny ( 3 1726, Bd. 2, 341-345). 305 <?page no="318"?> Gegensatz zu der Schreibtradition steht, in der die älteren der in Kapitel 5.5 behandelten, mutmaßlich in der bischöflichen Kanzlei entstandenen Texte verfaßt wurden. Bis auf eine einzige, allerdings in einem formelhaften Kontext stehende Okkurrenz der kasusflektierten Artikelform li (LBHD444) weisen die vier in diesem Abschnitt behandelten Urkunden keine CR-Formen des maskulinen Artikels und keine pikardischen Varianten im Bereich der femininen Determinierer und der <ch>/ <c>/ <s>-Schreibung auf. 5.6.2 Urkunden der königlichen Rechtssprechung in der prévôté d’Angy Wie in Kap. 5.5.1 erwähnt, erfolgte die flächendeckende Ausübung der königlichen Zentralgewalt im nördlichen Teil Frankreichs seit dem 13. Jahrhundert durch ein komplexes institutionelles Netzwerk, dessen größte administrative Einheiten, die bailliages oder vicomtés, wiederum in mehrere châtellenies oder prévôtés untergliedert sein konnten. 539 Mein Korpus enthält acht Urkunden der königlichen Rechtssprechung in der dem bailliage de Senlis zugeordneten prévôté d’Angy, die zumeist im Namen des garde du scel du bailliage de Senlis en la prévôté d’Angy 540 , also vom Siegelbewahrer des königlichen prévôt, ausgestellt wurden (in zwei Fällen, LBSL377a und LBSL399, tritt der lieutenant du prévôt als Aussteller auf). 541 Die Dokumente wurden zwischen 1380 und 1437 verfaßt, also erst nach Abschluß des Normenwandels, der für die in Kap. 5.5 behandelte Serie von mutmaßlich aus dem redaktionellen Umfeld des Bischofs von Beauvais stammenden Urkunden beobachtet wurde. Bei LBSL387, 1402, LBSL388, 1402, LBSL401, 1413 und LBHD511, 1437 hat sich für die Varianten le/ me/ te/ se, <ch> und für li in CR-Funktion ein Negativbefund ergeben. Dagegen weisen vier Urkunden (LBSL377a, LBSL389, LBSL399 und LBHD509) residuale Belege im 539 Die Begriffe erscheinen im zeitgenössischen Gebrauch nicht klar voneinander abgegrenzt. Dupont-Ferrier (1902, 34-37) zeigt, daß der Begriff der châtellenie je nach Gebiet als Synonym von bailliage, prévôté, vicomté, sergenterie u.a. verwendet werden konnte. Vgl. dazu auch Dupont-Ferrier (1902, 38): „Comme ‘bailliage’, comme ‘châtellenie’, ‘prévôté’ est [...] un de ces termes de la géographie administrative qui peuvent s’étendre de plus d’une façon: en outre, on parle inexactement quand on assure que prévôté équivaut toujours à châtellenie, car nous venons de voir que tantôt une prévôté se fragmente en châtellenies et tantôt une châtellenie se fragmente en prévôtés.“ 540 Ich zitiere hier nicht, sondern gebe den Wortlaut der typischen intitulatio in adaptierter, neufranzösischer Fassung wieder. 541 Labandes [1892] (1978, 255, Anm. 2) Einschätzung, wonach der in den Urkunden als garde du scel bezeichnete Beamte eigentlich der prévôt d’Angy gewesen sei, ist nicht mit der Darstellung von Carolus-Barré (1935, 13-24) vereinbar, der die beiden Funktionen klar voneinander trennt. 306 <?page no="319"?> Bereich der (südwest)pikardischen Merkmalsausprägungen oder der Zweikasusflexion beim maskulinen Artikel auf. 542 Wenngleich die Stadt Beauvais geographisch vom Gebiet der prévôté d’Angy umschlossen war, wurde die weltliche Herrschaft innerhalb des Fürstbistums zunächst noch allein vom Bischof ausgeübt. Nach Labande [1892] (1978, 253) war es dem als Statthalter des bailli de Senlis eingesetzten prévôt d’Angy verboten, einen Akt der königlichen Gerichtsbarkeit in Beauvais auszuüben. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts kam es jedoch zu wiederholten Auseinandersetzungen um die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen bischöflicher und königlicher Rechtssprechung, und dies nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, daß die Stadtgemeinde von Beauvais, die mit ihrem Landesherrn notorisch im Konflikt lag, seit 1353 dem besonderen Schutz des Königs und des bailli de Senlis unterstellt war. Nach Labande [1892] (1978, 254) sei es zu Beginn des 15. Jahrhunderts zur vorübergehenden Einrichtung eines königlichen Berufungsgerichts in Beauvais gekommen, dessen von drei juges des exempts geleitete Sitzungen in den gleichen Räumlichkeiten stattgefunden hätten wie die der cour épiscopale. Guenée (1963, 242) bestätigt, daß gegen in erster Instanz vom bischöflichen bailli gefällte Urteile sehr häufig Berufung eingelegt wurde, und stellt heraus, daß Beauvais, wo zugleich bischöfliche und königliche Amtsträger agierten, in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein bedeutenderes „centre judiciaire“ gewesen sei als der Hauptsitz des königlichen bailliage, Senlis: Beauvais, où résident des officiers royaux, ceux de l’exemption, de l’élection et partie de ceux de la prévôté d’Angy, où siègent au nom de l’évêquecomte les officiers d’une grosse officialité, d’un bailliage, d’une prévôté, où les cours de chapitres et abbayes puissants ne manquent pas, où, en 1415 par exemple, 7 avocats et 109 procureurs réussissent à vivre, Beauvais est, il faut bien l’admettre, un centre judiciaire plus important que le chef-lieu du bailliage lui-même. (Guenée 1963, 348) Mein Korpus beinhaltet allerdings keine Urkunden, die auf eine in Beauvais von einem königlichen Berufungsgericht in zweiter Instanz gefällte Entscheidung schließen lassen. In LBSL377a erfolgt lediglich ein Hinweis auf einen zuvor von der cour épiscopale beglaubigten Rechtsakt; diese hatte offenbar einen Gläubigeranspruch festgestellt, dessen Vollstreckung daraufhin von der prévôté d’Angy beschlossen worden war. Mit der vom lieutenant du prévôt ausgestellten Urkunde LBSL377a wurde schließlich das Ergebnis der Zwangsversteigerung eines Weinbergs des Schuldners rechtskräftig gemacht: 542 Als neunte Urkunde der prévôté d’Angy ist hier LBHD505, 1428 zu erwähnen. Es handelt sich dabei allerdings um ein Vidimus von LBHD457, 1350. 307 <?page no="320"?> (16) Conme Jehan Pelart l’Aisné, fil de Jeh{a}n Pelart le viel, demourans à Voisinlieu, feust tenus, liés et oblig{iés} envers Jeh{a}n Amille en la sonme de nuef frans d’or et cincq soulz par{isis}, et aussi envers Noel le Candelier en la sonme de six frans et demi d’or, en l{ett}res de le court de le conté de Beauvés et d’arrest d’Angy,/ / . ou le porteur de leurs l{ett}res 543 ,/ / . et à deffaut de payem{en}t des dictes sonmes le porteur des dictes l{ett}res c’est trait p{ar} devers nous ... (LBSL377a, 1380) Die Urkunde stammt außerdem aus dem Jahr 1380, nicht erst aus dem frühen 15. Jahrhundert, auf das Labande [1892] (1978, 254) die Aktivität der königlichen juges des exempts festzulegen scheint. 544 Die kompetenzrechtlichen Hintergründe der gerichtlichen Interventionen des stellvertretenden prévôt d’Angy oder seines Siegelbewahrers müssen hier also offenbleiben, zumal sie in den Texten nicht explizit gemacht werden. Auch über die Frage nach der administrativen, vor allem personellen Infrastruktur, derer sich die königlichen Justizbeamten während ihrer Tätigkeit in Beauvais bedienten, kann in der Regel nur spekuliert werden. Jedenfalls lassen die wenigen in meinem Korpus enthaltenen Stücke keine allgemeingültige Aussage darüber zu, ob die königlichen Richter ihr eigenes Schreibpersonal unterhielten oder ob ihnen - mitsamt den Räumlichkeiten (s.o.) - womöglich ein bischöflicher clerc zur Verfügung stand. Fest steht allerdings, daß die höheren Beamten im Lauf ihrer Karriere nicht selten zwischen königlichen und (verschiedenen) landesfürstlichen Diensten wechselten. Zudem stößt man immer wieder auf die gleichen Familien (Hangest, Creil, Braitel u.a.), aus denen der königliche oder landesherrliche Amtsadel rekrutiert wurde (vgl. Carolus-Barré 1952a, 100f.; Guenée 1963, 347-368). Sprachlich zeigt LBSL377a gegenüber den vorausgehenden Urkunden im Subkorpus (vgl. v.a. Kap. 5.6.1) leicht erhöhte Werte für beide pikardische Merkmalsausprägungen (13% für le/ me/ te/ se; 18% für frei variierendes <ch>) und für den kasusflektierten Artikel (14%). Von drei Okkurrenzen von le entfallen zwei auf „l{ett}res de le court de le conté de Beauvés“ und eine auf „le vendue“, dem allerdings vier Belege für „la vendue“ im Text gegenüberstehen. Für „le court de le conté de Beauvais“ könnte man das schon unter 5.5.1 geltend gemachte Argument anführen, daß es sich bei der 543 Die Syntax bleibt hier unklar. Jedenfalls geht aus der Passage „en l{ett}res de le court de le conté de Beauvés et d’arrest d’Angy“ eindeutig hervor, daß der Gläubigeranspruch zunächst vor der cour épiscopale urkundlich gemacht wurde und daß daraufhin ein Vollstreckungsbefehl der prévôté d’Angy erging. 544 LBSL397, 1406 ist ein Berufungsurteil des bailli de Vermandois. In erster Instanz wurde das Verfahren allerdings nicht vor der cour épiscopale, sondern vor einem Statthalter des königlichen bailli, dem prévôt de Montdidier, durchgeführt. Vgl. dazu den folgenden Abschnitt, 5.6.3. 308 <?page no="321"?> curia episcopi um einen lokaltypischen, unikalen Referenten handelt, dessen Nennung die Verwendung der pikardischen Variante des Artikels nahelegt. Kasusflektierte Formen des maskulinen Artikels finden sich lediglich dreimal, und zwar als Bestandteil eines komplexen Relativpronomens: „li queulx“, „li quelx“ und „li-quelz“. Die Graphie <ch> steht zweimal in „co{n}noissanche“/ „cognoissanche“, sechsmal in „renu{n}cha“ sowie viermal in einem Demonstrativum („cheulx“, „ichelui“, zweimal „ichelle“ vs. „ces“, „icelle“, „ycelle“, „yceli“ usw.). LBSL387, LBSL388 und LBSL389 wurden von derselben Hand niedergeschrieben 545 und jeweils von Aubin Fiercoq als garde du scel und einem ihm untergeordneten Beamten ausgestellt, der in LBSL387 als „auditeur juré“, in den anderen beiden Urkunden als „clerc tabellion juré“ bezeichnet wird. Namentlich handelt es sich um Clément de Camberonne (LBSL387) und Jacques de Camberonne („Jacob“ in LBSL388, „Jaquot“ in LBSL389), von dem Guenée (1963, 372) annimmt, er sei „plus que probablement fils de Clément“. Unter der Plika der drei Urkunden findet sich die Unterfertigung von Clément (LBSL387) bzw. von Jacques (LBSL388 und LBSL389), wobei Jacques möglicherweise auch der Textschreiber aller drei Urkunden war. Sprachlich unterscheiden sich die drei Texte allerdings insofern voneinander, als LBSL387 und LBSL388 keine der beiden hier untersuchten (südwest)pikardischen Merkmalsausprägungen und keine flektierten Artikelformen aufweisen, während sich in LBSL389 immerhin fünfmal le als Form des femininen Artikels findet („en le d{i}c{t}e prevosté d’Angi“, „en le p{ar}roisse Sains Laurens“, „prez de le Porte de Grez“, „le d{i}c{t}e ville“ und „à le voyerie“). Der Befund könnte zumindest in den ersten drei Fällen dadurch erklärt werden, daß le hier einen namentlich genannten, unikalen, lokaltypischen Referenten spezifiziert (wobei die prévôté d’Angy freilich eine königliche Institution ist! ); auch mit „le d{i}c{t}e ville“ ist die ville de Beauvais gemeint. Andererseits kommt in LBSL387 „la p{ar}roisse Saint Laurens de Beauv{ais}, assés près de la Porte du Grés“ vor; „en la prevosté d’Angi“ steht in LBSL389 selbst, und zwar nur eine Zeile über „en le d{i}c{t}e prevosté d’Angi“, in der intitulatio des Protokolls. Auch LBHD509, 1434 und LBHD511, 1437 dürften von derselben Hand niedergeschrieben worden sein 546 , wobei der Duktus im Textverlauf von LBHD511 zunehmend kursiv wird, was als Müdigkeitserscheinung gedeutet werden kann. Beide Urkunden wurden von Michel le Chandelier als garde du scel ausgestellt. LBHD509 wurde unter der Plika von Jean Pinel und Jean de Warmond unterfertigt, die im Tenor als „Jehan Pinel clerc tabellion et Jehan de Warmond auditeur, jurez, co{m}mis {et} establis de par 545 Schreiber G in den Urkundensteckbriefen. 546 Schreiber I in den Urkundensteckbriefen. 309 <?page no="322"?