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Modellierung literarischer Kompetenz

Eine qualitative Studie im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I

0312
2014
978-3-8233-7848-8
978-3-8233-6848-9
Gunter Narr Verlag 
Ivo Steininger

Das Lesen und Verstehen literarischer Texte im Fremdsprachenunterricht kann als ,weißer Fleck' auf der kompetenzorientierten Landkarte im Bildungswesen bezeichnet werden. Zu vage sind die Kompetenzbeschreibungen in den Bildungsstandards, zu marginal ist die Rolle, die literarische Texte im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen spielen. Um diese Lücke zu schließen, bedarf es eines eigenständigen Modells literarischer Kompetenz, das Teilleistungen differenziert anführt. Die vorliegende Studie widmet sich dieser Zielsetzung und generiert ein Modell aus Daten der qualitativen Unterrichtsforschung im Englischunterricht der Sekundarstufe I.

<?page no="0"?> Ivo Steininger Modellierung literarischer Kompetenz Eine qualitative Studie im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik <?page no="1"?> Modellierung literarischer Kompetenz <?page no="2"?> GIESSENER BEITRÄGE ZUR FREMDSPRACHENDIDAKTIK Herausgegeben von Eva Burwitz-Melzer, Wolfgang Hallet, Jürgen Kurtz, Michael Legutke, Hélène Martinez, Franz-Joseph Meißner und Dietmar Rösler Begründet von Lothar Bredella, Herbert Christ und Hans-Eberhard Piepho <?page no="3"?> Ivo Steininger Modellierung literarischer Kompetenz Eine qualitative Studie im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0175-7776 ISBN 978-3-8233-6848-9 <?page no="5"?> Für Gisela Steininger <?page no="6"?> 6 <?page no="7"?> 7 Vorwort Der vorliegende Band ist die leicht gekürzte Fassung meiner Dissertation, die ich im April 2013 am Fachbereich 05 der Justus-Liebig-Universität Gießen eingereicht habe. Ohne die finanzielle Hilfe durch das Forschungsnetzwerk empirische Unterrichts- und Bildungsforschung am Zentrum für Lehrerbildung (ZFL) der Justus-Liebig-Universität Gießen wäre die Arbeit nicht entstanden. Bedanken möchte ich mich insbesondere für die erfahrene methodische Unterstützung und die Gewährung eines Doktorandenstipendiums. Danken möchte ich auch denjenigen, die durch ihre kritische und konstruktive Auseinandersetzung mit mir und dem Thema diese Arbeit qualitativ stets vorangetrieben und verfeinert haben. Mein herzlichster Dank gilt daher an erster Stelle meiner Doktormutter Frau Prof. Dr. Eva Burwitz-Melzer, die mit Umsicht, Einfühlungsvermögen und mit höchstem Maß an Kompetenz die Entwicklung vom ersten Entwurf bis zur Fertigstellung der Arbeit wohlwollend, freundschaftlich und förderlich beeinflusst hat. Bedanken möchte ich mich auch bei Herrn Prof. Dr. Michael K. Legutke, der die Zweitbetreuung der Arbeit übernommen hat und mir und meiner wissenschaftlichen Tätigkeit seit meinem Studium stets aufgeschlossen und inspirierend begegnet ist. Besonders zu Dank verpflichtet bin ich Herrn Prof. Dr. Lothar Bredella (†), der leider viel zu früh von uns gegangen ist, dessen wissenschaftliche Einsicht und theoretischer Weitblick, positiver Zuspruch und feinfühlige Auseinandersetzung mit mir und dem Thema der Arbeit jedoch tiefverwurzelt innewohnen. Mein Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Jürgen Quetz, dem ich wertvolle Anregung an wichtigen Punkten zu verdanken habe und dessen Anmerkungen mich stets motiviert haben, bereits Gedachtes erneut zu überdenken. Dankbar bin ich außerdem den Mitgliedern der Sektion Bildung, Erziehung, Sozialisation des Gießener Graduiertenzentrums Kulturwissenschaften (GGK) der Justus-Liebig- Universität Gießen, die stets interessante Perspektiven von außen in zahlreichen Gesprächen eröffneten. Hier gilt mein Dank besonders meinem Freund Herrn PD Dr. Olaf Hartung, der Fragen und Anregungen stets an richtiger Stelle platzierte. Ebenso möchte ich mich bei meiner Kollegin und Freundin Dr. Ann Kimes-Link bedanken, die mir über Jahre mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat. Mein Dank gilt auch und vor allem den Schulen, den Schulleiterinnen und Schulleitern, den Lehrkräften und allen Schülerinnen und Schülern, die mich am Unterricht ohne Scheu haben teilnehmen lassen, die den Fragen mit viel Offenheit und Interesse begegnet sind und ohne die eine Arbeit, die aus der Unterrichtsforschung entstanden ist, niemals hätte realisiert werden können. <?page no="8"?> 8 Inhalt 1. Grundlagen, Ausgangsbedingungen und Zielsetzung ................ 11 1.1 Zur Struktur der Studie ..................................................................................... 11 1.2 Zur Situation der fremdsprachlichen Literaturdidaktik ............................... 15 1.3 Kompetenzbegriffe und Kompetenzkonzepte ............................................... 19 1.4 Anmerkungen zum Stand der Forschung: Zur Begründung der empirischen Auseinandersetzung .................................................................... 21 2. Kommunikative Kompetenz: Arbeitshypothesen für die empirische Auseinandersetzung................................................... 24 3. Kommunikative Kompetenz 2.0: Fremdsprachenunterricht, Bildungspolitik und Skalen........................................................... 29 3.1 Kommunikative Kompetenz im GER ............................................................. 29 3.1.1 Zu Sprachbegriff und Kompetenzkonzept ............................................... 30 3.1.2 Zu Referenzniveaus, Skalen, kommunikativen Aktivitäten und dem Stellenwert literarischer Texte .................................................................... 33 3.2 Kommunikative Kompetenz in den Bildungsstandards............................... 39 3.2.1 Zu Sprachbegriff und Kompetenzkonzept ............................................... 40 3.2.2 Zum Stellenwert literarischer Texte in Kompetenzbereichen und Beispielaufgaben........................................................................................... 44 3.3 Zwischenfazit II: Konsequenzen für die Modellierung................................. 51 4. Lesen, Kommunikation und Kompetenz: Schnittstelle Lesekompetenz/ literarische Kompetenz ...................................... 54 4.1 Lesekompetenz ................................................................................................... 56 4.1.1 Lesen und Verarbeitung .............................................................................. 57 4.1.2 Lesen und large scale assessment: Die DESI-Studie................................. 62 4.1.3 Lesen und Kommunikation........................................................................ 68 4.2 Literarische Kompetenz im Unterricht ........................................................... 72 4.2.1 Ansätze der muttersprachlichen Literaturdidaktik ................................. 73 4.2.2 Ein Modell der fremdsprachlichen Literaturdidaktik............................. 78 4.3 Zwischenfazit III: Konsequenzen für die Modellierung ............................... 89 <?page no="9"?> 9 5. Erkenntnisinteresse und Forschungsdesign ................................ 91 5.1 Fachdidaktische und forschungsmethodologische Bezüge .......................... 92 5.2 Zum Ablauf der Untersuchung und zu den Datensätzen............................. 97 5.2.1 Zum Sample und den teilnehmenden Gruppen ...................................... 98 5.2.2 Zu Unterrichtsplanung und Lehrerfragebogen ....................................... 99 5.2.3 Zu Unterrichtsmitschnitten und Schülerprodukten............................. 104 5.2.4 Zu den Retrospektiven Interviews ........................................................... 105 5.3 Zu Datenanalyse und Modellbildung ............................................................ 107 5.4 Zur Präsentation und zur Reichweite des Modells ...................................... 112 6. Lese- und Verstehensleistungen in Unterricht und Interviews: Ordnungsprozess I ...................................................................... 120 6.1 Eine Fallstudie als Ankerbeispiel.................................................................... 120 6.2 G10 I im Fokus ................................................................................................. 121 6.2.1 Unterrichtsplanung.................................................................................... 121 6.2.2 Unterrichtsgeschehen und Schülerprodukte ......................................... 124 6.2.3 Retrospektives Schülerinterview .............................................................. 185 6.3 Zur Verbindung von Wissen und Können innerhalb der Einheit ............ 195 7. Lese- und Verstehensleistungen im Vergleich: Ordnungsprozess II..................................................................... 203 7.1 Von Phänomenen zu Indikatoren ................................................................. 204 7.1.1 Strukturelle Zusammenhänge und Wirkfaktoren ................................. 205 7.1.2 Zu den verwendeten Indikatoren ............................................................ 209 7.1.2 Die verwendeten Indikatoren im Überblick .......................................... 222 7.2 Die Fallstudien im Überblick: Zwei Fälle pro Schulform ........................... 225 7.2.1 G10 II - Gymnasium (städtisch).............................................................. 225 7.2.2 E10 - Integrierte Gesamtschule ............................................................... 243 7.2.3 R10 - Realschule ........................................................................................ 269 7.2.4 H9 - Hauptschule ...................................................................................... 289 7.3 Maximierung von Differenz ........................................................................... 301 7.3.1 Unterschiede zwischen den Fallstudien.................................................. 302 7.3.2 Komparative Analyse der Indikatoren.................................................... 308 7.3.3 Sonderfall Beispielaufgaben...................................................................... 337 <?page no="10"?> 10 8. Lese- und Verstehensleistungen in einem Modell literarischer Kompetenz: Ordnungsprozess III.............................................. 350 8.1 Etablieren von Konzepten............................................................................... 350 8.2 Die Kompetenzbereiche in der Sekundarstufe I .......................................... 358 8.2.1 Kommunikative Kompetenzen ................................................................ 360 8.2.2 Psycho-soziale Kompetenzen ................................................................... 367 8.2.3 Reflexive Kompetenzen............................................................................. 373 8.2.4 Interkulturelle Kompetenzen ................................................................... 379 8.2.5 Methodische Kompetenzen ...................................................................... 385 8.2.6 Übersicht der Kompetenzbereiche in der Sekundarstufe I .................. 393 8.3. Prototypische Situationen: Zur Interaktion der Kompetenzbereiche ...... 399 9. Resümee und Ausblick ................................................................ 416 9.1 Literarische Kompetenz im FSU der Sekundarstufe I: Ein holistisches Konstrukt........................................................................................................... 416 9.2 Forschung als Prozess: Fragen nach Verifikation und Intervention......... 424 10. Literaturverzeichnis .................................................................... 429 <?page no="11"?> 11 1. Grundlagen, Ausgangsbedingungen und Zielsetzung 1.1 Zur Struktur der Studie Sich mit der Modellierung literarischer Kompetenz im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I empirisch auseinanderzusetzen, zieht nach sich, dass es ganz unterschiedliche Bezugspunkte zu berücksichtigen gilt, die sowohl aus der eigenen fachwissenschaftlichen Disziplin - der Fremdsprachendidaktik, genauer der fremdsprachlichen Literaturdidaktik - als auch aus den angrenzenden Bezugswissenschaften stammen; schon allein aufgrund der Begriffe Kompetenz und empirisch, die einen so zentralen Platz in Erkenntnisinteresse und Forschungsdesign einnehmen. Es gilt also, bei der empirischen Annäherung an das Konstrukt literarische Kompetenz zwischen diesen Polen zu vermitteln, den eigenen Standpunkt als Fluchtpunkt der unterschiedlichen Perspektiven zu schärfen, zumal - und damit sei ein weiterer Leitbegriff aufgegriffen - Modellierung impliziert, dass es sich um einen entdeckenden Prozess handelt, also nicht von einem bereits existierenden Modell ausgegangen wird, das es empirisch zu überprüfen gilt. Diese unterschiedlichen Bezugspunkte spiegeln sich auch in der Anlage der Arbeit, stellen gewissermaßen die Struktur der Auseinandersetzung dar. Zunächst einmal steht der Kompetenzbegriff im Vordergrund, der sich nicht nur durch eine lange Tradition im Fremdsprachenunterricht auszeichnet, sondern auch innerhalb der neueren bildungssystemischen und -politischen Diskussion in der Folge des sogenannten ‚PISA-Schocks‘ in nicht ganz einheitlicher Art und Weise besetzt ist und Verwendung findet. Gewissermaßen auf der Suche nach einem für die Ziele und Zwecke der Studie anschlussfähigem Kompetenzkonzept werden, nachdem in Abschnitt 1.1 die Bildungsrelevanz literarischer Texte im Fremdsprachenunterricht wenn schon nicht erschöpfend, so doch einleiten thematisiert worden ist, in Abschnitt 1.3 die unterschiedlichen Kompetenzbegriffe und Kompetenzkonzepte diskutiert, die speziell für den schulischen Unterricht von Interesse sind. In Abschnitt 2 der Arbeit steht dann vor allem die Auseinandersetzung mit der Tradition des Kompetenzbegriffs innerhalb der Fremdsprachendidaktik und deren Bezugswissenschaft Linguistik im Vordergrund. Dass im Titel von kommunikativer Kompetenz gesprochen wird, ist - und so viel sei hier schon vorweggenommen - darauf zurückzuführen, dass literarische Kompetenz im Fremdsprachenunterricht als Spielart kommunikativer Kompetenz verstanden wird, dass damit ausdrücklich ein Unterricht mit literarischen Texten gemeint ist, statt ein Unterricht über literarische Texte, und dass <?page no="12"?> 12 kommunikativ beinhaltet, dass Lernende mit dem literarischen Text in ein kommunikatives Verhältnis eintreten und darüber miteinander kommunizieren. Bezug wird dabei auf drei verschiedene Linien kommunikativer Kompetenz genommen: die anglo-amerikanische, die deutsche Tradition und die als Weiterentwicklungen kommunikativer Kompetenz zu verstehenden und in den 1990er Jahren entstandenen Ansätze, die alle Einfluss auf Kompetenzkonzepte im Fremdsprachenunterricht ausübten und -üben. Im Vordergrund steht dabei die Formulierung von Arbeitshypothesen für die anvisierte Modellierung. In Abschnitt 3.1 wird dann speziell auf die sogenannten bildungspolitischen Dokumente fokussiert, die als maßgeblich richtungsweisend für die Kompetenzorientierung innerhalb der Fremdsprachendidaktik zu werten sind. Zunächst steht der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen (GER) im Mittelpunkt, der mit seiner Konzeptionierung von fremdsprachlicher Kompetenz europaweit, und dabei nicht auf eine spezifische Sprache begrenzt, Einfluss auf die Fremdsprachendidaktik nimmt. Von Interesse sind vor allem die in ihm enthaltenen Skalierungen von kommunikativen Aufgaben und Strategien, die in drei Niveaustufen untergliedert werden. Aufschlussreich ist insbesondere, dass diese kommunikativen Aufgaben als learning outcomes gefasst werden, die als Beurteilungskriterien für curriculare Orientierung, Unterrichtsplanung und self-assessment genutzt werden sollen (vgl. Hayworth 2004: 17), ohne dabei jedoch eine explizite Verbindung zu den kommunikativen Sprachkompetenzen der Sprachverwendeten herzustellen. Diese Aspekte gilt es kritisch zu evaluieren, und hier ist es besonders der in diesem Zusammenhang zu verortende Stellenwert, der literarischen Texten im GER beigemessen wird, der für die Ziele der anvisierten Modellierung von Interesse ist. Skalierungen aus dem GER werden von den Bildungsstandards für die erste Fremdsprache weitgehend übernommen. Der dem Dokument zugrundeliegende Kompetenzbegriff wird in Abschnitt 3.2 der Arbeit genauer untersucht. Hier sind vor allem - dies gilt allerdings auch für die Auseinandersetzung mit den Skalen im GER - die in den Kann-Beschreibungen verwendeten Operatoren von Interesse, die sich auf das Leseverstehen beziehen. Im Vordergrund der Auseinandersetzung steht die Frage, wie sich komplexe und theoriegeladene Begriffe wie lesen und verstehen einer Operationalisierung - im Sinne einer Identifizierung von Prozessebenen - zugänglich machen lassen, wie diese in den Bildungsstandards gefasst sind und welche Konsequenzen sich für die empirische Modellierung ergeben. Gesichert werden aus dieser Auseinandersetzung gewonnene Schlussfolgerungen erneut in einem Zwischenfazit. Als ein Schritt vom Allgemeinen zum Speziellen ist Abschnitt 4 zu verstehen, da hier nicht länger kommunikative Kompetenz im Vordergrund der Betrachtung steht, sondern die gezielte Auseinandersetzung mit Konzeptio- <?page no="13"?> 13 nen der Lesekompetenz. Von Interesse sind dabei besonders die Zusammenhänge zwischen mutter- und fremdsprachlichen Leseleistungen und -strategien, die sprach- und inhaltsbezogenen und eher auf die kognitiven Leistungen rekurrierenden Verarbeitungsprozesse sowie in besonderem Maße die Abgrenzung von auf Informationsentnahme fokussierenden Lesekompetenzmodellen, wie sie beispielsweise in der DESI-Studie Verwendung finden. Mit einem Zwischenschritt, der Lesen und Kommunikation miteinander in Bezug setzt, wird darauf gezielt, die Schnittstelle zwischen Lesekompetenz und literarischer Kompetenz eingehender zu untersuchen. Ausgehend von einer kritischen Betrachtung exemplarisch ausgewählter Modelle literarischer Kompetenz der muttersprachlichen Literaturdidaktik werden Schlussfolgerungen und Teilergebnisse auf ein Modell der fremdsprachlichen Literaturdidaktik bezogen, das als Orientierungsrahmen für die empirische Auseinandersetzung mit literarischer Kompetenz im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I gewertet werden kann. Auch hier gilt es, die Konsequenzen der Gegenüberstellung in Form eines Zwischenfazits zu synthetisieren. Der bis dahin gebotene Überblick zum Stand der Forschung geht sodann in Abschnitt 5 im empirischen Teil der Arbeit auf. Im Vordergrund stehen zunächst das Erkenntnisinteresse der Arbeit und das daraus resultierende Forschungsdesign, in dem fachdidaktische und forschungsmethodologische Zusammenhänge und Fragestellungen eingehender diskutiert werden. Zentral ist in diesem Abschnitt, die in den Zwischenfazits gewonnenen Einsichten und Arbeitshypothesen zu einem empirischen Programm zu wandeln, mit dem zum einen die bewusst qualitative Ausrichtung begründet werden kann und das zum anderen eine hinreichend analytische und systematische Struktur aufweist, damit dem Ziel, ein Strukturmodell literarischer Kompetenz im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I zu modellieren, unter Berücksichtigung und Einbindung empirischer Gütekriterien zugearbeitet werden kann. Daran schließen sich die qualitativen Systematisierungsprozesse an. Die Daten der insgesamt acht Fallstudien werden aufbereitet und anhand von aus der empirischen Auseinandersetzung gewonnen Indikatoren beschrieben und untersucht. In Abschnitt 6 wird dieses Vorgehen als Ordnungsprozess I bezeichnet. Zunächst steht eine Fallstudie als Ankerbeispiel im Fokus. Im Anschluss daran werden die gewonnenen und systematisierten Einsichten dafür genutzt, die anderen Fallstudie im Ordnungsprozess II einer komparativen Analyse zu unterziehen, wobei hier besonders der Zielsetzung zugerarbeitet wird, zunächst Gemeinsamkeiten herauszustellen und die Resultate dieser Untersuchung stets auf die aufscheinenden Fertigkeiten und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler im fremdsprachlichen Literaturunterricht zu beziehen. Unterschiede zwischen den Fallstudien stehen sodann in Abschnitt 7.3 im Fo- <?page no="14"?> 14 kus. Hier wird darauf gezielt, Besonderheiten anzuzeigen und die Fallstudien einem Vergleich untereinander zugänglich zu machen. Abschnitt 8 ist einem abschließenden Ordnungsprozess gewidmet, in dem die an der Datenlage festgemachten Indikatoren zu Modellbestandteilen gewandelt werden, mit denen die Struktur literarischer Kompetenz im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I heuristisch aufzuschlüsseln ist. Hier bewegt sich die Analyse vom Konkreten zum Abstrakten, gilt es doch Kompetenzbereiche und Teilkompetenzen aus der Analyse und Interpretation der Daten zu generieren. Diese Kompetenzbereiche werden mitsamt den sie konkretisierenden Kompetenzbeschreibungen im Einzelnen vorgestellt und diskutiert. Von besonderem Interesse sind dabei auch die aus der Datenlage abgeleiteten Interaktionen der einzelnen Modellbestandteile, die in dem als unterrichtspraktischen Serviceteil zu verstehendem Abschnitt 8.3 zu prototypischen Situationen zusammengeführt werden, mit denen beabsichtigt wird, die Zusammenhänge von planbarer Situation Unterricht und potentiell zu erwartendem Schülerverhalten für unterrichtliche Planungszwecke aufzuschlüsseln. Die Arbeit abschließend findet sich in Abschnitt 9 ein mit einem Ausblick versehenes Resümee. Hier gilt es, die aus Stand der Forschung und empirischer Auseinandersetzung entstandenen Charakteristika und Hypothesen zusammenzuführen, zu bündeln und entlang ihrer Merkmale zu beschreiben. Damit geht die Absicht einher, der bildungssystemischen Diskussion um Kompetenzmodelle, die sich vor allem entlang der Begriffe Operationalisierung, Skalierung und Objektivierung ausrichten lässt, genuin literaturdidaktische Gesichtspunkte zuzuführen, somit Ergebnisse der forschenden Anstrengung zu bündeln und eben auf diese Begrifflichkeiten zu beziehen. Es werden Thesen formuliert, an denen sich der Erkenntnisgewinn destillieren lässt und die zudem weitere Forschungsdesiderate aufzeigen. <?page no="15"?> 15 1.2 Zur Situation der fremdsprachlichen Literaturdidaktik Literarische Texte sind seit Jahrzehnten zentrale Bestandteile der englischen Fremdsprachendidaktik (vgl. Bredella/ Burwitz-Melzer 2004; Hallet 2007b). Ihre originären Inhalte bieten Lehr- und Lernanlässe zur unterrichtlichen Auseinandersetzung mit der Zielsprache, der Zielkultur sowie deren Werten und Normen (vgl. Kramsch 1993). Anders als Sachtexte, Realia, didaktisierte Texte, Lehrwerke und Übungsmaterialien verfügen literarische Texte über eine Bündelung didaktischer und pädagogischer Kriterien: Sie bieten Inhaltsorientierung (vgl. Timm 1998), indem sie den Schülern helfen, eigene Sinn- und Wertvorstellungen anhand der Sinnentwürfe zu entwickeln, zu ergänzen und gegebenenfalls zu revidieren (vgl. Bredella 2005; Nünning 2000). Als Selbsterfahrungsmodell bieten sie Lernerorientierung, da sie die Lernenden dazu anregen, ihre eigenen Erfahrungen, Fähigkeiten, Interessen und Bedürfnisse zu verbalisieren, und mittels Handlungs- und Kommunikationsanlässe ins unterrichtliche Geschehen einfließen zu lassen (vgl. Carter/ Long 1992). Ihre zugrunde liegende Authentizität macht sie für Lernende als lebensecht akzeptabel und führt so die Lebensbedeutsamkeit fremdsprachlichen Lernens vor Augen, weil sich die Lerner mit einem ‚realen’ Produkt der Zielsprache auseinandersetzen (vgl. Timm 1998: 178). Durch den Einsatz literarischer Texte wird den Lernenden also zugetraut, mit Texten für muttersprachliche Adressaten umzugehen. Dies stellt eine implizite Aufwertung der schülerischen Fertig- und Fähigkeiten dar, was sich positiv auf die Lernhaltung und Leistungsbereitschaft der Lerner auswirken kann (vgl. Lightbown/ Spada 2000: 56). Der Aspekt der Ganzheitlichkeit wird durch das Ansprechen der unterschiedlichen Sinne repräsentiert: Literarische Texte befördern intellektuelldiskursive Fähigkeiten auf abstraktem Niveau. Und ohne die Bereitschaft, sich in die Einstellungen anderer Menschen einzufühlen, Gefühlsbewegung und seelische Erregungen nachzuvollziehen, kann es zu keinem literarischen Verstehen kommen, da in der Auseinandersetzung mit den literarischen Inhalten affective response und Empathievermögen seitens der Lernenden vonnöten ist (vgl. Burwitz-Melzer 2003: 23 ff.). Aufgaben- und Handlungsorientierung ist als methodisch-didaktische Prämisse für den unterrichtlichen Einsatz literarischer Texte zu sehen (vgl. Brusch/ Caspari 1998). Literatur fordert unumgänglich zum rezeptiven, produktiven und interaktiven Umgang mit der Zielsprache auf. Daraus ergibt sich eine Prozessorientierung, da die Lernenden zur selbständigen Wahrnehmung und Strukturierung der Unterrichtsinhalte angeregt werden (vgl. Timm 1998: 178). Dies wiederum mündet in eine Lernorientierung, da Inhalte zu unterrichtlichen Aktivitäten werden, und so Lerngegenstände nicht vermitteln werden, sondern durch Bedeutsamkeit zu einem Lernprozess auf Seiten der Schüler führen (vgl. ebd.). <?page no="16"?> 16 Auch innerhalb der seit den 1990er Jahren geführten Debatte um die Zielsetzungen interkulturellen Lernens nehmen literarische Texte eine zentrale Rolle ein (vgl. Bredella/ Delanoy 1999). Der Literatureinsatz im Unterricht arbeitet dem Desiderat des interkulturellen Lernens und Fremdverstehens zu. Dies geschieht, indem literarische Texte Leser zu Perspektivenwechsel, übernahmen und -koordination stimulieren (vgl. Bredella 2002: 15), da sie die Relation von eigener und fremder Kultur bewusst machen können und so die Möglichkeit bieten, etwaige überkommene Standpunkte zu revidieren (vgl. Bredella/ Christ 1995). Desweiteren werden beim Nachvollziehen der literarisch präsentierten Handlungen und Erfahrungen die kognitiven, affektiven sowie ethischen Dispositionen der Leser gefordert (vgl. Bredella 2002: 15). Diese Merkmale stellen konstituierende Elemente des interkulturellen Lernens dar. Durch die literarische Repräsentation des kulturspezifischen Denkens, Handelns und den damit einhergehenden Normen und Werten der entsprechenden Gesellschaft werden Unterschiede zwischen der eigenen kulturellen Prägung und der der Zielkultur aufgezeigt (vgl. Krumm 2003: 119). Demnach besitzen literarische Texte mediatorische Funktion zwischen eigener und fremder Kultur, da sie mittelbare authentische Begegnung liefern (vgl. Hermes 1999: 439). Durch diese Begegnung von eigener und fremder Kultur werden Persönlichkeitsentwicklung und Identitätsfindung der Lernenden befördert (vgl. Delanoy 2002). Die oben geschilderte Position der fremdsprachlichen Literaturdidaktik innerhalb der fachdidaktischen Diskussion, der Lehrerausbildung und der unterrichtlichen Praxis kann mittlerweile nicht länger als gesichert und selbstverständlich erachtet werden. Denn Kompetenzbeschreibungen, Referenzrahmen und Bildungsstandards konfrontieren die fremdsprachlichen Fachdidaktiken und deren Teildisziplinen durch den Paradigmenwechsel von input zu output-Orientierung mit drastischen Veränderungen des Bildungswesens und einer damit unausweichlich einhergehenden Neuverortung und u.U. gar Neuverständigung der eigenen Lehr- und Lernziele. Die durch die Einführung des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens durch den Europarat (2001) sowie der Verabschiedung der Nationalen Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (Englisch/ Französisch) für den Mittleren Schulabschluss (KMK 2004a) und der Nationalen Bildungsstandards für die erste Fremdsprache für den Hauptschulabschluss (2005a) herbeigeführten Veränderungen in ihrer Form als „Beschreibungsmerkmale für Selbst- und Fremdbeurteilung sprachlicher Leistung“ (Beck/ Klieme 2007: 5) müssen von der Fachdidaktik in ihren Auswirkungen für „den unterrichtlichen Kontext fruchtbar“ gemacht werden (Burwitz-Melzer 2007a: 127). Kritisiert wurde dabei die vorzufindenden Ungenauigkeiten in den Formulierungen von Deskriptoren und Standards (vgl. Quetz 2005: 210-214), „die Favorisierung der <?page no="17"?> 17 pragmatisch-utilitaristischen Dimension“ (Zydatiß 2005: 278), die Ausblendung der allgemein- und persönlichkeitsbildenden Inhalte und Aufgabengebiete (vgl. Bredella 2005: 47-54; Zydatiß 2005: 276-279) sowie die häufig lediglich skizziert konstruierten Musteraufgaben und Bewertungsverfahren (Burwitz-Melzer 2007a: 127; cf. Bausch/ Burwitz-Melzer/ Königs/ Krumm 2005). Besonders die Literaturdidaktiken, mutterwie fremdsprachliche, sehen sich angesichts der in den bildungspolitischen Dokumenten dominierenden Auffassung von Sprache und sprachlichen Kompetenzen einer Problemstellung gegenüber (cf. Burwitz-Melzer 2007a, b; Bredella/ Hallet 2007; Kammler 2006a; Huber 2005): Ihrer originären Lerninhalte finden keinen Platz in den Skalen des GER und der Bildungsstandards. Aus diesem Umstand heraus steht es zu befürchten, dass literaturdidaktische Zielsetzungen und Methoden aufgrund der vermeintlichen Unvereinbarkeit mit Kompetenzbeschreibungen und deren Operationalisierung sowie der fehlenden Berücksichtigung und Wertschätzung innerhalb der bildungspolitischen Dokumente aus dem schulischen ‚Tagesgeschäft‘ verschwinden. Als Resultat würden dann wertvolle erzieherische und pädagogische Aspekte von Bildung zu eben dieser nicht länger beitragen (vgl. Bredella 2003, 2005, 2007a; Burwitz-Melzer 2003, 2005a, b, 2007a, b). Gelingt es den literarisch unterrichtenden Fächern nicht, den weißen Fleck aus eigenem Antrieb und mit eigenen Ansätzen zu füllen, so scheint sich nach der erfolgten bildungstheoretischen auch die drohende praktische Marginalisierung nicht abwenden zu lassen. In diesem Zusammenhang ist es gerade die Bildungsrelevanz literarischer Texte, die - wenn man so will - als Landmarke für die Verortungsprozesse gesehen werden kann. Bildung konkretisiert sich vor allem am Lernen. Und lernen lässt sich von und mit Literatur. Dabei ist vor allem der bereits eingeführte Begriff der Erfahrung zentral, denn beim Lernen wird ein Vorgang angesprochen, „bei dem vom Subjekt auf bislang gemachte Erfahrungen rekurriert wird und bei dem es darum geht, diese bisherigen Erfahrungen in einem bestimmten zeitlichen Verlauf mit gewisser Nachhaltigkeit zu verändern“ (Hartung / Steininger/ Fuchs 2011: 12). Erfahrungen sind nicht nur zentrale Elemente des Lernens - und wie bereits oben erwähnt des interkulturellen Lernens -, sondern konstituierende Bestandteile literarischer Texte, enthalten sie doch literarisch vermittelte Erfahrungen (vgl. Fludernik 1996). Nicht nur, dass menschliche Erfahrungen verarbeitet werden und beim Lesen mit einfließen, sogar als Voraussetzungen für jedwede Interpretation gewertet werden können, literarische Texte können „immer auch - im Sinne von Lernen - einen wertvollen Beitrag zum Erwerb von Erfahrungen darstellen; eben als vermittelte oder Sekundärerfahrungen“ (Hartung/ Steininger/ Fuchs 2011: 13). Kategorisieren lässt sich die aus dem Wechselspiel von vermittelter und eigener Erfahrung resultierende Bildungsrelevanz entlang von sechs zentralen <?page no="18"?> 18 Angelpunkten der unterrichtlichen Auseinandersetzung mit literarischen Texten, die in Anlehnung an Lothar Bredella (2003: 48-51) zusammengefasst und innerhalb der Arbeit immer wieder produktiv aufgegriffen werden, sei es als Konstante bei der gemeinsamen Unterrichtsplanung mit den Lehrkräften der teilnehmenden Gruppen (cf. 5.2.2; 7.), oder bei der Gruppierung prototypischer Situationen (cf. 8.3) am Ende der empirischen Auseinandersetzung. An literarischen Texten lässt sich eine Form des Wissens erproben und erwerben, die mit dem Verstehen menschlichen Handelns in Verbindung steht (vgl. ebd.; cf. Steininger/ Basseler 2011). Das Lernpotential von literarischen Texten im Allgemeinen und Geschichten im Speziellen liegt darin begründet, „verschiedene Einzelheiten aufeinander zu beziehen, um sie als Ganzes erfassen zu können“ (Bredella 2003: 48). Die Vermittelte Erfahrung kann so als das Ganze gesehen werden, dass es zu verstehen gilt. Da es sich um eine Sekundärerfahrung handelt, muss zumindest ein Handelnder ausgemacht werden, worauf dann folgt, dass die präsentierten Handlungen verstanden werden müssen. Handlungen verstehen bedeutet, dass man nach den Motiven der Handelnden fragt, dass Handlungen nachvollzogen und begründet werden. Um aber Handlungen richtig einzuordnen und sie dann auch zu verstehen, „muss man auch die vorangegangenen und die folgenden Handlungen und diejenigen der Mit- und Gegenspieler berücksichtigen“ (ebd.: 49). Es gilt, den zeitlich-kausalen Zusammenhang von Handlungen zu konstruieren. Neben diesem Zusammenhang, der für das Verstehen von Handlungen zentral ist, gibt es einen zweiten, einen kulturellen Kontext von Handlungen, der menschliches Handeln in sozio-kulturelle Bedeutungsgewebe rückbindet. Gerade im fremdsprachlichen Literaturunterricht - und hier lässt sich erneut eine Verbindung zum bereits erwähnten interkulturellen Lernen und dem Fremdverstehen herstellen - bedeutet dies auch eine Auseinandersetzung mit einem fremdkulturellen Kontext, in dem Eigenes und Fremdes - im Sinne von Neuem - zu finden ist, denn die dem literarischen Text eigene Welt gilt es vom Leser zu betreten und nachzuzeichnen, wobei dann der kulturelle Kontext als Folie und Bedeutungsrahmen der Handlungen zu sehen ist. Damit geht einher, dass literarische Texte zudem Normen, Wertvorstellungen und ethische Fragen beinhalten, die es nicht nur auf die Handlungen zu beziehen gilt, sondern die in besonderem Maße mit dem kulturellen Kontext in Verbindung stehen. Die damit angesprochene „moralische Dimension von Geschichten verlangt vom Leser, dass er erkennt, wie die Charaktere ihre Handlungen beurteilen, welche Stellung der übergeordnete Erzähler zu den Handlungen bezieht und wie er als Leser sie beurteilt“ (ebd.: 50). Damit geht auch einher, dass der Leser die Perspektiven von Handelnden und Erzähler koordiniert, dass er Innensichten und reflexive Momente zu erkennen und einzuordnen weiß, dass er mithin die eigenen Sinnzuschreibungen, Sinnent- <?page no="19"?> 19 würfe und Überzeugungen mit dem Text aushandeln muss. Somit ist es eine Vielzahl von Perspektiven, die es zu koordinieren, mit einander abzugleichen und gegebenenfalls auch einander gegenüberzustellen gilt. Eingebunden sind die Perspektiven in das Außergewöhnliche in Geschichten, in die Normverletzung und den Umgang mit dieser. Hier stellt sich als Frage, wie Leser mit dem literarisch Präsentierten umgehen, wie sie darauf reagieren, denn das Außergewöhnliche, das die Handlung vorantreibt (vgl. Bruner/ Lucariello 1989: 77), provoziert Stellungnahme, indem der Leser die normverletzende Handlung beurteilen muss. All diese Angelpunkte der unterrichtlichen Auseinandersetzung zielen letztlich darauf, das Verstehen von literarischen Texten in einen didaktischmethodischen Orientierungsrahmen zu übersetzen. Diese Übersetzung stellt dabei einen wichtigen Schritt in Richtung Modellierung literarischer Kompetenz dar, denn Kompetenzmodelle dienen vor allem dazu, individuelles Potential in Form von Konstituenten heuristisch aufzuschlüsseln. Diese Angelpunkte hier anzuführen, liegt zum einen in deren Funktion für die empirische Annäherung an literarische Kompetenz begründet. Zum andern lässt sich an ihnen aber auch verdeutlichen, dass literarische Texte wichtig für den Fremdsprachenunterricht sind, dass ihnen ein hohes Maß an Bildungsrelevanz und sozio-kulturellem Lernpotential innewohnt, „weil sie zum Verstehen unterschiedlicher Wertvorstellungen und Weltbilder und zum Gebrauch der Fremdsprache beim Interpretieren anregen“ (Bredella 2003: 51). 1.3 Kompetenzbegriffe und Kompetenzkonzepte Der Kompetenzbegriff ist nicht nur die zentrale Vokabel des durch die Bildungsstandards in Deutschlands Bildungslandschaft eingeleiteten Paradigmenwechsels, sondern hat sich zu einem derart geflügelten Wort entwickelt, dass er mühelos Kontextgrenzen zu überwinden scheint. Scheinbar insofern, da doch gerade erst aus dem Kontext ersichtlich wird, was mit dem Begriff eigentlich gemeint ist - welches wissenschaftliche Konzept ihm zugrunde liegt. Die definitorische Situation ist als disparat zu bezeichnen. Denn nicht nur die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen beanspruchen den Kompetenzbegriff, vielmehr wird er auch im alltäglichen Sprachgebrauch benutzt und gehört zu „den 5.000 am häufigsten verwendeten deutschen Wörtern“ (Hartig 2008: 15). Die einzelnen im wissenschaftlichen Kontext vorzufindenden Definitionen des Begriffs gehen dann sogar soweit, dass sich spezifische Verwendungen „teilweise gegenseitig widersprechen oder ausschließen“ (ebd.). Unter Kompetenzen kann Unterschiedliches verstanden werden (vgl. Hartig/ Klieme 2006; Klieme 2004; Weinert 2001): (1) eine allgemeine kogniti- <?page no="20"?> 20 ve Leistungsdisposition, (2) eine „kontextspezifische Leistungsdisposition, die sich funktional auf bestimmte Klassen von Situationen und Anforderungen“ bezieht (Hartig/ Klieme 2006: 128), (3) „motivationale[r] Orientierungen, die Voraussetzungen sind für die Bewältigung anspruchsvoller Aufgaben (Klieme 2004: 10), (4) Handlungskompetenzen innerhalb eines bestimmten Handlungsfeldes, in die die drei zuvor genannten Konzepte mit einbezogen sind, (5) Metakompetenzen, die „sowohl den Erwerb als auch die Anwendung spezifischer Kompetenzen erleichtern“ (Hartig/ Klieme 2006: 128) sowie Schlüsselkompetenzen, die „über eine vergleichsweise breite Spanne von Situationen und Aufgabenstellungen hinweg einsetzbar sind“ (Klieme 2004: 11). Speziell für den schulischen Unterricht lassen sich nach Weinert (2001: 28) drei (Groß)Konzepte voneinander unterscheiden: • •• • fachliche Kompetenzen (z.B. physikalischer, fremdsprachlicher, musikalischer Art), • •• • fachübergreifende Kompetenzen (z.B. Problemlösen, Teamfähigkeit), • •• • Handlungskompetenzen, die neben kognitiven auch soziale, motivationale, volitionale und oft moralische Kompetenzen enthalten und es erlauben, erworbene Kenntnisse und Fertigkeiten in sehr unterschiedlichen Lebenssituationen erfolgreich, aber auch verantwortlich zu nutzen. In der Psychologie, als Bezugswissenschaft für Konzepte von Lehren und Lernen einflussreich, wird Kompetenz als „Leistungsfähigkeit aus einer anwendungsorientierten Sicht betrachtet“ (Klieme/ Hartig 2006: 128) und damit von allgemeineren Intelligenzkonzepten abgegrenzt. Die pädagogische Psychologie und die Bildungsforschung wiederum, die als Disziplinen maßgeblich an der Konzeptionierung von Bildungsstandards beteiligt waren und sind, beschreiben mit Hilfe von Kompetenzen „Bildungsziele, welche in Bildungssystemen erreicht werden sollen“ (ebd.), mit einem Fokus auf kognitive Leistungsbereiche (vgl. Klieme 2004). Und gerade die Kompetenzbegriffe der Bildungsstandards und des GER stellen einen zentralen Angelpunkt innerhalb dieser Arbeit dar. Es geht hier vor allem um fachliche Kompetenzen; allgemein um fremdsprachliche und speziell um den Kompetenzbegriff aus Sicht der rezeptionsästhetisch orientierten fremdsprachlichen Literaturdidaktik. Ziel der Arbeit ist es, ein Modell literarischer Kompetenz für den Englischunterricht der Sekundarstufe I empirisch zu entwickeln und zu begründen. In einem solchen Modell spielen dann auch Aspekte fachübergreifender Kompetenzen und Handlungskompetenzen eine gewisse Rolle, wie es im Verlauf der Argumentation noch zu zeigen gilt, wobei sich die alleinige Konzentration der Bildungsstandards auf die kognitive Dimension von Kompetenzen für die anvisierte Modellierung als besonders sensibel und problematisch erweist. Denn <?page no="21"?> 21 es scheint fast so, als gäbe es für literarische Texte und deren kognitiv-intellektuellen wie affektiv-emotionalen Bildungsziele keinen Raum innerhalb der bildungspolitisch forcierten Kompetenzorientierung im Bildungswesen. Zu vage sind die spärlichen Erwähnungen innerhalb der Kompetenzbeschreibungen, zu undifferenziert die vorgenommene Abgrenzung zu expositorischen Texten. Begründet liegt dies vor allem in der Auffassung von Lesekompetenz, die - als Teilkompetenz der fremdsprachlichen Fachkompetenz - mit Informationsentnahme aus Texten gleichgesetzt wird (vgl. KMK 2004a, 2005). Wie Texte dabei auf den Leser wirken und welchen Sinn der Leser in der Auseinandersetzung aufbaut bzw. wie dieser Sinn dann später im Unterricht verhandelt werden soll, bleibt bei dieser Auffassung unberücksichtigt. Mit Informationsentnahme lässt sich das Lesen von Romanen, Kurzgeschichten, Dramen und Gedichten nur unzureichend beschreiben und ergründen. Zentral sind für das Verstehen literarischer Texte vielmehr die beim Lesen entstehenden Eindrücke und Gefühle, Annahmen und Rückschlüsse, die zu Interpretationen und damit zu Sinnentwürfen auf Seiten der Leser führen (vgl. Burwitz-Melzer 2007a, b). Literarische Kompetenz als Bestandteil fremdsprachlicher Kompetenzen kann so als eine spezifische Form der Lesekompetenz, die Lesen in einen Rahmen kommunikativer Kompetenz einbettet, betrachtet werden, für die eben andere - oder besser gesagt - zusätzliche Fähigkeiten und Fertigkeiten eingesetzt werden müssen. Es ist das Ziel des Forschungsprojekts, die Struktur literarischer Kompetenz im Fremdsprachenunterricht zu beschreiben. Wobei eben jene Fertigkeiten und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler in einem Kompetenzmodell dargestellt werden sollen, die im Englischunterricht bei der Auseinandersetzung mit literarischen Texten eingesetzt werden. 1.4 Anmerkungen zum Stand der Forschung: Zur Begründung der empirischen Auseinandersetzung Dass Zusammenhänge der beiden Konzepte fremdsprachlicher Literaturunterricht und Kompetenzforschung nicht nur die Arbeit maßgeblich leiten, sondern als Forschungsdesiderate zu werten sind, wurde bereits in Abschnitt 1.2 erwähnt. Blickt man auf den Stand der Forschung, so lässt sich dieser Umstand zum einen darauf zurückführen, dass für den Bereich der empirischen Unterrichtsforschung im Allgemeinen und für den Fremdsprachenunterricht im Speziellen gilt, dass empirische Studien im Unterricht - sollen sie denn fachwissenschaftlich dafür genutzt werden, Konzepte und Ansätze für die Praxis zu bereichern - in nicht ausreichender Zahl vorliegen (vgl. Benz 1990; <?page no="22"?> 22 Burwitz-Melzer 2005a; Delanoy 2002; Hallet 2010; Hurrelmann 2004; Klippel 2001; Küppers 1999; Müller-Hartmann/ Schocker-v. Ditfurth 2001; Riemer 2005; Schmidt 2004; Schröder 2001; Tenorth 2001; Voss 2001). Für den fremdsprachlichen Literaturunterricht gilt dies in besonderem Maße. Erste Studien, die sich mit Leseperspektiven und -einstellungen befassen, stammen aus den 1990er Jahren (cf. Benz 1990; Becker 1992; Schenke 1998). Daneben sind Studien auszumachen, die den Zusammenhang zwischen interkulturellem (cf. Burwitz-Melzer 2003 ) bzw. transkulturellem (cf. Fäcke 2006; Freitag- Hild 2010) Lernen mit literarischen Texten im Fremdsprachenunterricht in den Vordergrund stellen. Als weitere Forschungsfelder der fremdsprachlichen Literaturdidaktik sind Studien zu nennen, die literarische Texte als Anlässe für Schreibhandlungen im Unterricht untersuchen (cf. Hesse 2002), die fremdsprachliche Leseteilleistungen im Unterricht Deutsch als Fremdsprache erforschen (cf. Ehlers 1998), die sich auf Fragen der schulischen Lesesozialisation in der Sekundarstufe II beziehen (cf. Küppers 1999), auf die Lektüren von Shakespeare in der Sekundarstufe II spezialisiert sind (cf. Schmidt 2004), sich empirisch mit fremdsprachlichen Lesestrategien auseinandersetzen (cf. Finkbeiner 2005), oder - neueren Datums - den fremdsprachlichen Literaturunterricht an der gymnasialen Oberstufe unter aufgaben- und methodenorientierten Aspekten untersuchen (cf. Kimes-Link 2008, 2013). Mit Blick auf diese Übersicht fällt auf, dass sowohl der Einsatz literarischer Texte im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I als unterrepräsentiert zu werten ist, als auch kompetenzorientierte Studien fehlen, „die vor dem Hintergrund der jüngeren bildungspolitischen Entwicklung hin zur Standardisierung und Output-Orientierung die mit dem Lesen literarischer Texte zu fördernden“ Kompetenzen erforschen (Hallet 2010: 204). Dass gerade dieser Aspekt ein Defizit darstellt, wird ersichtlich, wendet man sich den Forschungen zu Kompetenzentwicklung, -messung und -modellierung zu. Für diesen Bereich sind vermehrt Untersuchungen zu verzeichnen, die aus den Ansätzen der DESI-Studie hervorgegangen sind und sich bspw. mit interkulturellen Kompetenzen (cf. Hesse 2009, 2008; Göbel/ Hesse 2008), Hörverstehensaufgaben und Kompetenzforschung (cf. Rossa 2010) sowie - ausgerichtet an den Bildungsstandards - mit fremdsprachlichen Schreibbewertungen auseinandersetzen (cf. Harsch 2010). Daneben lässt sich neueren Datums für den Englischunterricht eine Studie zur Analyse von Schreibkompetenzen im Englischunterricht der Sekundarstufe I (cf. Porsch 2010) und für den Französischunterricht eine Langzeitstudie zur Sprachentwicklung (cf. Schlemminger 2011) ausmachen, die auf kompetenzorientierte Fragestellungen und Zusammenhänge fokussieren. Kompetenzorientierte Fragestellungen für den Fremdsprachenunterricht lassen sich zusammenfassend in Anlehnung an den Überblick von Helmut <?page no="23"?> 23 Johannes Vollmer (2010: 37-43) den Begrifflichkeiten der (1) Kompetenzstruktur, (2) der an Evaluation ausgerichteten Kompetenzforschung, (3) der „Kompetenzforschung als Entwicklungs- und Prozessforschung“ (ebd.: 40) sowie an (4) Aspekten der Lehrerausbildung und -weiterbildung ausrichten. Für den ersten Bereich gilt, dass „eine angemessene Modellierung wichtiger Teilbereiche wie etwa die der interkulturellen Kompetenz, aber auch die der literarischen bzw. literar-ästhetischen Kompetenz als Teil fremdsprachlicher Gesamtfähigkeit“ (ebd.: 37), die die Dimensionierung des GER und damit auch der Bildungsstandards ergänzt, noch aussteht. Die Zielsetzungen der vorliegenden Arbeit fallen in genau diesen Bereich, lassen aber eine Betrachtung der Kompetenzentwicklung über einen längeren Zeitraum - die ebenso als Forschungsdesiderat hinsichtlich der Kompetenzstruktur und der damit zusammenhängenden Niveaustufen zu werten ist (vgl. ebd.) - schon aus forschungsmethodischen Gründen außen vor. Für den zweiten Bereich gilt, dass Forschung sich daran ausrichtet, zu ergründen, inwieweit eine Kompetenzausprägung mittels einer dafür entwickelten Aufgabe „abzubilden und valide zu erfassen“ ist (ebd.: 39). Neben den bereits oben angeführten und sich an der DESI-Studie orientierenden Projekten ist hier eine Untersuchung zur Erfassung fremdsprachlicher Leistungen in bilingualen Zusammenhängen zu nennen (cf. Zydatiß 2007). Für den dritten Bereich sind vor allem Forschungsansätze zu nennen, die sich mit Aufgabenorientierung beschäftigen (cf. Schocker-von Ditfurth/ Müller-Hartmann 2004) oder kompetenzorientierte Lernaufgaben entwickeln und evaluieren (für den Französischunterricht cf. Hu/ Leupold 2008; Caspari/ Kleppin 2008). Im vierten und letzten Bereich stehen nicht die Kompetenzen der Lernenden, sondern die der (zukünftig) Lehrenden im Fokus des Interesses. Für diesen Bereich, und dabei speziell bezogen auf die zweite Phase der Lehrerausbildung, ist Folgendes festzuhalten: „Trotz bestehender punktueller Forschungsansätze harrt hier ein riesiger Bereich seiner genaueren theoretischen Durchdringung und empirischen Erforschung“ (Vollmer 2010: 42). Wie bereits erwähnt, ist besonders der erste Bereich, der sich empirisch mit der Modellierung von Kompetenzbereichen auseinandersetzt und dem diese Arbeit zuzuordnen ist, auf eine theoretische wie empirische Auseinandersetzung mit Kompetenzkonzepten aufzubauen, die den Fremdsprachenunterricht prägten und prägen. Diese Auseinandersetzung soll nun im Vordergrund der Betrachtung stehen, bevor dann forschungsmethodologische Aspekte, das Forschungsdesign und nicht zuletzt der empirische Teil der Arbeit folgen. <?page no="24"?> 24 2. Kommunikative Kompetenz: Arbeitshypothesen für die empirische Auseinandersetzung Ziel des Kapitels ist es, einen Überblick der unterschiedlichen Kompetenzkonzepte und Kompetenzmodelle zu bieten, die den Fremdspracheunterricht über Jahrzehnte hinweg prägten und prägen. Dabei reicht die Spannweite der Kompetenzkonzepte von den Anfängen bei Chomsky (1965), den Weiterentwicklungen linguistischer Modelle bei Hymes (2001 [1972]), Canale/ Swain (1980) und Bachmann (1990) über systemische bei Habermas (1971; 1981) hin zu Piephos didaktischen (1974; 1979), Byrams pädagogischen Ansätzen (1997) sowie der als Weiterentwicklung kommunikativer Kompetenz gefasste symbolische Kompetenz nach Kramsch (2006). Bis auf Chomskys Verwendung des Kompetenzbegriffs ist all diesen Konzepten, die den Fremdsprachenunterricht durch die Jahrzehnte beeinflussten, gemein, dass sie die kommunikative Kompetenz in den Mittelpunkt stellen. Dargestellt werden soll dieser Überblick nicht als Synopse, sondern vielmehr als eine auf die empirische Auseinandersetzung ausgerichtete Synthese, indem Prämissen und Erkenntnisse dafür verwendet werden, Arbeitshypothesen über die mögliche Struktur literarischer Kompetenz im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I abzuleiten. Es geht im Prinzip darum, aus der Auseinandersetzung mit der Tradition des Kompetenzbegriffs in der Fremdsprachendidaktik und deren Bezugswissenschaften, Ansatzpunkte für die empirische Annäherung mit dem Konstrukt literarische Kompetenz durch Bezugspunkte zu erstellen. Diese Annahmen dienen als Eckpunkte, an denen das Forschungsdesign ausgerichtet wird. Sie sind zugleich als offene Fragestellungen zu verstehen, die sich im empirischen Kontext der Studie beweisen müssen. 1) Zunächst ist das Verhältnis von literarischer und kommunikativer Kompetenz zu klären. Wie bei Hymes ([1972] 2001), Habermas (1971) und Piepho (1974, 1979) wird für die Zwecke der Modellierung Kommunikation als essentieller Nutzen von Sprache verstanden. Literarische Kompetenz ist dabei als Teilbereich bzw. besondere Spielart kommunikativer Kompetenz zu sehen, wobei für deren Entfaltung im Englischunterricht der rezeptive bzw. produktive Modus entscheidend ist. Damit unterscheidet sich der Zugriff auf Kompetenz im Sinne der Kommunikation konzeptuell von den Ursprüngen des linguistisch geprägten Kompetenzbegriffs bei Chomsky (1965): Anknüpfend an de Saussures‘ Dichotomie von langue und parole, und diese um Aspekte eines dynamischen Systems erweiternd, entwickelte Noam Chomsky ein theoretisches Konstrukt (1965, 1967), das Kompetenz der Performanz gegenüberstellt. Im Fokus steht <?page no="25"?> 25 nicht die Verwendung von Sprache, sondern vielmehr die Sprachfähigkeit eines idealtypischen Sprechers, und zwar als „Aspekt unserer allgemeinen geistigen Fähigkeiten“ (Crystal 1993: 409). Betont wird die individuelle Dimension von Sprachfähigkeit und Kompetenz, die somit nicht als soziales (und damit kommunikatives), sondern als psychologisches Phänomen (vgl. Widdowson 1996: 25) im Konzept gefasst ist. Für die Zwecke der hier anvisierten Modellierung soll sich allerdings der Nutzung und dem Verstehen von Sprache genähert werden. Gelingen kann dies nur, wenn man die soziale und gemeinschaftlich geteilte Dimension mit einbindet. 2) Zentral ist dafür die Rolle des Kontexts. Das zu entwickelnde Modell soll literarische Kompetenz heuristisch beschreiben. Und zwar im Kontext des fremdsprachlichen Literaturunterrichts. Das Modell kann sich daher nicht an einem idealtypischen Leser/ Sprecher/ Hörer orientieren, sondern muss - ähnlich wie bei Hymes (vgl. [1972] 2001: 63) - den Leistungen des normal learner gerecht werden. Daraus folgt auch, dass nicht zwischen Kompetenz und Performanz im Sinne Chomskys unterschieden wird, sondern knowledge und ability for use im Modell integriert zu repräsentieren sind; Kompetenz also in ein Modell der realen Verwendung einzubetten ist (vgl. Yamashita/ Noro 2004: 166). Der Aspekt der realen Sprachverwendung wird von Dell Hymes‘ Konzeption kommunikativer Kompetenz übernommen, in dem Kompetenz als kommunikatives Verhalten verstanden wird, dem Regelsysteme zugrunde liegen, wobei die Interaktion mit den Anderen Teil des kommunikativen Regelsystems ist. Bei Hymes wird Kompetenz definiert als Verbindung zwischen Wissen und den Fähigkeiten, dieses Wissen in konkreten Situationen anzuwenden: „Competence is dependent upon both (tacit) knowledge and (ability for) use“ (Hymes [1972] 2001: 64; Hervorhebung im Original). 3) Mit der Rolle des Kontexts geht einher, dass literarische Kompetenz nicht in ihrer individuellen, sondern vielmehr in ihrer sozialen und gemeinschaftlich geteilten Dimension zu konzipieren ist. Und zwar als kommunikatives Verhalten mit Bezug auf die kontextuellen Eigenschaften der konkreten Situation, die wiederum durch kulturelle Einflussfaktoren bestimmt wird. Die von Hymes entwickelten Kategorien, die die Möglichkeit bieten, „sprachliches Verhalten zu beschreiben und als ‚kommunikativ‘ zu charakterisieren“ (Legutke 2008: 22), indem nach dem formal Möglichen, Machbaren, Angemessenen und dem Auftreten von kulturellem Verhalten gefragt werden kann (vgl. Hymes [1972] 2001: 63-67), sind für die Modellierung impulsgebend. Und zwar in dem Sinne, dass zunächst deskriptiv erfasst wird, was im Kontext fremdsprachlicher Literaturunterricht an kommunikativem Verhalten zu beobachten ist, wobei das (empirische) <?page no="26"?> 26 Auftreten der kommunikativen Strukturen in Verbindung mit den kontextuellen Einflussfaktoren betrachtet werden sollen. 4) Ein gewichtiger Faktor dieser Eigenschaften ist der Diskurs. Bei der Auseinandersetzung mit Literatur ist der Diskursbegriff auf gleich drei Ebenen wirksam: als inner- und außerliterarischer sowie als unterrichtlicher Diskurs (vgl. Hallet 2008; Steininger 2010a). Im Modell nimmt daher die Diskurstüchtigkeit der Lernenden eine zentrale Rolle ein. Orientierung bietet dabei der Diskursbegriff bei Piepho (1974, 1979), der Habermas‘ (1971) Konzeptionierung des gesellschaftlichen Ideals kommunikativer Kompetenz als Bildungsauftrag auf den Fremdsprachenunterricht überträgt (vgl. Bredella; Hallet 2008; Rösler 2008). Kommunikative Kompetenz wird - ähnlich wie bei Habermas, jedoch mit auch von der Kritik nicht übersehenen und den normativen Anspruch betreffenden geänderten Vorzeichen (cf. Hunfeld 2008: 66 f.; Schmenk 2005: 72) - differenziert in kommunikatives Handeln und Diskurstüchtigkeit (vgl. Piepho 1974: 11). Diskurstüchtigkeit als übergeordnete Komponente äußert sich darin, kommunikative „Handlungen zu kommentieren, zu berichten, zusammenzufassen, zu legitimieren“ (ebd.: 79). Die besondere Kommunikationssituation im fremdsprachlichen Literaturunterricht - verkörpert durch die „jeweiligen Sender- und Empfängerinstanzen auf verschiedenen außertextuellen und textuellen Kommunikationsebenen“ (Nünning/ Nünning 2001: 107) - erfordert Fähigkeiten, kommunikative Handlungen in Abhängigkeit zur Kommunikationsebene zu erklären, zu problematisieren, zu durchschauen, zu begründen und zu legitimieren. Zentral ist es, das reflektierte Handeln der Lernenden im fremdsprachlichen Literaturunterricht zu fassen. 5) Als weiterer Faktor ist die interkulturelle Dimension der diskursiven Auseinandersetzung zu werten. In Anlehnung an Byrams Modell (1997) der Intercultural Communicative Competence (ICC) wird davon ausgegangen, dass Fremdsprachenlernen stets mit interkulturellem Lernen verbunden ist (vgl. ebd.: 22) und dass der kulturelle Kontext sowohl durch eigenals auch durch fremdkulturelle Elemente - auf der Ebene der Einstellungen, Werte und Normen oder der des Wissens über Fakten und soziale Prozesse der Interaktion - konstruiert wird (cf. Müller-Hartmann 2005; Burwitz- Melzer 2003). Die Bedeutung des kulturellen Kontexts kann auch in Anlehnung an den Ansatz der symbolischen Kompetenz nach Kramsch (2006) hervorgehoben werden, denn „symbolic competence does not do away with the ability to express, interpret, and negotiate meanings in dialogue with others, but enriches it and embeds it into the ability to produce and exchange symbolic goods” (ebd.: 251). Gerade in Hinblick auf den Umgang mit literarischen Texten sollten der kulturelle Kontext <?page no="27"?> 27 und dessen Interrelation mit symbolischer Bedeutung von besonderem Interesse sein. 6) In einem besonderen Zusammenhang mit dem Kontext steht die Forderung nach Deskriptivität. Grundsätzlich soll darauf gezielt werden, literaturdidaktische Überlegungen, Prämissen, Lerninhalte und Methoden mit Schülerleistungen im unterrichtlichen Kontext, d.h. literaturdidaktische Beschreibung mit literaturdidaktischer Realität in Einklang zu bringen. Deskriptivität als Forderung lässt sich aus Bachmans Konzept der Communicative Language Ability ableiten (1990, 2007), in dem zum Zweck des language testing Aspekte des Wissens und der Anwendung empirisch zugänglich gemacht werden sollen (vgl. Bachman 1990: 84; Peterwagner 2005). 7) Dabei muss es das Forschungsdesign leisten, nicht nur Komponenten literarischer Kompetenz im Modell darzustellen, sondern auch den Zusammenhang und die Wechselwirkung zwischen den Konstituenten zu verdeutlichen. So gesehen nehmen dann auch die im Unterricht auszumachenden Situationen als Rahmen für das Auftreten bestimmter Sprachhandlungen eine deskriptive Funktion ein. Mit dieser Arbeitshypothese geht eine Abgrenzung von der Konzeption kommunikativer Kompetenz nach Canale/ Swain (1980) einher, das zum Testen des Sprachvermögens und der Sprachfähigkeiten von kanadischen Französischlernern entwickelt wurde und als präskriptiver Rahmen gewertet werden kann (vgl. Widdowson 2003: 168) 1 . Das aus vier Kompetenzbereichen bestehende Modell unterscheidet zwischen Kompetenz und Performanz (vgl. Peterwagner 2005: 12); als Resultat bleiben dadurch Interaktionen der Bereiche unberücksichtigt (vgl. McNamara 2000: 20). Im anvisierten Modell literarischer Kompetenz soll die Interaktion der Bereiche durch die unterrichtlichen Situationen, die kommunikatives Handeln bedingen, zugänglich gemacht werden. Die Vorgehensweise, Arbeitshypothesen für die empirische Annäherung an literarische Kompetenz zu formulieren und auf den Forschungsstand zu beziehen, soll auch in den folgenden Kapiteln beibehalten werden. Allerdings werden diese auf die Kapitel 3 und 4 folgend als Zwischenfazits umgesetzt. Im Zusammenhang mit der in Abschnitt 3 vorgenommenen Auseinandersetzung 1 Das Modell von Canale/ Swain hat die konzeptuelle Basis für didaktische, methodische und curriculare Entwicklungen im Bereich des Communicative Language Teaching wesentlich beeinflusst (vgl. Leung 2005). Zur Entwicklung siehe zusammenfassend Spada 2007. Für einen kritischen Rückblick auf die mit dem Begriff meist unterschiedlich gebrauchten Konzeptionen siehe Swaffer 2006. <?page no="28"?