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Transgression, Tragik und Metatheater:

Versuch einer Neuinterpretation des antiken Dramas

1022
2014
978-3-8233-7828-0
978-3-8233-6828-1
Gunter Narr Verlag 
Lothar Willms

Die vorliegende Publikation versucht eine Neuinterpretation des antiken Dramas mithilfe von Transgression, Tragik und Metatheater. Diese Begriffe werden in einem ersten theoretischen Teil ausführlich diskutiert und vor einem strukturalistischen Hintergrund neu gefaßt. Im Hauptteil werden mit dem so gewonnenen hermeneutischen Rüstzeug fünf zentrale Stücke des antiken Dramas ausführlich interpretiert, wobei der Schwerpunkt auf der attischen Tragödie liegt (Aischylos' Perser, Sophokles' Oidipus Tyrannos, Euripides' Medea und Bakchen, Senecas Phaedra). Kurzinterpretationen beleuchten drei ausgewählte Komödien. Als Gesamttendenz ergibt sich so ein Rückgang der Tragik zugunsten des Metatheaters.

<?page no="0"?> Lothar Willms Transgression, Tragik und Metatheater Versuch einer Neuinterpretation des antiken Dramas <?page no="1"?> Transgression, Tragik und Metatheater <?page no="2"?> DRA RR MA Neue Serie · Band 13 Studien zum antiken Drama und zu seiner Rezeption Herausgegeben von Bernhard Zimmermann in Zusammenarbeit mit Juan Antonio López Férez (Madrid), Giuseppe Mastromarco (Bari), Bernd Seidensticker (Berlin), N.W. WW Slater (A (( tlanta) a , Alan H. Sommerstein (Nottingham), Pascal Thiercy (Brest). <?page no="3"?> Lothar Willms Tra rr n aa sgress ss ion, Tra rr g aa ik und Meta tt t aa heat aa er Ve VV rsuch einer Neuinterpretation des antiken Dramas <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. © 2014 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1862-7005 ISBN 978-3-8233-6828-1 <?page no="5"?> Halt sunt li pui e li val tenebrus, Les roches bises, les destreiz merveillus. Le jur passerent Franceis a grant dulur. La chanson de Roland (66. Laisse, v. 814 816) Über den Atlantik 1 Die Wattelandschaft unter uns: als würde sie jeden Sturz auffangen und dämpfen. Auch hier wie anderswo trügt der Schein. Die Wahrheit ist wir fürchten immer wir sind von Knossos gestartet und wissen es nicht. Zwischen den Kontinenten wird keiner heimisch. Günter Kunert 1 Kunerts Antike. Eine Anthologie. Hg. von Bernd Seidensticker, Antje Wessels. Paradeigmata 2. Freiburg i. Br. 2004, 107. - <?page no="7"?> Vorwort Die hier vorgelegte Untersuchung ist die überarbeitete, erweiterte und aktualisierte Fassung meiner Habilitationsschrift, die am 5.10.2010 bei dem Dekanat der philosophischen Fakultät eingereicht und am 19.1.2011 von der Habilitationskonferenz der philosophischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg angenommen wurde. Seither erschienene Literatur konnte nicht systematisch berücksichtigt werden. Ebensowenig kann angesichts der Spannweite der behandelten Themen der Anspruch erhoben werden, daß sämtliche irgendwie thematisch relevante Sekundärliteratur erfaßt wurde. Der Schwerpunkt liegt auf klassischen und rezenten, originellen Deutungen, mit denen eine ausführliche und hoffentlich konstruktiv-kritische Auseinandersetzung lohnend schien. Da ich etliche ihrer Autoren persönlich kenne und menschlich wie wissenschaftlich sehr schätze, ist es mir ein Herzensanliegen, hervorzuheben, daß ich diese Form der Rezeption als Anerkennung herausragender wissenschaftlicher Güte verstanden sehen möchte. 2 Denn nur die offene intensive Diskussion kann die Forschung voranbringen. Mit demselben Geist nachgerade spielerischer Offenheit und Entdeckerfreude stelle ich meine Ergebnisse der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vor, zu denen ich nach Abwägung aller Gründe und Gegengründe gelangt bin, auf die ich in der Sekundärliteratur gestoßen bin oder die mir in den Sinn kamen. Ich verstehe diese Thesen und Argumente als Diskussionsbeiträge und Denkanstöße für weitere Forschung, nicht als fixe Ergebnisse, die akzeptiert oder verworfen werden müssen. Diese Arbeit verdankt ihre Entstehung der bis heute vielfältig nachwirkenden Faszination und Inspirationskraft des antiken Theaters. Die Idee, damals nur Plautus’ Komödien als Spiel mit einer semiotisch-strukturalistisch konfigurierten Identität zu deuten, kam mir nämlich beim Besuch einer originalsprachigen Aufführung von Plautus’ Menaechmi, die im Sommer 2005 im Auditorium Maximum der Universität Trier stattfand. Wichtige Denkanstöße gab mir die Berner Tagung Diskurs und Fragment im Spannungsfeld von Prä- und Postdramatik. Performative Strategien zwischen Antike und Postmoderne (6.-8.7.2007) des an den Universitäten Basel und Bern angesiedelten ProDoc: Intermediale Ästhetik. Spiel - Ritual - Performanz, deren Besuch mir freundlicherweise Herr Prof. Anton H. Bierl (Basel) ermöglichte, wofür ich ihm ganz herzlich danke. Damit komme ich zu der freudigen Pflicht vielfältiger Danksagungen. Den Reigen eröffnet mein Habilitationsmentor Herr Prof. Gerrit Kloss, der mich nach der Lektüre des Exposés und der ersten Seiten der vorliegenden Arbeit im Juni 2007 bestärkte, auf dem richtigen Weg zu sein und ein lohnenswertes Projekt zu verfolgen, und außerdem das Habilitationsverfahren in knappstem Zeitrahmen als spiritus rector begleitete und ein Gutachten beisteuerte. Dafür sei ihm ganz herzlich gedankt. Herrn Prof. Jonas Grethlein gebührt ein großer Dank, weil er trotz eines Forschungsaufenthaltes an der Brown-University ein Gutachten 2 Vgl. Walter Nicolais Widmung an Andreas Spira und Arbogast Schmitt mit dem Zusatz „auch wenn sie anders über die Sache denken“ (Zu Sophokles’ Wirkungsabsichten. Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften Reihe 2 N.F. 89. Heidelberg 1992, 5). <?page no="8"?> viii schrieb und wertvolle Verbesserungsvorschläge machte. Allen weiteren Mitgliedern der Habilitationskommission (Prof. Manfred Berg (Dekan), Prof. Martin Gessmann (jetzt Offenbach a.M.), Prof. Gerhard Poppenberg, Prof. William Sax, Prof. Jürgen-Paul Schwindt) sei für ihre Mühewaltung und bereitwillige Unterstützung gedankt. Mein ganz besonderer Dank gilt Herrn Prof. Bernhard Zimmermann, der als externer Gutachter fungierte und diese Schrift rasch und unkompliziert in die Reihe DRAMA aufnahm. Herr Dominic Meckel, M.A. und Herr Kevin Bruhns haben mich bei der Erstellung des Personen-, Sach- und Begriffsregisters tatkräftig unterstützt, wofür ich ihnen ganz herzlich danke. Frau Marie-Charlotte von Lehsten und v.a. Herrn Dominic Meckel, M.A. danke ich nicht minder herzlich für die gewissenhafte Erstellung des Index locorum und die sorgfältige Korrektur großer Teile dieses Bandes. Es versteht sich, daß alle verbliebenen Fehler allein mein Versehen sind. Beim Narr-Francke-Attempto- Verlag sei herzlich meinem Lektor Herrn Dr. Bernd Villhauer und Frau Karin Burger in der Herstellung für die außerordentlich gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit gedankt, von der die Qualität dieses Bandes erheblich profitiert hat. Schließlich bin ich der Geschwister-Boehringer-Ingelheim-Stiftung für Geisteswissenschaften zu besonderem Dank verpflichtet, die mit einem großzügigen Druckkostenzuschuß das Erscheinen dieses Bandes ermöglicht hat. Lothar Willms Heidelberg, im Juli 2014 Vorwort <?page no="9"?> Inhalt Teil I: Einleitung: Haupttermini, Methodik und analytischer Apparat 0. Einführung: Forschungsstand, Methode, Grundbegriffe; Aufbau der Einleitung ............................................................................. 1 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit ........................ 9 1.1 (Antikes) Drama und Strukturalismus: Zur Handlungsstruktur ......... 9 1.2 Transgression ........................................................................................15 1.2.1 Dramatische Transgression von Struktur und Identität ...............16 1.2.2 Dramatische Transgression und Narratologie .............................27 1.2.3 Tragödie, Transgression und Gesellschaft ..................................30 1.2.4 Kurzer Forschungsabriß zur Transgression: Bataille, Foucault, Stallybrass und White .................................................................32 1.3 Eliminierung, Restauration, Integrität und Intention .........................39 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität ............................................................45 1.4.1 Methodische und forschungsgeschichtliche Problematik und Aktualität.....................................................................................45 1.4.2 Tragik als Desubjektivierung ......................................................54 1.4.3 Tragik als (Integritäten-)Konflikt: Hegel und Schiller ................58 1.4.4 Tragischer, heroischer und aristokratischer (Integritäts-)Tausch.....67 1.4.5 Tragik, soziale Integrität und Religion........................................73 1.4.6 Arbeitsdefinition, Submerkmale und Parallelfiguren der Tragik.....78 1.4.7 Tragik, Paradox und Dialektik: Pascal und Szondi .....................87 1.4.8 Alternative Tragikkonzepte: Nietzsche, Benjamin, Bohrer, A. Schmitt ...................................................................................94 1.5 Komik, Doppelung und Iteration .......................................................105 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen ...............................................................................................110 2.1 Aristoteles’ Poetik ..............................................................................110 2.1.1 Handlungsstruktur, Mimesis, Transgression und Eliminierung ..112 2.1.2 und Tragik .................................................................114 2.1.3 Produktions- und Rezeptionsästhetik ........................................128 2.2 Ritual, Opfer, Mythos und Performanz .............................................129 2.2.1 Performanz ................................................................................131 2.2.2 Ritual.........................................................................................137 2.3 Zeichenbegriff, Mimesis und Ästhetik ..............................................143 2.3.1 Merschs und States’ phänomenologische vs. eine semiotischtransgressive Ästhetik ...............................................................146 2.3.2 Strukturalistisch-semiotische Dramenästhetik ..........................156 <?page no="10"?> x 2.4 Die Zeichennutzer: Dramatische Kommunikationsstruktur, Pragmatik, Ambivalenz, Ironie und Naivität ....................................164 2.5 Zum Ort der Mimesis: Maske und Rolle .............................................169 3. Poetisch-ästhetische Dimensionen der Transgression ........................172 3.1 Zu einer Poetik des Raumes ...............................................................172 3.2 Zu einer Poetik und Hermeneutik der Transgression .......................179 3.3 Metatheater als poetische Transgression ...........................................184 Teil II: Exemplarische Einzelinterpretationen 1. Aischylos’ Perser: Transgression zwischen Topologie und Theologie, Poetik, Politik und Pädagogik ............................................199 1.1 Forschungsstand, Aufbau, Narratologie und Perspektive ................199 1.2 Das poetische Spiel mit Nähe und Distanz(ierung), Eigenem und Fremdem ......................................................................................204 1.3 Susa und Athen: Szenische Transgression der Meerengen .............213 1.4 Transgressive Zwangssemiogenese und ihr Scheitern .....................215 1.5 Bildlich-(se)mantische (Voraus-)Deutung von Transgression und Eliminierung ................................................................................217 1.6 Jeu de massacre: Darstellung der Eliminierung ...............................222 1.7 Nekromantie als Intratheater und Dareios’ Geist als Gott-Vater ....229 1.8 Xerxes: Vom Gott-/ Großkönig über den idiot de la famille der intratheatralischen Nekromantie zum oder: Tragik, Vergänglichkeit und Jugend ........................................233 1.9 Rituelle Neujustierung der inneren Ordnung ....................................249 1.10Botschaft und Wirkung sowie ein neues Bild domestizierter ethnischer Alterität .............................................................................266 1.11Fazit und Ausblick ..............................................................................280 2. Sophokles’ König Oidipus: Transgression, Hermeneutik, Kontingenz und poetische Mimesis .......................................................283 2.1 Einleitung: Bisherige Interpretationen und der vorliegende Ansatz .............................................................................283 2.2 Narrative Struktur eines analytischen Dramas: Identitätssuche zwischen Diptychon, Dreiweg und Spur ...........................................288 2.3 Die Suche nach der Identität des Transgressors in der erforschenden Handlung ....................................................................295 2.3.1 Einleitung und Problemstellung ................................................295 2.3.2 Phase eins: Der Chor und der Priester.......................................299 2.3.3 Phase zwei: Teiresias und Kreon ..............................................301 2.3.4 Phase drei: Iokaste.....................................................................309 2.3.5 Phase vier: Der Hirte .................................................................319 2.3.6 Fazit und die alles sehende Zeit ................................................321 2.4 Oidipus’ Transgression: Bewertung und Legitimität ...........................324 2.4.1 Kollision am Dreiweg ...............................................................326 Inhalt <?page no="11"?> xi 2.4.2 Monstrosität der Transgression statt Schuld-, Schicksals- oder Charaktertragödie ..............................................................331 2.4.3 Paradoxie und Tragik der Transgression...................................338 2.4.4 Paradoxon, und (se)mantische Binnenhermeneutik ...................................................................343 2.4.5 Transgression und Orakel: Fehldeutungen und Autoritätsrestauration................................................................................346 2.5 Körperliche Integritätsverletzung und räumliche Eliminierung als Restauration? .......................................................................................370 2.6 Dramatische Kunst zwischen Mimesis, Metatheater und Aisthetik der Eliminierung ..................................................................................379 2.6.1 Metatheater und Aisthetik der Eliminierung .............................379 2.6.2 Mimesis und Aristoteles............................................................399 2.7 Fazit: Monstrosität der Transgression, paradoxe Tragik, Restauration der mantischen Autorität und mimetisches Metatheater .....................402 3. Euripides’ Medea: Transgression zwischen Psychologisierung, Perversion und Intratheater und die Tragik der Entzweiung ..........405 3.1 Einleitung: Personenkonstellation, Handlungsverlauf und Systematik der Interpretation .............................................................405 3.2 Analyse des Dramas anhand von Eliminierung, Tragik und Intratheater ..........................................................................................411 3.2.1 Die Eingangsszene: Die soziale Scheinredintegration des Transgressionsopfers und der späteren Transgressorin .............411 3.2.2 Medeas Intratheater und ihre souveräne Subvertierung und Ironisierung von Logos und Nomos..........................................412 3.2.3 Psychologisierung: Tragik als selbsterkannte Selbstaufhebung des Subjekts...............................................................................421 3.2.4 Darstellung und intratheatralische Inszenierung der Transgression ............................................................................434 3.2.5 Die Schlußszene mit Iason: Intratheatralischer Triumph der Transgressorin und fragwürdige Restauration ..........................442 3.3 Die binnenhermeneutische Beurteilung als / der Transgression .....454 3.4 Tragik und dimidiata dyas .................................................................457 3.5 Gender, Inversion und Perversion .....................................................459 3.6 Transgression, Monstrosität und Chronotopos: Die Meerengen und der Sonnenlauf .............................................................................468 3.7 Fabula docet oder Iason als Anti-Odysseus .....................................478 4. Euripides’ Bakchen: Metatheater, Transgression, Souveränität und Differenz ............................................................................................481 4.1 Einleitung ............................................................................................481 4.2 Personen- und Konfliktkonstellation, Epiphanie und der Handlungsverlauf ...............................................................................485 4.3 Souveränität, Metatheater und Wunderbares ....................................493 4.4 Transgression und Eliminierung ........................................................497 4.5 Tragik ..................................................................................................501 Inhalt <?page no="12"?> xii 4.6 Irrationalität, Liminalität, Ambivalenz und Differenzannullierung 523 4.7 Girard, Zusammenfassung und Ausblick ..........................................530 5. Interludium: Die antike Komödie .........................................................533 5.1 Aristophanes’ Frösche: Komisches Metatheater als Metatragödie .533 5.2 Die Neue Komödie und Menanders Samia .......................................536 5.3 Plautus’ : Metatheater, Komische Doppelung, ver-rückte Semiose und das Spiel mit der Identität ............................................546 6. Die (nachklassische) Tragödie und die Stoa ........................................557 6.1 Das Ende der Tragödie und des Tragischen? ...................................557 6.2 Das Verhältnis der Stoa zur Tragödie und zum Tragischen ............561 7. Senecas Phaedra: Der furor als Merkmal und Motor von Transgression und Drama und die Poetik der Distanz ................................577 7.1 Forschungsstand und Problemstellung ..............................................577 7.2 Analyse des Dramas anhand von furor, Monstrosität und Diskontinuität .....................................................................................589 7.2.1 Hippolytus’ Auftritt: Extravaganz des Objekts der libidinösen Transgression ............................................................................589 7.2.2 Typen und Verteilung des furors im Drama .............................590 7.2.3 Phaedra und die Amme: Offenbarung der transgressiven Libido (furor) und Instrumentalisierung der Exponentin philosophischer Lehre ...............................................................593 7.2.4 Hippolytus als pseudophilosophisch exaltierter misogyner Anachoret ..................................................................................610 7.2.5 Phaedras Offenbarung ihrer transgressiven Libido und Hippolytus’ evasive Integritätswahrung....................................615 7.2.6 Diskontinuitäten, Chthonik und Monstrosität infolge des Wütens der Transgression .........................................................625 7.2.7 Hippolytus’ transgressive Eliminierung ....................................631 7.2.8 Hippolytus’ Konfrontation mit dem Seeungeheuer...................639 7.2.9 Hippolytus’ juridische und physische Integritätsrestaurierung, Phaedras Selbsteliminierung und Theseus’ Charakterschwäche ....................................................644 7.3 Synthese: Dionysik, Magie, Chthonik und die Metatheatralität des furors ............................................................................................660 7.4 Senecas dionysische und apollinische Poetik und Rezeptionsästhetik 671 7.5 Metatheater, fehlende Tragik und die Dramaturgie der Distanzierung in der Phaedra ............................................................684 7.6 Fazit und formal-komparatistischer Ausblick auf die frühe Neuzeit und Moderne .........................................................................706 7.6.1 Fazit ..........................................................................................706 7.6.2 Formal-komparatistischer Ausblick .......................................713 8. Zusammenfassung und Ausblick ...........................................................721 8.1 Zu einer strukturalistischen Poetik und Hermeneutik der Transgression ...............................................................................................721 Inhalt <?page no="13"?> xiii 8.2 Facetten und Darstellung der Transgression .....................................723 8.3 Zur Tragik und ihrer Neudefinition durch Karl Heinz Bohrer ........728 8.4 Die verschränkte Diachronie von Metatheater, Tragik, Religion und Autonomie der Kunst .................................................................736 8.5 Methodischer Ausblick ......................................................................743 9. English Summary: Transgression, the Tragic, and Metatheater .....749 10. Literaturverzeichnis ...............................................................................755 1. Nachschlagewerke, Reihen, Fragmentausgaben und abgekürzt zitierte Literatur ...................................................................................755 2. Textausgaben, Übersetzungen und Kommentare antiker bis frühneuzeitlicher Autoren ................................................................................757 3. Sekundärliteratur..................................................................................766 11. Personen-, Sach- und Begriffsregister .................................................805 12. Index locorum ...........................................................................................903 Inhalt <?page no="15"?> Teil I: Einleitung: Haupttermini, Methodik und analytischer Apparat 0. Einführung: Forschungsstand, Methode, Grundbegriffe; Aufbau der Einleitung Das antike Theater konstituierte eine der drei Großgattungen der abendländischen Dichtung, die in der Antike oftmals als Leitgattung fungierte (Arist. Poet. 1461b 26-1462b 19). Dies lag sicher nicht zuletzt an seiner Öffentlichkeitswirksamkeit qua vormodernes Massenmedium und seiner entsprechenden quantitativen Produktivität. 1 Dabei sei dahingestellt, ob sich der Erfolg des Theaters sozialhistorisch daraus erklären läßt, daß die öffentliche Aufführung des Schauspiels der besonderen Rolle der Öffentlichkeit in der klassischen Polis Athen entsprach, oder ob er auf anthropologische Konstanten zurückzuführen ist, die bereits Aristoteles mit der Vorliebe der Menschen für den Gesichtssinn formulierte - da dieser die meisten Informationen liefere (Arist. Metaph. 980a 20-27). Unstrittig ist jedenfalls, daß das Theater/ Drama wegen der Darstellung (verbal) handelnder und interagierender Menschen, über die es ebenfalls bereits Aristoteles definiert hat, vor einem kollektiven Publikum einen anderen Superlativ verdient hat, nämlich denjenigen der anthropologischsten Gattung, 2 die am ehe- 1 Hellmut Flashar zitiert Hochrechnungen, nach denen das 5. Jh. 1260 Tragödien hervorgebracht habe, die etwa 180 Bände an Oxfordausgaben füllen würden. Die Anzahl der Tragödien des 4. Jh.s könne man „mindestens auf die Hälfte ansetzen“ (Die Poetik des Aristoteles und die griechische Tragödie. Poetica 16 (1984) 1-23, h. 3 f.). 2 Dieser gebührt ihm auch in diachron-stammesgeschichtlicher Hinsicht. Denn das Theater integriert kumulativ alle drei Stadien der Menschwerdung, die Merlin Donald ausgemacht hat (Origins of the Modern Mind. Three Stages in the Evolution of Culture and Cognition. Cambridge, Mass. 1991). Dies beginnt bereits beim ersten entscheidenden Schritt der Anthropogenese, dem mimetischen Stadium, das (und nicht erst die Entstehung der Sprache) bereits den Homo erectus klar von allen Vorgängern abgegrenzt habe (1991: 162-200). Donald definiert die mimetische Fähigkeit als Vermögen, bewußt aus eigenem Antrieb darstellende Handlungen zu erzeugen, die nicht sprachlicher Natur sind. Donald zählt hierunter ausdrücklich Tänze und pantomimisches Theater in Antike und Mittelalter auf (1991: 169), wobei die Tänze im antiken Chor wiederkehren. Zur mimetischen Kultur gehörten auch Rituale (1991: 198), die in der heutigen Dramentheorie eine beachtliche Rolle spielen (s. 2.2.2 Ritual). Der visiomotorische Ausdruck, den Donald als dominant in der mimetischen Kultur ausmacht (1991: 177), ist theatralisch und spiegelt die Aufwertung des Körpers in der modernen Theatertheorie und -praxis. Auch die nächste (und für den heutigen Menschen charakteristische) Stufe, die mythologische, welche die Sprache und Erzählungen über die Welt und insgesamt das Denken in und mit Zeichen kennzeichnen (1991: 201-268), ist im antiken Theater durch den Mythos als überwiegenden Stoff präsent. Schließlich findet sich das dritte Stadium, das theoretische, in dem symbolische Zeichensysteme außermental durch die schriftliche Fixierung gespeichert werden und so eine theoretische Reflexion ermöglicht wird (1991: 269-360), in der schriftlichen Niederlegung des Dramentextes sowie in der metatheatralischen Reflexion über das Theater selbst und, wie oben erwähnt, die condicio humana wieder. <?page no="16"?> 0. Einführung: Forschungsstand, Methode, Grundbegriffe; Aufbau der Einleitung 2 sten geeignet ist, die condicio humana und deren Abgründigkeit auszuloten und zur Reflexion über diese anzuregen. 3 Trotz seiner im Verhältnis zur Produktion kümmerlichen Überlieferung stellen das antike Drama und insonderheit die attische Tragödie bis heute ein zentrales Forschungsfeld der klassischen Philologie dar. Im Laufe dieser eingehenden Erforschung ist eine Vielfalt von traditionellen und modernen Interpretationsmethoden zur Anwendung gekommen. Gegenwärtig lassen sich neben zahlreichen Einzelforschungen fünf Hauptströmungen der Beschäftigung mit dem antiken Drama unterscheiden: die praktisch-quellenkundliche, welche die Aufführungspraxis untersucht und eine große Nähe zur Archäologie und Alten Geschichte aufweist; die performativ-ritualorientierte, welche gleichsam den theoretischen Überbau für die Erforschung der Aufführungspraxis liefert und in Überschneidung mit der Religionswissenschaft die rituelle und mythologische Seite des antiken Dramas betrachtet; drittens ebenfalls eher kulturwissenschaftliche Fragen nach Geschlecht und Stadt, welche, da sie von gesellschaftlichen Gruppen ausgehen, soziologische und im Falle der Stadt auch politisch-historische Implikationen haben; und viertens die zumal im deutschsprachigen Raum immer wieder aufbrechende Frage nach Schicksal, Handlungsspielraum und „Schuld“ der Dramenfiguren (s. dazu 2.1.2 und Tragik in 2.1 Aristoteles’ Poetik). Sie stellt wohl die pointierteste Fragestellung innerhalb eines größeren Problemfeldes dar, das auch die weitverbreiteten Untersuchungen von Einzelcharakteren und Handlungssträngen umfaßt. Nur sie greift von diesen vier Richtungen die - auch im Ansatz dieser Untersuchung - zentrale Frage nach dem inneren Funktionieren des Dramas auf, die bereits Aristoteles ins Zentrum seines Tragödienverständnisses gerückt hat. Trotz eines unverkennbar philosophischen Moments, das sich um den Problemkreis ‚Willensfreiheit‘ rankt und leicht anachronistisch geraten kann, ist dieser Ansatz derjenige, der von den bisher besprochenen am ehesten das Prädikat ‚literaturwissenschaftlich‘ verdient, da er sich nicht in kulturell-materialem Ad- und Substrat erschöpft, sondern ein wichtiges Merkmal der inneren Verfaßtheit dieser literarischen Texte zum Gegenstand der Betrachtung erhebt. Derartige Untersuchungen sind freilich nicht gegen die Gefahr gefeit, über die Suche nach konzeptueller und begrifflicher Präzisierung aus dem Blick zu verlieren, daß sie es nicht mit philosophischen, sondern literarischen Texten zu tun haben, deren Charakteristikum nicht die Eindeutigkeit, sondern die Mehrdeutigkeit ist. 4 Einzig genuin literaturwissenschaftlich ist die fünfte Richtung, die Charles Segal neben den Cambridge Ritualists und der Psychoanalyse erwähnt, nämlich die Analyse der formalen Gestaltung der griechischen Tragödie, wie sie in Deutschland in den 1930er Jahren und in den USA von den New Criticists betrieben worden sei. 5 3 Jean-Marie Domenach, Le retour du tragique. Paris 1967, 8 f. 4 Bei Christoph Menkes exzellenter Studie Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel. Frankfurt a.M. 2005 stehen die philosophische Lektüre des OT (2005: 13-101) und die Tragödientheorie (2005: 103-157) eher nebeneinander, als daß sie sich durchdringen. 5 Tragedy and Society. A Structuralist Perspective. In: Ds., Interpreting Greek Tragedy. Myth, Poetry, Text. Ithaca 1986, 21-47, h. 21 f. <?page no="17"?> 0. Einleitung: Forschungsstand, Methode, Grundbegriffe; Aufbau der Einleitung 3 In der Gegenwart wird das Bedürfnis spürbar, die heuristische Tragweite und Vereinbarkeit dieser methodischen Vielfalt zu klären. 6 Hier will die vorliegende Untersuchung einsetzen. Statt des sozial(geschichtlich)en Kontextes oder ritualmythologischen Subtextes, die bislang mit beachtlichen Resultaten im Zentrum der Forschungsrichtungen standen, so verschieden sie auch sein mögen, will sie mit einer literaturwissenschaftlichen Interpretation dem (Dramen-)Text zu seinem Recht verhelfen und greift damit ein gegenwärtig spürbares Bedürfnis auf. 7 Dabei sollen die traditionellen Fundamentalkategorien Tragik und Komik des antiken Dramas auf strukturalistischer Grundlage mit Hilfe der eher postmodernen Figur der Transgression neubestimmt und so eine neue Grammatik 8 dieser Großgattung geschrieben werden, die bislang Gegensätzliches oder Disparates zu einer einheitlichen Sichtweise zusammenführt, ohne die früheren Einzelpositionen, Herangehensweisen und Ergebnisse aufzuheben. Die hier gewählte Herangehensweise, die am prägnantesten als ‚handlungsstrukturalistisch’ zu etikettieren wäre, ist wissenschaftsgeschichtlich keineswegs eine creatio ex nihilo, die wie Athene vollausgebildet dem Haupt des Zeus entsprießt. Die folgende methodisch-terminologische Einleitung soll sie in die allgemeine Theatertheorie und die Reflexionen über das antike Drama, vorzugsweise über die Tragödie und den Begriff des Tragischen, die bis in die klassische Philosophie selbst zurückreichen, einbetten, um auf diesem Wege Parallelen, Unterschiede und Innovationen herauszuarbeiten und zu begründen. Um das Verständnis zu erleichtern, seien an dieser Stelle der analytische Apparat 9 dieser Arbeit, d.h. ihre Grundbegriffe und methodischen Grundsatzentscheidungen, sowie die argumentative Funktion der einzelnen Kapitel der Einleitung kurz vorausgeschickt. Dabei soll auch das systematische Verhältnis der hier vorgestellten Termini geklärt werden. Den Anfang unserer Vorschau mögen methodische Grundentscheidungen und Begriffe bilden, die so fundamental sind, daß ihnen kein eigenes Kapitel gewidmet wurde. Was den Gegenstand der Untersuchung angeht, so unterschei- 6 Vgl. Gyburg Radke, Tragik und Metatragik. Euripides’ Bakchen und die moderne Literaturwissenschaft. Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 66. Berlin 2003, 1-30 und Rita Felski (Hg.), Rethinking Tragedy. Baltimore, Md. 2008. Douglas L. Cairns, Introduction: Archaic Thought and Tragic Interpretation. In: Ds. (Hg.), Tragedy and Archaic Greek Thought. Swansea 2013, ix-liv, h. ix f. bietet einen Überblick über die bisherigen Richtungen der Forschung und weist zugleich auf ihr Alter und die Notwendigkeit der Weiterentwicklung hin, die sein Einleitungsbeitrag und die Beiträge des von ihm herausgegebenen Sammelbandes in einem wichtigen Punkt wegweisend in Angriff nehmen. 7 Vgl. Richard B. Rutherford, Greek Tragic Style: Form, Language and Interpretation. Cambridge 2012, xi: „My own emphasis is on the dramas as poetic texts.” 8 Bereits Anton F. Harald Bierl, Dionysos und die griechische Tragödie. Politische und ‚metatheatralische‘ Aspekte im Text. Diss. München 1990. Classica Monacensia 1. Tübingen 1991, 186 Anm. 27 spricht von einer „tragischen ‚Grammatik‘“, ohne dort näher auf diesen Terminus einzugehen. 9 Nach Gert Hübners ebenso anschaulicher wie treffender Formulierung „bestückt“ das Vorstellen des „analytische[n] Instrumentarium[s]“ den „Werkzeugkasten“ für die späteren Einzelinterpretationen (Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im „Eneas“, im „Iwein“ und im „Tristan“. Habil. Bamberg 2001/ 2002. Bibliotheca Germanica 44. Tübingen 2003, 11). <?page no="18"?> 0. Einführung: Forschungsstand, Methode, Grundbegriffe; Aufbau der Einleitung 4 det die vorliegende Arbeit stärker als der gewöhnliche Sprachgebrauch, der oft auf eine funktionale Synonymie hinausläuft, idealtypisch zwischen dem Drama, d.h. der im Text ohne Autorenkommentare geschilderten Handlung verschiedener Akteure, und dem Theater, d.h. dem Schauspiel, das diese Handlung einem realpräsenten oder implizierten Publikum bietet. Der Hybridcharakter der untersuchten Gattung als (Wort-)Drama und Theater birgt damit zwar ein terminologisches Dilemma hinsichtlich eines gemeinsamen Hyperonyms: Die Genusgleichheit von ‚Drama‘ und ‚Theater‘ macht grammatisch eine rein additive Schrägstrichlösung praktikabel (Theater/ Drama). 10 Die mimetische Großgattung, wie sie auch genannt werden kann, da selbst der gelesene literarische Text der antiken Dramen mangels übergeordneten Erzählers das Auftreten und Interagieren handelnder Einzelpersonen imaginiert, würde so zu einer ‚Müller-Lüdenscheid‘-Gattung. Dies ließe sich vermeiden, wenn man sich mit einer neologistischen Verschmelzung dieser Zusammenrückung abfände (‚Theadrama‘). Doch entspricht dieser Hybridcharakter sachlich exakt den Saussureschen Charakteristika der langue als fait linguistique und fait social (CLG 29-35). Die terminologische Not ist damit eine analytische Tugend: Grenzüberschreitung und Ambivalenz sind in der Struktur dieser Gattung angelegt. Sie ist damit besonders geeignet, unter strukturalistischen Prämissen mit der Figur der Transgression untersucht zu werden. Diese (post)strukturalistische Herangehensweise an das antike Theater kann sich auf keinen Geringeren als Roland Barthes berufen, dessen literaturwissenschaftliche Anfänge in der klassischen Philologie liegen und der ausgehend von der Beschäftigung mit dem griechischen Drama den Übergang vom Strukturalismus zum Poststrukturalismus einleitete. 11 Die begriffliche Unterscheidung zwischen Drama und Theater ist grundlegend für eine methodische Weichenstellung: Die vorliegende Arbeit ist, wie bereits angedeutet, einem werkästhetischen Ansatz verpflichtet, d.h. den Gegenstand der Untersuchung bildet der überlieferte antike Dramentext. Produktions- und rezeptionsästhetische Gesichtspunkte, die sonst zu Spekulationen über das Bewußtsein längst Verstorbener auszuarten drohen, sollen nur insoweit Berücksichtigung finden, als sie sich am Text festmachen lassen (für die Rezeptionsästhetik s. 2.1.3 Produktions- und Rezeptionsästhetik in 2.1 Aristoteles’ Poetik). Bei der Produktionsästhetik sind dies intra- oder intertextuelle Alternativen, die eine bestimmte Bedeutung auf dem Wege der Kontrastierung oder gar von Minimalpaaroppositionen hervortreten lassen, ohne deshalb Rückschlüsse über Wirkungsabsichten des Autors zu erlauben. 10 Für eine weitere begriffliche Ziselierung der Konstituenten von Drama und Theater s. 2.3.2 Strukturalistisch-semiotische Dramenästhetik in 2.3 Zeichenbegriff, Mimesis und Dramenästhetik. 11 So Gerhard Neumann, Begriff und Funktion des Rituals im Feld der Literaturwissenschaft. In: Ds., Sigrid Weigel (Hgg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München 2000, 19-52, h. 32 ohne Textnachweis. Als äußerst fruchtbar für das Analyseraster der vorliegenden Arbeit könnte sich jedenfalls Barthes’ Rückgriff auf Lucien Tesnières Konzept der Inszeniertheit des Zeichens erweisen (2000: 33), wenn man es an das Drama knüpft, statt wie Barthes vom klassischen Strukturalismus in die allgemeine Kultursemiotik (2000: 34) auszuschweifen. <?page no="19"?> 0. Einleitung: Forschungsstand, Methode, Grundbegriffe; Aufbau der Einleitung 5 Die Unterscheidung von Drama und Theater zieht eine weitere nach sich, nämlich diejenige der Interaktionsformen zwischen den dramatischen Akteuren und solchen zwischen dem Schauspiel und seinen Rezipienten. Die erstgenannte tritt hier als Binnenpragmatik hervor, die letztgenannte, da sie über die Bühne erfolgt, als Bühnenpragmatik. Ebenso sei zwischen Binnen- und Bühnenhermeneutik unterschieden. Während die Bühnenhermeneutik vom antiken und modernen Zuschauer oder Leser oder aber dem modernen Literaturwissenschaftler abhängt und teils über die Rezipientenlenkung in den Text eingeschrieben ist, wird die Binnenhermeneutik von den Figuren vorgenommen und hat dadurch eine besondere Relevanz für das (Selbst-)Verständnis der Dramentexte. 12 Noch aufschlußreicher ist ihre Pragmatik, wenn die Geltungsansprüche konkurrierender Deutungen ausgehandelt werden. Die methodisch-terminologische Einleitung gliedert sich in drei thematische Blöcke. Der erste Themenblock stellt das Instrumentarium der Dramenanalyse vor. 13 Ihr Herzstück ist die Transgression. 14 Sie ist der zentrale Begriff und das integrative Konzept dieser Arbeit und kann trotz ihrer postmodernen Beliebtheit auf eine reiche Forschungsgeschichte in der modernen Theorie zurückblicken (1.2.4 Kurzer Forschungsabriß zur Transgression: Bataille, Foucault, Stallybrass und White). In dieser Arbeit wird sie unter drei Aspekten betrachtet: einem topologisch-geographischen, einem soziojuridisch-mimetischen und einem ästhetischen (1.2.1 Dramatische Transgression von Struktur und Identität). Als Handlungsfigur ist sie besonders für die Dramenanalyse geeignet. Sie verletzt eine Ordnung und entspringt ihr, wobei diese Ordnung nach dem Verständnis dieser Arbeit durch Grenzziehungen konstituiert wird. Die Ordnungs- und Identitätsstiftung durch Abgrenzung ist ein genuin strukturalistischer Ansatz, dem die vorliegende Arbeit verpflichtet ist und auf dem eine strukturalistische Semiotik fußt. Die Semiotik, nicht bloß strukturalistischer Obödienz, bildet neben dem Strukturalismus 15 den zweiten wichtigen theoretisch-methodischen Hinter- 12 Gleicht man diese Begriffe mit den Termini von Kenneth L. Pike ab, nimmt die Bühnenhermeneutik also den etischen und die Binnenhermeneutik den emischen Standpunkt ein (Language in Relation to a Unified Theory of the Structure of Human Behavior. Ianua linguarum Series maior 24. Den Haag 2 1967, 37). Der Brückenschlag zu Pikes Begrifflichkeit bietet sich auch deshalb an, weil er seine Begriffspaar analog zu dem strukturalistischen ‚phonemisch‘ und ‚phonetisch‘ geprägt hat (1967: 37) und die vorliegende Untersuchung für ihr Modell zur Dramenanalyse an diese Richtung der Sprachwissenschaft anknüpft. 13 Dieser sowie 2.3.2 Strukturalistisch-semiotische Dramenästhetik und 3.3 Metatheater als poetische Transgression seien dem eiligen Leser empfohlen, der nicht an den ästhetisch-theoretischen Grundlagen, sondern nur an dem terminologisch-konzeptuellen Rüstzeug der Dramenanalyse interessiert ist. 14 Auch die Verlagsankündigung (voraussichtliches Erscheinungsdatum laut Verlag: 30.9.2014) des Sammelbandes Niklas Bender, Max Große, Steffen Schneider (Hgg.), Ethos und Form der Tragödie. Germanistisch-romanistische Monatsschrift, Beiheft 60. Heidelberg 2014 nennt die „Verfehlung des Helden“ und „die Gefährdung der Ordnung“ als Thema der Tragödie seit der Antike. 15 Die in dieser Arbeit verwendeten strukturalistischen Grundbegriffe (langue, parole, Zeichen, signifiant, signifié, syntagmatisch, paradigmatisch, Minimalpaaropposition, operationale Verfahren, diachron, synchron) können hier aus Platzgründen nicht entwickelt werden, auch wenn sie vielleicht nicht allen klassischen Philologen geläufig sind. Für ihre Darstellung sei etwa auf <?page no="20"?> 0. Einführung: Forschungsstand, Methode, Grundbegriffe; Aufbau der Einleitung 6 grund dieser Arbeit. Die in der vorliegenden Untersuchung unternommene perspektivische Weitung von der Transgression, deren Herkunft und Bedeutung ein topologisches Moment innewohnt, zur Semiotik wird nicht nur inhaltlich dadurch nahegelegt, daß Zeichen und Weg zwei Punkte verbinden, sondern auch durch die Etymologie des deutschen Wortes ‚Sinn‘ insinuiert, die nicht nur psychologische, sondern wie die Transgression topologisch-direktionale Elemente birgt. 16 Nur im Verbund mit anderen Handlungsfiguren ist die Transgression in der Lage, die Handlungsstruktur (Näheres s. 1.1 (Antikes) Drama und Strukturalismus: Zur Handlungsstruktur) von Dramen zu beschreiben. Die Handlungsfiguren bilden den Grundstock des Apparats, den die Dramenanalyse dieser Arbeit in Anschlag bringt, und sollen im ersten Großabschnitt der Einleitung vorgestellt werden. Sie werden hier in Handlungsstationen und Handlungsmerkmale unterschieden. Handlungsstationen wie Transgression, Eliminierung, Restauration oder Iteration bestehen in konkreten Einzelhandlungen. Handlungsmerkmale wie Tragik oder Komik charakterisieren solche Einzelhandlungen; ihr Vorliegen läßt sich jedoch nur mit Blick auf andere Elemente der Gesamthandlung klären. Die Artikulation der Handlungsstationen unterscheidet sich in Tragödie und Komödie. Während die Transgression in der Tragödie in die für diese charakteristische Eliminierung mündet, verbindet sie sich in der Komödie (und Komik) mit Doppelung und Iteration. Die Transgression verletzt die Integrität deshalb in der Tragödie in einer viel elementareren Dimension als in der Komödie. Die Restauration als Gegenbewegung zur Transgression kann die von dieser verletzte Integrität und soziale Ordnung wiederherstellen. In der Komödie verzichtet sie, so sie denn stattfindet, abermals auf die Eliminierung. Bei den Handlungsmerkmalen tritt in dieser Arbeit die Komik gegenüber der Tragik zurück. Die Tragik faßt die vorliegende Untersuchung als Unterform der Transgression auf. Bei einer tragischen Transgression wird das ethisch-rationale Subjekt durch die Handlungsstruktur in seiner Funktion beeinträchtigt und hebt sich dabei - nicht selten in einer Rollenperformanz - selbst auf. Oft opfert es bei der tragischen Transgression eine fremde physische Integrität, um seine eigene soziale Jörn Albrecht, Europäischer Strukturalismus. Ein forschungsgeschichtlicher Überblick. Tübingen, Basel 2 2000 verwiesen, für ihre Verbindung mit der Literaturtheorie auf Jonathan Culler, Structuralist Poetics. Structuralism, Linguistics and the Study of Literature. London 1975. 16 Kluge/ Seebold s.v. sehen „die etymologischen Verhältnisse“ als „unklar“ an. Sie stellen die konkrete und abstrakte Bedeutung unentschieden nebeneinander und erwähnen, das ahd. Verb sinnan habe „reisen, sich begeben, trachten nach“ bedeutet, im Keltischen fänden sich die Parallelen air. sét und kymr. hynt ‚Weg‘. Pfeifer s.v. Sinn und sinnen geht jedoch von einem konkreten idg. Etymon *sent- „eine Richtung nehmen, gehen“ aus, das nicht nur lokalen Lexemen wie dt. senden, ahd. sind „Weg, Richtung, Seite“ und awest. hant- „gelangen (lassen)“, sondern auch psychologischen wie lat. sentire und lit. sintéti „sich entschließen, denken“ zugrunde liege. Pfeifer reproduziert damit den Kenntnisstand in Pokorny 908 s.v. sent-, der zwar „eine Richtung nehmen, gehen“ und „empfinden, wahrnehmen“ als Grundbedeutungen angibt, die konkrete jedoch als die „eigentliche[n]“ ansieht. Ähnlich erwägt das LIV 483 s.v. *sent zwar zwei ursprünglich verschiedene Wurzeln, hält eine Entwicklung von der konkreten zur psychologischen Bedeutung über die Zwischenstufe „(Wild) nachgehen“, „aufspüren“ jedoch durchaus für möglich. In Wodtkos aktuellstem Nachschlagewerk fehlt ein entsprechender Eintrag. <?page no="21"?> 0. Einleitung: Forschungsstand, Methode, Grundbegriffe; Aufbau der Einleitung 7 zu wahren, verliert aber dabei seine moralische (1.4 Tragik, Konflikt und Integrität). Komik und Komödie beruhen zwar wie die Tragödie und die Tragik auf der Transgression, operieren jedoch anders als diese statt mit der Eliminierung mit der Verdoppelung (1.5 Komik, Doppelung und Iteration). Da - wie die Rhetorik auf der Grammatik - die Handlungsmerkmale Tragik und Komik auf Transgression, Eliminierung, Verdoppelung und Restauration aufbauen, verdienen sie im eigentlichen Sinne die Bezeichnung ‚Figuren der Handlung‘, 17 auch wenn diese gelegentlich den besagten vier Handlungsstationen zuteil werden mag. Die individuellen Ausprägungen von Tragik und Komik bei einem Dramatiker lassen sich schließlich als letzter Schritt der Individuation mit der Stilistik analogisieren. Der zweite thematische Block weitet den Horizont und bettet den semiotischhandlungsstrukturellen Ansatz dieser Untersuchung in einen breiteren dramentheoretischen und ästhetischen Zusammenhang ein. Dieser weitere Rahmen erlaubt es auch, die beiden ersten Kapitel dieses thematischen Blocks zwei verwandten oder konträren Ansätzen zu widmen, die wegen ihrer Prominenz und thematischen Relevanz für das Drama eine eigene Besprechung verdienen, während sonst die bisherige Forschung zumeist fortlaufend parallel mit der Entfaltung des eigenen semiotischen und strukturalistischen Analyseapparates diskutiert werden kann. Zuerst wird Aristoteles’ Poetik diskutiert, die nicht nur chronologisch vorgängig ist, sondern wegen ihrer Nähe zum bisher entwickelten Instrumentarium der Dramenanalyse eine Scharnierfunktion zum vorausgehenden thematischen Block erfüllt. In ihr nehmen nämlich Handlung(sstruktur) und Transgression einen zentralen Platz innerhalb des Tragödienverständnisses ein. Der Stageirit kann deshalb als Ahnherr und Stichwortgeber der hier vertretenen Dramenkonzeption in Anspruch genommen werden. (Nicht fruchtbar machen läßt sich allerdings sein Zeichenverständnis.) Dagegen lassen sich die in der gegenwärtigen Kultur-, Dramen- und ästhetischen Theorie beliebten Kategorien ‚Ritual‘, ‚Opfer‘ und ‚Performanz‘ nur modifiziert mit dem analytischen Grundstock dieser Arbeit harmonisieren, da sie im geläufigen Verständnis auf periphere soziale Phänomene des Dramas qua literarisches Kunstwerk abheben (2.2 Ritual, Opfer, Mythos und Performanz). Gleichwohl helfen sie, den hier vertretenen Ansatz schärfer herauszuarbeiten und in Details zu bereichern. So ist insbesondere der auf diese Weise gewonnene Begriff der (Rollen-)Performanz grundlegend, um das Tragikverständnis dieser Arbeit zu formulieren. Das Herzstück des zweiten thematischen Blocks bildet der Abschnitt 2.3 Zeichenbegriff, Mimesis und Ästhetik, der eine semiotisch-strukturalistische Dramenästhetik formuliert und gegen andere Ansätze positioniert. Dazu lotet er das spannungsreiche Verhältnis des Zeichens, das eo ipso etwas Mittelbares und Abstraktes ist, zu stärker unmittelbaren Phänomenen aus wie der Mimesis, die 17 Diese terminologische Anlehnung an Gregory W. Dobrov, Figures of Play. Greek Drama and Metafictional Poetics. Oxford 2001 ist mit der Logik seines Sprachgebrauchs vereinbar, da er Metatheater, mise en abyme und das Interdrama der Komödie als Figuren des Spiels bezeichnet (2001: 14-18), also analytisch noch eine Stufe tiefer als der Sprachgebrauch der vorliegenden Arbeit unter die Einzelhandlung steigt. <?page no="22"?> 0. Einführung: Forschungsstand, Methode, Grundbegriffe; Aufbau der Einleitung 8 für die Dramenästhetik grundlegend ist, und der Ästhetik, die hier vornehmlich in ihrer phänomenologischen Konfigurierung relevant ist. Zwei kürzere Kapitel schließen sich inhaltlich an: Das vorangehende Kapitel hatte den Zeichennutzer und die Pragmatik unberücksichtigt gelassen. Diese Aspekte und weitere mit dem dramatischen Zeichennutzer verbundene behandelt das folgende (2.4 Die Zeichennutzer: Dramatische Kommunikationsstruktur, Pragmatik, Ambivalenz, Ironie und Naivität). Die Maske ist schließlich, da sie die dramatische Person auf der Bühne materialisiert, die systemische Schnittstelle zwischen Mimesis, Phänomenologie und Dramensemiotik (2.5 Zum Ort der Mimesis: Maske und Rolle). Die dramentheoretische Grundlagenforschung schafft die Voraussetzung für den letzten thematischen Block der Einleitung, dessen drei Kapitel die poetologisch-ästhetische Dimensionen der Transgression beleuchten. Deren Rolle in dramenpoetischen Texten läßt sich adäquat nur auf der Grundlage einer Poetik des Raumes oder zumindest des Raumes in dramatischen Texten verstehen (3.1 Zu einer Poetik des Raumes). Die Transgression selbst ist nicht bloß auf den soziojuridischen und topologischen Bereich beschränkt. Vielmehr kann man die Kunst und die Poesie als Durchbrechen des Alltäglichen und seiner Sinnzusammenhänge zu neuen semiotisch-ästhetischen Dimensionen und deren Erschaffen begreifen (3.2 Zu einer Poetik und Hermeneutik der Transgression). Im Falle des Dramas lassen sich die verschiedenen Formen gattungsspezifischer Metapoetik und Metafiktionalität, die gegenwärtig terminologisch ungeschieden unter dem Stichwort ‚Metatheater‘ zirkulieren, als poetische Transgression auffassen (3.3 Metatheater als poetische Transgression). <?page no="23"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 1.1 (Antikes) Drama und Strukturalismus: Zur Handlungsstruktur Während, wie im vorausgehenden Kapitel ausgeführt, die heutige Forschung überwiegend den historischen Kontext oder den rituellen Subtext des antiken Dramas betrachtet, soll hier die Tiefenstruktur der Dramentexte erhellt werden. Der Blick auf die innere Verfaßtheit der literarischen Texte ist, überflüssig zu sagen, das Signum einer literaturwissenschaftlichen Herangehensweise an das antike Drama. 1 Dazu bietet sich die strukturalistische Methodik besonders an, da sie produktions- und rezeptionsästhetische Aspekte zugunsten einer synchronen Analyse der konstitutiven Elemente und ihrer Verbindung zurückstellt. 2 Sie ermöglicht es, durch ein Verfahren, das man als literatursemiotisch bezeichnen kann, die literarischen Zeichen des Sprachkunstwerks zu bestimmen. Ihre Herangehensweise hebt damit auf die Werkästhetik ab. Diese Arbeit steht somit programmatisch und theoretisch der immanenten Interpretation nahe, wie sie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg von Wolfgang Kayser vertreten wurde, der in der Literaturwissenschaft ein theoretisches Element sah. 3 Ihn führt Markus Schauer neben Emil Staiger 4 als Eideshelfer für seinen werkästhetischen und textimmanenten Zugang zur attischen Tragödie an, 5 mit dem er bereits eine Dekade zuvor einen ähnlichen Ansatz wie die vorliegende Arbeit wählt. Der Rückgriff auf Kayser und Staiger wird durch die kritische Distanz zu zwei nachfolgenden, in den siebziger Jahren des 20. Jh.s vorherrschenden Perspektiven der Literaturwissenschaft gerechtfertigt: die Reduktion literarischer Werke auf ihren sozialen Kontext und ihre nivellierende Subsumtion unter die Kategorie ‚Text‘. Beide Sichtweisen drohen den eigentlichen Gegenstand dieser Wissenschaft aus dem Blick zu verlieren, das literarische Sprachkunstwerk, das gewiß ein Text ist, allerdings ein literarischer, dessen Komplexität diejenige von Alltagstexten weit übersteigt. Diese Komplexität wird hier anknüpfend an die Lite- 1 Diese tritt in Patricia E. Easterling (Hg.), The Cambridge Companion to Greek Tragedy. Cambridge 1997 auffallend zurück. Nur Patricia E. Easterling, Form and Performance. In: Ds. (Hg.), The Cambridge Companion to Greek Tragedy. Cambridge 1997, 151-177 befaßt sich mit formalen Fragen und Peter Burian, Myth into muthos: The Shaping of the Plot. In: Patricia E. Easterling (Hg.), The Cambridge Companion to Greek Tragedy. Cambridge 1997, 178-208 widmet sich einem Ansatz, der in den Bereich der Handlungsstruktur fällt, aber immer noch quellenkundlich angehaucht ist. 2 Gérard Genette, „Structuralisme et critique littéraire“, in: Ds., Figures I. Paris 1966, 145-170, h. 155-157. 3 Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. Bern, München 15 1971, vgl. S. 11: „Das Studium der Literatur setzt bei dem Studierenden eine gewisse theoretische Begabung voraus.“ 4 Er führt dafür dessen Grundbegriffe der Poetik. Zürich 8 1968 an. 5 Tragisches Klagen. Form und Funktion der Klagedarstellung bei Aischylos, Sophokles und Euripides. Diss. München 2001. Classica Monacensia 26. Tübingen 2002, 20 f. <?page no="24"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 10 raturwissenschaft der siebziger Jahren des 20. Jh.s strukturalistisch-semiotisch beschrieben. Dies unterscheidet sich methodisch, aber nicht theoretisch von Kayser (1971: 5): „Eine Dichtung lebt und entsteht nicht als Abglanz von irgend etwas anderem, sondern als in sich geschlossenes Gefüge [Kurs. von mir].“ Ein strukturalistischer Ansatz darf allerdings ein kommunikativ-pragmatisches und formalistisch-operationales Moment nicht vernachlässigen und wird davon ausgehen, daß sich die volle Komplexität der Dichtung erst im Dialog mit ihrer Umgebung erkennen läßt. Die Auffassung vom dialogischen Charakter auch eines semiotisch gedeuteten Sprachkunstwerks steht im Widerspruch zu Schauers fundamentaler Skepsis gegenüber der Möglichkeit, intertextuelle Bezüge schlüssig nachzuweisen. Diese Reserviertheit ist sicherlich eine verständliche und im Zeitkontext durch das damalige Wuchern von Intertextualitätstheorien nicht unberechtigte Reaktion. Zudem schlägt dieser Dissens nicht voll bis zur Ebene der Gattung durch, da Schauer Bezüge zwischen Texten einer Gattung für plausibel hält, also das Konzept des Interdramas, von dem auch die vorliegende Arbeit ausgeht (s. 3.3 Metatheater als poetische Transgression), nicht gänzlich ablehnt, auch wenn er sogleich Zweifel an Bezügen zwischen Tragödie und Komödie anmeldet (2002: 21 f.). Die politische Lektüre eines Dramas, der etwa Egon Flaig Sophokles’ Oidipus Tyrannos unterzieht, beruht auf dessen beiden Spezifika ‚Handlung‘ und ‚Öffentlichkeit‘, beschränkt sich aber, sofern sie sich nicht in zeitgenössischen Hintergründen oder Intentionen erschöpft, auf die Zeichen, die dem politischen Diskurs zu eigen sind (z.B. ‚Tyrann‘) (Näheres s. 2.4.2 Monstrosität der Transgression der OT-Interpretation). Unspezifisch ist gegenüber einer solchen textzentrierten Herangehensweise trotz nicht zu diskutierender sachlicher Richtigkeit das ritualmythologische archetypische Substrat, dem eine anthropologische Literaturtheorie bzw. der archetypal criticism nachspüren. 6 Dieser Ansatz bietet zwar gut strukturalistisch eine Gattungsgrammatik, mit der die Rhetorik der Einzeldramen arbeitet. Die von ihm ermittelten Motive sind jedoch in der Tragödie ubiquitär und beschreiben - anders als das vorliegende Modell - keine kohärenten Handlungsabläufe. Auch die Suche nach einem psychoanalytischen Subtext der Dramenhandlung, wie ihn etwa Freud bei Sophokles’ Oidipus Tyrannos aufgespürt hat, droht sich im allgemeinen menschlichen Wünschen zu verlieren, da der Kunst unterstellt wird, sie artikuliere von Künstler und Zuschauer verdrängte Wünsche. Mit dem Wünschen gelangt man freilich in den kaum zu überprüfenden Raum des Innenlebens von Künstler und Zuschauer, das auch für die Ausblendung der historischen und emotionalen Rezeptionsästhetik maßgeblich ist (s. 2.1.3 Produktions- und Rezeptionsästhetik in 2.1 Aristoteles’ Poetik). Dagegen lassen sich psychoanalytische Symbole, ohne den in ihnen verborgenen Wünschen nachzuspüren, 7 am Text festmachen. 6 So auch George Steiner, The Death of Tragedy. New Haven, London 1996, x. 7 Hier zeigt sich eine Artikulation der scheinbar disparaten Grundkategorien von Strukturalismus (‚Zeichen‘) und Psychoanalyse (‚Begehren‘), die auch im Fetischismus anzutreffen ist. Doch inwieweit die Semiose ein Mechanismus der Verdrängung ist, da Freuds Phasen der Körperregionen und der frühkindliche Spracherwerb parallel verlaufen, bleibt für die Entwicklungspsychologen schwierig zu beantworten. <?page no="25"?> 1.1 (Antikes) Drama und Strukturalismus: Zur Handlungsstruktur 11 Der strukturalistisch-literatursemiotische Ansatz der vorliegenden Untersuchung rückt zur Erfassung der inneren Verfaßtheit literarischer Dramentexte die beiden namengebenden Spezifika dieser Gattung im europäischen Kulturraum, die das dramatische Theater, wie Brecht es in Abgrenzung von seinem epischen Theater nannte, bis zu dessen Aufkommen konstituierten 8 und die bereits Aristoteles’ Tragödiensatz formuliert hat (Poet. 1449b 24-26: … ), die Handlung (‚Drama‘) und die (re)präsentative Mimesis (‚Theater‘) in das Zentrum der Betrachtung. Sie berücksichtigt aber auch die Besonderheiten des jeweiligen Dichters und literarischen Kunstwerks, mithin die generische und individuelle Handlungsstruktur, in der sich Formales und Inhaltliches verbinden, da nach der Darstellung und Artikulation der allgemeinen und wiederkehrenden Handlungsfiguren Transgression, Eliminierung, Doppelung und Iteration gefragt wird. Die Handlungsstruktur beruht damit auf der syntagmatisch-sequentiellen Abfolge paradigmatisch und syntagmatisch geschiedener Handlungsschritte, deren Verhältnis die Verfassung der Handlungsstruktur 9 konstituiert und denen Rollen und Figurenkonstellationen zugrunde liegen. Die literaturwissenschaftliche Legitimität dieser werk- und teils auch produktionsästhetischen Herangehensweise ist mit derjenigen anders gelagerter, etwa rezeptionsästhetischer Ansätze kompatibel. 10 Billigerweise darf nicht übergangen werden, daß der Versuch einer Dramenpoetik auf strukturalistischer Grundlage ein Wagnis darstellt. Der Grund dafür liegt darin, daß dieses Unterfangen zwar kein Neuland betritt, sich aber dennoch auf nicht ausreichend gesichertem Grund bewegt. Herta Schmids Untersuchung ist zwar dem Titel nach einschlägig, 11 bleibt jedoch auf ihren Gegenstand, Tschechows Theater, zugeschnitten, dessen Eigenheiten sie über Abweichungen vom Grundtypus der dramatischen Gattung erhellt (1973: 457 ff.), wobei sie den Gattungsbegriff in Anlehnung an Muka ovský strukturalistisch bestimmt (1973: 8 Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater. Frankfurt a.M. 3 2005, 20. Auch George Steiner, The Death of Tragedy. New Haven, London 1996, x weist auf die Spezifik der attischen Tragödie gegenüber außereuropäischer Performanzkunst hin. 9 Es versteht sich, daß diese Handlungsstruktur der Dramen(texte) etwas ganz anderes ist als das, was Thomas Schröder als Handlungsstruktur von Texten auffaßt, nämlich das Zusammenspiel der einzelnen Satzhandlungen innerhalb eines Textes zu einer Gesamthandlung (Die Handlungsstruktur von Texten. Ein integrativer Beitrag zur Texttheorie. Habil. Tübingen 2000. Tübingen 2003, 7). Diese Herangehensweise hebt den Ansatz der Sprechakttheorie auf die Ebene der Textlinguistik (2003: 8). Jede sprachliche Äußerung wird so als Handlung aufgefaßt und in einem (atomistischen) Konstituentenmodell (2003: 7) zu einer Struktur zusammengefügt. Bei dialogischen Texten, die wie die Dramentexte ohne hierarchisierende Instanz funktionieren, ist ein derartiges Verfahren schwierig. Das Strukturverständnis der vorliegenden Untersuchung ist aber nicht bloß additiv, sondern auch semiotisch und funktional. Dieses semiotische Verständnis betrifft auch die Elemente der Struktur: Die Sprache wird nicht grundsätzlich als Handlung aufgefaßt, sondern die Gattung ‚Drama‘ bringt es mit sich, daß die einzelnen sprachlichen Äußerungen auf Handlungen referieren und die Einzelhandlungen sind, über die sich die Gesamthandlung vollzieht. 10 S. etwa die rezente und profunde Analyse von Karl Heinz Bohrer, Das Tragische. Erscheinung, Pathos, Klage. München 2009. 11 Strukturalistische Dramentheorie. Semantische Analyse von echovs ›Ivanov‹ und ›Der Kirschgarten‹. Diss. Konstanz 1972/ 73. Skripten Literaturwissenschaft 3. Kronberg (Ts.) 1973. <?page no="26"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 12 15-28). Das Fehlen einer allgemeinen und universell applizierbaren strukturalistischen Dramentheorie erklärt sich theoriegeschichtlich daraus, daß die strukturalistisch-semiotische Poetik paradigmatisch von den verschiedenen als postmodern zusammengefaßten Strömungen wie Dekonstruktion und Diskursanalyse in der Meinungsführerschaft und Debattendominanz abgelöst wurde, bevor sie trotz verschiedenster Ansätze und Ausformulierungen ein kanonisches und über experimentelle Anwendung hinaus gesichertes Inventar interpretatorischer Methoden ausgebildet hatte, 12 von praktikablen Gattungspoetiken ganz zu schweigen (mit Ausnahme der Lyrik, die zu formalen Analysen besonders einlud). Die Verdrängung der strukturalistisch-semiotischen Poetik aus dem Brennpunkt der literaturtheoretischen Debatten ist vielleicht eine Reaktion auf dieses, möglicherweise grundsätzlich nicht zu behebende Defizit. Die theoretischen Probleme einer strukturalistisch-semiotischen Literaturwissenschaft sollen hier in 3.2 Zu einer Poetik und Hermeneutik der Transgression behandelt und in 2.3 Zeichenbegriff, Mimesis und Ästhetik stärker auf die Dramenästhetik zugeschnitten werden. Dekonstruktion und Diskursanalyse können jedenfalls mit dem sprachlichen bzw. sozialen Aspekt der Transgression in das strukturalistische Modell redintegriert werden. Im englischsprachigen Raum haben Charles Segal strukturalistische 13 und Simon Goldhill dekonstruktivistische 14 Ansätze für die Deutung der attischen Tragödie fruchtbar gemacht. Auch wenn sie dabei noch nicht die Handlungsstruktur oder Transgression gesondert in den Blick genommen haben, ist diese Arbeit diesen beiden Interpreten verpflichtet: Der Begriff der Transgression internalisiert über die Mimesis Segals mythologische und soziologische Aspekte in die Dramenhandlung und baut bei dieser textorientierten literatursemiotischen und (neo)strukturalistischen Verfahrensweise auf Goldhill auf, der sich für seinen ähnlich gelagerten Ansatz, welcher der unendlichen Bedeutung des Textes nachgeht (1984: 4), auf Barthes und auf Derridas in Saussures Tradition stehende différance beruft (1984: 1-7). Die klassische Philologie des deutschsprachigen Raumes bleibt dagegen bei der an sich berechtigten Kritik stehen, Lévi-Strauss’ strukturalistische Mythenlektüre vernachlässige die Tatsache, daß der Mythos eine narrative Sequenz darstelle. 15 Hier bewegt sich die Analyse der Handlungsstruktur von Dramen weitgehend in traditionellen Bahnen. Allenfalls gewisse begriffliche und konzeptuelle Parallelen zum vorliegenden Ansatz sind zu finden. Hellmut Flashar 12 Ein solches bleibt auch Genette 1972 schuldig. 13 Tragedy and Society. A Structuralist Perspective. In: Ds., Interpreting Greek Tragedy. Myth, Poetry, Text. Ithaca 1986, 21-47 und Greek Myth as a Semiotic and Structural System and the Problem of Tragedy. In: Ds., Interpreting Greek Tragedy. Myth, Poetry, Text. Ithaca 1986, 48- 74. 14 Language, Sexuality, Narrative. The Oresteia. Diss. Cambridge [s.a.]. Cambridge 1984. 15 Sabine Föllinger, Genosdependenzen. Studien zur Arbeit am Mythos bei Aischylos. Teilw. zugl. Habil. Mainz 1999. Hypomnemata 148. Göttingen 2003, 15 referiert diese Kritik und verweist für sie auf Fritz Graf, Griechische Mythologie. Eine Einführung. München, Zürich 1985, 50-52 und Ada Neschke-Hentschke, Griechischer Mythos und strukturale Anthropologie. Kritische Anmerkungen zu Claude Lévi-Strauss’ Methode der Mythendeutung. Poetica 10 (1978) 135-153, h. 149, die von „Erzählsequenz“ spricht. <?page no="27"?> 1.1 (Antikes) Drama und Strukturalismus: Zur Handlungsstruktur 13 spricht mit Blick auf die ebenfalls in der vorliegenden Arbeit bemühte aristotelische Poetik von „Handlungsstruktur“ (s. 2.1.1 Handlungsstruktur, Mimesis, Transgression und Eliminierung in 2.1 Aristoteles’ Poetik). Walter Jens macht bei Aischylos ein vierschrittiges Schema des dramatischen Gesamtaufbaus aus, das entsprechend der Konstitution eines analytischen Dramas auf die Erwartungshaltung und Rezeptionsästhetik abzielt: Der erste Abschnitt biete die Erwartung einer Enthüllung, der zweite kreise das Problem näher ein und führe zur Entscheidung hin, der dritte bringe diese und der vierte beschreibe die Lage der von der Katastrophe Betroffenen oder „künde[t] nach der Interpretation des Geschehens eine sich aus der unterschiedlichen Deutung des vorliegenden Tatbestandes ergebende Weiterentwicklung an“. 16 Das Substantiv „Struktur“ im Titel dieses Beitrags zielt auf das idealistisch-organische Konzept des (Dramen-) Aufbaus, da hier holistisch das gesamte Dramengeschehen in Schritte zergliedert wird, bei denen der nächste sich aus dem vorhergehenden entwickelt. Das stärker paradigmatisch orientierte und hier verfochtene Konzept der Handlungsstationen greift dagegen einzelne markante Schritte des Geschehens heraus. Traditionell und nicht sonderlich analytisch sind auch die „Bauformen“ 17 in einem von Jens herausgegebenen Sammelband gefaßt (Eingang, Epeisodion, Chorlied, Tragödienschluß, Rhesis usw.). 18 Nur Josef Kopperschmidt („Die Hikesie als dramatische Form“, S. 321-346) hebt wie Markus Schauer mit der Klage auf eine inhaltliche Handlung ab, die zudem ebenfalls die Not eines Akteurs zum Ausdruck bringt. Schauer knüpft mit dem letzten Element seiner terminologischen Trias Baueinheit, Bauelement und Bauform erklärtermaßen an diesen Sammelband an, beschränkt diesen Ausdruck jedoch auf Formales (2002: 337-339). Baueinheit und Bauelement können bei Schauer jeweils inhaltlich wie formal bestimmt sein. Die Baueinheit ist dabei die übergeordnete Größe. Inhaltlich wäre sie eine typische Szene, formal ein Dramenteil wie ein Amoibaion oder ein Prolog. Durch die inhaltlich klargefaßte Themenstellung ‚Klage‘, die einen Dramenabschnitt er- und umfaßt, kann sich Schauers Heuristik mit der traditionellen Dichotomie inhaltlich vs. formal begnügen und braucht keine inhaltlich-operationalen Tiefenkategorien wie Transgression, Eliminierung etc., die auf den Verlauf des gesamten Dramas und seine Figurenkonstellation zielen. Eine Harmonisierung mit dem dramenanalytischen Apparat der vorliegenden Arbeit ist deshalb in diesem Punkt nicht sinnvoll. Sie ist allerdings in einem anderen möglich. Denn Schauer definiert die Bauform als „die formale Gestaltung einer Baueinheit“. Innerhalb seines Analyserasters nimmt er also eine ähnliche Unterschei- 16 Strukturgesetze der frühen griechischen Tragödie (1955). In: Hildebrecht Hommel (Hg.), Wege zu Aischylos. 2 Bde. Darmstadt 1974, Bd. 1, 86-103, h. 101-103. 17 Uvo Hölscher, Zur Erforschung der Strukturen in der Odyssee. In: Joachim Latacz (Hg.), Zweihundert Jahre Homer-Forschung. Rückblick und Ausblick. [Vorträge auf dem zweiten Colloquium Rauricum, 16. bis 19. August 1989 in Augst]. Colloquium Rauricum 2. Stuttgart 1991, 415-422, h. 415 hält gleichwohl diesen Ausdruck für genauer als „Struktur“, die er als „Modewort, das oft Präzision und Strenge affektiert, wo die Klarheit des Begriffs fehlt“, abtut, ohne den heuristischen Mehrwert von ‚Bauformen‘ zu präzisieren. 18 Die Bauformen der griechischen Tragödie. Beihefte zu Poetica 6. München 1971. <?page no="28"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 14 dung wie die vorliegende Untersuchung zwischen ‚Handlungsstation‘ und ‚Handlungsmerkmal‘ vor. Auch wenn die Kategorien der beiden Klassifikationen nicht deckungsgleich sind, so stimmen sie doch darin überein, daß sowohl ‚Baueinheit‘ als auch ‚Handlungsmerkmal‘ formal-abstrakte Charakteristika auf der paradigmatischen Achse einer weiteren, material faßbaren dramatischen Einheit sind, die auf der syntagmatischen Ebene anzusiedeln ist. Das dramenanalytische Instrumentarium der deutschsprachigen klassischen Philologie bleibt im Ergebnis also wenig innovativ und eher auf der Oberfläche von Text und Geschehen. Dagegen hat es in der Literaturwissenschaft und den neueren Philologien nicht an Versuchen gefehlt, neue Beschreibungsmodelle auf der Grundlage moderner Theorien zu entwickeln. Im Folgenden seien Anknüpfungspunkte des vorliegenden Ansatzes an formalistisch-strukturalistische Modelle vorgestellt, die neben der eher spärlich vertretenen Dramentheorie der Analyse von Erzähltexten gewidmet sind, die ja mit dem Drama die Handlung als materiale Grundlage teilen. Die Kategorie der Handlungsstruktur knüpft an das Sujet an, unter dem der russische Formalismus die Abfolge mehrerer Erzählmotive verstand. 19 Vladimir Propp abstrahierte vom Sujet, d.h. der Diskursebene, und machte auf der Ebene der Geschichte (russ. fabula) bis zu 31 (! ) feste, hauptsächlich mit Buchstaben bezeichnete Handlungsschritte aus. 20 Von diesen wie von den von Propp formalisierten Aktanten 21 können eigene auch im antiken Drama ausgemacht und mit der hier zugrunde gelegten Handlungsstruktur in Einklang gebracht werden. Das Verlassen des Hauses durch ein Familienmitglied (a) oder den Helden ( ) entspricht der lokalen Transgression, das Erteilen und Verletzen eines Verbots, das an den Helden ergeht, durch diesen (b und c) der sozialen Transgression. Der Gegenspieler des Helden läßt sich mit dem Antagonisten identifizieren, doch ist dies eine narratologische Universalie, da ohne einen solchen jede erzählte Handlung fade bliebe. Dagegen fehlt der Schenker übernatürlicher Hilfsmittel ebenso sehr wie diese selbst im antiken Drama, soweit dessen Handlung sich am orientiert. Die Kennzeichnung (M) und v.a. Wiedererkennung des Helden (E) finden sich in der griechischen Literatur im Epos wie in der Tragödie und Komödie. Die Lösung der gestellten Aufgabe durch den Helden (Lö) liegt im Oidipus Tyrannos in der fernen Vergangenheit. Auch die Überwindung des Gegenspielers (S) und des anfänglichen Unglücks (L) unterscheiden die Märchenstruktur von dem eliminatorischen Scheitern des Helden in der Tragödie. Die Punkte lassen die erhöhte Komplexität einer Kunstform erkennen, wie v.a. die attische Tragödie sie darstellt und die sich auch in der zu untersuchenden Modalität der hier in den Blick genommenen Handlungsschritte äußert (Tragik, Psychologi- 19 Viktor Šklovskij, Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren. In: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Hg. und eingeleitet von Jurij Striedter. München 4 1988, 38-121, h. 39. 20 Morphologie des Märchens. Frankfurt a.M. 1975, 102-105. Zu Propp vgl. Jochen Vogt, Grundlagen narrativer Texte. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hg. von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering. München 7 2005, 287-307, h. 290-293. Zur Kritik an Propps strukturalistisch inspirierter Erzählanalyse vgl. Radke 2003: 27 Anm. 68. 21 Für beide vgl. Morphologie des Märchens. Frankfurt a.M. 1975, 31-66. <?page no="29"?> 1.2 Transgression 15 sierung, innerer Zusammenhang zwischen den einzelnen Schritten). So kehren Aischylos’ Perser Propps von Greimas formalisiertes narratives Schema chronologisch wie resultativ um. 22 Fruchtbar ist denn auch die Übertragung von Algirdas Julien Greimas’ Aktantenmodell 23 auf das Drama, die bereits Anne Ubersfeld an etlichen der hier besprochenen Tragödien (Oidipus Tyrannos, Racines Phèdre) vorgeführt hat, 24 weil sie eine genaue Beschreibung der Figurenkonstellation und ihrer Konflikte erlaubt. Weniger ergiebig für die Praxis der Dramenanalyse, wenn auch dramentheoretisch anschlußfähig, ist dagegen trotz der größeren Gattungsrelevanz Étienne Souriaus Versuch, die Dramenhandlung zu formalisieren. Souriau bestimmt eine dramatische Situation als strukturale Figur, die zu einem gegebenen Moment der Handlung durch ein System von Kräften konstituiert werde. Diese Kräfte seien dramatische Funktionen und verliehen jeder Figur, die als ihr Träger fungiere, eine dramaturgische Funktion. 25 Sie können nur innerhalb eines von ihnen gebildeten Systems koexistieren (1970: 142). Souriau sieht damit wie die vorliegende Arbeit getreu dem strukturalistischen Prinzip der Identität durch Abgrenzung die Figurenkonstellation als prägendes Moment und Motor der Handlung an. Der entscheidende Unterschied liegt darin, wie Souriau diese Funktionen bestimmt. Die sechs Funktionen, die er mit astrologischen Symbolen entsprechend ihrer wechselseitigen konstellativen Definition und Interaktion benennt (1970: 117), sind weder so konkret wie die sozialen Rollen, welche die Figuren verkörpern und auf welche die vorliegende Arbeit abhebt, weil sie den Konflikt begründen und bestimmen, noch so abstrakt und doch griffig wie Greimas’ Aktantenmodell. Trotz einer in Abgrenzung und Weiterentwicklung zu Propp entwickelten kasuistischen Komplexität und entsprechend eingeschränkten Anwendbarkeit kann Claude Bremonds Modell der Handlungsrollen insofern theoretisch an die vorliegende Arbeit angeschlossen werden, als Bremond die Struktur der Erzählung (d.h. in unserem Fall des Dramas) als Abfolge von Handlungsrollen betrachtet. 26 1.2 Transgression Die Transgression wird in der vorliegenden Arbeit von einem etischen Standpunkt nach modernen Konzepten untersucht (vgl. 0. Einführung: Forschungsstand, Methode, Grundbegriffe; Aufbau der Einleitung). Das heißt nicht, daß den 22 Marianne I. Hopman, Layered Stories in Aeschylus’ Persians. In: Jonas Grethlein, Antonios Rengakos (Hgg.), Narratology and Interpretation. The Content of Narrative Form in Ancient Literature. Berlin 2009, 357-376, h. 359. Näheres s. 1.6 Jeu de massacre: Darstellung der Eliminierung in der Perser-Interpretation. 23 Du sens. Essais sémiotiques. 2 Bde. Paris 1970, Ndr. 1981, 1983, Bd. 1, 157-270. Sémantique structurale. Recherche de méthode. Paris 1966, Ndr. 1986, 172-191. 24 Lire le théâtre. Paris 2 1996, 49-79; v.a. 54, 72. Näheres s. 2.2 Narrative Struktur eines analytischen Dramas in der OT-Interpretation und 7.1 Forschungsstand und Problemstellung in der Interpretation von Senecas Phaedra. 25 Les deux cent mille situations dramatiques. Paris 1970, 55. 26 Elisabeth Gülich, Wolfgang Raible, Linguistische Textmodelle. Grundlagen und Möglichkeiten. München 1977, 207-214. <?page no="30"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 16 Dramentexten blind fremde Konzepte übergestülpt werden sollen. Wo möglich, findet eine Verortung im Dramentext über Lexik und Binnenhermeneutik sowie ein Abgleich mit dessen Konzepten statt. Diese Vorgehensweise verheißt mehr und systematischere Erkenntnisse als eine rein emische, die das antike Wortfeld ( , , , ; die Bildungsweise von letzterer entspricht derjenigen von ‚Transgression‘) vollständig aufarbeiten müßte, was sicher ein reizvolles Desiderat wäre (für einen ersten Einstieg s. 1.3 Eliminierung, Restauration, Integrität und Intention). 1.2.1 Dramatische Transgression von Struktur und Identität Die Postmoderne definiert sich nicht zum geringsten Teil als Poststrukturalismus. Dies mag erklären, warum neben der Dekonstruktion die Transgression zu ihren Lieblingsfiguren gehört, ist doch die Transgression über die überschrittene Ordnung bestimmt, 27 die, ausgehend von der Sprachwissenschaft, strukturalistisch beschrieben wurde. Da die Transgression nicht nur begrifflich und soziopragmatisch, sondern auch wissenschaftsgeschichtlich und paradigmatisch die Struktur und ihre Grenzen zugleich voraussetzt und überschreitet, 28 setzt der Ansatz der vorliegenden Arbeit zwar ähnlich dem sog. 29 Poststrukturalismus 30 27 Martin Stegu beschreibt dagegen in seinem Kapitel „Postmoderne und Grenzüberschreitung“ (in: Postmoderne Semiotik und Linguistik. Möglichkeiten, Anwendungen, Perspektiven. Sprache im Kontext 4. Frankfurt a.M. 1998, 35-42) synkretistische Verfahren. 28 Auf die performative Ambivalenz der Transgression im Verhältnis zur Grenze weist bereits Michel Foucault hin (Préface à la transgression (1963). In: Ds., Dits et écrits. Édition établie sous la direction de Daniel Depert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange. 2 Bde. Paris 2001, Bd. 1, 261-278, h. 264 f.): Die Transgression überschreitet („franchir“) nicht nur die Begrenzung („limite“), sondern beider Existenz realisiert sich nur in der momentanen Kreuzung dieser beiden Größen. 29 Für das Paradoxon, daß die französischen Denker, die außerhalb ihrer Heimat als Galionsfiguren des Poststrukturalismus gehandelt werden, sich - ebensowenig wie die französische Öffentlichkeit - dieser Richtung zurechnen, s. Johannes Angermüller, Nach dem Strukturalismus. Theoriediskurs und intellektuelles Feld in Frankreich. Bielefeld 2007, 9-13. Er beruft sich auf Michel Foucault, Structuralisme et poststructuralisme (1983). In: Ds., Dits et écrits. Édition établie sous la direction de Daniel Depert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange. 2 Bde. Paris 2001, Bd. 2, 1250-1276, der den Strukturalismus unter den Formalismus subsumiert und in einem diskursgeschichtlichen Dialog mit dem Marxismus sieht (2001: 1250-1252). Foucaults Einordnung als Poststrukturalist wird dadurch gerechtfertigt, daß er seine intellektuelle Identität via negationis bestimmt, er sei nie Marxist, Freudianer oder Strukturalist gewesen (2001: 1254). Auf den geistigen Epochenbegriff der Postmodernität reagiert Foucault verwundert-differenzierend (2001: 1265: „Qu’est-ce qu’on appelle la postmodernité? Je ne suis pas au courant.“), geschweige denn, daß er sich hier verortet. Daß, angeregt durch Nietzsche, sein Projekt die Frage nach Subjekt und Vernunft in ihrer Geschichtlichkeit ist (2001: 1255), zeigt indes deutlich, daß er mit Vernunft und Subjekt zwei moderne Fragestellungen offen weiterdenkt, also um die Grenze der Moderne oszilliert, ohne ihren Boden dauerhaft zu verlassen. Seine Denkweise entspricht also exakt seinem Begriff der Transgression (s. 1.2.4 Kurzer Forschungsabriß zur Transgression: Bataille, Foucault, Stallybrass und White) und ist im dialektisch-synthetischen Sinne genuin postmodern. 30 Stefan Münker, Alexander Roesler, Poststrukturalismus. Stuttgart 2000, IX. Vgl. Sigrid Weigel, Einleitung der Sektion „Schrift - Gedächtnis - Differenz“, in: Gerhard Neumann (Hg.), Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. [DFG-Symposion 1995]. Berichtsbände Germanistische Symposien 18. Stuttgart 1997, 18-22, h. 18 f. Auf das kritische <?page no="31"?> 1.2 Transgression 17 das strukturalistische Modell voraus, legt den Schwerpunkt der Analysen jedoch auf die transgressiven Phänomene. Da freilich die Beliebtheit des Begriffs ‚Transgression‘ in die terminologische Beliebigkeit auszuufern droht, sei er hier gemäß seiner etymologischen Bedeutung auf die Grenzüberschreitung, die zwei bloß kognitiv geschiedene Entitäten voraussetzt, aber durchaus akzeptiert sein kann, sowie auf die Grenzverletzung eingeschränkt, die sich durch die Verletzung von Normen und Konventionen sowie mögliche Sanktionen jedweder Art auszeichnet und zusätzlich eine Integrität beeinträchtigt. Davon zu scheiden, aber operational identisch, sind andere transitive Phänomene, wie die Transzendenz, 31 zu der auch die Semiose zählt, da sie die Gegenstände aus der Immanenz einer tautologischen Identität löst, oder der rituell organisierte Übertritt in einen neuen Lebensabschnitt, wie Geburt, Initiation, Hochzeit oder Tod, auch wenn sich hierbei in der sozialen oder dramatischen Praxis Berührungspunkte zur Transgression ergeben (Näheres s. 2.2.2 Ritual in 2.2 Ritual, Opfer, Mythos und Performanz). Der Begriff der Transgression ist genauso vielfältig wie die zugrunde liegende verletzte Ordnung und erzeugt in ihr ebenso mannigfaltige Risse und Bruchstücke. Es empfiehlt sich deshalb, die Art der Transgression durch entsprechende Attribute zu spezifizieren (topologisch, religiös, juridisch, sozial, poetisch). 32 Diese Breite des Begriffs macht die Transgression zu einer idealen Figur, um verschiedenste Aspekte des antiken Dramas zu erfassen und zu einer einheitlichen Deutung dieser Gattung, an deren Facettenreichtum kaum eine andere heranreicht, zusammenzuführen, freilich ohne den exklusivierenden Anspruch auf Wesenserfassung oder Totalität zu erheben. Die Einschlägigkeit der Transgression für die Dramenanalyse gilt um so mehr, als auch sie passend zur Bezeichnung der analysierten Gattung eine Handlung beschreibt. Die generische Einschlägigkeit der Transgression für das Drama läßt sich noch thematisch präzisieren: In den beiden Großgattungen, die vor ihm in der griechischen Literatur Erbe des Strukturalismus bei gleichzeitiger Radikalisierung und Revolutionierung hebt auch Manfred Franks Bezeichnung des Poststrukturalismus als „Neostrukturalismus“ ab (Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt a.M. 1984, 31 f.). Ebenso geht Jonathan Culler davon aus, daß die Dekonstruktion entgegen den Annahmen der Poststrukturalisten den Strukturalismus nicht widerlegt, sondern zwar die Unmöglichkeit eines widerspruchsfreien semiotischen Systems gezeigt habe, dabei jedoch trotz der Unmöglichkeit einer Synthese die semiotisch-strukturalistischen Grundunterscheidungen zugrunde gelegt habe, die so ihre analytische Bedeutung behielten (The Pursuit of Signs. Semiotics, Literature, Deconstruction. London 1983, x f.). 31 Auch sie rekonkretisiert Jürgen Paul Schwindt topologisch als „(Trans-)Skandenz“ (Zeiten und Räume in augusteischer Dichtung. In: Ds. (Hg.), La représentation du temps dans la poésie augustéenne - Zur Poetik der Zeit in augusteischer Dichtung. Internationales Kolloquium der Forschergruppe La poésie augustéenne. Heidelberg 2005, 1-18, h. 15-18). 32 Das letztgenannte Attribut spielt eine untergeordnete Rolle bei Kleopatra Ferla, Von Homers Achill zur Hekabe des Euripides. Das Phänomen der Transgression in der griechischen Kultur. Diss. Freiburg 1995. München 1996, die am Beispiel Medeas ähnliche Subtypen der Transgression unterscheidet. Ihre Arbeit ist auch in der theoretischen Grundlegung trotz eines literaturwissenschaftlichen Unterkapitels (1996: 6-10: „Die ästhetische Erfahrung nach Jauß“) stärker soziologisch ausgerichtet (1996: 11-17), auch wenn sie beide Disziplinen sinnvoll ins Gespräch bringt (1996: 10). <?page no="32"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 18 blühten, dem Epos und der Lyrik, ist die Figur, aus deren Perspektive die Darstellung erfolgt, stets das Opfer einer (sozialen) Transgression oder zumindest Integritätsverletzung, man denke etwa an Achill oder Odysseus, der sogar die Transgressoren richtet und so die frühere soziale Ordnung wiederherstellt. Das lyrische Ich bei Sappho erfleht wie Achill (Il. 1.348-428) göttlichen Beistand, um ihre (seelische) Integrität wiederherzustellen, welche die Zurückweisung durch eine Spröde bedroht (V 1, v.a. v. 20), wobei diese Wiederherstellung der seelischen Integrität im erotischen Kontext bei ihr auch andernorts ohne einen göttlichen Dritten, sondern mit einem männlichen Nebenbuhler wichtig ist (V 31) oder auf eine räumliche Trennung von einer Geliebten reagiert (V 94). Dagegen ist die Hauptperson der hier zu besprechenden attischen Tragödien stets selbst der Täter der für das Stück zentralen Transgression, auch wenn ihr manchmal eine soziale Integritätsverletzung vorausgeht (Xerxes, Oidipus, Medea, Pentheus). Aias, der bei Alkaios Kassandra vergewaltigt, obwohl sie beim Athena-Heiligtum Schutz gesucht hat, ist nur ein scheinbares Gegenbeispiel aus der Lyrik für einen Transgressor, weil das lyrische Ich zu ihm - wie zu den anderen Transgressoren Myrsilos und den Verräter Pittakos (V 129 v. 13 ff., 28) - in deutliche Distanz tritt und mit den beiden göttlichen und menschlichen Eliminierungsversuchen als Reaktion auf die Tat (V 298, v. 1-7, 25-27) einen Handlungsverlauf schildert, der dem hier für die Tragödie idealtypisierten sehr nahekommt. Auch mit der zweiten Aspekt der mimetischen Großgattung, dem Theater, das statt auf die Tat auf das Schauspiel, das Publikum und die Sichtbarkeit abhebt, harmoniert die Transgression. Denn eine Tat wird nur dadurch zum Vergehen, daß ein anderer (und sei es der Täter selbst) sie wahrnimmt und verurteilt. (Deshalb ist die Binnenhermeneutik ein wichtiges Diagnostikum für das Vorliegen einer Transgression.) Auch der Präsenzcharakter des Theaters ist besonders gut geeignet, einen Akt der Unmittelbarkeit darzustellen, der die Vermittlung durch soziale Mechanismen suspendiert und wie er in der Transgression vorliegt. Die Transgression ist nicht nur ein Phänomen der Unmittelbarkeit und Unvermitteltheit, sondern auch der Diskontinuität, der Fragmentierung, des Bruchs, der Sinnlichkeit (sie tritt an synästhetischen und aisthetischen Seiten der Transgression hervor), der Willkür und Gewalt(tätigkeit). All diese Aspekte der Transgression brechen mit der Linearität, wie sie dem sprachlich verfaßten Logos eigen ist (vgl. Saussure CLG 103), wobei die rücksichtslose Kraft der Transgression die Linearität auch zur Doppelung auffalten kann (zur Ambivalenz als semantischer Konsequenz dieser Tektonik s. das Ende von 2.3.2 Strukturalistisch-semiotische Dramenästhetik). 33 Als topologisch fundierter Akt verbindet die Transgression Räumlichkeit (Spatialität), womit sie sich in den sog. spatial turn einfügt, 34 Zeitlichkeit und Sequentialisierung. Mag man der theoretisch- 33 Für die Transgression und Nietzsches Begriffspaar dionysisch - apollinisch s. 1.4.8 Alternative Tragikkonzepte: Nietzsche, Benjamin, Bohrer, A. Schmitt. 34 Vgl. dazu Wolfgang Hallet, Birgit Neumann, Raum und Bewegung in der Literatur. Zur Einführung. In: Dss. (Hgg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld 2009, 11-32. Die einschlägigen Beiträge befassen sich statisch <?page no="33"?> 1.2 Transgression 19 heuristischen Tragweite und dem tatsächlichen Innovationspotential sog. turns wegen ihrer immer schnelleren Abfolge mit einer gewissen Skepsis begegnen, so bleibt doch festzuhalten, daß das Theater qua optische oder imaginäre Darstellung sprachlichen Handelns räumlich situierter Figuren nicht nur an den spatial, sondern auch den linguistic und iconic turn anschlußfähig ist. Wissenschaftsgeschichtlich performiert die Transgression ihren eigenen Begriff, da sie wiederholt Fachgrenzen überschritten hat mit dem Ergebnis, daß sie heute ein interdisziplinär gelagerter Terminus ist. So übernimmt der Ethnologe Claude Lévi-Strauss unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Ferdinand de Saussures Cours de linguistique générale aus der Phonologie das Abgrenzungsverfahren mit Hilfe von Oppositionen in die Ethnologie, da beide Disziplinen unbewußte Sachverhalte beschrieben, 35 und unter Berufung auf die Saussuresche Arbitrarität des Zeichens und seine Unterscheidung zwischen langue und parole auf die sprachliche Verfaßtheit des Mythos hin weist (1964: 230 f.), der ja seinerseits den Stoff der Tragödie liefert. Dies legitimiert nun die Übernahme der ursprünglich ethnologisch verorteten und strukturalistisch konfigurierten Figur ‚Transgression‘ in die Literaturwissenschaft, die ja bereits versucht hat, den Strukturalismus aus Lévi-Strauss’ Ethnologie zu importieren. 36 Die Transgression ist insofern strukturalistisch verfaßt, als sie sich als Mißachtung einer oder mehrerer kombinatorischer bzw. distributiver Beschränkungen (restriction combinatoire) formulieren läßt, welche die Taxonomie jedes Sprachsystems auf phonetischer, morphologischer, semantischer, syntaktischer und stilistischer Ebene charakterisieren und für das Funktionieren des Zeichengebrauchs unabdingbar sind. Wie die Transgressionen und Tabus werden die Kombinationsbeschränkungen auf der syntagmatischen Ebene wirksam. Das läßt sich etwa am Inzestverbot zeigen, das für die Transgression im OT kardinal ist: Zwei Verwandte ersten Grades lassen sich nicht über das Prädikat ‚sexuelle Aktivität‘ verbinden. Mit dem Import einer sprachwissenschaftlich geprägten Figur aus der Ethnologie in die Literaturwissenschaft soll allerdings nicht zwei aktuellen Tendenzen Vorschub geleistet werden, dem Aufgehen der Literaturwissenschaft in den Kulturwissenschaften oder zumindest einer von diesen geprägten Literaturwissenschaft. 37 Statt einer bloßen Übernahme ist die methodische und konzeptuelle mit dem Raum im Theater / Drama und werden deshalb in dem thematisch entsprechenden Abschnitt (3.1 Zu einer Poetik des Raumes) dieser Einleitung besprochen. 35 Anthropologie structurale. Paris 1964, 27-29. Oppitz 1993: 63 schlägt dagegen ein Fortschreiten vom bewußten zum unbewußten Modell nach dem Verfahren der Phonologie und Psychoanalyse vor. 36 Gérard Genette, „Structuralisme et critique littéraire“, in: Ds., Figures I. Paris 1966, 145-170, h. 145-149. 37 Vgl. Antons Bierls programmatischen Beitrag Walter Burkert - ein Religionswissenschaftler als Inspirationsquelle für eine moderne Gräzistik und kulturwissenschaftlich geprägte Literaturwissenschaft. In: Ds., Wolfgang Braungart (Hgg.), Gewalt und Opfer. Im Dialog mit Walter Burkert. MythosEikonPoiesis 2. Berlin 2010, 1-44. Zu den Möglichkeiten, Voraussetzungen und Grenzen der Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft s. Matthias Luserke-Jaqui, Medea. Studien zur Kulturgeschichte der Literatur. Tübingen 2002, 29-58. <?page no="34"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 20 Weiterentwicklung der beiden Disziplinen im fruchtbaren Dialog anzustreben, wie Gerhard Neumann sie, pragmatisch kongenial, im Duett mit Sigrid Weigel 38 und später anhand der Transgression selbst mit Rainer Warning 39 skizziert. Weigel und Neumann gehen bei diesem interdisziplinären Austausch letztlich von einer Dominanz des schriftlich-hermeneutischen Methodenparadigmas aus, wenn sie von einer Lesbarkeit des kulturellen Textes sprechen (2000: 9 f.). Die Dechiffrierbarkeit des kulturellen Textes beruht auf seinem Charakter als „Bedeutungsgewebe“, die Kultur „enthält die differenten Wort- und Körpersprachen in einem Gemeinwesen und damit jene Symbol- und Zeichenwelten, die menschliche Selbstorganisation allererst ermöglichen“ (2000: 11 f.). Die Semiotik wird also wie im Verständnis der vorliegenden Arbeit zur Grundlage der Hermeneutik, die ihrerseits als wertvolles Erbe der Literaturwissenschaft angesehen wird, dessen „geschärftes Organon“ es dieser ermöglicht, sich in den interdisziplinären Dialog mit den übrigen semiotisch konfigurierten Kulturwissenschaften einzubringen (2000: 13). Dabei scheint nach Weigels und Neumanns Auffassung eine solche hermeneutisch und semiotisch aufgerüstete Literaturwissenschaft in der Lage zu sein, nachgerade zur Leitwissenschaft der Kulturwissenschaften zu avancieren. Als Ahnherr dieser interdisziplinären Felderweiterungen der Literaturwissenschaft fungiert Roland Barthes, der, ausgehend von der Literaturwissenschaft, „alle nur denkbaren semiotischen Systeme der Lebenswelten Europas […] als Bestandteile eines allumfassenden »Reichs der Zeichen« verstanden“ habe (2000: 12), also die Semiotik von einem literaturwissenschaftlichen Standpunkt aus kulturwissenschaftlich universalisiert hat. Analog zu dieser kulturwissenschaftlichen Generalisierung der Semiotik wurde die Kultur ja zur Grundlage der gesellschaftskonstituierenden Interaktionen gemacht. Mehr noch wird der Literatur „im Kontext der Semantisierung der Kultur“ eine Rolle zugeschrieben, welche der Luhmannschen Operation der Komplexitätsreduktion gegenläufig sei (2000: 15): „Sie wird zum Organon von Differenzierung, Übersetzung und Verschiebung, von Fortschreibung, Transgression von Grenzen und Bruch mit der symbolischen Ordnung und den codierten Bedeutungen.“ Gerade dieses Zitat dürfte zeigen, wie die Selbstvergewisserung der Literaturwissenschaft im Dialog mit der Kulturwissenschaft auch das heuristische Instrumentarium dieser Arbeit bereichern und an kulturwissenschaftliche Fragestellungen anknüpfen kann. Die Themen, welche die Kulturwissenschaft der Literaturwissenschaft nach Neumann und Weigel liefert (2000: Einen harten wissenschaftsgeschichtlichen Denkanstoß zur NS-Wissenschaftspolitik liefert dagegen Dietrich Mack (Ansichten zum Tragischen und zur Tragödie. Ein Kompendium der deutschen Theorie im 20. Jh. München 1970, 119): „Die Geisteswissenschaft geht auf in die Universitas biologischer Kulturforschung.“ 38 Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. In: Dss. (Hgg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München 2000, 9-16. 39 Gerhard Neumann, Rainer Warning, „Einleitung. Transgressionen. Literatur als Ethnographie“, Dss. (Hgg.), Transgressionen. Literatur als Ethnographie. Freiburg i.Br. 2003, 7-16. Von den Einzelstudien dieses Sammelbandes ist Bernhard Teuber, Der un/ darstellbare Kindermord. Tragische Transgression und Ethnographie der Tragödie am Beispiel der Medea (2003: 243-255) generisch relevant und wird entsprechend in den Kapiteln der Einleitung zur Transgression und zum Ritual sowie bei der Interpretation von Euripides’ Medea Berücksichtigung finden. <?page no="35"?> 1.2 Transgression 21 14), sind dabei auch in dieser Untersuchung durch ihre Verbindungen zum Analyseapparat relevant (wobei diese hier eingeklammerten relevanzstiftenden Faktoren nicht immer mit denjenigen übereinstimmen, die Neumann und Weigel bei den betreffenden Themen anführen): Sexualität (als Feld von Normierung und Transgression), die Konstruktion der Geschlechterdifferenz (als von Transgression und Rollenwechsel betroffene Norm), „die Einstellung gegenüber dem oder den Fremden (als Begründung und Abgrenzung des Eigenen)“ (so besonders in Aischylos’ Persern), Aggressionsverhalten (als Vollzug der Transgression) und Todeserfahrung (hier eher faktisch als physische Eliminierung). Der Anspruch einer semiotisch verfaßten Literaturwissenschaft, als kulturwissenschaftliche Leitdisziplin zu fungieren, ist im besagten Vorwort, das Gerhard Neumann zusammen mit Rainer Warning verfaßt hat 40 und das manche Thesen aus dem vorhergehenden aufgreift und präzisiert, nicht mehr erkennbar. Gleichwohl bietet auch dieser Beitrag der vorliegenden Untersuchung Ansatzpunkte für Anknüpfungen und präzisierende Abgrenzungen. Drei Strömungen machen die Autoren für die Annäherung von Kultur- und Literaturwissenschaft verantwortlich, die sie sogar in Kuhnscher Tradition als „Paradigmenwechsel“ apostrophieren (2003: 7 f.): zum ersten das Interesse, auch der Philologie, an Ritualisierungen in einem sehr allgemeinen Sinne. Da sie hierunter auch Phänomene der Karnevalisierung, Theatralität und Inszenierung verstehen und nicht nur extratextuell-pragmatisch den sozialen Motor der Zeichenproduktion und -verwendung, sondern auch binnenpragmatisch „Generatoren von Handlungs- und Erzählungsmustern in dichterischen Texten“ in den Blick nehmen, gestalten sie durchaus den Ritualbegriff so um, daß er für die vorliegende textorientierte Dramenanalyse anschlußfähig wird (Näheres s. 2.2.2 Ritual in 2.2 Ritual, Opfer, Mythos und Performanz). Der stärkeren Berücksichtigung des Körpers, die Neumann und Warning als zweiten Faktor ausmachen, trägt die vorliegende Untersuchung dreifach Rechnung. Sie macht ihn und seine Bewegung zum Generator des Raumes im Theater (s. 1.2.4 Kurzer Forschungsabriß zur Transgression: Bataille, Foucault, Stallybrass und White sowie 3.1 Zu einer Poetik des Raumes), dann erhebt sie ihn zum signifiant des anthropologischen Zeichens (s. 1.4.3 Tragik als (Integritäten-)Konflikt: Hegel und Schiller) und drittens fungiert er nicht nur als Instrument der Transgression, sondern nicht selten auch als Objekt der lokalen und physischen Eliminierung. Ein grundlegender Unterschied zur vorliegenden Arbeit liegt jedoch darin, daß sie den Transgressionsbegriff nicht auf das Diagnostikum der Grenze beschränken (2003: 13), sondern die Brücke hinzunehmen (2003: 13) und ihn um Phänomene des Wechsels und des Übergangs erweitern, wie „das Überwechseln beispielsweise zwischen den Künsten, den Medien, den Diskursen“ (2003: 10), die hier als transitorisch abgegrenzt werden, weil sie keine Grenzverletzung im strengen Sinne vollziehen. Selbst der geologische und genealogische Transgressionsbegriff bleibt nicht unbemüht (2003: 11). Neumann und Warning sehen den begrifflichen Klärungsbedarf selbst (2003: 13): „Das Spektrum der Begriffe, die sich an die Vorstellung der Transgression anschließen, ist freilich sehr weit und gliederungsbedürf- 40 Transgressionen. Literatur als Ethnographie. Freiburg i.Br. 2003, 7-16. <?page no="36"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 22 tig: Transfusion, Transfundierung, Übersetzung, Passage, Heterotyp, Heterochronie, Transposition, enharmonischer Wechsel, Negotiation, Durchquerung, Parergonalität.“ Die hier aufgezählten Phänomene sind, mit Ausnahme der Parergonalität, die sich für die Interpretation des Metatheaters als poetische Transgression fruchtbar machen läßt, nach dem Verständnis der vorliegenden Untersuchung Vollzugsformen, Begleiterscheinungen oder Folgen der Transgression, aber nicht deren begrifflich-operationaler Inhalt. Dies gilt strenggenommen auch für die Traduktionen und Subversionen von Codes, die Neumann und Warning den Transgressionen zuschreiben, die als Gegenbewegung zum Ritual fungierten (2003: 10), da nach dem Verständnis der vorliegenden Arbeit die Transgression Zeichen- und Sozialgefüge sowie deren Funktion nicht nur unterläuft, sondern massiv beeinträchtigt. In dieser Arbeit soll es, um die Positionsbestimmung der literaturwissenschaftlichen Herangehensweise im Dialog mit der Kulturwissenschaft am Thema Transgression zu konkretisieren, darum gehen, neben der Untersuchung der Transgression als Handlung, die bereits in der literaturwissenschaftlichen Handlungsanalyse des Dramentextes verankert ist und darin außerliterarische Aspekte wie psychologische Motivation und Normkonformität des Figurenhandelns berücksichtigen muß, die poetischen und ästhetischen Seiten der Transgression zu beleuchten. Ebenso gilt, daß die Transgression, die aufgrund ihrer interdisziplinären Wissenschaftsgeschichte imstande ist (Näheres s. 1.2.4 Kurzer Forschungsabriß zur Transgression: Bataille, Foucault, Stallybrass und White), die einzelnen altertumswissenschaftlichen Fächer miteinander ins Gespräch zu bringen, hier trotz eines gesellschaftswissenschaftlichen Ursprungs und selbst in der Literatur noch sozialen Inhalts durch ihre Einschreibung und dominante Position in ein literarisches Kunstwerk vom fait social zum fait littéraire wird. Entsprechend liegt der Unterschied zwischen einer ethnologisch-soziologischen und einer literaturwissenschaftlichen Lektüre literarischer Texte, welche die Tran gression behandeln, darin, daß jene diese Texte als Quelle und Zeugnisse für ein textexternes Erkenntnisinteresse heranzieht, während die Literaturwissenschaft die Eigengesetzlichkeit ihres fiktionalen Gegenstandes im Blick hat und unter dieser Prämisse die Transgression als literarische Realität untersucht. Nach diesen forschungsgeschichtlichen und methodischen Präliminarien seien nachfolgend die Kernthesen der vorliegenden Untersuchung zu Begriff und Funktionsweise der Transgression vorgestellt: Sie stört die Ordnung oder resultiert aus deren externer oder interner Störung. Eine Ordnung läßt sich über vier Hauptfiguren des menschlichen Denkens, Gegenstände in Beziehung zu setzen, bestimmen. Es sind dies die zeitliche Abfolge, der instrumentell-kausale Nexus, die qualitativ-typologische Klassifikation, zu der als Denkfigur auch die materielle Teilhabe und elementare Subsumtion gehören, und die symbolische Stellvertretung, die Repräsentation, bei der ein Gegenstand einen anderen evoziert. Nur die beiden letztgenannten Ordnungsfaktoren sind strukturbildend. s <?page no="37"?> 1.2 Transgression 23 Unter einer Struktur 41 wird hier die Art verstanden, in der mehrere Elemente zusammengefügt sind, deren Gefüge mehr ist als die Summe seiner Teile. 42 Dieses Mehr, das sich im weitesten Sinne als ‚Funktion‘ bezeichnen läßt, kann kausal-instrumentell wie im Falle von Naturwissenschaft und Gesellschaft oder semiotisch wie im Falle von Sprache, Literatur und Kunst im allgemeinen sein. Alle vier geschilderten Formen der Transgression können in dieser Arbeit ausgemacht werden, doch soll die symbolische Stellvertretung zusammen mit einem weiteren strukturalistischen Kernsatz, der Identität durch Abgrenzung, die beide dem Saussureschen Zeichenbegriff zugrunde liegen, den Grundstock des Analyseapparats bilden. Ihre Selbstdekonstruktion und Rekonstitution durch die dramatische Praxis und die sich daraus ergebenden verschiedenen Spielarten der Identität durch Differenz und symbolische Relation 43 im Drama sollen als eine einheitliche Fragestellung in dieser Arbeit untersucht werden. Die beiden Basisgegebenheiten Repräsentation und Identität durch Abgrenzung schaffen ein Deutesystem aus Zeichen, das keinesfalls statisch ist, sondern nur performativ in der Anwendung lebt und durch sie weiterentwickelt wird. 44 Da langue und Struktur nur in der parole und Konjunktur existieren (CLG 37), sind sie untrennbar mit dem performierenden Subjekt verbunden, das für seine Konstruktion seinerseits der Struktur bedarf und diese bei der Performanz in Bewegung bringt und fragmentiert. Diese Praxis löst nicht selten durch den Fortfall oder das Hinzutreten von Elementen (signifiants, Sinnträger, Schauspieler, Figur) eine Verschiebung im bisherigen Gefüge aus, die auch die Zuordnung von Bedeutungsträgern und Bedeutung (signifiés, Rolle; Position, (Verhaltens-) Typ, Näheres zur dramatischen Semiose s. 2.3.2 Strukturalistisch-semiotische Dramenästhetik) erfaßt und sich in der Transgression realisiert. Dieser Vorgang läßt sich auch als différance und trace bezeichnen, weil sie sich wie bei Derrida aus der Unmöglichkeit der clôture ergibt, 45 da langue und Struktur nur in der 41 Zum Problem eines fachübergreifenden, konsistenten und valablen Strukturbegriffs vgl. Michael Oppitz, Notwendige Beziehungen. Abriß der strukturalen Anthropologie. Frankfurt a.M. 2 1993, 17-71 und Jean Piaget, Der Strukturalismus. Olten, Freiburg i.Br. 1973. 42 Ein System wäre dagegen nicht die Art der Zusammenfügung, sondern das funktionale Gefüge selbst. 43 Für diese beiden Möglichkeiten der Identitätskonstitution s. Ferdinand de Saussure, Wissenschaft der Sprache. Neue Texte aus dem Nachlaß. Hg. und mit einer Einleitung versehen von Ludwig Jäger. Übersetzt und textkritisch bearbeitet von Elisabeth Birk und Mareike Buss. Frankfurt a.M. 2003, 76 (Zeichenrelation; Saussure illustriert hier die Arbitrarität des sprachlichen Zeichens und der sprachlichen Identität anhand eines hypothetischen Beispiels, der primo obtutu absurden Zuordnung verschiedener Nutztiere zu Platten aus unterschiedlichen Metallen), 80 (Zeichenrelation, wechselseitige Abgrenzung der Zeichen). 44 Jan Muka ovský, Über Strukturalismus. Übersetzt von Walter Schamschula. In: Aleksandar Flaker, Viktor Žmega (Hgg.), Formalismus, Strukturalismus und Geschichte. Zur Literaturtheorie und Methodologie in der Sowjetunion, CSSR, Polen und Jugoslawien. Kronberg/ Taunus 1974, 86-99, h. 86 f. 45 Diese wird in übergreifenden Darstellungen gerne ohne genauen Nachweis als Derridas Theorem kolportiert, sei es als Stoßrichtung der theoretischen Diskussion (Manfred Frank, Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt a.M. 1984, 88 [„Angriff auf den Gedanken strukturaler Geschlossenheit“]) oder hermeneutische Grundgegebenheit (Terry Eagleton, Einführung in die Literaturtheorie. Aus dem Englischen von Elfi Bettinger und Elke Hentschel. Stuttgart 4 1997, 111 f.). Derrida selbst nahm wissenschaftsgeschichtlich durchaus die Möglichkeit einer clôture <?page no="38"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 24 parole und Konjunktur existierten. Auf die Herleitung der Transgression aus der existentiellen Performanz von Zeichen und subjektiver Identität und deren Struktureinbettung stützt sich denn auch der Tragikbegriff der vorgelegten Arbeit (s. 1.4.3 Tragik als (Integritäten-)Konflikt: Hegel und Schiller), während die poetische Transgression der tropologischen Rede in ihrer Eigenmächtigkeit durch den Aufbruch der Monosemie einen semantischen Zugewinn bietet (s. 2.3 Zeichenbegriff, Mimesis und Ästhetik). Die deregulative Dynamik, welche die subjektive Performanz der Identitäten und Deutesysteme entwickelt, betrifft sämtliche Deutesysteme, welche die antike Komödie und die Tragödie konstituieren, Sprache, literarische Konventionen, gesellschaftliche Normen und Weltordnung. Das für den Handlungsverlauf dieser dramatischen Großgattungen wichtigste System ist jedoch die Konstellation der Personen, da deren Handeln qua literarische Akteure bzw. Subjekte 46 die Gattung trägt. Ihr Handeln ist dabei wesentlich sprachlicher Natur. Dieser Rückgriff auf die Sprechakttheorie, wie ihn Kloss für das Komische in der attischen Komödie durchgeführt hat (2001: 10-33), entkräftet Hans-Thies Lehmanns Argument, die antike Tragödie lasse sich nicht über den Dramenbegriff beschreiben, da die Handlungen vor dem Bühnengeschehen lägen oder Boten außerhalb der Bühne stattgehabte Handlungen dort berichteten. 47 Im statischen Idealfall halten sich die Figuren gegenseitig durch Abgrenzung und Beziehungsverhältnisse in ihren sozialen Rollen, wie Ehemann - Ehefrau, Vater - Sohn. Die Veränderung der Personenkonstellation erzeugt jedoch einen Konflikt, nicht selten mehrerer Figuren (signifiant) um dieselbe Rolle (signifié), der die dramatische Handlung oft erst in Gang bringt und sie vorantreibt. 48 Die Verortung des Konan, wenn sich für ihn die historische clôture des Zeitalters des Zeichens abzeichnet, das allerdings nie enden werde (De la grammatologie. Paris 1967, Ndr. 2002, 25). Im Kapitel „La clôture du gramme et la trace de la différence“ (Marges de la philosophie. Paris 1972, Ndr. 2003, 73-78) stellt Jacques Derrida sich kritisch zu Heideggers Verfahren, durch Rückgriff auf die Antike „la clôture grecque-occidentale-philosophique“ zu denken (2003: 75), und deutet das Verwischen der Spur, das eine Form der Spur sei, als autopoetisch-performative (Selbst-)Transgression (2003: 76 f.): „C’est à cette seule condition que la métaphysique et notre langue peuvent faire signe vers leur propre transgression.“ 46 Anders als bei Peter V. Zima, Das literarische Subjekt zwischen Spätmoderne und Postmoderne. Tübingen 2001 impliziert ‚literarisches Subjekt‘ bei mir weder Souveränität und Identität noch eine feste anthropologische, außerliterarische Referenz, sondern hebt auf die Rolle als Träger des dramatischen Geschehens ab, ohne die das Drama sich nicht entfalten kann. 47 Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie. Teilw. zugl. Habil. Gießen [s.a.]. Stuttgart 1991, 50 f. Zumindest in seinem Referat des europäischen (frühneuzeitlichen? ) Theaterverständnisses spricht Lehmann gleichberechtigt von „Vergegenwärtigung von Reden und Taten auf der Bühne durch das nachahmende dramatische Spiel“ (Postdramatisches Theater. Frankfurt a.M. 3 2005, 20). 48 Ein klares Beispiel sind Euripides’ Hippolytos und noch besser Senecas Bearbeitung Phaedra: Die Begierde läßt die Stiefmutter danach trachten, ihren Stiefsohn an die Leerstelle des abwesenden Gatten zu ziehen. Steen Jansen, Die Einheit der Handlung in Andromaque und Lorenzaccio. In: Heinz Blumensath (Hg.), Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Köln 1972, 333-359, h. 338 f. sieht dagegen eher entsprechend der traditionellen Dramenanalyse die Handlung durch Konflikte getrieben, die aus Oppositionsverhältnissen erwachsen, die nicht auf Identitäten, sondern auf konfligierenden Intentionen beruhen. <?page no="39"?> 1.2 Transgression 25 flikts in der sozialen Rolle und Figurenkonstellation impliziert selbstredend keine sozialgeschichtliche Auswertung der fraglichen Dramen. Vielmehr soll mit diesem Verfahren die Funktionsweise des Handlungsmotors beleuchtet werden. Die Rückführung der Transgression auf Rollen- und Identitätskonflikte in der Figurenkonstellation 49 überwindet zwei statisch-deterministische Deutemuster der Grenzverletzung (und erlaubt so ihre Verbindung), zum einen essentialistische, zumeist tautologische Herleitungen der Transgression aus dem Charakter bzw. Handlungsdispositionen des Protagonisten (für ähnliche Verortungen von Aristoteles’ s. 2.4.2 Monstrosität der Transgression statt Schuld-, Schicksals- oder Charaktertragödie in der OT-Interpretation), die sich doch erst in seinem Handeln während des Stückes zeigen, zum anderen einen statischen Rollendeterminismus, nach dem eine Figur entsprechend der gerne, wenn auch zumeist plakativ verkürzten Marxschen Formel „Das Sein bestimmt das Bewußtsein“ 50 ein gewisses, dieser (sozialen) Rolle entsprechendes Verhalten zeigen müsse. Denn die Zuordnung von Figur und Rolle ist in unserem Modell keinesfalls statisch, sondern kann ebenso sehr subjektivem Streben oder Weichen, die erst die mentale und faktische Haltung zu den Mitakteuren bestimmen, wie dem Druck der Figurenkonstellation geschuldet sein. Die Übertragung des Zeichenmodells auf die Figurenidentität erlaubt es zudem, deren Konflikte nicht nur nach dem Modell der konjunkturellen Synonymie, bei der mehrere Sinnträger demselben Bedeutungsinhalt zugeordnet sind, sondern auch nach demjenigen der Polysemie zu beschreiben, 51 bei der ein Sinnträger mehrere Bedeutungen hat, die sich im Falle des Dramas gegenseitig ausschließen. So wurzelt etwa Medeas Konflikt darin, daß sie nicht zugleich rächende Gattin und liebende Mutter sein kann. Das komplexe Verhältnis von Drama und Gesellschaft betrifft auch die performierten und transgredierten Rollen. Ihren Bezugsrahmen bilden nicht die literarischen Figuren, sondern die sozialen Rollen, welche die Schauspieler verkörpern, performieren und überschreiten. 52 Das Verhältnis des Theaters zur 49 Für die nicht referentielle, sondern koreferentielle syntagmatische Identität von Figuren innerhalb eines literarischen Textes, d.h. ein Rekurrenzphänomen s. Fotis Jannidis, Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Habil. München 2002. Narratologia 3. Berlin 2004, 137-148. Auf der Ebene der Wahrnehmung durch die anderen Figuren, konkret durch Alcumena wird diese Binnenidentität in Plautus’ Amphitruo im Falle des Titelhelden und des Göttervaters eine Rolle spielen (wobei man auch hier mit einem semiotisch-strukturalistischen Identitätsbegriff präzisere Ergebnisse erzielen kann, da demselben äußerlichen signifiant eben zwei Bühnenfiguren statt einer entsprechen). Jannidis’ Identität gehört jedenfalls zur ontologischen Identität, die zusammen mit der eidetischen bei der Transgression im OT eine große Rolle spielt. 50 „Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“ Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Vorwort (1859). MEW Bd. 13 [Januar 1859 - Februar 1860] Berlin 3 1969, 7-11, h. 8 f. 51 Diese Phänomene einer nicht ein-eindeutigen Zuordnung behandelt de Saussure nur unsystematisch ohne terminologische Präzisierung und stark diachron-etymologisch (CLG 160). 52 Vgl., ebenfalls aufbauend auf Lévi-Strauss, Charles Segal, Greek Tragedy and Society: A Structuralistic View. In: Ds., Interpreting Greek Tragedy. Ithaca 1986, 21-47, der die Zerstö- , <?page no="40"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 26 Gesellschaft ist dabei eine künstlerisch-kreative Mimesis, 53 welche den Gesetzen des folgt, 54 nicht aber ein soziologischer Realismus. Die fraglichen Rollen sind häufig Geschlechterrollen, insbesondere in manchen Tragödien (Sophokles’ König Oidipus, Euripides’ Hippolytos) und der gesamten Neuen Komödie einschließlich ihrer römischen Adaptionen die Position des Vaters, um deren Besetzung es geht. 55 Der Vater ist dabei der Patriarch in der Familie, d.h. im Oikos, und, sofern diese königlich ist, der Monarch in der Polis. Die Familie ist jedenfalls das primäre soziale System, in dem diese Rollen verankert sind. Diesen Bezugsrahmen des Dramas hat schon Aristoteles (Poet. 1453b 19-22), aber auch die Psychoanalyse ausgemacht, die überdies auf die Rolle des Vaters abhebt 56 und als nützlich für eine philosophische Tragödieninterpretation erachtet wurde. 57 Bereits in Sur Racine (1963) beschrieb Roland Barthes die Handlung in den Tragödien dieses Dramatikers als Konflikt der Söhne mit dem Vater, die nach dessen Tod um seine Position kämpften. 58 Sehr nahe zu den Thesen der vorliegenden Arbeit stellt er fest, die Abwesenheit des Vaters bedeute Unordnung, seine Rückkehr schaffe Schuld (S. 89), d.h. eine Transgression, die aus einem Rollenkonflikt resultiert. Weitere Gegensätze, die auch auf der Bühne die Gesellschaft und die Interaktion von Selbst und Anderem strukturieren, sind das Alter und die ethnische Zugehörigkeit. Auf deren Funktion einzugehen, rechtfertigen nicht nur die ethnologisch-ethnographischen Wurzeln der strukturalistischen Betrachtung sozialer Beziehungen, die auch die Mythenforschung einbezieht, 59 und des Begriffes ‚Transgression‘, sondern auch die interkulturell-lokalen Grenzüberschreitungen des griechischen Dramas, an denen das abendländirung des gesellschaftlichen Codes durch den ihn überlagernden literarischen in der Tragödie herausarbeitet (1986: 24 f.). 53 Vgl. Ernest W. B. Hess-Lüttich, „The theatre in society: society in the theatre“, in: Soziale Interaktion und literarischer Dialog II. Zeichen und Schichten in Drama und Theater: Gerhart Hauptmanns ‚Ratten‘. Philologische Studien und Quellen 98. Berlin 1985, 13-22, der anhand Shakespeares das metatheatralische Potential dieser Wechselbeziehung aufzeigt (1985: 13) und für einen Dialog von Literaturwissenschaft und Soziologie über das Theater plädiert (1985: 15). 54 Vgl. dazu Gerrit Kloss, Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit im 9. Kapitel der aristotelischen „Poetik“. RhM 146 (2003) 160-183. 55 Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn war während der Akme der attischen Tragödie tatsächlich von einer konfliktreichen Neuaushandlung und Restauration infolge der sizilischen Katastrophe geprägt, vgl. Barry S. Strauss, Fathers and Sons in Athens. Ideology and Society in the Era of the Peloponnesian War. London 1993, der das Drama als eine Möglichkeit zur Vermittlung dieses Konfliktes ansieht (1993: 100 f.). 56 Leo Kaplan, Zur Psychologie des Tragischen (1912). In: Psychoanalytische Literaturinterpretation. Aufsätze aus „Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften“ (1912-1937). Hg. und eingeleitet von Jens Malte Fischer. Tübingen 1980, 33-63, h. 40; 36 f. 57 Richard Francis Kuhns, Introduction: Tragic Experience and Tragic Vision, Old World and New. In: Ds., Tragedy. Contradiction and Repression. Chicago 1991, 1-9, h. 1. 58 In: Ds., Œuvres complètes. Bd. 2: Œuvres 1962-1967. Hg. v. Éric Marty. Paris 2002, 51-196, h. 63-65. 59 Vgl., aufbauend auf Lévi-Strauss, Michael Oppitz, Notwendige Beziehungen. Abriß der strukturalen Anthropologie. Frankfurt a.M. 2 1993. <?page no="41"?> 1.2 Transgression 27 sche Muster des Orientalismus bis in die Antike zurückdatiert wurde (Näheres s. die Interpretation von Aischylos’ Persern). Der Prozeß der De(kon)struktion und Rekonstitution des Sinngefüges ist durch seine Subjektsbasiertheit mit Machtfragen verknüpft, die im Verlaufe des Dramas ausagiert werden. Die suprasubjektive Rekonstitution des Sinngefüges hängt durch das gattungsbedingte Fehlen einer zentralen Instanz wie eines Erzählers, das Roland Barthes’ provokante These vom Tod des Autors (1968) zumindest auf der Ebene der elementaren Gattungskoordinaten entspricht, 60 rein von dieser Figurenpragmatik ab, die sich auch auf die Binnenhermeneutik erstreckt. Bei der Interpretation der Dramen muß deshalb sorgsam unterschieden werden, ob der Kommentar eines Einzelschauspielers oder auch des Chores (zur Diskussion um seine genaue Rolle in der attischen Tragödie s. 2.4.2 Monstrosität der Transgression statt Schuld-, Schicksals- oder Charaktertragödie in der OT-Interpretation) allgemeine Zustimmung findet oder für sich steht. Nur im ersten Fall kann er für die Gesamtaussage des Stückes (aber nicht die Absicht des Dramenautors) - so letztlich auch Bachtin 61 - bemüht werden, im letzteren müßte er dazu durch andere Indizien erhärtet werden und bietet nur einen sicheren Anhaltspunkt für die Figurenzeichnung. Wenn im folgenden Aischylos, Sophokles, Euripides, Aristophanes, Menander, Plautus und Seneca auktoriale Funktionen zugeschrieben werden, so ist dies nicht Ausdruck einer literaturtheoretischen oder methodischen Naivität, die ein problematisch gewordenes Konzept perpetuiert. Vielmehr ist eine solche Wortwahl zumeist ästhetisch-stilistischen Gründen geschuldet, da eine Formulierung zu umständlich schien, die - entsprechend der scheinbaren Tautologie von Heideggers paradoxem Diktum „Die Sprache spricht“ 62 im Vortrag Die Sprache von 1950 63 - den Text sprechen läßt. Nur dort, wo sie stilistisch vertretbar schien, wurde diese unpersönliche Formulierung gewählt. 1.2.2 Dramatische Transgression und Narratologie Schon Bachtins narratologische Analysekategorie der Stimme läßt erkennen, daß das Drama sich bereits auf der formalen Ebene für Erzählanalyse besonders gut eignet, da die Stimmen der Sprecher die Rede bereits syntagmatisch untergliedern und so eine materielle Grundlage für die intentionale Polyphonie schaffen. Gerade diese durchgehende Subjektivierung und Sequentialisierung des 60 In: Ds., Œuvres complètes. Bd. 3: Œuvres 1968-1971. Hg. v. Éric Marty. Paris 2002, 40-45, h. 45. Dt.: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. und kommentiert v. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko. Stuttgart 2000, 185-193, h. 192. 61 Bei den wenigen Aussagen, die Bachtin zum Drama macht, konstatiert der russische Literaturwissenschaftler, daß sich im Drama die Autorenstimme nicht im Wort realisiere (Peter von Möllendorff, Grundlagen einer Ästhetik der alten Komödie. Untersuchungen zu Aristophanes und Michail Bachtin. Diss. München 1994. Classica Monacensia 9. Tübingen 1995, 67). 62 Vgl. dazu Claus-Artur Scheier, Die Sprache spricht. Heideggers Tautologien. Zeitschrift für philosophische Forschung 47 (1993) 60-74. 63 In: Unterwegs zur Sprache. Text der durchgesehenen Einzelausgabe mit Randbemerkungen des Autors aus seinem Handexemplar. Hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Bd. 12 von Gesamtausgabe. Abt. 1, Veröffentlichte Schriften 1910-1976. Frankfurt a.M. 1985, 7-30, h. 10. r <?page no="42"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 28 dargestellten Geschehens und das Fehlen einer vereinheitlichenden formalen Erzählerinstanz 64 machen auch das antike Drama zu einem besonders reizvollen Gebiet der Narratologie. Die komplexe dramatische Narratologie betrifft auch die Darstellung der Transgression: Sie ist entweder (selten) ein Schritt der mimetischen Bühnenhandlung (‚Aktem‘), wobei ihre Hintergründe und Folgen nicht immer linear dargeboten werden, oder wird (zumeist) in die Diegesis verbannt. Diese narratologische Distanzierung ist oft Ausdruck einer evaluativen des Dramas oder nimmt auf moralische Tabus des Zielpublikums Rücksicht (Weiteres zur diegetischen Darstellung der Transgression und Teubers Thesen dazu s. 1.2.4 Kurzer Forschungsabriß zur Transgression: Bataille, Foucault, Stallybrass und White). Die Narratologie erweist sich damit als kongeniales Mittel für eine adäquate und differenzierte Darstellung der Transgression, deren Nuancen dramensemiotisch relevant sind. Sie geschieht im Falle der Diegesis meistens in Form eines Botenberichts. Manchmal kommt aber auch die Rede einer namentlich bekannten und dramatisch interagierenden Figur zum Einsatz (s. 2.6.1 Metatheater und Aisthetik der Eliminierung in der OT-Interpretation). Ein weiterer Unterschied liegt darin, ob die berichtete Transgression vor Beginn der Bühnenhandlung eingetreten ist (so im OT) oder während vollzogen wird (so der Mord an Kreon und seiner Tochter in Euripides’ Medea). Nicht von ungefähr dient der OT denn auch John Gould als Eröffnungsbeispiel für die Diskrepanz zwischen der „story time“ der zugrunde liegenden Fabel und der „discourse time“ der szenisch dargestellten Ereignisse (vgl. Dunns Referat von Goulds Systematik [2009: 338]). 65 Dieser Unterschied ist auch für die Bewertung der Transgression relevant, die man der diegetischen Darstellung der Transgression entnehmen kann (vgl. 2.4.1 Kollision am Dreiweg in der OT-Interpretation): Ist die Transgression zeitlich parallel zu dem Bühnengeschehen, ist ihre Darstellung in der Diegesis ein Mittel der Distanzierung. Ist sie zeitlich 64 Diese hat durchaus zu der These Anlaß geboten, es gebe keine Narratologie des antiken Dramas, sondern, in Form der Figurenreden, nur eine im antiken Drama (so Irene J. F. de Jong in ihrer Einleitung zu Ds., René Nünlist, Angus Bowie (Hgg.), Narrators, Narratees, and Narratives in Ancient Greek Literature. Mnemosyne Suppl. 257. Studies in Ancient Greek Narrative 1. Leiden 2004, 6 f.). Auch Francis Dunn, der sich de Jongs Argumentation in diesem Punkt anschließt, kritisiert unter Verweis auf diesen formalen Aspekt zu Recht als „too easily“ (Sophocles and the Narratology of Drama. In: Jonas Grethlein, Antonios Rengakos (Hgg.), Narrato ogy and Interpretation. The Content of Narrative Form in Ancient Literature. Berlin 2009, 337- 355, h. 337 f.), daß Andreas Markantonatos diese Leerstelle mit dem Dramenautor oder dem Regisseur füllt (Tragic Narrative. A Narratological Study of Sophocles’ Oedipus at Colonus. Berlin, New York 2002, 1-28, h. 5). Markantonatos 2002: 2 hatte versucht, die seit Platon kanonische kategoriale Unterscheidung zwischen Mimesis und Diegesis (R. 392d-397b) von der Gattungsebene zu unterschiedlichen narrativen Modi weiterzuentwickeln (zu diesen beiden „modes narratifs“ s. Yves Reuter, L’analyse du récit. Ouvrage publié sous la direction de Daniel Bergez. Paris 2003, 39, vgl. Seymour Chatmans Unterscheidung zwischen diegetischem und mimetischem Narrativ [Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film. Ithaca 1990, 114 f.]). 65 Myth, Ritual, Memory, and Exchange. Essays in Greek Literature and Culture. Oxford 2001, 319-334, h. 319 f. dieser l <?page no="43"?> 1.2 Transgression 29 vorgängig, bleibt die Diegesis das einzige Mittel der Wiedergabe und damit kein sicheres Indiz für die Verurteilung. 66 Die typologische Vielfalt narrativer Merkmale im Drama, welche die Narratologie aufzeigt, läßt sich weiter für die Analyse der Transgression fruchtbar machen. Denn auch andere narrative Elemente der dramatischen Figurenrede haben einen Bezug zur Transgression, so Atossas Traumerzählung 67 in den Persern, die nicht nur die Transgression bildlich iteriert, sondern auch in Form einer ahnungsvollen Prolepse 68 die Eliminierung vorwegnimmt, die eine Folge oder Vollzugsform der Transgression darstellt (s. 1.3 Eliminierung, Restauration, Integrität und Intention). Mehr noch weist die Erzähltechnik des antiken Dramas mit dem episierenden Metadrama, zu dem Prolog, Epilog und Chor gerechnet werden, 69 die eine metatheatralische Funktion erfüllen können (s. 3.3 Metatheater als poetische Transgression), sogar Elemente poetischer Transgression auf. Die Narratologie kann hier einen Beitrag zur terminologischen Erfassung einer Subkategorie der dramatischen Metafiktionalität und Selbstreflexion leisten (‚Metatheater‘), 70 ein Feld, in dem eine verwirrende Vielfalt konkurrierender Ausdrücke herrscht. Es ist eine aufschlußreiche Erkenntnis zur theoretischen Abgrenzung von Metadrama und Metatheater, daß die beiden besagten dramaturgischen Mittel wegen ihrer Diegese formal in den Bereich des Metadramas fallen, aber funktional nicht nur metadramatisch sind, weil sie die Handlung vorhersagen, sondern im Falle des transszenischen Metatheaters überdies metatheatralisch sind, weil sie das erklären, was der Zuschauer sehen wird. Weiterhin hat durch die Ankündigung des künftigen Geschehens auch die eher intratheatralische Regiefunktion, die Medea ausübt, eine narratologische Seite. 71 Inwieweit die Unterscheidung von individuell-authentischer Homodiegese und konventionalisierter Heterodiegese, die geeignet ist, die Widersprüche von Hamlets revenge speech aufzulösen, 72 ein Mittel wäre, die Brüche in Medeas Monolog und Entscheidungsfindung zu erklären, die sich vor dem Hintergrund früherer Reden über und mit dem vollzieht, bedürfte einer näheren Untersuchung. 73 66 Obwohl die Kategorien story und plot, wie der OT sinnfällig macht, also durchaus für die Darbietung der Transgression qua Handlungsschritt relevant sind, ist der Ausdruck ‚Handlungsstruktur‘ in der vorliegenden Arbeit auf die inhaltlich-semiotische Seite beschränkt. 67 Ansgar Nünning, Roy Sommer, Drama und Narratologie. Die Entwicklung erzähltheoretischer Modelle und Kategorien für die Dramenanalyse. In: Vera Nünning, Ansgar Nünning (Hgg.), Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier 2002, 105-128, h. 122. 68 Zur Prolepse in der dramatischen Erzähltechnik s. Markantonatos 2002: 3, 10. 69 S. Nünning/ Roy 2002: 113. 70 Dunn 2009: 343 f. macht an - auch nach Auffassung der vorliegenden Arbeit - metatheatralischen Verfahren wie der Ankündigung der Handlung im Prolog und ihrer nachfolgenden Lenkung durch einen internen Regisseur deutlich, daß es sehr wohl trotz des Fehlens eines Erzählers eine Narratologie des antiken Dramas gebe. 71 Vgl. dazu Nünning/ Roy 2002: 118 f. 72 Nünning/ Roy 2002: 117 f. 73 Dunn 2009: 341 f. legt dagegen eine formale Kategorisierung der Diegese zugrunde, wenn er die euripideischen Prologsprecher als homodiegetisch einstuft, da sie auch als dramatis personae im folgenden Stück agierten, wobei die Götter als Prologsprecher wie Aphrodite im Hippolytos - mit Ausnahme der Bakchen - nicht in der Weise an der Dramenhandlung teilnähmen <?page no="44"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 30 1.2.3 Tragödie, Transgression und Gesellschaft Das Fehlen einer zentralen sinnstiftenden Instanz im attischen Drama (sieht man von den besagten Prologsprechern bei Euripides ab), als welche der Erzähler narrativer Texte fungiert, schafft nicht nur eine nachgerade postmoderne generische Dezentriertheit des Dramas, sondern läßt sich durchaus historisch verorten. Denn es ist wohl kein Zufall, daß eine Gattung, deren Merkmal die performativpräsentative Mimesis (dies unterscheidet sie vom späteren platonischen Dialog) der Konstituierung von Deutungsmustern in verbaler Interaktion ist, in einer Polis zu der Zeit blühte, als deren Politik samt Rechtsfindung, ja Identität in hohem Maße öffentlich verbal ausagiert wurden. 74 Situativ-performativ betrachtet bietet das attische Drama die Mimesis einer öffentlichen Rede vor demselben Publikum, das in der Volksversammlung angesprochen wurde. Indes: Ebensowenig, wie sich die literarische Funktionsweise und die diachrone Entwicklung einer derart öffentlichen Gattung wie der attischen Tragödie ohne ihr extratextuelles Umfeld verstehen lassen, erübrigt oder delegitimiert gar diese Einbettung eine literaturwissenschaftliche Herangehensweise an den literarischen Text, 75 die dessen semiotische Struktur herausarbeitet. Der Adressatenbezug ist nicht nur der pragmatischen Seite des semiotischen Ansatzes, sondern auch der untersuchten Gattung inhärent. Ihr Konstituens ist nämlich das (fiktiv) öffentlich gesprochene Wort physisch vorgestellter oder imaginativ evozierter Figuren, welches das Theater ausmacht und das dem Drama unter den drei Großgattungen die größte gattungsimmanente Publizität wie etwa die Amme in der Medea. Letztere unterscheidet sich von den besagten Göttern radikal durch ihre Einflußlosigkeit auf das folgende Geschehen, so daß sie anders als diese keinerlei metatheatralische Funktion ausübt. 