> le roy n{ost}re-dit-s{eigneur} / . en la-d{i}c{t}e prevosté“ bezeichnet werden. LBHD511 trägt unter der Plika die Unterfertigung von Gilot le Baille, der neben Michel le Chandelier als Mitaussteller auftritt und in der intitulatio als „clerc tabellion juré du roy n{ost}re-dit-s{eigneur} en la-d{i}c{t}e prevosté“ bezeichnet wird. Sprachlich fällt in LBHD509 nur eine einzige Okkurrenz von <ch> auf: „la-granche du dit hostel, dont la couverture est glachee et cheue à-t{er}re“ (LBHD509, 1434). Die Form ist ein als ‘Pikardismus’ gewerteter Einzelbeleg im Korpus. Tatsächlich könnte der alltagssprachliche Charakter des Worts, das ansonsten kaum in der Urkundensprache Verwendung finden dürfte, eine Erklärung für die pikardische Schreibung sein. 547 Auch in LBSL399, 1409 findet sich nur ein einziger Beleg für <ch>, nämlich „semencher“. Die Form tritt allerdings neben dem Partizip „semencee“ in derselben Urkunde auf und wurde deshalb nicht als ‘Pikardismus’ eingestuft. Es handelt sich allerdings um ein ähnlich alltagssprachliches Wort wie glachee (LBHD509). Insgesamt ist die normative Lage in den zwischen 1380 und 1437 entstandenen Urkunden der prévôté d’Angy mit dem Bild vergleichbar, das sich in Kap. 5.5 aus der Untersuchung der Dokumente ergeben hat, die nach 1380 wahrscheinlich in der bischöflichen Kanzlei niedergeschrieben wurden. Neben Texten, die einen kompletten Negativbefund für pikardische Varianten und kasusflektierte Artikelformen zeigen (LBSL403 und LBHD512 in Kap. 5.5; hier LBSL387, LBSL388, LBSL401 und LBHD511), stehen solche, die wenige Restbelege für li, le/ me/ te/ se oder <ch> aufweisen (LBSL377b 548 , LBSL378, LBHD489 und LBHD503 in Kap. 5.5; hier LBSL377a, LBSL389, LBSL399 und LBHD509). Und wie in den redaktionell der bischöflichen Kanzlei zugeordneten Urkunden lassen sich die residualen Okkurrenzen von li, le/ me/ te/ se und <ch> in den hier untersuchten Dokumenten teilweise kontextuell erklären. Vor allem der Gebrauch des femininen Artikels le erfolgt zumeist zur Spezifizierung von unikalen, lokaltypischen Referenten. Im Bereich von <c> vs. <ch> ist LBSL377a die einzige 547 In LBSL387 und LBHD511 kommt je einmal die Form „eschever“ vor. Hier darf jedoch keine pikardische Lautentwicklung angesetzt werden, da von einem fränkischen Etymon, * SKEUH , SKIUH ‘scheu’, auszugehen ist (> afr. eschif; davon abgeleitet eschiver). Nach Rheinfelder ( 4 1968, §450) ist der germanische [sk]-Anlaut wie lt. [k] vor [a] zu [ ʧ ] geworden, bevor es durch prothetisches [e] abgestützt wurde. Nfr. esquiver wurde erst später nach it. schivare gebildet und hat eschiver/ eschever im 17. Jahrhundert verdrängt. 548 Hier trügt der Extremwert von 100% für eine einzige flektierte Artikelform in formelhaftem Kontext („li quelz recognut {et} afferma en verité“). Auch der Wert von 60% für le/ me/ te/ se beinhaltet ausschließlich Okkurrenzen in formelhaften Sequenzen: „seel de le court de le comté de Beauvés“; „clerc tabellion juré de le court de Beauvés“. 310 <?page no="323"?> Urkunde, die noch eine einigermaßen ausgeprägte, nicht lexematisch distribuierte Variation aufweist. Die ab 1380 entstandenen Urkunden der prévôté d’Angy unterscheiden sich also sprachlich kaum von den im gleichen Zeitraum verfaßten Texten, die mutmaßlich aus der bischöflichen Kanzlei stammen. Dieser Befund könnte höchstens insofern als überraschend ausgelegt werden, als die in Kap. 5.6.1 untersuchten Urkunden des prévôt de Paris oder von Guillaume de Châteauvillain - bis auf die Ausnahme einer formelhaften Verwendung von li in LBHD444 - überhaupt keine Belege für li, le/ me/ te/ se oder <ch> aufweisen, während sich in den deutlich jüngeren Urkunden der prévôté d’Angy dann doch wieder vereinzelte Belege finden. Ich kann wie gesagt nicht ausschließen, daß sich der Statthalter oder der Siegelbewahrer des prévôt d’Angy bei ihren gerichtlichen Interventionen in Beauvais mitunter auch des ortsansässigen, bischöflichen Schreibpersonals bedienten, was die residuale Präsenz pikardischer Varianten in den hier untersuchten Urkunden besser verständlich machen würde. Ein direkter Vergleich zwischen den Urkunden der prévôté de Paris und den Urkunden der prévóté d’Angy ist leider nicht möglich, da zwischen den im Korpus enthaltenen Texten der einen und der anderen Institution ein zeitlicher Abstand von mindestens 44 Jahren liegt (LBHD446, 1336 vs. LBSL377a, 1380). 5.6.3 Sonstige Urkunden aus dem Ressort der königlichen Verwaltung und Rechtssprechung (bailliage de Senlis - bailliage de Vermandois - châtellenie de Breteuil) Es bleiben vier Urkunden, die ich hier als eine Art Restkategorie behandeln muß. Eigentlich repräsentieren sie drei unterschiedliche Instanzen der königlichen Verwaltung; angesichts der geringen Zahl von Texten erscheint es mir aber nicht angebracht, jeder der drei Instanzen einen eigenen Abschnitt zu widmen. LBHD397, 1294 ist auf der der prévôté d’Angy unmittelbar übergeordneten Verwaltungsebene angesiedelt, dem bailliage de Senlis. Es handelt sich dabei nicht um einen Akt der königlichen Rechtssprechung, sondern um ein kurzes, recht nüchternes und schmuckloses Verwaltungsdokument. Die Urkunde wurde von einem „bourjois de Senliz“ und einem „clerc“ ausgestellt, deren Funktion in der intitulatio folgendermaßen beschrieben wird: „establi {et} deputé de par le roi à recevoir tout l’argent qui est deus au roy en la baillie de Senliz pour reson des finances des fiez, a<zwt/ >riere [Syllabes reliées par un trait d’union en fin de ligne.] fiés {et} aleus.“ Die Aussteller sind also zwei königliche Geldeintreiber, von denen das Hôtel-Dieu eine Quittung für eine nicht im Detail erläuterte finanzielle Transaktion erhielt. Die Urkunde zeigt für die Varianten le/ me/ te/ se und die Graphie <ch> 311 <?page no="324"?> einen negativen Befund; maskuline Artikel in CR-Funktion sind nicht darin belegt. 549 LBHD477, 1375 ist ein mit LBHD397 vergleichbares, schlichtes und kurzes Verwaltungsdokument. Das von zwei königlichen Finanzbeamten ausgestellte, an einen sergent du roi adressierte Mandat betrifft aber nicht das Ressort des bailliage de Senlis, sondern den nördlich daran angrenzenden bailliage de Vermandois 550 und eine seiner administrativen Untereinheiten, die prévôté de Montdidier („(L))es co{m}missair{es} sur le fait des finances des acquisic{i}ons nouveles ou bailliage de Vermendois,/ / . ((à)) P{ier}re Lenglés s{er}g{ent} du roy n{ost}re-s{ire} en la p{re}vosté de Mondidier ...“). Die sprachliche Untersuchung der Urkunde hat einen Negativbefund für die pikardischen Merkmalsausprägungen und für den kasusflektierten Artikel ergeben. LBSL397, 1406 wurde in Mondidier von Ferry de Hangest, dem königlichen bailli de Vermandois, ausgestellt. 551 Im Text finden sich drei Okkurrenzen der femininen Artikelform le (60%) sowie zwei Okkurrenzen von <ch>, was einem Anteil von 12% an der Summe der lexematisch frei variierenden <ch>/ <c>-Graphien in der Urkunde entspricht. Die Kontexte sind „au siege de le d{i}c{t}e p{re}vosté“, „le Maison Saint Ladre de Beauvais“, „en le cause dudit appel“ 552 sowie zweimal „prononchie“/ „p{ro}nonchie“ (es handelt sich hier um zwei feminine Partizipialformen mit der typisch pikardischen Reduktion von nachpalatalem lt. - ĀTA ( M ) > íe; vgl. Gossen 2 1976, 55, §8). LBSL398, 1407 wurde von Pierre de Hangest ausgestellt, der sich als „bailly de Brethueil“ bezeichnet. Es handelt sich um einen Schiedsspruch in einer Auseinandersetzung zwischen der Maladrerie Saint-Lazare und den seigneurs de Breteuil, der unter dem „seel de la [Leblond 1922, 570: le] d{i}c{t}e chastell{en}ie de Brethueil“ erlassen wurde. - Breteuil-en-Beauvaisis war im 11. und 12. Jahrhundert eine unabhängige Grafschaft, die zeitweise mit der Grafschaft Clermont (vgl. Kap. 5.7.2) vereint war, unter Philipp II. August aber in die französische Krondomäne eingegliedert wurde. Wie es scheint, wurde Breteuil zu Beginn des 15. Jahrhunderts als eigene châtellenie im Bereich des bailliage de Vermandois verwaltet; die Funktion des 549 In der zitierten Titulatur stehen freilich die drei Partizipialformen („establi {et} deputé“; „deus“) ganz traditionell in der Form des casus rectus. Im Protokoll von Urkunden, die ansonsten nicht den Regeln der Zweikasusflexion folgen (was hier nicht nachweisbar ist), sind archaisierende CR-Formen allerdings keine Seltenheit (vgl. dagegen die gleichfalls zitierte CO-Form „clerc“). 550 Vgl. dazu Waquet (1919). 551 Vgl. zu Ferry de Hangest Waquet (1919, 187). 552 Es handelt sich um ein Berufungsverfahren zu einem Urteil, das in erster Instanz vom prévôt de Montdidier gefällt wurde. 312 <?page no="325"?> „bailly de Brethueil“ dürfte somit der eines prévôt entsprochen haben. 553 Jedenfalls unterstanden die seigneurs de Breteuil, in LBSL398 vertreten durch Jean III. de Montmorency und seine Mutter, Jeanne d’Harcourt, der königlichen Rechtssprechung. - Die sprachliche Untersuchung der Urkunde ergibt einen Negativbefund für die pikardischen Varianten und für den kasusflektierten maskulinen Artikel. Von den vier hier untersuchten Texten weist also nur einer, LBSL397, 1406, pikardische Formen im Bereich des femininen Artikels und des graphischen Merkmals auf. Angesichts der späten Entstehungszeit und angesichts der Tatsache, daß es sich um einen Akt der königlichen Rechtssprechung handelt, könnten die ermittelten, verhältnismäßig hohen Werte von 60% bzw. 12% allerdings überraschen. Wie schon im Fazit zum vorhergehenden Abschnitt, 5.6.2, festgestellt wurde, zeigt der Befund, daß in den späteren Urkunden aus dem Ressort der hier vertretenen königlichen bailliages und prévôtés zwar nicht mit sehr hohen Anteilen für pikardische Varianten zu rechnen ist, daß darin aber - ebenso wie in den nach 1380 verfaßten Urkunden aus dem Bereich der bischöflichen Verwaltung und Rechtssprechung - durchaus Relikte von pikardischen Formen vorkommen können. LBSL397, die Urkunde des bailli de Vermandois, erreicht mit einem Anteil von 60% für die pikardische Variante le sogar den höchsten Wert aller vierzehn nach 1380 verfaßten Urkunden, die in Kap. 5.5 und 5.6 untersucht wurden. Die Unterscheidung zwischen königlichem und bischöflichem Ressort scheint somit für das variationelle Profil der nach 1380 entstandenen Texte nicht mehr ausschlaggebend zu sein. Dagegen wurden im Vergleich zwischen den älteren, unter 5.6.1 untersuchten Urkunden der prévôté de Paris und Guillaumes de Châteauvillain einerseits und den vor 1380 verfaßten Urkunden des bailli oder des Bischofs von Beauvais andererseits deutliche Normunterschiede festgestellt. Das einzige ältere Dokument in meinem Korpus, das aus dem Ressort eines königlichen bailliage stammt, ist LBHD397 aus dem Jahr 1294. Auch diese Urkunde zeigt für die pikardischen Merkmalsausprägungen einen Negativbefund. Es müßte anhand einer breiteren Materialbasis überprüft werden, ob vor 1380 entstandene Texte aus dem Ressort des königlichen bailliage de Senlis oder der prévôté d’Angy grundsätzlich in einer zur Überregionalität tendierenden Skripta verfaßt wurden oder ob sich darunter auch Texte finden, deren variationelles Profil eher dem der in Kap. 5.5 untersuchten älteren Urkunden des bailli oder des Bischofs von Beauvais gleicht. Da der bailliage de Senlis und die prévôté d’Angy sich - wie heute das Département de l’Oise - über ein 553 Vgl. dazu Guenée (1963, 541). Vgl. zur Geschichte von Breteuil Baticle [1891] (1989); zu Jean III. de Montmorency Baticle [1891] (1989, 204-210). 313 <?page no="326"?> teils dem pikardischen und teils dem zentralfranzösischen Dialektraum zuzurechnendes Gebiet erstreckten, müßte dabei auch die sprachgeographische Dimension in Rechnung gestellt werden. Es ist nämlich nicht auszuschließen, daß LBHD397 am Hauptsitz des bailliage, im außerhalb des pikardischen Gebiets liegenden Senlis niedergeschrieben wurde (einer der Aussteller, Hugues le Bazennier, bezeichnet sich ja als „bourjois de Senliz“; s.o.). Dagegen wurden die nach 1380 vom garde du scel oder vom lieutenant des prévôt d’Angy ausgestellten Urkunden wahrscheinlich in Beauvais und möglicherweise sogar unter Einsatz von ortsansässigem (bischöflichem? ) Schreibpersonal angefertigt (vgl. dazu die oben angesprochenen Hinweise bei Labande [1892] (1978, 254) und Guenée (1963, 348)). 5.7 Korpusauswertung (III): Urkunden von Adligen oder Bürgerlichen zugunsten des Hôtel-Dieu de Beauvais (einschließlich einer Urkunde des Kathedralkapitels von Beauvais) sowie Urkunden aus der Grafschaft Clermont-en-Beauvaisis Wiederum soll hier etwas anders verfahren werden als in Kap. 5.5 und 5.6. Die Behandlung zweier unterschiedlicher Kategorien von Urkunden dient in diesem Kapitel ein Stück weit der Darstellungsökonomie; sie läßt sich aber auch durch bestimmte diplomatische Merkmale und durch ein ähnliches variationelles Profil der Texte rechtfertigen. Unter 5.7.1 und 5.7.2 erfolgt eine kurze diplomatische Charakteristik der insgesamt dreißig hier zugrundegelegten Dokumente; in Abschnitt 5.7.3 erfolgt die Auswertung des sprachlichen Befunds. 5.7.1 Urkunden von Adligen oder Bürgerlichen zugunsten des Hôtel-Dieu de Beauvais (einschließlich einer Urkunde des Kathedralkapitels von Beauvais) - diplomatische Charakteristik Die Gemeinsamkeit der 27 hier zu behandelnden Urkunden 554 (von denen 15 aus dem 13. Jahrhundert stammen) besteht darin, daß jeweils das Hôtel- Dieu de Beauvais der Begünstigte des dokumentierten Rechtsakts ist. Als 554 Es handelt sich im einzelnen um die folgenden Stücke: LBHD284, 1262; LBHD330, 1272; LBHD335, 1274; LBHD348, 1277; LBHD351, 1278; LBHD359, 1279; LBHD361, 1280; LBHD365, 1284; LBHD366, 1284; LBHD376, 1288; LBHD378, 1288; LBHD383, 1291; LBHD388, 1292; LBHD392, 1293; LBHD402, 1298; LBHD409, 1301; LBHD416, 1308; LBHD417, 1309; LBHD420, 1310; LBHD430, 1318; LBHD434, 1321; LBHD455, 1349; LBHD457, 1350; LBHD462, 1363; LBHD463, 1364; LBHD498, 1400 und LBHD500, 1407. 314 <?page no="327"?