> 28 mit den outcome-Beschreibungen, Skalierungen und Regelstandards der bildungspolitischen Dokumente ist zu prüfen, inwiefern der letztgenannte Aspekt der Deskriptivität mit den normativen Forderungen der nationalen Bildungsstandards zu vereinbaren ist. <?page no="29"?> 29 3. Kommunikative Kompetenz 2.0: Fremdsprachenunterricht, Bildungspolitik und Skalen Mit dem Jahrtausendwechsel hat die Kompetenzdiskussion innerhalb der Fremdsprachendidaktik eine neue Qualität erfahren - als bildungspolitisches Programm auf europäischer und nationaler Ebene in Form des GER (2001) und der Bildungsstandards (KMK 2004a, 2005a). Daraus resultiert eine gänzlich neue Situation: Das Nebeneinander der bis Ende der 1990er Jahre entstandenen Kompetenzkonzepte und -modelle ist einer sprachenpolitischen Orientierung (GER) und curricularen Verbindlichkeit (Bildungsstandards) gewichen. Während der GER ein Beschreibungskonzept für alle Formen der Fremdsprachenvermittlung darstellen will (vgl. Vollmer 2003: 194), konzentrieren sich die Bildungsstandards ausschließlich auf den Bereich schulischer Fremdsprachenvermittlung. In beiden Dokumenten werden ausdrücklich fremdsprachliche Kompetenzen beschrieben, und in beiden Dokumenten spielen literarische Texte nur eine untergeordnete Rolle. In diesem Aspekt, auf den schon in der Einleitung hingewiesen wurde (cf. 1.1), liegt zum großen Teil die Forschungsrelevanz der Studie begründet (cf. 5.1). Um die Gründe dafür nachzuzeichnen und Wege aufzuzeigen, literarische Kompetenz in die veränderte Bildungslandschaft integrieren zu können, ist im Folgenden nicht nur der zugrundeliegende Kompetenzbegriff, sondern auch das Verständnis von Sprache und Sprachbenutzung von Interesse. Dies betrifft auch die Kompetenzbeschreibungen, die mittels skalierter Referenzniveaus die einzelnen Teilkomponenten konkretisieren. Zunächst gilt es, den GER und dann die Bildungsstandards entlang dieser Leitfragen zu untersuchen. 3.1 Kommunikative Kompetenz im GER Der GER ist ein vom Europarat initiiertes und herausgegebenes Dokument, das sprachenpolitische Ziele verfolgt. Seit seiner Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg ist der Europarat an Fremdsprachenvermittlung, Fremdsprachenlernen und -lehren interessiert, stellt doch in einem Europa der vielen Sprachen die Kommunikation zwischen den Bürgern der Mitgliedsstaaten einen Wegbereiter für Akzeptanz und Toleranz, für Sicherheit und Frieden dar (vgl. Little 2006: 174). In dieser sprachlichen Vielfalt liegt eine große Herausforderung hinsichtlich der Bemühungen des Europarats, „die Qualität der Kommunikation unter Europäern mit unterschiedlichem sprachlichen und kultu- <?page no="30"?> 30 rellen Hintergrund zu verbessern“ (Europarat 2001: 8). Um der gesellschaftspolitischen Orientierung zuzuarbeiten, dient der GER „dem Gesamtziel des Europarats, […] eine ‚größere Einheit unter seinen Mitgliedsstaaten zu erreichen‘ und dieses Ziel ‚durch gemeinsame Schritte auf kulturellem Gebiet‘ zu verfolgen“ (ebd.: 14). Damit geht einher, die kulturelle Relevanz der Einzelsprachen anzuerkennen und bewusst auf eine verbindliche lingua franca zu verzichten. Der Plurilingualität und Kulturgebundenheit der Einzelsprachen Rechnung tragend, haben sich die Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet, ihren Bürgern Möglichkeiten des Fremdsprachenlernens zu offerieren und das Lernen fremder Sprachen als Mittel der interkulturellen Kommunikation gezielt zu fördern (vgl. Morrow 2004: 5). Der GER ist ein Produkt dieser gemeinschaftlichen Verpflichtung. Dem seit 2001 vorliegenden Dokument samt der Niveaustufen A1 bis C2, eben jener „Komponente des Referenzrahmens, die sich bei den Akteuren im sprachdidaktischen Handlungsfeld am nachhaltigsten eingeprägt hat“, ging bereits eine Fassung voraus: „Die draft version 2 (in ihrer deutschen Fassung auch als ‚Allgemeiner Referenzrahmen‘ bekannt), die in einem aufwändigen Begutachtungsverfahren auf herbe Kritik gestoßen war, enthielt noch keine Skalen mit KANN-Deskriptoren“ (Quetz 2003: 145; Hervorhebung im Original). Die Auffassung kommunikativer Kompetenz im GER, obwohl konzeptionell deskriptiver und nicht präskriptiver Natur, ist als ein Steuerungselement politischer Einflussnahme zu werten, denn neutral sind die Ansichten der Autoren hinsichtlich der Funktion von Sprache nicht (vgl. Heyworth 2004: 13). Kommunikative Kompetenz umfasst neben der Förderung einer europäischen Identität samt dem Wissen über nationale Kulturen sowie dem respektvollen Umgang mit kultureller Differenz auch die Einsicht, dass Fremdsprachenlernen einen gewichtigen Faktor für die intellektuelle Entwicklung darstellt. Darin ist die Überzeugung enthalten, dass Fremdsprachenlernen nicht nur in Schulen stattfindet, sondern sich die Lebensbedeutsamkeit erst später ergibt: Lernende also zu guten Fremdsprachenlernenden ausgebildet werden sollen, wobei der Ansatz der Mehrsprachigkeit eine zentrale Rolle einnimmt (vgl. ebd.). All dies hat Auswirkungen auf den Sprach- und den Kompetenzbegriff, die es in den folgenden Teilkapiteln näher zu untersuchen gilt. 3.1.1 Zu Sprachbegriff und Kompetenzkonzept Hinsichtlich der Auffassung von Sprache ist eine Betonung der soziolinguistischen und pragmatischen Dimension auszumachen (vgl. Europarat 2001: 25), die auch und gerade Auswirkung auf den Stellenwert literarischer Texte hat. Vieles muss jedoch in die im GER getroffenen Aussagen ‚hineingelesen‘ werden, da sich besonders dann vage gehalten wird, „wenn es darum geht, ein- <?page no="31"?> 31 deutige Positionen zu beziehen, gerade bei Fragestellungen, zu denen es keinen wissenschaftlichen Konsens gibt“ (Harsch 2006: 26) 2 . Dennoch: Der verwendete „Sprachenbegriff ist kein systemischer, sondern ein sozialer“ und „Sprache interessiert insoweit, als sie verwendet wird, zwar nicht ausschließlich im Lehr-Lern-Prozess, aber gerade auch in diesem“ (Christ 2003: 58 f.). Dem GER liegt ein Verständnis von „sprachlicher Handlungskompetenz“ zugrunde, das - kritisch gesehen - Sprache im Lehr-Lern-Prozess als „Inventar von portionierbaren und akkumulativ ansteigenden Leistungen“ (Barkowski 2003: 23) versteht. Damit geht einher, dass die Intentionsdimension des Sprachbenutzers zugunsten eines „funktionierenden Sprachverkehr[s] im Interesse der Bewältigung gesellschaftlicher Kommunikationshandlungen“ vernachlässigt wird (ebd.). Sprache ist demnach vornehmlich „ziel- und zweckorientierte Sprachaktivität“ (Krumm 2003: 120). Somit fußen auch die die Kompetenzbereiche beschreibenden Kann-Deskriptoren auf „einem instrumentellen Sprachverständnis, wobei affektive und ästhetische Implikationen und Intentionen menschlicher Kommunikation eher nicht interessieren“ (Barkowski 2003: 26). Daraus ergibt sich aus Sicht der fremdsprachlichen Literaturdidaktik, dass gerade die Dimensionen von Spracherwerb ausgeblendet werden, „die Bildung, kulturelle Werte und Persönlichkeitsbildung repräsentieren“ (Burwitz-Melzer 2005b: 61). Die Autoren des GER definieren Kompetenzen als „die Summe des (deklarativen) Wissens, der (prozeduralen) Fertigkeiten und der persönlichkeitsbezogenen Kompetenzen und allgemeinen kognitiven Fähigkeiten, die es einem Menschen erlauben, Handlungen auszuführen“ (ebd.). Allgemeine Kompetenzen sind nicht sprachspezifisch und nötig für Handlungen aller Art. Zu ihnen zählen deklaratives Wissen als „Ergebnis von Erfahrungslernen (Weltwissen) und von formalen Lernprozessen (theoretisches Wissen)“ (ebd.: 22), prozedurales Wissen als „Fähigkeit, Handlungen und Prozesse auszuführen“ (ebd.: 23), und persönlichkeitsbezogene Kompetenzen, die als „Summe der individuellen Eigenschaften, der Persönlichkeitsmerkmale und Einstellungen verstanden“ werden (ebd.). Kommunikative Sprachkompetenzen wiederum sind explizit sprachspezifisch gehalten. Zugeordnet werden ihnen soziolinguistische und pragmatische Kompetenzen. Erstere, die durch „soziokulturelle 2 Claudia Harsch bezieht sich mit dieser Aussage auf die Konzeptionierung im Spannungsfeld von Sprachverständnissen hinsichtlich der innersprachlichen Organisation, der mentalen Repräsentation von Sprache als internes Wissenssystem und der Auffassung von kommunikativer Kompetenz. Für Harsch spielen diese Konzepte im Zusammenhang mit der Beurteilung von Sprachvermögen eine entscheidende Rolle (cf. 2006: 26-29; 112-127). Entsprechend dem Ziel der Arbeit, literarische Kompetenz zu modellieren, wird sich auf den Aspekt der kommunikativen Kompetenz konzentriert (cf. 3.1.2). <?page no="32"?> 32 Bedingungen der Sprachverwendung“ definiert werden, wirken aufgrund ihrer „Abhängigkeit von gesellschaftlichen Konventionen“ auf „alle sprachliche Kommunikation zwischen Repräsentanten verschiedener Kulturen ein“ (ebd.: 25). Letztere „regeln den funktionalen Gebrauch sprachlicher Ressourcen“, greifen dafür „auf interaktionelle Szenarien und Skripts“ zurück, beinhalten „Diskurskompetenz, Kohäsion und Kohärenz“ und sind in Abhängigkeit zur „Wirkung der Interaktion und der kulturellen Umgebung“ zu sehen (ebd.). Aktiviert werden kommunikative Sprachkompetenzen im Sinne des GER durch kommunikative Sprachaktivitäten, „die Rezeption, Produktion, Interaktion und Sprachmittlung (insbesondere Dolmetschen und Übersetzten) umfassen“ und „in mündlicher oder schriftlicher Form oder in beiden vorkommen“ können (ebd.; Hervorhebung im Original). Eingebettet sind diese Aktivitäten in verschiedene Lebensbereiche bzw. Domänen. Dabei werden vier Bereiche unterschieden: Der öffentliche Bereich wird mit „normaler sozialer Interaktion“ umschrieben und dem privaten Bereich gegenübergestellt, der „soziale Beziehungen und individuelle soziale Gewohnheiten“ umfasst (ebd.: 26). Der dritte Bereich ist „den beruflichen Aktivitäten eines Menschen“ gewidmet und das Bildungswesen als letzter Bereich „umfasst den (meist institutionellen) Lern- und Lehrkontext, in dem es um den Erwerb spezifischer Kenntnisse und Fähigkeiten geht“ (ebd.). Innerhalb des durch die Domänen gesetzten Rahmens spielen für kommunikative Sprachaktivitäten zudem kommunikative Aufgaben, Strategien und Texte eine zentrale Rolle. Kommunikation und Sprachlernen werden so verstanden, dass sie die Bewältigung von Aufgaben miteinschließen (vgl. ebd.). Zum Problemlösen gehören in diesem Sinne Strategien „für die Kommunikation und für das Lernen“ (ebd.). Handelt es sich dann bei der zu bewältigenden Aufgabe um eine kommunikative Sprachaktivität, so müssen Texte - gesprochener oder geschriebener Art - verarbeitet werden (vgl. ebd.). Gerade die Ausführungen zur kommunikativen Aufgabe stehen dann aber im Widerspruch zum kommunikativen Primat des handlungsorientierten Ansatzes: Als Beispiel wird das Umstellen eines Schrankes herangezogen (vgl. ebd.: 26 f.), wobei unterschiedliche (vermeintlich) zielführende Strategien beschrieben werden. Kommunikativ ist an der Aufgabe jedoch nur Weniges: So kann das Ausführen der Aufgabe zwar „eine sprachliche Aktivität und eine Verarbeitung von Texten (z.B. das Lesen einer Montageanleitung für den Abbau, ein Telefonat führen usw.) umfassen“ (ebd.: 27). Die kommunikative Handlung bzw. die Antwort und der „Bezug auf die Anderen“ bleiben jedoch unberücksichtigt, wodurch der Eindruck entsteht, dass „kommunikatives Handeln auf strategisches Handeln verkürzt wird“ (Bredella 2003: 45 f.). In aller Ausführlichkeit sollen die Skalen hier nicht analysiert und diskutiert werden. Vielmehr soll auf Problembereiche in dem zugrundeliegenden <?page no="33"?> 33 Kompetenzverständnis aufmerksam gemacht werden: Zwar ist der Auffassung des GER, die „sprachliche Kommunikationskompetenz des Menschen […] als System von zu sprachliche Gesamthandlungskompetenz integrierten (Teil)Kompetenzen“ zu sehen, prinzipiell zuzustimmen, besonders, da sie so „qualitativ etwas anderes und mehr als nur die Summe aufaddierter einzelsprachlicher (Teil)Kompetenzen“ ist (Barkowski 2003: 23; Hervorhebung im Original). Darin liegt aber auch ein Problem, denn die Sprach- und Kulturerfahrungen, die im GER immer mit einbezogen werden, sind weder differenziert dargestellt, noch wird berücksichtigt, „dass die gegebenen Transfermöglichkeiten zwischen den verschiedenen Sprach- und Kulturerfahrungen“ (Harsch 2006: 29) abhängig sind vom einzelnen Sprachverwender 3 . 3.1.2 Zu Referenzniveaus, Skalen, kommunikativen Aktivitäten und dem Stellenwert literarischer Texte Die Skalen im GER, die sich auf die kommunikativen Aufgaben und Strategien beziehen, wurden in einem Schweizer Teilprojekt zur Überprüfung der Wirksamkeit des Bildungswesens entwickelt (cf. Schneider/ North 2000) 4 . Für die Skalen, die die Kompetenzen der Sprachverwendenden beschreiben, gilt die empirische Validierung allerdings nicht (vgl. Little 2006: 168 f.), wodurch deren Einbindung und Funktion - besonders in Hinblick auf die Interaktion mit den anderen Bereichen im GER - als problematisch zu werten ist. Gegliedert sind die Skalen in Niveaustufen, „die von einer Unterteilung in drei große Referenzniveaus A, B und C ausgehen“ (Europarat 2001: 34): 3 Siehe zu diesem Aspekt auch die Ausführungen von Ingrid Schwerdtfeger (2003), die die im GER zu findende „Vorgehensweise, offene wissenschaftliche Fragen […] normativ als Fakten zu setzen“, besonders kritisch betrachtet (ebd.: 175). 4 Günther Schneider und Brian North beschreiben die Entwicklung der Skalen in drei Schritten (2000: 15): auf eine „Dokumentation und Analyse von bisher entwickelten Sprachkompetenzskalen“ folgt die „qualitative Validierung durch Konsultation von Lehrerinnen und Lehrern in Workshops“ an die sich die „quantitative Validierung durch Datenerhebung und Skalierung mit Hilfe der Rasch-Analyse“ anschließt. Im ersten Schritt werden vor allem anhand der Modelle von Canale und Swain und Bachman (vgl. ebd.: 27) Kategorien abgeleitet, mit denen die in einem Pilotprojekt gesammelten Kompetenzbeschreibungen (cf. North 2000) strukturiert werden (vgl. Schneider/ North 2000: 39-48). Hier sind aber auch kritische Fragen zu stellen, die vor allem die Einstufung der Deskriptoren, die Rolle und die Kontinuität der beteiligten Informanten innerhalb der Workshops sowie die Vorgehensweise bei der Formulierung neuer Deskriptoren betreffen (vgl. Quetz/ Vogt 2009: 68; Vogt 2007). <?page no="34"?> 34 A B C Elementare Sprachverwendung Selbstständige Sprachverwendung Kompetente Sprachverwendung A1 A2 B1 B2 C1 C2 (A2+) (B1+) (B2+) Abbildung 1: Referenzniveaus im GER Zu betonen ist, dass die Skalen multidimensional angelegt sind, d.h. die Progression innerhalb der Skalen zu kommunikativen Aufgaben und Strategien ist stets in Zusammenhang mit der der kommunikativen Sprachkompetenzen zu sehen (vgl. Little 2006: 169). So ist es zumindest angedacht, denn die Verbindung muss von den Benutzern hergestellt werden. In den Skalen selbst ist der Zusammenhang nicht wiederzufinden. Mit den Skalen sollen learning outcomes als Lernziele beschrieben werden, um damit sowohl Beurteilungskriterien als auch eine Basis für curriculare Orientierung, Unterrichtsplanung und self-assessment bereitzustellen (vgl. Heyworth 2004: 17). Sie sind entlang der Modi Rezeption, Interaktion und Produktion geordnet und in mündliche und schriftliche Sprachverwendung unterteilt. Auf die jeweilige Globalskala folgen spezialisierte Skalen, deren Kann-Beschreibungen den Kontext, die Strategien und die Domäne entsprechend der kommunikativen Aktivitäten konkretisieren sollen. Insgesamt lassen sich sieben Globalskalen ausmachen: Rezeption Mündlich  Hörverstehen allgemein  Gespräche zwischen Muttersprachlern verstehen  Als Zuschauer/ Hörer im Publikum verstehen  Ankündigungen, Durchsagen und Anweisungen verstehen  Radiosendungen und Tonaufnahmen verstehen Audiovisuell  Fernsehsendungen und Filme verstehen Schriftlich  Leseverstehen allgemein  Korrespondenzen lesen und verstehen  Zur Orientierung lesen  Information und Argumentation verstehen  Schriftliche Anweisungen verstehen Interaktion Mündlich  Mündliche Interaktion allgemein  Muttersprachliche Gesprächspartner verstehen  Konversation <?page no="35"?> 35  Informelle Diskussion  Formelle Diskussion und Besprechung  Zielorientierte Kooperation  Transaktion: Dienstleistungsgespräche  Informationsaustausch  Interviewgespräche Schriftlich  Schriftliche Interaktion allgemein  Korrespondenz  Notizen, Mitteilungen und Formulare Produktion Mündlich  Mündliche Produktion allgemein  Zusammenhängendes monologisches Sprechen: Erfahrungen beschreiben  Zusammenhängendes monologisches Sprechen: Argumentieren (z.B. in einer Diskussion)  Öffentliche Ankündigungen/ Durchsagen machen  Vor Publikum sprechen Schriftlich  Schriftliche Produktion allgemein  Kreatives Schreiben  Berichte und Aufsätze Schreiben Tabelle 1: Globalskalen im GER (nach Europarat 2001: 214) Den Skalen gehen Ausführungen zu kommunikativen Aufgaben und Zielen voraus, in denen unterschiedliche Formen der Sprachverwendung beschrieben werden (vgl. ebd.: 59-62). Für die fremdsprachliche Literaturdidaktik ist dieses Kapitel im GER besonders aufschlussreich: Zwar wird festgestellt, dass „kreative und ästhetische Aktivitäten“ (ebd.: 61) produktiv, rezeptiv, interaktiv und sprachmittelnd sein können, es bleibt aber bei einer Auflistung von fünf vermeintlich kreativ-ästhetischen und wenig erschöpfenden Sprachaktivitäten. Anschließend ist Folgendes zu lesen: Eine so knappe Behandlung traditionell sehr wichtiger, ja oft dominanter Aspekte des modernen Sprachunterrichts im höheren Schulwesen und in der Universität mag abwertend erscheinen: dies ist jedoch nicht beabsichtigt. Nationale und internationale Literatur leistet einen wesentlichen Beitrag zum europäischen Kulturerbe; der Europarat betrachtet es als einen wertvollen gemeinsamen Schatz, den es zu schützen und zu entwickeln gilt. Literarische Studien dienen nicht nur rein ästhetischen, sondern vielen anderen erzieherischen Zwecken - intellektuell, moralisch und emotional, linguistisch und kulturell. Es bleibt zu hoffen, dass Lehrende, die auf allen Stufen mit literarischen Texten arbeiten, in diesem Referenzrahmen möglichst viele für sie wichtige <?page no="36"?> 36 Abschnitte finden, die ihnen helfen, ihre Ziele und Methoden transparenter zu machen. (ebd.: 62 ) Hier wird das Bildungspotential literarischer Texte zwar en passant erkannt, aber nicht anerkannt: Die Hoffnung, dass Lehrende zwischen den Zeilen fündig werden, ist lediglich ein Appell und keine Zielsetzung. An dieser Haltung wird deutlich, dass Literatur im Referenzrahmen keine bedeutsame Rolle spielen kann, weil nicht relevant ist, „was beabsichtigt oder nicht beabsichtigt ist, sondern was der Ansatz überhaupt zulässt bzw. nicht zulässt“ (Bredella 2005: 48). Diese Situation setzt sich in der Beschreibung der kommunikativen Aktivitäten und Strategien (vgl. Europarat 2001: 62-92) fort, denn „die Kompetenzbeschreibungen blenden diesen Bereich bewusst aus“ (Burwitz-Melzer 2007a: 128). Gerade die rezeptiven Aktivitäten (vgl. Europarat 2001: 71-78), zu denen im GER Hören und Lesen zählen, sind Domänen literaturdidaktischer Zielsetzungen. Lediglich im Fähig- und Fertigkeitsbereich „Leseverstehen allgemein“ (ebd.: 74 f.) werden literarische Texte erwähnt. Und zwar auf der höchsten Niveaustufe C2 (Europarat 2001: 74 f.): C2 Kann praktisch alle Arten geschriebener Texte verstehen und kritisch interpretieren (einschließlich abstrakter, strukturell komplexer oder stark umgangssprachliche literarische oder nicht-literarische Texte). Kann ein breites Spektrum langer und komplexer Texte verstehen und dabei feine stilistische Unterschiede und implizite Bedeutung erfassen. C1 Kann lange, komplexe Texte im Detail verstehen, auch wenn diese nicht dem eigenen Spezialgebiet angehören, sofern schwierige Passagen mehrmals gelesen werden können. B2 Kann sehr selbstständig lesen, Lesestil und -tempo verschiedenen Texten und Zwecken anpassen und geeignete Nachschlagewerke selektiv benutzen. Verfügt über einen großen Lesewortschatz, hat aber möglicherweise Schwierigkeiten mit seltener gebrauchten Wendungen. B1 Kann unkomplizierte Sachtexte über Themen, die mit dem eigenen Interessen und Fachgebieten in Zusammenhang stehen, mit befriedigendem Verständnis lesen. A2 Kann kurze, einfache Texte zu vertrauten, konkreten Themen verstehen, in denen gängige alltags- oder berufsbezogene Sprache verwendet wird. ------------------------------------------------------------------------------ Kann kurze, einfache Texte lesen und verstehen, die einen sehr frequenten Wortschatz und einen gewissen Anteil international bekannter Wörter enthalten. A1 Kann sehr kurze, einfache Texte Satz für Satz lesen und verstehen, indem er/ sie <?page no="37"?> 37 bekannte Namen, Wörter und einfachste Wendungen heraussucht und, wenn nötig, den Text mehrmals liest. Tabelle 2: Skala zum „Leseverstehen allgemein“ im GER (Europarat 2001: 74 f.) Allein die Merkmale der Globalskala zum Leseverstehen, „mit denen die Autoren Schwierigkeitsgrade zu fassen suchen“ (Quetz 2003: 151), weisen Probleme auf, denn einheitlich sind die Begrifflichkeiten nicht: Neben quantifizierenden (lange Texte) und qualifizierenden (komplexe Texte) Elementen der Beschreibung lassen sich Eingrenzungen (mehrmaliges Lesen), „Merkmale von Themen“ (mit dem eigenen Interesse in Zusammenhang…) und „Merkmale von Textsorten oder Situationen“ (Lesestil verschiedenen Zwecken anpassen) finden (ebd.), die eine Systematik vermissen lassen. Zwar kann angeführt werden, dass die Deskriptoren lediglich hinweisende Funktion beanspruchen (vgl. Morrow 2004: 8 f.). Es ist aber der selbstgesetzte Anspruch des GER, „den Zusammenhang zwischen den formalen Eigenschaften und sprachlichen Mitteln von Sprache und den damit verbundenen kommunikativen Leistungen transparent zu machen“, der nicht gelingen kann, da die Deskriptoren „kaum Hinweise auf die den Teilkompetenzen zuzuordnenden konkreten Sprachlichen Mittel“ enthalten (Barkowski 2003: 27). Um dies zu verdeutlichen, lohnt sich ein erneuter Blick auf die Skala. Nicht nur aus literaturdidaktischer Perspektive wirft der Begriff des Verstehens mehr Fragen auf, als mit ihm zu beantworten wären (cf. Quetz 2007, 2005) - zu unterschiedlich wird er innerhalb der einzelnen Deskriptoren verwendet 5 : Auf den untersten Niveaustufen (A1/ A2) wird lesen und verstehen zusammen mit textsortenunspezifischen, quantitativen und qualitativen Merkmalen und lexikalischen Einschränkungen genannt. Der A2+ Deskriptor hingegen führt verstehen ohne Verbindung zu lesen, dafür aber mit vage ge- 5 Dies gilt jedoch nicht nur für das Verb verstehen. Jürgen Quetz und Karin Vogt (2009) untersuchen die Merkmalsbeschreibung der Skalen für Schreiben und Sprechen entlang der Kategorien Strukturiertheit, Terminologie und Konsistenz (vgl. ebd.: 71-75). Resümierend halten sie fest: „Eine konsistente, transparente Formulierung von Operationen über Niveaus hinweg fehlt; die Spannbreite der Operationen reicht von konkret zu abstrakt, aber ohne erkennbares System. Begriffe werden nicht definiert und damit unterschiedlich auslegbar“(ebd.: 75). Eben diese unscharfe Begrifflichkeit wird auch von Cyril Weir kritisiert (2005), der die Skalen unter dem Aspekt der Testentwicklung analysiert. Weir macht auf Problembereiche aufmerksam, die nicht nur die context validity der Skalen (vgl. ebd.: 287-294), sondern auch die theory-based validity (vgl. ebd.: 294-296) betreffen, und fordert als Konsequenz eine Überarbeitung: „Potential confusion in terminology and internal inconsistencies in the scales need sorting out in order to optimize the benefits of these scales for test development purposes“ (ebd.: 297). <?page no="38"?> 38 haltenen Textmerkmalen an. Erst auf der zweithöchsten Stufe (C1) ist wieder von verstehen die Rede, und nur im C2 Deskriptor wird interpretieren dem Verstehen beigeordnet, wobei der Eindruck entsteht, dass sich die Beschreibung eher an einem idealtypischen muttersprachlichen denn an einem fremdsprachlichen Leser orientieren. Nicht nur, dass auf dieser Stufe praktisch alle Arten geschriebener Texte verstanden und kritisch interpretiert werden können, es sollen auch feine stilistische Unterschiede und implizite Bedeutungen erfasst werden. So kommt dann „der Sinn eines Textes, der sich durch seine Analyse und Interpretation erschließt“ auch erst auf dieser Niveaustufe ins Spiel (Burwitz-Melzer 2007a: 129; Hervorhebung im Original). Daraus resultieren eklatante Lücken zwischen den Niveaugruppen, denn zentrale Kompetenzen werden erst „in der letzten Niveaustufe eingeführt“, ohne dass „Vorstufen oder vorbereitende Leistungen auf niedrigeren Niveaustufen erwähnt worden“ wären (ebd.). Nicht nachvollziehbar bleibt auch die Tatsache, dass erst auf der Kompetenzstufe B2 Nachschlagewerke in die Skala integriert werden. Insgesamt stellt sich die Frage, wie zwischen den Begriffen lesen und verstehen zu unterscheiden ist, besonders da sie zwar innerhalb der Deskriptoren nicht synonym gebraucht werden, dies aber zwischen den einzelnen Niveaustufen der Fall zu sein scheint (cf. Alderson et al. 2004: 7-9). Unklar ist auch, was denn eigentlich verstanden werden soll, und ob Lesen ohne Verstehen überhaupt möglich ist. Klärung für ersteres hätte schon ein Bezug auf die sprachlichen Mittel und die kommunikativen Sprachkompetenzen gebracht. Ohne ihn bleibt der Leseprozess eine black box, da weder zwischen cognitive processing strategies auf der einen und language processing strategies auf der anderen Seite unterschieden wird (vgl. Birch 2007: 3-13), noch bottom-up und top-down Prozesse angeführt werden (vgl. Nunan 1999: 252), geschweige denn auf das Wissen der Lesenden und deren Reaktionen auf das Gelesene, den Lesezweck oder die persönlichkeitsbezogenen Kompetenzen eingegangen wird. Ähnlich unklar verhält es sich mit dem Textbegriff. So scheinen die Autoren zwar „die traditionelle Unterscheidung zwischen literarischen Texten und Sachtexten aufrecht zu erhalten“, beschreiben aber nicht genau, „welche Leistungen und Kompetenzen mit welcher Textsorte verbunden werden“ (Burwitz-Melzer 2007a: 130). Aufschlussreich ist, was im GER unter Lesen verstanden wird: „Bei visuellen rezeptiven Aktivitäten (beim Lesen) empfangen und verarbeiten Sprachverwendende als Lesende geschriebene Texte als Input (Eingabe), der von einem oder mehreren Autoren geschrieben wurde“ (Europarat 2001: 74). Unter diesem Vorzeichen kann die Sinnerschließung innerhalb der Skala keine Rolle spielen, da bei diesem Verständnis der Leser und damit der Lerner auf der Strecke bleibt, denn „Verstand als Teil eines handelnden Subjekts hat <?page no="39"?> 39 in diesem Modell keinen Platz“ (Bredella 2003: 47). So obliegt es den Benutzern, die „skalierte Vagheit“ (Barkowski 2003) der gewählten Formulierungen zu konkretisieren. Es wird ihnen überlassen, die Lücken und Sprünge der einzelnen Stufen zu überbrücken und auszugestalten. Hinzukommt, dass dadurch eine der zentralsten Fragen unterrichtlicher Textarbeit ignoriert wird, deren Beantwortung gerade im Rahmen dieser Arbeit so dringlich scheint, nämlich die, „worin die Bedeutung eines Textes besteht“, und wie „der bedeutungssuchende Leser mit seinem jeweiligen Vorwissen und seinen Erwartungen“ (Bredella 2003: 47) dieser Bedeutung begegnet, sie aufgreift, für sich selbst bedeutsam macht und sie schließlich zu einem eigenen Sinnentwurf wandelt. 3.2 Kommunikative Kompetenz in den Bildungsstandards Die Bildungsstandards gehen einher mit einem „Paradigmenwechsel in der Bundesrepublik im Sinne von ‚outcome-Orientierung‘, Rechenschaftslegung und Systemmonitoring“ (KMK 2005b: 6), der neben der Operationalisierung und Vereinheitlichung von Lernoutcome auch die „Überprüfbarkeit (Messbarkeit) und die Vergleichbarkeit“ schulischer Leistungen bewirken soll, „und zwar anhand manifester Leistungen Lernender an bildungsbiographisch wichtigen Schnittstellen“ (Heid 2007: 32). Im Gegensatz zum Ansatz des GER stehen dabei keineswegs deskriptive Ziele im Vordergrund. Vielmehr definieren die Bildungsstandards „eine normative Erwartung, auf die hin Schule erziehen und bilden soll“ (KMK 2005b: 11). Allerdings geben sie nicht vor, „wie man ein Ziel erreicht, sondern implizieren die Variabilität der Lernwege“ (Gnutzmann 2005: 107), indem „der Blick auf die Lernergebnisse von Schülerinnen und Schüler gelenkt“ wird (KMK 2005b: 16). Bildungsstandards „legen fest, welche Kompetenzen die Schülerinnen und Schüler bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe an wesentlichen Inhalten erworben haben sollen“, stellen „somit eine Mischung aus Inhalts- und Outputstandards dar“ (ebd.: 9), „konzentrieren sich auf Kernbereiche eines bestimmten Faches“ (ebd.: 7) und sollen den Ländern dazu dienen, „Rahmenlehrpläne und Aufgaben für zentrale Prüfungen zu erarbeiten oder zu präzisieren und an die Bildungsstandards anzupassen“ (ebd.: 19). Die Kompetenzbeschreibungen sind als Regelstandards konzipiert und weisen ein mittleres Niveau an Anforderungen aus, „das im Durchschnitt von den Lernenden erreicht werden soll“ (Leupold 2010: 51). Es ist nicht zuletzt die normative Ausrichtung, die die Bildungsstandards für die Fremdsprachendidaktik problematisch machen (cf. Bausch/ Burwitz- Melzer/ Königs/ Krumm 2005) und ohne „gesicherte Forschungsgrundlage unter Mitwirkung von Erziehungswissenschaftlern sowie einiger weniger <?page no="40"?> 40 Fachdidaktiker entstanden“ ist (Burwitz-Melzer 2005b: 57). All dies hat Auswirkungen auf die Konzeption von kommunikativer Kompetenz in den Bildungsstandards, den Sprachbegriff, die einzelnen Kompetenzbereiche, die beigefügten Beispielaufgaben und gerade auch auf den Stellenwert literarischer Texte. Diese Aspekte gilt es im Folgenden eingehender zu untersuchen. 3.2.1 Zu Sprachbegriff und Kompetenzkonzept In den Bildungsstandards für die Erste Fremdsprache zeigt sich ein ähnliches Bild wie im GER, denn in Bezug auf den Sprachbegriff ist vieles unklar gehalten. Zwar wird „in einer Präambel“ der Anteil des „Faches zur Bildung definiert“ (KMK 2005b: 15), es finden sich in ihr aber nur einige wenige Aussagen über die Auffassung von Sprache und Sprachlernen. In dem Wenigen tritt Fremdsprachenlernen dann eher unter instrumentellen und utilitaristischen Gesichtspunkten in den Vordergrund: „Die politische, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung Europas im Kontext zunehmender internationaler Kooperation und globalen Wettbewerbs stellt neue Anforderungen an das Fremdsprachenlernen“ (KMK 2004a: 6). Sprache, ausdrücklich auf den schulischen Kontext fremdsprachlicher Lehr-Lern-Prozesse bezogen, folgt so „einem weitgehend sprachpraktischen Verständnis kommunikativer Handlungsfähigkeit“ (Caspari et al. 2008: 12). In diesem funktionalistischen Ansatz stellt für die Autoren der Bildungsstandards „der Erwerb kommunikativer und interkultureller Kompetenzen in anderen Sprachen […] eine wichtige Voraussetzung erfolgreicher Kommunikation“ dar (KMK 2004a: 6). In diesem Zuge wird Mehrsprachigkeit zwar erwähnt und „für nicht wenige Teilbereiche unserer Gesellschaft“ und „in unterschiedlichster qualitativer Ausprägung“ als Realität anerkannt (ebd.: 7), es fehlen aber „sprachübergreifende oder mehrsprachige Kompetenzen“, denn „gemessen wird das Kompetenzniveau in einer Sprache“ (Caspari et al. 2008: 12; Hervorhebung im Original) - je nach Bundesland Englisch oder Französisch. Mehrsprachigkeit bleibt so mehr ein Lippenbekenntnis als ein bildungspolitisches Konzept, und das Potential für das Fremdsprachenlernen im schulischen Kontext wird im Dokument nicht weiter ausgebaut (vgl. Gnutzmann 2005: 107 f.). Sind die Aussagen der Bildungsstandards in Hinblick auf den Sprachbegriff noch bedeckt gehalten, so ist das Kompetenzkonzept beinahe undurchsichtig. Es ist zwar von kommunikativen, interkulturellen und methodischen Kompetenzen die Rede (vgl. KMK 2004a: 6), es werden aber nur die Kompetenzbereiche, nicht etwa das Kompetenzverständnis konkretisiert. Letzteres wird für den Benutzer erst in Zusammenschau mit der Expertise Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards (BMBF 2003) nachvollziehbar, die den Bildungsstandards vorbereitend vorausgegangen ist (vgl. Caspari et al. 2008: <?page no="41"?> 41 1). Kompetenzen werden verstanden als „eine Disposition, die Personen befähigt, bestimmte Arten von Problemen erfolgreich zu lösen, also konkrete Anforderungssituationen eines bestimmten Typs zu bewältigen“ (BMBF 2003: 72). Und mit Kompetenzbeschreibungen soll darauf gezielt werden, „Grunddimensionen der Lernentwicklung in einem Gegenstandsbereich (einer ‚Domäne‘, wie Wissenspsychologen sagen, einem Lernbereich oder einem Fach) zu identifizieren“ (ebd.: 21 f.). Als Dispositionen sind Kompetenzen nicht geschlossen, gehen zwar „auf Erfahrungen und vorherige Lernprozesse zurück, sind aber ‚nach oben hin‘ bzw. in die Zukunft offen“ (Zydatiß 2010: 59). In einem solchen Kompetenzverständnis sind knowledge und ability for use als integrierte und gleichwertige Teilkomponenten zu sehen 6 . Um der Domäne gerecht zu werden, basieren die Bildungsstandards auf fachspezifischen Kompetenzmodellen (vgl. ebd.: 22). Für den Fremdsprachenunterricht dient der GER als solches. Und so wird die Orientierung der Bildungsstandards am Referenzrahmen betont. Die Beschreibung der Kompetenzbereiche durch Kann-Deskriptoren erfolgt demzufolge auch „in enger Anlehnung an den Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen“ (ebd.: 11). Wie es noch zu zeigen gilt, übernehmen die Bildungsstandards mit dieser Vorgehensweise viele Schwächen, die auch dem GER anzulasten sind. Allerdings weichen die Bildungsstandards in zweierlei Fällen von GER und Expertise ab (vgl. Zydatiß 2005: 276). Anders als die Expertise, die von einer „Verwendung der Standards bzw. standard-bezogener Tests für Notengebung und Zertifizierung“ abrät (BMBF 2003: 10), sollen die Bildungsstandards „notwendige Vergleichsmaßstäbe“ liefern, anhand derer „die tatsächlichen Leistungen von Schülerinnen und Schülern gemessen werden können“ (KMK 2005b: 11). Bis auf die Kompetenzbeschreibungen und die Beispielaufgaben findet sich in den Bildungsstandards dazu jedoch nichts. So wird unverständlicher Weise ein für die normative Ausrichtung der Bildungsstandards wesentlicher Bestandteil des GER außenvorgelassen, „denn dieser hat zusätzlich zum Lehren und Lernen von Fremdsprachen noch die Beurteilung […] zum Gegenstand“ (Zydatiß 2005: 276). Anklänge des Sprachverständnisses sind im Kompetenzmodell zu finden, denn die vier Bestandteile sind Kompetenzbereiche des übergeordneten Konzepts der funktionalen kommunikativen Kompetenzen (vgl. KMK 2004a: 8): 6 Das in der Expertise dargelegte Kompetenzverständnis wird an andere Stelle dieser Arbeit erneut diskutiert. Und zwar hinsichtlich des Erkenntnisinteresses des Forschungsprojekts in Zusammenhang mit fachdidaktischen und forschungsmethodologischen Fragestellungen (siehe hierzu 5.1). Die Anforderungen der Expertise an fachliche Kompetenzmodelle treten bei der Modellierung im empirischen Teil immer wieder als Bezugspunkte in Erscheinung und sollen der Anschlussfähigkeit des Modells an die Kompetenzdiskussion zuarbeiten. <?page no="42"?> 42 Funktionale kommunikative Kompetenz Kommunikative Fertigkeiten Verfügung über die sprachlichen Mittel Hör- und Hör-/ Sehverstehen Leseverstehen Sprechen  an Gesprächen teilnehmen  zusammenhängendes Sprechen Schreiben Sprachmittlung Wortschatz Grammatik Aussprache und Intonation Orthographie Interkulturelle Kompetenzen soziokulturelles Orientierungswissen verständnisvoller Umgang mit kultureller Differenz praktische Bewältigung kultureller Begegnungssituationen Methodische Kompetenzen Textrezeption (Leseverstehen und Hörverstehen) Interaktion Textproduktion (Sprechen und Schreiben) Lernstrategien Präsentation und Mediennutzung Lernbewusstheit und Lernorganisation Tabelle 3: Kompetenzbereiche in den Bildungsstandards (KMK 2004a: 8) Funktionale kommunikative Kompetenzen umfassen das „Spektrum der fremdsprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten“ und somit auch alle Teilkompetenzen der kommunikativen Fertigkeiten, „werden im praktischen Anwendungsbezug“ (ebd.) gewonnen und ermöglichen es den Lernenden, sich in der Fremdsprache zu verständigen. Die Lernenden können „diese Fähigkeit für die persönliche Lebensgestaltung im Alltag einsetzten“ und die erworbenen Kenntnisse sowohl „für ihren weiteren Bildungsweg“ als auch „in der späteren beruflichen Tätigkeit und in der beruflichen Weiterbildung nutzen“ (ebd.: 8 f.). Die Verfügung über die sprachlichen Mittel begleitet die „Entwicklung der funktionalen kommunikativen Kompetenzen“ (ebd.: 9) und ist als Fähigkeit gefasst, „sich in der Fremdsprache schriftlich und mündlich handlungssicher zu verständigen“ und dabei „Zeit-, Handlungs- und logische Strukturen“ zu erkennen sowie „Wörter, Wendungen und Satzstrukturen […] aktiv einsetzen und weitere Wendungen verstehen und erschließen“ zu können (ebd.). Der dritte Teilbereich der interkulturellen Kompetenzen zielt darauf, „Interesse und Verständnis für andere kulturspezifische Denk- und Lebensweisen, Werte, Normen und Lebensbedingungen auszubilden“ (ebd.: 10). Schülerinnen und Schüler sollen „eigene Sichtweisen, Wertvorstellungen und gesellschaftliche Zusammenhänge mit denen englischerbzw. französischsprachiger Kul- <?page no="43"?> 43 turen tolerant und kritisch vergleichen“ (ebd.). Dies soll durch „soziokulturelles Orientierungswissen“, „Fähigkeiten im Umgang mit kultureller Differenz“ sowie „Strategien und Fähigkeiten zur praktischen Bewältigung interkultureller Begegnungssituationen“ erreicht werden und ist mit der „Stärkung der eigenen Identität“ als Lernziel verbunden (ebd.). Methodische Kompetenzen umfassen neben „Lerntechniken und -strategien“, „kooperative Formen des Arbeitens und Lernens“, „Lernverfahren zur Selbstständigkeit im Sprachlernen“ auch „verschiedene Verfahren zur Auswertung“ wie „zum anwendungs- und produktorientierten Gestalten von mündlichen und schriftlichen Texten“ (ebd.). In den Skalen des GER lassen sich methodische Kompetenzen am ehesten als „Teilaspekte allgemeiner sowie kommunikativer Kompetenzen (pragmatische Kompetenzen)“ verorten (Köller 2007: 18). Interkulturelle Kompetenzen sind „einerseits den kommunikativen Kompetenzen des GER (im Sinne soziolinguistischer Kompetenzen) zuzuordnen, andererseits werden durch sie Aspekte der allgemeinen Kompetenzen des GER zum Ausdruck gebracht“ (ebd.). Und für die kommunikativen Fertigkeiten werden zur Beschreibung die Skalen der kommunikativen Aktivitäten im GER herangezogen, für den Bereich der Verfügung über die sprachlichen Mittel die der linguistischen Kompetenzen. Erst in Zusammenschau der vier Bereiche können die Zusammenhänge zwischen Sprechfertigkeiten und Sprachfähigkeiten der Lernenden als „Verbindung zwischen Wissen und Können“ (Klieme 2004: 13) nachvollzogen werden. Anzumerken ist auch hier, dass dies - ganz wie im GER - lediglich angedacht ist, denn die Wechselwirkungen zwischen den Bereichen werden nicht verdeutlicht. Hinsichtlich der Referenzniveaus beziehen sich die Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss „auf die Niveaustufe B1, die das untere Niveau einer selbständigen Sprachverwendung repräsentiert“ (KMK 2004a: 7), wobei in einigen Teilbereichen „dieses Niveau bis zum Erwerb des Mittleren Schulabschlusses überschritten“ wird (ebd.). In den Bildungsstandards für den Hauptschulabschluss ist im „Rahmen einer Förderperspektive“ auch eine „Überschreitung der […] festgelegten Niveaus“ angedacht, es wird sich jedoch „nahezu durchgängig auf die Niveaustufe A2“ bezogen (KMK 2005a: 7). Allerdings werden unterschiedliche Anforderungen und Kompetenzbeschreibungen für Englisch und Französisch ausgewiesen (vgl. Leupold 2010: 51). Bei aller Nähe zum GER lassen sich doch auch Unterschiede erkennen: So sind beispielsweise nicht alle Kompetenzbeschreibungen und Deskriptoren wörtlich den Skalen des GER entnommen. Vielmehr werden Anforderungsmerkmale aus den Global- und Spezialskalen besonders der kommunikativen Aktivitäten zusammengefasst und paraphrasiert. Auch ist die „Ausrichtung auf interkulturelle Handlungsfähigkeit“ (KMK 2004a: 6) qualitativ etwas An- <?page no="44"?> 44 deres als der handlungsorientierte Ansatz des GER (vgl. Europarat 2001: 21 f.). Und zwar insofern, als die sozial handelnden Sprachverwendenden (vgl. ebd.) in den Bildungsstandards nur als Beschreibungsobjekte von Sprachleistungen eine Rolle spielen. Als Subjekte kommen sie nicht vor, da der Aspekt des self-assessment, der den Impetus des „lebenslangen Lernens“ (KMK 2004a: 6) und der „Selbstständigkeit im Sprachlernen“ (ebd.: 10) in das Dokument mit einbinden hätte können, vollständig ausgeblendet bleibt. Problematisch bleibt auch, was der Titel suggeriert und nicht einzuhalten vermag: Denn Standards können Bildung gar nicht greifen, sind sie doch „nicht mehr und nicht weniger als Operationalisierungen postulierter Zwecke bildungspraktischen (schulischen bzw. unterrichtlichen) Handelns“ (Heid 2007: 34). Satt also fremdsprachliche Bildung zu implizieren wäre es „vermutlich sinnvoller gewesen, die auf Überprüfung sprachpraktischer Kompetenzen zielenden Standards […] als ‚Leistungsstandards‘ zu deklarieren“ (Zydatiß 2010: 63). Allerdings schaffen sie „Voraussetzungen zur (zielgerichteten) Ausrichtung unterrichtspraktischen Handelns und (zuvor) Voraussetzungen für die diskursive Verständigung […] über das Wozu unterrichtspraktischen Handelns“ (Heid 2007: 34 f.). Dass gerade der letztgenannte Aspekt aus Sicht der fremdsprachlichen Literaturdidaktik stark ausbaufähig und korrekturbedürftig ist, gilt es im folgenden Abschnitt eingehender darzulegen. 3.2.2 Zum Stellenwert literarischer Texte in Kompetenzbereichen und Beispielaufgaben In den Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss wird zwar betont, dass „den Schülerinnen und Schülern mit ausdrücklichem Bezug auf die aktive Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben auch Themen- und Handlungsfelder in ihrer literarischen bzw. ästhetisch/ gestalterischen Qualität erfahrbar gemacht werden“ sollen (KMK 2004a: 8). Jedoch werden literarische Texte in den Kompetenzbeschreibungen nur am Rande erwähnt. Innerhalb der kommunikativen Fertigkeiten wird im Abschnitt Leseverstehen auf den Umgang mit literarischen Texten verwiesen, allerdings stark verkürzt und eingeschränkt (KMK 2004a: 12): Die Schülerinnen und Schüler können: • Korrespondenz lesen, die sich auf das eigene Interessensgebiet bezieht und wesentliche Aussagen erfassen (B2), • klar formulierte Anweisungen, unkomplizierte Anleitungen, Hinweise und Vorschriften verstehen (B1/ B2), <?page no="45"?> 45 • längere Texte nach gewünschten Informationen durchsuchen und Informationen aus verschiedenen Texten zusammentragen, um eine bestimmte Aufgabe zu lösen (B1+), • in kürzeren literarischen Texten (z.B. Short Stories) die wesentlichen Aussagen erfassen und diese zusammentragen, um eine bestimmte Aufgabe zu lösen (B1), • die Aussagen einfacher literarischer Texte verstehen, • in klar geschriebenen argumentativen Texten zu vertrauten Themen die wesentlichen Schlussfolgerungen erkennen, z.B. in Zeitungsartikeln (B1/ B1+). Betrachtet man die verwendeten Deskriptoren, so wird deutlich, dass das, was bereits über die Skalen des GER gesagt wurde, auch hier zutreffend ist. Lassen sich doch „dessen semantische Ungenauigkeiten“ (Burwitz-Melzer 2005b: 61) in den Merkmalsanforderungen wiederfinden 7 . Entsprechend den Ausführungen der Bildungsstandards bedeutet Leseverstehen, dass Lernende „weitgehend selbstständig verschiedene Texte aus Themenfeldern ihres Interessen- und Erfahrungsbereiches lesen und verstehen“ können (KMK 2004a: 12). Diese vage gehaltene Auffassung von Lesen wird auch durch die in den Deskriptoren verwendeten Verben nicht eindeutiger: Begriffen wie durchsuchen, zusammentragen, lösen und erkennen, die auf ein Verständnis von Lesen als Informationsentnahme schließen lassen, stehen lesen, erfassen und verstehen gegenüber, die sich eher auf den Textsinn zu beziehen scheinen. Wie sich diese Operationen voneinander unterscheiden, was sie für das Lesen in der Fremdsprache bedeuten, welche Zielvorstellungen damit verfolgt werden, welche sprachlichen Mittel zur Bewältigung beherrscht werden müssen und wie damit im Unterricht „die tatsächlichen Leistungen von Schülerinnen und Schülern gemessen werden können“ (KMK 2005b: 11), bleibt leider völlig ungeklärt. Im Gegensatz zum GER werden literarische Texte in den Kompetenzbeschreibungen gleich zwei Mal erwähnt. Dies ist aber eher als quantitativer Unterschied zu werten - qualitativ ändert sich wenig. Es stellt sich vielmehr die Frage, was genau unter kürzeren literarischen Texten zu verstehen ist, wie 7 Zwei der Kompetenzbeschreibungen zum Leseverstehen sind aus den Skalen des GER direkt übernommen: Der erste Deskriptor bezieht sich auf „Korrespondenz lesen und verstehen“ (Europarat 2001: 75), der dritte auf die spezialisierte Skala „zur Orientierung lesen“ (ebd.). In der zweiten Kompetenzbeschreibung werden zwei Deskriptoren aus der Skala „schriftliche Anweisungen verstehen“ zusammengefasst (ebd.: 76). Ebenso in der letzten, die auf den Deskriptoren der Skala „Information und Argumentation verstehen“ fußt (ebd.). <?page no="46"?> 46 sich diese von einfacheren literarischen Texten unterscheiden, und was mit wesentlichen Aussagen gemeint ist. Zwar werden Short Stories als Gattung genannt, aber es zeigt sich keine für die unterrichtliche Praxis relevante Umsetzung literaturdidaktischer „Zielvorstellungen wie die ästhetisch-kreative Erziehung des Lernenden, die Bildung seiner Persönlichkeit und seine Erziehung zu einem politisch bewussten Subjekt“ (Burwitz-Melzer 2007a: 131). Dass insgesamt die Fokussierung auf Informationsentnahme überwiegt, wird nicht nur daran deutlich, dass selbst das Lesen von literarischen Texten der Zielvorgabe folgt, „eine bestimmte Aufgabe zu lösen“ (KMK 2004a: 12). Auch im Abschnitt Sprechen/ an Gesprächen teilnehmen stehen Informationen im Zusammenhang mit literarischen Texten im Vordergrund. So sollen die Lernenden etwa „eine kurze Geschichte […] zu vertrauten Themen einem Gesprächspartner vorstellen und Informationsfragen dazu beantworten“ können (KMK 2004a: 13). Das Sprechen über literarische Texte spielt hingegen keine Rolle (vgl. Burwitz-Melzer 2005b: 61). Gleiches gilt für die Aufgabenbeispiele zum Lesen. Insgesamt werden drei Beispiele gegeben, die demselben Muster folgen: Zuerst wird der Standardbezug formuliert, darauf folgen Hinweise zu den verwendeten Textsorten, zur Lösungserwartung und schließlich die Aufgabenstellung als task. Beim Format des ersten Beispiels handelt es sich um eine Zuordnungsaufgabe. Die Lernenden sollen „auftragsgemäß Informationen“ aus Kurz- und Inhaltsbeschreibungen „zusammentragen, um eine bestimmte Aufgabe zu lösen“ (KMK 2004a: 28). Im zweiten Beispiel kommen Sachtexte als Textsorte zum Einsatz, und die Lernenden sollen im multiple choice Format ihre „Fähigkeit, in klar geschriebenen argumentativen Texten zu vertrauten Themen die wesentlichen Schlussfolgerungen zu erkennen“, unter Beweis stellen (ebd.: 31). In beiden Beispielen wird als Hilfsmittel auf zweisprachige Wörterbücher verwiesen. Anders verhält es sich im dritten Beispiel. In den Hinweisen wird nicht die Textsorte, sondern vielmehr das Textthema betont, das dem „Bereich ‚between two worlds / multicultural society‘ zugeordnet“ wird (ebd.: 32). Als Formate finden sentence completion und mindmap Verwendung, und die Lernenden sollen einen Auszug einer asiatisch-amerikanischen Kurzgeschichte „nach gewünschten Informationen […] durchsuchen und Informationen zusammentragen […], um eine bestimmte Aufgabe zu lösen“ (ebd.). Dem Verhältnis von Standardbezug, task und Textsorte ist gleich in zweierlei Hinsicht Unstimmigkeit zu bescheinigen: Dass es sich nämlich im Gegensatz zu den anderen Beispielen um einen Auszug einer Short Story handelt, bleibt völlig unberücksichtigt. Hier hätte das Textbeispiel dazu dienen können, nicht nur die Merkmale von kürzeren literarischen Texten zu konkretisieren, sondern auch Hinweise dafür zu geben, was es denn bedeutet, die Aussagen einfacher literarischer Texte zu verstehen. Stattdessen wird die Short Story <?page no="47"?> 47 nicht anders behandelt als die zuvor beschriebenen expositorischen Texte, wobei auch die auf Informationsentnahme zielenden Kompetenzbeschreibungen verwendet werden. Vielleicht noch problematischer zeigt sich der Umgang mit dem Themenbereich, denn dessen Potential für die Entwicklung interkultureller Kompetenzen wird schlichtweg ignoriert. Anstelle „eines Perspektivenwechsels, eines Einfühlens in fremde Lebensweisen und Wertvorstellungen“ (Burwitz-Melzer 2005b: 64) kommen in den Lösungserwartungen nur „die sprachliche Einbindung der Information in das Satzgefüge“ (KMK 2004a: 33) und das Strukturieren und Füllen einer mindmap zum Tragen. Dies fällt umso mehr ins Gewicht, bleiben doch interkulturelle Kompetenzen bis auf diesen Themenbereich in den Beispielaufgaben völlig ausgeblendet. Ähnlich wird mit den methodischen Kompetenzen und der Verfügung über die sprachlichen Mittel verfahren, für die auch keine Beispielaufgaben angeführt werden. Wendet man sich erneut den Kompetenzbereichen zu, so lassen sich literarische Texte neben den funktionalen kommunikativen Kompetenzen nur in den methodischen Kompetenzen finden. Allerdings ändert sich auch hier nichts im Umgang mit ihnen, werden doch im Bereich Textrezeption literarische Kleinformen in einem Zuge mit Sachtexten genannt (vgl. KMK 2004a: 17), und dies „ohne weitere Erläuterung der wichtigen Rolle, die diese Textsorten beim Erlangen von Lern-, Lese- und Arbeitsstrategien spielen können“ (Burwitz-Melzer 2007a: 131). Im Bereich der interkulturellen Kompetenzen tauchen literarische Texte nicht weiter auf. Zwar sind interkulturelle Kompetenzen in den Bildungsstandards „mehr als Wissen und mehr als eine Technik“ und werden als „Haltungen, die ihren Ausdruck gleichermaßen im Denken, Fühlen und Handeln und ihre Verankerung in entsprechenden Lebenserfahrungen und ethischen Prinzipien haben“ (KMK 2004a: 16), beschrieben. Es wird jedoch nicht darauf eingegangen, wie diese Lernziele im Unterricht umzusetzen sind. Schon deshalb nicht, weil sie in den Beispielaufgaben ausgespart bleiben. Hier zeigt sich, wie gefährlich das Ausspielen von Inhalten zugunsten der outcome-Orientierung auch für das eigene Kompetenzverständnis der Bildungsstandards ist (cf. Bausch/ Burwitz-Melzer/ Königs/ Krumm 2009). Denn obwohl die Bildungsstandards sich als „Mischung von Inhalts- und Outputstandards“ verstehen (KMK 2005b: 9), spielen Inhalte dann doch keine Rolle; und zwar weder in den Beispielaufgaben noch in den Kompetenzbeschreibungen 8 . Setzt man literarische Texte - zugegebe- 8 Dies ist umso schwerwiegender, führt man sich die Implementierung der nationalen Bildungsstandards in den einzelnen Ländern vor Augen. Dabei sei auf die Ausführungen von Eva Burwitz-Melzer verwiesen (2009), die die hessischen Lehrpläne unter diesem Aspekt untersucht, und zu dem Schluss kommt, dass „die <?page no="48"?> 48 nermaßen verkürzt - mit Inhalten gleich, so wird deutlich, wie schwerwiegend die Auswirkungen sind, die diese Beschränkung für den Bereich der interkulturellen Kompetenzen bereit hält (cf. Ahrens 2009). Dafür muss der Blick zunächst auf die Kompetenzbeschreibungen gelenkt werden: Neben soziolinguistischen, pragmatischen und intellektuell-diskursiven Beschreibungsmerkmalen sind vor allem hermeneutisch-interpretative und affektivemotionale Fähigkeiten auszumachen (KMK 2004a: 16): Die Schülerinnen und Schüler • kennen elementare spezifische Kommunikations- und Interaktionsregeln englischbzw. französischsprachiger Länder und verfügen über ein entsprechendes Sprachregister, das sie in vertrauten Situationen anwenden können, • sind neugierig auf Fremdes, aufgeschlossen für andere Kulturen und akzeptieren kulturelle Vielfalt, […] • sind in der Lage ungewohnte Erfahrungen auszuhalten, mit ihnen sinnvoll und angemessen umzugehen und das Fremde nicht als etwas wahrzunehmen, das Angst macht, • können sich in Bezug auf die Befindlichkeiten und Denkweisen in den fremdkulturellen Partner hineinversetzen, […] • können kulturelle Differenzen, Missverständnisse und Konfliktsituationen bewusst wahrnehmen, sich darüber verständigen und gegebenenfalls gemeinsam handeln. Die Kompetenzbeschreibungen werden auf die Bereiche tägliches Leben, „Lebensbedingungen, „zwischenmenschliche Beziehungen“ sowie „Werte, Normen, Standardorientierung nur einen sehr oberflächlichen Einfluss“ auf die Lehrpläne der Bildungsgänge gehabt hat (ebd.: 36). Denn bis 2011 galten für die Grundschule der Rahmenplan von 1995, für Haupt- und Realschule die Lehrpläne von 2001 mit angefügten „Abschlussprofilen“, in denen Merkmalsanforderungen für die Absolventen festgehalten sind, und für Gymnasien Lehrpläne von (G9) 2005 und (G8) 2008 (vgl. ebd.: 35 f.). Man kann also festhalten, „dass eine Auseinandersetzung mit Inhalten im Fremdsprachenunterricht in den Lehrplänen des Landes Hessen seit Jahrzehnten nicht mehr stattgefunden hat - auch nicht nach der Hinwendung zur Ergebnisorientierung“ (ebd.). Wie erwähnt gelten in Hessen seit Mitte 2011 die sogenannten Bildungsstandards und Inhaltsfelder, Das neue Kerncurriculum für Hessen, Moderne Fremdsprachen (HKM). Weitgehend werden in diesem Dokument die Formulierungen der Nationalen Bildungsstandards übernommen, mit der Neuerung, dass sie um Abstufungen für die Jahrgangsstufen 5/ 6 und 7/ 8 erweitert werden. Da das Kerncurriculum erst nach der Durchführung der Studie implementiert wurde und sich die teilnehmenden Gruppen der Fallstudien (cf. 5.2.1) ausschließlich aus den Jahrgängen 9 und 10 rekrutieren, wird darauf innerhalb der Arbeit nicht weiter eingegangen. <?page no="49"?> 49 Überzeugungen, Einstellungen“ bezogen (ebd.: 16 f.). Wie sie als Einstellungen, Werte und Geisteshaltungen losgelöst von Inhalten im Unterricht zu vermitteln und zu fördern sind (vgl. Burwitz-Melzer 2005b: 62), wird auch nicht durch den Hinweis auf die entsprechenden Lebenserfahrungen erhellt. Hingegen sind es gerade literarische Texte, die Inhalte in Form von Erfahrungen für den Unterricht bieten können (vgl. Bredella 2009). Dass sie hier nicht zum Tragen kommen, ist schon deshalb unverständlich. Besonders jedoch im Hinblick darauf, dass ungeachtet des Stellenwerts innerhalb der Bildungsstandards die interkulturelle Dimension von Fremdsprachenunterricht vorwiegend durch den Einsatz von literarischen Texten umgesetzt werden kann (cf. Kramsch 1993; Bredella/ Christ 1995; Bredella/ Christ/ Legutke 1997; Bredella/ Meißner/ Nünning/ Rösler 2000; Bredella/ Hallet 2007). Auch haben empirische Studien aufzeigen können, dass die Auseinandersetzung mit authentischen literarischen Texten im Unterricht maßgeblich zur Entwicklung interkultureller Kompetenzen beizutragen vermag, und sie als Inhalte für Lernziele wie das Fremdverstehen eine wichtige Funktion einnehmen (cf. Burwitz-Melzer 2003; Freitag-Hild 2010). Die angemerkten kritischen Punkte spiegeln sich strukturell auch in den Bildungsstandards für den Hauptschulabschluss. Bis auf den Bereich Leseverstehen werden literarische Texte allerdings nicht erwähnt. Und nunmehr lediglich als ‚Randnotiz‘: „Die Schülerinnen und Schüler können […] aus einfacheren schriftlichen Materialien wie Briefen, Broschüren, Zeitungsartikeln (oder auch dem Niveau entsprechenden fiktionalen Texten) spezifische Informationen herausfinden (A2)“ (KMK 2005a: 12) 9 . Hier zeigt sich erneut, dass „eine differenzierte Operationalisierung in Bezug auf Lesekompetenz“ nicht gelungen ist (Burwitz-Melzer 2007a: 130), denn beim Lesen fiktionaler Texte, die in einem Atemzug mit expositorischen Textsorten genannt werden, gilt es doch nicht nur „Inhaltsaspekte, sondern auch Sinnaspekte eines Textes und seine interkulturelle Bedeutung zu erschließen und zu diskutieren“ (ebd.). Diese Situation zeigt sich umso verwunderlicher, als den Lernenden dann innerhalb des Bereichs Schreiben literarische Fähig- und Fertigkeiten abverlangt werden: „Die Schülerinnen und Schüler können […] nach sprachlichen Vorgaben kurze einfache Texte (Berichte, Beschreibungen, Geschich- 9 Der erste Deskriptor der Kompetenzbeschreibung zum Leseverstehen ist der Skala „Korrespondenz lesen und verstehen“ des GER entnommen und um E-Mails als Textsorte erweitert worden (Europarat 2001: 75). Der zweite und dritte Deskriptor fußen auf der Skala „zur Orientierung lesen“ (ebd.). Der vierte basiert auf der Skala „Information und Argumentation verstehen“, wobei der Hinweis auf fiktionale Texte nur in den Bildungsstandards zu finden ist (ebd.: 76). Die Merkmalsanforderungen des letzten Deskriptors sind aus der Skala „schriftliche Anweisungen verstehen“ entnommen (ebd.). <?page no="50"?