74 Für eine differenzierende Betrachtung des Verhältnisses von Tragödie und attischer Demokratie s. Leslie Kurke (The Cultural Impact of (on) Democracy. Decentering Tragedy. In: Democracy 2500? Questions and Challenges. Ed. by Ian Morris and Kurt Raaflaub. Archaeological Institute of America. Colloquia and conference papers 2. Dubuque 1998, 155-169), die anhand eines Vergleichs der Darstellung von Agamemnons Handeln und Schicksal in Aischylos’ gleichnamiger Tragödie und in Pindars elfter Pythischer Ode, die allerdings dem Tragiker nachzeitig ist, die egalitäre Ideologie als unspezifisch für die demokratische Literatur überführt und schließlich das gemeinsame Spezifikum von Tragödie und imperialem Athen in der Aneignung des Anderen verortet (Näheres dazu s. das Kap. 1.11 Fazit und Ausblick zu Aischylos’ Persern). Christian Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie. München 1988, 67 weist auf den bemerkenswerten Umstand hin, daß in Athen nicht wie in sizilischen Griechenstädten das Publikum, sondern eine Jury über die Tragödien abstimmte. Das demokratische Procedere reichte also nicht bis zur offiziellen rezeptionsästhetischen Beschlußfassung. 75 Kurke 1998: 160-162 sieht wie Mark Griffith (The King and Eye: The Role of the Father in Greek Tragedy. PCPhS 44 (1998) 20-84, h. 45-47, 64 f.) die Tragödie und ihre öffentliche Aufführung als ein Medium, in dem die Polis Athen die Umgangsformen und jeweiligen Verhaltensmuster von aristokratischer Elite und Demos aushandelte. Kurkes und Griffiths legitime und hochinteressante soziologisch-diskursgeschichtliche Herangehensweise sieht bei dieser sozialen Kommunikation von der literaturwissenschaftlichen Instanz des Autors ab. Dies entspricht dem Theorem vom Tod des Autors und läßt die literarische Gestaltung und Eigengesetzlichkeit zurücktreten, um die es der vorliegenden Arbeit geht und die als formalistischwerkästhetische Kategorien literaturtheoretische Funktionen des Autors übernehmen können. <?page no="45"?> 1.2 Transgression 31 verleiht (zum Verhältnis von Drama und Theater s. das Kap. 0. Einführung: Forschungsstand, Methode, Grundbegriffe und Aufbau der Einleitung). Die bedeutendste historische Verortung der attischen Tragödie, die man ‚kulturevolutionär‘ nennen könnte, stammt von Jean-Pierre Vernant. Ihm zufolge ist sie ein Dokument und Vehikel des Übergangs von der religiös-heroischen Welt zu einer Gesellschaft des Rechts und ziviler Institutionen. 76 Sie habe dabei durch die so ausagierten Widersprüche als ein geistesgeschichtlicher Katalysator fungiert, der die Ablösung vom mythischen Denken und die Entwicklung der Konzeption und die Modalitäten einer subjektiv-individuellen Verantwortung 77 ermöglicht habe, die auch von Aristoteles und in der juristischen Kasuistik, etwa der Tötung eines Menschen, begrifflich gefaßt worden sei 78 und deren Modalitäten in der Tragödie ja in der Tat feinziseliert und nicht selten so aporetisch sind, daß man hier das Wesen des Tragischen verortet hat. Dies hängt damit zusammen, daß die Widersprüche des alten religiösen und neuen juristischen Denkens in der Tragödie ausgetragen werden. Der Abschluß dieses geistesgeschichtlichen Prozesses falle mit ihrem Schwinden im 4. Jh. zusammen. 79 Vernant identifiziert also den literarischen Ort des Prozesses, den Eric Robertson Dodds als Übergang von der Schamzur Schuldkultur ansieht. 80 Die Transgression als Thema der Tragödie hat demnach geistesgeschichtlich eine eminente Rolle gespielt. (Die vorliegende Arbeit wird allerdings einen literaturwissenschaftlichen Standpunkt einnehmen und untersuchen, wie die Transgression, ihre Bewertung und 76 Joachim Küpper, Diskurs-Renovatio bei Lope de Vega und Calderón. Untersuchungen zum spanischen Barockdrama. Mit einer Skizze zur Evolution der Diskurse in Mittelalter, Renaissance und Manierismus. Habil. München 1987. Tübingen 1990, 12 Anm. 21 verweist für das Konzept, literarische Texte stilisierten ein „Weltmodell“, auf Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von Rolf-Dietrich Keil. München 4 1993, 301 („Das Kunstwerk, das selbst begrenzt ist, stellt ein Modell der unbegrenzten Welt dar“; a. S. 22-27, v.a. S. 26, das von „der Modellierung der Welt durch den Autor“ spricht). 77 Vgl. Jean-Pierre Vernant, Ébauches de la volonté dans la tragédie grecque. In: Œuvres. 2 Bde. Paris 2007, Bd. 1, 1104-1132. 78 Tensions et ambiguïtés dans la tragédie grecque. In: Œuvres. 2 Bde. Paris 2007, Bd. 1, 1086- 1103. Referat und Kritik dieser These bietet Flaig 1998: 28-39, dessen gewiß anregender essayistischer Stil mit allerlei komparatistischen Digressionen aus dem Bereich der kulturellen Anthropologie freilich kaum auf Vernants fundierte Argumentation eingeht. Da Flaig einen sozialhistorischen Ansatz verficht, erübrigt sich im Rahmen dieser literaturwissenschaftlichen Arbeit eine detaillierte grundsätzliche Auseinandersetzung mit seiner Kritik an Vernant. Die Tragfähigkeit der Interpretationen der beiden Althistoriker sollen ohne agonale Konfrontation am OT untersucht werden. 79 «Œdipe» sans complexe. In: Ds., Œuvres. 2 Bde. Paris 2007, Bd. 1, 1133-1152, h. 1135 f. 80 From Shame-Culture to Guilt-Culture. In: Ds., The Greeks and the Irrational. Berkeley 8 1973, 28-63. Kritisch dazu Douglas L. Cairns, Aid s. The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek Literature. Oxford 1993, 1-47. Auch Bernard Williams, Shame and Necessity. Sather Classical Lectures 57. Berkeley 3 1993, 5 steht der Sicht auf die griechische Geistesgeschichte, die er „progressivist“ nennt und mit dem Übergang von der Schamzur Schuldkultur illustriert, ablehnend gegenüber. Vernants evolutionäre Sichtweisen zum tragischen Bewußtsein lehnt er gleichfalls ab (1993: 16 f.). Nach Eva-Maria Engelen, Eine kurze Geschichte von ‚Zorn‘ und ‚Scham‘. Archiv für Begriffsgeschichte 50 (2008) 41-73, h. 54 f. versetzt die Annahme der Schuld den Menschen „in ein sehr viel intellektuelleres Verhältnis zu den Anderen als die Scham es tut, die wir anderen gegenüber empfinden.“ <?page no="46"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 32 ihre Verantwortlichkeiten Gegenstand der Binnenhermeneutik werden, der damit eine wichtige Rolle beim Verständnis der Transgression zukommt.) Die antiken Debatten, die innerhalb und mit Hilfe der attischen Tragödie um die Modalitäten der Verantwortung für die Transgression geführt wurden, erklären, warum in der modernen Tragödieninterpretation die ‚Schuld‘, oft mit dem Attribut ‚tragisch‘, eine derart herausragende Stellung einnimmt. 81 Die Synchronie von Scham- und Schuldkultur ist allerdings nur ein möglicher, geistesgeschichtlicher (Hinter-)Grund, warum es in der Tragödie zu Konflikten von Werten kommt, die für gleichrangig erachtet werden. Ein solcher Konflikt, wie er dem an Hegel angelehnten Tragikkonzept der konfligierenden Integritäten und Rollen zugrunde liegt, von dem die vorliegende Arbeit ausgeht, ist, obwohl er in seiner rezeptionsästhetischen Dimension von den Werten des historischen Zielpublikums abhängt (das nicht einmal mit der Gesellschaft identisch sein muß), eine Frage der literarischen Konstruktion und wie der tragische Charakter einer Transgression nicht zeitgebunden. 1.2.4 Kurzer Forschungsabriß zur Transgression: Bataille, Foucault, Stallybrass und White Die vorliegende Arbeit nimmt die Transgression in der antiken dramatischen Literatur unter inhaltlichen und formalen Aspekten in den Blick, d.h. als soziojuridischen Inhalt und formal-poetisches Verfahren. Diese beiden Aspekte formulieren bereits die theoretischen Erwägungen französischer Denker, und sie finden (von) dort zunehmend ihren Weg in die Beschreibung von Literatur und auch des (antiken) Dramas. Daß die Transgression bereits in einem rezenten Beitrag von Bernhard Teuber auf die antike Tragödie angewandt wurde 82 und ihr hermeneutisches Potential schon in einer breiter angelegten Studie für die französische Klassik - in enger Anlehnung an Teubers vorgenannten Beitrag - ausgelotet wurde, 83 läßt ein vergleichbares Unterfangen für das antike Drama aussichtsreich erscheinen. 81 Die historische Angemessenheit und damit heuristische Ergiebigkeit der Analysekategorie Schuld bestreitet jüngst Jonas Grethlein (The Greeks and Their Past. Poetry, Oratory and History in the Fifth Century BCE. Cambridge 2010, 102 f.). In der Tat scheint die englische Junktur „tragic flaw“ wesentlich besser als ihre scheinbare deutsche Entsprechung „tragische Schuld“ für die Analyse antiker Dramen geeignet, da sie auf eine Unvollkommenheit abhebt, die von Fritz etwas vorschnell vielleicht im Charakterlichen verortet („Tragische Schuld und poetische Gerechtigkeit in der griechischen Tragödie“, in: Antike und moderne Tragödie. Neun Abhandlungen. Berlin 1962, 1-112, h. 1). Man könnte sich aber auch in einer etwas freieren Interpretation als eine Unzulänglichkeit auffassen, die durch die außergewöhnliche Konstellation der Handlungsstruktur zum Vorschein kommt, welche die tragische Transgression hervorbringt, d.h. nur durch eine außergewöhnliche Handlungsstruktur kann die besagte Unzulänglichkeit in der tragischen Transgression hervortreten (vgl. den Anfang von 1.4.2 Tragik als Desubjektivierung). 82 Der un/ darstellbare Kindermord. Tragische Transgression und Ethnographie der Tragödie am Beispiel der Medea. In: Gerhard Neumann, Rainer Warning (Hgg.), Transgressionen. Literatur als Ethnographie. Freiburg i.Br. 2003, 243-255. Für eine nähere Besprechung s. 2.2.2 Ritual in der Einleitung. 83 Matei Chihaia, Institution und Transgression. Inszenierte Opfer in Tragödien Corneilles und Racines. Diss. München 2000. Romanica Monacensia 61. Tübingen 2002. <?page no="47"?> 1.2 Transgression 33 Teuber stützt sich auf Georges Bataille, welcher der einflußreiche Archeget der französischen Transgressionstheorie war. Er ist sowohl für die inhaltliche wie die ästhetische Form der Transgression fruchtbar. Bereits er bestimmte das Thema der griechischen Tragödie als eine „transgression tragique de la loi“. 84 Mehr noch steht der poetisch-kreative Transgressionsbegriff dieser Arbeit, der die Schaffung eines fiktionalen Raumes als Transgression auffaßt, unverkennbar in Batailles Schuld, auch wenn Batailles entsprechende Transgressionskonzepte phylogenetisch und kulturgeschichtlich ausgerichtet sind. Er sah nämlich, so Teuber 2003: 245 f., den Ursprung und den sozialen Rahmen der Kunst in der Transgression der Arbeit und des Alltags, die im religiösen Fest stattfinde. 85 Diese Form der Transgression als vitale Manifestation und Verausgabung im Rahmen eines Festes kondensiert sich im Potlach der amerikanischen Ureinwohner, 86 und es ist durchaus legitim, das im Rahmen eines Dionysosfestes aufgeführte attische Drama als eine solche transgressive Vitalitätsmanifestation anzusehen. Eine dionysische Deutung der Aufführungsbedingungen des attischen Dramas (MacInnes 1994: 54 weist auf ein dionysisches Element in Batailles ästhetischem Programm hin) 87 bewegt sich jedenfalls auf einer anderen Ebene als eine im Kern undionysische Lektüre von dessen Stücken, wie sie die vorliegende Arbeit vertritt (s. 1.4.8 Alternative Tragikkonzepte: Nietzsche, Benjamin, Bohrer, A. Schmitt). Kunst und Spiel erhebt Bataille, anknüpfend an Huizinga, zum Indikator der Anthropogenese, der Entwicklung vom Homo faber zum Homo sapiens und ludens. 88 Es sei angemerkt, daß bereits die magisch- 84 La littérature et le mal. Paris 1957. Œuvres complètes. Paris 1979, Ndr. 2003, Bd. 9, 169-316, h. 179. 85 Lascaux ou la Naissance de l’Art. Genf 1955. Œuvres complètes. Paris 1979, Ndr. 2003, Bd. 9, 7-101, h. 40 f. 86 Vgl. Mary Drach MacInnes, Taboo and Transgression. The Subversive Aesthetics of Georges Bataille and "Documents". Diss. Boston 1994 [Mikrofiche], 56 f. Sie arbeitet denn auch den großen Anteil der Ethnographie an der Genese von Batailles Ästhetik in den Documents: Archéologie, beaux-arts, ethnographie, variétés (1929/ 30) heraus (1994: 53-104), womit Bataille auf einer Linie mit der französischen Avantgarde gelegen habe (1994: 9-52). Daß die Ethnographie ein Kunstobjekt nicht mehr als ästhetisches Phänomen, sondern als rituellen Gegenstand betrachtete oder es über seinen ökonomischen Kontext bestimmte, unterstützte die entidealisierende und entmusealisierende Sicht der Documents auf die Kunst (1994: 85-92, vgl. S. 54: „Art became a ‚document‘ of culture.“). Beide Sichtweisen wollen die Herauslösung der Kunst aus ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen und ihrem Sitz im Leben rückgängig machen und werden so zu Archegeten der Ritual- und Performanzästhetik. Sie sind eine wertvolle Bereicherung des Blicks auf die antike Literatur und bildende Kunst, die bereits nahezu zeitgleich Heidegger ins Bewußtsein gehoben hat (s. 2.2 Ritual, Opfer, Mythos und Performanz), und eher eine einschlägige Reaktion auf die idealistische soziopragmatische Konstruktion von Kunst im 19. Jh. als eine Fundamentalalternative zur hier vertretenen transgressiven Ästhetik. Ihr geht es um die modale Funktionsweise von Kunst, den ritualorientierten Ethnographen um deren Pragmatik. Beide definieren diese Bewegung über die Überschreitung des Alltäglichen. 87 „He developed a program that advocated the base and sought to reinvest art with a primal, Dionysian element.“ 88 Lascaux ou la Naissance de l’Art. Genf 1955. Œuvres complètes. Paris 1979, Ndr. 2003, Bd. 9, 7-101, h. 38 f. Dieses Faktum wäre geeignet, MacInnes’ Vorbehalte gegen Batailles anti-idealistische Ästhetik zu zerstreuen (1994: 60-68), die sich durchaus an der bassesse festmachen läßt (s. 1.5 Komik, Doppelung und Iteration). <?page no="48"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 34 religiösen Rituale mit Masken und (Tier-)Mimesis Mittel aufweisen, die in der mimetisch-(re)präsentativen Semiose des Theaters zum Einsatz kommen. Der Münchner Romanist knüpft an Batailles Transgressionskonzept Grundthesen zur Transgression, die als Basis für deren Ästhetik dienen könnten: Die Transgression sei ea ipsa un/ darstellbar. Dies äußere sich im sexuellen Bereich in der tropologischen Sprache der Erotik, die im Gegensatz zur mimetischen Darstellung der Pornographie stehe, treffe aber auch auf die abendländische Tragödie zu, die den Mord, der in ihrem Zentrum stehe, nicht darstelle (2003: 247- 9). Der erhabene Stil der Tragödie, der sich bereits in der antiken Verwendung von „tragisch“ für diesen Stil zeige, so seine metapoetische Lesart, sei ein Indiz dieser Undarstellbarkeit (2003: 249 f.). Bei Teuber ist die Transgression ihrem Wesen nach sozial und wird nur zum Gegenstand der Ästhetik und Kunst, aber nicht zu deren Mittel, wenn man von der Gattungsregel absieht, den Mord qua Undarstellbares nicht darzustellen. 89 Doch die tropologische Rede kaschiert nicht nur die Transgression, vielmehr hat sie qua poetisches Zeichen mit der Transgression das transitive Element gemein. Dies geschieht einmal dadurch, daß sie - wie jedes andere Zeichen auch - die materiale Immanenz des signifiant transzendiert, dann dadurch, daß sie qua poetisches Zeichen die usuellen Zuordnungen zu einem signifié überschreitet. Zudem transzendiert der erhabene Stil die Stilkonventionen der Alltagssprache, wie die soziale Transgression die alltäglichen Praxen durchbricht. Batailles Überlegungen zur Transgression wurden von Leiris, Blanchot und Foucault aufgegriffen und weiterentwickelt. Michel Leiris kreuzte sie mit der Ethnologie. 90 Batailles Theorien zu Opfer und Transgression wurden von seinem Freund Maurice Blanchot auf Schreiben und Lesen übertragen, 91 also die beiden Seiten des literarischen Zeichengebrauchs. Dieser Transfer rechtfertigt es, ja hält dazu an, bei transgressiven rituellen Opfern (Iphigenie) und zu rituellen Opfern stilisierten Transgressionen (Medeas Kinder, Phaedras Selbstmord) die literarisch-ästhetische Seite zu beleuchten. Was die soziopragmatische Dimension angeht, erscheint Blanchot die Transgression als Möglichkeit, sich der Macht zu entziehen. 92 Diese Sicht exemplifiziert Medeas topologisch-evasive Transgression (s. 3.2.5 Die Schlußszene mit Iason). Didier Martens, der außerhalb der illustren Genealogie der französischen Meisterdenker steht, aber zumindest bei der bildenden Kunst für die Transgression den Brückenschlag zur Antike wagt, hebt die Transgression ganz in die (Rezeptions-)Ästhetik. Er begreift nämlich Animation und Illusion der griechischen Vasen, die das Tongefäß verwandelten, als transgressive Erfahrungen, die 89 Zur fehlenden optischen Darstellung von physischer Gewalt in der erhaltenen attischen Tragödie s. Simon Goldhill, Der Ort der Gewalt: Was sehen wir auf der Bühne? In: Bernd Seidensticker, Martin Vöhler (Hgg.), Gewalt und Ästhetik. Zur Gewalt und ihrer Darstellung in der griechischen Klassik. Berlin 2006, 149-168, h. 154 f. 90 Irene Albers, Helmut Pfeiffer (Hgg.), Einleitung. In: Michel Leiris - Szenen der Transgression. München 2004, 12-14. 91 John W. Gregg, Maurice Blanchot and the Literature of Transgression. Princeton 1994, 15, vgl. 17. 92 „L’expérience-limite“, in: L’entretien infini. Paris 2003, 117-418, h. 308 Anm. 1. <?page no="49"?> 1.2 Transgression 35 dazu einlüden, mit dem Blick konzeptuelle Bereiche zu übertreten, die gewöhnlich als unüberschreitbar gälten. 93 Animation und konzeptuelle Grenzüberschreitung lassen sich auf die Ästhetik der Transgression im Drama übertragen: Die Animation als ästhetische Form der Transgression kann im Drama der Darstellung der soziojuridischen dienen. Dies gilt im Falle der Sequentialisierung in einzelne Schritte, die der Schilderung der Transgression ein filmisches Element verleiht, so bei Oidipus’ narratio des Dreiwegmassakers oder noch mehr bei Iphigenies Opferung in Aischylos’ Agamemnon, die ein betont optisches Moment hat. 94 Dagegen wird diese mimetische Illusion vom Metatheater als Typ poetischer Transgression durchbrochen. Normsetzung sowie die kulturelle und institutionelle Repression der sozialen Transgression sind neben der Diskursgeschichte das Leitmotiv von Michel Foucaults Werk, der wissenschaftsgeschichtlich selbst die Transgression performiert, weil er die Grenzen von Marxismus, Semiotik und Strukturalismus überschreitet und doch diese Richtungen aufhebt. 95 Dabei entwickelt er in seiner Frühschrift Préface à la transgression (1963) 96 im Dialog mit dem jüngst verstorbenen Georges Bataille einen philosophisch-sanfteren und weniger antithetischen und soziologischen Begriff der Transgression, den er ganz in der Spur Batailles als mit Ausgabe („dépense“), Exzeß und Grenze bzw. Begrenzung („limite“) verwandt ansieht und der synthetisierend-totalisierend die Widersprüche ablöst (S. 276). Solch ein vitalistisch-exuberanter und widerspruchsferner Transgressionsbegriff ist selbstredend kaum mit einem hegelianischen, sondern allenfalls einem nietzscheanischen Konzept des Tragischen vereinbar (s. 1.4.8 Alternative Tragikkonzepte: Nietzsche, Benjamin, Bohrer, A. Schmitt). Dies hängt sicherlich auch damit zusammen, daß der Terminus ‚Transgression‘ zumal im Französischen die allgemeine Bedeutung ‚Grenzüberschreitung‘ hat und seine Geläufigkeit nicht zu der in dieser Arbeit vorgenommenen begrifflichen Abgrenzung zur ‚Grenzverletzung‘ einlädt. Sein Hinweis, die Transgression verhalte sich zur Grenze nicht wie schwarz zu weiß, verboten zu erlaubt, außen und innen, das Ausgeschlossene zum geschützten Innenraum, sondern wie ein Bohrer (S. 265: „vrille“; die Foucault-Übersetzung von Gondek wählt die treffende Wiedergabe „bohrendes Verhältnis“), 97 zeigt zu Recht den poststrukturalistischen Charakter der Transgression, da die Grenze die genannten Größen statisch 93 Une esthétique de la transgression. Le vase grec de la fin de l’époque géométrique au début de l’époque classique. Académie Royale de Belgique. Mémoire de la Classe des Beaux-Arts Collection in-8¹ Série 3 T. 2. Brüssel 1992, 21. 94 Für eine eingehende, vergleichende Besprechung dieser beiden Szenen s. 3.2.4 Darstellung und intratheatralische Inszenierung der Transgression im Kap. über Euripides’ Medea. 95 Charles C. Lemert, Garth Gillan, Michel Foucault. Social Theory and Transgression. New York 1982, 1 f. 96 In: Ds., Dits et écrits. Édition établie sous la direction de Daniel Depert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange. 2 Bde. Paris 2001, Bd. 1, 261-278. Dt.: Vorrede zur Überschreitung In: Michel Foucault, Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. 1. Aus den Französischen von Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek und Hermann Kocyba. Frankfurt a.M. 2001, 320-342. 97 Die Ambivalenz solcher Werkzeuge bei gleichzeitiger Identität bemerkte bereits Heraklit (DK 22 B 59): <?page no="50"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 36 abgrenzt und strukturell konstituiert, während die Transgression die Grenze zwischen ihnen performativ realisiert und aufhebt (s.o. auch für Foucaults entsprechende Beobachtung). Zudem kann die Transgression nicht nur die Grenze zwischen derart plakativ abgegrenzten Gegensätzen, die in der vorliegenden Untersuchung vielfältig zur Beschreibung der Transgression im antiken Drama herangezogen werden, sondern auch Minimalpaaroppositionen betreffen. Viele Charakteristika und verwandte Phänomene der Transgression, die Foucault in dieser Schrift entwickelt, werden auch in dieser Arbeit zum Tragen kommen. So sieht er die Transgression als eine Geste an, welche die Grenze betreffe (S. 264). Der Begriff der Geste wird relevant werden, um in Euripides’ Medea und Senecas Phaedra die Souveränität der Transgression und deren künstlerische Implikation zu fassen. Foucault weist denn auch auf die Souveränität und Singularität der Transgression hin (für eine Diskussion dieses Merkmals s. 2.2.1 Performanz). Foucaults Verdünnung des Begriffs der Transgression zu einem eher transitorischen Phänomen der Grenzüberschreitung geht damit einher, daß er sie von den Größen des Subversiven, Negativen und Dämonischen abkoppelt (S. 265-267), welche in dieser Arbeit in teilweiser Anknüpfung an Auslegungstraditionen der klassischen Philologie (konkret Karl Reinhardts Begriff des Dämonischen) zum Einsatz kommen, um die Brisanz der eklatanten Transgression der attischen Tragödie zu beschreiben. In Anlehnung an Batailles Sonnenbegriff klassifiziert Foucault die Transgression als solare Kehrseite („l’envers solaire“) der satanischen Negation (S. 267). Auch wenn diese doch sehr speziellen Diskurse sich nicht tel quel auf die attische Tragödie übertragen lassen, ist es doch eine markante Übereinstimmung, daß die prominenten Transgressorinnen Medea und Phaedra nach der Darstellung der betreffenden Dramen vom Sonnengott abstammen. Foucaults Zurückdrängung der Antithese im Begriff der Transgression geht nicht so weit, daß er ihn zur Grenzüberwindung verschiebt und als Rückkehr in ein Land auffaßt, in dem alle Widersprüche aufgehoben werden (S. 267). Wenn Foucault allerdings die Transgression als Rückkehr und als Öffnung zu einem Raum auffaßt, in dem das Göttliche gespielt werde (S. 267), so erfaßt er mit diesem Raumschaffen ein Merkmal, das in dieser Arbeit primär der künstlerisch-poetischen Transgression zugeschrieben wird, welche sich an die soziale anknüpfen kann. Außerdem weist Foucault darauf hin, daß für die Transgression eine vergleichbare Sprache fehle, wie sie die Dialektik für die Widersprüche darstelle (S. 269). Damit bestätigt er einerseits theoretisch die Unsagbarkeit der Transgression im dramatischen Dialog und die logosdisruptive Wirkung, welche die Transgression dramatisch entfaltet, und zeigt andererseits die Notwendigkeit ihrer poetisch-metaphorischen Formulierung auf, welche die Dramen bieten und bei der die poetische die soziale Transgression beschreibt. Und wenn er die Entdeckung der Rückkehr durch die und in der Transgression als Beleg dafür wertet, daß die Philosophie immer griechischer werde, und den undialektischen Charakter der Transgression auf Erkenntnishorizonte zurückführt, die Nietzsches Figuren des Tragischen und Dionysos eröffnet hätten (S. 267), so ist dies immerhin ein Anreiz, die Tragfähigkeit seines Transgressionsbegriff anhand einer Analyse des antiken Dramas auszuloten, auch wenn diese Untersuchung klar die Begriffe von Transgression und Tragik über Widersprü- <?page no="51"?> 1.2 Transgression 37 che definiert. Der Bruch des (philosophischen) Subjekts, den Foucault an Batailles Juxtaposition reflexiver und belletristischer Texte verortet (S. 271), ist in der vorliegenden Arbeit ein Merkmal der Tragik, die sich an die Widersprüche knüpft, aus denen die Transgression resultiert. An die Stelle der Dialektik tritt Foucault zufolge bei Bataille die Selbstreflexion, die eine Transgression des eigenen Seins und eine Infragestellung der eigenen Grenzen darstelle (S. 272 f.). Bataille wird exemplarisch für die Transgression der Sprache, welche die Philosophie zum Versagen des sprechenden Subjekts geführt habe (S. 277). Gerade bei der Optik, deren Augenkonzeption eine nichtdialektische Sprache der Philosophie ermögliche (S. 275), wird deutlich, daß Foucaults Bataille-Interpretation die Transgression eher als Grenzüberschreitung denn als Grenzverletzung auffaßt (S. 273 f.). Zweifelsohne spielt die Optik, und sei es nur ex negativo beim regelpoetischen Verbot der Gewaltdarstellung, eine zentrale Rolle bei der generischen Konstitution des Schauspiels (selbst als Lesedrama), weil der Betrachter in den Dramentext eingeschrieben ist, aber auch, was für die soziojuridische Transgression als Dramenstoff vielfältig zu zeigen sein wird, bei seiner individuellen Konzeption. Auch wenn Foucault später die Transgression als Möglichkeit der Übertretung totalisierter moderner Individualitäts- und Rationalitätskonzepte ansah, 98 so steht diese Beobachtung eines historischen Sachverhalts moderner Gesellschaften nicht im Widerspruch zu der These, daß jede Transgression insofern ein Akt der Individualisierung ist, als sie die sonst durch die übrigen Mitglieder der Gesellschaft verkörperte Norm unterläuft und den Betreffenden minorisiert sowie innerhalb des sozialen Mikrokosmos auf der Bühne individualisiert. Zudem schafft die Transgression durch ihre Faktizität eine biographische Differenz zwischen ihrem Akteur (und in gewisser Weise auch ihrem Objekt) und dem Rest der Gesellschaft. Auf der Normen- und Rollenebene annulliert sie jedoch praktisch-konjunktural Differenzen zwischen dem Erlaubten und Tabuisierten und den Rollen, die der Transgressor nicht mehr erfüllt, man denke an das Inzesttabu, das aus der spezifischen Rolle als Kind/ Elternteil erwächst. Diese differenzannullierende Wirkung hat René Girard bereits für die Gewalt und die mit ihr einhergehenden Verbrechen des Vatermords und Inzests anhand des OT erkannt. 99 Die vorgestellten klassischen französischen Denker der (Post-)Moderne haben eher nobilitierende Gedankensplitter für das Analyseraster der vorliegenden Arbeit geliefert. Dagegen entwerfen die beiden britischen Autoren Peter Stallybrass und Allon White ein neostrukturalistisches Modell zur Verortung der Transgression, 100 das mit horizontaler und vertikaler Achse die Raumkategorien eines kartesischen Koordinatensystems zugrunde legt und damit eine wertvolle Grundlage für die Topologie der Transgression sowie in Dramen- und Literaturtheorie liefert (vgl. 3.1 Zu einer Poetik des Raumes). Der vorliegenden Arbeit 98 Petra Neuenhaus-Luciano, Individualisierung und Transgression. Die Spur Batailles im Werk Foucaults. Pfaffenweiler 1999, 91-111. 99 La Violence et le Sacré. Paris 1972, Ndr. 1987, 113. 100 The Politics and Poetics of Transgression. London 1 1986 = Ithaca 5 1995. <?page no="52"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 38 kann es als Ausgangsbasis für ein holistisches strukturalistisches Modell dienen, um die Transgression und ihre verschiedene Typen zu beschreiben. Stallybrass und White legen bei ihrer Analyse als Fundamentalopposition den Unterschied zwischen oben und unten zugrunde, welcher die diskursive Konstruktion der (bürgerlichen) Gesellschaft bereits in der antiken Literaturgeschichte, 101 aber vor allem in vier symbolischen Bereichen strukturiere, nämlich den seelischen Formen, dem menschlichen Körper, dem geographischen Raum und der sozialen Ordnung (1995: 3). Bei einer Konstruktion von Hierarchien wird die ontologische Horizontalität diskursiv in eine strukturelle Vertikalität verwandelt, so meine Formulierung. Nach Stallybrass und White funktioniert diese Konstruktion nicht über eine simple (ebenfalls horizontale) Exklusion, sondern eine Unterdrückung, in welcher das Andere und Untere präsent bleibt und systemisch die notwendige Basis für die Überlegenheit des Oberen bildet (1995: 5). Mehr noch kann es so zum unterschwellig Begehrten werden. (Stallybrass und White bemühen hier treffend die Beobachtungen, die Edward Said zur politischen Funktionsweise des westlichen Orientbildes gemacht hat. 102 ) Freuds Schichtenmodell der Seele und seine Fundamentalkategorie des Begehrens werden so elegant mit dem Strukturalismus und einer dialektisch-strukturalistischen Identitätskonstruktion (1995: 163) verschmolzen. In der evasiven Bewegung des Begehrens wird die Transgression verortet, wobei weniger das Konzept, das auf Foucaults oben referierte Ausführungen zurückgeführt wird, als dessen bürgerliche Romantisierung in Frage gestellt wird (1995: 200). Das hier skizzierte Modell läßt sich sicherlich zur präziseren Beschreibung der Rolle der sozialen Transgression in der Komik einsetzen (s. 1.5 Komik, Doppelung und Iteration), zumal seine Autoren einen Schwerpunkt auf das Bachtinsche Konzept der Karnevalisierung legen. Um ein holistisches Modell zur Beschreibung des gesamten Dramas zu gewinnen, bedarf es jedoch einiger Ergänzungen und Abänderungen. Diese betreffen zuerst die Perspektive: Stallybrass und White leisten auf der gesamtgesellschaftlichen oder zumindest schichtenspezifischen Ebene des Bürgertums eine Diskursanalyse Foucaultscher Prägung. Hier muß dieses Modell jedoch auf den innerliterarischen dramatischen Kosmos verengt werden, welcher dank der Mimesis ein miniaturisiertes Abbild der Welt darstellt. Der so geschaffene dramatisch-szenische Raum kommt schwerlich ohne die horizontale Achse aus. Ihn füllt oder schafft der Körper der Schauspieler, der zum Zeichenträger der gesamten theatralischen Mimesis wird und somit die zentrale Position wahrt, die er bei Stallybrass und White einnimmt. Körper und Raum dienen nicht nur den verschiedenen Bewegungstypen, die als hodologische Varianten der Transgression fungieren, sondern auch dem Ausagieren der sozialen Ordnung, deren Rollenkonflikte die Dramenhandlung vorantreiben und in unserem Modell die Transgression anstoßen. Damit wäre Stallybrass’ und Whites dritte Kategorie integriert. Deren vierte, die 101 Als Aufhänger für ihre Politik und Ästhetik der Transgression (bzw. Ausgrenzung) dient ihnen Aulus Gellius’ klassisches Diktum über die klassischen, den proletarischen entgegengesetzten Schriftsteller (19,8,15). 102 Orientalism. Western Conceptions of the Orient. London 2003, 3, 7. <?page no="53"?> 1.3 Eliminierung, Restauration, Integrität und Intention 39 Seele, spielt eine eminente Rolle bei der Binnenhermeneutik der Transgression und der damit implizierten Konstruktion von Normgerechtheit. Die vertikale Achse ist im dramatischen Raum mit den himmlischen Göttern und ihrem Eingreifen sowie im szenischen Raum den di ex machina vertreten und kann mit den chthonischen nach unten verlängert werden. Dies ist in Senecas Phaedra der Fall, wo sie eine besondere Rolle spielt, weil der Autor dieses Dramas der Literatur, v.a. des hohen Stils, den auch Stallybrass und White als Parameter aufnehmen (1995: 3), eine apollinische Inspiration und anagogische Funktion zugesprochen hat (s. 7.4 Senecas dionysische und apollinische Poetik und Rezeptionsästhetik in der Interpretation dieses Dramas). Auch wenn Dionysos’ Verlangen in den Fröschen einen Tragiker aus der Unterwelt wieder an die Oberwelt holt, wobei die Richtung des Begehrens exakt Stallybrass und White entspricht, ist das Begehren im Gegensatz zu diesem beiläufigen komisch-homoerotischen Motiv der Komödie ebenfalls nur in der Phaedra das zentrale Movens der Handlung und der Transgression, bewegt sich dort allerdings in der Horizontalen. 1.3 Eliminierung, Restauration, Integrität und Intention Die Funktionsweise der Transgression und der dramatischen Handlungsstruktur sollen nachfolgend mit den Termini Eliminierung, Restauration, Integrität und Intention präzisiert werden. Eliminierung und Restauration sind wie die Transgression (und Iteration) Einzelhandlungen und als solche Schritte oder Stationen der Gesamthandlung. Am wichtigsten ist von ihnen die Eliminierung, welche die antike Rhetorik als schema oder solözistisches vitium unter dem Namen detractio bzw. kannte (Quint. inst. 1,5,38-40; 52 f.) und die im Strukturalismus als operational-diagnostisches Verfahren der Ermittlung von Minimalpaaroppositionen dient. Sie ist in dieser Arbeit Vollzugsform und Folge der Transgression, tritt also gleich in zwei Handlungsschritten auf. Begrifflich sollen sie dadurch unterschieden werden, daß, wo der Deutlichkeit halber geboten, die mit der Transgression einhergehende Eliminierung transgressive Eliminierung als solche benannt wird, während die ihr nachfolgende die Eliminierung schlechthin oder die posttransgressive Eliminierung ist. Vergleichbare kosmologische Folgen einer Transgression nahm bereits das frühgriechische Denken an. Für Heraklit zieht eine auch topologisch verletzte Norm kosmologische Sanktionen durch die Erinyen nach sich. 103 Anaximander 103 DK 22 B 94: Komposita aus + sind die morphologisch und semantisch exakte Entsprechung von ‚Transgression‘ und haben wie diese eine topologische Grundbedeutung. Sie sind jedoch eher selten, vgl. ebenfalls mit absolutem mythologisch-religiösem Ordnungsgaranten S. Ant. 604 f. - / Doch schon bei Homer lassen sich selbst die Götter durch Opfer nach der Transgression milde stimmen (Il. 9.499-501, v.a. 501: ). Zu [sic! ], und Transgression s. Ferla 1996: 1-6. Die wohl bedeutendste und umfassendste Studie zur Hybris von Nicolas R. E. Fisher (Hybris. A Study in the Values of Honour and Shame in Ancient Greece. Warminster 1992) resümiert rezeptionsästhetisch-aristotelisierend im Abschnitt „Hy- <?page no="54"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 40 verzichtet auf Mythologie und Topologie zugunsten der Chronologie, formuliert aber den notwendigen Nexus von Entstehen und Vergehen als kosmologische Sanktion für Unrecht, 104 also eine moralisch-juridische Bewertung der Transgression. Wenn die überliefernde spätantike Quelle, der Neuplatoniker Simplikios, nach dem Zitat dem Milesier eine ziemlich poetische Ausdrucksweise attestiert, so zeigt er noch ein Bewußtsein für den Ursprung dieser Formulierung in Mustern der sozialen Interaktion, die auch die Handlung der Homerischen Epen prägen und sich damit bereits vor dem Drama literarisch manifestiert haben. Die Gattungen Tragödie und Komödie unterscheiden sich im wesentlichen durch die geringere Rolle oder das gänzliche Fehlen der Eliminierung in letzterer. Anders als in der Tragödie geht in der Komödie die Transgression nicht notwendigerweise mit einer (physischen) Eliminierung einher und zieht auch keine solche nach sich. Außerdem wird eine Ordnung, welche die Transgression gestört hat, wenn überhaupt, 105 ohne Eliminierung von Personen (wieder)herbris and Athenian Drama“ (S. 506-511), daß Tragik umgekehrt proportional zur begangenen Hybris sei (1992: 509) und die Bestrafung einer solchen nicht sonderlich tragisch sei, wie der Schicksals(um)schlag eines Bösewichts von Aristoteles nicht als tragisch, sondern als eingestuft worden sei (1992: 506) (für die Diskussion um das bei Aristoteles s. 5.2 Die Neue Komödie und Menanders Samia). In Einklang mit dem Tragikkonzept der vorliegenden Arbeit nennt er dabei auch das Verfolgen legitimer Ziel und führt Oidipus und Medea als Beispiele an (1992: 508 f.). Doch eine Objektivierung der Tragik, wie sie die vorliegende Arbeit in Anschluß an Hegel mit Hilfe der Integritätskonflikte unternimmt, bietet er nicht. Statt dessen läßt er ex negativo einen Satellitenbegriff der Tragik in der vorliegenden Arbeit (wie Ambivalenz) anklingen, wenn er von „unambiguous and grave hybris“ und deren Bestrafung spricht (1992: 508). Seine Nuancierung der Hybris für die einzelnen Figuren und die v.a. bei Euripides selbst zur Hybris mutierende Sanktion, welche auf die Hybris (bzw. in der Terminologie dieser Arbeit die Transgression) antwortet (1992: 509 f.), können im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur ansatzweise anhand der Bakchen diskutiert werden (s. 4.4 Transgression und Eliminierung; ansonsten gehen Fishers und die hier vertretenen Ergebnisse beiwege vielfach konform). Schon jetzt läßt sich vor dem Hintergrund dieser Verkettung von Hybris und Sanktion jedoch festhalten, daß Hybris und Tragik nicht bloß, wie bei Fisher, in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis gesehen werden können, sondern nach dem genuinen Tragikverständnis der vorliegenden Arbeit sich im geläufigen Handlungsmuster der Tragik zusammenschließen, da die Hybris im zwischenmenschlichen Zusammenhang v.a. bei Homer eine Verletzung der sozialen Integrität bedeutet (Gerhard Thür, Art. Hybris. DNP 5 (1998) 771 f.: „absichtlich entehrende[s] Verhalten[s] einschließlich körperlicher Übergriffe“), deren Bewahrung oder Wiederherstellung in den hier untersuchten Tragödien ein häufiges Ziel der tragischen Transgression ist (Oidipus, Medea). Fisher widmet Medea keinen eigenen Abschnitt (vielleicht weil das Lexem hybris in dieser Tragödie zu marginal ist [v. 1060 f.: … ], obschon es in den Komplex der tragischen Entscheidung verwoben ist) und behandelt beim OT aus ähnlichen lexikalischen Gründen (1992: 329: „Hybris occurs in just one context in this play […].“) ausführlich das zweite Stasimon (1992: 329-342; s. 2.4.5 Transgression und Orakel). 104 Simp. in Ph. 24,13-20 D. (= DK 12 B 1, Ar 163 Wö.): [ ] [ ] [ ] - [ ]. 105 Kloss wendet gegen Stierles These, der Zielpunkt einer Komödie sei die „Wiederherstellung vernünftiger Zustände, einer geordneten kulturellen Welt“ (1976: 251), zu Recht ein, diese Auffassung orientiere sich zu sehr an Menander, welcher die europäische Komödie nachhaltig geprägt habe (2001: 14). Bei den Komödien des Aristophanes seien die Ausgänge dagegen in einigen Fällen uneindeutig (Ekklesiazusen) oder in einzelnen Punkten offen (Ritter, Vögel u.a.). <?page no="55"?> 1.3 Eliminierung, Restauration, Integrität und Intention 41 gestellt - so eine strukturalistische Lesart des guten bzw. schlechten Ausgangs und des „großen Leids“ ( ) der Aristotelischen Poetik (1452b 11, 1453b 18). Aristoteles gebraucht sowohl negativ in bezug auf die Komödie (1449a 35) als auch an der erstgenannten Stelle affirmativ für die Tragödie das Lexem „verderbenbringend“ ( ), das dem technischen Terminus Eliminierung bereits erstaunlich nahekommt, während Poet. 1453a 35-39 das Fehlen von Tötungen als Merkmal der Komödie bezeichnet. Rh. 1385b 13-16 knüpft an ein derartiges Geschehen die emotionale Reaktion , 106 mit welcher der Zuschauer auch in der Poetik auf das Geschehen reagieren soll. Neben der von Aristoteles beschriebenen physischen Eliminierung stehen als weitere Formen die soziale und die lokale. Der Ausdruck ‚Eliminierung‘ vermeidet die normative Überdeterminierung und überzogene Erwartungen an die poetische Gerechtigkeit, wie ‚Bestrafung‘ und ‚Sanktion‘ sie wecken würden. Tatsächlich ist die restaurativ-sanktionierende (physische) Eliminierung des Transgressors durch einen (menschlichen) Dritten nur im Epos (das Paradebeispiel ist der Freiermord in der Odyssee) unproblematisch. In der attischen Tragödie sanktionieren mit solchen physischen Fremdeliminierungen bloß bei Euripides (Hippolytos, Bakchen) die geschädigten Gottheiten in eigener Sache (wie im Falle des Odysseus) religiöse Transgressionen, doch besteht hier eine Symmetrie zwischen Transgression und Eliminierung, da sie dieselbe Gottheit betreffen, und diese Tragödien des letzten Tragikers bieten nicht zuletzt wegen der religiösen Art des Delikts eine gewandelte Tragik. Die eliminatorische Fremdsanktion durch eine unproblematische, ja legitime Instanz trifft dagegen auffallenderweise nicht die transgressiven Protagonisten der hier zu besprechenden Tragödien Xerxes, Oidipus und Medea. Damit wird auf die bühnenpragmatische Befriedigung von Rachegelüsten oder zumindest Forderungen nach (poetischer) Gerechtigkeit verzichtet. Ihnen sowie der Fremdeliminierung steht die differenzierte Kausalitätsattribution entgegen, die charakteristisch für die tragische Transgression und die Tragik überhaupt ist. Diese Differenziertheit wurzelt im tragischen Integritätenkonflikt, der beiden Parteien ein berechtigtes Interesse zubilligt, und erstreckt sich denn auch auf die Eliminierung, welche alle tragischen Transgressoren infolge ihrer Tat betrifft (allein aus diesem fehlenden Grund ist Xerxes nach dem Verständnis der vorliegenden Arbeit kein solcher): Die Fremdeliminierung des Transgressors wird in der Orestie und der Antigone als Transgression dargestellt und im Falle Kreons und Klytaimnestras allein dadurch problematisiert, daß diese Figuren selbst in ihrem Gefolge von massiver physischer Eliminierung betroffen sind. Orests Eliminierung folgt nur durch göttliches Eingreifen keine weitere. Die Götter erscheinen bei den posttransgressiven Eliminierungen also als ordnungswahrende Instanz. Das tun sie auch im Falle des Oidipus, wenn auch abgeschwächt, da sie vermittelt über die Handlungsstruktur wirken und der Transgressor die Eliminierung - wie im Falle des Aias - selbst vollzieht. Oidipus eliminiert sich wie Medea lokal, doch fehlen bei ihr jegliche göttliche Anstöße, die auf eine Wahrung oder Wiederherstellung der Ordnung hinausliefen. 106 - . <?page no="56"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 42 Diachron ist also eine Abschwächung (von der physischen zur lokalen) und eine Aneignung der posttransgressiven Eliminierung durch den tragischen Protagonisten festzustellen, welche dessen souveränen Spiel-Raum gegenüber dem generischen Handlungsschema erweitert. Die Eliminierung ist nicht nur wegen ihres Facettenreichtums ein adäquates terminologisches Korrelat zur gleichermaßen multidimensionalen Transgression, sondern mit dieser bereits etymologisch-begrifflich über die Schwelle verbunden, die von der Transgression verletzt und dadurch aktualisiert wird. Mehr noch: die Grundbedeutung von elimino „bringe über die Schwelle“ (WH I 803 s.v. limen) und deutlicher bei Ernout/ Meillet (359 s.v. limen) „chasser du seuil, expulser, bannir“ 107 legt den Gegensatz von innen und außen zugrunde und beinhaltet das Entfernen aus dem Inneren. Dabei ist diesem Akt bisweilen ein normativer oder penetrativer Grenzverstoß vorausgegangen. 108 Einmal wird er sogar lexikalisch an die Schwelle geknüpft. 109 Eliminierung und Transgression ermöglichen ein tieferes Verständnis und die konzeptuelle Integration der Gewalt, die manche moderne Interpreten in den Fokus ihrer Deutung rücken. 110 Bei dem vorliegenden Ansatz ist sie der eliminatorische Faktor der Transgression und wird durch Normverstoß und Eliminierung erhellt und strukturiert. Da diesen beiden Handlungsmomenten Gewalt innewohnt, werden sie umgekehrt durch die Typologie der Gewalt in der Tragödie differenziert, die Bernd Seidensticker entwirft (physische, psychische und strukturelle Gewalt sowie als deren Sonderform die göttliche Gewalt). 111 Ihre systemische Stelle hat die Gewalt in den Friktionen zwischen Struktur und individuellem Handeln. Denn die Transgression stört die Ordnung und zeigt die Spannung zwischen dem System und seiner sozialen Basis und situativen Performanz. Die zentrale Rolle von Transgression und Ordnungsstörung im antiken Drama zeigt sich auch daran, daß viele um ein Verbrechen orientiert sind, was analytischen Dramen einen kriminologischen Einschlag gibt (z.B. Oidipus Tyrannos). Der Blick auf den mimetisch-poetischen Umgang mit den sozialen Rollen und Normen (nicht deren quellenkundliche Auswertung) macht über deren fiktive Transgression und Restitution die Moral, die ein antiaristotelischer Positivismus ganz aus der Tragödie(nbetrachtung) verbannen wollte, 112 in doppelter Hinsicht wieder zu deren notwendigem Bestandteil: als Objekt der Trans- 107 Schwächer de Vaan s.v. limen „to go outdoors, let out“. 108 Vgl. Hans Rubenbauer ThlL Bd. 5,2 (1931-53) Sp. 388 Z. 35-69, z.B. Tert. nat. 2,7,11 p. 107,14 (Criminatores deorum poetas eliminari Plato censuit, ipsum Homerum [...] civitate pellendum), Ps.-Ambr. prec. 2,2 (homines de paradiso eliminavit). 109 Sidon. carm. 15,124 f. (s.o. ThlL): Exclusi prope Cynicos, sed limine restant; / ast Epicureos eliminat [...] Virtus. 110 V.a. René Girard, La Violence et le Sacré. Paris 1972, Ndr. 1987. Vgl. Radke 2003: 3 zu Euripides’ Bakchen. 111 Distanz und Nähe: Zur Darstellung von Gewalt in der griechischen Tragödie. In: Ds., Martin Vöhler (Hgg.), Gewalt und Ästhetik. Zur Gewalt und ihrer Darstellung in der griechischen Klassik. Berlin 2006, 91-122, h. 98 f. 112 Vgl. dazu Radke 2003: 27 f. <?page no="57"?> 1.3 Eliminierung, Restauration, Integrität und Intention 43 gression und der kognitiven Affirmation 113 bei Schauspieler und Zuschauer im Sinne des aischyleischen (Ag. 177). Diese Restauration der Moral, d.h. des normativen Teils des soziokulturellen Systems, geschieht im subjektiven Gedankenverlauf des Stücks in der Anagnorisis. Bei diesem „Umschlag aus Unwissenheit in Wissen“ (Poet. 1452a 30 f.: - ) handelt es sich um eine Re-Identifikation. Dabei wird einer Figur ein bislang unbekanntes signifié, oft zuungunsten eines anderen, zugeschrieben. Transgression und Eliminierung sind auf der individuellen Ebene an der Integrität faßbar. Auf sie zielt eine Intention der Selbsterhaltung, die auch im Drama vorausgesetzt und dargestellt wird. 114 Die Integrität hat wie das Zeichen eine materielle, physische, und eine ideelle, soziale oder moralische, Seite (Näheres s. 1.4.3 Tragik als (Integritäten-)Konflikt: Hegel und Schiller), wobei beider Verbindung die Identität des Menschen ausmacht. Sie wird bei ihrem Subjekt und ihrem Objekt in den vorgenannten drei Bereichen physisch, sozial oder moralisch durch Transgression und Eliminierung verletzt. Die Bereiche und Personen, die von ihr betroffen sind, können von Fall zu Fall in den unterschiedlichsten Kombinationen variieren und sollen bei den Einzelinterpretationen dargestellt werden. Die verletzte moralische und soziale Integrität können auch durch die lokale oder gar physische Eliminierung des betreffenden Subjekts oder Objekts restauriert werden. Ebenso zerstört seine physische Eliminierung wegen des materiellen und soziokulturellen Fortlebens in der Erinnerung der Nachwelt (memoria) nicht den Zeichencharakter. Der Fortbestand ist ein wesensmäßiger Aspekt auch der Integrität, da ihre Grundbedeutung ‚Unversehrtheit‘ die Gefährdung durch Beschädigung impliziert. Hierbei ist auf der zeitlich-syntagmatischen Achse die Integrität als Permanenz faßbar. 115 Die vorgestellte Terminologie integriert die Kategorien der bisherigen Dramenanalyse und bringt ihnen gegenüber einen Zugewinn an Präzision. So integriert, erweitert und transformiert die Integrität den bisherigen Begriff ‚Charakter‘. In individueller Perspektive scheint das aristotelische „Moral“verständnis, 116 das Intentionen, Abwägungen, Entscheidungen und ihre Folgen untersucht, 117 mit einer handlungstheoretischen Interpretation von Dramen bestens 113 Platon äußert sich dagegen skeptisch hinsichtlich der sittlichen Wirkung der Tragödie, die er eher für schmeichlerische Rhetorik hält (Grg. 502b-d). Im Staat (R. 595ab) soll sie als … … ausgeschlossen werden. 114 Die Fruchtbarkeit des Selbsterhalts in modernen Debatten und sein differenziertes Verhältnis zur Vernunft (vgl. Hans Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung. Frankfurt a.M. 1976) befreien ihn vom Ruch, eine bloße Neuauflage der stoischen Oikeiosislehre zu sein (für eine stoizierende Interpretation dieses Begriffs s. Klaus Müller, Selbsterhaltung. Ein stoisches Korrektiv spätmoderner Kritik am modernen Subjektgedanken. In: Alexander Arweiler, Melanie Möller (Hgg.), Vom Selbst-Verständnis in Antike und Neuzeit. Transformationen der Antike 8. Berlin 2008, 381-395). 115 Die semiotische Permanenz der Erinnerung soll anhand der Trümmer der Argo besprochen werden, von denen Iason nach Medeas Vorhersage in Euripides’ gleichnamigem Stück erschlagen werden wird (s. 3.2.5 Die Schlußszene mit Iason im Medea-Kapitel). 116 Zur neuzeitlichen Diskussion, ob und welche Moral die antike Tragödie habe, vgl. Kurt von Fritz, Antike und moderne Tragödie. Neun Abhandlungen. Berlin 1962, VII-XXIII. 117 Poet. 1450b 8-10, 1454a 17-19. Vgl. dazu Radke 2003: 27. <?page no="58"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 44 vereinbar. Da die Existenz der Struktur in der Performanz das von Strukturalismus 118 und nachfolgend Poststrukturalismus verbannte Subjekt 119 zwanglos in den Strukturalismus reimportiert, ist eine Handlungs- und Systemtheorie, deren Ausgangspunkt die subjektgebundene, praktisch-appetitive Intention ist, 120 mit einem strukturalistischen Ansatz der Dramenanalyse vereinbar. Dies gilt um so mehr, als Luhmann selbst in seiner letzten Vorlesung erwägt, die Spieltheorie könne sich als Unterform der Systemtheorie erweisen, da auch Spiele Grenzen, Strukturen und Operationen hätten. 121 Handlungs- und systemtheoretisch läßt sich das Scheitern, über das früher Tragik und Komik bestimmt wurden, 122 aus dem Konflikt der Intention eines kognitiv-emotionalen Systems mit den zu ihr kontingenten soziokulturellen und kosmologischen Systemen beschreiben. Der Begriff der Intention ist dabei grundlegend für die Analyse der Interaktion der Charaktere in Einzelszenen und das Funktionieren von Tragik und Komik auf dieser Mikroebene. Das Scheitern wird in der Tragik neben der subjektiven Intention auch auf die objektive Eliminierung bezogen. Die Termini Eliminierung sowie die Negation von Integrität und Intention sind also ein Versuch, das Scheitern begrifflich genauer zu fassen. Die Eliminierung beschreibt überdies präzise den Vorgang der Transgression und dessen, was die frühere Tragödientheorie unter dem Begriff ‚Katastrophe‘ 123 verwaltete, und verbindet so beide Termini. 118 Stefan Münker, Alexander Roesler, Poststrukturalismus. Stuttgart 2000, 20. 119 Für seine anti-postmoderne Rehabilitierung von philosophischer Warte s. Manfred Frank, Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis. Essays zur analytischen Philosophie der Subjektivität. Stuttgart 1991, 158-205. 120 Luhmann vertrat dagegen in phänomenologischer Nachfolge (Knudsen 2006: 17 f.) einen kognitiven Intentionsbegriff, den er sogar über das Ziehen von Unterschieden definierte (Sven- Eric Knudsen, Luhmann und Husserl. Systemtheorie im Verhältnis zur Phänomenologie. Diss. Hamburg 2006. Epistemata - Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Philosophie 414. Würzburg 2006, 313 ff.). 121 Niklas Luhmann, Einführung in die Theorie der Gesellschaft. Heidelberg 1 2005, 18. 122 Z.B. Schmitt Poetik 123 f., Jürgen Söring, Tragödie. Notwendigkeit und Zufall im Spannungsfeld tragischer Prozesse. Stuttgart 1982, 11. 123 Vgl. Söring 1982: 11: „tragische Katastrophe“. Die einschlägigen begriffsgeschichtlichen Lexika, ÄGB, HWP und HWR, weisen dieses Stichwort in der Tat nicht auf, wie von Olaf Briese und Timo Günther bemerkt (Katastrophe. Terminologische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Archiv für Begriffsgeschichte 51 (2009) 155-195, h. 155), die allerdings auch nicht herausarbeiten, ab wann die heutige schulpoetische negative Bedeutung sich durchsetzte. Eine Ausnahme bildet der Artikel ‚catastrophe‘ von Anne Souriau in Étienne Souriau (Hg.), Vocabulaire d’esthétique. Publié sous la direction d’Anne Souriau. Paris 1990, 322-324, der dokumentiert, daß die Begriffsverengung zum negativen Ausgang in Frankreich zwischen der Klassik des 17. Jh.s und der Encyclopédie stattfand, welche die Einstufung ‚Katastrophe‘ für Dramen mit gutem Ausgang (Corneilles Cinna oder Racines Bérénice) nicht mehr zuließ. ‚Katastrophe‘ wurde noch in der antiken Komödientheorie und bei Scaliger für die glückliche Wendung gebraucht, was wissenschaftsgeschichtlich die Kategorie ‚Restauration‘ dieser Arbeit rechtfertigt. Bei der Übertragung des Wortes von der Dramenanalyse auf die Lebens- und Geschichtsdeutung steht es für den üblen Ausgang, so bei Poseidonios, der das Ende des sizilischen Sklavenkriegs als ‚tragische Katastrophe‘ charakterisiert (Frg. 206 Th.), und Lukian, der schreibt, daß das Ende der „Tragödie Alexanders so [d.h. unrühmlich] und dies die Katastrophe des gesamten Dramas war“ [Übers. Timo Günther] (Alex. 60: .). <?page no="59"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 45 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 1.4.1 Methodische und forschungsgeschichtliche Problematik und Aktualität Die Tragik ist sowohl hinsichtlich ihrer Begriffs- und Forschungsgeschichte als auch des hier vertretenen Verständnisses das komplexeste Konzept, mit dem die vorliegende Untersuchung operiert. 124 Da es nicht an Überblicken über seine Ideengeschichte fehlt, 125 seien hier nur die Tragikkonzepte eingehender besprochen, an denen sich der für diese Arbeit zugrunde gelegte Begriff schärfen läßt. 126 Im folgenden wird vor diesem Hintergrund ein vierschrittiges Verfahren gewählt: Einleitend werden die Grundkoordinaten des hier vertretenen Verständnisses von Tragik vorangeschickt und die methodischen und forschungsgeschichtlichen Probleme, aber auch die Aktualität einer solchen Tragikkonzeption erörtert. Dieses Unbehagen an der Tragik speist sich wohl nicht zuletzt aus der weitgehenden Unzulänglichkeit etlicher eher unbekannter Ansätze der Nachkriegszeit, die ebensowenig wie die Etymologie dieses Wortes etwas zu seiner Bestimmung beitragen. Die drei nächsten Schritte besprechen dagegen, indem sie in lockerer chronologischer Ordnung die immense zeitliche Lücke schließen, substantiellere Ansätze. Dabei stellt die zweite Etappe, anknüpfend an Schiller und Hegel die konfliktorientierte Tragikkonzeption dieser Arbeit vor. Sie wird in einem dritten Schritt zu Submerkmalen und affinen Konzepten positioniert und in einem vierten anhand von Pascals und Szondis Tragikkonzeptionen über die verwandten, da ebenfalls konfliktbasierten Begriffe ‚Paradox‘ und ‚Dialek- (Briese und Günther sind zurückhaltender bei ihrer Deutung dieser beiden Stellen und sich selbst bei der Poseidonischen Semantik nicht sicher [2009: 163: „[T]ragische Wendung? […] Wendung des Tragischen? “]. Ersteres ist wohl wahrscheinlich.) Daneben sind Substantiv und Verb bei Aischylos und Sophokles für eine Wendung des dramatischen Geschehens anzutreffen, die v.a. bei Sophokles auch eliminatorischer Natur und bei Aischylos mit Leid verknüpft sein kann (Briese/ Günther 2009: 155-163). 124 Vittorio Hösle, Die Rangordnung der drei griechischen Tragiker. Ein Problem aus der Geschichte der Poetik als Lackmustest ästhetischer Theorien. Jacob Burckhardt-Gespräche auf Castelen 24. Basel 2009, 10 nennt das Tragische treffend „ein notorisches Vexierproblem“. 125 Reinhard Loock, Art. Tragische, das. HWP 10 (1998) 1334-1345. Roland Galle, Art. Tragisch/ Tragik. ÄGB 6 (2005), 117-171. Szondi 1964: 13-62 (Schelling bis Benjamin). Dietrich Mack, Ansichten zum Tragischen und zur Tragödie. Ein Kompendium der deutschen Theorie im 20. Jh. München 1970, 47-111. Mack bleibt wegen seiner Affinität zur christlichen Tragik (1970: 127-131) schwierig auf die polytheistische oder gar atheistische Tragödie der Antike zu übertragen. Ihrem Weltbild steht die posttheistische Moderne näher; doch zu deren Richtungen nimmt Mack, soweit er sie vorstellt, gleichzeitig eine markierte Distanz ein. Matei Chihaia, Institution und Transgression. Inszenierte Opfer in Tragödien Corneilles und Racines. Diss. München 2000. Romanica Monacensia 61. Tübingen 2002, 9-32 bietet eine gute Zusammenfassung verschiedener Tragödientheorien (vgl. dazu Ulrich Profitlich (Hg.), Tragödientheorie. Texte und Kommentare. Vom Barock bis zur Gegenwart. Reinbek bei Hamburg 1999). 126 Auch Bohrers Besprechung der modernen Tragikkonzepte von Hegel, Kierkegaard, Nietzsche und Benjamin arbeitet deren Verhältnis zu seinem Ansatz heraus (2009: 11-32). <?page no="60"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 46 tik‘ konturiert und schließlich in einem fünften von zeitlich späteren und andersgelagerten Ansätzen abgegrenzt. Die Bedeutung von ‚Tragik‘, ‚tragisch‘, ja selbst von ‚Tragödie‘ hat sich in der Alltagssprache stark abgeschliffen und bewegt sich im Deutschen im semantischen Feld ‚großes, unverschuldetes Unglück‘. Der inflationäre, unscharfe Gebrauch von ‚tragisch‘ und ‚Tragik‘ zeigt sich auch daran, daß selbst in der Literaturwissenschaft ‚tragisch‘ als Attribut zu Figuren der Tragödie tritt, etwa in der Junktur „tragischer Held“. 127 Dagegen ist ‚tragisch‘ in dieser Arbeit nicht bloß, wie auch bisweilen bereits in der Antike, das Adjektiv zu ‚Tragödie‘ oder deren Stilmerkmal ‚erhaben‘, 128 sondern hat eine eigene spezifische Bedeutung. 129 Die Tragik wird nämlich entsprechend dem handlungsstrukturalistischen Ansatz dieser Arbeit - wie auch die Gattung Tragödie - primär über die Handlung und ihre Spezifika bestimmt und als eine besondere Form der Transgression aufgefaßt, die der Kürze halber ‚tragische Transgression‘ genannt werden soll. Erst sekundär läßt sich ‚tragisch‘ auf die Figuren beziehen, welche die Tragik performieren und manifest machen. Das Verhältnis von Gattung und Tragik läßt sich folgendermaßen präzisieren: Die Handlungsstationen Transgression, Eliminierung (und teils auch die Restauration) resultieren aus einer Alterierung der Personenkonstellation und ihrer Rollen und charakterisieren die Handlungsstruktur der Tragödie qua Gattung, deren Grammatik sie konstituieren, wie die Verdoppelung zusammen mit der Transgression die Handlungsstruktur und Grammatik der Komödie. Diese Handlungsstationen bilden nur die Voraussetzungen eines tragischen (oder komischen) Handlungsverlaufs. Deshalb weist nicht jedes Drama, das der Gat- 127 Noch Fuhrmann übersetzt notgedrungen (Arist. Poet. 1453a 7) mit „So bleibt der Held [Hervorheb. von mir] übrig, […].“ Hellmut Flashar bietet dieselbe Übersetzung wie Fuhrmann (Die Poetik des Aristoteles und die griechische Tragödie. Poetica 16 (1984) 1-23, h. 14), nennt aber über ein Jahrzehnt später die Bezeichnung der einen Figur, um die es Aristoteles bei der Dramenanalyse gehe, in der Literatur als „Held“ „pauschal und irreführend“ (Die Poetik des Aristoteles und die griechische Tragödie. In: Ds. (Hg.), Tragödie. Idee und Transformation. Colloquium Rauricum 5. Stuttgart 1997, 50-64, h. 59). Schmitt Poetik 18 übersetzt dagegen treffend „Charakter“, Halliwell, noch treffender, da nicht mit ‚Charaktereigenschaften‘ zu verwechseln, „person“ ( 2 1999) bzw. „figure“ (1987). Die Quintessenz dieser Ausführungen stimmt mit Bernhard Zimmermann, Drama. In: Ds. (Hg.), Handbuch der griechischen Literatur der Antike. Bd. 1: Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit. HdA 7.1. München 2011, 451-474, 484-610, 664-800, h. 540-542 überein, der den Verzicht auf die Ausdrücke ‚tragischer Held‘ und ‚Held‘ insgesamt sowie ‚Person‘ zugunsten von ‚Figur‘ fordert und ‚Charakter‘ als Identität der Figur definiert, der sich „aus den Beziehungen zu den anderen Figuren im Text und aus ihrer Einstellung ( ) zu dem […] ‚tragischen Thema‘“ ergebe. 128 Für die Antike vgl. Reinhard Loock, Art. Tragische, das. HWP 10 (1998) 1334-1345, h. 1334. Richard B. Rutherford Greek Tragic Style: Form, Language and Interpretation. Cambridge 2012 hebt dagegen nicht auf ‚tragisch‘ als Stilmerkmal ab (in seinem Register fehlt denn auch ein Eintrag pathos o.ä.), sondern untersucht den Stil und die vielfältigen Merkmale des Sprachgebrauchs in der Tragödie. 129 Diese Unterscheidung zwischen Gattungsmerkmal und einer dort sogar zur „structure fondamentale de l’univers“ erhobenen Kategorie des Tragischen macht Jean-Marie Domenach, Le retour du tragique. Paris 1967, 21 auch im Französischen aus. <?page no="61"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 47 tung Tragödie zuzurechnen ist, zwingend Tragik auf. 130 Die Transgression bildet dabei ideengeschichtlich den Anknüpfungspunkt für die Schuld im Begriff der Tragik, die Eliminierung für das Leid und, zumeist in Verbindung mit dem Unverschulden des von der Eliminierung betroffenen Subjekts und v.a. Objekts, für die alltagssprachliche Verwendung von ‚tragisch‘, ‚Tragik‘ und selbst auch ‚Tragödie‘ für ein großes Unglück. Will man nun die Tragik inhaltlich präzisieren, so bietet sich chronologisch zuerst die Etymologie des Wortes ‚tragisch‘ an. Doch sie ist bis heute nicht befriedigend geklärt und kann deshalb wenig zur Klärung dieses Begriffs beitragen. Allerdings lassen sich die verschiedenen Hypothesen mit dem Konzept der Transgression in Einklang bringen. Bereits die volksetymologisch anmutende Deutung der als ‚Bocksgesang‘, 131 die Ulrich von Wilamowitz- Moellendorff aus Aristoteles’ Nachricht entwickelt, die Tragödie sei aus dem entstanden (Poet. 1449a 19-24), 132 legt eine Grenzüberschreitung des Menschen zum Tier zugrunde, die hier wegen ihres rituell-mimetischen Charakters die Integrität des Menschen nicht beeinträchtigt, während die antike Philosophie tierisches Verhalten des Menschen, das nicht als spielerisch markiert war, als Aufgeben seiner menschlichen Identität ansah. 133 Eine alternative syntaktische Deutung dieser entsprechend den griechischen Kompositionsgesetzen mehrdeutigen Herleitung der Substantive bzw. von ‚Bock‘ und ‚singen‘ 134 ist Walter Burkerts ‚Gesang anläßlich eines Bockopfers‘. 135 Diese Interpretation rückt das (Opfer-)Ritual in die Mitte des Tragödienverständnisses, die Transgression wird ihm untergeordnet, wenn man davon ausgeht, daß die sonst als Transgression zum Erhalt der gesellschaftlichen Ordnung verbannte eliminatorische Gewalt im Ritual religiös sanktioniert und legitimiert wird (s. 2.2.2 Ritual). Allerdings ist Burkerts Deutung des Kompositums alles andere als unumstritten. 136 130 Für die Unterscheidung von Gattung („tragic drama“) und Merkmal der Handlung eines Einzelstücks („tragedy“) s. George Steiner, The Death of Tragedy. New Haven, London 1996, xi, der nur wenigen erhaltenen griechischen Tragödien Tragik zubilligt und dabei fast dieselbe Auswahl wie die vorliegende Arbeit trifft (Sieben gegen Theben, OT, Antigone, Hippolytos und Bakchen). Ähnlich restriktiv ist in der modernen Forschung die Auswahl der attischen Tragödien, in denen eine im aristotelischen Sinne vorliege (s. 2.6.2 Mimesis und Aristoteles in der OT-Interpretation). 131 S. mit weiteren Nachweisen Bernhard Zimmermann, Art. Tragödie. DNP 12,1 (2002) 734-740, h. 734. 132 Euripides Herakles. Berlin 1889, Bd. 1: Einleitung in die attische Tragödie, 81-85. 133 S..2.2 Typen und Verteilung des furors im Drama im Kap. zu Senecas Phaedra. 134 Vgl. Joachim Latacz, Einführung in die griechische Tragödie. Göttingen 2 2003, 55. 135 Greek Tragedy and Sacrificial Ritual. GRBS 7 (1966) 87-121, h. 88. Dieser Deutung billigt Bernhard Zimmermann, Die griechische Tragödie. Eine Einführung. Düsseldorf 2 1992, 13 die größte Wahrscheinlichkeit zu. Unentschieden ist Christiane Sourvinou-Inwoods Zustimmung (Tragedy and Athenian Religion. Lanham, Md. 2003, 141): „There can be no doubt that Burkert’s interpretation of tragodos as equivalent to epi tragoi aidon, that is, either singer at the sacrifice of a billy goat, or singer for the prize of a billy goat, or both together, is right.“ 136 So hebt Latacz 2003: 55 f. darauf ab, daß Burkert selbst in seiner deutschen Version (und übrigens auch wörtlich identisch bereits in der englischen (S. 113): „Our information about goatsacrifice to Dionysus is scanty.“) die Beleglage für ein Bocksopfer beim Dionysoskult weit nüchterner beurteile („Griechische Tragödie und Opferritual“, in: Ds., Wilder Ursprung. Opfer- <?page no="62"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 48 John J. Winkler leitet dagegen die von ‚im Stimmbruch sein, die Stimmlage wechseln‘ ab. Die seien deshalb, da niemand im Stimmbruch singen könne, metaphorisch durch den Lebensabschnitt der (sozialen) Pubertät charakterisiert, wobei der Bock die Ambivalenz dieses Lebensabschnitts und die daraus resultierenden moralischen Risiken und disziplinarischen Herausforderungen verkörpere. 137 Diese These referiert Pierre Vidal-Naquet quellennah und führt sie weiter aus: Auch der Chor werde demnach metaphorisch als meckernd angesehen, was den Bezug zum Bock erkläre, dessen Stimme ständig im Stimmbruch zu sein scheine. Diese Auffassung stuft Vidal-Naquet aber im Popperschen Sinne als nicht falsifizierbar und damit auch nicht verifizierbar ein. 138 Sie ist insofern sehr reizvoll, als sie einem biologischen (und sozialen) Übergangszustand eine institutionelle Permanenz im tragischen Chor verleiht und den Tragödiengesang selbst mit einer permanenten dynamisch-produktionsästhetischen Grenzüberschreitung in Verbindung bringt. Sachlich krankt diese Herleitung daran, daß auch von abzuleiten ist, 139 also den Bereich der durchsichtigen Volksetymologie nicht verläßt. Den Vorzug der lectio difficilior bzw. obscurior hat es, von der hethitischen Wurzel tarkw-/ tarw- ‚tanzen‘, ‚rasen‘ herzuleiten. 140 Trifft sie zu, dann würde das Vorderglied von nicht nur allgemein eine Handlung, sondern eine dionysische Transgression bezeichnen. Gestützt wird diese Etymologie dadurch, daß das nächste semantische Äquivalent der Transgression, die , ebenfalls von einem hethitischen Etymon (*hu(wa)ppar- ‚Mißhandritual und Mythos bei den Griechen. Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek 22. Berlin 1990, 13-39, h. 25: „Unsere Zeugnisse über das Bocksopfer für Dionysos sind spärlich.“). 137 The Ephebe’s Song: Tragôidia and Polis. In: Ds., Froma I. Zeitlin (Hgg.), Nothing to Do with Dionysos? Athenian Drama in its Social Context. Princeton 1990, 20-62, v.a. 58-62. 138 Retour au chasseur noir. In: Jean-Pierre Vernant, Ds., La Grèce ancienne. Bd. 3: Rites de passage et transgressions. Paris 1992, 248. 139 Frisk II 916 s.v. , Chantraine 1088 s.v. , Beekes 1498 s.v. . 140 Diese Etymologie wurde von Anton Bierl, Der Chor in der Alten Komödie. Ritual und Performativität. Unter besonderer Berücksichtigung von Aristophanes’ Thesmophoriazusen und der Phalloslieder fr. 851 PMG. Habil. Leipzig 1998. BzA 126. München 2001, 33 Anm. 54 für die Drameninterpretation erschlossen. Er beruft sich auf Konrad H. Kinzl, Zur Vor- und Frühgeschichte der attischen Tragödie. Einige historische Überlegungen. Klio 62 (1980) 177-190, h. 180, der sich hierfür seinerseits - auch nach Bierls Referat - an Oswald Szemerényi angelehnt hat (The Origins of Roman Drama and Greek Tragedy. Hermes 103 (1975) 300-332, h. 319- 330). Szemerényi rekonstruiert für und heth. tarkw-/ tarwzusammen mit lat. torvus ein IE Etymon *torgwos (1975: 326 f.). Diese Deutung hat in den etymologischen Wörterbüchern kaum Echo und noch weniger Beifall gefunden. Aus chronologisch verständlichen Gründen referiert Frisk II 917 s.v. die antike und moderne Ableitung „von dem Bock, der als Preis dem Sieger in dem ältesten dramatischen Agon zugefallen sein soll“. Beekes II 1498 s.v. bietet bloß eine wörtliche Übersetzung von Frisks referiertem Artikel. Ebenso hält er exakt wie dieser s.v. (II 916 bzw. II 1497) für die nach demselben Muster wie zu verkürzte Form von . Chantraine 1088 s.v. vertritt ebenfalls diese Herleitung, referiert aber 1089 s.v. zusätzlich noch die Deutung ‚wer wegen eines Bockopfers singt und tanzt‘ und verweist als einziger auf Szemerényi, dessen Erklärung er allerdings „hardie“ nennt. Pokorny (II 133) und Wodtko (778) berücksichtigen nicht. <?page no="63"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 49 lung‘) 141 hergeleitet und die ältere Ableitung von idg. *ud- ‚nach oben‘ + *g w r ‚schwer‘ 142 verworfen wird, welche die Semantik des Über(schreitens) und präziser noch einer destruktiven Kausalität birgt, die hinter Reinhardts tragikaffinem Konzept des Dämonischen 143 und Szondis Tragikverständnis steht. 144 Ähnlich affin, aber unzulänglich sind die meisten Versuche, die in der Nachkriegsgeschichte zu Bestimmung des Tragischen unternommen wurden und von denen die wenigsten der vermeintlichen modernen Heimat der Tragik entstammen, dem deutschen Sprachraum (George Steiner, Jürgen Söring, Bradley Dom Berke, Richard B. Sewall, Domenach). Diese sollen im folgenden besprochen und auf formale oder inhaltliche Parallelen zum vorliegenden Ansatz abgeklopft werden. Ins Auge sticht bei ihnen die Universalität des Tragischen, das epocheübergreifend auf alle Bereiche des menschlichen Lebens Anwendung findet, nicht nur literarisch-fiktionale Artefakte, sondern auch gut hegelianisch die Geschichte. 145 Auch der geschichtsphilosophische Versuch entwickelt wie die vorliegende Arbeit und die meisten anderen, nur literarischen Tragikkonzepte zuerst theoretisch einen Begriff des Tragischen, der anschließend - nur an der Gattung Tragödie 146 oder der Texten der gesamten Literatur 147 - exemplifiziert wird. Am nächsten steht dem Projekt der vorliegenden Arbeit zumindest formalprogrammatisch Bradley Dom Berke, 148 der auf sprachwissenschaftliche Grundbegriffe („grammar“) und Verfahren sowie die Semiotik (1982: 1) und Greimas’ Aktantenmodell zur Analyse der Tragödie und Beschreibung des Tragischen zurückgreift und sein Verständnis des Tragischen gegenüber anderen Lebenseinstellungen (Nihilismus) abgrenzt, die im Falle des Existentialismus (1982: 6) auch in dieser Untersuchung herangezogen werden. Dabei berührt Berke einen Punkt, der erst bei der Diskussion über die weitreichende Entbzw. Abwicklung des antiken Dramas in Senecas Tragödien relevant werden wird: Anders als die genannten Richtungen setzt die Tragik systemisch-strukturelle Werte und Legitimitäten voraus. Mit dem Ausdruck ‚tragischer Mythos‘ bezeichnet Berke die tragischen Handlungselemente innerhalb des Plots einer Tragödie, die nicht mit diesem in seiner Gesamtheit identisch sind (1982: 26). Aus einem ‚Lexikon‘ genannten Korpus von Tragödien, die von Sophokles, Shakespeare und Racine 141 Oswald Szemerényi, The Origins of the Greek Lexicon: Ex oriente lux. JHS 94 (1974) 144- 157, h. 154. Diese Herleitung hat noch keinen Eingang in Beekes II 1524 f. s.v. gefunden, der bloß eine vorgriechische Etymologie vermutet und Frisks Ansicht referiert. Für eine direkte Herleitung aus dem Idg. s. Alexander S. Nikolaev, Die Etymologie von altgriechischem . Glotta 80 (2004) 211-230. 142 Frisk II 954 s.v. Chantraine 1110 s.v. referiert Frisk und Szemerényi. 143 S. 1.4.6 Arbeitsdefinition, Submerkmale und Parallelfiguren der Tragik. 144 S. 1.4.6 Arbeitsdefinition, Submerkmale und Parallelfiguren der Tragik und 1.4.7 Tragik, Paradox und Dialektik: Pascal und Szondi. 145 Domenach 1967: 75-205. 146 Jürgen Söring, Tragödie. Notwendigkeit und Zufall im Spannungsfeld tragischer Prozesse. Stuttgart 1982. Söring erhebt allerdings ausdrücklich nicht den Anspruch, das individuelle Tragikkonzept der von ihm besprochenen Autoren herauszupräparieren (1982: 14). 147 Richard B. Sewall, The Vision of Tragedy. Tragic Themes in Literature from the Book of Job to O’Neill and Miller. New York 3 1990. 148 Tragic Thought and the Grammar of Tragic Myth. Bloomington (Ind.) 1982. <?page no="64"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 50 stammen, versucht er nun eine Grammatik des tragischen Mythos zu destillieren. Diese Grammatik konzipiert er - im Gegensatz zum taxonomischen und funktionalistischen Ansatz der vorliegenden Arbeit - nach dem Modell von Chomskys GTG, da sie seiner Meinung nach sogar die Generierung weiterer Tragödien erlaube (1982: 1). Chomsky steht auch Pate für Berkes Konzeption der tragisch-ästhetischen Bühnenkommunikation (1982: 22-24: „innate“), wobei er den Unterschied zwischen Mimesis und Symbol und dessen Polyvalenz in der Tradition von Peirce’ Terminologie ignoriert. Sein Konzept der Tragik als einer Selbstvernichtung (1982: 9, 24) ist durchaus mit unserem Verständnis als einer situativ nezessitierten autoreferentiellen Integritätsverletzung vereinbar und hebt wie die vorliegende Arbeit auf die kriminell-transgressive und destruktive Devianz des tragischen Subjekts gegenüber der sozialen Ordnung ab (1982: 10). Doch bestimmt Berkes Grammatik die Funktionen der Figuren ähnlich vage wie Souriau (s. 1.1 (Antikes) Drama und Strukturalismus: Zur Handlungsstruktur) - unausgesprochen nach dem weitgehend kausalen Prinzip von Charles J. Fillmores Kasusgrammatik - über die praktische Rolle im Handlungsverlauf (1982: 28-32). Wie Souriau schematisiert er die Handlungsstruktur algebraisch (für Euripides’ Hippolytos und Racines Phèdre s. S. 83-86), indem er sie in 27 verschiedenen Möglichkeiten als Abfolge dieser mit Versalien verschlüsselten Funktionen darstellt (1982: 32-37), die er in natürliche Sprache übersetzt (1982: 38-43). Auch das Tragikverständnis der weiteren Studien zu diesem Thema widerspricht nicht dem hier vorgestellten, sondern wird von ihm terminologisch und konzeptionell weiterentwickelt. Die Parallelen bewegen sich also im inhaltlichen Bereich. Dies gilt auch für Domenach (1967: 5-69), der weniger originell als Berke, aber durch die Anlehnung an Tragikkonzeptionen der deutschen Romantik (Hölderlin) und des deutschen Idealismus (Hegel) klarer umrissene Konzepte als der abschließend vorzustellende Söring aufweist, was auch auf die Einbettung des begrifflichen Umfeldes der Tragik (Dialektik, unfreiwillige Schuld [1967: 21-31; 25: „faute commise innocemment“] 149 und eingeschränkte Freiheit [1967: 26; 32-45]) und dieses selbst (Theater) zutrifft. Sie wird von der Transgression bzw. abgegrenzt (1967: 25), was auf die hier untersuchten Tragödien zutrifft, in denen sich Kausalitäten und Modalitäten der Transgression bzw. nachweisen lassen, die sich auf derselben analytischen Ebene wie das bewegen, was die vorliegende moderne Interpretation als tragisch auffaßt. Zutreffend verbindet sein Tragikverständnis Hegels und Vernants Kategorien: Für ihn sind der Bereich des Tragischen die Widersprüche, doch wahre es dabei die Ambiguität, weil die klare Abgrenzung der Dialektik ihr fehle (1967: 6). Donemachs Profil legt statt einer abgrenzenden Vorstellung im Haupttext eher eine beiläufige und beifällige Einordnung in den Fußnoten nahe. Sörings Tragödientheorie geht wie die vorliegende Arbeit entsprechend dem Gattungskonstituens vom Handeln aus, das er im Homerischen Spannungsfeld mit göttlichen Intentionen und Interventionen sowie schicksalhaften Bestimmungen und Grenzziehungen positioniert (1982: 20-30). Er vertritt damit ein 149 1976: 26: „La faute n’est pas une simple conséquence de ma volonté.“ <?page no="65"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 51 Konzept, das Tragik ausschließlich suprasystemisch definiert, während die vorliegende Untersuchung sie hauptsächlich über die Soziabilität der condicio humana an eine anthropologische und soziostrukturelle Ebene angebunden (s. 1.4.3 Tragik als (Integritäten-)Konflikt: Hegel und Schiller). Sörings Tragikverständnis kommt der Fatalität nahe - in diese Richtung weist auch der auf S. 52 aufgegriffene Untertitel „Notwendigkeit und Schicksal“. So wertet er (1982: 51) Tyche als „ein Indiz der ausdrücklich reflektierten Abhängigkeit von unbegriffenen Mächten, deren undurchschaubar gewordenem Walten der Mensch sich ohn-mächtig [Bindestrich im Orig.] ausgesetzt sieht.“ Dieses existentialistisch angehauchte Tragikverständnis findet sich in den hier untersuchten attischen wie römischen Tragödien nicht wieder, in denen die Willensfreiheit gewahrt bleibt und der Mensch - selbst im Bewußtsein eliminatorischer Konsequenzen - eine Wahl treffen kann. Söring unterfüttert sein Tragikverständnis nachfolgend allerdings mit an Hegel angelehnten Interpretationen verschiedener Fragmente Anaximanders und Heraklits (darunter der beiden eingangs des vorangehenden Abschnitts (1.3) vorgestellten Fragmente) sowie mit der Besprechung eines Passus aus einer Pindar-Ode (Ol. 12) (1982: 33-49). Sein Verständnis bewegt sich also im Bereich eingeschränkter und sogar sich selbst einschränkender Subjektivität (immerhin spricht er von „Selbstverstrickung des Handelns“ [1982: 50]), was der Desubjektivierung als Tragikmerkmal in der vorliegenden Arbeit entspricht. Eine ähnlich fatalistische Verkürzung liegt auch George Steiners Verständnis von Tragik zugrunde, der sie als „the dramatic testing of a view of reality in which man is taken to be an unwelcome guest“ bzw. „metaphysics of desperation“ (1996: xi) auffaßt. Es formuliert die schicksalhafte Überwältigung, die Reinhardt mit dem Dämonischen einer äußeren, göttlichen Kraft zuschreibt, von der Warte des betroffenen Menschen und steht zwischen dem archaischen Pessimismus und der Tragik als Desubjektivierung. Daß diese beiden Kategorien nicht identisch sind und Steiner damit das Wesen des Tragischen in der attischen Tragödie verfehlt, zeigt ihr paralleles Auftreten in Aischylos’ Persern. Insgesamt bieten also weder Berke noch Söring noch Steiner eine Möglichkeit, das hier zu entwickelnde Tragikverständnis zu bereichern oder gar zu präzisieren. Das gilt auch weitgehend für Sewall, der gleich zu Beginn das Tragische zu einer Stimmung und einem Lebensgefühl erklärt (vgl. S. 4) und seinen Verzicht auf eine Definition der Tragödie erklärt (1990: xi), die er vage über Schicksal(skampf), Leid und Klage bestimmt (1990: 6). Seine Methode, Begriffe aus und am Text zu entwickeln (1990: xii), wird in dieser Arbeit allenfalls für paratragische Handlungsmerkmale wie Perversion oder Paradoxie zur Anwendung kommen. Wenn er die Tragödie über die zeitweilige Störung der Ordnung bestimmt (1990: 1), dann stimmt er inhaltlich mit der konjunkturalen Transgression der strukturellen Ordnung überein, welche diese Untersuchung zur Grundlage der Tragödie macht. In einem Punkt, welcher der Gerechtigkeit und Vollständigkeit halber nicht unerwähnt bleiben soll, bietet er tatsächlich eine Präzisierung zum Tragikverständnis der vorliegenden Arbeit. Er sieht die tragische Figur in einer Jaspersschen Grenzsituation an den Grenzen ihrer Souveränität (1990: 5). Damit fügt er die Außensicht auf die existentielle Integrität hinzu, die in der tragischen Entscheidungssituation auf dem Spiel steht <?page no="66"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 52 und durch das Treffen der transgressiven Entscheidung teilweise verletzt wird, und knüpft sie an den für die Transgression grundlegenden Begriff der Grenze. Die Unzulänglichkeit der hier vorgestellten Versuche der Nachkriegszeit (Szondis substantieller soll später gesondert besprochen werden, da er den vorliegenden Ansatz dialogisch bereichern kann) erklärt wohl das grundsätzliche oder methodische Unbehagen an der Tragik, das nachfolgend als methodischer Einstieg in die eigentliche Wesenserörterung vorgestellt und diskutiert werden soll. Den vorgestellten Tragikkonzepten und auch der vorliegenden Arbeit ist gemeinsam, daß in ihnen die Tragik ein modernes Deutemuster ist, dem die Fähigkeit zugeschrieben wird, Tiefenstrukturen der antiken Tragödientexte - oder, im Falle der vorgestellten Konzepte, anderer Zeiten, literarischer Texte oder sogar der Geschichte - zu erhellen, ohne zwingend vorauszusetzen, daß diese Muster von der Binnenhermeneutik der Dramen expliziert werden. Gegen diese Auffassung lassen sich in der aktuellen Diskussion zumindest systematisch zwei Vorbehalte feststellen: Ohne das Tragische in die Asservatenkammer der Geistesgeschichte zu verbannen, mahnt Simon Goldhill seine Historisierung an, da es ein Produkt der deutschen Romantik sei, und fordert die stärkere Berücksichtung des soziokulturellen Rahmens der attischen Tragödie bei deren Interpretation. 150 Diese beiden historisierenden Hinweise sind gewiß ebenso richtig wie Goldhills folgende Warnungen, vorschnell über das Tragische zu urteilen. Daß er bei ihnen bereits nicht bloß auf den sozialen Kontext, sondern auf die Dramentexte selbst, nämlich die Diskrepanz zwischen ihrer Differenzierung und den Platitüden zurückgreift, mit denen die Dramencharaktere mit Leid und sozialer Unruhe zurechtzukommen versuchten, liest sich wie ein konzedierender Fingerzeig auf den handlungsstrukturalen Ansatz der vorliegenden Arbeit und ihren Anspruch, den Dramentexten gegen ihr Aufgehen im soziokulturellen Kontext zu ihrem Recht als autonomes Kunstwerk zu verhelfen. Inwieweit die strukturalistische Aktualisierung und Differenzierung von Tragikkonzepten des deutschen Idealismus, welche die vorliegende Arbeit unternimmt, deren heuristischen Wert aufleben läßt sowie zeit- und textgemäß ist, mag jeder Leser selbst beurteilen. Dies gilt letztlich auch für die Parade des zweiten Einwandes, der nicht grundsätzlicher, sondern methodischer Natur ist. Pierre Judet de la Combe warnt davor, daß selbst Deutungen der Tragödie, die auf den philosophisch verwurzelten Tragikbegriff verzichteten, noch implizit und unreflektiert Interpretamente eines solchen philosophisch aufgeladenen Tragikbegriffs enthielten, ja diese reifizierten. Selbst die Wahl zwischen den beiden seiner Meinung nach möglichen Herangehensweisen an die Tragödie, 151 der rezeptionsästhetischen, die den Sinn in die Hände des Zuschauers lege, und der werkästhetischen, die den Sinn in der Handlung ansiedle und so die Möglichkeit der Tragik schaffe, be- 150 Generalizing About Tragedy. In: Rita Felski (Hg.), Rethinking Tragedy. Baltimore, Md. 2008, 45-65, h. 61 f. Peter Szondis Versuch über das Tragische (Frankfurt a.M. 2 1964, Näheres dazu s. 1.4.6 und 1.4.7) bemüht Goldhill 2008: 52 nur für das Diktum, seit Aristoteles gebe es eine Poetik der Tragödie, aber erst seit Schelling eine Philosophie des Tragischen (1964: 151). 151 Den Gegensatz einer philosophischen Lektüre der attischen Tragödie und ihrer rezeptionsästhetischen Deutung, die emotional gefaßt wird, spitzt Bohrer 2009 zu (s. 1.4.8). <?page no="67"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 53 ruhe auf einer impliziten Philosophie. 152 Diesem aporetischen Dilemma suchte er durch einen Rückgriff auf die Binnenhermeneutik zu entkommen (2000: 105- 107). 153 Sein Vorschlag lenkt den Blick auf einen eminent wichtigen Aspekt, weil so die Texte selbst zu Wort kommen, und verdient Beachtung und Berücksichtigung bei der Interpretation. Und doch ist dies nur ein scheinbarer Ausweg, da auch hierbei Konzepte identifiziert werden, die nicht der Literatur selbst entstammen, zumal wohl keine Tragödie selbst das Lexem ‚tragisch‘ bietet. ‚Tragisch‘ ist bereits in seinen Anfängen ein Wort der philosophischen Sprache, ohne daß damit sein Inhalt entsprechend dem -Konzept, welches das Wesen aus der Herkunft erklärt, auf diese Disziplin festgelegt werden soll. Daß die Sache in der griechischen Tragödie entstanden ist, 154 ändert nichts daran, daß sie begrifflich erst von der Philosophie erfaßt wurde. Schließlich war der erste bedeutende Repräsentant von Reflexionen über die Tragödie und das Tragische der Philosoph Aristoteles, mit dem die Begriffsgeschichte des Tragischen bereits in der Antike einsetzt (s. 2.1.2 und Tragik in 2.1 Aristoteles’ Poetik). Judet de la Combes Abneigung gegen philosophische Interpretationsmodelle ist nicht nur aus diesem begriffsgeschichtlichen, sondern auch einem strukturellen Grund m.E. nicht gerechtfertigt. Die Philosophie ist nämlich nach meinem Dafürhalten dank ihrer präzisen und differenzierten Terminologie durchaus in der Lage, elaborierte Deutungsmuster zu liefern, die geeignet sind, die Komplexität literarischer Texte zu beschreiben. Dies gilt auch in besonderem Maße für ein derart vielschichtiges und facettenreiches Phänomen wie das Tragische. Es wird hier - entsprechend Judet de la Combes Unterscheidung der Interpretationsmöglichkeiten der Tragödie - in der Handlungsstruktur 155 verortet. Diese ist an sich insofern nicht rein philosophisch, als sie durchaus eine ästhetische Seite hat und nicht einmal über die von der Handlung performierte Mimesis einen Wahrheitsanspruch erhebt. Daß das hier vertretene Tragikverständnis dasjenige Hegels strukturalistisch weiterschreibt, sei vorweg eingeräumt. Inwieweit dadurch ein Erkenntnisgewinn erzielt wird und ob dieses Tragikverständnis nicht doch kryptoneostoisch ist (s. 1.4.8 Alternative Tragikkonzepte: Nietzsche, Benjamin, Bohrer, A. Schmitt), mögen die Leser selbst entscheiden. Eine klare begriffliche Abgrenzung (wenn auch nicht vollständige Trennung) des hier entwickelten Tragikverständnisses als strukturell bedingte Modalität der Transgression von Aristoteles’ -Begriff und von dem Konzept der tragischen Schuld (s. 2.1 Aristoteles’ Poetik und 2.1.2 und Tragik) soll Goldhills berechtigten Bedenken methodisch Rechnung tragen und gleichzeitig 152 Entre philosophie et philologie. Définitions et refus du tragique. In: Carmen Morenilla, Bernhard Zimmermann (Hgg.), Das Tragische. Drama (Beiträge zum antiken Drama und seiner Rezeption) 9. Stuttgart, Weimar 2000, 97-107, h. 97-99. 153 Er bespricht A. Ag. 1560-75, wo der Chor und Klytaimnestra den Mord an Agamemnon kommentieren, und E. Med. 128-130, wo die Amme die kommende Katastrophe analysiert und wo Judet de la Combe Abstriche an der binnenhermeneutischen Tragik macht. Eine solche Analyse seines tragischen Zwiespalts nimmt weiterhin in A. Ag. 205-217 der tragische Akteur selbst vor, nämlich Agamemnon, dessen Rede wörtlich in einem Chorlied zitiert wird. 154 Domenach 1967: 7. 155 So bereits Peter Szondi, Versuch über das Tragische. Frankfurt a.M. 2 1964, 61. <?page no="68"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 54 den Grund für eine Anwendung dieser erneuerten Tragikkonzeption auf die Phänomene vornehmlich der attischen Tragödie legen. Daß Aristoteles in einem eigenen Kapitel behandelt wurde, ist nicht nur dem Streben nach einem systematischen, übersichtlichen Aufbau geschuldet, sondern hat auch inhaltliche Gründe: Seine Tragödienkonzeption ist anders als Hegels Tragikverständnis, das in dieser Arbeit weiterentwickelt werden soll, wenig ergiebig für das Thema Konflikt. 156 Ein konfliktbasiertes Tragikverständnis abstrahiert und verinnerlicht den Konflikt, der sonst im Drama zwischen den Bühnenfiguren ausgetragen wird. Doch bereits dieser Konflikt ist nicht nur ein sozialer, bei dem die Kontrahenten in einer ähnlich exklusiven Konstellation wie bei der Tragik einander ausschließende Ziele verfolgen, sondern hat auch eine psychologische Seite, da ihre Intentionen in Widerspruch zueinander treten. Unvereinbarkeit und Widersprüchlichkeit, auch der Intentionen einer Figur untereinander oder zum Handlungsausgang, 157 lassen sich durchaus für das Tragikverständnis der vorliegenden Arbeit fruchtbar machen. 1.4.2 Tragik als Desubjektivierung Aus dem vorangehenden Abschnitt nehmen wir die Verortung in der Handlungsstruktur und den Konflikt als Merkmale einer tragischen Transgression mit. Eine generische Grundvoraussetzung für eine tragische Transgression, die in der Gattung Tragödie wurzelt, besteht darin, daß die tragische Transgression mit einer existentiellen Eliminierung oder elementaren physischen Integritätsverletzung einhergeht. Das strukturalistische Begriffspaar Struktur und Konjunktur ist hilfreich, um die Besonderheit der tragischen Transgression - auch gegenüber der bloßen Transgression - und die Rolle zu präzisieren, welche die Handlungsstruktur und der Konflikt dabei spielen. Dazu muß man etwas weiter ausholen: Jede Transgression wurzelt in Friktionen zwischen individuellem Handeln und gesellschaftlichen Normen (s. 1.3 Eliminierung, Restauration, Integrität und Intention), doch sind die Diskrepanzen zwischen Struktur und Konjunktur im Falle einer tragischen Transgression komplexer. Bei der bloßen Transgression sind sie lediglich diagnostisch und nomothetisch, im Fall der tragischen Transgression kommt es beim Verhältnis von Konjunktur und Struktur auf die Kausalität der Transgression an. Die Transgression konstatiert das objektive 156 Michelle Gellrich, Tragedy and Theory. The Problem of Conflict since Aristotle. Princeton 1988, ix. 157 Daß die Tendenzen von Pentheus’ Handeln „nicht einer verbrecherischen Gesinnung entspringen, sondern in ihrer Motivation nachvollziehbare Verfehlungen von an sich guten Handlungsintentionen sind“ (2003: 31), ist neben der Diskrepanz zwischen dem, was die Hauptfigur Pentheus subjektiv erwartet und dann objektiv durch Dionysos erfährt, das handlungsnächste Kriterium, das Gyburg Radkes Skizze eines aristotelisierenden Tragikverständnisses (dazu wird - gewiß einschlägig - nur pauschal auf das 13. Kap. der Poetik verwiesen) von Euripides’ Bakchen herausarbeitet (Tragik und Metatragik. Euripides’ Bakchen und die moderne Literaturwissenschaft. Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 66. Berlin 2003, 31-34). <?page no="69"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 55 factum brutum und die Faktizität der Normverletzung, 158 die Tragik fragt nach den situativen und subjektiven (Hinter-)Gründen ihres Zustandekommens. Diese beiden Ebenen der tragischen Transgression finden ihren Niederschlag in der klassisch-modernen Definition der Tragik, bei ihr werde die Bühnenfigur durch die Transgression unschuldig schuldig. 159 Das Paradoxon der Tragik kommt hier durch die lexikalische Formulierung zustande (und nicht, wie hier angenommen (s. 1.4.6 Arbeitsdefinition, Submerkmale und Parallelfiguren der Tragik), durch das Scheitern der Intention): Die Schuld liegt (wie die Transgression) auf der objektiven, die Unschuld auf der subjektiven Ebene. (Die Kategorie der Schuld ist allerdings ungeeignet, um die Tragik, zumindest in der antiken Tragödie, zu beschreiben, und soll deshalb hier nicht zum Einsatz kommen.) Das Begriffspaar von Struktur und Konjunktur erlaubt es auch, im Verbund mit dem Konzept des Subjekts eine erste, etwas weiter gefaßte Definition der Tragik zu formulieren, die im weiteren Verlauf durch den Integritätenkonflikt präzisiert werden soll: Tragisch ist eine Transgression dann, wenn sie auf eine konjunkturelle Einschränkung der Funktion als ethisch-rationales Subjekt des Transgressors zurückgeht, die in der Struktur der Handlung wurzelt. 160 Sie schlägt sich in der Konjunktur der Transgression nieder und wird von der Sozialstruktur sowie Personen- und Konfliktkonstellation wesentlich mitbestimmt, die wie im Falle der bloßen Transgression durch den Fortfall oder das Hinzutreten von Figuren beeinflußt werden. Diese klobige Definition erfordert eine nähere Erläuterung. Sie kommt dadurch zustande, daß verschiedene Konstellationen als untragisch ausgeschlossen werden müssen. Eine Transgression, die der uneingeschränkten Souveränität des Betreffenden entspringt, ist per se nicht tragisch, sondern moralisch böse. Untragisch ist die Transgression auch, wenn die Beeinträchtigung des Status als ethisch-rationales Subjekt in die Souveränität des Transgressors fällt, weil ein selbstverursachter oder selbst zu verantwortender Defekt wie im Falle der Trunkenheit oder bei Senecas Phaedra vorliegt, die grundlos eine transgressive Leidenschaft aufkeimen läßt, statt sie wie Euripides’ Phaidra, wenn auch erfolglos, zu bekämpfen. Daß die Einschränkung situativ-konjunktural ist, schließt alle Fälle aus, in denen sie in der Struktur des Transgressors wurzelt, die wesenhaft über die Faktoren bestimmt ist, die über seinen Status als ethisch-rationales Subjekt entscheiden. Solche strukturellen Defekte, die in der Person des Betreffenden selbst liegen und seinen Status als ethisch-rationales Subjekt a limine untergraben, sind verminderte intellektu- 158 Dies wird bei der Interpretation des OT (s. 2.4.5 Transgression und Orakel und 2.5 Körperliche Integritätsverletzung und räumliche Eliminierung als Restauration? der Interpretation dieser Tragödie) und der Bakchen (s. 4.4 Transgression und Eliminierung) relevant werden. 159 Vgl. Kurt von Fritz, „Tragische Schuld und poetische Gerechtigkeit in der griechischen Tragödie“, in: Antike und moderne Tragödie. Neun Abhandlungen. Berlin 1962, 1-112, h. 12. Noch nach Ilona Opelt liegt eine Schicksalstragödie vor, wenn der Protagonist unschuldig-schuldig werde (Senecas Konzeption des Tragischen. In: Eckard Lefèvre (Hg.), Senecas Tragödien. Wege der Forschung 310. Darmstadt 1972, 92-128, h. 92 f.). Diese Definition des Tragischen über das Schicksal verkürzt jenes. 160 Schon von Fritz 1962: 12 hob darauf ab, daß die Unvollkommenheit der Hauptfiguren der attischen Tragödie dadurch zustande komme, daß sie „in Situationen gestellt [würden], die über ihre Kraft und ihre moralische Einsicht hinausgehen.“ <?page no="70"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 56 elle Leistungsfähigkeit und charakterliche Defizite. Eine situative Einschränkung der Kognition liegt dagegen bei Oidipus vor, 161 dem seine soziale Umwelt wichtige Informationen über seine Herkunft vorenthält. Oidipus will den geweissagten Verbrechen ausweichen, bringt sich jedoch genau dadurch in die Lage, sie unwillentlich und unwissentlich zu begehen. Der konjunktural-kontingente Charakter der Dysfunktion als ethisch-rationales Subjekt impliziert, daß der Transgressor außerhalb der transgressiven Konjunktur, die in der Handlungsstruktur wurzelt, durchaus in der Lage ist, als solches zu agieren und zu funktionieren. In vielen Tragödien (u.a. im OT) stellt der Transgressor dies in der Anagnorisis unter Beweis. Die Struktur des Transgressors hat dabei nichts mit äußeren Charakteristika wie Körpergröße und -kraft oder Abstammung zu tun. Auch sie werden durch die Forderung nach einer situativen Einschränkung des Subjektsstatus von der tragischen Transgression ausgeschlossen. Daß die situative Einschränkung in der Handlungsstruktur wurzelt, überführt kontingentsituative Defekte des Transgressors als untragisch, etwa einen Unfall, der die sinnliche und mentale Wahrnehmung der Umwelt verzerrt. Fassen wir zusammen: Tragisch ist eine Transgression dann, wenn sie weder der Souveränität noch sozialen Akzidentien des Transgressors oder seiner körperlichen, geistigen oder charakterlichen Verfassung entspringt, sondern einzig auf einer situativen Einschränkung seiner Funktion als ethisch-rationales Subjekt beruht, die in der Handlungsstruktur und nicht in einem souveränen oder kontingenten konjunkturalen Defekt des Transgressors wurzelt. Die Verortung der tragischen Desubjektivierung in der Handlungsstruktur bedeutet keinen monokausalen Sozialdeterminismus, welcher einseitig den Grund für das Verbrechen entsprechend der Milieutheorie in der sozialen Umwelt erblickt, sondern geht von einer Interaktion zwischen dem tragischen (De)Subjekt und seiner sozialen Umwelt aus. Mag die Willensfreiheit bei manchen Formen der Desubjektivierung nicht gewahrt sein (Wahn), so ist sie es doch bei zumindest einem Schritt des tragischen Subjekts innerhalb der Handlungsverkettung, die zur Transgression führt. Wenigstens diachron ist selbst diese Tragik damit faktisch eine Form der Selbstaufhebung des Subjekts, da das Subjekt zu ihr durch sein Handeln beiträgt, selbst wenn dieser Aspekt nicht auf der Handlungsoberfläche und in der Binnenhermeneutik sämtlicher tragischer Handlungsverläufe deutlich zutage treten sollte. Theoretisch wird innerhalb des hier vorgestellten Tragikverständnisses die Selbstaufhebung durch das Konzept der Performanz unterstützt. Tragik liegt bei diesem Modell dann vor, wenn ein rational-moralisches Subjekt sich selbst durch seine Performanz aufhebt, die dadurch notwendig ist, daß das Subjekt nur autoperformativ existiert. Diese Performanz impliziert Rollen und Integritäten (Näheres s. den folgenden Unterabschnitt) und involviert andere menschliche, aber auch göttliche Subjekte. Dies entspricht nicht nur der skizzierten Personenkonstellation, sondern beruht auch auf der dramatischen Mimesis der Gesellschaft und den Grundgegebenheiten der condicio humana (für eine genauere Formulierung mit Hilfe des strukturalisti- 161 Wolfgang Schadewaldt, Der «König Ödipus» des Sophokles in neuer Deutung. In: Ds., Hellas und Hesperien. 2 Bde. Zürich 2 1970, Bd. 1, 466-476, h. 467. <?page no="71"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 57 schen Zeichenbegriffs s. den nächsten Unterabschnitt). Das Handeln dieser anderen Akteure ist kontingent zu demjenigen des betreffenden Subjekts und beeinträchtigt dieses und seine Performanz. Die Tragik wurzelt also in der Systemintegration und sozialen Einbettung des Menschen, die Teil der condicio humana ist, 162 ohne daß sie deshalb im Einzelfall durch diese nezessitiert würde. Gleichwohl ist es wegen der Verwurzelung des Tragischen in der sozialen Integration wohl kein Zufall, daß es nach einer weitverbreiteten Auffassung mit dem Ende der klassischen Poliszeit aus dem griechischen Drama schwand, 163 als Konflikte des Übergangs von der archaischen zur klassischen Sozialstruktur und Weltsicht ausagiert waren (s. den folgenden Unterabschnitt zu Vernant). Es wäre verlockend, den für die Tragik eingeforderten Subjektstatus als poetische Integrität zu beschreiben, die eine Figur charakterisiert, während die poetische Gerechtigkeit das Ergebnis eines Geschehensablaufs bewertet, 164 doch sind diese beiden Kategorien terminologisch irreführend. Sie sind nämlich trotz ihres Attributs nicht genuin poetisch, da sie die Integrität in der Dichtung mit Hilfe gesellschaftlicher Kriterien beschreiben. Das einzige poetische Moment ist bei ihnen also die Mimesis. Treffend ist die Verbindung von Integrität mit dem Attribut ‚poetisch‘ bzw. besser ‚dichterisch‘ wohl bei Fragen der Darstellungsweise, auch wenn hierbei abermals moralische Kriterien zum Tragen kommen (s. 1.2 Das poetische Spiel mit Nähe und Distanz(ierung), Eigenem und Fremdem in der Perser-Interpretation). Ähnlich kommen die Vorstellungen, die hinter dem Subjektstatus der tragischen Figur stehen, sicherlich dem sehr nahe, was man in der Neuzeit unter ‚Würde‘ versteht, doch soll auf diesen Begriff ebenfalls verzichtet werden, da auch er in die Irre zu führen droht. Dies liegt an seiner Komplexität und geistesgeschichtlichen Tradition: Einerseits steht die Würde der Erhabenheit nahe, die das Tragische an ein Stilmerkmal heranführt (dies gilt um so mehr für die ‚Größe‘, auf die aus diesem Grund ebenfalls zugunsten von ‚Integrität‘ verzichtet werden soll), andererseits ist die tragische Würde etwas (nahezu noch aristokratisch) sehr Individuell-Literarisches, das 162 Ulf Heuner nennt denn auch das „Bezugsgewebe“ (diesen Ausdruck und das dahinter stehende Konzept der Sozialintegriation entnimmt er Hannah Arendts Buch Vita activa oder Vom tätigen Leben [München 1 2002, 225 f.; daneben benennt sie dieses Konzept als „Gewebe menschlicher Bezüge“ und „Bezugssystem“]), in welches das tragische Handeln eingewoben sei, „eine conditio [sic! ] humana“ (Tragisches Handeln in Raum und Zeit. Raum-zeitliche Tragik und Ästhetik in der sophokleischen Tragödie und im griechischen Theater. Diss. Leipzig 1999. Drama (Beiträge zum antiken Drama und seiner Rezeption) 14. Stuttgart 2001, 188). 163 Näheres zu den literatur- und mentalitätsgeschichtlichen Aspekten dieser Entwicklung s. 6.1 Das Ende der Tragödie und des Tragischen? des Kap. 6. Die (nachklassische) Tragödie und die Stoa. 164 Vgl. Kurt von Fritz, „Tragische Schuld und poetische Gerechtigkeit in der griechischen Tragödie“, in: Antike und moderne Tragödie. Neun Abhandlungen. Berlin 1962, 1-112. Eric Robertson Dodds, On Misunderstanding the Oedipus Rex. In: Ds., The Ancient Concept of Progress and other Essays on Greek Literature and Belief. Oxford 1973, 64-77, h. 67 f. verwirft das Konzept der poetischen Gerechtigkeit in klaren Worten für Aristoteles und die griechische Tragödie. Für letztere tat dies bereits von Fritz (1962: 15, 49 f.). Zur poetischen Gerechtigkeit bei Menander vgl. Martha Krieter-Spiro, Sklaven, Köche und Hetären. Das Dienstpersonal bei Menander. Stellung, Rolle, Komik und Sprache. Diss. Basel 1993. BzA 93. Stuttgart 1997, 122-132. <?page no="72"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 58 sich dadurch von der essentialistischen Universalität unterscheidet, welche die anthropologische Würde der frühen Neuzeit und ihre juridische Kodifikation als konstitutionelle Letztbegründung staatlichen Handelns kennzeichnet. 1.4.3 Tragik als (Integritäten-)Konflikt: Hegel und Schiller Der komplexeste Fall der Tragik und der (handlungs)strukturell bedingten Einschränkung der Funktion des ethisch-rationalen Subjekts liegt dann vor, wenn eine Transgression aus einem Konflikt dramenintern gleichrangiger Normen, Rollen, Identitäten und Integritäten erwächst. Die Relevanz und Artikulation dieser Begriffe sollen im folgenden verfeinert und auf den Integritätenkonflikt zugespitzt werden. Mit dem Normenkonflikt klinkt sich dieses Tragikverständnis beim deutschen Idealismus und der deutschen Klassik in die Begriffsgeschichte des Tragischen ein und findet hier ihre nächsten geistigen Wahlverwandten. Bereits Schiller bestimmte das Wesen des Tragischen in einem Normenkonflikt, bei dem eine Figur zwischen zwei ethisch gleichrangige Normen gestellt ist, die einander jedoch ausschließen, wobei sie bei jeder Option gleichzeitig wider die Neigung handeln. (Schiller verweist hier auf Chimène und Rodrigue in Corneilles Cid.) Dabei verlangte er von der Figur für das Mitgefühl ein viel höheres Maß an moralischer Integrität als Aristoteles (Poet. 1453a 7- 12). 165 Hegel ergänzte diesen Normenkonflikt um die soziale Interaktion der Figuren und den Schuldbegriff, der bei Schiller auffallend fehlt. Dagegen sieht er von der Intention ab, die für den Dramatiker eine höhere praktische Relevanz hat. Schließlich ist dieser an der psychologischen Zeichnung eher interessiert als der Philosoph, dessen Augenmerk auf objektiven Widersprüchen liegt: 166 „Das ursprünglich Tragische besteht nun darin, daß innerhalb solcher Kollision beide Seiten des Gegensatzes für sich genommen Berechtigung haben, während sie andererseits dennoch den wahren positiven Gehalt ihres Zwecks und Charakters nur als Negation und Verletzung der anderen, gleichberechtigten Macht durchzubringen imstande sind und deshalb in ihrer Sittlichkeit und durch dieselbe ebensosehr in Schuld geraten [Kurs. im Orig.].“ 167 Auch die Perspektive auf den Konflikt wandelt sich bei Hegel radikal: Bei Schiller implizierte der Normenkonflikt eine Pflicht, bei Hegel hebt der Ausdruck ‚Berechtigung‘ auf das subjektive Recht ab. Abgesehen von den moralisch aufgeladenen Termini „Sittlichkeit“ und „Schuld“, auf welche diese Untersuchung zugunsten von ‚Norm‘ bzw. ‚Ethos‘ und ‚Verletzung der Integrität‘ verzichten will, kommt Hegels Verständnis jedoch dem hier gewählten Ansatz 165 Über die tragische Kunst. NA, Bd. 20, 155-157. Zu Schillers Tragikverständnis vgl. ausführlich Vittorio Hösle, Die Rangordnung der drei griechischen Tragiker. Ein Problem aus der Geschichte der Poetik als Lackmustest ästhetischer Theorien. Jacob Burckhardt-Gespräche auf Castelen 24. Basel 2009, 68-82. Auch Schelling stellt hohe ethische Anforderung an das Handeln des tragischen Protagonisten (Hösle 2009: 83). 166 Zu Hegels Auffassung der Tragödie und Begriff des Tragischen vgl. Christoph Menke, Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel. Frankfurt a.M. 1996, v.a. 19-73 und Hösle 2009: 82-90. 167 Ästhetik. 2 Bde. Hg. von Friedrich Bassenge. Frankfurt a.M. 1955, Bd. 2, 549. <?page no="73"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 59 sehr nahe, weil es die Handlungsstruktur betrachtet, statt auf der Ebene kulturwissenschaftlicher Äußerlichkeiten zu verharren oder wie Rolf Breuer, dessen Titel einen der vorliegenden Arbeit verwandten Ansatz verheißt, bei der kommunikationstheoretischen Performanz des Konfliktes und seiner modallogischen Formulierung stehenzubleiben. 168 Über sämtliche modallogischen Ziselierungen des Konflikts gerät bei Breuer dessen existentielle Dimension aus dem Blick. 169 Schließlich ist ein Konflikt nur dann tragisch, wenn er die moralische Integrität des Protagonisten bedroht oder wenn er diese, was nicht selten der Fall ist, vernichtet. Immer steht auch die eigene oder zumeist eine fremde physische Integrität auf dem Spiel, was in der Tragik der griechischen Tragödie eine besondere Ausprägung findet (s.u.). Hegels „Verletzung“ entspricht dagegen exakt der Transgression und der von ihr betroffenen Integrität als Leitbegriffen der vorliegenden Arbeit, während seine Wortwahl „Negation“ ins Bewußtsein ruft, daß der Normenkonflikt nicht rein akademisch suspendiert werden kann, sondern notwendig in eine Auflösung mündet. Deren Resultat erscheint bei Hegels Interpretation von Sophokles’ Antigone rein alltagssprachlich als „Tod“ (Bd. 2, 568). Diese Formulierung entspricht der hier vorgeschlagenen ‚physischen Eliminierung‘ und inhaltlich subsumtiv Aristoteles’ „schwerem Leid“ (Poet. 1452b 11-13). Hegels rechtsphilosophischer Ansatz des Tragikverständnisses ist durch Jean-Pierre Vernants zivilisationsgeschichtliche Studien erneuert worden. Der französische Forscher rückte die Ambivalenz in das Zentrum seiner Interpretation der attischen Tragödie, und zwar nicht zuletzt diejenige zwischen unterschiedlichen Ebenen des Rechts, wobei das alte göttliche und das jüngere bürgerliche Recht der Polis einander entgegenstanden. 170 Bereits Reginald P. Winnington-Ingram sah zumindest „the tragic paradox“ bei Aischylos und Sophokles dadurch gewährleistet, daß sie wegen ihrer Nähe zum archaischen Denken das Verhältnis von freiem Willen und höherem (göttlichem) Einwirken als 168 Tragische Handlungsstrukturen. Eine Theorie der Tragödie. München 1988, 9-46. 169 „Tragische Handlungsstrukturen und die Definition der Tragödie“ (1988: 47-78). Daß es Tragik auch außerhalb der Tragödie, in anderen literarischen Werken und selbst in der Geschichte und im Leben gebe (1988: 52 f.), ist ebenso richtig wie die Feststellung, daß Tragik im 20. Jh. problematisch sei. Für das Verständnis der antiken Tragödie als Gattung wie als Einzelstück (s. das Kap. über Aischylos’ Perser, v.a. 1.8 Xerxes) ist Herodots tragische Geschichtsschreibung eine wertvolle Kontrastfolie. Auch etliche Episoden in Ovids Metamorphosen, einem Werk, dessen Narratologie eher sprunghaft als stringent verfährt und dessen Stil leicht und flüssig wirkt, ja manchmal tändelnd, weisen tragische Elemente auf (für den formalen Aspekt von Ovids Anleihen bei der mimetischen Großgattung s. Dan Curley, Tragedy in Ovid. Theater, Metatheater, and the Transformation of a Genre. Cambridge 2013, v.a. 2-7). Doch dies auszuführen ist hier nicht der Ort. 170 Tensions et ambiguïtés dans la tragédie grecque. In: Œuvres. 2 Bde. Paris 2007, Bd. 1, 1086- 1103, h. 1095. Heuner 2001: 194 argumentiert, das griechische Theater der klassischen Zeit habe dadurch, daß es Menschen wie bei der politischen Entscheidungsfindung versammelte, institutionell eine Möglichkeit „zur Überwindung der realen Tragik“ geboten, die Heuners Lektüre verschiedener Sophokles-Tragödien in „der raum-zeitlichen Verschiebung zwischen Vollzug und Kenntnisnahme der gegnerischen Tat“ verortet (2001: 189), also Aspekten, die man als Unterformen und Präzisierung der desubjektivierenden Handlungsstruktur der vorliegenden Arbeit ansehen kann. <?page no="74"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 60 problematisch darstellten, anstatt es - wie später Platon - in die beiden Extreme der absoluten ethischen Freiheit und totalen Fremdbestimmung durch höhere Mächte aufzulösen. 171 Vor demselben zivilisationsgeschichtlichen Hintergrund soziopolitischer und intellektuell-kultureller Umbrüche (2005: 336) hat Mark Griffith jüngst vier in der attischen Tragödie konfligierende Autoritäten ausgemacht: die politisch-militärische ( bzw. ), die häusliche ( ), die religiöse und die kulturell-epistemologische. 172 Er spricht allerdings nicht von tragischen Konflikten, sondern macht nur Widerstand von Hauptfiguren gegen Autorität aus, dessen Motive dem Publikum „groß“, akzeptabel und legitim erschienen, der jedoch scheitere und das Publikum zur Identifikation mit den unbedeutenderen überlebenden Figuren einlade (2005: 348 f.). Dergleichen rezeptionsästhetische Spekulationen seien hier außen vor gelassen. Es sei jedoch darauf hingewiesen, daß die Ziele der großen Gestalten, die Griffith als „independence, honor, and happiness“ aufzählt, mit dem Begriff der (sozialen) Integrität, besser beschrieben werden können, mit dem die vorliegende Untersuchung die Tragik formuliert. Anhand von Martha Craven Nussbaum 173 hat Josef Früchtl das im Grunde hegelianische Verständnis (vgl. S. 326) der Tragik als „Normenkollision“ repristiniert. 174 Nussbaum bespricht denn auch Aischylos’ Agamemnon (2001: 32- 38) und Sieben gegen Theben (2001: 38-46) sowie Sophokles’ Antigone (2001: 171 Tragedy and Archaic Greek Thought. In: M. J. Anderson (Hg.), Classical Drama and its Influence. Essays presented to H. D. F. Kitto. New York 1965, 31-50, h. 50. 172 Authority Figures. In: Justina Gregory (Hg.), A Companion to Greek Tragedy. Oxford 2005, 333-351, h. 335 f. 173 The Fragility of Goodness. Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy. Cambridge 1 1986, 2 2001, 25-84. 174 Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil: Eine Rehabilitierung. Habil. Frankfurt 1994. Frankfurt a.M. 1996, 324-330, v.a. 324. Das zweite Moment der Tragödie, das Früchtl bei Nussbaum (2001: 45 f.) hervorhebt (1996: 325 f.), ist das Lernen durch Leiden(schaft), das ein tieferes Verständnis der condicio humana vermittle, die Grenzen der rein kognitiven Erkenntnis übersteige (so ihre Interpretation der Aischyleischen Formel [Ag. 177]) und das Nussbaum unter Anknüpfung an Aristoteles’ und von den Figuren auf die Erfahrung der Zuschauer ausdehnt. Diese Sicht beschreibt durchaus eine denkbare Funktionsweise der Tragödie, bei der die Kunst eine neue Erfahrung eröffnet, verläßt jedoch den Kreis des Tragischen, da sie (abgesehen von dem emotionsästhetischen Aspekt) dem eliminatorischen Leiden einen höheren (existential)philosophischen Sinn verleiht. Und doch transzendiert sie das tragische Dilemma nur vordergründig: Nach Nussbaum vergegenwärtigen Verlust und Leiden (hier Iphigenies durch Agamemnon) jenseits des präeliminatorischen Wissens um die Tochterschaft (also die objektive Verbindung) die (emotionale) Bindung (2001: 45 f.). Hierdurch wird eine Seite des tragischen Dilemmas post festum gestärkt und das Dilemma letztlich aktualisiert. Denn Leiden und Bedauern hätten Agamemnon auch im Falle der gegenteiligen Entscheidung überkommen, die den Verlust seiner sozialen Integrität mit sich gebracht hätte. Nussbaums vage aristotelisierende subjektive Sichtweise rückt hier an diejenige Schmitts heran, bei dem posteliminatorisches und postdezisives Leiden vormals nicht ausreichend präsente familiäre Bindungen vergegenwärtigt (s. 1.4.8 Alternative Tragikkonzepte: Nietzsche, Benjamin, Bohrer, A. Schmitt). In beiden Fällen droht das objektive tragische Dilemma als bloß subjektive Fehlentscheidung wahrgenommen zu werden. <?page no="75"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 61 51-82), drei Tragödien, in denen auch nach Auffassung der vorliegenden Untersuchung ein Konflikt gleichrangiger Normen (oder Legitimitäten) vorliegt. 175 Es muß allerdings angemerkt werden, daß ein Konflikt gleichrangiger moralischer Normen, Ansprüche oder Legitimitäten, der bei Schiller, Hegel und dessen modernen Nachfolgern nachgerade als das Wesen des Tragischen angesehen wird, die Konstellation nur weniger griechischer Tragödien treffend beschreibt, so Antigone als Vertreterin des Oikos und Kreon als der Sachwalter der Polis oder Orests Pflicht, den Vater zu rächen und die Mutter zu ehren. Eine viel größere Zahl an Fällen deckt das Interpretationsmuster des Integritätenkonflikts ab, das im Folgenden näher ausgeführt werden soll. Die Integrität setzt den Wandel von der Pflicht zur Berechtigung fort, der sich von Schiller zu Hegel vollzog, indem sie (darin der objektiven Transgression ähnlich) das berechtigte Ziel objektiviert. Außerdem erlaubt es der Begriff der Integrität, weitere Ziele zu erfassen oder die Ziele genauer zu benennen. Diese Arbeit unterscheidet, ohne den Anspruch zu erheben, damit das terminologisch-heuristische Potential der Integrität zu erschöpfen und weitere Formen auszuschließen, die physische, psychische, rituell-religiöse und soziale Integrität, wobei letztere in die (sozio)moralische und soziopragmatische differenziert werden muß, allein weil diese beiden Unterformen bei Euripides’ Medea in Konflikt treten. Bei der (sozio)moralischen Integrität geht es um die Normkonformität, bei der soziopragmatischen um die Behauptung als Subjekt in der sozialen Interaktion, wobei es deren mimetische Transposition in die Dramenhandlung erlaubt, hier von ‚dramatischem Subjekt‘ zu sprechen. Mit Ausnahme der moralischen Integrität sind diese Typen Neuerungen gegenüber dem Tragikkonzept des Normenkonfliktes, die rituell-religiöse differenziert die moralische. Wie bei der soziopragmatischen Integrität bereits angeklungen, ist die Integrität das Wesensmerkmal und der Lackmustest des Subjekts, ohne daß sich bei den übrigen Spielarten eine ähnlich feste Korrelation zwischen den Untertypen der Integrität und des Subjekts und dessen Funktionen herstellen ließe. Nur die (sozio)moralische Integrität läßt sich eindeutig der ethischen Seite des Subjekts zuordnen. Dank ihrer Vielschichtigkeit ist die Integrität ein besseres Beschreibungsmodell für den tragischen Konflikt als die reine Moralität der Frühmoderne. Bei Agamemnon, der seine Tochter Iphigenie opfern soll, konfligieren etwa das Streben, dem Bruder Genugtuung zu verschaffen, und damit die eigene soziale Integrität zu wahren, mit dem Leben, d.h. der physischen Integrität der eigenen Tochter. 176 Euripides’ Medea will ihre soziale Integrität als gleichwertiges 175 Früchtls Versuch, die Aktualität tragischer (ethischer) Konflikte nachzuweisen, bietet zwar im doxographischen Teil etliche bedenkenswerte und anregende Überlegungen, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht ausdiskutiert werden können, gleitet jedoch bei seinen eigenen Argumentationen ins Kasuistisch-Banale ab (1996: 326-330). 176 Diese Konstellation muß gegen Nussbaum betont werden, die Agamemnons Dilemma mit demjenigen Abrahams vergleicht (1986: 35): In beiden Fällen müsse ein guter und bislang unschuldiger Mann entweder ein unschuldiges Kind töten, um einem göttlichen Gebot zu gehorchen, oder die schwerere Schuld des Ungehorsams und des Frevels auf sich nehmen. Im folgenden schildert sie dann Agamemnons erstaunliche Darstellung seiner Entscheidung. Polytheismus und soziale Implikation sind jedoch entscheidende Unterschiede zwischen den beiden Situationen, die Agamemnons Tragik vergrößern und Abrahams minimieren: Bei Abraham <?page no="76"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 62 Interaktionssubjekt wahren, statt sich zum Schacherobjekt männlichen Handelns degradieren zu lassen, opfert diesem Streben jedoch mit den Kindern nicht nur deren physische Integrität, sondern auch ihre eigene genetische Permanenz und moralische Integrität als Mutter (vgl. v. 967 f.). Beide Fälle haben also den tragischen Konflikt von eigener sozialer Integrität und physischer Integrität von Angehörigen (hier der eigenen Kinder) gemeinsam, der auch Oidipus’ Dreiwegmassaker im OT und, religionspolitisch abgewandelt, Pentheus’ Kampf gegen Dionysos in den Bakchen zugrunde liegt. Die zwei Seiten dieser tragischen Konfliktkonstellation, die soziale Integrität und die physische der Angehörigen, weisen einen klaren Sozialbezug auf und bieten damit eine besondere Ausprägung, welche die soziale Einbettung des Menschen bei der Tragik spielt. Gelöst wird dieser Konflikt bei der tragischen Transgression dadurch, daß die fremde physische Integrität für die Wahrung der eigenen sozialen geopfert wird. Die geschilderten Entweder-Oder-Konstellation betrifft die Handlungsoptionen und sagt primär nichts über die Willensfreiheit aus, als deren Kriterium die grundsätzliche Fähigkeit, eine Handlung zu unterlassen, angesehen werden darf. Die funktionale Einschränkung des Subjektstatus ist also nicht zwingend auf dieser Ebene zu verorten, auch wenn dies unter gewissen anderen Umständen denkbar ist, etwa bei manchen Fällen der handlungsstrukturellen Dysfunktion des Subjekts zum Zeitpunkt der Transgression, die gleichwohl in Willensfreiheit getroffene Entscheidungen der Vergangenheit voraussetzen. Die alternative Entscheidung geht vielmehr davon aus, daß zwei Integritätsgüter, die für die Identität des Entscheidungsträgers konstitutiv sind, nach seiner Auffassung (und der Binnenhermeneutik) gleichwertig oder zumindest gleichermaßen werthaftig sind. Man könnte deshalb auch soweit gehen, Tragik als die konjunkturale Monosemierung einer strukturell zumindest ambi-, wenn nicht sogar polyvalenten Identität zu sehen, die dadurch eintritt, daß die Integritäten, über welche diese Identität konstituiert wird, - wie das Subjekt - nur performativ existieren. Dies bedeutet freilich nicht, daß allein die performative Existenz Subjekt und Integrität notwendigerweise zur Selbstaufhebung triebe, auch wenn die Integrität eine besondere Affinität zur Performanz hat, weil ihr wesenhafter Existenzmodus das Bewahren ist. Denn nur in einer kontingenten Konjunktur eliminiert die Performanz eine Bedeutung. Subjekt und Integrität heben sich nicht durch innere, sondern systemische Widersprüche auf. Da die Integritäten konstitutiv für das Subjekt sind, erhellt der Integritätenkonflikt die Hintergründe der tragischen verlangt der eine Gott sein Geschenk zurück, seine Position ist also ungleich stärker als diejenige der Artemis. Die wundersame substitutive Rettung Isaaks zeigt denn auch, daß Abrahams Entschluß, das eigene Kind zu opfern, richtig und seine Entscheidungsalternative nicht tragisch war. Der einzige Opponent ist die (egoistische) Liebe des Vaters zum spätgeborenen Stammhalter. Die Liebe zum Kind ist bei Agamemnon ebenfalls der (einzige) Antipode zu dessen Opfer (v. 207-211), doch sprechen bei Agamemnon eine Vielzahl von Faktoren und Göttern für das Opfer der eigenen Tochter, so neben Artemis die Verpflichtung gegenüber dem Bruder, die Rolle als Heerführer (v. 212: ) und die Verletzung des von Zeus garantierten Gastrechts. Diese Verknüpfung aus Göttlichem und Gesellschaftlichem schwächt allerdings eher seine Position, als daß sie diese kumulativ stärkt. Am meisten schwächt das Motiv, die eigene soziale Integrität zu wahren, das allerdings charakteristisch für die Tragik der griechischen Tragödie ist, Agamemnons Entscheidung. <?page no="77"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 63 Selbstaufhebung des Subjekts und präzisiert diese: Die Transgression resultiert hier daraus, daß ein Ziel, das suprasubjektiv wünschenswert, soziostrukturell vorgegeben oder essentiell-konstitutiv ist und in einer Integrität besteht, in einer gegebenen Situation nur unter Verletzung einer anderen Integrität oder Norm bzw. Überschreitung einer Grenze erreicht werden kann. Die performative Selbstaufhebung, die ein Merkmal der Tragik ist und in den ihr zugrunde liegenden Widersprüchen und wechselseitigen Ausschlüssen wurzelt, betrifft deshalb auch die Integrität. Integrität und Subjekt spielen freilich eine unterschiedliche Rolle bei der tragischen Selbstaufhebung: In einer tragischen Situation können zwei Formen der Integrität nicht gleichzeitig gewahrt werden und koexistieren, sie stehen also in einem praktisch-performativen Widerspruch zueinander und heben einander dabei auf, während das Subjekt als vollziehende Instanz der Eliminierung einer solchen Integrität fungiert, die konstitutiv für es selbst ist. Plakativ formuliert, beruht Tragik also darauf, mehrere zu sein (bzw. sein zu müssen im Falle gleichwertiger Normansprüche oder sein zu wollen in Falle der sozialen Selbstbehauptung), aber nur einer sein zu können, weil die Klärung der Identitätsfrage wegen der Notwendigkeit einer Identität nicht in der Schwebe gelassen werden kann. Oder anders ausgedrückt: Was nur ein Sowohl-Als auch sein kann, muß ein Entweder-Oder werden. Hinter beiden korrespondierenden Konjunktionen steht die soziale Einbettung des Menschen. Sie wurzelt in der condicio humana und bringt das strukturelle Sowohl-Als unterschiedlicher Integritäten und Rollen mit sich, die mit verschiedenen Gruppen in der Gesellschaft verbunden sind und die in der situativen Performanz existieren. Die soziale Interaktion, bei der kontingente Elemente hinzutreten oder fortfallen, führt zu einer Konjunktur, in der eine Figur nicht gleichzeitig die Identitäten aller Gruppen performieren kann, zu denen sie gehört. Aus dem Sowohl-Als auch wird so eine Entweder-Oder-Entscheidung. Dieses komplexe Tragikkonzept soll ein Brückenschlag zu Saussures Zeichentheorie verdeutlichen und vertiefen. Der performativen Existenz entspricht das Theorem, daß die langue nur in der parole faßbar sei (CLG 37). Auch die Koexistenz des Sowohl-Als auch läßt sich mit Saussures Illustrierung der beiden Seiten des Zeichens über die untrennbar verbundenen Seiten eines Blattes Papier vergleichen (CLG 157). In der Tat lassen sich die verschiedenen Formen der Integrität auf der anthropologischen Ebene dem signifiant und dem signifié des Saussureschen Zeichenbegriffs zuordnen: Die physische Integrität entspricht dem signifiant; sie kann in dieser Funktion qua materialer Sinnträger allen übrigen Formen der Integrität qua signifiés gegenübergestellt werden. 177 Mit dieser 177 Für die Ausrichtung der anthropologischen Integrität an Saussures Zeichenbegriff vgl. Verf., Platon, Popper und die Integrität - Versuch eines Neuansatzes mit Giorgio Agamben. In: Andreas Eckl, Clemens Kaufmann (Hgg.), Politischer Platonismus. Würzburg 2008, 151-165, h. 153. Die Einordnung der psychischen Integrität nach den Kategorien signifiant und signifié ist delikat. Nur ein (post)sokratisch-platonischer Dualismus kann sie zum signifié schlagen. Der Sprachgebrauch des Epos (Il. 1.3 u.a.) und auch noch der Tragödie (E. Med. 968) versteht dagegen unter der das Leben, also die physische Integrität, die dem signifiant entspricht. Freilich spielt in der attischen Tragödie die psychische Integrität nicht beim Konflikt der Ent- <?page no="78"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 64 Abgrenzung wird eine bereits antike und jüngst wieder aktualisierte Grenzziehung aufgegriffen: Anknüpfend an die lexikalischen Dublette vs. des Griechischen und deren bereits antike Theoretisierung in Aristoteles’ Politik (1278b 23-30, 1252b 30) 178 hat Giorgio Agamben wirkmächtig 179 die Dichotomie von Leben als biologischem und kulturellem Faktum formuliert. 180 Die entspricht also der physischen Integrität und teilt mit ihr die Funktion als materialer Sinnträger (signifiant), der kann als Oberbegriff für die übrigen Integritäten und wie dieser als Äquivalenz des signifié fungieren und erfaßt überdies den biographischen Aspekt im Sinne einer Akkumulation verschiedener Taten, Integritäten und Identitäten, die ein Mensch bzw. eine Figur im Laufe ihres bisherigen (Bühnen-)Lebens angehäuft hat. Er ist damit die systematische Stelle, an der die handlungsstrukturelle Dysfunktion des ethisch-rationalen Subjekts verortet werden kann. Der Transfer dieses hier semiotisch interpretierten Gegensatzpaares auf die Dramentheorie wird dadurch erleichtert, daß Aristoteles selbst die Tragödie als Mimesis nicht nur von Menschen, sondern auch von Handlungen und des Lebens ( ) definiert (Poet. 1450a 15-17). Eine semiotische Sichtweise auf den menschlichen Körper als Sinnträger, wie sie hier mit der Deutung von und physischer Integrität als signifiant impliziert wird, legt bereits die theatralische Semiose nahe, die selbst in der Fiktion des Dramentextes ganz auf dem Körper als optischem Sinn- und akustischem Wortträger des sprachlichen Sinnes beruht. Die semiotische Anthropologie und ihr zentraler Terminus ‚Integrität‘ greifen zudem den humanistischen Ansatz früherer Tragödieninterpretationen auf und präzisiert ihn, etwa indem sie zwei seiner Konzepte, die Moralität und die condicio humana, in einem integralen Modell systematisiert. Schließlich wird eine semiotische Formulierung der Tragik durch die Verfassung gerade des literarisch-künstlerischen Zeichens nahegelegt, das sich einer eindeutigen schematisch-algebraischen Wesensbestimmung entzieht und so die Souveränität des Interpreten wie die tragische Handlungssituation diejenige des Akteurs unterläuft, was bereits Heraklit erkannte (DK 22 B 93): Daß der dunkle Denker aus Ephesos die souveränitätsunterlaufende Ambivalenz der Semiotik anhand der (Se)Mantik formuliert, die einen göttlichen Sender hat, läßt die desubjektivierende Nähe zur Tragik hervortreten, ja, im OT funktioniert die Tragik sogar über die (Se)Mantik. scheidungsgüter, welcher der Transgression zugrunde liegt, sondern nur bei deren Erklärung eine Rolle, etwa wenn sie von Figuren auf Wahnsinn o.ä. des Transgressors zurückgeführt wird. 178 Der Begriff der als vitales Leben, das eine gewisse qualitative Prägung erfahren kann, ist auch in Metaph. 1050a 36-1050b 2 erkennbar: 179 Vgl. Martin G. Weiß (Hg.), Bios und Zoë. Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a.M. 2009, 7. 180 Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring. [Orig.: Il potere sovrano e la nuda vita] Erbschaft unserer Zeit 16. Frankfurt a.M. 1 2002 = 2004, 11 f. <?page no="79"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 65 Neben der Identität durch Relation, die hinter dem Nexus von signifiant und signifié steht, läßt sich noch das zweite strukturalistische Identitätskonzept, diejenige durch Abgrenzung, für die Tragik fruchtbar machen. Es impliziert, daß nichts isoliert existieren kann, sondern seine Identität erst durch die Abgrenzung von etwas anderem erhält, und korreliert damit der sozialen Einbettung des Menschen, die hier in der condicio humana verankert wird und als anthropologischer Anknüpfungspunkt der Tragik dient. 