> Aussteller oder als Urheber treten zumeist wenig bedeutende Adlige oder gar Bürgerliche auf, von denen nicht anzunehmen ist, daß sie über das zur Anfertigung einer Urkunde nötige Personal verfügten. Es wäre jedoch übereilt, für all diese Dokumente nun ex negativo das Hôtel-Dieu als mutmaßliche Schreibstätte anzusetzen, zumal in der Mehrheit der Fälle keine ‘harten’ diplomatischen Kriterien wie identische Schreiberhände, Kanzleivermerke oder explizite Hinweise im Tenor geltend gemacht werden können, um eine redaktionelle Zuordnung abzusichern. Da eine Orientierung bei den hier versammelten, zumeist älteren Stücken aber ansonsten kaum möglich erscheint 555 , soll die Behandlung der 27 Urkunden innerhalb einer Kategorie vorerst durch das ‘diakommunikative’ Kriterium legitimiert werden, daß in allen Rechtsakten das Hôtel-Dieu als Begünstigter und ein Adliger oder Bürgerlicher als Aussteller oder als Urheber auftritt. Erst die linguistische Untersuchung unter 5.7.3 wird es erlauben, im Einzelfall das Hôtel-Dieu als Schreibstätte auszuschließen, um entweder doch den Aussteller oder gar eine dritte Instanz, die als Unterhändler fungiert hat, als anfertigende Partei zu identifizieren. Immerhin zwölf der 27 Urkunden konnten mindestens paarweise fünf verschiedenen Schreiberhänden zugewiesen werden. In den je einem Schreiber zugeordneten Urkunden treten jeweils unterschiedliche Aussteller, aber stets das Hôtel-Dieu als Begünstigter auf, was nach klassischer Methode ein berechtigtes Argument für eine redaktionelle Zuweisung zur begünstigten Partei ist (vgl. dazu Kruisheer 1979; Burgers 2001; vgl. oben, Kap. 5.3). Auf Schreiber A entfallen die Stücke LBHD348 und LBHD351; auf Schreiber B entfallen LBHD365 und LBHD376; auf Schreiber C entfallen LBHD383, LBHD388, LBHD392 und vermutlich auch LBHD402; 556 Schreiber D wurden LBHD455 und LBHD457 zugewiesen und Schreiber F die Stücke LBHD462 und LBHD463. Bei isolierter Betrachtung von LBHD383, der ältesten der vier dem Schreiber C zugeordneten Stücke, tendiert man nichtsdestoweniger stark zu der Annahme, daß die Urkunde von den Ausstellern angefertigt worden sein könnte. Es handelt sich nämlich um einen chanoine und um den prévôt des Kathedralkapitels von Beauvais, vor denen zwei Bürgerliche, Garnier und Pierre le Maire aus Guignecourt, ein Mietverhältnis mit dem Hôtel-Dieu eingingen. Die Urkunde wurde mit Sicherheit deshalb von den Vertretern des Kathedralkapitels ausgestellt und beglaubigt, weil die bürgerlichen Urheber des Rechtsakts kein eigenes Siegel führten. Wie der Fall der Urkunde LBHD369 in Kap. 5.5.1 gezeigt hat, kommt für ein von einem 555 Vgl. zum Problem der Schreibortbestimmung bei Urkunden des 13. Jahrhunderts grundlegend Carolus-Barré (1964, LXVIII-CVII). 556 LBHD402 wurde mit einem zeitlichen Abstand von über vier Jahren zu LBHD392 niedergeschrieben, was gewisse Detailunterschiede erklären kann. 315 <?page no="328"?> Vertreter des Kathedralkapitels ausgestelltes Dokument die bischöfliche Kanzlei als Schreibstätte in Frage. Aufgrund der Identität der Schreiberhand wäre dann aber nicht nur LBHD383, sondern wären auch die drei Stücke LBHD388, LBHD392 und LBHD402 der bischöflichen Kanzlei als Redaktionsort zuzuschlagen, und man müßte somit gleich in drei Fällen von einem im Text nicht erwähnten Unterhandel ausgehen. In sprachlicher Hinsicht verhalten sich die vier Dokumente jedenfalls sehr ähnlich: alle vier weisen einen Anteil von 100% für den kasusflektierten Artikel li, einen Anteil von 89% oder 100% für die pikardischen Varianten le/ me/ te/ se und jeweils einen Anteil von 100% für lexematisch frei variierendes <ch> auf. 557 Leblond (1919, 513, Anm. 1 und 533, Anm. 1) stellt einen Zusammenhang zwischen den Urkunden LBHD409, LBHD417 und der Offizialität, also der kirchlichen Gerichtsbarkeit des Bischofs von Beauvais, her. Die Gestaltung der J-Initiale in den beiden französischen Urkunden sei mit der Ornamentierung einiger lateinischer Offizialatsurkunden aus dem frühen 14. Jahrhundert vergleichbar. In der Tat sind sich LBHD409 und LBHD417 hinsichtlich ihrer äußeren Merkmale ähnlich; auch deuten weitgehende Parallelen des Diktats darauf hin, daß LBHD409 als Vorlage für die Redaktion der sieben Jahre später von einer anderen Hand niedergeschriebenen Urkunde LBHD417 gedient hat. Zudem steht fest, daß in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zahlreiche Rechtsakte zugunsten des Hôtel-Dieu oder der Maladrerie vor der Offizialität als Organ der freiwilligen Gerichtsbarkeit vollzogen wurden - vor allem wenn der Urheber des Rechtsakts ein Bürgerlicher war, der kein eigenes Siegel führte. 558 Hinsichtlich des Initialschmucks, hier in Form von Männerköpfen im Profil, scheint mir auch LBHD430, 1318 gewisse Ähnlichkeiten mit einer - allerdings acht Jahre älteren - lateinischen Offizialatsurkunde aufzuweisen. 559 Der Offizial beglau- 557 Vgl. zu den Ergebnissen der sprachlichen Auswertung die drei Säulendiagramme unter Abschnitt 5.7.3. - Vgl. zum Kathedralkapitel von Beauvais auch Kap. 5.8 (LBSL353). 558 Vgl. dazu etwa die Urkunden Nr. 410, 413 und 418 in Leblond (1919) sowie die Urkunden Nr. 342, 345 oder 352 in Leblond (1922). Auch ein zwischen dem Hôtel-Dieu und der Maladrerie Saint-Lazare vollzogenes Tauschgeschäft wurde im August 1310 vom Offizial beglaubigt; vgl. Urkunde Nr. 346 in Leblond (1922). Überhaupt scheint die Offizialität in Beauvais bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts das Organ der freiwilligen Gerichtsbarkeit par excellence gewesen zu sein. Erst danach überwiegt die Zahl der in französischer Sprache vor dem bailli vollzogenen notariellen Akte. 559 LBHD430 scheint mir übrigens insofern besser als LBHD409 und LBHD417 mit den zeitgenössischen Offizialatsurkunden vergleichbar zu sein, als deren im Briefstil gehaltenes Protokoll stets mit der Adresse beginnt (Universis presentes litteras inspecturis ...), worauf die intitulatio und der Gruß des Offizials folgen (... officialis Belvacensis salutem in Domino). Auch das Protokoll von LBHD430 ist im Briefstil verfaßt: „((A)) tous ceulz qui ces p{re}sentes lett{re}s v{er}ront {et} orront orront,/ / . ((n))ous, ((R))obers ((s))irez de ((R))ollainchourt chevaliers, et Avisse, sa femme, salut en nostre Seig- 316 <?page no="329"?> bigte darin ein zwischen dem Hôtel-Dieu und einem gewissen Simon, dit de Fumechon, vollzogenes Tauschgeschäft, dessen Gültigkeit wiederum in LBHD420, 1310 durch Simons Lehnsherrn, Baudouin de Reuil, bestätigt wurde. LBHD430 ist ihrerseits im Zusammenhang mit der zehn Jahre zuvor entstandenen Urkunde LBHD416, 1308 zu sehen; in beiden Fällen handelt es sich nämlich um einen Rechtsakt, der zwischen dem Hôtel-Dieu als Begünstigtem und Robert, seigneur von Rollaincourt und Merlemont, und seiner Frau Avisse als ausstellender Partei vollzogen wurde. Man sieht, es lassen sich zahlreiche Querverbindungen knüpfen, die potentielle Indizien für redaktionelle Zusammenhänge sind. Leider vermag ich die - teils widersprüchlichen - Verdachtsmomente aufgrund meiner begrenzten Materialbasis aber nicht zu einem kohärenten Bild zusammenzufügen. Gerade die Orientierung an den äußeren Merkmalen des Layouts oder der Ornamentierung führt bisweilen in die Irre, da für den hier interessierenden Zeitraum kaum davon auszugehen ist, daß bestimmte Moden der visuellen Gestaltung auf bestimmte Schreibstätten beschränkt waren. Abgesehen von den sicheren Schreiberhandidentifizierungen sind letztlich alle der oben angesprochenen diplomatischen Indizien als zu schwach zu beurteilen, um darauf eine auch nur halbwegs abgesicherte Aussage über den redaktionellen Hintergrund der fraglichen Dokumente zu fundieren. Als Begünstigter bleibt die Maison-Dieu zumal im Fall der mindestens paarweise einer Schreiberhand zugeordneten Stücke ein recht plausibler Kandidat für die anfertigende Partei. Doch ist im Einzelfall durchaus denkbar, daß eine andere Institution in Beauvais, etwa das Kathedralkapitel oder auch die Offizialität, als Unterhändler fungierte, so daß einige Urkunden redaktionell eher der bischöflichen Kanzlei als dem Hôtel-Dieu zuzuweisen wären. Aufgrund der hier erhobenen Daten ist auch nicht auszuschließen, daß das Hôtel-Dieu zu seinen Gunsten ausgestellte Rechtsakte bis zu einem bestimmten Zeitpunkt generell von bischöflichem Kanzleipersonal anfertigen ließ. nieur“); dagegen sind LBHD409 und LBHD417 im Urkundenstil gehalten, sie beginnen also mit der intitulatio, worauf - ohne Gruß - die notificatio und die Kollektivadresse folgt: „((J))e, Raous de Saint Rimout escuiers, sires de Saint Rimout en partie,/ / . / . fais savoir à tous chaus qui ches presentes lettres verront et orront / . que ...“ (LBHD409, 1302) bzw. „((J))e, Colars de-L_englentier escuiers,/ / . fieus jadis / . mon signeur / . Pierre dit Tartier de-L_englentier chevalier,/ / . sires de le ville de Saint Rimout en p{ar}tie,/ / . fais savoir à tous chiaus qui ches presentes lettres v{er}ront {et} orront / . que ...“ (LBHD417, 1309). Freilich sei dahingestellt, inwieweit ein Vergleich von lateinischem und französischem Urkundenformular als Kriterium einer Schreibstättenzuordnung taugt. 317 <?page no="330"?> 5.7.2 Urkunden aus der Grafschaft Clermont-en-Beauvaisis - diplomatische Charakteristik Die Behandlung von LBHD464, LBHD471 und LBHD480 unter Kap. 5.7 ist zwar dadurch zu rechtfertigen, daß das Hôtel-Dieu de Beauvais auch in diesen drei Urkunden als begünstigte Partei auftritt. Es besteht jedoch insofern ein Unterschied zu den 27 unter 5.7.1 herangezogenen Stücken, als es sich hier vermutlich gerade nicht um Dokumente handelt, die im Hôtel- Dieu angefertigt wurden. Vielmehr ist wahrscheinlich, daß die Texte in der benachbarten Grafschaft Clermont-en-Beauvaisis, die dem Fürsten von Bourbon unterstand, redigiert und niedergeschrieben wurden. Aussteller ist in LBHD464 und LBHD471 Gilles de Nédonchel, der sich als „gouv{er}neur [de le conté] de Cl{er}mont“ bezeichnet; das Amt entspricht dem eines bailli, Gilles war also der höchste gräfliche Beamte und Repräsentant der landesherrlichen Macht. 560 LBHD480 wurde von zwei „co{m}missairez de par noble et puiss{ant} seigni{eur} mon-s{ieur} le duc de Bourbonn{ois}“ ausgestellt, die in der Grafschaft Clermont für die Bewirtschaftung des Waldes von Hez zuständig waren. - Ich möchte nicht weiter auf die diplomatischen Details der drei Dokumente eingehen; ihre relativ späte Entstehungszeit (1365, 1368, 1377) sowie die Eigenheiten des Dikats und der amtlichen Titulatur sprechen aber recht klar für eine Anfertigung durch die gräfliche Verwaltung (der durch LBHD464 beglaubigte Rechtsakt, ein auf Lebenszeit abgeschlossener Mietvertrag zwischen dem Hôtel-Dieu und Simon le Boulanger und dessen Sohn, wurde vor zwei „auditeurs des l{ett}res de le baillie de Cl{er}mont, establis du co{m}mandement mon-s{eigneur} le duc de Bourbonn{ois}“ vollzogen). Die im folgenden Abschnitt, 5.7.3, vorgenommene gemeinsame sprachliche Auswertung der Urkunden aus der Grafschaft Clermont und der 27 unter 5.7.1 versammelten Dokumente steht, wie gesagt, ein Stück weit im Dienste der Darstellungsökonomie. Sie läßt sich aber auch durch das ‘diakommunikative’ Kriterium rechtfertigen, daß in allen dreißig Fällen das Hôtel-Dieu die begünstigte Partei ist. In LBHD464 fungiert der Aussteller, der gouverneur de Clermont, wie das Kathedralkapitel in LBHD383, nur als Organ der freiwilligen Gerichtsbarkeit; Urheber des Rechtsakts sind Simon le Boulanger und dessen Sohn. In LBHD471 und LBHD480 sind die amtlichen Aussteller dagegen auch Urheber der Rechtshandlung. Insofern unterscheiden sich die beiden Urkunden tatsächlich von den übrigen 28, in denen die Urheber nicht kraft amtlicher Befugnis, sondern als Privatpersonen agieren. 560 Vgl. dazu Carolus-Barré [1944] (1998a), zu Gilles de Nédonchel pp. 110f. 318 <?page no="331"?> 5.7.3 Sprachlicher Befund Da ich hier nur auf ein paar ausgewählte Urkunden genauer zu sprechen kommen möchte, verzichte ich auf eine tabellarische Übersicht über die Ergebnisse der Auswertung aller dreißig Urkunden. Es folgen lediglich drei Säulendiagramme zur Visualisierung des Befunds. Im Verlauf der Analyse werde ich bestimmte Daten zudem noch einmal in tabellarischer Form festhalten. 319 <?page no="332"?> Abb. 23: Feminine Determinanten und direktes feminines Objektpronomen (Kap. 5.7) - prozentualer Anteil von le/ me/ te/ se 320 <?page no="333"?> Abb. 24: Zweikasusflexion des maskulinen bestimmten Artikels (Kap. 5.7) - prozentualer Anteil von li/ ly in CR-Funktion 321 <?page no="334"?> Abb. 25: Graphien <ch> vs. <c> vs. <s> (Kap. 5.7) - prozentualer Anteil von <ch> an der Gesamtsumme der Belege und an der Summe lexematisch frei variierender Belege 322 <?page no="335"?