> 50 ten, Gedichte) verfassen (A2)“ (KMK 2005a: 13). Den Lernenden wird also eine rezeptive Gattungskompetenz hinsichtlich literarischer Texte nicht zugetraut, spricht man doch lediglich von fiktionalen Texten, die dem nicht weiter spezifizierten Niveau entsprechen sollen. Produktiv wird jedoch vorausgesetzt, dass Lernende über hinreichende Gattungs- und Produktionskompetenz verfügen, um - wenn auch durch sprachliche Vorgaben entlastet - Geschichten und Gedichte zu verfassen. Dass dabei erneut keine Unterscheidung zwischen Sachtexten und literarischen Texten getroffen wird, zeigt, dass die Zielsetzungen bei der Arbeit mit literarischen Texten vernachlässigt, wenn nicht gar verkannt wird (vgl. Bredella 2005; Burwitz-Melzer 2007a, b). Die Beispielaufgaben sind entsprechend formuliert: Das erste Beispiel zielt auf die „Fähigkeit, konkrete voraussagbare Informationen in einfachen Alltagstexten aufzufinden“ (KMK 2005a: 25). Für das true/ false Format werden als Textsorte Werbebroschüren genannt, die im Themenbereich Freizeit zu verorten sind (vgl. ebd.). Das zweite Beispiel „illustriert die Fähigkeit, gebräuchliche Zeichen und Schilder an öffentlichen Orten, z.B. Wegweiser, Warnungen vor Gefahr, zu verstehen“ (ebd.: 27). Beim Format handelt es sich um eine Zuordnungsaufgabe, wobei „nummerierte Erläuterungen den Aussagen der Schilder und Inschriften“ zugeordnet werden sollen (ebd.: 28). Im dritten und letzten Beispiel wird im Standardbezug der Deskriptor genannt, in dem auch von fiktionalen Texten die Rede ist. Im multiple choice Format ist es jedoch die Textsorte Sachtext, aus der es „spezifische Informationen herauszufinden“ gilt (ebd.: 29). Neben der Tatsache, dass es mit den Beispielaufgaben beider Dokumenten nicht gelingt, Teiloperationen von lesen und verstehen zu konkretisieren, zeigt sich - bedingt durch die Verkürzung auf Informationsentnahme - der Unterschied zwischen den Niveaustufen B1 und A2 vor allem in den verwendeten Textsorten. Die Mehrdimensionalität des Spracherwerbsprozesses bleibt damit weitgehend unberücksichtigt, denn Lernfortschritt bedeutet nicht nur, dass Schülerinnen und Schüler „eine immer größere Zahl kommunikativer Situationen und Themen bewältigen“ können, sondern eben auch, dass dies „mit immer größerem und präziserem Wortschatz und mit wachsender linguistischer Kompetenz“ (Quetz 2005: 214) gelingt. <?page no="51"?> 51 3.3 Zwischenfazit II: Konsequenzen für die Modellierung Hinsichtlich der Auseinandersetzung mit den bildungspolitischen Dokumenten lassen sich zwei Pole ableiten, deren Konsequenzen es für die Modellierung literarischer Kompetenzen auszuloten gilt. Zum einen muss gegenüber dem Spannungsfeld der deskriptiven bzw. normativen Ausrichtung von Kompetenzmodellen Stellung genommen werden. Dies betrifft auch die mit dem Begriff Operationalisierung einhergehenden Prämissen. Zum anderen ergeben sich besonders aus der Verwendung der Konzepte Lesen und Verstehen in den bildungspolitischen Dokumenten Fragestellungen, die in Zusammenhang mit dem Erkenntnisinteresse der Arbeit eine zentrale Rolle einnehmen. Dazu zählt auch die Funktion, die den allgemeinen Kompetenzen innerhalb des GER und im anvisierten Modell beigemessen wird. Wie bereits im ersten Zwischenfazit angelegt, sollen diese Eckpunkte als Arbeitshypothesen Eingang in den empirischen Teil der Arbeit finden. 8) Normative Momente finden sich in Kompetenzmodellen immer dann, wenn Deskriptoren als Kompetenzbeschreibungen verwendet werden. Denn es sind Merkmalsanforderungen, „die überhaupt erkennen lassen, ob und inwieweit die jeweiligen Kompetenzen erreicht worden sind“ (Bredella 2010a: 21). Dies gilt auch für die Skalen des GER, selbst wenn es von den Autoren und dem Europarat als Herausgeber nicht intendiert ist. Im Falle der Bildungsstandards sind normative Momente dann als bildungspolitische Setzung zu werten. Im Forschungsprojekt sind sie wiederum auf Aspekte der Generalisierung zurückzuführen: Darauf zielend, literaturdidaktische Beschreibung mit literaturdidaktischer Realität in Einklang zu bringen, sollen Schülerleistungen zunächst deskriptiv erfasst und kategorisiert werden 10 . Da sie jedoch auch losgelöst von der jeweils spezifischen Schülerleistung als Merkmalsbeschreibungen literarischer Kompetenz funktionieren sollen, müssen sie - im Sinne eines begrenzten Anspruchs auf theoretische Verallgemeinerbarkeit - auf einer höheren Abstraktionsstufe semantisiert werden. Somit ist es unumgänglich, dass die zu entwickelnden Deskriptoren stets normative und deskriptive Momente in sich vereinen. Vermeiden ließe sich diese inhärente Ambivalenz nur, wenn man auf Deskriptoren verzichtet. Dies soll aber schon aufgrund der Rolle, die Merkmalsbeschreibungen bei der Konkretisierung von Kompetenzbereichen einnehmen, nicht geschehen. 10 Wie genau diese Forderung im Forschungsdesign Entsprechung finden kann, und welche fachdidaktischen und forschungsmethodologischen Fragestellungen damit verbunden sind, wird in Abschnitt 5.1 im empirischen Teil der Arbeit eingehend diskutiert. <?page no="52"?> 52 9) Eng verbunden mit der Formulierung von Deskriptoren zeigt sich der Begriff der Operationalisierung von Kompetenzen und Kompetenzbereichen 11 . Zum Zwecke einer Arbeitsdefinition wird Operationalisierung verstanden als Präzisierung des Konzeptes literarische Kompetenz „durch Angabe der Operationen“, sprich der jeweiligen Arbeits- und Denkvorgänge und deren Teilschritte, „mit denen man den durch den Begriff bezeichneten Sachverhalt erfassen kann“ (Dose/ Folz et al. 1990: 552). Es wird also auf die Identifizierung von Prozessebenen gezielt. Nicht jedoch wie im Sinne der Curriculumforschung und der Bildungsstandards darauf, „Lernziele durch einen Ausbildungsgang in Verhaltensänderungen der Lernenden [zu] übersetzten, die durch Tests o.ä. zu überprüfen sind“ (ebd.). 10)Dabei ist Lesen als eins der zentralen Konzepte zu verstehen, das es zu operationalisieren gilt. Anders als in den bildungspolitischen Dokumenten wird Lesen nicht mit Informationsentnahme gleichgesetzt. Im Modell stehen anstatt der dem Lesen nachgelagerten Effekte also vielmehr die Effekte auf den Leser während des Lesens im Vordergrund (vgl. Rosenblatt 1981). Das Verständnis von Lesen ist somit ein rezeptionsästhetisches (cf. Iser 1994; Jauß 1982; Goodman 1990). Dementsprechend ist es die rezeptionsästhetische Literaturdidaktik (cf. Bredella/ Burwitz-Melzer 2004), die als Ausgangspunkt für die literaturdidaktische Beschreibung dient. Und die im Modell vorgenommene Operationalisierung muss es leisten, die Interaktion zwischen Leser und Text einzubinden (vgl. Bredella/ Hallet 2007). Ebenso gilt es, die individuellen Sinnentwürfe und die beim Lesen literarischer Texte so wesentliche Rolle der Subjektivität im Modell zu repräsentieren (vgl. Delanoy 2007; Ehlers 2007). 11)In enger Beziehung mit Lesen steht das in den bildungspolitischen Dokumenten so vage gehaltenen Konzept des Verstehens. Damit geht eine erneute Präzisierung des Faktors Diskurs einher, denn das, was es zu verstehen gilt, repräsentiert einerseits Diskurse, und ist andererseits in eben diese eingebettet. Ausgangspunkt für diesen Gedankengang kann die Verarbeitungstiefe verschiedener Verstehensmodi sein. In Anlehnung an die modes of understanding bei Gillian Brown (1994) sollen in Verbindung mit den drei Diskursebenen (cf. 2.) Arbeitshypothesen hinsichtlich des Verstehens im fremdsprachlichen Literaturunterricht formuliert werden, die sowohl den Ausdrucksals auch den Inhaltsaspekt betreffen. Der unterrichtliche Diskurs erfordert von den Lernenden procedural unders- 11 Im Zusammenhang mit der Operationalisierung von Kompetenzen sind auch Fragen nach der Skalierbarkeit und Objektivierbarkeit zu stellen. Ausführlich wird darauf im Zwischenfazit des folgenden Kapitels eingegangen (cf. 4.3). <?page no="53"?> 53 tanding als mentales Modell, das das Ausführen von - in diesem Fall unterrichtlichen - Prozeduren ermöglicht (vgl. Brown 1994: 12). Sind die Prozeduren komplexerer Natur, und wird ein „constrained inferencing“ für das Ausführen nötig (ebd.: 15), steht bei Brown manipulating understanding im Vordergrund. Um den Zugang zum innerliterarischen Diskurs überhaupt zu ermöglichen, wird narrative understanding benötigt, denn die Lernenden müssen es leisten, in der mentalen Repräsentation Handlungen, Zeitverläufe, Charaktere, deren Motive und das Setting zu koordinieren (vgl. ebd.: 16-18). Im Zusammenspiel von unterrichtlichem, inner- und außerliterarischem Diskurs wird der Modus understanding argument produktiv. Hier gehört zum Verstehen, dass abstrakte Prämissen und Argumente, Werte, Normen und Gefühlslagen nachvollzogen, und dass diese - ganz ähnlich Piephos Diskurstüchtigkeit - erklärt, durchschaut, problematisiert, gerechtfertigt und hinterfragt werden (vgl. ebd.: 18-20). Damit das im Text Verhandelte verstanden werden kann, müssen die Lernenden Beziehungen zu Diskursen konstruieren, denn „[…] they are ways of being in the world, or forms of life that integrate words, acts, values, beliefs, attitudes, and social identities“ (Kramsch 1998: 61). 12)Für diese Verstehensleistungen sind intellektuell-diskursive wie emotional-affektive Dispositionen auf Seiten der Lernenden Voraussetzungen. Im GER sind besonders letztere als Handlungskompetenzen den allgemeinen Kompetenzen zugeordnet. Im Forschungsprojekt sind sie hingegen als integrale Bestandteile der literarischen Fachkompetenz zu sehen, wobei hier besonderes Augenmerk auf die Wechselwirkung der Bereiche zu legen ist, die es im Modell auch zu verdeutlichen gilt. Identifying als niedrigste Stufe der Verarbeitungstiefe bezeichnet Brown als „correct identification of the words used“ (1994: 10 f.), und ist so als Grundlage für alle anderen Modi des Verstehens zu werten. Nicht nur, aber besonders beim fremdsprachlichen Lesen ist diese Vorstufe Grundvoraussetzung für jede weitere Auseinandersetzung mit dem Gelesenen. Da der Leseprozess selbst in GER und Bildungsstandards keine Rolle spielt, sollen im folgenden Kapitel die Schnittstellen zwischen Lesekompetenz und literarischer Kompetenzen untersucht und ausgewertet werden. Mit dem Ziel, die Operationalisierung der Konzepte Lesen und Verstehen durch Identifizierung der einzelnen Prozessebenen voranzutreiben und für den empirischen Teil der Arbeit produktiv zu machen. <?page no="54"?> 54 4. Lesen, Kommunikation und Kompetenz: Schnittstelle Lesekompetenz/ literarische Kompetenz Im vorangegangenen Abschnitt war stets vom Leseverstehen die Rede. Dies ändert sich in den nun vorzustellenden Konzeptionen, denn dort wird Lesen als Disposition verstanden und als Kompetenz gefasst. Bevor die unterschiedlichen Perspektiven auf die Lesekompetenz und deren Schnittstellen mit literarischer Kompetenz eingehender untersucht werden, gilt es, das Verhältnis zwischen fremd- und muttersprachlichem Lesen zu klären. Zwar ist das Lesen in der Fremdsprache nicht grundsätzlich etwas Anderes als Lesen in der Muttersprache, es gibt aber Eigenheiten, die in der Literatur zur Lesetheorie unterschiedlich akzentuiert werden. Mittlerweile unterscheidet man in der Leseforschung nicht mehr dichotom zwischen bottom-up und top-down Prozessen: „We have ceased debating whether reading is a bottom-up, language-based process or a top-down, knowledge process. Most people now accept that the two processes interact” (Block 1992: 319) 12 . Diese beiden Pole können aber dafür genutzt werden, die Unterschiede zwischen fremd- und muttersprachlichem Lesen zu skizzieren. So geht beispielsweise die aus den Anfängen der Leseforschung stammende psycholinguistische Universalitätshypothese davon aus, dass Leseprozesse in der Mutter- und der Fremdsprache weitgehend identisch verlaufen (cf. Goodman 1967; Smith [1971] 2004), da die gleichen Lesestrategien Verwendung finden (cf. 4.1.1). Empirische Forschungen belegen jedoch, dass die Lesekompetenz in der Fremdsprache hinter der der Muttersprache zurücksteht (vgl. Burwitz-Melzer 2003: 7; cf. Ehlers 1998). Der fremdsprachliche Leser übernimmt „typische Strategien schwacher muttersprachlicher Leser“ (Lutjeharms 2010: 21). Jedoch nur zu einem bestimmten Grade, denn die in der Muttersprache erworbene Lesekompetenz kann übertragen werden - besonders dann, wenn sich Mutter- und Fremdsprache das gleiche Schriftsystem teilen und syntaktische Strukturen einander ähneln -, sodass etwa das Inferieren auf Wort- und Satzebene besser beherrscht wird (vgl. ebd.). An diesem Punkt setzt die Transferhypothese an, die eine geringe Lesekompetenz in der Fremdsprache damit 12 Almut Küppers beschreibt die Prozessebenen als horizontale und vertikale Dimension, wobei sich erstere „aus der Verarbeitung der sprachlichen Einheiten des Textes in ihrer linearen Dimension“ ergibt, und letztere „die Verarbeitungstiefe beschreibt, also die Intensität, mit der die Textbedeutungen erfasst und in vorhandene Wissensbestände integriert werden“ (1999: 43). <?page no="55"?> 55 erklärt, dass die Fremdsprachenkompetenz unter einem bestimmten Schwellenniveau liegt und so einfachere Lesestrategien angewendet werden (vgl. Nunan 1999: 258). Überschreitet die Fremdsprachenkompetenz diese Schwelle, so gleicht sich Lesen in der Fremd- und Muttersprache an, indem Fertigkeiten und Strategien transferiert werden (cf. Grabe 2009; Koda 2005; Clarke 1980; Cziko 1978). Beiden Ansätzen ist gemein, dass sie nicht davon ausgehen, dass beim fremdsprachlichen Lesen „die Lesefertigkeit an sich neu erworben werden muss“ (Lutjeharms 2010: 21). Vielmehr stellt das neue und zu lernende sprachliche System Herausforderungen an die Lesefertigkeit (cf. Karcher 1996). Gerade diesen language processing strategies kann nur in der Erweiterung beider Ansätze entsprochen werden, da zu Beginn vornehmlich top-down Prozesse im Vordergrund der Forschung standen, die Lesen als psycholinguistic guessing game (Goodman 1967) erscheinen ließen und mit denen nicht den spezifischen Unterschieden entsprochen werden konnte (vgl. Koda 2005: 149). Es ist aber besonders knowledge of language, das als bottleneck bzw. potentieller Engpass beim fremdsprachlichen Lesen im bottom-up Prozess auf der Ebene des Graphem-Phonem-Verhältnisses, dem lexikalischen Zugriff, der syntaktischen und schließlich der semantischen Ebene einwirkt (vgl. Lutjerhams 2010: 21- 23; Koda 2005: 29-38). Unterschiede zwischen fremd- und muttersprachlichen Leseleistungen unter top-down Gesichtspunkten lassen sich am ehesten durch die Schematheorie erklären: Schemata bezeichnen Wissensstrukturen, die ihren Benutzern grundlegende Orientierung bieten. In diesen Strukturen sind verbales und nonverbales Wissen, persönliche Erfahrungen und Erkenntnisse abstrakt und schematisch gespeichert (vgl. Grabe 2009). Sie unterscheiden sich in Komplexität und Grad der Abstraktion und beinhalten Fakten, (soziale) Situationen, Handlungssequenzen und kognitive Strategien. Trotz ihrer individuellen Natur handelt es sich bei ihnen um konventionalisierte, kollektive Wissensstrukturen, die für eine bestimmte Sprachgemeinschaft spezifisch sind (vgl. ebd.). Entsprechend ist der Lesevorgang als interaktiver Prozess zwischen dem Vorwissen des Lesers und dem Text zu verstehen (vgl. Carrell/ Eisterhold 1998: 76). Dabei ist „das sich aus der Leser-Text-Interaktion herausformende Verständnis eines Textes“ als „das inter-individuell variierende Ergebnis einer konstruktivperspektivistischen Leseraktivität“ zu verstehen (Karcher 1996: 118). Hier spielen dann beim fremdsprachlichen Lesen vor allem „cross-cultural aspects of reading comprehension“ eine nicht zu unterschätzende Rolle (Nunan 1999: 259), da fremdkulturelle Konzepte und Elemente vor dem Hintergrund der eigenkulturellen Schemata wahrgenommen werden. In diesem Zusammenhang gilt es daher besonders zu betonen, dass Schemata nicht statisch, sondern dynamisch aufzufassen sind, sie also im Leben eines Individuums fortlaufend <?page no="56"?> 56 erweitert, sublimiert und strukturiert werden (vgl. Grabe 2009: 80), sodass auch fremdkulturelle Schemata in die bereits vorhandenen integriert werden können. Allerdings ist die Schematheorie beispielsweise mit ihrer Fokussierung auf kulturelle Sprachbetrachtung nicht gänzlich unumstritten: „The problem with schema theory in reading-comprehension contexts is that it has taken on a life of its own among educators and has sometimes led to unsupported assertions about the role of schemas in reading“ (ebd.: 78). William Grabe rät daher, Schemata eher als „metaphor for knowledge representation and memory retrieval” denn als eigenständige Theorie zu betrachten (ebd.). 4.1 Lesekompetenz Generell gilt, dass „es sich bei allen Versuchen, das Lesen mit Hilfe von Modellen zu beschreiben, lediglich um Annäherungen handelt“ (Küppers 1999: 43 ). In diesem Zusammenhang ist eine integrierende Auffassung von Lesen als bestmögliche Annäherung zu werten. Weniger Einigkeit herrscht jedoch darüber, wie „diese Interaktionen zwischen den einzelnen Verarbeitungsprozessen verlaufen“ (ebd.) 13 . Mit der Absicht, die Interaktionsebenen zu erhellen, sollen zunächst die bottom-up Prozesse eingehender beleuchtet werden. Dabei stehen sowohl language processing strategies als auch cognitive processing strategies, die beim Lesen von mutterwie fremdsprachlichen Texten zum Einsatz kommen, im Vordergrund. Lesen wird in einem ersten Schritt hinsichtlich der kognitiven Verarbeitungsprozesse untersucht. Ausgegangen wird von Folgendem: „The rapid and accurate decoding of language is important to any kind of reading and especially to second language reading” (Eskey 1998: 94). Wie bereits im Vorangegangenen angelegt, wird für die weitere Argumentation einer Verbindung von Transferhypothese und Schematheorie gefolgt, wobei im ersten Schritt der Fokus auf den sprachlichen Anforderungen an die Lesenden liegt. Von Interesse sind in diesem Zusammenhang auch das Modell von Lesekompetenz, das DESI als large scale assessment Studien zugrunde liegt, sowie Fragen nach der Messbarkeit und 13 William Grabe führt insgesamt elf unterschiedliche Lesemodelle auf und diskutiert deren Eigenheiten und Foki (2009: 91-103). Resümierend hält er am Ende des Kapitels fest: „In no model do we see how executive control processes work in fluent reading or specifically how reading strategies are applied as cognitive processes when reading more difficult texts or learning from texts. Models also need to address explicitly the comprehension process with longer and more complex texts, and they need to account for, in one way or another, motivational factors, sociocultural factors, and second-language factors” (ebd.: 103). <?page no="57"?> 57 Überprüfbarkeit von Leseleistungen. Die dabei herauszuarbeitenden Limitierungen hinsichtlich der inter-individuellen Verarbeitungs- und Aushandlungsprozesse sowie Aspekte der gesellschaftlich-kulturellen Qualifikationserwartung und den damit einhergehenden Normen, sollen darauffolgend betrachtet werden. Abschließend werden die Erkenntnisse aus dieser Synopse dafür genutzt, Konzeptionierungen von literarischer Kompetenz in der mutter- und fremdsprachlichen Literaturdidaktik auf ihre Teilkomponenten und deren Potentiale hinsichtlich der Erweiterung der Ansätze von Lesekompetenz zu untersuchen. 4.1.1 Lesen und Verarbeitung Lesen ist schon in der Muttersprache ein komplexer Prozess, der automatisierte Teiloperationen auf Seiten der Lesenden voraussetzt. In der Fremdsprache finden sich in den Bereichen knowledge of language und ability for use zusätzliche Herausforderungen an die Lesekompetenz: „The term competence […] in reference to linguistic knowledge, processing skills, and cognitive abilities“ (Koda 2005: 4; Hervorhebung im Original). Ausgehend von einem interactive approach to reading (cf. Carrell/ Devine/ Eskey 1998) sollen Verarbeitungsstrategien und die damit verbundenen Wissensbestände untersucht werden. Die kleinste Einheit auf Seite der sprachbezogenen Verarbeitung stellen die phonological processing strategies dar (vgl. Birch 2007: 6). Hier müssen es die Lernenden leisten, die im fremdsprachlichen Text repräsentierten Symbole in lautliche Einheiten zu überführen, indem die in den Graphemen enthaltene lexikalische Information entschlüsselt wird, gewissermaßen als Vorstufe zu jede Verständnisleistung: „Efficiency in converting graphic symbols into sound, or meaning, infromation is indispensable in comprehension“ (Koda 2005: 29). Aus psychologischer Sicht ist die phonologische Rekodierung eng verbunden mit Gedächtnisprozessen und der Worterkennung, denn „der lexikalische Zugriff wird unterstützt durch die Fähigkeit, Wörter phonologisch zu rekodieren“ (Schnotz/ Dutke 2004: 81). Der Dualcode aus Phonologischem und Visuellem erhöht die „Präzision, mit der das Lexikon durchsucht wird“ (ebd.). „Correct identification of the words used“ (Brown 1994: 10 f.) stellt in der Fremdsprache Anforderungen nicht nur an Gedächtnisleistungen, sondern auch an das sprachliche Regelwissen, denn Lernende müssen dafür auf morpho-phonologische Prototypen zurückgreifen, die der Verlautung als mentale Norm zugrunde liegen (vgl. Bleyhl/ Timm 1998: 261). Die auf das Phonem-Graphem-Verhältnis zurückzuführenden orthographic processing strategies (Birch 2007: 6) unterscheiden sich wiederum von der Mutterspra- <?page no="58"?> 58 che, sodass „Rechtschreibmuster sowie die Automatisierung deren Verarbeitung“ beim fremdsprachlichen Lesen einen potentiellen Engpass darstellen (Lutjerhams 2010: 22). Eng verbunden mit den Ansatzpunkten der Schematheorie zeigen sich Teilleistungen der lexical processing strategies (vgl. Birch 2007: 7). Der Zugriff auf das mentale Lexikon ist auf die paradigmatischen und syntagmatischen Strukturen des semantischen Gefüges angewiesen, in dem „zusammen mit den Formen von Wörtern und ihrer sprachimmanenten Bedeutung auch visuelle und sensorisch-motorische Vorstellungen gespeichert sind“ (Quetz 1998: 275). Die Aktivierung dieser Schemata und Konzepte beim Lesen - so wird zumindest angenommen - ist nicht sprachspezifisch (vgl. Lutjerhams 2010: 22), d.h. die in der Fremdsprache erworbenen Einträge im mentalen Lexikon teilen sich die schematisch-semantischen Konzepte der Muttersprache (vgl. Quetz 1998: 276), werden aber mit zunehmender Lernprogression in Hinblick auf kulturelle Eigenheiten und Spezifika immer weiter ausdifferenziert. Mit der Worterkennung steht die Textoberflächenrepräsentation in Verbindung (vgl. Schnotz/ Dutke 2004: 82), denn „je mehr Einträge das Lexikon enthält, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass im Text vorkommende Wörter dort aufgefunden werden“ (ebd.). Es ist aber nicht allein der Umfang des Lexikons, der für das Leseverständnis ausschlaggebend ist, korreliert doch die „Fähigkeit, die Bedeutung neuer Wörter zu erschließen“, nahezu gleich „hoch mit Leseverständnis […] wie die Größe des Wortschatzes“ (ebd.). Erst mittels syntacitc processing strategies (Birch 2007: 7) können die aus Laut- und Buchstabenketten rekonstruierten Wörter zu größeren Sinneinheiten gruppiert werden: „Phrase identification - a first step toward the crucial skill of ‚chunking‘, or reading in meaningful groups of words” (Eskey/ Grabe 1998: 233). Für fremdsprachliche Leser kann dieser Teilprozess besonders bei einer noch schwach ausgebildeten fremdsprachlichen Kompetenz dazu führen, dass vermehrt muttersprachliche Strategien eingesetzt werden - mit zunehmender Sprachbeherrschung treten an deren Stelle dann aber zielsprachliche Strategien (vgl. Lutjerhams 2010: 23). Um chunks in nächstgrößere Einheiten zu wandeln, müssen die Lesenden retro- und proaktive Bezüge erkennen und im Sinne einer lokalen Kohärenzbildung „semantische Zusammenhänge zwischen den unmittelbar aufeinanderfolgenden Sätzen“ erstellen (Schnotz/ Dutke 2004: 64). Hierbei müssen grammatische Phänomene und deren „jeweilige Bedeutung immer aus dem Zusammenspiel einer Vielzahl situativer und kontextueller“ Faktoren erschlossen werden (Bleyhl/ Timm 1998: 265). Sind diese sprachbezogenen Verarbeitungsprozesse erfolgreich verlaufen, so muss das im Text Enthaltene verstanden werden. Hier kommen cognitive processing strategies wie das Inferieren, Bilden von Hypothesen und Vorhersagen zum Einsatz, wobei diese auf language processing strategien genauso <?page no="59"?> 59 einwirken, wie letztere auf erstere rückwirken (vgl. Birch 2007: 3). Unterschiede lassen sich aber hinsichtlich der Wissensbestände ausmachen: Während für sprachbezogene Verarbeitung vornehmlich knowledge of language im Vordergrund stehen, sind bei cognitive processing strategies Erfahrungswissen und Weltwissen stärker eingebunden (vgl. ebd.); ability for use bedeutet in diesem Zusammenhang, beide Wissensbestände erfolgreich zu nutzen. Die Lesenden müssen dabei die lokale Kohärenzbildung zu einer globalen wandeln, denn Lesekompetenz ist „nicht nur die Fähigkeit zum Entziffern von Wörtern und Sätzen, sondern die Fähigkeit zur Bedeutungskonstruktion“ (Schnotz/ Dutke 2004: 64). Aus literaturdidaktischer Sicht ergeben sich problematische Aspekte aus dem, was kognitionspsychologisch unter globaler Kohärenzbildung, mentaler Repräsentation und propositionalem Gehalt subsumiert wird (ebd.: 73):  eine mentale Repräsentation der Textoberfläche,  eine mentale Repräsentation des propositionalen semantischen Gehalts,  ein mentales Modell des Textgegenstandes,  eine mentale Repräsentation der Kommunikationsabsicht des Textautors,  eine mentale Repräsentation des Textgenres. Zwar wird anerkannt, dass der Leser beim Verstehen eines Textes die Merkmale konstruiert (vgl. ebd.). Jedoch wird nicht deutlich, dass im Lese- und „Verstehensprozess einem (erst- und fremdsprachlichen) Text nicht etwa ‚vorgedachte‘ Informationen des Autors entnommen werden (‚Inhärenzhypothese‘)“, sondern dass vielmehr der „Leser auf der Grundlage spezifischer Textcharakteristika und seiner gesamten (fremd-) sprachlichen, enzyklopädischen und affektiven Voraussetzungen sein Textverständnis schafft (‚Konstruktivitätshypothese‘)“ (Karcher 1996: 118; Hervorhebung im Original). Implizit ist in der Vorstellung über die Rekonstruktion der Textoberfläche auch die Problematik der Textaussage enthalten. Zugegebenermaßen kann es für heuristische Zwecke sinnvoll sein, „sich eine Vorstellung von der wesentlichen Botschaft eines Textes zu machen“; heikel wird dies aber dann, „wenn man eine endgültige Antwort erwartet“ (Spinner 2004: 135). Ähnlich verhält es sich mit der Kommunikationsabsicht des Textautors. Durch deren Betonung wird ignoriert, dass Texte - besonders literarische, aber auch Sachtexte - „nicht der Einbeziehung des Autors zu ihrer Plausibilisierung bedürfen“ (Kafitz 2007: 17). Es zeigt sich also, dass der reduktionistische Ansatz, einen komplexen Sachverhalt vom Großen zum Kleinen her dadurch zu beschreiben, dass die ihm eigenen Teilprozesse aufgegliedert werden, nicht die dem Leseprozess eigene Emergenz in den Blick zu bringen vermag. Eine Annäherung an die holistische Struktur der Vorgänge beim Lesen darf aus diesem Grund die <?page no="60"?> 60 oben erwähnten affektiven Dispositionen der Lesenden ebenso wenig aus dem Blick verlieren wie die individuell realisierten Wissensbestände, die beim Lesen aktiviert, aktualisiert oder revidiert werden können. In der Lesetheorie wird daher dem text model ein situation model zur Seite gestellt, um die unterschiedlichen mentalen Modelle, die beim Lesen entstehen, besser erklären zu können. Damit können die Informationsebenen, die Einfluss auf den Leseprozess haben, konzeptuell repräsentiert werden. Diese Informationsebenen rekrutieren sich aus Diskurswissen, vorangegangenen Leseerfahrungen, Einstellungen gegenüber Text, Lesezweck und dem Lesen allgemein sowie spezifischen Inferenzen und Erwartungen: These sorts of information, which are brought to the reading by the reader, build the situation model of the interpretation, a second model superimposed over the growing text model of comprehension. This second model represents the mental circumstances generated in response to the text, or the interpretation of the text, but not necessarily the specifics of the text model itself. (Grabe 2009: 43) Aus dem bisher Gesagten kann der Eindruck entstehen, es handele sich beim Lesen um einen linearen Prozess. Dies ist aber mitnichten der Fall. Teilprozesse sind vielmehr interaktiver, rekursiver und iterativer Natur, d.h. um über Wort- und Satzverständnis zum Textverständnis zu gelangen, greifen Teilprozesse ineinander, müssen unter Umständen wiederholt werden und können zeitgleich verlaufen (vgl. Ehlers 2007). Unter dieser Voraussetzung scheint auch die Metapher von der Strategie beim Lesen zu kurz zu greifen. Barbara Birch (2007) führt stattdessen den Begriff der Heuristik ein, mit dem es gelingen kann, die Wechselwirkung zwischen den Bereichen bottom-up und top-down anhand deren Funktion zu klären 14 . Lesen kann immer auch unter dem Aspekt eines Problemlöseprozesses betrachtet werden, in dem das Zusammenspiel von text model und situation model den Problemraum darstellt und Verstehen als das Lösen von komplexen sprachlichen wie inhaltlichen Problemen gesehen werden kann. Heuristiken sind unter diesem Vorzeichen als ein „Resultat des von dem Problemlöser erworbenen ‚Weltwissens‘“ zu sehen und ermöglichen es, „den Problemraum und damit die Vielfalt der strategisch möglicherweise nützlichen Handlungsalternativen“ (Rollett 2008: 49) in komplexen Problemräumen einzuschränken und handhabbarer zu ma- 14 Barbara Birch orientiert sich bei der Beschreibung der kognitiven Verarbeitung an einem aus der Forschung zur künstlichen Intelligenz stammenden Modell des expert decision makers, der zur Informationsverarbeitung symbolic processing strategies und Heuristiken nutzt: „I appreciate the irony of using a computer model that is designed to emulate human processing as a metaphor for understanding human processing“ (2007: 8 f.). <?page no="61"?> 61 chen. Die Funktion von language processing strategies und cognitive processing strategies besteht demnach gerade in deren Wechselwirkung und in ihrer Natur - als zwar unterschiedliche Pole, die aber Teil eines Kontinuums sind - , in Form von Heuristiken anzugeben, „wie die Lösungssuche abzulaufen hat und wie aufgrund der Ergebnisse eine Entscheidung über den weiteren Problemlöseweg getroffen werden könnte“ (ebd.: 50). Einfluss auf die Entscheidungen haben auch und gerade die sogenannten affektiven Mobilisatoren (vgl. Karcher 1996), die von zwei außertextuellen Faktoren repräsentiert werden. Zum einen sind das die Ziele, Zwecke und Absichten, die mit dem Lesen des Textes einhergehen. Zum anderen sind die beim Lesen entstehenden Gefühle zu nennen. Beide Faktoren beeinflussen sich wechselseitig und bestimmen über die Wahl der Lesemodi, die als Heuristiken auf bereits erworbenen Leseerfahrungen gründen, und die besonders im didaktischen Setting dem Lesezweck zuarbeiten. Zudem prägen die affektiven Mobilisatoren die Wirkung des Textes als Resultat kognitiver und affektiv-konnotativer Prozesse (vgl. Caspari 1994). Die unterschiedlichen Lesemodi werden also von Faktoren bestimmt, die sowohl auf Seiten der Lesenden als auch auf Seiten der unterrichtlichen Lesezwecke zu suchen sind. Dabei unterscheidet man zwischen vier Leseweisen (vgl. Schier 1990): Das orientierende Lesen (skimming) dient einem Textüberblick, der Themenstellung und Schwerpunkte umfasst. Selektives Lesen (scanning) richtet sich auf konkrete Fragestellungen und deren Teilaspekte. Extensives oder kursorisches Lesen (extensive reading) zielt auf ein möglichst schnelles Textverständnis, wohingegen intensives oder statarisches Lesen (intensive reading) dem Desiderat einer umfassenden und differenzierten Aufnahme des Textinhaltes Folge leistet. Da, wie gezeigt wurde, beim Verstehensprozess nicht nur kognitive Strukturen eine Rolle spielen, sondern auch die affektive Komponente für den Leseprozess grundlegend ist, muss dieser Erkenntnis im Unterricht verstärkt Rechnung getragen werden (vgl. Ofteringer 1995: 97). Eine Leserorientierung, die das erkennende Subjekt zum Mittelpunkt macht, folgt einem konstruktivistischem Grundgedanken, und zieht eine Verbindung kognitiver und emotionaler Aspekte nach sich (ebd.). Ein erfolgreicher unterrichtlicher Lese- und Lernprozess in der Fremdsprache besteht demnach darin, dass sprachliche und außersprachliche Wissensstrukturen der Leser mit den Textelementen interagieren. Neben diesen außersprachlichen Wissensstrukturen sind Erfahrungen und Haltungen der Leser hinsichtlich des Lesens als solches und der Fremdsprache selbst, aber auch die Kombination beider Aspekte inhärent (vgl. ebd.). <?page no="62"?> 62 4.1.2 Lesen und large scale assessment: Die DESI-Studie Nachdem im vorangegangenen Abschnitt vor allem die Teilleistungen und Prozessebenen des Lesens vordergründig untersucht wurden, sollen nun - sozusagen als Bindeglied zwischen theoretischer Auseinandersetzung und folgender empirischer Annäherung - die in der DESI-Studie zu findenden Lesekompetenzkonzeptionen von Interesse sein. Mit dem Ziel, die eigene Position durch Abgrenzen von allzu reduktionistischen Zugängen bestimmen zu können. Im Gegensatz zu anderen large scale assessment Studien wie beispielsweise PISA 15 stehen bei DESI (Deutsch Englisch Schülerleistungen International) nicht nur die Lesekompetenz betreffende Fragestellungen im Mittelpunkt. Die 2001 von der KMK in Auftrag gegebene Studie ist neben dem Zusammenhang zwischen mutter- und fremdsprachlichen Teilleistungen auch an Fragen nach deren didaktischer Vermittlung und der Schulqualität interessiert (vgl. Garbe/ Holle/ Jesch 2009: 26). DESI untersucht nicht etwa die kommunikative Kompetenz von Schülerinnen und Schülern, sondern sprachliche Kompeten- 15 In PISA wird Leseverstehen als grundlegende fächerübergreifende Kompetenz und zentrale Komponente im Lernprozess definiert. Das Verständnis vom Lesen ist dabei am im anglophonen Sprachraum verbreiteten literacy Konzept angelehnt (cf. Schnotz/ Dutke 2004) und besteht als Fähigkeit darin, „geschriebene Texte unterschiedlicher Art in ihren Aussagen, ihren Absichten und ihrer formalen Struktur zu verstehen und sie in einen größeren sinnstiftenden Zusammenhang einzuordnen, sowie in der Lage zu sein, Texte für verschiedene Zwecke sachgerecht zu nutzen“ (Baumert/ Stanat/ Demmrich 2001: 22). Die Autoren heben in diesem Zusammenhang hervor, dass damit einem sog. pragmatischen Strukturmodell Folge geleistet werden könne, da zum einen nicht „zwischen einer Lesebzw. Lernphase einerseits und einer Testphase andererseits unterschieden“ werde (ebd.: 24), und zum anderen die Situation bzw. die Arbeit mit Texten die Handlungsintention der Lesenden berücksichtige. Obwohl die „Leserintentionen in der Testsituation virtuell“ sind, gelingt es mit den PISA Konstrukten dennoch, eine Verkürzung auf „Textaussage und Autorenintention“ zu vermeiden, indem „in vielen Fällen unterschiedliche Interpretationen akzeptiert werden“ (Spinner 2004: 135). Dieser Ansatz gelingt aber nicht bei allen Testaufgaben in gleichem Maße und wird daher auch innerhalb der muttersprachlichen Fachdidaktik kritisch gesehen (vgl. ebd.). In PISA werden jedoch keine fremdsprachlichen Leseleistungen untersucht. Daher soll dieser Exkurs im Zusammenhang mit der DESI Studie nur dazu dienen, auf das Spektrum der Erhebung von Leseverstehensleistungen hinzuweisen. Für einen Überblick zu PISA siehe Schiefele/ Artelt et al. 2004 und Baumert/ Klieme et al. 2001. Wie wenig aber auch mit dem pragmatischen Strukturmodell den Besonderheiten beim Lesen literarischer Texte innerhalb der Studie zu begegnen ist, wird am verwendeten Beispiel „Amanda und die Herzogin“ deutlich. Für eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle des literarischen Lesens in PISA sei an dieser Stelle auf die Ausführungen von Lothar Bredella verwiesen (2010b: 71-88). <?page no="63"?> 63 zen in den Fächern Deutsch und Englisch, wobei sich im Rahmen der Arbeit vornehmlich auf letztere konzentriert wird. Sprachliche Kompetenzen werden als „komplexes Phänomen“ und „interagierendes Gefüge“ beschrieben (Beck/ Klieme 2007: 1), dessen Struktur in DESI aus sprachdiagnostischer Perspektive anhand von Teilfähigkeiten ausdifferenziert wird. Diese Teilfähigkeiten werden so verstanden, dass sie schulisch zu vermitteln sind und durch Kompetenzmessung einer Lernerfolgsüberprüfung zugänglich gemacht werden können. In Anlehnung an die Schwellenbzw. Transferhypothese (cf. 4.) ist der Zusammenhang zwischen mutter- und fremdsprachlichen Kompetenzen in DESI so gefasst, dass Kompetenz in der Muttersprache die Fremdsprachenkompetenz „sowohl allgemein als auch in strukturellen Teilkomponenten“ beeinflusst (Jude/ Klieme 2007: 13). Für das Unterrichtsfach Englisch werden die Teilkomponenten in Hörverstehen, Lesen, Pragmatik, Grammatik, Sprechen und Textproduktion gegliedert. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Rolle, die dem GER als fachwissenschaftliches Kompetenzmodell für den Bereich der fremdsprachlichen Kompetenzen innerhalb der DESI Studie beigemessen wird (vgl. Beck/ Klieme 2007: 1). Bemerkenswert ist aber, dass durch die Prioritätensetzung auf sprachliche Kompetenzen DESI konzeptuell vom GER abweicht, denn dessen Verständnis von fremdsprachlicher Kompetenz begreift Kommunikation implizit als essentiellen Nutzen von Sprache, indem im handlungsorientierten Ansatz Sprachhandelnde vor allem als sozial Handelnde verstanden werden (vgl. Europarat 2001: 21). Bei DESI sind es jedoch die sprachlichen Kompetenzen, die - und damit zeigt sich eine Nähe zu den Modellen von Canale und Swain (cf. 1980) sowie Bachmann (cf. 1990, 2007) - als übergeordnete Komponenten in Teilkompetenzen ausdifferenziert werden. Indem auch andere Bereiche des GER völlig unkritisch und ohne jede Diskussion der Dimensionierung und Reichweite des Ansatzes der DESI-Studie als vermeintlich sichere Grundlage dienen, werden nicht nur die Problembereiche des GER, die die context validity der Skalen und die theroy based validity der Modellstruktur betreffen (cf. Weir 2005), übernommen, sondern auch die multidimensionale Anlage der Komponenten und deren Interaktion aus dem Blick verloren. Denn, obwohl in DESI auch die Sprachverwendung in konkreten Situation als abiltiy for use im Kompetenzverständnis betont wird (vgl. Jude/ Klieme 2007: 11), bleibt der Bereich der inter-individuellen Kommunikation im Strukturmodell ausgespart. Damit zeigt sich bei DESI ein am discrete point testing ausgerichtetes Verständnis von sprachlichen Kompetenzen (vgl. McNamara 2000: 20), da für die Teilfähigkeiten isolierte Testbatterien vorgesehen sind (cf. Beck/ Klieme 2007; DESI-Konsortium 2008). Dieser Eindruck bestätigt sich, richtet man das Augenmerk auf das Testkonstrukt zum Leseverstehen. Leseleistungen werden in Abgrenzung zu pro- <?page no="64"?> 64 duktiven Aufgaben „im wesentlichen mit mutiple choice-Aufgaben erfasst“ (Beck/ Klieme 2007: 7; Hervorhebung im Original). Nicht nur, dass dadurch Lesen als rein rezeptive Aktivität gefasst wird, die Autoren sehen auch in der Reduzierung von Leseverstehensleistungen auf das Lösen von Aufgaben durch Auswahlantworten keine Verkürzung fremdsprachlicher Leseprozesse. Vielmehr ist man der Meinung, dass durch Informationsentnahme „auch komplexe Anforderungen im gebundenen Format zu prüfen“ seien (ebd.). Als kritisch ist diese Vorgehensweise nicht nur unter literaturdidaktischen Gesichtspunkten zu werten. Zwar werden durch die Testitems „Anforderungen mit unterschiedlich gewichteten Teilkomponenten festgelegt“ (Nold/ Rossa 2007: 198), völlig unberücksichtigt bleiben jedoch durch das geschlossene Testformat die Konstruktionsleistungen der Lernenden beim Lese- und Verstehensprozess, da so allenfalls der Inhärenzhypothese, nicht aber der Konstruktivitätshypothese vom Lesen entsprochen werden kann (cf. Karcher 1996). Beim Lesen interagieren im DESI-Verständnis sprachliche Kompetenzen, strategische Kompetenzen und „auf Weltwissen beruhende Kompetenzen“ (Nold/ Rossa 2007: 198), die einer „rezeptiven Sprachkompetenz“ entspringen und auf „Informationsverarbeitungs- und Verstehensprozesse ausgerichtet“ sind (ebd.: 197). Die sprachlichen Kompetenzen bestehen „aus graphemischen, morphologischen, syntaktischen, semantischen sowie textgrammatischen Komponenten“ (ebd.: 199), die um soziolinguistisches und textpragmatisches Wissen erweitert werden. Strategische Kompetenzen sind in diesem Verständnis „auf Steuerungs- und Kontrollprozesse einerseits“ und andererseits auf „Prozesse der Verarbeitung von schriftlichen Daten“ ausgerichtet (ebd.). Sie vereinen somit in sich Aspekte der sprach- und inhaltsbezogenen Verarbeitung des Gelesenen (cf. 4.1.1; vgl. Nold/ Willenberg 2007). Weltwissen als dritte Komponente im DESI-Verständnis „umfasst bereichsspezifische Schemata und allgemeines Wissen wie beispielsweise die Kenntnis von Zusammenhängen und Situationen“ (Nold/ Rossa 2007: 199). Leseleistungen in Englisch und Deutsch werden vorab wie folgt unterschieden: Während Leseverstehen im Testkonstrukt Deutsch „stärker auf die interpretatorische Leistung“ zielt, werden in den englischen Texten „mehr Emotionen in den Mittelpunkt gerückt“ (Nold/ Willenberg 2007: 39). Gerade der Aspekt der Emotion lässt aus literaturdidaktischer Sicht ‚aufhorchen‘. Es sind damit aber nicht die emotionalen Reaktionen der Lernenden auf das Gelesene gemeint, die es für die Sinnstiftung und Interpretation handzuhaben gilt. Vielmehr sollen - so findet es sich in den DESI-Skalen - „abstraktere Einzelinformationen (z.B. Emotionen in alltäglichen Kontexten)“ erkannt werden (Stufe KN B), und die Lernenden sollen (Stufe KN C) „Informationen (z.B. Emotionen) verknüpfen und interpretieren, um Hauptaussagen zu ver- <?page no="65"?> 65 stehen“ (Nold/ Rossa 2007: 207). Als Texte werden je zwei aus drei Textgruppen von den Schülerinnen und Schülern bearbeitet, die sich aus einem narrativen, jedoch nicht literarischem Text, einem berichtenden Text sowie einem Dramenausschnitt zusammensetzen (vgl. ebd.: 200). Für alle Texte kommen die bereits erwähnten multiple choice items zum Einsatz. Daraus werden die folgenden Kompetenzniveaus abgeleitet (Nold/ Rossa/ Chatzivassiliadou 2008: 131): C Kann abstraktere Informationen (z.B. Meinungen, Textstrukturen) mit Hilfe von Inferieren impliziter Informationen verknüpfen oder inhaltliche komplexe Einzelinformationen interpretieren, auch wenn die Texte insgesamt einen erweiterten Wortschatz und eine begrenzte Anzahl von komplexen Strukturen enthalten sowie wenige textverknüpfende Elemente enthalten. B Kann eine begrenzte Anzahl abstrakter Informationen (z.B. Emotionen) verknüpfen und interpretieren, um Hauptaussagen zu verstehen, wenn die Texte Grundwortschatz, weitgehend gebräuchliche Strukturen sowie deutlich textverknüpfende Elemente enthalten. A+ A Kann abstraktere Einzelinformationen (z.B. Emotionen) in alltäglichen Kontexten erkennen, auch wenn einzelne Textpassagen weniger frequente Wörter und einige komplexere Strukturen enthalten. Kann konkrete Einzelinformationen in alltäglichen Kontexten (narrative Texte/ Berichte) anhand von expliziten Hinweisen im Text (Schlüsselwörter und Umschreibungen) erkennen, wenn die fokussierten Textteile im Wesentlichen in einfacher Sprache und inhaltlich deutlich kohärent abgefasst sind. Tabelle 4: Kompetenzniveaus der DESI-Studie I Um den Merkmalsanforderungen der Skala kritisch zu begegnen, muss man sich erneut vergegenwärtigen, dass der Leseprozess selbst auch in DESI nicht vordergründig von Interesse ist (vgl. Nold/ Rossa 2007). Bemerkenswert ist daher, dass die Autoren der Studie Verstehensleistung hinsichtlich der sprach- und inhaltsbezogenen Verarbeitung allein aus der Lösung von multiple choice Aufgaben ableiten, wobei mittels des ex ante formulierten psychometrischen Modells „von der ‚Performanz‘ beim Lösen von Testaufgaben auf die individuelle ‚Kompetenz‘ im Sinne eines latenten Fähigkeitskonstrukts geschlossen“ wird (Beck/ Klieme 2007: 4). Dabei spiegeln lediglich die schwierigkeitsbestimmenden Aufgabenmerkmale die im Modell enthaltenen Kompetenzkonzepte. Diese werden hinsichtlich der sprachlichen wie textpragmatischen Anforderungen von Text und Aufgabe, dem inhaltlichen Fokus sowie der Informationsverarbeitung konkretisiert (vgl. Nold/ Rossa 2007: 202-205). Zu jedem der verwendeten Texte findet sich eine Verständnisfrage, die einen <?page no="66"?> 66 key und drei Distraktoren anbietet (vgl. Nold/ Rossa/ Chatzivassiliadou 2008: 132 f.): Text A RRESTED A LICIA K EYS T OP G IRLS Textsorte berichtend-expositorischer Text nicht literarischer narrativer Text Dramenausschnitt key Niveau A Anne Hedgepeth was eating a cheeseburger in an underground station. Niveau A+ The police arrested people who eat and drink in the Metro because they want to keep the trains clean. Niveau B Alicia became big very fast because she concentrated completely on music. Niveau C It seems that Helen and Jane are not very happy to be in this place. Tabelle 5: Kompetenzniveaus der DESI-Studie II Bei allen Verständnisfragen soll aus den Auswahlantworten der entsprechend ergänzende Satzteil gewählt werden. Die konkrete Einzelinformation, deren Identifizierung im A Deskriptor gefordert wird, findet sich als underground station im ersten Satz des Textes (ebd.: 132). Hier muss also nur das Schlüsselwort der Textoberfläche entnommen werden. Das Außergewöhnliche, das im Text tatsächlich verhandelt wird, spielt in diesem Zusammenhang hingegen keine Rolle bei der Leseverstehensleistung, berichtet doch der Text davon, dass ein 14 jähriges Mädchen in der Washingtoner U-Bahn deshalb verhaftet wird, weil sie einen Cheeseburger gegessen hat. Auch das A+ Konstrukt bekommt diesen inhaltlichen Aspekt nicht in den Blick. Hier gilt es, die ‚abstraktere Einzelinformation‘ dadurch zu erschließen, indem die aus zwei Sätzen bestehende Antwort eines Repräsentanten der Verkehrsbetriebe auf die Beschwerde der Mutter nach der entsprechenden Information durchsucht werden muss. In beiden Aufgaben stehen eigentlich nur sprachliche Kompetenzen im Vordergrund. Reaktionen, die auf Weltwissen und eigenen Erfahrungen beruhen, und die der Text durch die Darstellung der außergewöhnlichen Situation beim Lesen hervorzurufen vermag, werden schlichtweg ignoriert. Im Text der Niveaustufe B wird vom Werdegang der Musikerin Alicia Keys berichtet. Hier zeigen sich zwar abstraktere Einzelinformationen, concentrate on music findet sich aber wörtlich im Text (ebd.: 133). Es müssen also weniger Einzelinformationen interpretiert und verknüpft als Schlüsselwörter aus der Textoberfläche entnommen werden. Obwohl Emotionen im Deskriptor Erwähnung finden, kommt es zu keiner Entsprechung in der Auf- <?page no="67"?> 67 gabenstellung, da auch nicht die Motive interpretiert oder nachvollzogen werden müssen. Aus literaturdidaktischer Sicht ist besonders der Umgang mit dem der Niveaustufe C zugeordneten Dramenausschnitt bedauerlich, dessen Potential hinsichtlich des im Deskriptor geforderten Inferierens, dem Nachvollziehen von Meinungen, dem Verknüpfen und Interpretieren von Textaussagen und Informationen das geschlossene Format nicht gerecht zu werden vermag. Bemerkenswert ist, dass - obwohl im Deskriptor nicht erwähnt - in dieser Testaufgabe Emotionen eine Rolle spielen. Es gilt, die Gefühlslage der zwei Charaktere nachzuvollziehen. Die des Charakters Jane findet sich als I don’t like it in Bezug auf die Wohnung wörtlich im Text (ebd.). Die des Charakters Helen, ist aus deren Reaktion auf Janes Bekundung zu rekonstruieren. Für die richtige Auswahl ist diese Verknüpfung allerdings nicht Voraussetzung, genügt doch die Referenz auf Janes Haltung. Indem die Autoren der Studie den Dramentext genauso behandeln wie die anderen Textsorten, und damit die Besonderheit der Gattung, nämlich soziale Interaktion literarisch zu vermitteln und sie damit einer tiefergehenden Interpretation und Bedeutungskonstruktion zugänglich zu machen (cf. Hallet 2007b), außer Acht lassen, wird der Eindruck erweckt, dass das im Modell vorhandene textpragmatische Wissen lediglich auf die Verwendung unterschiedlicher Textsorten reduziert wird. Angewendet werden muss es bis auf das Zuordnen von Aussagen und Charakteren im Aufgabenformat nicht. Die auf Informationsentnahme zielende Aufgabenstruktur verfehlt durch die bloß auf Oberflächenphänomene beschränkte Lösungserwartung eine Auseinandersetzung mit den der Gattung eigenen Charakteristika hinsichtlich der textgrammatischen, textpragmatischen und - wie erwähnt - der soziolinguistischen Dimension. Mit der hier skizzenhaft vorgenommenen Diskussion der verwendeten Aufgaben soll nur umrissen werden, welche Problemlagen die empirische Annäherung an Leseleistungen mittels geschlossener Antwortformate birgt. Nicht nur, dass damit der Leser als erkennendes Subjekt zum Erfüllungsgehilfen der Antwortstruktur degradiert wird, es gelingt damit auch nicht, den Leseprozess, geschweige denn komplexe Verstehensleistungen zu untersuchen, weil nur der Grad der Informationsentnahme gemessen werden kann. Auch in Hinblick auf die Qualität der schulischen Vermittlung von Lesekompetenz greifen geschlossene Antwortformate zu kurz, denn weder bietet das erhobene outcome Rückschlüsse auf die Qualität der unterrichtlichen Vermittlung, noch werden damit Stufen der Kompetenzentwicklung ableitbar. Für diese bedarf es einer Integration der Teilprozesse beim Lesen, die über das Messen hinausgeht. Zugebenermaßen ist das Messen von Schülerleistungen für die Zielsetzung einer an Bildungsmonitoring interessierten large scale assessment Studie zentral. Die Verkürzung auf Informationsentnahme, die dann auch der reduktionistischen Position nicht gerecht werden kann, weil kognitionspsy- <?page no="68"?> 68 chologische wie psycholinguistische Teilprozesse in einer blackbox verbleiben, kann aber nicht die alleinige Antwort auf die empirische Annäherung an Lese- und Verstehensprozesse im Fremdsprachenunterricht sein. Zumal durch diese Vorgehensweise auch der Charakter von Texten und deren Mitteilungsfunktion in einer lesenden Gesellschaft und einer schriftlichen Kultur vollkommen unter den Tisch fallen. Diesen Aspekt gilt es im Folgenden genauer zu untersuchen. 4.1.3 Lesen und Kommunikation Der Stellenwert des Lesens innerhalb der Schule kann gar nicht überschätzt werden. Lesen ist eine der zentralsten, wenn nicht die wichtigste fächerübergreifende Kompetenz, denn für fast alle schulischen Fächer gilt, dass Unterricht ohne Texte nur schwer vorstellbar ist (vgl. Feilke 2000: 14). Hinzu kommt, dass das Lesen nicht nur in der Schule eine Schlüsselposition einnimmt. Es ist auch als grundlegender Zugang zur kulturellen bzw. gesellschaftlichen Teilhabe zu betrachten (cf. Steininger 2010a). Modelle, die das Verstehen von Texten zu beschreiben suchen, können daher entweder die in den vorangegangenen Abschnitten diskutierte reduktionistische Position einnehmen, oder aber „das Verstehen von Texten in einer ganzheitlichen Persönlichkeitsbildung“ verorten (Garbe/ Holle/ Jesch 2009: 31). Letzteres ist im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms Lesesozialisation in der Mediengesellschaft geschehen (Groeben/ Hurrelmann 2002). Zwar bezieht sich dieses Konzept auf das Lesen in der Muttersprache, die darin enthaltenen Ansätze sind aber für die anvisierte Modellierung literarischer Kompetenz vor allem deshalb von Interesse, weil Lesen hier im Brennpunkt von zwei Perspektiven dargestellt wird: Auf der einen Seite ist das die verarbeitungsbezogene Perspektive, mit der die individuellen Anforderungen des Lesens beschrieben werden können, und auf der anderen Seite ist es die gesellschaftlichkulturelle Perspektive, die in den meisten anderen Lesekompetenzkonzepten vernachlässigt wird und mit deren Einbindung es erst gelingen kann, interindividuelle Bedeutungskonstruktionen und Aushandlungsprozesse, aber auch normative Erwartungen der Gesellschaft und Kultur an Leseleistungen durch Konzeptionierung von Lesen als Kommunikationsakt in einem Modell zu repräsentieren. Lesekompetenz wird im DFG-Projekt definiert als „ein individuelles Potenzial dessen, was eine Person unter idealen Umständen zu leisten im Stande ist […], wobei sich dieses Potenzial in konkreten Situationen als spezifisches Verhalten bzw. Handeln manifestiert“ (Groeben 2002: 13). Die Situation und das darin zum Tragen kommende Handeln sind abhängig vom „Gegenstandsbereich Lesen“, in dem sowohl das „relevante aufgabenorientierte Fertigkeits- <?page no="69"?> 69 als auch das übersituative, generelle Fähigkeitsniveau im Sinne einer (relativ) zeitüberdauernden Handlungsdisposition“ (ebd.) enthalten sind. Lesekompetenz wird nicht als „angeborene Ausstattung modelliert“; vielmehr ist sie „als Ergebnis von Sozialisation zu verstehen, in der individuell unterschiedliche Dispositionen (Persönlichkeitseigenschaften), bereits erworbene (schrift- )sprachliche Rezeptionsfähigkeiten und neue Situationsanforderungen der Lektüre miteinander interagieren“ (Hurrelmann 2002: 276). Lesesozialisation ist den beteiligten Autoren zu Folge einer normativen Begründung verpflichtet, die „in letzter Konsequenz - das heißt auf der höchsten Abstraktionsebene - immer auf die Fähigkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe“ hinausläuft und „die Zielidee des gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekts“ verfolgt (Groeben 2002: 13). Schule als Sozialisationsinstanz kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Insofern gilt die normative Begründung auch für den fremdsprachlichen Literaturunterricht, der neben den Qualifikationserwartungen der Bildungsgänge auch dem übergeordneten Bildungsziel der gesellschaftlichkulturellen Partizipation verpflichtet ist, und dieser durch Förderung hermeneutisch-interpretativer und semiotischer Fähigkeiten zuarbeiten muss (cf. Steininger 2010b). Um das Konstrukt Lesekompetenz im Spannungsfeld der Lesesozialisation zu beschreiben, werden Teilkomponenten aufgeschlüsselt, und zwar als zentrale „Merkmale einer allgemeinen Lesekompetenz, gegliedert nach den angegebenen deskriptiven Dimensionen der Kognitionen, Motivationen und Emotionen, Reflexionen und Anschlusskommunikationen“ (Hurrelmann 2002: 277). Die Ebene der Kognitionen deckt sich weitgehend mit den zuvor vorgestellten language and cognitive processing strategies (cf. 4.1.1). Leseteilleistungen werden in hierarchieniedrige und hierarchiehöhere Prozesse unterteilt (vgl. Richter/ Christmann 2002). Zu ersteren zählen der Aufbau einer propositionalen Textrepräsentation (vom Wortzum Satzverständnis) und die lokale Kohärenzbildung (Verbindung von Sätzen zu Satzfolgen); letztere setzten sich aus der globalen Kohärenzbildung (Einbettung der Textteile in einen größeren Sinnzusammenhang), der Bildung von Superstrukturen (textgrammatische und textsortenspezifische Einbindung) und dem Erkennen rhetorischer Strategien (reflektierter Umgang mit Elementen der Textgestaltung) zusammen (vgl. ebd.: 28-34). Zu betonen ist, dass es sich bei den Teilleistungen um konstruktive Vorgänge handelt, „da kein Text alle Informationen explizit machen kann, die zu seinem Verständnis nötig sind“ (Hurrelmann 2002: 278). Motivationen im Lesekompetenzkonzept beziehen sich auf „die Bereitschaft, Leseprozesse aufzunehmen und den jeweiligen Textanforderungen entsprechend zu gestalten“ (ebd.). Es ist davon auszugehen, dass motivationale Aspekte kognitive Vorgänge beeinflussen (vgl. Groeben 2002: 15), wobei der Lesezweck und die damit verbundene Aufgabenstel- <?page no="70"?> 70 lung bzw. das Problemlösen eine wichtige Rolle spielen. Ebenso können Motivationen „aus der Aussicht auf Anschlusskommunikation“ oder „aus dem Bedürfnis nach emotionaler Anregung durch das Lesen selbst erfolgen“ (Hurrelmann 2002: 278). Emotionen werden im Konzept daher auch stets in engem Zusammenhang mit motivationalen Aspekten betrachtet, wird doch angenommen, dass Leseprozesse von einer emotionalen Selbstbeobachtung begleitet werden (vgl. ebd.). Zwar wird der emotionalen Dimension auch das Verhältnis zwischen den eigenen Lesebedürfnissen und dem Leseangebote beigeordnet, d.h. die Fähigkeit, „die eigenen Gratifikationserwartungen an den textseitigen Bedingungen vorzuorientieren“ (ebd.; cf. Pette/ Charlton 2002). Die Fähigkeit aber, emotionales Erleben und affektiv-konnotative Reaktionen auf die symbolischen Formen des Textes und die darin transportierten Inhalte zur Sinnstiftung zu nutzen und reflektierend zu ergründen, kommt darüber im Ansatz zu kurz. Dieser Aspekt des Lesens kommt erst in den Teilbereichen Reflexionen und Anschlusskommunikation zur Geltung. Lesekompetenz umfasst im DFG-Projekt „eine reflexionsbezogene Fähigkeitskomponente“, in der die „Überprüfung des Verstandenen durch Vergleich mit dem (inter)textuellen Wissen, dem Weltwissen, den emotionalen Erfahrungen, den normativen Orientierungen der Lesenden“ enthalten sind (Hurrelmann 2002: 279). Hinsichtlich der Lektüre literarischer Texte wird davon ausgegangen, dass Rezeption und Reflexion einander bedingen (vgl. Eggert 2002: 193). Gerade die Prozesse des lektürebegleitenden oder der Lektüre nachgelagerten Reflektierens sind es dann, die die individuelle Sinnstiftung „durch Anschlusskommunikation in soziale Kontexte“ rückbinden (Hurrelmann 2002: 279). Im Literaturunterricht, gewissermaßen der institutionalisierten Form der Anschlusskommunikation, sorgt die soziale Dimension der Lesekompetenz für ein Aushandeln von Verständnis unter den Beteiligten (vgl. Rupp 2002: 117-119), das Prozesse auszulösen vermag, die „eigenen und anderen Gesetzmäßigkeiten folgen als das individuelle Verstehen, gleichwohl auf dieses orientierend wirken“ (Hurrelmann 2002: 279). Obwohl dem Lesen literarischer Texte im DFG-Projekt eine Vielzahl spezifischer Funktionen beigemessen werden, wie beispielsweise „sprachästhetische Sensibilisierung, Erweiterung der Vorstellungsfähigkeit, Einübung von Empathiefähigkeit, Anleitung zur Selbstreflexion“ (ebd.: 284), besteht eine Besonderheit des Ansatzes darin, dass keine prinzipielle Unterscheidung zwischen dem Lesen literarischer und nicht-literarischer Texte getroffen wird. Den Autoren geht es vielmehr „um das Lesen generell, also aller möglichen Lektürestoffe, wenn auch für die von Texten ausgehende Rezeptionsanforderung bisweilen eine heuristische Spezifizierung von unterschiedlichen Text- <?page no="71"?