181 Bereits Aristoteles formulierte in der Politik die systemische soziale Integration als Teil der condicio humana über das strukturalistische Prinzip der Identität durch Abgrenzung. Dies hat bereits Vernant herausgearbeitet, der Aristoteles’ These für die Deutung der griechischen Tragödie, hier des OT, erschließt. Mehr noch, paßt Aristoteles’ Verdeutlichung der sozialen Einbettung mit Spielsteinen (Pol. 1253a 6 f.) (Näheres s. 2.4.3 Paradoxie und Tragik der Transgression in der OT-Interpretation) exakt zur hier vertretenen Parallelisierung von Zeichen und Mensch. Aristoteles’ massiv essentialistisch-normative Argumentation in dieser Passage, die sich am durchgehenden Gebrauch von fu&sij sowie am Auftreten von fau~loj zeigt, ist gewiß nicht mit den Saussureschen Thesen zur Arbitrarität der Zuordnung von signifiant und signifié vereinbar, doch ist dies ein rein paradigmatischer Gegensatz und kein systematischer Widerspruch, da es ja an der fraglichen Stelle aus der Politik um die soziale Einbettung des Menschen geht, die ebenfalls mit dem Naturbegriff essentialisiert wird (Pol. 1253b 2 f.: o( a1nqrwpoj fu&sei politiko_n zw| ~on). Wenn Aristoteles die natürliche Existenz der Stadt (Pol. 1252b 30: pa~sa po&lij fu&sei e1stin) damit begründet, die Stadt entstehe um des Lebens und bestehe um des guten Lebens willen (Pol. 1252b 28-30: ginome/ nh me\n tou~ zh~n e3neka, ou]sa de\ tou~ eu} zh~n), dann läßt er im kollektiven Rahmen exakt jene Dichotomie zwischen zwh& und bi/ oj anklingen, die im vorangehenden auf der individuellen Ebene mit signifiant und signifié sowie der physischen Integrität einerseits und dem Bündel der verschiedenen kulturellen Integritäten andererseits korreliert wurde, selbst wenn er auch für die Seite des bi/ oj den Stamm zhgebraucht. Aristoteles läßt sich nun mit dem semiotisch-strukturalistischen Ansatz dieser Arbeit verschmelzen und weiterentwickeln: Die soziale Einbettung des Menschen, welche die vorliegende Arbeit axiomatisch in seiner vorfindlichen condicio humana verortet, was Aristoteles noch über den Naturbegriff essentialisierte, schlägt sich darin nieder, daß er sowohl zum physischen Überleben als auch für ein menschengemäßes Leben die Gemeinschaft anderer Menschen braucht. Seine physische und kulturellen Integritäten und das anthropologische signifiant und signifié können nicht isoliert existieren. Bei der Tragik 181 Wenn die vorliegende Arbeit also die Tragik in der sozialen Einbettung des Menschen und diese in der condicio humana begründet sieht, fungiert letztgenannte nur als säkulares heuristisches Axiom, um einen regressus ad infinitum (Natur, Gott) zu vermeiden, keinesfalls aber als anthropologische Letztbegründung, die etwas über die absolute Unvermeidbarkeit der Tragik in systemischer oder situativer Hinsicht besagen soll. Daß die Tragik vielmehr über die sozialen Rollen funktioniert, welche sich aus der sozialen Einbettung ergeben, ohne von ihr vorgegeben zu sein, deutet bereits ihre historische Kontingenz an. Daß sie im Einzelfall für außergewöhnliche Menschen wie Heilige und stoische Weise vermeidbar ist, hängt auch damit zusammen, daß eine Bedingung für sie darin besteht, daß die Willensfreiheit grundsätzlich gewahrt bleibt. <?page no="80"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 66 führt nun ein kontingentes Ereignis wie der Hinzutritt oder der Fortfall eines dramatischen signifiant dazu, das meist mit dem tragischen Akteur nicht identisch ist (Medea wird allerdings durch ihre drohende Eliminierung zur Rächerin ihrer selbst), daß das Rollengefüge der Identität durch Abgrenzung in Bewegung gerät und dieses tragische signifiant zusätzlich zu dem bisherigen eigenen ein weiteres signifié ausfüllen soll, welches dasjenige des anderen dramatischen signifiants ist, sofern dessen Bewegung die Verschiebung angestoßen hat. 182 Bisweilen wird aber auch die Erfüllung eines eigenen signifié problematisch, das oft (etwa im Falle Medeas) in der soziopragmatischen Integrität und Subjekthaftigkeit besteht. Bei ihr steht der Status als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft und damit ein elementares soziales signifié auf dem Spiel, dessen Verlust die soziale Einbettung auf das signifiant reduzieren würde. In beiden skizzierten Konstellationen führt der so entstandene Konflikt zweier nicht koexistenter signifié zur transgressiven Eliminierung eines signifié: Durch die Wahrung ihrer sozialen Position und Identität auf Kosten der physischen Integrität eines Anverwandten verlieren viele tragische Protagonisten ihr familiäres signifié und die daran geknüpfte moralische Integrität, was im folgenden näher ausgeführt werden soll. Die Tragik und auch die nachfolgend darzustellende Heroik sind in unserer Definition also komplexe Phänomene, die theoriegeschichtlich Semiotik, Existentialismus, Marxismus und struktural-anthropologisch konfigurierte Ethnologie verbinden und gegenüber neueren Ansätzen anschlußfähig sind. Die Semiotik ist dabei das Basale, weil sie die Grundlage für ein anthropologisches Modell bildet, das Körper und Geist, Biologie und Kultur der Menschen als die Sinnträger bzw. Sinngehalt eines Zeichens auffaßt. Deshalb kann dieses Modell generell als semiotische Anthropologie etikettiert werden, die darin strukturalistisch ist, daß sie die Identität zwar über die Semiose definiert, aber durch die Abgrenzung herausarbeitet, und sich durch dieses methodisch klar umrissene Konzept von einer diffusen kulturellen Anthropologie absetzt, wie sie heute als Schlagwort en vogue ist. Da das hier skizzierte Modell in die Literatur eingebettet ist, die mit literarischen Zeichen operiert und gedeutet wird, bietet sich im literarischen Zusammenhang die Bezeichnung ‚anthropologische (Literatur-)Semiotik‘ an, deren umgekehrte Lexemhierarchisierung die Dominanz des Zeichens ausdrückt. Das anthropologische Zeichen ist kein statisches idealtypisches Beschreibungsmodell, sondern lebt wie das sprachliche in seiner Performanz. Diese ist im Drama qua Darstellung von Handlungen konstitutiv. Die zeichenperformierende Handlung wird aber in unserem Ansatz auch mit Hilfe von Existentialismus, Marxismus und struktural-anthropologisch konfigurierter Ethnologie näher beschrieben. Die beiden letztgenannten spezifizieren das Handeln über die Figur des Austausches, der in dieser Arbeit das Verhältnis der physischen und der übrigen Integritäten erfaßt. Lévi-Strauss’ Ethnologie kommt dem Ansatz der vorliegenden Arbeit schon sehr nahe, weil sie strukturalistische Methoden auf die Anthropologie überträgt. Dieses Verfahren betrifft jedoch diverse soziale 182 So soll Hippolytus in Senecas Phaedra zusätzlich zu seiner Sohnesrolle nach dem Wunsch seiner Stiefmutter die Position des abwesenden Vaters einnehmen. <?page no="81"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 67 Praktiken. Dagegen ist der Existentialismus geeignet, die existentielle Tragweite der menschlichen Handlungen zu erfassen, welche die verschiedenen Integritäten betreffen. 1.4.4 Tragischer, heroischer und aristokratischer (Integritäts-)Tausch Der physischen Integrität und ihrer Distribution in der Handlung des Dramas kommt bei der an Ende des vorangehenden Kapitels beschriebenen existentialsemiotischen Anthropologie eine Schlüsselstellung zu. Die Alternative, welche die tragische Transgression ausmacht, ist nämlich durch ein besonderes Merkmal gekennzeichnet, das bereits im vorangehenden Unterabschnitt erwähnt wurde und im Vergleich mit einer anderen Integritätsalternative hervortritt, die wegen ihres zumindest implizierten Erstvorkommens in der Ilias die heroische genannt werden soll. 183 Bei den in dieser Arbeit untersuchten Fällen von Tragik der attischen Tragödie opfert der Akteur eine fremde physische Integrität, um seine soziale Integrität zu wahren; bei der Heroik opfert er die eigene physische Integrität und wahrt dabei eine andere Integrität. So tötet Homers Achill Hektor, um seinen Freund Patroklos zu rächen, obwohl er damit seinen eigenen, für diesen Fall vorherbestimmten Tod besiegelt (Il. 18.96). Inwieweit er damit einer Freundespflicht Genüge tut und so seine soziale Integrität wahrt oder aber seinem willfährt, sei dahingestellt. Explizit nimmt er jedoch den Tod für den Ruhm in Kauf (Il. 18.120 f.), entscheidet sich also für die soziale und gegen die physische Integrität. Von dieser vorherbestimmten Alternative, die ihm seine Mutter Thetis offenbart habe, hat er bereits in Il. 9.410-416 Kenntnis. Der Aspekt der Integrität gesellt sich hier durch die Verbform zu beiden Losen (v. 9.413, 415). Die Bedeutung dieses Vers hebt nämlich auf die Bedrohung der Integrität ab und damit auf das Gegenteil des Bewahrens, des ihr inhärenten modus operandi. Am Attribut zu wird der Aspekt der Permanenz lexikalisch faßbar, die hier unbegrenzt ist, während die physische Integrität bloß lange währt. Dem Sokrates der Platonischen Apologie, der Il. 18.96 wörtlich zitiert, dient Achills Inkaufnahme des Todes als Exempel für sein eigenes Handeln (Ap. 28bd), welches das eigene Leben der moralischen Integrität opfert. Dazu nimmt er selbst in einem wörtlichen Zitat aus der fraglichen Ilias-Passage signifikante Änderungen vor. Achill hatte seinen Todeswunsch mit der unterlassenen Hilfe für den Freund begründet (Il. 18.98 f.), bei Sokrates will er nach Bestrafung des Unrechthandelnden sterben. Anschließend klagt Achill (Il. 18.101-106), er sei trotz seiner Kampfesbefähigung bis dahin dem Schlachtgeschehen ferngeblieben und sitze unnütz bei den Schiffen, statt das Leben des Patroklos und anderer 183 Der Unterschied zwischen Tragik und Heroik verdient allein deshalb eine begriffliche Präzisierung, weil die nationalsozialistische Dramentheorie die Tragödie auf das Heroische reduziert hat, das seinerseits biologistisch gefaßt wird (Mack 1970: 120 f.). Das in ihrer Autoreferentialität verortete aporetisch-reflexive Moment der Tragik, das einer einseitigen Verurteilung des Transgressors widerrät und keine forsche Dezision oder totale Exklusion legitimiert, ist mit dem Impetus einer totalitären Ideologie nicht vereinbar, sondern ein wichtiges Adjuvans einer demokratischen Kultur in Diskurs und Praxis. <?page no="82"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 68 Gefährten zu retten, entwickelt also ein praktisches Nutzenkalkül, das auf die physische Integrität zielt. Hier bringt Sokrates ein Moment der Ehre ( - ), d.h. der sozialen Integrität, ins Spiel. Er expliziert also die Adelsethik, die sein Rationalismus paradigmatisch und à la longue so sehr transformiert, daß man von einer Aufhebung im Hegelschen Sinne sprechen könnte. Diese Zuspitzung ändert jedoch nichts an der grundlegenden Gemeinsamkeit von Epos und philosophischer Rede, dem Opfer des eigenen Lebens, der eigenen physischen Integrität, für die soziale oder moralische Integrität, die auch über die physische Integrität anderer Gemeinschaftsmitglieder bestimmt sein kann. Bei diesem Tausch dominiert bei Achill der Egoismus, bei Sokrates tritt der Altruismus hinzu. Altruismus und Egoismus gehen bereits bei Gorillas Hand in Hand, deren junge Männchen ihr Leben für die Rettung der Herde aufs Spiel setzen und bisweilen sogar opfern, allerdings systemisch aus reproduktivem Interesse, um sich Weibchen zur Fortpflanzung zu empfehlen, die nämlich im dichten Dschungel nicht überwacht und gewaltsam zur Gefolgschaft gezwungen werden können, sondern nur durch protektive Leistungsfähigkeit überzeugt werden können. 184 Das Christentum hat mit den Märtyrern, die in der Nachfolge von Jesu Opfertod stehen, der am Kreuz für die Erlösung der gesamten Menschheit gestorben ist, dem Opfer des eigenen Lebens eine höhere Weihe gegeben und solchermaßen, auch wenn die Märtyrer ein Lohn im Himmel erwartet, den altruistischen Opfertod in der abendländischen Kultur so tief verankert, daß er bis heute als Vorbild auch literarisch und dramatisch nachwirkt. (Man denke an Fontanes Ballade John Maynard.) Allerdings unterscheiden sich das Märtyrertum eines Menschen und sein Integritätswechsel sowohl von der Tragik als auch von der näher verwandten Heroik. Held und Märtyrer haben eine viel umfassendere moralische Integrität gemeinsam und unterscheiden sich durch sie von der tragischen Figur, die immer eine Transgression begeht, die der Grund ihrer Tragik wird. Allerdings gibt der Märtyrer seine physische Integrität nicht, wie der Held, für diejenige der Mitglieder der Gemeinschaft, sondern für seine eigene moralische Integrität, die über das Festhalten an seinen subjektiv lauteren Überzeugungen gegen einen mit Eliminierung drohenden und diese auch vollziehenden Machthaber bestimmt ist. Der Märtyrer liegt damit im Spannungsfeld zwischen einer Individualität, die zumeist eine religiöse Komponente hat, und der Politik. Sein Wesen liegt etymologisierend darin, daß er entsprechend der griechischen Grundbedeutung dieses Wortes seine Ansichten mit seinem Leben, seiner und physischen Integrität, bezeugt. Der Typus des Märtyrers hat sich auch in einer stattlichen Zahl von Märtyrerdramen literarisch manifestiert. 185 Märtyrer- 184 Vitus B. Dröscher, Weiße Löwen müssen sterben. Spielregeln der Macht im Tierreich. Hamburg 1989, 92-96. 185 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928). In: Ds., Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser Bd. 1,1. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1991, 251-256 streift oder impliziert etliche der hier ausgeführten Gedanken. So referiert er den Unterschied zwischen Märtyrerdrama und klassischer Tragödie, von <?page no="83"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 69 elemente können nicht zuletzt wegen des starken christlichen Einflusses auf die abendländische Kultur jedoch auch außerhalb dieses Kontextes und auch außerhalb reiner Märtyrerhandlungen auftreten und dabei mit heroischen oder tragischen Handlungssträngen verwoben sein. Im Film aus der Mitte des letzten Jahrzehnts Sophie Scholl - Die letzten Tage (2005) schließt sich an den heroischen, aber gescheiterten Versuch der Protagonistin, das Volk gegen die Untaten und das Verderben der Tyrannei aufzurütteln, ein Märtyrerende an, weil sie auf das Angebot des Staatsanwalts, ihr Leben zu retten und von ihren Ansichten abzurücken, nicht eingeht. Ebenso hält Sokrates vor dem versammelten demokratischen Souverän an seinen Ansichten und seiner Lebensführung selbst um den Preis der Eliminierung fest. Märtyrerelemente gibt es sogar in der attischen Tragödie parallel zur Tragik. Durch den unauflösbaren Konflikt zweier gleichrangiger Normen (und auch Integritäten, derjenigen der Polis, also der genuin politischen, und der rituell-religiösen, die sich auf die Familie konzentriert) handeln in Sophokles’ Antigone beide Kontrahenten tragisch, doch die namensgebende Protagonistin vollzieht ihre tragische Transgression als Märtyrerin für ihre Ansichten, weil sie sich über das herrscherliche Verbot im Wissen um die angedrohten eliminatorischen Konsequenzen ihrer Tat hinwegsetzt. Daß sie die Transgression im Wissen um deren Sanktion vollzog (v. 453-455), 186 nähert sie dem heroischen Typus eines Achill oder Sokrates an und erklärt nicht zuletzt ihr fortwährendes Weiterleben auf der europäischen Bühne. Daneben kannte die heidnische Antike mit dem freiwilligen Opfer moralisch integrer einzelner Menschen für die physische und religiöse Integrität des Kollektivs auch den Typus der Heroik. Dieses Austauschverhältnis findet sich zuerst als soziale Praktik, die in der Schamkultur verwurzelt ist. Als Epimenides Athen aus Anlaß einer Pest von den alten Verbrechen ( ) mit menschlichem Blut reinigte ( ), welche die frevlerische Ermordung des Tyrannisaspiranten Kylon ( ) verursacht hatte, hätten zwei Jünglinge namens Kratinos und Ktesibios (der zweite Name fehlt bei Athenaios) sich freiwillig hingegeben ( ) für die Erde, die sie genährt hatte (Athen. 602cd, D.L. 1.110). Die skizzierte Handlungskonstellation hat an diesem Beispiel synchron Gültigkeit, obwohl es der Aspekt der Reinigung und Befleckung diachron genetisch in die Tradition des Sündenbocks einreiht, 187 der qua Negativum eliminiert wurde. Diese Tradition ist auch noch bei einem Beispiel feststellbar, das Herodot für die Zeit der Perserkriege überliefert (7.134.2 f.): Zwei edle Spartaner, Sperthies, der Sohn des Aneristos, und Bulis, der Sohn des Nikolaos, erklärten sich freiwillig ( ) bereit, ihr Leben dem Großkönig als Genugtuung ( ) für den Mord an seinen Gesandten anzubieten, dem die Literaturkritik ausgehe, die christlich-mittelalterliche Prägung des Märtyrerdramas sowie die Opposition des Märtyrers gegen den Tyrannen. 186 Antigone begründet in diesen Versen ihr Handeln damit, Kreons sterbliche Gebote vermöchten nicht die ungeschriebenen Gebote der Götter zu überholen ( ), attestiert ihnen also die Unfähigkeit zur nomothetischen Überlegenheit, die transgressiv-topologisch formuliert wird. 187 Jean-Pierre Vernant, Ambiguïté et renversement. Sur la structure énigmatique d’Œdipe-Roi (1972). In: Ds., Œuvres. 2 Bde. Paris 2007, Bd. 1, 1153-1181, h. 1174. <?page no="84"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 70 als die Stadt durch einen Ausrufer öffentlich fragte, ob ein Spartaner bereit sei, für Sparta zu sterben. Der Hintergrund war, daß die Spartaner wegen des Gesandtenfrevels kein günstiges Opfer mehr hatten erlangen können. Freiwilligkeit und heroisches Selbstopfer sind in dieser Episode klarer überliefert als im Athener Beispiel. Noch deutlicher wird der heroische Aspekt allein durch die militärische Färbung in einem römischen Fall, den Varro (ling. 5,148) und Livius überliefern (7,6,1-6): Als auf dem Forum ein Spalt aufklaffte und das Orakel sagte, er werde sich nur nach dem Opfer dessen schließen, was dem römischen Volk am meisten Kraft verleihe, habe sich M. Curtius, um der postilio nachzukommen (so Varro) bzw. die Permanenz des römischen Staates zu gewährleisten, in voller Rüstung auf seinem Pferd in den Spalt gestürzt, der sich darauf geschlossen habe. Dagegen ist es ein Kennzeichen der tragischen Transgression der attischen Tragödie, daß die eigene physische Integrität nicht geopfert wird. In dieser literarischen Kunstform betrifft die Eliminierung, die mit der tragischen Transgression einhergeht - wenn bei ihrem Vollzug überhaupt menschliche Opfer zu beklagen sind (vgl. das wahnhaft-substitutive Wüten in Sophokles’ Aias) - systemisch bloß die eigenen Anverwandten, 188 was bereits in Aristoteles’ Poetik anklingt (Poet. 1453b 19-22). Nur die Eliminierung, die sich nachfolgend aus der Transgression ergibt, kann den Protagonisten der Transgression selbst betreffen. Das bestätigen, wenn auch unter ganz unterschiedlichen Vorzeichen etwa so prominente Figuren wie Sophokles’ Aias und Antigone im Falle der physischen sowie Oidipus und Medea im Falle der lokalen Eliminierung. Die Eliminierung einer fremden physischen Existenz schließt die Tragik und überhaupt die hier zu untersuchenden Handlungsabläufe der Tragödie für Analysen in Anlehnung an Giorgio Agamben auf, der in Anlehnung an Walter Benjamins Prägung ‚nacktes Leben‘ die Souveränität als die strukturell exzeptionelle Verfügung über das Leben bestimmte (2002: 14, 30 f., 39). Erst in Euripides’ Alkestis, die als Vertreterin eines Satyrspiels geeignet ist, die eherne Kausalität tragischer Notwendigkeit zu unterlaufen, wird das heroisch-altruistische Opfer des eigenen Lebens für ein fremdes, das die eigene moralische Integrität der Protagonistin auch kontrastiv zu anderen Figuren erhöht, in wunderbarer Weise mit beider Restauration belohnt. Marxistisch-kapitalistisch gesprochen wird das Opfer der Integrität in diesem Drama zu einer Investition, weil es resultativ alle beiden 188 Allerdings deutet sich, wie Leslie Kurke, The Cultural Impact of (on) Democracy. Decentering Tragedy. In: Democracy 2500? Questions and Challenges. Ed. by Ian Morris and Kurt Raaflaub. Archaeological Institute of America. Colloquia and conference papers 2. Dubuque 1998, 155-169, h. 160 herausarbeitet, in A. Ag. 60-67 eine leise Kritik am Opfer zahlreicher Griechen für die Wiedergewinnung der individuell-aristokratischen Ehre der Atriden an. Während der Tod anonymer Heroenmassen und Heerscharen in der Ilias unproblematisiert der literarischen Konstruktion epischer Größe diente (vgl. Il. 1.10), würde demnach die Tragödie der jungen attischen Demokratie das Opfer der kollektiven physischen Integrität für die aristokratische soziale Integrität nicht billigen. Indes werden die Atriden in dem fraglichen Passus der Parodos insofern nicht belastet, als Zeus Xenios sie gesandt hat, also eine verletzte religiöse Norm, und das Geschehen darauf in iliadischer Reminiszenz als ’ charakterisiert wird (v. 68). <?page no="85"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 71 physischen Integritäten wahrt und einen ideellen Zugewinn moralischer Integrität mit sich bringt. Gänzlich untragisch ist dagegen, um der systematischen Vollständigkeit halber den Integritätstausch abzurunden, der Tragik und Heroik zugrunde liegt, eine andere Form des Austauschs im literatursoziologischen Rahmen, dem die Tragödie ihre performative Existenz als Schauspiel verdankt. Gemeint ist die Konvertierung von materiellen Ressourcen in Sozialprestige, welche die Funktion des Choregen mit sich bringt. 189 In Pierre Bourdieus Terminologie wird hierbei ökonomisches Kapital in soziales verwandelt. Dabei wird das Kunstwerk selbst zur (beliebigen) (Zwischen-)Station eines Austauschprozesses (wenn auch noch nicht zur ökonomischen Ware wie in der Kulturindustrie, deren Betrieb den Wert des Kulturprodukts über das investierte Finanzkapital inszeniert 190 ). Gleichwohl können an seine Stelle im Zirkulationsprozeß auch andere öffentlich-kulturelle Dienstleistungen treten, wie in Rom Wagenrennen und Gladiatorenkämpfe. Denn obwohl hierbei ein Individuum etwas für das Gemeinwohl opfert, haben Einsatz und Gewinn der beiden Seiten keine existentielle, sondern nur eine finanzielle bzw. ästhetische Dimension. Da die liberalitas in der weiteren Geschichte eine geschätzte und erfolgreich zur Herrschaftsakzeptanz eingesetzte Fürstentugend war, sei dieses Austauschmuster das aristokratische genannt. Es ist durchaus komplexer als der Zirkulationsprozeß der Kulturindustrie, da dort das in das Kunstwerk investierte Kapital erneut in paradigmatischer Tautologie in finanzielles Kapital umgemünzt wird, während es hier in soziales Kapital konvertiert wird. Es ist übrigens ein von Kurke bei ihrer Engführung von Aischylos’ Agamemnon und Pindars elfter pythischer Ode, die beide egalitäre normative Korrektive aristokratischen Verhaltens seien, nicht bemerkter Unterschied, daß, wie Kurke selbst herausarbeitet (1998: 163), die finanzielle Seite der Dichtung den Epinikien inhärent ist, weil schließlich ihr Dichter den Lohn des aristokratischen Auftraggebers für seine eigene ökonomische Existenz braucht. Dieser Nexus des Austauschs schimmert in der Tat an der von Kurke zitierten poetologischen Stelle durch. Der Sprecher des Chorliedes apostrophiert die Muse, es sei ihre Aufgabe, sich für die Auftraggeber, den Sieger und seinen Vater, deren Heiterkeit und Ruhm aufleuchte, zu bemühen, wenn sie übereingekommen sei, ihre silberne Stimme gegen Lohn zu gewähren (v. 41-44). 191 Hier wird die Dichtung anders als im Falle der Tragödie zur Ware, die Muse zur Lohnarbeiterin (lat. meretrix). Die pekuniäre Ummünzung der Dichtung wird 189 Vgl. Kurke 1998: 163-165. Kurke sieht in dieser Rahmenbedingung sogar eine extradramatische Ironie zum Luxus, wie er im Agamemnon etwa in Form des roten Teppichs zur aristokratischen Selbstinszenierung ohne öffentlichen Nutzen ausgestellt werde. 190 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. New York 1944, Frankfurt a.M. 1969, 131 f.: „Der einheitliche Maßstab des Wertes besteht in der Dosierung der conspicuous production, der zur Schau gestellten Investition. […] Dieser Arbeitsgang [sc. der die Übereinstimmung von Wort, Bild und Musik produziert] ist der Triumph des investierten Kapitals.“ 191 / ’ { } / / / . <?page no="86"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 72 besonders deutlich daran, daß der poetischen Stimme die Eigenschaft des begehrten Münzmetalls zugeschrieben wird. Das qualitative Resultat des Austauschs ist damit essentialistisch im Wesen der Dichtung angelegt, wie auch die Eigenschaften der Gepriesenen nicht als Persuasionszweck der Dichtung genannt, sondern als Faktum beiläufig erwähnt werden. Hier wird das Zweckdenken also in persuasivem Interesse sprachlich verschleiert. Die Konfliktlösung, der bürgerliche modus vivendi und das Versöhnliche, das Kurke bei der epinikischen Dichtung als generischen Gegensatz zur Tragödie ausmacht, die Konflikte formuliere und zuspitze, aber Aporien zurücklasse (1998: 163, v.a.: „Aeschylus poses but never resolves a crisis of values, of economic systems“), operieren also, weil das Siegeslied metapoetisch seinen eigenen sozioökonomischen Produktionsprozeß offenlegt, fern der tragischen Existentialität, bei der die physische Integrität auf dem Spiel steht und welche bereits thematisch dem bloß sportlichen Wettkampf des Epinikions denkbar fernsteht. Auf diese Authentizitätsunterschiede zwischen den beiden Gattungen läßt sich der Preis der Dike im Agamemnon beziehen, die falschmünzerische Kraft des Reichtums nicht mit Lob bedenkt (v. 779 f.: - / ), wie Kurke herausarbeitet (1998: 161 f.): Die Tragödie gibt sich nicht mit vordergründigen pekuniären Lösungen zufrieden, sondern entlarvt kraft ihres Normbegriffs, der auch die Transgression zu einem ihrer zentralen Themen macht, die semiotische wie kapitalzirkuläre Gehaltlosigkeit des Reichtums, in dessen Dienst sich das epinikische Chorlied beflissentlich wie ein Tagelöhner stellt. Auch wenn dieser literaturgeschichtlich anachronistische Brückenschlag die intertextuelle Chronologie von Aischylos’ Agamemnon und Pindars elfter pythischer Ode umkehrt und einen Dialog zwischen Tragödie und Epinikion nur konstruiert, so wird diese Kontrastierung in gewisser Weise durch den reichlichen Gebrauch eben der Metaphorik falschen Edelmetalls in frühneuzeitlichen poetologischen Debatten gerechtfertigt. 192 Die unlösbaren Widersprüche, welche die Tragödie zum Gegenstand hat, werden nach deren Bild also durch die pekuniären totalisierenden Operationen des Epinikions ebensowenig substantiell gelöst wie durch eine klassenlose Gesellschaft auf der anderen Seite der Skala sozialer Organisationsformen, die historisch nur als Projektion und Konstrukt der Moderne existiert und in der Antike auf das Dionysische und die Polis-Fiktion der Alten Komödie beschränkt war. Stellt man in Rechnung, daß in Euripides’ Medea und Aischylos’ Agamemnon, wo Iphigenie geopfert wird, um Helena wiederzuerlangen, 193 der patriar- 192 So Christian Grünnagel („Katzengold und Trompe-l’œil“, in: Klassik und Barock - Pegasus und Chimäre. Französische und spanische Literatur des 17. Jahrhunderts im Dialog. Diss. Heidelberg 2009. Heidelberg 2010, 35-72) in einer Arbeit, deren Analyseapparat ebenfalls, hier für die poetologischen Auseinandersetzungen, an Bourdieus Kapitalienzirkulation anknüpft (2010: 23-26). 193 Kurke 1998: 160 verkürzt hier abermals die Tragik, wenn sie Agamemnon bei Iphigenies Opfer eine „terrible perversion of the ‘exchange of women’” vorwirft, da Agamemnon an der von ihr zitierten Stelle (v. 206-217) beide Handlungsmöglichkeiten als für ihn inakzeptabel und übelbehaftet darstellt und sich bei seiner schwankenden Entscheidung in einem nachgerade klassischen tragischen Zwiespalt befindet, den Kurke theoretisch als inneres Merkmal der Tragödie einstuft (1998: 163: „the irreconcilable conflict of values“). <?page no="87"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 73 chalische Austausch von Frauen eine Rolle spielt, dessen Dysfunktion der Auslöser für die Handlung der Ilias ist, so wird klar, daß Tragik und Heroik, so wie die vorliegende Arbeit sie auffaßt, in den großen und vieldiskutierten Themenkreis von Austausch und Reziprozität gehören. 194 Er erhellt zudem ihre Spezifik, da der Einsatz nur bestimmte Güter umfaßt und der Tausch Einschränkungen unterliegt. 1.4.5 Tragik, soziale Integrität und Religion Dieser Abschnitt soll das im vorangehenden entwickelte Tragikverständnis in den Bereichen soziale Integrität und Religion absichern. Heroik und Märtyrertum sind auch bei der sozialen Integrität wertvolle Kontrastfolien, um die Spezifik der Tragik in der attischen Tragödie herauszupräparieren. Deren Extremfall ist das Opfer der physischen Integrität eines Anverwandten zur Wahrung der eigenen sozialen Integrität, mag dies nun wissentlich wie in Aischylos’ Agamemnon und Euripides’ Medea oder unwissentlich wie im OT geschehen, wobei dieser Extremfall im Agamemnon und im OT durch zusätzliche Verpflichtungen bzw. den Versuch, die prognostizierte Transgression zu vermeiden, gemildert wird. Diese Motivkonstellation erscheint dem modernen Menschen wohl eher als rücksichtslose, ehrversessene Verbohrtheit. Dieselbe Einschätzung dürfte auch das bloße Beharren auf der eigenen sozialen Integrität treffen, selbst wenn ihr nicht wie einem Moloch das Leben von Anverwandten geopfert wird. 195 Mit der Ächtung des Duells, die sich freilich über mehrere Jahrhunderte aufklärerisch-zivilisierender Bestrebungen erstreckte, scheint die soziale Integrität im Westen endgültig obsolet und in der Asservatenkammer sozialgeschichtlicher Werte verschwunden, wenigstens jedoch kein Wert mehr zu sein, um dessentwillen das Leben von Menschen aufs Spiel gesetzt oder gar geopfert werden darf. Die tragischen Protagonisten der griechischen Tragödie erscheinen von dieser Warte wie trotzige Kinder, die nicht gelernt haben, nachzugeben. Das entscheidende Problem dieser Sichtweise liegt darin, daß sie blind für ihre eigene mentalitätshistorische Kontingenz ist. Sie übersieht, daß die Forderung nach Selbstverleugnung, nach Demut (ahd. ‚Knechtsinn‘ 196 ) das Ergebnis einer bis heute nachwirkenden zweitausendjährigen Prägung der westlichen Zivilisation durch das Christentum ist. (Hier verhilft Nietzsches Kritik dieser Weltreligion, deren kritische Haltung selbst im Umfeld seiner Dramentheorie anklingt (Näheres s. 1.4.8 Alternative Tragikkonzepte: Nietzsche, Benjamin, Bohrer, A. Schmitt), zu einer erhellenden Distanz bei der Betrachtung der attischen Tragödie.) Es gehört nun einmal zum Wesen der tragi- 194 Vgl. etwa Richard Seaford, Reciprocity and Ritual: Homer and Tragedy in the Developing City-State. Oxford 1994. 195 Wie wichtig die soziale Integrität zumindest bei Sophokles ist, wird daran augenfällig, daß in zweien seiner Tragödien, dem Aias und dem Philoktet, in denen kein Verwandter stirbt, die soziale Integrität des Protagonisten das zentrale Moment ist, das sich als Ausgangspunkt für ein angepaßtes Tragikkonzept eignet. 196 Kluge 170 s.v. (zu demütig) „der die Gesinnung eines Gefolgsmanns, Dieners hat“. Ebenso Pfeifer 213 s.v., der als Grundbedeutung des Adjektivs „dienstwillig“ angibt und es von germ. *þewa ‚Sklave, Knecht‘ und ahd. muoti ‚gesinnt‘ ableitet. <?page no="88"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 74 schen Eliminierung, daß sie vermieden werden kann, dies jedoch Heilige oder (stoische) Weise erfordert, die Altruisten und / oder Asoziale sind, da die gewöhnlichen gesellschaftlichen Güter für sie nichts zählen. Auch wenn Aristoteles nicht als Ahnherr des hier verfochtenen Tragikkonzeptes des Integritätenkonfliktes vereinnahmt werden kann (s. 2.1.2 und Tragik in 2.1 Aristoteles’ Poetik), so ist ein Passus aus der Nikomachischen Ethik (1135b 19-29), den Arbogast Schmitt (Poetik 452) zur Klärung seines dramentheoretischen -Begriffs heranzieht (s. den genannten Abschnitt), äußerst hilfreich, um den Stellenwert der sozialen Integrität im damaligen griechischen Denken (Aristoteles steht der Adelsethik axiologisch und chronologisch viel näher als die Stoiker, die ganz mit den lebensweltlichen Gütern brechen) und damit auch ihre konfliktauslösende und transgressive Rolle zu verstehen, die hier für die attische Tragödie herausgearbeitet wurde. Wer ein Unrecht aus Zorn oder anderen Leidenschaften, die notwendiger- oder natürlicherweise den Menschen zustießen, begehe, handele zwar unrecht, sei aber nicht ungerecht oder charakterlich verdorben. Der Ursprung ( ) liege nicht bei demjenigen, der im Zorn handele, sondern bei demjenigen, der ihn in Zorn versetzt habe, und der Zorn reagiere auf ein vermeintliches Unrecht, also eine Verletzung der sozialen Integrität, deren Wahrung als legitim erachtet wird. (Die vollkommene Rückführung affektgeleiteter Transgressionen auf die soziale Umwelt ist gleichwohl etwas anderes als ihre Verortung in der sozialen Interaktion, welche die vorliegende Arbeit als Kriterium der Tragik ansieht.) Diese positive Sichtweise des Affekts steht vor dem Hintergrund der peripatetischen Metriopathie. Die kryptochristliche und kryptostoische Sichtweise 197 ignoriert dagegen, daß der intensionale Umfang und die praktische Relevanz (dazu zählt auch der Tod als Sanktion) der sozialen Integrität soziokulturell und historisch variiert, was im Wesen eines sozialen Wertes liegt (doch selbst die physische Integrität ist in diesen beiden genannten Punkten Schwankungen unterworfen), ihr Vorhandensein selbst jedoch eine nahezu konstante Größe ist. So sind selbst in den postmodernen westlichen Gesellschaften ‚Respekt‘, ‚Anerkennung‘ und nicht zuletzt die (Menschen-)Würde, die in vielen Einzelfällen als argumentative oder juristische Letztinstanz dient, 198 soziale Güter, die idealiter für sämtliche Mitglieder und Gruppen der Gesellschaft reklamiert werden. Das Streben nach Wertschätzung („esteem“) gilt manchen Forschern heute als anthropologische Universalie 199 und mangelnde Anerkennung kann den Menschen sogar in den Selbstmord treiben. 200 197 Vgl. Epiktets Dialog mit den Streithähnen Agamemnon und Achill (1.22.5-8). Mehr noch relativiert er den Ehrverlust und den Kriegsgrund, den Helenas Entführung für Agamemnon darstelle (3.22.36 f.). 198 Doch gibt es durchaus Überlegungen, die Menschenrechte von der Menschenwürde abzukoppeln (Jeremy Waldron, Is Dignity the Foundation of Human Rights? New York University School of Law. Public Law & Legal Theory Research Paper Series Working Paper No. 12-73, January 2013 [http: / / ssrn.com/ abstract=2196074]). 199 Douglas L. Cairns, Honour and Shame: Modern controversies and ancient values. Critical Quarterly 53,1 (2011) 23-41, h. 26. 200 Cairns 2011: 28. Vgl. Heinrich von Kleist an Marie von Kleist, Berlin, 10. November 1811 (Von der Würde des Menschen. Texte zum Nachdenken. Hg. v. Hans-Joachim Simm. Frankfurt a.M. 1999, 60 f.). <?page no="89"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 75 Dieser zivilisationsgeschichtliche Brückenschlag über mehr als zwei Jahrtausende zur Ehrenrettung der Tragik in der attischen Tragödie sei mit einem Stück dramatischer Komparatistik beschlossen: Die Protagonisten antiker Tragödien, die im Extremfall die physische Integrität ihrer Anverwandten ihrer eigenen sozialen opfern, handeln integrer als Gutierre in Calderóns Tragödie El médico de su honra, 201 der seine Frau Mencía, da diese durch den nächtlichen Besuch des Infanten (zum Ehebruch kam es nicht) seine Ehre besudelt habe, umbringt, indem er einen Barbier dazu verleitet, sie übermäßig zur Ader zu lassen. Vordergründig handelt er rationaler, ist bei ihm doch der Verwandte, der geopfert wird, die Ursache oder zumindest der Ansatzpunkt der sozialen Integritätsverletzung. Dies ist in der attischen Tragödie nur bei Orests Mutter Klytaimnestra und Oidipus’ Vater Laios, nicht aber bei Agamemnons Tochter Iphigenie und Medeas Kindern der Fall. (Ausschlaggebend ist für diese (Rollen-)Verteilung also, ob es sich bei den Anverwandten um Eltern oder Kinder der Transgressoren handelt.) Der entscheidende Unterschied zwischen Calderón und der attischen Tragödie liegt jedoch darin, daß es in dieser nicht bloß um den Ruf, das eigene Bild in der Gesellschaft, 202 geht, sondern daß die soziale Integrität - wie im Falle Agamemnons und Orests - eine religiöse Implikation hat und in allen Fällen neben der bloßen sozialen Integrität die Entscheidung durch Praktisch- Pragmatisch-Existentielles beeinflußt ist, das in dieser Schwere bei Calderón fehlt: 203 Bei Agamemnon steht praktisch das Auslaufen der Kriegsflotte auf dem Spiel, er selbst pragmatisch unter dem Druck der versammelten Heerführer. 204 Oidipus wird als einsamer Wanderer rüde physisch aus Laios’ Reisegruppe heraus attackiert und erschlägt seinen Vater unwissentlich im Affekt. Medea ist eine schutzlose, heimatlose Fremde, die mit ihrem einheimischen Mann die wichtigste Stütze einbüßt, außer Landes gejagt werden soll und der zeitweise sogar die eigenen Kinder genommen werden sollen. Klytaimnestra hat nicht nur über Jahre hinweg nachweislich Buhlschaft getrieben, sondern überdies ihren heimkehrenden Gatten heimtückisch ermordet. Bei aller hypothetisch denkbaren sozialgeschichtlichen Varianz 205 wiegt Mencías (vermeintliches) Vergehen doch 201 Vgl. dazu ausführlich Joachim Küpper, Diskurs-Renovatio bei Lope de Vega und Calderón. Untersuchungen zum spanischen Barockdrama. Mit einer Skizze zur Evolution der Diskurse in Mittelalter, Renaissance und Manierismus. Habil. München 1987. Tübingen 1990, 383-455 („Der Ehrenkasus als ‘Emblem’ einer geschädigten Welt. Calderóns El médico de su honra als Erwiderung auf die nominalistische Prämisse und als Problematisierung höfischer Zweckrationalität“). 202 Vgl. Küpper 1990: 383 über den Eindruck auf die heutigen Rezipienten: „[d]ie kühl kalkulierte Hinrichtung einer Heldin, deren Verstoß, so scheint es, einzig auf der Ebene der Apparencen eine Realität hat, […]“ 203 Vgl. die Handlungsübersicht bei Christoph Strosetzki, Calderón. Stuttgart, Weimar 2001, 47- 49 und in v. 1871-73 (Gutierre): Médico de mi honra / me llamo, pues procuro mi deshonra / curar; [...] in 2047 f.: Pues médico me llamo de mi honra, / yo cubriré con tierra mi deshonra (Aparte), v. 2063-2098. 204 Dies bleibt bei Epiktets zitierter Relativierung (3.22.36 f.) unberücksichtigt. 205 Küpper 1990: 383 f. weist zu Recht die mimetische Deutung mit dem Argument zurück, das Siglo de Oro sei in der Frage des Ehebruchs tatsächlich eher von Laxismus statt von Rigorismus geprägt gewesen, und verwirft selbst die denunziatorische, das Drama problematisiere den zeitgenössischen Ehrenkodex (1990: 385-389). <?page no="90"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 76 weit weniger schwer und hat neben der Ehre keine weiteren Implikationen. 206 Die Handlung wird allerdings dadurch kompliziert und Gutierres Spielraum eingeschränkt und er selbst bis zu einem gewissen Grad entlastet, daß der Infante der (vermeintliche) Liebhaber seiner Frau ist. Dessen Treulosigkeit wiegt um so schwerer, als Gutierre ein treuer Vasall des Königs ist und der Infante nach einem Sturz vom Pferd in Gutierres Haus Aufnahme gefunden und bei dieser Gelegenheit seine Jugendliebe Mencía wiedergesehen hat. Die hierarchischen Zwänge der Feudalgesellschaft ersetzen also die suprasystemischen des Götterapparats in der attischen Tragödie. Trotz aller Ziselierungen in den Modalitäten der Eliminierung bleibt Gutierres einziges Motiv die eheliche Verletzung seiner sozialen Integrität. Wie Theseus in Euripides’ Hippolytos erliegt er dem falschen Eindruck, den ein Brief erweckt (v. 2462-69), doch verflucht dieser voreilig im Affekt einen vermeintlichen Vergewaltiger, während Gutierre nach Indizien für die Untreue seiner geliebten Frau (v. 2472-74) fahndet, die ihre Unschuld beteuert (v. 2485: Una mujer no mates inocente.) und die Möglichkeit nicht ergeift, mit der Anwesenden das Mißverständnis aufzuklären. 207 Theseus findet seine Frau, die ihre falsche Anklage mit ihrem Tod beglaubigt hat. Gutierre bestimmt seiner Frau schriftlich trotz seiner Liebe den Tod rein aus verletzter Ehre. 208 Daß er ihr dabei die Frist von zwei Stunden mitteilt, die sie noch zu leben habe, zeigt seine metatheatralische, untragische Souveränität. Daß er sich mit der Entscheidung über das Leben eines anderen Menschen ein göttliches Vorrecht anmaßt, zeigt sein dramatisch ironischer Hinweis, sie möge als gute Christin sterben. 209 Dieser Vergleich mit dem spanischen Barockdrama konnte also deutlich herausarbeiten, daß reine „Ehrenmorde“ sowohl der attischen Tragödie als auch dem hier vertretenen Tragikkonzept fremd sind. 210 Für 206 Insofern greift hier Epiktets zitierte Relativierung (3.22.36 f.). 207 Vgl. Strosetzki 2001: 49 zur Passage zwischen v. 2495 und 2496: „Widerspruch und Aussprache sind unmöglich.“ Küpper 1990: 386 hebt dagegen die verschiedenen planvollen Schritte hervor, die Gutierres bei seiner Urteilsbildung und vor Vollstreckung der Strafe vollzieht. 208 El amor te adora, el honor te aborrece; y así el uno te mata, y el otro te avisa. Dos horas tienes de vida; cristiana eres, salva el alma, que la vida es imposible. Diese Verse stehen laut Strosetzki 2001: 49 „außerhalb der Zählung, steht zwischen Vers 2495 und 2496“, ebenso bei Ana Armendáriz Aramendía. 209 Pace Küpper 1990: 386, der anachronistisch christliche Deutungen, die vom christlichen Liebesgebot ausgehen, problematisiert. 210 Hierbei geht es nur um die explizierte Handlungsmotivation innerhalb der Stücke - pace Küpper 1990, der entsprechend seinem anspruchsvollen Projekt, anknüpfend an Foucault (1990: 17 f.) den Barock als „Diskurs-Renovatio“ herauszupräparieren, die im Zuge der Gegenreformation neu-alte Formen der Weltdeutung begründet habe (1990: 21 f.), untersucht, inwieweit in Calderóns Stück konkurrierende epochale Prinzipien der Geordnetheit von Weltdeutung und Gesellschaft, von Rationalität, zum Tragen kommen (1990: 389 ff.). Küppers Ansatz ließe sich hervorragend fruchtbar machen, um die Hintergründe von Transgression und Tragik in der attischen Tragödie zu analysieren, die Vernant im Übergang von der archaischen zur klassischen Kultur verortet (s. 1.2.3 Tragödie, Transgression und Gesellschaft), doch wäre dies ein eigenes Forschungsprojekt, das weit über die hier praktizierte Beschreibung und Klassifizierung von Handlungsstrukturen hinausgeht. <?page no="91"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 77 das gewiß reizvolle Projekt, es so weiterzuentwickeln, daß es die Tragik im gesamten europäischen Drama beschreiben kann, ist hier nicht der Raum. Schwerwiegender als etwaige (moralische), mentalitätsgeschichtlich bedingte Vorbehalte gegenüber der Lauterkeit und Tragik der Figuren der attischen Tragödie wären inhaltliche Nachfragen und Einwände, die insbesondere die nachfolgend zu klärende Rolle von Göttern und Religion für das vorgestellte Tragikmodell betreffen. Diese Frage hat in der früheren Forschung beachtliche Aufmerksamkeit gefunden, 211 und sie soll hier keinesfalls - unter eleganter Berufung auf Aristoteles’ Poetik (s. das Ende von 2.1.2 und Tragik im entsprechenden Kap.) - komplett ausgeklammert werden, sondern wurde nur zurückgestellt. Dies geschah deshalb, weil die generell abnehmende Evidenz der Wirkung und Autorität der Götter in der attischen Tragödie und im antiken Drama (s. 8.4 Die verschränkte Diachronie von Metatheater, Tragik, Religion und Autonomie der Kunst in der Zusammenfassung) sich auch bei der Tragik niederschlägt: Dadurch sind Götter und Religion zwar vielfältig mit dem skizzierten Idealmodell der Tragik verwoben, haben darin jedoch keinen festen systematischen Platz. Dies zeigt sich am plakativsten an der Weglaßprobe in Euripides’ Medea, deren Tragik ganz ohne olympische Götter funktioniert. Am ehesten sind sie die souveränen Garanten der (Welt-)Ordnung und des (Welt-)Geschehens, aus deren Geregeltheit und Struktur die eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten entspringen, die der Tragik zugrunde liegen. Dies zeigt sich selbst noch in Euripides’ Bakchen, in denen Dionysos durch massive metatheatralische Intervention seine göttliche Autorität restauriert, und ex negativo in Plautus’ Amphitruo, wo der Göttervater eine eliminatorische Wendung für das Opfer seiner sexuellen Transgression abwendet. In beiden Dramen hebeln die Götter mit Hilfe des Wunderbaren die ehernen Gesetze der Kausalität aus. Die Götter sind in diesem Fall also die Metallreifen, welche den Dampfkessel der tragischen Maschinerie zusammenhalten, nicht aber deren Teil. Dies zeigt sich etwa bei Iphigenies Opferung, die nicht wie bei Isaak einem göttlichen Gebot Folge leistet, sondern nur für die Ausfahrt des Heerzugs erforderlich wird. Der eigentliche Integritätenkonflikt spielt sich damit zwischen dem Leben der Tochter und der Pflicht als Oberkommandierender des griechischen Aufgebots und Bruder ab. Sehr oft garantieren die Götter auch die konfligierenden sozialen Normen (wie in der Atridentrilogie) oder zumindest eine von ihnen oder, nicht so anachronistisch säkular formuliert, göttliche und menschliche Ge- und Verbote bilden eine archaische Einheit und konfligieren nicht kategorial, sondern nur referentiell im Einzelfall. Ein gutes Beispiel hierfür ist Oidipus, der seine (sozialen) Transgressionen als Befleckung wahrnimmt, d.h. Verletzung seiner rituell-religiösen Integrität. Tragische Loyalitäts- und Integritätskonflikte allein zwischen der göttlichen und menschlichen Ebene wie bei Isaaks Opferung, die Jahwe Abraham befiehlt, scheinen dagegen selten zu sein, obwohl das Pantheon neben Oikos und Polis eine weitere potentiell konfliktträchtige Ebene von Legitimität, Autorität, Loyalität und Integrität schafft. Allenfalls in Euripides’ Bak- 211 Z.B. Peter-Rudolf Schulz, Göttliches und menschliches Handeln bei Aischylos. Diss. Kiel 1962. <?page no="92"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 78 chen scheint ein weder räumlich noch zeitlich aufzulösender Konflikt zwischen der Integrität von Polis und Oikos, die Pentheus verteidigt, und Dionysos’ Anspruch auf göttliche Ehren zu bestehen, der seine Autorität und die religiöse Integrität der Mysten berührt. Doch ist diese letzte Tragödie in vielerlei Hinsicht ein Sonderfall, etwa durch die massive metatheatralische Präsenz des Dionysos selbst gegenüber dem Hippolytos, Euripides’ anderer Asebie-Tragödie. Deren Handlungsverlauf, die Eliminierung eines (religiösen) Transgressors, vertritt das Grundschema der Gattung Tragödie in Reinform, ist aber nicht per se tragisch, weil ähnliches in dem Mythos Titanen und Giganten widerfährt. Ebenso ist die gottgesandte Verblendung gewiß eine konjunkturelle Einschränkung des Status als ethisch-rationales Subjekt, tragisch wird sie jedoch nur, wenn sie in die Handlungsstruktur eingebettet ist. Demgegenüber ist Apolls Orakel im OT eine verfeinerte Grundlage für die Dysfunktion des ethisch-rationalen Subjekts im Integritätskonflikt, da Oidipus durch seine Fehlinterpretation seinem eigenen Irrtum erliegt. Abschließend läßt sich festhalten, daß die Götter vielfältig den Rahmen für den tragischen Konflikt schaffen, aber nur selten dessen Bestandteil sind. Sie sind mithin oft eine notwendige, aber selten eine hinreichende Voraussetzung der Tragik. 1.4.6 Arbeitsdefinition, Submerkmale und Parallelfiguren der Tragik Nach der methodisch-komparativen Einordnung der Tragik am Ende von 1.4.3 und ihrer systematisierenden Vernetzung mit anderen Formen des (Integritäts-) Tauschs in 1.4.4 soll der Vergleich mit anderen (Handlungs-)Merkmalen das Verständnis der Tragik und ihrer Funktionsweise vertiefen. Während die Eliminierung, die der Tragik zugrunde liegt, eine konjunkturale Operation der Komplexitätsreduktion ist, kennzeichnet die Tragik selbst ein äußerst hoher Komplexitätsgrad; sie ist zwar ein Charakteristikum der transgressiven Eliminierung, doch führt sie die strukturelle Komplexität der condicio humana vor Augen und reduziert sie eliminatorisch, weil das Sowohl-Als auch der systemischen und faktischen Sozialeinbettung zu einem alternativen Entweder-Oder wird, deren eine Rolle durch die Transgression eliminiert wird. Diese konjunkturale eliminatorische Komplexitätsreduktion der strukturellen condicio humana ist wesenhaft für die Tragik. Diese ist noch komplexer als die Heroik, weil sie auf der Bündelung vieler Merkmale beruht, die sich entweder auf subjektbezogene Aspekte der Tragik, die durch die Aufhebung des Subjekts im Selbstvollzug vertreten werden, oder objektive beziehen, die hier im Integritätenkonflikt verankert werden. Diese beiden Aspekte bleiben insofern objektivierend, als sie die Handlung von außen beschreiben. Im Drama tritt jedoch noch der subjektivperzeptive Aspekt über die (Selbst-)Beobachtung der Akteure hinzu, der sich etwa im Aprosdoketon niederschlägt, das die subjektive Erfahrung der Kontingenz beschreibt (z.B. A. Pers. 265, 1006, E. Med. 225: ). 212 Daß die Tragik ein äußerst komplexes und abstraktes Handlungsmerkmal ist, können zwei grammatisch-linguistische Vergleiche illustrieren, der eine strukturali- 212 Vgl. dazu Grethlein 2010: 83-85. <?page no="93"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 79 stisch, der andere traditionell: Überträgt man strukturalistische Kategorien wie Segment, Phonem und Morphem auf die Dramenanalyse, entspricht die Tragik dem letztgenannten und ist damit ein Phänomen dritter Ordnung (Näheres s. 2.3.2 Strukturalistisch-semiotische Dramenästhetik). Hilfreich ist auch ganz basal-pedester die Analogie der syntaktischen Funktionen. (Insofern wird hier tatsächlich und wortwörtlich der Anspruch der vorliegenden Untersuchung eingelöst, eine Grammatik der Tragödie zu schreiben.) Die Tragik erfüllt hierbei die Funktion eines Adverbs, weil sie die Art charakterisiert, in der das (ethischrationale) Subjekt eine Handlung (Transgression, Eliminierung) vollzieht. Man muß deshalb bei der folgenden näheren Bestimmung und Abgrenzung der Tragik über weitere Begriffe zwischen konstitutiven Trägern der Tragik und konkurrierenden oder Submerkmalen unterscheiden. Der konstitutive Träger ist das ethisch-rationale Subjekt, dessen rationale Funktion der Intention und dessen ethische Seite der Integrität zugeordnet werden kann (Näheres s.u.), zwei Faktoren, die damit zu noch elementareren Konstituenten der Tragik werden und über die auch die Heroik bestimmt wird. Der Tragik kann jedoch ein ganzer Schwarm von Merkmalen zugeordnet werden, die alle der Heroik fehlen: Zu nennen sind hier neben dem bereits erwähnten Aprosdoketon die Autoreferentialität, selbstgenerierte und erfahrene Kontingenz, Negativität, Kontraproduktivität und Gegenläufigkeit. Daneben tritt ein Reigen von Schwesterbegriffen, die wie die Tragik Figuren sind, die zur Kennzeichnung von Handlungen und genauer von Transgressionen herangezogen werden können, nämlich Paradoxie, Perversion, Subversion, Ironie und Monstrosität. Die Gegenläufigkeit kennzeichnet neben der Tragik auch Paradoxie, Perversion, Subversion und Ironie. Diese Figuren unterlaufen wie Tragik und Monstrosität 213 die binär-lineare Rationalität. Bei der Interpretation einzelner Dramen werden sich die Nähe, aber auch die Unterschiede dieser Prädikate zur Tragik en détail zeigen. Die Monstrosität ist, da sie eine Abweichung vom Normgerechten darstellt, ein zentrales Merkmal der Transgression qua Normüberschreitung. Das Monstrum kann dabei das (reproduktive) Produkt vornehmlich einer sexuellen Transgression (so der Minotaurus) oder eine binnenhermeneutische Identifikation des Transgressors durch seine Umwelt (Medea, Phaedra) 214 sein. Auch die Dekonstruktion hat mit der Tragik die Unausweichlichkeit der Gegenläufigkeit in der Performanz gemeinsam: 215 Die Zerlegung des Gegen- 213 Rolf Parr, Monströse Körper und Schwellenfiguren als Faszinations- und Narrationstypen ästhetischen Differenzgewinns. In: Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hgg.), Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen. Literalität und Liminalität 12. Bielefeld 2009, 19-42, h. 19 f. 214 Michael Niehaus, Das verantwortliche Monster. In: Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hgg.), Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen. Literalität und Liminalität 12. Bielefeld 2009, 81-101, h. 81 nennt dieses „unsichtbare Monster […] das monstre moral - das Sittenmonster, das Verhaltensmonster“. 215 Im schließenden Abschnitt von „Le théâtre de la cruauté et la clôture de la représentation“ (2003: 341-368) nimmt Jacques Derrida dagegen das Tragische nicht performativ, sondern theatertechnisch-syntagmatisch als abschließendes Ende der Aufführung wahr (L’écriture et la différence. Paris 1967, Ndr. 2003, 368): „Penser la clôture de la représentation, c’est penser le tragique.“ <?page no="94"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 80 standes kann sich nur als dessen Rekonstruktion vollziehen. Mit dem Dämonischen, das Karl Reinhardt ins Zentrum seiner OT-Interpretation rückt (s. 2.4.5 Transgression und Orakel im Kap. zu dieser Tragödie), hat das Tragische die Negativität, die Desubjektivierung, die Integritätsverletzung und die Kontingenzerfahrung gemein. Anders als im Falle der Dämonie ist die deterministische notio necessitatis, die in der Negation der Willensfreiheit besteht, dagegen kein Merkmal der Tragik, sondern nur die unvermeidliche Wahl zwischen zwei Handlungsoptionen, von denen jede eine Integritätsverletzung birgt. Diese Notwendigkeit läßt sich mit Jean-Paul Sartre auf die Formel bringen: Die existentielle menschliche Freiheit der Wahl umfaßt nicht die Freiheit von der Wahl. 216 Das elementarste Merkmal der Tragik ist die Selbstbezüglichkeit. Sie setzt sich klar von den übrigen Merkmalen ab, die ein konzeptuelles Kontinuum um die Negativität bilden: Diese charakterisiert subjektiv das Scheitern der Intention, das darin besteht, daß das Ergebnis der Handlung kontingent zur Intention ist, die diese leitete (so bei Oidipus im OT und Euripides’ Medea), und objektiv die Integritätsverletzung und Eliminierung. Die Gegenläufigkeit hebt darauf ab, daß die transgressive Handlung das Gegenteil des Erstrebten erreicht, eine Diskrepanz, die paradox ist. Dagegen bezeichnet die Perversion die mit dem moralischen Integritätsverlust verbundene Rollen- und Funktionsverkehrung. Während die Gegenläufigkeit unabhängig von einer Intention auftreten kann und auch Figuren wie Paradoxie und Perversion kennzeichnet, ist die Kontraproduktivität auf Fälle beschränkt, in denen das Gegenteil des Erstrebten erreicht wird, freilich ohne daß dieser Vorgang eine Negation impliziert. Was die Autoreferentialität angeht, so schlägt sich ihre besagte Sonderstellung auch darin nieder, daß sie - im Gegensatz zu den vorgenannten Merkmalen der Tragik - nicht dem Adverb, sondern dem Genus verbi entspricht. Vielleicht ist es kein Zufall, daß die Autoreferentialität bereits eine Diathese des griechischen Verbalsystems ist. Doch liefert dieser grammatische Umstand allenfalls eine mentalitätsgeschichtliche Voraussetzung, aber keinen zwingenden Grund für das Entstehen von Tragik im griechischen Drama, da das Altindische ebenfalls über ein Medium verfügte und dessen Autoreferentialität sogar grammatikalisch terminologisierte ( tmanepada ‚Wort für einen selbst‘, d.h. reflexiv), ohne daß sich freilich in der altindischen Literatur eine Gattung Tragödie, 217 geschweige denn eine dramatische Tragik, entwickelt hätte. Der hermeneutische Rückgriff auf eine Verbalkategorie hat allerdings keinen geringeren Archegeten als Gérard Genette, dessen Narratologie nicht nur auf die hier bemühte Diathese (1972: 225-267: „voix“), sondern auch den Modus (1972: 183-224: „mode“) und drei Zeitaspekte zurückgriff (1972: 77-121: „ordre“, 1972: 122-144: „durée“, 1972: 145-182: „fréquence“), die in die Kategorie ‚Tempus‘ fallen. 218 216 L’être et le néant. Paris 1943, Ndr. 1969, 558 f. 217 Klaus Mylius, Geschichte der altindischen Literatur. Leipzig 1983, 211. 218 Figures III. Paris 1972. Die Kategorie des Tempus ist jüngst für die altertumswissenschaftliche Interpretation fruchtbar gemacht worden von Jonas Grethlein, Christopher Krebs (Hgg.), Time and Narrative in Ancient Historiography. The “Plupast” from Herodotus to Appian. Cambridge 2012. Diese Figur erschließt Jonas Grethlein bereits in The Hermeneutics and Poetics of Memory in Aeschylus’ Persae. Arethusa 40 (2007) 363-396, h. 380 für die Auslegung der attischen <?page no="95"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 81 Ungeachtet der Schwierigkeiten ihrer generisch-komparatischen Parallelisierung liefert die Autoreferentialität einen wichtigen Aspekt, um zusammen mit der Intention das Funktionieren der Tragik auf der Ebene des Subjekts zu präzisieren. Dieser Blickwinkel schärft das vorliegende Tragikverständnis auch durch die Einbeziehung früherer Tragikkonzepte. Da die Tragik ein Phänomen der konjunkturellen Dysfunktion ist, muß man sich für ihr exaktes Verständnis die Funktionsweise derjenigen Größe anschauen, deren Funktionieren strukturell vorausgesetzt wird. Hierbei handelt es sich um das ethisch-rationale Subjekt. Darunter wird hier eine menschliche oder göttliche Person verstanden, die imstande ist, souverän und autonom Ziele zu erkennen und zu verfolgen, deren Notwendigkeit suprasubjektiven Normen oder Erfordernissen des individuellen oder kollektiven Selbsterhalts entspringt. Der Kern seiner Subjekthaftigkeit ist also die richtige Ausrichtung seiner Intention, die hier über einen Typus der Integrität beschrieben wird, und das Erreichen des hiermit abgesteckten Ziels. Die (transgressive) Abweichung von diesem liegt bildlich bereits dem Begriff der zugrunde (s. 2.1.2 und Tragik in 2.1 Aristoteles’ Poetik). Sie erweist sich im Falle der drei Beispiele tragischer Transgressionen, die in dieser Arbeit besprochen werden sollen, als kontingent zur integritätswahrenden Intention. So tötet Oidipus am Dreiweg unbekannterweise seinen Vater, obwohl er dies vermeiden wollte, indem er nicht zu seinen (vermeintlichen) Eltern zurückkehrt. Medea tötet ihre Kinder, obwohl sie sich des Verlustes bewußt ist, nimmt dies aber in Kauf, um ihre soziale Integrität gegen Iason wiederherzustellen. Und auch Pentheus, der wegen seines theomachen Integritätenkonfliktes einen Sonderfall darstellt, büßt ungewollt sein Leben bei dem Versuch ein, die kulturelle Integrität seines Königreiches gegen den Taumel der rasenden Bakchen zu verteidigen. Die komplexe Phänomenologie der Intentionenkontingenz in den genannten Fällen läßt bereits erkennen, daß es allein für die heuristische Praxis problematisch ist, die Tragik auf einen Intentionenkonflikt zu reduzieren. Ein einfacheres und praktikableres Kriterium ist der zugrunde liegende Integritätenkonflikt. Er hält das Bewußtsein wach, daß die situative Dysfunktion des ethisch-rationalen Subjekts auch bei der Ausrichtung und Realisierung der Intention kein törichtes Versagen ist. Eine Brücke zwischen Intentionen und Integrität schlägt der Begriff des Interesses, weil er die Integrität auf die individuelle Ebene herunterbricht, ohne sie wie im Falle der Intention den dramaturgischen Zufällen der subjektiven Figurengestaltung auszuliefern. Diese Probleme, die der Intentionenkonflikt in der hermeneutischen Praxis mit sich bringt, lassen sich nachfolgend an einem Fallbeispiel verdeutlichen. Schmitt resümiert nämlich den tragischen Konflikt der griechischen Tragödie als Konflikt verschiedener Intentionen (1997: 43). So konfligiere etwa die Absicht des Kreon der Sophokleischen Antigone, seine unbestechliche Amtsfüh- Tragödie: In den Persern verhalte sich die Vorvergangenheit, welche die Regentschaft des Dareios darstelle, zur Vergangenheit der Tragödienhandlung wie diese zur Zeit der Aufführung. - Daß das Französische mit der Angleichung des participe passé die Kategorie Genus auch beim Tätigkeitswort kennt, legitimiert die Genderperspektive, welche die vorliegende Arbeit in die Interpretation der Handlung des antiken Dramas einbringt, als Fortschreibung von Genettes grammatisch basiertem Ansatz in der Literaturwissenschaft. <?page no="96"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 82 rung, d.h. in der Terminologie der vorliegenden Arbeit seine politische Integrität, durch die Bestrafung Antigones unter Beweis zu stellen, mit der Intention, seine Familie zu erhalten, d.h. die physische Integrität seines Sohnes Haimon und seiner Frau Eurydike, die sich nach Antigones Tod in einer Kettenreaktion eliminieren. Die familiäre Seite des in dieser Arbeit angesetzten tragischen Integritätenkonflikts liegt damit unverkennbar vor, die persönliche Integrität erscheint politisch gewandet. Inwieweit Kreon auch seine soziale Integrität gefährdet sieht, da ihm seine politische Autoritiät als neuer Amtsinhaber bedroht scheint (v. 289-303) und die Konfrontation mit einer Frau stattfindet (v. 484 f., 525), kann hier nicht geklärt werden. Unverkennbar personalisiert sich jedoch bei Kreon der für diese Tragödie typische Konflikt von Polis und Oikos. Die Gegenläufigkeit von Kreons Intention wird erst durch die Folgen sichtbar, die durch die Verwirklichung der ersten eintreten. Schmitts Aristotelismus, der hier seine Interpretation der auf den Befund der Tragödien überträgt, bringt es jedoch mit sich, daß er die Aus- und Auflösung dieses Konflikts als intellektuelle Fehlleistung des betreffenden Akteurs deutet (ähnlich diagnostiziert er bei Oidipus Voreiligkeit im Urteil), der auf die eine subjektive Intention „fixiert“ gewesen sei und darüber ihr konfliktuöses Verhältnis zu seinen anderen Intentionen „nicht genug geprüft ha[be], und somit nicht geklärt ha[be], welcher Intention er eigentlich folgen wollte.“ Diese Sichtweise, die aus dem objektiven synchronen Wertekonflikt einen subjektiven, bloß diachron realisierten Intentionenkonflikt macht (bei dem Konzept des Interesses kann dagegen auch synchron ein Konflikt unabhängig von der aktuellen Intention des Betreffenden bestehen), läßt die tragischen Akteure zwangsläufig als intellektuell oder charakterlich defizitär erscheinen, was ihre von Aristoteles geforderte grundsätzliche Integrität (Poet. 1453a 7-9, 15-17) zumindest beeinträchtigt und dem in dieser Arbeit vertretenen Tragikkonzept der situativen Dysfunktion eines ethisch-rationalen Subjekts widerspricht. Gerade im OT, bei dessen Interpretation Schmitts Position näher besprochen werden soll (s. 2.4.2 Monstrosität der Transgression statt Schuld-, Schicksals- oder Charaktertragödie), steigert sie sich bei Egon Flaig bis zu der Absurdität, Oidipus hätte sich im Wissen um die Unkenntnis, wer sein Vater ist, einfach jedes Totschlags enthalten müssen, um den Eintritt des Weissagung zu vermeiden (1998: 120). 219 Auch Schmitts Argumentation impliziert zumindest, die Eliminierungen seien vorhersehbar und vermeidbar gewesen, auch wenn er dies nicht ausspricht. Dies sowie seine Thesen lassen sich am zitierten Beispiel Kreons überprüfen, den er ebenfalls bemüht. Dieser sei auf die Bestrafung Antigones fixiert gewesen und habe nicht gemerkt, was der Verlust Haimons für ihn bedeuten würde. Tatsächlich droht Haimon seinem Vater andeutungsweise mit seinem Tod (v. 751: ’ ’ ). Der erste Fall kann jedoch auch als Drohung gegen Kreon verstanden werden und wird von diesem als Frechheit abgetan. Haimons Abschiedsworte 219 Die Absurdität solcher kontrafaktischen alltagslogischen Empfehlungen hat bereits Eric Robertson Dodds mit klaren Worten offengelegt (On Misunderstanding the Oedipus Rex. In: Ds., The Ancient Concept of Progress and other Essays on Greek Literature and Belief. Oxford 1973, 64-77, h. 68). <?page no="97"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 83 deuten den Selbstmord ebenfalls an (v. 762-765), doch hat Kreon Anlaß, sie als emotionale Reaktion eines jungen Menschen einzustufen. Ersteres legt zumindest der Kommentar des Chores zum Abgang nahe (v. 766 f.: - ). Den Tod des Sohnes bringt er nur als Strafe durch Kreon ins Gespräch, die dieser auf Antigone eingrenzt (v. 770 f.). Rein sachlich hat Schmitt also nicht Unrecht, daß das Drama die situative Möglichkeit aufscheinen läßt, daß Kreon seine gefährliche Meinung ändert. Doch bestand für Kreon bloß eine hypothetische Möglichkeit, den Tod seines Sohnes vorherzusehen und abzuwenden, als wahrscheinlich ( ) wird dies im Drama nicht dargestellt. In der folgenden Szene warnt dann Teiresias Kreon ausdrücklich, er werde bald einen Blutsverwandten als Toten haben (v. 1064-67). Der Chor rät Kreon daraufhin nachdrücklich, Polyneikes zu bestatten und Antigone zu befreien (v. 1100 f.) - und selbst die Vorgänge zu begleiten. Schweren Herzens folgt Kreon diesem Rat ohne Einschränkung (v. 1108-1114). Dieser Sinneswandel befreit Kreon nicht nur vom Makel beratungsresistenter Intransigenz, sondern sichert auch seine moralische wie kognitive Integrität. Daß das Drama seinen Sinneswandel derart inszeniert und an die soziale Interaktion, ja Intervention knüpft, zeigt überdeutlich, daß Kreon Haimons Tod schwerlich als realistische Option vorhersehen konnte, weil andere ihm diese Möglichkeit verdeutlichen müssen. Eurydikes Selbstmord liegt gänzlich jenseits seines Horizontes. Kreons Tragik kann aber schwerlich auf einer Option beruhen, die als Verstoß gegen das einzustufen wäre. Nach der vorangehenden Analyse des Tathergangs darf man eher von einer handlungsstrukturellen Beeinträchtigung seiner kognitiven Funktion ausgehen. Inwieweit diese bei der vorangehenden Entscheidung, Antigone hinzurichten, vorliegt, könnte nur eine genaue Lektüre des entsprechenden Teils dieser Tragödie klären. Demgegenüber scheint es praktikabler, die Tragik entsprechend der Unterscheidung der Sprechakttheorie zwischen der Redeabsicht (Illokution) und deren Folgen (Perlokution), die durchaus von der Redeabsicht abweichen können, als eine Integritätsverletzung zu bestimmen, die trotz des Strebens nach Integritätswahrung eintritt, weil zwei Integritäten nicht gleichtzeitig gewahrt werden können. Die tragische Integritätsverletzung ist also bei dieser objektivierenden Sichtweise, die Resultate konstatiert und eidetisch-handlungstheoretisch mit den Intentionen vergleicht, die den Handlungen zugrunde lagen, welche diese Folgen gezeitigt haben, genauso kontingent zur Intention wie die Perlokution zur Illokution. Der Begriff der Kontingenz umgeht dabei die diachronen Identitätsprobleme, die bei Schmitts Intentionenanalysen zutage getreten sind, und außerdem die ontologischen, die im folgenden untersucht werden sollen. Szondi hat nämlich anhand des OT, wenn auch nicht in derart terminologisierter Form, die Tragik inhaltlich vergleichbar über eine Gegenläufigkeit der Absicht bestimmt (1961: 65): „[N]icht im Untergang vollzieht sich die Tragik, sondern darin, daß der Mensch auf dem Weg untergeht, den er eingeschlagen hat, um dem Untergang zu entgehen.“ Die hodologische Metapher läßt erkennen, wie sehr diese Definition auf den OT zugeschnitten ist und eine Identität der Integrität bei Ziel und gegenläufiger Wirkung voraussetzt. Bei unserer Definition ist dagegen nicht als Bedingung postuliert, daß es sich um dieselbe Form <?page no="98"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 84 von Integrität bei derselben Person handelt. Dadurch wird auch Kreons oben geschilderte Tragik erfaßt: Sein legitimes Bemühen, die Polis zu erhalten, zerstört seinen eigenen Oikos. Unter die weitergefaßte Definition fällt aber auch ein Fall wie Medeas Mord an ihren Kindern, mit dem sie ihre sozialpragmatische Integrität als Subjekt gegen die Versuche von Iason und Kreon, sie zum Objekt zu degradieren, wahrt und zugleich mit der physischen Integrität der Kinder ihre genealogische und soziomoralische zerstört. Angesichts des prominenten Entscheidungsmonologs, der Medeas Schwanken zwischen diesen Zielen auf die Bühne bringt, könnte Schmitts Kriterium allenfalls eine momentane oder phasenweise Ausblendung der kollateralen (Selbst-)Schädigung infolge ihrer Racheintention ansetzen. Domenach gibt denn auch die passendste Definition der Tragik, die mit der Intention und deren Gegenläufigkeit operiert (1967: 25): „[I]l est tragique que je fasse le mal précisément en voulant faire le bien, il est tragique que je doive écraser la liberté d’un autre pour conquérir la mienne… La politique est pleine de ces contradictions monstreuses […].“ Mag der zweite Fall von Tragik, den Domenach entwickelt, auch seinem historisch-politischen Interesse geschuldet sein, so illustriert er dennoch treffend den weitergefaßten Begriff der Tragik, der wie im Falle Medeas über eine nichtidentitäre Integrität bei Intention und Ergebnis bestimmt ist. Domenachs erste Definition wird in dieser Arbeit mit den verschiedenen Facetten der Integrität präzisiert („bien“, „mal“) und zeigt auch, daß das erstrebte Ziel in den Augen des (Binnen-)Publikums integer und akzeptabel sein muß (m.a.W. daß systemisch im Gegensatz zum absurden Theater substantielle, sinnstiftende Werte vorausgesetzt werden), ein subjektiver Aspekt, der bewußt gewählt wurde, um die Abstraktion und Divergenz philosophischer Begriffe des Guten und Schlechten zu umgehen. Hierbei können sowohl beim Binnenwie beim Bühnenpublikum interepochale und interkulturelle Abweichungen auftreten, die zumindest in der Rezeption die Tragik zerstören können. Sie kann deshalb nur über die Binnenhermeneutik der Akteure und des Chores dramenimmanent gewährleistet werden. Szondis Definition der Tragik bringt allerdings einen Erkenntnisgewinn über das Verhältnis von Tragik und Paradoxie. Die Paradoxie der Tragik ist dann am größten, wenn die geschädigte Integrität dieselbe wie diejenige ist, auf deren Bewahrung die Handlung abzielt. Treten dagegen wie im Falle Medeas die Integritäten auseinander und wird die Handlung willentlich und wissentlich vollzogen, so entsteht Raum für die Perversion, die systemisch selbstredend als integritätswidriges Charakterbzw. Verhaltensmerkmal konträr zur Tragik ist. Die Perversion besteht bei Medea zum einen in der sadistischen Freude über den Vollzug ihrer Rache (sie betrifft also nur bedingt das Verhältnis von Intention und Folge, bei dem hier eine Kontinuität der Haltung besteht, während sonst ein Entsetzen über eine mögliche überraschende Diskrepanz eintritt). Zum anderen liegt sie im Falle der Kinder in der binnenhermeneutisch deutlich markierten Diskrepanz zwischen ihrer früheren integritätsschaffenden und lebensspendenden und ihrer jetzigen lebenszerstörenden Tätigkeit, die der Funktion einer Mutter in der Darstellung des Stückes widerspricht (s. 3.3 Die binnenhermeneutische Beurteilung als / der Transgression in der Medea-Interpretation). <?page no="99"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 85 Bislang haben wir nur in statischen Momentaufnahmen die Diskrepanz zwischen Intention und Handlungsausgang betrachtet. Beide sind aber im Falle der Tragik durch die Tätigkeit des tragischen Akteurs verbunden, weswegen es wohl kein Zufall ist, daß die Tragik erstmals im Drama manifest wurde, dessen griechischer Name ‚Handlung‘ bedeutet. Der Selbstbezug der Tragik hat damit zwei nur analytisch, aber nicht praktisch zu trennende Seiten: Den Selbstvollzug und die Selbstschädigung, die bei der Integritätsverletzung der Mitmenschen allein über die Verletzung der eigenen moralischen Integrität eintritt, wobei durch den Verwandtenmord der griechischen Tragödie eine Beeinträchtigung der eigenen, weitergefaßten familiären Integrität hinzukommt. Der tragische Akteur ist damit zugleich aktionales Subjekt und Objekt der Handlung, was an sich nicht tragisch ist, da es auch bei der Seelenselbstbildung der antiken Philosophie der Fall ist. 220 Doch gewinnt er seine Tragik nur über die so bewirkte Integritätsverletzung, während die antike Psychagogie auf die seelische Integrität abzielte. Und anders als diese, welche den Menschen zum Subjekt machen will, das gegenüber der Kontingenz souverän ist und seine menschliche Existenz zur Vollendung bringt, geht die Tragik auch bei ihrem Selbstvollzug mit einer performativen Desubjektivierung einher, die in der Kontingenz und systemischen Existenz wurzelt. Zudem geht es bei der antiken Psychagogie nicht nur um Autoreferentialität, sondern diese bildet die Grundlage für Autoreflexivität, die bei der mimetischen Großgattung nur als Teil der dramatischen Metapoetik (‚Metatheater‘) anzutreffen ist. Der Selbstvollzug ist auch charakteristisch für das Verhältnis der Tragik zur (inneren) Kontingenz, die zusätzlich durch die eingeschränkten Wahlmöglichkeiten als äußere Kontingenz die tragische Situation der Integritätswahl prägt: Bei der tragischen Wahl wird der Mensch sich selbst zum Schicksal, das er performiert. Dieser Zusammenhang liegt den verkürzenden Bestimmungen der Tragik über das Schicksal und höhere Mächte zugrunde. Diese können Teil der äußeren situativen Kontingenz sein, die existentiell durch die Soziabilität des Menschen gegeben ist. Auch ein so viel bemühtes Phänomen wie die tragische Ironie (Allgemeines zur dramatischen Ironie s. 2.4 Die Zeichennutzer: Dramatische Kommunikationsstruktur, Pragmatik, Ambivalenz, Ironie und Naivität) beruht auf der Diskrepanz zwischen dem intentional-subjektiven, nicht nur sprachlichen Handeln und seiner situativen Einbettung. 221 Insofern ist es analytisch von der tragischen 220 Vgl. Ilsetraut Hadot, Seneca und die griechisch-römische Tradition der Seelenleitung. Diss. Berlin 1965. Berlin 1969, 162-164 („Die Funktion der Selbsterkenntnis und des Willens“). Grundlegend ist Pierre Hadot, Exercices spirituels et philosophie antique. Préface d’Arnold I. Davidson. Bibliothèque de L’évolution de l’humanité 41. Paris 2002, z.B. 30-33. Für die Selbsterkenntnis bei Epiktet s. Verf. 2011/ 12: Bd. 1, 143. Für die Selbstbezüglichkeit des seelischen Zentrums bei Epiktet und Mark Aurel s. Verf. 2011/ 12: Bd. 1, 452-454. Für Epiktet in formaler Hinsicht vgl. Barbara Wehner, Die Dialogstruktur in Epiktets Diatriben. Diss. Freiburg i.Br. 1998/ 99. Philosophie der Antike 13. Stuttgart 2000, 79-105 („Das Selbstgespräch“). Weiterführend für den inneren Dialog vgl. Christopher Gill, Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy. The Self in Dialogue. Oxford 1996, 15. 221 Nach verschiedenen tastenden Versuchen der Romantiker, die zumeist ihrem eigenen Ironiekonzept sowie der Rolle von Autor und Welt verhaftet blieben, formulierte Connop Thirlwall <?page no="100"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 86 Paradoxie zu scheiden, die auf der Gegenläufigkeit von Intention und erzieltem Ergebnis basiert. Etymologie und gattungsbedingtes Vorkommen beschränken die tragische Ironie allerdings weitgehend auf den sprachlichen Bereich. Hierbei bietet sich besonders ein analytisches Drama wie die erforschende Handlung des OT an, bei welchem der tragische Protagonist die Tragweite seiner Worte und seines Handelns aufgrund der ihm (noch) nicht ganz bekannten (eigenen) Situation (noch) nicht ermessen kann, während die paradoxe Seite der Tragik stärker in der erforschten Handlung zum Tragen kommt. Bei der tragischen Ironie ist also die kognitive Seite des ethisch-rationalen Subjekts eingeschränkt. Als Arbeitsdefinition für die Einzelinterpretationen der antiken Dramen sei abschließend festgehalten: Tragisch kann nur eine Transgression sein, und zwar eine eliminatorische oder zumindest eine, welche die physische Integrität massiv beeinträchtigt. Diese notwendige Grundvoraussetzung der Tragik ist bereits ein Wesensmerkmal der Gattung Tragödie. Eine hinreichende Bedingung liegt darin, daß beim Vollzug der Transgression der Status des Transgressors als ethisch-rationales Subjekt durch die Handlungsstruktur eingeschränkt ist. Eine besondere Form der Tragik und handlungsstrukturellen Dysfunktion des Subjekts ist der Integritätenkonflikt. Bei ihm zerstört das Streben nach Wahrung einer Integrität, die in seiner Intention oder Konstitution begründet ist, eine andere Integrität. Die zu wahrende Integrität ist in den hier betrachteten und als tragisch eingestuften Dramen der attischen Tragödie die soziale, während die eigene moralische Integrität durch die Transgression Schaden nimmt und stets die physische Integrität eines anderen zerstört wird. Faktisch hebt die Integrität sich also bei der Tragik in ihrem Vollzug auf. Das gilt auch für das Subjekt, das diese Aufhebung der Integrität vollzieht, über die seine Identität definiert ist, aber auch - zumindest diachron - im Falle der unspezifischen handlungsstrukturellen Desubjektivierung, da dieser Prozeß - wie auch die Entscheidung im Integritätenkonflikt generell - die Willensfreiheit zumindest an einem Punkt voraussetzt. Wie stark der Aspekt der Selbstaufhebung, welcher der Tragik immanent ist, in der Binnenhermeneutik und Darstellung der einzelnen Tragödien zum (On the Irony of Sophocles. The Philological Museum 2 (1833) 483-536) dieses Konzept (Ernst Behler, Klassische Ironie, romantische Ironie, tragische Ironie. Zum Ursprung dieser Begriffe. Darmstadt 1972, 134-154). Doch ganz so einfach, wie Behler die Sache darstellt, ist sie nicht. Thirlwall prägte die entsprechende Junktur, verband sie jedoch mit einem etwas anderen, fatalistischen Konzept (1833: 493): „[…] the contrast betwenn man with his hopes, fears, wishes, and undertakings, and a dark, inflexible fate, affords abundant room for the exhibition of tragic irony […].“ Er fährt jedoch fort, dies sei nicht erhabenste („loftiest“) Form der Ironie und Sophokles habe auf Höheres gezielt. Für den OT arbeitet er etwa als Ironie den Kontrast zwischen Oidipus’ Größe und vermeintlicher Weisheit und seinem tatsächlichen Elend und Blindheit heraus (1833: 498). Thirlwall konnte bei seinen Überlegungen auf die Analysen Friedrich Gottlieb Welckers zurückgreifen (1833: 515-520, 536 f.), der zwar nicht von tragischer Ironie gesprochen, jedoch gesehen hatte, daß Aias seinen Selbstmord nur in „versteckte[r] Sprache“ ankündigte (Über den Ajas des Sophokles. RhM 3 (1829) 43-92; 229-264 [hier zitiert nach Kleine Schriften. Bd. 2. Bonn, 1845, 264-355, h. 307]). Welcker und Thirlwall haben also beide das moderne Konzept der tragischen Ironie formuliert, ohne diese als solche zu benennen. Dies geht letztlich auch aus Menke 2005: 63-66 („Exkurs: Das Konzept tragischer Ironie“) hervor, der Thirlwall kritisch weiterdenkt und noch andere Theoretiker berücksichtigt. <?page no="101"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 87 Tragen kommt, wird deren Interpretation im zweiten Teil dieser Arbeit zeigen. Dabei bleibt auch zu untersuchen, ob es eine unspezifische handlungsstrukturelle Dysfunktion gibt oder ob sie nur im Verbund mit dem Integritätenkonflikt in Erscheinung tritt. Weiterhin soll der Frage nachgegangen werden, ob und in welcher Kombination die Submerkmale der Tragik (Autoreferentialität, selbstgenerierte und erfahrene Kontingenz, Negativität, Aprosdoketon, Kontraproduktivität und Gegenläufigkeit) und mit die ihr verwandten Phänomene (Paradoxie, Perversion, Subversion, Ironie und Monstrosität) auftreten. 1.4.7 Tragik, Paradox und Dialektik: Pascal und Szondi Der im Vorhergehenden herausgearbeitete Nexus von Tragik und Paradoxie über Konflikte läßt sich bis zu Blaise Pascal zurückverfolgen, in dessen Denken bereits vor Hegel die Gegensätze eine eminente Rolle spielten. Als erster und in einer klassisch und wegweisend für die weitere Forschung gewordenen Form hat Hugo Friedrich Pascals Denken in Gegensätzen mit der Analysekategorie des Paradoxes beschrieben. Dieses definiert er als „die Formel, mit welcher die Vereinigung zweier Unvereinbarkeiten an einem einzigen Subjekt oder Objekt als in der Gleichzeitigkeit verwirklicht gedacht oder ausgedrückt wird,“ 222 mithin als einen objektiven Verstoß gegen den Satz vom Widerspruch. 223 Anders als bei Hegels Dialektik werden die Gegensätze also nicht aufgehoben. Diese Erkenntnis ist Lucien Goldmann zu verdanken, der Friedrichs Deutemuster ‚Paradox‘ beibehält und dessen systematisch-strukturierendes Moment mit dialektischen Konzepten formuliert. 224 Die Dynamik von Pascals paradoxem Denken grenzt er hierbei von derjenigen der klassischen Dialektik Hegelscher Prägung ab: Die Gegensätze einer Welt ohne Gott, die unvermittelt als Paradox zutage treten, mündeten bei Pascal in eine „synthèse“. 225 Sie werde anders als bei Hegel nicht 222 Pascals Paradox. Das Sprachbild einer Denkform. Zeitschrift für romanische Philologie 56 (1936) 322-370, h. 334 (vgl. S. 342). 223 Vgl. Irène Elisabeth Kummers Definition (Blaise Pascal. Das Heil im Widerspruch. Studien zu den Pensées im Aspekt philosophisch-theologischer Anschauungen, sprachlicher Gestaltung und Reflexion. Berlin 1978, 42). So definiert auch Vlad Alexandrescu (Le paradoxe chez Blaise Pascal. Préface de Oswald Ducrot. Bern 1997, 16-19) das von ihm „sceptique“ genannte Paradox (1997: 12). 224 Le Dieu caché. Étude sur la vision tragique dans les Pensées de Pascal et dans le théâtre de Racine. Paris 1962 (spätere Nachdrucke), 216-220. 225 Zu Recht weist Karlheinz Stierle (Gespräch und Diskurs. Ein Versuch im Blick auf Montaigne, Descartes und Pascal: In: Ds., Rainer Warning (Hgg.), Das Gespräch. München 1984, 297- 334, h. 329) darauf hin, daß Pascal keine „vermittelnde oder synthetisierende Position“ zwischen den Gegensätzen suche, die er als Ausdruck der condition humaine auffasse. - Der vordergründig widersprüchliche Sprachgebrauch der Interpreten zur Pascalschen „Synthese“ läßt sich am besten durch die Unterscheidung in formal und inhaltlich in Einklang bringen: Der Widerspruch zwischen These und Antithese wird bei Pascal nicht durch eine Entscheidung zwischen den beiden sich ausschließenden Optionen oder durch die Eliminierung einer der beiden aufgelöst, sondern durch ein Drittes. Insofern kann man im formalen Sinne wie Goldmann von einer Synthese sprechen. Inhaltlich ist dieses Dritte von These und Antithese grundverschieden. Dies unterscheidet Pascal von Hegel, der diesen dritten Schritt der Dialektik nicht „Synthese“, sondern „Vermittlung“ und „Aufhebung“ nannte (Hansgeorg Hoppe, Art. Synthesis; synthetisch. HWP 10 (1998) 818-823, h. 821). <?page no="102"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 88 erneut zur These einer unendlich fortschreitenden Dialektik (vgl. S. 238 und S. 240), sondern bleibe statisch, paradox und tragisch (1962: 218 f.). 226 Unter Tragik wird also auch hier der vermittlungslose Zusammenstoß von Gegensätzen verstanden, der mit unaufhebbaren Widersprüchen einhergeht. Indes bietet bereits der älteste der drei großen attischen Tragiker ein Beispiel dafür, daß die Normen- und Rollenkonflikte und die Eliminationen, in denen sie manifest werden, sich nicht in einer Reihe wie ein Geschlechterfluch fortsetzen 227 (eine Dynamik, die übrigens eher der Hegelschen Infinitesimaldialektik als der Pascalschen statisch-singulären Paradoxie entspricht), sondern aufgehoben werden. 228 Es sind dies Aischylos’ Eumeniden, in denen der Muttermörder Orest vor dem Athener Areopag freigesprochen wird (566-799). Die Aufhebung stellt zugleich eine Vermittlung dar. Sie mag attischem Lokalpatriotismus huldigen, 229 ist jedoch nicht nur dramaturgisch durch das wegweisende Mittel der dea ex machina bemerkenswert, welche die Lösung bringt, sondern durch den zivilisatorischen Paradigmenwechsel von der individuellen Rache zum kollektiven Recht. 230 Die Transgression Athenas, welche die Erinyen überzeugt, begründet mimetisch die Transzendenz der Blutrache und besiegelt die Innovation der juridisch-verbalen Entscheidungsfindung. Anders als die komische Vermeidung der Eliminierung durch Doppelung bedeutet die Vermeidung der Eliminierung in der Tragödie also eine paradigmatische Innovation, die man als weitere Form der Transgression einstufen kann, ebenfalls im Bereich der Nomothesie, dort allerdings nicht als eine normative, sondern eine transformative. Freilich tut man gut daran, trotz dieses empirischen Vorkommens einer „klassischen“ Dialektik im zugrunde gelegten Dramenkorpus, bei der die Span- 226 Diese Ausführungen entsprechen wörtlich mit gewissen Anpassungen Verf., Blaise Pascal und die antike Stoa: Paradox, Dialektik und Modernität. In: Barbara Neymeyr, Jochen Schmidt und Bernhard Zimmermann (Hgg.), Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne. 2 Bde. Berlin 2008, Bd. 2, 1017-1046, h. 1019-1022. 227 Zu diesem und dem Geschlechterfluch überhaupt s. jetzt Renaud Gagné, Ancestral Fault in Ancient Greece. Cambridge 2013, 394-445. 228 Für Berührungspunkte zwischen strukturaler und dialektischer Analyse s. Michael Oppitz, Notwendige Beziehungen. Abriß der strukturalen Anthropologie. Frankfurt a.M. 2 1993, 65-71. 229 Latacz 2003: 130 (vgl. v. 976-987). 230 Ablehnend zu dieser Deutung Bohrer 2009: 309-313. Für ihn ist sie von außen aus der historischen Situation an die Tragödie herangetragen und nicht in deren Struktur angelegt. Christian Meiers von Bohrer gleichfalls abgelehnte Ansicht, „der Vollzug der Handlung [müsse] die Wiederherstellung der Ordnung bringen“ (Die politische Kunst der griechischen Tragödie. München 1988, 149), steht näher an der vorliegenden Arbeit als an Hegel, weil er anders als Hegel nur eine Wiederherstellung der Zivilisation über die Wiederausgrenzung des Animalischen annimmt, also ein Rückgängigmachen der Transgression statt eines zivilisatorischen Paradigmenwechsels. Meiers weitere Deutung „Der Übertreter muß sterben, sein Tod ist das Opfer, durch das die Dinge wieder ins Lot kommen“ wird durch die vorliegende Arbeit und Fishers Studie (s. 1.3 Eliminierung, Restauration, Integrität und Intention) in dieser Form nicht bestätigt, da von den hier untersuchten Tragödien ein automatischer Nexus zwischen Transgression und physischer Fremdeliminierung des Transgressors (salopp könnte man ihn den ‚Sheriff-Automatismus‘ nennen), die gleichzeitig als restaurierende Sanktion fungiert und etwaige rezeptionsästhetische Gelüste nach poetischer Gerechtigkeit befriedigt, nur in Euripides’ Bakchen besteht, die als Asebie- und letzte Tragödie eine besondere Stellung innehaben. <?page no="103"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 89 nung der Gegensätze in einer paradigmatischen Innovation aufgehoben wird, theoretisch an dem Unterschied zwischen Tragik und Dialektik festzuhalten, da im Falle der Tragik der Widerspruch eine eliminatorische Dynamik entfaltet (wäre er gänzlich statisch, so eignete er sich nicht als Motor einer Dramenhandlung). Diese Dynamik legt auch Peter Szondis Bestimmung des Tragischen als eine Sonderform des Dialektischen zugrunde, die nicht nur wegen der Bedeutung, die diesem Literaturwissenschaftler 231 und seinem Beitrag zur Tragik 232 beigemessen wird, sondern auch ihrer Relevanz für unsere Frage und ihre tiefe Verankerung in den (post)idealistischen deutschen Tragikkonzeptionen, als deren Quintessenz sie trotz aller Bescheidenheit auftritt, hier ausführlich als Grundlage der näheren Diskussion zitiert werden soll (1964: 60): [D]as Tragische ist ein Modus, eine bestimmte Weise drohender und vollzogener Vernichtung, und zwar die dialektische. Nur der [Kurs. im Orig.] Untergang ist tragisch, der aus einer Einheit der Gegensätze, aus dem Umschlag des Einen in sein Gegenteil, aus der Selbstentzweiung erfolgt. Aber tragisch ist auch nur der Untergang von etwas, das nicht untergehen darf, nach dessen Entfernung die Wunde sich nicht schließt. Szondis letztgenannte Bestimmung der Tragik über Werthaftigkeit des Eliminierten ist unproblematisch. Ähnliches wurde bereits oben im vorausgehenden Abschnitt dieses Kapitels anhand von Berke entwickelt. Anders verhält es sich mit der Sichtweise, die Auflösung der Gegensätze, die den tragischen Konflikt begründen, sei deshalb eine dialektische, weil sie sich auf dem Wege des Umschlags in das Gegenteil vollziehe. In der Tat ist der Terminus ‚Umschlag‘ in modernen Theorien der Dialektik seit Hegel nicht ungeläufig, um die Art der Auflösung der Gegensätze zu beschreiben, die im dritten Schritt der Dialektik erfolgt: „G. W. F. H EGEL bestimmt das Verhältnis von Inhalt und Form als gegenseitiges «Umschlagen derselben ineinander», und dies ist eine ihrer «wichtigsten Bestimmungen».“ 233 Inhalt und Form gehören zwar in den Bereich der Hermeneutik, sind jedoch keine kontradiktorischen Gegensätze wie Rettung und Vernichtung, die Szondi bemüht und bei denen in der Tragödie das Umschlagen einseitig und endgültig ist. Diese beiden Unterschiede zwischen dem dialektischen Umschlagen bei Szondi und Hegel könnten noch dafür herhalten, eine spezifisch tragische Dialektik zu begründen. Allerdings weckt gerade die Anwendung des dialektischen Umschlags auf das Verhältnis von Form und Inhalt den Eindruck, daß es sich bei dieser Bestimmung der Ableitung der Gegensätze eher um eine Verlegenheitslösung handelt, welche die eigentliche Problematik und Sachlage mit einem terminologischen Etikett kaschiert, ohne sie überzeu- 231 Bernd Seidensticker, Peripeteia and Tragic Dialectic in Euripidean Tragedy. In: Michael S. Silk (Hg.), Tragedy and the Tragic. Greek Theatre and Beyond. Oxford 1996, 377-396, h. 377. 232 Bernd Seidensticker, Peripetie und tragische Dialektik. Aristoteles, Szondi und die griechische Tragödie. In: Bernhard Zimmermann (Hg.), Antike Dramentheorien und ihre Rezeption. Drama (Beiträge zum antiken Drama und seiner Rezeption) 1. Stuttgart 1992, 240-263, h. 240. 233 S. dazu sowie die folgenden Aussagen Reinhold Hülsewiesche, Art. Umschlag. HWP 11 (2001) 91-94, h. 92 f. <?page no="104"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 90 gend zu lösen bzw. auf den Punkt zu bringen. Seine eigentliche Blüte erfährt der dialektische Umschlag denn auch in der tout compte fait doch eher als spekulativ und messianisch einzustufenden Marxschen und nachfolgenden marxistischen Geschichtsphilosophie, was das Konzept eines dialektischen Umschlags nicht per se diskreditiert, wohl aber seine Anwendung auf den Verlauf eines fiktionalen Sprachkunstwerks erschwert, selbst wenn dem Drama und der Geschichte gleichermaßen Handlungen zugrunde liegen. Für die Dialektik Hegelscher Prägung, auf die Szondi mit „Selbstentzweiung“ unverkennbar anspielt, ist neben der Entzweiung auch deren Aufhebung zentral. 234 Dieser Begriff ist denn auch geeignet, die Spezifik der dialektischen Auflösung der Gegensätze und deren Unterschied zur tragischen zu verdeutlichen. Hegel beruft sich ausdrücklich auf die Äquivozität von ‚negieren‘ und ‚bewahren‘, die das Verb ‚aufheben‘ im Deutschen habe (eine andere hat übrigens sein Äquivalent tollere auch im Lateinischen, wo es für ‚negieren‘ und, ganz im Hegelschen Sinne, ‚auf eine höhere Stufe heben‘ steht), und bestimmt darüber die Reaktion der Gegensatzpaare in der Dialektik: Die Gegensätze werden dabei negiert, die Wahrheit in den konträren Einzelbegriffen jedoch erhalten. 235 Dieser konservativ-transformative Aspekt der dialektischen Funktionsweise ist also etwas ganz anderes als die durchweg negativ-eliminatorische Lösung der Gegensätze in der Tragik. Tragik und Dialektik haben deshalb nur eine kontradiktorisch-triadische Matrix gemeinsam (insofern hat Szondi mit seiner Annäherung der beiden Begriffe nicht unrecht). Die unterschiedliche Funktionsweise innerhalb dieser Matrix ist der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Vermittlungsmodi der Widersprüche, der allenfalls bei Adornos negativer Dialektik porös wird. 236 (Sie formulierte allerdings auch den zunehmenden Pessimismus über den Gang der Weltgeschichte, dem der marxistische geschichtsphilosophische Optimismus gewichen war.) Szondis dialektisches Tragikverständnis ist nicht nur fruchtbar, um das Verhältnis von Dialektik und Tragik zu klären, es liefert auch mit Umschlag und Peripetie eine diskussionswürdige Möglichkeit, die Funktionsweise des Integritätenkonflikts genauer zu fassen, über den hier Tragik, Heroik und Märtyrertum bestimmt werden. In den beiden letztgenannten Fällen wird die eigene physische Integrität zur Wahrung anderer Integritäten geopfert, im Falle der Heroik der physischen anderer und im Falle des Märtyrertums der Integrität der eigenen Überzeugungen. Beide Opfer heben die moralische Integrität des Betreffenden auf ein höheres Niveau; geht man davon aus, daß die eigene physische Integrität nicht zugleich mit den anderen Integritäten gewahrt werden kann, für die sie geopfert wird, bietet es sich an, diese Transfiguration als ‚Umschlag‘ im Sinne der höheren Ebene der Dialektik zu bezeichnen, zu welcher der Gegensatz führt. Treffender scheinen für dieses Verhältnis die Bezeichnungen ‚Opfer‘, da mit der eigenen physischen Integrität das Leben zugunsten anderer Integritäten aufgegeben wird, oder ‚Tausch‘ oder auch, wenn man die Integritäten als Bourdieusche 234 Helmut K. Kohlenberger, Art. Dialektik. HWP 2 (1972) 189-193 (Hegel), h. 189. 235 Hans Friedrich Fulda, Art. Aufheben. HWP 1 (1971) 618-620, h. 619. 236 S. dazu den Art. Dialektik. HWP 2 (1972) 221-223 (Redaktion), h. 221 f. <?page no="105"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 91 Kapitalien ansieht, ‚Konvertierung‘, da der Opfernde eine höhere Form der Integrität im Gegenzug erhält. Der moralisch integre Charakter eines solchen Austauschverhältnisses ist im Falle der Tragik gestört, da bei ihr nur eine fremde, aber nie die eigene physische Integrität geopfert wird. Eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Tragik ist auch der Verlust der moralischen Integrität des Akteurs durch die Transgression. Hier hakt Szondis Konzept des Umschlags ein, der auf einem Übermaß moralischer Qualitäten beruht. Dieses Schema deutet sich schon in den Formulierungen ‚Selbstentzweiung‘ und ‚Umschlag des Einen in sein Gegenteil‘ an, die eben nicht auf die Familie als Bezugsrahmen der Entzweiung zielen. Es wird offensichtlich bei Szondis Fehllektüre von Aristoteles’ Poetik. Nach Szondi geht nämlich für Aristoteles im berühmten Passus über die des mittleren Charakters, die in der besten Tragödie für die Peripetie vom Glück zum Unglück ursächlich sei (Poet. 1453a 7-17), „die Verschuldung dialektisch aus einer freilich nur angedeuteten Tugendhaftigkeit“ hervor (1961: 57). Bereits Seidensticker hat gegen diese Auffassung grundsätzlich festgehalten, daß charakterliche Defizite (also innerhalb der moralischen Kategorie das exakte Gegenteil von Szondis Attribut der Tugendhaftigkeit) nicht für den Sturz des Protagonisten, sondern allenfalls für dessen und darüber für den Sturz verantwortlich seien (1992: 242 f.). Dabei hat Szondi sehr wohl diese indirekte Kausalität des Ethos über die gesehen. Seidensticker hat auch durchaus recht, wenn er darauf hinweist, daß es Aristoteles in der fraglichen Passage nur um die Schlechtigkeit gegangen sei. 237 Und Seidensticker 1992: 243 f. verweist ebenfalls zu Recht darauf, daß Szondi 1961: 57 f. an der zweiten von ihm bemühten Aristoteles-Stelle (Poet. 1453b 14-22), an der als Bedingung für die emotionsästhetische Wirkung der Tragödie postuliert wird, daß das Leid innerhalb von Nahverhältnissen geschehe und in der Szondi „eine Dialektik von Haß und Liebe“ erblickt, diese mit Lessings und Schillers nachfolgend herangezogenem Tragikverständnis überblende, bei denen das Sittliche selbst zum Quell des Schadens und Mitleids werde. Diese Überblendung der Antike durch die Moderne ist gerade auch bei Szondis Interpretation der ersten Stelle aus Aristoteles’ Poetik festzustellen, an welcher der Stageirit die Schlechtigkeit als Ursache der Peripetie zurückweist, während Szondi die „Tugendhaftigkeit“ dafür verantwortlich macht. Auch an der zweiten Stelle ist die „Liebe“ ( ) nicht ursächlich für den Haß, vielmehr sieht Aristoteles eine Diskrepanz zwischen dem Beziehungsstatus und dem faktischen Verhältnis der Betreffenden, weil nicht der Feind den Feind, sondern einander Nahestehende ( ) einander umbrächten (Poet. 1453b 15-22). (Implizit legt Aristoteles hier die Korrelation von Handlung und Status der Popularethik 238 zugrunde.) Diese Diskrepanz ist kein aus einer inneren Dynamik der betreffenden Eigenschaft er- 237 In der Tat ist der mittlere Charakter (Poet. 1453a 7) wie die an der genannten Poetik- Stelle eine notwendige Bedingung für die schönste Tragödie, aber nicht die Ursache der (Näheres s. 2.1.2 und Tragik). 238 Vgl. Mary Whitlock Blundell, Helping Friends and Harming Enemies. A Study in Sophocles and Greek Ethics. Cambridge 1989, 26-59. <?page no="106"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 92 wachsender Umschlag, sondern eine Verkehrung von Status und Handlung, welche diese Arbeit auch rein etymologisch-operational als Perversion bezeichnet. Ein Umschlag im kausalen und nicht bloß paradigmatischen Sinne findet bei der Diskrepanz zwischen Intention und tatsächlich erzielter Wirkung statt, die Szondi 1961: 65 ja treffend wie die vorliegende Arbeit im OT sieht und die hier als Paradoxie eingestuft wird. Szondis Figur des Umschlags ist also nicht geeignet, die dialektische Funktionsweise der Tragik, sondern nur zwei von deren Unterarten zu beschreiben. Dabei soll nicht übergangen werden, daß Szondis Modell des Umschlags durch Hypertrophie, auch wenn in beiden Fällen nichts spezifisch Dialektisches vorliegt, der Abfolge der attischen Tragödie von und (A. Ag. 750-771) nahekommt. Das organische Element dieser Wucherung wird besonders deutlich im Aufblühen ( ) der Hybris, das Aischylos’ Perser beschreiben (v. 820-822). 239 Es formuliert eine Eigengesetzlichkeit, die sich Vorhersage und Kontrolle entzieht und die Souveränität des Subjekts unterläuft. Sie steht auch hinter tragikaffinen Konzepten wie dem Dämonischen, sei es nun göttlicher oder seelisch-irrationaler Natur. Über solche psychologischen Konzepte, zu denen auch die Willensfreiheit zählt, kann die Eigengesetzlichkeit durchaus als tiefere binnenhermeneutische Erklärung der tragischen Transgression dienen. Was den tragischen Integritätenkonflikt ausmacht, in dem die Tragik dieser Transgression besteht, vermag diese Eigengesetzlichkeit jedoch nicht zu erfassen. Deren eliminatorische Funktionsweise läßt sich besser mit dem mechanischen Modell der Weiche beschreiben, als deren Fehlstellung Max Kommerell die verdeutlichte, während die darausfolgende Peripetie mit der Entgleisung des Zuges zu vergleichen sei. 240 Die Weiche (oder gut antik der Dreiweg im OT) ist nun bestens geeignet, um den Konflikt der Integritäten zu veranschaulichen, bei dem nur ein Strang der Integritäten (die eigene soziale Integrität) gewahrt werden kann, während der andere eliminiert wird (die physische Integrität der Nahestehenden, die eigene moralische Integrität). Der Punkt dieser Kollision ist die Transgression. Insgesamt ist also Szondis dialektischer Begriff des Umschlags schwerlich geeignet, die objektive Tiefenstruktur des Tragischen zu beschreiben, welche die vorliegende Arbeit im Integritätenkonflikt verortet, der im Verlauf der Handlung eliminatorisch gelöst wird. Der Umschlag bzw. die Peripetie ist und bleibt eher ein Begriff der dramat(urg)ischen Oberflächenstruktur der Handlung, welche die tragische Tiefenstruktur realisiert und deren tragischer Charakter anhand der hier besprochenen Tragödien zu erörtern ist. Bereits Seidensticker 1992: 242- 244 hat richtig nachgewiesen, daß die beiden Stellen aus Aristoteles’ Poetik (1453a 7-17, 1453b 14-22), an denen Szondi 1961: 57 f. sein dialektisches Tragikverständnis festmacht, dieses eben nicht untermauern, und den Umschlag einer Handlung ins Gegenteil an einem anderen Passus dieser Schrift (1452a 22- 239 / / . 240 Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie. 5. Aufl., mit Berichtigungen und Nachweisen. Frankfurt a.M. 1984, 125. <?page no="107"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 93 29: ) verankert (1992: 244-253). Er verlagert damit ebenfalls Szondis Figur der tragischen Dialektik von der Tiefenstruktur der Handlung an die dramaturgische Oberfläche. Daß die Tragik hier eigentlich nicht zu verorten ist, wird schon daran deutlich, daß für Seidensticker Aristoteles „der erste Theoretiker der dramatischen Dialektik“ ist (1992: 244). Der Stageirit spricht, so muß man denn auch zu Szondis Ehrenrettung festhalten, von allen drei von Szondi und Seidensticker angeführten Stellen nur im Umfeld der ersten, von Szondi bemühten (Poet. 1453a 7-17), die den Eintritt des Umschwungs ( ) an den Fehler des charakterlich mittleren Protagonisten knüpft, von ‚tragisch‘ (Poet. 1452b 37, 1453a 28). Während die Tragik auf der objektiven Ebene der Handlungsstruktur zu verankern ist, bewegt sich in allen drei in dieser Arbeit ausführlich untersuchten attischen Tragödien die Peripetie - ganz gemäß Aristoteles’ Koppelung an die Anagnorisis (Poet. 1452a 32 f.) und deren Bestimmung als (Poet. 1452a 30 f.) - auf der davon unabhängigen Ebene der subjektiven Erkenntnisse und Entschlüsse der maßgeblichen dramatis personae. So liegt die Peripetie in Euripides’ Medea im Entschluß der Protagonistin zum Kindermord (Iasons spätere Einsicht hierein ist die eigentliche Anagnorisis), 241 im OT in der Einsicht, welche die Hauptperson in ihre wahre genealogische Identität und die sich aus ihr ergebende transgressive Vergangenheit gewinnt. Erst die Unkenntnis der erstgenannten führte in erforschter wie erforschender Handlung zu jener paradoxen Diskrepanz zwischen Intention und Wirkung, auf der die Tragik dieser Tragödie beruht. Die Trennung von Peripetie und Tragik wird in Aischylos’ Persern manifest: Der Umschwung der Handlung ist auch hier die Botschaft von der Niederlage, die bange, ahnungsvolle Unwissenheit in schreckliche Gewißheit umschlagen läßt, während dem treibenden Akteur der Handlung, dem geschlagenen Perserkönig, keine Tragik im enggefaßten Sinne dieser Arbeit zugesprochen werden kann. Die Peripetien sind in allen drei Tragödien mit dem Auftritt einer weiteren Figur verbunden (Aigeus, Boten aus Salamis und Korinth) und in ihrer Folge kontingent oder die Folge von Ereignissen, die sich zum Konflikt kontingent verhalten, während Tragik und Dialektik über die Matrix einander ausschließender Gegensätze funktionieren. Verbunden sind Peripetie und Tragik nur über die Transgression, die der Tragik zugrunde liegt und 241 Ebenso verhält es sich mit Tragik, Peripetie und Anagnorisis in Euripides’ hier nur kürzer besprochenen Bakchen, die ansonsten wegen ihrer theophanen Agenda und der Verteilung des tragischen Handlungsschemas auf mehrere Figuren (s. 4.5 Tragik in der Interpretation dieser Tragödie) einen Sonderfall darstellen und auf die deshalb auch nicht alles hier über die drei anderen Tragödien Gesagte zutrifft. Tragik und Peripetie sind diesem Drama in derselben Weise wie in den drei anderen attischen Tragödien geschieden und nur über die Eliminierung statt die Transgression verbunden. Wie in der Medea fallen Peripetie und Anagnorisis deutlich auseinander. Die Peripetie liegt in dem Punkt, an dem Pentheus seinen Widerstand gegen den Fremden aufgibt und beginnt, mit ihm zusammenzuarbeiten (v. 810), was seine Eliminierung einleitet. Der Umschlag erfolgt hier aristotelisch gesprochen zur Freundschaft, doch verharrt Pentheus in der Unkenntnis. Seine Anagnorisis fällt dagegen mit seiner Eliminierung zusammenund ändert nichts mehr am Verlauf der Handlung. Dies gilt auch für Agaues Einsicht in ihre Transgression, welche die eigentliche Anagnorisis dieser Tragödie darstellt. <?page no="108"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 94 zu der sich der tragische Protagonist bei der Peripetie entschließt oder in die er bei dieser Gelegenheit Einsicht gewinnt. 1.4.8 Alternative Tragikkonzepte: Nietzsche, Benjamin, Bohrer, A. Schmitt Bis zu Nietzsches alle Grenzen einreißendem dionysischem Rausch in der Tragödienkonzeption und noch darüber hinaus hat der Hegelsche Konflikt zwischen Normen oder zumindest zwei Dingen, von denen eins ein ethisches Positivum ist, die Tragikdiskussion bestimmt, ohne daß hier um der bloßen Vollständigkeit halber jeder einzelne Vertreter durchgehechelt werden müßte. 242 In paradigmatischer, nicht chronologischer Hinsicht bildet Walter Benjamin ein chimärisches Bindeglied zwischen Nietzsche und den Opfertheorien der Tragödie auf der einen und der Dialektik Hegelscher Prägung auf der anderen Seite. Indem er entsprechend der Hegelschen Geschichtsphilosophie die sich historisch wandelnde Rolle des Opfers in der Tragödie in den Blick nimmt, 243 bereitet er den Boden für Vernants Verständnis des Tragischen (s. 2.4 Die Zeichennutzer: Dramatische Kommunikationsstruktur, Pragmatik, Ambivalenz, Ironie und Naivität). Da es der vorliegenden strukturalistischen Arbeit primär um die Synchronie der attischen Tragödie und erst danach um deren diachrone Binnen- und Weiterentwicklung bei dem römischen Stoiker Seneca geht, böte Benjamin in der Tat einen Ansatz, um über die Operation der Eliminierung die Vorgeschichte und das als Ferment wirksame archaische Substrat der attischen Tragödie mit der Figur des Opfers, die der Ritualforschung entstammt, dialektisch zu versöhnen. Doch das ist der Stoff für eine eigene Untersuchung, der den Rahmen der vorliegenden sprengt. Die Elaboriertheit seiner Tragödienkonzeption und deren systematische Stellung in der Theorie der Tragödie 244 und des Tragischen sichern Friedrich Nietzsche und seinem Verständnis des Tragischen einen Platz in dieser Theorie und Genealogie des Tragischen. Geistesgeschichtlich fungiert Nietzsches Tragödien- und Tragikverständnis als Scharnier, da er darin der Antipode Hegels und der Stichwortgeber moderner antiidealistischer Ansätze ist. Die Cambridge Ritualists entwickelten sein Theorem weiter, die Protagonisten der Tragödie seien nur „Masken“ des Dionysos, des einzigen „Bühnenhelden“ 245 (vgl. 2.2.2 Ritual), 242 Zu Schopenhauers Verständnis der Tragödie s. Vittorio Hösle, Die Rangordnung der drei griechischen Tragiker. Ein Problem aus der Geschichte der Poetik als Lackmustest ästhetischer Theorien. Jacob Burckhardt-Gespräche auf Castelen 24. Basel 2009, 90-95. Zu Max Schelers Aufsatz Zum Phänomen des Tragischen (1915) (In: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze. Bd. 3 von Gesammelte Werke. Hg. von Maria Scheler. 4., durchgesehene Auflage Bern 1955, 149-169) s. Szondi 1961: 50-52. 243 Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928). In: Ds., Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser Bd. 1,1. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1991, 285 f. 244 Vgl. dazu Michael S. Silk, Joseph P. Stern, Nietzsche on Tragedy. Cambridge 1981 und, wenn auch essayistisch, Hösle 2009: 95-114. 245 KSA Bd. 1, 71, 63 (Die Geburt der Tragödie. Oder: Griechenthum und Pessimismus). <?page no="109"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 95 eine Sichtweise, die James I. Porter in brillanter Ironie als paradigmatische Wiederaufnahme des platonischen Idealismus entlarvt. 246 René Girard repristiniert paradigmatisch Nietzsches Idee der Gewalttat, 247 Karl Heinz Bohrer den Ästhetizismus 248 und den Schrecken, den der Basler klassische Philologe das „tonicum“ der Tragödie als Kunstwerk genannt habe (2009: 12). 249 Und selbst Interpreten, die den Logozentrismus der seit Aristoteles dominierenden Dramenpoetik aufbrechen und auf die reichlich vertretenen adiskursiven und körpergebundenen Symbolsprachen auch des antiken Dramas verweisen, können sich auf Nietzsche berufen. 250 Daß die vorliegende Arbeit theoretisch wie interpretatorisch diese drei Richtungen problematisiert, bringt sie in keine systemische Opposition zu ihrem geistigen Vater, da die Erben mit ihm selektiv und radikalisierend verfahren. So spitzt Bohrer noch den Antihegelianismus Nietzsches zu, indem er dessen Versöhnungselemente kritisiert (2009: 28 f.), die dem hier zugrunde gelegten Handlungsschritt der Restauration entsprechen. Die Vereinseitigungen der Nietzsche- Epigonen, wie man sie angesichts ihres eklektischen Rezeptionsverhaltens wohl nennen darf, am Werk des Meisters zeigen sich nicht zuletzt darin, daß sie Nietzsches begrifflichen Dreiklang aus apollinisch, dionysisch und dialektisch und die weitgespannte kulturgeschichtliche Artikulation dieser drei Grundprinzipien, die Nietzsche entwirft, 251 außen vor lassen. Konkret bestimmt Nietzsche 246 The Invention of Dionysus. An Essay on The Birth of Tragedy. Stanford (Calif.) 2000, 95 f. 247 KSA Bd. 13, 410 (Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1888, Nr. 10 Was ist tragisch). An dieser Stelle, die Bohrer anführt (2009: 12), ist freilich von der Gewalttat keine Rede, vielmehr wird die Kunst als „das große Stimulans des Lebens, ein Rausch am Leben, ein Wille zum Leben“ gepriesen (S. 409). 248 KSA Bd. 1, 30: „Der Mensch ist [sc. im Dionysosfest] nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden.“ 249 KSA Bd. 13, 410. Hier strapaziert Bohrer Nietzsche über oder versteht ihn gründlich falsch. In dem von ihm zitierten nachgelassenen Fragment nennt Nietzsche das Mitleid und Bohrers Schrecken, von denen die Tragödie nach Auffassung des Aristoteles purgiere, „depressive Affekte“, während die anderen Affekte „tonisch“ und die Tragödie ein „tonicum“ seien, was Schopenhauer nicht verstanden habe (vgl. dazu weiterführend Joan B. Llinares, Sobre lo trágico en Schopenhauer y Nietzsche. In: Carmen Morenilla, Bernhard Zimmermann (Hgg.), Das Tragische. Drama (Beiträge zum antiken Drama und seiner Rezeption) 9. Stuttgart, Weimar 2000, 123-145, der nur auf Nietzsche und die Tragödie eingeht [2000: 133-145]). Auch daß „es die Gewalttat und das Leiden selbst sind, die das Tragische in der Tragödie ausmachen“ (Bohrer 2009: 12), geht nicht aus dieser von Bohrer zitierten Passage (KSA Bd. 13, 410) hervor. 250 KSA Bd. 1, 33 f. 251 Gewiß ist, wie Günter Wohlfart nachweist (Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie oder: Griechenthum und Pessimismus. Nachwort von Günter Wohlfart. Stuttgart 1993, 165), „[d]as berühmte Gegensatzpaar ›Apollinisch-Dionysisch‹ [...] mitnichten eine Erfindung Nietzsches“. Seine Wurzeln liegen im Mythos von Dionysos Zagreus, den die Titanen zerrissen und der von Apoll auf Zeus’ Geheiß, der sie mit einem Blitzstrahl erschlagen hatte, auf dem Parnaß bestattet wurde. Dieser Mythos ist in Klemens von Alexandreias Protrepticus 2.17.2-18.2 überliefert und wird aus dieser Quelle in Friedrich Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker besonders der Griechen (4 Tle. 1810-12). 3 Aufl. Leipzig 1836-43, Tl. 4, S. 36, 97, 116 rezipiert (Wohlfart 160 f.). Nietzsche kannte wohl alle drei Vorgänger (Wohlfart 163 f.), doch es bleibt sein Verdienst, das Gegensatzpaar zur Anknüpfung seiner eigenen Philosophie und zur Grundlage einer Tragödiendeutung gemacht zu haben. <?page no="110"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 96 das Verhältnis der drei Prädikate folgendermaßen: Das in den olympischen Göttern Homers faßbare Apollinische habe das überschwenglich Dionysische gemäßigt und sich mit ihm in der griechischen Tragödie verbunden - die Dialektik des Apollinischen und Dionysischen fungiert als integratives Element des antiken Dramas, mit dieser Dialektik steht Nietzsches diachrone und synchrone Sicht noch in der Schuld Hegels. 252 Rein lexikalisch weist er selbst dem Dialektischen jedoch eine andere Rolle zu: Er sieht es verächtlich als Erfindung des Sokrates 253 und rückt es an den Rationalismus der griechischen Philosophie heran, verbindet es also mit jenem rationalen Zug, den er für den Tod der Tragödie verantwortlich macht (s. 6.1 Das Ende der Tragödie und des Tragischen? ). Gewiß mag diese Artikulation der drei Prädikate zivilisationsgeschichtlich problematisch sein und bleibt für die diachronen Fragestellungen der vorliegenden Untersuchung allenfalls in Reserve. Für die synchronen Interpretationen dieser Arbeit und das Verständnis der Tragödien als Kunstwerke liefern diese Prinzipien und die ihnen angegliederten Begriffe wie der Traum für das Apollinische und der Rausch für das Dionysische, 254 denen also ein Element der Transgression, dort der mantischen, hier der sympotischen Ekstase gemeinsam ist, jedoch ein wertvolles Raster. Die soziale Transgression gehört vom theoretisch-systematischen Standpunkt als Tat zum Dionysischen, ihre Planung und Durchführung sowie drameninterne und literaturwissenschaftliche Hermeneutik sind jedoch dem Apollinischen zuzurechnen. Die Transgression verbindet also das komplementäre Gegensatzpaar, dessen Zusammenspiel Nietzsches Deutung der attischen Tragödie zugrunde gelegt hat und exemplifiziert so die zumindest implizit dialektische Hermeneutik, die er an diesem Gegensatzpaar entworfen hat. Außerdem kann Nietzsches Insistieren auf dem ästhetischen Wert der Tragödie über den Begriff der poetischen Transgression mit dem Ansatz dieser Arbeit vereinbart werden (vgl. 3.2 Zu einer Poetik und Hermeneutik der Transgression). Gegen eine allzu forsche Vereinnahmung Nietzsches über den Begriff der Transgression mag sich der Einwand erheben, daß eine Arbeit, welche die emotionale Wirkung der Tragödie ausklammert, deren zentrale Analysekategorien die Transgression und die Handlung sind und die Hegel als geistigen Ahnherrn für ihr Tragikkonzept reklamiert, sich nicht ohne weitere Klärung Nietzsches Gegenentwurf anverwandeln könne. Schließlich verankert er die Wirkung der Tragödie im Pathos statt in der Handlung 255 und sieht entsprechend der radikal anti- oder zumindest amoralischen Ausrichtung seiner Philosophie von der Norm ab. 256 Außerdem verortet er das Tragische der Tragödie in der antipessimistischen dionysischen Bejahung des Fragwürdigen und Furchtbaren, 257 allge- 252 Dreimal spricht er von „Versöhnung“ zwischen Apoll und Dionysos, einmal von einer „Grenzlinie“ der beiden (KSA Bd. 1, 32). 253 KSA Bd. 6, 69-72. 254 KSA Bd. 1, 26. 255 KSA Bd. 1, 85. 256 So verweist er - zu Recht - auf die moralische Indifferenz der Griechen, die alles vergöttlicht hätten, „gleichviel ob es gut oder böse ist“ (KSA Bd. 1, 35). 257 KSA Bd. 6, 79 (Götzendämmerung, Die „Vernunft“ der Philosophie). <?page no="111"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 97 mein des Lebens „selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen“ sowie des Vergehens und Vernichtens. 258 Bei diesem vitalistischen Tragikverständnis, welches das Problematische durch Bejahung aufhebt, während es bei Hegel und in der vorliegenden Arbeit im Kontradiktorischen bzw. Entweder- Oder verankert wird, bleibt von der Transgression nur noch die ihr inhärente Eliminierung. Im allgemeinen dionysischen Rausch, wie ihn auch die altorientalischen Völker gekannt hätten, sei die Norm nicht überschritten, sondern aufgehoben worden. 259 Dagegen sei die Sublimierung dieser Bewegung ins Künstlerische durch die künstlerische Überwindung des principium individuationis, also die Aufhebung aller Unterschiede, 260 das zivilisatorische Verdienst der Griechen gewesen. 261 Das Dionysische wird damit der Vektor des Ausnahmezustandes. Ja, Nietzsche sieht „als zentralen Gegenstand der Tragödie die Grausamkeit“. 262 Diese Einschätzung bettet er in seine These ein, „[f]ast Alles, was wir ‚höhere Cultur‘ nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung von Grausamkeit“. Selbst die Süße des tragischen Mitleids führt er auf Grausamkeit zurück. 263 Das Theater wäre seinem Wesen nach also mit Antonin Artauds Formel ein théâtre de la cruauté, das Leiden und Sehen sadistisch-voyeuristisch zusammenschließt. Diese Einschätzung bestätigt auch Nietzsches nivellierende Fortsetzung, die gänzlich von Mimesis, Transgression und deren diegetischer Darstellung absieht, da ihm zufolge sich „der Römer in der Arena, der Christ in den Entzückungen des Kreuzes, der Spanier Angesichts [sic! ] von Scheiterhaufen und Stierkämpfen“ an der Grausamkeit ergötzten. In jedem Fall mahnt abschließend der Dissens, der zwischen Nietzsche und Hegel über die Rolle der Normativität in der attischen Tragödie herrscht, zu einer genauen Lektüre der hier besprochenen Tragödien, um festzustellen, inwieweit die fraglichen Taten als Normverstöße wahrgenommen werden oder bzw. und als Leiden beklagt werden. Die Binnenhermeneutik hat also das letzte Wort, ob eine Tat als Transgression zu gelten hat. In scharfer Wendung gegen die Hegelsche Definition des Tragischen über die Norm sucht es Karl Heinz Bohrer in der Erscheinung, dem Schrecklichen und der Plötzlichkeit. 264 Emphatisch will er „Kunst, nicht Geschichtsphilosophie“ (2009: 11 ff.) und wendet sich in der folgenden Einleitung gegen die Reduktion der Tragödie auf Teleologie und Begriffe (2009: 11-32) 265 und „geschichtsphilosophische[n] Perspektiven […] im Sinne Hegels“ (2009: 23). Damit nimmt er - wenn auch unter völlig anderen Prämissen und mit abweichen- 258 KSA 6, 312 (Ecce homo, Die Geburt der Tragödie 3.). 259 KSA Bd. 1, 32. 260 Vgl. die kulturkreisübergreifende Schilderung für das Dionysosfest (KSA Bd. 1, 29 f.). 261 KSA Bd. 1, 33. 262 Roland Galle, Tragödie und Aufklärung. Zum Funktionswandel des Tragischen zwischen Racine und Büchner. Literaturwissenschaft - Gesellschaftswissenschaft 24. Stuttgart 1976, 29 f. 263 KSA Bd. 5, 166 (Jenseits von Gut und Böse Nr. 229). 264 Das Tragische. Erscheinung, Pathos, Klage. München 2009, 190: „Der Ausdruck des Tragischen ist die Form, in der das Erscheinen seine besonders reine und intensive Essenz erlangt.“ 265 Vgl. Karl Heinz Bohrer, Das Verschwinden der Tragödie. Christoph Menkes philosophische Studie über ihre Gegenwart. Merkur 60 (2006) 346-353. <?page no="112"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 98 den interpretatorischen Konsequenzen - eine ähnlich antirationalistische Frontstellung („Glauben an die Aufklärung und die damit verbundene alleinseligmachende Rationalität“) wie Anton Bierl ein, der die Annahme eines historischen Paradigmenwechsels zurückweist oder zumindest stark abschwächt („Vom Mythos zum Logos“). 266 Ein solcher Paradigmenwechsel fand beim Übergang von der Schamzur Schuldkultur statt und brachte über eine differenzierte Kausalattribution einen Zuwachs an (sozialer) Rationalität mit sich - unbeschadet der weit größeren Komplexität dieses Begriffs, die hier nicht ausgelotet werden kann. Die Spuren dieses Übergangs sollen auch in der vorliegenden Arbeit anhand der Transgression in Anlehnung an Vernants Forschungen im OT nachgewiesen werden (s. 2.4.5 Transgression und Orakel und teils auch 2.5 Körperliche Integritätsverletzung und räumliche Eliminierung als Restauration? zu dieser Tragödie). Außerdem positioniert sich Bohrer indirekt auch gegen den Begriff der sozialen Transgression, mit dem die vorliegende Arbeit operiert. Bohrer stellt recht apodiktisch seine „Ästhetik des Schreckens“ als theatralisches Novum nicht nur dem mythologischen Substrat gegenüber, sondern auch der Deutung der Tragödie als mythologische Erzählung 267 und deren strukturalistischer Interpretation (2009: 222). Bohrers Beweisführung verknüpft dabei in unzulässiger Weise den mythologischen Charakter und transgressiven Inhalt der Tragödie: „Wäre die attische Tragödie tatsächlich eine mythologische Erzählung, dann wäre die stattgehabte Darstellung des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch bzw. seine Verbrechen das zentrale Thema.“ Dies wird man mit Blick auf den Oidipus Tyrannos und viele andere Tragödien nicht ernsthaft bestreiten können, und die Literatur zur Rolle der Götter in der griechischen Tragödie füllt Bände. Bohrer verwechselt selbst in seinem eigenen ästhetischen Radikalismus Thema und Spezifikum. Auch hier würde eine Weglaßprobe der betreffenden Handlungsstränge, die von Transgressionen und der Rolle der Götter bei diesen handeln und nach Bohrer nicht zum zentralen Thema gehören, rasch zeigen, wie dürr die griechische Tragödie ohne sie würde (und damit Bohrers Reduktionismus offenbaren). Bohrers fundamentalästhetischer Isolationismus vernachlässigt zudem den kausalen Nexus zwischen Verbrechen, Sühne und Klage und damit auch den Aspekt, daß in der griechischen Tragödie die Darstellung(sweise) der Transgression zentral ist. Dagegen macht Bohrer als den „eigentlich tragischen Kern des attischen Dramas […] seinen ästhetisch-epiphanen Impuls“ aus (2009: 11). Obwohl Bohrers Werk insofern performativ ist, als sein argumentativer Stil von pointierter Erscheinung und Plötzlichkeit geprägt ist, weil er seine Thesen plakativ formuliert und in klarer Abgrenzung herausarbeitet, können m.E. unsere beiden Ansätze nebeneinander existieren oder sich sogar bereichern. Sie betrachten nämlich dieselben Phänomene aus unterschiedlichen Winkeln, was durch die Viel- 266 Literatur und Religion als Rito- und Mythopoetik. Überblicksartikel zu einem neuen Ansatz in der Klassischen Philologie. In: Ds., Rebecca Lämmle, Katharina Wesselmann (Hgg.), Literatur und Religion. Wege zu einer mythisch-rituellen Poetik bei den Griechen. MythosEikonPoiesis 1. 2 Bde. Berlin 2007, Bd. 1, 1-76, h. 1. 267 Diese Ansicht macht Bohrer bei Charles Segal, Greek Tragedy and Society: A Structuralistic View. In: Ds., Interpreting Greek Tragedy. Myth, Poetry, Text. Ithaca 1986, 21-47, h. 26 aus. <?page no="113"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 99 schichtigkeit eines Kunstwerks ermöglicht wird. Denn die Plötzlichkeit entspricht genau der in dieser Arbeit vertretenen Poetik der Transgression, des Okkasionellen, Innovativen und Singulären. Die Erscheinung, das Schreckliche und die Plötzlichkeit sind zudem in den von Bohrer besprochenen Szenen (2009: 185-218) Figuren der poetischen Transgression und Elemente, mit denen Transgression oder Eliminierung sprachlich-dramatisch inszeniert werden. Ja, die poetische Transgression ist, wie man in Weiterentwicklung von Bernhard Teuber formulieren kann (s. 1.2.4 Kurzer Forschungsabriß zur Transgression), das einzig adäquate Mittel zur Darstellung der sozialen. Damit zeigt Bohrer ein wichtiges Moment auf, das am Beispiel des Oidipus Tyrannos näher besprochen werden soll (s. 2.6.1 Metatheater und Aisthetik der Eliminierung in der Interpretation dieser Tragödie). Indem Bohrer den Schrecken an der Gestaltung von Textpassagen aufzeigen kann, vor allem an der verbalen Reaktion der Figuren, sichert er sich gegen die Bedenken gegen eine emotionale Rezeptionsästhetik (vgl. 2.1.3 Produktions- und Rezeptionsästhetik in 2.1 Aristoteles’ Poetik) ab und führt die Ästhetik auf ihre ursprüngliche Bedeutung zurück. Es muß allerdings kritisch angemerkt werden, daß Bohrers Versuch, das Tragische als „eine Ästhetik des Schreckens“ (2009: 35, 192) zu bestimmen, die Handlungsstruktur ausblendet, in die es eingebettet ist und der selbst die Ästhetik des Tragischen nicht zum geringsten ihre Wirkung verdankt. Diese Wesensbestimmung reduziert 268 das Tragische auf sein Manifestwerden in der Katastrophe und dabei auf die theatralische Präsentation, also ihre Ausgestaltung in der Inszenierung und Rhetorik. 269 Läßt man das Dramatische im Tragischen außer acht, läuft man zudem Gefahr, die attische Tragödie zu einem opéra lyrique 270 herabzustufen. 271 Die Präponderanz des Gesangs in Bohrers Verständnis des Tragischen setzt Nietzsches Archäologie der Tragödie aus dem Geiste der Musik fort. Auch wenn der Gesang bereits im zweiten Kompositionsglied der Tragödie enthalten ist, kann er nicht als deren Spezifikum angesehen werden. Dagegen wird eine mögliche Diskrepanz von poetischer Großgattung und Stil (man könnte vielleicht auch ‚Texttimbre‘ sagen) bereits von Emil Staiger angenommen, der hierfür auf eben auf das lyrische Drama verweist. 272 Umgekehrt sind das Theatralische (vgl. 2.3.1 Merschs und States’ phänomenologische vs. eine semiotisch-transgressive Ästhetik) und Dramatische nicht auf die Hybridgattung Theater/ Drama be- 268 Vgl. Bohrers Argumentation auf S. 214 („Unübersehbar ist, daß der Höhepunkt des Dramas in der Erscheinung [Hervorhebung im Original] des Oedipus in der letzten Szene liegt.“). 269 Dem Einwand, sein Verständnis von Tragik erfasse nur Wirkung und Effekt, nicht aber die Sache selbst, tritt Bohrer entgegen (2009: 31): „Tragischer Schrecken und tragische Trauer entspringen der Performance einer besonderen Sprache, die unabhängig von der Handlung und einer tragischen Schuld in Erscheinung [Hervorh. im Orig.] tritt.“ 270 Zu diesem vgl. weiterführend Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater. Frankfurt a.M. 3 2005, 94 f. und v.a. Peter Szondi, Das lyrische Drama des Fin de siècle. Hg. von Henriette Beese. Studienausgabe der Vorlesungen. [Aus dem Nachlaß von Peter Szondi hg. von Jean Bollack mit Henriette Beese u.v.a.] 4. Frankfurt a.M. 1975. 271 Nicht von ungefähr entwickelt Bohrer seine Theorie des Tragischen anhand von Baudelaire (2009: 35-184). Bohrer schreibt treffend dazu (2009: 16): „Das Tragische lebt hier wie dort poetisch von Intensitätsrhetorik, die nicht gattungsgebunden ist.“ 272 Grundbegriffe der Poetik. Zürich 8 1968, 8. <?page no="114"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 100 schränkt. Dabei beruht die geläufige Vorstellung des Dramatischen (vgl. Staigers Überschrift des entsprechenden Kapitels „Dramatischer Stil: Spannung“ [1968: 143]) auf der Wahrnehmung eines sequentialisierten Geschehens, ist also rezeptionsästhetische Sicht auf das in dieser Arbeit vertretene Dramenverständnis als Abfolge von Handlungen. Dabei muß anerkannt werden, daß die Bohrersche Erscheinung wie Dieter Merschs Kategorie des (Sich-)Zeigens qua Handlungen, die etwas bzw. den Akteur sichtbar machen, das Dramatische und Theatralische kombiniert. Mit der Autoreferentialität weisen sie bereits ein wichtiges, aber nicht ausschlaggebendes Element der Tragik auf. Das generisch Vorgängige vor dem Theatralischen - zumindest innerhalb der antiken Schauspiele, die keine pantomimischen performances waren - ist jedoch das Dramatische, da auch das dramenkonstitutive Wort eine Handlung ist. Aktuell und anschlußfähig ist Bohrers Theorie auch dadurch, daß sein Terminus ‚Erscheinung‘ in der aktuellen Ästhetik geläufig ist. 273 Die Epiphanie, die sich als dramaturgische Momentaufnahme von Horst Bredekamps Bildakt auffassen läßt, 274 ist ihre kongeniale dramaturgische Hypostase und mit allen zeitgenössischen Tendenzen kompatibel, die dem Körper eine bedeutende Rolle in der Inszenierung zubilligen, 275 der auch bei der Rekonstruktion der Inszenierung der attischen Tragödie zunehmend Beachtung findet (Wiles 1997: 121). Die Plötzlichkeit ist ihrerseits in ähnlicher Weise wie das Tragische an die dramatische Sequentialisierung gebunden und existiert syntagmatisch wie paradigmatisch nur in dieser. Denn damit etwas plötzlich sein kann, muß es sich vom Vorausgehenden brüsk unterscheiden 276 (vgl. Aristoteles’ Bemerkung, das 273 Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens. München 2000 = Frankfurt a.M. 2003. Für einen Transfer auf die Dramentheorie kommen am ehesten seine drei Dimensionen des Erscheinens (bloßes, atmosphärisches und artistisches) in Frage (2000: 148-169). Letzteres umfaßt die beiden ersten Dimensionen (2000: 156), doch ist der Hinweis auf die Gegenwart, die dem artistischen Erscheinen und den Kunstwerken durch die Darbietung eigne und welche die vorgenannten darböten (2000: 156-159), für die Theateraufführung ebenso zutreffend wie an sich unspektakulär. Seels „doppelte Gegenwärtigkeit der Objekte der Kunst“, die „eine besondere Gegenwart her[stellen] und […] eine besondere Gegenwart dar[bieten]“ (2000: 159), läßt sich jedoch gut auf die Doppelnatur der mimetischen Großgattung als Theater und Drama beziehen. 274 Dieses Konzept stellte Bredekamp im Rahmen seiner Heidelberger Gadamer-Professur 2005 vor. Der Vortrag zirkulierte lange Zeit bis zu seiner monographischen Ausarbeitung nur im Manuskript (s. Wolfram Hogrebe, Der doppelte Tod. Eine Miszelle. In: Bild/ Geschichte. Festschrift für Horst Bredekamp. Hg. von Philine Helas, Maren Polte, Claudia Rückert und Bettina Uppenkamp. Berlin 2007, 133-138, h. 133 Anm. 2). Jedenfalls hebt Bredekamps Konzept des Bildakts analog zum Sprechakt auf das kommunikative Potential einer mimetisch-referentiellen Handlung ab (Hogrebe 136). Diesen Gedanken entwickelt Horst Bredekamp denn auch in der mittlerweile vorliegenden schriftlichen Ausarbeitung seiner Theorie (Theorie des Bildaktes. Über das Lebensrecht des Bildes. Frankfurt a.M. 2010, 48-56, v.a. 51 f.), der nach eigenem Bekunden nicht die Wörter, sondern die Sprechenden durch die Bilder ersetzt und auf die Wirkung des Bildes auf den Rezipienten abhebt. 275 Vgl. Erika Fischer-Lichte (Hg.), Verkörperung. Tübingen 2001. 276 Eine derart banale Definition klingt bei Karl Heinz Bohreries nicht expliziertem und in die theoretischen Debatten verwobenem Verständnis allenfalls an (Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a.M. 3 1998, 9 f.): „Das »Plötzliche« [Kurs. im Orig.] ist also nicht bloß Kategorie für die Phänomenalität des Kunstwerks in wirkungsästhetischer Hin- <?page no="115"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 101 Drama müsse ein Ganzes sein, dieses bestehe aus Anfang, Mitte und Ende, sowie v.a. die sequentielle Definition dieser Teile [Poet. 1450b 26-31]). Wie die alltagssprachliche parole sind die einzelnen Szenen nur in ihrer syntagmatischen Abfolge verstehbar. Warum die dramatis personae Schrecken ästhetisch performieren, bleibt bei Bohrers Abwertung des Handlungsverlaufs unverständlich. Ohne diese Motivation aus dem sachlichen Handlungsverlauf würde ihre Schreckensperformanz jedoch keinen Schrecken vermitteln, sondern wie in einem absurden Theaterstück Befremden auslösen. Bohrers Blick auf die Tragödie droht sich auf die mit ihren Emotionen zu verengen. Wenn Bohrer exklusiv auf die emotionalen Seiten der griechischen Tragödie als deren Spezifikum abhebt und explizit einen kognitiv-dialogischen Progreß 277 ausschließt, vernachlässigt er entschieden deren Rolle als Movens der Handlung zumal in den Epeisodia, ohne welche die Tragödie zu einem Singspiel, zu einer zusammenhanglosen Abfolge isolierter Lieder herabsänke. Sinngebung und Weltsicht aus der Tragik zu verbannen (2009: 20 f., 23, 185 f., 196) wird zudem wesentlichen Zügen der attischen Tragödie und auch des Tragischen nicht gerecht, da Bohrer bei den besprochenen Passagen aus Aischylos’ Agamemnon (v. 1382- 1392, 1481-1496, 228-241) die ahnungsvollen Vordeutungen und die theologische Seite des Normverstoßes und des sich fortpflanzenden Geschlechterfluchs 278 vernachlässigt (2009: 189-202, v.a. 193 f.). Auch in der Wiedererkennung zeigt sich, daß die Erkenntnis ein entscheidendes Moment der antiken Tragödie und ihrer Handlung ist. Bohrer beleuchtet die Ästhetik des Schreckens in der Tragödie, bietet jedoch keine Poetik des Tragischen, da er dessen Bindung an die Transgression ausblendet und nur seine inszenierungsästhetische Performanz und Phänomenologie erhellt. Bohrers Verschiebung des Tragischen aus der Handlungsstruktur ins Stilistische 279 trifft literatur- und begriffsgeschichtlich erst auf die dramatische Theorie und Praxis der kaiserzeitlichen Stoa zu (s. 6.2 Das Verhältnis der Stoa sicht, sondern markiert auch die Sperre gegen einen geschichtsphilosophisch oder systemtheoretisch entstellten Zeitbegriff [Kurs. von mir].