> Die Ergebnisse der sprachlichen Untersuchung entsprechen im Großen und Ganzen den normativen Trends, die in Kap. 5.5 für die Urkunden aus dem redaktionellen Umfeld des Bischofs von Beauvais festgestellt wurden: Im Bereich der Artikelflexion läßt sich ein extremer Unterschied zwischen siebzehn älteren Urkunden, die allesamt einen Wert von 100% für li aufweisen, und den fünf jüngsten Texten im Subkorpus feststellen, wo jeweils ein Wert von 0% für li erreicht wird. Lediglich zwei Urkunden, LBHD430, 1318 und LBHD434, 1321, weisen einen zwischen den Extrempolen liegenden Anteil von 60% bzw. 88% für li auf, wobei sich für die darin vorkommenden ‘Verstöße’ gegen die etymologische Artikelflexion keine besonderen Kontexte ausmachen lassen. 561 Der Zusammenbruch der Zweikasusflexion wurde anhand der Urkunden des Bischofs von Beauvais und seiner weltlichen Gerichtsbarkeit auf den Zeitraum zwischen 1347 (LBHD453) und 1358 (LBSL366) eingegrenzt. Diese Festlegung läßt sich hier nicht weiter präzisieren, da in den vier Urkunden LBHD455, LBHD457, LBHD462 und LBHD463 aus dem Zeitraum 1349 bis 1364 keine maskulinen Artikel in CR-Funktion vorkommen, so daß die älteste Urkunde im Subkorpus, die kasusflektierte Artikelformen aufweist, aus dem Jahr 1321 stammt (LBHD434) und die jüngste, die nur noch le oder les aufweist, aus dem Jahr 1365 (LBHD464). Jedenfalls widersprechen die hier erzielten Ergebnisse nicht dem in Kap. 5.5 erhobenen Befund. Lediglich zur Stützung der These, daß es sich bei der Zweikasusflexion um ein Phänomen des schriftsprachlichen Konservatismus handelt, das mehr oder weniger schlagartig als obsolet empfunden und aufgegeben wurde, eignen sich die hier erhobenen Werte nicht, da der mutmaßliche Zeitpunkt des Zusammenbruchs durch eine über vierzig Jahre umfassende Beleglücke verdeckt wird. Ein erster deutlicher Einbruch bei der Verwendung der pikardischen Determinierer le/ me/ te/ se ist bei LBHD430, 1318 (12%) zu beobachten. Es scheint sich hier jedoch um einen frühen ‘Ausreißer’ zu handeln, der noch genauer zu betrachten sein wird (s.u.). Denn für den Zeitraum zwischen 1321 (LBHD434) und 1368 (LBHD471) werden wieder mehrheitlich Extremwerte von 100% für die pikardischen Varianten erreicht. 562 Insofern erschei- 561 Vgl. „((d))es quielz le porteur de ces lettres seroit creus p{ar} son simple s{er}ement“; „les quelz heritages [...] sont assis ou vingnoble de Mellemont“ (LBHD430, 1318); „et est assavoir que le dit mon-sengneur Regnaut, mon sengneur Colart {et} je aussint devons estre ramenteu par especial des dis religieus aprés vespres“ (LBHD434, 1321). 562 In LBHD434 (67%) steht eine Okkurrenz von la zwei Okkurrenzen von le gegenüber: „en la maniere qui enss{ieut}“ vs. „le Mais{on} Dieu de Beauvez“ und „à le nativité n{ost}res-S{eigneur}“. In LBHD480 (67%) steht insgesamt dreimal la, und zwar interessanterweise immer zur Spezifizierung der forêt de Hez: „la d{i}c{t}e forest de Hés“, „la d{i}c{t}e forest“ und „en la d{i}c{t}e forest“; allerdings steht einmal auch „se forest de Hés“. 323 <?page no="336"?> nen die Formen le/ me/ te/ se in diesem Subkorpus während des Zeitraums zwischen 1350 und 1380 sogar stabiler als in den unter 5.5 behandelten Urkunden aus dem Umfeld des Bischofs. In beiden Subkorpora ist aber der definitive Einbruch im Bereich der femininen Determinanten und Objektpronomen - wie auch im Bereich der <ch>/ <c>/ <s>-Graphie - erst im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts erfolgt. Davon zeugen bei den hier behandelten Urkunden zwar erst die beiden Stücke aus dem frühen 15. Jahrhundert, LBHD498 und LBHD500; mit Werten von jeweils 0% für le/ me/ te/ se und für lexematisch frei variierendes <ch> ist der Befund allerdings eindeutig. Interessante Beobachtungen ergeben sich hinsichtlich der beiden Merkmale bei vier verhältnismäßig frühen Urkunden: LBHD330, LBHD366 und LBHD430 zeigen nämlich auffallend niedrige Werte für die lexematisch frei variierende Graphie <ch>; LBHD366, LBHD378 und LBHD430 zeigen auffallend niedrige Werte für pikardisches le/ me/ te/ se. 563 LBHD430 ist zudem, wie oben erwähnt, durch einen verhältnismäßig niedrigen Wert im Bereich der Artikelflexion gekennzeichnet (60% für li). - Zur besseren Orientierung gebe ich nun eine tabellarische Übersicht über die in den vier Urkunden erreichten Werte, wobei ich zum Vergleich noch CB001, die älteste volkssprachliche Urkunde aus den Archives départementales de l’Oise, hinzunehme (vgl. auch Abb. 33 im Anhang III) sowie LBSL278, die älteste, eigentlich erst im nächsten Kapitel zu behandelnde Urkunde aus dem Bestand der Maladrerie Saint-Lazare: 563 In LBHD330 finden sich keine Belege für die femininen Determinanten und Objektpronomen. LBHD378 weist zwar 0% für le/ me/ te/ se auf, dafür aber einen Wert von 76% für lexematisch frei variierendes <ch>. 324 <?page no="337"?> Urkunde CB001 LBSL278 LBHD330 LBHD366 LBHD378 LBHD430 Jahr 1241 1265 1272 1284 1288 1318 Gesamtbelegzahl la/ ma/ ta/ sa oder le/ me/ te/ se 9 4 0 14 13 26 % le/ me/ te/ se von gesamt 44% 0% - 0% 0% 12% Gesamtbelegzahl mask. Artikel li/ le(s) in CR- Funktion 3 1 0 3 3 5 % li von gesamt li/ le(s) 100% 100% - 100% 100% 60% Gesamtbelegzahl <ch>/ <c>/ <s> 28 14 6 12 21 54 % <ch> von gesamt <ch>/ <c>/ <s> 25% 7% 0% 0% 71% 9% % <ch> von frei variierend <ch>/ <c> oder <ch>/ <s> 9% 0% 0% 0% 76% 13% Abb. 26: Auffällige Befunde im Subkorpus 5.7 Was hat es mit diesen Texten nun auf sich? LBHD330 wurde von Renaud de Saint-Denis, seigneur von Montiers ausgestellt. Der für das graphische Merkmal erzielte Befund darf allerdings nicht zu der Annahme verleiten, daß wir es hier mit einem für seine frühe Entstehungszeit außergewöhnlichen Text zu tun hätten. Im Gegenteil zeigt der Vergleich mit CB001 und LBSL278, daß relativ hohe Werte für die <c>- Schreibung und auch für die - in LBHD330 allerdings nicht belegten - überregionalen Formen der femininen Determinanten und Objektprono- 325 <?page no="338"?> men in den frühesten Urkundentexten aus Beauvais 564 keine Seltenheit sind. Hier ist auf Gossens (z.B. 1953/ 1954, 157f.) wiederholt geäußerte Behauptung zu verweisen, daß die Urkunden aus der Pikardie erst in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ein zunehmend pikardisches Gepräge angenommen hätten. Zwar kann ich diese These aufgrund meines begrenzten Korpus nicht weiter erhärten; gewisse Indizien für deren Richtigkeit scheinen mir mit den drei genannten Urkunden aber vorzuliegen, so daß ich die Annahme einer überregionalen, wohl genuin literarischen scripta commune, aus der sich erst nach und nach die regionalen Urkundensprachen ‘ausgliederten’, keineswegs für so unbegründet halte wie etwa Dees (1985), Pfister (1993) oder Lodge (2004, 71-76). Auf die Aussprache dürfte sich die Verwendung der Graphie <c> freilich nicht ausgewirkt haben; vielmehr würde ich von einer überregionalen Schreibung ausgehen, die für unterschiedliche dialektale Realisierungen offen war. 565 Im übrigen ist LBHD330 auch nicht gänzlich frei von pikardischen Skriptaformen: es findet sich darin beispielsweise zweimal der maskuline Possessivbegleiter „men“ (vgl. Gossen 2 1976, 125f., §66). LBHD366 stammt bereits aus dem Jahr 1284 und weist sowohl im Bereich von le/ me/ te/ se als auch im Bereich von <ch> einen Negativbefund auf. Hier könnte allerdings die Identität der Aussteller als Erklärungsmöglichkeit in Betracht kommen; es handelt sich nämlich um „Jehanz sires de Chatiauvillain {et} de Luzy“ und seine Frau Jeanne, die dem Hôtel-Dieu die Stiftung zweier Kornrenten bestätigten. Wie bereits unter 5.6.1 angemerkt wurde, handelte es sich bei denen von Châteauvillain um ein sehr einflußreiches Adelsgeschlecht, das seit jeher in engster Verbindung zum französischen Königshaus stand. Bei P[ère] Anselme/ du Fourny ( 3 1726, Bd. 2, 339-342) wird berichtet, Jeans Großvater, Hugo III. von Broyes, sei unter Ludwig VII. ins Heilige Land gezogen; Philipp II. August habe Hugo im Jahr 1184 die königliche Armee im Feldzug von Vergy gegen den Fürsten von Burgund anvertraut. - Nun ist LBHD366 aber keineswegs durch eine diatopisch unmarkierte Skripta gekennzeichnet. Zwar zeigen die hier untersuchten Merkmale eine durchweg nicht-pikardische Ausprägung; dafür weisen andere, für Beauvais gänzlich untypische Formen wie „donei“, „queiles“, „nativitei“, „passei“, „chouses“, „blef“, „sum molin“ und „ces“ 564 CB001 wurde wahrscheinlich in der Abtei Saint-Lucien de Beauvais niedergeschrieben (vgl. Carolus-Barré 1964, LXXXIII); auch die Empfänger der Urkunde sind im Beauvaisis zu verorten. LBSL278 wurde von einem gewissen Renaud de Bourguillemont ausgestellt, dessen Sitz keine zehn Kilometer außerhalb von Beauvais lag. 565 Vgl. dazu etwa Cerquiglini (2007, 212) mit Bezug auf die mittelalterliche Literatursprache: „un français [...] sans attache particulière consciente, mais à l’intention interdialectale, bon à toute bouche qui voulût bien le prononcer“. 326 <?page no="339"?> (für nfr. ceux) recht deutlich auf eine ostfranzösische Schreibtradition hin. 566 Châteauvillain, der Stammsitz der Familie, liegt in der heutigen Haute- Marne, etwa 70 Kilometer südöstlich von Troyes. Die sprachlichen Besonderheiten könnten als Indiz dafür gewertet werden, daß die Urkunde dort angefertigt wurde. Jedenfalls ist auch das Diktat im Vergleich zu den ansonsten zugunsten des Hôtel-Dieu ausgestellten Urkunden recht ungewöhnlich (z.B. „la g{r}ant Hostelerie de Belvaiz“), und die äußeren Merkmale des Layouts, der Schrift und des Initialschmucks zeugen von großer Kunstfertigkeit und einem entsprechend hohen repräsentativen Anspruch (vgl. auch Abb. 34 im Anhang III). Auch die vier Jahre jüngere Urkunde LBHD378 fällt durch ein ungewöhnliches Diktat auf, so daß möglicherweise auch hier nicht von einer Anfertigung durch das Hôtel-Dieu auszugehen ist. Von Gobert de Dargies, der die Urkunde gemeinsam mit seiner Frau ausstellte, finden sich zwei andere Urkunden in Carolus-Barré (1964, Nr. 142 und Nr. 198). Ungewöhnlich erscheint in LBHD378, daß in der intitulatio darauf hingewiesen wird, daß Dargies im Gebiet der Diözese Amiens liegt („(N))ous, Gobers chevaliers {et} sires de Dargies, de la diocés d’Amiens, {et} ((I))nde [sic], dame de che meisme lieu“). Auf die Frage nach dem Ort der Redaktion und Niederschrift der - wiederum überaus kunstvoll und repräsentativ gestalteten - Urkunde vermag ich jedoch keine Antwort zu geben (die von Carolus- Barré für seine Nr. 142 und Nr. 198 in Betracht gezogenen Schreibstätten scheiden hier aus). In sprachlicher Hinsicht fällt jedenfalls auf, daß zwar zu 79% lexematisch frei variierende <ch>-Schreibungen vorkommen, daß auf die pikardische Variante der femininen Determinanten und Objektpronomen aber komplett verzichtet wurde. Zuletzt noch eine Bemerkung zur Urkunde LBHD430, die, wie schon unter 5.7.1 erwähnt, von den gleichen Ausstellern stammt wie das zehn Jahre ältere Stück LBHD416, nämlich von Robert, seigneur von Rollaincourt und Merlement, und seiner Frau Avisse. Auch hatte ich unter 5.7.1 bereits darauf hingewiesen, daß mir der recht aufwendig gestaltete Initialschmuck von LBHD430 mit der Ornamentierung einer - allerdings acht Jahre älteren - Offizialatsurkunde vergleichbar erscheint. Diese mutmaßliche Parallele 566 Vgl. dazu Dees (1980, 214, 276, 148, 141, 85, 73). - Interessanterweise hat Renaud de Saint-Quentin, der im Jahr 1339 eine beglaubigte Abschrift von LBHD366 unter dem Siegel der cour épiscopale anfertigte („Reginald{us}, pro cop{ia} {et} coll{ati}one“; LBHD449, 1339), die auffälligen Formen weitestgehend unverändert aus dem Original übernommen: z.B. „donei“, „nativitei“, „passei“, „chouses“, „blef“, „sum molin“, „ces“ (für nfr. ceux) usw. Bei „queilez“ wurde zwar <s> am Wortende durch <z> ersetzt; die diphthongische, in der Pikardie völlig unübliche Schreibung des Vokals wurde aber beibehalten. Lediglich einmal, im Syntagma „le grant Hostelerie de Belvaiz“, wurde eine nicht-pikardische durch eine pikardische Artikelform ersetzt (an anderer Stelle heißt es dafür „en la dicte Hostelerie“). 327 <?page no="340"?