> 71 sorten aus sinnvoll sein kann“ (Groben 2002: 12) 16 . Dieser These ist schon deshalb zuzustimmen, da mit der Zielsetzung der Studie eben davon ausgegangen wird, dass mit einem Kompetenzmodell für den fremdsprachlichen Literaturunterricht zwar die spezielle Rezeptionsanforderung im Gegenstandsbereich heuristisch aufzuschlüsseln ist, mit diesen Teilprozessen und Kompetenzbereichen aber genauso gut fremdsprachliche Leseverstehensleistungen generell zu beschreiben sind. Ein Text - und dieser Aspekt wurde schon mehrfach betont - gibt die Leseweise nicht von sich aus vor. Auffassungen vom Lesen, die dies verkennen, folgen einer Inhärenzhypothese, die die Konstruktionsleistungen der Lesenden als erkennende, verstehende und reaktive Subjekte ignorieren. Lesen ist immer auf die Interaktion zwischen Leser und Text angewiesen (vgl. Rosenblatt 1981; Bredella/ Burwitz-Melzer 2004, cf. 6.2), und erst aus dieser Interaktion entsteht die jeweils spezifische Rezeptionsanforderung. Im Fall des fremdsprachlichen Literaturunterrichts ergibt sich ein weiterer Einflussfaktor: Lesen ist hier nämlich nicht individuell realisiert, sondern eine soziale und daher gemeinschaftlich geteilte Handlung, 16 Einspruch dagegen erheben die am DFG-Projekt Literarästhetische Urteilskompetenz (LUK) beteiligten Autoren (cf. Frederking et al 2009). Sie stellen der von Norbert Groeben formulierten These entgegen, dass „literarästhetische Urteilskompetenz […] nicht mit allgemeiner Lesekompetenz identisch“ sei (ebd.: 167). In Anlehnung an Umberto Eco soll literarästhetische Urteilskompetenz „auf der Grundlage des Drei- Dimensionen-Modells kompetenztheoretisch“ modelliert und empirisch erhoben werden (ebd.: 168). Die Dimensionen setzten sich aus dem semantischen literarästhetischen Urteilen, dem idiolektischen literarästhetischen Urteilen sowie dem kontextuellen literarästhetischen Urteilen zusammen (ebd.). Im Sinne der hier favorisierten Konstruktivitätshypothese ist allerdings der Ansatz der Forschergruppe schon deshalb als problematisch zu werten, weil durch die zur Verwendung kommenden Items (insgesamt 178, davon 54% halboffene oder offene Formate, 46% geschlossene) der Prozesscharakter literarischer Verstehensleistungen und die im Unterricht so wesentliche inter-individuelle Bedeutungskonstruktion durch Anschlusskommunikation nicht in den Blick zu bekommen ist. Auch stellt sich die Frage, ob die literaturtheoretisch orientierte deduktive Herangehensweise, die sich auf den kognitiv-urteilenden Bereich beschränkt (vgl. ebd.: 167f.), zur Entwicklung eines Kompetenzkonstrukts im Sinne von Grundlagenforschung geeignet ist. Die Autoren der Studie greifen diesem Kritikpunkt vorweg, wird es doch „in Folgeprojekten insbesondere auch um die Erhebung der subjektiven und der emotional-affektiven Dimension ästhetischer Bildung gehen müssen“ (ebd.: 178). Für die empirische Auseinandersetzung mit literarischer Kompetenz im Fremdsprachenunterricht soll der LUK-Ansatz keine tragende Rolle spielen. Zum einen soll sich mit der Studie eben nicht auf den kognitiv-urteilenden Bereich beschränkt werden, und zum anderen sind es gerade forschungsmethodologische Aspekte des Erkenntnisinteresses, die eine andere Form der empirischen Annäherung als die der Faktorenanalyse nahelegen. Wie diese zu differenzieren sind, wird in Abschnitt 5.1 genauer beleuchtet. <?page no="72"?> 72 die eben auch auf die Interaktionen der Beteiligten angewiesen ist. Erst in der Interaktion kann sich das entfalten, was zuvor im didaktischen Setting als „Vorstellung von der wesentlichen Botschaft eines Textes“ angelegt wurde (Spinner 2004: 135): Die Lernenden formen gemeinsam und zusammen mit der Lehrkraft ein eigenes Verständnis des Textinhaltes und dessen Bedeutung. Dass bei aller Zustimmung aber die Zielvorstellung eines Kompetenzmodells für den fremdsprachlichen Literaturunterricht nicht hinfällig ist, ergibt sich zum einem daraus, dass sich das Lesekompetenzkonzept im DFG-Projekt auf das Lesen in der Muttersprache bezieht. Fremdsprachliche Anforderungen an die Lesefähigkeit können damit nicht gleichermaßen beschrieben werden - zumal dies auch gar nicht die Zielsetzung des DFG-Ansatzes ist. Zum anderen spielt die besondere Rezeptionssituation eine tragende Rolle: Im Unterricht ist Lesen als verbindliche Veranstaltung zu werten, die von der Lehrkraft sowohl didaktisch aufbereitet und vorbereitet als auch nachbereitet werden muss. Und es ist gerade das Wechselspiel zwischen Situationen im Unterricht und dem sich dabei entfaltenden individuellen Potential in konkreten Handlungen, das aus didaktischer Perspektive interessant ist. Schon deshalb, weil nur so Hilfestellungen für den Unterricht von einem Modell zu erwarten sind. Und zwar hinsichtlich der Planung von Arbeitsschritten, der Operationalisierung von Teilleistungen, der Beurteilung von Lernfortschritt sowie der Identifizierung von individuellem Förderpotential. Im DFG- Lesekompetenzkonstrukt allein findet sich auf diese Desiderate keine zufriedenstellende Antwort. Zwar lässt sich literarische Kompetenz im fremdsprachlichen Literaturunterricht innerhalb der Zieldimension Lesesozialisation verorten, das Konzept reicht aber für die speziellen Anforderungen der Rezeptionssituation aus didaktischer Sicht nicht aus. Es fehlt eine für den Unterricht wichtige heuristische Dimensionierung durch Teilkompetenzen und Kann-Deskriptoren. Wie dies auf theoretischer Seite in der muttersprachlichen und fremdsprachlichen Literaturdidaktik geschehen ist, soll im Folgenden von Interesse sein. 4.2 Literarische Kompetenz im Unterricht Die Diskussion um die Konzeptionierung speziell literarischer Kompetenz im mutter- und fremdsprachlichen Unterricht muss stets im Zusammenhang mit der verbindlichen outcome-Orientierung der Bildungsstandards gesehen werden (cf. 3.2). Anders als ein der Lesesozialisation verpflichtetes Lesekompetenzkonzept (cf. 4.1.3) können Modelle, die die Besonderheiten des Lesens literarischer Texte im Unterricht beschreiben, nicht die bildungssystemischen Setzungen außer Acht lassen. Schon allein deshalb nicht, weil sich die Ausei- <?page no="73"?> 73 nandersetzung und Selbstverortung der literarisch unterrichtenden Fächer innerhalb des durch die Begriffe Operationalisierung, Objektivierung und Skalierung geöffneten Raums auf den als kritisch zu wertenden Umgang mit literarischen Texten in den bildungspolitischen Dokumenten zurückführen lässt. Da die muttersprachliche Literaturdidaktik schneller auf diesen Missstand reagiert hat, sollen zunächst deren Entwürfe und Konzeptionierungen vorgestellt werden, bevor dann auf die theoretische Auseinandersetzung mit literarischer Kompetenz innerhalb der Fremdsprachendidaktik eingegangen wird. 4.2.1 Ansätze der muttersprachlichen Literaturdidaktik Dass die Vernachlässigung literarischer Texte in den Bildungsstandards tatsächlich einen Missstand darstellt, liegt u.a. in der Tatsache begründet, dass die Tendenz besteht, dass die Fächer und Teilbereiche, „in denen Standards etabliert werden, alle Aufmerksamkeit der Schulen wie der Schüler auf sich ziehen“ (Huber 2005: 105). Kompetenzmodelle und Standards zu entwickeln, auch für die Fächer, in denen „qualitative Verfahren gegenüber quantitativen, hermeneutisch-interpretative gegenüber nachmessbaren überwiegen“ (ebd.), kann nicht nur für die Fachdidaktiken selbst ein Verständigungsprozess über die eigenen Lerninhalte sein. Auch dem Kompetenzdiskurs ist eine Erweiterung des Kanons nur zuträglich. Schließlich gibt es keine hinreichend überzeugende Argumentation, warum der Kompetenzerwerb im Unterricht auf kognitive und durch Messverfahren nachprüfbare Zieldimensionen beschränkt bleiben sollte. Dabei stellt sich die Frage, von welchem Ausgangspunkt diese Annäherung erfolgen soll. Dies kann zum einen durch die Standardisierung von Aufgaben im Literaturunterricht oder aber durch Operationalisierung von Teilkompetenzen geschehen. Im Folgenden sollen Ansätze vorgestellt werden, die sich bei der Konzeptionierung literarischer Kompetenz im Unterricht jeweils anders in diesem Spannungsfeld orientieren. Der Ansatz von Huber (2005) nimmt Teilschritte des close readings im Literaturunterricht zum Anlass, standardisierbarer Aufgabenstellungen für den Unterricht mit Gedichten zu formulieren. Die Aufgabenformate werden in vier Bereich unterteilt (vgl. ebd.: 106): Informationen ermitteln, z.B.: Wer spricht das Gedicht/ im Gedicht? Sind die Verse an jemanden gerichtet? Geht es darin um ein bestimmtes Problem oder Gut? Um welches und für wen? (zunächst Hypothesen! ) Welche Raum- und Zeitbezüge finden sich darin? <?page no="74"?> 74 Form beschreiben und analysieren Wie ist das Gedicht äußerlich gegliedert (Strophen, Metrum, Reim)? Welche weiteren formalen Elemente (z.B. rhetorische Figuren) lassen sich erkennen? Welche Bilder? Textbezogenes Interpretieren Wie lässt sich das Gedicht inhaltlich gliedern? In wie viele Teile? Woran erkennbar? Wie verhält sich die innere Gliederung zur äußeren? (zunächst Hypothesen! ) Reflektieren und Bewerten In welche Bezüge lässt sich das Gedicht einordnen (Gattung, Epoche, Autor usw.)? Tabelle 6: Standardisierbare Aufgaben nach Huber (2005: 106) Betrachtet man die von Huber formulierten Aufgabenstellungen gerade unter dem Aspekt des close reading und vor dem Hintergrund der Ausführung um die Verarbeitungsprozesse beim Lesen (cf. 4.1.1), so werden einige Problembereiche deutlich: Die vier formulierten Kategorien beziehen sich fast ausschließlich auf Aufgabenbereiche, die mit dem text model in Verbindung stehen. Eigenheiten des situation model beim Lesen, also die vom Leser bei der Lektüre eingebrachten Leseerfahrungen, die affektiven Dispositionen, Erwartungen, Inferenzen und Konstruktionen spielen lediglich - und dann auch nur mit Einschränkungen - in zwei Aufgabenbeispielen eine Rolle. Diese sind von Huber zusätzlich mit der Anmerkung „zunächst Hypothesen“ versehen, richten sich entweder auf den Textinhalt, indem unter Informationen ermitteln nach dem Textthema gefragt wird, oder sie werden unter der Überschrift textbezogenes Interpretieren als Fragen zum Verhältnis zwischen innerer und äußerer Gliederung formuliert. Eine Ausnahme bildet die Kategorie Reflektieren und Bewerten, da hier außertextuelle Wissensbestände der Lernenden zur Beantwortung herangezogen werden müssen. Aus der Klammer geht aber hervor, dass es sich hier nicht um lebensweltliche Erfahrungen handelt, die mit dem im Text Enthaltenen in Verbindung gebracht werden müssen, um ein jeweils eigenes Textverständnis zu konstruieren, sondern vielmehr auf gattungsspezifisches bzw. literaturhistorisches Wissen fokussiert wird. Kritisch anzumerken ist, dass sich die standardisierbaren Aufgabenstellungen nicht auf die Konstruktionsleistungen der Lernenden bei der Sinnstiftung richten, sondern vielmehr formale und strukturelle Aspekte der Textgestaltung im Blick haben. Zwar werden so Charakteristika der Gattung Gedicht repräsentiert, wie durch das Gros der Aufgaben aber hermeneutisch-interpretative Verfahren eingebunden werden sollen, bleibt offen. Geschuldet ist dieser Umstand der anvisierten Standardisierung. Mit dem Ziel, Aufgabenstel- <?page no="75"?> 75 lungen überprüfbar zu machen, müssen messbare Elemente identifiziert werden, „die nicht schon eine gelingende Interpretation im ganzen voraussetzen, sondern ihr vorausgehen“ (ebd.: 106). Der Tatsache, dass dies eine Verkürzung literarischer Verstehensleistungen darstellt, ist sich Huber sehr wohl bewusst. Denn, bei aller Anstrengung, standardisierbare Aufgabengebiete zu formulieren, bliebe es doch dabei, dass die Verständnisleistungen im Literaturunterricht als „Interpretationen so nicht vermessen, sondern ihrerseits wiederum nur interpretierend verglichen werden können“ (ebd.). Eine Gefahr sieht Huber auch darin, dass standardisierbare Aufgaben mit dem Ziel, konkrete Schülerleistungen zu messen, an „bestimmten Inhalten festgemacht sind“, wobei dann Standards die „Auswahl der Inhalte vorweg determinieren und sie würden obendrein faktisch vorschreiben, in welcher Weise sie behandelt werden müssen, damit die vorgegebenen Aufgabensorten erfüllt werden können“ (ebd.). Anders zeigt sich der Ansatz von Spinner (2006), in dem „einer Systematisierung nicht nur des literarischen Lernens, sondern auch der entsprechenden Lern- und Kompetenzbereiche“ nachgegangen wird (Kammler 2006b: 16). Anstelle der Standardisierung ist es die Operationalisierung von Gegenstandsbereichen des literarischen Lernens, die im Vordergrund steht. Für Spinner ist die Konzeptionierung literarischer Kompetenz im Sinne eines kumulativen Erwerbs zentral, d.h. dass nicht auf werkimmanente Interpretationen fokussiert wird. Vielmehr sind gerade die Fähigkeiten von Interesse, „die dann im Umgang mit anderen Texten wieder zum Einsatz kommen können“ (Spinner 2006: 7). Indem Spinner die Beziehung von literarischer Kompetenz und literarischem Lernen betont, grenzt er erstere vom Erwerb allgemeiner Lesekompetenz ab. Dabei spielt im Ansatz das Lernen eine zentrale Rolle: Spinner begründet diese Auffassung damit, „dass es Lernprozesse gibt, die sich speziell auf die Beschäftigung mit literarischen, das heißt hier: fiktionalen, poetischen Texten beziehen“ (ebd.: 6). Insgesamt werden elf Bereiche identifiziert, die als Aspekte des literarischen Lernens bzw. als Teilkompetenzen literarischer Kompetenz im Unterricht beschrieben werden, und die „auf allen Klassenstufen relevant“ sind (ebd.: 8). Kammler (2006b: 16-18) fasst die von Spinner identifizierten Teilaspekte in einem Schema zusammen und versieht sie mit Schritten einer möglichen Lernprogression (wörtliche Zitate aus Spinners Artikel in Anführungszeichen): Aspekte/ Teilkompetenzen Mögliche Lernprogression (1) Beim Lesen und Hören Vorstellungen entwickeln „Es gilt […] im Verlauf der Schuljahre die kindliche Intensität der Vorstellungsbildung zu erhalten und einer zunehmenden Differenzierung, Flexibilität und textorientierten Genauigkeit zuzuführen.“ <?page no="76"?> 76 (2) Subjektive Involviertheit und genaue Wahrnehmung miteinander ins Spiel bringen Wechselseitige Steigerung von Subjektivität und Textorientierung (3) Sprachliche Gestaltung aufmerksam wahrnehmen Zunehmend selbständiges Beobachten sprachlicher Gestaltung; zunehmende „Entdeckerfreude“ (4) Perspektiven literarischer Figuren nachvollziehen Zunehmende Alteritätserfahrung, die zu „gesteigerter Selbstreflexion“ führt (5) Narrative und dramaturgische Handlungslogik verstehen Zunehmende Schärfung des Blicks auf innertextliche Bezüge bzw. auf den Textzusammenhang; zunehmende Fähigkeit, „verschiedene Textstellen zueinander in Beziehung [zu setzten]“; an „zunehmend komplexen Texten, auch solchen, die teilweise Kohärenzbildung verweigern“ (6) Mit Fiktionalität bewusst umgehen Zunehmende Einsicht ins „Spannungsfeld von Fiktion und Wirklichkeitsbezug“ (7) Metaphorische und symbolische Ausdrucksweisen verstehen Vom intuitiven Verständnis zum immer bewussteren Erschließen von metaphorischen und symbolischen Zusammenhängen in einem Text (8) Sich auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses einlassen Zunehmende Fähigkeit und Bereitschaft mit der Offenheit literarischer Texte umzugehen; zunehmendes Verständnis für „komplexe Sinnzusammenhänge und -ambivalenzen“ (9) Mit dem literarischen Gespräch vertraut werden Zunehmende Fähigkeit, sich „mit anderen über Texterfahrungen angemessen austauschen zu können“ und dabei verschiedenen Deutungsmöglichkeiten nachzugehen; Beherrschen entsprechender Ausdrucksformen (expressiv, behauptend, erklärend, erörternd) (10) Prototypische Vorstellungen von Gattungen/ Genres gewinnen Zunehmende Entwicklung „ganzheitlicher Vorstellungen“; zunehmende „Orientierung in der literarischen Vielfalt“ und „Aufmerksamkeit […] für abweichende Variationen“ (11) Literaturhistorisches Bewusstsein entwickeln Zunehmende Fähigkeit, literarische Texte als „Reaktion auf Vergangenes“ zu begreifen; zunehmendes Bewusstsein für kulturelle und intertextuelle Zusammenhänge Tabelle 7: Schema der literarischen Teilaspekte nach Kammler (2006b: 16-18) <?page no="77"?> 77 Indem Spinner Teilaspekte des literarischen Lernens aufgliedert, „gerät nicht zuletzt die Entwicklungsperspektive in den Blick, ohne dass die Komplexität des Gegenstandes Literatur vernachlässigt würde“ (Kammler 2006b: 19). Anzumerken ist, dass sich diese Entwicklungsperspektive aber auf die Formulierung einer möglichen Lernprogression beschränkt, denn eine Übersetzung in mögliche Niveaustufen ist nur für den Teilaspekt Perspektiven literarischer Figuren nachvollziehen im Ansatz enthalten. Spinner beschreibt dies anhand von fünf Deskriptoren, die „als Grundlage für die Erarbeitung eines Kompetenzstufenmodells“ dienen könnten (Spinner 2006: 10). Die erste Stufe wird als Verstehen des literarischen Textes aus nur einer der enthaltenen Perspektiven gefasst. Eine zweite Stufe wäre dann erreicht, wenn die Lernenden Unterschiede zwischen den Perspektiven der im Text enthaltenen Figuren erkennen können. Von einer dritten Stufe kann gesprochen werden, wenn „die unterschiedlichen Sichtweisen, Einstellungen usw. der Figuren aufeinander bezogen und der Zusammenhang mit ihrer Lebenswelt benannt werden kann“ (ebd.). Auf der vorletzten Stufe wird dann erwartet, dass die Lernenden auch die „Erzählweise und damit die Perspektivierung durch den Erzähler mit ins Spiel“ bringen (ebd.). Schließlich stellt die Fähigkeit, alle Teilaspekte miteinander in Verbindung zu betrachten und so für das Verstehen nutzbar zu machen, „eine besonders elaborierte Form des Figurenverstehens“ und damit die höchste Niveaustufe dar (ebd.). Es wurde bereits bei der Auseinandersetzung mit den Ansätzen kommunikativer Kompetenz im Fremdsprachenunterricht und den bildungspolitischen Dokumenten darauf hingewiesen, dass Kompetenzmodelle immer im Spannungsfeld von normativer und deskriptiver Ausrichtung zu sehen sind. Von diesem Blickwinkel aus betrachtet, sind den von Spinner formulierten Aspekten literarischen Lernens eher normative denn deskriptive Momente zu bescheinigen. Schon deshalb, weil dem Ansatz nicht zu entnehmen ist, wie die einzelnen Komponenten miteinander im Unterricht interagieren und wie sie im Unterricht als Verbindung von Wissen und Können zu beobachten sind. Insofern ist das Normative als Beschränkung zu werten. Verdeutlichen lässt sich dies beispielsweise daran, dass die methodisch-didaktische Umsetzung des Aspekts subjektive Involviertheit und genaue Wahrnehmung miteinander ins Spiel bringen als problematisch zu werten ist: Es handelt „sich um individuelle Prozesse“, „die nicht direkt beobachtbar sind und für die die Schülerinnen und Schüler auch den Schutz der Intimität beanspruchen dürfen“ (ebd.: 9). An welchen sprachlichen und literarischen Handlungen sich das Wechselspiel zwischen subjektiver Einsichtnahme und Textwahrnehmung festmachen lässt, wird leider nicht angeführt. Dabei könnte doch gerade die Operationalisierung von Schülerhandlungen dazu dienen, von konkreten Leistungen auf die generellen und situationsgebundenen Dispositionen der Ler- <?page no="78"?> 78 nenden rückzuschließen. Zwar wird im Ansatz jenen Fähigkeiten Vorrang gewährt, die losgelöst vom jeweiligen Text für das literarische Lernen von Bedeutung sind. Dass aber mit der beschriebenen Lernprogression Widersprüchlichkeiten einhergehen, wird am Beispiel des Bereichs narrative und dramaturgische Handlungslogik verstehen deutlich. Denn, wenn „für kompetentes literarisches Verstehen die Herstellung innertextlicher Bezüge wichtig ist“ und dies im Sinne der Lernprogression „an zunehmende komplexen Texten erfolgen kann“ (ebd.: 10), dann ist „das ‚Niveau‘, auf dem sich die Teilkompetenz realisiert, entscheidend von der Komplexität der Gegenstände geprägt, mit denen sich der Lernende befasst“ (Kammler 2006b: 19). Da der Ansatz allerdings keine Hinweise enthält, wie von den Lehrenden Komplexität im konkreten Fall beurteilt werden kann, drängt sich der Schluss auf, „dass sich hier Kompetenzstufen nur auf Basis eines - nach Schwierigkeitsgraden differenzierten - Textkorpus bestimmen ließen“ (ebd.). Zur Konsequenz hätte dies eine Einführung „eines mehr oder weniger starren literarischen Schulkanons“ (ebd.). Es zeigt sich an beiden Ansätzen, welchen Stellenwert Deskriptoren für die Dimensionierung von Kompetenzen und deren Teilkompetenzen einnehmen. Nicht nur, dass damit deskriptive Aspekte einzubinden sind, gerade auch für literaturdidaktische Zielsetzungen sind sie ein wesentlicher Bestandteil. Fehlen sie, so kann der Zusammenhang zwischen spezifischem Verhalten und konkreten Situationen weder konkretisiert noch dafür genutzt werden, Vorhersagen über die Entfaltung des individuellen Potentials innerhalb eines denkbaren Unterrichtsgeschehens zu treffen. Gleiches gilt für die Einschätzung eines zu verwendenden Textes und die dazu passenden Arbeitsschritte. Ein Ansatz der fremdsprachlichen Literaturdidaktik, in dem schon aus diesem Grund Deskriptoren eine zentrale Rolle spielen, soll im Folgenden vorgestellt werden. 4.2.2 Ein Modell der fremdsprachlichen Literaturdidaktik Innerhalb der fremdsprachlichen Literaturdidaktik gilt das von Eva Burwitz- Melzer (2007a, b) für die 12. und 13. Jahrgangsstufe konzipierte Lesekompetenzmodell als „der bekannteste und am weitesten entwickelte Ansatz“ (Bergfelder 2008: 59). Indem hier Leseverstehensleistungen mit Arbeitsschritten der fremdsprachlichen Literaturdidaktik gekoppelt werden, verfügt das Modell über den Vorzug, an GER anschlussfähig zu sein und der Ausrichtung der Bildungsstandards auf eine Identifizierung von tatsächlichen Schülerleistungen als Verbindung von Wissen und Können im Unterricht zuzuarbeiten. Außerdem gelingt es Burwitz-Melzer damit, rezeptionsästhetische Prinzipien und Methoden - also genuin literarische Aspekte bei der Konstruktionsleistung <?page no="79"?> 79 der Lernenden im Englischunterricht 17 - in ein Kompetenzmodell zu integrieren. So richten sich auch die im Modell dargestellten Teilkomponenten am Ablauf des aufgabenorientierten fremdsprachlichen Literaturunterrichts aus und sind „als stark miteinander verwobene Fertig- und Fähigkeitsbereiche zu sehen“ (Burwitz-Melzer 2007a: 137). Durch die Kombination dieses holistischen Konstrukts mit den Arbeitsschritten des fremdsprachlichen Literaturunterrichts, soll dem „natürlichen Rezeptionsprozess“ (Bredella/ Burwitz-Melzer 2004: 8) Rechnung getragen werden. Außerdem - und diesen Aspekt gilt es zu betonen - werden durch die im Modell enthaltenen Deskriptoren weder rein normative Momente literarischen Verstehens im Unterricht noch an der Standardisierung ausgerichtete Aufgabenformate hervorgehoben. Vielmehr ist es eine deskriptive Ausrichtung, die im Ansatz zu finden ist und die ihn für den fremdsprachlichen Unterricht mit literarischen Texten so interessant macht. Literarische Kompetenz im fremdsprachlichen Unterricht wird dabei in Anlehnung an die konzeptuelle Struktur von Lesekompetenz bei Groeben (2002: 11-25; cf. 4.1.3) als zeitüberdauernde Handlungsdisposition beschrieben, die sich aus aufgabenorientierten Fertigkeiten und situationsgebundenen generellen Fähigkeiten zusammensetzt. Als Operationalisierung literarischer Kompetenz werden Teilkompetenzen in einer Matrix mit Arbeitsschritten kombiniert. Deren Wechselwirkung und Interaktion wird im Modell durch Deskriptoren illustriert (vgl. Burwitz-Melzer 2007a: 140 f.). Zwar sind die Aufgabenfelder in einer bestimmten Reihenfolge geordnet, dies bedeutet aber nicht, dass sie rigide einzuhalten wären. Vielmehr kann es im Verlauf des Leseprozesses zu unterschiedlichen Kombinationen der Teilbereiche kommen (vgl. Burwitz-Melzer 2007b: 40). Zentral ist dabei die Interaktion zwischen Leser und Text, die im Modell eine Entsprechung für den unterrichtlichen Kontext durch die Einbindung der Handlungs- und Produktionsanlässe als planbare Situationen für potentielles Verhalten erfährt. Zudem gelingt durch die Betonung der produktiven Seite literarischer Kompetenz eine Einbindung affektiv-emotionaler sowie subjektivierende Elemente, „weil z.B. auch das Schreiben über literarische Texte, das Produzieren eigener literarischer Texte oder das szenische Spiel als Teilkompetenzen angesetzt werden“ (Bergfelder 2008: 59). Burwitz-Melzer formuliert fünf Kompetenzbereiche, die sie in Anlehnung an das DFG-Schwerpunktprogramm Lesesozialisation in der Mediengesellschaft (Groeben/ Hurrelmann 2002; cf. 4.1.3) und für den fremdsprachlichen Literaturunterricht zugeschnitten formuliert. Die Kompetenzbereiche setzten sich aus Motivation, kognitive und affektive Kompetenzen, interkulturelle Kompetenzen, Kompetenzen der Anschlusskommunikation und Kom- 17 Für den Französischunterricht siehe das Modell von Otto-Michael Blume (2007), das zentrale Aspekte des von Burwitz-Melzer formulierten Ansatzes übernimmt. <?page no="80"?> 80 petenzen der Reflexion zusammen (vgl. 2007a: 139-146) 18 . Die mit den Arbeitsschritten gekoppelten Kompetenzbereiche werden dabei hinsichtlich der möglichen Benotung im fremdsprachlichen Literaturunterricht unterschiedlich gewichtet. Weiß eingefärbte Felder der Matrix „sind in der Regel zu beurteilen und zu benoten, dies wird bereits jetzt im fremdsprachlichen Literaturunterricht getan“ (ebd.: 143). Die hellgrau eingefärbten Felder, die sich auf Motivation und Reflexion beziehen, sollen „keinesfalls beurteilt werden“, sondern dazu dienen, den Lernenden „ein persönliches Feedback zu ihrem ‚Durchhaltevermögen‘ zu geben“ und ihnen die Möglichkeit zur „Selbstbeurteilung ihres Lernfortschritts“ bieten (ebd.). Für Lehrende kann dieser Bereich dafür genutzt werden, die Selbsteinschätzung der Lernenden zu evaluieren. Dunkelgrau eingefärbt ist der Bereich der interkulturellen Kompetenzen. Fähigkeiten wie Perspektivenwechsel und Perspektivenkoordination, die mit diesem Bereich in Zusammenhang stehen, gelten im Modell als schwierig zu beurteilen (vgl. ebd.: 144). Besonders, weil solche Fähigkeiten „zwar förderungswürdig und anerkennenswert, aber nicht in einer Note auszudrücken“ sind (ebd.). Damit geht einher, dass politisch korrekte bzw. inkorrekte Schülerbeiträge im fremdsprachlichen Literaturunterricht zu kommentieren und zu reflektieren sind, von einer Sanktionierung und Bewertung durch Noten aber Abstand zu nehmen sei (vgl. ebd.). Die Kompetenzbeschreibungen werden zudem anhand eines Textbeispiels mit Musteraufgaben versehen (vgl. ebd.: 146- 155). In aller Ausführlichkeit sollen sie an dieser Stelle jedoch nicht diskutiert werden. Vielmehr wird mit der Darstellung der in der Matrix enthaltenen Wechselwirkung zwischen Kompetenzbereichen und Arbeitsschritten darauf gezielt, die im Modell enthaltene Dimensionierung nachzuzeichnen und jene Elemente und Ansätze zu identifizieren, die für das hier vorliegende Forschungsprojekt als ‚Richtschnur‘ fungieren und im Forschungsdesign der Studie Verwendung finden. Bei aller Zustimmung gehört dazu aber auch, dass manchen Elementen im Ansatz kritisch zu begegnen ist. Behält man die Anmerkungen zur Beurteilung der Fähigkeitsbereiche im Blick, wird ein Problemfeld berührt, das sich auf die eigentlich vorherrschende deskriptive Ausrichtung im Kompetenzmodell bezieht. Indem nämlich motivationale Kompetenzen, die im Unterricht eigentlich nicht durch Beobachtung auszumachen sind, eingebunden werden, enthält das Modell normative Aspekte. Fraglich ist, ob diese im Unterricht anzuzeigen vermögen, „ob und inwie- 18 Burwitz-Melzer macht deutlich, dass sich die im Modell enthaltenen Kompetenzbereiche vor allem auf das Lesen literarischer Texte beziehen. Für die Auseinandersetzung mit Spielfilmen oder „beim Verstehen, das maßgeblich auf Hörverstehen beruht - z.B. beim storytelling im Primarbereich […] - werden jeweils noch andere Fertigkeiten und Fähigkeiten gebraucht“ (2007a: 138; Hervorhebung im Original). <?page no="81"?> 81 weit die jeweiligen Kompetenzen erreicht worden sind“ (Bredella 2010a: 21). Sicherlich ist Motivation ein wichtiger Bestandteil, wenn nicht eine Grundvoraussetzung für erfolgreiche Leseprozesse und die damit einhergehenden Konstruktionsleistungen der Lernenden. Problematisch ist die Formulierung von Deskriptoren für einen solchen Bereich dennoch. Schon deshalb, weil sich eine Operationalisierung des Faktors Motivation für den Unterricht als schwierig erweist. Außerdem zeigt sich - und dies wird bei einem genaueren Blick auf die Kompetenzbeschreibungen deutlich -, dass Darstellungen des Bereichs Motivation nur schwerlich von anderen abzugrenzen sind. Hinzukommt, und dieses Problems ist sich Burwitz-Melzer durchaus bewusst, dass im fremdsprachlichen Literaturunterricht Motivation etwas anderes ist als im Alltagsleben der Schüler. So kann etwa den Lernenden nicht gestattet werden, „ein Buch oder einen Text bei Nichtgefallen wieder wegzulegen“ (ebd.: 143). Begegnet wird dieser Problemlage durch die bereits oben erwähnte Aussparung des Bereichs bei der Notengebung. Erwartungshaltung aufbauen und erhalten Motivation 1a) Die Lernenden sollen sich in ihrer Erwartungshaltung auf einen literarischen Text einstellen. Sie sollen in der Fremdsprache Hypothesen über seinen Inhalt, seine Charaktere und das Genre aufstellen. Kognitive und affektive Kompetenzen 1b) Bei einem ersten Kontakt mit dem Text sollen ausführliche Hypothesen über seine Darstellung im Text in der Fremdsprache angestellt werden, die Relevanz des Textes für die Lernenden soll von ihnen erkannt werden. Interkulturelle Kompetenzen 1c) Sie sollen bei einem ersten Kontakt mit dem Text möglichst selbstständig fremdkulturelle Elemente, Werte und Konflikte erkennen, benennen und diese mit eigenkulturellen Elementen, Werten und Konflikten in der Fremdsprache vergleichen können. Anschlusskommunikation 1d) Sie sollen - angeregt durch Titel oder Einband des Textes etc. - Hypothesen über das Thema des Textes mündlich oder schriftlich in der Fremdsprache äußern und dabei ihre Erfahrungen und ihr Weltwissen möglichst selbstständig einsetzen. Reflexion 1e) Sie sollen in der Rückschau möglichst selbstständig erkennen, ob ihre Hypothesen richtig oder eher falsch waren und weshalb dies so ist. Dieses Gespräch soll in der Fremdsprache geführt werden. Tabelle 8: Matrixausschnitt nach Burwitz-Melzer (2007a: 140) Der erste Kontakt mit dem fremdsprachlichen Text wird bei Burwitz-Melzer durch den Arbeitsschritt Erwartungshaltung aufbauen und erhalten eingeleitet (vgl. ebd.: 140). Hier wird vor allem darauf fokussiert, dass es den Lernenden <?page no="82"?> 82 gelingt, Hypothesen und Erwartungsformulierungen gegenüber den im Text verhandelten Inhalten zu entwickeln. Betrachtet man die Bereiche Motivation sowie kognitive und affektive Kompetenzen, so wird deutlich, wie schwer ersterer von letzterem abzugrenzen sind. In beiden Bereichen sind es Hypothesen, die eine zentrale Rolle spielen. Und in beiden Bereichen wird der Inhalt des Textes erwähnt. Die Charaktere jedoch, die vielleicht beim hypothetischen Ausgestalten im Unterricht eher kognitive und affektive Kompetenzen als Verbindung von Wissen und Können elizitieren könnten, finden sich nur in der Beschreibung zur Motivation. Fremdsprachliche Elemente werden im Bereich der Anschlusskommunikation angesprochen. Hier sollen Hypothesen mündlich und schriftlich in der Fremdsprache formuliert werden. Teilleistungen des Leseprozesses sind somit im ersten Arbeitsschritt vor allem als Einstimmung der Lernenden auf das im Text Verhandelte realisiert, die als potentielles Unterrichtsgeschehen vorbereitend ein situation model des Textes zu aktivieren sucht Sinnkonstitution I Motivation 2a) Die Lernenden sollen ihre Motivation möglichst selbstständig aufrecht erhalten können, auch wenn der Lese- und Arbeitsprozess nicht linear verläuft und ein gründliches mehrfaches Lesen erforderlich ist. Sie sollen in dieser Lesephase und in den weiteren die Erkenntnis entwickeln, dass sie literarische Texte mit Hilfe ihres Weltwissens und ihrer persönlichen Erfahrungen entschlüsseln können. Kognitive und affektive Kompetenzen 2b) Sie sollen selbstständig automatisierte, hierarchieniedrige und strategisch-zielbezogene, hierarchiehöhere Leseprozesse bewältigen und dabei von der Phonem-Graphem-Ebene bis zur Ebene des Weltwissens alle Ebenen des Leseprozesses ihrem Sprachvermögen in der Fremdsprache entsprechend beherrschen, um ein globales und detailliertes Verständnis des Inhalts, der Charaktere und der zentralen Konflikte zu erreichen. Dazu sind sowohl kognitive wie auch affektive Kompetenzen wie Identifikation und Empathie nötig. Interkulturelle Kompetenzen 2c) Sie sollen beim Leseprozess selbstständig und in der Fremdsprache fremdkulturelle Elemente, Werte und Konflikte erkennen, und diese evtl. mit den eigenkulturellen Elementen, Werten und Konflikten vergleichen können. Sie sollen auch evtl. vorhandene Stereotype im Text erkennen können. Anschlusskommunikation 2d) Sie sollen über den Text, seine Bilder, seinen Inhalt, seine Charaktere und seine zentralen Konflikte selbstständig und in der Fremdsprache sprechen können. Dazu gehört es auch, die Bedeutung dieser Faktoren im Klassenzimmer mündlich und schriftlich in der Fremdsprache auszuhandeln. Dabei ist es wichtig, dass sie lernen, die Meinung anderer anzuerkennen und zu tolerieren, wenn sie nicht der eigenen ent- <?page no="83"?> 83 spricht. Dazu gehört auch, dass sich die Lernenden mit Schülerinnen und Schülern aus anderen Kulturen in traditionellen oder Neuen Medien schriftlich oder mündlich über die gelesenen Texte respektvoll auseinander setzen und so einen zusätzlichen interkulturellen Lernprozess erleben. Reflexion 2e) Sie sollen die Erkenntnisse aus dieser Lesephase möglichst selbstständig in der Fremdsprache reflektieren und mit anderen, ähnlichen Lese- und Lernprozessen im fremdsprachlichen oder muttersprachlichen Literaturunterricht vergleichen können. Dazu gehört auch, die Meinungen anderer anzuerkennen und zu tolerieren, wenn sie nicht der eigenen entsprechen. Tabelle 9: Matrixausschnitt nach Burwitz-Melzer (2007a: 140) Im zweiten Bereich steht die „individuelle und interindividuelle Sinnkonstitution“ im Unterricht im Vordergrund (ebd.: 139). Sprachbezogene Leseteilleistungen, wie sie in etwa den in 4.1.1 beschriebenen language und cognitive processing strategies entsprechen, finden im Deskriptor zu kognitiven und affektiven Kompetenzen zusammenfassend Erwähnung. Verbunden mit den Konstruktionsleistungen zeigen sich affektive Reaktionen auf das Gelesene, wie beispielsweise Identifikation und Empathie, die im Unterrichtsgespräch als Reaktionen zuzulassen und zu fördern sind, „damit die Lernenden ihre Erwartungshaltung ausdrücken, ihre persönliche Sichtweise formulieren und auch ihre Motivation aufrechterhalten können“ (ebd.: 149). Sinnkonstitution II Motivation 3a) (wie 2a) Kognitive und affektive Kompetenzen 3b) Sie sollen rhetorische und gattungsspezifische Merkmale und deren Funktionen in einem fremdsprachigen literarischen Text selbstständig erkennen und in der Fremdsprache benennen können. Dabei sollten sie auch zwischen metaphorischem Sprachgebrauch und wörtlicher Bedeutung unterscheiden können und die Interpretationsweise des close reading in der Fremdsprache beherrschen, indem sie Stil, Syntax, Narrativik und Metaphern analysieren. Interkulturelle Kompetenzen 3c) Sie sollen spezielle fremdkulturelle Gattungs- und Strukturmerkmale des Textes möglichst selbstständig erarbeiten und in der Fremdsprache benennen können. Anschlusskommunikation 3d) (wie 2d) Reflexion 3e) (wie 2e) Tabelle 10: Matrixausschnitt nach Burwitz-Melzer (2007a: 141) <?page no="84"?> 84 Sinnkonstitution II beschreibt im Modell jenes literaturspezifische Wissen und Können, das dazu dient, „zum Beispiel rhetorische, narratologische und gattungsspezifische Merkmale der Texte“ zu erarbeiten (ebd.: 139). Burwitz- Melzer betont, dass nicht davon auszugehen sei, dass die Aufgabenfelder Sinnkonstitution I und II im Verlauf der Unterrichtsarbeit getrennt auftauchen, sondern vielmehr in einander übergehen (vgl. ebd.: 150). Somit wird auch verständlich, warum für die Bereiche Motivation, Anschlusskommunikation und Reflexion keine eigenständigen Beschreibungen in diesem Aufgabenfeld geboten werden. Nicht ganz klar ersichtlich ist allerdings, wie sich die im Bereich der interkulturellen Kompetenzen angeführten fremdkulturellen Gattungs- und Strukturmerkmale von eigenkulturellen unterscheiden, wie dieser Unterschied produktiv für Verstehensleistungen genutzt werden kann und welche Rolle dabei das Unterrichtsgeschehen bzw. die Handlungs- und Produktionsanlässe spielen können. Interkulturelle Kompetenzen fördern Motivation 4a) (wie 2a) Kognitive und affektive Kompetenzen 4b) Die Lernenden sollen fremdkulturelle Aspekte wie Kulturprodukte, Werte, Inhalte und Einstellungen, die im Text genannt werden, möglichst selbstständig erkennen und in der Fremdsprache benennen können. Die Lernenden sollen verstehen lernen, wie fremdsprachige literarische Werke als kulturelle Sinnträger enkodiert und dekodiert werden können. Interkulturelle Kompetenzen 4c) Sie sollen Perspektivenwechsel und -koordination auch in der Fremdsprache selbstständig vollziehen können, um die fremdkulturellen Charaktere, ihre Handlungen und Konflikte zu verstehen. Anschlusskommunikation 4d) Sie sollen fremdkulturelle Aspekte wie Kulturprodukte, Werte, Inhalte und Einstellungen aus dem Text mündlich und schriftlich in der Fremdsprache benennen und diskutieren können. Dabei sollten sie auch erklären können, wie diese Weltentwürfe zur Kommunikation mit anderen Menschen oder zur Klärung ihrer eigenen Ideen zur eigenen oder zu fremden Kulturen beitragen können. Reflexion 4e) Sie sollen noch einmal die Perspektivenwechsel und die Perspektivenkoordination während der Textarbeit selbstständig und in der Fremdsprache reflektieren. Im Laufe dieses Bewusstwerdungsprozesses sollen sie über die eigenen Werte, evtl. Vorurteile und Einstellungen gegenüber der eigenen und fremden Kulturen nachdenken. Tabelle 11: Matrixausschnitt nach Burwitz-Melzer (2007a: 142) <?page no="85"?> 85 Die vierte Spalte der Matrix von Burwitz-Melzer „bezieht sich auf den kulturellen und interkulturellen Aufgabenbereich“ (ebd.: 139). Interkulturelle Kompetenzen fördern bedeutet demnach im Unterricht, das im Text Enthaltene samt seinen inhärenten symbolischen Formen sowohl vor dem eigenkulturellen als auch vor dem fremdkulturellen Hintergrund wahrzunehmen, anzuerkennen, zu reflektieren und, daraus resultierend, dem Dargestellten gegebenenfalls zu widerstehen. Dieser Bereich umfasst so vor allem pädagogische Lernziele, die auf einen verständnisvollen Umgang mit Differenz und Alterität zielen, dem Fremdverstehen zuarbeiten und somit den Fremdsprachenunterricht - ähnlich wie in der Präambel des GER (cf. 3.1) zu lesen und besonders im Ansatz von Byram (1997) zu finden - als Ort der interkulturellen Kommunikation begreifen. Recherchekompetenz fördern Motivation 5a) (wie 2a) Kognitive und affektive Kompetenzen 5b) Die Lernenden sollen sich selbstständig mündlich oder schriftlich in der Fremdsprache Informationen beschaffen können über das literarische Werk selbst, seinen Autor, seinen Inhalt sowie seine Interpretation. Dabei sollen auch ohne Anleitung traditionelle Medien und Materialsammlungen wie Bibliotheken und neue Medien in der Zielsprache benutzt werden. Interkulturelle Kompetenzen 5c) Sie sollen sich über spezielle fremdkulturelle Informationen, die im Text gegeben werden, selbstständig und in der Fremdsprache informieren können. Anschlusskommunikation 5d) Sie sollen ihre Recherche-Ergebnisse umfassend, selbstständig und in der Fremdsprache präsentieren können. Sie sollen über ihre Recherche-Ergebnisse miteinander in der Fremdsprache reden können, diese vergleichen und auch durch zusätzliche Informationen ergänzen können. Reflexion 5e) Sie sollen die Ergebnisse und Erfahrungen dieses Lernprozesses mündlich und schriftlich möglichst selbstständig in der Fremdsprache ausdrücken können. Tabelle 12: Matrixausschnitt nach Burwitz-Melzer (2007a: 142) Das Fördern der Recherchekompetenz kann in Form von „Anschlussaufgaben an die unmittelbare Textarbeit“ im Unterricht Geltung erfahren (ebd.: 153). Im Vordergrund steht die selbstständige und fremdsprachliche Leistung der Lernenden bei der Beschaffung, Adaption und Präsentation von weiterführenden und die im Text verhandelten Themen betreffenden Informationen. Diese können fremdkulturelle Aspekte, aber auch das literarische Werk, <?page no="86"?> 86 den Autor bzw. die literarischen Motive, die Gattung, das Genre oder Ansätze der interpretive community als Ausgangspunkt nehmen. Eigene Textproduktion Motivation 6a) Die Lernenden sollen, angeregt durch den Originaltext, Motivation zum Verfassen eigener Texte in der Fremdsprache entwickeln. Kognitive und affektive Kompetenzen 6b) Sie sollen ihren fremdsprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten entsprechend möglichst selbstständig und in der Fremdsprache eigene fiktionale Texte nach Modellen oder auch ohne Modelle erstellen können. Interkulturelle Kompetenzen 6c) Sie sollen evtl. auch fremdkulturelle Inhalte oder Struktur- und Gattungsmerkmale bei der eigenen Textproduktion beachten. Anschlusskommunikation 6d) Sie sollen die verfassten Texte in der Fremdsprache vorstellen und ausführlich diskutieren können. Reflexion 6e) Sie sollen die Ergebnisse und Erfahrungen dieses Lernprozesses mündlich und schriftlich in der Fremdsprache ausdrücken können. Vortrag und Aufführungen Motivation 7a) Die Lernenden sollen die Bereitschaft entwickeln, den Text selbstständig und in der Fremdsprache vorzulesen, vorzuspielen oder in einer Theateraufführung darzustellen. Kognitive und affektive Kompetenzen 7b) Die Lernenden sollen den Originaltext in der Klasse oder darüber hinaus nach ausreichenden Proben vorlesen, vortragen oder aufführen können, wobei Länge und Komplexität des Vortrags (der Aufführung) vom Leistungsvermögen der Lerngruppe abhängen. Interkulturelle Kompetenzen 7c) Sie sollen möglichst selbstständig fremdkulturelle Inhalte beim Vortrag beachten und darstellen können. Anschlusskommunikation 7d) Sie sollen nach dem Vortrag oder der Aufführung möglichst umfassend und selbstständig in der Fremdsprache Kritik zum Vortrag äußern. Reflexion 7e) Sie sollen die Ergebnisse und Erfahrungen der Aufführung mündlich und schriftlich in der Fremdsprache reflektieren können. Tabelle 13: Matrixausschnitt nach Burwitz-Melzer (2007a: 145) Die letzten beiden Aufgabenbereiche „erweitern die Kompetenzbereiche um schriftliche und mündliche Vortragsfertigkeiten und -fähigkeiten“ (Burwitz- Melzer 2007b: 40) und beinhalten „Produktionsformen und Darstellungsformen, die sich auf den Text beziehen“ (Burwitz-Melzer 2007a: 144) und besonders im handlungsorientierten Unterricht eine Rolle spielen. Dabei werden sowohl „Schreibaufgaben, in denen Texte nach einer Vorlage erstellt werden“ <?page no="87"?> 87 als auch der „Vortrag von Gedichten oder die Aufführung von Theaterstücken“ berücksichtigt (ebd.). Obwohl eingangs betont wurde, dass durch die Produktionsanlässe eine Einbindung der Interaktion zwischen Leser und Text im Modell gelingt, ist dieser zentrale Aspekt aber in den Kompetenzbeschreibungen nur implizit enthalten. Richtet man das Augenmerk auf den Bereich kognitive und affektive Kompetenzen, so wird deutlich, dass nicht etwa affektive, sondern kognitive Teilleistungen im Vordergrund stehen. Denn gerade jene Fähigkeiten der Lernenden, die beim Lesen entstehenden affektivemotionalen Reaktionen als Teil des Sinnstiftungsprozesses auch für die eigene Textproduktion zu nutzen, nehmen keine herausragende Rolle im Deskriptor ein. Identifikation und Empathie, aber auch die Bereitschaft und Fähigkeit, Perspektiven im eigenen Text zu übernehmen, zu koordinieren und auszugestalten, die im Bereich Sinnkonstitution I angeführt werden, kommen bei Textproduktion wie Vortrag und Aufführung leider zu kurz. Burwitz-Melzer begründet dies damit, dass diese Bereiche nicht losgelöst von den vorangegangenen zu betrachten sind. Vielmehr umfassen sie all das, „was beim Verstehen während des Leseprozesses und beim Umformen in eine andere Darstellungsform benötigt wird“ (ebd.). Damit sind sowohl die eigenproduktiven schriftlichen Aufgabenstellungen als auch das Vorlesen und der Vortrag im Unterricht gemeint: Die in diesem Zusammenhang benötigten Fertigkeiten und Fähigkeiten reichen von phonetisch korrekter Aussprache, sinngestaltendem Vortragen von Gedichten über Körpersprache und Ausdrucksfähigkeit bis zum Erstellen von (fremdkulturell geprägten) Bühnenbildern bei Theateraufführungen; dieser Bereich kann wegen seiner großen Komplexität in dieser Tabelle nur angedeutet werden. (ebd.) Es ist vor allem die interdependente Dimensionierung der Kompetenzbereiche, die den Stellenwert des Modells als Orientierungsrahmen und Ausgangspunkt für die empirische Annährung der Studie an literarische Kompetenz im Fremdsprachenunterricht begründet. Dem Vorzug des Modells von Burwitz- Melzer, d.h. „Leistungen, die bisher nicht genau operationalisiert wurden, genauer zu differenzieren und einem hohen Kompetenzniveau fremdsprachlicher Teilleistungen zuzuordnen“ (ebd.: 156), liegt zugleich eine für die anvisierte empirische Auseinandersetzung nicht unbedeutende Problemstellung zu Grunde. Diese geht besonders aus den von Burwitz-Melzer formulierten Forderungen an die Erforschung eines solchen Kompetenzmodells hervor, die auch und gerade im Zusammenhang mit dem forschungsmethodologischen Erkenntnisinteresse der Arbeit zu sehen sind (cf. 5.1). Ausgehend nämlich von der am GER orientierten Niveaustufe C1 der Jahrgangsstufen 12 und 13 wird gefordert, ein „Deskriptorensystem für alle jene Kompetenzbereiche, die <?page no="88"?> 88 beim Umgang mit literarischen Texten benötigt werden, zu erstellen, das von allerersten Kontakten mit solchen Texten in der Grundschule […] über die Mittelstufe bis in die gymnasiale Oberstufe reicht“ (Burwitz-Melzer 2007b: 43). Mit dieser Forderung, die allein auf Grund der personellen, zeitlichen und nicht zuletzt finanziellen Limitierung des hier vorgestellten Forschungsprojekts weder konzeptionell noch praktisch umsetzbar zu begegnen ist, geht ein weiterer normativer Faktor einher: Ein solches Deskriptorensystem müsste, so Burwitz-Melzer, nämlich als „ex ante-Hypothese formuliert und danach im Fremdsprachenunterricht verifiziert werden“ (ebd.; Hervorhebung im Original). Realisiert werden könnte eine solche Herangehensweise nur durch eine großangelegte Studie, an der mehrere Forschergruppen beteiligt sind. Zwar sind - wie in 3.3 bereits dargelegt - in Kompetenzmodellen notwendigerweise immer normative Momente enthalten. Die Frage aber, die sich besonders bei der Erforschung des Konstrukts literarische Kompetenz im Fremdsprachenunterricht zu stellen ist, lautet, inwiefern eine ex ante Formulierung der eigentlich notwendigen Grundlagenforschung zuträglich ist. Phänomenologische Überlegungen, wie sie im Modell von Burwitz-Melzer enthalten sind, sind als theoretisches Vorwissen zentrale Bezugspunkte, die bei jedweder Art der empirischen Annäherung eine unabdingbare Rolle spielen. Die Kritik also, die hier anklingt, ist nicht per se auf den von Burwitz-Melzer vertretenen Ansatz zu beziehen, sondern leitet sich vielmehr aus dem her, was das hier vorgestellte Forschungsprojekt zur Konzeptionierung literarischer Kompetenz im Fremdsprachenunterricht beizutragen vermag. Die hier gewählte Herangehensweise zielt nicht auf Verifikation oder Falsifikation. Sie ist, wenn man so will, dialogisch angelegt. Dialogisch in dem Sinne, dass phänomenologische Konstrukte mit empirischen Einsichten in Verbindung gebracht werden sollen. Grundlagenforschung bedeutet in dem hier zugrunde liegenden Verständnis, nicht etwa ein Modell vorab zu erstellen, sondern aus der deskriptiven Auseinandersetzung mit empirischen und aus Fallstudien gewonnenen Daten mittels heuristischer Abstraktion, in die notwendiger Weise normative Momente einfließen, die Struktur literarischer Kompetenz im Fremdsprachenunterricht nachzuzeichnen. Mit diesen Überlegungen gehen weitere Arbeitshypothesen einher, die auch als Prämissen für den empirischen Teil der Arbeit zu werten sind und nun eingehender erörtert werden sollen. <?page no="89"?> 89 4.3 Zwischenfazit III: Konsequenzen für die Modellierung Bereits im Zuge der Auseinandersetzung mit den bildungspolitischen Dokumenten wurde darauf hingewiesen, dass im Zusammenhang mit der Operationalisierung von Kompetenzen auch Position hinsichtlich deren Skalierbarkeit und Objektivierbarkeit zu beziehen ist. Entscheidungen, die diesbezüglich zu treffen sind, lassen sich hauptsächlich aus der oben beschriebenen Grundausrichtung des Forschungsprojekts im Spannungsfeld von Phänomenologie und Empirie ableiten. Daneben ist es aber auch und gerade das Verständnis von Lesen im fremdsprachlichen Literaturunterricht, das handlungsleitend ist. Hier liegt besonderes Augenmerk auf dem situation model, das die Lernenden bei der Auseinandersetzung mit literarischen Texten im Fremdsprachenunterricht durch die eigenen Konstruktionsleistungen, durch Einbringen ihres Weltwissens, ihrer Erfahrungen, der Reaktionen auf das Gelesene gemeinsam formen. 12)Zentral für die Einbindung der Interaktion zwischen Leser und Text in ein Kompetenzmodell ist das individuell entstehende und im Austausch untereinander elaborierte situation model of the text (cf. 4.1.1). Bei Burwitz- Melzer wird dieses empirisch nur schwer zu fassende Konstrukt als high inference behaviour der Lernenden umschrieben, das sich aus „eigenen Denkprozessen und Hypothesenbildungen“ zusammensetzt (2007b: 44). Um dem situation model und dessen naturgemäß subjektspezifischer Realisierung innerhalb der Studie begegnen zu können, ist es nötig, neben der Unterrichtsbeobachtung auch die Lernenden selbst reflektierend zu Wort kommen zu lassen. Für das Forschungsdesign ergibt sich daher die Forderung einer Perspektiventriangulation. Es gilt, aus den zu beobachtenden Schülerleistungen auf jene Konstruktionsprozesse rückzuschließen, die sowohl mit dem text model als auch mit dem situation model in Verbindung stehen. Dabei sind es die von den Lernenden verwendeten sprachwie inhalts- und darstellungsbezogenen Heuristiken und Verstehensleistungen, die in retrospektiven Interviews im Vordergrund stehen (cf. 5.1.1). Insbesondere die für die hier favorisierte Konstruktivitätshypothese vom Lesen so grundlegenden affektiven Mobilisatoren können nur dann erhellt werden, wenn Lernende nicht nur als Objekte der Beobachtung, sondern als informierende Subjekte im Forschungsdesign eine Rolle spielen. 13)Es wurde bereits dargelegt, dass Operationalisierung im Forschungsprojekt auf die Identifizierung von Prozessebenen zielt (cf. 3.3). Damit geht aber als Zielsetzung keine Objektivierbarkeit von Kompetenzen einher. Schon deshalb nicht, da davon ausgegangen wird, dass jeder Versuch, Kompetenzbeschreibungen so zu formulieren, dass sie „in Aufgabenstellungen umgesetzt und prinzipiell mit Testverfahren erfasst werden können“ (BMBF <?page no="90"?> 90 2003: 9), der „Offenheit literarischer Texte“ und damit der „Tatsache, dass sie sich einfachen Bedeutungszuweisungen und Verfahren der ‚Sinnentnahme‘ tendenziell entziehen“, zuwiderläuft (Kammler 2006b: 19). Es kann also nur darauf gezielt werden zu sondieren, anhand welcher Merkmalsbeschreibungen von Aufgabenstellungen im Unterricht ‚Vorhersagen‘ über zu erwartendes Schülerverhalten zu treffen sind. Solche Vorhersagen könnten dem Unterricht mit literarischen Texten eine breiter aufgestellte Hilfestellung bieten, als das mit dem Versuch der Formulierung standardisierbarer Aufgaben erreicht werden könnte (cf. 4.2.1), zumal so auch „der Gefahr einer einseitigen Fixierung des Unterrichts auf das Testbare und die Testsituation entgegenzuwirken“ ist (ebd.). 14)Mit diesen Annahmen verbunden zeigt sich der Aspekt der Skalierbarkeit von Kompetenzen. Bereits bei der Diskussion der Skalen des GER wurde deutlich, wie schwierig eine systematisch strukturierte und terminologisch konsistente Niveaustufenbeschreibung zu semantisieren ist (cf. 3.1.3; vgl. Quetz/ Vogt 2009). Noch problematischer sind Schwierigkeitsgrade dann zu bestimmen, wenn man neben den sprachlichen Mitteln und den kommunikativen Sprachkompetenzen auch Teilaspekte der Konstruktionsleistungen beim Lesen zu fassen versucht, die neben den language und cognitive processing strategies auch emotional-affektive Dimensionen und Fähigkeiten, die beim Lesen entstehenden Reaktionen zur Sinnstiftung zu nutzen, umfassen. Ein an diesen Prozessen interessiertes empirisches Projekt kann nicht umhin anzuerkennen, dass „interindividuelle Unterschiede“ in Leseverstehensleistungen „nicht mit Unterschieden in einer einzigen Prozesskomponente assoziiert“ werden dürfen (Richter/ Christmann 2002: 48). Damit soll nicht bestritten werden, dass „soziokulturell unterschiedliche Ausprägungen von Lesekompetenz deutlich zu beobachten sind“ (Hurrelmann 2002: 280) und dass dies auch bei literarischer Kompetenz im Fremdsprachenunterricht der Fall ist. Allerdings kann es nicht Gegenstand des Forschungsprojektes sein, all diese Ausprägungen zu beschreiben; dies hieße, den zweiten vor dem ersten Schritt zu machen. Außerdem kann ein starres Raster nach Vorbild der Kompetenzstufen des GER weder der Offenheit und Vielschichtigkeit der Verstehensleistungen über den konkreten Text hinaus gerecht werden, noch ist es damit möglich, Verständnisleistungen als Interpretationen zu begreifen, die „ihrerseits wiederum nur interpretierend verglichen werden können“ (Huber 2005: 106). Hier ist es die einzelne Lehrkraft, der eine besonders wichtige Rolle bei der Einschätzung von Leseverstehensleistungen im fremdsprachlichen Literaturunterricht zukommt (vgl. Burwitz- Melzer 2007a). Ein Modell, das auf die Operationalisierung von Prozessebene zielt, kann dafür eine wichtige Grundlage bieten. <?page no="91"?> 91 5. Erkenntnisinteresse und Forschungsdesign An dieser Stelle der Arbeit sollen die Arbeitshypothesen als Grundannahmen für die empirische Annäherung an das Konzept literarische Kompetenz im Fremdsprachenunterricht in Form eines Forschungsdesigns zusammengeführt werden. Grundlegend für diese erkenntnisleitende Synthese ist die Vorannahme, dass literarische Kompetenz zu heuristischen Zwecken in einem Kompetenzmodell samt Kompetenzbereichen, Teilkompetenzen und Deskriptoren darzustellen ist. Dass es sich dabei im fachdidaktischen Diskurs um keine Selbstverständlichkeit handelt, wurde bereits angedeutet (cf. 3.3). Diese Annahme ist jedoch immer im Kontext der erörterten theoretischen Grundlagen zu sehen, und fußt auf den dargelegten Prämissen, die sich schlaglichtartig wie folgt zusammenfassen lassen: Literarische Kompetenz im fremdsprachlichen Unterricht ist als Spielart kommunikativer Kompetenz zu betrachten. Dies ergibt sich zum einen aus der besonderen Kommunikationssituation (cf. 2.) und zum anderen aus den Bildungszielen und Sozialisationsverpflichtungen der fremdsprachlichen Literaturdidaktik (cf. 1.1, 4.1.3), die neben pädagogischen und emanzipatorischen Dimensionen immer auch die sprachbezogenen Fähigkeiten und Fertigkeiten der Lernenden berücksichtigen müssen. Ein Modell literarischer Kompetenz bezieht sich auf einen Unterricht mit literarischen Texten, der sich von literaturwissenschaftspropädeutischen Ansätzen, die eine andere Gewichtung verlangen würden, unterscheidet. Damit geht der Begriff der Diskurstüchtigkeit der Lernenden einher. Erweitert wird dieser im Ansatz um die inner- und außerliterarische sowie die unterrichtliche Diskursebene (cf. 2., 3.3). Innerhalb dieser Erweiterung spielt zudem die interkulturelle Prägung der diskursiven Auseinandersetzung im Fremdsprachenunterricht eine zentrale Rolle (cf. 1.1, 2.). Um der Kommunikationssituation gerecht zu werden, wird literarische Kompetenz im Forschungsprojekt so verstanden, dass das Konstrukt neben der rezeptiven auch eine produktive Dimension umfasst. Besonderes Augenmerk ist daher auf die Situationen im Unterricht zu legen, die es als konkrete Arbeitsschritte und Aufgabenstellungen überhaupt erst ermöglichen, dass sich potentielles Verhalten der Lernenden entfaltet (cf. 4.2.1, 4.2.2). Damit ist zugleich der sensible Bereich der Darstellung von Interaktionen und Interdependenzen zwischen den im Modell enthaltenen Teilbereichen berührt (cf. 2.). Diese sollen anhand von Merkmalsräumen beschrieben werden, mit dem Ziel, problemlösebezogene Prozesse und die daran festzumachenden Kombinationen von Wissen und Können einander zuordnen zu können (cf. 7.3.1, 8.3). All diese voraussetzungsreichen Grundannahmen haben Auswirkungen auf das Erkenntnisinte- <?page no="92"?> 92 resse der Arbeit. Die dabei aufscheinenden fachdidaktischen und forschungsmethodologischen Zusammenhänge sollen im Folgenden näher betrachtet werden. 5.1 Fachdidaktische und forschungsmethodologische Bezüge Das übergeordnete fachdidaktische Erkenntnisinteresse besteht in der Operationalisierung von literarischer Kompetenz im Fremdsprachenunterricht. Damit geht das Projekt der Frage nach, ob und in wie weit literaturdidaktische Kompetenzbereiche, Teilkompetenzen und deren Deskriptoren besser als es bisher in den für den fremdsprachlichen Unterricht relevanten bildungspolitischen Dokumenten geschehen ist klassifiziert, typisiert und als zusammenwirkende Teiloperationen abgebildet werden können (vgl. Burwitz-Melzer 2007a: 136-156). Im Mittelpunkt steht dabei die heuristische Darstellung der für den Umgang mit Literatur im Fremdsprachenunterricht wesentlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten innerhalb eines Kompetenzmodells, mit deren Hilfe ein Anschluss der fremdsprachlichen Literaturdidaktik an die Bildungsstandards ermöglicht werden soll. Es geht aber auch darum auszuloten, inwiefern sich die mit der outcome-Orientierung einhergehenden Modellbildungen für die fremdsprachliche Literaturdidaktik nutzen lassen. Modelle sollen komplexe Sachverhalte in ihren Zusammenhängen zugänglich machen, indem sie Bezugspunkte und Wechselwirkungen zwischen diesen abstrahiert darstellen. Gerade dieser Aspekt bietet Möglichkeiten, Lerninhalte, Bildungsziele, methodische und didaktische Prämissen in einem anderen Licht zu betrachten, zu systematisieren und (gegebenenfalls) zur Diskussion zu stellen - theoretisch wie praktisch. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen vor allem die Verstehensprozesse der Lernenden im fremdsprachlichen Literaturunterricht, genauer gesagt, die individuellen und interindividuellen Prozesse der Konstruktion von Bedeutung bei der Auseinandersetzung mit literarischen Texten. Diese Verstehensprozesse werden in Anlehnung an die Kompetenzkonzeption, die den Bildungsstandards zugrunde liegt, als ein Zusammenwirken des individuellen Potentials an Wissen und Können verstanden, denn von Kompetenzen kann laut den Autoren der Expertise zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards dann gesprochen werden, wenn gegebene Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler genutzt werden, wenn auf vorhandenes Wissen zurückgegriffen werden kann bzw. die Fertigkeit gegeben ist, sich Wissen zu beschaffen, wenn zentrale Zusammenhänge der Domäne verstanden werden, <?page no="93"?> 93 wenn angemessene Handlungsentscheidungen getroffen werden, wenn bei der Durchführung der Handlung auf verfügbare Fertigkeiten zurückgegriffen wird, wenn dies mit der Nutzung von Gelegenheiten zum Sammeln von Erfahrungen verbunden ist und wenn aufgrund entsprechender handlungsleitender Kognition genügend Motivation zu angemessenem Handeln gegeben ist. (BMBF 2003: 74 f.) Es gilt also bei der Modellierung, die jeweiligen Fähigkeiten der Lernenden zu identifizieren, die Handlungsentscheidungen in ihrer Wirkrichtung und ihrem Ursprung zu beschreiben, die dabei eingesetzten spezifisch fremdsprachlichen Fertigkeiten zu berücksichtigen sowie jene Situationen darzulegen, die diese Anwendung von Wissen und Können begünstigen. Rezeptionsästhetische literaturdidaktische Lehr- und Lernziele stellen die zentralen Zusammenhänge der Domäne dar (vgl. Burwitz-Melzer/ Bredella 2004). Es wurde bereits bei der Auseinandersetzung mit dem Modell von Burwitz-Melzer (cf. 4.2.2) darauf hingewiesen, dass die hier vorgestellte Studie die Annäherung an literarische Kompetenz als literaturdidaktische Grundlagenforschung versteht. Aus dieser Annahme ergibt sich das forschungsmethodologische Erkenntnisinteresse der Arbeit. Es wird dabei nicht davon ausgegangen, dass ein Kompetenzmodell zwingend im Vorfeld entwickelt und anschließend verifiziert oder falsifiziert werden muss. Vielmehr - so der hier vertretene Ansatz - kann ein Kompetenzmodell auf empirischen Daten gründen, durch sie im Forschungsprozess geleitet und schließlich aus ihnen gewonnen werden (cf. 5.3). Eine solche Vorgehensweise wird dann auch dem explorativem Charakter der Studie gerecht: Das Forschungsdesign soll es ermöglichen, „für das Neue im Untersuchten, das Unbekannte im scheinbar Bekannten offen“ zu sein (Flick/ v. Kardorff/ Steinke 2000: 17). Einerseits wird damit darauf gezielt, die zu beobachtenden Unterrichtsprozesse so abzubilden, dass die Modellbildung mit theoretischem Vorwissen und phänomenologischen Überlegungen vereinbar ist und dass es andererseits damit gelingt, bislang von der Kompetenzdiskussion eher unbeachtete Zusammenhänge, Wechselwirkungen und Konzepte aufzuzeigen. Um dieser Zielsetzung zuzuarbeiten, muss das Forschungsdesign eine Mittelposition zwischen zwei unterschiedlichen Pole einnehmen: Zum einen ist dies die Auseinandersetzung mit Literatur im fremdsprachlichen Unterricht, der hinreichend hermeneutisch und interpretierend zu begegnen ist. Und zum anderen ist es das Ziel der Modellierung literarischer Kompetenz, das einen analytischen und systematisierenden Umgang mit den Daten verlangt. Als Konsequenz aus ersterem kombiniert das Forschungsdesign verschiedene <?page no="94"?> 94 qualitative Zugangsweisen, um „Einblicke in die Unterrichtsarbeit mit Literatur zu gewinnen“ (Burwitz-Melzer 2007b: 43). Damit der zweite Pol Berücksichtigung innerhalb der Datenauswertung erfahren kann, fällt für die Modellierung literarischer Kompetenz die Wahl auf Analyseinstrumente der Grounded Theory (cf. Glaser/ Strauss 2005; Strauss 1994; Corbin/ Strauss 2008; Strübing 2008). Darauf zielend, die empirischen Daten mittels des Konzept- Indikator-Modells auf makro- und mikrostruktureller Ebene zu einem Modell zu abstrahieren. Nicht das apriorisch entworfene Modell steht dabei im Vordergrund. Vielmehr geht es darum, ein bereits bestehendes und ohne empirische Daten entworfenes Modell - hier das von Burwitz-Melzer (cf. 4.2.2) - im Sinne eines Orientierungsrahmens mit den aus der Unterrichtsforschung systematisch gesammelten und analysierten Daten abzugleichen. Es wird zum einen darauf gezielt, Elemente des bestehenden Modells, die sich an den Daten bestätigen und als situationsadäquat erweisen, in das zu abstrahierende Modell zu integrieren. Zum anderen ermöglicht diese Vorgehensweise aber auch, erst in den Daten zu entdeckende Zusammenhänge einzubinden. Als Produkt entsteht ein Modell literarischer Kompetenz im Fremdsprachenunterricht, das sowohl aus der theoretischen als auch der empirischen Auseinandersetzung hervorgegangen ist. Nicht zuletzt soll dieses Verfahren sicher stellen, dass eine Theorie - und in diesem Sinne ist auch ein Kompetenzmodell als Theorie über die zentralen Zusammenhänge einer Domäne zu verstehen - mit den gewonnenen Daten kongruiert und somit in der Regel nicht durch weitere Daten völlig zurückgewiesen oder gänzlich durch eine andere Theorie ersetzt werden kann (vgl. Glaser/ Strauss 2005: 13). Innerhalb dieses Rahmens soll mittels dichter Beschreibung (vgl. Geertz 1987) die kulturelle Wirklichkeit des fremdsprachlichen Literaturunterrichts, die sich in den Fallstudien zeigt, hermeneutisch-interpretierend durchdrungen werden, sodass „eine geschichtete Hierarchie bedeutungsvoller Strukturen“ (ebd.: 12) entstehen kann. Es wird darauf gezielt, Vorhersagen und Erklärung von Verhalten zu ermöglichen, die sowohl den theoretischen Fortschritt unterstützen als auch für schulpraktische Anwendungen nutzbar sind, indem mit ihnen Verhalten begreiflich gemacht wird (vgl. Glaser/ Strauss 2005: 13). Das so entstehende Modell wird dabei nicht als abschließend betrachtet, sondern soll neben der Identifikation struktureller Zusammenhänge auch dazu dienen, weitere Untersuchungen literarischer Kompetenz anzuregen. Um Daten auf dem relevanten Feld zu sammeln, wurde sich für die teilnehmende Beobachtung entschieden. Diese Form der gemeinsamen Vorbereitung der Unterrichtseinheiten mit den Lehrenden und der Teilhabe am Unterricht (vgl. Lüders 2000: 385-389) arbeitet in gewisser Weise dem ethnographischen Aspekt der Untersuchung entgegen, da eben nicht versucht wird, „das Wirklichkeitsfeld vorurteilsfrei zu betrachten“ (Edmondson/ House 2006: <?page no="95"?> 95 38). Vielmehr wird interessengeleitet gearbeitet. Die Motive dafür liegen in der Zielsetzung begründet, ein Modell literarische Kompetenz im Fremdsprachenunterricht generieren zu wollen, also für dieses Ziel Relevantes zu selektieren, sowohl in der Vorbereitung als auch in der Analyse der Daten. Da dieses Modell jedoch auf eine abstrahierte Rekonstruktion kultureller Interaktion abzielt (vgl. Nunan 1992: 55), ist auch der Prozess der Generierung ethnographischer Natur: The result of such an investigation is usually a detailed description of the research site, and an account of the principles or rules of interaction that guide the participants to produce their actions and meanings and to interpret the actions and utterances of others. (Chaudron 1988: 46) Das beforschte Feld, nämlich der fremdsprachliche Literaturunterricht, stellt weitere fachdidaktische Herausforderungen bereit und wirft forschungsmethodologische Fragestellungen auf. Und zwar im Hinblick auf die bildungssystemischen Anforderungen an Kompetenzmodelle. Kompetenzen werden in den Bildungsstandards mit der Zielsetzung formuliert, die Planung von Unterricht „auf definierte Leistungserwartungen“ auszurichten, konkrete Unterrichtsziele zu benennen und den „Umgang mit Heterogenität“ zu fördern (KMK 2005b: 12). Dabei sind es fachdidaktische Kompetenzmodelle, die den Bildungsstandards zugrunde liegen und „Lernprozesse in ihrer fachlichen Systematik“ sowie in der domänenspezifischen „Logik des Wissenserwerbs und der Kompetenzentwicklung“ rekonstruieren (BMBF 2003: 75). Es gilt bei der Modellierung daher zwei Perspektiven zu koordinieren: Die der Fachdidaktik bzw. der fremdsprachlichen Literaturdidaktik und die der outcome- Orientierung. Dabei wird drauf gezielt, sowohl den fachdidaktischen Erkenntnisstand durch empirische Forschung und systematische Auswertung der domänenspezifischen Schülerleistungen zu erweitern als auch der Kompetenzdiskussion Einsichten und Aspekte literarisch-ästhetischer Lese- und Verstehensprozesse hinzuzufügen. Bildungsstandards richten in ihrer Formulierung den „Blick auf die Lernergebnisse von Schülerinnen und Schülern“ (KMK 2005b: 16), indem die Anforderungsbereiche der Kompetenzen als Kann-Deskriptoren formuliert werden (vgl. KMK 2004a; 2005a). Dadurch, dass das Modell auf Daten der literaturdidaktischen Unterrichtsforschung basiert und Schülerleistungen abstrahiert abbildet, ergänzt dieser forschungsmethodologische Aspekt die fachdidaktische Fragestellung. Die Autoren der Expertise stellen fest, dass Kompetenzen „nur leistungsbezogen erfasst“ werden können (BMBF 2003: 73). Auch diesem Kriterium wird innerhalb der Studie begegnet, allerdings unter geänderten Vorzeichen. Psychometrische Modelle, wie sie z.B. bei PISA, DESI und IGLU vorzufinden sind, schließen von der Performanz „beim Lösen von Testaufgaben auf die <?page no="96"?> 96 individuelle ‚Kompetenz‘ im Sinne eines latenten Fähigkeitskonstrukts“ (Beck/ Klieme 2007: 4). Innerhalb der Studie dient die Performanz der Schülerinnen und Schüler auch als Indikator für Kompetenz. Es sind jedoch nicht die Testformate und -aufgaben, die zuvor entsprechend eines Modells entworfen wurden, von denen auf eine vorab definierte Kompetenz geschlossen wird, sondern die Schülerleistungen im Kontext der Domäne. Die Rolle des Kontextes ist dabei zentral. Es wird davon ausgegangen, dass die im Unterricht auszumachenden Leistungen der Lernenden „als Ergebnis gemeinsam in sozialer Interaktion hergestellter Bedeutung und Zusammenhänge“ zu verstehen sind (Flick/ v. Kardorff/ Steinke 2000: 20). Der Forderung entsprechend, dass sich Kompetenzen nicht „durch einzelne, isolierte Leistungen darstellen“ lassen, kann mit Hilfe des Kontexts das „Leistungsspektrum“ der Schülerinnen und Schüler beschreiben werden (BMBF 2003: 74). Von diesem Spektrum ausgehend wird dann datengeleitet auf das Wissen und Können der Lernenden geschlossen, d.h. die Daten dienen dazu, von konkretem Verhalten auf Handlungsdispositionen rückzuschließen. Die Bildungsstandards „definieren eine normative Erwartung“ (KMK 2005b: 11). Auch dies spiegelt sich in der Anlage des Forschungsprojekts wieder (cf. 3.3). Auf die deskriptive Darstellung der im Forschungsprozess erhobenen Daten folgt eine Typisierung der vorzufindenden Strukturen, die in ihrer Zielsetzung dann auch Erwartungen an ein spezifisches Schülerverhalten formulieren. Dies liegt unter anderem darin begründet, dass die einzelnen Leistungen in ein Spektrum literarischer Verstehensprozesse eingeordnet werden müssen, dieses Spektrum durch den steten Vergleich der einzelnen Fallstudien generiert wird, spezifisches Verhalten sowie Leistungen als Stufenfolge bzw. Teiloperation eines übergeordneten Teilbereichs beschrieben werden und das Modell auf eine begrenzte theoretische Verallgemeinerung literarischer Kompetenz im fremdsprachlichen Unterricht zielt. Die Bildungsstandards sind „als abschlussbezogen Regelstandards definiert“ (KMK 2004a: 3) und beschreiben Kompetenzen, „die im ‚Durchschnitt‘, ‚in der Regel‘ von den Schülerinnen und Schülern eines Jahrgangs erreicht werden sollen“ (KMK 2005b: 9). Sich daran orientierend, wurden im Forschungsdesign Gruppen aus dem neunten (Hauptschule) und zehnten Jahrgang (Gymnasium, Realschule, Integrierte Gesamtschule) berücksichtigt. Entsprechend der in 4.3 diskutierten Gründe wird bei der Modellierung jedoch von einer Skalierung abgesehen, liefern doch die Datensätze, die im Folgenden beschrieben werden, keine ausreichende Basis, um „Mindest-, Regel- und Maximalanforderungen“ (ebd.: 8) zu formulieren. <?page no="97"?> 97 5.2 Zum Ablauf der Untersuchung und zu den Datensätzen Für die Untersuchung wurden acht Fallstudien an hessischen Schulen durchgeführt. Darunter je zwei Haupt-, Realschulen und Gymnasien sowie zwei Fallstudien an einer Integrierten Gesamtschule. Die Daten der acht Fallstudien wurden allesamt transkribiert. Insgesamt sind dies Daten aus 47 mit der Videokamera aufgezeichneten Unterrichtsstunden, 8 Schülerinterviews sowie ca. 350 Schülerprodukte. Die Fallstudien folgten alle dem gleichen Ablauf: 1. Schritt 2. Schritt 3. Schritt 4. Schritt 5. Schritt Unterrichtsplan Stundenplanung gemeinsam mit der Lehrkraft Unterrichtsstunden Videodokumentation, Feldnotizen, Transkription und erste Analyse und Interpretation Retrospektive mit Lernenden Videodokumentation, Transkription und Analyse Codierung einer Einheit Entwickeln von Indikatoren Komparative Analyse Überführen der Fallmodelle in ein übergreifendes Etablieren von Eigenschaften Schülertexte Aufbereitung und Interpretation Generieren von Konzepten und Kategorien Tabelle 14: Übersicht Ablauf der Fallstudien Den ersten Schritt der Untersuchung stellt die gemeinsame Unterrichtsvorbereitung und Unterrichtsplanung mit den Lehrenden dar, durch den neben der Einbeziehung literaturdidaktischer Prinzipien auch eine Auswertung der Einstellungen und Vorerfahrungen durch einen Fragebogen und Feldnotizen des Forschers möglich wurde. Hier spielt der Aspekt der teilnehmenden Unterrichtsbeobachtung eine wichtige Rolle, da am Unterricht der Gruppen teilgenommen wurde, wobei die wissenschaftliche Beobachtung sowohl bestimmt war durch „die Situationen wie durch deren subjektive Deutung und die Intention der Handelnden“ (Lamnek 2005: 549). Im zweiten Schritt wurde das Unterrichtsgeschehen mittels Video- und Audioaufzeichnung, Feldnotizen, schriftlichen Schülerprodukten und Beispielaufgaben dokumentiert. Vorrangig mit dem Ziel, Daten in ihrer sozial-kulturellen Dichte zu erfassen und zu beschreiben, indem Feldnotizen die Beobachtung ergänzten und im Forschungsprozess immer mehr zu theoretischen Memos des Untersuchungsleiters wurden (vgl. Corbin/ Strauss 2008: 123 f; Charmaz 2006: 80-85). Auf die Dokumentation folgte eine erste Analyse und Interpretation der Daten, <?page no="98"?> 98 die dann im dritten Schritt als Grundlage für die retrospektiven Interviews diente. Der vierte Schritt bezog sich als Auswertung des Datenmaterials zunächst auf die einzelnen Fallstudien. Darauf folgte als fünfter Schritt die komparative Analyse aller Unterrichtsaufzeichnungen, Feldnotizen, retrospektiven Interviews und Schülerprodukte der acht Fallstudien. Dabei wurde mit der Beobachtung und dem Interview als Methoden der Datenerhebung das Ziel verfolgt, verschiedene „Perspektiven zu verbinden“ und so „möglichst unterschiedliche Aspekte“ des beforschten Feldes einzubinden (Flick 1995: 433), wobei besonders die Perspektiven der sozialen und kulturellen Akteure, die in den Interviews im Vordergrund standen, als Ergänzung zum Blickwinkel des Forschenden zu verstehen sind. Die Fallstudien wurden im Schuljahr 2008/ 09 durchgeführt. Die erste Fallstudie im August 2008, die letzte im Februar 2009. Es sei nochmals betont, dass die gewonnenen Analyseergebnisse jeweils folgende Fallstudien beeinflussten; der Forschungsprozess also von der Interpretation der Daten geleitet wurde (vgl. Strauss 1994). Die Arbeitsschritte der Erhebung und Analyse der Daten sowie der Modellbildung waren damit in „zeitliche Parallelität und wechselseitige funktionale Abhängigkeit“ eingebunden (Strübing 2008: 14; Hervorhebung im Original). Das heißt, Erkenntnisse aus früheren Fallstudien beeinflussten die Planung der folgenden. 5.2.1 Zum Sample und den teilnehmenden Gruppen Im Idealfall wird die Fallauswahl innerhalb der Grounded Theory theoriegeleitet gesteuert (vgl. Strauss 1994: 70). Der Forscher entscheidet erst im Prozess der Theoriebildung, „welche Daten als nächste erhoben werden sollen und wo sie zu finden sind“ (Glaser/ Strauss 2005: 53). Für den Kontext der Studie, sprich die qualitative Unterrichtsforschung, erwies sich diese Maximalforderung als nicht praktikabel. Das Auswahlverfahren war vielmehr durch Fragen der Zugänglichkeit beeinflusst, da „gatekeepers (Schlüsselpersonen) eine zentrale Rolle“ spielten (Merkens 2000: 288; Hervorhebung im Original). Zu diesen zählen bei der Institution Schule und den damit verbundenen Genehmigungsverfahren die Schulleitung, die Schulkonferenz, die Lehrenden, die Erziehungsberechtigten und auf der höchsten Ebene das Kultusministerium. Der Kontakt zu den Lehrenden erfolgte über die Schulleitung. Es wurde daher einem eher pragmatisch orientierten Sample Folge geleistet, in dem systematisch Daten vorab ausgewählter Fälle gesammelt und theoriegeleitet ausgewertet werden (vgl. Corbin/ Strauss 2008: 153-155; vgl. Burwitz-Melzer 2003). Um bei der Vorauswahl „Techniken der Zufallsauswahl und Schichtung (in Relation zur Sozialstruktur der ausgewählten Gruppen)“ (Glaser/ Strauss 2005: 70 ff.) ansatzweise zu entsprechen, wurden Schulen kontaktiert, deren <?page no="99"?> 99 Einzugsbereiche gemäß des Landesentwicklungsplans Hessen 2000 (HMWVL: 2000) nach Entwicklungszentren (Ober-, Mittel- und Grundzentren) differenziert wurden. Dabei bestand nicht die Absicht, Individuen und teilnehmende Gruppen empirisch exakt auf die Beschreibung und Verifizierung notwendiger Kategorien zu verteilen; vielmehr dient das Sample der Ermittlung des internen Beziehungsgefüges einer zu generierenden Theorie, nicht aber der Erhebung statistischer Stärken oder Größenordnungen (vgl. Glaser/ Strauss 2005: 70-72). Gymnasium Realschule Hauptschule IGS Ober- G10 II The Killers S HORT S TORY H9 I Canal Path Murder M INI S AGA Mittel- G10 I Ta-Na-E-Ka S HORT S TORY R10 II The Hitchhiker S HORT S TORY E10 I Sleeping F LASH F ICTION E10 II Ta-Na-E- Ka S HORT S TORY Grundzentren R10 I Alabama Cenntenial P OEM H9 II Best Looking Girl P OEM Tabelle 15: Übersicht Sample, teilnehmende Gruppen und Texte 5.2.2 Zu Unterrichtsplanung und Lehrerfragebogen Bevor die Planung des Unterrichts gemeinsam mit den Lehrenden erfolgen konnte, musste zunächst der Kontakt zum Untersuchungsfeld hergestellt werden. Über die Schulleitung wurden Lehrende aus den entsprechenden Jahrgangstufen und Schulzweigen angesprochen, die dem Forscher im Vorfeld nicht bekannt waren. Darauf folgte ein erstes Treffen mit den Lehrenden, bei dem die Zielsetzung der Studie sowie der Ablauf besprochen wurden. Dabei stand neben organisatorischen Aspekte, wie der Findung von Terminen, Gespräche darüber im Vordergrund, inwieweit „die angesprochenen Vertreter des Feldes von sich aus bereit“ waren, an der Studie mitzuwirken (Wolff 2000a: 335). In zwei Fällen musste im Anschluss an diese Gespräche eine andere Lehrkraft gefunden werden, da die Videoaufzeichnung als zu störend empfunden wurde. Unterrichtsforschung ist mit Eingriffen in den Schulalltag verbunden, die - wenn auch klein gehalten und den Ablauf von <?page no="100"?> 100 Unterricht prinzipiell nicht gefährdend - doch mit Forderungen und Ansprüchen verbunden sind, wie beispielsweise: - Zeit für Gespräche zu erübrigen, die Raumsouveränität teilweise aufzugeben, - Peinlichkeiten auszuhalten, sich kommunikativen Zwängen auszusetzen (wie sie durch […] Interviews entstehen), die eigenen Kommunikationsbedürfnisse einzuschränken […], - Infragestellungen bislang geltender Selbstverständlichkeiten zu akzeptieren. (Wolff 2000a: 335) Der Forscher hatte dem untersuchten Feld bis auf die verwendeten Unterrichtsmaterialien keine Gegenleistung zu bieten. Es ist daher zu betonen, dass die Kooperation zwischen Lehrenden, Lernenden, Schulleitung und teilnehmendem Beobachter bei allen acht Fallstudien positiv und durch gegenseitiges Vertrauen geprägt war. Gemeinsam mit Lehrenden und Schulleitung wurde gemäß des „Prinzip[s] der informierten Einwilligung“ (Hopf 2000a: 591) und unter Zusicherung des Datenschutzes ein Elternbrief formuliert, sodass bei Beginn der Untersuchung eine schriftlich Einwilligung der Erziehungsberechtigten zur Teilnahme an der Studie vorlag. Bei einem weiteren Termin wurde dann der Unterricht zusammen mit den Lehrenden geplant. Der Untersuchungsleiter stellte literarische Texte zur Auswahl bereit und machte Vorschläge zur Methodik und zur inhaltlichen Auseinandersetzung. Bei allen Fallstudien erfolgte die Unterrichtsplanung entlang (a) der Motive der Handelnden im literarischen Text, (b) dem zeitlich-kausalen Zusammenhang von Handlungen, (c) dem kulturellen Kontext der Handlungen, (d) den dabei durchscheinenden Normen, Wertvorstellungen und ethischen Fragen, (e) den Perspektiven von Erzähler und Handelnden (f) sowie der Darstellung des Außergewöhnlichen in Geschichten, mitsamt den daraus resultierenden Normverletzungen und dem Umgang mit diesen (vgl. Bredella 2003: 48-51). Dieser Ansatz nimmt im Forschungsdesign eine zentrale Rolle ein. Er ist gewissermaßen der kleinste gemeinsame Nenner, mit dem es gelingen kann, bei der Planung der Unterrichtseinheiten zwischen den einzelnen Fallstudien Gemeinsamkeiten herzustellen, ohne der Polyvalenz literarischer Texte entgegenzuarbeiten. In der vorangegangenen Übersicht zu den teilnehmenden Gruppen ist bereits angedeutet, dass in den Fallstudien ganz unterschiedliche Gattungen verwendet wurden (cf. 5.2.1). Neben narrativen (Short Story, Flash Fiction, Mini Saga) kamen auch zwei lyrische Texte zum Einsatz, auf die Verwendung dramatischer Texte wurde <?page no="101"?> 101 hingegen verzichtet 19 . Es hat sich außerdem herausgestellt, dass die Bezugspunkte der inhaltlichen Auseinandersetzung die vielleicht einzig ‚kontrollierbare‘ Variablen in einem ansonsten nicht zu kontrollierenden Forschungsfeld sind. Indem diese Bezugspunkte als Einflussfaktoren der Unterrichtsplanung bereits im Vorfeld identifiziert wurden, sind sie neben der Einbindung literaturdidaktischer Zieldimensionen auf einem höheren Abstraktionsniveau auch einer der erkenntnisleitenden Fragestellung dienlich. Und zwar der nach dem Zusammenhang bzw. der Wechselwirkung zwischen den einzelnen Teilkomponenten sowie zwischen den konkreten Situationen im Unterricht und dem sich dabei entfaltenden individuellem Potential der Lernenden als Kombination von Wissen und Können. Die Vorbereitung der Unterrichtseinheit und die jeweiligen Einstellungen und Vorerfahrungen der Lehrkraft und des Untersuchungsleiters dienen als weiterer (Sub-)Datensatz, als sogenannter „anekdotischer Vergleich“ (Glaser/ Strauss 2005: 74) 20 . Dieses „Kontextwissen“ (Strauss 1994: 36) erweitertet die Einsichtnahme um das Was und Wieso der Unterrichtsplanung hinsichtlich der verwendeten Texte und Methoden. Mit dem Ziel, Einstellungen und Vorerfahrungen neben den Feldnotizen und Memos des Forschers durch offene und geschlossene Fragen zugänglich zu machen, wurde den Lehrenden nach Abschluss der Planung ein Fragebogen ausgehändigt, der zu Beginn der 19 Dies hat aber mehr praktische denn theoretische Gründe. Zum einen konnte kein Text gefunden werden, der die Kriterien Umfang (max. acht Unterrichtsstunden), Umsetzbarkeit der Lesephasen im Unterricht (Stichwort: Videodokumentation), inhaltliche Auseinandersetzung und sprachliche Anforderungen gleichermaßen erfüllte. Zum anderen wurde bei der Planung der Unterrichtseinheiten eben nicht davon ausgegangen, dass unbedingt alle literarischen Gattungen vertreten sein müssen. Schon deshalb nicht, weil kein wie auch immer gearteter Anspruch auf Abschließbarkeit erhoben werden soll. 20 Insgesamt stellte sich heraus, dass bereits vorhandenes Wissen der Lehrenden hinsichtlich der kompetenten Auseinandersetzung der Lernenden mit literarischen Texten im Fremdsprachenunterricht entgegen der Erwartung gänzlich unterschiedlich bei den teilnehmenden Lehrkräften ausgeprägt war. Lediglich eine der Lehrkräfte (G10 I) war mit den vom Untersuchungsleiter vorgeschlagenen Methoden vertraut. Eine Lehrkraft (G10 II) arbeitete nach eigenen Auskünften sonst mit einem anderen und eher an der Inhärenzhypothese orientiertem Verständnis von Literatur. Eine andere (E10 II) setzt nach eigenen Auskünften im Unterricht vor allem Romane als Lektüre ein, wobei dann auch kein besonderes Augenmerk auf Textarbeit im Unterricht gelegt werden würde, sondern vielmehr Anschlusskommunikation nach der Lesephase im Vordergrund stehe. Alle anderen fünf Lehrkräfte waren mit dem Einsatz literarischer Texte im Fremdsprachenunterricht nicht vertraut. Welche Konsequenzen sich damit für den Datensatz Lehrerfragebogen ergeben und welchen Einfluss dieser Umstand auf die Präzisierung der Fragestellung nimmt, soll in Abschnitt 6.1 näher erläutert werden. <?page no="102"?> 102 ersten Stunde der Fallstudien zurück gegeben wurde. Als Vorlage diente der Fragebogen bei Burwitz-Melzer (2003: 140-142). Angedacht war, dadurch die Einstellungen der einzelnen Lehrenden vergleichbar zu machen. Es stellte sich jedoch im Verlauf der Studie heraus, dass - obwohl der Rücklauf gegeben war - die Bereitschaft zur zugemuteten Auseinandersetzung gerade mit den offenen Fragen und damit die Tiefe der Antworten stark variierten. Lehrerfragebogen 1) Wie häufig setzen Sie literarische Texte im Unterricht ein? Nur für diese Einheit, sonst nicht. Lediglich einmal im Schuljahr. Häufiger im Schuljahr (ca._________ Mal) Etwa einmal pro Monat. Mehr als einmal pro Monat. 2) In welchen Jahrgangsstufen unterrichten Sie? 5./ 6. Literarische Texte: ja nein 7./ 8. ja nein 9./ 10. ja nein 11.-13. ja nein 3) Wie wählen Sie literarische Texte für Ihren Unterricht aus? (Mehrfachnennungen möglich) Ich setzte keine literarischen Texte im Unterricht ein. Ich benutze Texte aus dem Schulbuch. Ich greife auf Texte zurück, die mir aus der eigenen Schulzeit bzw. aus dem Studium bekannt sind. Ich benutze von Kollegen empfohlene Texte. Ich suche nach passenden Texten in Anthologien und Lehrmaterialien. Die Schüler schlagen Texte vor. Die Schüler und ich suchen gemeinsam nach passenden Texten. 4) Glauben Sie, dass man mit literarischen Texten etwas Anderes lernen kann als mit nicht-literarischen Lehr-/ Lernmaterialien? Ja Nein Wenn ja, nennen Sie bitte einige Lerninhalte… 5) Sind Sie der Meinung, dass man manche Lerninhalte und Lernziele mit literarischen Texten besser transportieren kann? Ja Nein Wenn ja, nennen Sie bitte einige… <?page no="103"?> 103 6) Wie häufig setzten Sie kreative Methoden im Unterricht ein? Nur für diese Einheit, sonst nicht. Lediglich einmal im Schuljahr. Häufiger im Schuljahr (ca._________ Mal) Etwa einmal pro Monat. Mehr als einmal pro Monat. 7) Woher nehmen Sie Anregung für den Einsatz kreativer Methoden? (Mehrfachnennungen möglich) Ich setzte keine kreativen Arbeitsverfahren ein. Aus meiner Ausbildung (Studium/ Referendariat). Aus der Lehrerfortbildung. Auf Empfehlung von Kollegen. Aus dem Lehrbuch. Aus Fachbüchern und -zeitschriften. Aus… 8) Beschreiben Sie bitte Ihre bisherigen Erfahrungen mit I) Literarischen Texten im Englischunterricht Keine nennenswerten Erfahrungen. Positiv, weil…. Eher schlecht, weil… Negativ, weil… Abhängig von der jeweiligen Lerngruppe. II) Kreativen Methoden im Englischunterricht Keine nennenswerten Erfahrungen. Positiv, weil… Eher schlecht, weil… Negativ, weil… Abhängig von der jeweiligen Lerngruppe. 9) Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten sind Ihrer Meinung nach wichtig für die Arbeit mit literarischen Texten im Englischunterricht? I) Auf Seiten der Lehrenden… II) Auf Seiten der Lernenden… 10) Die Studie befasst sich mit der Entwicklung eines Kompetenzmodells für den fremdsprachlichen Literaturunterricht. Nennen Sie bitte einige Hilfen, die Sie sich von einem solchen Modell für Ihren Unterricht erhoffen… 11) Benennen Sie bitte das globale Lernziel der Unterrichtseinheit… <?page no="104"?> 104 5.2.3 Zu Unterrichtsmitschnitten und Schülerprodukten Der Datensatz, der im Englischunterricht generiert wurde, umfasst die gesamte Unterrichtsarbeit mit den literarischen Texten, mitsamt „allen mündlichen Äußerungen der beobachteten Lernenden (und Lehrenden), allen Handlungen und Interaktionen“ (Burwitz-Melzer 2003: 143). Die Unterrichtseinheiten wurden mittels Audio- und Videoaufzeichnung dokumentiert. Zusätzlich sind es auch die Feldnotizen des Forschers, die durch „Bemerkungen zum Unterrichtsgeschehen (etwa zur Gruppen- und Partnerarbeit, zu besonderen Schwer- oder Problempunkten der Stunden)“ (ebd.), die audio-visuellen Daten ergänzen. Im Verlauf der Studie wandelten sich die Feldnotizen immer mehr zu theoretical memos (Glaser/ Strauss 2005: 50), die als „Berichte, in denen der Forscher theoretische Fragen, Hypothesen, zusammengehörige Kodes usw. festhält“ (Strauss 1994: 50), die Theoriebildung begünstigen und vorantreiben. Als letzter Aspekt der Dokumentation sind die Schülerprodukte zu nennen, „die ebenfalls Aufschluss über das Unterrichtsgeschehen und die Konstruktion sozialer Wirklichkeit im Klassenzimmer liefern“ (Burwitz-Melzer 2003: 143). Die so festgehaltenen Einheiten umfassten jeweils vier bis acht Unterrichtsstunden. Zu Beginn der Unterrichtsstunden wurden die Schülerinnen und Schüler über die Beobachtungssituation und die Ziele der Untersuchung informiert. Der Forscher beobachtete das Geschehen am Rande und griff nicht ein, reagierte aber auf an ihn gerichtete Schülerfragen auch im Unterricht, schon um den Untersuchungsleiter als „Fremden und sein Anliegen unproblematisch in die gewohnten Kommunikationszusammenhänge einzubinden“ (Wolff 2000a: 340; Hervorhebung im Original). Die Beobachtungsposition war abhängig von den jeweiligen Gegebenheiten. In manchen Klassenräumen wurde ein Position am Rande gewählt, von der aus die Kamera bedient wurde und die Perspektive so möglichst unverstellt war, mit dem Vorteil, dass der Forscher nicht zu exponiert als ‚Fremdkörper‘ wahrzunehmen war. In anderen Klassenräumen musste jedoch eine Position an der Stirnseite gewählt werden. Während der Untersuchung wurde auch mit verschiedenen Kameraeinsätzen experimentiert. So kamen neben der stationären Totalen auch Gruppenaufnahmen mit der Handkamera zum Einsatz. Dies erwies sich jedoch in einigen Gruppen als verunsichernd, sodass später im Untersuchungsverlauf meist erst ab der zweiten Stunde Schülergruppen gezielt auf ihre Bereitschaft angesprochen wurden, während der Gruppenarbeit gefilmt zu werden 21 . 21 Es ist allerdings zu vermerken, dass Gruppenarbeitsphasen aufgrund der Nebengeräusche im Klassenzimmer nur bedingt zu transkribieren waren. <?page no="105"?> 105 Die Aufbereitung der Daten orientiert sich an einem in der amerikanischen Unterrichtsforschung weit verbreiteten tabellarischen Transkriptionssystem (vgl. Nunan 1992), das für die eigenen Zwecke abgeändert wurde: Z EIT Ä UßERUNG UND G ESCHEHEN C ODIERUNG 10: 03 L Hm - I would like to begin now (zeigt auf die Uhr) … What did we . talk about last session? S 12 (meldet sich) We- (wird unterbrochen) Tabelle 16: Tabellarisches Transkriptionssystem Äußerungen und Beiträge der Lehrenden und Lernende werden im Raster anonymisiert dargestellt und den Sprechern in der ersten Spalte samt Uhrzeit im Minutentakt zugeordnet. Im Interesse der Lesbarkeit werden die Äußerungen in der zweiten Spalte nicht phonetisch repräsentiert. In den Klammern und zusätzlich kursiv gesetzt stehen ergänzende Kommentare des Beobachters, die auch paraverbale und nonverbale Kommunikationsmittel fassen. Kurze Sprechpausen werden durch einen Punkt im Satz angezeigt (.), längere durch einen Bindestrich (-) und lange schließlich durch drei aufeinanderfolgende Punkte (…). Steht der Bindestrich am Ende einer Äußerung und ist von dieser nicht durch ein Leerzeichen getrennt, wird damit auf eine Unterbrechung durch einen anderen Sprecher verwiesen. Die letzte Spalte ist der Codierung der Äußerungen und des Geschehens vorbehalten. 5.2.4 Zu den Retrospektiven Interviews In den retrospektiven Interviews stehen die Zugänge zu den Perspektiven der Lernenden im Vordergrund: Die menschliche Erfahrung, mit der die Sozialwissenschaft sich beschäftigt, ist vornehmlich Erfahrung von Individuen. Nur insofern Geschehnisse, Umwelt- Bedingungen, Werte, ihre Gleichförmigkeiten und Gesetzmäßigkeiten in die Erfahrung von Individuen als Individuen eingehen, werden sie für diese Wissenschaft zu Gegenständen der Untersuchung. (Mead 1978: 155) Die auf die Erfahrung der Lernenden zielenden Interviews wurden zeitnah zur Aufzeichnung der Unterrichtseinheiten in Klassen- oder Besprechungsräumen an den jeweiligen Schulen durchgeführt. Maximal verging zwischen Interview und Unterricht eine Woche. Für die Interviews wurden Lernende ausgewählt, die etwa durch besonders gelungene Beiträge im Unterricht oder durch Desinteresse auffielen - jedoch auch Lernende, die sich selbst um eine Teilnahme bemühten. Als Ausgangspunkt dienten die im Vorfeld analysierten Unterrichtssequenzen, die einen Bedarf an weitreichenderer Klärung er- <?page no="106"?> 106 kennen ließen. Desweiteren sollten „die mündlichen und schriftlichen Schülerarbeiten“ kommentiert und „auftretende Fragen zu besonderen Reaktionen“ (Burwitz-Melzer 2003: 146) geklärt werden. Als fokussierte Gruppeninterviews nach Merton/ Kendall (1979) liegen ihnen „Gesprächsleitfäden zugrunde“ (Hopf 2000b: 353), die in ihrer Anlage offen gestaltet sind, um „die Themenreichweite zu maximieren und den Befragten die Chance zu geben, auch nicht antizipierte Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen“ (ebd.: 354). Somit ist ein Fragebogen weniger ein „‚Instrument‘, das es anzuwenden, sprich ‚abzufragen‘ gilt, sondern ein begleitendes Hilfsmittel“ (Kromrey/ Strübing 2009: 387 f.). Zum Interviewen gehört „das Gestalten einer sozialen Interaktion“ (Hermanns 2000: 360), eine Fähigkeit, die es im Verlauf der Tätigkeit zu erlernen gilt. Fallstricke, die sich auf diesem Feld der Datenerhebung finden und die sich auch auf die durchgeführten Interviews auswirkten, sind auf Seite des Interviewers zu suchen und äußern sich unter anderem in der „Häufung suggestiver Fragen und suggestiver Vorgaben“, in Schwierigkeiten „beim Aufgreifen von Anhaltspunkten für Nachfragen“, sowie in der „Unfreiheit im Umgang mit dem Frageleitfaden“ (Hopf 2000b: 359). Dies liegt darin begründet, dass die Daten „in einer hochkomplexen und die Subjektivität der Beteiligten einbeziehenden Situation erzeugt“ werden (Helfferich 2005: 7). Besonders die Perspektive des interviewenden Forschers ist in dieser Hinsicht problematisch, da im Verlauf des Interviews vergessen werden kann, dass Forschungsfragen „keine Interviewfragen“ sind und der Forschende außer Acht lässt, dass es nicht darum geht „theoretische Begriffe zu entdecken“, sondern vielmehr darum, „sich Begriffe, Vorgänge, Situationen erläutern“ zu lassen (Hermanns 2000: 368). Der Prozesscharakter des Forschungsdesigns half schließlich dabei, diesen Problemlagen entgegenzuwirken und den Leitfaden, der „zu Beginn auf der Basis des Vorwissens“ konzipiert war „im Anschluss aufgrund der in den ersten Interviews gemachten Erfahrung“ (Reinders 2005: 156) weiterzuentwickeln. Dadurch wurden die Fragen einerseits hinsichtlich der Erfahrung der Beteiligten stetig auf noch Unentdecktes fokussiert und andererseits konnten so bereits entdeckte konzeptuelle Kategorien und deren Codes durch ein Mehr an Information gesättigt werden. <?page no="107"?> 107 5.3 Zu Datenanalyse und Modellbildung Gerade bei den ersten Fallstudien des pragmatischen Samplings vergrößert sich die Datenmenge der einzelnen Datensätze durch die dichte Beschreibung (Geertz 1987): In einem ersten Schritt gilt es das zu beschrieben, was sich dem Beobachter „der betreffenden Abläufe unmittelbar bietet“ (Wolff 2000b: 89). Im darauf folgenden Schritt konzentriert sich die Analyse auf „das Herausarbeiten von Bedeutungsstrukturen“ (Geertz 1987: 15), indem - davon ausgehend, dass „menschliches Verhalten als symbolisches Handeln gesehen“ (ebd.: 16) werden kann - nach der Symbolhaftigkeit des Beobachteten gefragt wird. Clifford Geertz nennt in diesem Zusammenhang drei Eigenschaften „der ethnographischen Beschreibung: sie ist deutend; das, was sie deutet, ist der Ablauf des sozialen Diskurses; und das Deuten besteht darin, das ‚Gesagte‘ eines solchen Diskurses dem vergänglichen Augenblick zu entreißen“ (ebd.: 30). Es wird also untersucht, „welche anderen Beschreibungen hinter der Ebene des Offensichtlichen liegen“ (Wolff 2000b: 90; Hervorhebung im Original). Mit diesen sich verdichtenden Beschreibungen zielt der Ethnograph auf eine Theorie, die nicht „nur vergangenen Realitäten Rechnung“ trägt, sondern „sich auch gegenüber kommenden Realitäten behaupten“ kann und sich „als intellektuell tragfähig“ erweist (Geertz 1987: 38). Als „interpretive analysis of naturally occuring interactions“ (Nunan 1992: 177) wird die hermeneutisch-interpretative Betrachtung der unterrichtlichen Interaktion (vgl. Chaudron 1988: 31-49) mittels ethnomethodologischer Diskursanalyse (vgl. Edmondson/ House 2006: 85) in Kontexte eingeordnet. Durch die Aufgliederung der im Unterricht ablaufenden „Interpretations- und Produktionsprozesse“ (ebd.) sollen Strukturen erkennbar gemacht werden, die auf eine Verdeutlichung interner Beziehungsgeflechte hinsichtlich der im unterrichtlichen Geschehen zum Tragen kommenden literarischen Teilkompetenzen zielen. Dabei spielt die Erfahrung, die es dicht zu beschreiben gilt, eine zentrale Rolle - und zwar in doppelter Hinsicht: einerseits als Erfahrung des Beobachters und andererseits, wie in den Ausführungen zu den retrospektiven Interviews bereits dargelegt, als die Erfahrung der Individuen. Die erste darzustellen verlangt nach einer erfahrungsfernen Beschreibung, um der Theoriebildung Vorschub zu leisten; wohingegen es bei der zweiten gilt - schon um sie im Interview zu ‚sammeln‘ -, dass bei dieser nicht auf erfahrungsnahe Beschreibungen verzichtet wird (vgl. Geertz 1987: 291). Wenn also bspw. in den Daten zu erkennen ist, dass sich Lernende zu Motiven der literarischen Charaktere äußern, wird dicht beschrieben, wie diese Äußerung in den literarischen Kontext einzuordnen ist, welche Aspekte in der Schüleräußerung thematisiert und entfaltet werden, wie sich die Äußerung auf bereits Gesagtes im Unterricht beziehen lässt und wie sich der daran anschließende <?page no="108"?> 108 Diskurs entfaltet. In den Interviews kann dann zusätzlich nach Hintergründen gefragt werden, und zwar erfahrungsnah. Im Verlauf der Studie wird zwischen diesen Polen der Beschreibung vermittelt und das Datenmaterial verringert, da mittels der methodischen Instrumente der Grounded Theory theoriegeleiteten Aspekten im Hinblick auf die Modellierung literarischer Kompetenz Vorrang gegenüber der ethnographisch dichten Beschreibung eingeräumt wird. Damit wird der Einsatz von „Abkürzungsstrategien“ ermöglicht, die als „Abweichungen von Maximalforderungen der Genauigkeit und Vollständigkeit“ zu verstehen sind (Flick 2000: 263) und es erlauben, nur die Teile zu transkribieren, die für die Modellierung relevant sind. Voraussetzung dafür ist die Etablierung von Theorieelementen. Grounded Theory als „Forschungsstil zur Erarbeitung von in empirischen Daten gegründeten Theorien“ (Strübing 2008: 14) beruht „auf einem Konzept- Indikator-Modell“ (Strauss 1994: 54; Hervorhebung im Original). Datenbelege werden nicht zum Validieren von Tatsachen, sondern vielmehr als Indikatoren zur Etablierung konzeptueller Kategorien genutzt (vgl. Glaser/ Strauss 2005: 33). Für die Generierung sind dabei exakte Belege nicht ausschlaggebend. Sie müssen lediglich das relevante Verhalten angemessen repräsentieren. Der abstrahierten Theorie wird somit Vorrang eingeräumt, da die Rekonstruktion auf die analytische Kumulierung theoretisch relevanter Daten beschränkt bleibt (vgl. ebd.: 66). Ganz unkritisch ist der Begriff des Indikators allerdings nicht zu sehen. Indikatoren werden aus Datenbelegen gewonnen, sind diese aber nicht selbst, sondern stellen bereits eine erste Stufe der Abstraktion dar. Denn Phänomene sind selbst keine Indikatoren, diese „können aus Phänomenen erst durch das aktive Zutun des Beobachters/ Forschers werden, indem dieser Phänomenen oder Aspekten von Phänomenen einen auf das theoretische Konzept verweisenden Sinn beimisst“ (Strübing 2008: 53) 22 . Indem man anerkennt, „dass empirische Indikatoren einander nicht selbst vergleichen können, ja nicht einmal durch sich selbst zu Indikatoren werden“ (ebd.: 70), wird deutlich, wie bedeutsam die komparative Analyse aller Fallstudien für die Modellbildung ist. Innerhalb der dichten Beschreibung werden Phänomene entdeckt und diskutiert, die dann - auf die anderen Fälle bezogen - zu Indikatoren gewandelt werden, mit denen Lese- und Verstehensleistungen im gesamten Sample zu fassen sind. Da Indikatoren schon eine Ebene der Abstraktion darstellen, fußt auf diese eine weitere, die dann Indikatoren zu Eigenschaften werden lässt, die eine konzeptionelle Kategorie illustrieren. Erst durch diese Schritte, „die - mehr oder weniger stark, mehr oder weniger explizit - theoriegeladen sind“ (ebd.), können 22 Hier spielen Prozesse der Abduktion eine besondere Rolle, auf die in Abschnitt 7.1.1 detaillierter eingegangen wird. <?page no="109"?> 109 die Komponenten des Modells generiert werden: Kategorien und die sie illustrierenden Eigenschaften sind dabei als aus den Daten abgeleitete und auf theoretischen Konstrukten basierende Konzepte zu verstehen; es handelt sich also nicht um die Daten selbst. Der Grad der konzeptuellen Abstraktion ist dementsprechend variabel: Kategorien müssen stärker abstrahiert werden als dies bei Eigenschaften der Fall ist. Ziel ist es, möglichst „verschiedene Kategorien zu entwickeln und diese auf möglichst vielen Niveaus zu synthetisieren“ (ebd.: 47), wodurch die Daten mit den Kategorien und deren Eigenschaften verknüpft werden (vgl. Böhm 2000: 477). Die generierten konzeptuellen Kategorien müssen zweierlei Eigenschaften aufweisen: Die Konzepte müssen analytisch formuliert werden, d.h. sie sollen Charakteristika konkreter Einheiten und nicht die Einheiten selbst beschreiben. Zudem sollen sie sensibilisierend darstellen, also „ein bedeutsames Bild erstellen, brauchbare Illustrationen liefern“ (Glaser/ Strauss 2005: 48). Abbildung 2: Modellkomponenten im Überblick Eigenschaften als Mikrostruktur des generierten Modells werden aus Datenbelegen gewonnen und sind als die Stufe zu verstehen, auf der verschiedenste Indikatoren als Variationen einer Eigenschaft, die sich auf die in den Daten enthaltenen Phänomenen beziehen, abstrahiert werden. Sie illustrieren eine Kategorie und dienen im Modell als Deskriptoren, mit denen die Kompetenzbereiche und die dazugehörigen Teilkompetenzen anhand von Aussagen über zu erwartendes bzw. deskriptiv feststellbares Schülerverhalten konkretisiert werden. Da sie aus Indikatoren entstehen, ist in ihnen das kommunikative, lesende und verstehende Verhalten der Lernenden im fremdsprachlichen Literaturunterricht enthalten. Kategorien wiederum sind „theoretische Abstraktion dessen, was auf dem untersuchten Feld geschieht“ (Glaser/ Strauss 2005: 33) und bilden die Teilkompetenzen des Modells. Mit ihnen wird da- <?page no="110"?> 110 rauf gezielt, ein Beziehungsgefüge der Teilleistungen der Lernenden abzubilden, so dass bspw. kommunikative Handlungen dahingehend geordnet werden, ob die Lernenden im Unterricht schreiben, sprechen oder lesen. Konzepte als höchste Ebene der Abstraktion ordnen Kategorien und Eigenschaften in Gruppen und repräsentieren die Kompetenzbereiche des Modells. Es geht also darum, die Vielfalt der in den Daten enthaltenen Phänomene sukzessive zu aggregieren, zu subsumieren. Kategorien und Konzepte sind damit als Sammelbegriffe zu betrachten. Darüber hinaus repräsentieren sie aber die (theoretische) Struktur, die sich im Forschungsfeld und damit in den dort gesammelten Daten ausmachen lässt. Durch deren dichte Beschreibung anhand von Eigenschaften wird die heuristische Aufgliederung und Typisierung erst ermöglicht. Die Mittel zur Generierung von Theorieelementen stellen die qualitativen Codierprozesse dar. Daten werden anhand „der Relevanz für die Phänomene“ codiert (Strauss 1994: 57). Abbildung 3: Codierprozesse im Überblick Anfänglich wird offen codiert. Dabei wird das gesamte Datenmaterial dahingehend untersucht, den Daten angemessene Kategorien zu entwickeln. Dies dient dem Zweck, „die Forschungsarbeit zu eröffnen“, denn „jede Art von Interpretation hat an diesem Punkt noch den Stellenwert eines Versuchs“ (ebd.: 58; Hervorhebung im Original). An das offene Codieren schließt sich das axiale an. Hier kommt es zu einer tiefergehenden Analyse von in der offenen Phase entdeckten Konzepten. Als axial wird das Verfahren deshalb bezeichnet, da „sich die Analyse an einem bestimmten Punkt um die ‚Achse‘ einer Kategorie dreht“ (Strauss 1994: 63). So ist bspw. in den Daten zu finden, dass die Lernenden <?page no="111"?> 111 fremdsprachlich auf die im Text dargestellte Handlung reagieren. Es wird also eine Teilleistung entdeckt. Darüber hinaus wird in den Daten festgestellt, dass sich die Lernenden zu den Motiven der Charaktere äußern. Da beide Phänomene, die sich zu Indikatoren wandeln lassen, miteinander verwandt sind, lässt sich entlang dieses Beziehungsgefüges eine Kategorie etablieren. Im nachfolgenden selektiven Codieren wird „das zentrale Phänomen als Kernkategorie bezeichnet“ (Böhm 2000: 482; Hervorhebung im Original), denn der Codierungsprozess wird „auf solche Variablen begrenzt, die einen hinreichend signifikanten Bezug zu den Schlüsselkodes aufweisen“ (Strauss 1994: 63). Vorrangiges Ziel ist es dabei, Indikatoren, die für Handlungen stehen (z.B. auf Motive der Charaktere reagieren), so zu ordnen, dass sie Eigenschaften (Deskriptoren) einer Teilkompetenz eines Kompetenzbereiches sind. Ein Code dient also zunächst dazu, Phänomene zu beschreiben, die das aus der Beobachtung, den Schülerprodukten und Interviews gewonnene spezifische Verhalten in theoretische Zusammenhänge einordnen lassen. Dieser Prozess wird innerhalb der Arbeit mit Codierung umschrieben. Nach und nach wandelt sich - wie oben bereits erörtert - der Grad der Abstraktion, sodass Codes mit Voranschreiten der Theoriebildung eben zu Elementen des Modells werden. Diese Codierprozesse werden dabei stetig mit den diskutierten Kompetenzmodellen rückgekoppelt, sodass fremdsprachenspezifische, aus den Skalen des GER oder der Bildungsstandards stammende Eigenschaften, Kategorien und Konzepte sowie literaturdidaktische, aus dem Modell nach Burwitz-Melzer, integriert werden können (vgl. Hildenbrand 2000: 34), wobei das Modell von Burwitz-Melzer eine besondere Rolle einnimmt, dient es doch dazu anzuzeigen, welche Konzepte und Kategorien zu etablieren sind, welche übernommen werden können, welche zu ergänzen sind. Datenerhebung und -analyse verlaufen dabei weitgehend parallel, d.h., dass in frühen Fallstudien gewonnene Codes die Planung von folgenden Fallstudien beeinflussten, um Kategorien und Eigenschaften theoretisch zu sättigen (vgl. Glaser/ Strauss 2005: 69). Die Bildung von Hypothesen folgt ebenfalls dem Primat der datengestützten Generierung, denn „Hypothesen zu generieren heißt, sie im empirischen Material zu verankern - nicht, genug Material anzuhäufen, um einen Beweis führen zu können“ (ebd.: 49). Demzufolge sind Hypothesen als im Prozess der Theoriebildung veränderlich zu verstehen. Daher wurden in den vorangegangenen Zwischenfazits auch Arbeitshypothesen formuliert, deren Relevanz sich im Forschungsprozess zu bestätigen hat. Einer möglichen ‚Unschärfe‘ zu Beginn der Untersuchung folgte durch Abstraktion und Bezugnahme eine differenzierte Ausgestaltung der Hypothesen (vgl. Strauss 1994: 37-40). Hypothesen beweisen demnach ihre Relevanz anhand ihres Ursprungs oder ihrer Integration innerhalb der Daten (vgl. Métraux 2000: 645 f.). Da sie immer wieder auf die Daten rekurrieren, resultiert eine Integration von Theorie (vgl. Glaser/ Strauss 2005: 50). <?page no="112"?> 112 5.4 Zur Präsentation und zur Reichweite des Modells Das generierte Modell als Forschungsergebnis sowie die angewandten Analyseprozesse müssen „in eine für den Leser angemessene Form, in eine Repräsentationsweise ‚übersetzt‘ werden“ (Matt 2000: 579). Ziel ist es dabei, die Komplexität, die sich in den Daten zeigt, so zu reduzieren, dass ein Modell hervorgeht, das sich als Vorhersage für potentielles Verhalten der Lernenden im fremdsprachlichen Literaturunterricht eignet. Strauss nennt drei Kriterien, die für den Umgang mit komplexen Daten zentral sind: Erstens, dass sowohl die vielschichtigen Interpretationen als auch die Datenerhebung geleitet werden von den sukzessiv sich entfaltenden Interpretationen, die im Verlauf der Studie entstehen. […] Zweitens, dass eine Theorie, wenn man eine vereinfachende Darstellung der untersuchten Phänomene vermeiden will, konzeptuell dicht sein muss - also müssen viele Konzepte mit ihren Querverbindungen erarbeitet werden. […] Drittens, dass es notwendig ist, eine detaillierte, intensive, sehr genaue Untersuchung der Daten vorzunehmen, um erstaunliche Komplexität aufzudecken, die in, hinter und jenseits der Daten vorhanden ist. (Strauss 1994: 36) Gerade der Aspekt der Interpretation spielt eine gewichtige Rolle. Zu betonen ist, dass die subjektiven Elemente dieser Interpretationen nicht als Bedrohung für die Tragfähigkeit der entstehenden Theorie verstanden werden sollten, sondern vielmehr als Bereicherung. Und zwar im Sinne der Auffassung des Pragmatismus‘, der „eine Spaltung zwischen Erkennendem und Erkanntem, zwischen Subjekt und Objekt“ verwirft und stattdessen von einer „Interaktion zwischen beiden“ ausgeht (Hildenbrand 2000: 33). Die Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt, die als Prozess des Verstehens zu werten ist, bezeichnet Strauss als kreative Arbeit (1994: 35), bei der er in Anlehnung an Dewey mehr Gemeinsamkeiten denn Unterschiede zur künstlerischen Arbeit sieht. Dewey (1988) betont die wissenschaftliche und künstlerische Auseinandersetzung mit dem „Verlust der Integration in die Umwelt und ihrer Wiederherstellung“ (ebd.: 23): Der Unterschied zwischen dem Ästhetischen und dem Geistig-Intellektuellen liegt also in der verschiedenartigen Betonung jenes anhaltenden Rhythmus, der die Wechselbeziehung zwischen den Lebewesen und ihrer Umwelt kennzeichnet. Die eigentliche Substanz, die der jeweiligen Betonung von Erfahrung zugrunde liegt, ist dieselbe, ebenso ihre allgemeine Form. Die seltsame Vorstellung, der Künstler denke nicht, während der Wissenschaftler nicht anderes tue, resultiert aus der Verkehrung eines Tempo- und Betonungsunterschieds in einen Artunterschied. (Dewey 1988: 23) <?page no="113"?> 113 Grundlegend ist dabei der Begriff der Erfahrung, der im Kontext der Studie zweierlei Dimensionen umfasst: Zum einen ist das die ästhetische Erfahrung der Lernenden bei der Auseinandersetzung mit literarischen Texten im fremdsprachlichen Unterricht, die wiederum durch Wechselwirkungen zwischen Individuum und Umwelt sowohl auf der Produktionswie auf der Rezeptionsebene gekennzeichnet ist. Zum anderen gibt es die Erfahrung des teilnehmenden Beobachters, die auch eine ästhetische, eine aus der Distanz und vom Handlungsdruck befreite ist, die es sowohl bei der Rezeption wie in der Rückschau zu integrieren gilt. Dass dabei der Gegenstand der Beobachtung genauso geprägt ist von Interpretationen wie das Interpretieren und Integrieren der beobachteten Phänomene selbst, liegt auf der Hand. Letztlich geht es darum, „Vermutungen über Bedeutung anzustellen, diese Vermutungen zu bewerten und aus den besseren Vermutungen erklärende Schlüsse zu ziehen“ (Geertz 1987: 30). Dieser Dreischritt aus Vermuten, Bewerten und Schlussfolgern entspricht strukturell dem Verlauf vom offenen, axialen und selektiven Codieren, mit dessen Hilfe die Wechselwirkungen und Querverbindungen zwischen den entdeckten und etablierten Konzepten als Systematisierungen von „Teilbedingungen für einen Typus von Ereignis, Handlung, Beziehung, Strategie“ (Strauss 1994: 37) herausgearbeitet werden. Die Datenerhebung und Analyse wird sukzessive von den entstehenden Interpretationen gesteuert, so dass Codiervorgänge weitgehend parallel verlaufen, und der Prozess des Forschens sowohl die Datenerhebung wie die Analyse steuert (cf. 5.3). Subjekt und Objekt beeinflussen sich gegenseitig. Das Forschungsdesign ist daher als „Ergebnis der im Forschungsprozess getroffenen Entscheidungen“ (Flick 2000: 264) zu verstehen, in dem beide Sphären „eine Ordnung und Form annehmen, die sie vorher nicht besaßen“ (Dewey 1988: 79). Selbstredend kann eine ausführliche Darstellung der kreativen Arbeit und der dabei vom Forscher erlebten und erfahrenen Lernprozesse nicht zentraler Gegenstand der Ausführungen sein. Dies würde schon der oben erwähnten Repräsentationsweise zuwiderlaufen. Forschung ist zwar in dem hier zugrunde liegenden Verständnis generell als Lern- und Auseinandersetzungsprozess zu sehen, zielt aber bei aller Prozesshaftigkeit auf eine zugängliche Darstellung der Ergebnisse. Dieser Einsicht ist es geschuldet, dass nicht der gesamte Forschungsprozess nachgezeichnet wird. Vielmehr wird darauf gezielt, zentrale Punkte der Theoriebildung intersubjektiv zugänglich zu machen. Die vielleicht zentralsten Bausteine bei der Theoriebildung stellen dabei die aus Phänomenen gewonnenen Indikatoren dar, denn sie sind zugleich als Vehikel wie auch als Bausteine des entstehenden Modells zu verstehen. Im Verlauf der Codiervorgänge werden Indikatoren gruppiert und dimensioniert, wobei diese Ord- <?page no="114"?> 114 nungsprozesse - im Sinne des Schritts vom offenen über das axiale zum selektiven Codieren - sukzessive verfeinert werden. Ordnungsprozess I • Dichte Beschreibung des Datenmaterials einer Fallstudie, • Phänomene werden entdeckt und in Codes gewandelt, • Nachzeichnen des offenen Codierens. Ordnungsprozess II • Strukturelle Zusammenhänge werden beschrieben, • Indikatoren werden aus Phänomenen abgeleitet, • Codes werden gruppiert, • Nachzeichnen des axialen Codierens. Ordnungsprozess III • Konzepte werden etabliert, • Kompetenzbereiche und deren Komponenten werden generiert, • Indikatoren werden in Eigenschaften überführt, • Nachzeichnen des selektiven Codierens. Tabelle 17: Ordnungsprozesse im Überblick Ein erster Ordnungsprozess, der sich auf die dichte Beschreibung des Datenmaterials bezieht, soll zunächst im Vordergrund stehen (cf. 6.2). Dieser Schritt wird dafür genutzt, Phänomene im fremdsprachlichen Literaturunterricht zu identifizieren und mit Codierungen zu belegen. Das, was es im Datenmaterial zu entdecken gilt, soll insofern Gegenstand der dichten Beschreibung sein, als Strukturen aufgezeigt werden sollen, die es auf die Interkation der Beteiligten und die sich im Unterricht entwickelnde Situation zu beziehen gilt. Zunächst stehen demnach zu entdeckende Teilleistungen und Prozessebenen der verstehenden Auseinandersetzung im fremdsprachlichen Literaturunterricht im Vordergrund. Diese sollen dadurch, dass sie in Codes übersetzt werden, für eine Beschreibung ähnlicher Phänomene - im Sinne von Strukturen - innerhalb der Fallstudie fruchtbar gemacht werden. Nachgezeichnet werden soll damit also die Zielsetzung des offenen Codierens. Im Ordnungsprozess II gilt es dann, sich von der Beschreibung einer Fallstudie zu lösen und die entdeckten Codes einer weiteren Dimensionierung zuzuführen, indem Codes axial zu Indikatoren gewandelt werden, die notwendigerweise auf einer höheren Abstraktionsstufe anzusiedelnden sind. Mit dem Axialen ist in diesem Ordnungsprozess gemeint, Wirkfaktoren zu identifizieren, die auf die sich zeigende Interaktion und die Teilleistungen innerhalb der unterrichtlichen Situation Einfluss nehmen. Genutzt werden sollen sie als Ordnungsgrößen, mit denen Indikatoren zu gruppieren sind. Wichtig ist zu betonen, dass beide - Einflussfaktoren wie Indikatoren - noch keine Theorie- <?page no="115"?> 115 elemente bzw. Modellkomponenten darstellen. Für erstere gilt dies uneingeschränkt, denn Einflussfaktoren bzw. Wirkfaktoren, wie sie fortan bezeichnet werden, sind noch nicht als Konzepte zu verstehen. Für Indikatoren gilt, dass sie als Konstante der Darstellung zu werten sind. Sie stehen innerhalb der komparativen Analyse der Fallstudien im Mittelpunkt der Auseinandersetzung und dienen im letzten Ordnungsprozess dafür, zu den Modellkomponenten durch weitere Abstraktion zu gelangen. Im Ordnungsprozess III wird darauf gezielt, die sich anhand der Datenlage auszumachenden Strukturen in ein Modell und seine zugehörigen Komponenten zu wandeln. Indikatoren werden selektiv codiert, d.h., sie werden Konzepten und Kategorien zugeordnet, worin der Ordnungsprozess seinen Abschluss findet. Indikatoren, die zu Eigenschaften gewandelt werden, verweisen auf ein Konzept und konkretisieren es und sind in diesem letzten Schritt als deskriptiv zu fassende Ausdifferenzierung von Eigenschaften (und damit auch von Konzepten und Kategorien) zu verstehen, die die Mikroebene des Kompetenzmodells darstellen. In Abb. 4 wird dieser Prozess skizziert: In den Daten ist zunächst zu erkennen, dass ein Lernender sich im Unterrichtsgeschehen zielsprachlich äußert, da dieses Verhalten auch in den anderen Fallstudien festzustellen ist, kann es in einen Indikator gewandelt werden, der gemeinsam mit artverwandten einem Wirkfaktor zuzuordnen ist. Auf der höchsten Stufe der Abstraktion wird dieses Verhalten in einen Deskriptor gewandelt und dem entsprechenden Kompetenzbereich zugeordnet. M AKROEBENE Ordnung in Wirkfaktoren Ordnung in Kompetenzbereiche Ordnungsprozess I Ordnungsprozess II Ordnungsprozess III Phänomen S äußert sich zielsprachlich Indikator S sprechen in der Zielsprache Deskriptor Über Textinhalte und Leseeindrücke in der Zielsprache sprechen M IKROEBENE Abbildung 4: Von Phänomenen zu Deskriptoren Mit diesem Vorgehen wird darauf gezielt, zwischen den Ordnungsprozessen des Konzept-Indikator-Modells präsentationsseitig zu vermitteln. Damit nämlich die Indikatoren zu Theorieelementen gewandelt werden können, gilt es, zunächst den deskriptiven Vorrang gegenüber den normativen Momenten zu gewähren. Mit Vermittlung ist gemeint, dass das mit Indikatoren zu versehene beobachtbare Geschehen - sprich die sich in den Daten zeigenden Phänomene - sukzessive zu Theorieelementen gewandelt werden soll. Dafür wer- <?page no="116"?