“ Søren Kierkegaard, den Karl Heinz Bohrer („Die Systematik des »Plötzlichen« bei Kierkegaard, Scheler, Heidegger und Carl Schmitt“, in: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk. München 1978, 336-343, h. 336) zitiert, definierte dagegen das Plötzliche von allen in diesem Kapitel von Bohrer besprochenen Denkern am nächsten zu der hier vorgeschlagenen Begriffsbestimmung als „die Negation der Kontinuität“, welch letztere auch der Kommunikation eigen sei (Der Begriff der Angst (1844). In: Die Krankheit zum Tode, Furcht und Zittern, Die Wiederholung, Der Begriff der Angst. Unter Mitwirkung von Noels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft hg. v. Hermann Diem und Walter Rest. Köln 1956, 599). Sehr gut passend zu den hier angestellten Überlegungen zu Plötzlichkeit und Zeit sowie zu Karl Reinhardts Kategorie des Dämonischen wird dieses von Kierkegaard an der besagten Stelle (1956: 599) „als das Plötzliche bestimmt, wenn auf die Zeit reflektiert wird.“ 277 „[D]ie Angstrede [kann] als pathetische Ausdrucksform neben die Epiphanie des Schreckens treten. Sie und nicht ein dialogischer Progreß bestimmt das tragische Drama.“ (2009: 335) 278 Vgl. dazu die ausführliche Untersuchung von Sabine Föllinger, Genosdependenzen. Studien zur Arbeit am Mythos bei Aischylos. Teilw. zugl. Habil. Mainz 1999. Hypomnemata 148. Göttingen 2003. 279 Bereits Emil Staiger bestimmte den dramatischen Stil über „[d]ie Sprache des Pathos“ (Grundbegriffe der Poetik. Zürich 8 1968, 144). <?page no="116"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 102 zur Tragödie und zum Tragischen des Kap. 6. Das Verhältnis der Stoa zur Tragödie und zum Tragischen). Gleichermaßen ist sein im weitesten Sinne phänomenologischer Ansatz in der Dramenästhetik weniger für das Tragische als für das Performative fruchtbar (s. 2.2.1 Performanz). Während Bohrers Theorie weitgehend nur auf den Teil der Tragödie nach der Anagnorisis, Schmitt zielt, betrachtet Arbogast Schmitt nur den Teil davor. (Da in diesen die Transgression fällt, ist er deshalb grundsätzlich für die vorliegende Arbeit anschlußfähiger.) Auch er wendet sich gegen die neuzeitliche Vorstellung, für die er Hegel, Goethe und Schiller anführt, das Tragische bestehe in einem „unausgleichbaren Gegensatz“, 280 der den Handelnden bei jeder Entscheidung fehlen lasse; neu ist Schmitts geistesgeschichtliche Einbettung, diese Sichtweise sei das „Produkt der massiven Stoarezeption zu Beginn der Neuzeit“ (1988: 10). Ein Konflikt zwischen Freiheit und Notwendigkeit für das individuelle Handeln trete erst dann auf, wenn man von einer durchgehend, auch bis ins menschliche Innenleben kausal geordneten Welt ausgehe, was die antike Stoa getan habe (1988: 10 f.). Als Beleg für seine geistesgeschichtliche Verortung führt Schmitt freilich nur Titel an, die den barocken Neostoizismus und die dramaturgische Rezeption Senecas belegen. Der Einfluß der antiken Stoa auf die Theorie des Tragischen der Neuzeit und v.a. der deutschen Klassik und des deutschen Idealismus geht daraus jedoch nicht hervor. Gegen Schmitts Argumentation müssen vom systematischen Standpunkt sogar massive Bedenken angemeldet werden. Das auch hier vertretene moderne Tragikkonzept des Integritätenkonflikts und der Desubjektivierung hat mit dem stoischen Determinismus lediglich gemeinsam, daß ein personales Subjekt genötigt ist, eine Handlung zu vollziehen. Der Zwang und die moralische Valenz dieser Handlung unterscheiden sich jedoch massiv. Was die Desubjektivierung betrifft, so wird in der Stoa das Subjekt nur von einer höheren göttlich-kosmischen Macht in Form der Vorsehung, die den Kosmos durchwaltet, überwältigt und entgegen seinen möglicherweise schlechten Impulsen zum Guten gezwungen. Diese Konstellation ist am prominentesten in Kleanthes’ iambischem Trimeter niedergelegt (SVF I 527), ist jedoch auch in seinem Zeus-Hymnos anzutreffen (SVF I 537, v. 280 Menschliches Fehlen und tragisches Scheitern. Zur Handlungsmotivation im Sophokleischen ‚König Ödipus‘. RhM 131 (1988) 8-30, h. 10. Seine dort entwickelten Ansichten erweitert er in zwei anderen Beiträgen: Arbogast Schmitt, Tragische Schuld in der griechischen Antike. In: Günther Eifler, Otto Saame (Hgg.), Die Frage nach der Schuld. Vorträge, Studium Generale der Johannes Gutenberg-Universität, Mainz (Mainzer Universitätsgespräche Sommersemester 1987 u. Wintersemester 1987/ 88), 1991, 157-192. Arbogast Schmitt, Wesenszüge der griechischen Tragödie: Schicksal, Schuld, Tragik. In: Hellmut Flashar (Hg.), Tragödie. Idee und Transformation. Colloquium Rauricum V. Stuttgart, Leipzig 1997, 5-49, v.a. 36-43 („Tragik und Schuld“). Sie werden wie der hier vorgestellte und kritisch besprochene Beitrag in ähnlich kritischer Weise von Michael Lurje, Die Suche nach der Schuld. Sophokles’ Oedipus Rex, Aristoteles’ Poetik und das Tragödienverständnis der Neuzeit. Teilw. zugl. Diss. Bern 2001. BzA 209. München, Leipzig 2004, 263-275 vorgestellt und besprochen, was hier ein näheres Eingehen auf sie erübrigt. Für Schmitts Tragikverständnis in seinem rezenten monumentalen Poetik- Kommentar s. 2.1.2 und Tragik in 2.1 Aristoteles’ Poetik und 5.2 Die Neue Komödie und Menanders Samia. <?page no="117"?> 1.4 Tragik, Konflikt und Integrität 103 8-15). In der antiken Tragödie verletzt die Handlung dagegen immer eine Norm oder eine Integrität, ist also transgressiv. Zudem erfolgt diese Überwältigung nicht nur durch suprasubjektive Mächte wie Götter, sondern, wie im Falle Medeas (und von Senecas Phaedra) auch durch innere Mächte, wie den und den furor, die das Subjekt zuvor genährt hat oder hat wachsen lassen. Solche determinierenden äußeren oder inneren Kräfte fehlen im Falle des Normenkonflikts, den das moderne Verständnis von Tragik zugrunde legt. Er beruht darauf, daß zwei Normen einander ausschließen, also logisch-ontologisch auf dem Satz vom Widerspruch. Tragisch wird diese objektiv-strukturelle Unmöglichkeit der Nomothesie erst dadurch, daß ein ethisch-rationales Subjekt diese einander ausschließenden Ge- und Verbote konjunkturell erfüllen soll. 281 Es ist durch deren normativen Impetus also genötigt, - unabhängig von der Möglichkeit des Nichthandelns oder anderen Handlungsoptionen - eine Norm zu verletzen. Moralisches Handeln setzt so etwas wie die Willensfreiheit voraus. Dies tun bereits Platon und Aristoteles. Die Stoa hatte besondere argumentative Anstrengungen unternommen, um die Willensfreiheit mit ihren deterministischen Theoremen zu vereinbaren, 282 also einen konzeptuellen Widerspruch aufzuheben. Dabei vernachlässigt Schmitt übrigens, daß die lückenlose Bestimmtheit, auch des Innenlebens, eine Innovation Chrysipps gegenüber dem Schulgründer ist (LS I 392) und daß die Vorherbestimmung der wichtigsten Grundstationen des Lebens, wie Zenon sie annimmt, bereits viel früher bei den Griechen anzutreffen ist. 283 Der tragische Normenkonflikt und die Willensfreiheit setzen beide ein moralischrationales Subjekt voraus, doch ansonsten unterscheiden sie sich fundamental. Das Konzept der Willensfreiheit sichert die souveräne Entscheidung des Subjekts gegenüber äußeren Kräften, der tragische Normenkonflikt etikettiert dagegen Handlungsoptionen. Selbst die Vorherbestimmtheit des Handelns und der tragische Normenkonflikt unterscheiden sich noch: Bei der Vorherbestimmung ist ein konkretes faktisches Handeln unvermeidlich, bei dem tragischen Normenkonflikt kann das Subjekt noch zwischen zwei moralisch verwerflichen Handlungen wählen, ist also nicht auf eine konkrete Handlung festgelegt. Lediglich die Qualifikation des Handelns ist unvermeidlich. 281 Die interessante Frage, warum moralische Ge- und Verbote einander überhaupt ausschließen können, steht auf einem anderen Blatt. 282 S. dazu Susanne Bobzien, Determinism and Freedom in Stoic Philosophy. Oxford 1998, 234- 329. 283 Den Begriff und die damit verknüpfte Vorstellung kannten die Griechen schon weit vor den Stoikern. Deren Neuerung bestand in der Annahme, das unentrinnbare Schicksal werde von einer vernünftigen Vorsehung durch den göttlichen Weltlogos gelenkt. S. Anthony Arthur Long, David N. Sedley, The Hellenistic Philosophers. Vol. 1: Translations of the Principal Sources with Philosophical Commentary. Vol. 2: Greek and Latin Texts with Notes and Bibliography. Cambridge 1987, Bd. 1, 392 und Modestus van Straaten, Menschliche Freiheit in der stoischen Philosophie. Gymnasium 84 (1977) 501-518, h. 502, der für den vorstoischen Begriff eines unentrinnbaren Schicksals auf Hom. Il. 16.431-446, 22.167-181 ( ) sowie Hdt. 1.91.1 ( ) verweist. Zur Frage von Determinismus und Willensfreiheit vor und bei Aristoteles vgl. Wolfgang Kullmann, Aristoteles und die moderne Wissenschaft. Philosophie der Antike 5. Stuttgart 1998, 201-213. <?page no="118"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 104 Auch Schmitts eigener Begriff des Tragischen ist nicht exakt ausgearbeitet. Daß „ein vermeidbares, aber aus Charakter und Denkhaltung heraus verständliches Fehlverhalten selbst zur Ursache vielfältiger Verstellungen und Verzerrungen der richtigen Perspektive auf die Wahrheit werde“, wie es bei Oidipus, Iokaste und dem Chor in Sophokles’ Oidipus Tyrannos anzutreffen sei (Näheres zu Schmitts Deutung dieser Tragödie s. 2.4.2 Monstrosität der Transgression statt Schuld-, Schicksals- oder Charaktertragödie in der OT-Interpretation), nennt er „ein tragisches Scheitern“, das sich durch Aristoteles’ -Theorie erklären lasse (1988: 28). Das tragische Scheitern sei im Fall des Oidipus Tyrannos durch die tragischen Fehler und verursacht (1988: 17). Die Semantik der aristotelischen ist, da die Poetik dieses Substantiv bloß einmal für Merkmale des Dramas verwendet, derart interpretabel, daß eine Harmonisierung 284 mit dem klassischen (oder - wie in dieser Arbeit - mit einem anderen) modernen Tragikbegriff durchaus möglich erscheint und man Stellen aus anderen Schriften heranziehen muß, um zu einem kohärenten Begriff zu gelangen. Dabei sei dahingestellt, ob durch dieses Verfahren ein Begriff gewonnen werden kann, der die Tragik, d.h. das generische Spezifikum der attischen Tragödie, zu erfassen in der Lage ist (Näheres s. 2.1.2 und Tragik in 2.1 Aristoteles’ Poetik). Bei Aristoteles haben die freilich nichts mit der zu tun (s. 2.4.2 Monstrosität der Transgression statt Schuld-, Schicksals- oder Charaktertragödie in der OT-Interpretation). Durch diesen Brückenschlag implementiert Schmitt statt der Unumgänglichkeit des Fehlverhaltens, die der moderne Tragikbegriff zugrunde legt, ein drängendes subjektives Element. Die „selbstverschuldete[r] Unwissenheit“, die Schmitt 1988: 28 bei der Applikation der aristotelischen bei dem Chor des Oidipus Tyrannos ausmacht, ist - ebenso wie der „offenbar unzureichende[n] Gebrauch, den Ödipus von seiner Geisteskraft macht“ (1988: 13) - ebenfalls ein modernes Element, erinnert sie doch eher an Kants Schrift ‚Was ist Aufklärung? ‘. Platon vertrat dagegen das Theorem, daß jede Seele die Wahrheit nur unfreiwillig entbehre (Sph. 228c: ). Auch hier implementiert Schmitt also ein weiteres modernes Element, 285 um die Kausalität der Transgression näher zu bestimmen, einmal zuungunsten, dann zugunsten der Souveränität des Subjekts. Dadurch kommt ihm das Verdienst zu, die Frage nach der Rolle der Kausalität für die Tragik in den Blickpunkt gerückt zu haben. Deshalb sei hier abschließend darauf hingewiesen, daß der Tragikbegriff der vorliegenden Arbeit wie Schmitt (vgl. 1997: 9 ff.) davon ausgeht, daß die Transgression zwar durch ge- 284 Zieht man - wie diese Arbeit - die objektivierende Bedeutung ‚Fehlverhalten‘, ‚Normverletzung‘ für zumindest als Nuance in Betracht, könnte dieses Fehlverhalten immer noch einem klassischen Normenkonflikt der neuzeitlichen Tragik geschuldet sein. Selbst die engste, kognitiv-subjektive und keineswegs unumstrittene Deutung der (‚Fehlurteil‘), die - darin ist Schmitt grundsätzlich Recht zu geben - hinsichtlich des moralischen Urteils nicht mit dem modernen Tragikbegriff eines Normenkonflikts vereinbar ist, läßt sich mit diesem bei einem praktisch-sachlichen Irrtum durchaus harmonisieren. 285 Für den unterschwelligen Modernismus von Schmitts Repristinierung der klassischen Philosophie vgl. Rüdiger Bubner, Gnomon 76 (2004) 19-23, h. 22. Rez. von: Arbogast Schmitt, Die Moderne und Platon. Stuttgart 2003 (jetzt 2 2008). <?page no="119"?> 1.5 Komik, Doppelung und Iteration 105 wisse Faktoren begünstigt und provoziert wird, nämlich Rollenperformanz und Positionenvakanz, die Willensfreiheit als anthropologisches Postulat jedoch nicht berührt. Um das Vorliegen von Tragik feststellen zu können, muß deshalb darauf geachtet werden, ob die Tragödien selbst Handlungsalternativen zur Transgression erkennen lassen, durch welche die Tragik strukturalistisch gesprochen distinktiv wird. Interessanterweise scheint Schmitt später das Scheitern seiner aristotelisierenden Interpretation der attischen Tragödie implizit zu korrigieren, wenn er sich dem Tragikbegriff der vorliegenden Arbeit annähert (1997: 43): „[D]er Intentionenkonflikt [ist] das, was an der Stelle des tragischen Konflikts der neuzeitlichen Tragödie steht.“ Dabei ist eine bedingte Motivation, wie sie der Tragik zugrunde liegt, durchaus auch in Schmitts Augen mit der Freiheit der Handlung vereinbar. 286 Diese Annäherung setzt sich in der Folge fort: Die situativen rationalen und ethischen Insuffizienzen, die er in seinem rezenten Kommentar zu Aristoteles’ Poetik anhand der Nikomachischen Ethik herauspräpariert, um Aristoteles’ -Begriff in der Poetik zu präzisieren, entsprechen den handlungsstrukturellen, konjunkturellen Dysfunktionen des ethisch-rationalen Subjekts, welche diese Arbeit als eine Form der Tragik ansieht. 287 1.5 Komik, Doppelung und Iteration Bereits Sigmund Freud liefert mit seiner Unterscheidung zwischen ‚Komik‘ und ‚Witz‘ wichtige Ansätze für eine Theorie zur Analyse komischen Sprechens in der dramatischen Literatur: Die Komik bedarf zur ihrer Realisierung nur eines (menschlichen) Objekts und eines Rezipienten, die Vermittlung durch einen Dritten, der die komische Begebenheit weitererzählt, ist für ihr Zustandekommen unerheblich; beim Witz ist dieser Erzähler „zur Vollendung des lustbringenden Vorgangs unentbehrlich; […] Der Witz wird gemacht, die Komik wird gefunden, und zwar zu allererst an Personen, erst in weiterer Übertragung auch an Objekten, Situationen u. dgl.“ 288 Der Witz liegt also im Bereich der Produktionsästhetik, ja sensu stricto der Poetik (er wird gemacht), die Komik im Bereich der Rezeptionsästhetik (sie wird gefunden). Diese Bestimmung schließt nicht aus, daß entsprechend der komplexen Kommunikationssituation des Theaters die Komik stärker werkästhetisch von einem späteren Hermeneuten am Text nachgewiesen wird. Freuds Unterscheidung ist jedenfalls auch für die komplexe, mehrstufige Theaterkommunikation fruchtbar: Das Komische fällt in die Bühnenpragmatik und Kommunikation mit den Rezipienten, der Witz läßt sich in der Binnenpragmatik der Bühnenfiguren verorten (s. die hier vorgelegte Analyse des Prologs von Aristophanes’ Fröschen). Doch auch in der Mikroskopie des 286 Vgl. Schmitt 1997: 31: „Das Wissen um die Motive einer Handlung ist also indifferent gegenüber der Möglichkeit, daß diese Handlung frei oder unfrei ist.“ 287 Näheres s. 2.1.2 und Tragik in 2.1 Aristoteles’ Poetik. 288 Der Witz und seine Beziehung zum Unterbewußten (1905). In: Psychologische Schriften. Studienausgabe. Hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey. Bd. 4. Frankfurt a.M. 1 1972 = 10 1996, 9-219, h. 169. <?page no="120"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 106 Witzes bleibt Freud in seiner Schrift zu diesem Thema produktionsästhetischsprachorientiert: So kann Hellmut Flashar zeigen, daß Freuds Analyse des Witzes als „eine Verkürzung des sprachlichen Ausdrucks“, also einer schöpferischen sprachlichen Devianz, Ausführungen in Aristoteles’ Rhetorik (1412b 20- 23) zum Witz ( bzw. ) nahekomme und sich auch auf Aristophanes anwenden lasse. 289 Als Beispiel führt Flashar Wespen (v. 895, 899, 903) an, wo ein Hund, der einen Käse gestohlen hat, Labes heißt, was auf und den Feldherrn Laches anspielt, der 425 v. Chr. wegen Unterschlagung angeklagt wurde. 290 Bei dem von Flashar skizzierten komischen Verfahren werden also auch Transgressionen binnenpragmatisch formuliert und referentiell insinuiert. Wie im Vorausgehenden zwischen den Merkmalen der Gattung Tragödie und dem Tragischen so muß auch im Folgenden zwischen den Merkmalen der Gattung Komödie und dem Komischen 291 unterschieden werden. Komik und Komödie trennt jedoch ein gemeinsames Charakteristikum von der Tragik und Tragödie: Das Fehlen einer existentiellen Eliminierung. Deshalb liegt der Unterschied zwischen diesen beiden Gattungen und Handlungsmerkmalen im Schritt von der Darstellung der Kontingenzerfahrung zur anthropologisch-produktionsästhetischen, 292 wobei wie im Falle der Tragik diese Kontingenz zumeist einer Intention des Betroffenen widerspricht. Im Unterschied zur Tragik, die immer mit einer Einschränkung des souveränen Status als ethisch-rationales Subjekt einhergeht, ist im Verhältnis zum Lachenerregenden 293 selbst dramenintern der Status des Subjekts und des Objekts möglich. Auch in der Komödie bleibt die Personenkonstellation das entscheidende Movens der Handlung. Doch beim unterschiedlichen Umgang mit der Position des Vaters zeigt sich bereits ein grundlegender Unterschied zwischen Komödie und Tragödie: In der Tragödie regiert der Mangel, die harte Beschränkung durch die ehernen Gesetze und die Gegliedertheit des Seins durch Grenzen, die nur durch suprasystemische Intervention (deus ex machina) aufgehoben werden können und deren Geltung durch die Eliminierung im Falle einer Transgression affirmiert wird. In der Komödie können diese Gesetze systemimmanent suspendiert werden, die durch die Transgression heraufbeschworene Eliminierung tritt nicht ein. 294 Das häufigste Verfahren der komischen Suspendierung ist die Doppelung, die in verschiedenen Ausprägungen eine Figur der antiken Rhetorik ist 289 Komik und Alte Komödie. MH 53 (1996) 83-90, h. 84 f. Skeptisch dazu Kloss 2001: 4 f. 290 So auch Nikoletta Kanavou, Aristophanes’ Comedy of Names. A Study of Speaking Names in Aristophanes. Teil. zugl. Diss. Oxford 2005. Sozomena 8. Berlin 2011, 90. 291 Bernhard Greiner, Die Komödie. Eine theatralische Sendung. Grundlagen und Interpretationen. Tübingen 1992, 3-125 verbindet beide. 292 Vgl. Hermann Lübbe, Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung. In: Gerhart von Graevenitz, Odo Marquard (Hgg.), Kontingenz. Poetik und Hermeneutik 17. München 1998, 35-47. 293 Vgl. Peter von Möllendorff, Grundlagen einer Ästhetik der alten Komödie. Untersuchungen zu Aristophanes und Michail Bachtin. Diss. München 1994. Classica Monacensia 9. Tübingen 1995, 45-49 („Ästhetik und Lachen“). 294 Vgl. Arist. Poet. 1449a 34 f.: . <?page no="121"?> 1.5 Komik, Doppelung und Iteration 107 (Lausberg Handbuch 310-322). Rückt man vom Kriterium der Identität ab und beschränkt sich auf die reine Operation des Hinzufügens, so ist wie im Falle der Eliminierung die adiectio bzw. ein schema bzw. solözistisches vitium der antiken Rhetorik (Quint. inst. 1,5,38-40; 52 f.), die wie die ihr entsprechende Expansion der Ermittlung strukturalistischer Minimalpaaroppositionen dient. Die Duplizierung tritt bereits bei der Verdoppelung der Position des pater familias durch die Hochzeit des Sohnes ein, welche ihm die Vaterschaft durch die biologische Reproduktion im damaligen patriarchalischen sozialen Rahmen ermöglicht, und stellt eine elementare Operation der Komödie dar. Semiotisch betrachtet, reproduziert sie die Gedoppeltheit, die im identitätsstiftenden Nexus zwischen Bedeutung und Bedeutungsträger vorliegt. Bereits hier zeigt sich, daß sie ein komikübergreifendes Phänomen ist. Die Doppelung tritt denn auch in der Tragödie auf (Medeas zwei Kinder), fällt dort jedoch der reduktiven tragischen Eliminierung zum Opfer, ist also kein generisches Spezifikum. Als eher paradigmatisches Phänomen ist sie von der Iteration zu unterscheiden, die auf der chronologisch-syntagmatischen Achse verortet ist. 295 Die komische Doppelung ist nicht nur ein patentes Mittel, um die Ordnung wiederherzustellen, sondern löst auch die vorausgehende Verwicklung ganz wesentlich aus, weil zuerst statt der Positionen die um sie konkurrierenden Personen verdoppelt werden. Die Suche nach der ursprünglichen Identität und das Streben, sie wiederherzustellen oder ihr wieder zur Geltung zu verhelfen, sind deshalb ein wichtiges und zwar kognitives, nicht dramatisches Moment der Handlung in der Neuen Komödie und ihren römischen Adaptationen (auch in der Tragödie aus anderen Gründen, vgl. Oidipus). Strukturalistisch gesprochen müssen die Schauspieler im analytischen Drama entscheiden, ob ein relevanter bzw. distinktiver Unterschied zwischen ansonsten ähnlichen Dingen vorliegt. Der Zuschauer wird dagegen in Plautus’ Amphitruo mit eben einem solchen Unterschied durch das Geschehen geleitet, der metatheatralisch thematisiert und phantastisch (d.h. unter Außerkraftsetzung des ) annulliert wird (v. 140- 147). 296 Die Suspendierung der aus der Alltagserfahrung bekannten Grenzziehungen in der Komödie legt die Doppelung und symbolische Bezogenheit im Rahmen der Gattung Komödie frei. Bereits in ihrer Herausbildung ist sie stark auf eine andere Gattung ausgerichtet, die Tragödie, die als zweite Ebene wie andere Gattungen des hohen Stils in der literarischen Praxis der Komödie durch das 295 Vgl. Massimo Fusillos Definition, deren Anforderungen an die Identität noch über die konzeptuelle (Medeas zwei Kinder) hinausgeht und mit Körper und Namen beide Seiten des anthropologischen Zeichens umfaßt (L’altro e lo stesso. Teoria e storia del doppio. Florenz 1 1998, 8): „si parla di doppio quando, in un contesto spaziotemporale unico, cioè in un mondo possibile creato dalla finzione letteraria, l’identità di un personaggio si duplica: un uno diventa due; il personaggio ha dunque due incarnazioni: due corpi che rispondono alla stessa identità e spesso allo stesso nome.“ 296 Für einen anderen Begriff von Phantastik, der am Beispiel des OT darauf abhebt, daß durch die Mythologie gebannte reale Schrecklichkeit durch die Konfrontation der Mythologie mit der Realität rehorrifiziert werde, s. Gerrit Kloss, Mythos und Realität: Paradoxe Phantastik in antiken Texten. In: Nicola Hömke, Manuel Baumbach (Hgg.), Fremde Wirklichkeiten. Literarische Phantastik und antike Literatur. Heidelberg 2006, 143-159, h. 150-155. <?page no="122"?> 1. Handlungsfiguren: Der Analyseapparat dieser Arbeit 108 intertextuelle Verfahren der Parodie immer aufgehoben bleibt. Die oberflächliche Bedeutung des Textes bleibt bestehen und notwendige Voraussetzung, sie erhält nur vor der Folie eines anderen Textes einen neuen, tieferen Sinn. Die Grenzen zwischen zwei literarischen Entitäten und Gattungen werden dabei nicht aufgehoben, sondern durch die Transgression aktualisiert. 297 Es ist wohl das jenseits des Erheiternden, das immer vom individuellen Humorgeschmack abhängt, am besten im Text zu verankernde Spezifikum der Komik, daß sie einen Sinnzusammenhang herausgreift und seine Geltung suspendiert, nicht annulliert. Dadurch wird der Raum für eigene Sinnzusammenhänge geschaffen. Diese vorübergehende Aufhebung unterscheidet die Komik vom Bestreben der Kritik oder des Spotts, die alle auf eine dauerhafte Aufhebung zielen. Doch selbst die zeitweilige Existenz des komischen Ausnahmezustands setzt notwendigerweise das Suspendierte voraus. Die Komik ist keine Kriech-, sondern eine Schlingpflanze, die sich wie eine Klette oder das Efeu am knorrigen Stamm des von ihr (voraus)gesetzten Sinns emporwindet. Die Tragödie erhebt nicht den absoluten Anspruch faktualer Literatur auf außerliterarische Referenz, doch ihre Fiktionalität impliziert mimetisch diese Illusion, die Poetik der Komödie untergräbt diese Illusion und schafft mit komischen, phantastischen und metatheatralischen Elementen eine weitere Ebene der Fiktionalität, die das Bewußtsein ihrer spielerischen Bezogenheit und Fiktionalität aufrechterhält. Das Komische ist nur deshalb komisch, weil es zu verstehen gibt, daß es nicht das Eigentliche, sondern ein Spiel ist. Die Bezogenheit auf ein konkretes Anderes ist ein sinnstiftendes Junktim wie zwischen signifiant und signifié. Diese Alloreferentialität und das Präsupponieren eines festen Standorts unterscheidet die Komik von der dekonstruktivistischen Auflösung in dezentrierte Verweisgitter. 298 Anders als die Dekonstruktion hebt sie nur zeitweise das Band zwischen signifiant und signifié auf. Die Komik ist wie die Ironie eine Form des uneigentlichen Sprechens, doch anders als bei der Komik ist es das Wesensmerkmal der Ironie, daß das Gesagte nicht mit dem Gemeinten identisch ist. 299 Das identitätsstiftende Band zwischen signifiant und signifié wird also konjunktural gelockert, ohne daß die Ironie wie das Komische implizit von der tatsächlichen Gültigkeit des in Frage gestellten Deutesystems und ihrem eigenen hypothetischen Charakter ausgeht. Deshalb kann sie als Stilmittel innerhalb einer komischen Situation, aber auch als Mittel der Kritik und ernsthafter Diskussion außerhalb der Komik Verwendung finden. 297 So auch Oliver Taplin zum Fortbestand der Gattungsgrenzen zwischen Komödie und Tragödie trotz ihrer Überschreitung (Comedy and the Tragic. In: Michael S. Silk (Hg.), Tragedy and the Tragic. Greek Theatre and Beyond. Oxford 1996, 188-202, h. 189: „[B]oundaries are a prerequisite of transgression.“ 298 Vgl. Stefan Münker, Alexander Roesler, Poststrukturalismus. Stuttgart 2000, 30. 299 So zumindest das auf die klassische Rhetorik zurückgehende Konzept der Ironie, das erst von der romanischen Ironie aufgebrochen und erweitert wurde, die damit eine begriffsgeschichtlich folgenreiche Entwicklung anstieß (Ernst Behler, Klassische Ironie, romantische Ironie, tragische Ironie. Zum Ursprung dieser Begriffe. Darmstadt 1972, 9-11). Für Ironiekonzepte der Romantik, Nietzsches, Kierkegaards sowie der postexistentialistischen Epoche s. Susanne Schaper, Ironie und Absurdität als philosophische Standpunkte. Diss. Gießen 1993. Epistemata Reihe Philosophie 159. Würzburg 1994, 4-70 bzw. 110-160. <?page no="123"?> 1.5 Komik, Doppelung und Iteration 109 Die Ironie nimmt wie die Komik in einer gespielten Demutsgeste eine Froschperspektive gegenüber einem gewählten Gegenstand ein, dessen massiven Geltungsanspruch sie untergräbt. Die Ironie zielt auf den Einsturz des so entstandenen Hohlraums, ist also sensu stricto subversiv, die Komik bringt ihn zum Klingen. 300 Während Komik und komische Ironie eher subjektive Geltungsansprüche unterhöhlen, offenbaren Tragik und tragische Ironie 301 die Abgründigkeit der menschlichen Existenz und bringen sie im Integritätsverlust zum Einsturz. Die Inversion, die in der Verkehrung aller gewöhnlichen Zuordnungen und Rollen besteht, die verkehrte Welt, ist ein probates Mittel der Komik; die Perversion qua auf Invertierung beruhende Annullierung der moralischen Integrität ist der Tragik vorbehalten. Vom rezeptionsästhetischen und humorkritischen Standpunkt eher banale Formen der Komik wie Kalauer, Gewaltdarstellung und Zoten, die vornehmlich in der Alten Komödie 302 und bei Plautus auftreten, lassen sich ebenfalls als solche spielerische Grenzüberschreitung innerhalb des Systems begreifen. Der Kalauer spielt in einer typologisierungsbedürftigen Vielfalt mit dem für die Sinn- und Identitätsstiftung zentralen Nexus zwischen signifiant und signifié und erheitert nicht selten durch die Verrätselung der köperbezogenen Tabuthemen Sexualität und Gewalt. Die Auflösung dieser Verrätselung läßt sich mit Algirdas Julien Greimas als Bruch der Isotopieebenen beschreiben. 303 Ein eindeutiger Nachsatz, der die Sprechabsicht eines Vorsatzes konterkariert, 304 macht dabei unerwartet dessen Doppeldeutigkeit 305 offenbar. Die Bedeutungsverengung von ‚zwei-deutig‘ auf die sprachliche Evokation und äquivok kaschierte Transgression sexueller Tabus ist ein klares sprachgeschichtliches Zeugnis für diese Funktion von Äquivozität. Die Zote, in der Nachfolge Freuds psychologisierend als Ventil der soziokulturellen Disziplinierung gedeutet, überschreitet wie die viel- 300 Die Komik unterscheidet sich damit von subversivem Verfahren der bassesse, das Georges Bataille in Le langage des fleurs (1929) (Œuvres complètes. Paris 1979, Ndr. 2003, Bd. 1, 173- 178) entwickelt und nicht nur das Hohe und Erhabene unterminiert (Mary Drach MacInnes, Taboo and Transgression. The Subversive Aesthetics of Georges Bataille and "Documents". Diss. Boston 1994 [Mikrofiche], 54 f.), sondern auch niedere Werte wie Erotik, Ekel und Gewalt feiert (MacInnes 1994: 67), also denselben Bezug zur zivilisatorisch verdrängten Körperlichkeit wie die Komik aufweist, und durch diese Überschreitung von Konventionen zum Instrument der Befreiung wird (MacInnes 1994: 67) und damit dieselbe kathartische Funktion wie die Komik ausübt. 301 Für diese beiden Phänomene s. 1.4.2 Tragik als Desubjektivierung, 1.4.3 Tragik als (Integritäten-)Konflikt: Hegel und Schiller und 1.4.6 Arbeitsdefinition, Submerkmale und Parallelfiguren der Tragik. 302 S. dazu Stephen Halliwell, Greek Laughter. A Study in Cultural Psychology from Homer to Early Christianity. Cambridge 2008, 215-263. 303 Vgl. Ds., L’isotopie du discours. In: Ds., Sémantique structurale. Recherche de méthode. Paris 1966, Ndr. 1986, 69-101. 304 Zur Deutung der Komik als Scheitern einer Absicht s. Gerrit Kloss, Erscheinungsformen komischen Sprechens bei Aristophanes. Habil. Göttingen 1999. Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 59. Berlin 2001, 12. 305 Zur Rolle der Doppeldeutigkeit und ihrer Auflösung in der Funktionsweise des Komischen, auch bei körperbezogenen Tabuthemen, s. Uwe Wirth, Ambiguität im Kontext von Witz und Komik. In: Frauke Berndt, Stephan Kammer (Hgg.), Amphibolie - Ambiguität - Ambivalenz. Modelle und Erscheinungsformen von Zweiwertigkeit. Würzburg 2009, 321-332. <?page no="124"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 110 fältigen Formen der dramatischen Gewaltdarstellung (mimetisch, verbal-performativ, verbal-antizipatorisch) spielerisch die sozialen Grenzen, 306 deren praktische Aufhebung das Ende der bestehenden Soziokultur markieren würde und deren Transgression in der Tragödie zur Eliminierung des verletzenden Elements führt. Die komische Außerkraftsetzung doppelt ihrerseits das Spiel, das jedes Theater qua mimetische Kunst (Repräsentation durch Präsentation) betreibt und verleiht der Komödie ein wesenhaft größeres metatheatralisches Potential als ihrer Schwestergattung, das bereits in der Parabase der Alten Komödie einen festen formalen Sitz hatte und in Plautus’ Amphitruo wahrscheinlich seine größte antike Entfaltung fand. 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 2.1 Aristoteles’ Poetik Wenn eine Arbeit zum antiken Drama mit dem Wort ‚Transgression‘ im Titel ein Kapitel über Aristoteles’ Poetik aufweist, so droht dieser äußerliche Zusammenfall aufgrund der bisherigen Forschungen zu diesem Themenkomplex eine Reihe falscher Erwartungen zu wecken, denen vorab entgegengetreten werden soll: Dieses Kapitel will nur den Nachweis erbringen, daß eine strukturalistischsemiotische Dramenanalyse, wie diese Arbeit sie verfolgt, mit Grundannahmen von Aristoteles’ Poetik vereinbar ist. Diese vielleicht verblüffende oder provokante paradigmatische Übereinstimmung ist ihr einziges Argumentationsziel. 307 Inwieweit dagegen Aristoteles einen oder gar den einzig richtigen Zugang zur attischen Tragödie bietet, kann hier nicht grundsätzlich diskutiert werden, auch wenn Hellmut Flashar gute Gründe dafür geltend gemacht hat, Vorsicht bei der Repristinierung Aristotelischer Konzepte für die Interpretation der attischen Tragödie walten zu lassen. 308 Noch viel weniger kann Aristoteles’ Relevanz für 306 Die evasiv-karnevaleske Transgression kann als Ventil für das dienen, was in der sozialen Ordnung und ihrer psychischen Verinnerlichung verdrängt und unterdrückt wird (vgl., aufbauend auf Bachtin, Peter Stallybrass, Allon White, The Politics and Poetics of Transgression. London 1 1986 = Ithaca 5 1995, 6-26). 307 Ein ähnliches Projekt verfolgt Josef Früchtl, Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil: Eine Rehabilitierung. Habil. Frankfurt 1994. Frankfurt a.M. 1996, der den Neoaristotelismus Nussbaumscher Prägung mit der Postmoderne verbindet (1996: 10), also zwei weiter fortgeschrittene Stufen der beiden hier zugrunde gelegten Richtungen, und dabei auch die Tragödie und das Tragische bespricht (1996: 324-330). 308 Die Poetik des Aristoteles und die griechische Tragödie. In: Ds. (Hg.), Tragödie. Idee und Transformation. Colloquium Rauricum 5. Stuttgart 1997, 50-64, h. 53, 55 und 61 betont methodisch und faktisch die Differenz und weist auf den zeitlichen Abstand von 75 bis 100 Jahren hin, die, je nach Datierung, zwischen der Abfassung der Poetik und der Erstaufführung des OT lägen, der die Idealtragödie nach der Auffassung dieser Schrift darstellt (Die Poetik des Aristoteles und die griechische Tragödie. Poetica 16 (1984) 1-23, h. 2). Flashars Bemerkung, Ari- <?page no="125"?> 2.1 Aristoteles’ 111 das Verständnis der attischen Tragödie - aus Gründen des Platzes wie der thematischen Kohärenz - am Komplex von tragischer Schuld 309 und 310 umfassend exemplifiziert werden. Mag der Stageirit zwei Leitfragen dieser Arbeit berühren, nämlich Transgression und Tragik, so würde er doch nach Fragestellung wie Umfang den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen. Auch wenn die folgende Analyse für den genannten Komplex und insbesondere das Verständnis der relevante Aspekte zum Vorschein bringen mag, liegt auch hier der Schwerpunkt des Interesses auf dem dramentheoretischen Abgleich. Zu diesem Brückenschlag fühle ich mich dagegen durch Hellmut Flashars These ermutigt, die Poetik des Aristoteles sei nicht primär eine Anleitung für den Dichter, sondern eine und wende sich „an den gebildeten Polisbürger, dem für seinen Umgang mit Dichtung Information und Orientierung gegeben wird.“ 311 Diese rezeptionsästhetische Orientierung der Gesamtschrift paßt gut zu ihrem gleichartigen Schwerpunkt auf , und bei der Definition und Diskussion der Tragödie (Poet. 1449b 24-28), auch wenn dieser Aspekt für unsere Poetik-Lektüre aus grundsätzlichen literaturwissenschaftlich-methodischen Erwägungen sekundär ist (s. 2.1.3 Produktions- und Rezeptionsästhetik). Sie wollte also zur intellektuellen Betrachtung und Auseinandersetzung mit Dichtung anregen und fungiert somit als Ahnfrau der literaturwissenschaftlichen Herangehensweise dieser Arbeit. Der Tragödie sind drei Viertel des Textes der Aristotelischen Poetik gewidmet, und auch gegenüber dem Epos wird sie als Leitgattung herauspräpariert. 312 Die Anlage dieser stoteles’ Poetik sei „eine Literaturtheorie ganz eigener Art, insbesondere durch ihre philosophischen Implikate“ (1984: 13), zielt in dieselbe Richtung. Gegen eine dogmatische Deutung der attischen Tragödie von Aristoteles aus spricht gerade im Bereich der Handlungsstruktur auch der Umgang des Stageiriten mit deren empirischen Material, den Flashar beobachtet (1984: 14): „Die vorgeführten Handlungsmodelle werden deduktiv entwickelt, nicht aus dem Tragödienmaterial abstrahiert.“ Nach den Ergebnissen der von Flashar angeregten Dissertation von Werner Söffing (Deskriptive und normative Bestimmungen in der Poetik des Aristoteles. Diss. Bochum 1977. Beihefte zu Poetica 15. Amsterdam 1981, 265) entsprechen nur der OT, die Trachinierinnen des Sophokles und die Bakchen des Euripides den „deskriptiven und normativen Bestimmungen in der Poetik des Aristoteles“ (Flashar 1984: 15). 309 Vgl. den kurzen Überblick bei Dietrich Mack, Ansichten zum Tragischen und zur Tragödie. Ein Kompendium der deutschen Theorie im 20. Jh. München 1970, 135-139. 310 Diese Fragestellung hat drei Ebenen: Aristoteles’ , deren Interpretation, die seit der Wiederentdeckung der Poetik andauert, und die Relevanz dieses Konzepts für das Verständnis der griechischen Tragödie, die Jan Maarten Bremer alle drei mit positivem Ergebnis v.a. für Sophokles untersucht (Hamartia. Tragic Error in the Poetics of Aristotle and in Greek Tragedy. Amsterdam 1969, 196). Suzanne Saïd bleibt skeptisch gegenüber der Übereinstimmung zwischen Poetik und OT (La faute tragique. Paris 1978, 22-31) und deutet die tragische Schuld eher i.S. Vernants aus Ambiguität, Spannungen und Normkonflikten, deren Bewußtwerdung in der Tragödie erfolge (1978: 507-509). Michael Lurje, Die Suche nach der Schuld. Sophokles’ Oedipus Rex, Aristoteles’ Poetik und das Tragödienverständnis der Neuzeit. Teilw. zugl. Diss. Bern 2001. BzA 209. München, Leipzig 2004 verabschiedet und historisiert die aristotelisierende Interpretation des OT umfassend (s. dazu auch 2.6.2 Mimesis und Aristoteles im Kap. zu dieser Tragödie). 311 1997: 54. Gut ein Jahrzehnt früher sah er jedoch „Dichter und Dichtung der eigenen Zeit“ als die Hauptadressaten dieser (1984: 12). 312 Flashar 1984: 1 f. <?page no="126"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 112 Schrift erklärt also nicht nur ihre immense Nachwirkung auf die Theorie und Praxis der neuzeitlichen Tragödie und die moderne Deutung der attischen, sondern rechtfertigt auch ihre prominente Behandlung in einer modernen Untersuchung über das attische Drama. Die Einzelinterpretationen dieser Arbeit berücksichtigen dabei, wo vorhanden, Aristoteles’ Beiträge zu den verschiedenen attischen Tragödien als Anregung und Ausgangspunkt, da er auch bei seinen theoretischen Ausführungen das dramat(urg)ische Profil der einzelnen Gattungsvertreter im Blick behält. 2.1.1 Handlungsstruktur, Mimesis, Transgression und Eliminierung Der strukturalistisch-semiotische Analyseapparat dieser Arbeit führt Faktoren zusammen, deren funktionale Relevanz bereits Aristoteles beobachtete. Auch er rückte die Handlung 313 in das Zentrum seines Verständnisses der mimetischen Großgattung und faßt diese damit wie die vorliegende Arbeit als Drama auf, während er der optischen Darbietung, d.h. dem Theater, eine nachrangige Rolle zusprach (s. 2.2 Ritual, Opfer, Mythos und Performanz). So sah er allgemein handelnde Menschen als Gegenstand künstlerischer Mimesis (Poet. 1448a 1: ) und derjenigen der Tragödie im besonderen an (Poet. 1449b 24-26: … ), stellte also einen wesensmäßigen Bezug zwischen der Darstellung, die wie der Zeichengebrauch auf etwas anderes referiert, und dem Handeln her und deutet so die Verbindung zwischen Zeichen und Handlung an, die für eine semiotisch-strukturalistische Dramenanalyse grundlegend ist. Dies wird noch dadurch unterstrichen, daß er die Definition des Mythos, den er die und die Seele der Tragödie nannte (Poet. 1450a 38 f.), als ‚die Zusammensetzung der Handlung‘ (Poet. 1450a 4 f. bzw. 15, 1453b 2 f.: bzw. ) an der letztgenannten Stelle mit der Eigenschaft der Tragödie als Mimesis nicht nur von Menschen, sondern auch von Handlungen ( ) und des Lebens begründet. Seine Definition des Mythos hebt zudem auf sequentielle Faktoren ab, die auch der strukturalistische Begriff ‚syntagmatisch‘ erfaßt, ein Verfahren, das in der vorliegenden Arbeit auch die paradigmatische Seite beleuchten soll. Flashar wählt denn auch mit „Handlungsstruktur“ für den Aufbau der Handlung, der im Brennpunkt von Aristoteles’ Interesse stehe, exakt denselben Begriff (1984: 12), der auch für den Analyseapparat der vorliegenden Untersuchung zentral ist. Ja, Aristoteles ermittelt die Einheitlichkeit und Geschlossenheit der dargestellten Handlung dadurch, daß kein Teil umgestellt oder fortgelassen werden kann (Poet. 1451a 30-35). Er nimmt also die strukturalistischen Verfahren der Permutations- und Weglaßprobe vorweg, mit denen die strukturalistische Linguistik die distinktiven Merkmale ermittelt. Auch gesondert von der Handlung ist Aristoteles’ Verständnis der Mimesis für die vorliegende Arbeit anschlußfähig. Dies ist nicht zuletzt das Verdienst von Stephen Halliwells Forschungen zum Begriff der Mimesis bei Aristoteles. 313 Vgl. dazu Manfred Fuhrmann, Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles, Horaz, ‚Longin‘. Düsseldorf 3 2003, 24-27. <?page no="127"?> 2.1 Aristoteles’ 113 Dies beruht darauf, daß er die Fiktionalität, den realitätsschaffenden Charakter und überhaupt das künstlerische Schaffen im Begriff der Mimesis stärkt und die irreführende Wiedergabe ‚Nachahmung‘ ablehnt. 314 Seine Wortwahl schlägt dabei sogar einen Bogen zu Performanz und Theater 315 und verstärkt so Aristoteles’ Einschlägigkeit für unsere Untersuchung, zumal wenn man den (re)präsentativen Charakter der Mimesis in Rechnung stellt. Halliwells poetisches Mimesisverständnis stützen die Prädikate (Poet. 1448a 26) und (Poet. 1447b 15 f.), die Homer anders als oder sogar im Gegensatz zu Empedokles erhält. Ein solchermaßen gewandeltes Bild der Poetik entkräftet allein durch Modifikation der Textinterpretation die theaterprogrammatisch-avantgardistische Kritik, die Hans-Thies Lehmann an der Mimesis qua „Nachahmung“ übt. 316 Das aristotelische Mimesiskonzept wird also - wie der furor poeticus (s.u.) - sogar mit der transgressiven Poetik der vorliegenden Arbeit vereinbar. Wenn Aristoteles auch das Kinderspiel als bezeichnet (Poet. 1448b 5- 9), so macht er damit diesen Begriff und seine Dramenkonzeption für moderne Spieltheorien anschlußfähig, die ja auch für die Theatertheorie fruchtbar gemacht wurden (s. 1.3 Eliminierung, Restauration, Integrität und Intention). Er fordert ferner, das schwere Leid müsse sich innerhalb der Familie ereignen (Poet. 1453b 19-22), 317 und steckt damit einen ähnlichen sozialen Rahmen des Dramas wie der Ansatz der vorliegenden Untersuchung ab (auch für dieses seiner Meinung nach bei Aristoteles wichtige dramatische Phänomen wählt Flashar mit „Figurenkonstellation“ denselben Terminus wie die vorliegende Arbeit [1984: 12]). Dabei knüpft er sowohl die Tragödie als auch die Komödie an ein Substantiv zu der Wurzel -, das funktional wie semantisch der Transgression sehr nahekommt. 318 Er unterscheidet jedoch beide Subgattungen des Dramas durch die Eliminierung, welche der Fehler in der Komödie nicht nach sich ziehe. 319 Er verbindet damit wie Platon, der Sokrates im Symposion 314 The Aesthetics of Mimesis. Ancient Texts and Modern Problems. Princeton 2002, 152, 172: „created artifact, as the product of an artistic shaping artistic materials […] capacity to signify and “enact” the patterns of supposed realities“. 315 Aristotle’s Poetics. A Study of Philosophical Criticism. London 1986, 125: „mimesis as enactment […] enactive mimesis“. 316 Postdramatisches Theater. Frankfurt a.M. 3 2005, 54-56. 317 Für die Diskussion um die Rolle der Polis, deren Fehlen mit biographischen und politischen Umständen erklärt wird, s. Edith Hall, Is there a Polis in Aristotle’s Poetics? In: Michael S. Silk (Hg.), Tragedy and the Tragic. Greek Theatre and Beyond. Oxford 1996, 297-309, v.a. 301-306 und Malcolm Heath, Should there have been a Polis in Aristotle’s Poetics? CQ 59 (2009) 468-485. 318 Für den Versuch einer genaueren Begriffsbestimmung und eines Bedeutungsabgleichs s. den folgenden Unterabschnitt. Chihaia 2002: 12-15 bespricht die - nach der - ohne konkreten Brückenschlag zur Transgression. Bei dem von Philodem Po.1 col. 131 Z. 12 f. referierten Ausdruck des Andromenides einer [ ] handelt es sich nicht nur um eine Konjektur (Jensen konjizierte , das nach Janko länger als die Lücke ist), sondern um eine poetologische Forderung nach formaler sprachlicher Korrektheit. 319 Vgl. Arist. Poet. 1449a 34 f.: . Diese Qualität fehlt bei Richard Jankos Rekonstruktion der Behandlung des Lachens im verlorenen Teil der Poetik, der von der Komödie handelte (Aristotle on comedy. Towards a reconstruction of Poetics II. Berkeley 1984, 94 f.). <?page no="128"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 114 fordern läßt, derselbe Autor müsse sich auf das Verfassen einer Tragödie und Komödie verstehen (223d), die beiden dramatischen Untergattungen und differenziert sie wie die vorliegende Arbeit aufbauend auf einem gemeinsamen Handlungselement. 2.1.2 und Tragik Ein heikles Kapitel ist die genaue semantische Eingrenzung der und ihr Vergleich mit den analytischen Termini dieser Arbeit, die am Ende des letzten Unterabschnitts verschoben wurde. Aristoteles’ Forderung, der Umschlag vom Glück ins Unglück dürfe nicht durch Schlechtigkeit ( ) und Gemeinheit ( ), also zwei strukturelle Charakterfehler des Protagonisten, eintreten, sondern durch einen individuellen, konjunkturellen Fehler (Poet. 1453a 9 f.: ’ ), der im folgenden „groß“ genannt wird (Poet. 1453a 15 f.), kommt der hier vorgeschlagenen Verortung des entscheidenden Handlungsmoments der Tragödie in Transgression und Devianz bereits sehr nahe. Dies gilt um so mehr, wenn man die zugegebenermaßen kontrovers diskutierte Semantik von an die konkrete Homerische Bedeutung des praktischen Verfehlens eines Ziels heranrückt 320 (statt sie anachronistisch stoisch oder gar christlich aufzuladen) und in ihr das Verfehlen eines vorgegebenen Ziels erblickt. Daß - wie auch (1460b 19) - sonst in der Poetik nur für handwerkliche dichterische Fehler steht (1454b 35, 1460b 15, 17), spricht für die Bedeutung ‚Normverletzung‘, rückt sie aber wegen der Verzahnung von Produktions- und Rezeptionsästhetik bei Aristoteles (s.u.) an ‚Verfehlung‘ heran. 321 Es muß allerdings angemerkt werden, daß die bildliche Semantik von sich eher mit derjenigen von Devianz deckt, weil beide das Verfehlen eines subjektiv anvisierten oder objektiv vorgegebenen Ziels implizieren, also eine parallele Bewegung suggerieren, während die Transgression das frontale Überschreiten einer Schwelle in einen objektiv verbotenen Raum visualisiert. 322 Zudem soll nicht unterschlagen werden, daß trotz aller hier bemühten Parallelen 320 Flashar 1984: 21 nennt diese Bedeutung („das Ziel (metaphorisch) verfehlen“) neben „einen Fehler machen“ und „falsch handeln“ bzw. „Schuld auf sich laden“ als im 5. Jh. geläufig und bei Aristoteles anzutreffen. Schon Platon zog den Bogenschützen als Vergleich für die freiwillige oder unfreiwillige Verfehlung der Seele heran (Hp. Mi. 375ab). In Antiphons Tetralogien (2.2.3), wo es um die Differenzierung der individuellen Kausalität bei der Tötung geht, die auch im OT mit der religiösen -Konzeption konkurriert, tritt die abstrakte Bedeutung im realen Kontext des Speerwurfs auf, wo im Gymnasium ein anderer in die Flugbahn des bereits geworfenen Speeres läuft und so getötet wird. So beging der Läufer einen Fehler gegen sich ( ’ ). 321 Daß Aristoteles in diesem Kontext den inhaltlichen Unterschied ( ) von Normkonformität ( ) in Politik und Dichtung vorausschickt (1460a 13-15) (vgl. dazu Heath 2009: 468 f.), tut dem keinen Abbruch, da es sich hierbei um eine inhaltliche Füllung der elementareren begrifflichen Kategorien normkonform vs. normdeviant handelt, die hier bei der Klärung der Bedeutung der zur Debatte stehen. 322 Michel Foucault (Préface à la transgression (1963). In: Ds., Dits et écrits. Édition établie sous la direction de Daniel Depert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange. 2 Bde. Paris 2001, Bd. 1, 261-278, h. 265) spricht denn auch beim Verhältnis von Grenze und Transgression von einem „croisement“. <?page no="129"?> 115 die Transgression allgemein eine objektive Grenz- und Normverletzung bezeichnet, während die deren subjektive Modalitäten spezifiziert. Dafür gibt es neben der bereits erwähnten ausdrücklichen Ablehnung von strukturellen Charakterdefiziten (für die - m.E. verfehlte - Verknüpfung der mit dem Charakter s. 2.4.2 Monstrosität der Transgression statt Schuld-, Schicksals- oder Charaktertragödie in der OT-Interpretation), die im weiteren Rahmen für die Semantik der bereits ins Individuell-Subjektive weisen, ein weiteres kontrastiv-kontextuelles Indiz, nämlich den Vergleich mit dem Ausdruck „Schreckliches tun“, da dieser die Transgression objektiv und intersubjektiv bestimmt. Oidipus dient - wie auch Thyest, Alkmeon, Orest und Telephos - Aristoteles als Beispiel dafür, daß die schönste Tragödie diejenige sei, bei der ein moralisch mittelmäßiger Mann einen Umschlag vom Glück ins Unglück durch eine (große) Verfehlung ( ’ [ ]) erleide (Poet. 1453a 7-23). Daß sich der generalisierende Zusatz zur Aufzählung dieser Charaktere (Poet. 1453a 21 f.) am ehesten auf das schwere Leid beziehen läßt, geht aus der Gleichheit des Stammes hervor. Ein weiteres Indiz für diesen Bezug liefert das Kapitel 14 dieser Schrift, wo die verwandtschaftliche Beziehung zwischen Opfer und Täter als Voraussetzung dafür herausgearbeitet wird, daß das schwere Leid als und (zwei Parallelbezeichnungen zu und ) wahrgenommen wird (Poet. 1453b 14-22), wobei Oidipus - anders als Medea - das Schreckliche unwissentlich tue ( ) und erst später die Verwandtschaftsbeziehung erkenne (Poet. 1453b 27-31). Während , - und durch ihre emotionale Semantik an die Rezeptionsästhetik gebunden sind, ist eine stärker objektivierende Qualifikation, die gleichwohl an ein kollektives Urteil geknüpft ist, welches das Publikum oder die Gesellschaft fällen kann. „Schreckliches tun“ ist also ein Ausdruck, welcher der Transgression und der mit ihr verbundenen Eliminierung und Integritätsverletzung sehr nahe kommt, weil er wie die Transgression auf die sachliche Seite einer kollektiv begründeten Norm abhebt. Vor diesem Hintergrund würde es eine schwierig zu erklärende Redundanz konstruieren, die mit der Transgression zu identifizieren. Diese Überlegungen zeigen auch, wie eng in der Poetik rezeptionsästhetische Erwägungen mit werk- und implizit auch produktionsästhetischen verknüpft sind (Näheres s. 2.1.3 Produktions- und Rezeptionsästhetik). Als subjektiv-situativer Aspekt einer objektiv unstrittigen Transgression gedeutet, umreißt Aristoteles’ dasselbe Bedeutungsfeld wie die Tragik nach dem Verständnis der vorliegenden Arbeit. In der Tat steht die im Zentrum einer Theorie des Tragischen, soweit eine solche sich aus verschiedenen Stellen der Poetik herauspräparieren läßt. (Trotz dieser unbestreitbaren Schwierigkeiten stimmt es nicht ganz, daß Aristoteles nur der Autor einer Poetik der Tragödie, nicht aber einer Theorie des Tragischen ist.) 323 Doch soll Aristote- 323 Peter Szondi, Versuch über das Tragische. Frankfurt a.M. 2 1964, 7. The Poetics of Aristotle. Translation and Commentary by Stephen Halliwell. London 1987, 126, Simon Goldhill, Gen- 2.1 Aristoteles’ <?page no="130"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 116 les hier nicht vorschnell für die eigene Tragiktheorie vereinnahmt werden. Erforderlich ist vielmehr ein genauer Abgleich seiner und der hier vertretenen Ansichten. Dieser setzt eine exakte Bestimmung von Aristoteles’ - und Tragikkonzept voraus, die für beide mit erheblichen Unsicherheiten behaftet ist. Das liegt im Falle der daran, daß der Versuch, ihre Bedeutung in der Poetik selbst anhand des Kontextes zu bestimmen, eine recht beachtliche semantische Spannweite und keinen präzisen Begriff ergeben hat und die Forschung für eine Präzisierung auf andere Schriften des Stageiriten zurückgreift, was die Einschlägigkeit und Evidenz für die Bedeutung in der Poetik vermindert. Eric Robertson Dodds kommt durch einen Vergleich von Poet. 1453a 7-23 mit der Rhetorik 1374b 6 f. 324 und EN 1135b 12 f. 325 zum Ergebnis, daß die wie an diesen beiden Stellen das „an offence committed in ignorance of some material fact and therefore free from or “ sei. 326 Das werde von der unrechten Handlung ( ) abgegrenzt. Dies geschieht im folgenden (EN 1135b 16-20). 327 Flashar 1984: 22 weist zusätzlich auf die Abgrenzung des vom Unglück bzw. Mißgeschick ( ) an der fraglichen EN-Stelle hin und paraphrasiert sie: „ ist demgemäß eine fehlerhafte Handlung, bei der die Ursache des Falschen in der eigenen Person liegt, die jedoch ohne Vorsatz begangen ist und nicht auf Böswilligkeit beruht.“ Er schließt danach aus dieser Parallele gegen Kurt von Fritz’ 328 eine Seite zuvor ohne konkreten Seitennachweis referierte Ergebnisse von „einem intellektuellen Irrtum[s] als untypisches Versagen in eralizing About Tragedy. In: Rita Felski (Hg.), Rethinking Tragedy. Baltimore, Md. 2008, 45- 65, h. 49. Für bereits platonische Ansätze zum Verständnis des Tragischen s. Stephen Halliwell, Plato’s Repudiation of the Tragic. In: Michael S. Silk (Hg.), Tragedy and the Tragic. Greek Theatre and Beyond. Oxford 1996, 332-349, h. 336-340. Von ihnen läßt sich die Verbindung mit dem Tod in die Eliminierung paraphrasieren, die nach Auffassung der vorliegenden Arbeit bereits ein Merkmal der Tragödie ist, während die Perspektive der Restriktionen unterworfenen menschlichen Existenz sich im Nexus von Transgression und Eliminierung sowie in der eingeschränkten Wahl zwischen zwei Integritätstypen wiederfindet, die hier als grundlegend für die Tragik herausgearbeitet werden soll. 324 < > . 325 ’ : Diese Unkenntnis der Identität trifft in besonderem Maße auf den OT zu. 326 On Misunderstanding the Oidipus Rex. In: Ds., The Ancient Concept of Progress and other Essays on Greek Literature and Belief. Oxford 1973, 64-77, h. 67. 327 ( ) […]. 328 „Tragische Schuld und poetische Gerechtigkeit in der griechischen Tragödie“, in: Ds., Antike und moderne Tragödie. Neun Abhandlungen. Berlin 1962, 1-112. Von Fritz zitiert freilich EN 1135b 16-20, meint jedoch, diese Stelle sowie EN 1110b 29 f. seien nicht sonderlich günstig für die intellektuellen Auslegungen, und tritt die Flucht nach vorne an, indem er die Bedeutung von aus den griechischen Tragödien zu ermitteln versucht (1962: 5), allerdings nicht aus dem lexikalischen Vorkommen in diesem dramatischen Korpus, sondern durch reine Interpretation, ein m.E. hoffnungsloses Unterfangen, um nicht zu sagen: methodisch aberwitziges Vorgehen. Auch nach der Besprechung etlicher Tragödien bleibt sein Begriff vage, obwohl er betont, daß dieses Wort bei Aristoteles „etwas ganz Präzises“ sei (1962: 20 f.). <?page no="131"?> 117 einer ungewöhnlichen Situation“, daß „die Hamartia sehr wohl eine ethische Komponente hat und keineswegs nur einen ‚intellektuellen Irrtum‘ meint.“ Wie dem auch sei, nimmt das - wie die vorliegende Arbeit im Falle der handlungsstrukturell begründeten tragischen Desubjektivierung - eine Differenzierung der Verantwortlichkeit und - wie der tragische Integritätenkonflikt der vorliegenden Untersuchung - durch die Abgrenzung vom eine solche der Legitimität vor, beide zugunsten des Transgressors. Die situative Dysfunktion grundsätzlicher Kompetenzen, welche die vorliegende Arbeit als Charakteristikum der Tragik betrachtet, arbeitet Schmitts Interpretation des 13. Poetik-Kapitels als Merkmal der „tragischen Verfehlung (Hamartia)“ noch deutlicher als Dodds und Flashar anhand anderer EN-Stellen heraus (Poetik 450-476). Deren philologisch-lexikalische Einschlägigkeit und Evidenz, die Schmitt nicht thematisiert, ist zumeist geringer als im Falle der von Dodds und Flashar besprochenen, welche auf Aristoteles’ Definition eines von demselben Stamm wie abgeleiteten Substantivs zurückgreifen konnten. 329 Sie läßt sich gleichwohl nicht zwingend anfechten, wie die folgende Diskussion beiläufig nachweisen will, die aus Gründen der Nachvollziehbarkeit Schmitts systematischem Aufbau folgt. Grundlegend für Schmitts (Poetik 453) Analysen ist eine Stelle aus der Nikomachischen Ethik (EN 1110b 18-1111a 2), die Fehler beim Handeln unterscheide, die aus Unwissenheit ( ’ ) begangen würden, d.h. aus sachlicher Unkenntnis, die unverschuldet ist (ein Beispiel hierfür wäre der OT), und solche, die in Unwissenheit ( ) erfolgten [Kurs. von mir]. Bei ihnen nutze der Betreffende Wissen, das er „zwar hat oder leicht haben könnte“ - Aristoteles sagt hier nur über die betreffende Handlung, sie geschehe nicht mit Wissen, sondern in Unwissenheit ( ’ ) - „aus bestimmten Gründen [...], z.B. aus Leichtsinnigkeit oder aus emotionaler Erregtheit“ nicht (Aristoteles spricht hier von den Bewußtseinstrübungen Rausch und Zorn [ ]). Diese beiden punktuellen Formen der Unwissenheit darf man also als situative Einschränkungen der kognitiven Kompetenz betrachten. Sie entsprechen damit im intellektuell-kognitiven Bereich der Dysfunktion eines ethisch-rationalen Subjekts, welche diese Arbeit, sofern sie in der Handlungsstruktur wurzelt, als Merkmal der Tragik ansieht (s. 1.4.2 Tragik als Desubjektivierung). Für die Taten aus Unwissenheit ( ’ ) entwirft Aristoteles im vorangehenden eine differenzierte Kasuistik von Nichtfreiwilligkeit und Unfreiwilligkeit (EN 1110b 18-23), 330 ein „Fehler“ in Unwissenheit 329 Dieses lexikalische Manko hat schon Lurje 2004: 292 mit Blick auf Francesco Robortellos Kommentar der Poetik aus dem Jahre 1548 moniert („Robortello hat nicht nachgewiesen, daß das Wort hamartia bei Aristoteles tatsächlich solches Handeln aus Unwissenheit bedeutet bzw. bedeuten kann.“), der bereits die EN-Stelle, die Schmitt - freilich ohne dies mit einem Wort zu erwähnen - zum Ausgangspunkt seiner -Interpretation macht, zur Präzisierung des -Begriffs in der Poetik herangezogen hatte. Anschließend verweist er auf die lexikalische Einschlägigkeit der von Dodds und Flashar bemühten EN-Stelle, welche die drei Tatbestände Unrecht, Verfehlung und Versehen abgrenzt. 330 Als unfreiwillig wird die Reue eingestuft ( ). Einen Sinneswandel hält bereits Homer nach der Transgression für möglich, wenn er die Bitten ( ) der A (Majuskel bei West) nachfolgen sieht (Il. 9.502-504). 2.1 Aristoteles’ <?page no="132"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 118 ( ) ist Schmitt zufolge „nicht als ganzer unfreiwillig, da man für ihn einen Teil Eigenverantwortung trägt“ (Poetik 453). Die beiden genannten Formen der situativen Unwissenheit werden von Charakterfehlern abgegrenzt, die an einer späteren Stelle (EN 1113b 16 f.) tout court als freiwillig und an der vorliegenden ebenfalls gut intellektualistisch als generelles Nichtwissen aufgefaßt werden (EN 1110a 28-33). 331 Es ist äußerst verstörend, daß, was Schmitt vollkommen ignoriert, 332 der aus dieser Stelle wörtlich zitiert (Poetik 451) und sogar bei den beiden Formen des Handelns aus Unwissen (EN 1110b 25) mit „beim Handeln einen Fehler machen“ wiedergibt (Poetik 453), 333 also eine Entsprechung von in die Paraphrase schmuggelt, nur dieses Nichtwissen, das für die Charakterfehler verantwortlich sei, nicht aber das situative Unwissen als bezeichnet wird, wo die Poetik doch Charakterfehler und scharf voneinander abgrenzt (s.o.). Allein der Zusatz verhindert einen ausschließenden Widerspruch zur Poetik, weil er die Möglichkeit impliziert, daß Aristoteles von mehreren Subspezies der ausging. Dieser terminologische Pluralismus läßt jedoch keine Kohärenz des - Begriffs in Aristoteles’ Gesamtwerk erwarten und Schmitts Vorgehen, die der Poetik mit Hilfe der EN zu präzisieren, als wenig aussichtsreich erscheinen oder stellt zumindest die Möglichkeit massiv in Frage, zu philologisch gesicherten Ergebnissen zu gelangen. Diese Stelle läßt also nur dahingehend einen Rückschluß auf die der Poetik zu, daß diese intellektuell ist (so die Konsequenz aus Schmitts Anknüpfung an das Nichtwissen, die in einem gewissen Gegensatz zur ethischen Komponente steht, die Flashar außerdem in der erblickt), weil die vorliegende es auch ist und, was noch einschlägiger ist, durch die intellektualistische Erklärung von Charakterfehlern den ethischen Intellektualismus des Aristoteles verbürgt. (Schmitt Poetik 469 wendet sich deshalb und vor dem Hintergrund seiner eigenen Anküpfung der an das Nichtwissen m.E. nicht recht überzeugend gegen Positionen der Forschung, nach denen Aristoteles noch „den griechischen Wissens- oder Logosoptimismus“ 334 teile.) Die Einschlägigkeit dieser Passage für das Verständnis der in der Poetik wird aber auch dadurch gewährleistet, daß Mitleid und Verzeihung ( ) nur der Unwissenheit im Einzelfall zugebilligt werden (EN 1111a 1 f.), da die erste Form der Anteilnahme in der Poetik allein demjenigen zugestanden wird, der durch eine und nicht 331 EN 1110b 28-30: 332 Von Fritz 1962: 5 paraphrasiert zwar diese Stelle einschließlich der (charakterlichen) , sieht jedoch nicht den Widerspruch zur Poetik. 333 Möglicherweise wurde er dabei durch Dirlmeier fehlgeleitet, der bereits bei der vorangehenden Passage, welche die Unfreiwilligkeit des Handelns aus Unwissenheit differenziert (EN 1110b 18-23), zweimal „Fehlender“ übersetzt (S. 46), ohne daß im griechischen Original o.ä. stünde. 334 Schmitt zitiert hier ohne Seitenangabe Christof Rapp, Freiwilligkeit, Entscheidung und Verantwortlichkeit. In: Otfried Höffe (Hg.), Aristoteles. Die Nikomachische Ethik. Berlin 1995, 109- 133, wo ich weder diesen Gedanken noch diesen Wortlaut finden konnte. <?page no="133"?> 119 charakterliche Defizite einen Umschlag vom Glück ins Unglück erlebt (1453a 2-10). Etwas besser ist es um die lexikalische Einschlägigkeit an zwei anderen Stellen bestellt, die Schmitt heranzieht, weil an ihnen die Wurzel für die Handlungskonstellation steht, die Schmitt als erhellende Parallele für die Poetik bemüht. Wer im Zorn ein Unrecht ( ) begehe, handele zwar unrecht ( ) und begehe dabei einen Fehler ( ), sei aber nicht ungerecht oder charakterlich schlecht (EN 1135a 20-29). In der Tat findet sich hier dieselbe Unterscheidung zwischen einem grundsätzlichen charakterlichen Defekt und einem okkasionell-situativen Fehlverhalten ( ) wie in der Poetik. Indes handelt es sich hierbei um ein Beispiel (EN 1135a 20 f.: ) für eine unrechte Handlung ( ), die in der vorangehenden Passage, die hier bereits unter Rückgriff auf Dodds und Flashar besprochen wurde, von dem abgegrenzt wird. Das Merkmal des affektgeleiteten , das Schmitt Poetik 452 zitiert, nämlich der Umstand, daß der Anfang ( ) der Tat außerhalb des Täters bei demjenigen liege, der den Zorn verursacht habe, widerspricht eklatant der Definition des in EN 1135b 18 f., bei dem die Ursache des normwidrigen Tatbestandes ( … ) in dem Betreffenden liege. Daß bei der Analyse des affektgeleiteten Unrechts mit koordiniert wird, also eine reale Handlung, die Aristoteles hier als faktisches Fundament sowohl dem wie dem und dem zugrunde legt, läßt für die objektivierende Bedeutung ‚deviantes, normwidriges Verhalten‘ vermuten, die weiter oben ja auch für die Poetik diskutiert wurde. Unter dieser Prämisse ist es nicht ausgeschlossen, das affektgeleitete Verhalten als subjektiven Hintergrund der in der Poetik heranzuziehen, ohne daß dafür ein zwingendes textimmanentes Indiz vorläge. Oder anders formuliert: Die eher weitgefaßte Semantik der Wurzel in der Poetik und im diskutierten Passus ermöglicht es trotz der abweichenden Definition von im vorangehenden, die vorliegende Stelle für Umstände und Hintergründe der in der Poetik zu bemühen. Etwas anderes ist der Transfer auf die eigene Dramentheorie und die Analyse attischer Tragödien, der nicht so strengen philologischen Kriterien wie die Erhellung des -Begriffs genügen muß, sondern sich mit der Übereinstimmung von Handlungskonstellationen begnügen kann. Ein solcher Brückenschlag zum Drama wird dadurch nahegelegt, daß Aristoteles’ EN die soziale Interaktion mit einbezieht und insbesondere den Zorn als Reaktion auf ein Unrecht interpretiert, das dem Zürnenden nach dessen Auffassung widerfahren sei (EN 1135b 28 f.: ). Schmitt kann hier glaubhaft den Bogen zu Euripides’ Medea spannen, weil „Euripides […] in seinem Drama von vielen Seiten her deutlich gemacht [hat], dass Medeas Handeln nur auf ein Unrecht reagiert“ (Poetik 452). Für die Dramentheorie der vorliegenden Arbeit ist diese EN-Stelle sehr wertvoll, weil sie gut zeigt, daß in zeitlicher Nähe der attischen Tragödie die Verletzung der sozialen Integrität als nachvollziehbarer Anlaß einer Transgression angesehen wurde, wo doch die vorliegende Untersuchung in der Verletzung oder Gefährdung der sozialen Integrität das auslösende Moment der tragischen Transgression in der attischen Tragödie erblickt, dem 2.1 Aristoteles’ <?page no="134"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 120 sogar die physische Integrität von Anverwandten geopfert werden kann (s. 1.4.3 Tragik als (Integritäten-)Konflikt: Hegel und Schiller und 1.4.4 Tragischer, heroischer und aristokratischer (Integritäts-)Tausch). Weiterhin unterscheidet Aristoteles laut Schmitt Poetik 457 die grundsätzliche Zügellosigkeit ( ) von der punktuellen Unbeherrschtheit ( - ) (EN 1147b 20-1149a 20), bei der grundsätzlich vorhandenes Wissen nicht gebraucht wird (EN 1147a 1-24). Aristoteles erklärt eine ethisch-dsziplinäre Dysfunktion also intellektualistisch. Schmitt Poetik 457 nuanciert, die Zügellosigkeit sei „Zeichen allgemeiner Schlechtigkeit“ und wer ihr folge, begehe keine . „Auch die tragische Hamartia [Kurs. im Orig.] und die Unbeherrschtheit sind nicht dasselbe.“ Diese Abgrenzung ist noch untertrieben: Aristoteles bemerkt, die werde nicht nur als , sondern auch als Form der Schlechtigkeit getadelt, als die sie schlechterdings oder teilweise angesehen werde. Ein Brückenschlag zur der Poetik scheint damit mehr als fragwürdig. Gleichwohl bietet diese Stelle das ethische Pendant zur punktuellen kognitiven Minderleistung, so daß beide Aspekte eines ethisch-rationalen Subjekts und seiner Dysfunktion, die in dieser Arbeit ein Merkmal einer tragischen Transgression ist, in der EN eine Entsprechung finden. Der -Begriff hinter den Phänomenen, die Schmitt an den besprochenen EN-Stellen zur Erhellung der „tragische[n] Hamartia“ der Poetik heranzieht, ist, sofern er sich überhaupt feststellen läßt und nicht in Widerspruch zu Definitionen dieses Lexems in der EN oder dem Inhalt der in der Poetik steht, also mit demjenigen der Poetik nur dadurch kompatibel, daß er gleichermaßen weit gefaßt ist (‚normdeviantes Verhalten‘). Von einer wirklich stichhaltigen Präzisierung kann dagegen keine Rede sein. Einzig das Mitleid ist ein fester Brückenkopf, um die filigrane Kasuistik von Nichtwissen und (Un-) Freiwilligkeit der EN auf den Handlungsverlauf der Idealtragödie nach dem Kap. 13 der Poetik und damit auch die zu übertragen (für die Kasuistik von Unwissen und teilweiser Unfreiwilligkeit als Voraussetzung des in der Poetik zentralen Affekts des in der EN s. Schmitt Poetik 452 f.), doch bleiben auch hier beachtliche Diskrepanzen, da das Mitleid in der EN mit der Verzeihung, in der Poetik dagegen mit dem Schrecken bzw. der Furcht (bei dieser Nuancierung leistet Bohrers gleichfalls einseitige Perspektive gute Dienste) koordiniert wird. Arbogast Schmitts eigene Definition der bleibt ähnlich vage wie deren Begriff an den von ihm besprochenen EN-Stellen. Dabei greift er erstaunlich wenige der später aus der EN gewonnenen Phänomene auf bzw. ersetzt sie durch andere. Das tragische Handeln nach Aristoteles definiert er als das Scheitern aufgrund einer Hamartia, die ein „tragischer Fehler“ bzw. ein „verständlicher Fehler“ „in schwerer Situation“ eines „grundsätzlich guten Charakter[s]“ sei. Erst danach läßt er - freilich nur mit der Wut - die Affekthandlung der EN anklingen, wenn er von „Fehlgriff“ spricht und Emotionen wie Liebe, Eifersucht, Wut und Enttäuschung als „[v]erstehbare Gründe“ für das Scheitern nennt (Poetik 123 f.). Der grundsätzlich gute Charakter des Fehlenden ist allenfalls eine mißverständliche, aber nicht grundsätzlich falsche Beschreibung von Aristoteles’ Empfehlungen in der Poetik (beide sind parallele Merkmale der schön- <?page no="135"?> 121 sten Tragödie bzw. genauer ihres Umschwungs; da die ihn herbeiführt (Poet. 1453a 9 f., 1453a 13-16: ), ist sie ein wesentlicheres Merkmal, während der mittlere Charakter eine notwendige Voraussetzung ist) und nicht derart geradewegs falsch wie die Ableitung der Verfehlung aus dem Charakter des Betreffenden, die Schmitt sonst vertritt (s. 2.4.2 Monstrosität der Transgression statt Schuld-, Schicksals- oder Charaktertragödie in der OT-Interpretation). Von der schweren Situation findet sich m.W. bei Aristoteles nichts. Wir haben sie jedoch als Implikat bzw. Begleitumstand der sozialen Integrität ausgemacht, die beim tragischen Integritätenkonflikt bedroht ist. Ein gutes Beispiel hierfür ist Deianeira in Sophokles’ Trachinierinnen, die Schmitt für den emotionalen Nichtgebrauch eines grundsätzlich vorhandenen Wissens (hier das Gift in Herakles’ Pfeilen und dem Blut des Kentauren) bemüht (Poetik 453-455), da ihr Handeln, das unabsichtlich zur physischen Eliminierung ihres Gatten führt, dadurch angestoßen wird, daß Herakles eine neue junge Frau aus dem Krieg mitbringt, durch die sie ihre soziale Position (und damit im weitesten Sinne auch ihre soziale Integrität) bedroht sieht. 335 Die (soziale) Integrität ist zudem ein wesentlich objektiverer und klarer umrissener Begriff als Schmitts „Verständnis“, das starken historischen, interkulturellen, intersubjektiven und sogar biographischen Schwankungen bei ein und derselben Person unterliegen kann. Insgesamt ist Schmitts Definition der mit der in dieser Arbeit vertretenen Interpretation sowohl der (individueller, konjunktureller Fehler) wie der Tragik (handlungsstrukturell bedingte Dysfunktion eines ethisch-rationalen Subjekts) kompatibel, auch wenn oder gerade weil sie nicht so präzise wie diese ist. Dagegen unternimmt Lurje (2004: 299 f.), den Schmitt nur spärlich rezipiert (s.u.), einen beachtlichen Brückenschlag und Abgleich zwischen den definitorischen Bestimmungen des in EN und Rhetorik sowie den Konzepten (Un)Freiwilligkeit und Unwissen der EN: „ [entspricht] den in EN III 1 behandelten unfreiwilligen Handlungen aufgrund von Unwissenheit [Lurje gibt hiermit ’ wieder] genau. […]. Wie bei den aus Unwissenheit vollzogenen Handlungen liegen auch beim hamartema das bewegende Prinzip und die Ursache im Handelnden selbst. Er handelt jedoch nicht aufgrund der moralischen Schlechtigkeit, sondern aus Unwissenheit ( ’ ) 336 über konkrete handlungsrelevante Umstände […].“ Daß die Ursache bei dem unfreiwilligen Handeln aufgrund von Unwissenheit im Handelnden selbst liege, entwickelt Lurje 2004: 290 f. selbst aus der EN und EE v.a. anhand der Kriterien für das Freiwillige und nennt dies „den zentralen, wenn auch bislang zu wenig beachteten Unterschied [sc. zur unfreiwilligen Handlung unter Zwang]“. Beim Nichtwissen ist es verwirrend, daß (was sich bereits oben bei Dodds und Flashar 335 Diese Juxtaposition von Schmitts und meiner Interpretation der Trachinierinnen enthält selbstredend kein Werturteil, welche Deutung dem Drama, seinem Text und seiner Tiefenstruktur angemessener sei. Dies erfordert eine Diskussion, die im Rahmen dieser Arbeit - allein aus Platzgründen - nicht geführt werden kann (für Ansätze s.u.). Doch ist schon jetzt klar, daß unsere beiden Ansätze unterschiedliche Aspekte beleuchten, Schmitts subjektive, meiner objektive. 336 Vgl. EN 1135b 12 f. (Wortlaut s.o.). 2.1 Aristoteles’ <?page no="136"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 122 ankündigte) nun mit ’ der dritte Ausdruck für ein (punktuelles) Nichtwissen im Umfeld der bzw. des auftaucht. Da sich sowohl ’ in EN 1135b 12 f. als auch in EN 1110b 24- 1111a 1 auf handlungsrelevantes Einzelwissen beziehen, darf man diese beiden Ausdrücke als deckungsgleich betrachten, zumal sie wohl dieselbe syntaktische Funktion haben (Begleitumstand der übergeordneten Handlung). Doch auch ’ wird in der freilich sicher unechten 337 Rhetorik an Alexander 1427a 30-35, wie von Lurje 2004: 296 zitiert, zur Definition sogar der herangezogen ( ’ - ) (die aus der EN bekannte Trias lautet dort allerdings , und ) und Lurje 2004: 300 postuliert sogar die Identität von Fällen, die über ’ und ’ spezifiziert werden. 338 Verfehlungen können die Menschen jedenfalls sowohl in Unwissenheit ( ) und zugleich aus Unwissenheit ( ’ ) als auch nur in Unwissenheit ( ) begehen, wobei nur der erste Fall verzeihlich ist, während dies auf den zweiten nicht zutrifft, wenn er auf einen widernatürlichen, nicht menschlichen Affekt zurückgeht (EN 1136a 5-9). So wenig eindeutig wie der Sprachgebrauch und die Fallunterscheidungen sein mögen, so ergeben sie doch eine kumulative Evidenz für eine kognitionspsychologische Deutung der - zumindest außerhalb der Poetik. Eine Präzisierung des bisher in der Forschung gewonnenen Begriffs des und seiner expliziten Definition bei Aristoteles über das Nichtwissen und die Ursache im Handelnden selbst (vgl. EN 1135b 12-20, Näheres und Wortlaut s.o.) leistet Lurjes Brückenschlag jedoch nicht. Schwerer noch als die philologischen Unsicherheiten wiegen Bedenken gegenüber dem nicht erst von Schmitt gewählten Vorgehen, die der Poetik mit Hilfe anderer Schriften des Aristoteles zu präzisieren, die sich aus der massiven Diskrepanz der begrifflichen Komplexität zwischen Poetik und EN in bezug auf die speisen. Schmitt Poetik 451 wirft Robortello und Lurje 2004: 291 f. vor, Aristoteles’ Abwägungen und Nuancierungen der (Un)Freiwilligkeit und daran anknüpfend lobens- oder tadelnswerter Handlungen in der EN nicht hinreichend zu berücksichtigen (für diese und einen Hinweis auf Schmitts Rekonstruktionen s.o.). 339 (Übrigens spricht allein der Umstand, daß die Gelehr- 337 Hellmut Flashar, Aristoteles. In: Ds. (Hg.), Ältere Akademie, Aristoteles, Peripatos. Bd. 3 von Die Philosophie der Antike. Völlig neu bearbeitete Ausgabe. Hg. v. Helmut Holzhey. Basel 2 2004, 167-492, h. 275. 338 Lurje 2004: 300 Anm. 65 nivelliert weiter den Unterschied zu ’ : „ cum gen. bezeichnet nie ein streng geschiedenes Nebeneinander, sondern immer ein Unter- und Miteinander und daher häufig nicht nur die Art und Weise, sondern auch das Mittel [Kurs. im Orig.], durch das etwas ausgeführt wird oder geschieht.“ 339 Schmitt ist insofern zuzustimmen, als Lurje 2004: 291 f. nur für die Trunkenheit, nicht aber den Affekt anhand von EN 1113b 30-33 nachweisen kann, daß sie eine selbstverschuldete Unwissenheit darstelle. Bei der Besprechung von EN 1135b 11-25 klammert Lurje 2004: 294-297 den Affekt, auf dessen unrechtsmotivierende Rolle Schmitt hinweist, zur intensionalen Bestimmung der - philologisch vollkommen zu Recht - gänzlich aus und konzentriert sich auf die Abgrenzung von Unrecht, Verfehlung und Versehen. Der Billigkeit, ja wissenschaftlichen Redlichkeit halber muß angemerkt werden, daß Lurje 2004: 286-292 bei seiner Robortello-Besprechung die Nuancierungen der Aristotelischen Analysen in der EN detailliert <?page no="137"?> 123 ten bis heute noch zu keinem Konsens über die (Be)Deutung der EN für die gefunden haben, obwohl dieser Ansatz seit der Renaissance betrieben wird, erheblich gegen seine heuristische Ergiebigkeit. Die Voraussetzung, um einen solchen Abgleich zwischen der in der Poetik und Aristoteles’ ethisch-rhetorischen Schriften sinnvoll zu betreiben, wäre eine umfassende Aufarbeitung eines konsistenten -Begriffs in den letztgenannten. Doch diese fehlt m.W. bis heute 340 und kann angesichts von annähernd 100 Belegstellen in EN, EE, MM und Rhetorik in der vorliegenden Arbeit auch nicht geleistet werden.) Es ist allerdings bemerkenswert, daß die filigrane Kasuistik von Nichtwissen 341 und Unfreiwilligkeit, welche die EN entwickelt, in der Poetik kein Pendant und keinen Aufhänger findet, am wenigsten bei der , die unkommentiert wie ein erratischer Block im Zentrum der Kriterien für die schönste Tragödie steht. Daß sie nicht klarer begrifflich konturiert wird (die einzige Präzisierung ist das Attribut ‚groß‘ bei ihrem zweiten Auftreten [Poet. 1453a 15 f.]), nicht einmal durch Querverweise auf andere Werke, scheint kaum ein Versäumnis zu sein, das der gewiß nicht immer bis ins letzte durchgearbeiteten Redaktion der Poetik geschuldet ist, 342 sondern eher der Rücksicht auf das textliche Profil und Material der Tragödien zu entspringen, mit dem Aristoteles ja in der Poetik eingehend arbeitet. Tatsächlich spielt der Wortstamm in der Binnenhermeneutik etlicher Sophokles- und Euripides-Tragödien eine Rolle. In den Trachinierinnen fehlt in dem Passus im Munde des Hyllos, den Schmitt zitiert (Poetik 454), jedoch das Nichtwissen, nur die Unfreiwilligkeit der Verfehlung wird betont (v. 1122 f.). 343 Die Unfreiwilligkeit entspricht mehr oder nachzeichnet, auch der Nicht-Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit im Falle des Handelns aus Unwissenheit, und textnah herausarbeitet, in welcher Konstellation nach Aristoteles Mitleid angebracht sei, nämlich bei Unkenntnis konkreter Dinge (2004: 288 f.). Lurjes Deutung ist damit philologisch wohlabgesichert, während Schmitt im folgenden seine Argumentation nur mit der für die philologisch sehr fragwürdigen Interpretation der Stelle des affektinduzierten Unrechts stützen kann. Schmitts Umgang mit Lurje und Robortello ist insofern bemerkenswert, als er - zumindest nach Lurjes Überblick über die Entwicklung der -Deutung von Schmitt und seinen Schülern (2004: 263-275) - die fraglichen EN-Stelle(n) über das Nichtwissen erst seit Erscheinen von Lurjes Untersuchung einbezieht (Poetik 450 ff.), während der EN-Passus zur (Näheres s.o.) bereits zuvor in Schmitts Schule herangezogen wurde (Lurje 2004: 269). 340 Reinhold Glei, Art. Schuld. HWP 8 (1992) 1442-46, h. 46 nennt nur Titel zu Aristoteles und der Tragödie. Bremer 1969: 52-56 begnügt sich mit dem statischen Verhältnis von ‚verfehlen‘, ‚irren‘ und ‚einen (moralischen) Fehler begehen‘ („offend“) bei den Rednern, Platon und Aristoteles. 341 Das (Un-)Wissen bei der Transgression erörtert Aristoteles ohne Bezug zur eher aus systematischen Gründen (Poet. 1453b 27-37). In diesem Zusammenhang wird erwähnt, daß, was Schmitt Poetik 451 zitiert, Euripides’ Medea ihre Kinder „mit Wissen und Einsicht“ (Fuhrmann) tötet (Poet. 1453b 27-29: ). Das ist also das genaue Gegenteil der verschiedenen Formen des Nichtwissens, die Aristoteles in der EN erörtert. Diese sind für die Medea nur insofern relevant, als ein Zürnender in Unwissenheit ( ) handelt (EN 1110b 24-27) und der Zorn in EN 1135a 20-29 durch Unrecht der sozialen Umwelt induziert wird, was Schmitt Poetik 452 zufolge auch in Euripides’ Medea der Fall sei. Mit der Poetik hat dieser Brückenschlag zwischen EN und Euripides jedoch nichts zu tun. 342 Vgl. Donini 127 Anm. 207 zu Kap. 18. 343 / ’ ’ . 2.1 Aristoteles’ <?page no="138"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 124 minder unspezifisch dem fehlenden Vorsatz, welcher das bei Aristoteles zusätzlich zum Unwissen charakterisiert (s.o.). Das eingeschränkt freiwillige Unwissen, welches das Spezifikum der Interpretation der in der Poetik ist, die Schmitt anhand der EN vornimmt, findet hier keine Parallele. Die zweite Äußerung des Hyllos, die Schmitt bemüht, hebt sogar auf die Integrität von Deianeiras Absichten ab (v. 1136: ’ ). Bei der Binnenhermeneutik der in Euripides’ Bakchen (v. 1120 f.) spielen Nichtwissen und Unfreiwilligkeit keine Rolle, sie, v.a. das Nichtwissen, sind nur situativ präsent. In seinem Hippolytos (v. 319-324) geht es wieder allein um die Unfreiwilligkeit der Verfehlung, für die Nichtumsetzung des als richtig ( ’) Erkannten (v. 380-385) werden dagegen Lust und Trägheit verantwortlich gemacht. Diese Analysen loten die Grenzen des ethischen Intellektualismus aus (Näheres s. 7.2.3 Phaedra und die Amme in der Interpretation von Senecas Phaedra), den doch Aristoteles in der EN auch im Falle der Charakterdefizite vertritt. Auch die teils von der EN divergierende Spezifik der Binnenhermeneutik der in den besprochenen Tragödien legt die Vermutung nahe, daß Aristoteles aus Kompatibilitätsrücksichten den Begriff der in der Poetik nicht enger gefaßt und die Kasuistik der EN außen vor gelassen hat. 344 Die Unsicherheiten, mit denen die Rekonstruktion von Aristoteles’ Tragikkonzeption in der Poetik behaftet bleibt, sind der vielschichtigen Argumentation vieler der betreffenden Stellen geschuldet. Sie kommt nicht zuletzt dadurch zustande, daß in dieser Schrift durch die idealen Tragödienwirkungen und Rezeptions- und Produktionsästhetik kurzgeschlossen und mit Beispielen aus der dichterischen Praxis illustriert werden. Dies ist schon an der zentralen Stelle der Poetik der Fall, die am eindeutigsten Aristoteles’ Tragikverständnis formuliert: Ihm zufolge erscheinen ( , ) diejenigen Tragödien (und Euripides) als die tragischsten, in denen sich ein Umschlag vom Glück ins Unglück ereigne (Poet. 1453a 27-30). 345 Daß das Handlungsmerkmal ‚tragisch‘ gesteigert werden kann, läßt eine Abstufung erkennen, die hier implizit 344 Daß Schmitt dagegen nicht nur die Schriften des Aristoteles untereinander und mit der dramenliterarischen Praxis in einer widerspruchsfreien Einheit sieht, sondern in dieses Konglomerat noch historische Beispiele (Poetik 449 f.: Hitler und Stalin im Zusammenhang mit dem - ) und Alltagserfahrungen (Poetik 464: „Ist der Fototermin weit entfernt oder fast unerreichbar, wird die Meinung, dass Süßes dick macht, ohne Präsenz und daher gefühls- und handlungsirrelevant sein, die gerade präsente Wahrnehmung des Süßen dagegen stark.“) mengt, braucht hier nicht weiter ausgeführt und widerlegt zu werden. Nur soviel sei angemerkt, daß diese Einheit allein durch die Ablehnung bzw. Denunziation moderner und stoischer (Poetik 469) Ansichten zusammengehalten wird. 345 Flashar relativiert, daß sich Aristoteles’ Urteil über Euripides als den tragischsten Dichter auf diesen einen Punkt beschränke und gegen die guten Ausgänge der Tragödien des 4. Jh.s richte (1984: 7 f.). Zumindest irreführend ist es deshalb, wenn Bohrer Aristoteles’ Lob für Euripides für sein eigenes Konzept des „ekstatisch Erscheinenden“ (Kurs. im Orig.) bemüht, das dieser Tragiker Bohrer zufolge verwirklicht habe (2009: 228). Vittorio Hösle, Die Rangordnung der drei griechischen Tragiker. Ein Problem aus der Geschichte der Poetik als Lackmustest ästhetischer Theorien. Jacob Burckhardt-Gespräche auf Castelen 24. Basel 2009, 46 sieht in dieser Aristoteles-Stelle fälschlicherweise ein generelles Lob für Euripides. <?page no="139"?> 125 normativ ist. Das Prädikat ‚tragisch‘ bezieht sich hier nur auf den empfohlenen Umschwung ins Unglück. Daß er durch einen (großen) individuellen Fehler ( ’ [ ]) verursacht ist (Poet. 1453a 9 f., 15 f.), wird nur für die schönste Tragödie verlangt. Deshalb ist es wegen der argumentativen Einheit des 13. Kapitels und zur Abgrenzung von anderen -Konzepten durchaus statthaft, wie Schmitt Poetik 450 die als „tragische Verfehlung“ zu paraphrasieren oder gar tout court den Ausdruck „tragische Hamartia“ (Kurs. im Orig.) zu gebrauchen (Poetik 457), 346 doch kann - streng philologisch - die nicht für Aristoteles’ Tragikkonzept in Anspruch genommen werden. Ähnlich behutsam bis aporetisch muß der Abgleich von Aristoteles’ - - und Tragikkonzept mit demjenigen der vorliegenden Arbeit ausfallen, der nun unternommen werden soll, bevor ein kurzer Rückblick über die gesicherten Ergebnisse zur diesen Abschnitt beschließen soll. Das Resultat dieses Vergleichs wird sich weitgehend auf Affinitäten von Handlungsmerkmalen und Vorstellungen beschränken und keine Begriffe als deckungsgleich identifizieren. Doch ist ein derart differenziertes Vorgehen besser als eine vorschnelle Vereindeutigung und handsärmlige Vereinnahmung. Die magere Ernte liegt nicht nur an den Unsicherheiten und Schwierigkeiten, mit welchen die Rekonstruktion der beiden genannten aristotelischen Konzepte und ihres Verhältnisses behaftet ist, sondern zugegebenermaßen auch an dem komplexen Tragikmodell dieser Untersuchung, bei dem eine tragische Transgression entweder durch die situative Dysfunktion eines ethisch-rationalen Subjekts, die in der Handlungsstruktur wurzelt (s. 1.4.2 Tragik als Desubjektivierung), oder einen Integritätenkonflikt zustande kommt (s. 1.4.3 Tragik als (Integritäten-)Konflikt: Hegel und Schiller). Letzterer bleibt bei Aristoteles ohne Parallele. Nur die physische Integritätsverletzung bzw. Eliminierung innerhalb der Familie ist Teil des idealtypischen Handlungsschemas der Tragödie, zu dem auch die gehört und mit dem ebenfalls das Tragische konzeptionell über das Leiden verknüpft wird (s.u.). Mit dem Handlungsschema, das Aristoteles v.a. im 13. Kapitel der Poetik für die tragische entwickelt, kommt er dagegen in wichtigen Punkten der vorliegenden Untersuchung und va. ihrer Konzeption der handlungsstrukturellen Dysfunktion eines ethisch-rationalen Subjekts nahe. Die tragische Transgression stimmt insofern mit der überein, als beide subjektive Momente der Devianz in den Blick nehmen, während die bloße Transgression auf das objektive factum brutum der Normverletzung abhebt. Diese objektive Nuance läßt sich zumindest als Nebenbedeutung auch in der wiederfinden (s. den Anfang dieses Abschnitts). Das Attribut ‚tragisch‘ erlaubt es also der Transgression, neben der objektiven Facette der deren subjektive zu erfassen zu 346 Dies entspricht dann im weiteren Rahmen Aristoteles’ Sprachgebrauch, der an zwei Stellen im Gattungssinne ‚zur Tragödie gehörig‘ und in bloßer Abgrenzung vom Epos verwendet (Poet. 1461b 26, 1462a 1-4). Doch ist diese generische Bedeutung, die mit Aristoteles’ klassifikatorischem Denken übereinstimmt, weiter gefaßt als die spätere formal-stilistische, die auch bei der Stoa anklingt (s. s. 1.4.1 Methodische und forschungsgeschichtliche Problematik und Aktualität im Tragik-Kapitel dieser Einleitung und 6.2 Das Verhältnis der Stoa zur Tragödie und zum Tragischen). 2.1 Aristoteles’ <?page no="140"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 126 differenziert zu benennen. Mehr noch entspricht die punktuelle Devianz der grosso modo der situativen Dysfunktion eines ethisch-rationalen Subjekts bei der Transgression, welche diese Arbeit als eine Form der Tragik ansieht. Die Punktualität der wird durch ihre Abgrenzung von der charakterlichen Schlechtigkeit und der parallelen Spezifkation der geforderten charakterlichen Eigenschaften verbürgt (Poet. 1453a 7-10, 15-17). Die Situation, in welche die tragische Dysfunktion des ethisch-rationalen Subjekts eingebettet ist, gehört in der Tragikkonzept dieser Arbeit zur Handlungsstruktur. Auch die weist eine Affinität zur Handlung(sstruktur) auf. Während allerdings für diese Untersuchung die Dysfunktion in der Handlungsstruktur wurzeln muß, um tragisch zu sein, leitet Aristoteles die nicht ausdrücklich aus der Handlungsstruktur ab, sondern sieht sie nur in eine Handlungskonstellation 347 eingebettet (vgl. im 13. Kap. 1453a 3, 23: ), zu welcher als handlungsfremdes Element der mittlere Charakter des tragischen Protagonisten sowie neben der als weiteres handlungsstrukturelles Merkmal der Umschwung vom Glück ins Unglück gehören. Dieser gerät in der Poetik auch in einem anderen Passus außerhalb der vorgenannten Stelle und dort außerhalb des Kontextes der , der dem 13. Kapitel und damit dem Herzstück dieser Schrift entstammt, in eine Nähe zum Tragischen. Das Tragische und Menschenfreundliche ( ), so heißt es im 18. Kapitel, nach dem die Dichter strebten, erreichten sie in erstaunlicher Weise. Dies geschehe dann, wenn bei der Peripetie ein Kluger, der wie Sisyphos zugleich moralisch schlecht ist, getäuscht werde (Poet. 1456a 21 f.). 348 Mögen die Interpretation dieser Passage und ihre Einschlägigkeit für Aristoteles’ eigenes Tragikverständnis auch mehr als fraglich und letztere nach Auffassung dieser Arbeit gar nicht gegeben sein, 349 so wird doch an ihr zumindest in einem besonderen Fall ein Nexus von Tragik, struktureller kognitiver Kompetenz und situativer kognitiver Fehlleistung textlich greifbar, der auf der kognitiven Seite exakt dem in der vorliegenden Arbeit vertretenen und bereits oben generell für die bemühten Tragikver- 347 Der mittlere Charakter als Merkmal des tragischen Protagonisten verbietet es strenggenommen, vereinnahmend tout court als „Handlungsstruktur“ wiederzugeben, auch wenn die unmittelbare Nähe von (Poet. 1453b 2 f.) ein deutliches Indiz dafür ist, als Kurzform davon aufzufassen aufzufassen und als „structure“ (Lucas 146, Halliwell 1999: 70) bzw. sogar „plot-structure“ (Halliwell 1987: 44) wiederzugeben. Diese Verkürzung suggeriert auch Fuhrmanns Übersetzung 39, 41 „Zusammenfügung“ bzw. „zusammengefügt“ und „Zusammenfügung der Geschehnisse“. Schmitt Poetik 17 f. übersetzt sogar „eine so angelegte Handlung“ bzw. „Gestaltungsprinzip“, beidemale zu frei, weil die erste Wiedergabe der Handlung, die doch erschlossen ist, das Übergewicht verleiht, während die zweite diesen Zusammenhang und überhaupt das kompositorisch-strukturelle Moment verwischt. 348 Vgl. Arist. Poet. 1456a 19-23: < > 349 Dafür sowie für die zugrunde liegenden inhaltlich-syntaktischen Schwierigkeiten dieses Passus, die Diskussion um die Bedeutung von und das Verhältnis dieser beiden Begriffe ‚tragisch‘ und ‚menschenfreundlich‘ in Aristoteles’ Poetik s. das Kap. 5.2 Die Neue Komödie und Menanders Samia. <?page no="141"?> 127 ständnis entspricht. Unbestreitbar enthält dieser Passus jedenfalls denselben Gegensatz von struktureller kognitiver Kompetenz und situativer kognitiver Fehlleistung, den unser Tragikkonzept voraussetzt. Das 14. Kapitel läßt schließlich eine Verbindung des Tragischen, ebenfalls außerhalb der , mit dem Leiden erkennen, 350 welches das Unglück des 13. Kapitels variiert und konkretisiert. Höchstwahrscheinlich hat man sich unter dem Leiden das schwere Leid vorzustellen, das in Mordfällen oder -plänen innerhalb der Familie bestehe, wie es kurz zuvor heißt (Poet. 1453b 19-22). Das Tragische wird damit klarer als in der oben interpretierten Passage zu Euripides, welche diesen wegen seiner Umschwünge vom Glück ins Unglück den tragischsten Dichter nennt (Poet. 1453a 27-30), über die physische Eliminierung bestimmt, während die Eliminierung in der vorliegenden Arbeit qua Merkmal der Transgression nur ein Substrat der Tragik ist. Auch in den übrigen aristotelischen Schriften außerhalb der Poetik, die gerne zur Erhellung der herangezogen wurden (v.a. die EN), läßt sich die Vorstellung einer situativen Dysfunktion kognitiver Kompetenzen erkennen. Im ethischen Bereich schied der Stageirit in diesen Traktaten eine situative Dysfunktion von grundsätzlichem Unvermögen, die ebenfalls insofern punktuell ist, als vorhandenes Wissen nicht genutzt wird. Im kognitiven Bereich vertritt er damit dasselbe Konzept wie die vorliegende Arbeit bei der Tragik, die hier auf die konjunkturelle Dysfunktion eines ethisch-rationalen Subjekts zurückgeführt wird; im ethischen Bereich entspricht der Dysfunktion nach dem hier vertretenen Tragikverständnis Aristoteles’ Konzept einer situativen Unbeherrschtheit, die intellektualistisch aus der Nichtanwendung grundsätzlich vorhandenen Wissens erklärt wird. Die philologische Evidenz der Poetik wie der EN ist gleichwohl zu schwach, um diese Konzepte so sicher mit der und Aristoteles’ Tragikverständnis zu verknüpfen, daß diese aristotelischen Begriffe tel quel als Stichwortgeber des hier vertretenen Tragikkonzeptes reklamiert werden könnten. Als Quintessenz läßt sich jedoch festhalten, daß die entsprechend der Handlungsorientierung der Poetik - wie die Tragik und Transgression in der vorliegenden Arbeit - an einen Handlungsverlauf (1453a 3, 23: - ) geknüpft ist, statt im Charakter verankert zu werden. Sie wird in dieser Schrift nicht psychologisch analysiert und aufgefächert, sondern beschreibt eine punktuelle Normdevianz, die sicherlich auch eine subjektive Modalität umfaßt. Diese punktuelle subjektive Normdevianz ist die einzige Gemeinsamkeit der mit der handlungsstrukturellen, situativen Dysfunktion eines ethischrationalen Subjekts. Die der Poetik schreibt, so läßt sich ausblickend anmerken, in der Dramentheorie die Säkularisierung fest, 351 die in der attischen Tragödie dadurch stattgefunden hat, daß bei Sophokles und Euripides (auch) die 350 Arist. Poet. 1453b 38 f.: . 351 Auch Flashar 1984: 12 konstatiert in der Poetik „die Nichtberücksichtigung von Besonderheiten und Eigenarten der Tragödie des 5. Jahrhunderts wie der religiösen Weltsicht der Tragödiendichter“ und korreliert sie mit der Tragödie des 4. Jhs. 2.1 Aristoteles’ <?page no="142"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 128 statt der in der archaischen Tragödie zentralen, zumeist gottgegebenen 352 Fehlverhalten beschreibt und erklärt. 2.1.3 Produktions- und Rezeptionsästhetik Abschließend sei kurz auf Aristoteles’ Produktions- und Rezeptionsästhetik eingegangen, die für unsere Untersuchung nicht so ergiebig wie seine handlungsorientierte Werkästhetik sind. Mehr noch als mit der Mimesis bietet der Stageirit mit dem furor poeticus bereits ein produktionsästhetisches Konzept (Poet. 1455a 32-34), 353 das die ethologische Grundlage der poetischen Transgression darstellt (s. 3.2 Zu einer Poetik und Hermeneutik der Transgression). Anders verhält es sich mit seiner rezeptionsästhetischen Theorie, die auf die emotionale Reaktion des Publikums abhebt. Diese Arbeit will die Handlungsstruktur untersuchen, da diese bis heute an den überlieferten Texten greifbar ist, während die Nachrichten über die Reaktion des antiken Publikums spärlich sind (Hdt. 6.21.2) und das Urteil und zumal die Empfindungen des Rezipienten individuell verschieden sind. Ihnen allzu großzügig Raum zu geben, hieße subjektiver Spekulation das Tor zu öffnen und mit der intersubjektiven Nachprüfbarkeit ein wissenschaftliches Grundkriterium zur Disposition zu stellen. Der mit dieser Beschränkung einhergehende Verzicht, eine Art literaturwissenschaftlicher Kryonik, welche die Texte herunterkühlt, um ihre Strukturen wie Eiskristalle sichtbar zu machen, blendet mit dem Pathos und mit dem Erhabenen Faktoren aus, in denen das Tragische und das Wesen der Tragödie verortet wurden und deren Erfahrung (und damit Realität) fast jeder moderne Tragödienrezipient bestätigen könnte. Doch lassen sich Pathos und Erhabenheit, am besten anhand ihrer Konzeption in der antiken Literaturtheorie, nur über die Rhetorik nachvollziehbar am Text nachweisen. Wegen dieser heuristischen Kautelen wird Aristoteles’ elaborierte emotional-psychagogische Rezeptionsästhetik im Rahmen dieser Untersuchung weitgehend außen vor bleiben, auch wenn er selbst in einem Punkt einen rezeptionsästhetischen Universalismus vertrat, erhoffte er sich doch eine reinigende Wirkung der Theatermusik selbst auf einfache Menschen, die neben den freien und gebildeten das Theaterpublikum bildeten (Pol. 1342a 18- 22). 354 Doch handelt es sich hierbei eben um nichtdiskursive Eindrücke fern der Handlungsstruktur ( ). Faßt man und als ‚Betroffenheit‘ und ‚Bestürzung‘ auf, 355 so lassen sich hiermit Erfahrungen 352 Zu dieser und ihrem göttlichen Ursprung vgl. Eric Robertson Dodds, Agamemnon’s Apology. In: Ds., The Greeks and the Irrational. Berkeley 8 1973, 1-27, h. 2-8. 353 . 354 Alan H. Sommerstein, Greek Drama and Dramatists. London 2002, 6 weist darauf hin, daß die Zusammensetzung des Publikums und die Stimmung einer Athener Theateraufführung eher einem Fußballspiel als einem weihevollen modernen bildungsbürgerlichen Musentempel entsprachen. 355 Wie bei Wolfgang Schadewaldts (Furcht und Mitleid? Zur Deutung des Aristotelischen Tragödiensatzes. In: Ds., Hellas und Hesperien. 2 Bde. Zürich 2 1970, Bd. 1, 194-236, h. 209) Wiedergabe „Jammer“ bzw. „Schauder“ (so auch Fuhrmanns Übersetzung 1994: 19) wird damit <?page no="143"?> 2.2 Ritual, Opfer, Mythos und Performanz 129 beschreiben, die vielleicht noch ein moderner Rezipient der attischen Tragödie machen kann, doch auch diese These ist nicht gegen die Gefahr der Verallgemeinerung eigener subjektiver Eindrücke gefeit. Was die empathische Seite der beiden aristotelischen Rezeptionsemotionen anbelangt, so mag die theatralische Mimesis dazu geeignet sein, die Empathie des Rezipienten zu fördern, weil sie ihm einen Menschen als Gegenüber präsentiert, also soziale Interaktionsformen von allen literarischen Genera am deutlichsten simuliert. Als abschließende Konsequenz für die hermeneutische Praxis sollen rezeptions- und emotionsästhetische Aspekte - wie bereits im Falle von Pathos und Erhabenheit angedeutet - nur soweit berücksichtigt werden, als sie in den Text eingeschrieben sind, d.h. sie aus Äußerungen der Einzelschauspieler oder des innerdramatischen Rezipienten, nämlich des Chores, hervorgehen. Hier bietet die attische Tragödie mit Klagen und Mitleid im Gefolge der Anagnorisis von Transgression oder Eliminierung ein weites Feld. 356 2.2 Ritual, Opfer, Mythos und Performanz Die vorliegende Untersuchung richtet wie Aristoteles bei der Definition der Tragödie und ihrer Wirkung 357 das Hauptaugenmerk auf die Handlung und den Text und stellt die historische Inszenierungspraxis 358 zurück. Diese Perspektive entspringt keinem Grundsatzurteil über das Wesen der antiken Tragödie oder gar einer essentialistischen dramatischen Regelpoetik, sondern trägt vielmehr dem Umstand Rechnung, daß von diesem integralen Gesamtkunstwerk, 359 dessen stärker auf die Vehemenz der Emotionen abgehoben und zusätzlich dazu die Brüskheit der Ereignisse betont, auf die sie reagieren. 356 Für den gemeinsamen Schmerz der literarischen Figuren als seit den Homerischen Epen bestehendes Motiv s. Charles Segal, Catharsis, Audience, and Closure in Greek Tragedy. In: Michael S. Silk (Hg.), Tragedy and the Tragic. Greek Theatre and Beyond. Oxford 1996, 149- 172, h. 149 f. 357 Die Wirkung ( ) der Tragödie kommt auch ohne Aufführung zustande (Poet. 1450b 18 f.: ). Das Schauderhafte und Jammervolle können aus der Aufführung ( ), sollten aber aus der Handlungsstruktur erwachsen (Poet. 1453b 1-3: ). Poet. 1462a 9-13 spricht einer reinen Lesetragödie dieselbe Wirkung zu. Vgl. dazu Anastasio Kanaris de Juan, Reflexiones sobre la opsis aristotélica. In: Carmen Morenilla, Bernhard Zimmermann (Hgg.), Das Tragische. Drama (Beiträge zum antiken Drama und seiner Rezeption) 9. Stuttgart, Weimar 2000, 109-121, ferner aktuell differenzierend Grigoris M. Sifakis, The Misunderstanding of Opsis in Aristotle’s Poetics. In: George W. M. Harrison, Vayos Liapis (Hgg.), Performance in Greek and Roman Theatre. Mnemosyne Suppl. 353. Leiden 2013, 45-61 und David Konstan, Propping up Greek Tragedy: The Right Use of Opsis. In: George W. M. Harrison, Vayos Liapis (Hgg.), Performance in Greek and Roman Theatre. Mnemosyne Suppl. 353. Leiden 2013, 63-75. 358 Vgl. dazu jetzt George W. M. Harrison, Vayos Liapis (Hgg.), Performance in Greek and Roman Theatre. Mnemosyne Suppl. 353. Leiden 2013. 359 Angesichts der ästhetischen Universalität und Kohärenz der attischen Tragödie und Komödie ist die fragmentarische Semantik der alternativen Bezeichnung für ein Drama ‚Stück‘ referentiell allenfalls unter dem intertextuellen Gesichtspunkt der Zugehörigkeit zur Gattung Drama gerechtfertigt. Rein aus Gründen der variatio greift diese Arbeit deshalb auf ‚Stück‘ gelegentlich zurück (vgl. frz. pièce), da es im Deutschen kein Äquivalent zum engl. play gibt, das treffend <?page no="144"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 130 Aufführung zu verfolgen Aristoteles noch vergönnt war, nur das Libretto überliefert ist und Musik und Tanz u.ä. allenfalls mühsam und bruchstückhaft rekonstruiert werden können. 360 Leichter läßt sich bisweilen die historische Inszenierung anhand von Hinweisen im Text oder der Kenntnis der Bühnentechnik rekonstruieren und deshalb auch berücksichtigen. 361 Doch auch bei der erstgenannten Überlieferungskonstellation, welche die Terminologie der vorliegenden Arbeit als ‚transverbales mimisch-gestisches Metatheater‘ bezeichnet wird (s. 3.3 Metatheater als poetische Transgression), sind wir auf den Dramentext angewiesen, da die historische Inszenierung in ihn teilweise eingeschrieben ist. Das gilt auch für die Inszenierung im allgemeinen, die man gewöhnlich eher ganz dem Theater zuschlagen würde, als präsentative Subspezies der Poetik, auf deren schöpferischen Gestus hier abgehoben wird 362 (s. 3.2 Zu einer Poetik und Hermeneutik der Transgression). Daß das antike Drama für uns also nur in seinem verschriftlichten Skelett faßbar ist, darf jedoch nicht den Blick auf seine einmalige mündliche Performanz verstellen. Nicht von ungefähr griff Pier Paolo Pasolinis Manifesto per un nuovo teatro von 1968 in einem kühnen Sprung über die Tradition des modernen Theaters, wie sie in Shakespeare und dem Renaissancetheater wurzele, für sein Theater des gesprochenen Wortes (teatro di parola) auf das Theater der attischen Demokratie zurück (§ 7). 363 Die Unterscheidung zwischen überliefertem Dramentext und (Wieder-)Aufführung läßt sich auch mit Marshall McLuhan Begriffspaar hot vs. cool medium beschrieben. Heiße Medien liefern dem Rezipienten viel Information und lassen wenige Lücken, welche dieser füllen muß, bei kühlen ist es genau umgekehrt. 364 Demnach können die für uns reanimierbare bloß gesprochene Performanz des antiken Dramentextes und mehr noch das reine Lesedrama mit McLuhan als cool media auf die Fiktionalität abhebt, und ‚Schauspiel‘ hier entsprechend seinem ersten Kompositionsglied für das Theatralische reserviert wird. 360 Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes. In: Ds., Holzwege. Frankfurt a.M. 8 2003, 1-74, h. 26 faßt diesen Umstand stärker als musealisierende Isolation der antiken Kunst aus ihrem lebensweltlichen Kontext auf: „Die »Ägineten« in der Münchener Sammlung, die »Antigone« des Sophokles in der besten kritischen Ausgabe, sind als die Werke, die sie sind, aus ihrem eigenen Wesensraum herausgerissen.“ Auch wenn der Musealisierung die Performanz fehlt und die so steril konservierten Kunstwerke eines kreativen Rezipienten bedürfen, um wieder zum Leben erweckt zu werden, teilt zumindest die Ausstellung der bildenden Kunst (nicht die unaufdringliche textkritische Ausgabe) mit dem Theater den Modus der visuellen Präsentation. 361 S. dafür Oliver Taplin, The Stagecraft of Aeschylus. The Dramatic Use of Exits and Entrances in Greek Tragedy. Oxford 1977. 362 Martin Seel, Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs. In: Josef Früchtl, Jörg Zimmermann (Hgg.), Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens. Frankfurt a.M. 2001, 48-62, h. 48: „Jede Inszenierung ist eine ästhetische Operation.“ Allerdings unterscheidet Seel zwischen nichtkünstlerischen und künstlerischen Inszenierungen (2001: 57-60). 363 Nuovi argomenti, n.s., 9, gennaio-marzo 1968. In: Tutte le opere. Edizione diretta da Walter Siti. Saggi sulla letteratura e sull’arte. A cura di Walter Siti e Silvia De Laude. 2 Bde. Mailand 1999, Bd. 2, 2483 f. Vgl. Epict. 1.29.43: . 364 Understanding Media. The Extensions of Man. London 1964, Repr. 2006, 24-35, v.a. 24 f. <?page no="145"?> 2.2 Ritual, Opfer, Mythos und Performanz 131 bezeichnet werden, weil die Phantasie des Rezipienten viel ergänzen muß, während das illusionsreiche Gesamtkunstwerk als hot medium einzustufen wäre. 365 Die private Lektüre der reizarmen Bleiwüste, die eine kritische Ausgabe bietet, ist also in viel höherem Maße ein kreativer Akt als die passive Rezeption eines opulent sinnengesättigten Schauspiels, bei dem der Part des kreativen Hermeneuten überwiegend dem Regisseur zufällt. 2.2.1 Performanz Der Unglücksfall, daß das antike Drama ästhetisch fragmentiert tradiert wurde, d.h. die sehr bruchstückhafte Überlieferung seiner Inszenierung, erübrigt jedoch keine literaturtheoretische Auseinandersetzung mit den gegenwärtig in der antiken Dramenforschung, aber auch in der modernen Aufführungspraxis, beliebten Kategorien ‚Ritual‘ und ‚Performanz‘. 366 Während die dramatisch-strukturalistische Perspektive dieser Arbeit Beobachtungen aus Aristoteles’ Poetik zu einer neuen, einheitlichen Sicht zusammenfügt, kennzeichnet das Verhältnis zu Ritual und Performanz eine wechselseitige Klärung durch genauere Abgrenzung der jeweiligen Begriffe und Erkenntnishorizonte. Dabei läßt sich die harmonisierende und modernisierende Aristoteles’ Interpretation sogar auf Performanz ausdehnen, indem man einen Performanzbegriff ante litteram bei dem Stageiriten aufspürt. Die Begriffe ‚Performanz‘ und ‚performativ‘ charakterisieren bereits das - zumindest potentielle - Wesen der überlieferten dramatischen Texte der Antike selbst qua darstellender Kunst, da ihnen die Aufführung als Möglichkeit eingeschrieben ist. Die darstellende Seite des Dramas hat bereits Aristoteles, aufbauend auf Platon (R. 595ab), 367 in seiner berühmter Tragödiendefinition als mimetisch erfaßt (Poet. 1449b 24). Der mimetische Charakter läßt sich semiotisch dahingehend deuten, daß sich im Theater die Repräsentation über die Präsentation vollzieht (dieser Nexus wird im Verlaufe dieser Arbeit auch durch den Ausdruck ‚(Re-)Präsentation‘ wiedergegeben), 368 d.h. entspre- 365 Diese Unterscheidung beruht auf der Anzahl der sinnlich-materiellen Kanäle, über welche die Informationsvermittlung läuft. Für McLuhan scheint dagegen der Sättigungsgrad innerhalb eines Kanals das entscheidende Kriterium zu sein (2006: 24: „A hot medium is one that extends one single sense in “high definition”.“). So stufte er das Radio als heißes, das Telefon dagegen als kühles Medium ein, während das Fernsehen ihm im Gegensatz zum heißen Film als kühles Medium galt. Das gesprochene Drama entspricht nach seiner Logik eher dem Rundfunk. Doch die Einstufung ist auch bei ihm letztlich eine Frage der identitätsstiftenden Opposition, die er auch aus der Mediengeschichte schöpft. So nennt er selbst das phonetische Alphabet im Gegensatz zu ergänzungsbedürftigen Hieroglyphen- und Ideogrammschriften ‚heiß‘, und das reproduzierbare, aber vergängliche Papier ‚heiß‘ im Gegensatz zum Stein als Dokumentationsmedium. Der geschriebene Dramentext wäre nach dieser Logik also auch heiß. 366 Bierl 2001: 15 räumt billigerweise ein, daß Performance „sich einer eindeutigen Definition entzieht“ und „äußerst schwer zu fassen“ sei und zitiert auf S. 25 Anm. 36 seiner Arbeit gar Bert O. States’ Kritik (Performance as Metaphor. Theatre Journal 48 (1996) 1-26, h. 3), der Performance-Begriff weise keine klare Definition auf, weil seine Bedeutung von einem zum jeweils nächsten Feld (Theater, Ritual, Parade, Protest, Terrorismus) sich immer weiter verschiebe. 367 Vgl. dazu Jürgen H. Petersen, Mimesis - Imitatio - Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik. München 2000, 24 f. 368 Moderne Theatertheorien harmonisieren das Verhältnis von „Präsenz“ und „oppressiver“ „Repräsentation“ des Dramentextes durch den Verweis auf die präsente Leiblichkeit des <?page no="146"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 132 chend dem Verhältnis von langue und parole in dieser manifest wird (CLG 37). Dieser Aspekt des Vollzugs der Struktur ( ) in der Konjunktur ließe sich auch als Per-Formanz bezeichnen. 369 Der Performanzbegriff ist übrigens keineswegs so unaristotelisch, wie es prima specie scheinen mag, kennt doch auch der Stageirit die Vorstellung, daß bei den Tätigkeiten, die neben der kein weiteres haben, die in ihnen selbst liege. Als diese performativen Tätigkeiten nennt er das Sehen, Betrachten, Leben und die Glückseligkeit, die eine bestimmte Form des Lebens sei (Metaph. 1050a 21-1050b 2), also Kategorien, die der szenisch-dramatischen Performanz sehr nahe stehen (für das Leben vgl. Poet. 1450a 16 f.). Ihr ist der Gebrauch ( ). Ihnen stehen die produktiven Tätigkeiten gegenüber, bei denen zusätzlich zu der Tätigkeit etwas erzeugt wird ( ), wie beim Bau eines Hauses. Doch nicht nur bei (onto-)logischen Kategorien, auch in literaturtheoretischem Kontext spricht Aristoteles von (Arist. Rh. 1411b 24-1412a 10). Das Vor-Augen-Führen ( ) der Metapher geschehe durch die Darstellung von Tätigem (Rh. 1411b 24 f.), 370 die sei Bewegung (Rh. 1412a 10). Die Semiose ist an dieser Stelle im Vergleich zum in der vorliegenden Arbeit zugrunde gelegten Verständnis dramatischer Semiotik nachgerade umgekehrt: In Aristoteles’ Rhetorik evoziert ( ) der bildliche Ausdruck ein Geschehen vor dem inneren Auge des Rezipienten, im Drama konstituiert das unmittelbar präsentierte, weitgehend verbal performierte Geschehen das literarische Zeichengefüge, das seinerseits durchaus mit Metaphern operiert (s. 3.2 Zu einer Poetik und Hermeneutik der Transgression). In der Dramensemiotikist das Geschehen also das Bezeichnende, bei Aristoteles das Bezeichnete, hat also kein performatives Potential. Daß Aristoteles seine - und -Begriffe nicht auf die Tragödie anwendet, obwohl er doch ihre Wirkung ausführlich diskutiert und nennt (Poet. 1450b 18-20), dient, ebenso wie der Nichttransfer seiner modernen, Saussure nahekommenden Zeichentheorie 371 auf die Tragödie dieser Arbeit eher als eine systemimmanente Einladung zum Brückenschlag denn als eine gezielt widerratende Lücke. Aristoteles für eine performative Deutung der literarischen Theatersemiose anhand des Begriffes der fruchtbar zu machen, wird übrigens durch zwei prominente sprachtheoretische Aristoteles-Rezipienten nahegelegt: Wilhelm von Humboldt und Eugenio Coseriu. Der rumänischstämmige Tübinger Romanist, der selbst von einem „humboldtianischen Strukturalismus“ ausgegangen war, 372 verfeinert die an Aristoteles anknüpfende These seines idealistischen Schauspielers, vgl. dazu Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2004, 255-261. 369 Vgl. Aristoteles Metaph. 1050b 2 f.: Vgl. Sen. epist. 58,21: idos in opere est, idea extra opus, nec tantum extra opus est, sed ante opus. 370 . 371 Die Wörter haben ihre Bedeutung nur aufgrund einer Übereinkunft ( ) (Int. 16a 19) und benennen nichts von Natur, sondern erst, wenn sie zum geworden sind (Int. 16a 27 f.). 372 Humboldt und die moderne Sprachwissenschaft. In: Arnol’du Stepanovi u ikobava. Tbilissi 1979, 20-29, h. 20. Wiederabgedruckt in: Eugenio Coseriu, Schriften (1965-1987). Eingeleitet <?page no="147"?> 2.2 Ritual, Opfer, Mythos und Performanz 133 Vorgängers aus dem 19. Jh., die Sprache sei nicht , sondern , unter ausdrücklichem Rückgriff auf den Stageiriten zu einer Klassifikation der einzelnen Aspekte der Sprache nach und . 373 Dabei tritt noch seine Trias universell, historisch und individuell hinzu. 374 Auffallenderweise verzichtet Coseriu dabei - möglicherweise aus nachvollziehbaren Gründen der Klarheit und Komplexitätsökonomie - gänzlich auf strukturalistische Terminologie, doch wäre eine Anknüpfung vielfach zwanglos möglich. Das Sprechen , das Sprechenkönnen, das Coseriu noch nach seiner eigenen Klassifikationstrias untergliedert (Christmann 1988: XVIII spricht deshalb von „Kreuzklassifikation“), entspricht der Saussureschen faculté de langage (CLG 25 f.). Die historische Ebene des Sprechens , das „Sprechenkönnen gemäß der Tradition einer Gemeinschaft“ (1974: 38), ist die Subklasse in Coserius Systematik, in der sich am ehesten die sonst heimatlose langue ansiedeln ließe. Doch an ihrem Beinaheverschwinden und der lexikalischen Prominenz des Sprechens zeigt sich die Dominanz des Handelns, die auch dem Performativen zugrunde liegt, auch wenn dieser Begriff hier bei Coseriu in Ermangelung einer klaren Vorstellung des zu performierenden fehlt. Das Sprechen ’ und ’ beschreibt Aspekte der Saussureschen parole. Letzteres bezieht sich dabei auf „die Totalität der Texte“ (1974: 39), ist also für die Literaturwissenschaft und die Dramentexte von Belang, die gesprochene Rede fingieren, wobei Coseriu einschränkt, die Sprache sei „nie eigentlich “. Die Alltagssprache vollzieht die langue in der parole (CLG 37) und hat nur in der Botschaft eine Repräsentation. Das Theater hat zwar denselben Anschein, doch tritt im Theater qua Bühne der literarischen Gattung Drama eine weitere Ebene der fiktionalen Stellvertretung ein, die Substitution der gedachten durch handelnde (Poet. 1449b 26, 36 f.) und sprechende Menschen. Unterschiede zwischen Aristoteles, der aktuellen Inszenierungspraxis und dem hier zugrunde gelegten strukturalistischen Ansatz ergeben sich daraus, was als Sinnträger fungiert. In der modernen Inszenierungspraxis dienen häufig Körper und Raum als Sinnträger. 375 Die Botschaft wird direkt über optische und nonverbale akustische und hg. von Jörn Albrecht. Bd. 1 von: Energeia und Ergon. Tübinger Beiträge zur Linguistik 300. Tübingen 1988, 3-11, h. 3. Zu Coserius „humboldtianischen Strukturalismus“ und überhaupt zu seinem Verhältnis zum Strukturalismus und Ferdinand de Saussure s. Hans Helmut Christmann, Tübinger Worte an und über Eugenio Coseriu. In: Eugenio Coseriu, Schriften (1965-1987). Eingeleitet und hg. von Jörn Albrecht. Bd. 1 von: Energeia und Ergon. Tübinger Beiträge zur Linguistik 300. Tübingen 1988, XIII. 373 Eugenio Coseriu, Synchronie, Diachronie und Geschichte. Das Problem des Sprachwandels. Übersetzt von Helga Sohre. [Orig.: Sincronía, diacronía e historia. El problema del cambio lingüístico. Montevideo 1958] Internationale Bibliothek für allgemeine Linguistik 3. München 1974, 37-39. 374 Christmann 1988: XVIII. Vgl. Coseriu 1974: 38: „[D]as Sprechen [ist] eine universelle Tätigkeit, die von besonderen Individuen als Glieder historischer Gemeinschaften realisiert wird [Kurs. im Orig.].“ 375 Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2004, 129-186 bzw. 187- 227. Ds., Performance-Kunst und Ritual: Körper-Inszenierungen in Performances. In: Gerhard <?page no="148"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 134 Signale vermittelt. Dieser Performanzbegriff, der an englisch to perform und performance (‚Aufführung‘) anknüpft, dessen Begriff wiederum an ‚Theatralität‘ heranreicht oder sich damit deckt, 376 rückt so an ‚Happening‘ und ‚Event‘ heran. 377 Aristoteles schiebt die Gedankenführung ( ), zu der das von Worten ( ) Bewirkte gehöre, in die Rhetorik ab (Poet. 1456a 33- 37). Der Logos ist auch bei seiner Definition der Tragödie sekundär, wird sie bzw. die Nachahmung der Handlung doch nur als bestimmt (Poet. 1449b 25). Ein semiotischer Ansatz greift dagegen, unterstützt durch die Kontingenzen der Überlieferung, auf das Wort als entscheidenden Sinnträger zurück. Diese Arbeit will dabei v.a. die mimetische Performanz einer (sozialen) Rolle und die Bedeutung dieser Performanz für die Transgression und Tragik betrachten. Der ästhetischen Gestaltung dieser Handlungsfiguren und -merkmale kommt hierbei eine zentrale Rolle zu. Zu ihrer Analyse bietet sich im Einzelfall der Rückgriff auf performative Ästhetiken an, deren zwei kurz nach der Jahrtausendwende vorgelegt wurden. Allerdings ist deren explizite wie faktische Kompatibilität mit dem Ansatz dieser Arbeit nicht durchgehend gegeben und beschränkt sich bisweilen eher auf Theoretisch-Gattungssystemisches. Dieter Mersch tritt an, Derridas Dekonstruktion zu überwinden, die er als „Radikalisierung der Saussure’schen Zeichentheorie“ auffaßt, 378 und bringt dazu einen phänomenologischen Ansatz in Anschlag, für den er sich ausdrücklich auf Heidegger 379 berufen kann und der letztlich mit der Semiologie verschmolzen werden soll (2002: 12-16). Bei allem tiefen Respekt, ja Hochachtung, die zu zollen man Mersch für sein in der ästhetischen Diskussion von über zwei Jahrtausenden tiefverwurzeltes, stringentes System teils neubeschriebener Begriffe nicht umhinkommt, muß doch angemerkt werden, daß seine zentralen Begriffe ‚Ereignis‘ und ‚Aura‘ mit dem Ansatz und Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit sowie den Überlieferungsgegebenheiten des antiken Dramas kaum in Einklang gebracht werden können. Mersch hebt gleich zu Anfang auf die Intentionsfreiheit des Ereignisses ab, die es von der Handlung unterscheide (2002: 9). Tragik und Komik werden in der vorliegenden Arbeit aber erst über ihre Kontingenz zur Intention bestimmt, die einer Handlung zugrunde liegt (s. 1.4.6 Arbeitsdefinition, Submerkmale und Parallelfiguren der Tragik). Auch die Aufführung der hier behandelten antiken Dramen war in den seltensten Fällen und Teilen ein improvisiertes Ereignis, sondern zumeist eine Veranstaltung, deren ver- Neumann, Sigrid Weigel (Hgg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München 2000, 113-129. Erika Fischer-Lichte (Hg.), Verkörperung. Tübingen 2001. 376 Vgl. dazu Joachim Fiebach, Art. Performance. ÄBG 4 (2002) 740-758, h. 754-757. 377 Vgl. hierzu Dieter Mersch, „Vom Werk zum Ereignis. Zur „performativen Wende“ in der Kunst“, in: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2002, 157-244. 378 So Mersch nach eigenem Bekunden auch im Kap. „Ereignis und Präsenz“, in: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. Habil. Darmstadt 2000. München 2002, 357-381. 379 Für Heideggers phänomenologisches Kunstverständnis s. 2.3.2 Strukturalistisch-semiotische Dramenästhetik. <?page no="149"?> 2.2 Ritual, Opfer, Mythos und Performanz 135 bale und nonverbale Teile auf- und untereinander minutiös abgestimmt wurden. Wegen der Intentionalität von Veranstaltung und Handlung ist Merschs Versuch, die Performativität von der Intention abzukoppeln, nicht sachgerecht. Auch die Sprechakttheorie [Kurs. von mir], die Fischer-Lichte zufolge die Archegetin des Performativen war (2004: 31), verbindet dieses mit der Handlung (vgl. den Titel von John L. Austins grundlegendem Werk How to do things with words. Oxford 1962 [Kurs. von mir]). Die These, durch Sprache werde gehandelt, läßt bereits eine parallele Vielschichtigkeit auch des performativen Handelns erkennen, die bei Mersch, der den Zeichencharakter nicht nur bei der Performanz zurückdrängt (s. 2.3.1 Merschs und States’ phänomenologische vs. eine semiotisch-transgressive Ästhetik), nicht berücksichtigt wird. Dabei vollziehen die explizit wie die implizit performativen Sprechakte 380 wie ‚ich taufe dich auf den Namen xy‘, ‚Ich verspreche, um fünf Uhr dort zu sein‘ oder ‚Der Hund ist bissig‘ parallel zum und nur vermittels des lokutionären und propositionalen (bzw. bei Searle phonetischen, phatischen und rhetischen) Aktes ihre illokutionäre Botschaft 381 bzw. ihren nomothetischen Charakter, wie Mersch es formulieren würde. Mersch sieht den Bedeutungsinhalt des Performativitätsbegriffs der Sprachphilosophie durchaus und grenzt seinen artistischen davon ab (2002: 245 f.), nähert sich also zumindest terminologisch dem formalen Kunstbegriff an, der auch in dieser Arbeit eine Ausgangsbasis der Produktionsästhetik bildet. Sein Performanzbegriff muß also ohne die Merkmale ‚Intention‘ und ‚Semiose‘ und bloß mit einer fraglichen Bindung an die Nomothesie bestehen. Ihr einziger Zug, der sie vom bloßen Geschehen trennt, ist die Singularität, die sich in dem von Mersch parallel zur Performanz gebrauchten Ausdruck ‚Ereignis‘ kondensiert (2002: 245 f.), das bereits für den späteren Heidegger kein Geschehen war, sondern entsprechend seiner gut phänomenologischen Etymologie ‚Eräugnis‘ „ein einzigartiges An- und Zueignen, das Sichübergeben des ins E. zurückgedachten « Seins » an das Denken“. 382 Der um seinen semiotischen und intentionalen Gehalt entleerte Begriff des Performativen dient Mersch offenbar dazu, die Heideggersche Ontologie mit der aktuellen avantgardistischen Kunstprogrammatik und -praxis zu versöhnen. Mit dem oben entwickelten Begriff einer werkästhetischen, kunstwerkimmanenten semiotischen Per-Formanz ist er dagegen schwerlich kompatibel. Entsprechend der skizzierten Tendenz zur performativen Verschmelzung von Heidegger und Avantgarde und im Zuge der antisymbolischen Kunsttheorie hebt Mersch auch die Ersetzung des Werks durch „Vollzug, Akt, Performanz oder Ereignis“ in der Kunsttheorie und -praxis hervor (2002: 167). Freilich war in Heideggers früher Kunsttheorie, wie sie in der 1935/ 6 entstandenen und 1950 veröffentlichten Schrift Der Ursprung des Kunstwerkes niedergelegt ist, das Werk nicht nur dem Titel nach, sondern für die gesamte Argumentation der ersten zwei von drei Kapiteln noch zentral. 383 Davon abgesehen, gibt es durchaus einen Weg, den Performanzbegriff mit einer 380 S. Gottfried Hornig, Art. Performativ. HWP 7 (1989) 253-255. 381 Bußmann s.v. Sprechakttheorie. 382 Dieter Sinn, Art. Ereignis. HWP 2 (1972) 608 f. 383 Der Ursprung des Kunstwerkes. In: Ds., Holzwege. Frankfurt a.M. 8 2003, 1-74, h. 5-44. <?page no="150"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 136 semiotischen Kunsttheorie und Hermeneutik zu versöhnen, dann nämlich wenn man die produktions- und rezeptionsästhetische Seite des künstlerischen Zeichens einbezieht, die unser werkästhetischer an Saussure angelehnter Zeichenbegriff bislang aus Skepsis gegenüber ihrer Erkennbarkeit und ihrem Erkenntniswert für die Interpretationspraxis ausgeblendet hatte. Diese beiden Aspekte des literarischen Kommunikationsprozesses jedoch performieren - auch entsprechend Saussures oben zitiertem Satz von der langue in der parole - erst das literarische Zeichen, das auch unabhängig von der Performanztheorie ohne Produzent und Rezipient inexistent oder tot ist. Die Transgression darf dagegen vom Standpunkt des sozialen Codes als kontingentes, deviantes Geschehnis angesehen werden. Inwieweit sie trotz ihrer Zentralität in der Gesamthandlung das Spezifikum ‚Einzigartigkeit‘ des Ereignisses erfüllt, bedarf jedoch mit Blick auf den dramatischen Befund primo obtutu näherer Diskussion. Die Perspektive der hier besprochenen Dramen scheint jedoch auf eine thematische Fokussierung auf eine Transgression hinauszulaufen, die als entscheidendes Ereignis fungiert. Aischylos’ Perser weisen in der Tat mit der großköniglichen Überschreitung der Meerengen eine Transgression auf, die geographische, imperialistische und religiöse Aspekte bündelt. In Euripides’ Hippolytos und Bakchen erkennen Menschen den göttlichen Geltungs- oder gar Statusanspruch nicht an und begehen dadurch die entscheidende Transgression. Sie wird dafür im Hippolytos die Stiefmutter in transgressiver Leidenschaft zum religiösen Transgressor entflammen. Dagegen begeht Oidipus mit Vatermord und Mutterinzest gleich zwei Transgressionen in der erforschten Handlung, die durch den zeitlichen Abstand zur eigentlichen erforschenden Handlung der Tragödie und ihre komplementäre thematische Geschlossenheit - beide Elternteile werden zu Opfern, einmal am Ende des Lebens (Laios), einmal bei dessen Anfang (Iokaste) - jedoch zu einer Einheit zusammenrücken. Als kognitiver Gegenstand dominiert der Mord am Dreiweg die erforschende Handlung, auch wenn diese mit Oidipus’ Hybris gegen Kreon, Teiresias und Apolls Orakel eigene Transgressionen aufzuweisen hat. Medeas Morde an der Königstochter und den eigenen Kindern lassen sich zumindest als Neben- und Initialsowie Haupttransgression auffassen. Dieser Gewichtung entsprechen der Umfang und die Komplexität von Medeas Inszenierung dieser beiden Transgressionen. Die epiphane Inszenierung der Transgression ist in der Medea, wo sie den Kindermord betrifft, wie im OT und in Senecas Phaedra singulär. Es ist also die poetische Darstellung, welche über die dramatische Singularität der Transgression entscheidet und ihr das Ereignismerkmal der Einzigartigkeit verleiht (s. 2.2.2 Ritual). Dabei geht es nicht nur um die reine Struktur und Werkästhetik. Vielmehr inszenieren alle drei Transgressoren in den besagten Dramen ihre Tat und agieren somit als Schöpfer von deren innerdramatischer Erscheinung und deren Künstler. Epiphanie und Erscheinung der Transgression sind wie Benjamins Aura ausstrahlende Merkmale. Dem Ereignis ordnet Mersch nämlich auf der rezeptionsästhetischen Seite den auf Walter Benjamin zurückgehenden Terminus ‚Aura‘ zu (2002: 9). Für Benjamin beruhte die Aura auf der Wahrneh- <?page no="151"?> 2.2 Ritual, Opfer, Mythos und Performanz 137 mung der Einzigartigkeit des Kunstwerks, 384 das bei ihm auch diesen Namen trägt und noch nicht wie in den gegenwärtigen Performanzästhetiken dem Ereignis gewichen ist. Die Singularität des Kunstwerks ist mit seiner Deutung als okkasionelle Abweichung vom Usuellen und seiner semiotischen Irreduzibilität wohl vereinbar (s. 3.2 Zu einer Poetik und Hermeneutik der Transgression). 2.2.2 Ritual Großer Beliebtheit erfreut sich in den Kulturwissenschaften neben der Performanz auch das Ritual. Beide Begriffe sind analytisch verknüpft: Die Performanz dient der Beschreibung des Rituals, da dieses wie jede andere soziale oder symbolische Handlung nur in seinem Vollzug besteht. Das Ritual wird als eine symbolische Handlung aufgefaßt, die eine starke gesellschaftliche Normativität besitzt (Stichwort: Tabu). 385 Die drei gemeinsamen Aspekte ‚Symbol‘, ‚Handlung‘ und ‚Norm‘ nötigen deshalb nachgerade zu einer Integration des Ritualbegriffs in das Analyseraster einer strukturalistisch verfaßten Poetik der Transgression. Durch den Übergang vom Menschenzum Tieropfer birgt das (Opfer-)Ritual zivilisationsgeschichtlich ein elementares substitutives und semio(gene)tisches Moment, 386 das der rituell geforderten Grenzüberschreitung abhilft und das sich in der künstlerischen und literarischen Darstellung des Opfers fortsetzt. 387 Während sich diese(s) sich durchaus in der attischen Tragödie feststellen läßt (so bei Euripides’ Medea, Näheres s.u.), beruht in ihr die Transgression manchmal auch auf der Revertierung dieser Substitution (z.B. in Euripides’ Bakchen im Falle des Pentheus). Eine weitere Zusammenführung wird jedoch durch grundlegende Unterschiede, die im Gegenstand ‚antikes Drama‘ liegen, erschwert und ist häufig auf derselben Beschreibungsebene nicht möglich. Kein geringerer als Saussure selbst sah die Sprache als ein Zeichensystem wie u.a. die symbolischen Riten an, stufte sie jedoch als wichtigstes ein (CLG 33). Das Ritual verdankt wie die Alltagssprache seine Symbolik, Gültigkeit und Normativität der Iteration, 388 das antike Drama ist dagegen bereits in seiner Aufführungspraxis, seiner Performanz, in seiner klassischen Phase singulär. Der performativen Singularität des klassischen Dramas entspricht die Singularität, welche als Merkmal der Poetizität herausgearbeitet werden soll (s. 3.2 Zu einer Poetik und Hermeneutik der Transgression). Immerhin präparieren Yatromanolakis / Roilos 2004: 21 f. die 384 Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a.M. 6 1973, 19. 385 Vgl. Mary Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik. [Orig.: Natural Symbols. Explorations in Cosmology] London 2 1973. Frankfurt a.M. 4 2004, 13, 15. Definitorische Schwierigkeiten räumt billigerweise Bierl 2001: 25 ein: „[D]ie Begriffe Performance und Ritual [sind] zugegebenermaßen äußerst schwer zu fassen.“ 386 Diesen Zusammenhang entwickeln Alexander Honold, Anton Bierl, Valentina Luppi, „Zur Einleitung: Ritualfundierung und Zeichendynamik des Opfers“ in. Dss. (Hgg.), Ästhetik des Opfers. Zeichen/ Handlungen in Ritual und Spiel. Paderborn 2012, 7-13 h. 8 anhand von Isaaks (Nicht-)Opfer. 387 Honold/ Bierl/ Luppi 2012: 11. 