> hilft freilich nicht weiter bei der Erklärung des sprachlichen Befunds: während in LBHD416 nämlich noch relativ hohe Werte von 71% bzw. 79% für le/ me/ te/ se und die lexematisch frei variierende Graphie <ch> erreicht werden, weist LBHD430 lediglich einen Anteil von 12% bzw. 13% für diese Formen auf. Zudem werden in LBHD430 nur 60% für den kasusflektierten Artikel li erreicht, während in LBHD416 kein einziger ‘Verstoß’ gegen die Zweikasusflexion nachzuweisen ist. Die sprachlichen Kontexte, in denen in LBHD430 pikardische Formen stehen, sind „à le vingne Williaume de Fouqueroles {et} à le vin<zwt/ >gne Drieu le Carpentier“ sowie „une autre pieche de vingne“, „anchois“ und drei Formen des Verbs renonchier. Allerdings steht das Lexem vigne in der Urkunde noch häufiger in Verbindung mit la, und auch die Form „piece“ ist im Text belegt. - Letztlich vermag ich keine schlüssige Begründung für den schwach ausgeprägten regionalsprachlichen Charakter der Urkunde und für ihre Inkonsequenz im Bereich der Artikelflexion zu geben. Im Ergebnis führt die Untersuchung des hier untersuchten Subkorpus zu der Einsicht, daß die zu Beginn von Abschnitt 5.7.1 als Möglichkeit in Erwägung gezogene Schreibstättenzuweisung von 27 Urkunden zum Hôtel-Dieu als begünstigter Partei in mindestens einem Fall, nämlich der Urkunde von Jean und Jeanne de Châteauvillain (LBHD366), mit hoher Wahrscheinlichkeit revidiert werden muß. Auch die von Gobert de Dargies ausgestellte Urkunde LBHD378 fällt hinsichtlich ihrer äußeren und ihrer sprachlichen Merkmale aus der Reihe. Zur Beantwortung der Frage, ob die übrigen 25 Stücke redaktionell dem Hôtel-Dieu oder einer als Unterhändler fungierenden Institution, etwa dem Kathedralkapitel oder der Offizialität von Beauvais, zuzuordnen sind, konnten keine verläßlichen Anhaltspunkte gesammelt werden. Um hier Klarheit zu schaffen, wäre die paläographische Untersuchung eines größeren Korpus von zeitgenössischen lateinischen Urkunden nötig, wie sie insbesondere von der Offizialität zahlreich ausgestellt wurden. Die hier immerhin für zwölf französische Urkunden geleisteten Schreiberhandidentifizierungen stellen jedenfalls ein starkes Indiz für die Herkunft der demselben Schreiber zugeordneten Texte aus demselben redaktionellen Milieu dar, wobei allerdings die Frage offenbleibt, für welche Institution die einzelnen Schreiber nun tätig waren. Besonders deutlich wird diese Problematik im Fall von Schreiber C, der neben drei im Namen von Adligen zugunsten des Hôtel-Dieu ausgestellten Urkunden auch einen Akt der freiwilligen Gerichtsbarkeit des Kathedralkapitels aufs Pergament gebracht hat. Bei den drei unter 5.7.2 vorgestellten Urkunden bleibt die Annahme der redaktionellen Herkunft aus der Grafschaft Clermont vom sprachlichen Befund unberührt. Die extrem hohen Werte, die LBHD464, 1365 und LBHD471, 1368 im Bereich der pikardischen Varianten erreichen, übertreffen im Fall von le/ me/ te/ se sogar deutlich die Prozentsätze, die in Kap. 5.5 328 <?page no="341"?> für ungefähr zur gleichen Zeit entstandene Urkunden des Bischofs oder des bailli von Beauvais ermittelt wurden (vgl. etwa LBHD461, 1361: 56%; LBHD470, 1368: 24%; LBHD474, 1370: 21%). Mit LBHD480, 1377, die für lexematisch frei variierendes <ch> nur noch einen Wert von 33% zeigt, kann der ungefähre Zeitpunkt des - wie es scheint - definitiven Einbruchs der Pikarditätswerte aber, wie in Kap. 5.5, auf das letzte Viertel des 14. Jahrhunderts eingegrenzt werden. 5.8 Korpusauswertung (IV): Urkundengeschäfte zwischen der Maladrerie Saint-Lazare und Adligen oder Bürgerlichen (einschließlich einer Urkunde des Kathedralkapitels von Beauvais) Von den neun hier zu behandelnden Urkunden wurden vier von einem Adligen zugunsten der Maladrerie Saint-Lazare ausgestellt (LBSL278, LBSL320, LBSL344, LBSL351); drei wurden von der Maladrerie selbst ausgestellt und gesiegelt (es handelt sich jeweils um einen mit einer bürgerlichen Familie geschlossenen Mietvertrag; LBSL362, LBSL376 und LBSL385); in einer tritt ein écuyer, Jean de Thère, als Mitaussteller neben der Maladrerie auf (LBSL373a), und eine Urkunde wurde - wie LBHD383 (vgl. Kap. 5.7.1) - vom Kathedralkapitel ausgestellt, unter dessen Siegel ein gewisser Guillaume Éloy aus Campremy der Maladrerie eine Kornrente stiftete (LBSL353). In sechs Fällen ist die Maladrerie also die begünstigte Partei der Rechtshandlung (in LBSL373a sind die beiden Mitaussteller zugleich die Begünstigten). In den drei Fällen, in denen die Maladrerie selbst als alleiniger Aussteller auftritt, sind die Begünstigten zwar formal gesehen die bürgerlichen Mieter; die Tatsache, daß uns die drei Dokumente im Bestand der Maladrerie überliefert sind, zeigt aber, daß hier von seiten des Ausstellers ein starkes Interesse an der Archivierung bestand, weshalb wohl davon auszugehen ist, daß de facto die Maldrerie selbst den größten Nutzen aus der Beurkundung zog. Offen bleibt allerdings die Frage, weshalb die drei Mietvereinbarungen nicht vor einer Instanz der feiwilligen Gerichtsbarkeit vollzogen wurden, wo doch auf dieses Verfahren nicht nur bei zahlreichen Vermietungen durch das Hôtel-Dieu, sondern auch durch die Maladrerie zurückgegriffen wurde (vgl. LBHD453, LBHD464, LBHD470, LBHD479a, LBHD489, LBHD509; LBSL372, LBSL387, LBSL388, LBSL389 und LBSL401). Jedenfalls würde man annehmen, daß im Streitfall der Maladrerie eine von einer dritten Instanz vorgenommene Beglaubigung von größerem Nutzen gewesen sein dürfte als eine Urkunde, die nur das eigene Siegel trug. Im Fall von LBSL353 steht die Anfertigung des Dokuments durch das Kathedralkapitel als ausstellende Partei außer Frage. Aus dem Tenor der 329 <?page no="342"?> Urkunde geht nämlich hervor, daß der Urheber den Rechtsakt vor Jean de Corbelessart, einem clerc juré des prévôt du chapitre, vollzogen hat; auf der Plika findet sich auch die Unterfertigung „Corbeless{art}“. (17) Sachent tuit que p{ar}-devant Jehan de Corbelessart, n{ost}re clerc juré {et} à che deputé,/ / . à cui no{us} adjoustons fois en ces choses {et} en autres, vint en p{ro}pre p{er}sone Guill{aum}es Eloy de Campremi / . {et} recognut pour soi, pour ses hoirs {et} pour ceus qui de lui aront cause ... (LBSL353, 1321) Es kann hier die bischöfliche Kanzlei als Schreibstätte angenommen werden, da eine redaktionelle Zuweisung von Urkunden des Kathedralkapitels zur bischöflichen Kanzlei prinzipiell immer plausibel erscheint. 567 Im Vergleich zu den in Kap. 5.5 behandelten Urkunden gibt sich LBSL353 allerdings nur gemäßigt pikardisch: 47% für le/ me/ te/ se und 69% für lexematisch frei variierendes <ch> sind im Vergleich mit den wenige Jahre später entstandenen Urkunden LBHD437, 1326 und LBHD443, 1329 des bailli bzw. des Bischofs von Beauvais keine sonderlich hohen Werte; im Bereich der Kasusflexion des maskulinen Artikels werden 100% für li erreicht. Ansonsten ist der diachrone Vergleich der neun hier zugrundegelegten Urkunden durch das Kriterium zu rechtfertigen, daß die Maladrerie in allen neun Fällen die Partei ist, die den größten Nutzen aus dem beurkundeten Rechtsgeschäft zieht, und daß die andere Partei ein Bürgerlicher oder ein Angehöriger des niederen Adels ist. Abgesehen von LBSL353 kommt in allen Fällen die Maladrerie als Schreibstätte in Frage. Da im Subkorpus aber keine identischen Schreiberhände repräsentiert sind und da auch Kanzleivermerke oder Hinweise im Tenor fehlen, die auf den redaktionellen Hintergrund der Dokumente schließen ließen, muß die Frage nach der anfertigenden Institution hier offenbleiben. Wie bei den unter 5.7.1 behandelten Urkunden, die zugunsten des Hôtel-Dieu ausgestellt wurden, kann letztlich auch im Fall der hier untersuchten, von oder zugunsten der Maladrerie Saint-Lazare ausgestellten Dokumente nicht ausgeschlossen werden, daß sie bis zu einem bestimmten Zeitpunkt von bischöflichem Kanzleipersonal angefertigt wurden, möglicherweise durch die Vermittlung des Kathedralkapitels (vgl. Doyen 1842, Bd. I, LII; vgl. Anm. 567). Der sprachliche Befund, den die Auswertung der ältesten zugunsten der Maladrerie ausgestellten Urkunde, LBSL278, ergeben hat, wurde bereits oben, unter 5.7.3, kommentiert. Ansonsten geben die am Ende dieses Abschnitts abgebildeten Säulendiagramme lediglich im Fall von LBSL376 567 Vgl. Tock (1991, 219f.); Gleßgen (2008, 425 und 428). Vgl. zum Kathedralkapitel von Beauvais auch Doyen (1842, Bd. I, XLVI-LI). - Doyen (1842, Bd. I, LII) weist im übrigen darauf hin, daß die Maladrerie der weltlichen und der geistlichen Gerichtsbarkeit des Kathedralkapitels unterstand. 330 <?page no="343"?> Anlaß zu einer genaueren Analyse des Befunds. Hier wird ein Anteil von 75% für den kasusflektierten Artikel li erreicht, was für die Entstehungszeit der Urkunde, das Jahr 1380, doch recht außergewöhnlich erscheint. Bei genauerer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, daß der hohe Wert lediglich auf drei von vier Okkurrenzen einer maskulinen Artikelform in CR-Funktion zurückzuführen ist und daß zwei Vorkommnisse von li im Kontext einer Befristungsformel stehen („tant et si longuem{en}t q{ue} li uns d’eulz viv{er}a ap{ré}s l’autre“; „tant {com}me il viv{er}ont en<zwt/ >semble {et} li uns seur_viv{er}a l’autre“; vgl dazu auch LBHD479a in Kap. 5.5.1); auffällig ist dabei auch die Verbindung mit dem kasusflektierten, substantivisch gebrauchten „uns“. Die dritte li-Form steht in der intitulatio („((A)) tous ceulz qui ces presentes lettres verront et orront, li maistres, freres {et} sereurs de le Maison Saint Ladre de Beauvaiz, salut“), was wiederum auf einen kontextuell fixierten, womöglich bewußt archaisierenden Gebrauch hindeutet. Im Gegensatz dazu steht die einzige nicht-kasusflektierte Form des maskulinen Artikels in CR-Funktion im frei formulierten dispositiven Teil der Urkunde: „La q{ue}le maison les dis p{re}nans et chascun d’eulz seront tenus et deveront maintenir {et} attenir b{ie}n {et} suffisanm{en}t de toutes atteneures {et} rep{ar}ac{i}ons co{n}venables {et} neccessairez [Leblond (1922, 522): nécessairez].“ 568 Ansonsten erscheinen hier nur die hohen Werte für le/ me/ te/ se in den relativ spät entstandenen Texten LBSL376 (80%) und LBSL385 (88%) bemerkenswert. Vor allem letztere Urkunde, die wohlgemerkt erst aus dem Jahr 1401 stammt, verhält sich unter diesem Aspekt im Vergleich zu den späteren der in Kap. 5.5 und 5.7 behandelten Dokumente doch auffallend konservativ (vgl. LBSL378, 1381: 4%; LBHD489, 1390: 3%; LBHD498, 1400: 0%; LBHD500, 1407: 0%). Hier könnte höchstens noch eine Parallele zu den beiden unter 5.6.2 bzw. 5.6.3 behandelten Urkunden LBSL389 und LBSL379 gezogen werden, die von der prévôté d’Angy bzw. dem bailli de Vermandois, also von königlichen Institutionen, ausgestellt wurden und die für die Varianten le/ me/ te/ se einen Wert von 31% bzw. 60% aufweisen. Andererseits folgen die beiden von der Maladrerie ausgestellten Urkunden im Bereich der <ch>/ <c>/ <s>-Variation dem gleichen Trend wie alle bislang unter- 568 Die einzige Okkurrenz von li (25%), die in LBSL362 nachweisbar ist, steht übrigens nicht in einem formelhaften Kontext, sondern im frei formulierten Dispositiv: „et aveuc che li dit enffant t{er}eront [Leblond (1922, 491): tenront] {et} goïront, tant que il viveront et l’un ap{ré}s l’autre, {com}me dit est, une pieche de t{er}re, si {com}me elle se {com}porte ...“ - Interessanterweise steht die Form hier im Kontrast zu „l’un ap{ré}s l’autre“. Außerdem finden sich in der Urkunde drei Okkurrenzen von le(s) in CR-Funktion: „le maistre et les freres de le Maison Saint Ladre de Biauveis“ (in der intitulatio! ); „ta{n}t {com}me les dess{us}-dis Jehan {et} Guillemote {et} l’un d’aulz ap{ré}s le dechés de l’autre aront [Leblond (1922, 490): aroit] vie naturelle es corps“ (wiederum im Kontrast zu „l’un“). 331 <?page no="344"?> suchten Texte, wo nach dem Jahr 1380 kaum mehr Werte für lexematisch frei variierendes <ch> im zweistelligen Bereich nachzuweisen sind (lediglich bei LBSL397, 1406 werden noch 12% erreicht; LBSL376, 1380 weist einen Anteil von 35% auf, LBSL385, 1401 einen Anteil von 7%; die im folgenden Abschnitt zu behandelnde Urkunde LBHD487, 1390 kommt auf einen Wert von 16%). Hinweise auf einen redaktionellen Zusammenhang zwischen den Urkunden der Maladrerie und denen der prévôté d’Angy bzw. des bailli de Vermandois gibt es freilich nicht. Man muß es wohl als gegeben hinnehmen, daß in vereinzelten Urkunden aus dem 15. Jahrhundert durchaus noch höhere Werte für le/ me/ te/ se erreicht werden können, und dies ganz unabhängig vom institutionellen Hintergrund der Stücke. Ein Argument für die im Vergleich zur graphischen Variante <ch> nach 1380 mitunter noch größere Vitalität der femininen Determinierer könnte sein, daß le als hochfrequente gesprochene Form (heute ist im Pikardischen übrigens che(tte) als Artikel an die Stelle von le getreten) das Verhalten der Schreiber womöglich nachhaltiger punktuell beeinflussen konnte als die Aussprache des Konsonanten [(t) ʃ ], wo auch die innovative Graphem-Phonem-Korrespondenz ‘<c> vor <e> oder <i> entspricht [( t)ʃ ]’, die ja mindestens im nordöstlichen Teil der Pikardie im 13. Jahrhundert vermutlich von vornherein gegolten hatte (vgl. aber auch CB001, LBSL278, LBHD330 und LBHD366 unter 5.7.3), als eindeutige Regel interpretiert und verinnerlicht werden konnte. Dagegen erscheint ein automatisierter, gewissermaßen ideographischer Gebrauch von <la> für [lə] angesichts der dazu im Widerspruch stehenden phonographischen Regel, die bei der maskulinen Artikelform le galt, doch kognitiv weniger gut abgesichert und von daher anfälliger für Interferenzen. 332 <?page no="345"?> Abb. 27: Feminine Determinanten und direktes feminines Objektpronomen (Kap. 5.8) - prozentualer Anteil von le/ me/ te/ se 333 <?page no="346"?> Abb. 28: Zweikasusflexion des maskulinen bestimmten Artikels (Kap. 5.8) - prozentualer Anteil von li/ ly in CR-Funktion 334 <?page no="347"?