> 116 den die Komponenten des Lesekompetenzmodells nach Burwitz-Melzer (2007a, b; cf. 4.2.2) herangezogen, die gewissermaßen als apriorische Konzepte zur Dimensionierung der Datenlage dienen. Genauer gesagt bedeutet dies, dass es auszuloten gilt, inwiefern Codierungen dafür genutzt werden können, diese bestehenden Kompetenzbereiche zu veranschaulichen. Und Indikatoren werden im zweiten Schritt der Analyse dahingehend untersucht, ob sie auf die im Modell von Burwitz-Melzer enthaltenen Kompetenzbereiche und Arbeitsschritte verweisen, und werden dann in der Diskussion der Fallstudien dem expliziten und impliziten Schülerverhalten zugeordnet. Zwischen deskriptiven und normativen Momenten zu vermitteln, bedeutet in diesem Sinne auch, dass herauszustellen ist, inwiefern das spezifische Verhalten innerhalb der konkreten Situation als kompetent zu werten ist, d.h. welchen Stellenwert die Schülerleistungen und -teilleistungen für den Verstehens- und Auseinandersetzungsprozess im fremdsprachlichen Literaturunterricht haben und wie sich als Leistungsträger zu identifizierende Lernenden in ihrem Verhalten von anderen unterscheiden. Zur Diskussion stehen dabei auch die aus dem Modell von Burwitz-Melzer importierten Konzepte und die Frage, inwieweit sie als Elemente im Konzept- Indikator-Modell Verwendung finden können. Hier ist auch zu untersuchen, inwiefern diese Konzepte zu ergänzen, zu erweitern und weiter zu differenzieren sind. Damit ist der dritte Schritt im Ordnungsprozess berührt, der - wie auch alle anderen aus der Rückschau nachgezeichnet - schließlich darauf zielt, Konkretes zu Abstraktem, Indikatoren zu Modellkomponenten zu wandeln. Oder anders gesagt: Damit im Sinne der Maximierung und Minimierung von Differenz innerhalb der komparativen Analyse der Fallstudien Indikatoren und die damit codierten Phänomene zu Eigenschaften (Deskriptoren) gewandelt werden können, die Kategorien (Teilkompetenzen) von Konzepten (Kompetenzbereiche) beschreiben, muss Deskriptives zu Normativem verdichtet werden. Schließlich geht es nicht darum, eine Taxonomie von operationalisierbaren Lernzielen zu formulieren, vielmehr steht die Formulierung einer Kompetenzbeschreibung im Sinne einer ‚Globalform‘ im Vordergrund, die sich in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen realisiert. Indikatoren zu Deskriptoren zu wandeln bedeutet also, über den beschreibenden Charakter hinauszugehen und normative Momente in die Formulierung von Deskriptoren einfließen zu lassen, und ist nur dann zu rechtfertigen, wenn die durch den Deskriptor konkretisierte Anforderungssituation als Typ gewertet werden kann, wenn also potentiell weitere Situationen möglich sind, in denen der Typ der Anforderungssituation zum Tragen kommen kann. Daher muss das in den Daten Entdeckte für einen bestimmten Typ einer Anforderungssituation stehen, die sowohl potentiell in anderen Situationen Gültigkeit erfahren kann als auch Bestandteil eines übergeordneten Kompetenz-Clusters ist <?page no="117"?> 117 (vgl. Hartig 2008: 22; cf. 8). Im Prinzip geht es darum, den Dreischritt des offenen, axialen und selektiven Codierens und die damit einhergehenden Ordnungsprozesse, die die in den Daten enthaltenen Komplexität auf ein zugängliches Maß zu reduzieren zielen, in die Präsentation mit einzubinden, damit der Prozess, aus dem das fertige Modell hervorgegangen ist, nicht gänzlich außen vor gelassen wird. Die Idee dabei ist, zwischen Ansprüchen an eine angemessene Struktur (vgl. Matt 2000: 583) und intersubjektive Nachvollziehbarkeit (vgl. Steinke 2000: 324) zu vermitteln und damit auch „hinreichende Textbelege für die entwickelte Theorie“ zu liefern (ebd.: 328; Hervorhebung im Original). Für die abschließende Diskussion wird ein anderer Weg gewählt. Hier sollen dann vor allem die Wechselwirkungen zwischen den Komponenten des Modells verdeutlicht werden, um Typologien herauszuarbeiten (cf. 8.3). Es wird darauf gezielt, prototypische Situationen aus der Datenlage abzuleiten, indem potentielles Verhalten planbaren Situationen zugeordnet wird. Typologien sind so gesehen als Ergebnisse einer Gruppierung zu verstehen. Sie beruhen auf der Identifikation von Merkmalen, in denen sich sowohl empirische Regelmäßigkeiten als auch theoretisch relevante Zusammenhänge erkennen lassen (vgl. Kluge 2000). Ausgangspunkt finden diese den Typus beschreibenden Merkmalsräume in den konkreten Situationen der Unterrichtseinheiten. Indem die Handlungs- und Kommunikationsanlässe im Unterrichtsgeschehen systematisch gruppiert und damit als Vergleichsdimension genutzt werden, sollen Korrelationen von spezifischem Verhalten beschrieben werden. Oder anders gesagt: Den Rahmen der Typologien bilden die in den Fallstudien zu beobachtenden Arbeitsschritte, die kategorisiert und damit verallgemeinert werden. Innerhalb dieses Rahmens wird herausgestellt, welche Merkmalskombination - sowohl in Hinblick auf die zum Tragen kommenden Fertigkeiten und Fähigkeiten der Lernenden als auch die konkreten Situationen im Unterricht betreffend - empirische Regelmäßigkeiten aufweisen und in welcher Art und Weise sie mit einander auftauchen, wobei diese Ordnungsprozesse als prototypische Situationen im fremdsprachlichen Literaturunterricht dargestellt werden (cf. 8.2). In enger Verbindung mit diesem Gedankengang steht die Reichweite des generierten Modells. Indem nämlich vom spezifischen Verhalten der Lernenden (Performanz) in den konkreten Situationen (Unterrichtsgeschehen- Arbeitsschritt-Relation) auf das individuelle Wissen und Können (Kompetenz) geschlossen wird, können von den Fallstudien durch Abstraktion losgelöste Potentiale aufgezeigt werden, die sich entlang der Merkmalsräume (prototypische Situationen) gruppieren lassen. Mit diesen wird es möglich, sowohl die Interdependenzen und Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Teilbereichen literarischer Kompetenz im Fremdsprachenunterricht zu beschrei- <?page no="118"?> 118 ben als auch Vorhersagen über die zukünftige Entfaltung der Potentiale im Unterricht zu treffen, die dann zum backward planning genutzt werden können. Sich für diese Form der Präsentation von Forschungsergebnissen zu entscheiden, ist nicht zuletzt der Absicht geschuldet, die Rekonstruktion des sich entwickelnden Geschehens sowie die Systematisierungsprozesse so transparent wie möglich zu gestalten. Anders als quantitative, nomologischdeduktive Studien, die interner bzw. externer Realiabilität, Validität sowie Repräsentativität zuarbeiten (vgl. Nunan 1992: 14-17), gelten für qualitative Forschungsprojekte diese Gütekriterien nicht in gleichem Maße. Nicht jedoch, weil etwa qualitative Forschung „unsystematische, nicht repräsentative oder gar gegenstandsunangemessene Theorien hervorbringt“ (Strübing 2008: 11 f.), sondern vielmehr, weil die Teilhabe am sich entwickelnden Geschehen - und sei das Forschungsdesign auch noch so sachangemessen - schwerlich zu replizieren ist: „Andere Forscher zu einem anderen Zeitpunkt in einem schon durch den Zeitverlauf veränderten Feld können eine tatsächliche Wiederholung gar nicht mehr leisten“ (ebd.). Zentral ist jedoch auch hier wie für jedes Forschungsprojekt, dass der Wert der wissenschaftlichen Ergebnisse abhängig ist von der Fertigkeit des Forschers, diese glaubwürdig und nachvollziehbar zu präsentieren. Um externer Reliabilität zuzuarbeiten, soll mit der Rückkehr zu den Daten und der Darstellung der Analyse folgenden Aspekten Rechnung getragen werden: der Offenlegung des Status‘ des Forschers, die Wahl der Informanten bzw. Untersuchungsgruppen und Interviewteilnehmern, die sozialen Situationen und Ausgangsbedingungen, die analytischen Konstrukte und Prämissen sowie die Methoden der Datenanalyse (vgl. Nunan 1992: 59). Letztgenanntes ist dabei eng mit Fragen der internen Reliabilität verknüpft, der dadurch zugearbeitet werden soll, dass der Prozess der Analyse und Codierung von low-inference über high-inference Deskriptoren verläuft: „Low-inference descriptors, phrased in terms as concrete and precise as possible […] include verbatim accounts of what people say as well as narratives of behaviour and activity“ (LeCompte/ Goetz 1982: 41). High-inference Deskriptoren hingegen als „interpretive comments” (ebd.) „are those requiring the observer to make inferences about the observed behavior” (Nunan 1992: 60). Dieser Stufenfolge entsprechend soll das transkribierte Datenmaterial zunächst in eine Beobachtungssprache überführt, mit dieser beschrieben und anschließend mittels der analytischen Konstrukte und Prämissen interpretiert werden - die Darstellung folgt sozusagen dem rekursiven und iterativen Verlauf des offenen, axialen und selektiven Codierens. Die ausführliche Beschreibung der interpretierten Phänomene sowie das Nachzeichnen der damit einhergehenden Schlussfolgerungen sind die Mittel, um den auf qualitative For- <?page no="119"?> 119 schungsergebnisse angepassten Kriterien externer Validität zu genügen. Zudem kann damit einer Vergleichbarkeit bzw. einem begrenzten Anspruch auf theoretische Verallgemeinerung zugearbeitet werden (vgl. LeCompte/ Goetz 1982: 51). Interne Validität gehört hingegen zu den Stärken qualitativer Forschung, denn „internal validity […] relates to the extent to which an investigation is actually measuring what it purports to measure“ (Nunan 1992: 62). Und zwar in dem Sinne, dass sich das Forschungsdesign, seine Zugänge zum untersuchten Feld, die Methoden der Datenerhebung und der Analyse, dem zu beschreibenden Phänomen mit dem Anspruch nähern kann, „Lebenswelten ‚von innen heraus‘ aus der Sicht der handelnden Menschen zu beschreiben“ und so auf „Abläufe, Deutungsmuster und Strukturmerkmale aufmerksam machen“ kann (Flick/ von Kardorff/ Steinke 2000: 14). Hier kommt es darauf an, die subjektivierende Einsichtnahme des Forschers bei der Rekonstruktion sozialer Wirklichkeit so zu übersetzen und darzulegen, dass sie nicht idiosynkratisch, sondern nachvollziehbar präsentiert sind. Und eben diese Prozesse der Rekonstruktion sollen nun überblicksartig und zusammenfassend beschrieben werden. <?page no="120"?> 120 6. Lese- und Verstehensleistungen in Unterricht und Interviews: Ordnungsprozess I Wie bereits dargelegt (cf. 5.3, 5.4) sollen im nun Folgenden die Prozesse des offenen Codierens und damit die des Entdecken von Codes im Datenmaterial an einer Fallstudie nachgezeichnet werden. Dafür werden die Unterrichtseinheit, die Handlungs- und Kommunikationsanlässe und die Schülerprodukte dargestellt und eingehend diskutiert. Sind Codes zu entdecken, so werden diese in der dafür vorgesehenen dritten Spalte der Transkripte eingetragen und entsprechend ihres Auftauchens nummeriert. Zeigt sich ein weiteres Phänomen, das mit dem jeweiligen Code zu beschreiben ist, so wird nur noch die dazugehörige Nummer angeführt. Mit diesem Vorgehen geht die Absicht einher, die unterschiedlichen Verbindungen, die es innerhalb der Daten zu erstellen und die es auf die einzelne Unterrichtsphase als konkrete Situation mit dem weiteren und vorangegangenen Stundeverlauf zu beziehen gilt, anzudeuten und in ihrer Entstehung zu diskutieren. Dass damit auf Teilleistungen bzw. auf Prozessebenen literarischer Verstehensleistungen gezielt wird, liegt auf der Hand. Der dichten Beschreibung folgend geht es um „das Herausarbeiten von Bedeutungsstrukturen“ (Geertz 1987: 15). Eine Konsolidierung dieser Strukturen, sprich das Zusammenstellen unterschiedlicher Codes zu Gruppen ähnlicher Teilleistungsbereiche, soll dann erst im Anschluss daran im Ordnungsprozess II im Vordergrund stehen (cf. 7). 6.1 Eine Fallstudie als Ankerbeispiel Sich für eine Fallstudie als Ankerbeispiel zu entscheiden, erfolgt nicht zufällig und soll wie folgt begründet werden: Die Fallstudie zeigt sich für das formulierte Ansinnen besonders geeignet, da eine hohe Bandbreite an zu entdeckenden Codes in den entsprechenden Datensätzen aufzufinden ist. Hinzukommt, dass es sich im Vergleich um eine der aktivsten Lerngruppen handelt, sowohl in Anbetracht der Häufigkeit als auch hinsichtlich der ausdrucks- und inhaltsseitigen Qualität der Beiträge. Zudem gestaltete sich die im Zusammenhang mit der teilnehmenden Beobachtung stehende Unterrichtsplanung mit der Lehrperson dieser Gruppe als besonders produktiv: Als eine der wenigen teilnehmenden Lehrkräfte (L) der Studie scheinen für die Lehrerin rezeptionsästhetische Handlungs- und Produktionsanlässe generell zum didaktisch-methodischen Repertoire zu gehören. So entwickelte sich die gemeinsame Unterrichtsplanung derart, dass Vorschläge des Untersuchungsleiters <?page no="121"?> 121 von L aufgegriffen und auf die Lerngruppe bezogen in einen Stundenverlaufsplan umgesetzt wurden. L zeigte dabei großes Interesse an den Zielsetzungen der Studie, formuliert etwa als Lerninhalte in Verbindung mit literarischen Texten im Lehrerfragebogen „Perspektivenwechsel, Charakterisierung, Interpretation, handlungsorientierte Methoden wie Tagebucheintrag…“, beschreibt „andere Kulturen“ als Lerninhalte, die durch literarische Texte besonders gut zu transportieren sind, nennt „Tiefgang, Interesse der SuS, Erweiterung des Schülerhorizonts, Anwendung kreativer Methoden“ als bereits erworbene positive Erfahrungen im Englischunterricht mit literarischen Texten und „Begreifen der Inhalte, Handlung statt nur Lesen/ Reden“ als Merkmale des Einsatzes kreativer Methoden im Englischunterricht (LFB G10 I, S. 1-3). 6.2 G10 I im Fokus Durchgeführt wurde die Studie G10 I an einem Mittelstufengymnasium in einem hessischen Mittelzentrum (mittelstädtisch) über einen Zeitraum von zwei Wochen, der insgesamt sieben Unterrichtsstunden umfasste (zwei Doppel-, drei Einzelstunden). Bei der teilnehmenden Gruppe handelt es sich noch um eine sogenannte G9 Klasse, da zum Zeitpunkt der Untersuchung (Schuljahr 2008/ 09) die Schulzeitverkürzung im Gymnasialbereich auf die betreffende Jahrgangsstufe noch keine Auswirkung hatte. Die Klasse setzt sich aus insgesamt 29 Schülerinnen und Schülern zusammen, davon 15 Mädchen und 14 Jungen im Alter zwischen fünfzehn und sechszehn Jahren. Die Schule wird zum Zeitpunkt der Untersuchung von 876 SuS besucht, die sich auf 31 Klassen verteilen (Angaben zum Verhältnis der Geschlechter und zu SuS mit Migrationshintergrund liegen leider nicht vor). Ein Schwerpunkt im Schulprogramm liegt auf dem bilingualen Unterricht, der ab Jahrgangsstufe sechs als Wahlunterricht angeboten wird, in Jahrgang sieben im Rahmen des Geschichtsunterrichts und in Jahrgangsstufe acht als bilingualer Politik und Wirtschaftsunterricht. Englisch ist als erste Fremdsprache ab Jahrgangsstufe fünf obligatorisch. 6.2.1 Unterrichtsplanung Als literarischer Text diente der Fallstudie die Short Story T A -N A -E-K A der unter Pseudonym arbeitenden US-amerikanischen Autorin Mary Whitebird (1973; in Mischkowski/ Rösner 1994: 106-114). Von einer Ich-Erzählerin - Mary genannt - werden die Erlebnisse eines elfjährigen Mädchens präsentiert, das den titelgebenden Initiationsritus seines Native American Stamms <?page no="122"?> 122 der Kaw im Jahre 1947 durchlebt. Gemeinsam mit ihrem Cousin Roger Deerleg wird sie von ihrem Großvater, der als Häuptling des Stamms Vertreter der Tradition ist, auf das Ritual vorbereitet. Ohne Essen und Ausrüstung müssen die Jungen und auch Mädchen - eine Besonderheit des Stammes, so Mary - fünf Tage und Nächte in der Wildnis überleben, bekleidet nur mit Badesachen, was bereits als Zugeständnis an die Moderne bezeichnet wird. Mary, die mit der Sinnhaftigkeit dieser Ausbildung zum warrior hadert, fasst den Beschluss, sich nicht an die strengen Regeln zu halten. Sie leiht sich fünf Dollar von ihrer Lehrerin (die Schule befindet sich nicht im Reservat), versteckt diese mit einer Spange in ihren Haaren, und wählt, als sie sich von ihrem Cousin für die anstehenden Prüfungen trennen muss, als Territorium ein Gebiet am Fluss. Dort befindet sich ein kleiner Anleger, der die Aussicht auf Hilfe von Mitmenschen bietet. Sie handelt damit ausdrücklich gegen die Auflagen, die den Kontakt zu Mitmenschen im Allgemeinen und anderen Stammesmitgliedern im Speziellen untersagen. Am Anleger angekommen wird sie auf ein diner aufmerksam, zu dem sie sich nachts Zutritt verschafft. Entgegen des eigentlichen Plans, dort zu nächtigen, zu essen und Geld auf dem Tresen zu hinterlassen, verschläft sie unbeabsichtigt und wird am Morgen unsanft vom Besitzer Ernie geweckt. Ernie hat als nicht Native American keinen Bezug zum Ritus, äußert sich abfällig, worauf Mary zu ihrer eigenen Verwunderung rechtfertigend reagiert. Ernie bietet ihr an, für die Dauer des Rituals im diner zu bleiben, lehnt das von ihr offeriert Geld ab und schlägt dafür vor, dass sie einfach im diner aushelfen solle. Nach den fünf Tagen kehrt die Ich- Erzählerin wohlgenährt und offenkundig ausgeruht zu ihrer Familie zurück. Schon auf dem Weg dorthin macht sie sich über die Reaktion ihrer Familie und besonders über die des traditionellen Großvaters Sorgen. Diese verstärken sich, als ihr Blick auf ihren Cousin fällt, dessen Erscheinungsbild das genaue Gegenteil zu ihrem ist. Sie offenbart sich der Familie und ist ob der Reaktion ihres Großvaters überrascht: Verständnisvoll erkennt er ihre Überlebensleistung an, bezeichnet sie als moderne Form des Ta-Na-E-Ka, erzählt von seinen eigenen Erfahrungen und führt als Vergleich zu ihrer Situation an, dass er selbst das Glück hatte, einen von Soldaten erschossenen Hirsch gefunden zu haben, der ihm als Nahrungsquelle das Ritual erleichtert habe. Für den unterrichtlichen Einsatz ist neben der relativen Kürze und der sprachlichen Angemessenheit (unbekannte Wörter werden durch Annotationen im Text erläutert) besonders der kulturelle Inhalt interessant. Wie bei der Unterrichtsplanung aller anderen Fallstudien standen (a) die Motive der Handelnden im literarischen Text, (b) der zeitlich-kausale Zusammenhang von Handlungen, (c) besonders der kulturelle Kontext der Handlungen, (d) die dabei durchscheinenden Normen, Wertvorstellungen und ethischen Fragen, (e) die Perspektiven von Erzähler und Handelnden (f) sowie die Darstel- <?page no="123"?> 123 lung des Außergewöhnlichen in Geschichten, mitsamt den daraus resultierenden Normverletzungen und dem Umgang mit diesen (vgl. Bredella 2003: 48-51; cf. 5.2.2) im Vordergrund der geplanten Auseinandersetzung. Von zentraler Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die im Text enthaltenen verschiedenen kulturellen Perspektiven, die es von den Lernenden zu koordinieren gilt und die im Unterrichtsgeschehen eine Rolle spielen: So sind es die Perspektiven der Ich-Erzählerin, als eine zwischen Moderne und Tradition, die ihres Cousin Roger, die als im Text angelegte Leerstelle im Unterrichtsgeschehen zu füllen und auszugestalten ist, die des Großvaters, die als Perspektive der Tradition somit auch stellvertretend für die Familie bzw. den Stamm gesehen werden kann und im Erzählende die vielleicht unvorhersehbarste Wende vollzieht, die miteinander in Beziehung gesetzt werden müssen. Durch das im Text angelegte Spiel der Perspektiven, in die auch Ernies Perspektive als Außenstehender einzubeziehen ist, die handlungsleitenden Motive, die es sowohl vor der Folie der im Text enthaltenen Normen und Wertvorstellungen als auch vor der der eigenen zu bewerten gilt, wird der Leser vom Text aufgefordert, Angelegtes zu interpretieren, nach Bedeutung zu suchen, diese auszuhandeln und zu begründen. Diese Konstruktion von Bedeutung, sprich die Sinnstiftungsprozesse im Unterrichtsgeschehen, standen bei der gemeinsamen Unterrichtsplanung mit der Lehrkraft im Vordergrund. Task Stunde  brainstorming zum Titel Ta-Na-E-Ka  Lesephase  What is Ta-Na-E-Ka?  Charakterisierung Roger  Produktionsanlass: Rogers Erlebnisse 1. / 2. Stunde  Präsentation Leerstellen  Lesephase  Lautes Lesen des bekannten Abschnitts  Abgleich der eigenen Hypothesen mit dem Gelesenen  Motive der Handelnden bewerten (Eindringen ins diner)  Hypothesen über den weiteren Verlauf bilden  Handlungen und kulturellen Kontext bewerten  Produktionsanlass: How might the story continue? 3. Stunde  Präsentation der Produkte  Identifizieren fremdkultureller Konzepte: Underline words which have something to do with the Native American and the US- American culture. 4. Stunde  Präsentation: fremdkulturelle Konzepte  Handlungen bewerten und kulturelle Perspektiven koordiniere: 5. Stunde <?page no="124"?> 124 Did she pass Ta-Na-E-Ka or not?  Kulturelle Perspektiven koordinieren: How is her family going to react?  Lesephase  Handlungen und Motive bewerten: grandfather‘s reaction  Produktionsanlass: Write an article for the reservation’s news paper.  Rechercheauftrag an Kleingruppe: Information about reservations today.  Peer editing der Produkte  Präsentation der Produkte  Fremd- und eigenkulturelle Rituale vergleichen  Titel/ Überschriften für die einzelnen Textteile erfinden  Präsentation der Recherchegruppe 6. / 7. Stunde Tabelle 18: Überblick tasks G10 I 6.2.2 Unterrichtsgeschehen und Schülerprodukte 6.2.2.1 1. und 2. Stunde G10 I Nachdem die Klasse begrüßt und über die Beobachtungssituation durch die Lehrkraft und den Untersuchungsleiter informiert wurde, entwickelt sich das im Folgenden präsentierte Unterrichtsgespräch. Die Schülerinnen und Schüler werden aufgefordert, über den Titel Ta-Na-E-Ka nachzudenken und sich dahingehend zu äußern, was das Wort ihrer Meinung nach bedeuten könnte: 11: 47 L Our short story has got the name Ta-Na-E-Ka. L formuliert Aufgabenstellung S 1 Hä? S n What? L And I want you to know, what-what could that be? S nx Allgemeine Unruhe L Let’s start with a short brainstorming about this name. What could it be. Ta-Na-E-Ka. What could it be? S 4 ? S 4 It’s perhaps a Chinese perhaps a Chinese word. äußert sich zielsprachlich (1), Vermutung über den Titel (2), deutet Ursprung des Titels (3a) S n Lachen S 4 Or Japanese. L So it’s obviously any foreign language? L fragt nach <?page no="125"?> 125 S 4 Yes of course. S n (leise) Japse. L Can you pick each other, please? S 4 S 14. S 14 Native American. [1-2-3a-Fragment] L Native American? 11: 48 L What do you mean? S n Unruhe, Gemurmel, unverständlich L Native American what? S 14 For a name -for (unverständlich) [1-2-3a-Fragment] L Ok a name. (schreibt an Tafel)…pick each other, please. S 14. L wiederholt Schülerantwort S 14 Äh - S 24. S 24 Or a word in a language of the Native American. 1, 2, 3a L Mhm (schreibt an) S 24 S 3. S 3 Ähm, maybe it’s, äh, a short form from something. 1, 2 11: 49 L S 7 ? S 7 Maybe some food. 1, 2 L (schreibt an). S 7. S 7 Ähm - S 9. S 9 Äh, a city everyäh, any-anywhere in the world. 1, 2 L (schreibt an). S n City? S 9 S 19. S 19 Ähm, maybe it’s a kind of sport in Japan or China. 1, 2, 3a L Jap? S 19 Japan. L Ja (schreibt an). S 19 S 4. S 4 Perhaps it’s a artist name. 1, 2 […] 11: 50 L (unverständlich) S 20. S 20 Ähm, a name of a lake, or mountain. 1, 2 L Ok, very good idea (schreibt an). L kommentiert Schüleräußerung L S 9. S 9 Chemics. For example Na - Natrium. But I don’t know the others. Äh, Ka- 1, 2 S n Lachen <?page no="126"?> 126 S 9 Ta no. Gemurmel S 2 Chemistry ne? S 9 Ja, chemist. L Chemicals (schreibt an). L S 12. 11: 51 S 12 Religious ritual or something. 1, 2, deutet Titel als Konzept (3b) L (schreibt an)… S 7. S 7 Another culture. 1, 2 L Any culture? So we have got Native Americans already, Chinese, Japanese (schreibt an). S 23. Quatsch S 26. S n lachen L Tschuldigung. S 26 Perhaps a name of, ähm area. 1, 2 [erwähnt (möglichen) Handlungsort (4)] L So lake, mountain any landscape. S 4. L paraphrasiert Schülerantwort S 4 Perhaps it’s a game. Play. 1, 2 L (an mich) Did you, äh, did you, äh need a seating plan. L-I-Interaktion I It’s already being done. L Ok. I Thank you. S 22 Bin schon auf dem Weg (macht einen Sitzplan für mich) I (An S 22 ) thank you. L S 15. S 15 A short form from names in a, for example for members of a band or- 1, 2 11: 52 L Ok. Short form for names we had. L kommentiert Schüleräußerung L S 1. S 1 African language (spricht erst falsch aus, verbessert sich selbst). L African (schreibt an). Ok thank you. It’s quite it’s enough I think. So obviously you think it’s something foreign, you don’tknow it’s strange because a lot of capitol letters. It could be a short form. You’re not sure about any ähm, geographical area. Lake, mountain, something it could be anything. Couldn’t it? L paraphrasiert Schülerantworten L kommentiert Schüleräußerungen L formuliert Aufgabenstellung S n Mhm. 11: 53 L Because we don’t know this combination of the letters. So I divided the short story in four par-äh parts. Into four parts. We start with part one today obviously. <?page no="127"?> 127 S n Ach ja nein. Blätter mit dem ersten Teil der Story werden verteilt. 11: 54 L And your task is to read it on your own and underline unknown words and keywords. Also, unknown words in one colour and keywords for each paragraph in another colour, L formuliert Aufgabenstellung Gemurmel, allgemeine Unruhe L So you need two colours. Everybody should have two pages in the end. 11: 55 L Who hasn’t got two pages already? - Ok. Two colours, one colour for keywords in each paragraph, and one colour for unknown words. Arbeitsphase beginnt; Klasse arbeitet sehr ruhig und konzentriert. Tabelle 19: G10 I (1. u. 2. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 82 - 180) Für die Analyse der Sequenz bietet es sich an, das Geschehen zunächst entlang eines Codierparadigmas zu untersuchen, das den Bedingungen der „Interaktion zwischen den Akteuren“, den dabei durchscheinenden „Strategien und Taktiken“ (Strauss 1994: 57) und den sich jeweils ergebenden Konsequenz Rechnung trägt: Die Interaktion gestaltet sich derart, dass die Lernenden auf den von L gesetzten Impuls reagieren, ihre Antworten zwar direkt an die Lehrkraft richten, in einigen Fällen dabei aber indirekt auf vorangegangene Schüleräußerungen eingehen. Mit der Information, dass die zu lesende Short Story den Titel Ta-Na-E-Ka trägt, leitet die Lehrerin die Sequenz ein und formuliert als Arbeitsauftrag ein Brainstorming über den Titel. Die erste Wortmeldung von S 4 ist mit drei Codierungen belegt, da sich der Schüler zielsprachlich äußert (1) und in dieser Äußerung eine Vermutung über den Titel enthalten ist (2). Indem er davon spricht, es könne sich um ein chinesisches Wort handeln, scheint er den unvertrauten Klang des Wortes zum Anlass zu nehmen, dessen Ursprung (3a) in einer ihm fremden Sprache zu vermuten. Die ersten beiden Codierungen lassen sich dem Bereich der Interaktion zuordnen, sind auf den von L gesetzten Impuls und auf die sich darauf entwickelnde Situation zurückzuführen, und liegen damit allen Schülerbeiträgen der Sequenz zugrunde. Anders verhält es sich hingegen mit der dritten Codierung der Sequenz. Hier sind es entsprechend des Codierparadigmas eher Strategien und Taktiken, auf die es zu schließen gilt. Und zwar derart, dass der Schüler auf die Lehrerfrage „Ta-Na-E-Ka. What could it be“ mit einer Hypothese zum sprachlichen Ursprung des Wortes reagiert. Die Lehrerin scheint mit ihrer Frage „so it’s obviously any foreign language“ die Schüleräußerung abstrakter zu paraphrasieren, worauf S 4 seine Aussage bekräftigt. <?page no="128"?> 128 Im weiteren Verlauf der Sequenz lässt sich - wie bereits eingangs erwähnt - auch ausmachen, dass die Lernenden zumindest implizit auf vorangegangene Äußerungen eingehen. Zu verdeutlichen ist dies entlang der Aussage von S 14 : Der Schüler wirft zunächst den Begriff „Native American“ als Fragment ins Unterrichtsgespräch ein, worauf L versucht, diese vage Aussage durch Nachfragen zu spezifizieren. Der Schüler geht darauf ein und umschreibt den Titel - erneut lediglich fragmentarisch - als Namen, worauf die Lehrerin die Schülerantwort wiederholt und dabei „name“ als Kategorie herausstellt. Mit der Aussage von S 24 , es handele sich vielleicht um ein Wort in der Sprache der amerikanischen Ureinwohner, wird das eingeworfene Fragment „Native American“ dafür genutzt, um auf den Ursprung des Titels der Short Story zu verweisen. In den drei folgenden Codings (Paragraphen mit Codierung) spielt der Ursprung des Titels allerdings keine Rolle mehr. Erst S 19 führt ihn auf eine fremde Kultur, nämlich auf eine asiatische Sportart zurück. Darauf folgen erneut Spekulationen, Ta-Na-E-Ka als Künstlername (S 4 ), als Bezeichnung für einen See oder Berg (S 20 ), oder aber als chemische Kürzel zu sehen (S 9 ). Anders verhält es sich hingegen mit der Vermutung, es handele sich um ein „religious ritual - or something“ (S 12 ). Codiert wird diese Äußerung als einzige der Sequenz damit, dass der Schüler den Titel als Konzept deutet (3b), wenn sprachlich allerdings auch nur fragmentarisch realisiert. Der Schüler scheint in dieser Aussage den unterrichtlichen Diskurs und die Beiträge der anderen dafür zu nutzen, eine Bedeutung zu konstruieren, die sich - und dies muss man aufgrund der sprachlichen Verkürzung und der nicht erfolgten Begründung für diese Aussage dezidiert als interpretativen erklärenden Schluss markieren - aus dem immer wieder berührten kulturellen Kontext speist und mit kulturellen Konzepten bzw. Abstrakta in Verbindung zu stehen scheint. Denn mit der Aussage gelingt es dem Schüler, den im Text verhandelten zentralen Konflikt zu umreißen, handelt es sich doch bei Ta-Na-E-Ka um einen kulturellen Initiationsritus. An dieser Stelle zeichnet sich etwas ab, das sowohl mit den Strategien und Taktiken der Lernenden als auch mit dem Lehrerhandeln in Verbindung zu sehen ist und hier als kritische Evaluation der sich entwickelnden Situation verstanden werden sollte. Denn in Hinblick auf die auszumachenden Schülerleistungen lassen sich jene Beiträge im Unterrichtsgespräch, die zufällig - dieser Umstand ist der freien Assoziation innerhalb der Phase geschuldet - mit den Begriffen „Native American“ oder „religious ritual“ in engem Zusammenhang sowohl mit dem Setting als auch den zentralen Konflikten der Short Story stehen, von solchen unterscheiden, die eigentlich nur als eingeworfene Möglichkeiten in einem Ratespiel gewertet werden können. Diese im Unterricht zu unterscheiden, hätte eigentlich erst das in der Aufgabenstellung enthaltene Potential fruchtbar für die unterrichtliche Auseinandersetzung <?page no="129"?> 129 machen können, indem beispielsweise die darin enthaltenen Verweise auf das Setting, das auch in der Aussage von S 26 als „name of an area“ Erwähnung findet, und deshalb als möglicher Handlungsort (4) - allerdings in Klammern gesetzt, da nur implizit enthalten - codiert wird, hätten hervorgehoben werden können. Gleiches gilt für die möglichen Konflikte innerhalb der Short Story, die dafür genutzt hätten werden können, Hypothesen über den Inhalt des Textes und seine Charaktere anzustellen, die es dann im Unterrichtsverlauf mit dem Gelesenen abzugleichen gegolten hätte. In der Sequenz geschieht dies nicht. Die Lehrerin entscheidet sich dafür, nachdem mit dem Untersuchungsleiter über den für die Zuordnung der Schüleräußerungen notwendigen Sitzplan gesprochen wurde und ein Schülerbeitrag, der erneut auf eine Abkürzung abzielt, bezüglich der darin enthaltenen Wiederholung kommentiert wurde, die an der Tafel gesammelten Schülerantworten unter Einbeziehung des Beitrags von S 1 („African language“) zu paraphrasieren und formuliert als Phasenüberleitung („So obviously you think it’s something foreign, you don’t know […] it could be anything. Couldn’t it? “) den Arbeitsauftrag für die sich anschließende Lesephase: „And your task is to read it on your own and underline unknown words and keywords. Also, unknown words in one colour and keywords for each paragraph in another colour”. Das, was oben bereits angesprochen wurde, lässt sich auch hier kritisch anmerken, scheint doch die zweite Task der Unterrichtseinheit keinen Bezug auf den Einstieg mit dem Titel zu nehmen. So wird zum Beispiel nicht dazu aufgefordert, beim Lesen zu überprüfen, welche der gesammelten Ideen über den Titel sich bestätigen, oder - als Kategorien gewendet - welche Konsequenzen sich für die Erzählung aus dem berührten kulturellen Kontext des Titels ergeben. Für die Ziele des Forschungsprojekts sind solche Zusammenhänge vor allem deshalb interessant, weil sich darin ein Indiz für die Wechselwirkung von konkreter Situation im Unterricht und sich zeigendem spezifischem Verhalten der Lernenden finden lässt. Zudem ist zu erkennen, dass die durch das Lehrerhandeln gesetzten (bzw. in diesem Fall nicht gesetzten) Impulse ein gewichtiger Faktor dafür sind, welche Schülerleistungen in einer sich entwickelnden Situation hervorzurufen sind. Schülerleistungen sind zentraler Gegenstand einer Kompetenzmodellierung, und im Sinne der dichten Beschreibung soll nun versucht werden, entlang der Interaktion und der den Äußerungen zuzuschreibenden Strategien und Taktiken, der Situation Hinweise auf eine Verbindung von Wissen und Können zu entnehmen. Auszugehen ist dabei zunächst einmal von den Unterschieden der einzelnen Schülerbeiträge: Nicht nur, dass sich die Äußerungen sprachlich voneinander unterscheiden - immerhin reicht das angebotene Spektrum von wohlgeformten Sätzen (S 4 , S 24 , S 9 , S 19 , S 20 ) über auf Kommunikationsabbruch zurückzuführende Partikel (S 14 ) hin zu Zwei-Wort-Antworten (S 14 , S 7 ) -, auch die in- <?page no="130"?> 130 haltliche Auseinandersetzung, die in der Formulierung der Vermutung enthalten ist, gestaltet sich unterschiedlich, wobei hervorzuheben ist, dass den Lernenden nicht bekannt ist, dass es sich um eine Geschichte über amerikanische Ureinwohner handelt. Interessant ist daher, dass gleich zu Beginn der Auseinandersetzung der Titel in seinem sprachlichen Ursprung auf eine fremde Kultur zurückgeführt wird, und indem S 14 dieses Konzept im kulturellen Kontext der US-amerikanischen Ureinwohner verortet, wird bereits das mögliche Setting der Short Story als zentrales Element berührt. In der Aussage von S 12 , die über den kulturellen Ursprung des Wortes hinaus geht, sind dann bereits erste Vermutungen über seine mögliche Bedeutung enthalten. Bemerkenswert ist bei beiden Schülerleistungen, dass sich diese Vermutungen einzig und allein auf das als Titel eingeführte Wort Ta-Na-E-Ka beziehen. Dass in diesem Zusammenhang einleitend von potentieller Einsichtnahme gesprochen wird, deutet bereits an, dass an dieser Stelle die beschreibende Analyse der Sequenz mit entlang der Schülerleistungen zu konkretisierenden Codierungen an ihre Grenzen stößt. Denn bei den festzustellenden graduellen Unterschieden handelt es sich um high-inference behaviour, das im retrospektiven Lernerinterview erneut aufgegriffen wird (cf. 6.2.3). Auf die Einstiegsphase, die dem Aufbau einer Erwartungshaltung gegenüber dem Text dient, erfolgt die erste Textbegegnung. Die Lernenden werden aufgefordert, die ersten zwei Seiten der in Abschnitten eingeteilten Short Story zu lesen und Schlüsselbegriffe sowie unbekannte Wörter mit unterschiedlichen Farben zu markieren. 11: 55 L Unverständlich L Who hasn’t got two pages already? - Ok. Two colours, one colour for keywords in each paragraph, and one colour for unknown words. L formuliert Aufgabenstellung [Nähe zu Methodenkompetenzen in Bildungsstandards] 11: 56 Arbeitsphase beginnt; Klasse arbeitet ruhig und konzentriert Sus lesen den Text (5) SuS lesen orientierend (5a) bearbeiten Aufgabenstellung (6) […] 12: 07 L geht in der Klasse umher 5a, 6 […] 12: 14 Einige SuS sind bereits fertig; reden leise miteinander. 5a,6 Tabelle 20: G10 I (1. u. 2. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 177-200) Für Phasen wie diese ist aus beobachtender Perspektive zu beschreiben, dass die Schülerinnen und Schüler den literarischen Text lesen (5) und die von L <?page no="131"?> 131 formulierte Aufgabenstellung bearbeiten (6). Im Anschluss an die knapp 20 minütigen Lesephase wird durch den von L formulierten Impuls („Tell me, what is Ta-Na-E-Ka then.“) eine Verbindung zum Einstieg hergestellt. Mit den Begrifflichkeiten des Codierparadigmas lassen sich vor allem die auszumachenden Strategien und Taktiken der Lernenden dahingehend fassen, dass zunächst das mit dem Titel einhergehende kulturelle Konzept des Initiationsrituals ausgestaltet und anschließend über Charaktere und Handlungen gesprochen wird. Die Impulse der Lehrkraft lassen sich dabei im ersten Fall als story- und im zweiten Fall als discourse-orientierte (vgl. Chatman 1978) Aufgabenstellung beschreiben. Welche Leistungen dabei in den Schüleräußerungen aufscheinen, und wie sich die Situation entwickelt, soll anhand der Sequenz ausführlicher untersucht werden: 12: 15 L Alright. Then, ähm, close your pens, please, and look up. And tell me, what is Ta-Na-E-Ka then… S 23. L formuliert Aufgabenstellung S 23 Ähm. It’s of survival for, ähm, the Indians. [1-4-Fragement] L Can you add something? Maybe you can pick each other again. S 23 S 19. S 19 Ähm, the kids, ähm, if the kids are eleven yearyears old, they have to go through the tradition. Yes. S 4. 1, spricht über kulturelle Konzepte (7) 12: 16 S 4 Ähm, it’s - I think it’s like a it’s a little bit like confirmation, because with the flowering of adulthood. This is (unverständlich). 1, 7 verweist auf kulturelle Gemeinsamkeiten (8) L So what do you mean, äh, they have to go through a tradition? L fragt nach S 19 Ähm. L Can you describe it? L fragt nach S 19 They have to stay five days, and ähm, and more then alive and had to survive. 1, 7 L Where? L fragt nach S 19 I think, ähm, wo in the jungle? 1 (Fehlleistung) L (lacht kurz) S 2. S 2 Ähm, in the wood. 1 L Ja. In the forest. So who is telling the story? Who is the story about? What are who are the persons in that story? S 3 ? L korrigiert, L formuliert Aufgabenstellung 12: 17 S 3 (räuspert sich) Ähm the girl who tells the story, äh, is called Mary, eh, she has her, äh, her - Ta- Na-E-Ka, äh, right in front of her, and she is very afraid, äh, as her cousin is too. And, ehm- 1, 7 identifiziert Kommunikationsebenen im Text (9), erkennt Charaktere und Konstellationen (10), L What’s his name? <?page no="132"?> 132 S 3 Roger. spricht über Einstellungen/ Gefühle der Charaktere (11), L Mhm. S 3 And the most families of their tribe, äh, don’t use this tradition, but her grandfather is very traditional and so they must do- 1, erkennt unterschiedliche kulturelle Perspektiven (12) L Mhm. S 3 Their Ta-Na-E-Ka. L And, äh, what happened then? In the story. We know that they have to do their Ta-Na-E-Ka, but, ähm, is there any plot in the story? Handlung? - S 15 ? S 15 Ja, ähm, Mary lends five dollars from her teacher, so, ähm, she can cheat, eh, she doesn’t ja, mogeln, cheating. 1, benennt die dargestellte Veränderung (13), äußert sich kritisch zu Handlungen (14) 12: 18 L Is she allowed to have any money with her? L fragt nach S 15 No. L And how does the teacher react. L fragt nach S 15 Äh, she, ähm-ähm, thinks, also the teacher thinks it’s for the, ähm (unverständlich: ritual) but, äh the teacher doesn’t know, äh, what for. 1 koordiniert Perspektiven (15), 14 L Ja. S 15 So she doesn’t know that it’s cheating. L Aha. Ok. Thank you, that’s ähm is there-are there any unknown words in the story, we have to talk about? - S 2 tell me the page and the line. L initiert Wortschatzarbeit Tabelle 21: G10 I (1. u. 2. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 201 - 234) Wie dem Transskript vorangestellt, können in der Sequenz zwei unterschiedliche Typen der unterrichtlichen Auseinandersetzung ausgemacht werden, die sich auf den Inhalt und die Darstellungsweise beziehen lassen. In den zwei von den Lernenden gelesenen Seiten der Short Story werden die Charaktere Mary, Roger, deren Großvater, die Lehrerin der beiden sowie die Besonderheiten des Rituals (Regeln, Eintrittsalter, die Ausbildung der beiden durch den Großvater) eingeführt. Handlungen und Motive sind vor allem mit Marys Entscheidung verbunden, sich verbotenerweise Geld von ihrer Lehrerin zu leihen und als Territorium den Fluss und den dort vermuteten Anleger zu wählen. Diese Aspekte werden von den Lernenden im Unterrichtsgespräch genannt und - wie es noch zu zeigen gilt - auch kritisch bewertet. So reagiert die Schülerin S 23 als erstes auf die Lehrerfrage und verweist - allerdings sprachlich nur fragmentarisch realisiert - mit dem Begriff <?page no="133"?> 133 „survival“ auf einen Aspekt des kulturellen Konzeptes Ta-Na-E-Ka. Auf die Aufforderung von L, Ergänzendes beizutragen, beteiligt sich die Schülerin S 19 an der Interaktion und spricht über das kulturelle Konzept (7), indem sie Informationen, die der Textoberfläche zu entnehmen sind und als Eintrittsalter mit den Regel des Rituals in Verbindung stehen, anführt. Ergänzt wird dies im Unterrichtsgespräch von S 4 , der implizit auf den Beitrag einzugehen scheint und ebenfalls über das kulturelle Konzept Ta-Na-E-Ka spricht. Darüber hinaus lässt sich in der Äußerung erkennen, dass der Schüler auf kulturelle Gemeinsamkeiten verweist (8), die er zwischen der im Text angelegten fremden und der eigenen Kultur erkennt, indem er davon spricht, dass für ihn der Initiationsritus, festgemacht an der Formulierung „flowering of adulthood“, Ähnlichkeiten mit der ihm vertrauten Konfirmation aufweist. Interessant ist dabei, wie die unterschiedlichen Schülerbeiträge ineinander greifen, denn ausgehend von der Anmerkung, es handele sich um einen Überlebenstest der Indianer, werden Regeln des Rituals als Tradition gefasst, worauf dann - ohne, dass dies durch einen lehrerseitigen Impuls eingeleitet wurde - der Schüler das im Text präsentierte Konzept mit einem ihm vertrauten in Verbindung bringt. Enthalten ist in diesen Schülerleistungen der kulturelle Kontext der Short Story, der zunächst durch das fremde Konzept repräsentiert wird. Und dass man sich auf dieses Konzept einlässt, dass versucht wird, Fremdes und die damit einhergehenden Normen und Wertvorstellungen nachzuvollziehen, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass eben auch Gemeinsamkeiten zwischen dem eigen- und dem fremdkulturellen Kontext angesprochen werden. Das Konzept Ta-Na-E-Ka steht auch in den folgenden Beiträgen im Vordergrund, denn die Lehrerin reagiert nicht auf die von S 4 thematisierten Gemeinsamkeiten, sondern fragt vielmehr nach, was es denn bedeute, eine Tradition zu durchlaufen, wie sich dies beschreiben ließe. Die Schülerin S 19 nennt darauf - allerdings in grammatischer Hinsicht nicht korrekt - das Überstehen bzw. Überleben von fünf Tagen in der Wildnis als Angelpunkt der Tradition. Auf die Nachfrage von L, wo dies stattzufinden habe, kommt eine Fehlleistung ins Spiel, denn „jungle“ kann nicht als Handlungsort gewertet werden, wobei dies von der Schülerin eher als Frage denn als Antwort formuliert wird. Dass diese Antwort von der Lehrerin als nicht korrekt zurückgewiesen wird, lässt sich sowohl am kurzen Lachen als auch am Aufrufen eines Mitschülers erkennen. Von S 4 wird dann als Schauplatz „wood“ angeboten, was die Lehrerin mit „in the forest“ implizit korrigiert. Versucht man die in den Äußerungen innewohnenden Teilleistungen, denen als verstehend zu wertende Leseleistungen vorausgegangenen sind, auf die im Modell von Burwitz-Melzer formulierten Deskriptoren zu beziehen, so lassen sie sich vor allem mit dem Bereich der interkulturellen Kompetenz im Arbeitsschritt „Sinnkonstitution I“ in Verbindung bringen (vgl. 2007a: 140). In der Sequenz, und zwar getragen durch das <?page no="134"?> 134 aufeinander Aufbauen der einzelnen Schülerbeiträge, gelingt es den Lernenden, fremdkulturelle Elemente - hier vor allem landeskundliche - zu erkennen und diese zudem mit eigenkulturellen Elementen zu vergleichen (vgl. ebd.). Anzumerken ist, dass entsprechend des Unterrichtsgesprächs Aspekte auszumachen sind, die sich auf den Bereich der Anschlusskommunikation beziehen lassen. Vor allem im zweiten Teil der Sequenz zu erkennen und durch den discourse-orientierten Impuls der Lehrkraft eingeleitet, sollen diese nun betrachtet werden. Auch hier lässt sich das Geschehen dem Arbeitsschritt der „Sinnkonstitution I“ zuordnen (2007a: 140), da vor allem die Auseinandersetzung mit den aus dem ersten Abschnitt zu entnehmenden Eindrücken, sprich ein Austausch über „den Text, seine Bilder, seine Inhalte, seine Charaktere und seine zentralen Konflikte“ (ebd.), in der sich zeigenden Anschlusskommunikation im Vordergrund steht. Es werden allerdings auch Aspekte berührt, die sich im Modell von Burwitz-Melzer eher dem Arbeitsschritt „Sinnkonstitution II“ und dem Bereich der affektiven und kognitiven Kompetenzen zuordnen lassen, reagieren die Lernenden doch auf den Impuls der Lehrkraft und thematisieren Bestandteile, die mit der Darstellungsweise des Gelesenen in Verbindung stehen und die am ehesten zu dem zu gehören scheinen, was im Deskriptor als eine analysierende Auseinandersetzung mit Narrativik beschrieben wird (vgl. ebd.). Die Frage von L bezieht sich sowohl auf die Erzählperspektive als auch die Charaktere - von ihr allerdings als Personen bezeichnet - und begründet damit die sich entfaltende Situation. Interaktionell ist es der Schüler S 3 , der als erster auf die Frage reagiert, sich zielsprachlich äußert (1) und, indem er Mary als Ich-Erzählerin benennt, eine der Kommunikationsebenen im Text identifiziert (9). Darüber hinaus erwähnt der Schüler, indem er von Marys Cousin Roger spricht, Charaktere und deren Konstellationen (10), und kommt in Zusammenhang mit dem kulturellen Konzept Ta-Na-E-Ka (7) auf Einstellung und Gefühle der Charaktere zu sprechen (11). Dies geschieht, indem er fast beiläufig anfügt, dass sich beide vor dem Ritual fürchten. Hier zeigt sich, wie komplex der in der Schüleräußerung enthaltene Grad an Auseinandersetzung ist, denn in der einfachen Aussage werden so Einstellungen und Gefühle der literarisch präsentierten Charaktere nachgezeichnet. Dies wird zusätzlich verdichtet, fügt der Schüler doch mit dem Hinweis auf das Verhältnis von Stamm und Marys Familie an, dass es im Text unterschiedliche kulturelle Perspektiven zu identifizieren gibt (12), wodurch von ihm der kulturelle Kontext des literarischen Textes thematisiert wird, was zudem voraussetzt, dass am Text erkannt wird, dass es sich bei dem Ritual um ein kulturelles Konzept handelt, das als nicht unstrittig im fremdkulturellen Wertesystem zu gelten hat, über das es Auseinandersetzungen gibt, die zwischen Moderne und Tra- <?page no="135"?> 135 dition zu verorten sind - im Text repräsentiert durch Marys und Rogers Skepsis hinsichtlich der Zeitgemäßheit des Rituals. Die oben angesprochen Aspekte der Narrativik kommen bei der nächsten Frage von L ins Spiel, geht es doch ausdrücklich um dargestellte Veränderung. Darauf reagiert S 15 , der einen Aspekt der dargestellten Veränderung auswählt (13) und sich in diesem Zusammenhang Marys Handlung kritisch nähert (14), indem er das Leihen der fünf Dollar von der Lehrerin - obwohl mit sprachlichen Schwierigkeiten - als Mogeln bzw. als Regelverstoß wertet. An dieser Stelle hakt L nach und zielt mit ihrer Frage darauf, ob diese Handlung regelkonform sei. Der Schüler S 15 verneint und bindet auf die weiterführende Frage von L nach der Reaktion der Lehrerin deren Perspektive mit ein, koordiniert so die unterschiedlichen Perspektiven auf den thematisierten Handlungsaspekt (15), und gibt zu verstehen, dass die Lehrerin aus Unkenntnis der Ritualregeln nicht wissen konnte, dass sich Mary durch das Geld einen unerlaubten Vorteil verschaffen will. Trotz ihrer Kürze bestätigt sich in den beiden Teilen der Sequenz eine der für das Erkenntnisinteresse der Studie zentralen Arbeitshypothesen: Denn obwohl die Lernenden auf die von L gesetzten Impulse auch mit Äußerungen hätten reagieren können, die sich nur auf das text model (cf. 4.1.1, 4.3) beziehen, stechen doch gerade die mit dem situation model in Verbindung stehenden Konstruktionsleistungen der Schüler hervor. Anstatt also die im Spannungsfeld von story und discourse (vgl. Chatman 1978) dargestellten Veränderungen einfach nur zu benennen, interpretieren die Lernenden Dargestelltes, setzen das Erfahrene mit dem darin enthaltenen kulturellen Kontext in Verbindung, nehmen dazu Stellung, koordinieren unterschiedliche kulturelle Perspektiven und schaffen so ihr eigenes Verständnis, das sich sowohl aus der Interaktion zwischen Leser und Text (individuell) als auch der Interaktion zwischen Leser und Leser im Unterricht (gemeinschaftlich geteilt) speist. Im letzten Teil der Sequenz werten beide Schüler die dargestellten Handlungen und versuchen, aus ihnen Motive der Handelnden abzuleiten. Fragt man nach den Unterschieden, so zeigen sich zwar die Beiträge von S 3 komplexer, spricht er doch mehr Aspekte an. Es ist aber anzuführen, dass dabei auch relativ viel Reproduktives zum Tragen kommt, der Schüler Handlungen und Geschehnisse zunächst einmal wiedergibt. Allerdings liegen diesen zu beobachtenden Teilleistungen Prozessstufen zugrunde, auf die im Sinne vom Performanz-Kompetenz-Verhältnis nur zu schließen ist. Es handelt sich vor allem um Leseleistungen, die im Modell von Burwitz-Melzer gemäß des Arbeitsschritts „Sinnkonstitution I“ den affektiven und kognitiven Kompetenzen zugeordnet werden und als „automatisierte, hierarchieniedrige und strategisch-zielbezogene hierarchiehöhere Leseprozesse“ beschrieben werden (2007a: 140). Diese Prozessebenen sind für beide Schülerbeiträge als Voraussetzung zu werten. Dass im Vergleich die Aussage von S 15 weniger Informati- <?page no="136"?> 136 on enthält, ist nicht zuletzt damit zu erklären, dass Reproduktives bereits von S 3 abgedeckt wurde, unnötige Wiederholungen also vermieden werden. Das Komplexe ist in der Leistung von S 15 eher in der Wertung der Handlung zu sehen, die voraussetzt, dass die im fremdkulturellen Konzept Ta-Na-E-Ka enthaltenen Wertvorstellungen nachvollzogen werden, denn vor dieser Folie findet die Bewertung statt. Auf diese Phase im Unterricht folgt eine Sequenz, in der die Wortschatzarbeit im Vordergrund steht. Hier wird von der Lehrkraft ein Bogen zurück zum Leseauftrag geschlagen, galt es doch auch, unbekannte Wörter mit einer bestimmten Farbe zu markieren, die nun im Unterrichtsgeschehen besprochen bzw. geklärt werden. L Aha. Ok. Thank you, that’s ähm is there-are there any unknown word in the story, we have to talk about? - S 2 tell me the page and the line. L initiiert Wortschatzarbeit S 2 Ähm, page one, line ten. Skirmish (spricht falsch aus). fragt nach unbekanntem Wort (16) L Skirmish. It’s in the, ähm, description. L korrigiert L verweist auf Annotationen S 2 Oh. L (liest vor) A minor battle. A battle you know what that is? L umschreibt zielsprachlich S 2 Ja. L A small fight. L liest Worterklärung vor 12: 19 L Ähm, S 1. S 1 Nightmares, in the first line of the first- 16 L Nightmare, what is a nightmare? S 3 ? L gibt Wortschatzfrage an Plenum zurück S 3 Alptraum. bietet Übersetzung an (17) L Mhm. More unknown words? Not much, are there? S 8 ? […] S 8 Fafurthermore (spricht falsch aus). 16 L Furthermore. Who knows that word? - S 11. L korrigiert L gibt Wortschatzfrage an Plenum zurück S 11 Des-desweiteren. 17 L Ja. Weiterhin, deshalb. S 14 ? S 14 Ähm, page two, line eight. Originators (spricht falsch aus). Originators (korrigiert sich selbst). 16 <?page no="137"?> 137 L Mhm. 12: 20 L S 15. S 15 Ähm, vielleicht, die Gründer, die Ursprünge. 17 L Ja. S 8 Ursprünge. 17 L Original, originators. Die Begründer, oder die Erfinder… S 7 ? L übersetzt S 7 Ähm, page four, line seventeen-seventeen. 16 L (liest vor) are you trembling? ...What is trembling? S 8 ? S 8 Zittern? 17 L Ja… S 1 ? Tabelle 22: G10 I (1. u. 2. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 235- 266) Dicht zu beschreiben ist in dieser Sequenz die Interaktion und die damit einhergehenden Strategien und Taktiken. Von L initiiert richtet sich die Wortschatzarbeit am sprachlichen Material (genauer: an der Wortebene) aus. Diese Phase rekurriert auf den doppelten und lektürebegleitenden Leseauftrag, in dem sowohl Schlüsselbegriffe als auch unbekannte Wörter unterstrichen werden sollten. Im didaktischen Setting ist die Wortschatzarbeit vor allem im Zusammenhang mit rezeptiven Teilleistungen zu sehen, die sich auf den Leseprozess beziehen lassen. Dass aber die nicht verstandenen Wörter keine Missverstehensleistungen hervorgerufen haben, der Inhalt des Gelesenen also orientierend nachvollzogen und verstanden wurde, geht aus der vorangegangenen inhaltlichen Auseinandersetzung hervor - so lässt es sich jedenfalls aus den Schülerbeiträgen schließen. Die Entscheidung der Lehrkraft, die Wortschatzarbeit auf die inhaltliche Auseinandersetzung folgen zu lassen, kann einerseits in diesem Kontext situiert werden, lässt sich andererseits aber auch dahingehend interpretieren, dass als didaktische Entscheidung zunächst die inhaltliche Verstehensleistung und nicht das nichtverstandene Lexem im unterrichtlichen Geschehen im Vordergrund stehen sollte. Zudem spielt damit dann auch der literarische Kontext des Wortmaterials innerhalb der Wortschatzarbeit eine größere Rolle, indem darüber nach der inhaltlichen Auseinandersetzung gesprochen wird. Durch die inhaltliche Auseinandersetzung kann im Unterricht ein Kontakt zu den Welterfahrungen der Lernenden hergestellt werden, wodurch Teilleistungen beim Lesen aktiviert werden können, die topdown Prozessen zuzuordnen sind (cf. 4.1). S 2 reagiert als erste auf die Lehrerfrage und nennt „skirmish“, das sie falsch ausspricht, als unbekanntes Wort. Als in den Daten innewohnendes Phänomen lässt sich diese Schülerhandlung damit umschreiben, dass nach unbekannten Wörtern gefragt wird (16). L korrigiert darauf die Aussprache, ver- <?page no="138"?> 138 weist auf die gegebenen Annotationen im Text, liest die dort zu findende Erklärung vor und fragt darauf nach, ob es von der Schülerin verstanden wurde. Diese bejaht, worauf die Lehrerin eine zielsprachliche Umschreibung anbietet. Hier beschränkt sich die Interaktion auf ein Schüler-fragt/ Lehrerantwortet Schema. Anders hingegen zeigt sich dies in dem von S 2 eingeleiteten Aspekt der Wortschatzarbeit, denn die Lehrerin gibt die Frage (16) nach dem Begriff „nightmare“ an das Plenum zurück, worauf der Schüler S 2 eine Übersetzung anbietet (17), die von der Lehrerin bestätigt wird. Ähnliches zeigt sich auf in der Interaktion um das Wort „furthermore“. Auch hier kommt eine Übersetzung aus dem Plenum. Neues zeigt sich in der Sequenz erst innerhalb der Auseinandersetzung um den Begriff „originators“: Zwar wird auch hier von der Lehrerin das Plenum hinzugezogen, aus dem Übersetzungen angeboten werden, die Lehrerin entschließt sich aber dazu, selbst eine Übersetzung für den Begriff zu nennen. Die Wortschatzarbeit dauert bis etwa 12: 23 und geklärt werden die Begriffe „trembling“, „to be required to“, „mere“, chilly“, „fiercely“ und „gather“. Da sich ganz ähnliche Interaktionsmuster im Verlauf der Sequenz zeigen (S fragt nach unbekanntem Wort, S bietet Übersetzung an, L bietet Übersetzung an/ umschreibt zielsprachlich), wird hier auf eine weitere Betrachtung der Sequenz verzichtet. Aspekte der Wortschatzarbeit spielen jedoch in einem Großteil der Stunden des Samples eine Rolle und werden aufgegriffen, wenn sich Besonderheiten in der Interaktion und auch in den durchscheinenden Strategien und Taktiken zeigen. Auf die Wortschatzarbeit folgt eine Arbeitsunterbrechungsphase von etwa 7 Minuten, an die sich die letzte Arbeitsphase der Doppelstunde anschließt. Eingeleitet wird das Geschehen durch den Arbeitsauftrag der Lehrkraft, der mit einem der literarischen Charaktere in Verbindung steht. Die Lernenden sollen mit einer weiteren Farbe Textstellen markieren, in denen Hinweise auf Marys Cousin Roger, dessen Charakter, sein Alter, seine Gefühlslage und sein Vorhaben enthalten sind. Dabei weist die Lehrerin auf Lesetechniken hin und regt dazu an, die zuvor markierten Schlüsselbegriffe der Absätze zur Orientierung zu nutzen. Das Geschehen in der Lesephase lässt sich dann damit beschreiben, dass die Lernenden den Text entsprechend der Aufgabenstellung gezielt nach Informationen und Charakterisierungen Rogers absuchen und selektiv lesen (5b). Im Anschluss an die Lesephase entwickelt sich ein Unterrichtsgespräch, das nachfolgend untersucht werden wird. 12: 23 PAUSE 12: 31 Allgemeine Unruhe, Gemrumel L Sit down again, please. Allgemeine Unruhe L We were talking about ähm what happened, and who is there in the story, and you, ähm, said it already, there’s the L formuliert Aufgabenstellung <?page no="139"?> 139 cousin Roger, and I want you now to take a third colour, and underline the information you get about Roger. 