388 Richard Seaford, Reciprocity and Ritual: Homer and Tragedy in the Developing City-State. Oxford 1994, xi f. nennt zusätzlich zu diesen drei konstitutiven Elementen des Rituals noch die Herstellung einer Beziehung der Vollziehenden zu einer übermenschlichen Macht. <?page no="152"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 138 Absetzung von dem Alltäglichen als gemeinsames Zeichen von Ritual und poetischer Sprache heraus. Doch gilt dies nur auf der konventionalisierten Gattungs- und Aufführungsebene von Dichtung, von der sich die individuelle Gestaltung des einzelnen Sprachkunstwerks abgrenzt. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen bleibt der Spielraum für die Integration der gegenwärtig beliebten Ritualpoetik 389 in ihrer aktuellen, auf die Aufführung ausgerichteten Konfiguration eng. Die pragmasemiotischen Möglichkeiten einer Ritualpoetik, die bei Yatromanolakis / Roilos pragmatisch-performativer Neudefinition von „meaning“ (2004: 4 f.) und ihrer Verknüpfung der Ritualpoetik mit Interdiskursivität (2004: 24 f.) anklingen, könnten durch eine abgrenzende Einbeziehung pragmatischer Zeichentheorien aktiviert werden. Das heuristische Potential einer literaturwissenschaftlich ausgerichteten Ritualpoetik, das bei Yatromanolakis / Roilos aufscheint, kann im Rahmen der Fragestellung dieser Arbeit nicht ausgeschöpft, sondern im Dialog mit Wolfgang Braungart (s.u.) nur angedeutet werden. Transgression und Ritual sind nur dann kosituativ und nahezu deckungsgleich, wenn man Georges Batailles weichen Transgressionsbegriff zugrunde legt (s. 1.2.4 Kurzer Forschungsabriß zur Transgression: Bataille, Foucault, Stallybrass und White). Ansonsten haben die Transgression und die Rituale, welche Übergänge zwischen elementaren Lebensabschnitten wie Geburt, Erwachsenwerden, Heirat und Tod markieren, 390 zwar die Grenzüberschreitung, die sich im Falle der Rituale durchaus topologisch und architektonisch material an Schwellen, Türen und Grenzen manifestieren kann (Van Gennep 1909: 19- 33, für die rituelle Überschreitung von Zeitgrenzen vgl. Yatromanolakis / Roilos 2004: 25 f.), und den Widerspruch zur Ordnung von Polis und Pantheon gemeinsam. Allerdings ist dieser Widerspruch bei den Übergangsriten vorläufiger Art, bei der Transgression jedoch definitiver. 391 Die Transgression ist sensu stricto nicht bloß eine Grenzüberschreitung, sondern eine Grenzverletzung, oft eliminatorisch und bildet deshalb das operationale Substrat des Tragischen, das Ritual ist dagegen dialektisch-integrativ. Es mutet wie ein Versuch an, die transgressiv-deviante Energie einzuhegen und in ordnungskonforme Bahnen zu lenken. Umgekehrt bieten die oben genannten existentiellen Übergänge zwischen Lebensabschnitten wegen ihrer von Ritual versuchsweise gezähmten Prekarität im Drama nicht selten Anlässe zur Transgression, man denke an die zahlreichen sexuell-reproduktiven Vergehen vom Inzest bis zum Kindermord, die gewaltsamen physischen Eliminierungen und nicht zuletzt die mit Transgression (Xerxes) oder zumindest devianten Insuffizienzen (Hippolyt) einhergehenden Übergänge ins Erwachsenenleben und die Position des Patriarchen (Oidipus). 389 Dimitrios Yatromanolakis, Panagiotis Roilos „Provisionally Structured Ideas on a Heuristically Defined Concept: Toward a Ritual Poetics“, in: Dss. (Hgg.), Greek Ritual Poetics. Hellenic Studies 3. Cambridge, Mass. 2004, 3-34. 390 S. ausführlich Arnold Van Gennep, Rites de passages. Paris 1909 (passim). 391 So Jean-Pierre Vernant, Pierre Vidal-Naquet in ihrem Vorwort (La Grèce ancienne. Bd. 3: Rites de passage et transgressions. Paris 1992, 9 f.). <?page no="153"?> 2.2 Ritual, Opfer, Mythos und Performanz 139 Das attische Drama wurde Dionysos zu Ehren und wahrscheinlich auch als Gabe für ihn dargebracht, ist aber selbst kein Kulttext, wie ein Dithyrambos, 392 aus dem Jane Ellen Harrison das Drama mit Aristoteles hervorgehen läßt, 393 oder die Veden, auch wenn es einzelne kultische Elemente darstellt, zu denen Orakel, Gebete und Riten gehören. Das religiös-dionysische Ritual kann das attische Drama mithin umschreiben, indem es die Umstände der Aufführung bestimmt, aber nicht beschreiben. 394 Denn selbst wenn man wie die Cambridge Ritualists in der Nachfolge Nietzsches 395 (vgl. 1.4.8 Alternative Tragikkonzepte: Nietzsche, Benjamin, Bohrer, A. Schmitt) postuliert, daß der Dionysos-Mythos bzw. der Mythos eines gestorbenen und wiederauferstandenen Gottes das archetypische Substrat der Tragödienhandlung sei und dabei sogar einzelne Handlungsschritte korreliert, 396 ist das für das Verständnis eines Stückes Relevante seine individuelle Gestaltung, 397 in der die Handlungsstruktur eine prominente Stellung hat. Für diese sind Opfer und Ritual wie der Mythos nur ein Substrat, das die Individualität der künstlerischen Gestaltung des jeweiligen Dramas bloß deutlicher hervortreten läßt. 398 Aus diesen Gründen tritt eine Poetik der Trans- 392 Renate Schlesier, Der göttliche Sohn einer menschlichen Mutter. Aspekte des Dionysos in der antiken griechischen Tragödie. In: Anton Bierl, Rebecca Lämmle, Katharina Wesselmann (Hgg.), Literatur und Religion. Wege zu einer mythisch-rituellen Poetik bei den Griechen. MythosEikonPoiesis 1. 2 Bde. Berlin 2007, Bd. 1, 303-334, h. 307, 309. 393 Ancient Art and Ritual. New York 1913. Ndr. London 1951, Westport, Conn. 1969, 75-79, 123 f. 394 Für einen fundierten und kritischen Forschungsüberblick über die verschiedenen ritualorientierten Ansätze s. Rainer Friedrich, Everything to Do with Dionysos? Ritualism, the Dionysiac, and the Tragic. In: Michael S. Silk (Hg.), Tragedy and the Tragic. Greek Theatre and Beyond. Oxford 1996, 257-283. 395 Hierbei handelt es sich um Ähnlichkeiten des Deutungsansatzes (Friedrich 1996: 260 hebt durchaus Unterschiede hervor). Der konkrete wissenschaftsgeschichtliche Rezeptionszusammenhang muß hier offenbleiben. Bierl 2007a: 8 f. spricht, was die zentrale Stellung von Euripides’ Bakchen angeht, von „Anlehnung an F. Nietzsche“. 396 Friedrich 1996: 259-261. Friedrich 1996: 260 zitiert hier Gilbert Murrays Schema (die Kursivierungen stammen von ihm) 1. Agon bzw. Wettbewerb des Jahresgottes gegen seinen Gegner, Licht gegen Finsternis, 2. Pathos des Jahresgottes bzw. ritueller oder Opfertod mit Steinigung oder , 3. Botenbericht über den Tod, der selten unmittelbar dargestellt werde, 4. Threnos oder Wehklage, 5. und 6. Anagnorisis bzw. Wiedererkennung, gefolgt von der Wiederherstellung und Wiedergeburt des Gottes und seiner Epiphanie bzw. genauer Theophanie (Ritual Forms in Greek Tragedy. In: Jane Ellen Harrison, Themis. A Study of the Social Origins of Greek Religion. London 1963, 341-363, h. 342 f.). 397 Vgl. Bohrer 2009: 222: „Überhaupt stellt sich die Frage, ob strukturalistische Analogisierung von tragischem Helden und mythischem Doppelgänger zur Einsicht in das Tragische beiträgt.“ 398 Diese klare heuristische Schärfung der Poetizität über Mythos und Ritual findet sich nicht bei Anton Bierl, Literatur und Religion als Rito- und Mythopoetik. Überblicksartikel zu einem neuen Ansatz in der Klassischen Philologie. In: Ds., Rebecca Lämmle, Katharina Wesselmann (Hgg.), Literatur und Religion. Wege zu einer mythisch-rituellen Poetik bei den Griechen. MythosEikonPoiesis 1. 2 Bde. Berlin 2007, Bd. 1, 1-76, h. 1-7. Der Basler Gräzist vertritt zwar nicht die Ansicht, die aufführungsgebundene frühe griechische Literatur sei durch ihren rituellen Kontext determiniert. Doch bestreitet er aufgrund dieser Kontextualisierung und Performanz nicht nur die Autonomie auch der dramatischen Literatur, sondern überhaupt deren Status als Literatur, der diesen Texten „erst im Zuge literaturgeschichtlicher Betrachtung“ zugesprochen worden sei (2007: 5). Renate Schlesier verortet die Autonomie der fraglichen Texte dagegen treffend „in einem radikal individuellen Perspektivismus“ (2007: 310). <?page no="154"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 140 gression keinesfalls, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, zu sich selbst in Widerspruch, wenn sie sich von ethnologischen Theoremen wie Ritual und Opfer distanziert. Zudem performieren die Schauspieler primär kein iteratives Ritual, das lediglich den Rahmen der Aufführung bietet, sondern ein singuläres Kunstwerk. Der Begriff des Spiels verbindet das iterativ regularisierte Ritual, die Innovation, Improvisation, aber auch die Mimesis und Repräsentation. Er eignet sich also besonders zur Beschreibung des antiken Dramas. Ruth Sondereggers Positionierung gegen eine ästhetische Hermeneutik 399 und die dadurch implizierte Negation eines semiotischen Spielbegriffs wird dadurch relativiert, daß das Schauspiel mit den usuellen Zeichen und im Falle des Metatheaters seinen eigenen Konventionen spielt. Wolfgang Braungart versucht dagegen über die Inszeniertheit und ästhetische Elaboriertheit einen kulturwissenschaftlichen Ritualbegriff von einem biologisch-ethologischen und sozialen abzugrenzen und wendet sich gegen die Reduzierung des Ritualbegriffs in den Kultur- und Sozialwissenschaften auf Konvention, Ordnung und Wiederholung, 400 ein berechtigter Einspruch gegen die bloße Reproduktion gesellschaftswissenschaftlicher Analysekategorien in der Literaturwissenschaft, dem die vorliegende Arbeit im Falle der Transgression dadurch Rechnung tragen will, daß sie deren ästhetische Seiten und poetische Transpositionen beleuchtet. Doch sind Inszeniertheit und ästhetische Elaboriertheit sozialhabituale bzw. formalistische Charakteristika jedweder Kunst und erfassen in Verbindung mit dem Ritualbegriff nur den Literaturbe- und -vertrieb - es sei denn, man verortet diesen ästhetischen Ritualbegriff in den Kunstwerken selbst, ohne sie zu bloßen Reflexen sozialer oder religiöser Rituale zu reduzieren. Ein in die literarischen Kunstwerke selbst implementierter ästhetischer Begriff des Rituals 401 kann in dieser Arbeit die performative Seite von Topologie und Phraseologie und im Drama die Funktion und feste Abfolge der einzelnen Teile beschreiben. Während hier doch die Iteration des Rituals und sein daran geknüpfter symbolischer Gehalt nicht verneint werden können, kann die Transposition des religiösen Rituals auch der ästhetischen Singularisierung der Transgression als literarisch-dramatisches Ereignis dienen. Gerade an Euripides’ Medea soll gezeigt werden, wie die Transgression des Kindermordes als Schlachtopfer inszeniert wird und dadurch eine hohe synästhetische Elaboriertheit aufweist (s. 3.2.4 Darstellung und intratheatralische Inszenierung der Transgression in der Interpretation dieser Tragödie), das ursprünglich religiöse 399 Für eine Ästhetik des Spiels. Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigensinn der Kunst. Frankfurt a.M. 2000. 400 Ritual und Literatur. Habil. Gießen 1993/ 94. Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 53. Tübingen 1996, 43-48. 401 Vgl. das Vorwort von Gerhard Neumann, Rainer Warning (Hgg.), Transgressionen. Literatur als Ethnographie. Freiburg i.Br. 2003, 7 f. Gerhard Neumann, Begriff und Funktion des Rituals im Feld der Literaturwissenschaft. In: Ds., Sigrid Weigel (Hgg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München 2000, 19-52, h. 36- 38, der entsprechend der Themenstellung dieses Sammelbandes das Verhältnis von Ethnographie, Kultur- und Literaturwissenschaften verhandelt (s. 1.2.1 Dramatische Transgression von Struktur und Identität), behandelt die Theatralität und Inszenierung dagegen als Merkmale der sozialen Rituale. <?page no="155"?> 2.2 Ritual, Opfer, Mythos und Performanz 141 Ritual des Opfers also anhand seiner eliminatorischen Komponente, die es mit der Transgression teilt, zum (literar)ästhetischen Ereignis wird. Dabei schlägt sich sein vormaliger sozialer Rahmen literarisch in der Performanz vor Binnen- und Bühnenpublikum nieder. Walter Benjamin bringt die religiöse und ästhetische Ritualfunktion im Bereich der Kunst in eine historische (und evolutionäre? ) Sukzession, statt wie hier in eine strukturell-perspektivische Hierarchie, wenn er der auratischen Daseinsweise des Kunstwerks seine zuerst religiöse, dann ab der Renaissance ästhetische Ritualfunktion zuordnet. 402 Braungart sieht in Selbstzweckhaftigkeit und Selbstbezüglichkeit eine Verwandtschaft des Rituals „mit dem als autonom verstandenen Kunstwerk“ (1996: 101). Diese These findet in der attischen Tragödie eine Bestätigung durch die Koinzidenz von Ritual und Intratheater in Aischylos’ Persern und Euripides’ Medea, wobei hier das religiöse Ritual, das nur in den Persern performiert, aber bereits in der Medea in einer pervertierenden Umcodierung nur zitiert wird, zum Ausgangspunkt einer Entwicklung literarischer Autonomie wird, die vom Intrazum Metatheater fortschreitet. Ohne ausdrücklichen Bezug auf die Cambridge Ritualists, sondern aufbauend auf Georges Bataille und René Girard, hat Bernhard Teuber jüngst den Versuch unternommen, die antike Tragödie vom Opferritual her zu deuten. Dieser Brückenschlag erfolgt mit Hilfe der Transgression, was Teubers Ansatz für die vorliegende Arbeit in höchstem Maße einschlägig macht. Daß Teuber manches nur thesenartig skizziert und oft Belege schuldig bleibt, tut seiner kühnen und erfrischend inspirierenden, aber dennoch stringenten Argumentation keinen Abbruch. Anknüpfend an die beiden vorgenannten französischen Denker vertritt der Münchner Romanist die These, „daß im Zentrum jeder Tragödie die gewaltsame Tötung eines im Prinzip Unschuldigen stehe, wodurch die Bühnenhandlung die Züge einer Opferung annehme, die Aufführung selbst zur Aktualisierung eines solchen Opferrituals gerate.“ 403 Dies führt Teuber nur an einem Tragödienstoff vor, der kindermordenden Medea. In einem früheren Beitrag hieß es dagegen, die Handlung laufe auf „den gewaltsamen Tod eines tragischen Helden oder seiner Mitspieler“ zu. 404 Die Tötung des Opfertiers sei dabei, so Teuber, eine Transgression des allumfassenden Tötungsverbotes, welches das gesellschaftliche Zusammenleben erst ermögliche. Die empirische Gültigkeit dieser an sich richtigen Beobachtung sei dahingestellt, 405 zutreffend ist jedenfalls die sich 402 Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a.M. 6 1973, 20. 403 Der un/ darstellbare Kindermord. Tragische Transgression und Ethnographie der Tragödie am Beispiel der Medea. In: Gerhard Neumann, Rainer Warning (Hgg.), Transgressionen. Literatur als Ethnographie. Freiburg i.Br. 2003, 243-255, h. 243. 404 Die frühneuzeitliche Tragödie als Opfer auf dem Theater? Inszenierungsformen ritueller Gewalt im spanischen Barock und in der französischen Klassik. In: Gerhard Neumann, Sigrid Weigel (Hgg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München 2000, 79-99, h. 84. 405 In Stammesgesellschaften von Jägern und Sammlern sind gewaltsame Todesfälle bei Männern eher die Regel als die Ausnahme (Jared Diamond, Arm und Reich. Aus dem Amerikanischen von Volker Englich. [Orig. Guns, Germs, and Steel. The Fates of Human Societies. New York 1997] Frankfurt a.M. 2 1999, 339). Erst die erheblich höhere Populationsdichte von Ackerbauern erzwingt eine Aggressionsökonomie. <?page no="156"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 142 anschließende Feststellung, daß das Ritual die Transgression reguliert und sanktioniert, also, wie ich es nennen möchte, die Gewalt zivilisiert. Wichtige Elemente, so möchte ich anmerken, sind dabei der religiöse Bezug, welcher im wahrsten Sinne ein transzendentes Moment in die regellos wütende Gewalt bringt, und die Öffentlichkeit des Opfers, das vor der versammelten Gemeinschaft stattfindet. Durch diese höhere Zweckmäßigkeit und Sanktionierung ist aber die Gewalt kein Regelverstoß mehr, sondern wird als ein fest institutionalisierter Teil in das soziale System integriert, der qua etabliertes soziokulturelles Verfahren in Krisensituationen die Ordnung wahren oder wiederherstellen soll. 406 Die Transgression wird also dadurch, daß die ihr innewohnende Gewalt mit Hilfe des Rituals in das soziokulturelle System integriert wird, zum Motor von dessen Innovation (vgl. 1.4.7 Tragik, Paradox und Dialektik: Pascal und Szondi), aber selbst dadurch eliminiert. Transgression und Ritual sind also zivilisationsgenetisch verknüpft, schließen einander aber begrifflich aus. Ganz anders verhält es sich mit den in der Tragödie dargestellten Gewalttaten und Morden. Mit dem Opfer gemeinsam haben sie nur das kollektive Publikum und das Bewußtsein um die grundsätzliche Illegitimität von Gewalt, da ihre optische Präsentation bisweilen als problematisch empfunden wurde 407 und sie von einer späteren (post)hellenistischen Regelpoetik gänzlich hinter die Bühne verbannt wurde (vgl. Hor. ars 185: ne pueros coram populo Medea trucidet). Doch gerade dies zeigt ebenso wie ihr individueller Vollzug im Drama, daß sie eine Normübertretung darstellen. Der Unterschied zwischen öffentlichem Opferritual und individuellem Abschlachten tritt augenfällig in Pasolinis Medea hervor, wo Medea eingangs das Opfer eines jungen Mannes verfolgt, der in einem Sparagmos zerstückelt als Fruchtbarkeitsritual auf die Felder verstreut wird. Teuber hebt bei diesen beiden Filmszenen nur auf den Unterschied von dargestellt und nichtdargestellt ab, welch letzteres Merkmal die tragische Transgression charakterisiere (2003: 254). Dies vereinfacht nicht nur die Entwicklung der dramaturgischen Praxis und des Publikumsgeschmacks zur Zeit der attischen Tragödie schematisch. 408 Außerdem läßt Teuber als weiteren Unterschied außer acht, daß 406 Die restaurativ-integrative (und kommunikative) Funktion des Opfers als soziales Verfahren betont auch Segal 1986: 27 f. 407 Andreas Mehl, Mord im Theater: Euripides’ zwei „Medeen“ und einige Folgerungen. In: Michael Hillgruber, Rainer Lenk, Stefan Weise (Hgg.), Hypotheseis. Festschrift für Wolfgang Luppe zum 80. Geburtstag. Archiv für Papyrusforschung 57/ 2 (2011) 274-288, h. 275 weist anhand neuer Zeugnisse und der Neuinterpretation bereits bekannter überzeugend heraus, daß Euripides mit Rücksicht auf das Publikum seine Medea so umgearbeitet habe, daß in der zweiten, uns erhaltenen Version der öffentlich Mord an den eigenen Kindern, den noch die erste Version zeigte, getilgt sei. 408 Mehl 2011: 279-287 arbeitet gegen die achrone communis opinio der modernen Forschung treffend heraus, daß erst zur Zeit von Euripides’ Medea die Konvention faßbar werde, Mord und Gewalttaten nicht offen zu zeigen. (Ob sich hier die Unterscheidung der vorliegenden Arbeit zwischen (eliminatorischer) Transgression und Eliminierung fruchtbar machen ließe, steht auf einem anderen Blatt.) Näheres, v.a. die interpretatorischen Konsequenzen für Euripides’ Medea, s. das Unterkapitel 3.2.4 Darstellung und intratheatralische Inszenierung der Transgression bei der Besprechung von Euripides’ Medea. Der Verzicht auf die Darstellung der Gewalttat geht mit demjenigen auf den Tod überhaupt in der Tragödie des 4. Jh.s einher, den Ari- <?page no="157"?> 2.3 Zeichenbegriff, Mimesis und Ästhetik 143 das Fruchtbarkeitsopfer jährlich wiederkehrt, während Medeas Tat nicht nur individuell und geheim, sondern auch singulär bleibt und außerhalb der Ordnung steht. Das Opferritual stand bereits im Mittelpunkt von Teubers früherem Beitrag, in dem er René Girards Opfertheorie mit Hilfe von Bataille abschwächte und auf je zwei frühneuzeitliche spanische und französische Dramen anwandte. Girards Theorie, das Opfer entspringe Perturbationen sozialer Rollenoppositionen (crise sacrificielle), die ein bellum omnium contra omnes nach sich zögen und deren Gewalt nur durch die Ausschaltung eines Sündenbocks beendet und institutionalisiert werde, entspricht genau dem hier vertretenen sozialen Mechanismus, die Eliminierung folge auf Rollen- und Positionskonflikte und münde in eine neue Ordnung. Freilich wird der Lynchmord am Sündenbock, der Sparagmos, nach Girard „im Ritual wiederholt und im Mythos rationalisiert“. 409 Auch für Girards Lektüre der griechischen Tragiker, die bei der Interpretation des OT (s. 2.1 Einleitung: Bisherige Interpretationen und der vorliegende Ansatz in der Interpretation dieser Tragödie) und von Euripides’ Bakchen näher besprochen werden soll, gilt, daß sie durchaus ein kulturgeschichtliches Substrat dieser Gattung aufzeigen, 410 aber nicht ihre literarischen Wesenszüge und das Funktionieren ihrer Handlung erfassen kann. Tragödien auf den Widerschein gesellschaftlicher Praktiken und archaischer Riten zu reduzieren mutet wie eine Neuauflage der platonischen Einstufung der darstellenden Nachahmung als (R. 602c 1 f.) in der hermeneutischen Praxis an und vernachlässigt die Autonomie des poetischen Textes. 2.3 Zeichenbegriff, Mimesis und Ästhetik Dieses Kapitel will zuerst kurz die Fülle von Zeichenbegriffen vorstellen, die das Abendland seit der Antike hervorgebracht hat. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf den unterschiedlichen Kriterien, nach denen diese Konzepte klassifiziert werden (Keller: repräsentationistisch vs. instrumentalistisch, Mersch: semiotisch vs. semiologisch). Das Augenmerk soll dann im folgenden Hauptteil auf die Anwendbarkeit dieser Zeichenbegriffe auf das antike Drama gerichtet werden. Dies gilt auch für die Frage nach einem spezifischen Zeichenbegriff für das Kunstverständnis, wobei jüngst von Dieter Mersch die Materialität eines solchen ästhetischen Zeichens thematisiert wurde. Die Auseinandersetzung mit Mersch ist dabei keine abstrakte Debatte, die um der kunstphilosophischen Vollständigkeit und theoretischen Absicherung willen geführt werden müßte. Vielmehr bietet Mersch - unter Berücksichtigung aktueller Zeichentheorien - die systematische Ausarbeitung einer phänomenologischen Ästhetik, die bereits Bert O. States für das Theater unter Zurückweisung von dessen semiotischer Interpretastoteles kritisiert (Hellmut Flashar, Die Poetik des Aristoteles und die griechische Tragödie. Poetica 16 (1984) 1-23, h. 8). 409 Teuber 2000: 82 f. 410 Vgl. Teuber 2000: 83: „Die Tragiker selbst sind demnach lediglich Beobachter erster Ordnung, während Girard […] den Standpunkt eines Beobachters der Beobachter einnehmen will.“ <?page no="158"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 144 tion entwickelt und theoretisch anspruchsvoll verankert hat 411 und welche durch dessen mimetischen Charakter eine besondere Relevanz gewinnt. 412 Eine phänomenologische (Theater-)Ästhetik stellt also eine theoretische wie - vor dem Hintergrund ihrer Fundiertheit - pragmatische Herausforderung eines semiotisch-strukturalistischen Ansatzes in der Drameninterpretation dar. Der älteste zeichentheoretische Gegensatz, den Rudi Keller entwickelt, besteht zwischen einem repräsentationistischen und einem instrumentalistischen Zeichenbegriff. Der instrumentalistische hebt auf den Werkzeugcharakter der Sprache ab und wird, so Keller, neben drei anderen, bis heute gültigen Erkenntnissen (Arbitrarität der Zeichen, Handlungscharakter des Redens, Funktionsbestimmung der Sprache über Kommunikation, Klassifikation und Repräsentation) bereits in Platons Kratylos 413 erarbeitet. 414 Die bei Platon noch implizite Unterscheidung zwischen der linguistischen Ebene der Zeichen, der epistemischen der kognitiven Korrelate und der ontologischen der Dinge wird nach Keller (1995: 36 f.) erstmals von Aristoteles eingangs De interpretatione (16a 3-8) anhand von getroffen, 415 der damit zum ersten Vertreter der repräsentationistischen Zeichenauffassung wird. Der Stageirit geht hierbei bereits sehr modern von vier Elementen des Zeichengebrauchs aus: Schrift, Laut, Bewußtseinsinhalt ( ) und Dinge ( ). Bewußtseinsinhalte und Dinge werden als universell-identisch angesehen. Zwischen ihnen besteht ein Ähnlichkeitsverhältnis ( ). Ein symbolisches Verhältnis ( ), das durch eine konventionelle Zuordnung charakterisiert ist und mit der Relation von (eigentlichem) Zeichen und Gegenstand genau dem entspricht, was Charles S. Peirce als symbolisches Zeichen benannte, 416 besteht dagegen zwischen Bewußtseinsinhalten und Lauten sowie, entsprechend der phonetisierten Alphabetschrift des Griechischen, zwischen Lauten und Schrift. Das genuine sprachliche Zeichenverhältnis zwischen Laut und Bewußtseinsinhalt faßt der Stageirit auch unter den zeichentheoretisch einschlägigen Terminus . Bereits Aristoteles leistet mit diesem Substantiv den Brückenschlag zwischen Zeichen- und Dramentheorie. Er sprach in der Poetik mit Bezug auf die Tragödie in zwei Zusammenhängen von Zeichen, und zwar einmal in bezug auf die Wiedererkennung, deren schlechteste durch Zeichen geschehe (1454b 19-30: , vgl. 1455a 19 f.), während er der Wiedererkennung, die sich aus der Handlung selbst ergibt, den vom Dichter ersonnenen und denjenigen anhand von Erinnerung und Schlußfolgerungen ( ) den Vorzug gibt (Poet. 1454b 19-1455a 411 Great Reckonings in Little Rooms. On the Phenomenology of Theater. Berkeley 1987, 1-47. 412 States 1987: 6. 413 Vgl. dazu die profunde Analyse von Andreas Eckl (Sprache und Logik bei Platon. Habil. Bonn 2002. Bd. 1: Logos, Name und Sache im Kratylos. Würzburg 2003, Bd. 2: Ideenlogik und Logik der grammatischen Form im Sophistes. Würzburg 2011). 414 Zeichentheorie. Zu einer Theorie semiotischen Wissens. Tübingen 1995, 35. 415 - 416 Karl-Otto Apel, Der Denkweg von Charles S. Peirce. Eine Einführung in den amerikanischen Pragmatismus. Frankfurt a.M. 1975, 225 f. <?page no="159"?> 2.3 Zeichenbegriff, Mimesis und Ästhetik 145 21). Dieser Begriff, der das Zeichen veräußerlicht (die Identität wird auch bei der Erinnerung und den Schlußfolgerungen anhand gewisser zeichenartiger Merkmale festgestellt) und marginalisiert, findet sich noch in Poet. 1462a 5-8, wo die Zeichen qua Elemente der Performanz von Schauspiel, Rhapsodenvortrag und Gesang als Bereich produktionsästhetisch negativer Übertreibung ( - ) erscheinen, was trotz der Ablehnung einen sehr modernen theatersemiotischen Zeichenbegriff erkennen läßt. Beide negativen Äußerungen (auch Pol. 1340a 28-40 sieht die optische Darstellung nur als Zeichen ethischer Züge, die akustische dagegen als deren ) sind jedoch kein Argument gegen einen Seitenblick auf die Poetik im Rahmen einer strukturalistischen Lektüre des antiken Dramas, weil Aristoteles einen weitgehend materiell-körperlich-sinnlichen Zeichenbegriff zugrunde legt. Doch auch damit läßt er aktuelle kunstästhetische Theorien und Debatten anklingen. Bereits Gotthold Ephraim Lessing vollzieht den Brückenschlag von der Zeichenzur Dramentheorie, wenn er in einem Brief an Friedrich Nicolai vom 26.5.1769 schreibt: „denn in dieser [der dramatischen Dichtung] hören die Worte auf willkührliche Zeichen zu seyn, und werden n a t ü r l i c h e [Sperrdruck im Original] Zeichen willkührlicher Dinge.“ 417 Eugenio Coseriu, der hier Lessing für die Geschichte des Zeichenbegriffs erschließt, kann hier noch einen weiteren Passus aus dem 17. Kapitel des Laokoon (1766) beibringen, 418 an dem der große Aufklärungsdichter allgemein im Bereich der Poesie von der Linearität und Arbitrarität der Zeichen ausgeht, um daraus die Möglichkeit der Dichtung abzuleiten, räumliche Körper zu beschreiben. 419 Dies ist nicht nur ein interessanter Brückenschlag von der bildenden zur Sprachkunst, sondern impliziert auch deren Universalität gegenüber der Materialität der bildenden Kunst und ist damit an hochaktuelle Debatten unserer Zeit anschlußfähig, die wir bei der Besprechung Dieter Merschs näher kennenlernen werden. Einstweilen bleibt jedoch bei Lessings Transfer der Zeichentheorie auf das Drama festzuhalten, daß er wie diese Arbeit von einer Gestuftheit der Zeichen ausgeht: Die (willkürlichen) sprachlichen Zeichen werden ihrerseits im Drama zu Zeichen für Dinge. Daß Lessing die sprachlichen Zeichen in dieser Funktion ‚natürlich‘ nennt, liegt wohl an der theatralischen Mimesis und dem ihr in der Tragödie und ab der Neuen Komödie eigenen Realismus und daran, daß die sprachlichen Zeichen und ihre Referenzzuordnungen für die Bühnenkunst - auch deshalb - ein nicht mehr leicht zu änderndes Vorfindliches sind. 417 Sämtliche Schriften. Hg. v. Karl Lachmann und Franz Munkner. Bd. 17, Leipzig 3 1904. Ndr. Berlin 1968, S. 291 Z. 20-22. 418 L’arbitraire du signe. Zur Spätgeschichte eines aristotelischen Begriffes. Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 204 (1962) 81-112, h. 85. 419 „[...] die Zeichen der Poesie sind nicht bloß aufeinander folgend, sie sind auch willkürlich; und als willkürliche Zeichen sind sie allerdings fähig, Körper, so wie sie im Raume existieren, auszudrücken.“ Sämtliche Schriften. Hg. v. Karl Lachmann und Franz Munkner. Bd. 9, Stuttgart 3 1893, S. 101 Z. 4-7. <?page no="160"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 146 2.3.1 Merschs und States’ phänomenologische vs. eine semiotischtransgressive Ästhetik Dieter Merschs ästhetisch-phänomenologischer Zeichenbegriff öffnet diesen an seinen liminalen Extremen, zum Infrarot und Ultraviolett, und ist damit theoretisch transgressiv: Er hebt nicht nur im Bereich des signifiant auf die Materialität und sinnliche Wahrnehmung des Zeichens ab, was mit seiner sensualistischen re-etymologisierten Verständnis der Ästhetik als des „Aisthetischen“ korreliert (2002: 18), sondern betont mit dem Bereich des Unsagbaren auch dessen referentielle Grenzen. 420 Seine Doxographie ignoriert Kellers pragmatisches Kriterium zugunsten des Zeichenkonstituens. Er sieht Aristoteles und Gottlob Frege, die bei Keller als Repräsentationisten gelten (2002: 43-57), zusammen mit Ludwig Wittgenstein, der bei Keller als Instrumentalist firmiert (2002: 58-70; Platon fehlt bei Mersch), als Vertreter der semiotischen Tradition, zu der Wilhelm von Ockham, Charles Sander Peirce und Nelson Goodman gehörten und die das Zeichen über seinen Repräsentations- und Substitutionscharakter bestimme. Dagegen sei de Saussure zusammen mit seinen Nachfolgern Roman Jakobson, Roland Barthes, Jacques Lacan und Jacques Derrida der semiologischen Denkschule zuzurechnen, die Zeichen als „Stelle innerhalb eines Differenzsystems erklärt“. 421 Die Formalisierung dürfe hier nicht durch eine Funktion, sondern „nach dem Schema der Algebra [Kursiv. im Orig.] in Form einer Matrix erfolgen“. 422 Mersch konstatiert die grundsätzliche Differenz dieser beiden Theorien trotz wissenschaftsgeschichtlicher Konvergenz. 423 In der Tat sind die beiden Aspekte nur theoretisch zu isolieren, für einen erfolgreichen Zeichengebrauch können sie nicht getrennt werden (hier rächt sich Merschs Absehen von pragmatischen Aspekten). Denn die Abgrenzbarkeit zweier Sinnträger ist die unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren der Semiose, wie wir am Beispiel der Doppelgängerdramen binnendramatisch und -pragmatisch sehen werden. Die beiden genannten semiotischen Richtungen des Pragmatismus und Strukturalismus koinzidierten „in der Vernachlässigung oder Reduktion der Materiali- 420 Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2002, 17, vgl. das Zitat aus einer Mitteilung Adornos an Benjamin im Frontispiz auf S. 7: „Ich bin der Überzeugung, daß unsere besten Gedanken allemal die sind, die wir nicht ganz denken können.“ 421 Das ist freilich eine Vereinfachung von Saussures Zeichenmodell, der - von Derrida nicht zur Kenntnis genommen - erst in seinen nachgelassenen Notes item einen neuen Zeichenbegriff erwog, der auf den Nexus signifiant und signifié verzichtet und den Sinn nur noch durch Abgrenzung (Seme vs. Paraseme) stiftet (Linguistik und Semiologie. Notizen aus dem Nachlass. Texte, Briefe und Dokumente. Gesammelt, übersetzt und eingeleitet von Johannes Fehr. Frankfurt a.M. 1 1997, 358-364), so Manfred Frank (Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt a.M. 1 1983 = 6 2001, 89 f.). Mit dem Begriff der transversalen Identität, die primär auf der syntagmatischen Abfolge der Segmente beruht und darauf aufbauend die Identität durch Abgrenzung und Zeichen konstituiert (Ferdinand de Saussure, Wissenschaft der Sprache. Neue Texte aus dem Nachlaß. Hg. und mit einer Einleitung versehen von Ludwig Jäger. Übersetzt und textkritisch bearbeitet von Elisabeth Birk und Mareike Buss. Frankfurt a.M. 2003, 80), bricht Saussure den Zeichen- und Identitätsbegriff weiter auf. 422 Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. Habil. Darmstadt 2000. München 2002, 13 f. 423 Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. Habil. Darmstadt 2000. München 2002, 14 f. <?page no="161"?> 2.3 Zeichenbegriff, Mimesis und Ästhetik 147 tät.“ 424 Mersch entphysikalisiert seinen Begriff von Materialität und rückt ihn ans Phänomenologisch-Existentielle heran: Unter Materialität sei „kein vordergründig Stoffliches zu verstehen, vielmehr etwas, was sich von dort her erst ereignet: Erscheinen, das kein „Etwas“ beinhaltet, keine Erscheinung-als, sondern vornehmlich ein Wirken, das geschieht [Kursivierungen und Anführungszeichen im Orig.].“ 425 Indes ist bereits Saussures Zeichenbegriff sowohl als signifié als auch als signifiant insofern der philosophischen Phänomenologie verpflichtet, als er das sprachliche Zeichen nicht als Sache und Namen, sondern - wie Aristoteles - als Konzept sowie akustisches Abbild auffaßt, wobei letzteres nicht der materielle Ton, sondern „l’empreinte psychique de ce son, la représentation que nous en donne le témoignage de nos sens“ sei (CLG 98). 426 Mersch stößt sich vor allem an Saussures These von der Arbitrarität der Zuordnung von signifiant und signifié, die er in der Tradition der abendländischen Metaphysik und des europäischen Idealismus verankert (2002: 136 f.). Dagegen macht er nun doch wieder - ganz in der Spur des Stageiriten - die physikalische Materialität des Zeichens stark (2002: 138): „Kein Zeichen vermöchte etwas zu sagen oder auszudrücken, würde es sich nicht ebenso manifestieren - als Laut, der benennt, als Spur oder Zeichnung im Sand, die auf ein Anderes verweisen, als symptomatische Veränderungen der Haut, die eine Krankheit anzeigen, oder als auf dem Gesicht aufgetragene Schminke, die etwas zu verbergen oder anzustellen trachtet.“ Merschs Hinweis hat auch für die mimetische literarische Großgattung ihre Berechtigung. Ihre beiden Sinnträger Optik (Theater) und Akustik (Dramentext), deren Dualität dem hybriden Charakter der Gattung als Vorstellung des gesprochenen Wortes entspringt, sind selbst in der literarischen Fiktion sinnlich-aisthetischer Natur. Die von Mersch betonte Notwendigkeit der material-sinnlichen Wahrnehmbarkeit des Zeichenträgers und des sensualistischen Elements der Semiose kommt in der Ambivalenz des deutschen Substantivs ‚Sinn‘ bestens zum Ausdruck. Freilich zielt Mersch hier auf sämtliche Zeichentheorien ab: Seine tour d’horizon reicht von Saussure (Laut) und Derrida (Spur) über Peirce’ index (Hautveränderung) 427 bis zu Barthes (Schminke). Der Universalität und Multiversabilität seiner Kritik bzw. seines Gegenentwurfs opfert er die Spezifik eines ästhetischen Zeichenbegriffs. Dabei besteht für einen solchen, transgressiven, durchaus Raum: Er ist im unmittelbaren Erleben des ästhetischen Objektes anzusiedeln, das von vorfindlichen Zeichensystemen abstrahiert, diese transzendiert und dabei andere, unmittelbare Merkmale bzw. Markierungen als relevant 424 Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. Habil. Darmstadt 2000. München 2002, 135. 425 Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. Habil. Darmstadt 2000. München 2002, 134. 426 Saussures Terminologie erinnert hier sehr stark an die stoische Definition der als (SVF I 58, 484, II 53, 56, 458) bzw. auch noch (SVF II 59) (wobei gewiß eingeräumt werden muß, daß die an den genannten Stellen keine semiotische Implikation hat), wie denn auch sein Begriffspaar signifiant / signifié das stoische / widerspiegelt (SVF II 136-169; vgl. D.L. 7.43 & 62 [fehlen SVF]). 427 S. dazu Apel 1975: 225-227. Für das Verhältnis von Peirce’ dreigliedrigem Zeichenbegriff, v.a. des Index zu Luis Prietos Unterscheidung der verbalen wie nichtverbalen Zeichen in nichtintentionale (Indices) und (Signale) s. Ubersfeld 1996: 22 f. <?page no="162"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 148 erachtet, wobei ein notwendiger Nexus zwischen konkretem Erleben und spezifischer Materialität dahingestellt sei. Mersch läßt eher beiläufig einen solchen Zeichenbegriff anklingen (2002: 83): „Kunst [drückt] ihr Symbolisches dadurch aus, daß sie sich sinnlich verkörpern muß, so daß von ihr das Materielle, durch die [sic! ] sich ihre Signifikanz allererst ausstellt, nicht subtrahiert werden kann.“ Hier deutet sich Merschs forcierte, nachgerade programmatische Opposition von künstlerisch-phänomenologischer Materialität und Symbolischem an. Sie stellen eine Bürde für den Transfer seiner Theorie auf das Theater dar, der wegen dessen Präsenz und Sinnlichkeit so vielversprechend scheint, da das Theater parallel zu diesen Merkmalen vom symbolisch verfaßten Dramentext dominiert wird. Für eine Anwendung auf die antike Bühnengattung kann der Rezipient keinen Transfer vornehmen, sondern muß Merschs Modell kreativ adaptieren, freilich auf die Gefahr hin, sich dem Vorwurf der Verbiegung Merschs oder seiner selbst auszusetzen. Jedenfalls bietet das Theater als Schauspiel einen klaren Anknüpfungspunkt für die bei Mersch präponderante Kategorie des Bildes. Es ist selbst in der Evokation durch den Dramentext die filmgleiche, aber sprachlich artikulierte Abfolge einzelner Bilder. Ja, Theater wie Drama funktionieren elementar nur über die physische wie suggestive Vorstellung materialer Schauspieler, die erst zu Medien des Dramentextes werden. Sie sind damit diejenige Großgattung, die sich konstitutiv unabdingbar und am meisten über die Optik vollzieht. Ihre Fiktionalität ist damit in hohem Maße bildschaffend. Das bildschaffende Vermögen faßt die vorliegende Arbeit also als Subspezies der Fiktion und vis poetica auf. Auch wenn es ohne Künstler und Rezipient nicht existieren kann, wird das Kunstwerk als sein Sitz angesehen. 428 Entsprechend Merschs Kategorien des Sagens und Zeigens, auf die wir im weiteren Verlauf dieses Unterabschnitts zu sprechen und im nächsten Unterabschnitt 2.3.2 Strukturalistisch-semiotische Dramenästhetik näher eingehen werden, läßt sich das Bildschaffen der Theateraufführung als bildzeigend und dasjenige des Dramentextes als bildsagend einstufen. Diese beiden Qualifikationen sind anders als das oben eingeführte ‚bildschaffend‘ reproduktiv. Als Oberbegriff für den reproduktiven Umgang mit Bildern bietet sich ‚Bildgebung‘ an, während das Erschaffen von Bildern als ‚bildschöpfend‘ zu bezeichnen wäre. In dieser Arbeit bleibt der Ausdruck ‚imaginativ‘ der Bildschöpfung vorbehalten, die über den Dramentext erfolgt, sei dies nun mimetisch oder diegetisch durch Schilderungen vor oder hinter der Bühne simultan zum Bericht der Figur stattfindender Ereignisse in Form einer Ekphrasis (für einen an das Drama angepaßten dynamisierten Begriff dieser rhetorischen Figur s. 8.2 Facetten und Darstellung der Transgression in der Zusammenfassung). (Denn neben der Mimesis erfolgt die Bildgebung in der Diegesis.) Auch die Theatralität bzw. das Theatralische als der stilistische Modus, der dem Theater zugeordnet, aber nicht auf es beschränkt ist (s. 1.4.8 Alternative Tragikkonzepte: Nietzsche, Benjamin, Bohrer, A. Schmitt), läßt sich nicht 428 Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a.M. 1 1993, 2 2001, 292-411 abstrahiert dagegen von der Etymologie des Adjektivs ‚imaginär‘ und scheint das Fiktive produktionsästhetisch und das Imaginäre rezeptionsästhetisch zu bestimmen. <?page no="163"?> 2.3 Zeichenbegriff, Mimesis und Ästhetik 149 auf die Optik reduzieren. Sein Wesenskern ist zwar das Zeigen und Sehen-Machen, das jedoch auch diegetisch in der Ekphrasis geschehen, in anderen Gattungen anzutreffen sein und außerhalb des Theaters in öffentlich-sequentialisierten Aufführungen und Ritualen stattfinden kann. 429 Das Zur-Schau-Stellen, das Ostentative, das qua Geste und Habitus auch sprachlich erfolgen kann und eine Emphatisierung des Zeigens darstellt, das der Theatralität zugrunde liegt, kennzeichnet dagegen die Theatralik (vgl. 7.5 Metatheater, fehlende Tragik und die Dramaturgie der Distanzierung und 7.6.2 Formal-komparatistischer Ausblick in der Phaedra-Interpretation), der faute de mieux ebenfalls das Adjektiv ‚theatralisch‘ zugeordnet ist. Zumeist faßt Dieter Mersch im Kapitel „Wirkung und Aura der Kunst“ 430 die hier diskutierte Wirkung, v.a. anhand der darstellenden Kunst, phänomenologisch und antisymbolisch oder sogar als inhärente Subvertierung und Verabschiedung des Symbolischen. Diese These vertritt er kompromißlos und dezidiert. Den in dieser Arbeit vorgestellten transgressiven ästhetischen Zeichenbegriff formuliert Mersch in dieser Antithese (2002: 82; Kurs. im Orig.): „Anzeige einer Grenze als unmögliche Anzeige sowie ihre Überschreitung als ihre unmögliche Überschreitung, die gleichwohl imstande ist, zu jenem anderen Territorium hinüberzuleiten, das die Kunst bewohnt: das Sichzeigen als das Andere des Sagens.“ Adorno, auf den Christoph Menke-Eggers zurückgreift, um die auch in der vorliegenden Arbeit vertretene transgressive Ästhetik mit Hilfe der Begriffe Souveränität und Vernunft zu formulieren, 431 dient Mersch als Kronzeuge für seine antihermeneutische Ästhetik (2002: 82). 432 Und doch sind der Status als „Rätsel“ und die „Unbegreiflichkeit“, die Adorno in Merschs wörtlichen Zitaten den Kunstwerken zuschreibt, durchaus mit dem ihnen in demselben Atemzug abgesprochenen Status als „hermeneutische Objekte“ vereinbar, 433 und zwar dann, wenn man wie die vorliegende Arbeit die semantische Irreduzibilität als ein Wesensmerkmal (wenn auch nicht als erschöpfendes Alleinstellungsmerkmal) von Kunst ansieht (s. 3.2 Zu einer Poetik und Hermeneutik der Transgression). Die Interpretation beschreibt dann immer einzelne Strahlen der Ekstasis oder Aura des Kunstwerks (vgl. Mersch 2002: 18) oder wie man dessen rezeptive Manifestationen auch immer benennen will. Ich spreche bewußt von ‚beschreiben‘ und ‚verstehen‘, statt von ‚begreifen‘ und ‚erfas- 429 Vgl. S. 7 f. im Vorwort, das Gerhard Neumann zusammen mit Rainer Warning verfaßt hat (Transgressionen. Literatur als Ethnographie. Freiburg i.Br. 2003, 7-16). 430 Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. Habil. Darmstadt 2000. München 2002, 75-99. 431 Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida. Frankfurt a.M. 1988, 10: „Souverän ist demnach die ästhetische Erfahrung, sofern sie sich nicht in das ausdifferenzierte Gefüge der pluralen Vernunft einordnet, sondern sie überschreitet.“ 432 Mersch steht hier in einer langen illustren Reihe der Gegenwartsästhetik, s. das doxographische Referat bei Martin Seel, Die Macht des Erscheinens. Texte zur Ästhetik. Frankfurt a.M. 2007, 27 f., der in diesem Kapitel einen beachtenswerten Versuch unternimmt, die ästhetische Hermeneutik zu rehabilitieren und neu zu begründen (2007: 27-38: „Ästhetik und Hermeneutik. Gegen eine voreilige Verabschiedung“). 433 Ästhetische Theorie (1970). Frankfurt a.M. 1997, 179: „Kunstwerke sind nicht von der Ästhetik als hermeneutische Objekte zu begreifen; zu begreifen wäre, auf dem gegenwärtigen Stand, ihre Unbegreiflichkeit.“ <?page no="164"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 150 sen‘, weil diese haptisch-manuellen Metaphern der intellektuellen Aneignung, wie sie in vielen anderen indoeuropäischen Sprachen geläufig sind (lat. concipere, engl. grasp, frz. saisir, gr. , ngr. ) und in Form der in der induktiv-empirischen Erkenntnistheorie der Stoa sogar terminologisiert wurden, 434 eine Totalität suggerieren, die zu leisten kein wissenschaftlicher Verstehensversuch beanspruchen kann (vgl. 3.2 Zu einer Poetik und Hermeneutik der Transgression). Das Konzept eines poetisch-ästhetischen Zeichens besagt nicht, daß die Kunst eine Alltagsreferenz reproduziert und daß ihr Wesen und dasjenige des poetisch-ästhetischen Zeichens in der Referenz auf ein Objekt außerhalb ihrer verankert werden. Die strukturalistische Unterscheidung von Signifikat und Referenz ist also grundlegend für die Konstitution eines poetisch-ästhetischen Zeichenbegriffs. Diese strukturalistische Differenzierung der Bezugnahme auf ein Anderes entkräftet Merschs fundamentale Ablehnung des Symbolischen, die durch die methodologische Zurückdrängung des Individuellen und der künstlerischen Freiheit durch den heuristischen Fokus auf dem Konventionellen und Gesellschaftlichen bei einem Semiotiker wie Umberto Eco 435 erklärbar, aber nicht hinreichend begründet wäre. Außerdem ermöglicht die genannte Unterscheidung den Verzicht auf die Kategorie ‚Wahrheit‘, mit welchem die Ästhetik seit Hegel Zeit die Kunst in Verbindung, um nicht zu sagen: belastet hat. 436 Die Kunst qua autonome Poiesis (s. 3.2 Zu einer Poetik und Hermeneutik der Transgression) konstituiert ihre eigene Realität und schafft ihren Sinn selbst. Treffend bestimmt das alte, von modernen Kritikern einer hermeneutischen Ästhetik bemühte Wort 437 vom Eigensinn der Kunst, 438 deren vielbeschworene Autonomie über das Semiotische. Ebenso treffend definiert Seel die ästhetische Erfahrung als ebenfalls eigenteleologische Bewegung, „die darauf zielt und ihren Sinn darin findet, die Bewegung der aufgenommenen Werke zu verfolgen“ [Kurs. im Orig.] (2007: 33 f.). Gegen Merschs antisymbolische Aisthetik muß geltend gemacht werden, daß die Literaturwissenschaft, deren Gegenstände, die Sprachkunstwerke, mit der Sprache ein Material verwenden, das bereits sinngesättigt wie kein anderes Kunstmaterial ist, Gefahr liefe, ihren Erkenntnishorizont extrem zu verengen, wollte sie sich nur auf sinnlich-spontane Erlebnisse beschränken und vom Sinn verab- 434 Vgl. Verf. 2011/ 12: Bd. 1, 356 f. (mit weiterführender Literatur). 435 Die Gliederung des filmischen Kode. In: Heinz Blumensath (Hg.), Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Köln 1972, 363-384, h. 364-366. 436 Rüdiger Bubner, Einführung. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Erster und zweiter Teil. Mit Einführung hg. v. Rüdiger Bubner. Stuttgart 1971, 3-27, h. 12 f. 437 Ruth Sonderegger, die den Schwerpunkt innerhalb des Kompositums eher auf das ‚eigen‘ als auf den ‚Sinn‘ (Für eine Ästhetik des Spiels. Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigensinn der Kunst. Frankfurt a.M. 2000, 10: „autonome Eigengesetzlichkeit“, S. 12 variiert „eigenlogisch autonom“, „Autonomie“ und „Eigensinn“) legt, weil sie die (Nicht-)Verstehbarkeit, deren Unzulänglichkeit anhand von Gadamers Hermeneutik und Derridas Dekonstruktion vorgeführt wird, zugunsten der Schlegelschen Kategorie des Spiels in der Ästhetik zurückdrängen will (2000: 8-12). 438 Vgl. Beethoven 1820: „Wahre Kunst ist eigensinnig, läßt sich nicht in schmeichelnde Formen zwängen.“ <?page no="165"?> 2.3 Zeichenbegriff, Mimesis und Ästhetik 151 schieden, der auf einer zweiten Ebene von den Sprachkunstwerken geschaffen wird. 439 Adorno rehabilitiert denn auch implizit die Hermeneutik, indem er auf die Sprache und die von Mersch 440 - auch unter Rückgriff auf die Schlußworte von Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus (Nr. 7) 441 - zugunsten des Zeigens problematisierte Kategorie des Sagens zurückgreift, um die Rätselhaftigkeit nicht nur der sprachlichen Kunstwerke zu benennen (1997 (1970): 182): „Daß Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug es verbergen, nennt den Rätselcharakter unterm Aspekt der Sprache.“ Diese Paradoxie der Semiose (bereits Wittgenstein konnte die Grenzen des Sagbaren nur mit Hilfe der Sprache und über sie benennen) gilt, wenn man das Verborgene mit dem Unausgesprochenen glossiert, letztlich selbst für jeden Zeichengebrauch der Alltagssprache, und um so mehr für den poetischen Sprachgebrauch. Die Gegenläufigkeit, die das Paradoxon performiert und hier in der Semiose feststellbar ist, charakterisiert ebenso die Tragik (s. 1.4.6 Arbeitsdefinition, Submerkmale und Parallelfiguren der Tragik). Fest steht jedenfalls, daß die hier in Anlehnung an Mersch skizzierte ästhetische Erfahrung, wenn man diesen eingebürgten Begriff statt der Merschschen Aisthesis verwenden darf, 442 wie die mystische nur diskursiv manifest, fixiert und vermittelt werden kann. 443 Sie bietet also allenfalls solipsistisch einen Ausweg aus dem Bannkreis der symbolisch verfaßten Kultur und Anthropologie, wie er in Ernst Cassirers berühmter Formel vom animal symbolicum zum Ausdruck kommt. 444 Die funktionale Universalität und Unentrinnbarkeit der Sprache, die André Martinet aus der Kombinierbarkeit der sprachlichen Elemente zum Ausdruck neuer, auch poetischer Erfahrungen erklärt 445 und die Stefan Georges Diktum „so lernt ich traurig den verzicht: / kein ding sei wo das wort 439 Für die Vermählung (vgl. S. 9) der bis in die Gegenwart gegeneinander ausgespielten Kategorien Ästhetik und Hermeneutik auf dem Felde der Literaturwissenschaft vgl. Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a.M. 3 1984. 440 Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. Habil. Darmstadt 2000. München 2002, 81. 441 „Wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen“ Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Bd. 1 von: Werkausgabe. Für diese Ausgabe wurde der Text neu durchgesehen von Joachim Schulte. 8 Bde. Frankfurt a.M. 1989, 85. 442 Vgl. Joachim Küpper, Christoph Menke, Einleitung. In: Ds. (Hgg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Frankfurt a.M. 2003, 7-15. 443 Es fragt sich deshalb, ob ein solcher ekstatischer Kunstbegriff, dessen praktische Legitimität außer Frage steht, nicht besser auf die Semiose verzichtet, die immer mit einer Diskursivierung einhergeht. Dieser Verzicht würde freilich den Bereich eines solchen Kunstbegriffs auch weitgehend der Wissenschaft entziehen, selbst wenn Mersch zusammen mit Michaela Ott diese Grenze als Produkt des 19. Jh.s entlarvt und anhand neuester Kunstpraktiken aufweicht (Einleitung. In: Dieter Mersch, Michaela Ott (Hgg.), Kunst und Wissenschaft. Paderborn 2007, 9- 31). 444 Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur. Aus dem Englischen übersetzt von Reinhard Kaiser. Hamburg 2 2007, 51. 445 Éléments de linguistique générale. Paris 4 1996, 17 f. Auf diesen totalisierenden, souveränen Umstand führt Giorgio Agamben (Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring. [Orig.: Il potere sovrano e la nuda vita] Erbschaft unserer Zeit 16. Frankfurt a.M. 1 2002 = 2004, 31) die Struktur des Rechts zurück: „Die Sprache ist der Souverän, der in einem permanenten Ausnahmezustand erklärt, daß es kein Außerhalb der Sprache gibt, daß Sprache stets jenseits ihrer selbst ist.“ <?page no="166"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 152 gebricht.“ 446 kondensiert, wird im antiken Dramentext besonders deutlich, wo selbst die nonverbale Sprache der Gestik und Mimik als transverbales Metatheater (s. 3.3 Metatheater als poetische Transgression) in den Text eingeschrieben ist. Die fragmentarische Überlieferung des antiken Dramas konstituiert dabei eine Dominanz der verbalen ästhetischen Zeichen über die nonverbalen, 447 welche bei diesem Gesamtkunstwerk u.a. durch Musik, Tanz und Skenographie besonders ausgeprägt waren 448 und die ein hervorragendes Studienfeld für die moderne multisensuale Theatersemiotik 449 böten. Die Überlieferung bringt da- 446 Letzte Verse des Gedichts DAS WORT (aus: Das neue Reich (1928). Sämtliche Werke in 18 Bänden. Bd. 9. Stuttgart 2001, 107), in dem es ebenfalls um die Unmöglichkeit geht, das sprachlich dauerhaft einzufangen, was durch topologische Grenzüberschreitung gewonnen wurde und den gewöhnlichen Erfahrungshorizont überschreitet (vgl. die beiden ersten Verse). Es lautet vollständig: Wunder von ferne oder traum Bracht ich an meines landes saum Und harrte bis die graue norn Den namen fand in ihrem born - Drauf konnt ichs greifen dicht und stark Nun blüht und glänzt es durch die mark . . . Einst langt ich an nach guter fahrt Mit einem kleinod reich und zart Sie suchte lang und gab mir kund : ›So schläft hier nichts auf tiefem grund‹ Worauf es meiner hand entrann Und nie mein land den schatz gewann . . . So lernt ich traurig den verzicht : Kein ding sei wo das wort gebricht. 447 Jan Muka ovský, Zum heutigen Stand einer Theorie des Theaters (1941). In: Texte zur Theorie des Theaters. Hg. und kommentiert von Klaus Lazarowicz und Christopher Balme. Stuttgart 1991, 87-99, h. 93 sieht den dramatischen Text auch als eigene, selbständige Kategorie gegenüber der Aufführung, was bei ihm keine ontologische Hierarchie dieser beiden Größen nach sich zieht. Vielmehr betont er ihre historisch und individuell jeweils wechselnde Dominanz. 448 Nach Muka ovský (1941) 1991: 89 f. integriert und transformiert auch das moderne Theater die übrigen Künste. 449 S. dazu die umfangreichen Forschungen von Erika Fischer-Lichte: Das System der theatralischen Zeichen. Bd. 1 von: Semiotik des Theaters. Tübingen 3 1994. Die Aufführung als Text. Bd. 3 von: Semiotik des Theaters. Tübingen 3 1995. Erika Fischer-Lichte (Hg.), Verkörperung. Tübingen 2001. Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2004. Erika Fischer-Lichte (Hg.), Praktiken des Performativen. Berlin 2004. Zu ihr s. ferner Ernest W. B. Hess-Lüttich, Soziale Interaktion und literarischer Dialog II. Zeichen und Schichten in Drama und Theater: Gerhart Hauptmanns ‚Ratten‘. Philologische Studien und Quellen 98. Berlin 1985, 13-60, der - entsprechend der zeitgenössischen Dominanz des Textbegriffs „[d]as komplizierte Verhältnis von dramatischem Text als sprachlich fixiertem Zeichensystem und theatralem Text als Realisat multimedial kopräsenter Zeichensy- <?page no="167"?> 2.3 Zeichenbegriff, Mimesis und Ästhetik 153 mit eine zusätzliche Hierarchisierung der Verweisstruktur: Der ganz gemäß Derridas Theoremen unendlich auslegbare und durch Aufführungen realisierbare Dramentext 450 evoziert den Anblick der physisch oder (absent)imaginär präsenten Figur, die ihrerseits zur Trägerin der sinnbringenden Stimme wird. 451 Doch ist hier weder der Ort noch der Raum für eine grundsätzliche Diskussion und Würdigung von Merschs tiefschürfenden Ansätzen und Ausführungen. Vielmehr soll ihre Anwendbarkeit auf die dramatische Literatur der Antike ausgelotet werden. 452 Hier läßt sich - wie bei jeder Sprachkunst - auf deren lautliche und metrische Gestaltung hinweisen, deren ästhetische Bedeutung quer und vorgängig zur phonologischen ist, 453 auch wenn sie noch nicht wie im Dadaismus, auf den Mersch in diesem Zusammenhang der stimmlich-ästhetischen Dimension der Sprache verweist, davon getrennt ist. 454 Die Stimme, die Mersch hier bespricht, 455 ist konstitutiv für die Gattung des antiken Dramas, nicht nur durch dessen Performativität bei der Aufführung, sondern durch dessen Dialogizität selbst bei der Lektüre. Ihre besondere ästhetisch-poetische Rolle bei der Darstellung der Transgression - auch ex negativo - soll bei der Besprechung der Einzeldramen untersucht werden, so im Oidipus Tyrannos (s. 2.4.1 Kollision am Dreiweg) und in Euripides’ Medea (s. 3.2.3 Psychologisierung: Tragik als selbsterkannte Selbstaufhebung des Subjekts und 3.2.4 Darstellung und intratheatralische Inszenierung der Transgression). Doch bevor wir in die detailreiche Diskussion einsteigen, wie Merschs Theorien im einzelnen auf das Theater übertragen werden können, gilt es States zu besprechen, der sich eher im Allgemeinen einer phänomenologischen Theatertheorie bewegt. Trotz der gemeinsamen Frontstellung mit Mersch gegen eine semiotisch-symbolische Sicht der Kunst oder gerade in deren konsequenter Durchführung ist bei States, der die phänomenologische Ästhetik auf das Theasteme“ (1985: 48) in einem komplizierten Schema (1985: 40) darzustellen versucht und in beiden Bereichen die Ästhetik hinter die Semiotik zurücktreten läßt. Auch er verzichtet auf eine ontologische Hierarchisierung dieser beiden Zeichensysteme und beschränkt seine Untersuchung auf den dramatischen Text und „die in ihm symbolisch codierten theatralen Zeichen“, geht also von einer Konstellation aus, die den überlieferten antiken Dramentext kennzeichnet. 450 So die bereits ganz grammatologische Sichtweise von Steen Jansens Versuch einer strukturalistischen Theatertheorie (Esquisse d’une théorie de la forme dramatique. In: Langages 12 (1968), [numéro spécial: ] Linguistique et littérature. 71-93, h. 72). Ähnlich Richard Hornby, „Text and Performance“, in: Script into Performance. A Structuralist View of Play Production. Austin 1977, 92-109, h. 108 f., der zwar die Vorgängigkeit des Dramentextes herausarbeitet, aber die Inszenierung als selbständige Leistung sieht, die er mit dem Herausmeißeln einer Skulptur aus einem Marmorblock vergleicht (1977: 102 f.) und welche die Anlagen des Textes realisiere (1977: 108). 451 Vgl. Doris Kolesch, Ästhetik der Präsenz: Theater-Stimmen. In: Josef Früchtl, Jörg Zimmermann (Hgg.), Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens. Frankfurt a.M. 2001, 260-275. 452 Für eine Zeichentheorie des Theaters s. Anne Ubersfeld, Lire le théâtre. Paris 2 1996, 20-32. 453 Algirdas Julien Greimas, Pour une théorie du discours poétique. In: Ds. (Hg.), Essais de sémiotique poétique. Avec des études sur Apollinaire, Bataille, Baudelaire, Hugo, Jarry, Mallarmé, Michaux, Nerval, Rimbaud, Roubaud. Paris 1972, 6-24, h. 11 f. 454 Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. Habil. Darmstadt 2000. München 2002, 114. 455 Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. Habil. Darmstadt 2000. München 2002, 100- 125. <?page no="168"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 154 ter anwendet, der Akzent auf der Materialität und der damit gegebene Ansatz für ein aisthetisches Zeichen abgeschwächt. Und trotz einer anspruchsvollen und lehrreichen Verortung in (kunst)philosophischen Debatten tritt States auch sonst durch einen begrifflichen Reduktionismus und eine konzeptuelle Einengung hervor. Die siamesischen Zwillinge seines hybriden Gegenstandes, Drama und Theater, trennt er und konzentriert sich auf das Theater und seine mimetische Bildlichkeit, die eine phänomenologische Herangehensweise im Gegensatz zur semiotischen bei der Lektüre fördere (1987: 27 f.). So behandelt er die Requisiten der Aufführung, wie Möbel (1987: 40-43), oder einen Hund auf der Bühne (1987: 32-34), sowie Kinder als Schauspieler in der elisabethanischen Zeit (1987: 31 f.). All diese Momente der Aufführung dienen nach States der Verfremdung vom Alltäglichen und Gewöhnlichen, die für sein antisemiotisch-phänomenologisches Kunstverständnis zentral ist (1987: 12). Doch eben die Distanz vom Konventionellen und Alltäglichen ist auch das Merkmal des ästhetischen Zeichenbegriffs der vorliegenden Arbeit. Dieses gemeinsame Grundverständnis von Kunst wird daran augenfällig, daß sich States wie diese Untersuchung (s. 3.2 Zu einer Poetik und Hermeneutik der Transgression) auf Šklovskijs Definition der Kunst als Verfremdung beruft (1987: 21). Das ästhetische Zeichen wird über seine Differenz zum konventionellen Zeichen konstituiert. Der ästhetische, das Usuelle paradigmatisch transzendierende Charakter ist seine primäre Bedeutung. Erst darauf aufbauend kann es einen weiterreichenden semantischen Gehalt erlangen, auch im Verhältnis zu anderen ästhetischen Zeichen, was sich in einer Großgattung wie dem Drama, die per definitionem eine ausreichende Länge aufweist (Arist. Poet. 1449b 24 f.), gut nachweisen läßt. Sein Wesen ist also die Singularität. Insofern verfängt States’ Verweis auf das Kriterium der Iteration, das Jacques Derrida für das Zeichen aufstelle (1987: 25), 456 nicht. Da States keinen paradigmatischen Unterschied zwischen dem gewöhnlichen kommunikativen und dem ästhetischen Zeichen sieht, ist er geneigt, den Universalitätsanspruch der Semiotik 457 als imperialistisches Selbstvertrauen einzustufen (1987: 7). Daß States anders als diese Arbeit den Brückenschlag zur ästhetischen Semiotik nicht leistet, liegt nicht zuletzt daran, daß er entsprechend der amerikanischen Tradition den pragmatisch-instrumentellen Zeichenbegriff Peircescher Prägung zugrunde legt (1987: 23 f.). Das führt ästhetisch dazu, daß er selbst Horaz’ utile und dulce (ars 343) als Ausdruck eines semiotischen und phänomenologischen Kunstverständnisses wertet (1987: 9 f.), obwohl hier ohne Bezug auf einen Zeichencharakter nur von einem Nutzen die Rede ist. Auch bei einem konkreten Beispiel, dem Bus für die Heimfahrt von der Arbeit, geht es nur um die praktische Bedeutung, während die Sonne ihn in ein verfremdendes Licht tauchen könne, das seine kompakte Dinglichkeit und seine Form hervortreten lassen könne, die auch ein Künstler sehe (1987: 8 f.). Doch funktioniert auch der ästhetische Zeichenbegriff über eine solche Aufhebung der usuellen indexalen 456 „Le théâtre de la cruauté et la clôture de la représentation“, in: L’écriture et la différence. Paris 1967, Ndr. 2003, 341-368, h. 361. 457 Vgl. Umberto Eco, „Die pansemiotischen Metaphysiken“, in: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Frankfurt a.M. 1977, 111-114. <?page no="169"?> 2.3 Zeichenbegriff, Mimesis und Ästhetik 155 Zeichenfunktion. Das schlagendste Beispiel hierfür ist vielleicht Picassos Skulptur eines Stiers im Porträt, das aus dem Sattel und der Lenkstange eines Fahrrades montiert ist. Diese beiden Gegenstände verlieren in der Montage ihre haptische Erfahrung und praktische Funktion der Fortbewegung, die sie wie der Bus im Alltag haben, und referieren optisch-mimetisch auf etwas völlig anderes. Die Schau hat die Tat abgelöst. Die beiden Performanzmodi des Theater/ Dramas werden also getrennt. Das nachgerade geniale Künstlertum dieser Montage entfaltet sich auf drei Ebenen, die entsprechend den officia oratoris benannt werden können: Die inventio ist die Auswahl der beiden Teile und ihre Lösung aus dem Alltagskontext, die dispositio die Anordnung der Lenkstange oberhalb des breiteren Sattelendes. Im Bereich der elocutio entspricht innerhalb der virtutes dicendi die elegante Ökonomie dieser Semiogenese der perspicuitas und brevitas. Daß es das von States geschilderte unmittelbare intuitive sinnlich-ästhetische Er-Leben 458 gibt, das durch die Überschreitung der bisherigen Wahrnehmung plötzlich hervortritt (vgl. Bohrers Ästhetik der Plötzlichkeit [s. 1.4.8 Alternative Tragikkonzepte: Nietzsche, Benjamin, Bohrer, A. Schmitt]), sei dabei unbestritten, ebenso, daß die mimetisch-dramatische Illusion nur durch die Annullierung des theatersemiotischen Zeichencharakters funktioniert: Der Schauspieler spielt nicht mehr eine Figur, er verkörpert sie nachgerade, indem er zu ihrer Hypostase wird und sie zu sein scheint (so der phänomenologische Aspekt der Mimesis). Nur durch diese Illusion und Versenkung kann der Zuschauer (oder Leser) sich auf die sprachlich-literarische Semiose konzentrieren, die auf der basalen theatralisch-mimetischen aufruht. Dabei funktioniert das Theater jedoch nicht als eine bloße Abfolge nur erbaulicher oder beeindruckender Tableaux (auch wenn solche selbst emblematisch durch die sprachlich-literarische Fiktion visuell suggestiv erzeugt werden können), wie States’ Insistieren auf der Ikonizität suggeriert (1987: 19 f.), sondern von Sprechakten und Handlungsschritten („Drama“), deren Komposition einen dramensemiotischen Gehalt und einen ästhetischen Eigenwert hat. Diese Semiose kann sogar interdramatisch verlaufen, wie das Beispiel eines antiken Verkehrsmittels, nämlich des Wagens zeigt, der die Transgression und Eliminierung in verschiedenen Tragödien symbolisiert oder performiert (s. 1.5 Bildlich-(se)mantische (Voraus-)Deutung von Transgression und Eliminierung im Kap. über Aischylos’ Perser). Wenn States auf den ästhetischen Wert des Klangs bei Wiederholungsfiguren verweist (1987: 25 f.), der durch keine Zeichensystematik erfaßt werde, so ignoriert er die gesamte formalistisch-strukturalistische Poetik, die neben dem Vers solche Elemente der klassischen Rhetorik begierig aufgegriffen hat. 459 Insgesamt sind die Gegensätze zwischen semiotischer und phänomenologischer Ästhetik vielleicht doch nicht so unüberbrückbar, sondern eher eine Frage der rhetorischen Empha- 458 Der Bindestrich, den bereits der von States bemühte Scheler (s. die drittnächste Fußnote) setzte, um die Einstellung (ausdrücklich nicht Methode) der Phänomenologie zu charakterisieren (1957: 380), trägt States’ Stärkung der Mimesis über den Gedanken der Hineinnahme des Lebens ins Theater Rechnung (1987: 13). 459 Vgl. z.B. Jean-Claude Coquet, Poétique et linguistique. In: Algirdas Julien Greimas (Hg.), Essais de sémiotique poétique. Avec des études sur Apollinaire, Bataille, Baudelaire, Hugo, Jarry, Mallarmé, Michaux, Nerval, Rimbaud, Roubaud. Paris 1972, 26-44. <?page no="170"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 156 tisierung. So streicht States - auf einer Linie mit Mersch - die Körperlichkeit des Theaters als Medium und Bedeutungsträger heraus (1987: 27) und billigt dem theatralischen Bild einen nosologisch formulierten semiotischen Gehalt zu (1987: 23 f.), 460 freilich ohne an diesen Stellen einen spezifisch ästhetischen Zeichenbegriff zu entwickeln. Abschließend läßt sich festhalten, daß die gesamte ästhetische Phänomenologie, ganz gleich ob von Bohrer, States oder Mersch verfochten, einen antisemiotischen Sensualismus des desemantisierten materialen Signifikants 461 vertritt oder impliziert, während der hier vertretene ästhetische Symbolbegriff dem Signifikat eine weitere semantische Ebene hinzufügt. Er ist damit idealistisch 462 statt sensualistisch. Phänomenologie und Semiotik sind m.E. nicht, wie States 1987: 8 annimmt, auf derselben Ebene komplementäre Sichtweisen auf die Kunst und die Welt, sondern funktional geschieden: Während die Phänomenologie ein Modell zur Beschreibung der unmittelbaren Wahrnehmung von Kunst und Schönheit liefert, die jedoch schwierig zu kommunizieren und zu verifizieren ist, bietet die Semiotik ein Modell zur wissenschaftlichen Beschreibung von Kunstwerken. 463 Die Semiotik vertritt also einen werkästhetischen, die Phänomenologie einen rezeptionsästhetischen Ansatz, der grundsätzlich methodischheuristische Probleme mit sich bringt (s. 2.1.3 Produktions- und Rezeptionsästhetik in 2.1 Aristoteles’ Poetik). 2.3.2 Strukturalistisch-semiotische Dramenästhetik Doch kommen wir zur Transferierbarkeit von Merschs Theorien auf das Drama zurück, die in der größeren Elaboriertheit seiner Thesen trotz geringerer thematischer Einschlägigkeit beruht. Die von Mersch vertretene Parallelität oder Dualität von Sagen einerseits und Zeigen, 464 die auch etymologisch in lat. dico ‚sage‘ und gr. hervortrete, Erscheinen und Sehen andererseits - in den indoeuropäischen Sprachen wiesen „die verschiedenen Worte [sic! ] für Zeichen 465 wie semeion, 466 deixis, signum 467 usw. gleichzeitig auf den Bereich des 460 „In the image, one might say, we swallow the semiotic process whole and imagination catches its disease.“ 461 States 1987: 23 zitiert hier in englischer Übersetzung Max Scheler für die fortwährende Entsymbolisierung, der Welt welche die phänomenologische Philosophie sei (Phänomenologie und Erkenntnistheorie. In: Schriften aus dem Nachlaß. Bd. 1: Zur Ethik und Erkenntnistheorie. 2., durchgesehene und erweiterte Auflage. Mit einem Anhang hg. von Maria Scheler. Bd. 10 von Gesammelte Werke. Bern 1957, 377-430, h. 384). 462 Vgl. Eco 1977: 111 f. 463 Ähnlich unterscheidet Roman Ingarden das „ästhetische Erleben eines Kunstwerks“ von dem „betrachtenden Erkennen seiner ästhetischen Konkretisation“ (Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. Darmstadt 1968, 342 f.). 464 Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. Habil. Darmstadt 2000. München 2002, 137 f. 465 Auch dieses deutsche Wort geht wie got. taikns ‚Zeichen, Wunder‘ und engl. token über die o- Abtönung *doi auf die Wurzel *dei - ‚zeigen‘ zurück (WH I 348, s.v. dico, Pokorny 189 s.v. dei -, Kluge/ Seebold 905 s.v. Zeichen, Pfeifer s.v. Zeichen; Ernout/ Meillet 173 f. s.v. dico erwähnt nur got. taikns und ahd. zeig n, de Vaan 170 s.v. dico got. ga-teihan ‚anzeigen, verkünden‘ und ahd. z han ‚zeihen‘). <?page no="171"?> 2.3 Zeichenbegriff, Mimesis und Ästhetik 157 Sagbaren wie des Sichtbaren hin“ - trifft besonders auf die theatralische Mimesis zu. 468 In ihr verschmelzen Deixis und Semiose, da sie zugleich Präsentation von Körper und Stimme und Repräsentation des mit diesen beiden Ausdrucksmitteln Bezeichneten ist. Etwas in physischer Präsenz Gezeigtes wird so wie in der bildenden Kunst und letztlich auch im neuzeitlichen Film, der eine Abfolge von Bildern ist und so mit dem Theater das Merkmal der Sequentialisierung teilt, zum Zeichen für Abwesendes und Imaginiertes, wobei die körperliche (und nicht nur materielle) Präsenz ein Unikum des Theaters ist. Bei allen drei Künsten, der bildenden, dem Film und dem Theater, die durch Mimesis und Realismus gekennzeichnet sind, funktioniert die Semiose über die optische Entsprechung, das Peircesche icon. Daß die theatralische Mimesis auf der optischen Präsentation basiert, schlägt sich im Griechischen darin nieder, daß zur Wurzel - ‚(mimische) Darstellung, Bild, Skulptur‘ und davon abgeleitet dor. ‚Schauspieler‘ gebildet sind, das - anders als ‚Mime‘ nach Frisk I 355 f. s.v. „[f]ür sich steht“. 469 Die Repräsentation der optischen Mimesis bedarf unbedingt der Präsentation. Nur anwesend kann der Schauspieler Polos den Oidipus verkörpern, 470 die Statue oder ein Gemälde die Venus abbilden. Allerdings referieren sie dabei auf Abwesendes oder bloß Gedachtes. Im Falle der optischen Mimesis sind Zeigen und Bedeuten trotz ihrer hier wechselseitigen Bedingtheit verschiedene Modi des Verweisens. Die optische Mimesis vereint Karl Bühlers Deixis am Phantasma und seine demonstratio ad oculos (für diese beiden Begriffe s. 3.1 Zu einer Poetik des Raumes). Die demonstratio ad oculos existiert jedoch auch unabhängig von der Deixis am Phantasma. Sie ist das Ursprüngliche, auf dem die Repräsentation in diesem Fall aufruht. 471 An diesem Punkt zeigt sich der entscheidende Unterschied zwischen Merschs und dem hier zugrunde gelegten Modell: Mersch operiert mit der 466 Dieses Wort hat neben ‚Zeichen, Kennzeichen‘ und ‚Siegel‘ in der Tat noch die konkrete Bedeutung ‚Spur‘ (LSJ 1593 s.v.), die - wie das Etymon von signum (s. die nächste Fußnote) - einen Anknüpfungspunkt für dekonstruktivistische Auslegungen bietet. 467 In seiner Herkunft von secare (WH II 535 s.v. signum, Ernout/ Meillet 625 s.v. signum, de Vaan 563 s.v. signum) wird die materielle Kennzeichnung augenfällig, die bei Odysseus’ Narbe und Derridas trace wiederkehrt. 468 Vgl. dazu Gerhard Neumann, Roland Barthes’ Theorie des Deiktischen. In: Dieter Mersch (Hg.), Die Medien der Künste. Beiträge zur Theorie des Darstellens. München 2003, 53-74, h. 54-56. Die Erschütterung der Zeichen, die Barthes bei der Seismologie von Brechts epischem Theater ausmacht (der folgende und überwiegende Teil des Artikels befaßt sich mit Barthes’ Analysen von Rahmung in der japanischen Kultur), wird im hier untersuchten antiken Drama durch die Transgression ausgelöst. 469 Chantraine S. 247 und Beekes S. 309 führen die vorgenannten Substantive dagegen ohne Binnendifferenzierung als Ableitungen s.v. auf. 470 Zur hier psychagogisch gewandeten theatralischen Mimesis von Polos und Oidipus s. Epict. Diatr. frg. 11. Zu diesem berühmten Tragödienschauspieler des späten 4. Jh.s v.Chr. und seiner realistischen Darstellungsweise s. Horst-Dieter Blume, Art. Polos [2]. DNP 10 (2001) 38 f. 471 Indem das Theater das Zeigen zur Grundlage für das Sagen macht, wiederholt es funktional gestuft den Primat des Zeigens vor dem Sagen, der sich an Tieren und Kleinkindern offenbart (Reinhardt Brandt, Sagen und Zeigen / Text und Bild. In: Dieter Mersch (Hg.), Die Medien der Künste. Beiträge zur Theorie des Darstellens. München 2003, 93-100, h. 93). <?page no="172"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 158 Gleichzeitigkeit und Parallelität der Verweisarten, 472 ich hebe für die Analyse des Dramas auf ihre Gestuftheit und Artikuliertheit ab, bei der jede Stufe zur Grundlage für eine neue Verweisebene wird. Zumindest im Bereich der Etymologie ist Merschs parallelistische Sichtweise jedoch unrichtig. Bei der ie. Wurzel *dei - ‚zeigen‘ ist die im Italischen und Germanischen (dt. zeihen, 473 engl. teach) „vertretene Bed. ‚sagen‘ jedenfalls aus ‚zeigen, mit Worten hinweisen‘ entwickelt“. 474 Entsprechend der hier entwickelten Theatertheorie ist die Präsentation also auch in der historischen Semantik der Referenz vorgängig, beider Parallelität im Lateinischen ist das sekundäre Ergebnis einer Bedeutungsentwicklung. Auch hier bewahrheitet sich, daß geistesgeschichtlich die Abstrakta metaphorisch aus dem Sinnlich-Material-Konkreten abgeleitet sind (vgl. dt. (ein)sehen und der Gebrauch von sehen für ‚verstehen‘ in anderen modernen indoeuropäischen Sprachen). Die Gestuftheit der Verweisarten ist eminent zum Verständnis des Dramas und des Sprachkunstwerks überhaupt. Denn eine auf die optische Mimesis ausgerichtete Betrachtung erfaßt nur Aspekte, die das Theater mit der Performance, 475 der Pantomime und dem Stummfilm teilt, die Sprache als Trägerin von Literatur bleibt unberücksichtigt. Doch der Schauspieler steht nicht bloß auf der Bühne wie eine Statue auf einem Podest oder läuft herum wie ein Fußballspieler in einem Stadion, sondern er gibt Laute von sich (mögen die Leser diese Banalität verzeihen, die gleichwohl Merschs konzeptuelle Kompaktheit differenzieren soll), und diese Laute sind zumeist keine bloße animalische Stimme (deren seltenes Vorkommen, das die Außergewöhnlichkeit der Transgression und der mit ihr einhergehenden Integritätsverletzung widerspiegelt, gewinnt sein besondere Bedeutung nur durch die Abgrenzung von der sonst vorherrschenden Sprache), sondern artikulierte, unterscheidbare, die so ihrerseits zu Zeichen werden können. 476 Die einzelnen Handlungen, die hier entsprechend der eingebürgerten Nomenklatur für die semiotischen Atome eines kulturellen Feldes ‚Akteme‘ genannt werden sollen und fast immer Sprechakte sind, bilden die kleinsten Einheiten des Dramas, deren Abfolge es syntagmatisch konstituiert 472 Da diese Verweisarten auf Mimesis oder Semiose beruhen, könnte man sie analog zum fusionierenden Neologismus ‚Theadrama‘ für die mimetische Großgattung aus Theater und Drama zu Se(mio)mimesis verschmelzen, um einen Oberbegriff für diese unterschiedlichen Verweisarten zu gewinnen. 473 Dt. zeigen ist hierzu eine Intensivbildung (Kluge s.v.) mit grammatischem Wechsel (Pfeifer s.v.). 474 WH I 348 f. s.v. dico (dies schreibt de Vaan s.v. dico nicht, doch die bei ihm dargebotenen Beleglage läßt nur diesen Schluß zu), so auch Ernout/ Meillet 172 s.v. dix, dicis f. [etc.] und Pokorny 188 s.v. dei -; ai. di áti ‚zeigt, weist‘ und av. da s- ‚zeigen‘ verbürgen die ursprüngliche Bedeutung (so auch LIV 92 s.v. de ). Unergiebig ist dagegen aus verständlichen Gründen Wodtko, da sie nur die Nomina behandelt. 475 Vgl. die Beispiele bei Erika Fischer-Lichte, Performance-Kunst und Ritual: Körper-Inszenierungen in Performances. In: Gerhard Neumann, Sigrid Weigel (Hgg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München 2000, 113-129. 476 Für das sprachliche Zeichensystem als Grundlage der Poetik vgl. Algirdas Julien Greimas, „La linguistique structurale et la poétique“, in: Du sens. Essais sémiotiques. 2 Bde. Paris 1970, Ndr. 1981, 1983, Bd. 1, 271-283, h. 271, 273. <?page no="173"?> 2.3 Zeichenbegriff, Mimesis und Ästhetik 159 und auf denen alle paradigmatisch komplexeren (traditionellen) dramatischen Größen wie Figurenzeichnung, Transgression, Eliminierung, Verdoppelung und Handlungsmerkmale wie Tragik und Komik beruhen. Ebenso fußen im Falle der Sprache alle komplexeren Größen auf Phonem, Morphem und Segment, aus deren Zusammenspiel nach Auffassung einer poetischen Semiotik ein komplexes poetisches Zeichen entstehen kann. 477 Das Aktem entspricht bei der Analyse der Handlungsstruktur dem Segment, die Handlungsstationen Transgression, Eliminierung und Verdoppelung dem Phonem 478 sowie die Handlungsmerkmale Tragik und Komik dem Morphem. Allein die Tatsache, daß Eliminierung und Verdoppelung über die Zugehörigkeit zu Tragödie und Komödie entscheiden, macht sie wie die Phoneme zu bedeutungsunterscheidenden Merkmalen. Man kann mit allerhand terminologischen Neologismen, die allerdings nur der theoretischen Systematik dienen und nicht bei der interpretatorischen Praxis zum Einsatz kommen sollen, wo es um die praktische Handlungsfunktion der hier vorgestellten Begriffe geht, die mit Transgression, Eliminierung und Verdoppelung ebenfalls terminologisiert ist, die Analogie zwischen strukturalistischer Sprachanalyse und Dramensemiotik festigen: Die Akteme konstituieren entsprechend der Doppelnatur der mimetischen Großgattung als Drama und Theater verbale und nonverbale höhere Einheiten. Die nonverbalen, zu denen Gesten, Tanz und Musik zählen, seien hier ‚Theatreme‘ genannt, 479 die verbalen ‚Mytheme‘. 480 Zu diesen höheren Einheiten, deren Terminologisierung an dieje- 477 Greimas 1972: 10 f. Vgl. Charles William Morris, Esthetics and the Theory of Signs. The Journal of Unified Science 8 (1939) / Erkenntnis 8 (1939) 131-150. Ndr.: Charles William Morris, Writings on the General Theory of Signs. Approaches to Semiotics 16. Den Haag 1971, 415-433 [Dt.: Grundlagen der Zeichentheorie. Ästhetik der Zeichentheorie. Aus dem Amerikanischen von Roland Posner unter Mitarbeit von Jochen Rehbein. Mit einem Nachwort von Friedrich Knilli. Frankfurt a.M. 1988, 91-118, h. 91], h. 415: „[T]he work of art is perceived as a sign which is […] itself a structure of signs.“ Seine nachfolgende Bestimmung des ästhetischen Zeichens als ikonisch (1971: 420) trifft sicherlich auf das Theater zu, bleibt jedoch schwierig auf den Dramentext zu übertragen. Immerhin sieht er die Bühne als „sign vehicle“, das - wie der Bilderrahmen - auf den Zeichenstatus des Kunstwerks hinweise (1971: 421), und schafft so implizit die Möglichkeit einer semiotischen Hierarchisierung der theatralisch-dramatischen Zeichen. 478 Auf dieser taxonomisch höheren Ebene bewegen sich auch Helmut Bonheims „Narreme“ (Shakespeare’s Narremes. Shakespeare Survey 53 (2000) 1-11, h. 1: „recurring patterns of action, place and time we call narremes [Kurs. im Orig.]“, vgl. S. 2: „configurations of character, plots, themes“), die er aus der Erzählin die Dramenanalyse transferiert und die Ansgar Nünning, Roy Sommer, Drama und Narratologie. Die Entwicklung erzähltheoretischer Modelle und Kategorien für die Dramenanalyse. In: Vera Nünning, Ansgar Nünning (Hgg.), Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier 2002, 105-128, h. 124 Anm. 15 als „Handlungsstrukturen“ wiedergeben. Sie bewegen sich jedoch auf einem ähnlichen Abstraktionsgrad wie die von Propp oder Souriau ausgemachten Handlungsmuster. 479 Sie entsprechen intensional und taxonomisch Pier Paolo Pasolinis „Kineme“, die ebenfalls das visuelle und gestisch-motorische Äquivalent der sprachlichen Phoneme bilden (s. dazu und zu ihrer Kritik Eco 1972: 374 f.: „Bilder der verschiedenen erkennbaren Objekte“) und wegen des überlieferungsbedingten Logozentrismus auf den Sprechaktemen beruhen. 480 Bei der Theateraufführung und selbst in einem vom Übersetzer durch Regieanweisungen interpretierten Text (die einzige Form der mise en page bzw. des paginalen Raums [Janine Hauthal, Von den Brettern, die die Welt bedeuten, zur ›Bühne‹ des Textes: Inszenierungen des Raumes im Drama zwischen mise en scène und mise en page. In: Wolfgang Hallet, Birgit <?page no="174"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 160 nige der Hybridgattung Theater/ Drama geknüpft ist, 481 gehören Transgression, Eliminierung und Verdoppelung. Diese drei Handlungsmerkmale verteilen sich auf Mimesis und Diegesis. Um diese Feinheit abzubilden, sind zwei Begriffe vonnöten, nämlich Mimem und Narrem. 482 Einfach wird es endlich auf der abstraktesten Ebene: Tragik und Komik ließen sich, da sie das Drama und seine namensgebende Handlung charakterisieren, als ‚Drameme‘ benennen. Auch darf im Falle des Theaters nicht der semiotische Unterschied zwischen Mimik, Gestik, Tanz und Stimmführung auf der einen und der Sprache auf der anderen Seite aus dem Blick geraten, auch wenn diese Elemente gewiß in der antiken Performanz organisch zu einem auch ästhetisch-semiotischen Gesamtkunstwerk zusammengewirkt haben (doch wird die Anwendung von Merschs Begriff der Präsenz (2002: 134) durch dieselben Überlieferungslücken wie die Performanz eingeschränkt, s. 2.2 Ritual, Opfer, Mythos und Performanz). Das, was uns vom antiken Drama vorliegt, ist eine artikulierte Form der Stimme, die schriftlich fixiert wurde, die parole. Ließe man in den Textausgaben der antiken Dramen nur das stehen, was Merschs Präsenzkriterien entspricht, blieben nur leere Seiten übrig. Anders als die besagten Ausdrucksformen, die mit der physischen Präsenz operieren, ist Sprache wesensmäßig ein Zeichen und in der Lage, jenseits der Deixis bzw. Referenz eindeutig auf physisch Abwesendes zu referieren. Das wird im Drama an den Botenberichten augenfällig, in welche die gewaltsame Transgression und physische Eliminierung in jeder der hier besprochenen Tragödien zumindest einmal gekleidet werden. 483 In den Punkten Universalität, Präzision und Komplexität ist das sprachliche Zeichensystem jedem anderen überlegen, und dieses Faktum stattet es auch bei der Kunst mit einem erheblich größeren semiotischen Potential aus. Mimik und Gestik haben zwar eine feste psychosoziale usuelle Bedeutung, doch als theatralische Zeichen behalten sie diese meist, während das sprachliche Zeichen sich in der Kunst weitere Bedeutungen erschließt, sei es als solches oder im Textverbund mit anderen auf einer neuen emergierenden Ebene (für die Emergenz s.u.). 484 Der Nutzen von Merschs Zeichenbegriff bleibt mithin wegen seiner extremliminalen Konfiguration und Vernachlässigung der sprachlich-literarischen Spezifika für die literarische und dramatische Semiotik beschränkt, die durch einen hohen Grad an Komplexität und Abstraktion gekennzeichnet ist. Neumann (Hgg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld 2009, 371-397, h. 390 f.], die im Zusammenhang mit dem antiken Drama auftritt) bilden die Theatreme einen parallelen Kode zu den Mythemen. 481 Wenn man bereit ist, sich mit deren neologistischer phonetischer Verschmelzung als ‚Theadrama‘ anzufreunden, wird man die Bezeichnung dieser Bausteine als ‚Theadrameme‘ akzeptabel finden. 482 Hier wird eine reetymologisierende Neubestimmung dieses bislang eher allgemeinen und bloß zur Bezeichnung von Handlungsmustern auf das Drama übertragenen Ausdrucks vorgenommen, um die Systematik nicht mit einem weiteren Neologismus (Diegem) zu belasten. 483 Z.B. Aischylos’ Perser (v. 249-514), Oidipus Tyrannos (v. 1237-1285), Euripides’ Bakchen (v. 1024-1152), Medea (v. 1135-1230) und Hippolytos (v. 1153-1254) und Senecas Phaedra (v. 991-1122). 484 Vgl. Greimas 1970: 272, der aus der (syntagmatischen) Schließung („clôture“) der literarischen Texte die Möglichkeit ableitet, daß die ausgewählten Inhalte einen neuen Sinn gewinnen. <?page no="175"?> 2.3 Zeichenbegriff, Mimesis und Ästhetik 161 Wir haben bereits gesehen, daß das Theater durch den doppelten Zeichengebrauch begründet wird: Die Präsentation der Schauspieler, die in optischer Mimesis Figuren verkörpern, 485 ermöglicht die akustische Mimesis der sprachlichen Zeichen, die eine weitere Ebene eröffnen, auf der sich das Drama - abgesehen von den eher seltenen optisch-mimetischen Handlungen auf der Bühnen - abspielt. 486 Dieses wird seinerseits durch einen doppelten Gebrauch dieser sprachlichen Zeichen konstituiert: Einmal die durchgehende Präsentation oder bei Lesedramen zumindest Mimesis der parole, die aus sprachlichen Zeichen besteht, sodann die künstlerische Gestaltung dieser Zeichenkette zu literarischen und präziser dramatischen Zeichen, die das Kunstwerk bilden und die wir bei der bisherigen Betrachtung des Theaters ausgespart haben. Während die parole einen sinnlichen Zeichenträger hat, bilden ihre Zeichen das immaterielle signifiant der literarischen und dramatischen Zeichen, die wegen ihrer Komplexität und Polyvalenz mit den romantischen Symbolen identifiziert werden können. Durch diese Möglichkeit zur hypothetisch infiniten Fortsetzung unterscheiden sich Zeichen und Semiose vom Medium. Ein Medium ist der materiale Träger eines signifiants, also das beschriebene Blatt oder der Schall, das signifiant dessen sinnlich wahrnehmbare Gestaltung. Eine derartige klare Definition ist angesichts des inflationären, mehrdeutigen und nachgerade verwirrenden Gebrauchs von ‚Medium‘ 487 um so notwendiger. Der Unterschied zwischen Medium und signifiant wird besonders augenfällig an der Textgeschichte der klassisch-antiken Literatur, die uns die Texte der antiken Dramen erhalten hat und deren wechselhafte mediale Überlieferungsträger von der Papyrusrolle über den Pergamentkodex bis zum Wiegendruck auf Papier reichen und sich im digitalen Zeitalter elektronisch in Volltextdatenbanken fortsetzen, während die von ihnen transportierte Schrift als Sinnträger - abgesehen von textkritischen Problemen - denselben Text tradiert. Für die auf physischer Präsenz des signifiant basierende Kunstform des Theaters hat dagegen erst die Moderne technische Übertragungs- und Konservierungsmedien gefunden, welche die Grenzen von Raum und Zeit überbrücken. 485 Für eine genaue Analyse der semiotisch-mimetischen Gestuftheit bei Schauspieler und Rolle s. 2.5 Zum Ort der Mimesis: Maske und Rolle. 486 Anne Ubersfeld, Lire le théâtre. Paris 2 1996, 24-32 hebt dagegen in ihrem Modell auf die Parallelität des Saussureschen Zeichens in Text und Aufführung ab und weist auf mögliche Diskrepanzen im Referenten (1996: 27 f.). Eingangs vertritt sie jedoch dasselbe Modell wie die vorliegende Arbeit, wenn sie auf die „superposition“ statt bloßer Koexistenz der theatralischen Zeichen hinweist (1996: 24). Diese Beziehung der Zeichen, die sie Substitution nennt, spezifiziert sie allerdings auf der paradigmatischen Achse: Selbst das voodooartige Emblem eines Feindes oder eine andere Person, die ihn vertritt, bleiben bei ihrem Beispiel innerhalb des Paradigmas ‚Feind‘. Auch das Waschwasser, das die Tränen repräsentiert, bleibt Wasser. Ein semantischer Zugewinn findet also nicht statt (1996: 24 f.). Die Materialität, auf die auch Mersch abhebt, bespricht sie vornehmlich anhand von Requisiten, die eine soziale Symbolik haben, wie ein Diadem (1996: 28-30). 487 S. Dieter Mersch, Einleitung: Wort, Bild, Ton, Zahl - Modalitäten mentalen Darstellens. In: Ds. (Hg.), Die Medien der Künste. Beiträge zur Theorie des Darstellens. München 2003, 9-49, h. 9, der auch die Abgrenzung vom Zeichen vornimmt (S. 11): „[D]er Begriff des Mediums ist zugleich eingeführt, um gegenüber dem Zeichen die materielle Seite der Symbolisierung zu unterstreichen: […].“ <?page no="176"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 162 Abschließend wollen wir einen Blick auf das Verhältnis von Zeichentheorie und Transgression werfen. Die pragmatische Komponente, die Kellers Klassifikation der Zeichenbegriffe ins Licht treten läßt, ist auch für die Beschreibung der dramatischen Transgression von Nutzen. So steht innerhalb der Fülle neuzeitlicher Zeichentheorien de Saussures strukturellem Zeichenbegriff Peirce’ funktionaler gegenüber, der den Interpreten mit einbezieht (Apel 1975: 225 f.). Für unsere Analyse des antiken Dramas lassen sich beide Konzepte entsprechend der Beschaffenheit dieser Gattung kombinieren: Der Saussuresche Zeichenbegriff eignet sich zur Beschreibung der strukturellen Normen, die in der Performanzpraxis transgrediert werden, der Peircesche pragmatische, von Charles William Morris 488 aufgegriffene 489 zur Analyse dieser performativen Handlungsreihe und der sozialen Interaktion. Die Transgression ist auch hilfreich bei der Bestimmung eines poetischen Zeichenbegriffs. Der poetisch-tropologische Zeichengebrauch überschreitet nämlich die Konventionen des alltäglichen in doppelter Weise (vgl. 3.2 Zu einer Poetik und Hermeneutik der Transgression): Zum einen erschließt er Bedeutungen, die das Zeichen bislang nicht hatte, zum anderen läßt er Bedeutungen, die sonst von der aktuellen Denotation unterdrückt werden, als Konnotationen mitschwingen oder in gleichberechtigter Ambivalenz zur zweiten Denotation aufsteigen. Diese Überwindung des usuellen Zeichens und Aufwertung sowie Aktualisierung der unterdrückten Konnotationen teilt die poetische Transgression mit dem romantischen Symbolbegriff. 490 (Dieter Mersch gebraucht dagegen „Zei- 488 Foundations of the Theory of Signs. Chicago 1938. Ndr.: Charles William Morris, Writings on the General Theory of Signs. Approaches to Semiotics 16. Den Haag 1971, 13-71, h. 45: „By ‘pragmatics’ is designated the science of the relation of signs to their interpreters.“ 489 Apel 1975: 234. 490 Für den semantischen Überschuß des Symbols bei Kant, Goethe, den Gebrüdern Schlegel, Schelling und Friedrich Creuzer s. Heinz Hamm, Art. Symbol. ÄGB 5 (2003) 805-840, h. 812- 820. Bereits Kant schrieb dem Symbol eine semantische Irreduzibilität zu (Kritik der Urteilskraft § 59), vgl. Manfred Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen. Frankfurt a.M. 1989, 88. Friedrich Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens (1813). In: Hans Joachim Störig (Hg.), Das Problem des Übersetzens. Aufl. Darmstadt 2 1969, 38-70, h. 65-67 weist immerhin auf die von ihm „Irrationalität“ genannte Inkommensurabilität der Sprachen bzw. ihre unterschiedlichen Monemgrenzen hin, die in der Plastizität der Sprache, ihrer Weiterbildung durch einen einzelnen für eine Situation wurzle (S. 42-44), in Kunst und Philosophie ausgeprägt seien und eine getreue Übersetzung vereitelten. Heidegger referiert dagegen in der 1935 / 36 entstandenen Schrift Der Ursprung des Kunstwerkes etymologisierend bloß die Auffassung, das Wesen der Kunst liege in deren symbolischer Funktion (In: Ds., Holzwege. Frankfurt a.M. 8 2003, 1-74, h. 4), und fordert unter Rückgriff auf seine existentialistische Ontologie (S. 25: „Das Kunstwerk eröffnet auf seine Weise das Sein des Seienden.“), das Kunstwerk als Ort der Wahrheit zu verstehen (Hamm 830), die er über gr. definiert (S. 37: „die Unverborgenheit des Seienden“), wobei er das frühromantische Konzept eines Wahrheitspotentials der Kunst aktualisierte, ohne auf dieses Konzept zu referieren, das ihm bekannt gewesen sein dürfte (Andreas Barth, Inverse Verkehrung der Reflexion. Ironische Textverfahren bei Friedrich Schlegel und Novalis. Diss. Tübingen 2000. Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft 14. Heidelberg 2001, 359-365). Heideggers phänomenologisch zu nennender Ansatz, demzufolge das Werk, auch das Sprachkunstwerk, das Potential seines materialen Substrats zur Geltung bringe (2003: 34), spricht der Kunst nicht nur eine referentielle, singuläre Tiefe zu, die ebenfalls den romantischen Symbol- <?page no="177"?> 2.3 Zeichenbegriff, Mimesis und Ästhetik 163 chen“ und „Symbol“ synonym. 491 ) Sie schafft damit eine Versöhnung von Gegensätzen, während sie bei der sozialen Transgression zu sich wechselseitig ausschließenden und zur monosemierenden Eliminierung drängenden Widersprüchen werden. Die poetische Transgression transzendiert den tragisch-eliminatorischen Mechanismus, der hinter der sozialen Transgression wirkt, durch das poetische Schaffen eines neuen, eigenen Feldes, annulliert ihn jedoch nicht in seinem eigenen, sondern performiert den dritten Schritt des dialektischen Musters („Synthese“), der auch im Bereich der dargestellten sozialen Transgression die Widersprüche aufheben könnte (s. 1.4.7 Tragik, Paradox und Dialektik: Pascal und Szondi). In der Tat kann die poetische Transgression, das Entstehen des komplexen, irreduziblen poetisch-ästhetischen Zeichensystems aus der nach Monosemierung strebenden Alltagssprache (beider Trennung ist gleichwohl ein idealtypisches Konstrukt, da auch die Alltagssprache für ihre Universalität auf Innovationen angewiesen ist, die poetisch-metaphorische Figuren anwenden) viel besser als mit dem Muster der Dialektik als Emergenz beschrieben werden. 492 Nach Wägenbaur ist der Emergenzbegriff innerhalb der Literaturwissenschaft aus zwei Gründen besonders treffend für das Drama (2002: 155): Zum einen sei die Emergenz „mit dem Theatralischen, dem mise en scène, strukturell verwandt“, da das Schauspiel im Theater sich in Raum und Zeit für den Augenblick performiere. Damit wird die Emergenz an den für die moderne Theatertheorie eminenten Begriff der Performanz angedockt (s. 2.2.1 Performanz). Weniger wichtig für die Analyse des antiken Dramas ist Wägenbaurs zweite These von „der strukturellen Verwandtschaft von Emergenz und der Metapher von der ‘Welt als Bühne’“ (also dem Konzept des theatrum mundi), da diese Metapher (wie jede Metapher wesensmäßig) den Bereich der Gattung Drama zugunsten der Kulturgeschichte verläßt, die Wägenbaur als eigentliches Feld dieser Metapher anführt. Die Vielschichtigkeit ist also ein Wesenszug des ästhetisch-poetischen Zeichens. Es auch als psychoanalytisches Symbol zu lesen ist die organische Konsequenz dieser Polyvalenz und entspricht den Gepflogenheiten des russischen Formalismus, der die Verfremdung des Aktes und der Geschlechtsteile als künstlerische Darstellung ansah. 493 begriff kennzeichnet, sondern kommt dessen Aktualisierung der schlummernden Konnotationen sehr nahe. 491 Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. Habil. Darmstadt 2000. München 2002, 12 Anm. 4. 492 Zu dieser und ihrer ästhetischen Dimension s. Thomas Wägenbaur, Emergenz in Kommunikation, Ästhetik und Literaturwissenschaft - oder was es heißt, daß nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt sei. In: Maria Moog-Grünewald (Hg.), Das Neue. Eine Denkfigur der Moderne. Heidelberg 2002, 143-157. 493 Viktor Šklovskij, Kunst als Verfahren. In: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Hg. und eingeleitet von Jurij Striedter. München 4 1988, 5-35, h. 30 f. Für double entendre in russischen folkloristischen Hochzeitsliedern s. Roman Jakobson, Linguistics and Poetics. In: Thomas A. Sebeok (Hg.), Style in Language. Cambridge, Ma. 2 1964 ( 1 1960), 350-377, h. 369 f. <?page no="178"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 164 2.4 Die Zeichennutzer: Dramatische Kommunikationsstruktur, Pragmatik, Ambivalenz, Ironie und Naivität Bislang wurde das Zeichen in Ästhetik und Drama aus der isoliert-abstrakten Perspektive Saussures wahrgenommen und die Zeichennutzer weitgehend ausgeblendet. Der vorliegende Abschnitt will sie in den Blick nehmen und folgt damit dem pragmasemiotischen Ansatz, den Bühlers und Jakobsons Sprachfunktionen oder Peirce’ Pragmatismus vertreten. Bisher haben wir denn auch die Äquivozität im wesentlichen nur auf der Werkebene betrachtet, d.h. derjenigen des Dramentextes. Selbst wenn dabei der Urheber und der Rezipient bewußt ausgeblendet wurden, so ist dies die einzige Ebene des Zeichengebrauchs und der Kommunikation, die bei dieser Betrachtung impliziert wurde. Auf dieser Ebene unterscheidet sich das Modell, das zur Beschreibung der ästhetisch-poetischen Kommunikation zugrunde gelegt wird, ohne die kein Kunstwerk existiert, praemissis praemittendis paradigmatisch nicht von dem Bühlerschen Organonmodell, das zur Beschreibung nichtästhetischer Kommunikation zum Tragen kommt. Mit ihm läßt sich jedoch beim Theater nur die Bühnenkommunikation zwischen Autor und Schauspielern auf der einen und dem physisch präsenten Primär- oder für die Schriftform implizierten Sekundärpublikum beschreiben, das sich auch in rein narrativer Literatur findet. 494 Um auch die Binnenkommunikation zwischen den auf der Bühne dargestellten Figuren zu beschreiben, muß dieses Modell geöffnet und erweitert werden. Bildlich stellt man sich dies am besten so vor: Der Rücken des aufgeschlagenen Buch veranschaulicht den Zeichencharakter des Dramentextes (der Referenzaspekt der Kommunikation wird in unserem Modell dagegen nicht dargestellt). 495 Die beiden Buchhälften verlängern sich nun wie auseinanderstrebende Schenkel eines Dreiecks, freilich ohne daß dem durch sie gebildeten Winkel eine begrenzende Dreieckseite gegenüberstünde. Auf der einen Geraden werden die Sender, auf der anderen die Empfänger plaziert. Am nächsten am Dramentext stehen einander auf diesen Achsen auf gleicher Höhe die Figuren mit ihrer dramatischen Binnenkommunikation sowohl als Sender als auch als Empfänger gegenüber. Dann folgen auf der Achse des Senders der Autor und der Regisseur, auf derjenigen des Empfängers erst das physisch präsente Primärpublikum der Aufführung, dann das Lesepublikum und schließlich der literaturwissenschaftliche Hermeneut. 494 Für ein komplexes Modell dieser Kommunikation narrativer Texte s. Dieter Janik, Die Kommunikationsstruktur des Erzählwerks. Ein semiologisches Modell. Bebenhausen 1973, 12 f. 495 Das hier angesetzte Dreieck ist eine leichte Abwandlung von Karl Bühlers graphischen Modellen (Die Darstellungsfunktion der Sprache. Mit einem Geleitwort von Friedrich Kainz. Jena 1934. Ndr. Stuttgart 1982 = 1999). Auf Fig. 1 (S. 25) gehen von der als kleiner unterlegter Kreis dargestellten Sprache als Organon drei gestrichelte Linien aus, an deren Endpunkten drei weiße Kreise stehen, die „einer“, „der andere“ und „die Dinge“ überschrieben sind. Bei der zweiten Version des Modells auf S. 28 (Fig. 3) steht das Sprachzeichen als Dreieck abermals im Mittelpunkt. Von seinen Seiten gehen „Linienscharen“ aus, die Bühlers Funktionen in bezug auf Sender, Empfänger und Gegenstände und Sachverhalte symbolisieren. Sowohl bei Bühlers zwei als auch bei meinem Modell steht das Zeichen im Mittelpunkt und ist der Punkt, von dem die Verbindungslinien zu Sender und Empfänger ausgehen. <?page no="179"?> 2.4 Die Zeichennutzer 165 Das skizzierte Modell der dramatischen Kommunikation kann helfen, das häufige Auftreten der Ambivalenzen im Theater und ihre Realisierung sowie die so entstehende dramatische Ironie zu beschreiben (für die tragische Ironie als deren Unterform s. das Ende von 1.4.6 Arbeitsdefinition, Submerkmale und Parallelfiguren der Tragik). Die Ambivalenzen stehen im Zentrum von Vernants Untersuchungen der attischen Tragödie. Sie beruhen auf unterschiedlichen Ebenen des Verständnisses. Diese Doppelbödigkeit sei das Ergebnis der historischen Situation, in der die attische Tragödie geblüht habe: In ihr waren verschiedene Ebenen, wie die religiöse, politische und private, noch nicht so scharf getrennt. Ein Wort könne deshalb von einzelnen Figuren auf verschiedenen Ebenen gedeutet werden und werde so zum Quell des Mißverständnisses (s.u.). Die konjunkturelle Binnenhermeneutik vollzieht also die strukturelle Ambivalenz. Während die Figuren, weil sie einen Aspekt übersehen, in dramatischer Naivität agieren, wohnt ihrem Handeln mit Blick auf dessen systemische Ambivalenz eine dramatische Ironie inne, die von einem außenstehenden Betrachter erkannt werden kann und im Falle des Intratheaters durch die anderen Figuren geschaffen wird. Es ist bei der Ambivalenz wie bei der Komik, die ja ebenfalls nicht zum geringsten Teil auf Ambivalenz beruht, und so vielen anderen literarischen Phänomenen müßig, darüber zu spekulieren, ob oder inwieweit sie vom Autor in den Text hineingelegt wurden oder vom Leser hineingelesen werden. Allerdings darf man kaum annehmen, daß der Dramenautor bei der Abfassung des Stückes genauso naiv wie seine Figuren war, die doch seine Geschöpfe sind. Insofern ist Roland Barthes’ Argumentation, der sich bei seiner Auflösung der Kategorie des Autors auf Vernants Studien 496 als Beleg für die Wichtigkeit des Lesers im literarischen Kommunikationsprozeß beruft, der die Zweideutigkeiten verstehe, 497 ebenso richtig wie letztlich für das Verständnis der Komplexität der theatralischen Kommunikation unergiebig. Denn auch auf der Rezipientenseite unterscheidet Barthes nicht zwischen dem Leser und Hörer der Stücke. (Mit dieser Wortwahl wird der visuelle Aspekt ausgeblendet, dessen semiotische Relevanz sich selbst im Dramentext nachweisen läßt.) Barthes’ Opposition zwischen den naiven Akteuren und den erkennenden Rezipienten wird auch nicht dem Fall unterschiedlicher Wissenshorizonte der Bühnenfiguren gerecht. Die Götter im antiken Drama haben immer einen Wissensvorsprung vor den Menschen, selbst wenn sie ihn scheinbar preisgeben (so Apoll gegenüber Laios und Oidipus), und sie erzeugen diesen häufig durch Intratheater oder setzen ihn darin um. Vernant selbst berücksichtigt die unterschiedlichen Wissenshorizonte der Akteure bei seiner Typologie der tragischen Ambivalenzen: 498 Die lexikalische 496 Tensions et ambiguïtés dans la tragédie grecque. In: Œuvres. 2 Bde. Paris 2007, Bd. 1, 1086- 1103, h. 1094-1100. 497 La mort de l’auteur (1968). In: Ds., Œuvres complètes. Bd. 3: Œuvres 1968-1971. Hg. v. Éric Marty. Paris 2002, 40-45, h. 45. Dt.: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. und kommentiert v. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko. Stuttgart 2000, 185- 193, h. 192. 498 Jean-Pierre Vernant, Ambiguïté et renversement. Sur la structure énigmatique d’Œdipe-Roi (1972). In: Ds., Œuvres. 2 Bde. Paris 2007, Bd. 1, 1153-1181, h. 1153-1158. <?page no="180"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 166 Ambivalenz 499 bestehe in der Homonymie; sie liege etwa bei der Auseinandersetzung zwischen Kreon und Antigone vor, die unter das positive bzw. das religiöse Recht verstünden. In diesem Fall dienten die auf der Bühne gesprochenen Worte nicht der Verständigung, sondern offenbarten die unüberwindbaren Gegensätze. Für den zweiten Typ dient der Wissensvorsprung als Beispiel, den Klytaimnestra vor Agamemnon hat, als sie ihn empfängt (A. Ag. 908-974). Er erlaubt es, Phänomene des Intratheaters mit Vernants Theorie zu erfassen, welche die vorliegende Arbeit vornehmlich anhand von Euripides’ Medea untersuchen will. In beiden von Vernant entwickelten Fällen werden die Dramenkonflikte, denen teils auch moralische Widersprüche zugrunde liegen, über die Ambivalenz der Sprache ausgefochten, 500 im ersten Falle derjenigen der langue, deren Mehrdeutigkeit in der parole offenbar wird, im zweiten Fall wird die parole von einer Nutzerin unterhöhlt. Der dritte Typus der tragischen Ambivalenz, der bei Vernant durch Oidipus im OT vertreten wird und in dem dieser Tragödie gewidmeten Kapitel der vorliegenden Arbeit näher besprochen werden soll (s. 2.4.3 Paradoxie und Tragik der Transgression), entspricht dem, was man traditionell unter ‚tragischer Ironie‘ versteht, weil der Protagonist sich der Ambivalenz seiner Worte nicht bewußt ist. Vernants Untersuchungen liefern mit dem Konzept unterschiedlicher Deutungsebenen und den daraus resultierenden Ambivalenzen eine treffende Beschreibung für die Doppelbödigkeit und Brüchigkeit der Sprache und die Störungen in deren kommunikativer Funktion, die zu Transgression und Eliminierung führen oder mit diesen einhergehen. Insofern sind sie eine wertvolle Ergänzung und Vertiefung der vorliegenden Arbeit. Ihr Konzept des Tragischen scheint sich allerdings in diesen Kommunikationsstörungen zu erschöpfen, da ‚tragisch‘ zumeist als Attribut zu ‚Ambivalenz‘ oder ‚Bewußtsein‘ auftritt und insgesamt anscheinend nur die unspezifische Bedeutung ‚zur Tragödie gehörig‘ hat. Während sich das Tragische bei Vernant im Bereich der zivilisationshistorisch gestörten Kommunikation bewegt (Barthes zufolge deckt Vernant das 499 Frauke Berndt, Stephan Kammer, Amphibolie - Ambiguität - Ambivalenz. Die Struktur antagonistisch-gleichzeitiger Zweiwertigkeit. In: Dss. (Hgg.), Amphibolie - Ambiguität - Ambivalenz. Modelle und Erscheinungsformen von Zweiwertigkeit. Würzburg 2009, 7-30 versuchen der begriffsperformativen Pragmatik durch den unterschiedslosen Gebrauch der drei Ausdrücke für Zweiwertigkeit durch eine Bereichsdistribution abzuhelfen, indem sie die Amphibolie der Rhetorik, die Ambiguität der Philosophie und die Ambivalenz der Psychologie zuordnen. In der Nachfolge Vernants gebraucht diese Arbeit ‚Ambivalenz‘ als allgemeinen Oberbegriff für nicht eindeutige Zuordnungsrelationen bei Figuren(rollen) und sprachlichen Äußerungen. Diese Entscheidung trägt auch der sprachlichen Praktikabilität und Einheitlichkeit Rechnung, da es mit ‚ambivalent‘ im Deutschen ein brauchbares Adjektiv gibt, während Ambiguität kein solches aufzuweisen hat. Wenn die Ambivalenz sensu stricto vorliegt, also im Gegenstand verankert ist, wie bei dem momentanen Status einer Figur (etwa Oidipus vor der Verifizierung seiner transgressiven Identität), wird sie als Zweiwertigkeit bezeichnet; liegt sie dagegen eher auf im Urteil des (binnenkommunikativen) Rezipienten, wie im Falle sprachlicher Äußerungen, ist die Bezeichnung ‚Mehrdeutigkeit‘ (oder Äquivozität) angebracht. 500 Simon Goldhill untermauert denn auch die Zentralität des Wortes in der attischen Tragödie, indem er sie innerhalb des linguistic turn des 5. Jh.s verortet, in dem die Sprache zunehmend Gegenstand von Reflexion und Problematisierung geworden sei (Reading Greek Tragedy. Cambridge 1986, Ndr. 1992, 1-32). <?page no="181"?> 2.4 Die Zeichennutzer 167 Zweideutige in der griechischen Tragödie auf; in dem fortgesetzten Mißverständnis, das sich daraus ergibt, daß die Figuren jenes einseitig verstehen, sieht der französische Literaturkritiker anschließend tout court das Tragische), 501 bestimmt es die vorliegende Arbeit über die Handlungsstruktur, in der die individuelle Intention zwischen verschiedenen Arten von Integrität wählt und damit auf der existentiellen Ebene über und einzelner Figuren entscheidet. Die Brüchigkeit der Sprache der Tragödie tritt besonders durch den Vergleich mit der epischen Sprache hervor, deren deckende Vordergründigkeit absoluter Gegenwart und fehlende Hinter- und Abgründigkeit Erich Auerbach herausgearbeitet hat. 502 Gewiß muß an diesem Vergleich manches nuanciert werden: Auerbach selbst dient die Sprache des Alten Testaments, also einer ganz anderen Sprachfamilie und eines benachbarten, aber doch klar geschiedenen Kulturkreises als Kontrastfolie, ganz zu schweigen von den Unterschieden in der Thematik (das Opfer Isaaks ließe sich ertragreicher als mit der Wiedererkennung des Odysseus durch seine Amme Eurykleia (Od. 19.386-502) mit Iphigenies Opferungvergleichen, die Aischylos’ Agamemnon in v. 205-249 schildert) und der gänzlich verschiedenen Intention und Weltsicht der verglichenen Texte; und die Zwischenzeit wird manches an Auerbachs treffenden Beobachtungen relativiert oder differenziert haben. 503 Daß Auerbach den Homerischen Stil und sein vermeintlich schlichtes Menschenbild beschreibt, hier jedoch die Kommunikationsstörungen der Figurenrede in der Tragödie im Vordergrund stehen, fällt nicht so sehr ins Gewicht, da das Drama material nur aus solcher besteht und die Ambivalenzen auch oder gerade in Chorliedern auftreten und durch die vielschichtigen Rezeptionsebenen realisiert werden. Außerdem fragmentiert und überblendet die Tragödie die epische Sprache und schafft durch dieses teils explizierte (für die Fleischstückchen vom Mahle Homers s. 1.6 Jeu de massacre: Darstellung der Eliminierung im Kap. zu Aischylos’ Persern) intertextuelle Verfahren weitere Sinnebenen, 504 mag man für diese Tektonik der diachronen Literatursemiotik nun wie Vernant gesellschaftliche Kräfte oder innerliterarische Entwicklungen verantwortlich machen. (Zu nennen wären hier das Streben nach variatio und aemulatio oder schlichtweg unterschiedliche Gattungsgegebenheiten wie die Figurenrede und die polisöffentliche Aufführung.) Der Unterschied zwi- 501 La mort de l’auteur (1968). In: Ds., Œuvres complètes. Bd. 3: Œuvres 1968-1971. Hg. v. Éric Marty. Paris 2002, 40-45, h. 45. Dt.: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. und kommentiert v. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko. Stuttgart 2000, 185- 193, h. 192. 502 Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (1946/ 49). Tübingen 10 2001, 9, 15. 503 Er selbst verweist im Nachwort autoapologetisch auf die besonderen Entstehungsumstände seiner Studie, die er während des Zweiten Weltkriegs in Istanbul ohne Fachliteratur und teilweise einschlägige Ausgaben geschrieben habe (2001: 518). 504 Vgl. die in den entsprechenden Kapiteln dieser Arbeit ausgedeuteten Parallelen zwischen Agamemnon einerseits und Xerxes in den Persern (s. 1.8 Xerxes) sowie dem Protagonisten des Oidipus Tyrannos (s. 2.5 Körperliche Integritätsverletzung und räumliche Eliminierung als Restauration? ) andererseits oder zwischen Achill und Euripides’ Medea (s. 3.5 Gender, Inversion und Perversion) sowie zwischen Odysseus und dem Iason dieser Tragödie (s. 3.7 Fabula docet oder Iason als Anti-Odysseus). <?page no="182"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 168 schen der glatten Oberfläche des Epos und den Auffaltungen der Tragödie zeigt sich auch darin, daß in jenem manches an struktureller Komplexität angelegt, aber noch wesensverschieden ist, was in dieser voll ausgebildet ist (für den Gegensatz zwischen dem episch-heroischen und tragischen Integritätstausch s. 1.4.4 Tragischer, heroischer und aristokratischer (Integritäts-)Tausch). Verstellungen der Odyssee unterscheiden sich etwa vom Intratheater des Dramas durch das Fehlen von Absprache und eingeweihtem Binnenpublikum und münden in der Restauration der eigenen Integrität statt deren Verletzung. Die Auffaltungen des Dramendiskurses lassen sich mit Gilles Deleuzes Modell der Falte beschreiben. Zur Probe aufs Exempel eignet sich Euripides’ Medea, da in dieser Tragödie die Zweifaltigkeit der gemeinsamen Kinder nicht nur eine besondere, tragische Rolle spielt, sondern auch lexikalisch klar faßbar als solche formuliert wird (v. 1136: ). 505 Außerdem faltet Medea, wie bereits oben zu Vernant angedeutet, die Sprache durch ihr Intratheater und ihre strategischen Ambivalenzen dialogisch auf (und bringt sie gerade durch diese Subvertierung zum Einsturz). Deleuze hebt aber bei seinen eher spärlichen Ausführungen zu Semiotisch-Diskursivem (ein Großteil des Schrift ist Architektonisch-Materiellem oder der Leibnizschen Philosophie gewidmet) unter Rückgriff auf Walter Benjamins Untersuchungen „Allegorie und Trauerspiel“ 506 auf die Allegorie und auch das Trompe-l’œil 507 im Emblem ab. 508 Neben der Falte ist das Rhizom eine Figur Deleuze’, die eine Form der Abweichung von der linearen und binären Rationalitätbeschreibt, wie sie die strukturalistische Semiotik zugrunde legt. 509 Sie soll bei der Interpretation des Oidipus Tyrannos zum Einsatz kommen (s. 2.2 Narrative Struktur eines analytischen Dramas). 505 Näheres s. 3.4 Tragik und dimidiata dyas in der Interpretation dieser Tragödie. 506 Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928). In: Ds., Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser Bd. 1,1. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1991, 336-365. 507 Vgl. dazu Christian Grünnagel „Katzengold und Trompe-l’œil“, in: Klassik und Barock - Pegasus und Chimäre. Französische und spanische Literatur des 17. Jahrhunderts im Dialog. Diss. Heidelberg 2009. Heidelberg 2010, 35-72. Für eine epistemologisch-philologietheoretische Nutzbarmachung des Trompe-l’œil s. Isabella Tardin Cardoso, Trompe-l’œil. Philologie und Illusion. Franz Römer zum Abschied aus dem Dekanat. Fakultätsvorträge der Philologisch- Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien 7. Göttingen 2011, 33-80. 508 Le pli. Leibniz et le Baroque. Paris 1988, 170-172. So illustriert das Stachelschwein die Devise Von nah und von fern, da es seine Stacheln von nah aufstellt („hérisse ses piquants“), aber auch von fern seine Borsten schießt (so die Übersetzung von „lance sa soie“ bei Gilles Deleuze, Die Falte. Leibniz und der Barock. Aus dem Französischen von Ulrich Johannes Schneider. Frankfurt a.M. 2002, 205). 509 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Rhizom. Aus dem Französischen von Dagmar Berger, Clemens- Carl Haerle, Helma Konyen, Alexander Krämer, Michael Nowak und Kade Schacht. [Orig.: Rhizome. Introduction. Paris 1976] Internationale marxistische Diskussion 67. Berlin 1977, 16f. <?page no="183"?> 2.5 Zum Ort der Mimesis: Maske und Rolle 169 2.5 Zum Ort der Mimesis: Maske und Rolle Von allen materiellen Utensilien, die im Rahmen einer Theateraufführung der dramatisch-mimetischen Illusion dienen, von Kulissen, Requisiten, Kostümen, ist die Maske im antiken Theater zweifellos das wichtigste theatralische Zeichen und von der höchsten semiotischen Komplexität. Ihre Aisthetik verbindet die beiden konstitutiven sinnlichen Elemente der Hybridgattung ‚Drama/ Theater‘ (ihre Materialität ordnet sie jedoch eher dem Schauspiel qua konkreter Aufführung zu), spricht sie doch Augen und Ohren des Rezipienten an, weil sie sichtbar ist und durch sie gesprochen wird. Sie verdoppelt eidetisch das Gesicht, ohne es zu reproduzieren, und schafft so semiotisch eine neue Identität. 510 Die Abweichung zwischen Gesicht und Maske läßt die Fiktionalität des Dramas und die Verfremdung, 511 aber auch die Möglichkeit zur Verstellung erkennen, die der griechische Sprachgebrauch nicht kannte, der mit auf den optischfiktiven Aspekt abhob 512 und so die eingangs erwähnte theatralische Funktion der Maske herausstrich. Bereits in der Aufführungspraxis bestand keine eineindeutige Zuordnung zwischen Schauspieler und Maske, woraus vielfältige theatersemiotische Effekte resultieren konnten. 513 Gleichzeitig ist sie das augenfällige Symbol der dramatischen Mimesis, weil sie der materiale Sinnträger der Rolle und Figur ist, die der Schauspieler verkörpert. Diese Zusammenhänge werden an der Bedeutungstrias des griechischen Wortes ‚Gesicht‘, ‚Maske‘, ‚Rolle‘ deutlich, 514 wobei die Maske zwischen dem erst- und der letztgenannten eine mimetische Scharnierfunktion erfüllt. Auf der Rolle, die in der Zuordnung von Schauspieler und Figur besteht, ruhen mehrere Rollen und Funktionen auf. (Fast möchte man die Metaphorik in Panaitios’ persona-Lehre rückgängig und diese für die Dramenanalyse fruchtbar 510 Vgl. Maurizio Bettini (Hg.), La maschera, il doppio e il ritratto. Strategie dell’identità. Rom- Bari 2 1992. 511 Für die Differenz zwischen Darsteller und dargestellter Rolle, auf welche die Maske hinweist, statt eine totale Illusion zu schaffen, s. Anton Bierl, Der Chor in der Alten Komödie. Ritual und Performativität. Unter besonderer Berücksichtigung von Aristophanes’ Thesmophoriazusen und der Phalloslieder fr. 851 PMG. Habil. Leipzig 1998. BzA 126. München 2001, 18. Durch das Thematisieren der Differenz von mimetischem signifiant und signifié hat die Maske also eine metatheatralische Wirkung. John Emigh, Masked Performance. The Play of Self and Other in Ritual and Theatre. Philadelphia 1996, 277, der südostasiatische Theaterpraktiken untersucht, sieht denn auch - und zwar ebenfalls mit Blick auf das griechische Theater - bei der Maske nur eine Überlappung, aber keine Kongruenz zwischen dem Selbst und dem Anderen. 512 David Wiles, Mask and Performance in Greek Tragedy. From Ancient Festival to Modern Experimentation. Cambridge 2007, 1. 513 S. Mark Ringer, Electra and the Empty Urn. Metatheater and Role Playing in Sophocles. Chapel Hill 1998. Näheres s. 2.6.1 Metatheater und Aisthetik der Eliminierung im Kap. zum OT. 514 Vgl. Claude Calame, Vision, Blindness, and Mask: The Radicalization of the Emotions in Sophocles’ Oedipus Rex. In: Michael S. Silk (Hg.), Tragedy and the Tragic. Greek Theatre and Beyond. Oxford 1996, 17-37, h. 27 f., der dem distanzierenden Aspekt in der optischen Semantik den Vorzug vor dem (mimetisch) identifikatorischen gibt: „prosôpon can be understood both as ‘that which is close to the eyes’ and ‘that which faces the eyes’ (of another).“ <?page no="184"?> 2. Zeichen, Ästhetik und Pragmatik: Die dramentheoretischen Grundlagen 170 machen. 515 ) Die mehrschrittige Gestuftheit von Mimesis und Semiose (beide werden hier als (re-)präsentatitive Verweisarten zusammengefaßt), welche bereits am Beispiel der Hybridgattung Theater/ Drama vorgeführt wurde (s. 2.3.2 Strukturalistisch-semiotische Dramenästhetik), setzt sich also im personalen Bereich bei Schauspieler, Figur, Rolle und Funktionen fort. Dabei gibt es allerdings zwei Unterschiede, die aus Gründen der Übersichtlichkeit für eine gesonderte Behandlung im Rahmen des vorliegenden Kapitels sprechen und vor der weiteren begrifflichen Auffächerung der Rollen und Funktionen behandelt werden müssen: Die Rolle der optischen Mimesis kann anders als bei der gesamtdramatischen (Re-)Präsentation auf den höheren Ebenen nicht unberücksichtigt bleiben, da die nonverbale Aktion der Figuren auf ihnen optisch wahrnehmbar ist, und oftmals fallen mehrere Kategorien der Figuren(re)präsentation in eine der gesamtdramatischen. Dadurch daß ein Mensch einen anderen Menschen in optischer Mimesis im Theater darstellt, wird er zum Schauspieler (signifiant) und jener zu einer Figur (signifié), etwa dem Oidipus in Sophokles’ zwei Tragödien. Die Rolle besteht im (re)präsentativen Nexus zwischen diesen beiden Zeichenteilen. Der optische Charakter der Rolle zeigt sich nicht nur daran, daß der Körper als Sinnträger fungiert, sondern auch in Plautus’ Amphitruo (Näheres dazu s. das entsprechende Kapitel): Dort wird ein optisch wahrnehmbares Kostümteil zum Unterscheidungsmerkmal zwischen den ansonsten identischen göttlichen und menschlichen Figuren. Allerdings erfolgt die Identifikation der Figuren im antiken Theater zumeist über die parole der Schauspieler, entweder durch sie selbst bei einer Vorstellung oder ihre Mitspieler als Ankündigung oder Anrede. Auf der Zuordnung von Schauspieler und Figur ruht nun wie auf Atlas und zeitweise auch Herakles die weitere (Re-)Präsentation im Bereich der Figuren. Die Figur, die dramenmimetische Rolle, fungiert hier als signifiant für die weiteren signifiés, d.h. Rollen und Funktionen, die zwar der Figur im Rahmen einer semiotisch gefaßten Identität zugeordnet sind, aber ihrerseits nicht semiotisch aufeinander aufruhen, sondern eine zunehmende Abstraktion aufweisen und überwiegend ebenfalls über die von den Schauspielern performierte parole konstituiert werden. Das elementarste signifié ist hierbei die soziale Position der Figur. Daß sie von dieser geschieden ist, zeigt sich daran, daß sie im Verlaufe der erzählten oder gespielten Handlung erworben oder verlorengehen kann, etwa wenn Oidipus die Königsherrschaft durch den Sieg über die Sphinx erlangt oder nach der Entdeckung seiner transgressiven Identität seine Vaterrolle an seinen Schwager Kreon übergibt. Bereits hier zeigt sich, daß die sozialen Rollen entsprechend der dargestellten Gesellschaft nach Oikos (Vater, Mutter, Kinder etc.) und Polis (König, Seher, Priester etc.) untergliedert sind, wobei die private Position des Patriarchen und die öffentliche des Monarchen in der attischen Tragödie, wie am Falle Oidipus’ ersichtlich, zusammenfallen und die Friktionen zwischen den beiden Ebenen nicht zum geringsten zu den dramatischen Konflikten beitragen und den Fortschritt der Handlung erklären können. Deren Hauptauslöser ist 515 Für den antiken Personenbegriff, die Maske und die panaitianischen Personen s. Regine Kather, Person. Die Begründung menschlicher Identität. Darmstadt 2007, 12-16. <?page no="185"?> 2.5 Zum Ort der Mimesis: Maske und Rolle 171 jedoch der Fortfall oder Hinzutritt einer Figur, welche die soziale Position einer anderen Figur einnimmt. Hier zeigt sich: Die sozialen Positionen werden nicht nur über die Zuordnung zu einer Figur, sondern auch über die Abgrenzung von anderen bestimmt. Ihre Identität ist also über die beiden Formen strukturalistischer Identitätszuweisung gesichert. Neben den sozialen Positionen stehen noch soziale Funktionen, die situativ ausgeübt werden (wie Kalchas’ Rolle als Opferpriester im Agamemnon) und nicht immer an die Performanz einer sozialen Position geknüpft sind (so gerade im religiösen Bereich der Opfernde wie Atossa in den Persern und Iokaste im OT oder der wie Oidipus und Kreon im OT und Theseus in Euripides’ Hippolytos). Die dramatische Figurenkonstellation muß begrifflich-systematisch von dem sozialen Gefüge des Dramas getrennt werden, auch wenn eine hermeneutische Trennung im Einzelfall zu unnötigen Komplikationen führt. In der dramatischen Praxis ruht die dramatische Figurenkonstellation nämlich auf dem sozialen Gefüge auf und setzt seine Verschiebungen fort, es ist aber bedeutend dynamischer als dieses. Die dramatische Figurenkonstellation wird durch die Konflikte und Allianzen konstituiert, welche die Handlung antreiben. Da sie sich von der bloßen Mimesis der sozialen Rollen unterscheiden, bewegen sich bereits auf der oben erwähnten Ebene der literarisch-künstlerischen Gestaltung. Zu ihr zählen ferner (Verhaltens-)Typen und dramatische Funktionen. Beide sind mit der dramatischen Figurenkonstellation und der Handlung verwoben. Erstgenannte läßt sich als ethische Rolle bezeichnen. Sie ist Teil der literarischen Figurenzeichnung. Innerhalb der ethischen Rolle lassen sich soziale Verhaltenstypen wie das tyrannische Gebaren, das Oidipus im OT zeigt, von genuin ethischen Verhaltenstypen unterscheiden wie der Medea in Euripides’ gleichnamigem Stück attestierten . Bei ihnen kann man nur von markanten Verhaltensmustern sprechen. Charaktertypen werden dagegen erst in der Neuen Komödie virulent. Die ethische Rolle kann durchaus mit den normativen Implikationen der sozialen Rollen in Konflikt treten, etwa wenn die Könige Oidipus, Kreon in der Antigone oder Pentheus in den Bakchen tyrannisch agieren. Auch Medeas kollidiert mit ihrer Mutterrolle. Auch in ihr liegt also ein transgressives Potential. Sie ist innerhalb der dramatischen Illusion ebenso frei gewählt wie die literarische Rolle bzw. Identität, die eine Figur bei der Verstellung annimmt, und kann dadurch zum Träger von Intra- oder gar Metatheater werden. 516 Ein differenzierender Blick auf diesen Phänomenkomplex tut deshalb not. Der Prototyp und Archeget der erfolgreichen Verstellung ist der listenreiche Odysseus, 517 der durch Verschleierung seiner ontologischen und sozialen Identität und Absichten diese um so besser restaurieren bzw. durchsetzen kann. Das Drama kennt die unterschiedlichsten falschen Rollen und Identitäten, die in der attischen Tragödie vornehmlich ethischer bzw. soziomo- 516 S. dazu Richard Hornby, „Role Playing within the Role“, in: Drama, Metadrama, and Perception. Lewisburg 1986, 67-87, h. 67 („[A] character for some reason takes on a role that is different from its usual self.“). 517 S. dazu Achim Geisenhanslüke, „Lob des Odysseus“, in: Masken des Selbst. Aufrichtigkeit und Verstellung in der europäischen Literatur. Darmstadt 2006, 29-60. <?page no="186"?> 3. Poetisch-ästhetische Dimensionen der Transgression 172 ralischer Natur sind, weil sie die Kongruenz von sozialer Rolle und Verhalten enthalten (Medea spielt die einsichtige Ehefrau, Phaedra die keusche), und die in Nea und Palliata wie in der Odyssee die ontologische Identität betreffen. Sie alle reproduzieren die dramatische Rollenmimesis, doch nur wenn die Kriterien Absprache, d.h. Konventionalisierung des Zeichens, und intradramatisches Publikum hinzutreten, kann man sensu stricto von Intratheater sprechen. Die ethische Rolle bzw. Identität kann aber auch der Figur über die dramatische Semiose zugeteilt werden, zu der etwa auch die Binnenhermeneutik gehört. Sie orientiert sich dabei nicht nur an Verhaltenstypen wie Medeas oder sozialen Typenbegriffen wie dem Tyrannen, sondern nicht selten an mythologischen Gestalten (so Iasons Versuche, Medeas transgressive Identität mit Hilfe des Meerungeheuers Skylla konzeptuell einzuhegen). 518 Sozialer Typenbegriff und mythologische Gestalt fallen deshalb in den Bereich der ethischen Rolle, weil für sie eine markante Verhaltensweise emblematisch ist, die auch bei der fraglichen Bühnenfigur ausgemacht wird. Die Einhegung mit Hilfe solcher äußerer emblematischer Rollenmuster, bei denen eine physisch distinkte Figur für das Verhalten einer Dramenfigur steht, erfaßt die Protoplasmatik der Persönlichkeit (vgl. Zeitlin 1980: 55: „nothing is more changeable than personality“) mit Hilfe eines vorfindlichen Zeichens, bei dem bereits eine konventionelle Korrelation zwischen äußerer Gestalt und Verhalten besteht. Zu den dramatischen Funktionen zählen selbstredend diejenigen, die Souriau definiert hat, aber auch Greimas’ Aktantenrollen oder Bremonds Handlungsrollen (s. 1.1 (Antikes) Drama und Strukturalismus: Zur Handlungsstruktur). Sie funktionieren über Kausalität und (Inter-)Aktion und beschreiben eine Rolle, welche die Figur innerhalb der dramatischen Figurenkonstellation im Dramenverlauf ausübt. Dazu zählt auch die - anders als die ethische genuin theaterspezifische - Rolle v.a. als Regisseur, aber auch als Akteur oder Zuschauer eines Intra- oder Metatheaters. Zusammen mit der Rolle als tragischer Transgressor bewegen sie sich auf einer höheren Ebene als die vorgenannten, da sie auf ihnen aufbauen können, ohne daß dies immer der Fall oder erforderlich wäre, und stellen den Gipfelpunkt literarisch-künstlerischer Gestaltung im Bereich der Figuren dar. 3. Poetisch-ästhetische Dimensionen der Transgression 3.1 Zu einer Poetik des Raumes Der Raum ist neben der Bewegung und der Grenze eine Basisgegebenheit für das Zustandekommen nicht nur einer lokalen Transgression. Eine Poetik der Transgression im strengen topologischen Sinne muß deshalb auf einer Poetik oder zumindest einer literaturwissenschaftlichen Theorie des Raumes aufru- 518 Weitere Beispiele s. Froma I. Zeitlin, The Closet of Masks. Role-Playing and Myth-Making in the Orestes of Euripides. Ramus 9 (1980) 51-77, h. 55-57. <?page no="187"?> 3.1 Zu einer Poetik des Raumes 173 hen. 519 Wie in der modernen Physik sind Raum und Zeit in der Literatur keine absoluten Kategorien, sondern an das Vorhandensein von Gegenständen und genauer an deren Veränderung geknüpft. Systemisch gesehen ist nicht etwas im Raum, sondern der Raum um etwas. Selbst der leere Raum ist durch die Abwesenheit eines Inhalts definiert. Dieses dynamisch-relationale Raum- und Zeitverständnis trifft von den drei Großgattungen per definitionem am meisten auf die mimetische zu, da das Drama eo ipso in Handlung besteht. Noch einschlägiger entsteht zudem im Theater, der zweiten Unterform der mimetischen Großgattung, jeder Raum im strengen topologischen Sinne (und nicht bloß als Äquivalent für einen abstrakten Bereich, den Bourdieu ‚Feld‘ genannt hätte 520 ) erst durch das Auftreten von Figuren und deren Bewegung, 521 selbst wenn er formal durch Grenzen konstituiert wird. Dieses dynamische Raumkonzept verbindet die Transgression mit dem spatial turn, der ebenfalls Räume nicht statisch, sondern dynamisch, nicht als Behältnis, sondern „als Ergebnis von sozialen Relationen, von Praktiken und Machtverhältnissen“ bestimmt, 522 also in Anknüpfung an die Konstellation und Interaktionen der Personen, in der die vorliegende Arbeit die Dynamik der Handlung verortet. Die topologische Transgression verbindet Bewegung und Grenzüberschreitung und kann gleichzeitig die normative realisieren (so die Überschreitung der Meerengen durch Xerxes’ in Aischylos’ Persern). Andere Bewegungen, die in dieser Arbeit untersucht werden, sind die Devianz als Abweichung von einem vorgegebenen Weg, die Evasion als Bewegung, die einen geschlossenen Kreis verläßt, und die Extravaganz, bei der sich an dieses Verlassen noch die ziellose Bewegung im Außenraum anschließt. Wie die Transgression haben sie eine topologisch-vektorale und zumeist auch eine normative Dimension. Sie können alle drei die Transgression und die Eliminierung realisieren, wobei die Evasion und die Extravaganz topologische Subtypen der Transgression sind. Das Theater ist durch seine lokale Dimension der Aufführung, die in seiner optischen Mimesis wurzelt, zweifellos die topologischste Gattung. 523 Da es auf 519 Für aktuelle Tendenzen vgl. die dramenspezifischen Beiträge (S. 305-374) in Irene J. F. de Jong (Hg.), Space in Ancient Greek Literature. Mnemosyne Suppl. 