> Abb. 29: Graphien <ch> vs. <c> vs. <s> (Kap. 5.8) - prozentualer Anteil von <ch> an der Gesamtsumme der Belege und an der Summe lexematisch frei variierender Belege 335 <?page no="348"?> 5.9 Korpusauswertung (V): Urkundengeschäfte zwischen dem Hôtel-Dieu oder der Maladrerie Saint-Lazare und einer anderen kirchlichen Institution (einschließlich einer Urkunde der Abtei Saint-Germer de Fly) Eine redaktionelle Zuordnung erweist sich bei den acht Urkunden aus meinem letzten Subkorpus als besonders schwierig. Es handelt sich nämlich in sieben Fällen um Rechtsakte, die zwischen einem unserer beiden Hospitäler und einer anderen kirchlichen Institution vollzogen wurden. Ebenso wie das Hôtel-Dieu oder die Maladrerie kommt in jedem der sieben Fälle auch die andere kirchliche Institution für die Anfertigung der Urkunde in Frage - wenn nicht eine dritte Instanz, die im Tenor nicht genannt wird, als Unterhändler fungierte. In LBHD487 wird sogar explizit auf einen bereits vor dem bailli de Beauvais angestrengten Prozeß hingewiesen, der aber letztlich durch eine außergerichtliche Einigung, die durch LBHD487 dokumentiert wird, verhindert werden konnte: (18) Co{m}me procés feust meu en cas de saisine / . et de nouvelleté p{ar}devant le bailly de Beauvez / . entre nous de Saint Laurens, demandeurs ou-d{it} cas, d’une part,/ / . et nous de l’Ostel Dieu de Beauvez, deffendeurs, d’ault{re} ... Pour le-quel debat eschever et paix nourrir ent{re} nous,/ / . nous du-d{it} debat et de tout ce qui s’en despent avons traictié et accordé ensemble et p{ar} ces p{rese}ntes traictons et accordons p{ar} la maniere qui s’ens{uit}: / / . ... (LBHD487, 1390) Das Gleiche gilt für LBHD515: (19) Comme p{ro}cés soit meu et enco{m}mencié par-deva{n}t mon-s{ieu}r / . le bailli de Beauv{ais} / . entre nous de Saint Berthemil, demandeurs, à l’enco{n}tre de nous, maistre, freres {et} sereurs dudit Hostel Dieu ... Et sur ce estions en voye d’avoir procés les ungs contre les aut{re}s,/ / . pour le quel apaisier, eschiver aux grans frais, do{m}mages et despens qui s’en eussent peu ou porroie{n}t ensuir, p{ar} le moyen de nos conseill{ie}rs avons assemblé emsemble plus{ieu}rs foys, veu {et} regardé les registres et terriers de chascune p{ar}tie. Savoir faisons que, eu par nous {et} ch{asc}un de nous advis {et} deliberat{i}on, en nos chappitres / . chappitulans et nos chappit{re}s faisans et tenans, p{ar} grant {et} meure deliberat{i}on et affin de nourrir paix {et} amour entre nous, qui so{m}mes gens d’egl{is}e, avons sur les choses dictes traictié, transigé {et} accordé ensemble ... (LBHD515, 1455) In beiden Fällen erscheint daher die Annahme einer redaktionellen Intervention der bischöflichen Kanzlei nicht abwegig. Ein Dokument, bei dem ich eine Anfertigung durch das Hôtel-Dieu mit einiger Sicherheit ausschießen möchte, ist LBHD475. Es handelt sich dabei um einen sogenannten Chirographen (auch Teilurkunde). Bei diesem beson- 336 <?page no="349"?> deren Urkundentyp, der im 10. Jahrhundert in England aufkam und auf dem Festland vor allem in der nördlichen Pikardie verbreitet war, 569 wird der Tenor zweifach (oder mehrfach) auf demselben Pergamentstück niedergeschrieben; sodann wird dieses nach einem ondulierten oder gezackten Schnittmuster 570 geteilt, so daß jede der am Urkundengeschäft beteiligten Parteien ein textidentisches Originalexemplar zur Archivierung erhält. Häufig steht, wie auch bei LBHD475, entlang der Schnittlinie eine sogenannte Devise, z.B. das Wort CYROGRAPHUM. Da die Beglaubigung einer Teilurkunde bereits durch die Existenz des anderen Originalexemplars gewährleistet ist, das im Streitfall zum Authentizitätsabgleich herangezogen werden kann, bedarf ein Chirograph eigentlich keines Siegels. Mit LBHD475 liegt allerdings der Sonderfall einer gesiegelten Teilurkunde vor, wobei hier offenbar beide Teile (überliefert ist nur der rechte) mit den Siegeln beider Parteien, nämlich des Hôtel-Dieu und der Abtei von Froidmont, versehen wurden. Die Siegel sind allerdings nicht erhalten. - Jedenfalls scheint mir die Einmaligkeit dieses Urkundentyps im Bestand des Hôtel-Dieu doch recht klar für eine Anfertigung durch die Abtei von Froidmont oder durch eine dritte Partei zu sprechen. Bei den übrigen Dokumenten handelt es sich um Rechtsgeschäfte zwischen dem Hôtel-Dieu und der Abtei Saint-Lucien de Beauvais (LBHD467), zwischen dem Hôtel-Dieu und der Kollegialkirche Saint-Laurent de Beauvais (LBHD487; s.o.), zwischen dem Hôtel-Dieu und der Kollegialkirche Saint-Nicolas (LBHD510), zwischen dem Hôtel-Dieu und der Abtei Saint- Symphorien (LBHD514) 571 , zwischen dem Hôtel-Dieu und der Kollegialkirche Saint-Barthélemy (LBHD515; s.o.) 572 sowie zwischen der Maladrerie Saint-Lazare und der Abtei Saint-Symphorien (LBSL402; vgl. Abb. 40 im Anhang III). Schließlich liegt mit LBHD502 noch eine achte Urkunde vor, die ich hier allerdings nur in Ermangelung einer besseren Alternative unterbringe. Es handelt sich um einen Mietvertrag, der von der Abtei Saint- Germer de Fly zugunsten eines gewissen Jean Charles aus Autreville aus- 569 Vgl. etwa Guyotjeannin/ Pycke/ Tock ( 3 2006, 92). Eine einzigartige Sammlung von französischen Teilurkunden aus Douai wurde von Espinas (1913) ediert. 570 Daher auch der englische Ausdruck indenture; lt. auch chartae indentatae. Vgl. auch Cárcel Ortí ( 2 1997, Nr. 44). 571 Der Tenor von LBHD514 verrät, daß auch diese Urkunde in zwei Originalexemplaren angefertigt wurde, von dem das Hôtel-Dieu das eine und die Abtei Saint-Symphorien das andere ausgehändigt bekam: „Des q{ue}lles choses ont esté f{ai}c{t}es deux paires de l{ett}res / . toutes p{ar}eilles,/ / . dont ces p{rese}ntes ont esté baillees à nous de l’Ostel Dieu“ (LBHD514, 1445). 572 Auch diese Urkunde wurde in zwei Originalexemplaren angefertigt: „... les-quelles avons fait doubles, ad [sic] ce que ch{asc}une partie en ayt les une [sic] à son p{ro}ffit“ (LBHD515, 1455). 337 <?page no="350"?> gestellt wurde. Es ist jedoch völlig unklar, wie diese Urkunde in den Bestand des Hôtel-Dieu gelangt ist. Sprachlich sind vor allem zwei der ältesten Urkunden im Subkorpus zu kommentieren: LBHD510, 1434 weist einen für die Entstehungszeit doch bemerkenswerten Anteil von 33% für die kasusflektierte Form des maskulinen Artikels auf. LBHD515, 1455 weist immerhin einen Wert von 25% für li auf sowie einen Wert von 17% für die pikardische Variante des femininen Artikels le. - Der Wert für LBHD510 ergibt sich jedoch nur aufgrund einer einzigen Form, die in einem formelhaften Syntagma steht: „Toutes lesquelles choses ... promectons en bonne foy ... tenir, garder, garantir et entierement accomplir ly un [Leblond (1919, 721): l’un] env{er}s l’aut{re}“. Auch in LBHD515 tritt ly zweimal in einem derartigen Kontext auf: „et en avons fait et faisons ly ung l’autre, ch{asc}un à son regard, vrays possesseurs, en tant que faire le poons“; „et [promettons] rendre {et} paier ly ung à l’autre tous frais {et} interesz“. Im Unterschied zu den in Kap. 5.5.1 bzw. in Kap. 5.8 zitierten Befristungsformeln aus LBHD479a, 1377 und LBSL376, 1380 steht ly hier freilich nicht mehr in Verbindung mit einem kasusflektierten Substantiv. Stark gehäuft kommen die ‘Reziprozitätsformeln’ übrigens in LBSL402 vor, allerdings ausschließlich mit nicht-kasusflektiertem Artikel („l’un contre l’autre“, „l’un avecques l’autre“, „l’un envers l’autre“, „l’un à l’autre“); auch in LBHD510 finden sich drei solche Wendungen („l’un avec l’autre“, „l’un de l’autre“, „l’un à l’aut{re}“); in LBHD515 steht einmal „les ungs contre les aut{re}s“ (s.o., Zitat 18). Die vier in LBHD515 nachgewiesenen Okkurrenzen von femininem le stehen dagegen nicht in formelhaften Wendungen („à le maison qui fut Guill{aum}e le Fo{u}rnier“, „en le rue oú le cheval tourne“, „à le maison qui fut Guill{aum}e des <zw/ > Merliers“ und „à le voie {et} allee du jardin Nicolas le Bastier“). Der sich ergebende Wert von 17% für die pikardischen Determinanten ist somit im Sinne des am Ende des vorhergehenden Kapitels, 5.8, Gesagten zu interpretieren: relikthafte Vorkommnisse von le/ me/ te/ se sind auch in sehr späten Urkunden aus Beauvais und Umgebung möglich; sie können vermutlich als Interferenzen aus den von den Schreibern (und Redaktoren) gesprochenen Varietäten gedeutet werden. 338 <?page no="351"?> Abb. 30: Feminine Determinanten und direktes feminines Objektpronomen (Kap. 5.9) - prozentualer Anteil von le/ me/ te/ se 339 <?page no="352"?> Abb. 31: Zweikasusflexion des maskulinen bestimmten Artikels (Kap. 5.9) - prozentualer Anteil von li/ ly in CR-Funktion 340 <?page no="353"?> Abb. 32: Graphien <ch> vs. <c> vs. <s> (Kap. 5.9) - prozentualer Anteil von <ch> an der Gesamtsumme der Belege und an der Summe lexematisch frei variierender Belege 341 <?page no="354"?> 5.10 Ergebnisse der Korpusstudie Die Untersuchung der im Korpus versammelten Urkunden aus den Editionen von Leblond (1919; 1922) und Carolus-Barré (1964) hat insgesamt die Leistungsfähigkeit der zugrundegelegten, pragmatisch-varietätenlinguistischen Methodik bestätigt. Diese basiert auf der Annahme, daß in Urkunden, die als Medium (fr. acte écrit) einer sprachlich konstituierten Rechtshandlung (fr. acte juridique) zu begreifen sind, der Einsatz bestimmter sprachlicher Varianten mit der Spezifik des außersprachlichen Kontexts korreliert, so daß die Variation in den diplomatischen Texten am besten auf der Grundlage von deren Klassifizierung nach außersprachlichen, kommunikativen Parametern beschrieben werden kann. Dazu gehören neben Zeit und Ort des schriftsprachlichen Handlungsvollzugs insbesondere die rechtliche und soziale Stellung der beteiligten Personen und Institutionen (Kap. 5.3). Zwar bin ich nur im Fall der vom Bischof von Beauvais oder einem Repräsentanten seiner weltlichen Gerichtsbarkeit ausgestellten Urkunden mit einiger Sicherheit von einer Anfertigung durch dieselbe Schreibstätte, nämlich die bischöfliche Kanzlei, ausgegangen (Kap. 5.5). Doch auch die im wesentlichen auf inneren diplomatischen Merkmalen beruhende Unterscheidung bestimmter pragmatischer, vor allem institutioneller Zusammenhänge hat die Bildung von in sich relativ homogenen Subkorpora ermöglicht, deren jeweilige Konsistenz in der Regel durch den sprachlichen Befund bestätigt wurde, den ihre separate Auswertung erbracht hat. War dies einmal nicht der Fall, so konnten ‘Ausreißer’ wie die vermutlich aus Ostfrankreich stammende Urkunde LBHD366 (Kap. 5.7.3) aufgrund ihres auffälligen sprachlichen Profils als Sonderfälle identifiziert und einer genaueren diplomatischen Analyse zugeführt werden, die im Idealfall die sprachlichen Besonderheiten zu erklären vermochte. Zwischen den älteren, vor 1350 verfaßten Dokumenten, die wahrscheinlich aus einer Instanz der königlichen Zentralgewalt hervorgegangen sind (Kap. 5.6.1 und LBHD397 unter 5.6.3), und den zur gleichen Zeit vermutlich unter der redaktionellen Obhut der bischöflichen Kanzlei (Kap. 5.5) oder einer anderen, religiösen 573 Einrichtung in Beauvais (Kap. 5.7 bis 5.9) entstandenen Texten ließ sich ein deutlicher normativer Unterschied feststellen. Besonders prägnant zeigt die Urkunde LBHD406, die im Jahr 1301 von zwei kommissarisch in Beauvais agierenden königlichen Beamten ausgestellt wurde, daß der für die Zeit ungewöhnliche Einsatz einer verstärkt zur Überregionalität tendierenden Schriftvarietät in direktem Zusammen- 573 Die bischöfliche Kanzlei möchte ich nicht als ‘religiöse’ Einrichtung bezeichnen, da sie vor allem für die administrativen Belange der weltlichen Macht des Bischofs von Beauvais zuständig war. 342 <?page no="355"?> hang mit einer Intervention der Pariser Zentralmacht erfolgte. Denn das Dokument entstand im behördlichen Kontext der curia episcopi, deren Siegel es trug und deren sonstige um 1300 verfaßte Urkunden ein ungleich stärker ausgeprägtes pikardisches Skriptaprofil aufweisen (Kap. 5.5.1). Es erübrigt sich hier anzumerken, daß ein derartiger Sonderfall bei einer ‘makrodiatopisch’ angelegten, skriptometrischen Auswertung des Urkundenmaterials wohl durch das Raster des lediglich auf die Erfassung globaler statistischer Trends fixierten Erkenntnisinteresses fallen würde. 574 Leider beschränkt sich die hier gewonnene Erkenntnis eines normativen Unterschieds zwischen Texten aus dem Ressort der königlichen Verwaltung und solchen, die aus anderen Institutionen in und um Beauvais hervorgegangen sind, aber auf höchstens sechs Dokumente. Zwei dieser vor 1350 entstandenen Texte, nämlich die beiden Urkunden des garde de la prévôté de Paris (LBHD444; LBHD445b), wurden vermutlich in Paris niedergeschrieben; ein Text, die Urkunde der königlichen Geldeintreiber im bailliage de Senlis (LBHD397), stammt möglicherweise aus Senlis, das ebenfalls außerhalb des pikardischen Dialektraums liegt. Stellt man sich also die Frage, welche Texte zwischen 1280 und 1350 wahrscheinlich auf pikardischem Boden verfaßt wurden, aber nur einen geringen Anteil von pikardischen Skriptaformen aufweisen und somit von der verhältnismäßig frühen Verwendung einer stark überregionalen Schriftvarietät in der Pikardie zeugen, so bleiben nur die beiden Urkunden von Guillaume de Châteauvillain (LBHD445a; LBHD446) und das während der Sedisvakanz von den „regalleurs“ ausgestellte Dokument (s.o.) - wenn nicht auch Guillaumes Urkunden, von denen eine ja durch die prévôté de Paris authentifiziert wurde, außerhalb des pikardischen Dialektraums entstanden sind. 575 Somit liefert 574 Vgl. dazu auch Selig (2005a, 263-266). 