12: 32 S x Über wen? S n Lachen Allgemeine Unruhe L What kind of person is, what is he doing, how old is he, what is he going to do, how does he feel? Arbeitsphase beginnt. L As you did underline the keywords of each paragraph already, you only have to scan the text, and look for the paragraphs where Roger is mentioned, and then you can underline (unverständlich). You don’t have to read word for word again. L weist auf Lesetechniken hin 12: 33 Arbeitsphase, sehr ruhig bearbeiten Aufgabenstellung (6) lesen selektiv (5b) 12: 34 Schülergruppen reden miteinander, unverständlich, L wischt die Tafel 12: 35 L schreibt „Roger“ als Überschrift an die Tafel 12: 37 Einige SuS schon fertig, Gemurmel, werden von Mitschüler ermahnt 12: 38 L Ok, what do we learn about Roger in the text? You can give evidence from the text, tell us maybe pages and lines. Find information about Roger in the text. S 27 ? Ähm, S 23 ? Nein, wie heißt sie den jetzt - S 25. L leitet Phasenwechsel ein S n Lachen S 25 Ähm page three, äh, line four (liest vor) Roger was born only three days after Mary. 1, gibt Textstelle an (18), benennt Aspekt der Charakterisierung (19) [liest aus dem Text vor (21)] L (schreibt an) Ok. (schreibt weiter an)… S 8. L nutzt Medien S 8 Page one, äh, line seventeen. A, äh, eighteen, (liest vor) he’s going to become an accountant. 1, 18, 19 [21] […] 12: 39 L S 22. S 22 He’s, also, the same line, he’s the cousin of Mary. 1, 18, 19 L Mhm (schreibt an). L nutzt Medien S 22 Page one, line seventeen. 18 L S 12. S 12 His full name is Roger Deerleg. 1, 19 L Mhm. Ok. L kommentiert Schü- <?page no="140"?> 140 leräußerung(en) S n Lachen L Where is it in the text? L fragt nach Textstelle S 3 Same line. 18 S 12 Same line. 18 L (schreibt an) L nutzt Medien 12: 40 L S 27. S 27 And also on page three, line, in line four - (liest vor) he was being trained for Ta-Na-E-Ka with Mary. 1, 18, 19 [21] L Mhm (schreibt an). L S 7. S 7 Page three, line five (liest vor) he was (unverständlich) 1, 11 [21] L He was what? L fragt nach S 7 Frightened (spricht falsch aus). 11 L (korrigiert) Frightened. Ja (schreibt an)… S 10. S 10 Ähm, page three, line nine (liest vor) he’d give anything to get out of it. 1, 11, 19 [21] 12: 41 L Ja (schreibt an). L nutzt Medien L S 20. S 20 I think he’s eleven years old, ähm, page one, line ähm, thirteen (liest vor) it was, ähm, eleven was the magic word among the Caws, it was the time of Ta-Na-E-Ka. 1, 18, 19 [21] L Obviously they are the same age. L kommentiert Schüleräußerung S 20 Yes. S 2 Ähm, the same line, ähm, (liest vor) he thinks it’s a lot of hooey. 1, 11, 19 (21) S n Lachen S 3 Hooey? 12: 42 L Hooey. Yeah. S 3 Hooey. S n Lachen L Ok, it’s äh why he thinks, he would give anything to get out of it. So what is he doing in the end? S 18 ? L fragt nach S 18 Äh, page four, line twenty-five, äh, twenty-four, twenty-five, he’s silly. 1, 18, [21] äußert sich (kritisch) zu Handlungen (14) L Schreibt an L nutzt Medien S n Lachen S 18 Don’t go to the, äh, river. 1, 14 L Yes, but you don’t - I didn’t ask to, äh, say your own opinion L weist Schüleräuße- <?page no="141"?> 141 about Roger (unverständlich) rung zurück L reformuliert Auftrag S n Lachen L I did (lacht), I did ask you to get information from the text. Thank you. - S 14 ? 12: 43 S 14 Page three, line twenty-four, Roger ähm don’t like to eat a grass-hopper, because he turned green when he see it. 1, 18, 19 L Mhm (schreibt an). L nutzt Medien S 14 (unverständlich) think about eat ähm, grass-hopper. L So how does he feel? - How does he feel about Ti--Ta-Na-E- Ka? S 4 ? L fragt nach Einstellungen des Charakters S 4 He thinks it’s silly. Ähm, the Ta-Na-E-Ka is silly, because - 1, 11 L I’m not sure if he thinks it’s-it’s silly. L kommentiert Schüleräußerung S 8 Doch, das sagt der aber. rechtfertigt sich muttersprachlich (20) L Can you find it in the text? L fragt nach Textstelle S 8 What a lot of hooey. 1, 18 S 4 What a lot of hooey, I think- S 8 Damit sagt er doch alles. 20 S 4 Ähm, on page-on page three, line nine (liest vor) what a lot of hooey. I think this mean he don’t want to do it, because it’s silly. 1, 18, 11 [21] 12: 44 L Ok. L S 14. S 14 He’s really afraid about- 1, 11 L (schreibt an)… S 3. L nutzt Medien S 3 And I think he is also sick of all the tradition. 1, 11 L Can you find it in the text? L fragt nach Textstelle S 3 Ehm, no. S n Lachen L S 22 ? S 22 But he said that it is ok to do it for five days. 1, 11, 18 L Ok. S 22 Page three, line twelve. L schreibt an 12: 45 Allgemeine Unruhe L S 15. Shhh! S 15 Page one, line seventeen- 18 L Ermahnt einzelne SuS L Can you say it again? S 15 Page one, line seventeen, he don’t want to be a worr-warrior. 1, 11, 18, [7] L Ja. So he’s and he wanted to be an accountant and not a warrior (schreibt an). Ich schreib mal doesn’t, ok (korrigiert). L paraphrasirt Schülerantwort <?page no="142"?> 142 (unverständlich) L So I did sum up the things you mentioned about Roger at the blackboard, and your task is now. L initiiert Phasenwechsel […] L To work in pairs. And find, and think about what could be Roger’s experiences during Ta-Na-E-Ka. We are we don’t have it in the text. We don’t know. They say good-bye to each other at the end of part one of the story, and we don’t know what-what is going to happen. We don’t know what is going to happen to Mary, and we don’t know what is going to Roger. And I want you to think about what could (betont) happen to him. You know him a little bit now. We can you stop it please S 4 (klackert mit dem Kugelschreiber). L formuliert Aufgabenstellung S 4 Was hab ich gemacht? L The noise with the pen, thank you. 12: 47 L We know wh-how he feels and what he thinks about the traditions, and, ähm, I want you now to think about a very short scene, don’t write a long-long story. Very short scene, what could, describe a situation. How he could be in. - Ja? You know what his task is, you know what he thinks about it, and I want you to describe a very short situation, he is going to be in during the following five days. Will he be the big warrior, will he survive with only one knife eating, ähm, worms, or is he too afraid to (unverständlich). Sssss! L formuliert Aufgabenstellung Tabelle 23: G10 I (1. u. 2. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 323 - 440) Die Lehrerin fragt dezidiert nach Textbelegen und bittet auch darum, die Textstelle zu nennen. Damit in Zusammenhang steht ein Interaktionsgesichtspunkt, der später noch eingehender betrachtet werden soll. Zunächst ist es aber so, dass die Lernenden nach und nach Aspekte der Charakterisierung (19) Rogers angeben, dies in der Zielsprache mündlich äußern (1) und zudem mit Textstellen belegen (18). Im Geschehen kursiv markiert zeigt sich, dass die Lernenden die jeweilige Textstelle aus dem Text vorlesen (21). Um aber Vorlesen längerer Passagen von solchen Phänomenen zu unterscheiden, wird sich innerhalb dieser Sequenz dafür entschieden, die entsprechende Codierung in Klammern zu setzen, da es ausschließlich um Textstellen, also sehr kleine Einheiten des literarischen Textes geht. Die von den Lernenden geäußerten Aspekte hält die Lehrkraft an der Tafel fest. Es äußern sich S 25 , S 8 , S 22 , S 12 , S 27 , S 7 , S 10 , S 20 sowie S 2 und führen Textstellen an, die etwas über Rogers Alter, seinen Berufswunsch Buchhalter, seine familiäres Verhältnis zu Mary, seinen vollen Namen, sein gemeinsames Training mit Mary und seine Einstellungen und Gefühle (11) dem Ritual gegenüber verraten. Sukzessive entwickelt sich so im Unterrichtsgespräch eine Charakterisierung Rogers, die die <?page no="143"?> 143 Schülerinnen und Schüler durch textnahes bzw. selektives Lesen dem Text entnehmen und die von der Lehrerin an der Tafel festgehalten wird. Erstellt wird damit ein detailliertes Bild eines der Charaktere, was sich als verstehend zu wertende Leseleistung dem Arbeitsschritt „Sinnkonstitution I“ im Modell von Burwitz-Melzer und dort den kognitiven und affektiven Kompetenzen sowie der Anschlusskommunikation zuordnen lässt (vgl. 2007a: 140). Dieses Zusammentragen von Aspekten der Charakterisierung und Einstellungen und Gefühlen ändert sich in der Mitte der Sequenz (ca. 12: 42) dahingehend, dass der Schüler S 18 Rogers Verhalten als „silly“ wertet, er damit Rogers Handlung bewertet (14), indem der Schüler sich auf Rogers schlechte Wahl des Territoriums bezieht. Dies wird von der Lehrkraft mit der Begründung zurückgewiesen, dass nicht nach der eigenen Meinung, die über konkrete Textbelege hinausgeht, sondern nach charakterisierenden Textstellen gefragt wurde. Dass es aber den Lernenden ein Bedürfnis zu sein scheint, textnahes Lesen bzw. close reading nicht nur auf das Identifizieren von Textoberflächenphänomenen zu reduzieren, sondern Erfahrenes, sprich Handlungen, Beschreibungen, Charaktersierungen sowie Einstellungen und Gefühle des Charakters eben auch zu bewerten und dazu Stellung vor der Folie der eigenen Erfahrung zu nehmen, wird daran deutlich, dass von S 4 - nachdem durch S 14 ein weitere Aspekt der Charakterisierung samt Textbeleg genannt wurde - auf die Frage der Lehrerin nach Rogers Einstellung gegenüber dem Ritual erneut mit einer Wertung geantwortet wird. Der Schüler umschreibt Rogers Haltung als ablehnend, worauf die Lehrerin skeptisch reagiert und der Schüler seine Interpretation in der Muttersprache rechtfertigt (20). Auf die Frage nach einem Textbeleg führt er das Roger zuzuschreibende „what a lot of hooey“ an und bekräftigt - ebenfalls muttersprachlich kommuniziert - damit seine Lesart von Rogers ablehnender Haltung gegenüber dem Ritual. Unterstützung erfährt er von S 8 , der die entsprechende Textstelle angibt und die Vokabel sinngemäß mit dem Attribut „silly“ umschreibt. Von der Lehrerin wird dieser Beleg akzeptiert und S 14 merkt an, dass Roger Angst vor dem Ritual habe (11). S 3 greift Rogers Haltung erneut auf und interpretiert sie dahingehend (11), dass dieser die Tradition Leid habe. Allerdings muss er auf die Frage der Lehrerin, ob diese Deutung am Text festzumachen sei, verneinen. Interessant ist an dieser Stelle der Sequenz erneut, dass es den Lernenden nicht auszureichen scheint, lediglich Informationen der Textoberfläche zu entnehmen, sondern, dass - ähnlich wie in der zweiten Sequenz der Doppelstunde - dem text model sogleich die eigene Lesart als situation model of the text zur Seite gestellt wird, das dann eben auch im Unterrichtsgespräch kommuniziert wird. Am Text zu belegende Einstellungen und Gefühle Rogers spielen dann in der Aussage von S 22 wieder eine Rolle, indem die Schülerin anmerkt, die geforderten fünf Tage seien für Roger „ok“. Mit der sprachlich <?page no="144"?> 144 nicht korrekten Anmerkung von S 15 , Roger wolle kein „warrior“ sein, kommt implizit (und daher in Klammer gesetzt) ein interkultureller Aspekt ins Spiel, denn mit dem Begriff „warrior“ geht ein fremdkulturelles Konzept einher (7), das von S 15 allerdings nicht direkt thematisiert wird. Die Lehrerin greift dies auf und stellt „warrior“ Rogers Berufswunsch „accountant“ gegenüber. Mit dem Hinweis auf die an der Tafel paraphrasiert festgehaltenen Ergebnisse der Charakterisierung leitet die Lehrkraft einen Phasenwechsel ein und formuliert als Aufgabenstellung, eine Mind Map über Rogers mögliche Erlebnisse während des Ta-Na-E-Ka in Partnerarbeit zu erstellen. Als vorbereitende Leistungen kann die Beschäftigung der Lernenden mit dem Charakter gewertet werden, was so auch von der Lehrerin angesprochen wird, verweist sie doch darauf, dass die Lernenden Roger jetzt schon etwas kennen würden. In der Aufgabenstellung hebt sie zudem hervor, dass man als Leser bislang nichts über die Erlebnisse der beiden erfahren habe und dass es Ziel sei, eine Situation zu beschreiben, in die Roger während der fünf Tage des Rituals geraten könne. In der Aufgabenstellung ist demnach enthalten, dass sich die Lernenden mit Leerstellen auseinandersetzen, denn Rogers Erlebnisse werden in der Short Story nicht erzählt. Die letzten 15 Minuten der Doppelstunde werden für diesen Arbeitsauftrag verwendet, wobei 10 Minuten auf das Planen und 5 Minuten auf die ersten Präsentationen im Plenum entfallen. Da Rogers Erlebnisse im Einstieg der folgenden Stunde präsentiert werden, sollen sie erst dort eingehender betrachtet werden. 6.2.2.2 3. Stunde G10 I Die Schülerinnen und Schüler stellen die in der vorangegangenen Stunde in Partnerarbeit angefertigte Mind Map zu Rogers Erlebnissen während des Ta- Na-E-Ka mündlich im Unterricht vor. Im Vordergrund stehen die von den Lernenden formulierten Hypothesen. Die Interkation, die zwar auf der schriftlichen Vorbereitung durch die Mind Map basiert, ist mündlich realisiert. 8: 53 L You did ähm, write a mind-map yesterday and I did ask you to äh, find ideas what could happen to Roger, Mary’s cousin. And, ähm, we listened to S 18… and S 12 and who wants to present the idea of the group now? (Nimmt S 1 dran) S 1 Ähm, Roger goes, äh, and find good wood and a good place, then he build a tent out of twigs and leafs, and he makes a fire to keep warm and for cooking, ähm, then he goes to find something to eat ähm, he finds grasshoppers, berries, nuts and then he catch-catches a rabbit- 1 formuliert Hypothesen (22) [füllt Leerstellen (23)] 8: 54 And, äh, the five days he lives from berries, and the nuts, <?page no="145"?> 145 S 1 and the rabbit and after that he came home and everything is good. S x Was ist das denn (unverständlich). S n Lachen S 14 Eine Geschichte wo er net stirbt. L So he’s a big warrior in the end. - Another presentation? L kommentiert Schüleräußerung Tabelle 24: G10 I (3. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§3 - 10) Die Schülerin S 1 stellt ihre Ergebnisse - mit kleineren grammtischen Problemen (Flexion, Tempus) - mündlich in der Zielsprache vor. Fragt man also nach dem kommunikativen Handeln, so äußert sie sich zielsprachlich (1). Mit ihrer Minimalerzählung gelingt es der Schülerin, den vorausgegangenen Arbeitsauftrag umzusetzen und Hypothesen über Rogers Erlebnisse zu formulieren (22). Erzählt wird der Verlauf als Aneinanderreihung von Handlungen Rogers, die sich - und das ist das eigentlich Interessante - an Textbezügen orientieren. Es liegt also der Schülerleistung implizit zugrunde, und daher ist diese Codierung auch in Klammern gesetzt, dass durch die Minimalerzählung der Schülerin im Text angelegte Leerstellen gefüllt werden (23), indem sie die im Text beschriebenen Regeln des Rituals für Rogers Erlebnisse nutzt, denn sie lässt sich diesen an die Regeln, besonders an jene, die sich auf die Verpflegung beziehen, halten. Die Strategien und Taktiken, die dabei durchscheinen und neben der Interaktion auszumachen sind, stehen vornehmlich damit in Zusammenhang, im Schülerprodukt Roger den Initiationsritus erfolgreich und regelkonform durchlaufen zu lassen. Anders verhält es sich hingegen im zweiten Beispiel, das hier besprochen werden soll: S 13 Ähm, we think that Roger tries to survive alone. First he is su successful, but after the second day he is very hungry because he doesn’t find any more grasshoppers- 1 22 [23] führt Motive der Charaktere an (24) S n Lachen S 13 The he tries to find Mary. He wants to catch little animals (spricht falsch aus), animals (korrigiert sich)and survives the Ta-Na-E-Ka with (unverständlich). 8: 55 L Can you repeat the last sentence please? S 13 Ähm, he decides to find- L Speak a little bit slower. S 13 He decides to find Mary. He wants to catch little anianimals and survive the Ta-Na-E-Ka with her together. L Ok. So you’ve read. Äh, that he finds Mary? L paraphrasiert S 13 Yes. 1 L Where does he- <?page no="146"?> 146 S n Lachen L Where. - What do you think about (unverständlich). Where could you find Mary? ... S 12. L fragt nach S 12 By the river. 1, 4 L Ok, near a river. Where else could they meet? L korrigiert S x Unverständlich L Ok. S 18. S 18 In a hotel. 1, [22], [4] S n Lachen L Why do you think in a hotel? L fragt nach S 18 (unverständlich) She has money enough for some- 1, 22 S x Fünf Dollar! 8: 56 L Unverständlich Tabelle 25: G10 I (3. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§13 - 36) Der Schüler S 13 präsentiert ebenfalls mündlich in der Zielsprache (1), ist doch das kommunikative Handeln an die Situation gebunden. Die angelegten Leerstellen, die der Schüler ebenfalls indirekt durch die Minimalerzählung füllt (23), unterscheiden sich von dem vorangegangenen Schülerbeitrag dahingehend, dass die von ihm angebotenen Hypothesen (22) nicht nur als Aneinanderreihung von Handlungen realisiert werden, sondern dass Roger im Schülerprodukt eine Entscheidung trifft, die den Regeln des Rituals, die dem Ausgangstext zu entnehmen sind, zuwider läuft. Dadurch, dass der Schüler Roger sich dafür entscheiden lässt, nach Mary zu suchen, um gemeinsam mit ihr Kleinwild zu jagen, werden Motive für die Handlungen des Charakters angeführt (24), nicht zuletzt dadurch, dass die Entscheidung auf den Mangel an Nahrung zurückgeführt wird. Die Unterschiede zwischen beiden Schülerbeiträgen lassen sich besonders an der Erzählwürdigkeit der Minimalerzählungen festmachen: Während nämlich S 1 sich damit begnügt, die Ereignisse in einer Folge zu präsentieren, integriert der Schüler S 13 ein komplizierendes Moment - oder trouble (vgl. Bruner/ Lucariello 1989: 77) als das Außergewöhnliche, das die Geschichte vorantreibt -, wodurch die Erzählung interessanter wird. Die Unterschiede lassen sich auch am Modell von Burwitz-Melzer festmachen, ist es doch so, dass erst in der zweiten Schülererzählung der Konflikt des Textes derart Berücksichtigung erfährt, dass Roger sich ebenfalls in den Regelverstoß verstrickt, die gewissermaßen als „fremdkulturelle Gattungs- und Strukturmerkmale“ (2007: 141) der interkulturellen Kompetenzen und dem Arbeitsschritt „Sinnkonstitution II“ zuzurechnen, im letzten Beitrag eine Rolle spielen. Auch das Verhalten der Lehrkraft lässt auf Unterschiede zwischen den beiden Schüler- <?page no="147"?> 147 beiträgen schließen, denn diese reagiert auf den zweiten mit Fragen, während sie den ersten mit der Anmerkung „so he’s a big warrior in the end“ lediglich kommentiert. Die von L gestellten Fragen zeigen sich zunächst in Form einer Paraphrasierung, dass Roger Mary findet, was von S 13 bestätigt wird. Gefragt wird dann danach, wo man Mary denn finden könne. Hier ist es der Schüler S 12 , der gemeinsam mit S 13 in Partnerarbeit die Mind Map erstellt hat, der als möglichen Handlungsort (4) den Fluss anführt. Im Zusammenhang mit Marys geplantem Regelverstoß ist dann die Frage von L zu sehen, wo man Mary noch antreffen könnte. S 18 reagiert darauf und formuliert als möglichen Ort (4) - nicht ganz ernst gemeint, wie die Reaktionen der anderen Lernenden andeuten -, dass sie durch das geliehene Geld in einem Hotel logieren könnte, wodurch ebenfalls Hypothesen über den möglichen Verlauf der Erzählung angeführt werden (22). Allerdings sind diese Äußerungen lediglich in eckigen Klammern codiert, da damit angezeigt werden soll, dass sie nur implizit enthalten sind, da der Handlungsort nicht Hauptgegenstand der Thematisierung ist, sondern die Situation vielmehr so zu verstehen ist, dass durch die Fragen der Lehrkraft der Zusammenhang zwischen der Minimalerzählung der Lernenden und den bereits erfahrenen Konflikten bzw. regelwidrigen Entscheidungen in der Short Story hergestellt werden soll. Dabei gilt sowohl für das bereits Erwähnte als auch für die folgende Auseinandersetzung mit den Minimalerzählungen, dass keine Indizien dafür gefunden werden können, dass den Lernenden das Ende der Geschichte beim Schreiben vertraut war, wurde doch im Unterricht abschnittsweise mit der Short Story gearbeitet und verneinten die Lernenden die Frage, ob ihnen die Geschichte im Vorfeld bekannt war. Um die Unterschiede zwischen dem ersten und dem zweiten Schülerbeitrag situationsadäquat zu beschreiben, muss der von L formulierte Operator berücksichtigt werden: Beiden Schülerbeiträgen ist gemein, dass sie Hypothesen über mögliche Ereignisse enthalten und damit implizit im Text angelegte Leerstellen füllen. Und um den Teilleistungen, die dem ersten Schülerbeitrag zugrunde liegen, gerecht zu werden, ist durchaus anzumerken, dass das darin beschriebene regelkonforme Verhalten Rogers als Gegenpol zu Marys Regelverstoß gewertet werden kann. Dass der zweite Beitrag komplexer erscheint, dass also der zentrale Konflikt des Textes, dass die darin enthaltenen kulturellen Werte und Normen Berücksichtigung finden, ist abhängig von der jeweiligen Ausdifferenzierung der individuellen Konstruktionsleistung. Betrachtet man allerdings den weiteren Verlauf der Sequenz, so lässt sich verdeutlichen, dass die oben angesprochenen Unterschiede als symptomatisch für die Auseinandersetzung mit Rogers hypothetischem Ta-Na-E-Ka zu sehen sind. <?page no="148"?> 148 L Pshh! ...More presentations. S 6, S 5. S 6 Also das ist- L Ja. S 6 Also (unverständlich). L Ja ja. S 6 Also, (liest vor) Roger goes into the forest. He is searching for fruits. After a while he finds a nice cave. He thinks it’s a good place to sleep. Roger goes into the cave. Silently he falls into a hole. [21], 22, [23] S n Lachen. S 6 He lose his consciousness and falls into the water. And (Geste)- L Ok. Thanks. S 6 Unverständlich L So he’s into the water without consciousness. L paraphrasiert S 6 Ja. L S 15. 8: 57 S 15 Ähm, he sees a dea deer he wants to escape and climbs on a tree. There is a snake he, äh, (unverständlich)- 1, 22, [23] L On the tree is a snake? L fragt nach S 15 Yes. S n Lachen S 15 And then he, äh, fell down ähm, in his knife- 1, 22, [23] S n Lachen S 15 And then he dies. L He dies, too. L paraphrasiert S 15 Yes. L S 22. S 22 Roger’s life in the woods is very difficult. He didn’t eat anything for two days. Then he is so hungry that he eats a grasshopper, but that’s not tasty, and so he’s cheating and he goes to a friend and eat a big meal (lacht)- 1, 24, 22, [23] S n Lachen S 22 Ja. Ähm. And he- L What? S 22 Every day he returns to the wood but he also goes back to, ähm, the friend to eat, now the grandfather, ähm, recognize that he was cheating, because the friend told that to him, and so Roger- S n Allegemeines Gemurmel, Kommentare 8: 58 S 22 And so Roger has to do the Ta-Na-E-Ka once again, but for ten days. L Now that’s a good (unverständlich). S 26. L kommentiert <?page no="149"?> 149 S 26 Ähm, (liest vor) first he sees a grasshopper (spricht falsch aus) and thinks about his (unverständlich), that he doesn’t want to eat animals. Ähm, so he drinks only water from the river. He explores the forest and sees a lot of Bison and is impressed. (schmunzelt) In the third day he is very hungry but happily he found mushrooms- [21], 22, [23] S x Magic- S n Lachen S 26 The nights were awfully and cold, but he found a hole to sleep in. And after five days he returned hungry with odd, very dangerous experiences. Tabelle 26: G10 I (3. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 45-81) Insgesamt werden vier Minimalerzählungen vorgestellt (S 6 , S 15 , S 22 , S 26 ). Hier lassen sich die komplizierenden Momente dahingehend unterscheiden, dass die von S 6 und S 15 geäußerten hypothetischen Erlebnisse Rogers beinhalten, dass dieser sich zwar regelkonform verhält und versucht, das Ta-Na-E-Ka traditionell zu absolvieren, die Lernenden - bis auf S 26 - Roger aber in ihren Erzählungen scheitern lassen. Trouble wird insofern integriert, als Roger auf der Suche nach einem Schlafplatz (S 6 ) stürzt und bewusstlos im Wasser ertrinkt oder auf der Flucht vor einem Hirsch beim Sturz vom Baum in sein Messer fällt und umkommt (S 15 ). Das Scheitern Rogers wird von den Lernenden überspitzt und endet in dessen Tod. Anders stellt hingegen S 22 Rogers Erlebnisse dar. Sie lässt ihn sich nicht an die Regeln halten, führt als Motiv (24) den Mangel an Nahrung an und formuliert, dass Roger heimlich bei einem Freund isst und somit betrügt. Konsequenzen für seine Handlungen erfährt der imaginierte Roger in der Schülererzählung in der Form, dass Rogers Großvater durch den Freund davon erfährt, und Roger so das Ta-Na-E- Ka erneut durchlaufen muss, allerdings nicht mehr fünf, sondern zehn Tage lang. Im Gegensatz zu den beiden ersten Beiträgen scheint hier erneut der zentralen Konflikt auf, in den auch die Ich-Erzählerin Mary gerät, nämlich die Frage nach einem regelgerechten Absolvieren und etwaigen Konsequenzen im Falle eines regelwidrigen Verhaltens. In der Minimalerzählung von S 26 , die wie S 6 zuvor einen Text vorliest (21) und nicht gestützt durch die Mind Map spricht, durchläuft Roger das Ritual, erkundet die Landschaft, ernährt sich von Pilzen und Wasser aus dem Fluss und kehrt nach den fünf Tagen ausgezehrt aber reich an Erfahrung zurück zum Stamm. Hier ist der Unterschied, dass Roger - ganz ähnlich wie im weiteren Verlauf des Ausgangstexts - gewissermaßen als Gegenpol zu Marys Verhalten bzw. deren abzusehender Absicht, mit dem geliehenen Geld die Regeln des Rituals zu umgehen, fungiert. <?page no="150"?> 150 Es folgen im Unterrichtsgeschehen noch zwei weitere Schülererzählungen, wobei Roger erneut in einer stirbt (S 16 ) oder erfolgreich als „warrior“ aus dem Ritual hervorgeht (S 5 ). Daraufhin kommt die Lehrerin auf das drastische Scheitern Rogers in den Schülertexten zu sprechen und fragt danach, in wie vielen der Erzählungen Roger ums Leben kommt. L So how many times in your stories did Roger die? L fragt nach 11 SuS melden sich 9: 01 L Why do you think there is evidence in the text that he’s going to die. And that he’s not the big warrior. Killing foxes and white tigers. S 16. L fragt nach L formuliert Fragestellung S 16 Because he can’t eat any grasshoppers. 1, [18] S n Lachen L S 14. S 14 Ähm, he wants to be-become an (unverständlich) accountant-accountant and I don’t think that an accountant could survive in the wildness (falsches Lexem). 1, [18], 11 S n Lachen L S 12. S 12 He is silly. 1, [14] S n Lachen L Unverständlich S 12 Unverständlich L Well he (betont) thinks the Ta-Na-E-Ka is silly. L korrigiert S 12 I think- L Yes. S n Lachen L But I did ask you for evidence in the text. I f I ask you for your opinion that-then it would sound different. L korrigiert S 12 I thinks he is silly because he don’t want to go to the river. 1, [14] 9: 02 L Yes. S n Lachen L But evidence in the text is only that he doesn’t want to go to the river. So in the next lesson or in two lessons, I’m going to ask you for your own opinion, and then you are a-you are allowed to answer, I think that…Did you understand that? L korrigiert S 12 Yes. S n Lachen Tabelle 27: G10 I (3. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 109-134) Die Lehrerin scheint mit ihrer Frage, woran man den Tod Rogers im Text festmachen könne, auf eine textnahe Argumentation der Lernenden zu zielen. <?page no="151"?> 151 Der Schüler S 16 antwortet zielsprachlich (1), dass Roger keine Heuschrecken essen könne, womit er sich auf eine im Text erwähnte Information bezieht, die er als Rechtfertigung für Rogers Scheitern anführt, was codierungsseitig als implizites - und daher in Klammern gesetztes - Phänomen für eine angegebene Textstelle gewertet wird (18). Etwas anders argumentiert der Schüler S 14 , indem er auf die Einstellungen Rogers zu sprechen kommt (11) und als Argument anführt, dass Roger eben Buchhalter und nicht Krieger werden wolle, was er dahingehend interpretiert, dass ein angehender Buchhalter nicht unbedingt für das Überleben in der Wildnis gemacht sei. Von S 12 wird - wie bereits bei der vorangegangenen Charakterisierung Rogers - eingeworfen, dass Roger sich unklug verhalte. Was genau der Schüler damit meint, wird erst als Reaktion auf die Korrekturen der Lehrerin, Roger halte das Ritual für überholt, deutlich, indem er nämlich grammatisch nicht vollständig korrekt anführt, die Handlung, besser gesagt die Entscheidung Rogers (14), nicht den Fluss als Territorium zu wählen, als unklug zu werten. Die Lehrerin nutzt diese Interaktion, erneut zu betonen, dass die eigene Meinung zwar in anderen Phasen relevant sei, aber eben nicht in dieser im Vordergrund stehe, sondern vielmehr Textbelege bzw. textnahes Lesen und Argumentieren. Bezogen auf die Charakterisierung Rogers in der ersten Doppelstunde und die Sequenz, in der über das Ta-Na-E-Ka und die damit einhergehenden story- und discourse-orientierten Fragestellungen gesprochen wurde, zeigen die Schüleräußerungen erneut, dass es den Lernenden wichtig zu sein scheint, nicht nur Information dem Text zu entnehmen, sondern eben das Erfahrene in einen zeitlich-kausalen Zusammenhang einzuordnen, der Resultat einer konstruierenden Auseinandersetzung mit dem Gelesenen ist. Denn überzeugend sind die sich auf den Text beziehenden Begründungen der Lernenden für ihre Lesarten schon und weichen auch nicht vom Textinhalt ab. Im Unterrichtsgeschehen schließt sich auf diese Sequenz die nächste Lesephase an. Die Lernenden werden erneut aufgefordert, Schlüsselbegriffe und unbekannte Wörter farblich zu markieren. L I, äh, give you the next part of the story now. L formuliert Aufgabenstellung 9: 03 Blätter werden verteilt L The task is the same. The first step is to read it on your own and underline unknown words in one colour and keywords in another colour. And, ähm, after that we are going to read that short part together. SuS klären den Arbeitsauftrag unter sich 9: 04 Arbeitsphase Lesen 5a, 6 9: 05 9: 06 9: 08 Einige SuS schon fertig, <?page no="152"?> 152 L Who wants to read? L S 2. [21], [28] Tabelle 28: G10 I (3. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 138-150) Gemäß dem Leseauftrag ist das Schülerverhalten damit zu codieren, dass der Text orientierend gelesen (5a) und entsprechend der Aufgabenstellung bearbeitet (6) wird. Im Anschluss an die fünfminütige Lesephase wird der so vorbereitete Textabschnitt, in dem Mary das Diner am Anleger findet und beschließt, einzusteigen und die Nacht dort zu verbringen, von einzelnen Schülern im Plenum laut vorgelesen (21). Auf eine Darstellung des Transkripts dieser Phase wird verzichtet, da bis auf das Vorlesen aus dem Text (21), in mehreren Fällen ein darstellendes Lesen (28) - wenn beispielsweise Stimmungen durch besondere Betonung angezeigt werden oder direkte Rede mit unterschiedlichen Stimmlagen und Tonfälle umgesetzt wird - und die Aussprachekorrekturen durch die Lehrerin keine Codierungen vorgenommen werden können. Das darstellende Lesen ist dabei als neu zu entdeckendes Phänomen zu werten und für die Ziele der Modellierung ein wichtiges Indiz dafür, dass im fremdsprachlichen Literaturunterricht auch Aspekte der Lernerinszenierung eine Rolle spielen, denn performative Teilleistungen, wie auch das darstellende Vorlesen eine ist, stellen einen Akt der Interpretation dar, da die im Text angelegte Stimmung so durch eigene Ansätze umgesetzt wird. In das Modell von Burwitz-Melzer lassen sich solche Bestandteile den kognitiven und affektiven Kompetenzen im Arbeitsschritt „Vortrag und Aufführung“ (2007a: 145) zuordnen, denn die Lernenden „sollen den Originaltext in der Klasse oder darüber hinaus nach ausreichenden Proben vorlesen, vortragen oder aufführen können“ (ebd.). Auf die circa fünf Minuten dauernde und durchaus als darstellend zu wertende Lesephase folgt eine Gegenüberstellung der eigenen Erwartungen an den weiteren Verlauf, wie sie bei Rogers Erlebnisse im Vordergrund gestanden haben, mit dem tatsächlichen Verlauf der Short Story. Eingeleitet wird die Phase durch den Impuls der Lehrkraft, die nach Ähnlichkeiten und Unterschieden fragt. L If you compare this story with the things you have, ähm, said before, about what could happen to Roger so what can you remember? Is there anything similar, is it completely different when you talked about, ähm what could happen to somebody during Ta-Na-E-Ka. S 14 (spricht S erst falsch an). L formuliert Fragestellung S n Lachen 9: 13 S 14 I would say that it’s very different because, ähm she-she’s no longer frightened and don’t find a bear or-or what else, and-and we don’t think about that Roger could, ähm, go in a 1, vergleicht die eigenen Hypothesen mit <?page no="153"?> 153 restaurant or (unverständlich). dem Text (25) L Didn’t we think about it at all? So, I think I can remember, some-somebody who said something like that. S 3. L fragt nach S 3 Yeah, I think it was, ähm, S 22 ‘s story where Roger is also cheating, going to, äh, friend of him and there so it’s similar. 1, 25 L Very good. That’s what I thought when S 22 told his/ her story. Ähm it’s not the first idea that someone could, ähm…could get food anywhere else instead of in a hole in the forest. And äh, S 18 said when the-when I asked where could he meet Mary- L kommentiert Schüleräußerung, L paraphrasiert Schülerantwort(en) 9: 14 L You said in a hotel. That’s why I liked answers, that, because it’s, äh, they are quite similar to the real story. L Are there any unknown words in the story? In this part. S 12. L initiiert Wortschatzarbeit Tabelle 29: G10 I (3. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 177-186) Zu entdecken und dicht zu beschreiben ist in dieser Sequenz Verhalten der Lernenden, das auf eine weitere Variante von Strategien und Taktiken hindeutet, die in Zusammenhang mit der durch die Frage der Lehrerin eingeleitete Situation zu sehen sind. Genauer gesagt sind damit die bedingenden Umstände gemeint, die sich innerhalb der Sequenz aus den Hypothesen über Rogers Erlebnisse und dem Inhalt des gelesenen Textabschnitts zusammensetzten. Auf Unterschiede zwischen diesen kommt S 14 zu sprechen, der anführt, dass Mary sich nicht ängstlich ob der Herausforderungen in der Wildnis verhält und auch nicht daran gedacht wurde, dass Roger in ein Restaurant einsteigen könne. Dieser Vergleich der eigenen Hypothesen mit dem Text (25) wird sodann von der Lehrerin hinterfragt, die anführt, eine der Schülererzählungen würde Ähnlichkeiten aufweisen. Darauf reagiert der Schüler S 3 , der Ähnlichkeiten zwischen den geäußerten Hypothesen (hier von S 22 ) und der Passage herausstellt und diese auf den Regelbruch bezieht. Die Lehrerin kommentiert die Schüleräußerung bestätigend und stellt paraphrasierend fest, dass die Idee, Essen regelwidrig zu besorgen, in einigen Schülererzählungen zu finden war. Sie verweist auch auf den durch S 18 angeführten möglichen Handlungsort Hotel, dem sie Ähnlichkeit zu Marys Diner bescheinigt. Hypothesen mit dem Gelesenen abzugleichen, spielt als Verhalten auch im Modell von Burwitz-Melzer (2007a: 140) eine Rolle, und zwar im Arbeitsschritt „Erwartungshaltung aufbauen und erhalten“ und dabei dem Bereich Reflexion zugeordnet. Obwohl in der oben gegebenen Sequenz nur zwei Lernende zu Wort kommen, ist es doch so, dass sich die Formulierung des Deskriptors veranschaulichen lässt: „Sie sollen in der Rückschau möglichst selbstständig erkennen, ob ihre Hypothesen richtig oder eher falsch waren und weshalb dies so <?page no="154"?> 154 ist“ (ebd.). Einzuschränken ist dabei lediglich der Aspekt der Selbstständigkeit, denn die Schüleräußerungen werden durch die konkrete Frage der Lehrkraft hervorgerufen, stehen also in Abhängigkeit zur unterrichtlichen Lenkung. Die Sequenz geht in eine erneute Phase der Wortschatzarbeit über. Auch hier ist es so, dass die Auseinandersetzung mit dem Wortmetrial der inhaltlichen folgt. Es zeigen sich in der etwa vierminütigen Phase (bis 9: 18) codierungsseitig ganz ähnliche Muster zur vorangegangenen, indem von den Lernenden nach unbekannten Wörtern gefragt wird, diese entweder durch die Lehrerin oder Mitschüler zielsprachlich umschrieben oder Übersetzungen angeboten werden. Im Anschluss daran stehen dann die Konstruktionsleistungen der Lernenden als Reaktionen auf das Gelesene im Vordergrund, indem von der Lehrkraft explizit nach der eigenen Meinung gefragt wird und die Lernenden zu Marys Handlungen Stellung nehmen und ihren Standpunkt begründen. 9: 18 L What is now I’m going to ask you for your own opinion. S n Zustimmendes Gemurmel L You are allowed to tell us your own opinion now. For a very short time. What do you think about sleeping in a restaurant although you are-you have to sleep in the forest? What is your own opinion about that? About what she’s doing? L S 13. S 13 I think it’s a very clever idea. 1, äußert sich zum Textinhalt (26) 24 L Mhm. S 13 Because she hadn’t (unverständlich) to sleep in the forest. L Mhm. S 13 And it’s warm and she can eat anything she wants. L Could you pick each other, please. Talking about it. S 13 S 15. S 15 Ach so, I think it’s, ähm, äh, a clever idea, but it’s very risky, so if she- 1, 26 24 [spricht über einen kulturellen Konflikt (27)] 9: 19 S x Whiskey? S 15 Risky…ähm, because, äh, when anyone sees her who knows her grandfather, she has a big problem, very big problem. S 1. S 1 Ähm, I think it’s unfair, ähm, for Roger. Also, dem Roger gegenüber. 1, 26, 14 20 15 L Aha. S 1 Because, ähm, I don’t think that he had the chance to s-sleep in a restaurant or something like that. <?page no="155"?> 155 L You think it’s unfair, ok, to, ähm, other children doing Ta- Na-E-Ka, ok. S 1 S 11. S 11 I think it’s boring because it’s maybe funny to be five days in the wood. 1, 26, [7] L Mhm. S x Forest. S 11 Forest. Äh, S 10. 9: 20 S 10 I think it’s silly because the keeper was by the army and when wants to find her in the w-forest he could do it. I think it’s not the best idea. 1, 26, 14 L Ähm, so d-you mean the owner of restaurant? S 10 Yes. When he wants to find her in the next day - I think he could. L Ok. So I want you to, ähm, ask what do you think how the story might go on. We have got a few options already. Ähm, the owner could whatever what could he do to her? He was at the army you said. L formuliert Aufgabenstellung S 10 Find her and (unverständlich)- Kill her. 1, [22] L Ok. So somebody who knows her grandpa finds her, telling her grandpa, what else could happen? L prarphrasiert S 18 Ähm, the owner steal the money of the girl. 1, 22 L Mhm. S 18 Without he, äh, she hasn’t any money and so she has to sleep in-in the forest. 1, 22 L Mhm. S 14. 9: 21 S 14 Her grandfather in person finds her. 1, 22 L Mhm… S n Reden miteinander, unverständlich L If you think about her family where does she come from. What you can imagine how she looks like. She’s on bare feet, she has got only äh, ähm a bath suit, and nothing more to wear, because she doesn’t need something in the forest. So what do-do you think how she looks like and how people could react? Can we imagine a situation? S 15. L formuliert Fragestellung L paraphrasiert Textinhalte S 15 Perhaps, äh, people who see her are not very, äh, happy about it, because I think the Native Americans, ähm, are very popular in the- 1, 22 [27] L Aren’t. S 15 Area. What? L Aren’t or are very popular? S 15 Ah, aren’t very popular. So perhaps, äh, she, äh, (unverständlich), was heißt den wegschicken? <?page no="156"?> 156 9: 22 L Send her away. S 15 Äh, from the mariner. L Mhm. Is it allowed to sleep in a restaurant at night? L fragt nach S 15 Of course. S n Lachen S x (leise) no. L S 22. S 22 No, it’s not allowed. 1 L So what could happen to her? Who could come and do something. S 20. L fragt nach S 20 Ähm, police. L Maybe. What could they do to her? S 20 Ähm they can catch her and bring her to the was heißt Gefängnis? 1, 22, 16 S 22 Prison. L Police station, prison. S 4. S 4 Perhaps they bring her to her grandpa. 1, 22 L Ja. Ja. Bringing her home. 9: 23 L Ja, is it the basic idea of Ta-Na-E-Ka to cheat, or (unverständlich)- L formuliert Fragestellung S n (ironisch, leise) yes. L What is the basic idea? S 12. S 12 It’s a survival not a, äh, stealing test. 1, 7 S n Lachen L S 19. S 19 Ähm, I think it would be a good experience and through cheating she verpasst? 1, 11, 16 L Misses. S 19 Misses. L Mhm. S 15. S 15 But I think, ähm, it’s, ähm, Ta-Na-E-Ka is still a test of cleverness and no one can say that’s, äh, not clever. 1, 11 L Mhm. Their way to survive. S 3. L kommentiert Schüleräußerung S 3 Ja, I’m sure, äh, that she isn’t the first Indian girl who, äh, used the restaurant for her Ta-Na-E-Ka. 1, 11 L Ok. That’s a good point. L kommentiert Schüleräußerung S 3 I-I think her grandfather used it too. 1, 11, 15 L Lacht S n Lachen L Ok. Keep that in your mind. 9: 24 Ok, the task is that I want you to write a story. Your L formuliert <?page no="157"?> 157 L own favourite story. Äh, how she-it might continue. Not more than three-quarter of a page. Ja, dreiviertel Seite. Not more. I don’t want you to write two or three pages of the short story. Ja? Aufgabenstellung Tabelle 30: G10 I (3. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 248 - 332) Die Sequenz wird von S 13 eingeleitet, der auf den Impuls der Lehrerin reagiert. Der Schüler äußert sich in der Zielsprache (1) und nimmt mit seiner Aussage Stellung zum Textinhalt (26). Diese Codierung ist insofern als neu zu kennzeichnen, da erstmals direkt im Unterrichtsgeschehen nach einer eigenen Meinung zum Textinhalt gefragt wird, die den individuellen Sinnentwurf und damit den jeweilig konstruierten Textsinn betrifft. Der Unterschied zwischen den einzelnen Schülerbeiträgen lässt sich, wie es noch zu zeigen gilt, vor allem durch die unterschiedlich akzentuierten Konstruktionsleistungen beschreiben. Zunächst kommentiert S 13 die Handlungen Marys und nennt Gründe für mögliche Motive (24). Für den Schüler legitimieren sich aus den gegebenen Motiven die Handlungen Marys, und er gibt zu verstehen, dass er ihre Entscheidung, regelwidrig im Diner zu übernachten, für einfallsreich hält. S 15 stimmt in seiner Aussage prinzipiell zu, merkt aber an, dass Mary durch diese Entscheidung in Schwierigkeiten geraten könnte, würde sie jemand beobachten, der ihren Großvater davon in Kenntnis setzten könnte. Zwar nur implizit aber dennoch in der Aussage enthalten ist die Leistung des Schülers, den fremdkulturellen Konflikt (27), in dessen Spannungsfeld er Marys Entscheidung verortet, in der Aussage zu berücksichtigen. Und zwar derart, dass der Schüler, indem er auf den Großvater und dessen Funktion in der Erzählung - nämlich das traditionelle Paradigma durch Bestehen auf der Durchführung des Rituals zu vertreten - verweist, auch mögliche Konsequenzen der Handlung erwähnt. Und unter diesen Vorzeichen ist die Perspektive des Großvaters als Chiffre für den interkulturellen Konflikt, in dem sich Mary bewegt, zu verstehen. Perspektiven, besser das Koordinieren der Perspektiven einzelner Charaktere (15), lassen sich im Beitrag von S 1 ausmachen. Die Schülerin bezieht Rogers Position mit ein und gibt zu verstehen, nachdem sie zur Erläuterung ihrer Position kurz auf muttersprachliches Handeln zurückgreift und sich rechtfertigt (20), dass sie Marys Handlungen durchaus als problematisch ansieht. Hier kommt dann hinzu, dass die Schülerin Marys Handlungen auch auf der Basis eigener Wertvorstellungen reflektiert, denn sie bezeichnet die Entscheidung, im Diner zu nächtigen, als unfair. Darin ist als Teilleistung enthalten, dass zu einer Äußerung zum Textsinn, als Element der individuellen Konstruktionsleistung, eben auch gehören kann, einen fiktionalen Handlungsbestandteil zurückzuweisen und ihm kritisch zu begegnen. Und in der Sequenz zeigt sich dies derart, dass die Schülerin Marys Handlung kritisch <?page no="158"?> 158 bewertet (14). Ähnlich kritisch äußert sich der Schüler S 10 (14), indem er unter sprachlichen Schwierigkeiten zu verstehen gibt, dass Marys Entscheidung auch dahingehend Folgen haben könnte, dass der Besitzer des Diners nach ihr sucht und leichtes Spiel haben könnte, sie im Wald zu finden. Für seine Ansicht bezieht er sich ebenfalls auf Informationen aus dem Text, da er anführt, der Besitzer sei in der Armee gewesen. Die Lehrerin reagiert nicht direkt auf diesen Beitrag, sondern formuliert stattdessen eine weitere Aufgabenstellung, die auf den Verlauf der Geschichte zielt. Die darauf folgenden Schülerbeiträge sind allesamt gleich codiert, denn es wird sich zum einen zielsprachlich geäußert (1) und zum anderen werden Hypothesen über den weiteren Verlauf der Geschichte im Unterrichtsgespräch formuliert (22). Genannt werden beispielsweise, dass der Besitzer des Diners ihr Geld stehlen könnte (S 18 ), sie so keinen weiteren Vorteil daraus ziehen könne und im Wald schlafen müsse. Der Schüler S 14 führt an, dass Marys Großvater sie finden könne. Darauf reagiert die Lehrerin insofern, als sie Textinhalte paraphrasiert, die auf Marys Herkunft abzielen. Die Lehrerin scheint hier einen Impuls in Richtung kulturelle Kontexte und Konflikte zu geben, der sich in der Fragestellung niederschlägt, wie Menschen auf die Mary im Badeanzug und Barfuß triff, auf sie als indianisches Mädchen reagieren könnten. Es ist der Schüler S 15 , der darauf eingeht und zu verstehen gibt, dass Mary auf Ressentiments der Weißen gegenüber den amerikanischen Ureinwohnern in der Region stoßen könnte, womit der Schüler indirekt auf kulturelle Konflikte eingeht (27). Er fragt nach sprachlicher Hilfestellung (16), nutzt die von der Lehrerin angebotene Phrase und beschließt damit, dass Mary vom Anleger weggeschickt werden könnte. Die Lehrkraft hakt nach und fragt, ob es erlaubt sei, im Restaurant zu schlafen, was von S 22 verneint wird (1). Diese Information wird von der Lehrerin dafür genutzt, nach Folgen zu fragen, worauf die Schülerin S 20 auf die Polizei zu sprechen kommt, die - ebenfalls unterbrochen durch eine Wortschatzfrage (16) - Mary ins Gefängnis bringen könnte. Und schließlich greift der Schüler S 4 diesen Gedanken auf und gibt zu bedenken, dass die Polizei sie auch zu ihrem Großvater bringen könne. Diese Beiträge veranlassen die Lehrerin zu der provozierenden Frage, ob es tatsächlich die Grundidee des Ta-Na-E-Ka Rituals sei, andere zu täuschen. S 12 meldet sich und kommt auf das kulturelle Konzept (7) zu sprechen, indem er angibt, es handele sich um einen Überlebenstest; Stehlen sei nicht Gegenstand des Rituals. Damit führt der Schüler allerdings etwas an, das so nicht dem Text zu entnehmen ist, da aus der Passage nur hervorgeht, dass Mary vorhat, für das genommen Essen im Diner, Geld auf dem Tresen zu hinterlassen. Von Stehlen zu sprechen, entspricht also nicht ganz den Informationen im Text. Dies bleibt im Unterrichtsgeschehen allerdings ungeklärt und wird <?page no="159"?> 159 nur durch Lachen der Mitschüler über die vermutlich absichtlich überspitzte Formulierung quittiert. S 19 weist auf die Einstellungen des Charakters hin (16), denen die Schülerin kritisch begegnet, führt sie doch an, dass Mary sich durch den Betrug eine interessante Erfahrung verwehrt. Es ist S 15 , der das kulturelle Konzept (11) dahingehend deutet, dass Einfallsreichtum gefragt sei („a test of cleverness“), den Mary ja bewiesen habe. Und der Schüler S 3 geht so weit zu behaupten, Mary sei gewiss nicht das erste indianische Mädchen, das das Diner nutze, und fügt an, dass vielleicht der Großvater schon dort Zuflucht gesucht haben könnte, womit es ihm geling, unterschiedliche Perspektiven im Text auf die Geschehnisse zu koordinieren (15). Das Unterrichtsgespräch und die gesammelten Ideen als vorbereitende Leistung herausstellend, formuliert die Lehrkraft als Produktionsanlass, selbst die Geschichte weiterzuschreiben. Sie begrenzt den zu schreibenden Text auf eine Dreiviertelseite. Die verbleibende Zeit der Stunde nutzen die Lernenden, um an ihren Texten zu arbeiten. An dieser Stelle erscheint es ebenfalls lohnend, den Blick auf die zuvor formulierten Arbeitshypothesen zu werfen, die sich hier und in hinreichend ähnlichen Situationen bestätigen. Die Wechselwirkung zwischen den unterschiedlichen Kommunikationsebenen im Unterricht, die sich in der Sequenz als inner-, außerliterarischer und unterrichtlicher Diskurs zeigen, erfordern Fähigkeiten, kommunikative Handlungen in Abhängigkeit zur Kommunikationsebene zu erklären, zu problematisieren, zu durchschauen, zu begründen und zu legitimieren. Besonders deutlich wird der Stellenwert, den die Diskurstüchtigkeit als reflektiertes Handeln im fremdsprachlichen Literaturunterricht einnimmt, in Äußerungen, in denen das kulturelle Konzept Ta-Na-E- Ka und die damit einhergehenden Normen und Werte im Mittelpunkt stehen: Es geht um die Auseinandersetzung mit Bedeutung und die Herstellung von Bedeutung in kulturellen Kontexten, die sowohl durch eigenals auch durch fremdkulturelle Elemente konstruiert werden, indem der Text und das in ihm Verhandelte als Ausgangspunkt genutzt wird, jedoch immer auch eigene Einstellungen, Werte und Normen oder eigenes Wissen über soziale Prozesse eingebunden werden (cf. 2.). Somit sind es auch die kommunizierten Effekte auf den Leser während des Lesens (vgl. Rosenblatt 1981), die dazu führen, dass sich narrative understanding - Lernende koordinieren in der mentalen Repräsentation Handlungen, Zeitverläufe, Charaktere, deren Motive und das Setting - zu understanding argument (vgl. Brown 1994) wandelt, wobei für diesen Modus des Verstehens charakteristisch ist, dass abstrakte Prämissen und Argumente, Werte, Normen und Gefühlslagen nachvollzogen werden (cf. 3.3), die dann auch zu problematisieren und zu hinterfragen sind. Welche Rolle diese Aspekte bei der textproduktiven Dimension literarischer Kompetenz einnehmen, soll in der nachfolgenden Unterrichtsstunde anhand <?page no="160"?> 160 von Schülertexten diskutiert werden, die entlang des Produktionsanlasses unter der Überschrift „Ta-Na-E-Ka: how it could continue“ über Marys Erlebnisse nach der Entscheidung, ins Diner einzusteigen, verfasst wurden. 6.2.2.3 4. Stunde G10 I Ein Großteil der vierten Stunde ist der Präsentation der Schülerprodukte gewidmet. Ein besonders gelungenes Beispiel, dessen Produktion auch im Schülerinterview thematisiert wird, soll als Diskussionsgrundlage dienen: S 22 I heard a na-noise so I waked up. This must be the threefingered manliest den eigenen Text vor (29), L korrigiert Ausgangstext dient als Anlass für eigene Textproduktion (30), 22 L korrigiert L (korrigiert) wake woke woken. S 22 Hä? S n Lachen S 22 Good. (liest weiter) This must the three-fingered man. I got up, took the apron and run took off the apron and run to the window where I climbed in. I had to be very fast that the three-fingered man couldn’t see me. 12: 43 S 22 I climbed out of the window and the sunlight shined at my face. I had to yawn and- L (korrigiert) shine shone shone. What is it with your irregular verb skillness? […] S 22 I had to yawn and scratch myself. I slept very good and I thought it was the best decision to sleep in the restaurant. But while I walked to the woods I had to think about Roger. I imagined how Roger was sleeping alone in the dark and cold wood. Suddenly I felt sick because I was cheating while Roger did the real Ta-Na-E-Ka. It was not fair to Roger, but it was so good to sleep in the restaurant. I wouldn’t make a decision for my next night before evening. The whole day I walked through the woods, discovering the nature, searching animals. But all in all it wasn’t very exciting. I witched-wished Roger would be there. We always have a great time together. But we weren’t allowed to. 24 15 14, bindet die kulturellen Begebenheiten ein (31), 12: 44 S 22 Slowly it started to dawn. I had to make my decision for my sleeping place. Once it wasn’t fair to Roger, but it was so nice and warm in the restaurant, and without animals. Better you’re cheating than eaten by an animal, I thought. So I went to the restaurant again. It was already dark when I’d arrived. At the restaurant we had ääh ach so! I‘d arrived at the restaurant and the three-fingered man was gone. I walked to the window and climbed in. When I had 14 <?page no="161"?> 161 gone out of the lady’s room, suddenly I recognized that somebody was snoring in the men’s room. It was very loud and a big pain. But I already knew this special sound of snoring. I opened the door to the men’s room and a man was sleeping on the floor. No one else like Roger. I started laughing. Roger opened his eyes and looked very shocked. You’re a cheater, I said, but I was still laughing. You are a cheater, Roger answered and he started laughing, too. 12: 45 S 22 We hugged each other and decided that we both can sleep in the restaurant. We also (unverständlich) the following three days. At night we were in the restaurant and the other time we walked together through the woods. This is our little se-secret of our Ta-Na-E-Ka. Tabelle 31: G10 I (4. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 105 - 124) Sich für die Darstellung des Schülerprodukts in Form der Transkription des Unterrichtsgeschehens zu entscheiden, liegt vor allem darin begründet, dass nur so Teile der vorgenommenen Codierungen erklärt werden können. Dadurch, dass sich die Interaktion derart gestaltet, dass die Schülerin ihr Produkt im Plenum vorliest, ist das kommunikative Handeln damit zu codieren, dass sie den eigenen Text vorliest (29). Die bedingenden Umstände, die diese Situation kennzeichnen, sind vor allem auf den vorausgegangenen Arbeitsauftrag zurückzuführen, denn es handelt sich zunächst einmal um eine Präsentation von bereits Erarbeitetem. Dass der Schülertext überhaupt entstanden ist, lässt sich auf die Unterrichtsgestaltung zurückführen, in der aufgefordert wurde, den Ausgangstext als Anlass für die eigene Textproduktion zu nehmen (30). Als Phänomen lässt sich dies an den Daten festmachen, wenn man die Strategien und Taktiken beim Erfassen des Schülertextes berücksichtigt und zudem die unterrichtliche Situation mit einbindet. Darin ist enthalten, dass die Schülerin Hypothesen über den weiteren Verlauf des Textes bildet (22), gilt doch auch für die anderen im Unterricht präsentierten Schülerprodukte, dass aus Marys Perspektive weiter erzählt wird, und zwar indem den Lernenden der weitere Verlauf des literarischen Textes nicht bekannt ist, und so die Erlebnisse Marys, ihre Handlungen und Motive selbst ausgestaltet werden. Blickt man auf den Inhalt der Schülererzählung, die zu Beginn von der Lehrerin dreimal unterbrochen wird, um unregelmäßige Verben zu korrigieren, so fällt auf, dass S 22 den Spannungsbogen gekonnt aufbaut: Mary wird von einem Geräusch im Diner geweckt und fürchtet, dass der Besitzer Ernie - im Ausgangstext noch effektvoll als „three-fingered man“ beschrieben - zurückgekehrt ist. Hastig eilt Mary zum Fenster und klettert hinaus. Durch S 22 als Gedankengänge der Ich-Erzählerin umgesetzt, wird die Entscheidung für den regelwidrigen Schlafplatz gerechtfertigt, werden im Schülertext Handlun- <?page no="162"?> 162 gen und Motive des literarischen Charakters nachvollziehend kommentiert (24). Zugleich bindet S 22 aber auch Roger in ihre Ich-Erzählung mit ein, koordiniert damit Perspektiven einzelner Charaktere (15) und zeigt, indem sie Mary Schuldgefühle durchleben lässt, dass sie als Produzentin der Erzählung Marys Entscheidung für den Regelverstoß kritisch betrachtet und so die Handlungen und Motive des Charakters kritisch bewertet (14). Es ist besonders dieses Phänomen, das in Abhängigkeit zur Situation und zum schriftlichen Modus zu sehen ist, denn das Widersprechen der Schülerin findet Ausdruck in dem, was sie Mary durchleben lässt: Mary erkennt ihr Mogeln und ihr wird schlecht beim Gedanken an ihren Cousin, der vermeintlich das regelgerechte Ritual über sich ergehen lässt. So sind es nicht nur eigene Wertvorstellungen, sondern auch kulturelle Begebenheiten der fremden Sichtweise (31), die die Schülerin im Ausgangstext erkennt und in die Gestaltung ihre Erzählung einfließen lässt. Letztgenanntes zeigt sich im Schluss der Erzählung, in dem S 22 - gewissermaßen als Pointe im Spannungsbogen - Mary die Entscheidung treffen lässt, doch den Schlafplatz im Diner zu wählen und so die Gewissensbisse ob des Hintergehens ihres Cousins zu ignorieren, dort dann auf diesen treffen lässt. Beide fallen sich lachend in die Arme, nutzen gemeinsam das Diner als Schlafplatz und verpflichten sich zu Verschwiegenheit: „This is our little secret of our Ta-Na-E-Ka“. Bei dem Produkt handelt es sich wie bereits erwähnt um eines der gelungensten, die in der Stunde präsentiert wurden. Festzumachen ist dies vor allem am gekonnten Aufbau des Spannungsbogens. Zudem ist es die Interaktion von unterschiedlichen Teilleistungen, die von einer komplexen Auseinandersetzung mit dem Gelesenen zeugen, werden doch Leerstellen ausgehend vom Text gefüllt, zeigen sich unterschiedlich facettierte Wertungen und Kommentare von Handlungen und Motiven, werden die zwei Perspektiven der Handelnden gekonnt aufeinander bezogen und wird nicht zuletzt der zentrale Konflikt des Textes und sein kultureller Kontext dadurch eingebunden, dass sich die Schülerin in ihrer Erzählung auf die im Ausgangstext präsentierten kulturellen Begebenheiten einzulassen weiß. Das, was sich als Leistung beschreiben lässt, ist entlang des Modells von Burwitz-Melzer wie folgt zu verorten: Gemäß des Arbeitsschritts „eigene Textproduktion“ (2007a: 145) gelingt es der Schülerin, ihrer „fremdsprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten entsprechend“ (ebd.) einen eigenen fiktionalen Text zu schreiben (kognitive und affektive Kompetenzen). Darüber hinaus ist zu erkennen, dass auch „fremdkulturelle Inhalte […] bei der eigenen Textproduktion“ (ebd.) berücksichtigt werden (interkulturelle Kompetenz). Allerdings werden nicht alle im Modell enthaltenen Bereiche aktiv. So lässt sich zwar ausmachen und der Anschlusskommunikation zuordnen, dass „die verfassten Texte in der Fremdsprache“ vorgestellt werden (ebd.), die zusätzlich beschriebenen Komponenten, dass diese ausführlich <?page no="163"?