339. Studies in Ancient Greek Narrative 3. Leiden 2012, die unter den hier besprochenen Stücken der entsprechenden Dramatiker berücksichtigt wurden. Rush Rehm setzt von seiner zehn Jahre zuvor entwickelten Typologie (s.u.) den szenischen, extraszenischen, distanzierten und reflexiven Raum fort (Sophocles. In: Irene J. F. de Jong (Hg.), Space in Ancient Greek Literature. Mnemosyne Suppl. 339. Studies in Ancient Greek narrative 3. Leiden 2012, 325-339, h. 325). 520 Markus Schwingel, Bourdieu zur Einführung. Hamburg 6 2009, 85. 521 Aus der Bewegung der Schauspieler erklärt auch Jan Muka ovský, Zum heutigen Stand einer Theorie des Theaters (1941). In: Texte zur Theorie des Theaters. Hg. und kommentiert von Klaus Lazarowicz und Christopher Balme. Stuttgart 1991, 87-99, h. 94 die Konstitution dessen, was er „dramatischer Raum“ nennt. 522 Janine Hauthal, Von den Brettern, die die Welt bedeuten, zur ›Bühne‹ des Textes: Inszenierungen des Raumes im Drama zwischen mise en scène und mise en page. In: Wolfgang Hallet, Birgit Neumann (Hgg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld 2009, 371-397, h. 372. 523 Dies klingt gleich eingangs auch bei Benjamin Wihstutz, „Einleitung“, in: Erika Fischer- Lichte, Ds. (Hgg.), Politik des Raumes. Theater und Topologie. Paderborn, München 2010, 7- 13, h. 7 an. Ansonsten ist dieser Sammelband für die topologische Theorie des antiken Dramas <?page no="188"?> 3. Poetisch-ästhetische Dimensionen der Transgression 174 den Raum anders als gelegentlich auf die Sprache nicht verzichten könne, geht Wiles sogar so weit, das Theater - wie Platons Plan von Atlantis - als Foucaultsche Heterotopie einzustufen (1997: 3). Unter einer solchen verstand der französische Sozialphilosoph den Ort einer Gesellschaft, der eine realexistierende Utopie ist und an dem alle übrigen Orte dieser Kultur, von denen er radikal verschieden ist, zugleich dargestellt, bestritten und umgekehrt werden („représentés, contestés et inversés“). 524 Eine solche experimentelle und explorative Funktion des Theaters als intellektuelles Laboratorium und reflexiver Freiraum, in dem gefahrlos andere Ideen und Konstellation vorgeführt und durchgespielt werden können, werden wir verschiedentlich bei den Analysen des antiken Dramas kennenlernen, so bei dem Blick auf den ethnisch-kulturell Anderen in Aischylos’ Persern (s. 1.11 Fazit und Ausblick), dem Blick in Medeas Innenleben, den Euripides’ gleichnamige Tragödie gewährt (s. 3.2.3 Psychologisierung: Tragik als selbsterkannte Selbstaufhebung des Subjekts), und Senecas Dramen, welche die schlimmste menschliche Transgressivität inszenieren (s. 7.6.1 Fazit der Phaedra-Interpretation). Diese Funktion als explorativer Raum wurzelt im fiktional-mimetischen Charakter des Theaters und seines Raumes. Konkreter ist der Raum in der Literaturwissenschaft und Dramentheorie, der uns hier interessiert, durch zwei Kategorien strukturiert: Einerseits durch (Re-)Präsentation bzw. Mimesis sowie Spiel im weitesten Sinne, welche die Fiktionalität und Poetizität der betreffenden Räume begründen, und andererseits durch die Grenzziehung, welche in der Transgression manifest wird. Paradigmatisch entsprechen sie den beiden Saussureschen Verfahren, die Identität des Zeichens zu bestimmen: Die Grenzziehung zielt auf die Identität durch Opposition, die (Re-)Präsentation auf den Nexus zwischen signifiant und signifié. Da die Transgression nur innerhalb eines Raumtypus erfolgen kann (sonst wäre sie eine Transzendenz oder zumindest ein Sondertyp), sei zuerst die (re-)präsentative Typologie des Raumes entwickelt. In der Theorie des (antiken) Dramas hat bereits eine intensive Debatte über den Raum stattgefunden, deren Resultat verschiedene Raumtypen sind. Sie soll im folgenden aufbauend auf Marianne I. Hopman 525 referiert und gegebenenfalls angepaßt werden. Anne Ubersfeld 526 und Michael Issacharoff 527 führten die Unterscheidung in dramatischen, theatralischen und szenischen Raum ein. Unter letzterem wird der konkrete Raum auf der Bühne verstanden (Ubersfeld 1996: 114-117). Der szenische Raum ist, so unterscheidet auch Ubersfeld 1996: 117, entsprechend der theatralischen Mimesis und dem Zeichencharakter zugleich kaum ergiebig, weil er überwiegend auf die Architektur und Inszenierungspraxis des neuzeitlichen und zeitgenössischen Theaters abhebt. 524 Des espaces autres (1984). In: Ds., Dits et écrits. Édition établie sous la direction de Daniel Depert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange. 2 Bde. Paris 2001, Bd. 2, 1571-1581, h. 1574 f. Ohne klare Anbindung an die Theatertheorie referiert Rehm 2002: 19 Foucaults Konzept der Heterotopie und bietet allerhand zeitgenössische und historische Beispiele. 525 Revenge and Mythopoiesis in Euripides’ Medea. TAPhA 38.1 (2008) 155-183, h. 158-160. 526 Lire le théâtre. Paris 2 1996, 113-149. 527 Space and Reference in Drama. Poetics Today 2.3 (1981), 211-224. <?page no="189"?> 3.1 Zu einer Poetik des Raumes 175 Spielraum und gespielter Raum (‚Bretter, die die Welt bedeuten‘ oder bloß der Raum vor dem Palast in Theben). Er ist physikalisch wie semiotisch die Grundlage für die weitere (Re-)Präsentation, sowohl der Figuren bzw. Schauspieler als auch der Raumtypen. Die konstitutive Gestuftheit von Mimesis und Semiose in Theater und Drama (s. 2.3.2 Strukturalistisch-semiotische Dramenästhetik) setzt sich also folgerichtig im Falle des Raumes fort. ‚Theatralischer Raum‘ dient Ubersfeld als allgemeiner Oberbegriff für das durch die (re-)präsentative Mimesis Geschaffene, den szenischen wie den dramatischen Raum (1996: 124): „L’espace théâtral est une réalité complexe construite d’une façon autonome, et le mime (icône) à la fois de réalités non théâtrales et d’un texte théâtral (littéraire) ; [...].“ Issacharoff versteht unter „theater space“ dagegen die architektonische Gestaltung der Spielstätte, zu der auch der Bühnendekor gehöre (1981: 212). Ubersfeld bespricht die dramatischen Räume ohne eine klare Definition (1996: 138-140), doch der Plural, die Einbeziehung selbst der Zeit in den dramatischen Raum (1996: 138: „Les catégories du temps elles-mêmes font partie de l’espace dramatique entendu en ce sens large.“) und dessen Organisation in binären Oppositionen sprechen dafür, in ihm das begriffliche Äquivalent von Issacharoffs Terminus zu sehen, der folgende Definition gibt (1981: 214): „Dramatic space is the study of space as a semiotic system in a given play.“ Der dramatische Raum wird also im Bereich der literarischen Fiktionalität angesiedelt, des Saussureschen signifié (Issacharoff 1981: 212 ordnet ihn dagegen der parole zu, während szenischer und theatralischer Raum der langue entsprächen, sein Distinktionsmerkmal ist also die dichterische Individualität). David Wiles bringt die drei Räume nach Ubersfeld denn auch auf eine einfache, griffige Formel: Der theatralische Text ist das Gebäude, der szenische die Bühne und der dramatische der Text. 528 Issacharoff unterteilt den dramatischen Raum in mimetischen und diegetischen (1981: 215): Der mimetische werde dem Publikum sichtbar gemacht und auf der Bühne dargestellt, der diegetische werde von den Figuren erzählt. Die beschränkten Darstellungsmöglichkeiten des szenischen Raumes bringen es mit sich, daß die meisten topologischen Transgressionen des antiken Dramas in Figurenerzählungen und damit im diegetischen Raum dargestellt werden. Issacharoff selbst beschreibt den Unterschied zwischen mimetischem und diegetischem Raum mit „showing“ und „telling“, Merschs Kategorien ‚Sagen‘ und ‚Zeigen‘ sind hier also klar geschieden. Doch diese Trennung geht bei Issacharoffs Auffächerung des mimetischen Raum verloren (1981: 216): Er und seine Objekte können gezeigt werden und gleichzeitig Gegenstand des Diskurses sein, der dann eine Indexfunktion bekomme (für weitere Kombinationen der Merkmale ‚Zeigen‘ und ‚diskursiv‘ und ‚metadiskursiv‘ vgl. die Tabelle auf 1981: 216). Das Verbale sei dabei auf das Visuelle bzw. Sichtbare zentriert. Da ein Code auf einen anderen referiere, werde das Theater autoreflexiv. Die Sprache sei aber auch wegen der fehlenden Referenz nonverbaler Codes der dominante 528 Tragedy in Athens. Performance space and theatrical meaning. Cambridge 1997, 15. Bereits Muka ovský (1941) 1991: 95 definiert den dramatischen Raum implizit über die theatralische Fiktion, wenn er den Zuschauerraum in ihn mit einbezieht. <?page no="190"?> 3. Poetisch-ästhetische Dimensionen der Transgression 176 Code. Issacharoff muß den Terminus ‚mimetischer Raum‘ in dieser semiotischen Konfigurierung offensichtlich deshalb einführen, weil seinem Bühnenraum der Zeichencharakter fehlt. Er glossiert seinen „stage space“ (nicht „scenic“) denn auch als „scenography or stage and set design“ (1981: 212). Da die vorliegende Arbeit bereits beim theatralischen (s.u.) und szenischen Raum Bespielung und mimetischen Zeichencharakter als Wesenskonstituens ansetzt, faßt sie auch den Terminus ‚mimetischer Raum‘ in einem weiteren Sinne als Issacharoff, sofern nicht ausdrücklich auf dessen Begriff verwiesen wird. Der mimetische Raum dieser Arbeit ist - anders als der diegetische Raum als sprachlich evozierter und imaginierter tatsächlicher Raum - nicht räumlich-konkret, sondern hebt auf den fiktionalen Bereich ab, in dem sich das dargestellte Bühnengeschehen vollzieht. Er beruht auf dem Zeichencharakter des szenischen und dramatischen Raumes. Zusammen mit dem szenischen Raum bildet der mimetische Raum in der klassischen attischen wie neuzeitlichen Tragödie einen Raum, der wie die mittelalterliche Himmelshalbkugel durch die Fixsternsphäre durch das Ende der Bühne vom Zuschauerraum abgeschlossen und in sich geschlossen ist. Erst das Metatheater durchbricht diese Grenze, was man nach dem Verständnis dieser Untersuchung als Mittel der dramaturgischen Transgression klassifizieren kann (s. 3.3 Metatheater als poetische Transgression). Lowell Edmunds ist skeptisch gegenüber Issacharoffs These von der Dominanz des verbalen Codes im Drama, greift aber dessen Modell auf und erweitert es, indem er den diegetischen Raum unterteilt: zum einen in solchen, der für die Charaktere auf der Bühne, aber nicht für die Zuschauer sichtbar sei, zum anderen in einen für beide Gruppen unsichtbaren. 529 Später führt er als weitere Kategorie den deiktischen Raum ein, bei dem Worte sich auf Dinge beziehen, die sich auf der Bühne (also im szenischen Raum) befinden. 530 Auch ihn unterteilt er nach der Sichtbarkeit für Publikum und Schauspieler in Dinge, die beide 529 Theatrical Space and Historical Place in Sophocles’ Oedipus at Colonus. Lanham 1996, 24-26. So bereits Ds., The Blame of Karkinos: Theorizing Theatrical Space. In: Bernhard Zimmermann (Hg.), Antike Dramentheorien und ihre Rezeption. Drama (Beiträge zum antiken Drama und seiner Rezeption) 1. Stuttgart 1992, 214-239, h. 223. 530 S. die systematische Übersicht über Edmunds’ Raumkonzeption http: / / wwwrci.rutgers.edu/ ~edmunds/ Divs.html. Eine weitere Übersicht (Lowell Edmunds, Sounds Off Stage and On Stage in Aeschylus, Seven Against Thebes. In: Antonio Aloni, Elisabetta Berardi, Giuliana Besso, Sergio Cecchin (Hgg.), Atti del Seminario Internazionale Sette a Tebe. Dal Mito alla Letteratura. Torino 21-22 Febbraio 2001. Bologna 2002, 105-115, h. 114 f.) ist hier von geringerer Relevanz, weil sie statt von diegetischem von exegetischem Raum spricht und v.a. den sog. akustischen Raum, der durch nonverbale Äußerungen konstituiert wird, differenziert. Dessen Systematik läßt sich zwar auf die hier besprochenen Tragödien und sogar ihre Transgressionen und deren Folgen anwenden (Oidipus’ Schreie in der postidentifikatorischen Phase des OT, die der Bote dem Chor berichtet (v. 1260, 1265), sind „vocal sound ad phantasma“, die Todesschreie von Medeas Kindern dagegen „vocal sound ad aures“ (v. 1270a) und der Donner, der Alcumenas Niederkunft in Plautus’ Amphitruo begleitet (v. 1094-1096), „nonvocal sound ad phantasma“), doch fragt sich, ob dieses Grenzgebiet zwischen Topologie und Narratologie nicht besser in der Narratologie angesiedelt wäre. Fest steht jedenfalls, daß diese unterschiedlichen Laute klar geschiedenen Aspekten der Transgression entsprechen: Medeas Kindermord deren faktischem Vollzug, Oidipus’ Schreie ihrer Erkenntnis und v.a. der Erkenntnis ihrer sozialen Folgen und der Donner im Amphitruo ihrer faktischen Folge(nlosigkeit). <?page no="191"?> 3.1 Zu einer Poetik des Raumes 177 Gruppen sehen können, und solche, die nur für die Schauspieler sichtbar sind und die das Publikum sich vorstellen muß. Bei der Benennung dieser beiden Kategorien greift Edmunds mit leichter Variation Karl Bühlers Begriffe Deixis am Phantasma und demonstratio ad oculos auf. Ersterer bezeichnet sichtbare, letzterer vorgestellte Dinge. 531 Edmunds ordnet konsequenterweise dem Raum, den das Publikum sehen kann, die Bezeichnung Deixis ad oculos und demjenigen, den es sich vorstellen muß, den Terminus Deixis ad phantasma zu. Edmunds’ feine terminologische Ziselierung ist gleichwohl unter zwei Aspekten nicht unproblematisch. Daß die Schauspieler Gegenstände sehen, die auf und nicht hinter der Bühne sind, während sie dem Publikum verborgen bleiben, scheint dramaturgisch schwierig zu bewerkstelligen. Eine entsprechende Konstellation ist bei der cistula in Plautus’ Amphitruo denkbar, wo Sosia dem eponymen Protagonisten auf dessen Nachfrage berichtet, daß keine Schale in der besagten Kiste sei (v. 787-792). Die Einschränkung der Deixis am Phantasma auf die Bühne in Edmunds’ Systematik entspringt zudem allenfalls ihrer Opposition zur demonstratio ad oculos. Hopman 2008: 159 referiert denn auch bloß stichpunktartig die Begriffe von Lowell Edmunds’ theatralischer Raumkonzeption und erwähnt, daß Karl Bühlers Deixis am Phantasma die Fähigkeit der Sprache bezeichne, Dinge und Orte in der Vorstellung der Rezipienten zu evozieren, was ja zweifellos auch auf den diegetischen Raum zutrifft. Rush Rehm, der in dem Kapitel „Theories of Spaces“ seiner Monographie über den Raum in der griechischen Tragödie 532 den auf- und anregenden, aber für unsere dramentheoretische Grundlegung nicht einschlägigen Versuch unternimmt, antike Raumtheorien auf die attische Tragödie anzuwenden, stuft den heuristischen Wert von Issacharoffs und v.a. Edmunds semiotischem Modell als gering ein, da es bloß auf taxonomische Vollständigkeit ziele (2002: 1 f.). Er selbst unterscheidet zusätzlich zum theatralischen und szenischen Raum noch den extraszenischen, den distanzierten, den selbstreferentiellen (metatheatralischen) sowie den reflexiven (2002: 20-25, 270). Rehm vertritt inhaltlich denselben Begriff des theatralischen Raums wie Ubersfeld (Aufführungsgeschehen im Theater) und Issacharoff (Gebäude) und verbindet sie performativ (2002: 20): „The theater becomes a theatrical space when it “houses” a dramatic performance [Kursivierung und Anführungszeichen im Original].“ 533 Dem hier bereits bekannten szenischen Raum stellt Rehm mit einer treffenden Prägung den extraszenischen gegenüber, der sämtliche physisch präsenten und ebenfalls semiotisch besetzten Räume außerhalb der Bühne umfaßt, also etwa das Palastinnere, aber auch den Raum auf dem (2002: 21). Präziser wäre die Benennung ‚postszenisch‘ für das Palastinnere, während der Raum auf dem als ‚supraszenisch‘ etikettiert werden könnte. Auch wenn Rehm die heuristische Tragweite strukturalistischer binärer Oppositionen im Zusammenhang mit dem 531 Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Mit einem Geleitwort von Friedrich Kainz. Jena 1934. Ndr. Stuttgart 1982 = 1999, 125. 532 The Play of Space. Spatial Transformation in Greek Tragedy. Princeton 2002, 273-296. 533 Die Be- und Erspielung des szenischen Raumes, v.a. der Orchestra durch den Chor, untersucht Graham Ley, The Theatricality of Greek Tragedy. Playing Space and Chorus. Chicago 2007 vornehmlich anhand von Aischylos’ Dramentexten. <?page no="192"?> 3. Poetisch-ästhetische Dimensionen der Transgression 178 hier faßbaren Gegensatz zwischen innen und außen nuanciert (2002: 21 f.), so ist die Grenze zwischen offener Bühne und Haus für die Darstellung und den Vollzug der Transgression wichtig. Der ist also nicht nur der dramatische, sondern auch der szenische Ort der Transgression, sofern sie nicht in den diegetischen Raum verlagert wird. Treffend hebt denn auch das neunte Kapitel „La dialectique du dehors et du dedans“ (S. 191-207) von Gaston Bachelards Werk La poétique de l’espace ([1957] Paris 4 1989) bereits eingangs auf die wechselseitige dialektische Bedingtheit von innen und außen ab (S. 191), die jeder Grenzziehung zugrunde liegen. Unter distanziertem Raum versteht Rehm einen realexistierenden, aber im Gegensatz zum szenischen und extraszenischen Raum nur sprachlich evozierten, für den Rehm den Dreiweg oder Korinth im Oidipus Tyrannos als Beispiel anführt (2002: 22). Sieht man von der Frage des Chors im Oidipus Tyrannos nach dem Sinn seines Tanzens ab (das ja den Boden und den Aufführungsanlaß berührt), falls die Ehrfurcht vor den Göttern schwindet (v. 896), ist Rehms Begriff des metatheatralischen Raums nicht spezifisch topologisch und umfaßt auch intra- und intertheatralische Aspekte (2002: 23). Auch mit dem reflexiven Raum, welcher die Reflexion zeitgenössischer Aktualität und damit den sozialen Bezug des attischen Dramas als Spiegel der Gesellschaft umfaßt, setzt Rehm die Lösung von der Topologie fort (2002: 23-25), wobei diese Funktion für das attische Drama schwerlich abgestritten werden kann. So treffend also Rehms Unterscheidung zwischen szenischem und extraszenischem Raum ist, weil sie anders als Edmunds’ Kriterien Bühne und Sichtbarkeit auf objektive lokale Gegebenheiten des antiken Dramas abhebt, so diskussionsbedürftig scheint sein distanzierter Raum. Es fragt sich, ob man ihn man nicht besser mit Edmunds und Issacharoff als ‚diegetischen‘ (oder aber ‚erzählten Raum‘) bezeichnet. Allerdings überschneiden sich Rehms objektive und Edmunds’ und Issacharoffs subjektiv-narratologische Kriterien insofern, als der postszenische Innenraum des Hauses in den allermeisten Fällen für die Zuschauer nicht einsehbar ist und ihnen nur durch die Erzählungen der Schauspieler vermittelt wird (etwa die Geschehnisse um Oidipus’ Blendung im OT), er also sensu stricto auch diegetisch ist. Deshalb ist es vom Standpunkt der theatertheoretischen Systematik statthaft, von einem postszenisch-diegetischen und einem distanziert-diegetischen Raum zu sprechen. Für die hermeneutische Arbeit dieser Untersuchung ist es allerdings praktikabler, die Bezeichnung ‚diegetischer Raum‘ auf den distanzierten zu beschränken, da er ausschließlich über Erzählungen vermittelt wird, und diese Darstellungsweise, sofern der Fall, beim postszenischen verbal zu explizieren, statt terminologisch zu fixieren. Der Analyseapparat der vorliegenden Arbeit kann also folgende Raumbegriffe der Gattung Theater zugrunde legen: Der globalste ist dabei der theatralische Raum, der mit dem Theatergebäude die Aufenthaltsorte von Schauspielern und Zuschauern umfaßt und zu dem der Theaterbau erst durch seine Bespielung wird, wie Rehm treffend definiert (erst dann kann er sensu stricto performativ als ‚Spielstätte‘ bezeichnet werden). Der szenische Raum umfaßt dagegen nur die Bühne und ist ebenfalls nicht bloß materiell definiert, sondern durch seinen mimetischen Zeichencharakter, der gleichfalls erst in der Bespielung zum Tragen kommt. Er ist nicht typologisch, sondern nur durch die materielle Gestal- <?page no="193"?> 3.2 Zu einer Poetik und Hermeneutik der Transgression 179 tung der Bühne vom extraszenischen Raum geschieden, mit dem Rehm das Palastinnere oder das bezeichnet, die man als postszenisch bzw. supraszenisch unterscheiden kann. Der nicht mimetisch gezeigte, sondern bloß sprachlich evozierte und referenzierbare Raum wird dagegen als ‚diegetischer‘ oder ‚erzählter Raum‘ bezeichnet. Recht weitgefaßt ist dagegen Ubersfelds und Issacharoffs ‚dramatischer Raum‘, der durch den Dramentext geschaffen wird und auf den hier wegen seiner begrifflichen Beliebigkeit weitgehend verzichtet werden soll. Als Oberbegriff des durch den Zeichencharakter des dramatischen und szenischen Raums geschaffenen fiktionalen Bereichs dient in dieser Arbeit der mimetische Raum. Obwohl dieser Terminus scheinbar noch globaler und raumferner als ‚dramatischer Raum‘ ist, 534 wird er hier deshalb bevorzugt, weil er mit der Mimesis die präsentative Grundlage der theatralischen Semiose im Blick behält. Der selbstreflexive bzw. metatheatralische und reflexive Raum, den Rehm einführt, bezeichnet letztlich nur Funktionen des mimetischen, dessen Durchbrechung das dramaturgische Metatheater konstituiert. 3.2 Zu einer Poetik und Hermeneutik der Transgression Bei dieser Untersuchung geht es um die dichterische Gestaltung des Konfliktverlaufs im fiktional-mimetischen Raum anhand der hier skizzierten strukturalistischen und handlungstheoretischen Kategorien. Es kann und soll also nicht umfassend und endgültig geklärt werden, was die Poetizität des antiken Dramas sei, denn diese Frage führt nahezu unausweichlich in die bislang aporetische Grunddebatte der Ästhetik, was die Kunst an sich und die Literatur qua Sprachkunst im allgemeinen seien. Vielmehr soll die Funktionsweise der Poetizität antiker dramatischer Texte vornehmlich an der Handlung nach dem hier gewählten Ansatz gezeigt werden. Diese Beschränkung des Argumentationsziels hat zum einen pragmatische Gründe wie die Zielsetzung und den Rahmen dieser Arbeit. Er läßt keine ästhetisch-poetologische Grundlagenforschung zu, deren Breite und Innovation geeignet sein könnte, die bisherige Theorie hegelianisch aufzuheben, 535 sondern erheischt nur die Explikation der zugrunde gelegten ästhetisch-poetologischen Prämissen. Zum anderen entspringt die gewählte Beschränkung des Argumentationsziels gleichwohl einer grundsätzlichen Auffassung über das Wesen des Kunstwerks, nämlich einem ästhetischen Skeptizismus: Nach diesem beruht die Aporie über das Wesen von Kunst und Literatur nicht zuletzt auf deren irreduzibler Unbestimmbarkeit, die in der Komplexität der poetischen Struktur gründet, die durch die poetische Transgression des Alltäglichen bloß generiert wird, sich aber nicht in ihr erschöpft. Ein Kunstwerk 534 Die Gesamtheit dessen, was durch den Mimesis und Semiose im Drama erschaffen, also nicht nur die (bespielbaren) Räume, sondern auch die Figuren und ihre Konstellation, ließe sich auch als ‚dramatischer Kosmos‘ bezeichnen. ‚Kosmos‘ hebt dabei auf die (schöne) Ordnung ab, die hier über den Strukturbegriff gefaßt wird und deren Ästhetik im nächsten Kapitel behandelt werden soll. 535 Vgl. Dieter Mersch, Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2002. <?page no="194"?> 3. Poetisch-ästhetische Dimensionen der Transgression 180 läßt sich deshalb immer wieder neu beschreiben, aber nie erschöpfend und endgültig in seinem Wesen erfassen. 536 Das Wesen der Kunst läßt sich semiotisch als irreduzible Potentialität definieren. 537 Sie beruht auf dem Symbolcharakter der Kunst. Bei einem Symbol bezeichnet, so Paul Ricœur, ein buchstäblicher Sinn einen figuralen. 538 Jede Interpretation reduziert Ricœur zufolge die Ambiguität des Symbolischen gemäß ihrem eigenen spezifischen Muster, 539 was ihrer Kohärenz keinen Abbruch tue, 540 wie denn bereits für Luhmann jede Wahrnehmung von Systemen mit einer Komplexitätsreduktion an ihrem Gegenstand einhergeht und zugleich den Sinn mit „Verweisungsüberschüssen“ ausstattet. 541 Jede Deutung, die einen Absolutheitsanspruch erhebt, indem sie ein Kunstwerk seinem Wesen nach auf eine einzige Bedeutung reduziert und der Interpretation das Siegel aufdrückt, kommt also dem Versuch gleich, das Haupt der Medusa mit einer Schlange zu identifizieren, und würde den Tod der Hermeneutik nach sich ziehen, deren Aufgabe Ricœur treffend in der Interpretation des Symbolischen sieht. 542 Die lange Tradition, die auf eine semiotisch operierende Hermeneutik zurückblicken kann, 543 entschärft Gérard Genettes Gegensatz von literarischem Strukturalismus und intuitiver Hermeneutik, welche die Kongruenz von Bewußtseinsinhalten anstrebe. 544 Die Hermeneutik entschlüsselt also die Zeichen, welche die Poesie 536 Anders leitet Radke 2003: 20 aus der einmaligen Aufführung einen eindeutigen Sinn der griechischen Tragödien ab und übersieht dabei, daß diese historische Sinnstiftung singulär und für moderne Interpreten kaum rückholbar ist. 537 Vgl. Walter Falk, Vom Strukturalismus zum Potentialismus. Ein Versuch zur Geschichts- und Literaturtheorie. Freiburg i.Br. 1976, 285-377, der allerdings die Potentialität an das aristotelische und somit das Verhältnis zur Wirklichkeit knüpft. Diese „Möglichkeit zu sinnhaftem Menschsein“ sei zuerst nur in der Seele des Dichters und werde von diesem mit Hilfe von verfremdeter Darstellung adäquat mitgeteilt (1976: 297-300). Dieses Modell, das den Strukturalismus überwinden will, geht von historistischen Gegebenheiten aus und verfährt selbst stark psychologisierend. 538 Le conflit des interprétations. Essais d’herméneutique. Paris 1969, 16. 539 Jan M. Broekman, Strukturalismus. Moskau - Prag - Paris. München 1971, 114. 540 Paul Ricœur, De l’interprétation. Essai sur Freud (1965). Paris 2001, 518 f. 541 Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1 1997, Bd. 1, 143 f. 542 Le conflit des interprétations. Essais d’herméneutique. Paris 1969, 16. 543 Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik. Frankfurt a.M. 1 1975, 99 ff. (Georg Friedrich Meiers [1718-1777] Versuch einer Allgemeinen Auslegungskunst). Nach August Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften. Hg. von Ernst Bratuscheck. 2. Aufl. besorgt von Rudolf Klussmann. Leipzig 1886, 77 f. bezieht sich die Hermeneutik auf „ein Zeichen des Erkannten […] wie alle sprachliche Mittheilung, Schriftzeichen […].“ Gunter Gebauer, Der Einzelne und sein gesellschaftliches Wissen. Untersuchungen zum symbolischen Wissen. Berlin 1981, 27 f. faßt das hermeneutische Problem des Sinn-Verstehens in Anlehnung an Morris’ fünfgliedriges Zeichenmodell der Sinn-Semiosis „als ein allgemeines semiotisches Problem“. 544 „Structuralisme et critique littéraire“, in: Ds., Figures I. Paris 1966, 145-170, h. 158-160. Die grundsätzliche Kompatibilität von Hermeneutik und Strukturalismus über die Semiotik und das Symbol erübrigt auch Genettes nachfolgenden Versuch, sie durch die Abgrenzung unterschiedlicher Forschungsfelder (exotisch-ethnologische und Randliteratur für den Strukturalismus, kanonische Werke für die Hermeneutik) oder als unterschiedliche Modi komplementärparzelliert zu harmonisieren (1966: 159-163). <?page no="195"?> 3.2 Zu einer Poetik und Hermeneutik der Transgression 181 geschaffen hat. 545 Beide sind demnach semiotisch verfaßt. Neben der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik der Transgression soll in der vorliegenden Untersuchung auch die drameninterne in den Blick genommen werden, welche die einzelnen Figuren vornehmen und die deshalb der kompetitiven Binnenpragmatik unterliegt. 546 Auch Ricœurs Stufung von buchstäblichem und figuralem Sinn, die ihren hermeneutikgeschichtlichen Ursprung in der Lehre vom vierfachen Sinn der Heiligen Schrift hat, 547 legt es nahe, das Wesen eines Kunstwerks im Einzelfall am besten über seine Abweichung vom Allgemeinen zu bestimmen, also das Singuläre und Individuelle, selbst wenn diese Züge hier nicht mehr entsprechend der romantischen Genieästhetik auf eine rekonstruierte Künstlerpersönlichkeit projiziert, sondern am Sprachkunstwerk selbst festgemacht werden und hierbei das strukturalistische Verfahren der Identitätsfindung und Ermittlung der distinktiven Merkmale durch Abgrenzung zum Einsatz kommt. Die analytische Grundfigur der performativen Strukturtransgression läßt sich nicht nur in der Handlung, dem zentralen Inhalt des Dramas, verorten, sondern kann auch vielfältige Aspekte der dramatischen Poetizität beschreiben. So wird etwa die Erhabenheit der Tragödie durch die Abweichung der Sprache und Charaktere von der Alltagssprache und -welt erzeugt, ein Gedanke, der bereits in Aristoteles’ Poetik anklingt (1449b 25 f., 28-31; 1453a 16). Auch Verschiebungstropen wie die Metapher sind poetische Transgressionen des usuellen Signifikats. Die Metapher eignet sich hervorragend zur Beschreibung sozialer Transgressionen, hat doch bereits Paul Ricœur in seiner siebten Betrachtung auf die Gewalttätigkeit der Metapher hingewiesen, da sie ihre Referenz auf den Trümmern der wörtlichen Referenz erwerbe. 548 Die Transgression ist das Signum der Kunst, des Poetischen schlechthin, wenn man dieses als singuläres Durchbrechen der Alltäglichkeit versteht. Allerdings erfaßt diese Anknüpfung an die Transgression nur den Ausgangspunkt der poetischen Bewegung und bietet durch die Bestimmung von Kunst und Poetik via negationis nur eine negative Ästhetik. Eine Poetik der Transgression will diese freilich nicht in der Nachfolge Šklovskijs und vor allem Jakobsons auf Abweichung von der usuellen Struktur reduzieren, 549 die durch 545 Dieter Janik, „Zeichen - Zeichenbeziehung - Zeichenerkennen“, in: Literatursemiotik als Methode. Die Kommunikationsstruktur des Erzählwerks und der Zeichenwert literarischer Strukturen. Tübingen 1985, 75-88, h. 75 f. 546 Vgl. 3.2.5 Die Schlußszene mit Iason und 3.3 Die binnenhermeneutische Beurteilung als / der Transgression in der Medea-Interpretation. 547 Vgl. dazu und zu seiner Aktualität für die gegenwärtige Hermeneutik Horst-Jürgen Gerigk, Lesen und Interpretieren. Göttingen 2002, 119-134. 548 La métaphore vive. Paris 1975, 279: „De même que l’énoncé métaphorique est celui qui conquiert son sens comme métaphorique sur les ruines du sens littéral, il est aussi celui qui acquiert sa référence sur les ruines de ce qu’on peut appeler, par symétrie, sa référence littérale.“ 549 Vgl. Lutz Rühling, Fiktionalität und Poetizität. In: Heinz Ludwig Arnold, Heinrich Detering (Hgg.), Grundzüge der Literaturwissenschaft. München 7 2005, 25-51, h. 41 f. Dieses Spezifikum entkräftet den möglichen Einwand, der russische Formalismus sei bloß eine Neuauflage der hellenistischen Poetik des Neoptolemos aus Parion, der von der sprach und sie (neben dem Dichter) in das als formal-sprachliche Gestaltung und die als inhaltlich-stoffliche Gestaltung unterteilte (Phld. Po.5 col. 13,32-6,28, so Roswitha Simons, Art. Neoptolemos [9]. DNP 8 (2000) 833 f.). <?page no="196"?> 3. Poetisch-ästhetische Dimensionen der Transgression 182 das Verfahren der Verfremdung ( c pa e ) erzielt wird. 550 Eine Deviationsbzw. Devianzpoetik impliziert freilich eine Nähe von Künstler und Kriminellem, 551 die auf der Rezipientenseite dadurch nahegelegt wird, daß der (Vieh-)Dieb Hermes (h. Merc. 68-86) 552 als Patron der Übersetzer fungiert, und sich im Werk am tragischen Transgressor zu manifestieren scheint und deshalb sehr ergiebig für die dramatische und intratheatralische Analyse der Ästhetik der Transgression zu sein verspricht. Sie bewegt sich also im Bereich der Detailhermeneutik der Transgression in der Literatur, während eine Poetik der Transgression ein literaturtheoretisches Grundkonzept ist. In Absetzung vom russischen Formalismus und seiner bloß via negationis bestimmten Devianzpoetik soll denn auch die Poetik allgemein und diejenige der Transgression über den positiven Zielpunkt der künstlerischen Bewegung als Schaffung eines fiktionalen Raums und als Gestaltung der fiktionalen Struktur, als Schöpfung von dichterischen Texten und Zeichen begriffen werden, also als poetische Semiogenese. Die Poetik beschränkt sich also nach diesem Konzept nicht wie in der Deviationsästhetik auf eine lineare Abweichung von einer usuellen Norm, sondern sie schafft einen eigenen Raum. Topologie und Geometrie unterscheiden sich also bei den beiden Ästhetiken beträchtlich. Dieser poetisch-schöpferische Transgressionsbegriff wuchert keineswegs zur Transzendenz, von welcher der Begriff der Transgression ja definitorisch abgegrenzt wurde (s. 1.2.1 Dramatische Transgression von Struktur und Identität in der Einleitung), sondern er wendet in der Poetologie den Satz an, daß die Bewegung den Raum schafft (s. 3.1 Zu einer Poetik des Raumes). Auch steht er im Einklang mit anderen Denkern, nicht zuletzt den russischen Formalisten. Bereits Viktor Šklovskij hat in ausdrücklicher Anlehnung an Aristoteles die Distanz der dichterischen zur Alltagssprache betont und dabei die Semantik des Poetischen durch die vorausgehende Verwendung von „Schöpfer“ [ e ] implizit reetymologisiert. 553 In Anlehnung an Poseidonios ergänzte in diese Unterscheidung um eine semantisch-mimetische Referenz des (D.L. 7.60 = Frg. 458 Th.: […] […] ). 550 Vgl. dazu Victor Erlich, Russischer Formalismus. Aus dem Englischen übersetzt von Marlene Lohner. [Orig.: Russian Formalism. History - Doctrine. ’s-Gravenhage 1955] Frankfurt a.M. 1973, 195. 551 Vgl. Horst Bredekamp, Der Künstler als Verbrecher. Ein Element der frühmodernen Rechts- und Staatstheorie [aus einem Vortrag hervorgegangen, der am 14. Februar 2005 in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung gehalten wurde]. Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung 90. München 2008, v.a. 68-77 („Das Prinzip der Inversion“). Für den Kriminellen als Faszinosum der Literatur und praktisches Vorbild dandyhafter Literaten des 19. Jh. und frühen 20. Jh.s s. Karl Heinz Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk. München 1978, 32-41, v.a. 33 (zu Oscar Wildes Dorian Gray): „Das Verbrechen ist ganz zurückgenommen in die Person des Künstler-Täters. […] So wird das Verbrechen als ästhetische Handlung verstanden.“ 552 Vgl. dazu Athanassios Vergados, The Homeric Hymn to Hermes. Introduction, Text and Commentary. Texte und Kommentare 41. Berlin 2013, 283-286. 553 Kunst als Verfahren. In: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Hg. und eingeleitet von Jurij Striedter. München 4 1988, 5-35, h. 31. Russ.: Texte der russischen Formalisten. Mit einer einleitenden Abhandlung hg. v. Jurij Striedter. Bd. 1: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 6. München 1969, 3-35, h. 30. <?page no="197"?> 3.2 Zu einer Poetik und Hermeneutik der Transgression 183 Dieter Merschs gleichfalls reetymologisierte ‚Aisthetik‘ könnte man unter Rückgriff auf Hans Robert Jauß, der bereits gräzisierend ‚Poiesis‘ und ‚Aisthesis‘ schrieb, 554 hier von ‚Poietik‘ sprechen. Der poetische Transgressionsbegriff entspricht ganz der Affinität der ästhetischen Moderne, die sich zumeist avantgardistisch definierte, und gipfelt im Surrealismus, der mit dem „transgressiven Gestus einer Freilegung unerschlossener Tiefen der Imagination und des Traumes“ operierte. 555 Wenn Jakobson die poetische Sprachfunktion darin erblickt, daß latente Strukturen, die in der Alltagssprache überhört würden, ins Bewußtsein treten bzw. die Äquivalenz, die in jener auf der paradigmatischen Achse angesiedelt sei, in die syntagmatische gelange, 556 also in der konjunkturellen Ko-Präsenz struktureller semantischer Ambi- oder Polyvalenzen, so vernachlässigt dieses Verständnis von Poetik deren grenzensprengende Innovationskraft, die nicht bloß Valenzen der Alltagssprache kombiniert, sondern wie die Dialektik das Alte und Gegensätzliche im Neuen aufhebt. Während der sterile Schematismus und Formalismus 557 strukturalistischer Poetiken in der interpretatorischen Praxis für generalisierende Beschreibungen (wie hier auch die Handlungsstruktur) gute Dienste leisten kann, so läßt sich die poetische und hermeneutische Kreativität, mit der ein performierendes Subjekt die semiotische Irreduzibilität auslotet, theoretisch besser auf der Grundlage des Modells der generativen Transformationsgrammatik beschreiben, die mit Performanz und Kompetenz den Sprecher als linguistisches Subjekt wiederentdeckt. Eine Anleihe bei den russischen Formalisten zur Beschreibung antiker Literatur wird in gewisser Weise jedoch dadurch nahegelegt, daß die antiken Ausdrücke für ‚Kunst‘ (gr. , lat. ars) stets die handwerkliche Seite im Blick haben, 558 ja, das lateinische Wort ars wohl mit dem deutschen ‚Art‘ sogar urverwandt ist. 559 Es soll dementsprechend darum gehen, die Komplexität poe- 554 Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a.M. 3 1984, 103-165. 555 Irene Albers, Helmut Pfeiffer (Hgg.), Einleitung. In: Michel Leiris - Szenen der Transgression. München 2004, 11 f. 556 Elmar Holenstein, Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalismus. Frankfurt a.M. 1975, 168. 557 Roman Jakobson, Linguistics and Poetics. In: Thomas A. Sebeok (Hg.), Style in Language. Cambridge, Ma. 2 1964 ( 1 1960), 350-377, h. 358-377. 558 Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes. In: Ds., Holzwege. Frankfurt a.M. 8 2003, 1-74, h. 46 bestreitet diese und nimmt statt dessen die epistemologische in den Blick: „Das Wort nennt vielmehr eine Weise des Wissens.“ Zumindest als Bezugswort des Genitivattributs sind die beiden Substantive im Rahmen der intellektualistischen Ethik austauschbar (Epict. 1.15.2: , Cic. fin. 3,4: ars est enim philosophia vitae, Tusc. 2,12: philosophus [...] artem [...] vitae professus, Sen. epist. 95,7: sapientia […] ars vitae est vs. Epict. 4.1.63: , 4.1.118: , Mus. Frg. 3 He. S. 10 Z. 6 f.: ). 559 Vgl. WH I 70 s.v. und Pokorny 57 s.v. ar-, der lat. ars und mhd. art, das noch die dem lat. Äquivalent zugrunde liegende ursprüngliche Bedeutung „Zusammenfügung, Gabe richtig zusammenzufügen“ aufweise, unter den t-Bildungen zur Wurzel „ar- ‚fügen, passen‘“ (S. 55) anführt. Diese umfassende Darstellung ist von späteren etymologischen Wörterbüchern nur dahingehend modifiziert worden, daß das rekonstruierte Etymon an die Laryngaltheorie angepaßt wurde (*h 2 erh 3 -t-). Von ihm werden sowohl lat ars als auch dt. Art abgeleitet, ohne daß diese beiden Substantive in einem dieser überwiegend einzelsprachlichen Lexika etymologisch gleichgesetzt würden. So sind für die dt.-lat. Nominalentsprechung unergiebig Ernout/ Meillet <?page no="198"?> 3. Poetisch-ästhetische Dimensionen der Transgression 184 tisch-dramatischer Strukturen wie bei einem Kristallgitter 560 transparent zu machen, Dichtung und Lichtung 561 der Texte zu verbinden. Die Poetik bündelt die verschiedensten Aspekte wie in einem Brennglas, die Hermeneutik zerlegt sie prismatisch. Selbst die Diskrepanz als das entscheidende Moment eines vermeintlich so frivolen Phänomens wie der Komik, das durch Transgression generiert wird, verpufft bei der Aneinanderreihung von Pointen und gewinnt durch die Komplexität ihrer Binnen- und Außenbezüge, etwa bei der möglichst engen Parodie eines Prätextes und der Schaffung einer eigenen Logik, die in sich kongruent, aber zur Alltagslogik diskrepant ist. Die strukturell-textuelle Funktionsweise der Komik fußt also auch auf dem Spiel mit dem , dessen Strukturen sie durch Kopieren, Invertieren und Parodieren ad absurdum führt. 3.3 Metatheater als poetische Transgression Diese Arbeit deutet das Metatheater, das für die attische Tragödie zuerst an der Figur des Dionysos 562 und am Chor 563 verortet wurde, als poetische Transgression. 564 Damit löst sich die Transgression aus der anachronistisch anmutenden strukturalistischen Enge, die ihr vielleicht in ihrer sozialen Ausprägung eigen war, und tritt in den Bereich der postmodernen Theorie. Dabei erweist sich die Autoreferentialität, die bereits gute Dienste geleistet hat, um die Tragik als besondere Ausprägung der sozialen Transgression herauszuarbeiten, abermals als hilfreich. Denn die Selbstbezüglichkeit der Kunst ist ein wichtiges Konzept aktueller ästhetischer Debatten und dabei selbst das Ergebnis dichterischer Selbstreflexion: Bereits in einem Tagebucheintrag aus dem Jahre 1893 prägte André Gide den bis heute gebräuchlichen Ausdruck mise en abyme für die Wis.v., die lat. ars als *ti-Ableitung zur Wurzel „*er- (ar-)“ ansehen, und de Vaan s.v., der ein idg. Etymon *h 2 r-tí- „the fitting“ rekonstruiert, von dem auch gr. herstamme (so bereits Kluge/ Seebold s.v., die lat. ars unberücksichtigt lassen), aber keine germanischen Parallelen erwähnt. Einen Irrweg beschreitet nur Pfeifer s.v., der lat. ars ebenfalls unberücksichtigt läßt und dt. Art von idg. *ar( ) „pflügen“ ableitet, zu dem auch lat. arare und gr. gehörten. Doch zu Recht trennt das LIV, das aus konzeptionellen Gründen keines der in Frage stehenden Substantive bietet, eine Wurzel „*h 2 erh 3 ‘aufbrechen, pflügen’“ (S. 243) von „*h 2 er ‘sich (zusammen)fügen“ (S. 240 f.). Wodtko 788 behandelt lat. ars nicht und bietet nur ein Lemma „*h 2 erh 3 ‘aufbrechen, pflügen’“ (S. 322-328), aber keines für *h 2 er (vgl. S. 317). 560 Für die Struktur als Kristallgitter s. Manfred Frank, Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt a.M. 1984, 88. 561 Zu diesen beiden Begriffen vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, 59-63, 40. 562 Anton F. Harald Bierl, Dionysos und die griechische Tragödie. Politische und ‚metatheatralische‘ Aspekte im Text. Diss. München 1990. Classica Monacensia 1. Tübingen 1991, 20-25 und 111-226 (Dionysos als Theatergott). 563 Peter Wilson und Oliver Taplin untersuchen die theatralische Selbstreferentialität anhand von „choros and mousike“ (The ‘Aetiology’ of Tragedy in the Oresteia. PCPhS 39 (1993) 169-180, h. 169). 564 Bereits Gerhard Neumann, Rainer Warning (Hgg.), Transgressionen. Literatur als Ethnographie. Freiburg i.Br. 2003, 14 f. spielen mit dem Gedanken, daß „Parergonalität - die vielfache Durchquerung von Rahmungen - [sich] als die Form der Transgression schlechthin [erwiese]“. Eine solche Rahmung ist selbstredend die Aufführung auf der Bühne im ursprünglichen und eigentlichen Sinne. Dagegen schafft die mise en abyme, deren dramenspezifische Form hier als ‚Intratheater‘ etikettiert wird, einen Rahmen nach innen. <?page no="199"?> 3.3 Metatheater als poetische Transgression 185 derspiegelung des Gesamtwerks der Literatur und bildenden Kunst in einem seiner Teile. 565 Die weitere Theorie- und Forschungsgeschichte rechtfertigt auch in diesem Falle begriffsgeschichtlich, daß die vorliegende Arbeit mit dem Strukturalismus ein Konzept sprachwissenschaftlichen Ursprungs für literaturwissenschaftliche Analysen gewählt hat. Die Selbstbezüglichkeit wurde nämlich m.W. zuerst von der modernen Logik bei der Sprache festgestellt und auch in wegweisender Weise für die weiteren Begriffsprägungen mit dem Präfix metabezeichnet. Dabei reflektiert die Metasprache („metalanguage“) auf die Sprache als Objekt. Roman Jakobson" der diese Begriffsgeschichte referiert, formuliert anhand dieses Begriffspaares seinen Terminus der metasprachlichen Funktion („metalingual function“). 566 Es war Roland Barthes, der in einer kleinen Notiz Littérature et méta-langage (1964) 567 die Unterscheidung zwischen méta-langage und langage-objet auf die Literatur übertrug und sie - wie jede andere Sprache auch - analog in littérature-objet und méta-littérature unterschied, wobei sie in betrachtetes und betrachtendes Objekt zerfalle. (Barthes spricht hier ausdrücklich davon, daß die Literatur sich verdopple, das Metatheater ist damit innerhalb der operationalen Systematik der vorliegenden Untersuchung ebenfalls eine Verdoppelung.) Dieses Nachdenken („réfléchir“) der Literatur über ihr Wesen (und nicht bloß über einzelne ihrer Figuren) (sprich: die Autoreflexivität) sei eine rezente Entwicklung, die erst mit dem bürgerlichen Roman bei Flaubert beginne und sich seither rasant über Mallarmé, Proust und den Surrealismus bis zum nouveau roman radikalisiere (Robbe-Grillet). Hier mag man angesichts der reichlichen impliziten Poetik der antiken Literatur seit Homer (s.u.) und Hesiod 568 sowie der Autoreferentialität vieler frühneuzeitlicher Texte (Zaiser 2009: 14 f.) Vorbehalte geltend machen. Barthes’ These, die Literatur werde sich als littérature-objet durch das fortschreitende Wuchern der méta-littérature selbst zerstören, da sie seit hundert Jahren ein gefährliches Spiel mit ihrem eigenen Tod treibe, hat sich jedenfalls seither nachweislich empirisch nicht bewahrheitet, auch wenn es durchaus denkbar ist, daß die Möglichkeiten zur paradigmatischformalen Innovation eines Tages erschöpft sind und so eher die méta-littérature an ihre Grenzen stößt. Barthes selbst hat, worauf Rainer Zaiser hinweist (2009: 10), fast ein Jahrzehnt später (1968) das Konzept vom Tod in der Literatur auf die Instanz des Autors eingeengt. Eher könnte man pointiert behaupten, daß das 565 Journal 1889-1939. Paris 1948, 41. Gregory W. Dobrov, Figures of Play. Greek Drama and Metafictional Poetics. Oxford 2001, 15 hat diese Stelle für die Diskussion der dramatischen Metapoetik des antiken Dramas erschlossen. 566 Linguistics and Poetics. In: Thomas A. Sebeok (Hg.), Style in Language. Cambridge, Ma. 2 1964 ( 1 1960), 350-377, h. 356-358. 567 [Essais critiques (1964), 271-525]. In: Ds., Œuvres complètes. Bd. 2: Œuvres 1962-1967. Hg. v. Éric Marty. Paris 2002, 362 f. Diesen Stellenhinweis verdanke ich Rainer Zaiser, Inszenierte Poetik. Metatextualität als Selbstreflexion von Dichtung in der italienischen Literatur der frühen Neuzeit. Ars rhetorica 22. Berlin 2009, 9. 568 Vgl. dazu Gerrit Kloss, Are Vocation Texts Fictional? On Hesiod’s Helicon Experience. In: Hanna Liss, Manfred Oeming (Hgg.), Literary Construction of Identity in the Ancient World. Proceedings of the Conference Literary Fiction and the Construction of Identity in Ancient Literatures: Options and Limits of Modern Literary Approaches in the Exegesis of Ancient Texts. Heidelberg, July 10-13, 2006. Winona Lake, Indiana 2010, 245-261. <?page no="200"?> 3. Poetisch-ästhetische Dimensionen der Transgression 186 von Barthes angestoßene Wuchern von Konzepten und terminologischen Neuerungen mit dem Präfix meta-, welche die Selbstbezüglichkeit der Literatur und Analysen von deren Vorkommen in den Sprachkunstwerken verschiedenster Gattungen, Epochen und Zungen betreffen, die Literaturwissenschaft zu erdrücken droht. Es nimmt deshalb nicht wunder, daß Innovation und Relevanz des Konzepts der Selbstbezüglichkeit der Kunst nicht unwidersprochen geblieben sind. So sieht Joachim Küpper in Aristoteles’ Tragödiensatz eine positive Wertung der Fiktion, erstens wegen der ihr zugeschriebenen heilsamen Wirkung in Form der Katharsis und zweitens weil die Fiktion - anders in der neuzeitlichen philosophischen Ästhetik - keiner weiteren Legitimation über die Autonomie der Kunst bedürfe. Diese Autonomie werde über die Autoreferentialität der Kunstwerke konstruiert, was die gesamte mimetische Kunst als trivial ausgrenze. 569 Mangels Belegen bleiben die von Küpper angegriffenen Theorien kaum zu fassen (entweder erhält sie für allgemein bekannt oder die betreffenden interpretatorischen Praktiken für allgemein verbreitet) und die konkrete Legitimität seiner Kritik kaum nachzuprüfen. Fest steht m.E. jedenfalls, daß die Autonomie der Kunst und die Autoreferentialität von Kunstwerken jedes für sich wertvolle Konzepte sind, die nicht durch eine zweifelhafte Verquickung beschädigt werden sollten und die beide auch unabhängig voneinander existieren können. Jene kann sich über diese konstruieren, aber auch über den souveränen Umgang der Mimesis bei der Darstellung und mit ihren Gegenständen. Bei der Innovation der Selbstbezüglichkeit des Kunstwerks weist Alessandro Schiesaro augenzwinkernd darauf hin, daß Selbstreflexivität von Literatur ebensowenig wie Sex eine Entdeckung seit 1968 sei, sondern sie bereits die klassische Antike erkannt habe, und führt hierfür das Scholion zu Il. 3.126-128 an, daß Helena, indem sie ein Tuch webe, das die Kämpfe zwischen Griechen und Trojanern darstelle, einen würdigen Archetypos der poetischen Kunst des Dichters selbst herstelle ( - [126- 127]). 570 Dieser Fall poetischer Selbstreflexivität darf sogar als mise en abyme angesehen werden. So beliebt diese in der (post-)modernen Kunst(deutung) ist, findet sie sich gleichwohl bereits in zwei Figuren der vorgriechischen bildenden Kunst, die auf Kreta 571 und Zypern 572 gefunden wurden. Selbst das Metatheater, 569 Verschwiegene Illusion. Zum Tragödiensatz der Aristotelischen Poetik. Poetica 38 (2006) 1- 30, h. 2 f. 570 The Passions in Play. Thyestes and the Dynamics of Senecan Drama. Cambridge 2003, 1 Anm. 2. 571 In der minoischen Keramik stellt die sog. Göttin von Myrtos (Frühminoisch IIB, Abb. s. Costis Davaras, Hagios Nikolaos Museum. Athen ca. 1982, Fig. 13) eine bauchige Figur dar (Kost s Davaras, Führer zu den Altertümern Kretas. Übersetzung aus dem Englischen: Wolfgang Schürmann. Deutschsprachige überarbeitete und erweiterte Ausgabe. Athen 2003, 236 referiert ihre Deutung als Hausgöttin), die selbst einen Krug umschlingt, welcher den einzigen Ausguß des Gefäßes bietet. 572 Noch genauer als der kretische Fund entspricht dem Idealtypus der mise en abyme morphologisch eine 15,6 cm große zypriotische Steatit-Figur aus dem Chalkolithikum (3 Jt. v.Chr.), die im Distrikt Paphos gefunden wurde und im Zypern-Museum in Nikosia aufbewahrt wird (Nr. 1934/ III-2-2). Ihre Arme sind kreuzförmig zum Körper ausgebreitet, um der Genauigkeit der <?page no="201"?> 3.3 Metatheater als poetische Transgression 187 um das es im vorliegenden Abschnitt geht, wurde bereits in einem Scholion zu E. Tr. 36 bemerkt - und moniert. 573 Alter und Geläufigkeit der mimetischen Selbstdoppelung auch in darstellenden Kunstwerken adeln dieses Phänomen gleichwohl, wappnen es gegen Küppers Vorbehalte und spornen zur genauen Abgrenzung und Beschreibung dramenliterarischer Autoreflexivität an. Die Autoreflexivität (in) der Literatur wird gemeinhin (und so auch in der vorliegenden Arbeit) unter den Stichwörtern ‚Metafiktion‘ bzw. ‚Metapoetik‘ 574 verwaltet; in Drama und Theater firmiert sie unter ‚Metatheater‘. Dieser Terminus hat, seit ihn Lionel Abel 575 anhand von Shakespeares Theaterstücken formuliert hat, eine rasante Verbreitung in der Dramenanalyse gefunden und dabei - ähnlich wie die Transgression - an begrifflicher Schärfe eingebüßt, was jüngst Zaiser moniert und kritisch mit opulenter Bibliographie (2009: 40 Anm. 21) dargestellt hat (2009: 39-47). Dieser Fehler ist dem Terminus ‚Metatheater‘ nur bedingt in die Wiege gelegt. Gewiß ist Zaiser zuzustimmen, wenn er kritisiert, daß Abels Definition 576 auf das irreführende Konzept des theatrum mundi 577 zurückgreift (2009: 41). Doch ist Abels Definition ansonsten pertinent („unlike figures in tragedy, they are aware of their own theatrality“) und steht auch im Einklang mit der engeren Definition von Metatheater der vorliegenden Arbeit. Sie ist allenfalls auf die Ebene des gesamten Dramas, nicht aber auf das außerdramatische Weltgeschehen erweiterbar. 578 Beschreibung halber eine anachronistische interpretatio Christiana zu bemühen, und sie trägt ihrerseits eine ebensolche kreuzförmige Figur auf der Brust (für eine große, farbige Abbildung s. Antikes Zypern: Kunstwerke aus dem Cyprus Museum in Nicosia. Aufnahmen von Franco Cianetti. Texte von Kyriakos Nicolaou. Zürich 1970. Kulturelle Monatschrift 7 (1970) 456- 528, h. 459, Abb. 2 oder Basos Karagi rg s, The Cyprus Museum. Translated from Greek by A.H. Kromholz and S. Foster Kromholz. Nicosia 1989, 17, Abb. 10). Die mise en abyme ist hier also ein Hinweis auf die Amulettfunktion und damit den Sitz im Leben, erfüllt also keine künstlerisch-semiotische Funktion. 573 . 574 Zaiser 2009: 32 f. definiert mit reichlichen bibliographischen Angaben in diesem Sinne ‚Metatextualität‘ („Oberbegriff für alle Erscheinungsformen der literarischen Fiktion […], die die Poetologie des Textes in diesem selbst zum Gegenstand der Reflexion machen“). Da texttheoretische Ansätze jedoch die fiktive und ästhetische Spezifik literarischer Texte allzu leicht durch die Subsumtion unter eine Kategorie, die auch Zeitungsartikel und Gerichtsurteile umfaßt, zu verwischen drohen, verzichtet die vorliegende Arbeit weitgehend auf diesen Terminus. 575 Metatheatre. A New View of Dramatic Form. New York 3 1966. 576 1966: 60: „[A]ll of them [sc. der Dramen, die Abel als „metaplays“ einstuft] are theatre pieces about life seen as already theatralized.“ 577 Kritisch dazu auch Niall W. Slater, Plautus in Performance. The Theatre of the Mind. Amsterdam 2000, 10. 578 Diese definitorische und arbeitspraktische Einschränkung beschränkt sich auf die Dramendeutung. Die dem Metatheater eigene Durchbrechung der mimetischen Illusion und überhaupt Infragestellung der grundlegenden Prämissen einer eingefahrenen Sichtweise und des jeweiligen Systems, seien diese nun literarisch, kulturell, intellektuell, gesellschaftlich, ökonomisch oder politisch, begünstigt eine heilsame gegenüber voreiligen Urteilen und Entschlüssen, die in vielen Dramen „tragisch“ enden, und birgt ein gewaltiges Reflexions- und Innovationspotential auch außerhalb des Theaters. Bereits Abel 1966: 111 hat ganz recht diese konstruktivistischen Implikationen des Metatheaters erkannt und im Vergleich zur Tragödie her- <?page no="202"?> 3. Poetisch-ästhetische Dimensionen der Transgression 188 Das begriffliche Imbroglio von ‚Metatheater‘ soll im folgenden durch zwei Präzisierungen entwirrt werden: Erstens durch eine schärfere definitorische Konturierung dieses Begriffs als dramenspezifische Metapoetik und zweitens durch eine Terminologisierung seiner Subtypen, die bislang allenfalls konzeptionell geschieden unter ‚Metatheater‘ firmieren (Metatheater: Thematisierung der Gattung oder des vorliegenden Theaterstücks und ihrer Spezifika, Intratheater: Theater im Theater, Intertheater: intertextueller Bezug auf andere Dramen). Bereits Abel bestimmt das Spiel im Spiel, also das, was hier als Intratheater verstanden werden soll, als Unterform des Metatheaters (1966: 60) und legt damit das Projekt der vorliegenden Arbeit nahe, nämlich die verschiedenen ausgearbeitet (die Bemerkungen zu ihr wurden im nachfolgenden Zitat fortgelassen): „Metatheatre gives by far the stronger sense that the world is a projection of human consciousness. […] Metatheatre glorifies the unwillingness of the imagination to regard any image of the world as ultimate. […] Metatheatre makes human existence more dreamlike by showing that fate can be overcome. […] Metatheatre assumes there is no world except that created by human striving, human imagination. […] For metatheatre, order is something continually improvised by men. […] Metatheatre makes us forget the opposition between optimism and pessimism by forcing us to wonder.“ Den letzten Satz, der das reflexive Potential des Metatheaters besonders gut ausdrückt und ihm den Impuls zuschreibt, der seit Platon und Aristoteles als Anfang der Philosophie angesehen wird (Elenor Jain, Tobias Trappe, Art. Staunen; Bewunderung; Verwunderung. HWP 10 (1998) 116-126, h. 116), läßt Gyburg Radke bei dem Zitat fort, das sie von der fraglichen Abel-Passage gibt (Tragik und Metatragik. Euripides’ Bakchen und die moderne Literaturwissenschaft. Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 66. Berlin 2003, 324 Anm. 533). Vielleicht mißdeutet sie deshalb in dem Anhang „Zum Theatrum mundi“ (2003: 324-340) die außertheatralischen Implikationen des Metatheaters als unreflektierten Skeptizismus, den sie nach Art des Sophisten Gorgias (DK 82 B 3 [= S.E. M. 7.65]) formuliert (S. 325: „Die Welt selbst ist für uns nicht erkennbar, erkennbar ist nur ein Schein, eine Illusion, die wir für die wirkliche Welt halten.“). Die zweite, anthropologisch-epistemologische Implikation, die sie im Metatheater erblickt (2003: 325: „Ebenso wie die Erkenntnis, die wir von der Welt haben, ist auch unsere Vorstellung von der Freiheit unseres Handelns bloßer Schein. Tatsächlich gibt es weder (absolut) freies Handeln noch absolut (freies) Erkennen.“), ist durch die angeführten Abel-Zitate nicht gedeckt, sondern wird wie das erstgenannte skeptische aus einem Zitat zum theatrum mundi entwickelt (Franz Link, Götter, Gott und Spielleiter. In: Ds., Günter Niggl (Hgg.), Theatrum mundi. Götter, Gott und Spielleiter im Drama von der Antike bis zur Gegenwart. Literaturwissenschaftliches Jahrbuch Sonderband 1981. Berlin 1981, 1-47, h. 46), das hier im ganzen Satzzusammenhang wiedergebeben werden soll: „Neben diesen Versuchen der Sinnstiftung stehen […] der Versuch des Theaters, im Spiel Sinn zu stiften, und der Versuch, die Sinnlosigkeit des Lebens als Spiel zu dokumentieren.“ Radkes Behauptung wird durch dieses Zitat also nicht gedeckt, das ohnehin durch seinen Bezug auf Fragestellungen, die aus dem absurden Theater erwachsen, ebenso schwierig zu interpretieren und zu transferieren wie Links gesamter umfangreicher Beitrag ist. Links vorangehende Sätze zeigen aber deutlich auf, daß er im modernen Theater den metatheatralischen Einsatz des theatrum mundi aufgespürt hat. Auch eingangs seines Beitrags macht er klar, daß es ihm um die „Weiterentwicklung der Metapher“ des Welttheaters vornehmlich in der Praxis des modernen Theaters geht, wobei „sie auf der Bühne in Spiel umgesetzt wird“ (1981: 1 f.). Trotz dieses genealogischen und instrumentellen Nexus trennt er also theatrum mundi und Metatheater konzeptionell klar. Die zweite, anthropologisch-epistemologische Implikation belegt Radke des Metatheaters mit einem Zitat aus Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 10 1984, 152 über die klassische französische und deutsche Tragödie. Damit wird klar, daß dem Metatheater etwas zugeschrieben wird, was eigentlich die Tragik charakterisiert, nämlich die Einschränkung und Bedingtheit freien menschlichen Handelns (pace Link 1981: 1, der zu Recht bei dem Sonderfall des göttlichen Spielleiters im theatrum mundi „die Frage nach Freiheit und Schicksal“ aufgeworfen sieht). <?page no="203"?> 3.3 Metatheater als poetische Transgression 189 Verwendungsweisen von ‚Metatheater‘ bzw. und die unterschiedlichen seither konstatierten Formen dramatischer Autoreferentialität terminologisch auszudifferenzieren. Eine solche begriffliche Auffächerung tut offensichtlich not, da auch Zaisers rezente Studie trotz einer bedenkenswerten typologischen Unterscheidung, die teils in die nachfolgende dieser Arbeit integriert werden kann (2009: 51-53), 579 nichts dergleichen referiert oder entwickelt. Vorab sei darauf hingewiesen, daß nicht jede Bezugnahme im Drama auf einen anderen Text oder jedes Phänomen von Metafiktion bzw. Metapoetik im Drama in den Bereich dessen fällt, was gemeinhin unter ‚Metatheater‘ verstanden wird und in dieser Arbeit unter der Behelfskonstruktion ‚dramatische Metapoetik‘ oder ‚dramenliterarische Autoreferentialität‘ rubriziert wird. Bei den besagten Erscheinungen handelt es sich entweder um Intertextualität im Drama (so bei einer Bezugnahme auf eine andere literarische Gattung oder deren konkrete Texte, wie Homer [für Aischylos s. 8.3 Zur Tragik und ihrer Neudefinition durch Karl Heinz Bohrer in der Zusammenfassung] oder die Chorlyriker 580 ) oder um Metapoetik bzw. Metafiktion im Drama (so bei dramenunspezifischen Bezügen auf Produktions- oder Rezeptionsästhetik). Auch diegetische Doppelungen des Dramenstoffs en miniature wie Atossas Traum in Aischylos’ Persern oder Oidipus’ narratio des Tathergangs am Dreiweg im OT erfüllen zwar die Kriterien für thematische mises en abyme, 581 aber nicht für die gattungsspezifische mimetische Autoreferentialität. Eine solche nennt Gide denn auch bei seiner Definition von mise en abyme als erstes literarisches Beispiel, nämlich die Komödienszene im Hamlet (1948: 41), also ein Spiel im Spiel bzw. Intratheater (s.u.). Als grobe Orientierung und Arbeitsdefinition läßt sich also ‚Metatheater‘ oder ‚dramenliterarische Autoreferentialität‘ als jedwede Form der Selbstbezugnahme des Theaters bzw. Dramas auffassen, sei dies nun dessen (re-)präsentativmimetische Funktionsweise (Metatheater), deren Doppelung en miniature im Spiel im Spiel (Intratheater) oder die Bezugnahme auf andere Dramentexte. Die 579 Zaiser unterscheidet drei Ebenen bzw. „Inszenierungsmodi der poetologischen Selbstreflexion im Drama“: Die erste ist die „Vermittlungsinstanz“, die mangels (ver)einheitlich(end)en Erzählers im Drama von einzelnen Figuren ausgeübt werden könne (hierbei ist im antiken Drama besonders an den Chor zu denken). Diese Vermittlungsinstanz ist im Drama der bevorzugte Sitz des genuinen Metatheaters. Die zweite Ebene, die Figurenrede, ist im Falle des von Zaiser ausgemachten Rollenbewußtseins ebenfalls der Sitz von Metatheater qua Fiktionalitätsbewußtsein. Der zweite Fall ihres Auftretens, das explizite Reden über das Theater, ist ein spezieller Subtypus, da Zaiser hier verlangt, daß die Handlung im Milieu des Theaters spielen müsse. Läßt man diese Forderung fallen, nähert sich dieser Subtypus dem Intratheater an, das bei Zaiser ausdrücklich als dritte Ebene bzw. dritter Inszenierungsmodus unter dem gängigen Etikett „mise en abyme“ vertreten ist. 580 Aischylos’ frühe Schaffenszeit bringt es mit sich, daß im Falle von Pindar die intertextuelle Bezugnahme von dem Chorlyriker ausgeht (s. 1.2.3 Tragödie, Transgression und Gesellschaft) und bei Simonides Chronologie und mögliche Bezugnahme unsicher sind (vgl. Hopman 2009: 360-362). 581 Moshe Ron, The Restricted Abyss: Nine Problems in the Theory of Mise en Abyme. Poetics Today 8 (1987) 417-438, h. 436 beschränkt die mise en abyme auf „an iconic figure peculiar to narrative“ und bestimmt ihre Funktionsweise über die Erzählung: „Any dihegetic segment which resembles the work where it occurs, is said to be placed en abyme [Kurs. im Orig.].“ <?page no="204"?> 3. Poetisch-ästhetische Dimensionen der Transgression 190 Selbstreflexivität der mimetischen Großgattung, deren Spezifikum die mimetische oder fiktive Vorstellung öffentlicher Rede ist, wird nämlich durch deren Hybridcharakter als Dramentext (‚Drama‘) und Schauspiel (‚Theater‘) noch komplizierter. In der Forschung konkurrieren deshalb die beiden Ausdrücke ‚Metatheater‘ und ‚Metadrama‘. 582 Gregory Dobrov weist in einem Abschnitt mit dem Titel „Metatheater“ (2001: 9-11) darauf hin, daß ‚Metadrama‘ und ‚Metatheater‘ trotz ihres theoretischen Unterschieds oft austauschbar und gelöst von der Semantik ihrer Etyma gebraucht werden. 583 Diese kritiklose Feststellung wird man nur ungern als Lizenz zu einer ähnlichen Verwirrung der Ausdrücke in der eigenen interpretatorischen Praxis werten. Doch so richtig es ist, auch für das antike Drama und die vorzustellenden Subtypen dramatisch-theatralischer Metafiktionalität theoretisch an dem besagten Unterschied festzuhalten, so steril und unpraktikabel wäre dieses Beharren, ohne einen Blick auf die literaturgeschichtlichen Erscheinungsformen dieser Gattung in ihrer ersten historischen Epoche und die sich daraus ergebenden Anwendungsmöglichkeiten und Modalitäten zu werfen. Ein unumstößliches Faktum ist die Tatsache, daß aus der Antike weitestgehend nur der Dramentext erhalten ist. (Mögen die Leser diesen abermaligen Rückgriff - nach der Debatte um die heuristische Reichweite der Performanz (s. 2.2.1 Performanz) - auf derart positivistisch-pedestre Gegebenheiten bei der Diskussion dramentheoretischer Probleme verzeihen.) Deshalb ist die unter ‚Theater‘ verstandene performative Aufführung des antiken Schauspiels fast nur noch am Drama, d.h. dem Text faßbar. Mit einer vergleichbaren Priorisierung des gesprochenen Wortes löst Zaiser 2009: 40 unter Rückgriff auf seinen Metatextualitätsbegriff dieses generische Dilemma definitorisch dadurch, daß er Metatheater an Reflexionen über die „Darstellungsmöglichkeiten von Sprache und Text“ knüpft, deren Zusammenbruch „im Extremfall die Negation der verbalen Semiotik des Dramas zugunsten einer am Medium der Bühne orientierten nicht-verbalen Zeichensprache zur Konsequenz hat“. Er stellt also einen operational-funktionalen Zusammenhang zwischen den beiden Formen mimetischer Metafiktion her und berührt den Bereich dessen, was in dieser Arbeit als ‚transverbales Metatheater‘ etikettiert wird, nämlich die textimmanenten Regieanweisungen. Allerdings sind sämtliche hier behandelten griechischen Theaterstücke nicht als Lesedramen konzipiert, sondern waren zur Aufführung bestimmt. Die Theatralität ist also in den Dramentext eingeschrieben. Deshalb läßt sich auch die genuine Metatheatralität an diesem festmachen (so an der Dominanz des Wortfeldes ‚sehen‘ im OT, s. 2.6.1 Metatheater und Aisthetik der Eliminierung in der Interpretation dieser Tragödie). 582 Richard Hornby, Drama, Metadrama, and Perception. Lewisburg 1986, 31 moniert das Fehlen einer klaren Definition bei Abel und bietet, ohne den Wechsel des zweiten Kompositumbestandteils zu begründen, selbst nur eine recht allgemeine („Briefly, metadrama can be defined as drama about drama; it occurs whenever the subject of a play turns out to be, in some sense, drama itself“), die er auf der folgenden Seite mit der Aufzählung verschiedener Typen inhaltlich füllt, zu denen Formen des Intratheaters, d.h. der theatralischen mise en abyme („play within the play […] Role playing within the role“) und dieselbe Operation wie das Metatheater gehören („Self reference“). 583 Dobrov 2001: 9. <?page no="205"?> 3.3 Metatheater als poetische Transgression 191 Es paßt sehr gut zu dieser literaturhistorischen Argumentation, daß just für Senecas Dramen, deren Aufführung und Aufführbarkeit umstritten ist (s. das Fazit der Interpretation seiner Phaedra), Alessandro Schiesaro, der im letzten Jahrzehnt die bislang literaturtheoretisch anspruchsvollste Studie zu diesem Korpus vorgelegt hat, von ‚Metadrama‘ statt von ‚Metatheater‘ spricht, um Phänomene mimetisch-generischer Metafiktionalität begrifflich zu erfassen (2003: 14). 584 Der Teufel steckt allerdings auch hier im terminologischen Detail. So reserviert Schiesaro ‚Metatheater‘ mit Abel für das Theater im Theater, also das Intratheater nach der Terminologie der vorliegenden Arbeit, das für Abel, wie gesehen, allerdings nur einen Teil des Metatheaters ausmacht. Nachfolgend bestreitet Schiesaro das Vorkommen von Metatheater bei Seneca und definiert es über den Zusammenbruch der dramatischen Illusion, also die Sonderform des Metatheaters, welche die vorliegende Arbeit als ‚transszenisch‘ benennt. Für sein Verständnis von ‚Metadrama’ lehnt sich der italienische Forscher dagegen an Manfred Schmeling an, der - ohne expliziten Rückgriff auf Barthes, aber in faktischer Fortsetzung von dessen Terminologie und konzeptueller Unterscheidung der Literatur im allgemeinen - mit „théâtre-objet“ und „metathéâtre“ das nichtreflektierte Theater bzw. das Spiel im Spiel bezeichnet (also nach Auffassung der vorliegenden Arbeit das Intratheater). 585 Schiesaro definiert das Metadrama als „moments when the play, through a variety of devices, reflects on itself and its functioning“, also das, was die vorliegende Arbeit allgemein als ‚Metatheater‘ etikettiert. Als Beispiel für ein solches Metatheater bei Seneca könnte man etwa die Regietätigkeit einer Dramenfigur anführen, wie die Furie sie im Prolog des Thyestes, dadurch ausübt, daß sie Tantalus an die Oberwelt zwingt (v. 1-121). Neben dem Prolog, den Schiesaro dort kurz erwähnt und im weiteren Verlauf des Buches eingehend bespricht (2003: 26-36), bringt er noch weitere Beispiele für sein Konzept von Metadrama aus dem Binnenteil des Dramas bei (2003: 14 f.), doch müßten diese, da sie nicht das gesamte Stück, sondern nur einzelne Handlungsstränge betreffen, wohl eher als Intratheater eingestuft werden. Das Theatralitätsbewußtsein, das Schiesaro bei einzelnen Figuren des Thyestes ausmacht (2003: 15), fällt noch unter Abels Definition von Metatheater. Daneben umfaßt Schiesaros Definition von ‚Metadrama‘ strenggenommen auch Fälle von Metafiktion im Drama ohne besonderen Bezug auf die Gattungsspezifika, etwa wenn diegetische Techniken des Dramas thematisiert werden. Die heuristische Reichweite von ‚Metadrama‘ scheint als Ergebnis dieser Diskussion eher eingeschränkt als klar umrissen. Nur wenn man es als Meta-Drama auflöst, läßt es sich Bezugnahme des Dramas auf sich selbst und die ihm in dieser Arbeit etymologisierend und in Abgrenzung vom Theater zugeschriebenen Merkmale auffassen. Das Metadrama umfaßt dann Fälle, in de- 584 Cedric A. J. Littlewood gebraucht dagegen beide Termini sachlich unabgegrenzt nebeneinander und bietet nur insofern eine Distribution in den Paratexen, als Metadrama im Sachindex (S. 328) und Metatheater in den Überschriften (S. vii) erscheint (Self-Representation and Illusion in Senecan Tragedy. Oxford 2004). 585 Métathéâtre et intertexte. Aspects du théâtre dans le théâtre. Paris 1982, 5. <?page no="206"?> 3. Poetisch-ästhetische Dimensionen der Transgression 192 nen auf die Fiktionalität des (Sprech-)Aktes oder der Handlung und ihrer Kausalität Bezug genommen wird. Nach diesen doxographisch-analytischen Präliminarien sollen im folgenden, wie angekündigt, verschiedene Formen der dramatischen Metapoetik vorgestellt und terminologisch differenziert werden, die in der bisherigen Forschung unter dem viel(seitig) gebrauchten Begriff ‚Metatheater‘ verwaltet werden. Hier sei unter ‚Metatheater‘ eine gattungsspezifische Unterart der Metafiktion 586 verstanden, mit der das Theater sich selbst thematisiert, also eine Operation der generischen Autoreferentialität und Autoreflexivität. 587 Diese Selbstthematisierung birgt eine mehr oder minder harte oder subtile Transgression der Gattungskonventionen im allgemeinen und der mimetischen Illusion im besonderen. Im OT wird auf die mimetische Illusion und die Theatralität subtil alludiert und diese so subvertiert. Den Brückenschlag zwischen Transgression und Selbstthematisierung der dramatischen Gattung leistet bereits Simon Goldhill, der im Kap. „Genre and Transgression“ die Selbstreflexivität nicht nur über die Manipulation der Gattungskonventionen definiert, sondern dieses Verfahren ausweislich der Artikelüberschrift als (generische) Transgression einstuft. 588 Das Metatheater ist im (antiken) Drama in verschiedenen Subtypen anzutreffen. Die subtile Ausprägung des OT (s. 2.6.1 Metatheater und Aisthetik der Eliminierung in der Interpretation dieser Tragödie) ließe sich als ‚mimetisches Metatheater‘ klassifizieren. Bei ihm wird die mimetische Illusion nur thematisiert, aber nicht durchbrochen, was nicht zuletzt durch die Lexeme ‚sehen‘ und ‚zeigen‘ geschieht. Drei weitere Unterformen könnte man als dramaturgisch bezeichnen. Für die erste verwendet die vorliegende Untersuchung den Ausdruck ‚transverbal-intraszenisches bzw. binnenpragmatisches Metatheater‘. Es liegt dann vor, wenn der Dramentext nonverbale Bühnenhandlungen wie Mimik oder Gestik thematisiert. Bei ihm handelt es sich im Falle des antiken Dramas zumeist um eine in den Text integrierte Regieanweisung. Nur durch ihre verbale Formulierung ist sie metatheatralisch bzw. besser metadramatisch, da die an sich bloß optisch wahrnehmbaren Handlungen, auf die sie referiert, sensu proprio theatralisch sind. Dagegen soll die Interaktion mit dem Publikum, welche die mimetische Illusion am härtesten transgrediert, unter der Bezeichnung ‚transszenisches bzw. bühnenpragmatisches Metatheater‘ verwaltet werden. Es hat eine hodologische Variante, die als dritter Subtypus des dramaturgischen Metatheaters anzusehen ist. Sie umfaßt Momente der Inszenierung wie das Durchbrechen der Grenze zwischen Zuschauerraum und Bühne durch die Bewegung der Schauspieler, wofür mir allerdings kein antikes Beispiel bekannt ist. Unter ‚Metatheater‘ wird auch eine Form der literarischen Transgression verstanden, die bloß eine Spielart der Intertextualität im Theater ist und die man besser ‚Interdrama‘ nennen würde, weil sie die Bezugnahme auf andere dramati- 586 Vgl. Dobrov 2001: 9 f. 587 Vgl. Slaters Definition (2000: 10): „theatrically self-conscious theatre, i.e., theatre that demonstrates an awareness of its own theatrality.“ 588 Reading Greek Tragedy. Cambridge 1986, Ndr. 1992, 244 f. <?page no="207"?> 3.3 Metatheater als poetische Transgression 193 sche Texte meint. 589 (Strenggenommen wäre wegen der sich überschneidenden Lebensdaten und Schaffensperioden der drei großen attischen Tragiker auch die Referenz auf andere Aufführungen denkbar, die man als sensu stricto als ‚Intertheater‘ klassifizieren könnte, doch bleibt läßt sich hier der Nachweis nur in Einzelfällen führen. 590 ) Davon abzugrenzen ist eine weitere Form der literarischen Transgression, 591 die auch gerne unter der Rubrik ‚Metatheater‘ verwaltet wird, das Spiel im Spiel bzw. Theater im Theater, bei dem die Schauspieler in andere Rollen schlüpfen (s. 2.5 Zum Ort der Mimesis: Maske und Rolle) und das man treffender ‚Intratheater‘ nennen würde. 592 Diese Form dramatischer Metapoetik wird treffend als mise en abyme klassifiziert, da sie das Theater formal dupliziert, 593 und läßt sich folgendermaßen vom Metatheater abgrenzen: Übernimmt eine Bühnenfigur die Funktion des Regisseurs, so handelt es sich um Intratheater, wenn davon nur eine oder mehrere Szenen betroffen sind, so bei den Eliminierungen, die mit Medeas Rache einhergehen, oder auch den meisten Intrigen des servus callidus. Orchestriert dagegen eine Bühnenfigur die gesamte Handlung wie Dionysos in den Bakchen, muß man von Metatheater sprechen, da eine Theaterfunktion nicht bloß punktuell ausgeübt, sondern somit die Schaffung der szenischen Illusion reflektiert wird. (Diese dramenschaffende Tätigkeit geht strenggenommen sogar über diejenige eines Regisseurs hinaus, der bloß eine textlich vorgegebene Handlung für die Bühne adaptiert, und verdient die Bezeichnung ‚metadramatisch‘.) Wird die Illusion durchbrochen, vorzugsweise dadurch, daß eine Bühnenfigur im Prolog - wie Merkur in Plautus’ Amphitruo - erklärtermaßen die Funktion des Regisseurs übernimmt, wird die Reflexion der szenischen Illusion 589 So Bruno Gentilis Definition (Theatrical Performances in the Ancient World. Hellenistic and Early Roman Theatre. London Studies in Classical Philology 2. Amsterdam 1979, 15): „plays constructed from previously existing plays.“ In diese Kategorie fallen auch die zahlreichen, teils palimpsestischen Bezüge auf andere Tragödien, die Froma I. Zeitlin in Euripides’ Orestes aufspürt und ohne weiterreichende terminologische Klassifikation unter der Rubrik „self-consciousness“ verwaltet, die sonst als Kriterium des Metatheaters gilt (The Closet of Masks. Role- Playing and Myth-Making in the Orestes of Euripides. Ramus 9 (1980) 51-77, h. 53-55). 590 Oliver Taplin, The Stagecraft of Aeschylus. The Dramatic Use of Exits and Entrances in Greek Tragedy. Oxford 1977, 14 arbeitet heraus, daß in Aristophanes’ Fröschen Aischylos und Euripides die Inszenierungen des anderen genau beachten, doch bleibt fraglich, ob dieser Umstand nicht Teil der ingeniösen paratragischen Komik ist. Lucia Athanassaki, Art and Politics in Euripides’ Ion: The Gigantomachy as Spectacle and Model of Action. In: Ana María González de Tobia (Hg.), Quinto Coloquio internacional. Mito y Performance. De Grecia a la Modernidad. La Plata 2009, 199-241, h. 227-234 kann einen komplexeren Fall nachweisen, nämlich daß die Inszenierung von Euripides’ Ion auf den Text von Aischylos’ Eumeniden Bezug nehme. 591 Bereits A. Schoeman, Mercury and Metatheatre. The «antelogium» in Plautus’ «Amphitruo». Akroterion (University of Stellenbosch, Südafrika) 1998 (43) 32-42, h. 32 unterscheidet ohne die hier vorgeschlagene Begrifflichkeit diese drei Verwendungsweisen von ‚Metatheater‘, die auch Slater 2000: 10 schildert. 592 Mark Ringer, Electra and the Empty Urn. Metatheater and Role Playing in Sophocles. Chapel Hill 1998, 7 verwaltet unser Intratheater unter „Metatheater“. 593 Vgl. Dobrov 2001: 15, der mise en abyme als „metarepresentational strategy whereby a miniature theatrical situation [Hervorheb. im Orig.] is embedded within a larger, similarly structured dramatic framework“ definiert. <?page no="208"?> 3. Poetisch-ästhetische Dimensionen der Transgression 194 durch explizite Thematisierung noch verstärkt, so daß die ‚harte‘, transszenische Form des Metatheaters vorliegt. Diese drei Formen der Textlichtung qua doppelbödiger Bezogenheit setzen die Darstellung der sozialen Transgression durch die Akteure auf einer höheren poetischen Ebene fort und können von der Komik vielfältig genutzt werden. Die klassische Tragödie eines Aischylos und Sophokles kennt Intratheater und Interdrama, setzt aber das Metatheater behutsam und selten in seiner harten Form ein (etwa, soweit authentisch, in den Schlußworten des Chores, um eine erzieherisch-systemaffirmative Wirkung zu erzielen). Der letzte Tragiker nimmt hier naturgemäß eine Sonderstellung ein. Seine Elektra weist kritische Bezüge auf Aischylos’ Choephoren und Sophokles’ Elektra auf, 594 ist also interdramatisch. Das massive Auftreten von Metatheater in seinen Bakchen, also in der letzten Tragödie des jüngsten Tragikers, zeigt in der Überschreitung ein erhöhtes Bewußtsein für die Grenzen der Gattung und kann als ein Wegbereiter des sich anbahnenden Wandels zur Neuen Komödie qua neuer dramatischer Form gewertet werden. Ebensowenig wie Tragödie und Metatheater literaturgeschichtlich stehen Tragik und Metatheater systematisch im Widerspruch zueinander. Sie beruhen vielmehr beide auf unterschiedlichen Formen von Transgression, die Tragik auf der soziokosmischen der referierten Welt, das Metatheater auf der Transgression der Gattungskonventionen und der mimetischen Illusion. Und ebenso wie diese Arbeit zwischen den Gattungen Tragödie und Komödie und den Handlungsmerkmalen Tragik und Komik unterscheidet, trennt sie die Formen der Metakomödie und Metatragödie, die eine Subspezies des Metatheaters sind und die entsprechenden Gattungen und ihre Merkmale thematisieren und reflektieren, von der Metakomik und der Metatragik, welche die Handlungsmerkmale ‚Komik‘ und ‚Tragik‘ zum Gegenstand machen und widerspiegeln. Eine Metatragödie liegt etwa auch dann vor, wenn die nach dem Gattungsverständnis der vorliegenden Arbeit konstitutive Integritätsverletzung oder Eliminierung (s. 1.3 Eliminierung, Restauration, Integrität und Intention), die sich aus der Transgression ergibt, durch eine höhere Instanz sistiert werden, etwa durch die dea ex machina Athena in den Eumeniden oder durch Jupiters Epiphanie in Plautus’ Amphitruo (Näheres s. die Interpretation dieser Komödie), während Metakomik in der Humorkritik der Alten Komödie anzutreffen ist (s. die Interpretation von Aristophanes’ Fröschen). Metatragik weist Senecas Phaedra auf, wo anders als in Euripides’ erhaltener Parallelversion die Transgression nicht in tragischer Desubjektivierung vollzogen, sondern souverän und ostentativ bejaht wird. Diese Arbeit wird bei der Interpretation der einzelnen Stücke auch die Gelegenheit bieten, jenseits der hier entworfenen Typologie und Nomenklatur nach der Funktion, Reichweite und Verschränkung 595 der soeben vorgestellten For- 594 So Joachim Latacz, Einführung in die griechische Tragödie. Göttingen 2 2003, 360 f. und genauer Dobrov 2001: 18 f. 595 Ann G. Batchelder vermeidet den Ausdruck ‚Metatheater‘ und gebraucht nur an zwei Stellen „metatragic“ in einem Zitat aus Charles Segal für die metatragische Symbolik der Urne in Sophokles’ Elektra (The Seal of Orestes. Self-Reference and Authority in Sophocles’ Electra. Lanham 1995, 6, 35), also im hier als allgemeinsten ausgemachten Sinne, der Fiktionalitäts- <?page no="209"?> 3.3 Metatheater als poetische Transgression 195 men dramatischer Metapoetizität zu fragen. Rush Rehm vertritt die These, das Metatheater der attischen Tragödie operiere angesichts ihrer starken soziopolitischen und religiösen Einbettung nicht so sehr auf einer ästhetischen Ebene (d.h. dem theatralischen Spiel um seiner selbst willen) und weise auf keine „Krise der Repräsentation“ hin, bei der sich das Drama auf seine eigene und andere Aufführungen beziehe und so einer eskapistischen reinen Unterhaltung diene. Vielmehr fessele es den Zuschauer durch eine besondere Darstellung an den Gegenstand und schärfe sein Bewußtsein für die theatralische Bedeutungsemergenz und vertiefe deren Dimensionen (2002: 23). Lassen wir entsprechend dem semiotischen Ansatz dieser Arbeit die kontextuellen Aspekte beiseite, so läßt sich Rehms Ansatz einer Erweiterung der dramatisch-mimetischen Semiose sicherlich erfolgversprechend weiterverfolgen. Das Verhältnis zwischen dieser und der dramatischen Metapoetik kann hierbei affirmativ oder ironisch sein und somit ganz neue Möglichkeiten der dramatischen Ironie eröffnen. Eine Anbindung an die dramatische Semiose ist vor allem bei kleinschrittigeren Formen der dramatischen Metapoetik hermeneutisch sinnvoll. Ist eine derartige Sinngebung bei größeren, das ganze Stück betreffenden nicht möglich, spricht m.E. nichts dagegen, Formen dramatischer Autoreferentialität als Akt poetischer Souveränität stehen zu lassen, wofür allein der thetisch-deiktische Charakter des Theaters spricht. Es bleibt im Einzelfall zu prüfen, inwieweit der so entstandene Riß in der Mimesis und Abstand des Rezipienten vom Geschehen eine reflexive Distanz erzeugt. Neben der Funktion des Metatheaters ist abschließend noch ein Wort zu seinen Mitteln angebracht, d.h. denjenigen Vehikeln, welche die dramatische Illusion thematisieren oder gar durchbrechen. Hierbei scheint das Konzept des shifters aussichtsreich zu sein, das Roman Jakobson entwickelt hat, der ja bereits eingangs dieses Kapitels für die Konzeptualisierung sprachlich-literarischer Selbstreflexion bemüht wurde. Shifter diskutiert der russische Sprachwissenschaftler im Zusammenhang mit der doppelten Funktion von Botschaft und Code, die gebraucht werden oder Gegenstand der Referenz sein könnten. Er fährt fort: „Thus a message may refer to the code or to another message, and on the other hand, the general meaning of a code unit may imply a reference (renvoi) [Kurs. im Orig.] to the code or the meaning.“ Zur letzteren Gruppe zählen die shifter. Unter ihnen versteht er in Anknüpfung an seine Vorgänger eine besondere Klasse grammatischer Einheiten, deren allgemeine Bedeutung nicht definiert werden kann, ohne daß man sich auf die Botschaft bezieht, und führt als Beispiele die Personalpronomina an. 596 Diese Bestimmung der shifter über die Personalpronomina wurde von Claude Calame auf die Analyse der griechithematisierung in einer dramatischen Gattung. Wenn sie Aigisth und Orest in der von ihr untersuchten Tragödie als zwei konkurrierende Dramatiker vor dem Hintergrund der früheren Behandlungen dieses Stoffes beschreibt (1995: 2, vgl. 6), so dient die Intertextualität dem Herauspräparieren des Intratheaters. Ähnliches wird die Interpretation der vorliegenden Arbeit von Euripides’ Medea, aufbauend auf Hopmans Rekonstruktionen zur Mythopoiesis der Kolcherin, zutage fördern (s. 3.2.4 Darstellung und intratheatralische Inszenierung der Transgression und teils auch 3.2.5 Die Schlußszene mit Iason). 596 Russian and Slavic Grammar. Studies 1931-1981. Berlin 1984, 41-58, h. 41-43. <?page no="210"?> 3. Poetisch-ästhetische Dimensionen der Transgression 196 schen Literatur übertragen. 597 Unter Berufung auf Jakobson und Calame hat Anton Bierl die shifter-Theorie auf das antike Drama und hier konkret die doppelte Rolle des Chores als Teil der Mimesis und deren Indikator bezogen. Diese Funktion geschehe über shifter wie das Präsens und die deiktische Referenz auf die Gegenwart, die Bezüge zur Gegenwart der Aufführung herstellten. 598 Diese shifter können dabei aber auch die mimetische Illusion durchbrechen und damit als Vehikel des Metatheaters im engeren Sinne dieser Arbeit fungieren. Mit Jakobsons referierter Systematik, die auch den Bezug einer Botschaft auf eine andere kennt, kann aber zusätzlich ein intertextuelles Phänomen wie das Intertheater, aber auch das Intratheater erfaßt werden, das auf einer kleineren Ebene ähnlich wie das Metatheater funktioniert. Neben den Funktionen der dramatischen Metapoetik gilt es also auch im Verlaufe dieser Arbeit nach deren Mitteln Ausschau zu halten. 597 The Craft of Poetic Speech in Ancient Greece. Translated from the French by Janice Orion. Preface by Jean-Claude Coquet. Ithaca 1995, 5-10. Mein knappes doxographisches Referat greift hier aus Calames komplexer Erörterung nur die Punkte heraus, welche für die vorliegende Arbeit relevant sind. 598 Der Chor in der Alten Komödie. Ritual und Performativität. Unter besonderer Berücksichtigung von Aristophanes’ Thesmophoriazusen und der Phalloslieder fr. 851 PMG. Habil. Leipzig 1998. BzA 126. München 2001, 18 f. und 38 f. <?page no="211"?> Teil II: Exemplarische Einzelinterpretationen Die strukturalistisch-semiotische Deutung des antiken Dramas anhand der Transgression soll an exemplarisch ausgewählten Stücken vorgeführt werden. Jeder große Dramatiker wird mit mindestens einem Schauspiel vertreten sein. Auf diese Weise soll das jeweils typologisch Neue gezeigt werden, das dieser Ansatz an Einzeldramen beleuchten kann. Dies geschieht am besten an Stücken, die bereits über eine reiche Auslegungsgeschichte verfügen. Im Dialog mit ihr können textnah der heuristische Mehrwert der gewählten Herangehensweise sowie die Funktion und Interaktion der geschilderten Analysefiguren Transgression, Eliminierung, Tragik und Metatheater beleuchtet werden. Sie bilden die Leitlinien der Interpretation und die Kristallisationspunkte für die Unterkapitel innerhalb der Besprechungen der einzelnen Stücke. Ihre Anordnung folgt nach einem Einleitungskapitel, welches für das betreffende Drama das Analyseraster dieser Arbeit mit den Fragestellungen der bisherigen Forschung ins Gespräch bringt sowie die Personenkonstellation und den globalen Handlungsverlauf skizziert, grosso modo dem Dramenverlauf. Dies gilt sowohl für die textnahe Besprechung einschlägiger Einzelszenen als auch für die sich anschließenden synthetischen Kapitel der Globalbesprechung, sofern sich eine solche Unterteilung in diese zwei Hauptteile als sinnvoll erweist (so bei Euripides’ Medea und Senecas Phaedra). Jede Besprechung folgt grob thematischen Blöcken, die, wie angedeutet, um Transgression und Eliminierung bzw. Doppelung und Restauration und ggf. deren Spezifika wie Tragik, Monstrosität und Extravaganz gruppiert werden, also den Stationen, die nach Auffassung dieser Arbeit die Handlung kausal und chronologisch strukturieren. Denn die Abfolge der Szenen ist nicht bloß eine Frage der linearen Reihung, vielmehr ist die syntagmatische Verkettung der Szenenarchitektur - entsprechend dem Verständnis der Handlungsstruktur (s. 1.1 (Antikes) Drama und Strukturalismus: Zur Handlungsstruktur in der Einleitung) - nicht nur kausal und chronologisch, sondern auch paradigmatisch relevant. Erfolgt eine Unterteilung in Einzel- und Globalbesprechung, werden intratheatralische Züge bei den betreffenden Einzelszenen im Zuge der Besprechung des Handlungsverlaufs beleuchtet und das Metatheater Teil der Globalbesprechung sein. <?page no="213"?> 1. Aischylos’ Perser: Transgression zwischen Topologie und Theologie, Poetik, Politik und Pädagogik . (Heraklit DK 22 B 43) 1.1 Forschungsstand, Aufbau, Narratologie und Perspektive Aischylos’ Perser aus dem Jahre 472 v.Chr. sind nicht nur die älteste erhaltene Tragödie, sondern eine, die bis in die Gegenwart eine Vielzahl unterschiedlichster Deutungsansätze erfahren hat, die sich grob in drei Gruppen gliedern lassen: Den traditionell-tragischen 1 und universalhumanistischen Deutungen stehen spezifischere gegenüber. Sie sind teils politisch und orientalistisch. 2 Vor einem anderen Hintergrund, nämlich Ritus, Mythos und Religion stehen eine rezente ritualpoetische 3 und, darauf aufbauend, eine ritualmythologische. 4 In ihr ist bereits die dritte, die literaturwissenschaftliche Ebene faßbar: Sie vertreten jüngst eine erinnerungspoetisch-hermeneutische und poetologische 5 sowie eine narratologisch-emotionsästhetische 6 Interpretation. Als vierte Methode ist eine psychoanalytische Herangehensweise an die Perser versucht worden. 7 Die teilweise nicht unerheblichen Widersprüche dieser unterschiedlichen Lesarten beruhen - 1 Sie stellt Manfred Joachim Lossau, Aischylos. Studienbücher Antike 1. Hildesheim, Zürich, New York 1998, 34-42 zusammen. 2 Edith Hall, Inventing the Barbarian. Greek Self-definition through Tragedy. Oxford 1989 = 1991, 56-100. Thomas Harrison, The Emptiness of Asia. Aeschylus’ Persians and the History of the Fifth Century. London 2000. Zum Orientalismus vgl. Isolde Kurz, Vom Umgang mit dem anderen. Die Orientalismus-Debatte zwischen Alteritätsdiskurs und interkultureller Kommunikation. Würzburg 2000, h. 11- 35, 111-231. 3 Susanne Gödde, Zu einer Poetik des Rituals in Aischylos’ Persern. In: Ds., Theodor Heinze (Hgg.), Skenika. Beiträge zum antiken Theater und seiner Rezeption, Darmstadt 2000, 31-47. 4 Anton Bierl, Zwischen dem Selbst und dem Anderen. Aischylos’ Perser und das Politische in der griechischen Tragödie. In: Erika Fischer-Lichte Matthias Dreyer (Hgg.), Antike Tragödie heute. Vorträge und Gespräche zu den Antike-Inszenierungen am Deutschen Theater. Blätter des Deutschen Theaters 6, 2007. Berlin 2007, 47-62, v.a. 61 f. Dem Autor bin ich sehr dankbar für die frühe Überlassung eines Sonderdrucks seines Beitrags, der meine eigene Gedankenentwicklung sehr angeregt hat, selbst wenn ich dabei teils zu anderen Ergebnissen gelangt bin. 5 Jonas Grethlein, The Hermeneutics and Poetics of Memory in Aeschylus’ Persae. Arethusa 40 (2007) 363-396. Nur auf den Aspekt der memoria und Vergangenheitskonstruktion hebt Ds., „Tragedy: Aeschylus, Persae“, in: Ds. The Greeks and their Past. Poetry, Oratory and History in the Fifth Century BCE. Cambridge 2010, 74-104 ab. 6 Marianne I. Hopman, Layered Stories in Aeschylus’ Persians. In: Jonas Grethlein, Antonios Rengakos (Hgg.), Narratology and Interpretation. The Content of Narrative Form in Ancient Literature. Berlin 2009, 357-376. 7 Richard Francis Kuhns, Loss and Mourning in Aeschylus’ Persians. In: Ds., Tragedy. Contradiction and Repression. Chicago 1991, 11-34, h. 12: „My method will be largely psychoanalytic […].“ , <?page no="214"?> 1. Aischylos’ 200 mit Ausnahme des Orientalismus - auf verschiedenen Deutungsebenen und können teilweise durch eine Lesart der struktural-handlungstheoretischen und poetischen Transgression aufgehoben werden. Diese Harmonisierung ist nur möglich, wenn die einzelnen referierten Deutungen in sich konsistent sind, und schließt deshalb Kritik im Einzelfall nicht aus. Bereits bei der „klassischen“ Frage nach Aufbau und Anlage des Dramas, die schulmäßig am Anfang jeder Interpretation steht und maßgeblich für deren Perspektive ist, erweist sich ein theatersemiotischer Ansatz als fruchtbar, auch und gerade in Abgrenzung und Eingliederung historischer, ritualorientierter und orientalistischer Lektüren. Seit Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs Urteil, die Perser zerfielen in drei in sich geschlossene Akte, die nur „unzureichend“ verbunden seien, schwebt über der Handlung der Perser das Verdikt der fehlenden Stringenz, 8 das noch bis zu Bierls ritualmythologischer Lektüre von Aufbau und Anlage der Perser aus dem Jahre 2007 nachzuwirken scheint. Daß hinter Tod, Opfer und Trauerritualen eine Tendenz zur Auflösung stehe, die sich auch auf die Zwangsverbindung der Kontinente durch die Schiffsbrücke und die Sprache erstrecke, die in unartikulierte Trauerlaute zerfalle, 9 ist eine richtige Beobachtung, gerade im Bereich der sprachlichen Ordnung, deren signifiants keine referentielle, sondern nur noch eine expressive Funktion ausüben. Doch berücksichtigt Bierls These von der „multiperspektivische[n]“ (59) und „prädramatischen Performance“ (2007: 61) die Integrations- und Gestaltungskraft der im Stück selbst vorgetragenen tragisch-theologischen Deutung nicht. Sie erscheint bei der Beschreibung von Dareios’ nekromantischer Epiphanie „als unerwartete[n] Deutung im Muster griechischer Theo-Ideologie“ bloß in einem Satz (Bierl 2007: 61). Zweimalig wird bei der Schilderung, wie die persische Macht sich auflöse (v. 591- 597), das Verb gebraucht. Doch bietet der Text keinerlei Hinweise darauf, daß diese Wortwahl auf die dionysische Lysis Bezug nehme, d.h. die Konjunktur aktualisiert nicht diese Elemente der semantischen Struktur. Der son hat in diesem Kontext keinen rituellen sens, die konkrete kulturelle Bedeutung ist eine bloß an den Wortkörper geknüpfte Assoziation. Vielmehr weist Bierl selbst zu dieser Stelle auf den politischen Hintergrund der Isegoria hin. 10 Da die Ursachen der Auflösung in der frevelhaften Überschreitung der Meerengen liegen, kann die hier vorgelegte semiotisch-strukturalistische Interpretation eine Erklärung für die von Bierl beschriebenen Phänomene liefern: Die Trauer, die sich lebensweltlich-kultureller Formen bedient, 11 reagiert auf die Eliminierung und Integritätsverletzung, welche die Transgression verursacht hat. Um „das ganze Funktionieren dieser Tragödie [zu] erklär[en]“, bedarf es also keines Rückgriffs auf „die rituelle Einbindung in den Dionysoskult“. 12 8 Die Perser des Aischylos. Hermes 32 (1897) 382-398, h. 382. 9 Bierl 2007: 59 f. 10 Bierl 2007: 59 f. 11 Vgl. Bierl 2007: 55. 12 Bierl 2007: 54. <?page no="215"?> 1.1 Forschungsstand, Aufbau, Narratologie und Perspektive 201 Über das Konzept der dionysischen Performance bestimmt Bierl 2007: 54 auch die „prädramatische Theaterform“ bei Aischylos, „die nicht Charakter und Handlung in den Vordergrund rückt, ebenso wenig auf deutlicher Fiktion, Repräsentation oder thetischer Aussageintention beruht, sondern als bildgesättigte Performance Ethos und Pathos vermittelt.“ Was die Fiktionalität betrifft, so fehlen metafiktionale, d.h. metatheatralische (nicht intratheatralische, s. 1.7 Nekromantie als Intratheater und Dareios’ Geist als Gott-Vater) Elemente in diesem Drama gänzlich. Daß der Perserkönig gleichzeitig „im Hier und Jetzt“ ein athenischer Bürger ist, 13 wird nirgends metatheatralisch evoziert und wird der komplexen interkulturellen dramatischen Semiose dieser Tragödie nicht wirklich gerecht. Charakter bzw. individuelle Dispositionen und Handlung einer Figur, des Perserkönigs Xerxes, prägen den für das Stück konstitutiven Akt der Transgression. Die These, die Szenen des Stücks seien „nur assoziativ verbunden[en]“, 14 mag für sich bei der Artikulation der Einzelszenen stimmen, trägt jedoch nicht der inneren Logik des Gesamtaufbaus Rechnung, der einer folgt. 15 Daß das Stück handlungsarm ist, liegt nicht etwa an einem prädramatischen, 16 sondern analytischen Charakter. 17 Eine gewisse archaische Statik des Verlaufs ist sicherlich mit dem Fehlen des dritten Schauspielers zu erklären und ein Merkmal des Frühdramatischen, nicht des Prädramatischen, das besser geeignet ist, um die Vorformen des attischen Dramas zu charakterisieren. Die Niederlage der Perser bei Salamis durchläuft im Verlaufe des Stücks verschiedene Stadien im Bewußtsein der Akteure: Sie wird zuerst als Antwort auf banges Fragen durch einen Boten erfahren, dann von Dareios’ Geist erklärt und schließlich von Xerxes und dem Chor rituell „bewältigt“ bzw. emotional verarbeitet. Diese Entfaltung schlägt sich lexikalisch im Verb in Atossas Aufforderung an den Boten nieder, das gesamte Leiden zu entrollen (v. 294 f.). Diese Entfaltungsmetapher ist in gewisser Weise das Gegenstück und die Vorbereitung zum Motiv des Risses und Zerreißens (s. 1.5 Bildlich-(se)mantische (Voraus-)Deutung von Transgression und Eliminierung). Bei der mentalen Entfaltung des Geschehens findet ein Staffelwechsel der Perspektive innerhalb des Hofes und der königlichen Familie statt, der das Geschehen des Heerzuges immer näher 13 Bierl 2007: 59. 14 Bierl 2007: 59. 15 Zum komplexen und harmonischen Aufbau der Perser s. Albin Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen. Studienhefte zur Altertumswissenschaft 2. Göttingen 2 1956, 61 f. In der dritten Auflage von 1972 gibt er Wilamowitz’ Kritik an der Konsistenz des Aufbaus teilweise recht. 16 Erratisch-apodiktisch bleibt auch Hans-Thies Lehmanns These, nicht nur die frühesten rekonstruierten dramatischen Aufführungen der Griechen (so die Auffassung der Altertumswissenschaft), sondern das gesamte Theater müsse als „prä-dramatisch“ begriffen werden (Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie. Teilw. zugl. Habil. Gießen [s.a.]. Stuttgart 1991, 2). 17 Diesen kognitiven Aspekt, der mit der Nachricht von der Niederlage beginne und einer einseitig orientalistischen Deutung widerrät, stellt auch Markus Schauer, Tragisches Klagen. Form und Funktion der Klagedarstellung bei Aischylos, Sophokles und Euripides. Diss. München 2001. Classica Monacensia 26. Tübingen 2002, 60 f. heraus: „Das gesamte Handlungsgeschehen der stellt einen sich nach und nach vollziehenden Erkenntnisprozeß dar, […].“ Persae <?page no="216"?> 202 bringt: Vom Chor der Berater zur Königinmutter Atossa, von ihr zum verstorbenen Regenten Dareios und dann zu Xerxes als dem Akteur des Zugs. Hierbei beschreibt das Stück als einzige Handlung eine gegenläufige Bewegung zur Transgression, nämlich die Rückkehr des Boten und des Königs selbst. Diese Regression ist neben der Anagnorisis ein weiteres Element der Restauration. Hierbei wird mit Xerxes’ Rückkehr auch die Lücke geschlossen, die sein Griechenlandzug am Hof hinterlassen hatte. Atossas Nekromantie mutet wie der Versuch an, die vakante Stellung des Patriarchen zu besetzen. Daß es sich dabei um ihren verstorbenen Gatten handelt, erspart eliminatorische Vater-Sohn-Konflikte, wie sie nach Phaidras gleichgerichtetem Versuch Theseus’ Rückkehr mit seinem Sohn bei Euripides und Seneca verursacht, offenbart aber auch die Unzulänglichkeit ihres Sohnes. Aischylos’ Perser sind nicht nur die erste, sondern überdies die einzige vollständig erhaltene Tragödie, die ein zeitgeschichtliches Ereignis auf die Bühne bringt. Dieser Mythos, der nicht auf Erzählungen aus grauer Vorzeit, sondern auf die als zeitgenössisch erlebte, außerliterarische Gegenwart referiert, gibt den Stoff für eine komplexe Gestaltung des Chronotopos vor, welche die Handlung strukturiert. Dieses zeitgeschichtliche Thema präjudiziert jedoch noch keine rein politische Lektüre, wie sie etwa Thomas Harrison anhand von Herodot und Thukydides unter Absehen von sämtlichen dramatischen und literaturwissenschaftlichen Kategorien vornimmt. Die nächste Vergleichsfolie liefern die - leider nur fragmentarisch überlieferten - übrigen Tragödien, die ebenfalls zeithistorische Themen der Perserkriege behandeln (Phrynichos’ Einnahme von Milet und Phönissen), sodann in konzentrischen Kreisen der Gattungsverwandtschaft die Behandlung dieses Themas in anderen literarischen Genres wie Epigramm, Chorlied und Elegie (s. dazu Hopman 2009: 360 f.). Dann erst folgen die Historiker als Kontrastfolie der geschichtlichen Darstellung. 18 Die Lizenzen gegenüber dem Zeitgeschehen, die ein Vergleich mit der Version der Historiker ermitteln kann, lassen schließlich auf einen klaren dichterischen Gestaltungswillen in der Deutung der Ereignisse schließen. 19 Handlung und Chronotopos sind mit diesem Stoff jedenfalls eindeutig umrissen: Es geht um Xerxes’ Zug nach Griechenland, seine Überschreitung der Meerengen, die Asien von Europa trennen, und seine Niederlage bei Salamis. 20 In diese Geschehnisse sind mit Vor- und Rückblicken die Niederlagen der Perser bei 18 Vgl. Emma Clough, Bryn Mawr Classical Review 2001.04.09. Rez. Thomas Harrison, The Emptiness of Asia. Aeschylus’ Persians and the History of the Fifth Century. London 2000. 19 Barbara Court, Die dramatische Technik des Aischylos. Diss. Köln 1994. Stuttgart; Leipzig 1994, 43-66. So auch Desmond J. Conacher, Aeschylus. The Earlier Plays and Related Studies. Toronto (1974) 1996, 3 f. Diesen verkennt Harrison 2000: 85 gänzlich, wenn er den Chor tadelt, weil er durch die Nekromantie den Respekt für Dareios auf dessen Sohn Xerxes übertragen habe, wo Dareios doch für die Niederlage von Marathon verantwortlich sei. Daß das Stück diese Kausalität unterschlägt, dient der Kontrastierung von Vater und Sohn, was Harrison denn auch mit Suzanne Saïd einräumt und mit zwei kaum überzeugenden Gegenbeispielen aus dem Feld zu schlagen sucht. 20 Dies ist nach Föllinger 2003: 241 (s.d. für die einzelnen Angaben der Sekundärliteratur und deren Differenzierung im Detail) die communis opinio, die zusätzlich Xerxes’ Handeln als bzw. aus Hybris erkläre. 1. Aischylos’ <?page no="217"?> 1.1 Forschungsstand, Aufbau, Narratologie und Perspektive 203 Marathon (v. 474 f.) und Plataiai (v. 816 f.) gespiegelt. Daß von diesen epochalen Schlachten Salamis zum Thema der Tragödie erhoben wurde, läßt sich auf der bühnenpragmatischen Ebene sicherlich vielfältig innenpolitisch ausdeuten (Harrison 2000: 85), kann jedoch bereits im zeitgeschichtlichen Stoff verankert werden, der selbst einen Bezug zur Transgression und zum Theater herstellt: Nur bei dieser Großschlacht hatte ein Perserkönig die Meerengen zwischen Europa und Asien überschritten 21 und war unmittelbar als Zuschauer (v. 465) und nicht als Kombattant zugegen. Die erzähltechnische Transgression der Chronologie, welche diese Fokussierung der Schlachten mit sich bringt und die ein aus der Odyssee bekanntes Verfahren aufgreift, geht mit einer weiteren narratologischen Verfeinerung einher: Wir haben es, wie oben bereits angedeutet, mit einem analytischen Drama zu tun. Anders als im OT, wo erforschte und erforschende Handlung um Jahre auseinanderklaffen, schafft zeitgeschichtliche Thematik eine größere zeitliche Nähe des nur wenig später berichteten Geschehens zur fragenden Bühnenhandlung. 22 Die Handlung gliedert sich so in zwei Stränge: Xerxes’ Niederlage in Griechenland wird von der eigentlichen Handlung auf der Bühne, die nach Susa verlegt ist, erfahren, gedeutet und betrauert. Daß die Daheimgebliebenen noch nichts von der Niederlage wissen, ist eine Neuerung gegenüber Phrynichos’ Phoinissai 23 und eine weitere Verfeinerung der künstlerischen Gestaltung. 24 Xerxes’ Rückkehr nach Susa vereint die beiden Handlungsstränge. 25 Auf der Ebene der Dynamik der Figurenpragmatik ist der Chor das integrative Rückgrat der Handlung. Er interagiert mit sämtlichen drei Mitgliedern des Königshauses, deren Auf- und Abtritt die Tragödie in drei Teile gliedert, die jeweils von einem Achämeniden dominiert werden: Zuerst tritt Atossa als einzige daheim verbliebene Vertreterin des Herrscherhauses auf (v. 155-680), dann beschwört sie Dareios’ Geist herauf (v. 681-851). Nach dem gleichzeitigen Abtritt der beiden Eltern beherrscht Xerxes’ Leiden die Bühne (v. 908-1077). Diese eher formal-rezeptionsästhetische Gliederung nach aufmerksamkeitsbindenden Figuren deckt sich nur im letzten Teil mit der ebenfalls dreigliedrigen Einteilung nach mimetischen Hinzutritten, die Topologie und Hodologie für die Handlung relevant machen. Beide Gliederungsschemata verleihen der Tragödie eine Dramaturgie der Kontingenz und Emergenz, die auf der formalen Seite die im Drama drastisch erfahrene Kontingenz der militärischen Katastrophe spiegelt. Die eigentliche Bühnenhandlung kann gemäß diesen topo- und hodologischen Kriterien nach zwei Hinzutritten von außen in drei Großabschnitte geglie- 21 Xerxes’ Griechenlandzug ist somit spektakulärer als Dareios’ Feldzug gegen die Skythen, den Aischylos’ dramatische Gestaltung geflissentlich verschweigt (Conacher 1996: 8) (s. 1.8 Xerxes). 22 Nach Conacher 1996: 15 ist die Niederlage zum Zeitpunkt des Bühnengeschehens bereits eingetreten. 23 Hopman 2009: 371 Anm. 24. 24 Zur kunstvollen Dramaturgie und zum reifen Aufbau der Perser, die keineswegs die Züge eines Frühwerk trügen, s. William G. Thalmann, Xerxes’ Rags. Some Problems in Aeschylus’ Persians. AJPh 101 (1980) 260-282, h. 260 f. Zum Aufbau der Perser und v.a. den auch von Thalmann debattierten Abtritten Atossas s. Court 1994: 19-43. 25 So auch Hopman 2009: 358, 363 f., die von „War Story and Pothos Story“ spricht. <?page no="218"?> 204 dert werden: Den ersten füllen das Bangen und die düsteren Erwartungen der Daheimgebliebenen (v. 1-245), der zweite umfaßt die Nachricht von der Niederlage, die ein Bote überbringt, und deren Deutung durch die Daheimgebliebenen (v. 246-906), der dritte wird schließlich durch Xerxes’ Rückkehr eröffnet, deutlich markiert durch den gleichzeitigen Abtritt seiner Mutter, der sogar einen Wechsel des Protagonisten mit sich bringt, und bietet die endgültige hermeneutisch-pragmatische und rituelle Bewältigung der Niederlage durch Xerxes und den Chor (v. 908-1077), die ein Trauerspiel im eigentlichen Sinne ist. Diese drei Schritte des Handlungsverlaufs der Tragödie entsprechen dabei dem Schema Transgression, Eliminierung und rituelle Neujustierung der inneren Ordnung, an dem sich auch grob der Aufbau der vorliegenden Untersuchung orientiert. Der zweitgenannte Schritt zerfällt in eine Darstellung in Form eines Botenberichts und eine tiefere Deutung durch eine Nekromantie des toten Dareios, die als Intratheater eine Form der dramenpoetischen Transgression ist. Dabei stehen der Transgressor Xerxes und die Rolle von Tragik und Jugend bei seiner Transgression im Mittelpunkt. Als vierter Punkt folgt die eher spekulative Frage nach der Botschaft und der möglichen Wirkung der Perser. Sie ist mit der Perspektivierung der ethnischen Alterität verwoben, die den orientalistischen Thesen zugrunde liegt und welche als Fragestellung auch die vorangehende Besprechung der Tragödie begleiten wird. Doch vor dem Eintritt in den Verlauf und die Wirkung des Dramas müssen dessen perspektivische und theatersemiotische Grundgegebenheiten erörtert werden, zu denen das poetische Spiel mit Nähe und Distanz(ierung), Eigenem und Fremdem, aber auch konkreter die Verlagerung der Bühne ins ferne Susa als weitere Form der dramenpoetischen Transgression gehört. 1.2 Das poetische Spiel mit Nähe und Distanz(ierung), Eigenem und Fremdem In den Persern funktioniert die dramatische Semiose über ein komplexes Wechselspiel zwischen dem Eigenen und dem Fremdem, dem Anwesenden und Abwesenden, nah und fern, Vergangenem und Gegenwärtigem, das, wie im weiteren Verlauf der Interpretation zu zeigen, der dramatischen Semiose und Kommunikation einen reflexiven Charakter verleiht. Bei diesem Wechselspiel handelt es sich um eine besondere Darstellung des zeitgeschichtlichen Stoffes und seiner Elemente, die es kongenial organisiert, es ist aber nicht durch diesen Stoff vorgegeben. Die zeitgeschichtliche Thematik macht die Perser noch über das theatralische Gattungskonstituens hinaus in besonderer Weise zu einer Tragödie der Gegenwart und Gegenwärtigkeit und bezieht die Zuschauer in einem viel größeren Maße als ein mythologischer Stoff ein. Die Figuren auf der Bühne sind ihre Zeitgenossen, sie selbst figurieren in den Botenberichten und haben das referierte Geschehen selbst erlebt. Die Gestaltung des Dramas läßt sich deshalb nur dann in voller Tiefe begreifen, wenn man zusätzlich zu der in dieser Arbeit favorisierten Werkästhetik auch bühnenpragmatische Gesichtspunkte und den historischen Erfahrungshorizont der Zuschauer berücksichtigt. Denn vor allem die Rezeptionsästhetik ist hier anders als bei den mythologischen Stoffen nicht 1. Aischylos’ <?page no="219"?> 1.2 Das poetische Spiel mit Nähe und Distanz(ierung), Eigenem und Fremdem 205 bloß hypothetisch, sondern wird durch die Zeitzeugenschaft des Publikums nahegelegt. 26 Solche Lesarten können, wenn sie sich am Text festmachen lassen, ohne die sichere Antwort auf die produktionsästhetische Frage bestehen, ob sie denn auch vom Tragiker intendiert seien. Die Verankerung im Text ist dabei eine methodische condicio sine qua non. Alle rezeptionsästhetischen Erwägungen, die sie nicht erfüllen, sind von stark verminderter Evidenz gegenüber allen Auslegungen, welche dieser Forderung genügen, da sie ins Spekulative abzugleiten drohen. Die Nachrichten über die Reaktionen des historischen Publikums bieten dagegen kaum eine belastbare Grundlage. Daß Phrynichos wegen der Darstellung heimischer Übel in der Einnahme Milets mit einer Geldstrafe belegt wurde (Hdt. 6.21.2), zeigt jedenfalls, auf welche Empfindlichkeiten eine Tragödie mit einem Stoff aus den Perserkriegen Rücksicht zu nehmen hatte, doch bleibt der solchermaßen abgesteckte Rahmen so weit, daß er der Interpretation kaum weiterhilft. 27 Daß Aischylos’ Tetralogie dagegen den ersten Preis gewann, ist kein sicheres Indiz dafür, daß die Perser einen (vermeintlichen) Chauvinismus des attischen Publikums bedient hätten, 28 da diese politische Tra gödie von drei mythologischen Stücken eingerahmt wurde (Phineus, Glau kos Potnieus sowie dem Satyrspiel Prometheus Pyrkaios). 29 Diese Selbstadressierung ist in das eingangs erwähnte Wechselspiel zwischen Eigenem und Fremdem eingebettet: Bei den Orten und Personen stellt das Gegenwärtige und Eigene das Abwesende und Fremde dar, das seinerseits das Eigene und das historisch-dramatische Ereignis erfährt, deutet und verarbeitet, das mit der eigenen Beteiligung und in der unmittelbaren räumlichen Nachbarschaft zur Spielstätte geschehen ist. Hierbei wird ersichtlich, daß die theatralische Darstellung die militärischen Kontrahenten, die in der historischen Realität physisch in engstem Kontakt standen, weit trennt und sie nur in der Erzählung aufeinander treffen läßt. Die Tragödie verfährt also bildlich gesprochen wie ein Ringrichter, der zwei Boxer in ihre jeweilige Ecke schickt. Das Wechselspiel (oder, um der variatio halber eine weitere Sportmetapher zu wählen: Ping-Pong- Spiel) der literarischen Darstellung zwischen Eigenem und Fremdem schafft so eine reflexive Distanz. Die in der mimetischen Fremde gesprochenen Worte richten sich nicht nur binnenpragmatisch an die dargestellten Fremden, sondern bühnenpragmatisch an das eigene Publikum. Insgesamt stellt das Eigene das Fremde dar und wird doch von diesem gespiegelt; das so erzeugte Bild steht nicht isoliert für sich, sondern wird auf das eigene Publikum zurückgeworfen. Daraus läßt sich für die Interpretation der Tragödie die konkrete Hypothese 26 Harrison 2000: 56 versteigt sich allerdings zu der Spekulation, daß die Schauspieler für die Verse, die Athen loben (v. 230-245), noch heute bei einer Aufführung dort Szenenapplaus bekämen. 27 Vgl. dazu Christopher Pelling, Aeschylus’ Persae and History. In: Ds. (Hg.), Greek Tragedy and the Historian. Oxford 1997, 1-19, h. 18. 28 Allerdings bringt dieses Argument nicht einmal Harrison vor, der bei der eigentlichen Analyse der Tragödie oft sehr am Text vorbei interpretiert. Er ist sogar skeptisch gegenüber dem Argument, die Erstplazierung der Trilogie bürge für die historische Authentizität der Perser (2000: 27 f.). 29 Für die Rekonstruktion der Zusammensetzung der Tetralogie und ihren inneren Zusammenhalt s. Föllinger 2003: 239 f. <?page no="220"?> 206 ableiten, daß die Darstellungsweise der Perser auch dazu dient, Einfluß auf die im Theater versammelten attischen Zuschauer zu nehmen. Die komplexe Perspektive des Dramas mit einem fremden Binnen- und einem eigenen Bühnenpublikum schafft vielfältige Möglichkeiten zu Doppelbödigkeit und Reflexion der Theatersemiose. So wertet Grethlein (2007: 374) die divergierende Aufnahme als metapoetisch, welche die persische Niederlage bei den drameninternen Adressaten am Achämenidenhof und dem intendierten Athener Publikum erfahren dürfte, was er auch am Text festmachen kann (v. 248: ; vgl. v. 1033 f.: XO.: / : - ’ ). Dies gelte auch für die Doppelbödigkeit des … in v. 759-761, das Xerxes nach Ansicht seines Vaters Dareios mit dem Leeren der Stadt Susa vollbracht habe. Diese Junktur spiele ironisch auf das epische (vgl. Il. 9.413) an, das sich die Griechen erworben hätten. Das Ausgreifen des Dramas in die historische Welt wird von zwei anderen dramaturgischen Figuren einer perruptiven Transgression flankiert und unterstützt, nämlich von der narratologischen Durchbrechung der linearen Temporalität und von der dramaturgischen Überschreitung des szenischen Raums. Beide Kunstgriffe brechen klare Zuschreibungen, Oppositionen und Identitäten auf. Diese Flexibilisierung oppositiver Identitäten ist von besonderem Interesse, da das Drama von scheinbar identitätsstiftenden Gegensatzpaaren aller Art durchdrungen ist: Griechenland und Persien, Europa und Asien, männlich und weiblich, alt und jung, Mensch und Gott. 30 Doch auch die lokale und zeitliche Präsenz des dargestellten Geschehens konterkariert seine szenische Distanzierung an den Achämenidenhof im fernen Susa und macht es damit zu einem idealen Vehikel potentiell pädagogischer Selbstreflexion kollektiver Identitäten. Identität und Alterität können so in ein facettenreiches Wechselspiel treten, statt einander in starren Oppositionen zu fixieren. Auch die Zeit ist, wie angedeutet, ähnlichen Verwerfungen ausgesetzt, wie sie die kataklystisch (un-)vermittelbaren ontologischen und topologischen Gegensätze betrifft. Dies mag bei einem zeitgeschichtlichen Drama, das temporale Immanenz verspricht, überraschen, wurde jedoch von Grethleins Untersuchung erhellt, welche die (inter)subjektive Konstruktion von Vergangenheit, die memoria, in den Blickpunkt rückt. Damit bietet er eine wertvolle Ergänzung zum Blick auf den Raum, den die Transgression ea ipsa einnimmt. Außerdem lassen sich Grethleins Beobachtungen auch für die Theatersemiose fruchtbar machen. Die Unüberbrückbarkeit, welche nach Auffassung der vorliegenden Arbeit die Transgression in geographisch-politischer Hinsicht offenbart, entdeckt Grethlein als Grundgegebenheit der Vergangenheitskonstruktion der Tragödie (2007: 368): „There is an unbridgable gap between events as they occur and events as they are reconstructed by memory and then unfolded in narrative.“ Dagegen sieht er (2007: 368) anhand des Stammes eine Entsprechung in der 30 So auch Nancy Sorkin Rabinowitz, Greek Tragedy. Malden, Mass. 2008, 90. Bei ihr fehlt der Gegensatz zwischen jung und alt, den Föllinger 2003 und die vorliegende Arbeit in den Mittelpunkt rücken. 1. Aischylos’ <?page no="221"?> 1.2 Das poetische Spiel mit Nähe und Distanz(ierung), Eigenem und Fremdem 207 Reihung von Truppen und Bericht (v. 430: ). Die syntagmatische Reihung der Erzählung wird also nicht fragmentiert. Dies ergänzt die bisherigen Beobachtungen zum Funktionieren des theatersemiotischen Wechselspiels zwischen Eigenem und Fremdem. Die Unsagbarkeit und Unbeschreibbarkeit des Geschehens, die Grethlein aus der Perspektive der lückenhaften Erinnerung herausarbeitet (2007: 369 f.), bezieht sich auf die Eliminierung, die sich aus der Transgression ergibt, und reproduziert diese beiden Phänomene auf der Ebene der Sprache. Doch besiegelt dies nicht das Ende der Semiose, wie auch Grethlein - ohne semiotische Implikation - die diagnostische Funktion der vergangenen Ereignisse für die Gegenwart anhand von v. 818-826 herauspräpariert (2007: 370 f.), vielmehr werden (v. 819: ), so Dareios, die materiellen Reste der Eliminierung eine Warnung vor der Transgression ( ) bedeuten (v. 818-820). Die memoria wird also mit der Semiose konstruiert, die noch einen materiellen Sinnträger zugrunde legt. Auch bei der Binnenhermeneutik funktioniert die Theatersemiose also weiter. Von den zahlreichen Gegensätzen, welche die Tragödie behandelt, hat der ethnisch-kulturelle in der jüngsten Forschung die meiste Beachtung gefunden. Schon seit Anfang des 20. Jh.s bewegt die Frage die Gemüter, ob und inwieweit die Darstellung der Tragödie die siegreichen Griechen auf- und die geschlagenen Perser abwertet. 31 Die semantische Implikation oppositiver Identitäten erlangt damit eine besondere Brisanz. Die besagte Frage ist von humanistischen Gelehrten zumeist verneint worden, 32 während die unter dem Namen Orientalismus 33 firmierende, zu den postcolonial studies gehörende Richtung sie seit ihren Anfängen bejaht, so bereits der Vater dieser Richtung, Edward W. Said. 34 Die strukturalistische Semiotik liefert mit Saussures zwei jeweils in signifiant und signifié gehälfteten und einander an einer Spitze zugewandten Ovalen (vgl. CLG 99, dort allerdings in anderer argumentativer Funktion) ein Modell, um die Komplexität des Funktionierens und der Modalitäten der oppositiven Identitäten zu veranschaulichen. Entscheidend für die Beurteilung des möglichen Orientalismus der Perser sind etwa die Fragen, ob Orient und Okzident qua signifié nur zwei kontrastierende und durch Opposition abgegrenzte Modelle sind oder ob dieser Gegensatz objektiv wertend aufgeladen wird, ferner ob (auch in diesem Fall) zwischen dem Bild des Orients und Okzidents und ihren jeweiligen Bewohnern ein quasi essentialistisches Verhältnis konstruiert wird oder ob die Beziehung zwischen signifiant und signifié sich eher nach dem Saussureschen 31 Vgl. dazu Gödde 2000: 31-33. 32 Vgl. Gilbert Murray, Aeschylus the Creator of Tragedy. Oxford 1940, 127: „This greatness of spirit in Aeschylus’ treatment of the enemy remarkable.“ 33 Für eine umfassende Darstellung, Diskussion und Widerlegung der orientalistischen Perser- Interpretation s. Gödde 2000: 31-37. Ferner Mark Griffith, The King and Eye: The Role of the Father in Greek Tragedy. PCPhS 44 (1998) 20-84, h. 44-57. Alan H. Sommerstein sieht Widersprüche und orientalistische Merkmale beim Chor, gelangt jedoch bei seiner Synkrisis zu dem Ergebnis, daß die persischen Figuren nicht sonderlich schlecht gezeichnet seien (Aeschylean Tragedy. Bari 1996, 73-96, h. 96). 34 Orientalism. Western Conceptions of the Orient. London 2003, 21 und 56 f. <?page no="222"?> 208 Postulat der Arbitrarität und Konventionalität gestaltet (CLG 100-102), die grundsätzlich eine Neuzuordnung erlauben. Daß das Drama auf die für die Binnenwie Bühnenpragmatik wohlfeile Interpretation einer essentiellen Überlegenheit der Griechen über die Perser verzichtet, ist ein bemerkenswerter, erklärungsbedürftiger Zug. Ein methodisches Defizit orientalistischer Ansätze bei der Auslegung der Perser besteht denn auch darin, daß sie den dialogischen Charakter der oppositiven Identitäten verkennen. Die im Dramentext massiv präsenten und für seine Semantik virulenten Gegensätze von Mensch und Gott, alt und jung geraten darüber in Vergessenheit und werden nur in die Deutung mit einbezogen, wenn sie in vermeintlich abschätziger Weise mit dem Grundgegensatz kombiniert werden (orientalischer Gottkönig, verweich/ blichte Orientalen). Der ethnisch Andere wird in den Persern unter dem Aspekt der militärischen Transgression, ja Aggression in den Blick genommen. Daß dies ebenso wie die Asymmetrie in Fakten und Legitimität zwischen Griechen und Persern bereits im zeitgeschichtlichen Stoff vorgegeben ist, wird von Aischylos’ orientalistischen Interpreten nicht hinreichend berücksichtigt oder sogar anachronistisch verkehrt. Mit einem Vergleich zu den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs öffnet Harrison 2000: 62 die Büchse der Pandora, kann man doch bei interepochalen Vergleichen trefflich salbadern, ohne zu einem wirklich einschlägigen Ergebnis zu gelangen, weil sich die Geschichte nie wiederholt. Den neuzeitlichen Aspekt von Harrisons Vergleich („Like the British in the dark days of Second World War (standing alone - except with the peoples of the Empire) the Greeks are all that lie between Xerxes and world domination“) mögen Berufenere beurteilen. Die Introspektion, die er hier ausgehend von seinem Eigenen statt der sonst üblichen Distanzierung wählt, lenkt im Falle der Griechen jedoch den Blick auf eine historische Konstellation, die von höchster Relevanz ist, um die Darstellungsweise der Perser in der gleichnamigen Tragödie sachgerecht einzuschätzen: In existentieller Not und unter Aufbietung aller Kräfte konnten die verbündeten griechischen Stadtstaaten des Festlandes den Angriff des Achämenidenreiches zurückschlagen, das sich als stolzer Erbe der orientalischen Großreiche inszenierte und deren Machtmittel aufbieten konnte. Dies wird auch in den Persern selbst deutlich (v. 33-57). Anders als Großbritannien in Harrisons Darstellung konnten ihnen dabei nicht einmal die eigenen Kolonien beistehen, da die Städte der Magna Graecia während des Xerxes-Feldzugs gegen Karthago zu kämpfen hatten. 35 Said berücksichtigt diese Ausgangslage, die doch alle Zutaten für dekolonialisierendes Befreiungspathos hat, nicht und sieht nur, daß - historisch korrekt - die Griechen als siegreich und die vormals siegreichen Perser - das stimmt nur bis 494 v.Chr. - als unterlegen dargestellt wurden (2003: 56). Die Perser mögen eine Station in der Entwicklung des westlichen Orientalismus sein, aber diese embryonalen Ansätze unterscheiden sich ebenso wie die histori- 35 Vgl. Hermann Bengtson, Griechische Geschichte von den Anfängen bis in die römische Kaiserzeit. HdA III.4. München 5 1977, 170, 185. Diese Doppelbedrohung bestand unabhängig davon, ob die „beide[n] Aggressionen […] aufeinander abgestimmt [waren], wie Bengtson meint (S. 185), und auch unabhängig von dem orientalistischen Pathos des nicht näher gekennzeichneten Mommsen-Zitats, das Bengtson dort bemüht. 1. Aischylos’ <?page no="223"?> 1.2 Das poetische Spiel mit Nähe und Distanz(ierung), Eigenem und Fremdem 209 sche Situation von dem, was in seinen späteren Ausformungen die Bezeichnung ‚Ideologie‘ verdient, weil dieses Spätere nicht mehr auf die Abwehr eines benachbarten östlichen Aggressors, der nur durch zwei Meerengen getrennt war, sondern auf die Unterwerfung orientalischer Völker abzielte, die durch immer größere Gewässer von dem ‚Westen‘ getrennt waren (Alexanderzug, Kreuzzüge, Kolonialismus). 36 Insofern ist der Fokus auf der Transgression der Meerengen, den die vorliegende Arbeit in der Darstellung der historischen Ereignisse in den Persern hervorhebt, für das Verständnis der Tragödie wie für die historischdiachrone Differenzierung des mentalitätsgeschichtlichen Modells ‚Orientalismus‘ erhellend, indem es anachronistische Rückprojektionen subvertiert. Die in den Persern anklingenden Bemühungen Athens, mit Hilfe des attischdelischen Seebundes die kleinasiatischen Griechen zu befreien (v. 872-906), 37 werden als Anfänge des attischen Imperialismus gedeutet (Harrison 2000: 64; 29 f.). Als Beleg dafür dient Hall 1989: 59 die zwangsweise Unterbindung von Naxos’ Austrittsversuch im Jahre 468 v.Chr. - also vier Jahre nach der Aufführung der Perser. 38 Ansonsten gewinnt man den Eindruck, daß gerade im Falle Halls (Saids Bemerkungen bleiben zu versprengt und Harrison zu einseitig und historisch) die Unterschiede zu den nicht- oder gar anti-orientalistischen Interpretationen weniger auf der Einschätzung der Sachlage als auf der terminologischen Etikettierung beruhen, die sich etwa im zitierten Passus aus Hall an „empire“ und „ideology“ festmachen lassen. Wie später von Mark Griffith 1998: 44-48 auch unter Bezug auf die Perser ausführlich entwickelt, 39 sieht Hall die innenpolitische Implikation der Auseinandersetzung mit den Persern (1989: 58 f.): Aristokraten und Tyrannen hegten politische Sympathien für das Perserreich, das sie - im Falle der kleinasiatischen Griechenstädte erfolgreich - unterstützte. Die zum damaligen Zeitpunkt noch keineswegs festinstallierte attische Demokratie sah sich so einer doppelten, innenwie außenpolitischen, Bedrohung gegenüber. Die Anonymisierung der Athener und der Kontrast von athenischer 36 Auch Griffith weist zu Recht auf die im Vergleich zu neuzeitlichen Fremdbildern wesentlich geringere Entfernung hin, die den ethnisch Anderen in den Persern und bei den Griechen vom Eigenen trennten (1998: 52). Selbst im späteren, wesentlich offensiveren und offen essentialisierenden Hippokratischen Traktat Über Winde, Wasser und Gegenden bzw. Über die Umwelt ( ) sowie in Aristoteles’ Politik fehlten die für den neuzeitlichen Rassismus so charakteristischen Bezüge auf vererbte Körpermerkmale. 37 Vgl. Anthony J. Podlecki, The Political Background of Aeschylean Tragedy. Ann Arbor 1966. Ndr. London 2000, 11 zu v. 872-900. 38 Harrison schafft es dagegen, von Atossas Frage an den Chor, ob Athen die Stadt sei, auf deren Unterwerfung ihr Sohn so erpicht sei, und der Antwort des Chores, im Erfolgsfalle werde ganz Griechenland dem Großkönig untertan (v. 233 f.), also zwei Versen (2000: 61), den Bogen über Herodot bis zum Melierdialog für den Nachweis zu spannen, daß die Athenzentriertheit der Perser nicht nur auf die Vergangenheit ausgerichtet sei, da bei Thukydides wie bei Herodot die Vorherrschaft über Griechenland an den Beitrag in den Perserkriegen gekoppelt werde. Diese ideologiegeschichtliche Syllepse unterschlägt wesentliche Unterschiede zwischen den zeitlich weit getrennten Texten: Was in den Persern nur das strategische Kalkül einer äußeren Bedrohung ist, wird erst bei den Historikern explizit zur Legitimation eines innergriechischen Vorrangs, der bei Thukydides in brutale Unterdrückung der eigenen Landsleute umschlägt. 39 Gegen ihn kann Harrison 2000: 105-108 trotz der Ankündigung einer umfassenden Problematisierung nur versprengte Einwände und Differenzierungen im Detail vorbringen. <?page no="224"?> 210 Demokratie und persischem Absolutismus in den Persern gewinnen vor diesem Hintergrund einen ganz neuen Sinn. Dies gilt auch für Atossas verwundert-naive Fragen nach Athen (v. 230-245). Sie sind ebensowenig deplaziert 40 wie die Tatsache, daß Priamos sich von Helena im zehnten Kriegsjahr die Anführer der Griechen von der Mauer aus vorstellen läßt (Il. 3.161-208). Vielmehr zeigen sie den Athenern ihre eigenen demokratischen Einrichtungen in einem wunderbaren, verfremdenden Licht. Literarisch geht es also nicht um (negative) Figurenzeichnung, sondern um die Bühnenpragmatik mit Hilfe des verfremdenden Einsatzes epischer Expositionstechniken. Hierbei findet eine paradoxe Umkehrung des ethnologischen Fokus statt: Der andere, der durch die Verlegung der Bühne nach Susa erforscht wird, 41 fragt selbst nach demjenigen, dem er präsentiert wird. Insofern wären Atossas Fragen sogar geeignet, beim Publikum dasselbe Interesse am ethnisch Anderen zu wecken. Die Idealisierung des Großkönigs als weise in späteren Prosatexten, auf die Griffith hinweist (1998: 47 f.) - auch Hall widmet ihr Schlußkapitel der Subvertierung des Gegensatzes durch barbarische Griechen und edle Barbaren (1989: 201-223) -, beschränkt sich in den Persern jedenfalls auf Dareios und dient so der Konstruktion des Gegensatzes von alt und jung, der erheblich klarer als beim Ethnos wertend aufgeladen ist. Inwieweit der Kontrast zwischen dem schlichten (dorischen) Kleidungsstil (v. 182 f.) und dem Kleider- und sonstigen Luxus der Perser auf den von Thukydides (1.6.3 f., 1.6.6) berichteten und wie in der Tragödie mit einem Kompositum von bezeichneten ( ) „orientalisch verweichlichten“ Lebensstil der eigenen Oberschicht in der orientalisierenden Phase und deren Medismos zielt (Griffith 1998: 45-47), läßt sich am Text der Perser nicht mit Sicherheit nachweisen. 42 Griffith schließt hieraus, daß das Fremde doch nicht so fern war und dem Eigenen näherstand (1998: 46), 43 doch wird hier eher das unerwünschte Eigene als fremd ausgegrenzt und eine geschlossene eigene Identität via negationis (aber nicht negativ! ) über den Anderen zusammen mit einer dichotomischen Distribution konstruiert, welche die kulturellen mit den ethnisch-geographischen Oppositionen deckungsgleich machen will. Diese Operation, die das Identische als das Nicht-Andere bestimmt und damit ebenso verfährt wie Nikolaus von Kues, der das Nicht-Andere (non aliud) zur universellen (Selbst-)Definition 44 und sogar zur präziseren Definition 40 Für solche Forschermeinungen s. Harrison 2000: 58. Er selbst reiht dieses dramatische Mittel getreu seiner Methode in die griechische Historiographie ein und überführt es als wirklichkeitsfremde Selbstverherrlichung (2000: 58-60). 41 Diese kognitive Haltung gegenüber dem ethnisch Anderen arbeitet auch Pelling als Konsequenz dessen heraus, daß die Polarität zwischen Griechen und Persern in dieser Tragödie zwar nicht gänzlich annulliert, aber doch subtil reflektiert und human-universell aufgehoben werde (1997: 18). 