575 Völker (2003, 153) betont in seiner Luxemburger Studie völlig zu Recht, daß es sinnvoll ist, „den Einfluß der königlichen Kanzlei mehr unter diastratischen als unter diatopischen Gesichtspunkten zu betrachten“, und deutet - auch unter Verweis auf die Rekrutierung königlicher Schreiber im gesamten Herrschaftsgebiet - den Befund, der sich in seinem Korpus für fünf wahrscheinlich von königlichen Beamten angefertigte Urkunden ergibt, dezidiert nicht unter sprachgeographischem Gesichtspunkt. Für meine Untersuchung ist nichtsdestoweniger die Frage relevant, ob eine Urkunde innerhalb oder außerhalb des pikardischen Dialektraums entstand, da es argumentativ nicht gerechtfertigt wäre, das variationelle Profil einer Urkunde, die außerhalb der Pikardie niedergeschrieben wurde und die keine der beiden hier untersuchten Pikardismen enthält, allein durch die (redaktionelle) Beteiligung einer Instanz der königlichen Zentralgewalt zu erklären. Denn prinzipiell würde man bei keinem Text, der außerhalb des pikardischen Raums verfaßt wurde, mit typisch pikardischen Skriptaformen rechnen, ob nun ein Zusammenhang mit der königlichen Administration besteht oder nicht. - Ich möchte hier wohlgemerkt nicht behaupten, daß es varietätenlinguistisch einerlei sei, ob ein Text - geographisch - aus Paris oder - institutionell - aus dem Ressort der königlichen Verwaltung stammt (vgl. dazu ausführlich Kap. 4.3 343 <?page no="356"?> strenggenommen nur LBHD406 ein - gleichwohl starkes - Indiz für die Richtigkeit der These, wonach die Durchsetzung einer überregionalen Schriftvarietät in Nordfrankreich eine Folge des flächendeckenden Ausbaus von Institutionen der königlichen Verwaltung und Rechtssprechung ab ca. 1280 war. Zur weiteren Bestätigung dieser Annahme liefert mein Korpus leider nicht genügend eindeutig lokalisierbare Urkunden aus dem unter diesem Aspekt entscheidenden Zeitraum zwischen 1280 und 1380. Der Negativbefund, der sich für die drei womöglich außerhalb der Pikardie entstandenen Texte LBHD397, LBHD445b und LBHD444 ergeben hat, kann letztlich auch sprachgeographisch gedeutet werden und eignet sich daher nicht in dem Maße wie das bei LBHD406 erzielte Ergebnis zum Nachweis einer institutionell motivierten normativen Entscheidung. Für die späteren, vor allem nach 1380 verfaßten Texte aus dem Bereich königlicher Institutionen (Kap. 5.6.2 und 5.6.3) konnten keine normativen Besonderheiten mehr festgestellt werden, da nach 1380 auch die übrigen im Korpus enthaltenen Urkunden in der Regel sehr niedrige Werte, wenn nicht einen Negativbefund, für die pikardischen Merkmalsausprägungen und für die Artikelflexion aufweisen. Hier könnte vordergründig sogar überraschen, daß - im Unterschied zu den fünf älteren Texten, die keine einzige pikardische Form beinhalten (LBHD397; LBHD444; LBHD445a; LBHD445b; LBHD446) - sich in den späteren Urkunden der königlichen Verwaltung und Rechtssprechung durchaus vereinzelte Pikardismen finden. Jedoch ist wie gesagt eher unwahrscheinlich, daß die älteren in Kap. 5.6 behandelten Dokumente auf pikardischem Boden entstanden sind. Die sporadische Präsenz pikardischer Formen in den jüngeren Texten gibt da- und Kap. 4.4). Die institutionelle Verankerung eines Textes in der königlichen Verwaltung kann logisch aber nur dann als ausschlaggebend für die Verwendung einer nicht-pikardischen Varietät gelten, wenn sichergestellt ist, daß der Text in der Pikardie niedergeschrieben wurde, wo für den Zeitraum zwischen ca. 1280 und ca. 1380 in der Regel der Einsatz einer pikardischen Skripta zu erwarten wäre. Die ‘diastratische’ Option für eine überregionale Varietät muß also zu Ungunsten einer ansonsten naheliegenden ‘diatopischen’ Option erfolgen; nur so kann ein Zusammenhang zwischen sprachlicher Entregionalisierung und einer institutionellen Verankerung in der königlichen Verwaltung eindeutig nachgewiesen werden. Genau dieser Fall liegt bei der von den beiden „regalleurs“ ausgestellten Urkunde, LBHD406, vor. - Diese Argumentation würde im übrigen gleichermaßen für die Untersuchung von Urkunden aus dem Zentrum gelten, denn auch hier ist mit stärker regionalsprachlich gefärbten und stärker zur Überregionalität tendierenden Texten zu rechnen, wobei etwa aufgrund der fünf in Kap. 4.1 besprochenen Merkmale (vgl. Abb. 4) zu untersuchen wäre, ob ein Zusammenhang zwischen sprachlicher Überregionalität und einer (redaktionellen) Beteiligung der königlichen Administration besteht (vgl. dazu auch Videsott 2013). - Zu den noch vor 1280 verfaßten Urkunden CB001, LBSL278 und LBHD330 (Kap. 5.7.3), die recht geringe Werte für die pikardischen Merkmalsausprägungen aufweisen, s.u. 344 <?page no="357"?> gegen Anlaß zu der Vermutung, daß die Beamten der prévôté d’Angy sich bei ihren gerichtlichen Interventionen in Beauvais mitunter des ortsansässigen, bischöflichen Schreibpersonals bedienten. Es bleibt somit Raum für weitere Forschung, die vor allem zur Klärung der Frage beitragen sollte, welches Schreibpersonal für die Statthalter der königlichen Zentralgewalt in den nordfranzösischen bailliages und prévôtes tätig war und ob es bei behördlichen Kontakten, die vor dem letzten Viertel des 14. Jahrhunderts stattfanden, zu ähnlichen sprachlichen Akkommodationen kam wie im Fall von LBHD406. Beauvais dürfte sich allerdings nur bedingt für eine derartige Studie eignen, da, soweit meine Archivrecherchen ergeben haben, vor 1380 keine Akte der königlichen Rechtssprechung in der cité épiscopale erlassen wurden (vgl. dazu auch Labande [1892] 1978, 252-256). Nach dieser Zeit ist, wie gezeigt wurde, in den Urkunden aus Beauvais und Umgebung ohnehin nur noch mit der sporadischen Verwendung von Pikardismen zu rechnen. Bei den außerhalb des Ressorts der königlichen Zentralgewalt entstandenen Urkunden im Korpus läßt sich insgesamt ein ähnlicher Verlauf des Normenwandels während des hier untersuchten Zeitraums feststellen. Aus den Ergebnissen, die bei der Auswertung der vier in Kap. 5.5, 5.7, 5.8 und 5.9 behandelten Subkorpora erzielt wurden, geht recht eindeutig hervor, daß die entscheidende normative Wende im Übergang von einer relativ stark pikardisch geprägten hin zu einer überregionalen Urkundenskripta in der Zeit um das Jahr 1380 erfolgte. Nach 1380 kommen die Formen le/ me/ te/ se und die Graphie <ch> nur noch sporadisch vor, wobei sich im Fall der femininen Determinanten zumeist unikale, namentlich genannte Referenten aus dem lokalen Erfahrungshorizont der Stadt Beauvais (z.B. die Maladrerie, die cour épiscopale sowie Tor- oder Straßennamen) als bevorzugte Residuen der pikardischen Formen ausmachen lassen. Insgesamt erweisen sich die femininen Determinanten als etwas langlebiger als die <ch>-Graphie (ein später Extremwert von 88% für le/ me/ te/ se wird in LBSL385, 1401 erreicht, während die Urkunde nur einen Wert von 7% für lexematisch freies <ch> aufweist). Eine Erklärung für die gelegentlich feststellbare Divergenz der beiden Merkmale könnte sein, daß der hochfrequente Gebrauch von dialektalem le/ me/ te/ se in der gesprochenen Sprache sowie die phonographische Korresponenz von [lə] und <le> beim homophonen maskulinen Artikel der systematischen Ersetzung von femininem <le> durch ‘ideographisches’ <la> bisweilen entgegenwirkte, während die Generalisierung des Graphems <c> als von der gesprochenen Sprache unabhängige Schreibregel besser verinnerlicht und automatisiert wurde. Am frühesten und nachhaltigsten scheinen die pikardischen Determinierer allerdings aus den in Kap. 5.5 der bischöflichen Kanzlei zugeordneten Texten verschwunden zu sein. Hier wird in keiner der fünf zwischen 1380 und 1441 verfaßten Urkunden mehr ein Wert über 4% erreicht; auch liegt das Mittel der Werte, 345 <?page no="358"?> die für die zehn zwischen 1347 und 1380 niedergeschriebenen Texte errechnet wurden, bei lediglich 37%. Es fällt allerdings schwer, eine Erklärung für den offenbar schon früher einsetzenden und längerfristigen Abbau von le/ me/ te/ se in den vermutlich aus der bischöflichen Kanzlei hervorgegangenen Dokumenten zu geben. Von einer diesbezüglichen ‘Vorreiterrolle’ der bischöflichen Kanzlei im Entregionalisierungsprozeß gegenüber den übrigen Institutionen in Beauvais zu sprechen, erschiene mir angesichts der geringen Anzahl der von mir ausgewerteten Texte zu gewagt. Zudem wissen wir nicht, ob die bischöfliche Kanzlei nicht auch bei einigen der unter 5.7 bis 5.9 behandelten Dokumente redaktionell beteiligt war (im Fall der vom Kathedralkapitel ausgestellten Urkunde LBSL353, 1321 ist sogar relativ wahrscheinlich, daß das Dokument von der bischöflichen Kanzlei angefertigt wurde; mit Werten von 47% für le/ me/ te/ se und 69% für lexematisch freies <ch> verhält sich der Text aber selbst im Vergleich zu den ungefähr zeitgenössischen der in Kap. 5.5 untersuchten Texte auffällig progressiv). Als von den regionalsprachlichen Formen le/ me/ te/ se und <ch> gänzlich unabhängige Erscheinung wurde die Variation im Bereich der Kasusflexion des maskulinen Artikels erkannt. Abgesehen vom Subkorpus der unter 5.6 behandelten Urkunden aus dem Ressort der königlichen Zentralgewalt und abgesehen vom Subkorpus der erst ab dem Jahr 1366 überlieferten Rechtsgeschäfte zwischen zwei kirchlichen Institutionen (Kap. 5.9) hat sich mit erstaunlicher Klarheit die Mitte des 14. Jahrhunderts als ungefährer Zeitpunkt eines regelrecht katastrophalen Zusammenbruchs der Artikelflexion erwiesen. In allen drei unter 5.5, 5.7 und 5.8 behandelten Subkorpora werden vor 1350 überwiegend extrem hohe und nach 1350 überwiegend extrem niedrige Werte für li in CR-Funktion erreicht. Dieser bemerkenswerte Befund ist meines Erachtens ein schlagender Beweis für die Richtigkeit der unter 5.4.2 vorgestellten These, wonach die Zweikasusflexion in den gesprochenen Idiomen des späteren Mittelalters längst nicht mehr funktional war. Vielmehr dürfte es sich um ein rein schriftkulturelles Phänomen des bildungssprachlichen, latinisierenden Konservatismus gehandelt haben, der ohnehin nur in bestimmten Regionen gepflegt wurde und der plötzlich auch dort als überholt empfunden und innerhalb kürzester Zeit aufgegeben wurde (vgl. dazu vor allem Stanovaïa 1993). Diese Annahme wird zudem bestätigt durch den Befund, daß späte Einzelbelege für li ausschließlich in formelhaften Wendungen zu finden sind, die von einem ‘fossilierten’, womöglich bewußt archaisierenden Gebrauch der etymologischen CR-Formen zeugen. Die Tatsache, daß in den älteren, schon vor 1350 entstandenen Urkunden aus dem Ressort einer Instanz der königlichen Administration gleichfalls nur formelhafte (LBHD444) oder überhaupt kei- 346 <?page no="359"?> ne Okkurrenzen von li (LBHD445a, LBHD446) nachweisbar sind 576 , bestätigt außerdem die in der Forschung wiederholt geäußerte Beobachtung, daß die Regeln der Zweikasusflexion in den Urkunden der königlichen Verwaltung schon von vornherein, d.h. seit den ältesten volkssprachlichen Texten der königlichen Kanzlei oder der prévôté de Paris aus den 1240er Jahren, nicht beachtet wurden (vgl. z.B. Völker 2003, 187-190). So erscheint auch die Annahme nicht unplausibel, daß die demgegenüber verzögerte Aufgabe der Zweikasusflexion in den schriftkonservativen, nordöstlichen Regionen im 14. Jahrhundert nach dem Vorbild der ab ca. 1280 ausgebauten überregionalen Skripta der königlichen Institutionen erfolgte. Interessanterweise scheint aber die Zweikasusflexion in der nördlichen Pikardie erst etwas später aufgegeben worden zu sein als in den Urkunden aus Beauvais: Gossen (1971, 203) kommt aufgrund einer Auswertung der Substantivflexion in den von Espinas (1913) edierten Chirographen aus Douai zu dem Ergebnis, daß „les scribes des chirographes échevinaux ne font que fort peu de fautes [...] jusqu’en 1380 environ“. Eine „décadence au sens propre du mot“ sei erst im Lauf des letzten Viertels des 14. Jahrhunderts erkennbar. - Somit wurden in Beauvais nicht nur die spezifisch pikardischen Skriptaformen (vgl. dazu Gossen 1957, 445-448), sondern wurde auch die Zweikasusflexion schon deutlich früher aufgegeben als im nördlichen Teil der Pikardie. Allerdings beträgt der zeitliche Abstand zwischen Süden und Norden im Bereich der Kasusflexion nur maximal ein halbes Jahrhundert (ca. 1350 vs. 1380-1400), während der ‘Zerfall’ der nordpikardischen Skripta von Gossen um das Jahr 1500, also über ein Jahrhundert später angesetzt wird, als wir die Auflösung der pikardischen Skripta von Beauvais zeitlich bestimmt haben. Jedenfalls meine ich eine klare Antwort auf die von Gossen (1971, 206) noch etwas ratlos gestellte Frage nach dem Warum des plötzlichen Endes der Zweikasusflexion in der diplomatischen Schriftlichkeit von Douai (und auch der von Gossen vergleichsweise zur Untersuchung herangezogenen Grafschaft Porcien) geben zu können: „Pourquoi cet effritement soudain après que le système avait plus ou moins bien tenu le coup jusqu’alors, en tout cas environ deux siècles plus longtemps que dans les scriptae de l’Ouest? “ - Es handelt sich beim in den spätmittelalterlichen Urkunden zu beobachtenden ‘Abbau’ der Kasusflexion schlichtweg nicht um einen in Echtzeit festgehaltenen typologischen Wandel. Vielmehr wurde in immer mehr Schreibstätten abrupt die Tradition der schriftsprachlichen Reminiszenz an ein in den gesprochenen Varie- 576 In LBHD397 und LBHD445b kommen keine maskulinen Artikel in CR-Funktion vor (vgl. Kap. 5.6.1 und 5.6.3). 347 <?page no="360"?> täten längst nicht mehr realisiertes morphosyntaktisches Phänomen abgeschafft. 577 Ein Aspekt, auf den ich in den Analysekapiteln 5.5 bis 5.9 nur am Rande eingegangen bin, der unter 5.4.3 aber schon ausführlich behandelt wurde, ist die Frage nach dem unterschiedlichen Verlauf des Vordringens der <c>- Schreibung in latinisierenden, vor allem juristischen Fachtermini und im Bereich des romanischen Erbwortschatzes. Die für die große Mehrzahl der Texte dokumentierte Differenz zwischen einem geringeren Anteil aller belegten <ch>-Schreibungen an der Gesamtheit der Merkmalsvorkommnisse und einem höheren Anteil von lexematisch frei variierenden <ch>-Schreibungen an der Summe der im Korpus variabel belegten Lexeme dürfte deutlich vor Augen geführt haben, daß eine Reihe von Wörtern, die mehrheitlich Entlehnungen aus der lateinischen Rechtssprache sind und die verstärkt seit den 1280er Jahren im diplomatischen Diskurs vorkommen, von vornherein ausschließlich mit <c>-Graphie, also überhaupt nie in pikardischer Form, in Gebrauch waren. Unter 5.4.3 habe ich - ausgehend von der Theorie der lexical diffusion - die Vermutung geäußert, daß die ausschließlich in überregionaler, nicht-pikardischer Form gebräuchlichen Latinismen in der Urkundensprache womöglich eine Art Einfallstor für die graphische Standardisierung auch im Bereich des Erbwortschatzes dargestellt haben. Die latinisierende <c>-Schreibung von im diplomatischen Diskurs recht frequenten Wörtern wie exceptions, successeurs, procés oder civil könnte mithin einer sukzessiven Zunahme der <c>-Schreibung auch in Erbwörtern wie ce, certain oder recevoir Vorschub geleistet haben, so daß die überregionale Standardisierungstendenz, die vermutlich im Zuge der flächendeckenden Etablierung des königlichen Notariatswesens ab den 1280er Jahren eingesetzt hat, noch gestützt wurde durch das gleichzeitige Vordringen der aus dem Lateinischen entlehnten, neuartigen französischen Rechtsterminologie. Mein Untersuchungskorpus ist aber mit Sicherheit zu klein, um zuverlässige Aussagen über die Chronologie und die außersprachlichen Hintergründe der fraglichen Entwicklung zu treffen. Ich kann ja nicht einmal ausschließen, daß Wörter, die ich hier notgedrungen nur korpusimmanent als ‘Latinismen’ eingestuft habe, in anderen Texten mitunter doch in pikardischer <ch>-Graphie belegt sind. Es wäre also eine breitangelegte, korpusbasierte lexikologische Studie nötig, die unter argumentativer Rückbindung an die rechtshistorischen Innovationen der Zeit im einzelnen die We- 577 Vgl. zur gegensätzlichen Auffassung Van Reenen/ Schøsler (2000) und Schøsler (2013) sowie meine Anm. 525. - Daß der Status der Kasusflexion in den gesprochenen Varietäten schon länger prekär gewesen sein muß, war freilich auch Gossen (1971) klar: „Les ‘erreurs’ [contre les règles de la déclinaison traditionnelle] [...] sont les symptômes du désarroi flexionnel régnant dans la langue parlée.“ Insofern verwundert ein wenig die Ratlosigkeit, die aus der oben zitierten Frage von Gossen spricht. 348 <?page no="361"?> ge und den Verlauf der überregionalen Standardisierung im Bereich der <ch>/ <c>(/ <s>)-Schreibung nachzeichnet. 578 Eine letzte Bemerkung zu den ältesten Urkunden in meinem Korpus (CB001, LBSL278, LBHD330), die interessanterweise noch stärker von überregionalen Tendenzen gekennzeichnet zu sein scheinen als der Großteil der zwischen 1280 und 1380 entstandenen Stücke: Der Befund bestätigt Gossens (z.B. 1953/ 1954, 147f.) wiederholt geäußerte Beobachtung, wonach die Skripta der Pikardie erst im späteren 13. Jahrhundert ein stärker ausgeprägtes regionalsprachliches Profil entwickelte. Daraus kann die Annahme abgeleitet werden, daß die ältesten volkssprachlichen Urkunden in einer diatopisch nur schwach variierenden, ‘gemeinfranzösischen’ Schriftsprache verfaßt wurden, die an eine Tradition der Überregionalität in der literarischen Schriftlichkeit anknüpfte (vgl. Greub 2007). Hält man sich vor Augen, daß die in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts niedergeschriebenen, ältesten volkssprachlichen Urkunden erst mit einer Verspätung von bis zu einhundert Jahren gegenüber den großen Werken der volkssprachlichen Literatur des 12. Jahrhunderts entstanden sind, so erscheint der Gedanke, daß sich die Urkundensprache zunächst an der zur Überregionalität tendierenden Literatursprache, dem françois der höfischen Dichtung, orientierte, durchaus plausibel (vgl. dazu Kap. 4.3 und 4.4). Jedenfalls wissen wir seit Remacle (1948), daß die Urkundenskriptae nicht das Ergebnis einer regional jeweils hermetisch abgeschlossenen Verschriftlichung der volkssprachlichen Idiome waren. Daß diese Annahme den heftigen Widerspruch von Dees (1985) fand, liegt lediglich daran, daß dieser seinen Befund einer stark ausgeprägten regionalen Autonomie der Urkundensprachen des 13. Jahrhunderts vor allem aufgrund von Texten gewann, deren kommunikativer Radius lokal begrenzt war (vgl. Völker 2003, 60, Anm. 260). Ich gehe also davon aus, daß die ältesten französischen Urkunden in einer stark zur Überregionalität tendierenden Skripta verfaßt wurden, aus der sich erst in einem weiteren Schritt die regionalen Urkundensprachen ‘ausgegliedert’ haben. Zumal in der weiträumigen Schriftkommunikation der großen, prestigebewußten Herrscherkanzleien dürfte diese sekundäre Ausdifferenzierung jedoch auf eine Reihe von Oberflächenmerkmalen beschränkt geblieben sein, so daß zu keiner Zeit von einer schriftsprachlichen Eigenständigkeit der Regionen die Rede sein kann (vgl. Gleßgen 2008). Ich denke, auch die in dieser Arbeit zitierten Originalpassagen vermitteln einen hinreichenden Eindruck davon, daß selbst die im Bereich der hier untersuchten und anderer Merkmale verhältnismäßig stark ‘pikardisierenden’ Texte aus meinem Korpus im Grunde stets ein überregionales Französisch repräsentieren. Als dessen regionale Spielart weist die pikardische 578 Vgl. zum Zusammenhang von Rechts- und Sprachgeschichte etwa Kabatek (2005). 349 <?page no="362"?> Skripta zwar gewisse klar definierte Spezifika auf; diese wirken aber bisweilen tatsächlich „wie auf eine gemeinsame Grundfärbung aufgesetzt“ (Gossen 1957, 432). Führt man die von Gossen formulierte Einsicht, daß die pikardische Skripta im Spätmittelalter verschiedene Entwicklungsphasen durchlief, mit den in dieser Arbeit gewonnenen Erkenntnissen zusammen, so ergibt sich für die Geschichte der Skripta von Beauvais ein dreistufiges Periodisierungsmodell, dessen Gliederung nicht nur empirisch fundiert, sondern auch pragmatisch erklärt werden kann, nämlich mit Blick auf die Handlungsmotive, welche die Schreiber und die sie beschäftigenden Institutionen als ‘historische Akteure’ der diplomatischen Schriftlichkeit implizit leiteten. Die Tatsache, daß die ältesten Urkunden aus Beauvais ein nur schwach ausgeprägtes pikardisches Skriptaprofil aufweisen, zeigt, daß zu Beginn der volkssprachlichen Urkundenproduktion in der südlichen Pikardie noch gar keine regionalspezifische Schreibtradition elaboriert war, so daß die Texte zunächst noch in einer überregionalen Skripta verfaßt wurden, die an eine bereits im 12. Jahrhundert etablierte Tradition der Überregionalität in der literarischen Schriftlichkeit angeknüpft haben dürfte und die vermutlich auch vom Modell des überräumlich stabilen Lateins beeinflußt war, das ja im 13. Jahrhundert noch eindeutig als Rechtssprache dominierte. Jedenfalls kann in den 1240er bis 1260er Jahren keine ‘hauptstädtische’ Schreibtradition als Vorbild gewirkt haben, da zu dieser Zeit in Paris noch kaum in der Volkssprache geurkundet wurde. Gegen die Annahme einer frühen monozentrischen Standardisierungstendenz spricht nicht zuletzt auch die Tatsache, daß sich die Urkundensprache von Beauvais in den 1270er und 1280er Jahren stark ‘regionalisiert’ und - in einem zentrifugalen Prozeß - ein klar ausgeprägtes pikardisches Skriptaprofil entwickelt hat. Die im Korpus vertretenen lokalen Schreibstätten von Beauvais, darunter vor allem die bischöfliche Kanzlei, scheinen somit ab ca. 1275 bewußt für eine sichtbare ‘Örtlichkeit’ ihrer Urkundentexte optiert zu haben. In dieser zweiten Ausbauphase erschlossen sich die urkundenden Institutionen das identitätsstiftende Potential regionalsprachlicher Formen und begannen die diatopische Variation als zentrale semiotische Dimension der diplomatischen Schriftlichkeit zu funktionalisieren. Denn offenkundig verstanden es die Schreiber, in ihren Texten Regionalität herzustellen oder auszublenden, indem sie zwischen unterschiedlichen dialektalen Markiertheitsgraden der Skripta wählten wie zwischen unterschiedlichen orthographischen Systemen oder zwischen unterschiedlichen Sprachen. Und sie taten dies offenbar regelhaft, je nach kommunikativer Erfordernis und je nach intendierter sozio-politischer Pragmatik eines Schriftstücks. 350 <?page no="363"?> Die Diatopik der mittelalterlichen Skriptae ist somit alles andere als ein unreflektiertes, gleichsam natürliches Phänomen, das - wie ein Akzent in der Mündlichkeit - unweigerlich an den aus einer bestimmten Ortschaft hervorgegangenen Texten hängen würde. So erklärt es sich auch, daß die in der Skripta von Beauvais während einiger Jahrzehnte gepflegten Pikardismen in einer dritten Entwicklungsphase, die sich bereits um 1350 ankündigt, verhältnismäßig rasch und ohne substantiellen Eingriff in die Grammatik der Schriftsprache wieder ‘abgestoßen’ werden konnten. Die Konsequenz, mit der dieser neuerliche Normenwandel in den 1380er und 1390er Jahren zum Abschluß gekommen ist, gibt Anlaß zu der Vermutung, daß die Entscheidung für eine nach königlichem Modell gestaltete, nichtregionale Skripta wiederum ganz bewußt als orthographische Reform in den Schreibstätten vollzogen wurde. Die königliche Verwaltungspraxis scheint damals in Beauvais zu einer derart unbestrittenen sprachnormativen Referenz geworden zu sein, daß die zuvor, seit dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts ausgeschöpfte semiotische Funktion der Urkundensprache als Medium der Repräsentation von territorialer Autonomie (‘Lokalpatriotismus’) in relativ kurzer Zeit zugunsten eines gesamtfranzösischen, gewissermaßen imperialen Uniformitätsgedankens in den Hintergrund trat. Offenbar hat die königliche Skripta in Beauvais am Ende des 14. Jahrhunderts eine der Universalität des Lateins vergleichbare Geltung erreicht. Die hier vorgestellte Korpusstudie vermag freilich nur einen bescheidenen, exemplarischen Beitrag zur Erforschung der volkssprachlichen Schriftlichkeit im französischen Mittelalter und der sie zeitweise stärker einenden, zeitweise stärker partikularisierenden Kräfte zu leisten. Wie gezeigt wurde, läßt sich die dritte Entwicklungsphase einer Skripta, die ihrer endgültigen Entregionalisierung unter dem Prestigedruck der königlichen Schreibnorm, sehr gut anhand der varietätenlinguistischen Untersuchung von entsprechend aufbereitetem diplomatischem Textmaterial nachzeichnen. Es bleibt zu hoffen, daß bald weitere Studien unternommen werden, die die Entwicklung einer lokal oder institutionell definierten Skripta unter pragmatisch-variationellem Aspekt beschreiben. Ein weiteres, wichtiges Desiderat ist aber die Frage nach den normativen Zusammenhängen, die zwischen der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts und der schon früher ausgebauten altfranzösischen Literatursprache bestehen. Hier wird wohl erst mittelfristig auf breiter, den gesamten domaine d’oïl umfassender empirischer Basis eine belastbare Aussage über die normativen Kräfte möglich sein, die zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Diskurstraditionen und von unterschiedlichen Zentren her wirkten. 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