42 Ein literarisches Indiz liefern zwei spätere Stellen (Ag. 689-693, Pi. P. 11.31-35), an denen der Griechin Helena zugeschrieben wird. Daß dieses Merkmal bei Pindar v.a. auf die Trojaner zutrifft, läßt die normativ ab- und ausgrenzende Funktion dieser Opposition erkennen. 43 Dabei geht er allerdings zu weit, wenn er Xerxes mit einem verwöhnten aristokratischen Sohn identifiziert (1998: 45). 44 Vom Nichtanderen Kap. 1,3-5. 1. Aischylos’ <?page no="225"?> 1.2 Das poetische Spiel mit Nähe und Distanz(ierung), Eigenem und Fremdem 211 Gottes 45 erhebt, ist eine Abgrenzung, welche die Geographie - entsprechend dem Insistieren der Tragödie auf den Grenzen zwischen den Kontinenten - semantisiert, d.h. essentialistisch zum Sinnträger der Kultur macht, aber keinesfalls zwingend eine Abwertung des Anderen. Eine differenziert-gemäßigte orientalistische Perspektive ist also theoretisch sowohl mit dem strukturalistischen Ansatz dieser Arbeit als auch wohl mit den Persern vereinbar. Die dezidierte Ablehnung der vorliegenden Untersuchung richtet sich gegen einzelne orientalistische Lesarten, die mit Schlagwörtern wie ‚Ideologie‘ und ‚Imperialismus‘ suggerieren, die Perser zeichneten den ethnisch Anderen als essentiell und nicht bloß situativ militärisch unterlegen (für diese vertikale, auch von Said vertretene Identitätskonstruktion vgl. Griffiths Formulierung „sub-Greek“ [1998: 44] und 1.2.4 Kurzer Forschungsabriß zur Transgression: Bataille, Foucault, Stallybrass und White in der Einleitung) und riefen ohne äußeren Anlaß zur außenpolitischen Expansion auf. Den praktisch-politischen Impuls, den diese Deutungen in den Persern ausmachen, rücken sie mit dieser Wortwahl an Thukydides’ und mehr noch über die Implikation eines unmotivierten und willkürlich-spontanen Charakters an das Konzept des Bösen heran, das in den Analysen dieser Arbeit erst bei der Dramatisierung des stoischen Konzepts von der Entstehung der Leidenschaften virulent wird (s. 7.2.3 Phaedra und die Amme in der Phaedra-Interpretation). Im Abendland wurde dieses Konzept erstmals von der christlichen Anthropologie ausformuliert. In deren geistesgeschichtlicher Tradition, so könnte man argwöhnen, scheinen die orientalistischen Interpreten unreflektiert zu stehen, weil sie ein Konzept anachronistisch auf eine Epoche übertragen, in welcher für dieses die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen fehlten. 46 Den bewußtseinsprägenden Impulsen der historischen Situation - handlungstheoretisch reagieren die historischen Akteure auf die Impulse ihrer Umwelt, statt spontan in diese einzugreifen - wird diese Sichtweise jedenfalls nicht gerecht. Der unter großen Opfern und Mühen abgewehrte Angriff des persischen Weltreichs auf das kleine Griechenland gehört nun einmal zum Erfahrungshorizont von Tragödienautor und -publi- 45 Vom Nichtanderen Kap. 2,7. 46 Gewiß finden sich schon bei Aischylos Fälle einer individuellen Letztverantwortung für Transgressionen, denen wie im Falle des Bösen ein Moment des Spontanen zugrunde liegt. Doch anders als bei diesem bleiben diese Fälle bei Aischylos handlungstheoretisch stark kontextualisiert. Wenn Agamemnon sich zu einer alleswagenden Sinnesweise umentscheidet, Iphigenies Opferung anzuordnen (Ag. 221: ), dann ist dieser Entschluß an dieser Stelle und selbst in diesem Satzgefüge (v. 218) in einen textlich klar ausgeführten tragischen Konflikt und seine Handlungsimpulse eingebettet. Wenn Laios und Iokaste trotz Warnung des delphischen Orakels in unvernünftiger Lust Oidipus zeugen (Th. 741-757), dann entspricht dieses unbeherrschte Verhalten eher der archaischen Torheit, wie sie aus dem Anfang der Odyssee bekannt ist (1.7-9). Hier sind es sinnliche Verlockungen, welche zur Transgression führen, keine spontane Bosheit, wobei im Falle von Oidipus’ Zeugung die Trunkenheit als Bewußtseinstrübung hinzukommt. Die Willensfreiheit ist also sowohl im archaischen und tragischen wie im christslichen Menschenbild mit seinem Konzept des Bösen analytisch gewahrt, doch ist sie im christlichen absolut und im archaischen und im archaischen und tragischen relativ. <?page no="226"?> 212 kum. 47 Sie entstammen der Polis, welche die größten Opfer und Anstrengungen zur Abwehr der existentiellen Gefahr erbracht hat. Kein feindlicher Soldat hat im Verlaufe der Perserkriege spartanischen Boden betreten, während die Athener bei der zweiten Invasion sogar ihre Stadt evakuieren und deren Zerstörung mit ansehen mußten. Unter diesen Umständen wäre selbst ein schwülstiger Triumphgesang verständlich, der die Griechen zu heroischen Siegern über die dämonisierten Aggressoren stilisiert. Daß dies nicht vorliegt, ist selbstredend kein Beleg für Aischylos’ menschliche Größe oder die moralische Überlegenheit der griechischen Zivilisation in der Antike, deren humane Gesinnung pfleglich mit dem geschlagenen Gegner umgegangen sei. 48 Es ist in allererster Linie wohl der Gattung der Tragödiegeschuldet, die formal und motivisch qua literarisches Gesamtkunstwerk wohl die komplexeste Gattung ist und deren intrikate Semiose ein kompliziertes Spiel mit Identität und Differenz auch im Falle des ethnisch Anderen erlaubt, bei dem im Fall der Perser Edward Said durchaus - allerdings bei fortbestehender, illusionär verschleierter Distanzierung 49 - die bedrohungmindernde und nähestiftende Wirkung sieht (2003: 21). Das Theater ist in Saids Augen eher ein Instrument einer kanonisierten Fremdbeschreibung (2003: 57) als einer Erkundung der Alterität. Die Komplexität der Semiose ist ebensowenig ein Garant gegen eine subtile Parteinahme, wie Kunst per se moralisch neutral oder zumindest integer ist, eine Annahme, die Harrison zu Recht als modernes idealistisches Trugbild entlarvt (2000: 111). Das sich hier auftuende Problemfeld einer poetischen bzw. besser dichterischen Integrität, 50 deren Fragestellung die gesellschaftlichen normativen Kategorien, welche die poetische Gerechtigkeit an der Einzelfigur aushandelt (Näheres s. 1.4.2 Tragik als Desubjektivierung in der Einleitung), auf eine generische Ebene hebt, kann selbstredend hier nicht umfassend erörtert werden. Das eher formalistisch-operationale Kunstverständnis dieser Arbeit würde es grundsätzlich erlauben, eine Darstellungsweise bei entsprechender semiotischer Komplexität als künstlerisch einzustufen, selbst wenn sie den Gegenstand in ein schlechtes Licht tauchte. Einseitige und unzulässig verallgemeinernde Bilder sind dabei allerdings nicht mit der semiotischen Differenziertheit des Theaters und erst recht nicht mit der Tragik vereinbar, die traditionell und auch in dieser Arbeit im Konflikt zweier gleichwertiger Größen verankert wird (s. 1.4.3 Tragik als (Integritäten-)Konflikt: Hegel und Schiller der Einleitung), selbst wenn die Tragik aus pädagogischen Gründen in den Persern unterentwickelt ist. Eine Dichtung, die unbilligerweise die Integrität ihres mimetischen Ge- 47 Für Harrison 2000: 51 f. machen dagegen Aischylos’ biographische Erfahrungen und persönliche Verluste eine Identifikation mit dem geschlagenen Gegner unwahrscheinlich, eine pauschale biographistische Argumentation. 48 Für Vertreter dieser Auffassung s. Griffith 1998: 44. 49 „The dramatic immediacy of representation in The Persians obscures the fact that the audience is watching a highly artificial enactment of what a non-Oriental has made into a symbol for the whole Orient.“ 50 Den Ausdruck ‚poetische Integrität‘ reserviert die theoretische Systematik der vorliegenden Arbeit für eine Dramenfigur, nicht die dichterische (Gesamt-)Gestaltung (s. 1.4.2 Tragik als Desubjektivierung der Einleitung). 1. Aischylos’ <?page no="227"?> 1.3 Susa und Athen: Szenische Transgression der Meerengen 213 genstandes verletzt, würde ihre eigene untergraben. Mehr noch: Wenn die Tragödie ihren eigenen Gegenstand, den Fremden, herabsetzte, statt ihn (als) würdig darzustellen und vielleicht auf eine Fallhöhe zu bringen, würde sie sich ihres eigenen stilistischen Tonicums, der Erhabenheit, berauben (Näheres s. 1.10 Botschaft und Wirkung sowie ein neues Bild domestizierter ethnischer Alterität). Umgekehrt zielt es jedoch an ihrem Charakter vorbei, wenn man die komplexe Semiose, statt sie zum apologetischen Rückzugsgebiet und apotropäischen Palladium zu stilisieren, nur als Mittel der Manipulation ansieht (Harrison 2000: 115). Die vorangehenden allgemeinen, teils aporetischen Differenzierungen dürften gezeigt haben, daß über die ideologisch-politische wie poetische Haltbarkeit der orientalischen Lesart nur eine genaue Textlektüre entscheiden kann, wie sie Harrison (2000: 56 ff.: v. 230-245) und Said (2003: 56: v. 548-557) für jeweils eine Textstelle bieten, die bereits anders interpretiert wurde (s. 1.2 Das poetische Spiel mit Nähe und Distanz(ierung), Eigenem und Fremdem) oder am Beginn von 1.8 Xerxes besprochen werden soll. 1.3 Susa und Athen: Szenische Transgression der Meerengen Der Großkönig ist in Aischylos’ Persern nicht der einzige, der die Meerengen überschreitet (Näheres s. den folgenden Abschnitt). Denn unsere Tragödie führt die lokal-normative Grenzüberschreitung in einer literarischen Transgression, der Verlegung des auf der Bühne dargestellten szenischen bzw. mimetischen Raums ins ferne Persien, vor, 51 eine szenische Transgression, die man auch als Transszenierung bezeichnen könnte. Diese Situierung verkehrt nicht nur die Perspektive im Vergleich zu Simonides’ elegisch-lyrischer Darstellung desselben Geschehens, 52 sondern mutet wie eine dramaturgische Iteration der großköniglichen Hybris an. Ja, diese Spiegelung der Transgression in die Praxis des Dramatikers scheint diesen in eine Linie mit dem stürmischen Xerxes zu stellen. Für den Interpreten stellt sich also die verstörende Frage, ob der Dichter die Norm in derselben Weise wie der Frevler überschreitet, mithin dem Typus des schöpferischen Künstler-Kriminellen entspricht, der in der Einleitung skizziert wurde (s. 3.2 Zu einer Poetik und Hermeneutik der Transgression in der Einleitung). Primo obtutu unterscheidet Großkönig und Dramatiker nur die Richtung der Hellespont-Überschreitung. Die entscheidenden Unterschiede liegen jedoch darin, daß die Transgression der Tragödie eine poetische ist. Dabei geht es nicht nur um den bloß kategorialen Unterschied zwischen poetischer und militärischpolitischer Tätigkeit. Die Vorrangigkeit der Dichtung zeigt sich bereits daran, daß ihre Transgression diejenige des Herrschers mimetisch erst ermöglicht und in einem besonderen Blickwinkel darstellt. Diese individuelle Gestaltung und Funktion der poetischen Lizenz darf nicht über ihre Tradition aus dem Blick geraten. Gewiß folgen Aischylos’ Perser, wenn sie die Schlacht von Salamis aus 51 Ähnlich exotisch ist nur Der gefesselte Prometheus, Euripides’ Helena und Iphigenie auf Tauris. Das Gros der attischen Tragödien spielt im Bereich der Ägäis, d.h. in oder vor anderen Griechenstädten der damaligen Zeit. 52 Vgl. dazu Hopman 2009: 361. <?page no="228"?> 214 persischer Perspektive darstellen, einer dramatischen Konvention, die mit Phrynichos’ Phoinissai begründet wurde. 53 Doch auch hier kommt die individuelle Gestaltung ins Spiel, da denkbar ist, daß die Perser diese dramaturgische Tradition als Möglichkeit dramenpoetischer aemulatio nutzten. Daß bei Aischylos anders als bei Phrynichos eingangs kein Eunuch auftritt (s. die Hypothesis der Perser), läßt bereits eine individuelle Ausgestaltung der Bühnenverlegung erkennen. Doch während wir über die weitere Anlage und Ausrichtung der Phoinissai wegen ihrer fragmentarischen Überlieferung nur unzureichend unterrichtet sind, ist die Funktion der poetischen Lizenz in den vollständig erhaltenen Persern klar erkennbar. Das Geschehen, das in unmittelbarer Nähe zum Aufführungsort stattfand, wird so aus ausreichender Distanz betrachtet, die es nicht nur verfremdet (vgl. Šklovskijs formalistischen c pa e ; s. 3.2 Zu einer Poetik und Hermeneutik der Transgression in der Einleitung), sondern auch eine bessere Reflexion, ja Pädagogisierung 54 ermöglicht. Das semiotisch äußerst fruchtbare Spannungsverhältnis zwischen dargestelltem und realem Raum ist der entscheidende Unterschied zwischen dem Tragiker und dem real okkupierenden und kulturell überschreibenden Großkönig, dessen Annexionsversuch und Realpräsenz in Attika dem Drama vorangeht. So fungiert die demgegenüber als dramatisch-mimetische Widerspiegelung der militärischen Reconquista (s. 1.9 Rituelle Neujustierung der inneren Ordnung), der mimetische Raum als ethnographisches Teleskop, das den Anderen beobachtet, ja vor dem heimischen Publikum vorführt. Daß der entfernte Raum Griechenlands hinter dem szenischen Raum Persiens dominiert, ermöglicht den Kontrast der politischen Systeme von demokratischem Athen und hierarchischem Achämenidenreich 55 und läßt konkreter über die hierarchisierende Perspektive, welche diesem Kunstgriff inne- 53 Grethlein 2007: 377 begründet die notwendige Distanzierung gattungsgeschichtlich nur mit dem Mißerfolg von dessen , die nach Hdt. 6.21.2 dargestellt habe, verweist aber auch darauf, daß Verfahren der Distanzierung für die erfolgreiche Rezeption dieser wie jeder (vgl. S. 388) Tragödie erforderlich seien. 54 Dieser stark normative Ausdruck statt ‚Paränese‘ wird durch das leitmotivische Insistieren auf der Jugend und den Gebrauch von im Mund von Atossa (v. 177, 189, 197, 211, 227, 233, 352, 473, 476) und Dareios (v. 717 [pl.], 739, 744, 751, 782) fast schon erfordert, dabei in den vorgenannten Fällen (ohne in v. 529, 609, 847 im Munde Atossas und in v. 834 in Dareios’) mit Possessivpronomen (auch im Munde des Boten in v. 356) oder Genetiv des Personalpronomens (v. 850 [Atossa]), das den so bezeichneten über die Relation zum Elternteil bestimmt. Auf das Appellativum hob bereits Föllinger 2003: 256 ab: „Der ›generation gap‹ wird auf der sprachlichen Ebene dadurch deutlich, daß Xerxes zweimal mit und neunzehnmal mit angesprochen wird: Er ist »das Kind schlechthin«.“ (Föllinger zitiert für diese Bezeichnung Birger Hutzfeldt, Das Bild der Perser in der griechischen Dichtung des 5. vorchristlichen Jahrhunderts. Diss. Hamburg 1997/ 98. Serta Graeca (Beiträge zur Erforschung griechischer Texte) 8. Wiesbaden 1999, 75, der auch die genannten lexikalischen Frequenzangaben bietet). Anders als in iberischen Königshäusern, wo die nichtregierenden Kinder des Königs noch im Erwachsenenalter den offziellen Titel Infant trugen, behält Xerxes also noch als Herrscher die informelle Bezeichnung Kind, die ihn nach Alter und Beziehung zu den Eltern zurückstuft. Zur didaktischen Funktion der attischen Tragödie (bereits in der antiken Deutung! ) s. Grethlein 2007: 378 und Anm. 34 für die moderne Diskussion dazu. 55 Rush Rehm, Aeschylus. In: Irene J. F. de Jong (Hg.), Space in Ancient Greek Literature. Mnemosyne Suppl. 339. Studies in Ancient Greek narrative 3. Leiden 2012, 307-324, h. 308. 1. Aischylos’ <?page no="229"?> 1.4 Transgressive Zwangssemiogenese und ihr Scheitern 215 wohnt, m.E. die faktische Überlegenheit Athens erkennen, welche die Handlung des Stückes vorführt. Die Verlegung der Bühne nach Susa illustriert, ja performiert dabei ein strukturalistisches Axiom: Identität existiert nur in der Alterität. Dieser dramaturgische Kunstgriff bereitet die kulturelle Hellenisierung des dargestellten Anderen im Verlaufe des Stücks vor. Schließlich läßt sich die poetische Lizenz der Bühnenverlagerung als metatheatralisches Mittel zur Illustrierung der Tragik werten, und zwar nicht nur der besagten Transgression, sondern auch der alternativlosen Notwendigkeit zu dieser (zumindest unter illustrativ-pädagogischen Prämissen des Stückes), insofern sich ein suprasubjektiv vorgegebenes Ziel nur unter Verletzung einer Grenze erreichen läßt. Daß dies gerade bei Xerxes’ Transgression nicht der Fall ist, die deshalb nicht als tragisch gelten kann (s. 1.8 Xerxes), hebt die Tragödie und ihre transgressive Gestaltung weiter über deren Hauptfigur hinaus. Diese (moralische) Überlegenheit der Tragikers zeigt sich konkret darin, daß durch das Fehlen der Tragik die szenische Transgression vor allem als poetisches Mittel dient, um die eigene universalisierte normative Ordnung zu affirmieren, 56 da sie die Folgen von Transgression und Eliminierung aus einem bislang verschlossenen Blickwinkel vorführt. 1.4 Transgressive Zwangssemiogenese und ihr Scheitern Die Gegensätze, die das Drama durchziehen, werden nicht bloß statisch konstruiert. Vielmehr ist ihre Überschreitung konstitutiv für die Handlung. Zentral ist dabei die lokale und normative Grenzüberschreitung, die Xerxes’ Griechenlandzug darstellt, mitsamt ihren zerstörerischen Folgen für die Ordnung. 57 Dabei tritt der traditionelle Frevelbestand der Tempelschändung ans Ende zurück (v. 807-812), auch wenn er terminologisch einschlägig als bezeichnet wird und die ebenfalls eliminatorische Katastrophe der Schlacht von Plataiai nach sich zieht (v. 808: , v. 803-806, 816 f.). Doch auch hier ist die kontinentale Grenzüberschreitung zeitlich vorgängig und syntaktisch eng mit der Tempelschändung in Delphi selbst verwoben (v. 809 f.: ’ / ). Die leitmotivisch beherrschende Transgression ist dagegen der Hellespont-Übergang bzw. die Überbrückung dieses Gewässers. 58 Sie ist nicht nur das 56 Aischylos’ poetische Transgression praktiziert hier eine eigene Form der ethnologischen Immersion, wie ich sie nennen möchte, freilich ohne wie Michel Leiris den Standpunkt eines objektiven Beobachters aufzugeben (Peter Phipps, Michel Leiris: Master of Ethnographic Failure. In: Ursula Rao, John Hutnyk (Hgg.), Celebrating Transgression. Method and Politics in Anthropological Studies of Culture. A Book in Honour of Klaus Peter Köpping. New York 2006, 183-194, h. 183), da die Tragödie ein tragisches und hellenozentrisches Weltbild wahrt. 57 Sie hat bereits John R. Wilson, Territoriality and its Violation in the Persae of Aeschylus. In: Greek Tragedy and its Legacy. Essays presented to D. J. Conacher. Ed. by Martin Cropp, Elaine Fantham, S.E. Scully. Calgary 1986, 51-57 auch unter Einbeziehung von Atossas Traum, aber ohne den hier gewählten semiotischen Ansatz herausgearbeitet. 58 V. 65-72, 100-106, 126-131; 722 f., 736, 744-750, 798 f. (Das Semikolon trennt die Parodos von der Nekromantie.) Hopman 2009: 359 f., die auch im Traum der Atossa dieses Motiv sieht, verweist auf dessen Rolle, die sich mit der Entwicklung des Stückes wandle und die man m.E. <?page no="230"?> 216 Mittel der Zwangssemiogenese, sondern auch selbst deren literarisch-visuelles Symbol, vergleichbar mit dem roten Teppich im Agamemnon, 59 also einem anderen Artefakt, das eine hodologische Funktion hat. Daneben wird der pragmatische Aspekt des Zwangs dadurch expliziert, daß Dareios’ Geist die militärisch-geographische Transgression als Versuch deutet, als Sterblicher die göttlichen Gewässer Hellespont und Bosporos zu versklaven (v. 744-750). 60 Darin klingt an, daß dieses Unternehmen unverrückbare Grenzen nicht nur überschreitet, sondern aufzuheben trachtet (dieser Akt gelingt nur temporär in der Komödie). Dieses Unterfangen wird auch bei Griechenland, hier gleich als leitmotivischer Auftakt zu Anfang und in einer variierten Reminiszenz des Homerischen , das ebenfalls auf die Versklavung abzielt (Il. 6.463, Od. 14.340, 17.323), als Unter-Jochung dargestellt (v. 50), die auch den Hellespont betrifft (v. 72). Gödde weist treffend darauf hin, daß der Ausdruck (v. 71) nicht mehr nur die Fragilität, sondern auch die Gewaltsamkeit des Unternehmens in den Blick nehme. 61 Gerade am Bild des Joches läßt sich festmachen, daß sich das gesamte Unternehmen auch als Versuch einer gewaltsamen Sinnstiftung, einer ver-rückten Zwangssemiogenese, lesen läßt, bei der zwei Erdteile semiotisch verklammert werden: Europa steht nicht mehr für die Poliswelt und Asien nicht mehr nur für die Perserherrschaft. Das signifiant „der Griechen Land“ 62 soll nicht mehr die Poliswelt, sondern eine Satrapie, die Herrschaft des Großkönigs repräsentieren. Xerxes agiert als Subjekt dieser Zwangssemiogenese, für sein Handeln sind die Griechen Objekt. Daß der Konflikt um den Subjekt-Objekt-Status nicht nur politisch, sondern auch kulturell ist und damit eine semiotische Lesart rechtfertigt, zeigt der Schlachtruf der griechischen Salamis-Kämpfer (v. 402-405). 63 Eine strukturalistische Semiotik bietet damit mit einem Kaleidoskop vergleichen könnte. Auch in Konstantinos Kavafis’ Gedicht - (1899) ist das Verlassen des Eigenen und das Eindringen in das Fremde der zentrale Punkt (v. 5 f.). Diese Bewegung entspringt jedoch eher einem unersättlichen ennui an den eigenen schönen Städten (v. 3 f.) als der Hybris. Den intertextuellen Bezug zu Aischylos’ Persern macht das Zitat von in v. 10, 12 und 20 dieses Gedichts augenfällig. 59 Conacher 1996: 25. 60 Auch Christiane Sourvinou-Inwood, Tragedy and Athenian Religion. Lanham, Md. 2003, 222 f. erblickt in Xerxes’ Unterjochung des Hellespont eine Überschreitung („transgression“) menschlicher Grenzen, welche die göttliche Natur Poseidons mißachte und die göttliche Strafe in Form der Niederlage bei Salamis nach sich ziehe, sie sieht also den Nexus von Transgression und Eliminierung. 61 2000: 45 Anm. 41. So auch Kuhns 1991: 14: „Xerxes attempts to “yoke” two cultures, an act of violation.“ 62 Diese Formulierung hebt die Verknüpfung von kultureller Semiose und Machtfragen hervor. Sie wurde in syntaktischer und lexikalischer Anlehnung an Martin Heideggers Modulieren von „Land des Abends“ über „Abend-Land“ zu „abendländisch“ gewählt (Der Spruch des Anaximander. In: Ds., Holzwege. Frankfurt a.M. 8 2003, 321-373, h. 326), das ebenfalls auf die kulturelle Identität und deren universelle Expansion im Zusammenhang mit dem antiken Griechenland abhebt und dennoch die Gefahr des Untergangs, astronomisch wie kulturell, impliziert, freilich aus innerer Logik und nicht durch einen äußeren Transgressor wie in der Handlung der Perser. 63 [...] 1. Aischylos’ <?page no="231"?> 1.5 Bildlich-(se)mantische (Voraus-)Deutung von Transgression und Eliminierung 217 ein Instrumentarium, um die pragmasemiotischen Hintergründe und Zusammenhänge von Aspekten der scheinbar unvereinbaren Lesarten Tragik (Subjekt, Objekt) bzw. Tragödie (Transgression, Eliminierung) und Orientalismus (ethnisch-kulturelle Differenz) zu vereinen: Mit dem Unterfangen, die kulturelle Identität Griechenlands zu diktieren, sein signifié zu bestimmen, versucht der Perserkönig, sich zum Subjekt der Semiose und die Hellenen zu deren Objekt zu machen. Die Transgression soll die kulturelle Differenz eliminieren und die politische etablieren. Damit ist die Differenz bei dieser militärischen Transgression wie bei einer sozialen auf die soziokulturelle Grammatik und den Transgressor verteilt, da auch die soziale Transgression Unterschiede der sozialen Grammatik annulliert und gleichzeitig einen biographischen zwischen dem Transgressor und den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft aufrichtet (s. 1.2.4 Kurzer Forschungsabriß zur Transgression: Bataille, Foucault, Stallybrass und White in der Einleitung). Dieser Unterschied betrifft per se nicht den hierarchischen Status. Nur im OT stigmatisiert der Totschlag an Laios Oidipus und macht zugleich den Weg für sein Königtum frei. Am Dreiweg wie in Euripides’ Medea, behaupten sich die Transgressoren zudem als soziales Subjekt und wehren sich gegen ihre Reduzierung zum sozialen Objekt. Sie haben also eine Rolle wie die Griechen und nicht wie Xerxes in den Persern. Diese Konstellation läßt bereits erahnen, daß Xerxes’ dem Opponenten in der tragischen Transgression entspricht und selbst kein tragischer Transgressor ist. 1.5 Bildlich-(se)mantische (Voraus-)Deutung von Transgression und Eliminierung Die Tragödie prägt mit der Schiffsbrücke als Emblem der Zwangssemiogenese nicht nur ein literarisches Zeichen, sondern sie läßt auch von ihren Akteuren Zeichen entziffern, die auf den Ausgang der Zwangssemiogenese und die Gründe für diesen hindeuten. Das Subjekt der Binnenhermeneutik ist die Witwe des verstorbenen und Mutter des abwesenden Großkönigs Atossa. Sie agiert dadurch unbeschadet ihrer over-protection des heißspornigen Filius als loyale Platzhalterin des abwesenden Monarchen und erfüllt so eine ähnliche Handlungsfunktion wie Penelope. 64 Ihr Traum, in dem eine dorisch gekleidete Frau anders als ihre persisch gekleidete Schwester sich von Xerxes nicht an einen Wagen spannen läßt (v. 191: ), sondern den Wagen zertrümmert und . 64 So auch das positive Bild in der Forschung, das Harrison 2000: 77 referiert. Nachfolgend versucht er, dieses zu schwärzen (2000: 77-82; v.a. S. 81: „[T]he Queen emerges as selfish, superficial, and petulant“ und das nachfolgende Zitat Halls [1996: 7]: „[T]he Athenians thought that [Kurs. im Orig.] Persian queens were psychopathetically heartless, status-conscious and obsessed with sartorial display“). Dabei projiziert er entweder Bilder späterer griechischer Prosaliteratur auf den Text (Haremsintrigen, effeminierende Dominanz der Frauen, vgl. Maria Brosius, Women in Ancient Persia 559-331 BC. Oxford 1996, 195-199) oder verdrehen diesen. Der Vorwurf, Atossa interessiere sich nur für ihre Familie und den Bestand ihrer Herrschaft (Harrison 2000: 79 f.), wird durch Odysseus’ Frau entkräftet: Wo sorgt sich Penelope um die Rückkehr der Gefährten ihres Gatten? <?page no="232"?> 218 mitschleift, das Joch zerbricht (v. 196: ) und Xerxes zu Fall bringt (v. 176-200), nimmt das gewaltsame Scheitern der politisch-kulturellen Zwangssemiogenese vorweg (vgl. v. 594: ). 65 In ihrem Traum wird augenfällig, daß Gewalt Gewalt gebiert und durch sie vergeht. Susanne Gödde hat treffend - auch anhand dieser Szene (2000: 38 f.) - herausgearbeitet, daß das Zerreißen, v.a. des eigenen Gewandes als Trauergeste und Reaktion auf den Verlust, welche die persischen Frauen (v. 537-539) sowie Xerxes selbst wiederholt vollziehen (v. 199, 468, 1030) und zu der er den Chor auffordert (v. 1060), ein Leitmotiv des Stückes ist. Es iteriere mimetisch die Zerstörung der Ordnung, die der Tod als „Lösung der Glieder“ bedeute und welche durch die Fragilität, aber auch Gewaltsamkeit der Schiffsbrücke angedeutet werde (2000: 44-46; vgl. v. 1040 = 1047 = 1066: ). Die beiden Frauen der Unterjochungsszene mögen zwar Schwestern (und somit in klarem Gegensatz zum späteren imperialistischen Orientalismus zu einer friedlichen Koexistenz nachgerade bestimmt) sein, doch bereits das klassisch semiotische Merkmal der unterschiedlichen Kleider 66 ist ein Indiz, ein Zeichen, für ihre unterschiedliche Mentalität und kulturelle Identität, die sich in der gegensätzlichen Reaktion auf den Unterjochungsversuch des Perserkönigs äußern. 67 In dem besagten Traum der Atossa spielt der Wagen eine wichtige Rolle für unsere zentralen Handlungsstationen Transgression und Eliminierung, die er nicht nur bereits in der ältesten erhaltenen Tragödie innehat, sondern in den übrigen hier untersuchten behauptet. Hier ist er ein Symbol der Transgression und der ihr folgenden Eliminierung, im Oidipus Tyrannos liefert er wegen des Platzbedarfs und der asymmetrischen Geschwindigkeit zwischen Fahrenden und Fußgänger den Anlaß der Transgression (Näheres s. 2.4.1 Kollision am Dreiweg in der OT-Interpretation), für Euripides’ Medea fungiert er als ein (fantastisches) Mittel der lokalen Selbsteliminierung nach der Transgression (Näheres s. 3.2.5 Die Schlußszene mit Iason in der Interpretation dieser Tragödie); in seinem Hippolytos und Senecas Phaedra dient er als Instrument, um den vermeintlichen Transgressor physisch zu eliminieren (Näheres s. 7.2.8 Hippolytus’ Konfrontation mit dem Seeungeheuer in der Interpretation dieser Tragödie). Zwei Aspekte ragen dabei heraus: die schnelle Fortbewegung, die einen Anknüpfungspunkt für die ebenfalls topologische Transgression und lokale Selbsteliminierung darstellt, und die Gefährlichkeit, auf welche die Eliminierung Bezug nimmt. Diese beiden Aspekte haben gewiß ein fundamentum in re, das vielleicht bis in indoeuropäische Zeit zurückreicht, doch trifft diese Tradition eben auch auf die Wagenmetaphorik zu. 68 Grenzüberschreitung und nachfolgende Eliminierung eines ebenfalls zu jungen und unerfahrenen Wagenlenkers finden sich jedenfalls bereits im 65 Einen guten Überblick über das Motiv der Unterjochung im Verlaufe dieser Tragödie bietet Rehm 2012: 309. 66 Vgl. Roland Barthes, Système de la mode (1967). In: Ds., Œuvres complètes. Hg. v. Éric Marty. Bd. 2: Œuvres 1962-1967. Paris 2002, 895-1231. 67 So auch Kuhns 1991: 15: „Historically and culturally the two cultures cannot pull together; they are yoked mistakenly by Xerxes’ imperialist ambition.“ 68 Markus Asper, Onomata allotria. Zur Genese, Struktur und Funktion poetologischer Metaphern bei Kallimachos. Diss. Freiburg i.Br. 1994. Hermes Einzelschriften 75. Stuttgart 1997, 23 f. 1. Aischylos’ <?page no="233"?> 1.5 Bildlich-(se)mantische (Voraus-)Deutung von Transgression und Eliminierung 219 Mythos von Phaëthon, der die Kontrolle über den Sonnenwagen seines Vaters Helios verliert und, weil er dadurch droht die Welt anzuzünden, von Jupiters Blitz eliminiert wird (Ov. met. 2,47-332). Der Wagen ist also ein fast traditionelles Symbol und Motiv bei Transgression und Eliminierung, Gefährlichkeit und Selbstüberschätzung, Funktionen, die er auch bei Aischylos’ Persern hat. In diesem Stück vollzieht sich der Auftritt Atossas und möglicherweise auch des Xerxes auf einem Wagen (vgl. v. 1000 f.: [Chor] / ), dessen Ausgestaltung im ersten Fall Reichtum und Segen, im zweiten Fall die Niederlage vor Augen führt. 69 Zwischen der szenischen und (se)mantischen Semiotik findet also eine Codeüberlagerung statt: Beide stehen für die lokale Transgression und ihre eliminatorischen Folgen. Die (se)mantische Deutung und Aneignung der Ereignisse setzt sich auch in einem düsteren Vorzeichen fort, das Atossa kurz nach dem Wagentraum beim Versuch eines apotropäischen Opfers beobachtet (v. 205-210): Ein Falke ( - ) stürzt sich hier auf einen Adler, der zum Herd des Apoll geflohen war ( ’), und zerrauft mit den Krallen dessen Haupt. Der Adler läßt diese Aggression über sich ergehen. Dieses portentum bietet genau den Schritt in Richtung Interpretationsbedürftigkeit der Identitäten, die George Devereux bei Atossas Traum vermißt hatte und die seiner Meinung nach gute und große Dichtung trennt. 70 Doch wäre die Annahme, daß beim Wagengleichnis „nur“ gute Dichtung vorliegt, kein interpretatorischer Fortschritt, weil sie ihrerseits erklärungsbedürftig und ebenso unzureichend wie die sich dann als einzig mögliche aufdrängende Erklärung wäre, daß hier gute und großartige Dichtung kontrastiv-erhellend nebeneinandergestellt werden. Wahrscheinlicher ist vielmehr, daß die beiden Bilder nur zusammen richtig verstanden werden können und deshalb im Drama unmittelbar aufeinanderfolgen. Daß zuerst im Traum die realen Akteure auftreten, während danach im Vorzeichen Vögel erscheinen, ist eher als Mittel der Rezeptionslenkung anzusehen, welche der Unsicherheit entgegenwirkt, die durch die zunehmende Abstraktion von der konkreten Realität entsteht, da das Wagenbild das Personal und die Rollenzuordnung für die Deutung des Vogelzeichens vorgibt. (Grammatikalisch gesprochen tritt erst im zweiten Vorzeichen ein allegorisch-irreales Subjekt statt eines realen auf, damit die agonale Aussage in beiden Fällen für den realen Ausgang des Kriegs einschlägig bleibt. 71 ) In der Tat ist das Vogelvorzeichen in besonderem Maße interpretationsbedürftig. Gödde 2000: 39 f. arbeitet die tragische Ambivalenz dieses Vorzeichens heraus, da „die Zuweisung von Aggressor- und Opferrolle, von Schuld und Verantwortung, wie so oft in Tragödien, nicht eindeutig“ sei: Der 69 Graham Ley, The Theatricality of Greek Tragedy. Playing Space and Chorus. Chicago 2007, 13 f. 70 Dreams in Greek Tragedy. An Ethno-Psycho-Analytical Study. Oxford 1976, 1-23, h. 4: „A stylized heraldic lion representing Scotland is only an allegory; a realistic lion [Kursiv. im Orig.] chasing an adolescent dreamer through endless corridors is the stuff of dreams and of great poetry.“ 71 Vgl. die paradoxe Bifokalisierung statt der hier vorliegenden Ambivalenz in Shakespeares Macbeth (v. 4): When the battle’s lost, and won. <?page no="234"?> 220 Adler sei aufgrund des späteren Kriegsverlaufs mit Xerxes zu identifizieren (auch die Größenverhältnisse der beiden Greifvögel sprechen für diese Deutung, außerdem sahen die Griechen in dem Adler nicht nur den Vogel des Zeus, sondern auch den Wappenvogel des Großkönigs 72 ), doch mißachte der Falke das den Griechen heilige Recht der Hikesie. Freilich würden, so Gödde 2000: 40, „Mißachtung und Plünderung von Heiligtümern in diesem Drama […] den Persern und nicht den Griechen angelastet (809-812).“ Hall 1996: 125 führt denn auch die Interpretation aus, Apoll verwehre Xerxes den Schutz, da er Tempel in Delphi geplündert habe (Hdt. 8.35-39). Auch auf der Athener Agora habe Xerxes den Tempel des Apoll Patroos zerstört. Daran, daß Xerxes mit einem Frevel gegen Apoll behaftet war, konnte also für das Athener Publikum kein Zweifel bestehen. Die genannte Herodot-Stelle bietet denn auch eine markante Parallele zum vorliegenden portentum, da dort die nach Delphi vorrückenden, von Xerxes zur Plünderung ausgeschickten Perser unter Wunderzeichen durch Naturgewalten und später von den geflohenen Delphern selbst erschlagen werden. Gödde endet dagegen mit der aporetischen Frage, ob das Vogelzeichen Xerxes sowohl die Rolle des Angreifers wie Verfolgten zuspreche und damit den Zug gegen Griechenland als Kampf gegen sich selbst darstelle. Diese Sichtweise ist durchaus mit der hier vertretenen vereinbar, in der Eliminierung des Heeres, das als Instrument der Transgression und der Herrschaft fungiert, eine Selbstschädigung des Xerxes zu erblicken, doch übersieht Gödde die eigentlich eindeutige und symmetrische Allegorie. Der Falke ( ) wird nämlich bereits in einem Omen der Odyssee als „Apolls schneller Bote“ bezeichnet und tritt ebenfalls siegreich auf, indem er eine Taube rupft (Od. 15.525-528: ), was er wie in den Persern mit dem Adler tut, worauf Hall 1996: 126 hinweist. Die Odyssee liefert denn auch eine markante Parallele dafür, daß ein menschlicher Rächer geradezu zur Hypostase des rächenden Apolls wird. Odysseus’ Freiermord erfüllt den Wunsch der Magd Eurynome bzw. Penelopes, Apoll möge mit seinem Bogen die Freier bzw. den gegen Odysseus übermütigen Antinoos strafen (Od. 17.493-497). 73 Ebenso hypostasieren der Falke und die Griechen den rächenden Apoll. Ein eindeutiges Greifvogelvorzeichen vor einer Gewaltanwendung im persisch-politischen Kontext bietet auch Hdt. 3.76.3, wo den schwankenden sieben Verschwörern gegen die Mager sieben Habichte ( ) erscheinen, die zwei Geierpaare verfolgen, zerrupfen und zerfleischen 72 Hall 1996: 125. 73 Die theonomische Sichtweise des Epos, nach welcher Odysseus mit dem Freiermord an sozial Gleichrangigen nachgerade eine göttliche Mission erfüllt, ist diametral zu der sozialpsychologischen und ästhetischen, wenn Horkheimer und Adorno beim Hängen der Mägde in Od. 22.465-473 die Emotionslosigkeit des Zivilisationsprozesses mit der impassibilité der Schilderung untermauern (Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. New York 1944, Frankfurt a.M. 1969, 87 f.). Zum geringen Interesse bei dieser Sanktion an dem Umstand, daß Mägde Vergewaltigungsopfer waren, s. Georg Wöhrle, Sexuelle Aggression als Motiv in den homerischen Epen. In: Michael Reichel, Antonios Rengakos (Hgg.), EPEA PTE- ROENTA. Beiträge zur Homerforschung, Festschrift für Wolfgang Kullmann zum 75. Geburtstag. Stuttgart 2002, 231-238, h. 237. Die Begründung, daß sie Schande über Telemachs Haupt und dasjenige seiner Mutter gebracht hätten (Od. 22.462-464), weist eher in die Schamkultur. 1. Aischylos’ <?page no="235"?> 1.5 Bildlich-(se)mantische (Voraus-)Deutung von Transgression und Eliminierung 221 ( ). Die Verschwörer schreiten daraufhin zur Tat, sehen in dem Vorzeichen also offensichtlich eine eindeutige Rollenverteilung. Zudem ist auch eine lineare Auslegung des Gleichnisses denkbar, da zwei Beobachtungen zu Göddes Interpretation ergänzt werden können. (Grundsätzlich ist gleichwohl das vorliegende Vorzeichen in der archaischen griechischen Literatur nicht das einzige Greifvogelgleichnis mit sozialer Implikation, das auf den ersten Blick problematisch ist, man denke an Hesiods Fabel von dem Habicht, welcher der klagenden Nachtigall in seinen Fängen das Recht des Stärkeren verkündet, während Hesiod in den nachfolgenden Versen seinen Bruder zur Achtung vor dem moralischen Recht und zur Scheu vor Frevel ermahnt (Op. 202-218).) Zum einen ist es Atossas Deutung, daß der Adler flieht, also bereits zu dem Zeitpunkt, als der Falke noch gar nicht erwähnt wird, vor diesem ausweicht. Zum anderen könnte die Tatsache, daß der Adler dem Altar ( ) des Apoll 74 zustrebt, auch durch Opferreste motiviert sein, deren Existenz Roussel 1960: 85 annimmt. Der Adler, der eigentlich als Vogel des Zeus an einem Altar des Apoll ohnehin nichts zu schaffen hat, wäre also auf genau derselben Ebene wie die Perser ein Tempelräuber, während das Motiv des verletzten Tempelasyls im übrigen Drama keine Rolle spielt. Auf einer abstrakteren Ebene dringt der Adler wie Xerxes transgressiv lokal (und wohl auch normativ) in den Bereich des anderen ein und wird von diesem physisch sanktioniert. Besonders sinnfällig wird dies sowie die Sanktionierung des religiösen Frevels und die funktionale Entsprechung von Falke und Griechen an der Parallele von zu den , welche die Salamiskämpfer verteidigen sollen (v. 404). Das textfremde moralische Dilemma, ob die Hikesie durch den Tempelraub verwirkt wird, erübrigt sich damit für den Falken. Broadhead 1960: 83, der rezeptionsästhetisch spekuliert, daß Xerxes’ vereitelte Pläne gegen Delphi dem griechischen Publikum den Wunsch nach Umkehrung der Rollenverteilung habe einflößen können, deutet denn auch den Angriff auf den Schutzflehenden (so interpretiert er ’ (v. 205) ohne Ambivalenz) als ohne tragische Verwerfung unheilverkündend („ominous“). Die Sichtung der verschiedenen historischen wie mantischen Parallelen hat also gezeigt, daß in der antizipatorischen Interpretation der Transgression die ethnischen Identitäten und theonomischen Rollenverteilungen konstant sind. Die Oppositionen und Rechtstitel werden, anders als von Gödde angenommen, nicht verwischt, eine tragische personale Selbstschädigung ist nicht erkennbar. Das Vorzeichen evoziert die physische (Gegen-)Aggression, welche die Griechen gegen die Transgressoren und Invasoren unternommen haben und die von den Persern nicht abgewehrt wurde. Ihre ausführliche Darstellung im Botenbericht soll uns im nächsten Abschnitt beschäftigen. 74 Für diese Zuordnung vgl. G oeneboom 1960: 56, der darauf hinweist, daß das eigentlich chthonische dichterisch auch für den Götteraltar verwendet werde. r <?page no="236"?> 222 1.6 Jeu de massacre: Darstellung der Eliminierung Der Bote, der die Nachricht von der Niederlage bei Salamis bringt, löst die angsterfüllte Erwartung durch schreckliche Gewißheit ab. Mit der Abfolge Transgression - Eliminierung weisen die Perser exakt die Handlungsstruktur auf, die in der Einleitung als Charakteristikum der Tragödie postuliert wurde: Das reale Instrument 75 der Transgression, das Perserheer, das diese von dem göttlichen Suprasystem garantierte Ordnung stört, wird eliminiert. Dies geschieht nicht nur militärisch in den zwei geschilderten oder alludierten See- und Landschlachten von Salamis und Plataiai, sondern auch bei der Überschreitung eines Gewässers, und zwar des durch göttliches Wirken erst gefrorenen und dann im Sonnenlicht tauenden Strymon (v. 495-507). Dieses Motiv, das Aischylos wohl erfunden hat (Conacher 1996: 8 Anm. 8), fungiert als Kontrast und Ergänzung zur Schiffsbrücke über den Hellespont. Das Zufrieren habe selbst Gottlose zur Niederwerfung vor den Göttern bewegt (v. 497-499). Diese Nachricht ist ein deutliches Zeichen, daß solche Ehren nur Göttern wegen ihrer Wirkmächtigkeit: gebühren, nicht aber fehlbaren menschlichen Monarchen (v. 151). Wie bei der Überquerung der Meerengen wird ein Gewässer durch eine feste Oberfläche passierbar, damals bei der Transgression, jetzt beim Rückzug der geschlagenen großen Armee, doch ist das Motiv der göttlichen Wirksamkeit und des göttlichen Trugs (so auch Conacher 1996: 19) im Vergleich zu den Meerengen betont, bei denen es nur um eine geographische wie religiöse Transgression ging, die Menschen verüben. Die Götter werden so als kosmische Subjekte rehabilitiert. Die Störung der kosmischen Ordnung ist so groß, daß sie auf das persische Mutterland rückzuwirken droht: Es steht zu befürchten, daß ihr Subsystem und die Basis der Transgression, die persische Ordnung, statt in Hellas eingeführt zu werden, nun in Asien selbst zusammenbricht (v. 584-597). Auch hier kommt die Joch-Metapher - unmittelbar vor dem Freiheitsdiskurs (Redefreiheit v. 593) - zum Einsatz: Das Joch der Wehrkraft ist gelöst (v. 594). Bereits die räumliche Eliminierung der persischen Männer durch den Auszug läßt deren Frauen allein ( ) zurück (v. 139). Der verfehlte Versuch, Gegensätzliches politisch-militärisch zu verklammern, läßt selbst die Bindung zwischen Männern und Frauen derselben Ethnie zerbrechen. Der Zusammenbruch der Oppositionen, welche die Transgression eingeläutet hat, setzt sich fort (vgl. treffend Grethlein 2010: 81 f. „The rupture of continuity and regularity“). Die Völker Asiens schicken sich an, von Objekten der großköniglichen Herrschaft zu politischen Subjekten zu werden. Hierin mag man einen Reflex der Befreiung der kleinasiatischen Griechen sehen (s. 1.2 Das poetische Spiel mit Nähe und Distanz(ierung), Eigenem und Fremdem). Es ist nicht zu bestreiten, daß bei der Schilderung der Schlacht die unterlegenen Invasionsstreitkräfte und die siegreichen Griechen ein unterschiedliches 75 Ähnlich interpretiert Hopman 2009: 359 entsprechend Greimas’ Aktantenmodell das Perserheer als Adjuvant der Handlung, als deren Subjekt Xerxes, als deren Objekt Griechenland, als Adressant Dareios, als Adressat Xerxes und als Opponenten, zumindest in der erzählten Kriegshandlung, die Griechen. 1. Aischylos’ <?page no="237"?> 1.6 : Darstellung der Eliminierung 223 Verhalten an den Tag legen. 76 Entschlossenheit und Zuversicht der Griechen sind in doppelter Weise durch die Situation bedingt: Sie kämpfen zum einen laut ihrem Schlachtruf für die Freiheit ihres Vaterlandes, ihrer Kinder, Frauen und Heiligtümer; für sie steht alles auf dem Spiel (v. 402-405). Zum anderen haben sie die Invasionsflotte im Sund von Salamis in eine Falle gelockt. Sie erheben nun ihr von den Felsen widerhallendes Schlachtgeschrei und blasen zum Angriff (v. 388-391, 392-395). Diese iterierten Lautäußerungen sind also keine bedeutungsleeren Klänge, sondern haben bereits im Verlauf der Dramenhandlung eine praktische Bewandtnis, da sie für Freund und Feind den Angriff signalisieren. Daneben steht die dramenästhetische Seite, die der Art der Handlung angemessen ist: Anders als die tragische innerfamiliäre Eliminierung beim Dreiwegmassaker des OT wird die militärische in den Persern akustisch begleitet und dadurch entsprechend den epischen Darstellungskonventionen als heroisch ausgewiesen. 77 Dabei wird der Ruhm gleich über eine weitere Iteration in den Text eingeschrieben. Der Widerhall des eigenen Geschreis in der Heimat verweist sogar deutlich auf den autoenkomiastischen Ruhm des Athener Publikums und steht in markantem Kontrast zur Klageresponsion von Xerxes und Chor in der Schlußszene (v. 1048: ). Daß die - auch textlich - zwischen den Griechen eingekeilten Barbaren Furcht aufgrund der Täuschung ergreift, der sie erlegen sind (v. 391 f.), ist ebenso aus der Situation psychologisch verständlich und kann schwerlich als Indiz für eine orientalistische Zeichnung als dumm oder feige herhalten. Daß die Griechen ihren Angriff über den rechten Flügel geordnet beginnen (v. 400: ) und die Invasionsflotte in ungeordneter Flucht endet (v. 422: ’ ), ist zweifellos ein lexikalisch markanter Gegensatz, jedoch ebenfalls aus der Situation erklärbar. 78 Auch bei der Darstellung der Kontrahenten im gesamten Botenbericht sollte man die dramenästhetische Seite nicht aus dem Blick verlieren. Bohrers binnendramatische emotionsästhetische Kategorie des Schreckens schafft eine bemerkenswerte axiale (A)Symmetrie zwischen den Kombattanten, die bislang übersehen wurde: Dem terror Persicus der eingeschlossenen Invasionstruppen steht der (ebenso besinnungslose) furor Graecus bei Landung und Massaker auf Psyttaleia gegenüber. Das Entsetzen über den übermächtigen Feind erstreckt sich bei den Persern nicht nur auf den Vollzug der Niederlage, sondern auch auf deren Aufnahme in der Hauptstadt. So begründet Atossa ihren Auftritt zur Nekromantie des Dareios mit dem Entsetzen 76 Vgl. die Gegenüberstellung bei Conacher 1996: 18 f. 77 Das hier bemühte episch-heroische Handlungsmuster ist begrifflich von dem heroischen Integritätentausch zu scheiden, der von der Tragik abgegrenzt wurde: Der zentrale Wert dieses Handlungsmusters ist die soziale Integrität. Sie steht genetisch bei der epischen Gestalt Achill am Anfang des heroischen Integritätstauschs, doch ist dessen entscheidendes Merkmal das Opfer der eigenen physischen Integrität, die im episch-heroischen Muster nur aufs Spiel gesetzt wird. Die Gewichtung von physischer und sozialer Integrität ist in den beiden Arten von Heroik also genau umgekehrt. 78 Der Vorwurf des Orientalismus ließe sich hier nur durch die signifikante Abweichung gegenüber anderen Fluchtszenen, etwa aus der Ilias, erhärten. <?page no="238"?> 224 über die Übel, das sie ergriffen habe (v. 606: ). Der handlungsstrukturelle Ansatz der vorliegenden Arbeit erlaubt sogar mit Hilfe einer noch weiteren Abstraktion von den Kontrahenten zu den Handlungsstationen und ihrer Relokalisierung eine tiefere Symmetrie von Handlung und Orten aufzudecken: Salamis als Ort der Eliminierung korrespondiert notwendig mit den Meerengen als Ort der Transgression, während der zugefrorene und auftauende Strymon beide Funktionen vereint lokalisiert. Das eliminatorische Verhalten der Griechen wird so in einer höheren Ordnung und Symmetrie der Handlung aufgehoben. In dieselbe Richtung argumentiert Pelling 1997: 6-9, wenn er die Eliminierungen von Salamis und Psyttaleia als Konsequenz der Verkehrung von Land und Meer ansieht, die Xerxes mit der Verwandlung der Meerengen in Land begonnen habe und die aus den persischen Landkämpfern Seeleute gemacht habe. Die Schlachtenbeschreibung und das Gemetzel, welches die Griechen anrichten (v. 424-428, 450-464), sind, um von der Handlungsanalyse zur poetischen Aussage und Darstellung zu kommen, trotz oder gerade wegen der eindeutigen faktischen Rollenverteilung zwischen Griechen und Invasoren als unilinear autoenkomiastisch eingestuft worden. 79 Andere Interpreten haben die Kritik nicht gegen den Text gerichtet, sondern sie in ihm verankert, so daß das einheimische Publikum eine gegenteilige Botschaft erhielte. Eine universalisierende Warnung, welche der universellen theonomischen Perspektive korreliert, an das eigene attische Publikum läßt sich aus der periphrastischen Bezeichnung von Salamis als „Insel des Aias“ herauslesen (v. 596 f.). 80 Gerade die vorausgehende Erwähnung der „blutgetränkten Scholle“ ist dabei eine deutliche Anspielung auf Aias’ Ende, der in Wahn verfiel und sich in sein eigenes Schwert stürzte, worauf Bierl treffend hingewiesen hat (2007: 60). Daß Aias dies nach seiner Wahnsinnstat, der irrtümlichen Ermordung einer Schafherde statt der Atriden und des Odysseus, tut (S. Aj. 815-865), zeigt, wie nahe Bewußtseinstrübung und Transgression den Athenern selbst stehen. Die Warnung vor zukünftiger Hybris schließt den Stolz auf vergangene Waffentaten nicht aus, sondern paßt bestens zu ihm: In Rom flüsterte man dem Triumphator ein Respice post te! hominem te memento! (Tert. apol. 33,4) zu. Die reflexive Deutung verleiht dem Text damit eine Ambivalenz und wäre damit als die interpretatio difficilior vorzuziehen. Sie liegt allerdings (ebensowenig wie bei dem Greifvogelvorzeichen) nicht in jedem Punkt der Schlachtschilderung vor. Gödde 2000: 45 f. erblickt „Maßlosigkeit“ bereits darin, daß die Griechen bei Salamis mit den Schiffstrümmern auf die Leichen der Perser eingeschlagen hätten (v. 425 f.), doch läßt das Stöhnen und Jammern im nächsten Vers darauf schließen, daß hier 79 Hall 1989: 80 leitet mit der Erwähnung des gegensätzlichen Verhaltens die ebenfalls konträre charakterliche Zeichnung von Persern und Griechen im gesamten Stück ein. 80 Vgl. S. Aj. 134 f. ( / ), 596 ff. ( ). Diese Beobachtung wird dadurch ergänzt, daß Grethlein 2010: 89 f. in den nachfolgenden Versen (v. 598-605), die allgemein vor dem Trug des Glücks warnen, eine Warnung an die aktuell erfolgreichen Griechen sieht. 1. Aischylos’ <?page no="239"?> 1.6 : Darstellung der Eliminierung 225 Verwundeten oder Ertrinkenden der Garaus gemacht wird, die Griechen also nicht wie Achill den Leichnam des geschlagenen Feindes schänden. Gleichwohl bleibt Göddes Hinweis auf die Logik der fortschreitenden Zerstörung (und damit die makabre Ästhetik der Fragmentierung) hinter dem Massaker zutreffend (2000: 45 f.): „Bruchstücke von bereits Zerstörtem werden zu Waffen weiterer Zerstörung der bereits Getöteten.“ Die zerstörerische Wirkung von Fragmenten wird bei Euripides’ Medea wiederkehren (s. 3.2.5 Die Schlußszene mit Iason). Mit einer autoenkomiastischen und reflexiven Botschaft sind die Deutungsmöglichkeiten der Schlachtenbeschreibung noch nicht ausgeschöpft. Bierl hat seine These, die Perser stellten Tod und Opfer dar (2007: 60 f.), auch mit zwei Stellen aus der (Ab-)Schlachtenbeschreibung bei Salamis untermauert, hinter denen er Elemente ritueller Opfervorstellungen erblickt, doch scheinen sie mir diese Interpretation nur unvollkommen zu stützen. Hier wäre an erster Stelle die für ein rituelles Opfer charakteristische „Reziprozität“ zu nennen. In v. 595-597 steht nämlich nicht, daß Salamis’ blutgetränkte Erde etwas zurückgibt bzw. „den griechischen Bewohnern Fruchtbarkeit und Segen“ schenkt. 81 Dieser Gedanke fehlt auch in v. 816 f. (es sei denn, man bemüht die zereale Semantik), wo der blutige Opferkuchen, den die dorische Lanze auf Plataiais Erde bewirken wird, nur als proportional zu den zuvor beschriebenen persischen Freveln beschrieben wird, wie auch Bierl anmerkt. Sein Hinweis, daß in Plataiai die Erde auch griechisches Blut als Opfer erhalten habe, läßt sich nicht im Text wiederfinden. Gleiches gilt für die „Blüte der Jugend“ in v. 595. Gerade die leitmotivische und deshalb interpretatorisch relevante Verteilung der Metapher der „Blüte“ (s. 1.8 Xerxes) feit diesen Hinweis gegen den Vorwurf lexikalisch-philologischer Beckmesserei. Die Blüte wird bei der Feststellung, die Überführung ins kollektive Gedächtnis geschehe in den Persern „anhand von Bildern und Symbolen, die allesamt im Klageritual, Tod und Opfer gründen,“ 82 aber auch bei der vorangehenden Untersuchung nicht berücksichtigt. Allenfalls kann man also hinter dem Ausdruck „Opferkuchen“ die archaische Hoffnung vermuten, die erzürnten Götter durch dieses Blutopfer wieder gnädig zu stimmen. M.E. handelt es sich hierbei jedoch um eine düstere Metapher dieses vaticinium ex eventu, die durch den religiösen Kontext evoziert wird. Die Erde als Opferkuchen zu bezeichnen ist dabei wegen dessen zerealer Zusammensetzung und Demeters Nähe zur fruchtbringenden Scholle eine naheliegende Wendung. Am Bild des Opferkuchens und der dorischen Lanze läßt sich m.E. treffend zeigen, daß rituelles Vokabular geeignet ist, die theologische mit der zeitgenössischen politisch-militärischen Ebene zu verzahnen. Dieses in seiner Geschehensdynamik nachgerade filmische und daher wie ein Ritual performative Bild läßt sich nämlich im Sinne der hier vorgestellten Interpretation als Metapher für die militärische Eliminierung des Transgressors an der religiösen Ordnung deuten. Die griechische militärische Stärke wird dabei zum Werkzeug, das die Wiederherstellung des religiös sanktionierten Koordinatensystems durchführt, welche die Perser verletzt 81 Bierl 2007: 60 f. 82 Bierl 2007: 61. <?page no="240"?> 226 haben. Die Schlacht gerät zum sühnenden Schlachtopfer (v. 816: - ). Daß selbst dieser Versuch einer integrativen Deutung nicht beanspruchen kann, die hermeneutische Irreduzibilität der Lanzen-Opferkuchen-Metapher zu erschöpfen, zeigt eine weitere Interpretationsmöglichkeit, die hier vorgestellt werden soll, bevor ihr Verhältnis zu den bisherigen Deutungsvorschlägen geklärt werden kann. Diese weitere Lesart kann für das Verständnis deshalb besonders befruchtend wirken, weil sie - anders als die bislang diskutierten Interpretationen - die explizite Ebene verläßt und in die un(ter)bewußte hinabsteigt. Obwohl es sich bei ihr um eine sexualmetaphorische handelt, bietet der (Bild-) Text im Sinne der Jungschen Symbol-Chiffrentheorie klare, in der zeitgenössischen Kultur verankerte Anhaltspunkte. So ist die Lanze ( ) sowohl in der griechischen wie in der lateinischen Literatur eine gängige Phallosmetapher. 83 Sie teilt diese Funktion mit dem Schwert, 84 das auf der Eurymedon-Vase im Griff des griechischen Jünglings an seinen erigierten Penis evoziert wird, eine Geste, die einen an seiner Tracht als Perser kenntlich gemachten, vorgebückten Mann in Entsetzen versetzt. Dieses ikonographische Zeugnis ist nicht nur deshalb so wertvoll für die tiefenpsychologische Interpretation, weil es ebenfalls szenisch-bildlich gestaltet ist, sondern weil es die Aktualität phallokratischer Sichtweisen der Persersiege im damaligen Griechenland illustriert, welche durch die Inschrift verstärkt wird: < > . 85 Eine derart derbe Explikation homoerotischer Subjekt-Objekt-Konstruktionen, die einen großen Raum in der altattischen Komödie einnehmen sollte, verbot sich freilich in der Tragödie trotz ihres dionysischen Ursprungs, wo sie eine Transgression des gesellschaftlich-literarischen decorum bedeutet hätte. Mag man dieses ikonographische Dokument auch als Zeugnis des „orientalism“ [doppelte Anführungszeichen im Orig.] lesen, 86 so bleibt doch festzuhalten, daß das Soziale das Nationale überlappt oder gar überlagert: Der Jüngling wird als Angehöriger der Unterschicht dargestellt. 87 Daß nicht nur der Jüngere, sondern auch ein sozial Niederer den Älteren und Fremden sexuell bedroht, wo doch sonst der Ältere den aktiven sexuellen Part innehabe, hat man zwar als „Ver- 83 Jeffrey Henderson, The Maculate Muse. Obscene Language in Attic Comedy. New Haven 1975, 120, James N. Adams, The Latin Sexual Vocabulary. London 1982, 17, 19-21. 84 Henderson 1975: 122, Adams 1982: 20 f. (bietet auch griechische Beispiele). 85 Eine epigraphische und philologische Besprechung der Inschrift bietet Konrad Schauenburg, . MDAI Ath. Abt. 90 (1975) 102-127, h. 103), eine Abbildung findet sich daselbst auf Tafel 25, wiedergegeben bei Carola Reinsberg, Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken Griechenland. München 1989, 177 Abb. 98. Von Kenneth James Dover (Greek Homosexuality. London 2 1989, 105) wurde dieses Zeugnis für die Geschlechterforschung erschlossen, auf ihn verweist ohne Abbildung John J. Winkler (The Constraints of Desire. The Anthropology of Sex and Gender in Ancient Greece. New York 1990, 51). 86 Jonas Grethlein, Die Griechen-Barbaren Dichotomie im Horizont der conditio humana. Heidelberger Jahrbücher 54.2010 (2012) [Hilgert, Markus (Hg.), Menschen-Bilder: Darstellungen des Humanen in der Wissenschaft] 135-147, h. 135. 87 So Margaret C. Miller, I am Eurymedon: tensions and ambiguities in Athenian war imagery. In: David M. Pritchard (Hg.), War, Democracy and Culture in Classical Athens. Cambridge 2010, 304-338, h. 325. 1. Aischylos’ <?page no="241"?> 1.6 : Darstellung der Eliminierung 227 schärfung der Ikonographie“ und zusätzliche sexuelle Demütigung des Persers gedeutet. 88 Indes hat Miller treffend nachgewiesen, daß der Gegensatz zwischen männlichem Griechen und effeminiertem Barbar nur beiläufig ist (2010: 307). Der niedere Sozialstatus erniedrigt zwar den Perser zusätzlich, aber auch den Griechen selbst, der aus der Perspektive der Athener Elite wahrgenommen wird (Miller 2010: 338). Die alte Elite fürchtete sich vor dem wachsenden Einfluß der Flotte und der sie tragenden Ruderer aus der Unterschicht (Miller 2010: 307). Die sensu litterali erniedrigende Inschrift läßt sich nämlich auch auf einen rudernden Griechen beziehen, zumal, wenn der Krug beim Ausschenken gekippt wurde, sich auch der Grieche vorbeugte (Miller 2010: 337). Nicht Alter oder Ethnizität, sondern die soziale Zugehörigkeit hierarchisiert und organisiert also die Gegensätze semiotisch, und das geschieht von einem extra- und heterodiegetischen Standpunkt. Daß über die soziale Abwertung auch der (einheimische) Jüngling ridikülisiert wird, paßt zur jugendkritischen Perspektive der Perser, die über Xerxes auf die eigene Jugend zielte (s. 1.10 Botschaft und Wirkung sowie ein neues Bild domestizierter ethnischer Alterität). Im Bild der Perser wird das sexuelle Objekt, das traditionell trotz der kausalen Implikationen der Präposition lokal-positional konstruiert wird (v. 817: ), mit weiblichen Attributen versehen. Die Erde (v. 817: ) ist seit den Anfängen der griechischen Literatur ein mythologischer Inbegriff des fruchtbaren Mutterschoßes. Der, wie er bislang übersetzt wurde, „blutgetränkte Opferkuchen“, ist nach LSJ 1356 s.v. ad locum kein solcher, sondern „a reeking mass of slaughter“, 89 also das Resultat eines spitzen Gegenstandes. Sucht man nun nach einem übergeordneten Muster der drei isolierten Bildelemente dieser szenischen Sequenz, so werden sie am besten mit dem Vorgang der Defloration beschrieben. 90 Diese sexualsymbolische Interpretation eröffnet eine tiefere Ebene unterhalb der bisherigen Deutungen und fügt sich zu ihnen, ohne mit ihnen in Widerspruch zu treten. Bereits hier erscheint die Penetration, wenn auch im Gegensatz zur Komödie nur symbolisch, als eine Spielart der Transgression, einer Transgression freilich, bei deren Integritätsverletzung der „strafende Phallos“ 91 den vormaligen politisch-religiösen Transgressor eliminiert, während sie bei der Defloration der Reproduktion, ja Duplizierung (s. 3.4 Tragik und dimidiata dyas in der Interpretation von Euripides’ Medea) den Weg ebnet. Diese Verteilung von männlich und weiblich zwischen Orient und Okzident findet in der griechischen Assoziation von Orien- 88 Grethlein 2012a: 135 f. 89 Lat. placenta leitet sich dagegen von ab (Frisk II 550 f., WH II 313, Beekes 1202 s.v. , - , Ernout/ Meillet 511; bei de Vaan fehlt das Wort ganz), dem nach Frisk II 550 f. eine Gutturalerweiterung des bei vorliegenden Stammes zugrunde liegt (bei Beekes fehlt diese Verbindung). 90 Textfern symbolisch spricht Griffith 1998: 54 von einer virtuellen Defloration, welche die geschlagenen Invasionstruppen durch die griechischen Speere, Ruder und die felsige Küste selbst erlitten. 91 Vgl. Hans Peter Obermayer, Martial und der Diskurs über männliche „Homosexualität“ in der Literatur der frühen Kaiserzeit. Tübingen 1998, 190-213. <?page no="242"?> 228 tal(isch)em und Effeminiertheit 92 ein Äquivalent. Neben der transgressionspoetischen und orientalistischen Lesart ist die sexualsymbolische noch mit einer ritualorientierten Interpretation vereinbar, gestalteten sich doch Opfer und Defloration (im Gefolge der Eheschließung) beide in der Antike nach einem festen Ritual. Die Lexik der Perser bietet zwei markante Anhaltspunkte, an denen sich diskutieren läßt, ob sich der militärische Verlust der Männlichkeit zu einem Paradigma höherer Ordnung bei der Deutung dieser Tragödie ausbauen läßt. Statt auf Verwundung, Penetration und Integritätsverlust zielen diese beiden Bilder allerdings eher auf die Eliminierung. Daß Persien die Blüte seiner Jugend verloren hat, greift nur auf einer oberflächlichen lexikalischen Ebene die Defloration auf und ist ansonsten fest in der epischen Metaphorik militärischer Verluste verankert (s. 1.8 Xerxes). Daß der Brückenschlag zur Defloration lexikalisch spekulativ wäre, unterstreicht auch die Tatsache, daß, sofern überhaupt ein Urheber für den Verlust der Blüte des Landes genannt wird, dieser nicht wie bei Plataiai die Griechen, sondern der Großkönig selbst ist. Die beklagte Männerleere (v. 730: , vgl. v. 119: ’ ) legt zum anderen nahe, daß Persien sensu stricto entmannt wurde. 93 Die Lanze, durch welche der gesamte Heerbann zugrunde ging (v. 729), ist hierbei ein augenfälliger Brückenschlag zur Entjungferung durch die dorische Lanze, wobei allerdings Kastration und passive Penetration zwei verschiedene, wenn auch in der Antike häufig nicht getrennte Formen des Männlichkeitsverlustes sind. Der Topos vom orientalischen Eunuchen, den noch Phrynichos’Phoinissai durch eine Figur bedienten 94 (vgl. die Hypothesis der Perser), wird so in eine militärisch-politische Symbolik transformiert. Auch die implizite Poetik der Beschreibung von Salamis zeigt, daß Bierls abschließende Gesamtdeutung der Perser als „prädramatische[n] Performance“ nuanciert werden muß. Das Geschehen wird nicht bloß „im Rahmen des Dionysosfestes in seiner ganzen Gewalt und auflösenden Energie ästhetisierend, performativ und pathetisch in vielen Stimmen und Perspektivierungen […] durchgespielt“, 95 sondern als theologisches Lehrstück in der Perspektive der Besiegten unter Rückgriff auf die literarische Tradition Homers und der frühgriechischen Lyrik (s. 1.10 Botschaft und Wirkung sowie ein neues Bild domestizierter ethnischer Alterität) dargestellt. Das Ereignis selbst wird eben nicht in einer kolossalen Naumachie durchbzw. nachgespielt, d.h. rein mimetisch iteriert, sondern in verschiedenen Botenberichten wiedergegeben und von den Akteuren gestuft erfragt, erfahren und reflektiert. Der Begriff der „Performance“ bleibt unspezifisch (vgl. 2.2.1 Performanz in der Einleitung) und kann wohl wenig dazu bei- 92 Vgl. dazu Hall 1989: 119 Anm. 59, 127, 209. Für die Assoziation von Orient und Weiblichkeit vgl. Said 2003: 137 f., 182, 220 auch autobiographisch-sinnlich-stereotypisierter, wie im Falle Flauberts (2003: 187). Der Orient ist Said zufolge passend zur vorliegenden Argumentation in der westlichen Vorstellung des 19. Jh.s durch eine „feminine penetrability“ charakterisiert (2003: 206). 93 Für das Bild des orientalischen Eunuchen s. Hall 1989: 209. 94 Dies wertet Hall 1989: 73 als orientalistisch. 95 Bierl 2007: 61 f. 1. Aischylos’ <?page no="243"?> 1.7 Nekromantie als Intratheater und Dareios’ Geist als Gott-Vater 229 tragen, die Besonderheit des aischyleischen Dramas zu beschreiben. Mimetischdramatisch performiert werden dagegen in dieser Tragödie die literarischen Vorgänger, allen voran Homer. 96 Diese inszenierende Intertextualität und Gattungstransposition ist neben der Verlegung der Bühne nach Susa eine wichtige Form im eigentlichen Sinne poetischer Transgression, da sie einen neuen literarischen Raum für die tradierten Stoffe, Motive und Sichtweisen schafft. Diese sind die epischen Elemente eines ansonsten analytischen und dramatischen Theaters. 97 Denn Aischylos zerlegt Homer nicht nur, sondern integriert die so fragmentierten Elemente in einen neuen Verlauf. 98 Die ihm bei Athen. 347e zugeschriebene poetologische Metapher, seine Tragödien seien „Schnitten 99 vom großen Mahle Homers“ ( … ), spiegelt das Bild von der dorischen Lanze, welche die Schlachtmasse durchbohrt. Die intertextuelle schöpferische Tätigkeit des Dichters und die Eliminierung infolge der Transgression werden parallelisiert. In den Persern haben beide die Transgression zum Gegenstand. Die Ästhetik des (Ab-)Schlachtens in den Persern erhält so eine höhere Verankerung in einer Poetik der Fragmentierung. 1.7 Nekromantie als Intratheater und Dareios’ Geist als Gott- Vater Die Nachricht von der transgressiven, katastrophalen eliminatorischen Niederlage in der Fremde sprengt derart die bisherigen Erfahrungen, daß Abhilfe und Erklärung der Krise nur noch eine gleichfalls transgressiv-transzendente Operation versprechen, die Nekromantie von Dareios’ Geist, welche die Grenze zu Unterwelt und Vergangenheit überschreitet und theatralisch wie theologisch die vertikale Achse ins Spiel bringt. Dareios’ Auftreten aus der Unterwelt überbrückt qua rituelle und intratheatralische Grenzüberschreitung die Diskrepanz zwischen Mensch und Gott und jenes Unterlegenheit unter diesen, die aus den Versen 93-100 spricht. Wenn Dareios in göttlichen Termini oder in großer Nähe zu den Göttern beschrieben wird (Griffith 1998: 59 Anm. 128), so ist dies, da sie aus Dareios’ Transgression ins Jenseits resultiert, kein Beleg für das orientalistische Bild eines Gottkönigtums, sondern zeigt vielmehr, daß er als Vehikel für die Rückverlagerung des Göttlichen aus dem Politischen ins Religiöse fungiert und damit komplementär die Desillusionierung über das Regierungsverhalten 96 S. dazu mit reichlicher Forschungsliteratur Andreas Bagordo, Reminiszenzen früher Lyrik bei den attischen Tragikern. Beiträge zur Anspielungstechnik und poetischen Tradition. Habil. Freiburg i.Br. 2001. Zetemata 118. München 2003, 22 f. 97 Zur Episierung im modernen Drama s. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater. Frankfurt a.M. 3 2005, 41-43 und Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas 1880-1950. Frankfurt a.M. 7 1970, 13. 98 Zu Aischylos’ Integration der Homerischen Epen in die Tragödie vgl. John Herington, Poetry into Drama. Early Tragedy and the Greek Poetic Tradition. Sather Classical Lectures 49. Berkeley 1985, 138-144. 99 ist von abzuleiten (Frisk II 875 s.v. , Chantraine 1065 s.v. , Beekes 1466 s.v. ) und bezeichnet ursprünglich Fisch-, später auch Fleischscheiben (LSJ 1774 s.v.). <?page no="244"?> 230 seines Sohnes flankiert. Xerxes verliert so den Nimbus des Gottkönigs an seinen verstorbenen Vater. Die Transgression zur Transzendenz, welche die Nekromantie darstellt, hat eine ähnliche Suggestivkraft und pädagogisch-diagnostische Funktion wie die Verlegung des Schauplatzes nach Persien, da sie unmittelbar die Akteure präsentiert, an denen die Deutung der Ereignisse manifest wird. Mehr noch entwikkelt der Dialog mit Dareios die umfassendste Interpretation der geschilderten politischen Geschehnisse, die das Stück zu bieten hat. Form und Inhalt korrespondieren: Das Ritual und Intratheater der Nekromantie ist das passende Vehikel für Dareios’ theonomische Botschaft. Derart starke dramaturgische Mittel wie Nekromantie und Intratheater sind nicht bloßer Theaterdonner oder Effekthascherei. Sie erfüllen die dramensemiotische Funktion, der so herausgehobenen Figur und der Sichtweise, die sie verkündet, Autorität und Glaubwürdigkeit zu verleihen, 100 wobei Dareios’ intellektuelle Autorität bereits sachlich durch den Aufenthalt in der Unterwelt gestärkt wurde (Griffith 1998: 59). Die Autorität des Vaters Zeus und des Vaters Dareios verschmelzen (Griffith 1998: 60 f.). Pelling 1997: 14-16 arbeitet denn auch heraus, daß Dareios’ Botschaft (im Gegensatz zu seiner befremdlichen Erscheinung) griechischem Denken entspreche. Für die Interpretation der Tragödie hat die Nekromantie von Dareios’ Geist damit eine kardinale Position. In seiner Binnenhermeneutik tritt der Gegensatz zwischen Griechenland und Asien, der in der Tragödie und auch hier durchaus virulent ist, hinter die Transgression des Großkönigs und v.a. den Gegensatz zwischen jung und alt zurück. 101 Der Geist des verstorbenen Großkönigs kann zwar nicht als Sprachrohr des ersten großen Tragikers angesehen werden 102 (dies wäre ein Rückfall in allzu personal-auktoriale Deutemuster von Literatur), wohl aber als Medium der aischyleischen Theologie. 103 Der religiöse Bezugsrahmen bleibt der griechische Götterhimmel, ruft doch auch der Chor den „Zeus König“ als Urheber des Verderbens an (v. 532), während zuvor, so die Ansicht des Chores in der Parodos, die Moira den Persern den Sieg verliehen hatte (v. 102-107). Ferner schleuderte Dareios zufolge Zeus das Ende auf seinen Sohn (v. 739 f.). Dieser richtet schließlich an den Göttervater die unerfüllbare Bitte, er möge mit seinen Männern untergegangen sein (v. 915-917). 104 Da der verstorbene Großkönig 100 Diese dramensemiotische Funktion des Intratheaters ignoriert Grethlein 2010: 84 f., wenn er die interpretatorische Relevanz von Dareios’ Äußerungen relativiert, obwohl er doch die formale Besonderheit der Dareios-Szene über mise en abyme und Metatheater herausgarbeitet hat. 101 Ihn hat bereits, anknüpfend und in Weiterentwicklung von Suzanne Saïds historischer Deutung (Darius et Xerxès dans les Perses d’Eschyle. Ktèma 6 (1981) 17-38), Sabine Föllinger, „Der Konflikt zwischen Vater und Sohn: Xerxes als Neuerer und Versager“, in: Genosdependenzen. Studien zur Arbeit am Mythos bei Aischylos. Teilw. zugl. Habil. Mainz 1999. Hypomnemata 148. Göttingen 2003, 254-267 erkannt, für das Verständnis dieser Tragödie fruchtbar gemacht und dabei die Grundlinien der vorliegenden perspektivisch-strukturalistischen Interpretation vorweggenommen. 102 Ablehnend auch Grethlein 2007: 386 (mit den Vertretern dieser These) und 2010: 84. 103 Vgl. Robert Bees, Aischylos. Interpretationen zum Verständnis seiner Theologie. Zetemata 133. München 2009, 44-72. 104 Bierl 2007: 61 sieht dagegen am Ende „Xerxes […] symbolisch in den Tod schreite[n].“ Albin Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen. Studienhefte zur Altertumswissenschaft 2. Göttin- 1. Aischylos’ <?page no="245"?> 1.7 Nekromantie als Intratheater und Dareios’ Geist als Gott-Vater 231 auch die Herrschaft eines Mannes über Asien als Geschenk des Zeus ansieht (v. 762-764), wird das griechische kosmische System in einem naiven Ethnozentrismus zu einer universalen Ordnung verallgemeinert, deren Gültigkeit auch in einer interpretatio Graeca die Perser anerkennen, statt den Sieg als Sieg der griechischen Götter zu deuten. Durch den Rückgriff auf Zeus als Garanten der Weltordnung kann das historische Geschehen universalisiert und als deren Restauration gedeutet werden. 105 Die Nekromantie wird durch die theonomische Deutung, welche die jenseitige Autorität Dareios in ihr vortragen kann, auf der Ebene des gesamten Stükkes zum Vehikel der Anagnorisis, die wenigstens intellektuell die Ordnung wiederherstellt. Dies gilt auch auf der pragmasemiotischen Ebene: Das Scheitern des transgressiven Heerzuges affirmiert die Meerengen als Grenze zwischen Griechenland und dem Perserreich. Die Autorität des in Lumpen heimkehrenden heißspornigen jungen Großkönigs ist gegenüber der im Hause verbliebenen Königinmutter geschwächt, er selbst erkennt teilweise die Ursachen für das Verhängnis. Es bleibt allenfalls insofern eine vage Hoffnung darauf, daß Xerxes mit fortschreitendem Alter zur Besinnung kommt, als Dareios die Alten des Rates ‚Gefährten seiner Jugend‘ nennt (v. 681). Dies ist auch ein Moment des soziopragmatischen Funktionierens sprachlicher Kommunikation, da, so Griffith 1998: 58, mit dieser Anrede sowie der koordinierten vorausgehenden (v. 681) die Bande der aristokratischen Reziprozität hergestellt werde. Der Brückenschlag erfolgt dabei nicht nur innerhalb der erzählten, sondern auch der gespielten Zeit, da der Chor sich in v. 2 als vorstellt. Die Übereinstimmung besteht also nicht nur zwischen den Figuren, sondern auch den Zeitstufen, wo die personalen Bande eine Kontinuität finden. Die zeitliche Dimension konstituiert dabei die Solidarität der Alten gegen den jungen Großkönig. Sie ermöglicht aber auch eine Verlängerung der Loyalität gegenüber dem Großkönig von der Vergangenheit in die Zukunft, ihren Transfer vom Vater auf den Sohn, so daß der Rückhalt der Monarchie bei den Untertanen durch diese Krisensituation hindurch gerettet wird. Daß das pragmatische Funktionieren der sprachlichen Kommunikation, das beim Dreiwegsmassaker des OT nicht gegeben ist und im Falle von Theseus’ Fluch, der ebenfalls die jenseitige Ebene involviert, zur Eliminierung führt, die (Wieder-)Herstellung der sozialen Beziehungen gewährleistet, zeigt bereits der perlokutive Erfolg der des Chores bei der Nekromantie (v. 687, vgl. Griffith 1998: 58), der daran sinnfällig wird, daß Dareios’ Geist sie bei seinem Erscheinen erwähnt. Bereits hier zeigt sich, daß das Klagen eben nicht nur irgendein konventionelles Ritual, sondern auch nicht zuletzt eine sprachliche Äußerung ist, die eine Kommunikation ermöglicht. Diese Funktion wird bei dem Dialog des redintegrativen Kommos, den der heimkehrende Großkönig mit den gen 2 1956, 62 Anm. 1 (fehlt in der dritten Auflage) lehnt Ernst Bickels (Geistererscheinungen bei Aischylos. RhM 91 (1942), 123-164, h. 123-132) These ab, „Xerxes im Unglück der Niederlage sei aus dem Adrastos-Kultspiel von Sikyon entnommen.“ 105 Reginald P. Winnington-Ingram, „Zeus in Persae“, in: Studies in Aeschylus. Cambridge 1983, 1-15, h. 2 f. <?page no="246"?> 232 Alten des Kronrats führt, zur vollen Entfaltung kommen (vgl. Griffith 1998: 63 und den nächsten Abschnitt). Bereits Grethlein hat den Nachweis erbracht, daß der Auftritt von Dareios’ Geist ein Spiel im Spiel und damit ein Fall von ‚Metatheater‘ sei, wie er es nennt (nach der Terminologie der vorliegenden Arbeit würde man eher von ‚Intratheater‘ sprechen). Dabei handele es sich um einen theaterformalen Subtypus der mise en abyme (2007: 379), was Grethlein damit begründet, daß Dareios’ Nekromantie ein auf der Bühne performiertes Ritual 106 sei (2007: 380). Diese Interpretation stützt er durch den Verweis auf Elemente der Inszenierung (2007: 380): Der Chor beschreibe bei der Beschwörung Dareios’ Gewand (v. 660 f.) und bitte ihn, hinaufzukommen (v. 658 f., 662), was einer Regieanweisung gleichkomme (2007: 380). 107 Dabei agiert er freilich nicht gänzlich unabhängig, da Atossa ihn zur Nekromantie aufgefordert hat, ohne die einzelnen Schritte vorzugeben (v. 619-621). Ihre Rolle entspricht derjenigen des Produzenten beim modernen Film, die soziale Hierarchie bleibt auch bei der gestuften Initiative des Intratheaters gewahrt. Doch Grethlein bleibt ausdrücklich nicht bei einer solchen formal-dramaturgischen Analyse der mise en abyme stehen. Zwar lassen die Definitionen der mise en abyme, die Grethlein zitiert (2007: 379), offen, ob sich dieses poetische Verfahren auf den Inhalt oder die Form bezieht. 108 Grethlein weist jedoch darauf hin, daß Dällenbach bei seiner ausgefeilten Typologie der mise en abyme (1977: 57-148) die Ähnlichkeit dieser poetischen Synekdoche mit dem Ganzen auf der Ebene des énoncé, der énonciation und des Codes verorte (2007: 380) bzw. „auf der Ebene des récit, der Figurenzeichnung, der Themen, der Motive, des Sprachgebrauchs usw.“ 109 Grethlein macht nun in der Dareios-Szene eine stückspezifische Form der mise en abyme aus, den Umgang mit den Zeitstufen, da Dareios die Vorvergangenheit („pluperfect“) zu dem vergangenen, berichteten Schlachtgeschehen und der Gegenwart der Aufführung 106 Für diese Gleichsetzung kann Grethlein auf Richard Hornby, Drama, Metadrama, and Perception. Lewisburg 1986, 21 verweisen, der zu Henry IV zu dem Ergebnis kommt: „Ultimately, Falstaff depicts Shakespeare’s entire culture.“ Vgl. dessen Kapitel „The Ceremony within the Play“ (S. 49-66). 107 Phillip Mitsis, Xerxes Entrance: Irony, Myth, and History in the Persians. In: Language and the Tragic Hero. Essays on Greek Tragedy in Honor of Gordon Kirkwood. Ed. by Pietro Pucci. Atlanta 1988, 103-119, h. 112 hebt dagegen nur auf die Figurenzeichnung und nicht die dramatische Technik ab, wenn er Dareios „a particularly extravagant incarnation of Barthes’ authorgod“ nennt. 108 „[E]st mise en abyme toute enclave entretenant une relation de similitude avec l’œuvre qui la contient.“ (Lucien Dällenbach, Le récit spéculaire. Essai sur la mise en abyme. Diss. Genf 1976. Paris 1977, 18) Gerald Prince, A Dictionary of Narratology. Lincoln 2 2003 s.v. „A miniature replica of a text embedded within that text; a textual part reduplicating, reflecting, or mirroring (one or more than one aspect of) the textual whole.“ Dies entspricht übrigens genau der Beschreibung, die Gödde 2000: 39 von Atossas Traum vornimmt („Atossas Traum führt die gesamte Perser-Tragödie en miniature [Kurs. im Orig.] vor.“), der bereits von Rachel Aélion, Songes et prophéties d’Eschyle. Une forme de mise en abyme. LALIES 3 (1984) 133- 146, h. 136 f. als mise en abyme eingestuft wurde (vgl. Grethlein 2007: 380 Anm. 41), selbst wenn Gödde selbst nicht von mise en abyme spricht und hier kein Intratheater vorliegt. 109 Rainer Zaiser, Inszenierte Poetik. Metatextualität als Selbstreflexion von Dichtung in der italienischen Literatur der frühen Neuzeit. Ars rhetorica 22. Berlin 2009, 37 Anm. 13. Vgl. die tabellarische Übersicht bei Dällenbach 1977: 141 (vgl. 139). 1. Aischylos’ <?page no="247"?> Tragik, Vergänglichkeit und Jugend 233 darstelle (2007: 380: „In doubling its own relation to the present of the performance“). Dank dieser narratologischen Komplexität kann die Dareios-Szene zu einem Instrument der Hermeneutik der memoria werden (Grethlein 2007: 381) und damit auch zu einem Mittel, um Transgression und Eliminierung zu interpretieren. Paradoxerweise fungiert der Chor zwar als interner Regisseur des Schauspiels der mise en abyme, nicht jedoch als dessen Zuschauer und Interakteur, weil er sich nicht traut, den Geist anzusehen oder anzureden (v. 694 f.), also aus Furcht mit Sehen und Sagen die beiden Vollzugsmodi des Theaters bzw. Dramas verweigert. Bei seinem Auftritt ist Dareios’ Geist also eine Bohrersche Erscheinung, weil er den Chor als internen Zuschauer in praktische Scheu (v. 694 f.) und Angst (v. 700 f.) versetzt. Doch beruht zumindest die Scheu des Chores nicht allein auf einer Ästhetik des jenseitigen Schreckens, sondern wird ganz soziopragmatisch mit dem früheren Respekt vor dem Herrscher begründet (v. 696). Die Furcht vor dem Anblick hat hier also nichts mit der Monstrosität des Wahrnehmungsobjekts zu tun, sondern beruht auf dessen respektgebietender Aura. Rein auf der Ebene der Aufführung läßt sich festhalten, daß durch die frühe Architektur der Spielstätte Dareios’ Erscheinung am Rand der Terrasse, die sich zwei Meter erhob, eindrucksvoller war, als noch keine Skene oder provisorisches Schauspielhaus („playhouse“) am Rande der Orchestra errichtet worden war. 110 1.8 Xerxes: Vom Gott-/ Großkönig über den der intratheatralischen Nekromantie zum oder: Tragik, Vergänglichkeit und Jugend Dareios’ Nekromantie hat nicht nur eine formal-dramenästhetische Funktion, sie leistet auch einen zentralen Beitrag zur intellektuellen binnenhermeneutischen Aufarbeitung des Desasters, die dessen tieferen Ursachen und Verantwortlichkeiten nachspürt. Eine solche intellektuelle Ausarbeitung kann auf die ausführliche plastische Schilderung der Niederlage folgen, in deren sinnlicher Plastizität die Ästhetik des Schreckens im Vordergrund stand. Diese Ursachen, sowohl in der expliziten Binnenhermeneutik als auch in der Darstellungsperspektive der Tragödie, will dieser Abschnitt herausarbeiten. Die Frage nach diesen Ursachen ist kardinal für die Deutung des Stückes: Die Rolle, welche die ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit dabei spielt, entscheidet über seinen orientalistischen Charakter, diejenige der Götter hat Auswirkungen auf seine mögliche Tragik und ist mit der Kontingenz verwoben, die jüngst Grethlein ins Spiel gebracht hat. Grundsätzlich gilt es hierbei zwischen mono- und plurikausalen Modellen zu unterscheiden. Ferner ist am besten zwischen dem Verursacher, also dem unmittelbar vollziehenden Akteur bzw. Transgressor, und dem oder den letztverantwortlichen Faktoren zu trennen, die personaler oder sachlicher Natur sein kön- 110 Margarete Bieber, History of the Greek and Roman Theatre. Princeton 2 1961, 57 (mit Abbildung [Fig. 230, S. 56, vgl. Fig. 223, S. 55]). 1.8 idiot de la famille <?page no="248"?> 234 nen. Ein derart komplexes Modell entwickelt in der Tat, wie im Verlaufe dieses Abschnitts zu zeigen, die nicht minder fein ziselierte Binnenhermeneutik, deren unterschiedliche Positionen durch die Pragmatik und den Verlauf der Tragödie auch hierarchisch strukturiert werden. Die verschiedenen Stimmen sind also wohlorchestriert. Die interpretatorische Aufarbeitung der Katastrophe leitet der Chor in den ersten Worten des ersten Stasimons ein, das auf die Nachricht von der Niederlage folgt (v. 548-557): In diesen Worten kristallisiert sich das, was die vorliegende Interpretation als die Essenz der Perser ansieht und dieser Abschnitt in weiterem Rahmen entwikkeln soll, nämlich eine klare persönliche Zuschreibung der Verantwortlichkeit für die erlittene Eliminierung an einen vollziehenden Transgressor. Die Binnenhermeneutik deutet Xerxes’ Zug nach Griechenland und seine vernichtende Niederlage als Transgression gegen die theonomische Weltordnung. Außerdem arbeitet die drameninterne Interpretation mit tragischen Elementen sowie dem Aspekt von Jugendlichkeit und Vergänglichkeit. Die Analyse von Transgression und Eliminierung ist also engstens mit dem Bild des Xerxes in der Tragödie verknüpft. Das genaue Zusammenspiel und eine mögliche Verschachtelung oder Hierarchie dieser Motive will dieser Abschnitt erhellen. Während der geschlagene Großkönig als Objekt der Binnenhermeneutik durch den festgelegt ist, wandelt sich der Interpret, was den Monarchen kaleidoskopartig beleuchtet. Xerxes durchläuft so während der drei Abschnitte der Tragödie entsprechend den Figuren, über deren Sicht oder Interaktion er definiert wird, drei Phasen, in deren Verlauf sein Bild sich als Reaktion auf die von ihm zu verantwortende Transgression und Eliminierung stark wandelt: War er vor der Nachricht der Niederlage für den Chor noch der gottgleiche Großkönig, so wird er danach in den Augen seiner Mutter und des von ihr aus der Unterwelt heraufgerufenen Vaters zum jugendlichen Heißsporn, der das väterliche Erbe verspielt hat, bevor er nach seiner Heimkehr in Lumpen und nach dem peinlichen Tadel durch den Chor als Anführer des Kommos eine gewandelte rituelle Führungsposition wiedererlangt. Die zitierte heftige Anklage des Chores bereits nach der Nachricht von der Niederlage zeigt, daß die Wahrnehmung des Xerxes in der ersten Phase nicht von der wahrnehmenden Figur, sondern von dem Informationsstand über Transgression und Eliminierung, hier über die Niederlage, strukturiert wird und in eine Subphase vor und nach dieser zerfällt. (Ein ähnliches Zwei-Subphasen- Modell weist ja auch die Interaktion zwischen Chor und König in der dritten Phase auf.) Im Zentrum der Detailinterpretation des vorliegenden Abschnitts 1. Aischylos’ <?page no="249"?> 235 wird die zweite Phase stehen, deren intratheatralische Aspekte im vorausgehenden behandelt wurden. Der dritten wird dann wegen ihrer sachlichen Differenziertheit und herausgehobenen Stellung der folgende Abschnitt gewidmet. Mit der These von der personalen Ätiologie der Eliminierung konkurrieren zwei Erklärungsmodelle, Grethleins Kontingenz und der Orientalismus, die beide nicht zwischen Vollzug und Letztverantwortung unterscheiden und deren heuristischer Wert und hermeneutische Integrierbarkeit ausgelotet werden sollen, bevor das hier vertretene plurikausale personale Modell entwickelt wird. Das skizzierte inhaltlich wie formal-narratologisch komplexe Modell ist, wie dieser Abschnitt im einzelnen zeigen will, wegen seiner Differenziertheit wohl am ehesten geeignet, Grethleins Einwände gegen die traditionell diskutierte Kausalattribution an menschliche oder göttliche personale Akteure aufzufangen, die er mit dem pluriformen und polyphonen Charakter der Tragödie begründet. Außerdem vermag es hoffentlich, auch seine These integrativ weiterzuentwikkeln, die Perser schilderten „contingency of chance“, die am Scheitern der Erwartungen manifest werde (2010: 83, 102 f., vgl. 8). Diese Einstufung erklärt und legitimiert sich aus dem diachron-bipolaren Analyseraster, das Grethlein entwirft, um die Entwicklung der Vergangenheitskonstruktion im alten Griechenland zu beschreiben. Die Alternative ist bei Grethlein - in Anlehnung an Rüdiger Bubners entsprechende Unterscheidung 111 - die Handlungskontingenz, bei der die Kontingenz als Rahmen für Handlungen aufgefaßt werde (2010: 7). Anders als in der Moderne, in der die Kontingenz als „freedom of action“ erfahren worden sei, habe im alten Griechenland die „contingency of chance“ und ihre destabilisierende Wirkung im Vordergrund gestanden, so Grethlein im Fazit seines Buches (2010: 289). Daß der Erfolg einer Handlung kontingent zur Intention ist, wie bei der Transgression in den Persern der Fall, scheint durch die Adaptation dieses Modells bei Grethlein nicht erfaßt zu werden. 112 Dabei ist diese Diskrepanz zwischen Absicht und erzielter Wirkung, die nach Auffassung dieser Arbeit eine Voraussetzung für die Tragik ist (s. 1.4.6 Arbeitsdefinition, Submerkmale und Parallelfiguren der Tragik in der Einleitung), ein wichtiger Punkt in Bubners Handlungskontingenz, den er sogar ebenfalls mit dem Han- 111 Geschichtsprozesse und Handlungsnormen. Untersuchungen zur praktischen Philosophie. Frankfurt a.M. 1984. Einschlägig ist hier das Kapitel „Handlungskontingenz“ (S. 35-47). 112 Grethlein 2010: 7 bleibt in diesem Punkt nicht eindeutig bestimmbar: „Where things are neither impossible nor necessary, human beings can act, but are at the same time constrained by chance.“ „At the same“ zielt wohl auf das Handeln, läßt sich aber auch auf die condicio humana beziehen. Im folgenden entwickelt Grethlein die binäre Opposition von „contingency of chance“ und „contingency of action“. Beide Formen der Kontingenz seien jedoch an eine Spannung zwischen Erwartung und Erfahrung geknüpft, und Diskrepanzen zwischen diesen beiden Größen könnten auch bei Handlungen auftreten. Die Interpretation der Perser macht die Zufallskontingenz an der condicio humana und nicht primär am menschlichen Handeln fest (Grethlein 2010: 85). Dagegen kennt Jonas Grethlein, Das Geschichtsbild der Ilias. Eine Untersuchung aus phänomenologischer und narratologischer Perspektive. Habil. Freiburg 2004. Hypomnemata 163. Göttingen 2006, 31 eine Kontingenz, die sich „in der Einschränkung des Handelns durch Zufall äußert“ und die „sich darin [zeigt], daß etwas Unerwartetes die eigenen Pläne durchkreuzt“, also durchaus ein Äquivalent dessen, was die vorliegende Untersuchung in Anlehnung an Bubner unter einer ‚Handlungskontingenz‘ versteht, die dann vorliegt, wenn Absicht und Folgen auseinanderklaffen. Tragik, Vergänglichkeit und Jugend 1.8 <?page no="250"?> 236 deln historischer Herrscher illustriert (1984: 41-43). Zwischen seinen beiden Beispielen besteht jedoch ein markanter Unterschied, der auch für das Verständnis der Perser relevant ist: Im Falle Cäsars, der an den Iden des März von den Verschwörern ermordet wurde, schaffte der Besuch in der Kurie nur die Voraussetzung dafür, daß die Dolche der Mörder ihn trafen. Ludwig XVI. gab dagegen mit der Einberufung der Generalstände, einem außergewöhnlichen Ereignis, da diese seit 1614 nicht mehr zusammengetreten waren, den Anstoß zu den Ereignissen, die in die französische Revolution mündeten und ihn den Kopf kosteten. Sein Handeln war zudem eine einmalige, überlegte Tat, während Cäsars Besuch in der Kurie eher eine Routine des alltäglichen Politikbetriebs war. Cäsars Fall unterscheidet sich also nur dadurch von der Zufallskontingenz, die etwa anzunehmen wäre, wenn er im Bette von einem Balken erschlagen wurde, daß er lokal-materiell durch eine Handlung des Betreffenden ermöglicht wurde. Ludwig XVI. leitete dagegen einen politischen Prozeß ein, der anders ausging als beabsichtigt. Der gemeinsame Bereichsrahmen von Handlung, Intention und Resultat sowie der impulsive kausale Nexus zwischen Handlung und Resultat rechtfertigen hier im vollen Sinne die Bezeichnung ‚Handlungskontingenz‘. Eben ein solcher Fall liegt in den Persern vor, wo ein Feldzug, den der Herrscher veranlaßt und der bisherige Grenzen überschreitet, statt zu Eroberung und Machterweiterung zu Niederlage und Machtverlust, selbst im Inneren, führt. Wie wenig es in den Persern um die Zufallskontingenz geht und wie sehr die transgressive Handlungskontingenz in den Vordergrund gerückt wird, zeigt auch die verwunderte Nachfrage von Dareios’ Geist, ob eine Epidemie ( ) oder innere Unruhe ( ) für den Untergang der persischen Machtmittel verantwortlich sei (v. 715), den Atossa zuvor beklagt hat (v. 713 f.). Bei der Epidemie handelt es sich um ein Naturereignis, dem nach Darstellung der Ilias und des OT gewiß ein monarchisches Fehlverhalten zugrunde liegen kann, der Bürgerkrieg ist ein innenpolitischer kollektiver Prozeß, bei dessen Ursachen das Fehlverhalten eines Tyrannen ebenfalls eine Rolle spielen kann (z.B. Alkaios V 129). Bei dem außenpolitisch-militärischen Debakel, das Atossa und der Chor nun erklären wollen, besteht dagegen wegen der geographisch-militärischen Transgression trotz deren religiöser Dimension auf der realpraktischen Ebene ein eindeutiger, monokausaler Nexus zwischen der verfehlten politischen Entscheidung des Alleinherrschers und der so ausgelösten staatlichen Katastrophe. Auch sonst bietet die Transgression einen heuristischen Mehrwert: Sie ist der Faktor, um und durch den die meisten der verschiedenen Momente, die Grethlein als Anhaltspunkte für die Zufallskontingenz in den Persern ausmacht (2010: 83-85), organisiert sind. Weil die verschiedenen Akteure der Binnenhermeneutik keine absolut in sich schlüssige und geschlossene Version über den individuellen Anteil des Xerxes und die Rolle der Götter bei der Ursachenforschung des militärischen Desasters präsentieren, sieht Grethlein die Zufallskontingenz als alternatives, übergreifendes Deutemuster und Kern dieser Tragödie (2010: 85). 113 Doch die unmittelbare Ursache der eliminatorischen Katastrophe ist Xerxes’ militärisch-geographische und religiöse Transgression. Sie ist das 113 „To sum up, contingency of chance is at the core of Persae.“ 1. Aischylos’ <?page no="251"?> 237 Scharnier zwischen den tieferen Ursachen, denen die verschiedenen Akteure nachgehen, einerseits und dem Debakel und seinen verschiedenen Aspekten andererseits. Billigerweise muß man einräumen, daß dies eine handlungstheoretische Analyse des Plots der Perser ist. Der Chor, Atossa und Xerxes ziehen durchaus eine direkte Verbindung zwischen dem Wirken der Götter und der Katastrophe, wie Grethlein herausarbeitet (2010: 84). Insofern nehmen Grethleins und die hier vertretene Argumentation und Analyse schlichtweg zwei verschiedene Standpunkte ein. Doch offenbart ein näherer Blick auf die Details von Grethleins Analyse Einschränkungen in deren Reichweite. So geht sein Plädoyer für die Zufallskontingenz mit einem kausalanalytischen Analyseraster einher, das die individuelle Verantwortung nur unter dem subjektiven Aspekt der (tragischen oder moralischen) Schuld erfassen kann. Die Transgression beschreibt dagegen - entsprechend der oben getroffenen Unterscheidung zwischen Handlungskontingenz und Zufallskontingenz - rein objektiv die individuelle Rolle, die eine Einzelperson innerhalb und für das Geschehen spielt. Grethlein diskutiert diesen individuellen Anteil unter dem subjektiven Aspekt einer moralisch aufgeladenen Letztverantwortung (2010: 83: „Moral fault or contingency of chance? “), die er als nicht durchgehende Lesart der Binnenhermeneutik ansieht (2010: 85) - parallel lehnt er den Schuldbegriff der deutschsprachigen klassischen Philologie ab, er sei unangemessen für das klassische Griechenland (2010: 102), ein berechtigter wissenschaftsgeschichtlicher Einwand, dem das modifizierte Konzept einer individuellen Kausalität, das die Transgression bietet, allerdings wohl besser gerecht wird als eine unpersönliche Größe wie die Zufallskontingenz. Bei Grethlein tritt die individuelle Verantwortung schließlich hinter das Wirken der Götter zurück, das als Form der Zufallskontingenz auf einer anderen Ebene gewertet wird (2010: 85). Dieser Subsumtion eines Textphänomens unter eine Kategorie des eigenen Analyserasters wird man kaum widersprechen wollen 114 - schließlich betreibt diese Arbeit mit der Transgression dasselbe, allerdings mit dem genannten Unterschied, daß Grethlein näher am Text ist, weil er die Binnenhermeneutik und nicht die Handlungsstuktur wie die vorliegende Untersuchung einer emischen Lektüre unterzieht. Problematisch scheint es dagegen, wenn die Kontingenz in der Binnenhermeneutik gewissermaßen reifiziert wird, indem auf eher äußerlich-phänomenologische Diskontinuitäten in dieser abgehoben wird. Dies geschieht einmal durch den Hinweis auf durchaus vorhandene Abweichungen in der theonomischen Sicht, welche die einzelnen Figuren äußern, bei denen aber individuelle Akzentuierungen und spätere Entwicklungen nicht ausgeschlossen werden (2010: 83-85). In der Tat gibt es für die von Grethlein bemühten Diskrepanzen plausible dramat(urg)ische Gründe: So liegen die Aussagen des Chores und Atossas vor Dareios’ Auftritt. Dessen binnenhermeneutische Autorität relativiert Grethlein mit nicht überzeugenden Gründen (2010: 84 f.) (s. 1.7 Nekromantie als Intratheater und Dareios’ 114 In der Einleitung sichert er sich ab, daß er Termini gebrauche, die der untersuchten Epoche unbekannt gewesen seien. , das Äquivalent seines Begriffs ‚Zufall‘, sei bei Hesiod und Lysias faßbar und im Hellenismus prominent, gleichwohl habe er sich für ‚Kontingenz‘ entschieden (2010: 5 Anm. 29). Tragik, Vergänglichkeit und Jugend 1.8 <?page no="252"?> 238 Geist als Gott-Vater) - allein die Komplexität seiner Interpretation, die alle anderen in der Tragödie übertrifft, verleiht ihr ein besonderes Gewicht. Xerxes’ abweichende Deutung ist ein markanter Teil der Figurenzeichnung. Sie bleibt apologetisch und allein dadurch fragwürdig, daß er der Verantwortliche für das Debakel ist, was seine Autorität massiv erschüttert, und zudem gegen den Konsens der anderen Figuren steht (Näheres s. 1.9 Rituelle Neujustierung der inneren Ordnung). Seine individuelle Position als Transgressor korreliert also mit seiner isolierten Sicht und illustriert die Einschlägigkeit des hier vertretenen Deutemusters der Transgression. Ähnlich wie im Falle von Bierls Ritual und Bohrers epiphanem Schrecken droht so die feinziselierte Architektur der Tragödie in Chronologie und Figurenzeichnung zugunsten eines Deutemusters eingeebnet zu werden, das auf periphere Phänomene abhebt und sie dekontextualisiert, während die Transgression diese in eine strukturierte Interpretation integriert. Zum anderen wertet Grethlein die Vielnamigkeit, mit der die Binnenhermeneutik die göttliche Ebene beschreibt ( ), als Schwierigkeit der Namensfindung und damit als Indiz für die Unsicherheit des menschlichen Lebens (2010: 85). „Linguistic denotation conveys control, its vagueness expresses helplessness“, fährt er unter Verweis auf Hans Blumenberg 115 („illuminating reflections“) fort. Dies träfe nur dann zu, wenn die genannten göttlichen Größen systemisch referenzlos wären oder in einem ungeklärten oder gar widersprüchlichen Verhältnis stünden, mithin ihr konjunktureller Gebrauch semantisch kontingent wäre. Dies ist allerdings mythologisch und aischyleisch nicht der Fall. 116 Letztgenanntes wird im Verlauf dieses Abschnitts gezeigt werden. 117 Die klare Gliederung der Kausalstruktur und Bannung des Schreckens unter verschiedene gliedernde Namen schafft im Gegenteil eine tröstliche Souveränität gegenüber der Katastrophe, die zuvor qua factum brutum eine diffuse Bedrohung darstellte, 118 die Binnenhermeneutik verleiht wie die Historiographie in Bubners Modell (1984: 45) dem zuvor Kontingenten einen Sinn, beide erreichen dies durch das identische Mittel der Kausalanalyse. Aischylos’ Perser schreiben so die Geschichte eines zeitgenössischen Ereignisses. 115 Arbeit am Mythos. Frankfurt a.M. 3 1984, 40-67. 116 Wie wenig es bei Aischylos um blinde Kontingenz geht, zeigt der Vergleich mit Sophokles: Binnenhermeneutisch ist dort die Kontingenz in der Antigone (v. 1158 f.: / ’ ) und im OT lexikalisch durch das Vorkommen von und v.a. / gesichert (s. 2.4.5 Transgression und Orakel im Kap. zum OT). Da es sich hierbei ebenfalls um einen Tragiker handelt, der in derselben Gattung wenig später tätig war, ist hier ein terminologisches Argument durchaus aussagekräftig. 117 Vgl. v.a. Geissners Untersuchungen zu bei Aischylos (s. die übernächste Fußnote). Auch im OT heben Unstimmigkeiten auf der Oberfläche der theologischen Aussagen der Figuren nicht die massive mantisch-theologische Sicht der Tragödie auf, die erst in deren Verlauf - auch anhand der genannten Figurenaussagen - entwickelt wird (s. 2.4.5 Transgression und Orakel). 118 Diesen schreckensbannenden und vertrauenstiftenden Effekt arbeitet auch Blumenberg in dem von Grethlein zitierten Kapitel („Einbrechen des Namens in das Chaos des Unbenannnten“) heraus (1984: 41 f., 49), wobei er diese These beim griechischen Polytheismus, den er auch mit Blick auf seine literarische Ausgestaltung ausführlich bespricht (1984: 41 f., 45-48, 52 f.), anklingen läßt (1984: 47 f.). 1. Aischylos’ <?page no="253"?> 239 Die Sinnstiftung und (Wieder-)Herstellung von Souveränität ist zwar idealtypisch von der Transgression unabhängig (auch wenn sie genau über diese funktioniert und sie chronologisch voraussetzt), sie harmoniert aber mit einer anderen Interpretationslinie der vorliegenden Arbeit. Die Wiederherstellung der Ordnung, die Grethleins Modell einer durchgehenden Zufallskontingenz unberücksichtigt läßt, setzt sich nämlich im Trauerritual fort, das den Transgressor redintegriert und die soziale Ordnung restauriert (s. 1.9 Rituelle Neujustierung der inneren Ordnung). Auch die Transgression kann und will also nicht den Anspruch erheben, ein holistisches und endgültiges Interpretament der Perser zu liefern. Die Kontingenz, die Grethlein in den Vordergrund gerückt hat, bleibt auch in Zukunft ein beachtenswertes heuristisches Instrument, allein um Lücken in Text und Interpretation aufzuspüren, die andere Deutungen integrieren können. Dieses befruchtende Potential hat sie im Zusammenspiel mit der Transgression bereits unter Beweis gestellt. Wesentlich schwieriger und eingeschränkter als bei Grethleins Deutemuster der Kontingenz gestaltet sich die hermeneutische Integration des Orientalismus in die Ätiologie der Eliminierung, der nach Auffassung der vorliegenden Arbeit in der Darstellungsweise (aber nur eingeschränkt in der Binnenhermeneutik, s.u.) ausgemacht werden kann. Bereits der genaue Wortlaut der eingangs wörtlich zitierten Klage zeigt, daß Saids Deutung entschieden zu kurz greift, hier spreche Asien nur durch die europäische Imagination (hätte Aischylos ‚echte‘ (kriegsgefangene) Perser auf der Bühne ihre Sichtweise auf den Krieg dartun lassen sollen? ) und werde von dieser als leer und durch Europa besiegt geschildert, nachdem es zuvor eine Bedrohung dargestellt habe (2003: 56). Seine Beobachtungen sind nicht falsch (Europas Bedrohung findet sich freilich nirgends im Stück, sondern nur die Sorge der daheimgebliebenen persischen ‚Feinde‘ um die ausgezogene Armee), sie übersehen nur die entscheidenden pragmatischen und binnenhermeneutischen Differenzierungen innerhalb des dargestellten ethnischen Anderen. Der Chor der Alten übt in dem oben zitierten Passus (v. 548- 557) massive Kritik an dem vormaligen Gottkönig und weist ihm mit der dreifachen Anapher die politische Verantwortung für das Debakel zu, das die maritime Transgression nach sich gezogen hat. Ihm stellt er danach die erfolgreiche Kriegsführung seines verstorbenen Vaters gegenüber, dessen Feldzüge keine Eliminierung nach sich zogen. Insofern bietet diese Passage in nuce die antiorientalistische und paratragische Deutung dieser Arbeit, die den Schwerpunkt auf den pädagogisierten Gegensatz zwischen jung und alt statt auf die ethnisch-kulturelle Antithese legt, wie nachfolgend ausgeführt werden soll. Es ist nicht zu bestreiten, daß die Perser durchaus auf der Ebene der Semiotik des Gesamtdramas asymmetrische Gegensätze zwischen Griechenland und Persien konstruieren und gemäß ihrer auch sonst ausgeprägten Intertextualität, die sich nicht nur gegenüber Homer manifestiert, orientalistische Motive der bisherigen Literatur integrieren (s. 1.10 Botschaft und Wirkung sowie ein neues Bild domestizierter ethnischer Alterität). Im Subtext mögen sie dabei raffiniert und manipulativ eine orientalistische Botschaft befördern und dem Nationalstolz der Athener subtil schmeicheln. Auf der expliziten Ebene, in der Binnenhermeneutik des Stückes, der als textlich faßbarer Selbstauskunft ein hoher heuristi- Tragik, Vergänglichkeit und Jugend 1.8 <?page no="254"?> 240 scher Stellenwert bei der Interpretation zukommt, lassen die persischen Akteure freilich wenig Raum dafür. Hierbei handelt es sich um eine unmittelbare Folge der Verlagerung der Bühne nach Susa, die somit eine eminente Bedeutung für das Gesamtverständnis erlangt. Somit bleibt als autonomes, selbsttragendes Erklärungsmodell für die eliminatorische Transgression und Niederlage noch die Tragik, die ein dramenumgreifendes Phänomen ist. Obwohl die erste vollständig erhaltene Tragödie, weisen die Perser bereits lexikalisch 119 wie semantisch ein komplexes aischyleisches Konzept des Tragischen 120 auf, 121 dessen Frequenz und Elaboriertheit die orientalistischen Tupfer semiotisch funktionalisiert (Gold, Fall des Gottmenschen, autogenerierter Umschlag der Männerfülle in Männerleere 122 ) und das die Verblendungskonzeption und das Menschenbild der Ilias verfeinert. Doch daß Xerxes als scheiterndes agierendes Subjekt (aber nicht tragischer Transgressor) fungiert, weil er der Urheber der Transgression ist und für die Eliminierung verantwortlich gemacht wird, erfüllt nur die generischen Anforderungen an die Gattung Tragödie. Daß die Eliminierung im Bereich des Eigenen nicht die Angehörigen, sondern das eigene Herr betrifft, weist die Perser zusätzlich als politische Tragödie aus. Die skizzierte Handlungsstruktur erfüllt dagegen nicht, wie im folgenden zu zeigen, die Kriterien für das Handlungsmerkmal und die beiden Formen der Tragik, die in der Einleitung definiert wurden. Zum einen ist Xerxes’ Status als ethisch-rationales Subjekt grundständig durch die kausale Vorgängigkeit seiner Jugend und seine larmoyante und bloß teilweise Einsichtigkeit eingeschränkt (s. 1.9 Rituelle Neujustierung der inneren Ordnung). Damit ist eine Grundvoraussetzung für die allgemeinere Form der Tragik nicht gegeben, deren Ursachen in der Handlungsstruktur verortet wurden. Aber auch ein Normen- oder Integritätenkonflikt und selbst ein moralischer Impetus fehlen bei Xerxes’ Transgression. Ein Vergleich mit dem Agamemnon der Ilias und Oidipus im OT lassen Xerxes’ Rolle und seinen reduzierten Subjektstatus in den Persern klarer hervortreten. Zuerst zur Ilias: Daß Xerxes’ Gestaltung sich (mit deutungsrelevanten Unterschieden) an diejenige des verblendeten griechischen Heerführers Agamemnon anlehnt (Il. 19.86-94), zeigt neben dem diagnostischen Insistieren der alten Autoritäten auf seiner Jugend als Ursache seiner falschen Sinnesart, wie wenig diese Tragödie auf das pauschale Abqualifizieren „des“ Orients zielt. Vielmehr geht es um das Verständnis eines punktuellen militärischen Ereignisses mit einem ursächlichen Akteur: Xerxes. Eine kollektive und sogar politisch-interkulturelle Dimension erlangt der diagnostische Fokus auf dem für Transgression und Eliminierung verantwortlichen Monarchen erst, wenn man berücksichtigt, daß er diesen Schaden wohl nur dank der Regierungsform anrichten kann, die, 119 Für (S. 21-65) und (S. 107-109) s. Franziska Geisser, Götter, Geister und Dämonen. Unheilsmächte bei Aischylos - zwischen Aberglauben und Theatralik. BzA 179. München 2002. 120 Vgl. hierzu Albin Lesky, „Schicksal und Schuld“, in: Die tragische Dichtung der Hellenen. Studienhefte zur Altertumswissenschaft 2. Göttingen 3 1972, 162-168. 121 Saïd 1981: 18, 21. 122 S. dazu Harrison 2000: 66-71. 1. Aischylos’ <?page no="255"?> 241 so die Vorhersage seiner Mutter, ihm seine Stellung als absoluter Monarch auch im Falle einer Niederlage sichert (v. 213 f.). 123 Diese Vorhersage bewahrheitet die Reaktion der Alten bei seiner Rückkehr: Die Palastrevolution bleibt aus. Die narratologische Prolepse und die Regierungsform vermindern also Xerxes’ Sturz und sein tragisches Potential selbst unter generischen Gesichtspunkten, da ihn weder die physische Eliminierung ereilt noch ihm die soziale droht. Die politische Ordnung der Perser steht in klarem Gegensatz zum freiheitlichen Athen (v. 241 f.). Der Ausgang des Xerxeszuges zeigt also die Überlegenheit der Demokratie und damit der Verfassung der Polis Athen, deren Bürger die Zuschauer bildeten, aber nicht der Athener oder gar des Hellenentums. Die ethnisch-kulturelle Alterität, auf die der Orientalismus einseitig als Herabsetzung des Anderen abhebt, wird für die Erklärung von Transgression und Eliminierung, welche die Tragödie entwickelt, mithin nur in konstitutioneller und daran anknüpfend mentaler Hinsicht wirksam. Kommen wir nun zum OT: In Conachers Schilderung rückt die Entwicklung, die Xerxes’ Bild und Rolle im Verlaufe der Tragödie durchlaufen, stark an die Katastrophe heran, die ein tragischer Protagonist erleidet (1996: 15 f., 21, 28, 30); doch damit reduziert man Tragik auf den aristotelischen Umschlag vom Glück ins Unglück und dessen theatralische Inszenierung und vernachlässigt die bereits von Aristoteles analysierten Modalitäten dieses Umschlags (Poet. 1452b 34-53a 17). Conacher spricht zwar aristotelisierend von der tragischen Katharsis, welche die besondere Perspektivierung der Perser erziele, hebt aber auch auf Xerxes’ ab (1996: 30). Trotz grundsätzlicher Parallelen zum Fall des tragischen Protagonisten gibt es denn auch in den Persern markante Unterschiede, die ein Vergleich mit dem OT zeigt: Beide Tragödien schildern den massiven Machtverlust eines Monarchen und die Desillusionierung über dessen Fähigkeiten. In beiden verliert er seine Position als (Halb-)Gott (das ist die dramensemiotische Funktion des Motivs des orientalischen Gottkönigtums, mit dem die Tragödie spielt) und hat sich äußerlich selbst beeinträchtigt. Doch Oidipus blendet sich, während Xerxes nur seine Kleider zerreißt. Oidipus gibt den Thron auf, während Xerxes an ihm festhält. Oidipus erkennt die faktische Transgressivität seiner vergangenen Handlung, Xerxes teilt trotz heftiger Selbstanklage die Schuldzuschreibungen der übrigen Mitspieler nur eingeschränkt (Näheres für beider Übernahme der Verantwortung für die Transgression s. 1.9 Rituelle Neujustierung der inneren Ordnung). Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Monarchen ist jedoch die Vorgängigkeit der Jugend gegenüber der Tragik, die autoritativ in der mittleren Station von Xerxes’ Entwicklung, der Nekromantie, entfaltet wird und die nachfolgend untersucht werden soll. Neben der effektvollen Inszenierung, die wir im vorausgehenden Abschnitt kennengelernt haben, speist sich Dareios’ Autorität aus genealogischem Vorgang, erfolgreicher Regentschaft und jenseitigem Bezug, den er aktuell zur suprasystemischen göttlichen Ordnung hat - in v. 620, 641 wird er als 123 , / . Tragik, Vergänglichkeit und Jugend 1.8 <?page no="256"?> 242 bezeichnet. 124 Daß seine Idealisierung einzigartig in den erhaltenen griechischen Tragödien ist (Griffith 1998: 57), illustriert seine dramensemiotische Funktion als Kontrast zu seinem mißratenen Sohn. Tragik und Orientalismus treten so gegenüber dem Lebensalter und der familiären Position zurück, 125 da Dareios auch nach seinem Tode idealiter noch der Patriarch und Monarch bleibt. Wie sehr der Gegensatz zwischen dem ‚guten‘ väterlichen Regenten und seinem törichten Sohn dichterischer Stilisierung entspringt und damit als literarisch gestaltetes Zeichen und nicht historisches Zeugnis zu lesen ist, 126 zeigt das Motiv der militärisch-politischen Transgression. Dareios nahm zahlreiche Städte ein, ohne den Halys zu überschreiten (v. 865 f.), lobt der Chor. Daß er dies doch tat und selbst nach der Überschreitung des Bosporos und der unteren Donau mit einer (Schiffs-)Brücke nur dank der ionischen Treue aus dem Land der Skythen entkam, wie Herodot mit denselben narrativen Schemata berichtet (4.87 f., 97, 141 f.), die bei der Schilderung des Xerxeszuges zum Einsatz kommen sollten (Saïd 1981: 25-27), wird verschwiegen. Wie sehr Dareios vom Makel eines scheiternden Transgressors reingewaschen wird, zeigt der Umstand, daß die Niederlage von Marathon in v. 244 und 475-477, die doch nach Aggressor und geographisch-politischem Objekt eine Blaupause des Xerxeszuges war, geschildert wird, ohne Dareios’ Verantwortung erkennen zu lassen. 127 Ebenso bleiben 124 Vgl. Bernhard Zimmermann, Drama. In: Ds. (Hg.), Handbuch der griechischen Literatur der Antike. Bd. 1: Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit. HdA 7.1. München 2011, 451-474, 484-610, 664-800, h. 551: „Dem göttlichen Bereich zugeordnet und damit mit prophetischer, deutender Kraft ausgestattet ist der aus der Unterwelt heraufgerufene Geist des Dareios in den aischyleischen Persern […].“ 125 Ähnlich schon Murray 1940: 127. 126 Die Vertreter dieser Ansicht nennt mit Literaturangaben Grethlein 2007: 384 Anm. 52. 127 Diese kontrafaktische und konträre Kausalattribution bei der Transgression zwischen Vater und Sohn ist der markante und aussagekräftige Textbefund, weil er eine eindeutige Gestaltung und Rezeptionslenkung erkennen läßt. Vater und Sohn werden durch die interne Abgrenzung und den Gegensatz zur historischen Realität deutlich als literarische Zeichen herauspräpariert. Daß das Athener Publikum wußte, daß Dareios für die Datis-Expedition verantwortlich war, wie Grethlein 2007: 385 und 2010: 84 f. sachlich zu Recht betont, um den Unterschied zwischen Vater und Sohn in der Transgression bzw. Dareios’ Autorität bei der Binnenhermeneutik zu relativieren, steht auf einem anderen Blatt, da es nicht die textimmanente Dramengestaltung, sondern den Erfahrungshorizont des historischen Publikums betrifft. Dieser sah schon bei der Wiederaufführung der Perser in Sizilien auf Einladung Hierons von Syrakus ganz anders aus. Doch können Rücksichten auf das Primärpublikum auch bei der Gestaltung der Schlacht bei Marathon in den Persern nicht bestritten werden: An den beiden Stellen ihrer Erwähnung wird die Leistung der Athener betont. Sie und nicht Dareios sind das aktionale Subjekt. Wenn der Perserkönig an der ersten erwähnt wird (v. 244: ), so geschieht dies fern seinem späteren Auftritt als mantische Autorität. Grethlein ist jedoch insofern Recht zu geben, als dieses textimmanente Indiz zwar nicht die binnenhermeneutische Autorität des Dareios und seiner Botschaft komplett subvertiert (dagegen sprechen das Intratheater und das Vertrauen der Perser in ihn), wohl aber der historischen Realität Tribut zollt, die ein Drama aufgrund seines mimetischen Charakters nicht gänzlich ignorieren oder gar auf den Kopf stellen kann. In subtiler Ironisierung wahrt es so eine Distanz zu Dareios’ Stilisierung und seiner Botschaft, die dem interpretatorisch offenen Charakter eines Kunstwerks angemessen ist und den Rezipienten zum Weiterdenken statt zur bloßen Übernahme seiner Aussage einlädt. M.a.W.: Dareios’ Interpretation der Ereignisse ist nach Darstellung der Tragödie die komplexeste und wahrscheinlichste, aber nicht dogmatisch die einzig mögliche. 1. Aischylos’ <?page no="257"?> 243 Kyros’ fatale Massagetenexpedition und Kambyses gänzlich unerwähnt, der selbst in der persischen Tradition zum Inbegriff der hybriden militärischen und politischen Unvernunft geworden war (Saïd 1981: 37 f.). Suzanne Saïd hat denn auch ganz entsprechend dem transgressiven Ansatz der vorliegenden Untersuchung textnah herausgearbeitet, daß Xerxes bei Herodot in der Kontinuitätslinie des (von den Griechen ideologischerweise diagnostizierten) achämenidischen Imperialismus stehe, wobei gerade im Falle der Operationen gegen Griechenland moderne Historiker die geringere Reichweite des Datisfeldzuges annähmen (1981: 28), während sein Hinausgreifen über Asien bei Aischylos als Bruch mit dem bisherigen Expansionsstreben der Perserkönige dargestellt werde (1981: 18). 128 Bruch und Riß sind also bei dem Tragiker nicht auf die Folgen und Versinnbildlichungen der Transgression beschränkt wie Schiffstrümmer und zerrissene Kleider, sondern werden auch zum Darstellungsprinzip der historiographisch-genealogischen Verortung der Transgression, welche die Differenz und Identität markiert. Der Bruch, den die Perser in die Genealogie der Achämeniden zeichnen und den sie durch den Akzent auf dem Gegensatz zwischen alt und jung noch vertiefen, bricht in markanter Weise auch mit einem sonst bei Aischylos verbreiteten Muster der Tragik: dem Geschlechterfluch. 129 Die genealogisch tradierte, nachgerade kontagiöse Schuld anderer Tragödien (Ch. 696 f.) 130 wird so durch eine individuelle politische Verantwortung eines Machthabers ersetzt. Die Säkularisierung der tragischen Motive (und damit auch die Irrelevanz der Tragik als Erklärungsmuster) wird besonders deutlich daran, daß der irreführende griechische Botschafter vor der Schlacht von Salamis als oder bezeichnet wird (v. 353 f.). Daß Dareios insistiert, die töricht-stürmische Jugend seines Sohnes sei die Ursache der katastrophalen geographischen und religiösen Transgression (v. 744-751, 782), 131 zeigt, daß es darum geht, den Respekt vor der tradierten, metaphysisch verankerten Werteordnung zu bekräftigen - und wohl auch vor deren alten Vertretern im Inneren. Griffith weist treffend darauf hin, daß Xerxes nicht nur als ‚jung‘, sondern auch als ‚stürmisch‘ (v. 74, 718, 754: ) charakterisiert werde (1998: 54). Die etymologische Verbindung des betreffen- 128 Vgl. S. 25: „Le Xerxès d’Hérodote est le véritable héritier de Darius.“ 129 Diesen Kontrast sieht auch Föllinger 2003: 276 f., die gleichwohl auch negative Auswirkungen früherer Generationen auf die jetzige sieht. 130 Vgl. dazu Albin Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen. Studienhefte zur Altertumswissenschaft 2. Göttingen 3 1972, 165 f. 131 Ein besonderer Zug der Perser ist, daß der eigene Vater die Inkompetenz der Jugend zur Herrschaft oder allgemeiner zur Amtsausübung feststellt. Sie ist sonst noch später als Motiv geläufig, man denke an die Klage, die Walther von der Vogelweide anläßlich der Wahl des 37jährigen Lotario dei Conti di Segni zum Papst (1198) als letzten Vers seines Gedichts Ich sach mit mînen ougen einem einsamen Klausner in den Mund legt (Lachm. 9,39 = Schweikle Bd. 1, 78): ‚owê der bâbest ist ze junc: hilf, hêrre, dîner kristenheit.‘ Doch anders als bei Xerxes in den Persern gelangte unter dem Pontifikat Innozenz’ III. das mittelalterliche Papsttum zum Gipfel seiner Macht. Tragik, Vergänglichkeit und Jugend 1.8 <?page no="258"?> 244 den Adjektivs mit ‚springe‘, 132 auf die er weiter hinweist, verleiht Xerxes eine Disposition zu übermäßiger, potentiell grenzüberschreitender Bewegung. Mag diese Einschätzung auch in der Binnenhermeneutik der Alten liegen und dadurch relativiert werden, so benennt sie doch ein strukturelles Defizit der Persönlichkeit, das handlungsstrukturell bedingte Tragik a limine ausschließt, zumal es durch sein autokinetisches Moment konjunkturellen Faktoren wie der Figurenkonstellation kausal vorgeschaltet ist. Denn bereits die aischyleische Figurenkonstellation minimiert Xerxes’ Möglichkeit, die Position des Patriarchen angemessen auszufüllen, 133 da er mit autoritativen Alten kontrastiert und seine Bezugsperson statt einer Gattin 134 die Königinmutter ist und diese den (Über-)Vater Dareios nicht nur ideell evoziert, sondern mantisch-spiritistisch auf die Bühne ruft. Der alte König dominiert so als signifiant wie als signifié und nimmt den Raum des Sohnes und Nachfolgers ein. Doch ist dies eine Reaktion auf die topologische und funktional-ideelle Vakanz der Position des (fähigen) Monarchen, die Xerxes’ ungestüme Transgression hinterlassen hat. Nur dadurch kann das (Plusquam-)Perfekt von Dareios’ Herrschaft wieder zum Präsens werden. Dareios’ Geist ist zudem anders als Theseus im Phädra-Hippolyt-Stoff kein realer, sondern nur ein ideeller Konkurrent. Seine (R)Evokation durch die übrigen Figuren zeigt also vor allem den Umstand, daß Xerxes aufgrund seiner jugendlichen Persönlichkeitsstruktur nicht in der Lage ist, die Position des Monarchen angemessen auszufüllen. Die Sogwirkung innerhalb der Personenkonstellation liegt in dieser Tragödie also bei der ersetzten wie ersetzenden Figur eindeutig auf der Ebene des signifié. Die geschilderte Präsenz der Mutter und die Dominanz des Vaters - ebenso wie das fortgeschrittene Alter des Chors - korrelieren gewiß harmonisch mit dem Erklärungsmuster ‚Jugend‘ für die Transgression, ohne es freilich notwendig zu generieren. Das Insistieren auf der Jugend bleibt also eine erklärungsbedürftige dichterische Gestaltung des Stoffs, was auch weiterhin der Vergleich mit dem Historiker Herodot erhärten soll. 135 Doch bevor wir nach den Gründen 132 Vgl. Frisk 678 s.v. und Beekes 552 s.v. (< * - ; zum Aoriststamm - oder zu * - - ) sowie vager Chantraine 427 s.v. („C’est également sur le thème à vocalisme o qu’est constitué le vieil adj. épique “). Allerdings bleibt nach WH I 572 s.v. furo bei der Herleitung von lat. furo „besser fern“, das eine zentrale Rolle bei der Interpretation von Senecas Phaedra spielen wird. Dagegen spricht sich Ernout-Meillet 263 s.v. furo für eine Annäherung der beiden Wurzeln aus („[…] on peut rapprocher gr. “), während de Vaan 252 s.v. furo, -ere summarisch doxographisch bleibt („Many etymologies have been proposed“). Sein Ausschluß einer Vorform auf *-ur-, was e oder o ergeben hätte, spricht gegen Pokornys potentielle Ableitung des Stamms furvon *dhus (269 s.v. dhe es-, dh s-, dheus-, dhus- „kann […] sein“). 133 Dagegen sieht Richard Francis Kuhns eine psychoanalytische Reifung des Xerxes im Verlaufe des Stücks, die sich v.a. über seine Fähigkeit zu Klagen vollziehe (1991: 33) und in der Anerkennung vormals mit den Eltern assoziierter Objekte und Normen äußere (1991: 25). 134 Überzogen ist gleichwohl Griffiths allegorischer Bezug, Xerxes habe sich mit dem Zug eine Braut Helle / Hellas erwerben wollen, wofür er die das Stück durchziehenden Ausdrücke für ‚zähmen‘ und ‚(unter)jochen‘ bemüht (1998: 54). 135 Auch bei Xerxes’ Jugend und Unbesonnenheit unterscheidet Harrison 2000: 80 f. nicht zwischen der Tragödie und dem Historiker aus Halikarnassos. 1. Aischylos’ <?page no="259"?> 245 dieser Gestaltung suchen, müssen wir die Prominenz und Dominanz des Jugendmotivs im Verhältnis zu anderen innerdramatischen Erklärungsmustern herausarbeiten. Bereits Dareios’ Anrede an die Mitglieder des Rates läßt deren und sein eigenes fortgeschrittenes Alter erkennen (v. 681 f., vgl. v. 840). Die Transgression des Sohnes wird von Dareios’ Geist zugleich mit der Rückführung auf das jugendliche Alter in einem Polyptoton als intellektuelle Innovation gedeutet (v. 782: ’ ) - aber auch im folgenden Vers als Vergessenheit der väterlichen Anweisungen (v. 783). Es geht also nicht um die Unbesonnenheit einer ganzen Stadt wie bei Phokylides, 136 sondern eines einzelnen Regenten. Die dreimalige florale Metapher (v. 59, 252, 925) verweist nicht nur auf die Jugend der Gefallenen (vgl. v. 512), sondern evoziert auch den jugendlichen Leichtsinn des jungen Königs (s.u.), des „jungen Mannes“, den das Heer umjubelt, wie es gleich eingangs vorausdeutend heißt (v. 13). Aischylos, bei dem der Chor den göttlichen Trug fürchtet (v. 93-100), und Herodot durch die Aufforderung im wiederholten göttlichen Traum (7.12.1 f., 7.14, 7.17.1 f.; vgl. 7.19.1) führen beide die Transgression auf göttliche Einwirkung zurück. Doch sind diese Akte nicht in die Handlungsstruktur eingebettet, weswegen diese religiösen Einschränkungen von Xerxes’ Status als rationales Subjekt nicht als tragisch zu werten sind (s. 1.4.5 Tragik, soziale Integrität und Religion in der Einleitung). Zudem unterscheiden sich die sozialen Hintergründe der Transgression bei beiden Schriftstellern erheblich. Zwar werden in beiden Werken schlechte Ratgeber für die großkönigliche Transgression verantwortlich gemacht. Atossa zufolge haben sie Xerxes durch den Vorwurf, im Gegensatz zu seinem Vater, der mit der Lanze großen Reichtum erworben habe, schwinge Xerxes aus Unmännlichkeit nur drinnen die Lanze und vermehre den Reichtum nicht, zum Kriegszug angestachelt (v. 753-758). 137 Die Transgression ist also ein Ausbruch aus der Inklusion, der - entsprechend der damaligen Orts- und Rollenverteilung 138 - weibliche Züge zugeschrieben werden. Die psychosoziale Erklärung der Transgression - zumindest im Munde einer Figur des Stückes - aus jugendlichem Alter und schlechten Beratern hat bei Aischylos eine starke 136 [...] / . 4 D. (Bd. 1) 137 Vom Textsinn entfernt sich dagegen Kuhns’ psychoanalytisch-ödipale Erklärung, Xerxes habe die Zwangssemiogenese unternommen, um mit seinem Vater zu konkurrieren (1991: 16 f., vgl. 29). Griffith 1998: 45, 53 hebt dagegen textgetreu auf Xerxes’ Versuch ab, sich der Vorfahren als würdig zu erweisen. Allerdings muß festgehalten werden, daß die vermeintlich parallele und soziologische statt ethnische Erklärung mißratener großköniglicher Söhne aus Platons Gesetzen (695c-e), die er hier zusätzlich bemüht (2000: 53), sich eher so von den Persern unterscheidet, daß sie deren geringeren orientalistischen Gehalt erhellt. Denn Platons Erklärung, Kyros und Dareios hätten ihre Söhne verdorben, weil sie sie Frauen zur Erziehung übergeben hätten, womit das orientalistische Klischee der Verweib/ chlichung bedient wird, fehlt in den Persern. 138 Differenzierend dazu vgl. das Vorwort zu Henriette Harich-Schwarzbauer, Thomas Späth (Hgg.), Gender Studies in den Altertumswissenschaften. Räume und Geschlechter in der Antike. Iphis (Beiträge zur altertumswissenschaftlichen Genderforschung) 3. Trier 2005, VII- XIII. Tragik, Vergänglichkeit und Jugend 1.8 <?page no="260"?> 246 pädagogische Implikation, während Xerxes bei Herodot nur am Rande sein Aufbrausen gegen den Mahner Artabanos mit seiner Jugend entschuldigt (7.13.2, vgl. 7.18.2). Die Elemente ‚Vergeltung für die väterliche Niederlage bei Marathon und die Einäscherung von Sardes‘ (7.5.2, 7.8 1, 7.11.2), die Herodots tragische Geschichtsschreibung aufweist, sind bei dem Historiker so gestaltet, daß sie nicht nur Xerxes entlasten und sein Bild aufwerten, sondern auch seiner Transgression einen tragischen Charakter verleihen. Sie erfolgt nämlich in Erfüllung der Sohnespflicht und aus der Notwendigkeit der Ehrenrettung, also aus Rollenperformanz und zur Wiederherstellung der sozialen Integrität, die alle drei zitierten Herodot-Stellen mit dem Lexem eindeutig erkennen lassen, einmal sogar in bezug auf sowohl Vater wie Sohn (7.8 1), 139 ein anderes gewiß eher jähzornig in bezug auf Xerxes’ auch innenpolitische Ehre (7.11.2). Die Rache als Motiv für den Angriff auf Griechenland teilt Xerxes zudem bei Herodot mit seinem Vater Dareios (Saïd 1981: 28), was anders als bei Aischylos sein Handeln auch genealogisch legitimiert und ihn in seiner Regierungspraxis als Nachfolger seines Vaters ausweist. Die Einheit von Vater und Sohn bei der sozialen Integrität macht es eher unwahrscheinlich, daß ihr die physische Integrität eines Anverwandten geopfert wird, was der Konstellation des tragischen Integritätenkonflikts entspricht. Doch beschränkt sich diese auf die Tragödie und hat innerhalb der politischen Thematik der Geschichtsschreibung wenig Raum. Bei Aischylos hat das Rache-Motiv keinen Bezug auf Dareios und beschränkt sich auf die ‚Rache für Marathon‘, bei der Atossa jedoch das Scheitern und den Verlust an Männern in den Vordergrund rückt und es nachgerade aus törichter Unersättlichkeit ihres Sohnes erklärt (v. 473-477). Daneben wird hier kontrastiv in einem ambivalenten Genetiv ( ) der Ruhm Athens hervorgehoben (v. 473 f.). Auch die Rollenperformanz ist bei Aischylos nicht tragisch, sondern eher pädagogisch gestaltet. Zwar zielt der Vorwurf der Unmännlichkeit auf eine Rollenperformanz und v.a. die soziale Integrität ab, doch kommt er von außen und intendiert nicht die Erfüllung einer Pflicht gegenüber einem anderen Menschen (wie Oidipus’ Flucht vor der vorhergesagten Transgression). Xerxes reagiert hier nur auf die Reden nicht integrer Personen, um einem Prestigedefizit auszuweichen (v. 757: ’ ). Dies ist im Verhältnis zu den Zweifeln an Oidipus’ königlicher Abkunft, die der Zecher äußert (v. 779 f.), eher geringfügig. Und während Oidipus mit dem Gang nach Delphi danach selbständige Nachforschungen anstellt (v. 785-788), läßt sich Xerxes von diesen Unterstellungen verleiten. Er agiert also im Vergleich zu Oidipus nicht als ratio- 139 Die Legitimität dieses Motivs verkennt Markus Lippold, wenn er den aktuellen Film 300: Rise of an Empire, wenn sie Xerxes, der hier ahistorisch sogar den Tod seines Vaters Dareios durch Themistokles rächen will, deswegen Haß vorwirft (http: / / www.n-tv.de/ leute/ film/ 300-Rise-ofan-Empire-im-Kino-Blut-Eisen-Hass-und-Eva-Green-article12418456.html: „Doch - und das ist der Haken an der Sache - bietet der Film nicht nur schwertschwingende Action, sondern auch eine ganze Menge Hass. Dieser ist das treibende Element aller Figuren: Xerxes will seinen Vater rächen, Artemisia das Schicksal ihrer Familie.“). Daß dieser Film in vielerlei Hinsicht - ebenso wie sein Vorgänger - nicht nur vom altertumswissenschaftlichen Standpunkt Diskussionsstoff bietet, steht dabei außer Frage. 1. Aischylos’ <?page no="261"?> 247 nales Subjekt. Bei Herodot rechtfertigt selbst der Kriegstreiber Mardonios Xerxes gegenüber den Heerzug als Strafe für die Übel, welche die Athener den Persern angetan hätten (7.5.2), und hebt damit auf Xerxes’ politische Autorität qua Regent statt auf seine persönliche Ehre ab. Doch auch der Anteil der göttlichen Ebene an der Transgression gestaltet sich beim Tragiker für Xerxes ungünstiger als beim Historiker, 140 der sie als vom Großkönig unabhängig, konsequent, ja fast arglistig zu dessen Schaden wirkende Kraft darstellt. 141 Bei Aischylos führt dagegen Dareios den Versuch, den Hellespont zu unterwerfen, nicht nur auf die Unkenntnis des Zusammenhangs, der zwischen dem eigenen Eifer und der göttlichen Unterstützung besteht, sondern v.a. auf das jugendliche Ungestüm des Sohnes zurück (v. 744: ’ ). Anders als in den psychologischen Modellen, welche die antike Philosophie seit Platon entworfen hat, stehen Erkenntnis(vermögen) und (An- )Trieb(kontrolle) noch funktional ungeschieden nebeneinander, dem jugendlichen Ungestüm scheint jedoch eine gewisse Priorität zuzukommen. Die Jugendlichkeit tritt als Ursache der Transgression zudem nicht bloß neben die göttliche Ebene, sondern sie ist durch das Verhalten des jugendlichen Ungestüms sogar ausschlaggebend für das verhängnisvolle Wirken der Götter (vgl. Saïd 1981: 18), die das unheilvolle Streben eines Menschen noch unterstützen (v. 742: ). „Die Akzente sind hier verschoben,“ 142 bemerkt Albin Lesky zu dieser Stelle mit Blick auf den „listensinnenden Trug Gottes“ und die verderbenstiftende Wirkung der Gottheit für ein Haus. 143 In der Argumentationshierarchie und Kausalität der Eliminierung wird die Jugendlichkeit damit zum dominanten Moment. Bruno Snell ignoriert sie dagegen, wenn er eine Parallelität von göttlichem Trug und menschlichem Handeln (die letztlich auf eine Entlastung des menschlichen Fehlers als vermeintlich tragisch hinausliefe) rekonstruiert: „Schuld u n d [Sperr. im Orig.] Schicksal knüpfen das Verhängnis: erst in diesem Widerstreit, gegen den unser Verstand sich sträubt, liegt der Kern der aischyleischen Weltdeutung.“ 144 Fassen wir die Ergebnisse zur Rolle, die Tragik und Jugendlichkeit als Ursachen der Transgression spielen, zusammen: Das jugendliche Ungestüm, das Dareios für Xerxes’ Transgression und die Eliminierung des Heeres verantwortlich macht, ist ein strukturelles Defizit seiner Person, das es ihm verwehrt, als ethisch-ratio- 140 Für das (größtenteils ungerechtfertigte) Negativbild des Xerxes, das von der klassischen Antike bis in die moderne Historiographie reicht, s. Pierre Briant, Histoire de l’Empire perse. De Cyrus à Alexandre. Paris 1996, 531-534 und Josef Wiesehöfer, Das antike Persien von 550 v. Chr. bis 650 n. Chr. München 1994, 71-89. 141 Nach Saïd 1981: 22 trennt dagegen Herodot menschliche und göttliche Kausalität, die eher als Verkörperung der historischen Notwendigkeit zu sehen sei, vgl. S. 24: „C’est plutôt une nécessité politique.“ 142 Conacher findet dagegen - zu Recht, aber dennoch irreführend, weil die besagten Typen und Nuancen der Tragik aus dem Blick geraten - in diesem Ausspruch Aischylos’ tragische Theologie so klar wie nirgends sonst formuliert (1996: 23). 143 Die tragische Dichtung der Hellenen. Studienhefte zur Altertumswissenschaft 2. Göttingen 3 1972, 166. 144 Aischylos und das Handeln im Drama. Habil. Hamburg 1925. Philologus Suppl. 20, Heft 1. Leipzig 1928, 71. Tragik, Vergänglichkeit und Jugend 1.8 <?page no="262"?> 248 nales Subjekt zu agieren. Daß es sich nicht um einen momentanen Aussetzer handelte, läßt sein autoapologetisches und selbstmitleidiges Auftreten bei seiner Rückkehr erkennen, das eine diachrone Kontinuität des kognitiven und ethischen Defizits schafft. Ein personales strukturelles Defizit wurde aber in der Einleitung als ein Ausschlußkriterium für die Tragik definiert. Ergänzend dazu sind konjunkturelle Impulse und legitimierende Motive für die Transgression schwach ausgeprägt, die als positives Kriterium für das Vorliegen von Tragik qua Integritätenkonflikt in der Einleitung aufgestellt wurden. Xerxes’ Transgression ist damit doppelt untragisch. 145 Die Vergänglichkeit ist auf der kollektiven Ebene das motivische und analytische Pendant der Jugendlichkeit. Wie diese auf der individuellen Ebene die Transgression des Großkönigs, so beschreibt die Vergänglichkeit die Eliminierung der durch seine Politik Gefallenen. Das, was der persischen Jugend wie ein Naturereignis widerfährt, hat politisch der heißspornige König zu verantworten. Wegen ihrer semiotischen Interaktion mit der Jugendlichkeit und der dadurch minimierten Tragik wird die Rolle der Vergänglichkeit gegenüber dem archaischen Menschenbild weiterentwickelt, wo sie als pathetisches Motiv im Bild der condicio humana diente. Die Vergänglichkeit ist die Hauptbedeutung der dreimaligen floralen Metapher (v. 59, 252, 925), die wegen der literarischen Tradition 146 nicht auf eine reine Widerspiegelung des Vegetationsgottes Dionysos reduziert werden kann, sondern im Stück die Funktion erfüllt, der Handlung als ornatus Größe zu verleihen, die Dramatik und das Ausmaß des militärischen Verlustes faßbar zu machen 147 und eine tragische Erwartung zu wecken. Fein beobachtet Conacher 1996: 11, daß v. 252 ( ’ - ) die Ambivalenz von in der Parodos (v. 60: ’ - ) auflöse, das auch für den letzten Abschied stehen könne. 145 Zu diesem Ergebnis gelangt auch nach einer eingehende Analyse der , die Xerxes und seine Armee im Verlaufe der Tragödie an den Tag legen, Nicolas R. E. Fisher, Hybris. A Study in the Values of Honour and Shame in Ancient Greece. Warminster 1992, 262. Fisher begründet diese Einschätzung v.a. damit, daß die Katastrophe aus den Missetaten der genannten Akteure folge, was keine Zweifel an der moralischen Weltsicht mit sich bringe. Dies deckt sich mit den Annahmen und Ergebnissen der vorliegenden Arbeit: Der Sheriff-Automatismus von Transgression und (Fremd-)Eliminierung, wie er in den Persern funktioniert, und die implizite Befriedigung poetischer Gerechtigkeit sind per se nicht tragisch. Gleichwohl greifen seine Analysen zu kurz, weil er die subjektiven Modalitäten der Dysfunktion des ethisch-rationalen Subjekts nicht berücksichtigen kann: Beruhte Xerxes’ Vergehen auf der Handlungsstruktur oder wollte er die Ehre seines Vaters retten, statt als jugendliche Hochmut gebrandmarkt zu werden, und hätte es eine gravierende Konsequenz für ihn oder seine engere soziale Umwelt, ließe es sich als tragisch einstufen. 146 Aischylos’ Tragödie greift hier auf die Ilias zurück, die bereits den Vergleich junger, todgeweihter Männer mit Pflanzen (Il. 18.54-60 [Achill]) oder zusätzlich auch Blumen (17.49- 60 [Euphorbos]) aufweist, vgl. Casey Dué, „Identifying with the Enemy: Love, Loss, and Longing in the Persians of Aeschylus“, in: The captive woman’s lament in Greek tragedy. Austin 2006, 57-90, h. 64-67. Ohne Fatalität wird der Sturz des von Patroklos getroffenen Sarpedon mit dem Niederstürzen gefällter Bäume verglichen (Il. 16.482-484). 147 Vgl. die flur de France, die Karl der Große nach Aussage eines Engels im Rolandslied verloren hat (179. Laisse, v. 2455). 1. Aischylos’ <?page no="263"?> 1.9 Rituelle Neujustierung der inneren Ordnung 249 Vergänglichkeit und Tragik werden durch die Vorstellung des Übergangs geeint, doch dieser ist bei der Tragik verdoppelt, da bei ihr eine Überschreitung für den Übergang zum Nichts verantwortlich ist. Als entscheidender Unterschied wohnt der Vergänglichkeit jedoch ein innerer, notwendiger Drang zur Auflösung inne, der ihr ein Zeitmoment einschreibt und sie von der personal herbeigeführten Eliminierung absetzt. Während diese die Frage nach dem Urheber offenläßt, ja aufwirft, ist sie in der floralen Metaphorik bereits beantwortet. Gleichwohl wird diese theoretische Trennung der Bedeutungssphären an zwei Stellen der Tragödie zugunsten einer Inkriminierung des Xerxes eingerissen. An der dritten Stelle des Blumenmotivs, dessen Eliminierung unpersönlich als ‚schwinden‘ ausgedrückt wird (v. 927: ), geht er nämlich als Urheber für den Verlust der persischen Jugend voran (v. 923 f.). Weiterhin stehen Vegetation und Transgression nicht bloß als hermeneutische Minimalpaare nebeneinander, sondern sind in v. 818-822 nachgerade kausal verknüpft: . Die Hybris, die auch das Präfix als mentale Transgression charakterisiert (v. 820), wird hier mit derselben floralen Metapher wie die Jugend beschrieben (v. 821: ). Damit wird suggeriert, daß die Jugend - entsprechend den Erklärungen, die Dareios’ Geist bietet - letztursächlich für die Hybris ist. Deren zentrale Rolle in der Analyse wird noch dadurch gestärkt, daß ihr Aufblühen mit nachgerade vegetativer Konsequenz die und die Eliminierung erntet. Die Vergänglichkeit erlangt dagegen eine fast vegetationszyklische Lebensbejahung bei der Befragung von Dareios’ Geist, dessen Schlußworte an den Chor der Greise das Memento mori mit dem Carpe diem verbinden (v. 839- 842). 1.9 Rituelle Neujustierung der inneren Ordnung Nach der Nekromantie und noch vor Xerxes’ Rückkehr tritt Atossa endgültig ab und macht so den Weg dafür frei, daß Xerxes mit dem Chor allein eine Deutung der Transgression aushandelt und auf dieser hermeneutischen Grundlage nach der außenpolitischen eliminatorischen Katastrophe die innere Ordnung im Kommos rituell neujustiert, in der er eine gewandelte Führungsrolle als (wieder)erlangt. Die Dynamik der Personenkonstellation für Pragmatik, Binnenhermeneutik und Figurencharakteristik soll im folgenden - entsprechend den Ausführungen der methodisch-terminologischen Einleitung (s. 1.2.1 Dramatische Transgression von Struktur und Identität) - ausgeführt werden, bevor ritualorientierte, orientalistische und metatheatralische Deutungen der Schlußszene diskutiert werden. Bereits die Besetzung und dramensyntagmatische Position der Schlußszene zeigt ihre Einbettung in die Figurenkonstellation und -pragmatik und ihre dramensemiotische Funktion. Daß Atossa ihre Absicht nicht wahr macht und keine <?page no="264"?> 250 neuen Kleider für ihren Sohn auf die Bühne bringt, sondern endgültig abtritt, ist keinesfalls bloß ein toter Handlungsstrang, sondern für den weiteren Fortgang des Dramas bedeutsam. So wird die Konfrontation zwischen Sohn und Mutter vermieden und die Neuaushandlung der sozialen Ordnung zwischen dem geschlagenen König und dem Ältestenrat ermöglicht. 148 Die Lösung wird hierbei dadurch vereinfacht, daß aus der politisch-familiären Konfrontation, die Xerxes dem Chor und Atossa zugleich gegenübergestellt hätte, eine rein politische wird, die familiären Komplikationen werden vermieden. Auch dieser dramaturgische Kunstgriff des wetterhäuschengleichen Wechsels von Mutter und Sohn spricht gegen eine ritualsymbolische Ausdeutung von Xerxes’ Abtritt: Das Drama eliminiert die Mutter szenisch statt den Sohn und König soziostrukturell oder gar physisch. Die totale Vermeidung eines szenischen Kontakts von Mutter und Sohn, deren negative Absolutheit der Einhaltung eines Tabus entspricht, ist dabei nachgerade das negative Extrem des inzestuös-transgressiven, den sie in der Diegesis der Oidipus Tyrannos haben. Die vehementen politischen Komplikationen des Oidipus Tyrannos werden durch die szenische Trennung jedenfalls klar vermieden, und in Euripides’ Bakchen büßt der ebenfalls erwachsene Königssohn seine Transgression mit Eliminierung durch seine Mutter. Durch das dramaturgische Vermeiden einer intrafamiliären Eliminierung werden die Perser im antiken Sinne zu einem epischen Theater, da das Epos keine intrafamiliäre Gewalt kannte (s. 3.5 Gender, Inversion und Perversion in der Medea- Interpretation). Das Politische kann in diesem Drama politisch aufgearbeitet werden und wird nicht mit Familiärem vermengt. Dies zeigt auch deutlich die unterschiedliche Assoziation der beiden Könige mit . Xerxes klagt bei seiner Heimkehr / ’ (v. 933 f.). Oidipus fragt dagegen bei seiner sich erstmals abzeichnenden Täterschaft ’ (v. 822). Er konstatiert also nicht die kollektiven eliminatorischen Folgen seiner Transgression und bezweifelt mitleid- und tröstungheischend seine praktisch-politische Tauglichkeit, sondern wird durch seine Transgression, die hier erst im kollektiv folgenreichen und eigenhändigen Mord an Laios besteht und noch keine intrafamiliäre Dimension hat, in seiner gesamten moralischen Integrität verunsichert. Bohrer verkennt diese kontrastive Parallelstelle und den elementaren Unterschied in der Figurenzeichnung, der sich daran knüpft, wenn er postuliert, Oidipus könne ebenso gut den Ausspruch des Xerxes tun. Bohrers Irrtum wird noch dadurch vermehrt, daß er den fraglichen Vers unter Fortlassung der Bezugswörter von als „Zum Unglück ward ich geboren! “ wiedergibt (2009: 332). 149 Xerxes ist frei von der Opposition zu Familienmitgliedern. Zu ihnen könnten auch eine Gattin oder Schwester zählen, die wegen des Verlustes eines Bruders 148 Nach Marsh McCall, Aeschylus in the Persae. A Bold Stratagem Succeeds. In: Greek Tragedy and its Legacy. Essays presented to D. J. Conacher. Ed. by Martin Cropp, Elaine Fantham, S.E. Scully. Calgary 1986, 43-49, h. 46 wird das Bild des Xerxes dadurch aufgehellt, daß er nur mit dem Chor interagiert, dessen Würde das Stück bisher herausgearbeitet habe. 149 Sommersteins Übersetzung „I see I have been a bane to my nation and my fatherland“ eliminiert eine teleologisch-deterministische Apologetik des Großkönigs. 1. Aischylos’ <?page no="265"?> 1.9 Rituelle Neujustierung der inneren Ordnung 251 der anonymen, im Stück motivisch rekurrierenden Sehnsucht der allein zurückgebliebenen (v. 135-139) und durch den Tod der Männer, auch der Edlen, zurückbleibenden Frauen eine Stimme verleihen könnten. 150 Diese erheben nach der Nachricht der Katastrophe nicht einmal wie zuvor in der anonymen Masse ihre Stimme, sondern werden nur über das Gebäude und die Opposition zum Mann suggeriert (v. 579 f.: ’ - / […]). 151 Um so markanter ist also ihr Verstummen und das Fehlen wenigstens eines substitutiven Sprachrohrs. So kann Xerxes, der allein mit nur wenigen zurückkehrt, 152 seine soziale Identität im Politischen mit dem Chor über das Rituelle neu aushandeln. Die Leere Asiens, die Harrison 2000 zum Leitmotiv seiner Untersuchung erhebt, setzt sich also auch szenisch-familiär fort. Sie ist nach der Dynamik der Figurenkonstellation auch wohl der Grund dafür, warum der geschlagene König der Perser nach seiner Rückkehr redintegriert wird und im Rituellen eine Führungsposition restaurieren und faktisch sogar die vakante Position des Patriarchen einnehmen kann, während der siegreich mit Kassandra heimkehrende Agamemnon des gleichnamigen Stückes von seiner Gattin und deren neuem Liebhaber im Bad gemeuchelt wird, da seine Position bereits besetzt ist, eine Doppelbesetzung, die er im Falle der Ehefrau fortführt. Daß Xerxes die vakante Position des Patriarchen einnimmt, wird auch in der Entwicklung der Personenkonstellation augenfällig: Die Präsenz des Chores, der mit dem Herrscherhaus in einem politischen Loyalitätsverhältnis steht, in allen drei Großabschnitten der Tragödie verbürgt nicht nur deren politischen Charakter und eine personelle Kontinuität, sondern schafft auch eine Matrix, über die Xerxes nach dem Abtritt seiner Eltern qua jetziger Interaktionspartner des Chores als Patriarch definiert werden muß. Oder in Griffiths Formulierung (1998: 63): Die vormaligen Berater des Dareios sind nun diejenigen des Xerxes. Trotz allen vormaligen Insistierens auf Xerxes’ Jugend kann dieser nun dank dem Abgang seiner Mutter in die Position eines vollwertigen sozialen Subjekts hineinwachsen (vgl. Griffith 1998: 57: „[…] avoids the embarrassing prospect of Xerxes’ public infantilization“). Der Abtritt der mütterlichen Autoritätsperson läßt diesen Platz offen. Man könnte sogar soweit gehen und nicht wie Bierl (bloß) Xerxes’ Abtritt (s.u.), sondern auch denjenigen Atossas als symbolischen Tod oder zumindest Hinweis auf den Tod deuten, d.h. die biologische physische Eliminierung, die mit der sozialen im Personengefüge einhergeht. Daß das Elternpaar in die Unterwelt gelangen kann, ist mit Dareios’ Vorgang, der ja aus dieser herausgerufen werden muß, bereits angedeutet. Das in dem Stück prominente Motiv der Vergänglichkeit stützt die Annahme, daß die szenische vorzeitige Eliminierung der Königin ein Hinweis auf deren Sterblichkeit, d.h. physische Eliminierung sein könnte sowie darauf, daß Xerxes durch den Lauf der Zeit zwangsläufig befreit von seinen elterlichen Autoritäten allein zurückbleibt. Nun können wir die Lösung näher betrachten, die auf der politischen Ebene durch den Abgang der Königin ermöglicht wird. Der Hinweis auf die gelöste 150 Sommerstein 1996: 75 sieht Atossa als repräsentativ für die Gattinnen und Mütter der Perser. 151 Die kinderlosen Eltern werden dagegen nachfolgend benannt (v. 580). 152 So Atossas Formulierung in v. 734: <?page no="266"?> 252 Wehrkraft (v. 594) alludiert nicht nur auf ein außenpolitisches Debakel. Die physische Eliminierung des Heeres beraubt vielmehr den zurückgekehrten König seiner Zwangsmittel und erschüttert seine Autorität. Er sieht sich nun den Vorwürfen des Greisenrats gegenüber (v. 922-930), 153 der diesen Verlust (v. 919 f.: / ) beklagt und Xerxes dafür verantwortlich macht (v. 924: ). Dieser Umstand läßt sich nicht nur instrumentell-machtstrategisch, sondern strukturalistisch formulieren: Der Fortfall eines Elements, des Heeres, erzeugt eine Leerstelle. Die emotionale Valenz dieser Lücke wird im -Motiv deutlich, auf dessen zentrale Bedeutung Hopman 2009: 362 f. mit Belegen hinweist („At the core of the performed action is the Persian desire to be reunited with the army.“). Doch anders als der Stiefsohn in Euripides’ Hippolytos steht kein Substitutobjekt zur Verfügung, das die Vakanz schließen könnte. Dies erklärt auch, warum der Chor sich kritisch gegen den heimgekehrten König wendet (vgl. Hopman 2009: 363), wobei er mit der Inkriminierung des Xerxes die Interpretation des Dareios in die hermeneutische Pragmatik des Stückes einbringt. Das Aufbegehren gegen die weltliche Autorität wird also im Aufbau der Tragödie von einer spiritistischen Autorität derselben Dynastie gestützt. Die durch den Fortfall der waffenfähigen jungen Männer gestörte Ordnung und die Deutung des Desasters werden nun zwischen dem König und den Alten neu ausgehandelt. Pragmatisch erfüllt das Trauerritual, in dem König und Chor sich am Schluß vereinen, eine sozial stabilisierende Funktion. Es verhindert, daß aus dem eliminatorisch-katastrophalen Ausgang des außenpolitischen Konflikts ein ähnlich ordnungsstörender innenpolitischer Konflikt erwächst und die politische Ordnung kollabiert, statt nur durch die Eliminierung der militärisch-polizeilichen Zwangsmittel und die Kritik am autoritätsgeschwächten Monarchen zu wanken. Was die Binnenhermeneutik der Schlußszene angeht, so geht die Einigung zwischen Chor und Großkönig mit einer gewissen Änderung, ja letztlich Komplexitätsreduktion gegenüber der bisherigen Vulgata zwischen den Figuren eines fortgeschrittenen Lebensalters einher. Die bisher aus der Ferne diagnostizierten und im Lebensalter verorteten Verhaltensdefizite des amtierenden Monarchen werden zusammen mit der reduzierten Tragik bei seinem Auftritt und seiner erstmaligen Stellungnahme besonders deutlich. Der bisherige Fokus auf seiner Jugendlichkeit richten den Erwartungshorizont so aus, daß seine Abweichung von der ihn belastenden Sichtweise des Chores und seines Vaters als jugendliche Verstocktheit und Bockigkeit wahrgenommen werden können. Der geschlagene Großkönig präsentiert nämlich bei seiner Rückkehr eine geringfügig andere Ursachenanalyse als die bisherige, 154 auch wenn er die eliminatorischen Folgen 153 Vgl. Conacher 1996: 31: „Xerxes, once the king of Kings, is forced, like a criminal at the bar of justice, to answer the relentless questions of the Chorus (956-1001).“ 154 Daß sein Auftritt keineswegs dazu beiträgt, ihn als charakterstark und einsichtig erscheinen zu lassen, läßt auch Harrison 2000: 84 anklingen. In diesem Punkt besteht zwischen ihm und der vorliegenden Interpretation Einvernehmen, während er auch die Integrität und Intelligenz der alten Autoritätsfiguren Chor und Atossa bekrittelt (2000: 76-85). 1. Aischylos’ <?page no="267"?> 1.9 Rituelle Neujustierung der inneren Ordnung 253 seines Handelns für das Kollektiv nicht beschönigt und so unterschwellig seine eigene Kompetenz in Frage stellt (v. 933 f.: / ’ ). Dieser Satz bewegt sich, entsprechend der rein objektivfaktischen Perspektive der Transgression, die von der subjektiven Verantwortlichkeit zu trennen ist, auf der konstatierenden Tatsachenebene. Ein „umfassende[s] Schuldbekenntnis“ 155 (bereits der Ausdruck ist wegen seiner juridischen, christlichen und tragischen Implikationen dreifach unglücklich), das nicht auf die Urheberschaft des factum brutum, sondern die subjektive Letztverantwortung abhöbe, kann man, wie Schauer es tut (2002: 60 f.), in ihm nicht erblikken (ähnlich S. 61 zum Amoibaion: 156 „Xerxes selbst bekennt sich schuldig“). Denn vielfältig sind die Entlastungsstrategien des heimkehrenden Monarchen: Bei ihm ist zwar auch ein für die Katastrophe verantwortlich (v. 911, 942), doch übernimmt er nicht die Sicht, er sei dessen Opfer und Medium (v. 724, 825), die bereits der ahnungsvolle Gesang des Chors in der Parodos vom Trug Gottes, dem ein Sterblicher nicht entrinnen könne (v. 93-100), vorbereitet hatte. Dazu passend weist er jedoch, allerdings ebenfalls entlastend, auf die Unvorhersehbarkeit seines Schicksals hin (v. 908 f.: … - ). Dies verleiht der Eliminierung eine Bohrersche Plötzlichkeit. Die Anagnorisis ist auf der Ebene des transgressiven Protagonisten also unvollständig. 157 Daß er beim Anblick des Chores, der als Bürger charakterisiert wird, weiche Knie bekommt und sein Leiden beklagt (v. 913 f.), 158 ist nicht nur, wie Gruber treffend bemerkt hat (2009: 146 f.), ein Indiz für den (zumindest temporär pragmatischen und ideologischen) Verlust seiner absolutistischen Machtposition, da er anders als in v. 213 angekündigt Rechenschaft ablegen müsse, sondern auch ein Zeichen seiner mangelnden moralischen Einsicht und Glaubwürdigkeit (Gruber spricht dagegen anachronistisch von „Gewissen“): Statt eigen- Grethlein 2010: 85 weist ebenfalls darauf hin, daß im Gegensatz zur vorhergehenden Binnenhermeneutik Xerxes’ Version keine moralische Schuld kenne und der Chor mit den Göttern argumentiere, wertet dies jedoch als Beleg für eine uneinheitliche Sichtweise des Stückes, während diese Umstände hier als Ausdruck der Figurenzeichnung (Xerxes) und, im Falle des Chores, als Konzilianz gedeutet werden, die pragmatisch der Redintegration des heimkehrenden Monarchen dient. 155 Diesen unglücklichen Terminus greift Markus A. Gruber, Der Chor in den Tragödien des Aischylos. Affekt und Reaktion. Diss. Regensburg 2008. Drama (Studien zum antiken Drama und seiner Rezeption) N.S. 7. Tübingen 2009, 150 wörtlich wieder auf, der allerdings nicht Xerxes’ Verstocktheit herausarbeitet. Vielmehr weist er - binnenpragmatisch durchaus treffend, da so die Wiedervereinigung von König und Alten binnenhermeneutisch vorbereitet wird - darauf hin, daß Xerxes mit Moira, Daimon und der Strafe durch Zeus dieselbe Analyse wie der Chor vor Dareios’ Auftritt anstelle (2009: 146 f.). Die hier entwickelte autoapologetische Konfiguration dieser drei Motive sieht er nicht. 156 Dessen Anfang bestimmt Schauer 2002: 44 selbst mit v. 908/ 931 eher offen (sein Ende fällt bei ihm mit demjenigen des Stückes zusammen). Bei einem Einsatz in v. 908 würde es den gesamten Auftritt des Xerxes umfassen. Streng metrisch-formal entsprechen die Verse, die der Chor nach Xerxes’ erster Äußerung (v. 908-916) spricht (v. 919-930), dieser nicht. Szenisch und damit auch interpretatorisch bildet jedenfalls der gesamte Dramenteil vom Auftritt des Xerxes bis zum Schluß der Tragödie eine Einheit. 157 Dies spricht massiv gegen Kuhns’ Versuch, Aristoteles’ Poetik mit Freuds Psychoanalyse bei der Perser-Interpretation zu verbinden (1991: 25). 158 / ’ ’ . <?page no="268"?> 254 ständig seine Verfehlungen einzusehen, verfällt er - wie ein Kind, dessen Gewissen sich noch nicht von der elterlichen Autorität emanzipiert hat - bei der Begegnung mit einer autoritativen Figur in Angst. Daß er diese gewiß unangenehme Konfrontation voller Selbstmitleid als Leid beklagt, wirkt angesichts der gigantischen Verluste, die er zu verantworten hat, nachgerade lächerlich und droht ihm - anders als dem Chor, der sachlich nachvollziehbar die großen Opfer beklagt (s. 1.10 Botschaft und Wirkung sowie ein neues Bild domestizierter ethnischer Alterität) - die letzte dramatische Glaubwürdigkeit zu rauben. Dies wird dadurch noch verstärkt, daß er sich anschließend larmoyant gar den Tod wünscht (v. 915 f.), was ihn nicht nur faktisch aus der Verantwortung entließe, sondern auch wie eine mitleidheischende Strategie anmutet, die seine Selbstentlastung flankiert. Sein Mangel an moralischer Größe bzw. sein mangelhaftes Funktionieren als ethisch-rationales Subjekt zeigt abermals der Vergleich mit anderen literarischen Figuren: Agamemnon sieht sich in der Ilias zwar wie Xerxes auch als das unschuldige Opfer ( ’ ) der (Il. 19.86, 88), übernimmt jedoch mit der Entschädigung des von ihm brüskierten Achill die Verantwortung für seine Tat. 159 Auf der Ebene der Figurenpragmatik ist Xerxes’ autoapologetische, eigene Interpretation der Ereignisse jedoch bereits ein Akt der Selbstbehauptung gegenüber der mikroskopisch-reduzierenden Sicht der Älteren in vorangehenden Szenen, die seine gewandelte Führungsposition als vorbereitet. Bei der Pragmatik der Binnenhermeneutik einigen sich Chor und König auf einen Kompromiß, was Xerxes’ Verantwortung für die Niederlage angeht, indem man sich zum Kommos vereint. 160 Nicht nur diese inhaltliche Synthese, sondern auch der Umstand, daß Xerxes nach Hopman 2009: 366 hierbei entsprechend Greimas’ Aktantenmodell vom Opponenten zum Ko-Subjekt wird, indem er sich der Sehnsucht nach den Gefallenen anschließe (v. 987-991, S. 367), was den Handlungsstrang des zum Abschluß („closure“) bringe, legt es nahe, in dieser Entwicklung der Figurenkonstellation und binnenpragmatischen Interpretation der Transgression einen dialektischen Dreischritt zu sehen. Hopmans genaue Lektüre des Schlußteils zeigt (2009: 367 f.), daß dieser keineswegs ein kollektives Bad in der Emotionalität ist, sondern eine feine Entwicklung in Pragmatik und Binnenhermeneutik bietet. Indem Xerxes sich der Trauer des Chores anschließt - mit der introspektiven Artikulation seiner Trauer in v. 991: < > greift er die ebenso formulierte ahnungsvolle Sorge des Chores in der Parodos auf (v. 10): - - kann er zumindest im eine künstlerischrituelle Führungsposition (vgl. Hopman 2009: 368) als (Gödde 2000: 43) (zurück)gewinnen. Zuerst vereinen sich König und Chor sinnfällig in der ersten Plural in der Klage über die Niederlage (v. 1008 f.: ’), 161 welche mit der Anapher dasselbe Stilmittel aufgreift und nachgerade widerruft, mit dem der Chor seine Anklage des geschlagenen jungen Großkönigs 159 Bernard Williams, Shame and Necessity. Sather classical lectures 57. Berkeley 3 1993, 52. 160 Hopman 2009: 364-368. 161 Dies bemerkt auch Harrison 2000: 84. 1. Aischylos’ <?page no="269"?> 1.9 Rituelle Neujustierung der inneren Ordnung 255 unterstrichen hatte (v. 550-552). Dann erteilt der König dem Chor Befehle zum Vollzug des Trauerrituals, denen dieser nachkommt (v. 1046-1077). Daß der König hierbei paradigmatisch bestimmend ist, zeigt sich besonders gut an der wiederholten und befolgten Aufforderung zur Responsion (v. 1040 = 1047 = 1066: ). Seine Bereitschaft zum Gehorsam beschließt der Chor in v. 1049 mit dem Vokativ . Daß es sich hierbei nicht um eine tautologische, sondern dialektisch transformierte Führungsposition handelt, zeigen Xerxes’ Kleider (sehr ähnlich Gödde 2000: 42). Der Perserkönig hatte diese als Trauerreaktion auf die Niederlage bei Salamis zerrissen (v. 468), der Geist des Dareios dies Atossa berichtet (v. 834- 836). Der Fokus der persischen Figuren auf den Kleidern ist dabei kein orientalistisches Motiv, sondern entspringt deren Bewußtsein für die sozialsituative und Rollenadäquatheit der Kleidung (bei der Nekromantie tritt Atossa ohne ihren vormaligen Pomp auf [v. 607-609]). Conacher hat nämlich gegen orientalistische Mißverständnisse darauf hingewiesen, daß die Kleider - wie bereits zu den unterschiedlichen Trachten der Griechin und Perserin in Atossas Traum angemerkt - Teil der ausgeprägten Symbolsprache der Tragödie sind (1996: 28). Die genannte Figurenperspektive hebt dabei das „leitmotiv“ der Tragödie hervor, wie Cecil John Herington das Zerreißen der Kleider treffend nennt. 162 An ihm vollziehe sich die Verschiebung vom Verbalen zum Visuellen in der Schlußszene, ein nach Herington für Aischylos charakteristisches dramaturgisches Mittel (1986: 67, 71 f.). Bei dieser rituellen Geste besteht ein semiotischer Bezug zur Dramenhandlung: Das Zerreißen der kostbaren Kleider symbolisiert den Fall des Perserreichs. 163 Der Plan der Eltern, Xerxes neue, geziemende Kleider zu verschaffen (v. 833, 849-851), zielt auf die Restauration seiner sozialen Position mit Hilfe dieses Zeichens. 164 Daß dieser Plan nicht zur Ausführung kommt, mithin ein „blindes Motiv“ bleibt, wie Gödde es formuliert (2000: 42), ist keine dramatische Sackgasse oder falsche Fährte, wie man in der Vergangenheit befremdet ob der vermeintlichen Inkonzinnität angenommen hat, 165 sondern veranschaulicht durch den Gegensatz zu Dareios’ prächtigem Kostüm (Herington 1986: 70) die persistierende Beschädigung der monarchischen Autorität. Außerdem unterstreichen die weiterhin zerrissenen Kleider semiotisch und dramenmotivisch kontrastiv die gewandelte Führungsposition des Großkönigs im 166 und seine Emanzipation von den Rollen, welche die Eltern paternali- 162 Aeschylus. New Haven 1986, 71. 163 Thalmann 1980: 267 f., Conacher 1996: 15. 164 Thalmann 1980: 278. 165 Vgl. dazu Gödde 2000: 42 Anm. 33. 166 Harrison 2000: 84 f. hebt nur auf die pragmatische Seite der restaurierten Führungsposition ab und beschreibt ihre rituelle nur unter dem Aspekt der Pragmatik („Xerxes almost choreographs the Chorus’ lament“), obwohl das Ritual einen Paradigmenwechsel mit sich bringt. Da er die Tragweite des rituellen Bewältigungsmechanismus ignoriert, kann er umgekehrt auch - rein dramenchronologisch nicht ganz zu Unrecht - anmerken, der Freimut und die geistige Unabhängigkeit des Chores seien nur von kurzer Dauer (2000: 83). Es würde zu weit von den konkreten Figuren abstrahieren, den Chor als kritisch, aber königstreu einzustufen. Vielmehr ist die Position des Chores zu den einzelnen Mitgliedern des Herrscherhauses eindeutig an deren Alter orientiert: Die Elterngeneration Atossa und Dareios erfährt tiefen Respekt und im Falle des Da- <?page no="270"?> 256 stisch vorgegeben haben. Atossas Hinweise auf ihren Sohn vor ihren beiden Abgängen - zuerst als Bitte an den Chor, ihn ins Haus zu schicken (v. 529-531), dann als Ankündigung neuer Kleider (v. 845-851) 167 lenken den Blick auf die Frage, wie Xerxes’ Rückkehr nach Susa sich gestalten wird. 168 Konkreter bereitet der nicht stattfindende textile Restaurationsversuch 169 perspektivisch die eigentliche Restauration der sozialen Ordnung vor. Xerxes berichtet dem Chor seine Reaktion auf die nautische Niederlage (v. 1030, vgl. 1019) und fordert diesen zu demselben Trauergestus auf (v. 1060). König und Kronrat gleichen sich also in der Trauer optisch an, statt die soziale Distinktion zu restaurieren, auch wenn der König der Impulsgeber bleibt; statt einer Restauration bzw. „Rehabilitierung“ findet eine „Reintegration“ des Xerxes statt (Gödde 2000: 42). Die abschließende Parallele, die Hopman 2009: 368 zur Odyssee zieht („Like the Odyssey, Persians ends with the return and reintegration of a king responsible for the death of the ‘flower’ of the land.“), ist wegen ihrer verkürzenden Knappheit nicht ganz stimmig und lädt zu weiterer Interpretation ein. Odysseus kehrt zwar wie Xerxes in Lumpen heim, doch ist er keineswegs in der Weise wie der Perserkönig für den Tod der Jugend des Landes verantwortlich. Dem Zug nach Troja hat er sich nur wegen Palamedes’ List widerwillig angeschlossen. Die meisten Gefährten sind nicht vor Ilion, sondern durch ihre eigene Schuld trotz Odysseus’ gegenteiligen Strebens auf dem Nostos 170 ums Leben gekommen (Od. 1.5-7). Beim sog. Freiermord handelt es sich um eigenmächtige heimische Usurpatoren, keine loyalen Gefolgsleute, die in Erfüllung ihrer Pflicht zur Heeresfolge wie bei Xerxes in der Fremde fallen. Die Mnestorophonie, bei der Odysseus unilateral und gewaltsam seine alte Machtposition als Herrscher restauriert, ist pragmatisch etwas ganz anderes als das verbale Aushandeln einer rituellen Position als primus inter pares im Klagegesang, auch wenn beide Handlungen den heimkehrenden König redintegrieren und ihm eine hervorgehobene Position restaurieren. 171 Doch daß Xerxes hierbei praktisch ins Kollektiv eingebunden ist und keine Tätigkeit ausübt, die ihm allein als Distinktionsmerkreios religiöse Scheu. Zu Xerxes, der offensichtlich jünger als der Chor ist, verhält sich dieser in Ab- und später auch Anwesenheit dagegen unverhohlen kritisch. Völlig richtig beschreibt Harrison 2000: 85 die Entwicklung auf der Seite der Psychologie der persönlichen Autorität („The Chorus’ reawakened respect for Darius has been transferred to his son“), auch wenn diese sich im Dramentext aus deutlich verschiedenen Quellen speist. 167 Zu ihrer dramatischen Plausibilität s. Conacher 1996: 33-35. 168 Thalmann 1980: 260-267. 169 Harry C. Averys Hypothese, daß Xerxes in v. 1038 ein neues Gewand anziehe, das eine stumme Person ihm bringe - sei es Atossa oder ein Diener (Dramatic Devices in Aeschylus’ Persians. AJPh 85 (1964) 173-184, h. 182 f.), weist Thalmann 1980: 263 zu Recht als ohne Hinweis im Text zurück (so auch Gruber 2009: 152 Anm. 109). 170 Für die Deutung von Xerxes’ Heimkehr als Nostos vgl. Oliver Taplin, The Stagecraft of Aeschylus. The Dramatic Use of Exits and Entrances in Greek Tragedy. Oxford 1977, 123- 127. 171 Vgl. Taplin 1977: 127: „Xerxes evidently goes at the front of the procession.“ Inhaltlich betont er jedoch Xerxes’ Autoritätsverlust, Erniedrigung und Einreihung in seine Mitbürger (1977: 128). 1. Aischylos’ <?page no="271"?> 1.9 Rituelle Neujustierung der inneren Ordnung 257 mal vorbehalten wäre, zeigt den Zerfall der großköniglichen Machtposition, die der historische Dareios durch Distinktionsmerkmale inszeniert hatte. 172 Vom Standpunkt der poetischen Autoreferentialität bleibt die Pragmatik gleichwohl zu Xerxes’ Gunsten asymmetrisch. Neben die mise en abyme der Nekromantie tritt nämlich mit dem Trauerritual, das Xerxes als performiert, eine zweite. Da es das vergangene Geschehen nicht nur emotional verarbeitet, sondern auch referiert, deutet und reflektiert, darf man auch hier von einer mise en abyme sprechen. Dadurch daß es Xerxes, anders als Atossa und Dareios bei der Nekromantie, orchestriert und inszeniert, erlangt er nicht nur eine seine Eltern übertreffende Stellung, sondern wird überdies zum Dramaturgen eines zweiten Intratheaters. Über die Intratheatralität gewinnen die Rituale also eine semantische Funktion innerhalb der syntagmatischen dramatischen Semiose. Die semantische und soziale Funktion des Trauerrituals treten besonders im Vergleich zu ritualmythologischen Deutungen hervor, weist doch die vorliegende Interpretation dem Trauerritual im Kommos der Perser eine soziodynamische Funktion 173 zu. Das dionysisch-ritualmythologische Interpretationsmodell ist so allgemein, daß sich, in einer Art hermeneutischem Sparagmos, Teile seiner Motivik als mythologisches Substrat unter dem konkreten, zur Handlung dramatisierten Mythos fast jeder Tragödie finden lassen. In der vorliegenden Tragödie ist dies der Tod des Königs: 174 „Der Fall des in Hybris verstrickten, gegen die Gottheit kämpfenden Herrschers wird rituell zum Opfer stilisiert.“ 175 Doch kann die Interpretation der Nekromantie keine zwingenden Beweise beibringen, daß später „Xerxes […] in der exzessiven Trauer in den Hades einzugehen [scheint].“ 176 Wäre dem so, so ginge auch der Chor mit dem szenischen Abtritt in den Hades ein, was die Singularität und Einschlägigkeit der Symbolik von Xerxes’ Abtritt unterminieren würde. Griffith 1998: 63 kann denn auch anhand der Entwicklung der Wurzel im Verlaufe der Tragödie zeigen, daß der Chor beim Auszug in den beiden Schlußversen (v. 1076 f.) die von Xerxes beklagte Vakanz von Begleitern (v. 1036) entsprechend Dareios’ Gebot (v. 530) füllt. Wie wenig die Überschreitung der Grenze zum Inneren dabei den Abtritt aus dem Leben und wie sehr sie vielmehr die von der herrscherlich-väterlichen Autorität angeordnete Wiedereinnahme einer Führungsposition symbolisiert, wird topologisch an der Ortsangabe (v. 530) augenfällig, 172 Richard Nelson Frye, The History of Ancient Iran. HdA III.7. München 1984, 106. Vgl. A. Shapur Shahbazi, Art. Darius I the Great. Encyclopædia Iranica 7 (1996) 41-50, h. 47 f. 173 Hierzu s. Burckhard Dücker, Rituale. Formen - Funktionen - Geschichte. Eine Einführung in die Ritualwissenschaft. Stuttgart 2007, 192. Die Sozialdynamik ist bei Dücker eine von mehreren Formen der Ritualdynamik (für diese s. weiterführend Dietrich Harth, Gerrit Jasper Schenk (Hgg.), Ritualdynamik. Kulturübergreifende Studien zur Theorie und Geschichte rituellen Handelns. Heidelberg 2004). 174 Zum Königsopfer s. 2.5 Körperliche Integritätsverletzung und räumliche Eliminierung als Restauration? in der OT-Interpretation. 175 Bierl 2007: 53. 176 Bierl 2007: 61. Vgl. dagegen Taplin 1977: 128 zur Exodos: „[E]ven in defeat life at home must go on.“ Für andere, ehrenhafte Prozessionen am Ende der Tragödie verweist er auf A. Supp. (1069-)1073 und A. Eu. (1032-)1047. <?page no="272"?> 258 d.h. ‚in den Palast‘, der so als örtliches Symbol der großköniglichen Machtposition dient. Das in der Dramenhandlung substitutiv eliminierte Sühneopfer ist das Heer, nicht der König. Daß der König, der doch nach der Meinung aller übrigen Figuren für das Debakel verantwortlich und nicht bloß irgendein willkürlich ausgewählter Sündenbock ist, nur - entsprechend griechischen politischen Gepflogenheiten - massiv getadelt (vgl. Griffith 1998: 55: „Xerxes must face an anti-encomion, as he slinks home alone, shorn of insignia and accoutrements […].“), aber nicht eliminiert, sondern über die gemeinsame Trauer redintegriert wird, 177 zeigt, wie weit die Handlung des Dramas über archaisch-gewalttätige Rituale hinaus geht, wie René Girard sie zugrunde legt. Dabei wäre der Tod des Königs nach seiner Logik die konsequente Lösung der gravierenden Krise, die Dareios’ Frage mit den klassischen Krisensituationen Pest und Aufruhr in Verbindung bringt (v. 715) und die, durch die militärische Katastrophe heraufbeschworen, bereits die sozialen Oppositionen im Mutterland ins Wanken bringt. Vor dem Hintergrund der gewaltsamen archaisch-rituellen Krisenbewältigung bekommt das Insistieren auf Xerxes’ Jugend eine ganz neue, zivilisierende Bedeutung: Es ermöglicht den Alten Atossa, Chor und Dareios zwar, sich auf Xerxes als ideologischen ‚Sündenbock‘ 178 zu verständigen und so die psychischen Spannungen der Krise zu purgieren und die soziale Ordnung zu wahren, vermeidet aber die praktische Eliminierung, da Xerxes’ Jugend die Transgression nachgerade als ‚Jugendsünde‘ entschuldigt. Da Dareios’ Geist das Erklärungsmuster ‚Jugend‘ affirmiert, das bereits Atossa und der Chor erwogen hatten, und es systematisierend mit der tragisch-transgressiven Sicht verwebt, erweist sich das soziale Verfahren der Nekromantie als wirkungsvolles Mittel zur Lösung der Krise. Ebenso richtig wie unspezifisch ist Bierls Feststellung, das Stück stelle Tod und Opfer dar und performiere Trauerrituale. 179 Denn die Evozierung der konventionellen Trauerrituale ist in der Tragödie eine gängige und mimetisch plausible Reaktion auf das große Leid bzw. in den Termini der vorliegenden Arbeit auf die Verletzung der Integrität infolge der Transgression. Wie bei Bohrers Schrecken handelt es sich dabei also um ein Epiphänomen der Transgression. Wenn Xerxes berichtet, er habe das Gewand als Reaktion auf den Untergang des Heeres zerrissen (v. 1030), so wird eben kein Trauerritual vom Chor auf der Bühne performiert, der sonst als konventioneller Akteur dieser Handlung fungiert. Insgesamt vermag eine Deutung, die auf das Vorhandensein von Ritualen abhebt, also kulturgeschichtliche Aspekte des dritten Teils der Perser zu be- 177 Hopman 2009: 367 f. 178 Hopman 2009: 372. Kühn ist hierbei die These, das Athener Publikum und die Alten in Susa würden durch die Sichtweise geeint, Xerxes sei der Schuldige, da diese im Falle der persischen Akteure bloß eine in der dramatischen Fiktion auf den Gegner projizierte interpretatio Graeca ist. Plausibler ist dagegen, wenn man die damit einhergehenden Spekulationen über die Emotionen des Athener Publikums abzieht, die These, daß diese Schuldzuschreibung diesem die Identifikation mit dem Chor der Alten und damit überhaupt der in der Tragödie gebotenen Sichtweise ermöglichte (Hopman 2009: 375). 179 Bierl 2007: 60 f. 1. Aischylos’ <?page no="273"?> 1.9 Rituelle Neujustierung der inneren Ordnung 259 leuchten. Die Einbettung in Handlungsmuster der eigenen Kultur baut modernen orientalistischen Skrupeln vor, ob die Darstellung des Schmerzes des geschlagenen Feindes nicht eine verdeckte und geschmacklose Form des Triumphes ist. Hopman arbeitet vielmehr heraus, daß der Schmerz der Schlußszene die betreffenden Akteure keineswegs als emotionale, verweichlichte Orientalen zeichne (2009: 373 Anm. 36), 180 da auch andere Männer in der griechischen Tragödie ihrer Trauer Ausdruck verliehen, wofür sie auf Ann Suters Analysen von Kreons Trauer über Haimons Verlust (S. Ant. 1261-1346), Theseus’ Klagen über Phaidras Tod in Euripides’ Hippolytos (v. 811-873) und Orests Beteiligung am Kommos für Agamemnon in den Choephoren verweisen kann. 181 Ergiebiger als die ritualmythologische Deutung ist der bereits angedeutete Blick auf die dramatische Metapoetik. Der topologisch gewandete metatheatralische Aspekt erlangt wiederum beim Auszug eine Bedeutung. Die Klage des Chores beim Auszug aus der Orchestra (v. 1073, in 1069 wird von West athetiert) ist das schließende Gegenstück zur Überschreitung der Meerengen, annulliert also die Transgression mimetisch. Während zuvor ein Lindwurm von einem Heereszug problemlos über die Schiffsbrücke in den zu annektierenden Erdteil marschieren konnte, ist nun selbst die Bühne, welche die heimische Erde repräsentiert, für zwölf Greise schwer begehbar. Hier kehrt derselbe Schwund an Praktikabilität wie beim Zusammenbruch der persischen Autorität im Mutterland wieder, der durch die eliminatorischen Folgen der Transgression ausgelöst wurde. Hopman 2009: 373 geht davon aus, daß bei der Benennung des persischen Landes, über das die Greise schreiten, und das gleichzeitige Deuten auf den Boden des Dionysostheaters die extradiegetische Deixis die dramatische Illusion zusammenbrechen („break down“) lasse, weil, wie bereits Rehm 2002: 20-25, 250 ausgeführt habe, daß der theatralische und szenische Raum mit dem reflexiven und realen verschmelze. Daß diese Bemerkung die genannten Dimensionen enthält, steht außer Frage. Wie sich ihr Verhältnis gestalte, ist eine andere. Dabei geht es grundlegend um die Frage, ob bei diesem komplexen Raumgefüge (realer und reflexiver Raum - Athen, theatralischer Raum - Dionysostheater, szenischer Raum - Bühne / Susa, extradiegetischer Raum - Susa) auch die Semiose kollabiert oder ob eine Distanz zwischen einem Raum als Sinnträger und bezeichneten Räumen zurückbleibt oder konkreter: Kann die Bühne der Spielstätte weiterhin für das persische Land in Susa stehen, und wenn ja, in welcher Weise und mit welchen interpretatorischen Konsequenzen? Gewiß ist Hopmans Beobachtung völlig richtig, daß die extradiegetische Deixis auf das persische Land diejenige am Anfang des Stückes bei der Selbstvorstellung des Chores wieder aufnehme (v. 1 f.: / ’ 180 Harrison 2000: 91 wertet ihn als Zeichen von Effeminierung und behauptet, dies sei der einzige Fall solcher Trauer eines männlichen Chores in der Tragödie. 181 Vgl. die tabellarische Übersicht 2008: 171 f. und das Fazit (S. 171): „Clearly, tragic drama permitted men to lament.“ Nach Griffith 1998: 50 f. unterscheidet sich der Kommos der Perser allenfalls graduell von demjenigen anderer Tragödien, was seiner Meinung nach dessen Akzeptabilität erhöht haben dürfte. <?page no="274"?> 260 ) und die Verschiebung des Attributs ‚persisch‘ von den Akteuren auf den Boden die lokale und ethnische Alterität des Chores vermindere (und damit die emotionale Identifikation des Publikums mit ihm erleichtere). Der Rückzug und die Exodos werden zur Gegenbewegung (man beachte die Bewegungsverben ~ ) der in der Parodos geschilderten Transgression. Und doch fragt man sich, warum gerade die abschließende extradiegetische Deixis die mimetische Illusion einreißen solle. In beiden Fällen vertraut die extradiegetische Deixis vielmehr auf die Suggestivkraft der Sprache, die den mimetischen Raum und die mimetische Illusion erst schafft. Dies gilt ganz besonders für die Exodos, da die Greise nicht stumm abrücken, sondern mit ihrer performativen Äußerung implizit metasprachlich die gesamte theatralische Semiose begründen. Das Wort macht also im mimetischen Anspruch die Bühne, die auf attischem Boden steht, zu persischem Land. Ohne es würde das gesamte komplexe Raumkonzept, das Hopman und Rehm annehmen, selbst nicht existieren. Das Vertrauen auf die Kraft der Sprache wird durch den vorausgehenden Sieg der Redefreiheit selbst in Persien gerechtfertigt. Gleichwohl gibt es Unterschiede zwischen den beiden extradiegetischen Deixeis: Diejenige des Auszugs ist lokal und performativ (dagegen erfolgt die lokale Deixis der Exodos ad oculos). Der Widerspruch zwischen mimetischer Illusion und Realität bricht so auf, insofern die fiktiven persischen Greise realiter bereits auf griechischem Boden stehen. Die Folge ist weniger ein Überfluten der Polis Athen mit der Totenklage der Perser, wie Hopmans emotional-harmonisierende Interpretation annimmt. Der Kontrast zwischen den Attributen von in Parodos und Exodos zeigt allen von Hopman bemühten mimetisch-deiktischen Unterschieden zwischen den beiden Passagen zu Trotz, daß die Eroberungspläne des Perserkönigs spektakulär gescheitert sind, bei denen es um die Inbesitznahme der griechischen Erde ging (vgl. v. 2). Der beschwerliche Auszug des Chores, dessen Ethnizität unbeschadet Hopmans Hinweis durch das Attribut der Erde evoziert wird (schließlich schreiten in der mimetischen Illusion keine griechischen Soldaten oder Gefangenen über den persischen Grund), iteriert den verlustreichen Rückzug des dezimierten Perserheeres aus Griechenland (v. 734-737). Attika bleibt griechisch, die Gefahr durch das Perserheer ist gebannt. Die Greise spiegeln den Rückzug ihrer Landsleute. Daß ihre Semiogenese wohl erfolgreicher als die großkönigliche ist, liegt an der unterschiedlichen Weite des Anspruchs und den eingesetzten Mitteln: Der Perserkönig will gewaltsam in einer geographischen und politischen Transgression Griechenland kulturell neubestimmen, die Greise bleiben trotz ihrer Realpräsenz in Attika im Rahmen der mimetischen Illusion, zumal sie in dieser emblematisch für den Verbleib im Heimatland sind. Das Schreiten hat in der Exodos eine komplexe ethnische, kulturelle und (meta-)theatralische Bedeutung, die nicht allein der Vergleich mit der Parodos erhellt. Vielmehr steht in der Exodos selbst das Kompositum (v. 1072) in bitterer semantischer Opposition zum diskutierten , so jedenfalls de Romilly 112 a.l. Außerdem steht durch die Ähnlichkeit der Bildung und des Klangs in klarem Gegensatz zu (v. 925) und unterstreicht so den persischen Verlust der Wehrhaftigkeit. Diese Parallele ist viel einschlägiger als der (vermeintlich) orientalisierte Gebrauch von in den 1. Aischylos’ <?page no="275"?> 1.9 Rituelle Neujustierung der inneren Ordnung 261 Persern, auf den Hall 177 a.l. verweisen kann. Die weiteren Stellen, die sie diskutiert und mit Ausnahme von E. Med. 830 (s.u.) als Belege für die effeminierende und orientalistische Semantik dieser Junktur wertet (Hekabe und Ganymed in E. Tr. 506 [Hekabe: ’ ], 819- 822), 182 stammen, abgesehen von einem Vers aus Aischylos’ Edonern TrGF Bd. 3 Frg. 60 (Dionysos oder Orpheus), 183 aus einem späteren Autor, nämlich Euripides. Auf Weiblichkeit und tragisch naive Putzsucht hebt das sanfte Schreiten in Euripides’ Medea im Falle eines hellenischen Mädchens ab: Hier schreitet Kreusa sanft ( ) hin und her, nachdem sie Medeas todbringende Geschenke angelegt hat, in ahnungsloser, überschwenglicher Freude über diese (v. 1163-65; nach Groeneboom 196 „ein kokettes Mädchen“). Emotion, Alter und zeitliche Positionierung zur Eliminierung unterscheiden sich allerdings elementar zur vorliegenden Stelle der Perser. Die von Hall verfochtenen, eher plump als elegant-leichtfüßigen orientalistischen Deutungen, die diachron mit dem Herstellen einer Kongruenz von ethnischen und sexuellen Gegensatzpaaren operieren und darüber die Autonomie und Individualität der fraglichen Stellen aus dem Blick zu verlieren drohen, erschüttert Roussells Hinweis, sei wie der Satrap und die Unsterblichen der Name einer persischen Personenklasse, nämlich der Höflinge („Les Habrobates sont les Talons-Rouges de la cour“). Roussell kann sich auf die Überlieferung eines ähnlich klingenden iranischen Eigennamens in X. Cyr. 5.1.2 (vgl. 6.1.46-48) 184 und Bakchylides 3.48 berufen, wo mit Kroisos ebenfalls der König eines östlichen Reiches einem genannten Diener einen Befehl gibt (nämlich den Scheiterhaufen zu entzünden). Die griechische Bedeutung dieses Wortes suggeriert allenfalls die präaristotelisierende Deutung (Pol. 1285a 19-22), die Perser seien ‚Leisetreter‘. Bei der Übernahme dieses Wortes, dessen iranische Form und Bedeutung unbekannt seien, 185 nimmt Roussell eine doppelte griechische „parétymologie“ an. Eine vergleichbare Fehlwiedergabe liegt übrigens auch bei den Unsterblichen vor (gr. , vgl. Hdt. 7.83.1), bei denen apers. anušiya „follower“ (Frye 1984: 109) bzw. „Gefolgsmann, Verbündeter, Helfer“, 186 das in der Behistun-Inschrift häufig für die Anhängerschaft eines Kommandanten gebraucht wird, sei er nun Dareios selbst, 182 Chor.: ’ […]. 183 Vgl. Radt a.l. Die Überlieferung, in der selbst das Vorkommen unseres Substantivs fraglich ist (Radt bietet den korrupten Wortlaut ’ † †; ist Teil verschiedener Konjekturen), erweist sich also als so unsicher, daß sie interpretatorisch kaum belastbar ist, auch wenn es sich in eine orientalistische Deutung gut fügen würde, da Dionysos zumindest in Euripides’ Bakchen als östlicher und eleganter Gott angesehen wird (s. 4.5 Tragik in der Interpretation dieser Tragödie). 184 Nach Leumann/ Snell (s. die nächste Fußnote) „*A(h)ura-d taab Ahura donatus’“. 185 Ablehnend gegenüber Manu Leumanns brieflicher, in Snells Bakchylides-Ausgabe zu 3.48 aufgenommener und von Dietmar Korzeniewski (Studien zu den Persern des Aischylos (II). Helikon 7 (1967) 27-62, h. 61 f.) auf die vorliegende Stelle übertragener Herleitung von apers. *a(h)ura-p ta- „ ab Ahura (Mazda) protectus’“ ist Rüdiger Schmitt, Bakchylides’ und die Iranier-Namen mit Anlaut ABPA/ O-. Glotta 53 (1975) 207-216. 186 Wilhelm Brandenstein, Manfred Mayrhofer, Handbuch des Altpersischen. Wiesbaden 1964, 103. <?page no="276"?> 262 einer seiner Gefolgsmänner oder ein Empörer, 187 mit dem ähnlich klingenden Wort für ‚unsterblich‘ (aw. anaoša) 188 verwechselt worden sei. 189 Was auch immer das tatsächliche altiranische Etymon von gewesen sein mag, so läßt sich ein gewisser Orientalismus in dieser Wiedergabe schlecht bestreiten. Inwieweit die Perser vorgefundene orientalistische Stereotype mit dem nachgerade leitmotivischen Gebrauch dieses ersten Kompositabestandteils bedienen, einsetzen oder gar weiterentwickeln, muß eine genaue Analyse der betreffenden Stellen zeigen, ohne die ein umfassendes Verständnis auch der vorliegenden Stelle nicht möglich ist. Erst dieser synoptische Blick erlaubt es, die volle Bedeutung dieses literarischen Zeichens auch in seiner dramatischen Entwicklung und Entfaltung zu erfassen. Die Tragödie setzt in der Tat beim chronologisch und geographisch Nächststehenden an, wenn sie im Heerzug des Großkönigs den Haufen der Lyder mit verfeinerter Lebensart folgen läßt (v. 41 f.: ’ / ). Die Perser knüpfen hierbei klar an das bisherige Bild der Griechen vom Osten an, das von den geographisch näherstehenden Lyder(könige)n geprägt wurde, in deren Fußstapfen die Perser traten. Doch ist damit die Linse der Rezeptionslenkung so eingestellt, daß damit der gesamte Sprachgebrauch der -Komposita im Drama unter das orientalistische Klischee der Weichlichkeit subsumiert werden muß, was Hall 1989: 81 meint? Eine derartige rezeptionsästhetische Pauschalierung wird allein dadurch unterlaufen, daß der weitere Sprachgebrauch wesentlich differenzierter ist. Er betrifft nicht mehr die Lebensweise eines Ethnikons, sondern einzelne, durch biologische Merkmale wie Alter und Geschlecht abgegrenzte Gruppen innerhalb der fremden Ethnie, die sich in der besonderen Situation befinden, daß die erwachsenen Männer abwesend sind, nicht aber - in markantem Gegensatz zu den Lydern - diese selbst. 190 Denn die zweite Gebrauchsweise eines Kompositums mit als erstem Bestandteil betrifft die sehnsuchtsvolle Trauer der verwitweten Perserinnen nach ihren toten Männern (v. 541-545): 187 S. den Index von Roland Grubb Kent, Old Persian. Grammar, Texts, Lexicon. New Haven 2 1953, 168. 188 Nicholas Sekundas Einwand, das Wort sei im Altpersischen nicht belegt (Achaemenid Military Terminology. Archäologische Mitteilungen aus Iran 21 (1988) 69-77, h. 70), verfängt nicht, da in dieser Sprachstufe nur politisch-administrative Texte vorliegen, in denen der Gebrauch dieser Vokabel - anders als im naheverwandten Awesta - eher unwahrscheinlich ist. 189 Antonino Pagliaro, Riflessi di etimologie iraniche nella tradizione storiografica greca. Renditiconti dell’Accademia nazionale dei Lincei ser. 8 vol. 9 fasc. 5-6 (1954) 133-153, h. 149. Gegen diese Deutung hat Sekunda 1988: 70 zugunsten von Herodots Zuverlässigkeit ins Feld geführt, daß sich im sassanidischen Heer m’dknpt (ap. *amrtak n m patiš) ‚Befehlshaber der Unsterblichen‘ finde, was auf ap. *amrtaka- (< ap. mar- ‚sterben‘) ‚Unsterblicher‘ schließen ließe. Doch ist Pagliaros Meinung weitgehend zur communis opinio geworden (Brandenstein-Mayrhofer 1964: 103, Wiesehöfer 1994: 136, 353). 190 Irreführend ist deshalb Conachers Feststellung, die Komposita mit würden „no less than five times of the Persian host“ gebraucht (1996: 10 f.), wo er sich doch auf dieselben Belegstellen wie die vorliegende Arbeit stützt (1996: 20 Anm. 35). 1. Aischylos’ <?page no="277"?> 1.9 Rituelle Neujustierung der inneren Ordnung 263 . Dies ist m.E. das rätselhafteste Motiv der Tragödie, was nicht zuletzt daran liegt, daß ihre Narratologie der Alterität hier besonders komplex ist, da sie Ethnie, Alter und Geschlecht umspannt. Deshalb greift Hopmans in den allgemeinen subsumierende Deutung zu kurz (2009: 363: „[…] the women’s longing epitomizes a general feeling.“). Die Perserinnen werden sowohl hinsichtlich ihrer Klagen wie ihrer Bettwäsche (! ) über und Verfeinerung charakterisiert. Nach Gödde 2000: 41 werden bei der Schilderung der weiblichen Klage „weder orientalische Lebensart noch weibliche Klagesitten denunziert“, vielmehr folge man „einer gänzlich konsistenten Logik des Lebens“, da die zarte Bettwäsche die sehnsuchtsvolle Trauer noch unterstreiche. Unmittelbar zuvor (v. 537-540) wurde, worauf Gödde hinweist, geschildert, wie die schmachtenden Perserinnen mit zarten Händen ( ) die Schleier als Trauergestus zerrissen hätten. Zumindest mit einem anderen Lexem ist die Zartheit hier ein körperliches Merkmal biologischer Weiblichkeit (vgl. Epict. 1.16.12: ) und nicht orientalischer Dekadenz. Hall 1989: 81 arbeitet denn auch selbst heraus, daß in der lesbischen Dichtung die in bezug auf Frauen, Göttinnen und östliche Götter neutral oder sogar ein Kompliment sei. An diese Positivzeichnung im Falle von Frauen kann die vorliegende Stelle anknüpfen. Es überrascht gleichwohl, daß die Sehnsucht, ja lustvolle Begierde rein lexikalisch in dieser Schilderung die Trauer zurückdrängt. Zwar werden Trauer und Sehnsucht funktionsräumlich voneinander abgegrenzt, weil die Perserinnen die mit Satinbettwäsche bezogenen Betten verlassen haben, doch werden diese lebensfroh als Ort jugendlicher (Liebes-)Freude identifiziert und die Sehnsucht nach rezent vermählten Männern präsentisch mit der Trauer verbunden. Die Begierde und erotisierende Schilderung unterscheiden die Perserinnen vom Motiv der vorzeitig verschiedenen Jugend, das in der floralen Metaphorik für die Gefallenen faßbar wird. Doch lassen sich die Perserinnen nicht nur als Subjekt der Begierde begreifen. Binnenpragmatisch läßt die erotisierende Schilderung im Mund der Alten das Motiv der Lustgreise anklingen, die das Alte Testament in der Geschichte von Susanne im Bade (Sept. Sus 8) und die Ilias bei der Bewunderung von Helenas Schönheit kennt (Il. 3.149- 160). Bühnenpragmatisch werden die Reize der verwitweten Feindesfrauen einem rein männlichen Primärpublikum ausgemalt. Hierin irgendeine Realintention zu erblicken, sei es in Form eines Anreizes zur Eroberung Persiens und seiner Frauen oder aber einer Versöhnung im Sinne der Massenhochzeit von Susa, scheint mir ebenso weit hergeholt und illusorisch wie spekulativ, ja nahezu abstrus. Fest steht jedoch, daß die erotisierende Schilderung der Trauer der Perserinnen und v.a. ihre ungestillte trauererfüllte Begierde (v. 545: ) die Leerstelle durch den Verlust der Männer und die militärische Kastration Persiens deutlich markiert und sich überdies vom Bild der Perser als schroffe Krieger absetzt und geeignet ist, positive Emotionen bei dem männlichen griechischen Publikum zu wecken (neben der Begierde auch Mitleid und Beschützerinstinkte) und so die Kluft im Bild der Völker zu überbrücken. <?page no="278"?> 264 Literarästhetisch entwickelt die Sprache hier jene sinnliche Suggestivkraft, die Roland Barthes 191 in der Beschreibung eines Mahls von Geistlichen bei Stendhal 192 entdeckt hat, der in der Schilderung von Milch, Schnitten, „Sahnekäse aus Chantilly“, 193 Konfitüre aus Bar, Apfelsinen aus Malta und gezuckerten Erdbeeren schwelgt. 194 In beiden Fällen wird, so kann man gegen Merschs ästhetischen Sensualismus und Materialismus festhalten, das literarische Wort zur Quelle des aisthetischen Erlebens. Freilich warnt eine Parallele aus dem zweiten Stasimon des Agamemnon davor, die erotisierende Bühnenpragmatik überzubeanspruchen oder allzu positiv als diegetische Peep-Show zu sehen, die überdies das orientalistische Motiv verfeinerter östlicher Erotik bedient. An dieser Stelle wird Helenas Name aus ihrer verderbenbringenden Wirkung für Männer und Städte erklärt und gleichzeitig mit einer ähnlich erotischen Bedeutung des -Kompositums geschildert, wie sie vom Zephyros aus ihren zarten Kissen fortgeblasen worden sei (Ag. 689-693): - 195 , […] Conacher weist darauf hin, daß auch hier wie in den Persern ein ironischer Kontrast zur martialischen Stärke der Parodos vorliege, da die Griechen und ihr König am Ende in diesem Krieg leiden würden, der um der Gattin eines anderen Mannes geführt werde (Ag. 447-449) (1996: 21). Allerdings sind - anders als im Agamemnon - die Perserinnen in der Binnenpragmatik und -hermeneutik nur Objekte, während der Großkönig allein für ihr und des Reiches Elend verantwortlich ist. Dieser Kontrast der Kausalität wird nicht nur durch eine andere Aischylos-Tragödie, sondern auch den Einsatz des -Motivs in derselben mythologischen Matrix bei Pindar unterstrichen (P. 11.31-35). Die syntaktischen Bezüge sind nicht eindeutig, doch ist es nach Leslie Kurkes Deutung Helena, welche die bringt, die Agamemnon bei der Einnahme Trojas 191 Le Plaisir du texte (1973). In: Ds., Œuvres complètes. Bd. 4: Œuvres 1972-1976. Hg. v. Éric Marty. Paris 2002, 217-261, h. 247. 192 Es handelt sich hierbei, wie ich ergänzend zu Barthes, Neumann und der oben zitierten Barthes-Ausgabe anmerken möchte, um die Épisodes de la vie d’Athanase Auger (publiés par sa nièce) (datiert auf den 19. Juni 1837, in Nivernais) in den Mémoires d’un Touriste (S. 184 f.). (Ette 2010: 450 verweist immerhin auf diese Schrift und die Episode, nicht aber auf die exakte Stelle.) 193 So die übereinstimmende Wiedergabe („fromage à la crème de Chantilly“) in Roland Barthes. Die Lust am Text. Aus dem Französischen von Traugott König. Frankfurt a.M 1974, 67 und Roland Barthes. Die Lust am Text. Aus dem Französischen von Ottmar Ette. Kommentar von Ottmar Ette. Berlin 2010, 59. 194 Gerhard Neumann, Roland Barthes’ Theorie des Deiktischen. In: Dieter Mersch (Hg.), Die Medien der Künste. Beiträge zur Theorie des Darstellens. München 2003, 53-74, h. 53 f. 195 Salmasius . 1. Aischylos’ <?page no="279"?> 1.9 Rituelle Neujustierung der inneren Ordnung 265 zerstört (P. 11.33-35). 196 Auch hier ist die wie im Agamemnon für die Eliminierung verantwortlich, und zwar diesmal der östlichen Gegner der Griechen. In den Persern sind diese beiden Momente jedoch auch räumlich getrennt und nur kausal durch den Großkönig verbunden, dem (und nicht pauschal dem dekadenten orientalischen Luxus) die Eliminierung angelastet wird. Die in sehnsuchtsvoller Treue klagenden und auch örtlich konstant-statischen Perserinnen sind ein denkbar großer Kontrast zur griechischen femme fatale und donna mobile Helena, die selbst in einer Transgression über die Meeresengen von West nach Ost geblasen wird. Der Vergleich mit dem Agamemnon und Pindar zeigt also auch beim Motiv der die paratragische Zuspitzung der Perser auf die individuelle politische Verantwortung des Regenten für Transgression und Eliminierung seiner Untertanen. Die der verwitweten Perserinnen ist damit motivisch wie dramenfunktional und -semiotisch das Pendant zur Blüte der männlichen Jugend, deren Xerxes’ Transgression sein Land und dessen Frauen beraubt hat. Die jungen männlichen wie weiblichen Opfer der großköniglichen Politik, die nur anonym und kollektiv diegetisch evoziert werden und damit anders als Chor und Königin kaum zu Komplizen der militärischen Expansion werden können (pace v. 12), sind m.E. wegen ihres klar unverdienten Leidens die idealen Kandidaten für persische Figuren, die geeignet sind, beim athenischen Publikum Mitleid zu erregen. Daß paradoxerweise nicht die sinnliche Unmittelbarkeit schaffende Mimesis, sondern die mit der Suggestivkraft der Sprache operierende Diegese einen Raum für Mitleid schafft, liegt an der zeitgeschichtlichen Identität der mimetisch dargestellten Figuren mit Entscheidungsträgern und deren Umfeld, die politisch für die Transgression verantwortlich sind. Das letzte Vorkommen eines Kompositums mit als erstem Bestandteil in den Persern in der Anweisung, die Xerxes dem Chor gibt (v. 1072: ’ ), synthetisiert die bisherigen lexikalischen Elemente und schafft so einen neuen Sinn. In diesem Passus verschmelzen die vorangehende praktische Klage des Chores (v. 1073) mit den aus v. 541. Erst bei dieser Amalgamierung wird das redundante Lexem ‚persisch‘ wie bei einer Bruchmultiplikation herausgekürzt. Insofern setzt dieser Vers die von Hopman bemerkte Entethnisierung der Akteure ebenso fort wie die dramenverbale Wiederaneignung des attischen Bodens. 197 Die szenenpragmatische und dramensemiotische Verortung spricht eher dagegen, daß die Verbindung von sanftem Schreiten und Klagen in der Aufforderung des Groß- 196 The Cultural Impact of (on) Democracy. Decentering Tragedy. In: Democracy 2500? Questions and Challenges. Ed. by Ian Morris and Kurt Raaflaub. Archaeological Institute of America. Colloquia and conference papers 2. Dubuque 1998, 155-169, h. 162. 197 Diese Verortung in der weitgespannten Semiotik des Dramas und die Pragmatik der Schlußszene sprechen dafür, nicht mit West in v. 1069, sondern erst in v. 1073 zu athetieren. In v. 1069 würde der Chor einen Einwand gegen Xerxes’ Aufforderung im vorausgehenden Vers (v. 1068: ) erheben, der in v. 1074 seine Berechtigung verloren hätte, weil Xerxes im vorausgehenden aus v. 1068 zu modifiziert hat. Wests Athetese würde also die gesamte Pragmatik der Exodos, die sich im Machtkampf um Klagen und Schreiten entfaltet, vollkommen sinnlos machen. <?page no="280"?> 266 königs auf orientalische Weichlichkeit abhebt und die ethnisch-kulturelle Alterität affirmiert. Unstrittig ist dagegen die binnenpragmatische Interpretation, daß Xerxes mit diesem Adjektiv seine Stellung als Subjekt der Handlung und des sozialen Gefüges festigt. Mit dem Befehl zum sanft schreitenden Klagen, das stilistisch-ästhetisch wie die Perserinnen das Leid und die Trauer mildert, glättet er die Härte des persischen Bodens, welche die Alten gegen seine erste Aufforderung zur Exodos in v. 1068 f. vorgebracht hatten. Dabei erteilt er den mit Bezeichneten wie Bakchylides’ Kroisos am Ende seiner literarischen Karriere einen Befehl, der altpersische Sinn dieses Wortes würde seinen Vorrang noch unterstreichen. Angesichts dieser komplexen Beleglage bestreitet Broadhead 245 a.l. denn auch wohl nicht zu Unrecht, daß dieses Adjektiv hier Weichlichkeit bezeichne und verächtlich sei; es stehe vielmehr für den Vollzug konventioneller und künstlerischer Bewegungen. Die Kunst überwindet also die Trauer. Diese Fähigkeit der Kunst zur ästhetischen Alchemie 198 wird in der metatheatralischen Regieanweisung des Großkönigs thematisiert und initiiert, bei der die Sprache den Körper lenkt und wie bei der ihren Primat innerhalb der komplexen Interaktion der theatralischen Zeichen behauptet. Über die Körperkontrolle gewinnt der Chor die Kontrolle über die Emotionen. Die hier erkennbare Urbanität des sanften Schreitens ist auch andernorts faßbar. Wenn in Euripides’ Medea nicht nur die Königstochter, sondern auch die Söhne des Erechtheus im dritten Stasimon sanft durch den Äther schreiten (v. 830: ), dann ist dieses Verhalten wohl eher ein Merkmal attischer Zivilisiertheit (in der Medea im Gegensatz zur verkehrten Welt in Korinth, so Grethlein 2003: 342), das dem Genius loci geschuldet ist, als ein Zeichen barbarischer Dekadenz. Schließlich ließe sich das zarte Schreiten als Teil des takt- und pietätvollen Trauerrituals deuten. Deshalb teile ich nicht Groenebooms Meinung, der „die auf Zehenspitzen sich bewegenden Tänzer [...] in einem bitteren Gegensatz zum vorhergehenden “ sieht (S. 196 f.). Das sanfte Schreiten zeigt also die mimetisch-kulturelle Assimilation der Perser, seine metatheatralische Nennung die Magie der Kunst, die den Schmerz überwindet und, wenn auch kulturimperialistisch und ethnozentrisch, wie die mimetische Verlagerung der Bühne nach Susa als Grundgegebenheit der Tragödie die Grenzen zwischen den Völkern überbrückt und so die Grenzverletzung des ethnisch Anderen im Stoff des Dramas zum Anlaß für Grenzüberwindung macht. 1.10 Botschaft und Wirkung sowie ein neues Bild domestizierter ethnischer Alterität Die theatralische Grenzüberwindung zwischen den Völkern vermittelt ein neues Bild des ethnisch Anderen, das mit Aspekten der Botschaft und der Wirkung der 198 Vgl. Charles Baudelaires berühmtes poetologisches Programm für die Fleurs du Mal: Tu m’as donné ta boue et j’en ai fait de l’or. («Projet d’un Épilogue pour l’édition de 1861 [II] v. 31- 34», in: Charles Baudelaire. Œuvres complètes. Texte établi, présenté et annoté par Claude Pichois. 2 Bde. Paris 1975, Bd. 1, 192). 1. Aischylos’ <?page no="281"?> 1.10 Botschaft und Wirkung sowie ein neues Bild domestizierter ethnischer Alterität 267 Tragödie verwoben ist. Die grundsätzliche Skepsis dieser Arbeit gegenüber rezeptionsästhetischen Überlegungen, gerade im Falle des antiken Dramas, wird im Falle der Perser, wie bereits in 1.2 Das poetische Spiel mit Nähe und Distanz(ierung), Eigenem und Fremdem ausgeführt, durch die zeitgeschichtliche Thematik konterkariert, die das Publikum zu Zeitzeugen macht. Über die Wirkung, die das Drama auf das präsente Primärpublikum, die im Theater versammelte Athener Bürgerschaft, erzielte, lassen sich anhand in anderen Quellen überlieferter historischer Umstände Mutmaßungen anstellen. Eine mögliche Botschaft muß sich am Text festmachen lassen und kann das gesamte Primärpublikum als Gesellschaft und politischen Akteur, einzelne Politiker und den persischen Kriegsgegner im Blick haben. Wir beginnen hier mit der Innenpolitik. Das attische Publikum als Adressaten der moralischen Botschaft behält bereits die breitgestreute Verwendung des Wortes „Barbaren“ für die Perser im Blick, 199 das somit neben der orientalistisch-verfremdenden noch eine pädagogische Funktion hat. Das Insistieren auf Xerxes’ Jugend ist historisch nur damit zu rechtfertigen, daß er das älteste der mit Atossa gezeugten Kinder war, während Dareios noch drei Kinder aus seiner Ehe mit der Tochter des Gobryes hatte, die vor seiner Thronbesteigung geboren waren (Hdt. 7.2.2). 200 Xerxes’ exaktes Geburtsdatum ist dagegen unbekannt ist. Um so mehr affirmiert der Fokus auf seinem geringen Lebensalter in pädagogischer Disziplinierung die Grenzen zwischen jung und alt in der Gesellschaft, aus der sich das Zielpublikum rekrutiert. 201 Dies mag der Befürchtung entspringen, die siegreiche Jugend möchte in der Gesellschaft einen größeren Platz einfordern. Immerhin war die attische Gesellschaft, verglichen mit Sparta, das Elisabeth Herrmann-Otto sogar eine „Gerontokratie“ nennt (2004: 7), äußerst jugendfreundlich und nachgerade altersdiskriminierend. 202 Gegen einen allzu emanzipatorischen Impetus als Ergebnis der Perserkriege stemmt sich in Aischylos’ Werk nicht nur in den Persern (v. 402-405), wo die Pädagogisierung besonders deutlich darin hervortritt, daß die ‚Kinder der Griechen‘ zu diesem Ziel bestimmt werden, 203 die Bindung der im übrigen griechischen Diskurs hochgeschätzten Freiheit an traditionelle Werte 199 V. 187 (im ausdrücklichen Gegensatz zu Griechenland), 255, 337, 391, 423, 434, 475, 625, 798, 844. Doch führt dieser relativ-antithetische Ausdruck zu einer totalen Distanzierung oder Herabsetzung der so Benannten im Stück, findet doch entsprechend seinem Titel der Stamm -, der eine absolute Semantik hat, 53mal Verwendung. 200 Für die Regelung von Dareios’ Nachfolge s. Briant 1996: 534-538. 201 Damit sei freilich nicht uneingeschränkt die Ansicht Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs übernommen, der sich gegen Aristoteles’ emotive Rezeptionsästhetik wendet (Euripides Herakles. Berlin 1889, Bd. 1: Einleitung in die attische Tragödie, 110). In Aischylos’ Eumeniden ist für ihn „der echte fromme glaube an die gerechtigkeit und das erbarmen der gottheit und der echte stolz auf das herrlichste vaterland.“ 202 Die Ambivalenz des Alters. Gesellschaftliche Stellung und politischer Einfluß der Alten in der Antike. In: Ds., Georg Wöhrle, Roland Hardt (Hgg.), Die Kultur des Alterns von der Antike bis zur Gegenwart. St. Ingbert 2004, 3-17, h. 8-11. 203 Diese Botschaft muß zumindest das Athener Publikum Aischylos’ Dramenwerk entnommen haben. Noch in Aristophanes’ Fröschen preist sich der erste große Tragiker damit, er habe die Athener gelehrt, immer zu siegen, den Bürger zur Tugend erzogen und als Dichter der Jugend den Weg gewiesen (v. 1026 f., 1040-1042, 1055). <?page no="282"?> 268 oder göttliche Instanzen und die Rettung des Kollektivs (Th. 69-77). Daß die theologischen Aspekte der Tragik zugunsten der Erklärung aus der Jugend zurücktreten, läßt sich damit parallelisieren, daß in Sophokles’ Oidipus Tyrannos (Intransigenz [s. 2.4.2 Monstrosität der Transgression statt Schuld-, Schicksals- oder Charaktertragödie in der Interpretation dieser Tragödie]) und in Euripides’ Medea ( ) ein bestimmter Charakterzug zumindest eine dispositive Affinität zur Transgression erkennen läßt, auch wenn dieses Deutemuster wegen seiner Tautologiegefahr nur mit Vorsicht angewandt werden kann und die Aktivierung solcher Dispositionen auch in diesen Tragödien situativ ist. Die Perser würden nun die Essentialisierung mit der Koppelung des Fehlverhaltens an ein bewußtseinsäußeres Merkmal eine Stufe weiterführen. Gleichwohl legt v. 12, der die Faszination beschreibt, die der junge Großkönig auf das Heer ( ) ausgeübt hat ( ), 204 nahe, daß das Insistieren auf der Jugend bühnenpragmatisch eine politisch-pädagogische Funktion hat. Der zitierte Halbvers würde vor dem demagogischen Charisma eines jungen Mannes warnen. Diese fatale politische Faszination entspricht der Reinhardtschen Kategorie des Dämonischen. Da der junge Großkönig an unserer Stelle keine aktiv demagogische Rolle spielt, sondern bloß eine ver- (oder: ent-)heerende Faszination ausübt, entschuldigt hier die Kategorie des Dämonischen nicht nur, was bei Egon Flaig als Vorwurf in bezug auf ihre Beliebtheit nach 1945 in Deutschland anklingt, wo sie menschliche Praxis mystifiziert habe, die verführte Masse, 205 sondern obendrein den unfreiwilligen Verführer. Bei Aischylos ist das Entscheidende jedoch nicht die Exkulpierung der Bühnenfiguren, sondern die Warnung an das Theaterpublikum. Die zu diesem Zwecke vorgenommene interpretatio Graeca auf der politischen Ebene, welche die theologische Einverleibung des Fremden flankiert, paßt gut in den pragmatischen Kontext der zweiten Stückhälfte, in welcher der heimgekehrte Xerxes sich entgegen seiner fehlenden Rechenschaftspflicht, die Atossa für den Fall der Niederlage betont (v. 211-214), mit Vorwürfen wegen eben dieser konfrontiert sieht. Die Warnung vor dem jungen Demagogen wird kaum auf Themistokles zielen, der bei seiner Verbannung zur Aufführungszeit der Perser (472/ 471) bereits die Fünfzig überschritten hatte. Es scheint fraglich, ob der Umstand, daß der Sieger von Salamis etwa fünf Jahre zuvor Chorege von Phrynichos’ Konkurrenzdrama Phoinissai gewesen war, Aischylos Anlaß genug zu einer Warnung vor ihm war. Im Gegenteil, Podleckis minutiöse Lektüre bringt anhand umfangreicher Indizien die prothemistokleische Haltung des Dramas ans Licht (2000: 8-26). Auch daß die Tragödie vor ihrem eigenen Choregen warnte, dem jungen Perikles, welcher als der Fortsetzer der Politik des Themistokles angesehen werden kann, scheint eher unwahrscheinlich. Eher könnte das Stück auf Kimon zielen, der gut fünfzehn Jahre jünger als Themistokles war und der mit seinem Operationen in Kleinasien 204 Daß, wie Conacher vermutet, auf den der Alten zu beziehen sei und Xerxes’ Befragung nach seiner Rückkehr anklingen lasse (1996: 10), widerspricht der Figurenzeichnung des Chores, der zu diesem Verhalten erst durch die Niederlage und Dareios’ Kritik an seinem Sohn gelangt. 205 Ödipus. Tragischer Vatermord im klassischen Athen. München 1998, 19. 1. Aischylos’ <?page no="283"?> 1.10 Botschaft und Wirkung sowie ein neues Bild domestizierter ethnischer Alterität 269 genau das tat, wovor das Stück eindringlich warnt, nämlich militärisch die Grenze zwischen Europa und Asien zu überschreiten. 206 Eine solche politische Pädagogik der Transgression wäre bei einer Tragödie, die ein zeitgenössisches militärisch-politisches Ereignis behandelt, zumindest nicht abwegig. 207 Daß die Perser den Großkönig als Verkörperung von Ambitionen und Leistungen, aber auch des Scheiterns von Elite zeichnen, ist nach Griffith in der Wahrnehmung des athenischen Publikums nicht zwingend auf den Achämenidenhof beschränkt, sondern kann sich auch auf die heimische Elite erstrecken (1998: 52). Außenpolitisch impliziert der hellenische theonomische Universalismus keine Autoaffirmation oder gar imperialistische Kampfparänese. Der Jammer der Perser und die Größe der Griechen, die in der verfremdenden Grundsituation der Außenperspektive besonders gut zur Geltung kommen, dienen keiner tautologischen Selbstaffirmation oder Abwertung des Anderen qua solchen oder aufgrund unveränderlicher Merkmale. Aischylos’ Bild des orientalischen Gegenübers bündelt Motive, die seinem Publikum aus der frühgriechischen Lyrik vertraut sein konnten. 208 Diese Motive bilden mit akzidentiellen Wandlungen bis heute die Grundkoordinaten des westlichen Orientbildes, wobei die Selbst- und Fremdzuschreibung sich gut strukturalistisch zu Gegensatzpaaren zusammenfügen. Bei Aischylos implizieren sie jedoch noch keine Irrationalität, 209 die von der eigenen verabsolutierten Logik abweicht, haben also noch keine erkennbar abwertende Färbung. 210 Vielmehr dient wie im Epos die zeitliche, so in diesem Drama die räumliche Distanzierung dazu, den dargestellten Personen und dem Geschehen Größe und Erhabenheit zu verleihen, ein Prozeß, den durchgehende Anleihen bei der Sprache und der tragischen Weltsicht des Epos verstärken. In dieser Gestaltung dienen Alterität und Exotik dazu, die für die Tragödie erfor- 206 Vgl. Gruber 2009: 153: „[I]m Jahre 472 [tat] diese Warnung vor Hybris not, da die Athener so wie Xerxes handelten: Expansiv zur See.“ Grethlein 2010: 89-92 arbeitet treffend anhand einer genauen Lektüre der in die Perser eingewobenen Gnomen heraus, daß die Tragödie zwar nicht - avant la lettre - wie Herodot vor dem Athener Imperialismus, wohl aber vor Hybris und Selbstüberschätzung warne, die das Schicksal der Perser als exemplarisch für die condicio humana vorführe. 207 Harrison 2000: 31-39, 95-102 ist dagegen mit Gründen, die Beachtung verdienen, skeptisch gegenüber der Annahme, die Perser hätten die Unterstützung eines konkreten Athener Politikers gefördert. Diese Ansicht korreliert allerdings mit seiner Argumentationsstrategie, auf die Zurückstellung der innerathenischen und innergriechischen Gegensätze innerhalb der Perser abzuheben, um so deren ideologische Implikation und die Schärfung der Opposition zum Achämenidenreich hervorzuheben (2000: 65: „Panhellenism like Panionianism itself provided a useful veil for such imperialism“). Ohne weiterreichende argumentative Absichten vertritt auch Pelling 1997: 9-13 einen wohlbegründeten Skeptizismus gegenüber allzu konkreten Ausdeutungen, wie v.a. Podlecki sie vertreten hat. 208 Kriegstüchtigkeit: Sappho V 16, Alkaios V 388; Reichtum und Wohlgerüche Asiens: Archilochos 19 W., Sappho V 132, Alkaios V 69; andere politische Struktur: Der Fall Ninives bei Phokylides 4 D. (Bd. 1). 209 Nur die Buntscheckigkeit der Hilfsvölker im Heerzug ( v. 53, 902) geht in die Richtung orientalischer Unüberschaubarkeit und Irrationalität. 210 Nach Benjamin Isaac, The Invention of Racism in Classical Antiquity. Princeton 2004, 275 soll die Erwähnung des Reichtums in der Schilderung der ausziehenden asiatischen Völker nicht wie später deren Weichlichkeit, sondern die eindrucksvolle Macht des Heeres illustrieren. <?page no="284"?> 270 derliche Fallhöhe zu erreichen, 211 die Herabsetzung des Anderen wäre kontraproduktiv 212 und hätte nur im Gattungssystem der Komödie eine Funktion. Später sinkt das Gold zum orientalistischen Topos des „märchenhaften Reichtums“ herab, was bereits in Simonides’ Epigramm auf den Sieg in Marathon anklingt, wo das Gold am Körper nachgerade ein Symbol wird und im Kontext der Schlacht die Kriegstüchtigkeit - anders als in den Persern - subvertiert. 213 In der Komödie stellt dieses Edelmetall dann die eigene hellenische Bestechlichkeit bloß (Ar. Ach. 100). In den Persern ist es dagegen ein Zeichen für die genealogische Nähe (vgl. Hall 1989: 80 f.) zu den Göttern (vgl. v. 80: [Xerxes]), aber auch für die Überfülle, welche der Katastrophe vorausgeht. Dafür spricht sein Fehlen nach deren Bekanntwerden (in v. 159 tritt zum letzten Mal das Lexem auf). Die Fremdheit ist nicht verfremdet, sondern so dargestellt, daß sie noch archaisches Staunen, aber kein Befremden über skurrile Alterität widerspiegelt (wie in Euripides’ Bakchen, s. 4.5 Tragik in der Deutung dieser Tragödie). Zwar wird auch über die Metalle der ethnisch-kulturelle Gegensatz zu Athen konstruiert, dessen Reichtum sich aus Silberminen speist (v. 237 f.). Ob die Wahl der Metalle den orientalischen Luxus mit griechischer Schlichtheit kontrastiert, 214 muß dagegen offenbleiben. Zumindest nach der Sukzession der Geschlechter bei Hesiod ist das Gold eindeutig überlegen (Op. 109-126; vgl. 127 f.: / ’ ). Fest steht jedenfalls, daß die Edelmetalle in der gemünzten Form von Dareikos und Tetradrachme nicht nur zum Zeichenträger werden, sondern auch Geltungsansprüche formulieren und propagieren können, Investitionen und Kapitalisierungen ermöglichen und so insgesamt symbolisch wie ökonomisch Teil des Zirkulationsprozesses des Kapitals werden. Von diesen systematischen Zusammenhängen findet sich den Persern nur eine markante, asymmetrisch auf die Kriegsgegner verteilte Auswahl. Bei den orientalischen Völkern dient das Gold nur dem Schmuck, so des Königspalastes (v. 159, vgl. 3) oder des gesamten Heeres (v. 9: , so die Überlieferung. West setzt jedoch Weckleins Konjektur in den Text.). Für Wecklein und West spricht, daß das Attribut in der weiteren Schilderung des Heerzuges auf Sardes (v. 45) und Babylon (v. 52 f.) beschränkt wird, also wie bei den Persern auf den Ursprungsort der Kontingente. Allerdings wird bei den Persern nur die Residenz (vgl. v. 4: ) als golden bezeichnet, während bei Lydern 211 Die mythologisierende, fast schon amplifikatorische und anthropologisch-existentiell illustrative Darstellung, welche die Tragödie den historischen Ereignissen angedeihen läßt, betont auch Conacher 1996: 5. 212 Bereits Murray 1940: 121-123 bemerkt, daß die Perser trotz ihrer Siegesthematik hohe Dichtung seien. Albin Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen. Studienhefte zur Altertumswissenschaft 2. Göttingen 2 1956, 62, der Murray bei seinem Zitat etwas überstrapaziert, leitet den Verzicht der Tragödie auf Chauvinismus aus der universalistischen Perspektive von und ab (in der dritten Auflage von 1972 fehlt diese Bemerkung). 213 (Nr. XXI S. 230 Page = Lykurg In Leocratem 109): / . 214 So Halls Vorspann zu Gold und (1989: 80). 1. Aischylos’ <?page no="285"?> 1.10 Botschaft und Wirkung sowie ein neues Bild domestizierter ethnischer Alterität 271 und Babyloniern die gesamten Städte mit diesem Attribut bedacht werden. Die orientalistische Reichweite des Goldes erstreckt sich damit ebenfalls nur auf diese Völker, nicht aber die Perser selbst. Dafür spricht der parallele Auftritt eindeutig orientalistisch konfigurierter Motive mit eben diesen beiden Völkern. Den Lydern wird in demselben Kontext ohne Einflechtung und Relativierung in die Dramenpragmatik und -semiotik eine weichliche Lebensweise attestiert (v. 41), während das goldreiche Babylon mit der buntscheckigen Masse an Heervolk, die es schickt (v. 52 f.), den orientalistischen Topos der Unübersichtlichkeit und Irrationalität bedient. Während selbst die Perser das Gold nur zu Repräsentationszwecken einsetzen, es also in symbolisches Kapital ummünzen, ist dem attischen Publikum als politischem Entscheidungsträger klar, daß „die Silberquelle, der Schatz der Erde“ (v. 238) auf die Verwendung der Einnahmen der Bergwerke von Laureion für den Flottenbau anspielt, die Themistokles ersonnen und durchgesetzt hatte, also die Investition in militärisches Kapital, das selbst in der Schilderung des Dramas Siegesfrüchte trägt. Es ist also nicht das chemische Element der genannten Edelmetalle, das Griechen und Orientalen unterscheidet, sondern dessen zielstrebiger, kriegsentscheidender Einsatz. Ähnlich verbindet Griffith den Gegensatz der Edelmetalle mit demjenigen der Staatsformen (1998: 45: „as opposed to the democratic silver of the Athenians“). Dieser Unterschied ist in seinem griechischen Teil historisch korrekt, entspricht jedoch den orientalistischen Analysemustern. Die Opposition von freiem Griechenland 215 und persischer Monarchie, 216 die ebenfalls als weiteres orientalistisches Motiv den Ursachen für den Kriegsausgang in der Verfaßtheit der Kontrahenten nachspürt, zeichnet das Perserreich nicht wie später Aristoteles die Herrschaftsform der östlichen Barbaren allgemein (Pol. 1285a 19-22) als Despotie, sondern führt nur die eliminatorische Transgression auf den expansionistischen Zwang eines Regenten zurück, der sich in einem politischen System ohne Kontrolle (v. 213: - ) verhängnisvoll auswirken konnte. Wenn Xerxes den Kapitänen mit Enthauptung droht (v. 371), so rundet diese innenpolitische Grausamkeit seine außenpolitische Transgression zu einem gesamtpolitisch transgressiven Verhaltensmuster ab. Auch hier geht es - hierin vor der Anagnorisis wie im OT - um die tyrannische Amtsausübung eines Monarchen und nicht primär um die orientalische Despotie. Griffith weist darauf hin, daß die Tragödie das den Griechen verhaßte Lexem für das Zeremoniell des Achämenidenhofs vermeide. Statt dessen wähle der Chor in v. 152 mit für sein Verhalten bei Atossas Begrüßung ein Verb, das auch sonst in der Tragödie die inständige Bitte charakterisiere. Er merkt an, daß die orientalistische Wirkung, wie auch bei der Scheu, die der Chor bei Dareios’ Auftritt bezeugt, nicht zuletzt von der Inszenierung abhänge (1998: 48 f.). Die göttliche Aura, die Dareios wegen seiner Transzendenz zugesprochen wird und die tout court orientalistisch als Suggerie- 215 Isaac 2004: 276 relativiert zu Recht, daß es sich hierbei um eine kollektiv-defensive Freiheit i.S. von Immunität von Fremdbestimmung und noch um keine individuelle Freiheit handelt. 216 Ausführlich dazu, wenn auch nicht immer einschlägig, Harrison 2000: 76-91 („Democracy and tyranny“). <?page no="286"?> 272 rung eines persischen Glaubens an ein Gottkönigtum mißdeutet wurde (Harrison 2000: 88 f.), verliert Xerxes nach der Niederlage. 217 Das gewandelte Bild, das die szenische Transgression nach Susa den Athenern vermitteln konnte, läßt sich am besten im Dialog mit Hopmans Deutung der Perser entwickeln, die kohärenter als Bierls (s. 1.9 Rituelle Neujustierung der inneren Ordnung) ist und ebenfalls auf die Emotionalität abhebt. Sie begreift deren Entwicklung jedoch als ein die gesamte Länge des Stückes strukturierendes Moment (2009: 364), wobei der Schwerpunkt auf dem letzten Teil nach Xerxes’ Rückkehr liegt (2009: 364-376). Auf die Richtigkeit und Wichtigkeit ihrer Interpretation der hermeneutisch-emotionalen Interaktion von Chor und Xerxes wurde oben bereits eingegangen. Ihre kohärenten und kühnen Überlegungen zur möglichen emotionalen Reaktion des Athener Publikums (2009: 369-376) betreffen zwar einen Bereich, in dem ich belastbare Aussagen für kaum möglich halte, bieten jedoch dank ihrem Kenntnisreichtum und ihrer Stringenz genügend Denkanstöße, die kritisch weitergedacht werden können, um die hier aufgeworfenen Fragen nach der Funktion der spezifischen Darstellung der Tragödie zu beantworten. Dabei verdient auch Grethlein Berücksichtigung, der ein Jahr nach Hopman unabhängig von ihr die Frage nach dem Mitleid aufgreift und mit eigenen, Beachtung verdienenden Argumenten ebenfalls bejaht (2010: 86-92). 218 Aus der historisch-lokalen Situation der Aufführung leitet Hopman 2009: 370 drei mögliche Grundemotionen ab, 219 mit denen die Athener das Dionysostheater bei Aischylos’ Schauspiel betraten: Stolz über den Sieg (den, wie ich hinzufügen möchte, das nahegelegene Salamis verkörperte), Zorn über die Zerstörung der Akropolis, deren Trümmer den Spielort überragten, 220 und Furcht vor einer erneuten persischen Aggression, deren Abwehr und Zurückdrängung die politisch-militärischen Maßnahmen wie die Gründung des attisch-delischen Seebundes, die Einführung des Straftatbestandes Medismos und die Vorbereitungen des Eurymedon-Feldzuges galten. 221 Demgegenüber rekonstruiert Hopman, der Chor, der durch Redefreiheit und die Rechenschaft, die er von Xerxes verlange, hellenisiert sei, habe wie das Athener Publikum den Großkönig als Schuldigen ausgemacht und so jenem die Möglichkeit geboten, Mitleid für ihn zu empfinden (2009: 374), ja die „Reinigung“ von dem Ärger über den Großkö- 217 So Court 1994: 46 f. mit sämtlichen Belegstellen. 218 „Pity for the Persians“ - man beachte den Verzicht auf das Fragezeichen. 219 Nicole Loraux, Ce que Les Perses ont peut-être appris aux Athéniens. Epokhè 3 (1993) 147- 164, v.a. 164 bietet dagegen nur textferne Spekulationen vornehmlich anhand anderer Tragödien über die allgemein humanistische Wirkung der Perser, welche die Athener Zuschauer aus ihrer Perspektive als Bürger zur Sicht auf das Schreckliche und den Tod, zwei Bereichen des (allgemein) Menschlichen, geführt hätten. 220 Vgl. Rehm 2012: 310: „In the area outside the theater of Dionysus stood material evidence of the Persian invasion of Attica, which ended only seven years before […].“ 221 Diesen positiven defensiven Emotionen stellt Harrison 2000: 104 mit der Rachsucht („vindictiveness“) eine intentional ähnlich gelagerte, aber aggressive und negativ konnotierte gegenüber. Dabei kann und soll jenseits derartiger suggestiver Wertungen rezeptionsästhetischer Spekulationen gar nicht bestritten werden, daß der Fall des Großkönigs das mimetisch erzeugte Bedürfnis nach Genugtuung ( ) befriedigt. 1. Aischylos’ <?page no="287"?> 1.10 Botschaft und Wirkung sowie ein neues Bild domestizierter ethnischer Alterität 273 nig vermittels des Chores habe sogar bei dem Athener Publikum Mitleid mit dem Großkönig ermöglicht (2009: 375). 222 Gegen diese Spekulation spricht ganz elementar, daß der Chor, der als Binnenrezipient eine eminente Rolle bei der Rezeptionssteuerung spielt, keinerlei Mitleid mit Xerxes bekundet, ja nicht einmal selbst walten läßt, da er ihm gegenüber unverhohlen die Verluste beklagt. 223 Weiter meint Hopman, die Trauer des hellenisierten Chores habe den Athenern die eigenen Verluste ins Gedächtnis gerufen und ein Mit-Leid ermöglicht (2009: 374). 224 Abgesehen davon, daß nicht sicher ist, ob die Erinnerung an die eigenen Verluste nicht eher zu einem erneuten Aufwallen der Feindseligkeiten geführt hätte, vertraut Hopmans Argumentation literarisch allenfalls auf die Suggestiv-, ja Sogkraft der theatralischen Mimesis, die einen anderen Ort als die vorgenannten, den fernen Palast des Großkönigs in Susa, vor Augen führt. Grethlein geht sogar so weit, daß er die szenische Distanzierung durch die Verlegung der Bühne nach Susa ins Lager („camp“) der Perser als Voraussetzung dafür ansieht, Aristoteles’ Theorie, Mitleid und Furcht setzten die richtige Mischung von Nähe und Distanzierung voraus (Rh. 1383a 8-12; 1386a 24-26), 225 auf die Perser anzuwenden (2010: 87 f.). 226 Uns interessiert hier die zweite Stelle, an der es um 222 Daß Aischylos die Sympathie des Athener Publikums für Xerxes dadurch gefördert habe, daß er selbst den Großkönig gespielt habe (McCall 1986: 46), bleibt dagegen eine Spekulation im Bereich der historischen Inszenierung. 223 Auf die Wichtigkeit der Bühnenkonstellation für die Rezeption im Falle des Mitleids hat bereits Jonas Grethlein, Die poetologische Bedeutung des aristotelischen Mitleidbegriffs. Überlegungen zu Nähe und Distanz in der griechischen Tragödie. Poetica 35 (2003) 41-67, h. 47 anhand der Asyltragödien hingewiesen: „So, wie die Tragödie Mitleid beim Publikum hervorruft, ist der Supplikant bemüht, das Mitleid des potentiellen Helfers zu erregen.“ 224 Noch weiter in der Aufhebung der Unterschiede geht Kuhns’ ahistorische Universalisierung (1991: 11): „The Persians […] is a representation of a universal expression of grief over the disappearance of a city’s young men.“ 225 Näheres s. Grethlein 2003a. 226 Daß Phrynichos wegen der Darstellung von in der laut Herodot zu einer Geldstrafe verurteilt worden war, während Aischylos mit der Trilogie, der die Perser angehörten, den ersten Platz gewann, so Grethlein weiter (2010: 87 f., vorsichtiger ist Grethlein 2007: 377, der bei allgemeinen Rezeptionsfragen bleibt), besagt nur allgemein rezeptionsästhetisch etwas über Miß- oder Gefallen des historischen Publikums, nicht aber über dessen Mitleid, es sei denn, man essentialisiert das aristotelische Tragödienverständnis regelpoetisch. Auch Grethleins eigentliche Argumentation, warum Mitleid bei den Emotionen nicht ausgeschlossen werden könne, welche die Perser beim Athener Publikum wahrscheinlich geweckt hätten (diesen rezeptionsästhetischen Kausalnexus formuliert er beim Fazit zu Recht sehr vorsichtig [2010: 92]), bzw. warum die Tragödie dem Athener Publikum Anlaß zur Empathie gegeben habe (2010: 88), beleuchtet zwar wichtige und sachlich richtig verstandene Aspekte (er selbst läßt das Gegensatzpaar Nähe vs. Distanz fallen, doch heben die meisten Argumente auf eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den dargestellten Besiegten und zuschauenden Siegern ab), doch bleibt deren Aussagekraft für die These gering, daß unser Stück Mitleid geweckt habe. Das schwächste Argument ist das zweite, die Perser seien in einem Rahmen aufgeführt worden, der gewöhnlich Mitleid hervorgerufen habe. Denn hier wird abermals das philosophische, frühestens ein halbes Jahrhundert nach der Aufführung der Perser niedergelegte Tragödienverständnis essentialisiert (pace Gorgias DK 82 B 11.9, den Grethlein 2003a: 41 Anm. 2 noch bemühen kann, für Platon s. 7.1 Forschungsstand und Problemstellung in der Interpretation von Senecas Phaedra). Die anderen Argumente sind eher geeignet, einen essentialistisch-antithetischen Orientalismus zu widerlegen oder zumindest zu nuancieren, als Mitleid als Wirkung zu beweisen, so das in diesem Zusammenhang bemühte goldene Geschlecht <?page no="288"?> 274 das Mitleid geht. Dies empfinde man, so der Stageirit dort, mit Menschen, die einem nach Alter, Charakter, Gewohnheiten, sozialer Stellung und nach Abkunft ( ) ähnlich seien. Indes unterscheidet sich das persische Personal der Tragödie mit Ausnahme des Alters in jedem Punkt von seinem Publikum. Einschlägiger sind Aristoteles’ Ausführungen zum Mitleid in der Poetik, wo sie auf die Tragödie selbst gemünzt sind (1453b 17-22). Dort schließt er Mitleid für den Fall aus, daß Feinde einander schweres Leid zufügten, und empfiehlt dagegen Fälle, in denen Verwandte einander töteten oder nach dem Leben trachteten. Aristoteles formuliert also exakt die gegenteiligen zu den in den Persern vorliegenden Konstellationen als negative oder positive Bedingung des Mitleids: Dort stirbt kein Blutsverwandter von der Hand eines anderen, vielmehr zahlreiche Feinde von der Hand ihrer Feinde. Zudem schafft die (lokale) Distanzierung mit der unmittelbaren Nichtbetroffenheit nur eine notwendige Voraussetzung für Mitleid, ist aber keine hinreichende Bedingung für diese Empfindung. Denn diese szenische transgressive Situierung fungiert auch umgekehrt faktisch als dramaturgisches Mittel, das dem Athener Publikum den geschlagenen Feind in Lumpen und auf dem Tiefpunkt seiner Niederlage vorführt, ein Anblick, der ihm in der Realität durch die Rückkehr des Großkönigs nach der Schlacht von Salamis nicht vergönnt war, auch wenn in solchen Triumphgelüsten sicherlich nicht der Grund für die Verlegung der Bühne nach Susa zu sehen ist. 227 Conacher sieht eine ähnliche präsentative Funktion der Dramaturgie, wenn er in Xerxes’ Auftritt, der durch die Bühnenverlagerung ermöglicht worden sei, ein Mittel erblickt, sein Leiden zu vergegenwärtigen; doch steht dieses für ihn im Dienste der tragischen Erfahrung (1996: 7 f.). Wenn Conacher dort weiterhin schreibt, dank der Szenenverlagerung werde Xerxes mit persischen Augen und Gemütern wahrgenommen, so gilt dies nur auf der mimetischen Ebene des signifiants der Rollen, welche die Schauspieler verkörpern, widerspricht jedoch auf der Ebene des signifié, der ethischen Rolle, Hopmans These von der Hellenisierung bei der politischen Kultur des Chores. Wegen der theatersemiotisch unterschiedlichen Gegenstände der Aussage besteht also kein unüberbrückbarer Widerspruch zwischen den beiden sympathetischen Positionen. Ihre fehlende Einheitlichkeit läßt gleichder Perser (2010: 88). Eher die Unterschiede, die für das Scheitern der Transgression maßgeblich sind, betont dagegen das unterjochte Schwesternpaar, das Grethlein als nächstes anführt. Die Gnomen, die den Hauptteil von Grethleins Argumentation bilden (2010: 89-92) und an denen er wichtige Erkenntnisse entwickelt, binden das Geschehen ins Allgemein-Menschliche ein und immunisieren die Perser so gegen jeglichen Verdacht der Dehumanisierung des Gegners, schaffen aber durch diese abstrakte Einordnung auch eine Distanz, die eine individuelle Anteilnahme erschwert (vgl. den Konsolationstopos bei Epict. Ench. 26). Tatsächlich finden sich sämtliche Gnomen, die Grethlein bespricht, vor der emotionsgeladenen Interaktion von Chor und Xerxes im Teil, welcher die Eliminierung interpretiert. Insgesamt runden all diese Beobachtungen das Bild der memoria, dessen Spezifik Grethlein in den Persern herausarbeitet (2010: 95, 97), wertvoll ab und bereichern so die Fragestellung der Untersuchung, für die dieser gegenüber (wie übrigens auch für die Transgression) allenfalls sekundäre Frage nach der Emotion des Primärpublikums sind sie jedoch nicht einschlägig. 227 Ebenso schließt Thalmann 1980: 269 als Beweggründe für Xerxes’ Präsentation in Lumpen aus, die tragische Würde zu vermindern und den besiegten Feind lächerlich zu machen. 1. Aischylos’ <?page no="289"?> 1.10 Botschaft und Wirkung sowie ein neues Bild domestizierter ethnischer Alterität 275 wohl die Präsentation des geschlagenen Feindes vor dem siegreichen heimischen Publikum als entscheidendes, historisch zweifelsfrei feststehendes Moment hervortreten. Gegen eine identische Rezeption der mimetisch dargestellten Perser und des Athener Publikums liefert Xerxes’ Vollendung eines vom Chor begonnenen Kommentars zur Niederlage, das Unglück sei doppelt und dreifach betrüblich, aber ein Grund zur Freude für die Feinde (v. 1033 f.: XO.: / : ’ ), ein massives textinternes Gegenargument, das eine innerdramatische Rezeptionslenkung vornimmt. 228 Daß der Text nur den objektiven Anlaß benennt, spricht allerdings gegen Harrisons naive Formulierung, die eine direkte Kommunikation zwischen Tragiker und Publikum suggeriert (2000: 55: „Devastation for the Persians is delight for the Greeks, as Aeschylus even hints to his audience.“). Auf sichererem, binnendramatischem Boden bewegt sich die Interpretation, daß die Trauerrituale eine Katharsis der dargestellten Figuren ermöglichen und so die Überwindung der psychosozialen Krise sowie die Wiederherstellung der psychischen und sozialen Ordnung innerhalb der Tragödie fördern. 229 Selbst der Dionysosmythos ist in den Persern politisiert: Das Achaimenidenreich wird im Trauerritual wiedergeboren. Die innerdramatische Perspektive scheint mir auch in bezug auf die beiden aristotelischen emotionalen Reaktionen auf die Tragödie fruchtbarer, auch wenn der Stageirit wie Hopman rezeptionsästhetisch argumentiert. Hopman hebt dabei nur auf den ab (2009: 374): Der Chor der Alten leide unverdientermaßen, da er nicht für die Invasion Griechenlands verantwortlich sei, und erfülle damit ein maßgebliches Kriterium für das Mitleid nach Aristoteles (Rh. 1385b 13-16: ; vgl. Poet. 1453a 5: ). Deshalb könne das Athener Publikum im Kommos mit ihm Mitleid empfinden, zumal er noch andere aristotelische Kriterien in der zitierten Passage der Rhetorik erfülle, wie Distanzierung und auch gleichzeitige Nähe durch die griechische Praxis der Redefreiheit. Hopman differenziert hier fein gegenüber ihren Vorgängern. So hatte bereits Harrison 2000: 111 nach Pelling 1997: 16 f., der auf Xerxes’ Fremdheit und verdientes Leiden abhebt, was das Mitleid schwäche, die beiden zitierten Aristoteles-Passagen für die Interpretation der Perser herangezogen und hatte die gegenteilige Einschätzung zitiert, die Opfer seien schuldig, was, wie zu zeigen, uneingeschränkt auf Xerxes zutrifft. Daß Harrison und Hopman 228 Euripides’ Medea ist ein markantes binnenrezeptionsästhetisches Beispiel dafür, daß dieselbe physische Eliminierung von Menschen, die den Opfern neutral bis positiv gegenüberstehen, als schrecklich wahrgenommen wird, während sie einer Figur, die - wie die Athener - massiv unter den Opfern gelitten hat, Freude bereitet (s. 3.5 Gender, Inversion und Perversion in der Interpretation dieser Tragödie). 229 Zu dieser Funktion des Rituals s. Christof Kalb, Selbstbildung im Leiden. Zur Rekonstruktion beschädigter Identität in Ritual und Kunst. In: Claudia Benthien, Irmela Marei Krüger-Fürhoff (Hgg.), Über Grenzen. Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik. Stuttgart 1999, 161-175, h. 163. Vgl. weiterführend Burckhard Dücker, Rituale. Formen - Funktionen - Geschichte. Eine Einführung in die Ritualwissenschaft. Stuttgart 2007, 61 („rituelle Gemeinschaftserfahrung“). Bereits Kuhns 1991: 27 sieht das (gemeinsame) Jammern als Mittel, um eine andere politische Zukunft zu erkunden. <?page no="290"?> 276 sich auf dieselbe rezeptionsästhetische Beobachtung des Aristoteles berufen, zeigt, auch wenn sie zu diametral verschiedenen Ergebnissen gelangen, die Relevanz des Kriteriums der Berechtigung, das auch die Transgression in den Mittelpunkt rückt. Damit ist auch die Position dieser Arbeit zum Orientalismus vorgezeichnet. Sie beruht eher selten auf einem harten sachlichen Dissens, sondern berührt den status qualitatis: fecit, sed iniure ist das Urteil der Tragödie über den Protagonisten. Demgegenüber scheint die historische Sachlage das gegenteilige Urteil fecit, sed iure über den Tragiker nahezulegen. Unbeschadet der Richtigkeit von Hopmans feinen, aber in ihrer bühnenpragmatischen Wirkung nicht nachprüfbaren Spekulationen über Nähe und Ferne erheben sich zwei Bedenken gegen diese These: Erstens hat der Chor in der Parodos sich zwar nicht kriegstreiberisch und siegeslüstern verhalten oder in Selbstüberschätzung geschwelgt, aber dennoch loyal und emotional an dem Kriegszug Anteil genommen, so daß eine spätere Distanzierung von dem Kriegsherrn eher auf ein emotionales und vektorales Nullsummenspiel hinausläuft. Zweitens zeigt er im Kommos weitgehend bloß Gesten eines Trauerrituals, die der uneinsichtige anordnet. In seinem Falle erlebt nach der Darstellung der Tragödie ein Schlechter einen Umschlag vom Glück ins Unglück, eine Handlungsstruktur ( ), die nach Aristoteles ist, aber weder Jammer noch Schauder erweckt (Poet. 1453a 1-4). (Da Xerxes ein törichter jugendlicher Heißsporn und kein ist, der getäuscht wird, ist sein Schicksal nicht zugleich und [Poet. 1456a 21- 23].) Die einzigen Figuren, die in den Persern geeignet sind, Mitleid und Mitgefühl zu wecken, sind die jugendlichen anonymen Opfer der großköniglichen Hybris. Doch ein näherer Blick auf ihre Darstellung vermag sämtlichen eher textfernen, feingesponnenen Spekulationen über Mitleid mit den Persern den Boden zu entziehen: Denn mit Ausnahme des Großkönigs, welcher der Hauptkriegstreiber war, tritt kein geschlagener Schlachtenheimkehrer in mitleidserregender Verfassung auf. Die Verluste werden vielmehr in die Diegese abgeschoben, die Trauer der Angehörigen im Falle der jungen Witwen seltsam verfremdet, ja erotisiert. Umgekehrt hat keine der hochrangigen Bühnenfiguren, weder Atossa, die sogleich mit der Gewißheit der Niederlage diejenige erhält, daß ihr Sohn lebt (v. 299), noch der Chor oder Xerxes - anders als die meisten Zuschauer - einen Angehörigen auf dem Feldzug verloren (dieser Umstand und Unterschied spricht massiv gegen Hopmans eingangs diskutierte These vom Überspringen der Trauer auf das Publikum) und betrauert diesen Verlust. Doch erst dies würde ihn zu einem glaubwürdigen Gegenstand von Mitleid machen. Beklagt wird zudem weniger der Verlust von Menschen als derjenige von staatlich-militärischen Machtmitteln (v. 1016-1024). Die langen namentlichen Aufzählungen der zahlreichen Gefallenen (v. 302-330, 955-1001) vermögen trotz ihres klagend-vorwurfsvollen Tons ebensowenig wie die zahlreichen Gefallenen in der Ilias Mitleid zu erwecken, da der Rezipient kaum Zeit hat, um sich mit ihnen anzufreunden, und sie dafür auch nicht das erforderliche persönliche Profil erhalten. (Diese Voraussetzungen für Mitleid sind in der Ilias nur bei Hektor und Achill gegeben.) Die staatliche und quantitative Dimension der Verluste bewahren die Trauernden zwar einerseits vor einer Lächerlichkeit, die aus einem 1. Aischylos’ <?page no="291"?> 1.10 Botschaft und Wirkung sowie ein neues Bild domestizierter ethnischer Alterität 277 allzu geringen Objekt der Trauer entspringen könnte, das seinen Wert nur einer Fehleinstellung des Trauernden verdankt, 230 und die orientalistisch ausgedeutet werden könnte. Andererseits entziehen sie auch dem Mitleid jede Grundlage. Da diese Wirkung im ‚kalten‘, unpersönlichen staatspolitischen Gegenstand der Trauer begründet ist und unabhängig von historisch kontingenten Revanchegelüsten des Primärpublikums ist, da dieser in den Text und die Dramenhandlung eingeschrieben ist, bleibt das Mitleidspotential der Perser auch gegenüber einem unvoreingenommenen Publikum beschränkt. Anders verhält es sich mit der Empathie, die Grethlein ins Spiel bringt (2010: 88). Durch die mimetische Präsentation der vormaligen Feinde als Menschen mit Gedanken und Gefühlen, die in eine gemeinsame theonomische Weltordnung eingebettet sind, legen die Perser deren Innenleben frei und laden nachgerade zum spontanen Nachempfinden und Einfühlen ein. Dieser identifikatorische Nachvollzug ist jedoch etwas anderes als Mitleid, das zumindest Nichtidentität und ein gewisses Maß an reflexiver Verarbeitung voraussetzt, was letztlich auch Aristoteles’ Kasuistik über sein Entstehen impliziert. Verläßt man den Bereich positiver personaler Empfindungen und geht auf die Ereignisebene, so wird man zu dem Ergebnis gelangen, daß Erschütterung ob der Entvölkerung eines ganzen Erdteils durch die Torheit eines einzelnen die Emotion ist, die das Bild, das die Tragödie von den Ereignissen zeichnet, am ehesten bei einem unbefangenen Rezipienten auslösen kann. Doch die Erschütterung gehört bereits zu , unserem nächsten Thema. Der , der doch durch die von Hopman geschilderte historische Situation wesentlich näher liegt, bleibt dagegen bei ihr außen vor. Dabei ist angesichts des soeben ausgeführten historischen Umfeldes der Aufführung die plausibelste denkbare Reaktion des Publikums eine gewisse Genugtuung über die Niederlage eines übermächtigen Feindes, der eine existentielle Bedrohung darstellt(e). 231 Nur wer diese ausblendet und sich in einer post- oder neokolonialen Sicherheit wiegt, die den ethnisch und kulturell Anderen implizit-unreflektiert als politisch und militärisch permanent unterlegen wahrnimmt, 232 kann auf den Gedanken verfallen, in den Schilderungen der persischen Niederlage der Perser einen ethnozentrischen Chauvinismus zu sehen. 230 Bei Molière sei etwa an die Suche Harpagons in L’Avare nach seiner Geldkassette (Akt 4, Szene 7), deren tatsächliche Wertlosigkeit die komische Verwechslung mit einer Geliebten offenbart (Akt 5, Szene 3), oder an Arnolphes Sorge in L’école des femmes um das Mädchen Agnès erinnert (v. 309-370), das er sich zur Heirat großgezogen hat, um nicht Opfer eines Ehebruchs zu werden (v. 73-156). 231 Die Wahrnehmung dieser existentiellen Bedrohung steht letztlich hinter der Darstellung griechischer Historiker, die Griechen seien die außenpolitische Priorität des Achaimenidenreichs, die Harrison 2000: 59 f. als Selbsttäuschung und widersprüchlich abtut. 232 Selbst Halls Analyse der Gründe für die Defizite, welche die Erforschung des Orientalismus der Perser aufweise, zeigt, mit welchen hier nicht zu diskutierenden aktuellen Fragestellungen und Herausforderungen die Interpretation der Darstellung ethnisch-kultureller Alterität in den Persern überfrachtet zu werden droht (1989: 72 f.): „In an era which must see the fight against racism and nationalism as crucial to the survival of mankind, there may have been a reluctance to spend time on this artistic expression of one of the most unattractive aspects of classical Greek ideology, its arrogant and insistent chauvinism. But the Greek mind will never be understood unless its faults are accepted alongside its virtues […].“ <?page no="292"?> 278 Wie dem auch sei, können die Merkmale in der Darstellung der Perser, die Hopman aufgreift, wenn man sie gut strukturalistisch ohne schematisierenden Orientalismus in Relation zu dem Bild der Griechen setzt, zu einem besseren Verständnis des Stückes beitragen. Daß der sich mit panhellenischem oder Athener Ausdruck von Sehnsucht und Verlust decke, mag stimmen, läßt sich jedoch nicht im Text der Perser wiederfinden. In der Fremdperspektive werden vielmehr die griechischen Verluste ausgeblendet und die griechischen Waffentaten und Einrichtungen in ein gleißendes heroisch-verfremdendes Licht getaucht. 233 Umgekehrt deckt sich das Bild der Perser so gar nicht mit den Erfahrungen der Perserkriege: Statt einer unübersehbaren Masse von Pfeilen, Speeren (v. 269, 278, 1025) und Rammspornen, die alle zum Angriff auf die Griechen gerichtet waren, und eines Unterwerfung reklamierenden absoluten Potentaten erscheinen nun Alte, welche die Sehnsucht junger Frauen nach ihren im Felde stehenden Männern - bereits Conacher 1996: 20 f. weist auf die kontrastive Schilderung von Kriegern und zarten Frauen hin (v. 132-139) - und die Trauer über deren Verlust referieren (v. 541-545), eine Königinmutter, die einen verstorbenen Großkönig mantisch auf den Plan ruft, und zum Schluß dieser selbst in zerrissener Kleidung, der von Vater und Kronrat für das Debakel verantwortlich gemacht wird und sich mit diesem zur abschließenden Klage vereint. Im Gegensatz zur diegetischen Anonymität der nur kollektiv evozierten Griechen, die gerade im heroisierenden Lichtkegel der Fremdperspektive gleißend erscheinen, verleiht das Drama auch dank den Konventionen der Aufführungspraxis mit Masken - entsprechend der griechischen Ambivalenz von (s. 2.5 Zum Ort der Mimesis: Maske und Rolle in der Einleitung) - dem geschlagenen Gegner ein Gesicht (vgl. Griffith 1998: 63). Zusätzlich zu dieser differenzierenden Figuren- und Verhaltenszeichnung kommt im Falle des Kommos ein formal-ästhetisches Moment: Dieser bietet durch das Zusammenspiel von Wort, Gesang und Tanz ein optisch-akustisches aisthetisches Vergnügen. Ja, selbst der Ionicus in der Parodos, der nur unter dem Aspekt der Abgrenzung von der Forschung in den Blick genommen wurde, münzt die ethnischkulturelle Alterität zur neuen ästhetischen Erfahrung um. Die Verlegung der Bühne nach Susa erlaubt also nicht nur eine differenzierte und (vermittels der Trauer) humanisierte Sichtweise auf den vormaligen Feind, sie stärkt auch, wenn man die komplementär konträre Darstellung der Griechen und die historische Situation einer massiven erlittenen, mit Mühe abgewehrten und immer noch virulenten militärischen Bedrohung Griechenlands in Rechnung stellt, die (Kampf-)Moral der Adressaten. Denn welche Furcht sollte ein Grieche vor einem Feind empfinden, der die Blüte seiner waffenfähigen Männer verloren hat, seine daraus folgende Wehrlosigkeit beklagt (v. 1023 f.) und sich demoralisiert der Trauer über seine bittere Niederlage hingibt und dessen Herrscher von seinen Eltern als unbesonnener jugendlicher Heißsporn abqualifiziert wird? Der leere Köcher des Xerxes (v. 1020, 1022) korreliert mit der Männerleere ( - 233 Pelling arbeitet mit einem impliziten literaturwissenschaftlichem Strukturalismus heraus, daß die Griechen mit dem (Tages-)Licht, die Perser dagegen mit der Dunkelheit assoziiert werden (1997: 2-6). 1. Aischylos’ <?page no="293"?> 1.10 Botschaft und Wirkung sowie ein neues Bild domestizierter ethnischer Alterität 279 ) in v. 730 (Atossa), die der Chor bereits vor der Gewißheit von deren Eliminierung lokal konstatierte (v. 119: ’ ) und der Leere Asiens (v. 549: ). 234 Die nautische militärische Stärke der Ionier ist dagegen nicht nur Vergangenheit (v. 950-954). Vielmehr werden sie noch im Kommos zeitlos ohne Kopula im Anschluß an die Feststellung des persischen Ressourcenverlustes als tapfer gegen die typisch persischen Waffen bezeichnet (v. 1025: ). 235 Diese Schilderung ist auf jeden Fall Balsam für die eigene Kollektivseele, bei der die historischen Fakten ein konfrontatives Denken und Fühlen nahelegen. Weiterhin klingt in diesem Gefälle und dieser Stammesnennung zumindest die Befreiung der ionischen Griechen an, die im attisch-delischen Seebund Gestalt angenommen hatte. 236 Man darf also in den Persern ohne megalomane Vorwegnahme des Alexanderzugs auch ein Element der Kampfparänese erblicken, 237 das bereits im Päan in v. 402-405 deutlich hervorgetreten war. An die verkehrte Ilias 238 von Ost nach West, welche die Völker des Ostens in frevlerischer Verletzung der Weltordnung vollführen, schlösse sich die Iteration der historisch und direktional korrekten durch die Griechen an, deren Ziel ja wie bei der Befreiung der kleinasiatischen Küste nur eine dort befindliche Stadt war. Daß die Griechen dabei über ihre Stamm(es)lande hinaus ins asiatische Festland ausgreifen und die Plünderung von Sardes wiederholen, auf die Dareios’ Befürchtung, die von ihm angesammelten Reichtümer möchten Plünderern anheimfallen (v. 751 f.), hinzuweisen scheint (schließlich fiel dieses Ereignis historisch in seine Regentschaft), bleibt angesichts der eliminatorischen Folgen der interkontinentalen Transgression, welche die Tragödie ausgemalt hat, wenig wahrscheinlich. 239 Abgesehen vom vorherigen Scheitern dieses Unterfangens liefert die Handlung der Perser übrigens ein weiteres Argument dagegen, die Leere Asiens infolge der Eliminie- 234 Dieser Verlust der bisherigen Sinnträger und Machinstrumente ermöglicht die innenpolitischkulturelle Neubestimmung Asiens im Kommos von Großkönig und Alten. Ein lexikalisch reizvoller Brückenschlag zu den Kenomen, die im dänischen Strukturalismus die inhaltslosen, phonologischen Sinnträger im Gegensatz zu den Pleremen bezeichnet, die auf der Inhaltsebene angesiedelt sind, ist jedoch aus inhaltlichen Gründen nur bei der asiatischen Erde möglich, die nun ein politisch-semiotisches Vakuum bildet, während die Männerleere nicht auf die leere Hülle, sondern das fehlende Element abhebt. 235 Ebenso kontrastiert Wilson 1986: 52 die wehrlose Männerleere Persiens mit Athens Situation, dessen Stadt geplündert ist, aber dessen Männer leben. 236 Vgl. Harrison 2000: 64. 237 Harrison 2000: 75 sieht nicht die beruhigende Suggestivkraft hinter der vermeintlich totalen Niederlage der Perser bei Aischylos, sondern wertet sie als hyperbolische Selbstberauschung und Selbstüberschätzung. 238 Zu den iliadischen Handlungselementen der „war story“ s. Hopman 2009: 364 Anm. 13. 239 So auch Harrison 2000: 109. Indes sieht er in der kontrastiven Schilderung der militärischen Stärke sogar die bevorstehende Zerstörung des Achämenidenreichs, eine These, die er mit Dareios’ Angst vor Plünderern und den Komposita mit ‚Gold‘ als erstem Bestandteil untermauert (2000: 73 f.). Daß diese eben nicht zusammen mit der militärischen Schwäche des Perserreichs im zweiten Teil erscheinen, spricht nicht dafür, daß die Schilderung des Reichtums wie die weltlichen Güter, die Papst Urban II. in seinem Aufruf zum ersten Kreuzzug in Aussicht stellt (Dana Carleton Munro, The Speech of Pope Urban II. At Clermont, 1095. The American Historical Review 11 (1906) 231-242, h. 239), das Bühnenpublikum zum Plünderzug nach Osten aufstacheln soll. <?page no="294"?> 280 rung des Zwangssignifikators als eine Einladung zu imperialistischer Okkupation und semiotisch-kultureller Neubeschreibung zu lesen: Diese Neuausrichtung erfolgt bereits dadurch, daß die innenpolitischen Verhältnisse mit rituellem Resultat neu ausgehandelt werden. 1.11 Fazit und Ausblick Abschließend bleibt festzuhalten, daß Aischylos’ Perser kein opulentes Historiendrama 240 vor orientalischer Kulisse, sondern eine politische Tragödie sind, die vor dem Hintergrund einer theonomischen Weltordnung spielt und nicht zuletzt daraus ihre existentielle und politische Aktualität speist. Auch wegen dieser Regelgebundenheit weisen die Perser bereits eine erstaunlich vollständige Typologie der Transgression auf. Sie reicht von der lokalen, territorialen wie mantisch-spiritistischen, über die kulturimperialistisch-semiotische bis zur normativkosmologischen und poetisch-intratheatralischen. Diese Formfülle wird freilich durch einen inneren Zusammenhang geeint. Alle Typen haben ein lokales Element oder werden, wie die beiden letztgenannten, darüber performiert. Diese Formen der Transgression werden in der weiteren Entwicklung des antiken Dramas transformiert und vom Lokalen abstrahiert, so die poetisch-metatheatralische, aber nicht durch weitere, grundsätzlich neue ergänzt. Das Stück spitzt seine zahlreichen Gegensätze (alt - jung, Grieche - Perser, König - Getreue) nicht zu einer unvermittelten Opposition zu, sondern läßt in der Binnen- und Bühnenpragmatik eine dialektische Vermittlung erkennen, etwa in Form der Pädagogisierung der Transgression als jugendliches Ungestüm oder der gemeinsamen Trauer von Großkönig und Alten. Auf dem Wege der konjunkturalen Grenzüberschreitung und ihrer eliminatorischen Folgen werden die systemischstrukturellen Grenzen so stark und umfassend wie in keiner späteren der hier besprochenen Tragödien affirmiert. Die Konfiguration von ethnisch-kultureller Identität und Alterität wird gut mit dem Saussureschen Zeichenmodell erfaßt: Beider Identität klärt sich in der Gegenüberstellung, doch die Zuordnung von signifiant und signifié ist nicht essentialistisch, sondern wandelbar (auch was die anfänglich aus griechischer Sicht vielleicht negativen Züge des anderen und dessen fortschreitende Hellenisierung betrifft). Es geht in den Persern nicht um die asymmetrische Kontrastierung zweiter Kontinente oder Völker als signifiants, sondern auf der paradigmatischen Achse um das kulturelle und v.a. politische signifié, den Vergleich von Demokratie und Monarchie. Er strukturiert den außenpolitischen Konflikt der erzählten und erforschten Handlung des Xerxesfeldzugs, aber auch den internen Konflikt nach der Niederlage. Dabei schält sich die Frage nach der politischen Verantwortung als die Achse heraus, um die das Stück kreist und organisiert ist. Diese Ausrichtung wird dadurch erreicht, daß das jugendliche Ungestüm des zu 240 Föllinger 2003: 241-248 diskutiert differenzierend-kritisch den Status der Perser als historisches Drama. Diese Einstufung ist bei ihr jedoch dadurch gerechtfertigt, daß der sonst übliche mythologische Stoff der griechischen Tragödie der Abgrenzung dient, also eine weitergefaßte Kategorie als die politische Tragödie, die hier zur Debatte steht. 1. Aischylos’ <?page no="295"?> 1.11 Fazit und Ausblick 281 keiner Rechenschaft verpflichteten individuellen Monarchen, der absolut über seine Untertanen gebietet, während sich im siegreichen Athen der Demos frei regiert, in der Ursachenforschung noch dem Komplex de tragischen Scheiterns und der damit verbundenen göttlichen Einwirkung vorgeschaltet wird. Die Perser sind damit gewiß keine dramatisierte Verfassungsdebatte, wie Herodots rund 50 Jahre später verfaßte Historien sie nach Kambyses’ Beseitigung sich in Persien abspielen lassen (3.80.1-83.2), überwinden jedoch - wie die Orestie erst am Ende der Trilogie - die Tragik zugunsten innerweltlicher Erklärungen und Lösungen für die militärische Katastrophe. Dabei spielen zwei Rituale, die Nekromantie des verstorbenen Großkönigs Dareios und der gemeinsame Kommos des in Lumpen heimgekehrten Xerxes mit dem Chor der Alten eine entscheidende Rolle. Dramaturgisch zukunftsweisend werden diese religiös-rituellen Praktiken als Intratheater dargestellt. Die Dynamik des heißdiskutierten Spiels mit der ethnischen Alterität läßt sich am besten mit dem Alexander-Dareios-Mosaik im Neapolitaner Museo Nazionale vergleichen: Unter den Pferden, die den Wagen des Dareios ziehen, liegt dort ein durch seine Mütze als Perser gekennzeichneter Krieger. Wie in den Persern hat den Krieger also der eigene Herrscher auf dem Gewissen. Für die Alteritätsforschung höchst aufschlußreich ist ein anderer Umstand: Der persische Krieger duckt sich unter einen griechischen Schild, in dem sich sein Gesicht spiegelt. 241 Die Identität des ethnisch Anderen ist also nur in der griechischen Wahrnehmung bzw. Darstellung gegeben. Militärischer Sieg und perzeptive Aneignung gehen dabei Hand in Hand, was dramengeschichtlich auch daran augenfällig wird, daß Xerxes’ Zelt, das die Griechen in Plataiai erbeutet hatten, in Athen seit der Aufführung von Phrynichos’ Phoinissai bis zur Errichtung der dauerhaften Skene als Prospekt gedient habe (vgl. v. 1000 f.: / - ). 242 Frei nach Stendhal 243 könnte man an die Mosaikszene eine ethnographische Ästhetik der Tragödie knüpfen: Die Tragödie Perser ist ein Spiegel, der im Land des ethnisch Anderen umherwandert. Stendhals Spiegel und Xerxes’ fahrbares Zelt in den Persern selbst weisen mit der Bewegung eine bemerkenswerte Parallele zur Transgression in den Persern auf, bei Xerxes’ Zelt und dem Dareios-Mosaik kommt noch das Überschreiten der Grenzen zum Anderen hinzu, wobei die beiden Operationen durch ihre gemeinsame ästhetischliterarisch explorative Funktion die Abgrenzung von bildender Kunst und Literatur überwinden, was die implizite Poetik von Xerxes’ Zelt und Stendhals Spie- 241 Herrn Dr. Jost Eickmeyer (Heidelberg) danke ich hiermit ganz herzlich für den freundlichen Hinweis in situ auf die Relevanz dieses Details für die Interpretation der Perser. 242 So Oscar Broneers These (The Tent of Xerxes and the Greek Theater. University of California Publications in Classical Archaeology. Vol. I, No. 12. (1944) 305-312, h. 307 f.), die Leslie Kurke (The Cultural Impact of (on) Democracy. Decentering Tragedy. In: Democracy 2500? Questions and Challenges. Ed. by Ian Morris and Kurt Raaflaub. Archaeological Institute of America. Colloquia and conference papers 2. Dubuque 1998, 155-169, h. 164-166) für ihre These bemüht, das gemeinsame Spezifikum der attischen Tragödie und der imperialen Polis Athen liege in der Aneignung des Anderen. 243 Un roman : c’est un miroir qu’on promène le long d’un chemin. (Le Rouge et le Noir I 13, S. 417) Un roman est un miroir qui se promène sur une grande route. (Le Rouge et le Noir II 19, S. 671). s , <?page no="296"?> 282 gel programmatisch tun. Grenzen werden also künstlerisch nicht bloß verletzt, sondern überwunden, der Weg zur Aneignung des Anderen freigemacht. So schreitet in den Persern, ausgehend von der Theologie, die Hellenisierung wie bei Alexander zum Politisch-Kulturellen fort und bietet trotz vieler politischer Implikationen ein offenes Ende, auch wenn die innerdramatische Personenkonstellation eine neue Ordnung gefunden hat. Gefördert wird diese paradigmatische Transzendenz durch den transgressiv-metatheatralischen Charakter von Xerxes’ fahrbarer Bühne, die das eingangs erwähnte explorative Potential des dramatischen Spiels ausschöpft: Die Tragödie definiert sich mit dieser ambivalenten Autoreferenz als Thespiskarren im Land des Anderen. Gegen Harrison, der in seinen Schlußworten nicht nur vor vorschneller Identifikation mit den Persern warnt, sondern dieses Drama auch gewissermaßen nicht ad usum Delphini freigibt (2000: 115), 244 muß festgehalten werden, daß Aischylos’ Tragödie - allein durch das komplexe Spiel, das sie mit semiotischer Distanzierung und Identitätsstiftung sowie Differenzierung im ethnisch Anderen entfaltet - diesem wesentlich mehr Gerechtigkeit widerfahren läßt als die meiste orientalistische Kritik ihr. Eher verborgen unter der politischen Pädagogik und eingebettet in die üppige Emotionalität des Dramas ist eine Grenzüberschreitung, die wegweisender für die griechische Tragödie und Geistesgeschichte werden sollte als die ebenfalls politisch pädagogisierende und bereits odysseische Nekromantie. Dies sind die Emotionen, die aus dem Inneren des Menschen durch die sprachliche Äußerung einer Figur nach außen dringen. Bereits in v. 10 meint der Chor ahnungsvoll: . In v. 991 bekundet Xerxes nach Bekanntwerden der Katastrophe seine Trauer: < > . Das Innenleben tritt so auf die Bühne und kann in seiner Angst- und Sorgengeprägtheit geschildert werden. 245 Euripides sollte diesen Weg mit Medeas introspektivem Entscheidungsmonolog fortsetzen. Daß die Bühne in den Persern nicht nur der Erkundung der ethnischen Alterität und eigenen Identität, sondern auch des Innenlebens dient, komplementiert die explorative Funktion der Transgression in dieser Tragödie und ist ein weiteres Argument gegen die orientalistische Lesart, sofern man nicht auf den durch die zitierten Verse freilich nicht wirklich zu rechtfertigenden Gedanken verfällt, hier werde orientalische Emotionalität 246 exhibiert. 244 „The Persians then is not a work with which we can, or should, identify too readily. It is not a play that could be performed - to a liberal audience, at least - without blatant anachronism or a chilling detachment.“ 245 Bohrer 2009: 242 verweist hierfür auf v. 115, wo der Chor singt: , v. 161, wo Atossa sagt: (Bohrer übersetzt hier „Furcht“) und v. 290 f. ( / ). 246 Sie zählt freilich nach Hall 1989: 80 zu den Fehlern, welche den Persern zugeschrieben werden. 1. Aischylos’ <?page no="297"?> 2. Sophokles’ König Oidipus: Transgression, Hermeneutik, Kontingenz und poetische Mimesis . (Heraklit DK 22 B 93) 2.1 Einleitung: Bisherige Interpretationen und der vorliegende Ansatz Sophokles’ König Oidipus ist seit Aristoteles der klassische Vertreter der (antiken) Tragödie. Von der Antike bis in die Moderne hat dieses Drama die Interpreten herausgefordert und eine Vielzahl und Vielfalt von Deutungen erfahren, auch außerhalb des Kreises der klassischen Philologie. 1 Angefangen mit Aristoteles’ Untersuchung der Handlungsstringenz über stoische und peripatetische Diskussionen der Willensfreiheit, die an dieser Tragödie festgemacht wurden, reicht die Reihe bis in die moderne Philologie, Alte Geschichte und Kulturgeschichte. Die folgende Interpretation greift exemplarisch etliche herausragende, möglichst aktuelle Vertreter der verschiedenen Ansätze heraus: Gut vertreten sind im weitesten Sinne historische, die auf Gesellschaft und Kultur abheben, so ein religionspolitischer, 2 soziopolitischer, 3 zivilisationsgeschichtlicher 4 und ritualstrukturalistischer. 5 Die Psychoanalyse, die bereits der Altmeister dieser Disziplin auf den OT in Anschlag brachte, 6 rückt dagegen Familie und Individuum in den Mittelpunkt. Zu seinem Recht verhilft ihm die existential-anthropologische Lektüre. 7 An diesen Ansatz schließen sich der aristotelisierende philo- 1 Peter Szondi, Versuch über das Tragische. Frankfurt a.M. 2 1964, 65-70. Richard B. Sewall, The Vision of Tragedy. Tragic Themes in Literature from the Book of Job to O’Neill and Miller. New York 3 1990, 25-43, der durch den Vergleich mit Hiob allerdings die Frage nach der Positionierung zum Leid und Schicksal sowie die Theodizee in den Vordergrund rückt. 2 Eric Robertson Dodds, On Misunderstanding the Oedipus Rex. In: Ds., The Ancient Concept of Progress and other Essays on Greek Literature and Belief. Oxford 1973, 64-77. Dodds’ Hauptverdienst ist die im Titel angekündigte Widerlegung kursierender Fehlinterpretationen dieser Tragödie. 3 Egon Flaig, Ödipus. Tragischer Vatermord im klassischen Athen. München 1998. 4 Jean-Pierre Vernant, Ambiguïté et renversement. Sur la structure énigmatique d’Œdipe-Roi (1972). In: Ds., Œuvres. 2 Bde. Paris 2007, Bd. 1, 1153-1181. Sein Œdipe à contretemps (1999). In: Ds., Œuvres. 2 Bde. Paris 2007, Bd. 1, 120-132 bietet dagegen eine Nacherzählung des gesamten thebanischen Mythos, die Sophokles’ Tragödie chronologisch und inhaltlich ergänzt oder ihr sogar widerspricht. Eine exakte Abgrenzung von Mythos und Tragödie in dieser Summa mythologica könnte hier Sophokles’ dramatische Kunst hervortreten lassen. 5 René Girard, La Violence et le Sacré. Paris 1972, Ndr. 1987, 102-129. Zum rituellen Ansatz gehört im weiteren Sinne auch Frederick M. Ahl, Sophocles’ Oedipus. Evidence and Self-Conviction. Ithaca 1991. 6 Sigmund Freud, Die Traumdeutung. Studienausgabe. Hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey. Bd. 2. Frankfurt a.M. 1 1972 = 10 1996, 260-269. 7 Karl Reinhardt, Sophokles. Frankfurt a.M. 4 1976, 104-144. <?page no="298"?> 2. Sophokles’ 284 sophiegeschichtliche 8 und (hegelianisch) philosophische 9 Standpunkt an. Der rezente schreckens- und erscheinungsästhetische 10 knüpft paradigmatisch an den existential-anthropologischen an. Bereits dieses schlaglichtartige doxographische Referat läßt erkennen, daß diese Ansätze per se weder untereinander noch mit demjenigen der vorliegenden Arbeit inkompatibel sind. Viele beleuchten schlichtweg verschiedene Aspekte, die alle in einem derart facettenreichen Dramentext wie dem Oidipus Tyrannos enthalten sind. Daß eine derart stark mimetische, praktische und öffentliche Gattung wie das Drama politische Strukturen und Kulturen widerspiegelt, welche die historischen Ansätze beleuchten, wird nicht verwundern. Daß man eine Handlung, in deren Zentrum mit Oidipus als Objekt oder Subjekt ein einziger Mensch steht, der diversen sozialen Kontingenzen ausgesetzt ist und mantisch im Dialog mit Apoll steht, unter dem Aspekt der Willensfreiheit oder zumindest zivilisationsgeschichtlich als Zeugnis für die Präzisierung von Konzepten der individuellen Kausalitätsattribution liest, ist ebenfalls per se nicht abwegig. Die skizzierten Lesarten sind - mit Ausnahme des schreckensästhetischen - nicht genuin literaturwissenschaftlich, tragen aber alle zum tieferen Verständnis dieses Sprachkunstwerks und seiner singulären Komplexität bei. Sie ist das Erkenntnisziel der vorliegenden poetisch-handlungsstrukturellen Interpretation. Der OT drängt sich aus mehreren Gründen für eine Analyse mit dem hermeneutischen Apparat der vorliegenden Untersuchung auf: Einmal ist diese Tragödie wirkmächtig von Aristoteles gedeutet worden, was eine Auseinandersetzung des hier vertretenen mit dem aristotelischen Tragödienverständnis und seinen modernen Fortsetzungen an einem konkreten litera