> 163 diskutiert werden (vgl. ebd.), findet in der Sequenz jedoch keine Entsprechung. Gleiches gilt für den Bereich der Reflexion, denn auch hier zeigt sich nicht, dass „die Ergebnisse und Erfahrungen dieses Lernprozesses mündlich und schriftlich in der Fremdsprache“ (ebd.) verhandelt werden. Hier ist anzuführen, dass die sich im Unterricht entwickelnde Situation eben auf diese Aspekte keinen besonderen Schwerpunkt legt, also die Lenkung im Unterricht durch die Lehrkraft genau jene Aspekte hätte integrieren können. Hinzukommt, dass die in den Kompetenzbeschreibungen enthaltenen Teilleistungen nicht zwingend in einer Situation gebündelt aufzufinden sind. Dass sie jedoch nicht gänzlich außen vor bleiben, ist der triangulierenden Ausrichtung des Forschungsdesigns zu verdanken, werden doch im noch zu präsentierenden Schülerinterview von der Schülerin Einsichten geboten, die sich auf die Reflexion des Schreibens beziehen (cf. 7.1.5). Hingegen ist es erneut der Bereich der Motivation, der damit beschrieben wird, dass, „angeregt durch den Originaltext, Motivation zum Verfassen eigener Texte in der Fremdsprache“ (ebd.) von den Lernenden entwickelt wird, der sich in dem zu beobachtenden Verhalten bzw. der Performanz im Schülerprodukt nicht bestätigt findet, allenfalls dadurch Berücksichtigung finden kann, dass der Ausgangstext eben als Anlass für die Textproduktion dient (31). Dass auch in anderen Schülertexten ein ähnliches Muster an Teilleistungen und deren Zusammenspiel auszumachen ist, soll veranschaulicht werden, indem ein weiterer Schülertext untersucht wird. S 5 After a few minutes I woke up. In front of the restaurant, where I slept for a short moment, there was a noise. I was very tired and I (unverständlich) slept for a long time, but suddenly I heard the voices from two men. Oh no! One of the men was the owner of the restaurant. I went to the window and looked through-through it. I was frightened. The owner opened the door and he and his friend went in. I got fear and wanted to hide behind a curtain, but I was too late. The three-fingered man looked at me with his dark eyes. His face looked angry and the next second he shouted with a loud voice. I could cry, but I didn’t. I wanted to explain the situation, but he grabbed my arm hardly, and I had to follow him. 29, 30, 22, 11, 27 12: 48 S 5 He called my grandfather and after only a few minutes he arrived. He didn’t understand why I slept in the restaurant. My grandfather told me that I had to stay for fifteen days the Ta-Na-E-Ka and when I broke the rules, I had to go to the police. I was shocked. Now the situation was harder than before. I hated my grandfather and in the next morning I told Roger about it. He wanted to help me to escape. <?page no="164"?> 164 L Thank you. Well done. L kommentiert S n Klatschen L So who has written about discrimination? - Ähm, discrimination that-that-there she is discriminated because she is an Indian girl and the three-fingered man, äh, doesn’t like her, doesn’t like her to be there. Who has written that as a point? (niemand meldet sich) L formuliert Fragestellung S 18 Ich hab über Tiere geschrieben. S 4 Das ist viel zu tiefgründig. 12: 49 L So who has written that she’s going to survive by hiding in the restaurant because she is hiding in the restaurant? (eine Meldung) L fragt Gemurmel L And who has written, as S 5 did, that she’s, äh, that her grandma-father is called and she has to give up Ta-Na-E-Ka. (die meisten Meldungen) L fragt Tabelle 32: G10 I (4. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 153-164) Die Schülerin S 5 liest ebenfalls den eigenen Text vor (29), für den auch der Ausgangstext als Anlass der Produktion zu werten ist (30), und formuliert in ihrer Erzählung somit Hypothesen über den weiteren Verlauf bzw. mögliche Komplikationen (22), in die Mary geraten könnte. Indem sie einbindet, dass Mary nach dem Erwachen zwei Männer vor dem Diner bemerkt und darauf mit Angst und Schrecken reagiert (im Schülertext mit „I was frightened“ korrekt und mit „I got fear“ problematisch umgesetzt), werden im Schülerprodukt Gefühle des Charakters nachvollziehend und der Situation entsprechend beschrieben (11). Der Spannungsbogen im Schülerprodukt führt dann dazu, dass die beiden Männer Marys Großvater informieren, der wenig Verständnis für Mary Tun zeigt und sie als Folge ihres Regelverstoßes das Ritual erneut durchlaufen lässt, allerdings für zehn Tage und damit droht, bei erneutem Verstoß die Polizei einzuschalten. Dadurch, dass die Schülerin den Großvater erscheinen lässt, berücksichtigt sie in ihrem Text den kulturellen Konflikt (27), in den sich Mary verstrickt. Und in diesem Zusammenhang ist auch der Impuls der Lehrerin zu verstehen, die danach fragt, ob in anderen Schülererzählungen Diskriminierung, die hier als Erweiterung des kulturellen Konfliktes verstanden werden kann, eine Rolle spiele. Als sich niemand darauf meldet, fragt die Lehrerin nach weiteren möglichen Konflikten, wobei die Variante, dass Mary von ihrem Großvater dazu gebracht wird, das Ritual erneut und verlängert zu absolvieren, die meisten Meldungen erhält. Im Unterricht folgt darauf die Vorstellung eines weiteren Schülertextes und im Anschluss daran wird der vorletzte Textabschnitt gelesen, in dem von Marys Erlebnissen zusammen mit dem Besitzer des Diners, Ernie, berichtet <?page no="165"?> 165 wird, der sie beherbergt, wofür sie im Gegenzug aushilft. Die Lesephase dauert circa fünf Minuten und wird von dem Leseauftrag begleitet, Schlüsselbegriffe und unbekannte Wörter farblich zu markieren. Zu codieren ist das Schülerverhalten erneut damit, dass der Text orientierend gelesen (5a) und die Aufgabenstellung bearbeitet wird (6). Am Ende der Stunde formuliert die Lehrerin die weiterführende Aufgabenstellung: 12: 59 L I want you now to find verbs, nouns, adjectives and words, which have something to do with cultural, ähm, topics. Indian culture and US American culture. Ja. Ta-Na-E-Ka is one of them. Maybe you find more. Because after all we want to compare cultures. Western culture, Indian, Mary’s culture, your culture, and therefore we want to collect words which have something to do with culture. So therefore, you have to re-read the text. Or you have to scan the text. Therefore, I did ask you to underline keywords, too. Now it’s easier to remember, what is in each in paragraph. Scan the text and try to understand words which have some to do with culture. L formuliert Aufgabenstellung 13: 00 L I guess, you’re going to find a few. Arbeitsphase; SuS suchen im Text nach fremdkulturellen Begriffen Tabelle 33: G10 I (4. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§232-236) Auch in diesem Fall ist es so, dass die Lehrerin auf Lesetechniken verweist. Den Arbeitsauftrag spezifiziert sie dahingehend, dass der gelesene Abschnitt nach kulturellen Begriffen durchsucht werden soll (scanning), da in der Folgestunde die im Text auszumachenden Kulturen und Vergleiche mit dem eigenen kulturellen Kontext im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen werden. <?page no="166"?> 166 6.2.2.4 5. Stunde G10 I Eingeleitet durch den selektiven Leseauftrag wird als erster Kommunikationsanlass der Stunde im Unterrichtsgespräch über kulturelle Elemente, die sich im Text ausmachen lassen, gesprochen. L Ähm, I did ask you to underline ähm, words, expressions, sentences, äh, which have something to do with the culture, different cultures, American, Indian culture. Who found anything? Something. It doesn’t matter what it is, just some ideas. L formuliert Aufgabenstellung S 15 For example, ähm, Ta-Na-E-Ka was a test of survival, page two, line twenty-three. 1, 7, 18 8: 57 L Page two, line twenty-three… So obviously Ta-Na-E-Ka is an cultural expression. L kommentiert Schüleräußerung S 15 Ja. L S 24. S 24 Ähm, ehm, they learned that it’s for hundred of years. 1, 18 L Page, line? S 24 Ähm, page six (unverständlich), line twenty-four-five. L Page six. S 24 Line twenty-five. L Can you read it again? S 24 We’ve been doing this for hundred of years. 21 L It’s about the traditions, ja. L kommentiert L S 25. S 25 Page one, line seven, with his family he used a Sioux dialect. 1, 18 L Ja. S 3. 8: 58 S 3 Page one, line five and six, hand-made, äh, he still wore hand-made beaded moccasins instead of shoes and kept his iron grey hair in tight braids. 1, 18 L S 18. S 18 Ähm, page two, line twenty, and girls as well as boys were required to undergo Ta-Na-E-Ka. 1, 18 L Ja. Ähm, S 1. S 1 Page one, line nineteen, none of the other tribes makemade girls go to the (falsch) endurance ritual. 1, 18, 21 L (Korrigiert) endurance. L korrigiert S 1 Ritual. L Yeah. S 10. S 10 Ähm, page two, line thirty, ähm, we did have enemies, both the white soldiers and the (falsch) Omaha wawarriors. 1, 18 L It can you read on the sentence. <?page no="167"?> 167 S 10 Both, the white soldiers and the Omaha warriors, who were always trying to capture äh, all the boys and girls undergo the endurance test. 21 8: 59 L S 8. S 8 Page three, line twenty-one, gran-grandfather was in charge of the month training for Ta-Na-E-Ka. 1, 18 L Mhm. S 15. S 15 Äh, page three, äh, sorry page two, line eight, living on a reservation. 1, 18 L (unverständlich) S 11. S 11 Page one, line thirteen, eleven was a magic word among the Kaws. 1, 18 L Mhm. S 8. S 8 Page three, line twenty-one, twenty-two and twenty-three, one day he caught a grasshopper and demonstrated how to pull its legs and wings off in one flick of the fingers and how to swallow it. 1, 18, 21 L Mhm. S 24. 9: 00 S 24 Page three, ähm, line one, ähm, my grandfather had said the experience would be (unverständlich) adventure. 1, 18, 21 L Do we learn anything about the language? The Kaw Indian language? S 14 ? L formuliert Fragestellung S 14 Ähm, page one, line seven, with his family he used a Sioux dialect. 1, 18 L Yes. S 14 And then page two, line eleven, auch, äh, like most of the southern tribes nee, Quatsch. Sorry. S 1 Ähm, page four, line, äh, thirty-three ‘N’ko-n’ta’ (lacht). 1, 18 L Yes (lacht auch). It’s a word for? S 1 Courage (spricht französisch aus). Courage (verbessert sich selbst). L Courage…And…which both cultures do meet in that short story? Why is Mary between? S 8. L formuliert Fragestellung 9: 01 S 8 The Native American culture and the American culture. 1, 12 L Yes. And do you find anything which is typical for the modern American culture? S 18. L formuliert Fragestellung S 18 Hamburgers and milkshake in the restaurant. 1, 18 L Ähm, S 11. S 11 Äh, one, äh, page six, line twenty and twenty-one, the guy says Ta-Na-whatever you call it, that’s typical for American disinterest. 1, 18, 12 L (lacht) S 8. <?page no="168"?> 168 S 8 It, äh, is it cultural that the restaurant closed at sunset, or is that only of one (unverständlich)- 1 L I’m not sure, maybe it’s typical for USA, I’m not sure - I don’t know. I have never been to the USA. S 8 Aha. 9: 02 L S 11. S 11 Page six, line twenty-one and twenty-two, “pretty silly thing to do a kid”, that’s his opinion about Ta-Na-E-Ka, but he doesn’t know Ta-Na-E-Ka so well, and he just says at first, oh it’s bad, and maybe if once tried it, he would say, oh, it’s good, so- 1, 18, 12 L He’s äh at first he’s ignorant, äh (unverständlich) L kommentiert Schüleräußerung S 11 Yes. 9: 03 L Very good. Well done…So I gave you part three already, didn’t I? ...And äh…I want you now to work in pairs- L kommentiert Schüleräußerung L About the questions-Yes do you think, Mary has, ähm, passed the test, die he do-did she do her Ta-Na-E-Ka, or did she fail. - Did she do it? Yes? Did she fail? Why? Why not? I want to work-I want you to work in pairs, take some notes, talk to your neighbor first. Discuss it with your neighbor first, only write down some short sentences about your ideas. Ok? L formuliert Aufgabenstellung Tabelle 34: G10 I (5. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 21-89) Ähnlich wie während der Charakterisierung Rogers lässt sich das Schülerhandeln hier codieren. Die Lernenden äußern sich in der Zielsprache (1) und geben entsprechende Textstellen (18) als Resultat des textnahen Lesens der vorausgegangenen Aufgabenstellung an. In manchen Fällen wird aus dem Text vorgelesen (21), in anderen paraphrasieren die Lernenden jedoch die angeführte Passage. Gleich der erste Schülerbeitrag ist zusätzlich damit codiert, dass der Schüler S 15 über das kulturelle Konzept (7) Ta-Na-E-Ka spricht, indem er dessen Inhalt herausstellt. Die Lehrerin kommentiert dies und kennzeichnet Ta-Na-E-Ka als kulturelles Element. Darauf folgend werden von den Lernenden Aspekte des Rituals (S 24 , S 1 , S 8 ), der indianische Dialekt (S 14 , S 25 ), die Kleidung des Großvaters (S 3 ) sowie andere Stämme (S 10 ) erwähnt. Die von den Schülerinnen und Schülern genannten Elemente sind der Textoberfläche zu entnehmen, haben mit dem selektiven Lesen zu tun und setzen Leistungen voraus, die mit manipulating understanding (vgl. Brown 1994: 12) in Zusammenhang stehen. Allerdings ist die Frage der Lehrerin, welche Kulturen sich in der Short Story begegnen, eher dem narrative understanding zuzuordnen, da nicht nur der Textoberfläche Information entnommen werden muss, sondern <?page no="169"?> 169 Konflikte, Komplikationen und das Setting zu koordinieren sind (vgl. ebd.: 16-18). Codierungsseitig findet dieser Unterschied darin Entsprechung, dass an der Aussage von S 8 zu erkennen ist, dass der Schüler unterschiedliche kulturelle Perspektiven (12) im Text erkennt. Die Lehrerin nutzt dies, um nach Elementen im Text zu fragen, die sich auf die US-amerikanische Kultur beziehen. Hier zeigt sich, dass es den Lernenden schwerer fällt, dies am Text festzumachen, denn bis auch die von S 18 angeführten „hamburgers and milkshakes in the restaurant“ gibt es im Vergleich zur indianischen Kultur kaum eindeutig zuzuordnendes Wortmaterial. Interessant ist in diesem Zusammenhang besonders die Äußerung von S 11 , der ebenfalls eine Textstelle anführt (18) und die darin enthaltene implizite Charakterisierung Ernies dafür nutzt, kritisch über dessen Reaktion auf Marys Bericht über das Ritual zu sprechen. Darin ist enthalten, dass der Schüler Ernie als Vertreter der USamerikanischen Kultur und so unterschiedliche kulturelle Perspektiven erkennt (12), die der Schüler als „typical American disinterest“ umschreibt. Die Reaktion der Lehrerin, die daraufhin lacht und einen weiteren Schüler aufruft, der danach fragt, ob die Öffnungszeiten des Diners als kulturelles Element gesehen werden können, schein zunächst verwunderlich, da sie den vorurteilbehafteten Beitrag nicht zurückweist. Allerdings kann ihre Reaktion auch so gedeutet werden, dass sie den Schüler S 11 veranlasst, sich erneut zu melden und seine Äußerung zu rechtfertigen. Denn in seiner zweiten Aussage geht er erneut auf Ernies Meinung zum Ta-Na-E-Ka ein und führt aus, dass diese abwertende Haltung gegenüber dem Ritual viel zu verkürzt sei und auf fehlender Erfahrung beruhe. Auch hier ist es so, dass der Schüler mit seiner Äußerung sehr nahe am Text ist, denn durch Ernies Reaktion sieht sich Mary veranlasst, das von ihr eigentlich abgelehnte Ritual zu verteidigen, wodurch die zwei unterschiedlichen kulturellen Perspektiven in der Short Story Entsprechung in der Innensicht Marys finden. Die Lehrerin kommentiert den Schülerbeitrag bestätigend und formuliert als weiterführende Aufgabenstellung, dass in Partnerarbeit Argumente dafür gesammelt werden sollen, ob Mary das Ritual bestanden oder nicht bestanden habe. Die Partnerarbeitsphase dauert etwa sieben Minuten und die im Plenum gesammelten Ergebnisse sollen nun anhand von zwei Schüleräußerungen betrachtet werden: L Ok, stop talking please…Äh, what is your opinion? - S 1. S 1 Ähm, she failed because she cheated, ähm, she took money from her teacher, for buying food. Ähm, the idea with the restaurant would be-would have been ok if she didn’t take money with her. 1, 26 31, 14 9: 12 L Ok. You think the money is the reason that she failed. S 1 Yes. <?page no="170"?> 170 L S 14. S 14 I’m not sure if she really passed the test because, ähm, she was very clever and know to survive, which is al-also part of Ta-Na-E-Ka, and, ähm, she did lear-did learn something about another culture and-and think about in conflict with her own with her own culture. And that’s a point for me important. 1, 32 24 31 Tabelle 35: G10 I (5. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 156 - 162) Die Schülerin S 1 reagiert als erste auf die Fragestellung, spricht in der Zielsprache (1) und nimmt, indem sie auf Marys Ta-Na-E-Ka eingeht, Stellung zum Textinhalt (26), stehen doch die eigenen Reaktionen auf das Gelesene als Konstruktionsleistung im Vordergrund. Sie entscheidet sich dabei gegen ein Bestehen des Ta-Na-E-Ka, was darauf schließen lässt, dass es ihr gelingt, die im Text mit dem Ritual verbundenen kulturellen Aspekte und Begebenheiten zu berücksichtigen, sich auf diese einzulassen (31) und die darin transportierten Informationen mit Marys Handlungen in Beziehung zu setzten, die die Schülerin kritisch bewertet (14) und als „cheating“ bezeichnet. Ausschlaggebend - drauf deutet auch die Antwort auf die Nachfrage von L hin - ist für S 1 nicht etwa das Nächtigen im Diner, sondern das Geld, dass Mary verbotenerweise bei sich hat. Hier bietet die Verortung entlang der Pole Wissen und Können Aufschluss über die der Leistung zugrundeliegenden Kompetenzen: Wissen wird durch kommunikatives Handeln und die personalen Reaktionen im kulturellen Kontext des literarischen Textes repräsentiert, da die Schülerin auf den Text, seine Charaktere und seine im kulturellen Kontext eingebundenen Konflikte zurückgreift. Können bedeutet in diesem Sinne, dass es ihr gelingt, durch die eigenen Konstruktionsleistungen in Verbund mit dem zuvor erwähnten textuellen Wissensbestand auch durch Einbeziehen ihres eigenen Weltwissens eine Interpretation des Verhandelten herzuleiten. Ihre Aussage lässt sich also dahingehend deuten, dass die Schülerin auf den Text reagiert, diese Effekte mit den eigenen Einstellungen, Gefühlen, Werten und Normen abgleicht, sich gewissermaßen zum Resonanzkörper des im Text Verhandelten werden lässt, und so einen eigenen Textsinn aufbaut und von diesem ausgehend ihre Stellungnahme kommuniziert. Koordiniert werden dabei die eigene Perspektive und die unterschiedlichen im Text enthaltenen (fremd-)kulturellen. Dass die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme auf Basis des textuellen Wissensbestands bei der Meinungsäußerung auch anderer Lernenden eine maßgebliche Rolle spielt und durchaus unterschiedlich ausgelegt bzw. gewichtet werden kann, lässt sich auch anhand der Äußerung von S 14 veranschaulichen. Anders als S 1 fällt S 14 ein Urteil nicht so eindeutig, bewertet er <?page no="171"?> 171 doch Marys Handeln differenzierter, kommentiert Marys Motive (24) und scheint die kulturellen Begebenheiten (31), auf das Ritual anders zu deuten. Und zwar in dem Sinne, dass er es als „test of surviving“ und „test of cleverness“ fasst und Marys Erfahrung als interkulturelles Lernen beschreibt, als ein Lernprozess, der durch den Konflikt Marys entsteht, zwischen zwei Kulturen vermitteln zu müssen. Der Schüler geht damit über die eigene Stellungnahme zu den Textinhalten hinaus und äußert sich zum Textsinn (32), indem er den zentralen Konflikt als eben diesen identifiziert. Diesen Gedanken greift der Schüler am Ende der nächsten Sequenz, die zur gleichen task im Unterrichtsgeschehen gehört, erneut auf: 9: 14 S 24 I think she didn’t pass the test because she didn’t follow the role-model of her grandfather, and when she tells him that, ähm, he will be disappointed. 1, 26, 14 31 L Ja…role-model. Very, very good idea. S 8. S 8 But the grandfather could, ähm, think she was very clever and she cheated well prepared. geht auf Beiträge anderer ein (33) 26 24 L Mhm. S 8 And so she passed. L Aha. S 8 Because she is so intelligent. L S 11. S 11 I agree with S 8 because she was working with brain and that’s the task I think. 33 32, 24 L kommentiert Schüleräußerung bezieht den Text auf eine außerliterarischen Realität (34) L Ja. To survive - (unverständlich) they don’t they didn’t say how to survive. S 14. S 14 Maybe she only did, ähm, a modern version of Ta-Na-E- Ka. Tabelle 36: G10 I (5. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 182 - 192) Zunächst drückt aber S 24 aus, dass Mary den als Test umschriebenen Initiationsritus nicht bestanden habe und begründet dies, indem sie die Perspektive des Großvaters hinzuzieht. Die Schülerin ordnet das, was man aus dem Text über den Großvater und dessen Wertvorstellungen erfahren kann - ähnlich wie zuvor S 1 - gewissermaßen dem traditionellen Paradigma der fremdkulturellen Perspektive zu, und lässt sich auf die kulturellen Begebenheiten ein (31). Seine Weisungen, seine Vorbereitung der beiden auf das Ritual werden von der Schülerin als „role-model“ bezeichnet, dem Marys Handeln nicht gerecht wird. Und aus diesem Blickwinkel, bei der die Ansichten des Großvaters als Projektionsfläche einen maßgeblichen Einfluss ausüben, werden Ma- <?page no="172"?> 172 rys Handlungen von der Schülerin kritisch bewertet (14). Es ist S 8 , der auf diesen Beitrag direkt eingeht (33) und zu bedenken gibt, dass auch der Großvater einen differenzierten, weniger stereotypen, weniger schematischen Blick auf das Ritual haben könnte und Marys Brechen der Regeln als einfallsreich und damit das Ritual als bestanden anerkennen könnte, wodurch der Schüler nicht nur Stellung zum Textinhalt nimmt (26), sondern auch die Motive im Textzusammenhang erklärend-deutend kommentiert (24). S 11 geht direkt auf diesen Beitrag ein (33), stimmt der Aussage zu, nimmt Stellung zum Textinhalt (26) und bezieht darin das Ritual mit ein, indem er intelligentes Handeln als zentralen Aspekt des Rituals beschreibt. Die Lehrerin reagiert auf diesen Hinweis bestätigend und formuliert, dass nicht gesagt wurde, wie man in der Wildnis zu überleben hätte. Darauf, und auf die vorangegangenen Schülerbeiträge, reagiert S 14 und knüpft an die von ihm als interkultureller Lernanlass umschriebene Erfahrung Marys an, indem er ihr Handeln als moderne Version des Rituals bezeichnet. Im Unterschied zur Äußerung von S 8 ist hier also enthalten, dass es dem Schüler gelingt, Marys Handlungen und Motive in einem Begründungszusammenhang einzuordnen und damit den Text auf eine außerliterarische Realität zu beziehen (34). Um dies nachzuzeichnen, ist der Kontext der Schüleräußerung zentral: Nicht nur, dass S 14 an seine im Beispiel zuvor formulierte Interpretation anschließt, er baut auch auf den Beiträgen der anderen Lernenden auf und verlässt für seine Konstruktionsleistung die Textoberfläche. Denn die im fiktionalen Wirklichkeitsentwurf zu findenden Bedingungen, Normen, Werte und gerade die daraus resultierenden Konflikte, in die Mary seiner Meinung nach gerät, bezieht der Schüler mit der vorgenommenen Deutung auf eine nicht näher spezifizierte außerliterarische Realität, da er sie als moderne, als auf die lebensweltlichen Umstände besser angepasste Form des Rituals bezeichnet. Dem Schüler gelingt es mit dieser Konstruktionsleistung für Marys Handlungen mögliche Konsequenzen zu imaginieren und damit auch einen Bezugsbzw. Orientierungsrahmen zwischen eigener lebensweltlicher Erfahrung und dem im Text Dargestellten zu konstruieren, in dem logische Verläufe verortet werden können. Die Unterschiede zwischen den Schülerbeiträgen zeigen sich nicht nur durch die beiden Phänomene äußern zum Textinhalt (26) vs. äußern zum Textsinn (32), sondern auch durch die enthaltene Reflexion von Handlungen und Motiven. Indem nämlich der Schüler S 14 die im Unterricht entstehende Situation dafür nutzt, nicht nur zum Textinhalt Stellung zu nehmen, sondern den zentralen Konflikt als seine Interpretation des Textsinns zu kommunizieren, zeigt er ein komplexes Verständnis des im Text Verhandelten. Widerhall findet dieses dann in seinem Schluss, dass Marys Form des Ta-Na-E-Ka nicht nur auf die im Text konkret beschriebenen, sondern eben auch auf die narrativ hinzuzufügenden Gegebenheiten des (von ihm imaginierend ausgestalte- <?page no="173"?> 173 ten) kulturellen Kontextes zu beziehen seien. Damit gelingt es ihm schlussendlich, den Rahmen zu erweitern und um das Gelesene eine außerliterarische Realität zu konstruieren, die sich - dabei aber stets als Interpretation zu verstehen, bietet doch die Beobachtung, zumal es sich hier um high inference behaviour handelt, lediglich Raum für Projektion - sowohl aus seinem eigenen (Vor-)Wissen als auch aus dem Text zu entnehmenden speisen kann. Versucht man nun, diese Unterschiede mit den im Modell von Burwitz- Melzer (2007a) enthaltenen Komponenten zu beschreiben, so zeigt sich, dass das Verhalten zwischen den Fertigkeits- und Fähigkeitsbereichen als auch den Arbeitsschritten mäandert. Denn nicht nur, dass hier kognitive und affektive sowie interkulturelle Kompetenzen, aber auch Kompetenzen der Reflexion und Anschlusskommunikation eine Rolle spielen, die eigene Stellungnahme zu Textinhalten sowie Äußerungen zum Textsinn, in denen kulturelle Bezugsrahmen konstruiert werden, in denen eigene Interpretationen dazu führen, dass das im Text Enthaltene gewichtet und gedeutet wird, finden eher in den Zwischenräumen der Matrix eine Entsprechung. Ähnliches gilt für die Zuweisung der Arbeitsschritte, bewegt sich die auszumachende Schülerleistung doch auch irgendwo zwischen „Erwartungshaltung aufbauen und erhalten“, „Sinnkonstitution I & II“ sowie „interkulturelle Kompetenzen fördern“ (ebd.: 140-142). Dies hier anzudeuten, soll nur dazu dienen, auf einen Problembereich aufmerksam zu machen, der im weiteren Verlauf der Diskussion auf dem Weg zur eigenen Modellierung immer wieder aufgegriffen werden wird: Nämlich, dass die Integration der literaturdidaktischen Arbeitsschritte in ein Kompetenzmodell für den fremdsprachlichen Literaturunterricht zwar durchaus zu begrüßen ist und auch für die Planbarkeit von Unterricht einen essentiellen Bestandteil bzw. Mehrwert darstellt, sich aber die Frage zu stellen ist, ob eine starre Einteilung in ein Raster, wie es eine Matrix nun mal darstellt, diesen Zielen nicht tendenziell zuwider läuft. Denn als Schluss festzuhalten bleibt, dass so zwar Interaktionen zwischen den einzelnen Bereichen innerhalb der Spalten, also vertikal, zu beschreiben sind, weniger aber zwischen den Spalten der Matrix, sprich horizontal bzw. diagonal. So gesehen wird an dieser Stelle bereits auf eine Forderung verwiesen, die später noch deutlicher formuliert werden soll: Und zwar, dass einer Kategorisierung der Arbeitsschritte besser durch einen distinkten Bereich denn durch eine Matrix zu entsprechen ist. Vor allem deshalb, da so die in den Schülerleistungen enthaltene Interaktion zwischen den einzelnen Modellkomponenten besser zu beschreiben wäre. Im darauffolgenden Kommunikationsanlass sind es erneut Erwartungen an den weiteren Verlauf des Textes, die im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen. Die Lehrerin formuliert die Frage, wie Marys Familie im letzten <?page no="174"?> 174 Teil der Geschichte auf ihre besondere Form des Ta-Na-E-Ka reagieren könnte: 9: 15 L Mhm…So what do you expect the parent and the family will react? We have got one part left the last…the last one. And obviously there we are going to find out how the family will react. So what do you think? What would happen? S 20. L formuliert Fragestellung S 20 Ähm, I think they accept the way from Mary to do a Ta- Na-E-Ka. 1, 22 L Mhm. Other ideas? S 26. S 26 I think they will be happy that she is äh alive. 1, 22 L Ja. S 26 But they will ask qus-questions and if they found out, ähm, that she cheated, they will be disappointed. 1, 22, 14 L Ok. S 25. S 25 Ähm, I think they found out and, äh, they will be very angry. 1, 22, 11 L Mhm. S 1. 9: 16 S 1 Ähm, if they found out, I think, ähm, her mother and her father would think that’s-that it was ok, but I think her grandfather would be very disappointed. 1, 22, 12 L Mhm. Could be differences in the family. S 15. L kommentiert Schüleräußerung S 15 Yes I think the parents, äh, find it out, but they don’t tell the-the grandfather, because äh, they expect the grandfather will be very disappointed and so they don’t tell it him. 1, 22, 12 L S 14. S 14 Maybe she have to do Ta-Na-E-Ka äh-äh twice. Also, a second time. 1, 22 L A second time? S 24. S 24 I think that they will be happy when they see her, but ähm, ähm they will recognize that she isn’t dirty or doesn-didn’t lost pound. 1, 22 L Thin don’t she isn’t earlier-ill or thin (lacht). No grasshoppers between her teeth. L kommentiert Schüleräußerung S n Lachen Letzte Seite der Geschichte wird verteilt 9: 17 9: 18 L This, ähm, lesson we do it the other way around. We lead itwe read it aloud first and then for the second time you read it on your own. Who wants to read? S 5. L formuliert Aufgabenstellung Tabelle 37: G10 I (5. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§193-216) Die Codierungen zeigen überwiegend Ähnlichkeiten, denn allen Beiträgen ist gemein, dass die Lernenden sich in der Zielsprache mündlich äußern (1) und <?page no="175"?> 175 dass Hypothesen über den weiteren Verlauf der Short Story formuliert werden (22). Unterschiede lassen sich vor allem damit beschreiben, dass die Folgen von Marys Handeln anders in den Schülerbeiträgen gewichtet werden. So spricht beispielsweise die Schülerin S 26 davon, dass die Familie negativ auf Marys Betrug reagieren könnte, worin enthalten ist, dass die Schülerin sich kritisch zu den Handlungen des Charakters äußert (14). Ähnlich argumentiert auch S 25 , mit dem Unterschied, dass sich die Schülerin nicht auf Einstellung und Gefühle Marys, sondern deren Familie bezieht (11). Die Schülerin S 1 koordiniert dann, indem sie die Reaktion des Großvaters der der Eltern gegenüberstellt, unterschiedliche kulturelle Perspektiven (12) auf Marys Regelbruch. Die Lehrerin kommentiert diese Aussage bestätigend und der Schüler S 15 spricht ebenfalls von unterschiedlichen kulturellen Perspektiven und führt als Hypothese an, dass die Eltern mit Mary zusammen dem Großvater die Geschehnisse aus Angst vor dessen Reaktion - immerhin ist der Großvater Häuptling des Stammes - verheimlichen. Danach formulieren S 14 und S 24 als Hypothesen, dass Mary das Ritual als Folge ihrer Handlung erneut durchlaufen müsse und dass die Familie schon aufgrund Marys äußerlicher Unversehrtheit erkennen müsste, dass sie das Ritual nicht regelegerecht durchlaufen habe. Ausgehend von diesen Erwartungen an den weiteren Verlauf des Textes wird das Ende der Short Story im Unterricht verteilt und diesmal zunächst laut im Plenum und anschließend in Einzelarbeit mit Fokus auf die Reaktionen der Familie gelesen. Auf diese etwa sechsminütige Phase folgt, dass im Unterrichtsgespräch die Reaktion des Großvaters auf Marys Geständnis thematisiert wird: 9: 24 L Ok, who can sum up what happened now in the end of the story. We had some ideas before about that part of the story and what happened in the real short story? - Between Mary and her parents and her grandfather. What about her grandfather. Is he angry? Is he throwing her out of the house? Is he forcing her to repeat - Ta-Na-E-Ka? Or what is he talking about. S 22. L formuliert Fragestellung S 22 Roger looks very, ähm stupid? (lacht, unverständlich) sad and ähm, ähm Mary is the opposite of this and so the grandfather ask her why she she kept so well and she answered that she was eating hamburgers and drinking milkshakes. She tells the truth. And her grandfather laughed, loud. Ähm, and he said it’s ok - 1, 13 9: 25 S 22 She should do something else, but ähm he thinks that she will ähm (schaut in den Text) she wouldn’t have any troubles with surviving in her life. 1, 13 L Did the what is her grandfather talking about, telling her about his own Ta-Na-E-Ka. S 8. L formuliert Fragestellung <?page no="176"?> 176 S 8 She, äh, he äh, didn’t eat the berries too. He found a deer. 1, 13 L Mhm. S 8 Dead deer. L Is it much different to Mary’s Ta-Na-E-Ka? - S 4. L formuliert Fragestellung S 4 I think her grandfather, ähm, had luck, and she just (betont) found five dollars (unverständlich). So she, ähm, ähm, not much to, ähm- 1-13-Fragment L More opinions about that? What are the differences? S 8. S 8 Only the time. But it-it’s - 1, 13 9: 26 L Ja, maybe and this place where to sleep. L kommentiert Schüleräußerung S 8 Yes. L S 15. S 15 And the food was a little bit different then- 1, 13 L Ja (unverständlich). S 15 I wouldn’t eat a dead dear- 1, 13, 14 L Yeah! S 15 Because I don’t know when it was shot, äh- L Lacht S 15 How old it is so it’s very - L S 24. S 24 Unverständlich L Ja…you have got a homework for next Wednesday obviously. Again writing a page or something, which we can collect. Again. this is the most important homework, because there we can , äh, see, what you learned doing this unit…(schreibt Aufgabenstellung an die Tafel). L formuliert Aufgabenstellung L nutzt Medien 9: 27 L The reservation has got a newspaper. An Indian Newspaper, with Indian reporters, ok. It’s not a modern American reporter, telling something about the other culture, but it’s one of them who writes the article. This is important, ja? So you are another Indian, during that time, writing about Mary’s, about Tanaeka, Ta-Na-E-Ka äh, in general, and about Mary’s Ta-Na-E-Ka especially. And a short article, one page again. (an S 18 ) A serious one. Tabelle 38: G10 I (5.Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 232-260) Im Unterrichtsgespräch wird von den Lernenden die im Text dargestellte Veränderung (13) in der Zielsprache benannt (1). S 22 reagiert als erste auf den Impuls der Lehrkraft und spricht davon, wie Roger auf Marys Unversehrtheit reagiert, wie Mary auf die Fragen des Großvaters die Wahrheit erzählt und wie der Großvater darauf mit einem Lachen reagiert. Sie ergänzt, indem sie <?page no="177"?> 177 unter sprachlichen Schwierigkeiten anführt, dass der Großvater zwar etwas anderes erwartet habe, jedoch meint, Mary wird ihren Weg im Leben schon finden. Daraufhin fragt die Lehrerin, ob man etwas vom Ta-Na-E-Ka des Großvaters erfahre, denn im Text berichtet dieser davon, dass er während seines Rituals, das damals noch länger dauerte, einen toten Hirsch fand, der ihm das Durchlaufen ermöglicht habe. S 8 äußert sich zu dieser Frage und führt an, dass der Großvater dank des toten Hirsches auch keine Beeren gegessen habe. Dies scheint die Lehrerin zu veranlassen, nach Unterschieden zwischen Marys Ta-Na-E-Ka und dem des Großvaters zu fragen. Worauf S 4 reagiert, es ist allerdings so, dass die Äußerung des Schülers nur als Fragment zu codieren ist, da zwar zu verstehen ist, dass er - besonders durch die Betonung von „just“ - die Ähnlichkeiten auf das Glück der beiden bezieht, dies aber nicht von ihm weiter ausgeführt wird. Und S 8 führt an, dass sich vor allem die Zeiten geändert hätten. Darauf nennt die Lehrerin den Schlafplatz, der Schüler S 15 erwähnt das Essen und äußert sich, indem er sagt, er selbst würde keinen toten Hirsch essen, kritisch zu dieser Handlung (14). Daran schließt sich die letzte Aufgabenstellung der Stunde an: Als Hausaufgabe sollen die Lernenden einen Zeitungsartikel für eine Reservatzeitung schreiben, der Ta-Na-E-Ka im Allgemeinen und Marys Version im Speziellen behandelt. 6.2.2.5 6. und 7. Stunde G10 I In der letzten Doppelstunde der Einheit lassen sich vier tasks ausmachen, die hier an Ausschnitten verdeutlicht werden sollen. Zu Beginn der Stunde ist dies zunächst die Präsentation eines Schülerprodukts. Darauf werden die Lernenden aufgefordert, über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der präsentierten fremdkulturellen Lebenswelt und der eigenen nachzudenken. In der dritten task formulieren die Lernenden Titel für die einzelnen Textteile und betrachten so storylines, den Plot, die Darstellung und Spannungsbögen des literarischen Texts eingehender. Die Einheit abschließend steht ein Vortrag einer Recherchegruppe im Mittelpunkt der Analyse. Als Report, den die Lernenden als Hausaufgabe für eine Zeitung des Reservats über Marys Ta-Na-E-Ka formulierten, wird ein Schülerprodukt ausgewählt, das als besonders gelungen angesehen werden kann. Der Präsentation im Plenum ging eine etwa fünfzehnminütige Partnerarbeitsphase zum peer editing sowie vier Präsentationen von Schülerprodukten voraus. Das hier diskutierte wird vor allem deshalb ausgewählt, weil sich die Codierung sowohl als repräsentativ für die anderen Schülertexte zeigt als auch Besonderheiten auszumachen sind, die in den anderen Reports nicht zu finden sind. <?page no="178"?> 178 L Anybody else who wants to read? No? Then I want- Ja! S 1. 12: 15 S 1 (räuspert sich) Äh, Ta-Na-E-Ka today. Last week Mary and her cousin Roger Deerleg returned from their Ta-Na-E- Ka. They were trained for it together, but they did it in different ways. Roger went the traditional way with eating berries and grasshoppers and sleeping in the w-wilderness. He was a brave (spricht falsch aus) warrior in that days and his family is so proud of him. But Mary went another way, an unfair way, because she cheated. She asked her teacher for five dollars and took them with in the-in the wood. While her cousin and-had a very heavy time, she took the money for eating and sleeping in a restaurant. I spoke with the owner of the restaurant and he told me that he had never heard such a rubbish. But he don’t know our tradition. 29, erweitert mit dem eigenen Text den Textsinn (35), 31, 27, 14, 15, L korrigiert 12 L (korrigiert) Doesn‘t. S 1 Hm? L He doesn’t know.. S 1 (korrigiert sich) He doesn’t-he doesn’t know our tradition. Mary cheated and that in a very terrible and unfair way. 12: 16 S 1 I asked her if she had a bad (spricht falsch aus) conscious, but she only answered that she had a very nice time. Her grandfather told me that he thought she would never have any problems to survive and he laughed. But that also -hhe was the one who wanted Mary and Roger to t-do to do the Ta-Na-E-Ka. Most other Indians will-would send Mary out again and tha-that for a longer time and without any money. But she passed her Ta-Na-E-Ka even if she had cheated. (räuspert sich) So is Mary a wso is Mary’s way to do Ta-Na-E-Ka the modern, the new way? And what is about Indians like Roger? Won’t their deserved reputation? I don’t know. I can only hope that there are not more Indians like Mary and her grandfather. Tabelle 39: G10 I (6. und 7. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 209 - 217) Schon bei anderen Schülertexten zeigte sich anhand der Codierung, dass in schriftlichen Produkten mehr Phänomene miteinander interagieren, als dies in mündlichen Kommunikationsanlässen der Fall ist. Zurückzuführen ist dieser Umstand vor allem auf die als vorbereitend zu wertende Leistung, denn schriftliche Produkte können geplant und überarbeitet werden, werden nicht ad hoc formuliert und enthalten so eine potentiell höhere Bandbreite an Perspektivierungen. Im Beispiel zeigt sich zunächst, dass die Schülerin ihr eigenes Produkt in der Zielsprache vorliest (29) und entsprechend der Aufgabenstellung durch kreative Verfahren den Textsinn erweitert (35). Hier als neu zu entdeckendes <?page no="179"?> 179 Phänomen von einer Erweiterung des Textsinns zu sprechen, ist auf das zurückzuführen, was im Schülerprodukt verhandelt wird und den Textinhalt zwar zum Anlass nimmt, sich auch darauf bezieht, aber über ihn hinausgeht und somit den Textsinn durch eigenes Hinzufügen, durch eigene Deutung und Ausgestaltung erweitert. Konkretisieren lässt sich diese Erweiterung, indem man genauer untersucht, was die Schülerin in ihr Produkt einfließen lässt. Die im Produkt imaginierte Perspektive einer indigenen Reporterin, die über Marys Ta-Na-E-Ka berichtet, enthält, dass es der Schülerin gelingt, sich auf die kulturellen Begebenheiten der präsentierten Sichtweise einzulassen (34). Sie macht die in der Kurzgeschichte verhandelten fremdkulturellen Werte, Normen und Konflikte (27) selbst zum Thema ihres Textes. Und indem die Schülerin die Erlebnisse von Mary und Roger gegenüberstellt, rekonstruiert sie einen konfliktgeladenen kulturellen Kontext, indem sie aus der angenommenen Reporter-Perspektive heraus Marys Handlungen kritisch bewertet (14). Dabei sind der kulturelle Kontext und die Reflexion von Handlungen und Motiven eng miteinander verwoben: Indem die Schülerin nämlich eine Innenperspektive einnimmt, vermischen sich eigene Wertvorstellungen und aus dem Text bzw. dessen kulturellem Hintergrund entnommene und formen im Schülerprodukt gemeinsam eine Werthaltung. Koordiniert werden alle im Text auftauchenden Perspektiven der Charaktere (15), da die Schülerin neben der Stimme der Reporterin, der sich S 1 im Text bedient, und die das traditionell-konservative Paradigma der fremdkulturellen Perspektiven zu repräsentiert scheint, auch Ernies Standpunkt wiedergibt, von der sich im Schülertext aber - da nicht als Innenperspektive anerkannt - abgegrenzt wird. Auch Widersprüchlichkeiten im Handeln des Großvaters werden von der Schülerin bemerkt und im Text berührt, kontrastiert sie doch dessen Reaktion mit seinem anfänglichen Drängen, dass beide unbedingt das Ritual absolvieren müssten. So greift S 1 dann auch die bereits im Unterrichtsgespräch der vorangegangenen Stunde angeklungene Frage auf, ob Marys Form die moderne des Ta-Na-E-Ka sei, und nutzt sie im Schülerprodukt als rhetorische Frage, die mit einem als Hoffnung verkleideten Satz verneint wird. Als Funktion scheint die Reporterin im Schülertext den Gegenpol zu Marys Handeln einzunehmen. Eine Funktion, die vormals die Perspektive des Großvaters inne hatte, die aber nach dessen toleranter Reaktion im Muster von der Schülerin durch die Stimme der Reporterin ersetzt wird. Es gelingt der Schülerin damit, den zentralen Konflikt des Ausgangstextes aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und so in ihrem Report ganz unterschiedliche Werthaltungen zu berücksichtigen, indem sie die verhandelten Konflikte innerhalb eines unter Einbringen von textuellem und lebensweltlichen Wissensbestand konstruierten kulturellen Kontext verortet und zudem ganz unterschiedliche kulturelle Perspektiven identifiziert (12) und im eigenen Erzählen produktiv werden lässt. <?page no="180"?> 180 Auf diese Phase folgt ein Impuls der Lehrkraft, mit dem die Schülerinnen und Schüler aufgefordert werden, das im Text Dargestellte zu interpretieren und die eigene mit der fremden Kultur zu vergleichen. 12: 19 L And now a few more questions…Ähm, do you know tradition like that, like Ta-Na-E-Ka, from your own country? L formuliert Fragestellung L Do you have something that you have to go-to do if you want to grow up? What is similar, what is different? S 14. S 14 Maybe, ähm, confirmation. 1, 31, [32] [34] 16 L Lacht L Can you explain it? What is it? S 14 Ähm…you have to go in -in a - L Lesson? S 14 Ja (nickt), lessons. Lessons about, ja-ja about our religion, and the chris-christian (fragend) religion. L Mhm. 12: 20 S 14 And then you have the great day (gestikuliert) and you get your confirmation and that and then you are ähm erwachsen? L Ja grown up. S 14 And then you are grown up. Also- L What is different to Ta-Na-E-Ka. What is similar to Ta- Na-E-Ka? S 15. S 15 Ja, ähm, there is no test of survival. So I think that is not tradition like go-go in the forest and have to survive. 1, 8, [32] L Mhm. S 15 But similar is that then we are, ähm, no adults but grown up. Tabelle 40: G10 I (6. und 7. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 224 -241) Innerhalb der Codierung der Sequenz sind zwei in eckige Klammern gesetzte zu finden. Dies liegt daran, dass sich hier Wechselverhältnisse zeigen, dass gewissermaßen die in den eckigen Klammern enthaltenen und die Wirkfaktoren beschreibenden Indikatoren implizit der zu beobachtenden Teilleistung zugrunde liegen bzw. mit ihnen einhergehen. Bevor darauf genauer eingegangen werden soll, ist es auch hier sinnvoll, die Beschreibung mit der auszumachenden Interaktion zu beginnen: Auf die von L gestellt Frage reagiert in der Sequenz S 14 . Kommunikatives Handeln realisiert sich in der Form, dass sich der Schüler zielsprachlich äußert (1). Der Inhalt seiner Aussage lässt sich damit beschreiben, dass er das Ta-Na-E-Ka mit der christlichen Konfirmation vergleicht. Enthalten ist darin, dass er sich - und hier kommt die in Klammer gesetzte Teilleistung zum Tragen - zum Textsinn äußert (32), klingt doch an, <?page no="181"?> 181 indem durch den Vergleich Gemeinsamkeiten zwischen der eigenen und fremden Kultur erkannt werden (8), dass das Absolvieren des Rituals bzw. des Initiationsritus‘ und der Umgang mit Normen und Werten, sowohl individuell (Mary) als auch innerhalb der fiktionalen Gemeinschaft (traditionelles Paradigma), als Textthema gefasst wird. Angestoßen von L verweist der Schüler auf den religiösen Charakter und (auch hier in eckige Klammern) bezieht damit, indem er nun auf Unterschiede zwischen eigener und fremder Kultur (8) eingeht, den Text auf eine außerliterarische Realität (34). Um dies kommunikativ zu bewältigen, greift der Schüler auf muttersprachliches Handeln zurück und fragt nach einem unbekannten Wort (16). Der Begriff „erwachsen“ wird von S 15 aufgenommen. Indem er die Unterschiedlichkeit anmerkt, erkennt der Schüler die dem Text zugrunde liegenden kulturellen Begebenheiten als eigenständig an. Daneben sind es aber auch Gemeinsamkeiten, auf die der Schüler hinweist und die er in der Initiationsfunktion der beiden Rituale erkennt. Deutlich macht er dies mit seinem Hinweis, dass man nach der Konfirmation zwar noch kein Erwachsener, aber erwachsener sei. Diese semantische Differenzierung kann - daher auch hier das Äußern zum Textsinn als implizit enthaltene Teilleistung (32) - als gelungene Interpretation des im Text Dargestellten gewertet werden, in der gerade durch die vermittelnde Position zwischen fremder und eigener Lebenswelt Bedeutungsebenen aufgezeigt werden. Auch hier gilt, dass trotz der Kürze Aussagekräftiges hinsichtlich der Arbeitshypothesen abzuleiten ist: Die diskursive Auseinandersetzung mit den zentralen Konflikten des Textes wird auf die Herstellung von Bedeutung in kulturellen Kontexten bezogen, und zwar durch die (kultur-)vergleichende Annäherung sowohl auf die im Text dargestellte fremde als auch auf die den Schülerinnen und Schülern eigene Kultur. Dass dabei aus beiden Bereichen stammende Perspektiven im Unterrichtsgeschehen von den Lernenden koordiniert werden, dass sich differenziert über die im Text dargestellten Perspektiven ausgetauscht wird und dass bezogen auf Text und Gruppe literarisches Fremdsprachenlernen mit interkulturellem Lernen verbunden ist, lässt sich zwar durch das gegebene Beispiel veranschaulichen, verdeutlicht sich aber erst in Zusammenschau mit den bereits vorangegangen beschriebenen Konstruktionsleistungen der Lernenden. Zu betonen ist auch, dass hier eine Frage nach den Unterschieden zwischen den einzelnen Schülerbeiträgen zugunsten einer Anerkennung der gemeinschaftlichen Konstruktionsleistung zu verwerfen ist, denn, obwohl die Kommunikation über die Lehrkraft läuft, ist es doch so, dass sich S 15 in seiner Aussage inhaltlich auf das von S 14 Geäußerte bezieht. Hinsichtlich der Bereiche und Arbeitsschritte im Modell von Burwitz- Melzer (2007a: 142) lässt sich die Situation am ehesten dem Schritt „interkulturelle Kompetenz fördern“ (ebd.) zuordnen. Problematisch wird es aller- <?page no="182"?> 182 dings, versucht man das zu beobachtende Verhalten der Schüler mit den Beschreibungen im Modell entlang der Kompetenzbereiche zu vereinbaren, denn die Auseinandersetzung mit fremd- und eigenkulturellen Aspekten, die hier in der Situation zugleich auf den Sinnentwurf des Textes bezogen werden, changieren zwischen den Teilleistungen kognitiver und affektiver Kompetenzen, interkultureller Kompetenzen wie Kompetenzen der Anschlusskommunikation und Reflexion (vgl. ebd.). Hier scheint erneut auf, was hinsichtlich der Anordnung in einer Matrix bereits zuvor angemerkt wurde: Nämlich, dass sich die in den explizit zeigenden Teilleistungen implizit enthaltenen durch ein tendenziell starr angelegtes Muster nur schwerlich situationsadäquat beschreiben lassen. Es sind dabei besonders die hier im unterrichtlichen Kontext mit den Fragen nach Textsinn, nach Sinnentwurf und auch nach „Sinnkonstitution“ (ebd.: 140 f.) verbundenen personalen Reaktionen im kulturellen Kontext, die eine Zwischenposition einnehmen. Die Auseinandersetzung mit interkulturellen Inhalten spielt ebenso - wenn auch weniger vordergründig - im nachfolgend präsentierten Unterrichtsausschnitt eine Rolle. Dem nun folgenden Beispiel aus dem Unterrichtgeschehen ging eine siebenminütige Lesephase voraus, die dahingehend codiert ist, dass die Schülerinnen und Schüler selektiv lesen (5b). Selektiv in dem Sinne, dass sich die Schülerinnen und Schüler gezielt mit dem Aufbau der einzelnen Textabschnitte auseinandersetzten, um für diese Titel zu finden. 12: 41 L […] Ähm, part three? ... S 16. […] S 22 Cheating in the restaurant. S 20. 1, 36 [14] S 20 First time in the restaurant. S 8. 1, 36 S 8 Cultural-Cultural exchange. Äh, S 4. 1, 36, 12 Tabelle 41: G10 I (6. und 7. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 341 - 348) Ausgehend von der Aufgabenstellung, äußern sich die Schüler in der Zielsprache (1). Den hier nur ausschnittsweise gezeigten Schülertiteln gingen Vorschläge zum ersten und zweiten Teil der Geschichte voraus. Die von den Lernenden präsentierten Titel beziehen sich auf den Textteil, in dem Mary von Ernie entdeckt und zum Bleiben eingeladen wird. Neben dem kommunikativen Handeln liegt den Teilleistungen eine Reflexion von literarischer Produktion zugrunde. Geschlossen wird auf dieses Phänomen als Kombination von Wissen und Können, da sich in den Titeln zeigt, dass es den Lernenden gelingt, Plot und Darstellung zu einem Titel zu verdichten und den einzelnen Abschnitten zuordnen (36). Betrachtet man die angebotenen Titel im Einzel- <?page no="183"?> 183 nen, so ist der Version von S 22 zudem zuzuschreiben, dass hier durch das Wort „cheating“ eine kritische Bewertung von Marys Handlungen (14) mit einfließt, allerdings nur implizit in der Teilleistung enthalten, da der Titel im Zusammenhang mit den von Mary gebrochenen Regeln des Rituals zu sehen ist. Der Beitrag von S 20 hingegen lässt dies nicht erkennen, markiert jedoch auch einen zentralen Punkt in Plot und Spannungsbogen. Im Titel von S 8 kommen interkulturelle Aspekte dann explizit zum Tragen, bezieht sich doch „cultural exchange“ auf Marys und Ernies unterschiedliche kulturelle Prägung, von S 8 werden also zwei unterschiedliche kulturelle Perspektiven identifiziert (12). Was den Äußerungen nicht zu entnehmen ist - womit erneut Grenzen der deskriptiven Indikatoranalyse berührt werden -, sind die Teilleistungen der Lernenden, die der mündlichen Präsentation der Titel vorausgehen. Hier müssen für die konkrete Situation im Unterricht Inhalt und Darstellungsweise mit einander in Bezug gesetzt werden. Problematisch fällt erneut die Einordnung ins Bezugsystem des Modells von Burwitz-Melzer aus, denn das, was die Lernenden leisten, indem sie Inhaltliches zu einem Titel verdichten, ist am ehesten dem Arbeitsschritt „Sinnkonstitution II“ in Verbund mit kognitiven und affektiven Kompetenzen zuzuordnen (2007a: 141), geling es den Lernenden doch nicht nur, „gattungsspezifische Merkmale und deren Funktion in einem fremdsprachlichen Text selbstständig“ zu erkennen (ebd.), sondern eben auch - gewissermaßen im produktiven Kontinuum der Leistung - einen Titel selbstständig mit seinen Funktionsmerkmalen zu formulieren. Dass es aber auch Situationen im Unterricht gibt, die mit den Beschreibungen im Modell von Burwitz-Melzer leichter zu fassen sind, soll am Vortrag der Recherchegruppe gezeigt werden, die auf die etwa sieben Minuten dauernde Phase folgt und den Abschluss der Einheit bildet. Die Lernenden der Gruppe meldeten sich zu Beginn der Doppelstunde freiwillig, um im Medienraum der Schule eine Internetrecherche zum Thema Native Americans und Reservate durchzuführen. Auch hier wird deutlich, dass der deskriptiven Analyse Grenzen gesetzt sind, ist es doch lediglich der Vortrag, der im Unterrichtsgeschehen zu beobachten ist. Schriftliche Vorlagen und die Recherchetätigkeit als solche, die Grundlage für den Vortrag sind, können nicht beobachtet werden. Dies zu ergänzen, ist durch die Perspektiventriangulation im Forschungsdesign zu leisten, werden doch Aspekte, die die eigentliche Recherche betreffen, von den Schülerinnen und Schülern im retrospektiven Interview angesprochen, auf das im nachfolgenden Abschnitt eingegangen wird. Neben dem hier neu zu entdeckenden Aspekt der Interaktion (setzt ein vorbereitetes Referat zielsprachlich um; 37), ist es erneut eine in Klammern gesetzte Codierung, die in der Schülerleistung implizit enthalten ist. Denn mit der Recherche und dem Referat geht einher, dass die Lernenden den zentralen <?page no="184"?> 184 Themen des literarischen Textes gewahr sind, den Text auf eine außerliterarische Realität beziehen (34) und im Sinne einer Erweiterung des soziokulturellen Wissens die zentralen Themen und den außerliterarischen Orientierungsrahmen nicht nur erkennen, sondern durch das eigenständige Informieren ergänzen und so das im Text Verhandelte durch Fakten erweitern und vertiefen. Es wurde bereits angeführt, dass literarische Texte nicht anders können, als „sich auf eine außerliterarische Welt zu beziehen“ (Bredella 2002: 366). Und dieser Bezug wird von der Recherchegruppe rekonstruiert und situiert, indem aktuelle Informationen über die Situation der Native Americans präsentiert werden: 12: 46 L spricht mit den Recherche-Gruppen, Gruppen gehen nach vorne L Stop talking, please. There is no reading. Very-very-veryvery much and many thank yous to all of you that you done it. S 26 An Indian resver-an Indian reservation is äh, an area of land managed by a native American tribe. 37 [34] S 18 (leise, sarkastisch) ach so. Lachen S 26 By a native American tribe under the united department of the Interiors Bureau of Indian affairs. That’s the name of the organization. L Maybe you can write it at the blackboard. Kreide wird gesucht, dann schreibt S 26 an Tafel 12: 47 Gemurmel 12: 48 S 25 Ähm, in the USA there are three hundred reservations left, ähm, and there-there live five hundred sixty-one tribes. Äh, in nineteen-hundred ninety-six - (schaut auf Handzettel) ähm, four four-hundred thousand Indians lived in reservations and the biggest reservations are Black- Foot, (spricht falsch aus) Sioux, (falsch) Apache, Cheyenne, (falsch) Shoshone - (falsch) Navajo and Crow. 37 [34] Tabelle 42: G10 I (6. und 7. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 376 - 387) Die Schülerin S 26 beginnt den Vortrag, liefert eine Definition der Begrifflichkeit Reservat, verweist zudem auf die politische Struktur und erwähnt die Rolle der Selbstverwaltung unter der Aufsicht des Bureau of Indian Affairs. S 25 knüpft an diese Ausführungen an, nennt die Anzahl noch bestehender Reservate und indianischer Stämme, worauf sie dann die zahlenmäßig größten Stämme beispielhaft anführt. Auch hier ist das Gezeigte nur ein Ausschnitt der Unterrichtsphase, die insgesamt sieben Minuten umfasst. Auf den Aus- <?page no="185"?> 185 schnitt folgen noch weitere Informationen über die sozio-ökonomische Situation der amerikanischen Ureinwohner, die sich auf medizinische Versorgung, materiellen Status und auf die Wirtschaftssektoren wie Tourismus und Unterhaltungsindustrie beziehen. Mit dem Vortrag der Gruppe und der Würdigung der Leistung durch sowohl Lernende als auch die Lehrerin enden die Stunde und auch die Einheit. Die Lernenden werden noch aufgefordert, Schülerprodukt mit ihrem Namen versehen an den Untersuchungsleiter zu geben und die Lehrerin notiert sich die Namen der Mitglieder der Recherchegruppe. Die hier ausschnitthaft präsentierte Situation lässt sich gemäß dem Modell von Burwitz-Melzer dem Arbeitsschritt „Recherchekompetenz fördern“ zuordnen (2007a: 142), explizit zeigt sich allerdings nur der Bereich der Anschlusskommunikation: Die Lernenden „sollen ihre Recherche-Ergebnisse umfassend und selbstständig in der Fremdsprache präsentieren können“ (ebd.). Implizit - darauf wurde bereits hingewiesen - sind darin aber auch Teilleistungen der kognitiven und affektiven Kompetenzen sowie der interkulturellen Kompetenzen enthalten, denn für erstere gilt, dass die Lernenden „selbstständig mündlich oder schriftlich in der Fremdsprache Informationen beschaffen können“ (ebd.), und für letztere, dass sie sich „über spezielle fremdkulturelle Informationen, die im Text gegeben werden, selbstständig und in der Fremdsprache informieren können“ (ebd.). Selbstredend ist der oben gebotene Ausschnitt lediglich als Indiz für diese Teilleistungen zu werten. Gerade aber der interkulturelle Gehalt bzw. das transportierte soziokulturelle Orientierungswissen im Vortragsausschnitt korrespondiert mit Leistungen der interkulturellen Kompetenzen im Modell. 6.2.3 Retrospektives Schülerinterview Wie hoch der Stellenwert der Interviews für die Modellierung zu sehen ist, wurde bereits im Kapitel zu Erkenntnisinteresse und Forschungsdesign der Studie diskutiert (cf. 5.2.4). Es soll an dieser Stelle lediglich erneut hervorgehoben werden, was die Interviews im Speziellen für die Identifizierung von Prozessebenen und Teiloperationen literarischer Kompetenz zu leisten vermögen. Denn anders als in den Sequenzen des Unterrichtsgeschehens ist in den Interviews die explizite Thematisierung von Wissen und Können vordergründig. Gilt es doch weniger, von der Performanz auf zugrundeliegende Fertigkeiten und Fähigkeiten zu schließen, sondern vielmehr das von den Schülerinnen und Schülern thematisierte und erläuterte spezifische Verhalten, ihre Einblicke in und Auskünfte über ihr high-inference behaviour dafür zu nutzen, die Struktur der Verbindung an Wissen und Können nachzuzeichnen und individuelles Potential zu benennen. Das, was die Lernenden dabei verbali- <?page no="186"?> 186 sieren, gibt einerseits Aufschluss über ihre Ansichten von der Auseinandersetzung mit literarischen Texten im Fremdsprachenunterricht - bzw. innerhalb der konkreten Situation -, indem auf die Unterrichtsarbeit rückblickend fokussiert wird, und andererseits über ihre Vorstellungen den literarischen Rezeptionsprozess betreffend. Zentral ist dafür, die Einsichtnahmen der Schülerinnen und Schüler als eben solche ernst zu nehmen und anzuerkennen (cf. Burwitz-Melzer 2003): Hier geben Lesende Einblicke in sonst unsichtbare Prozessebenen der die verstehende Auseinandersetzung konstituierenden Konstruktionsleistungen. In diesem Gesichtspunkt liegt ganz klar eine der forschungsmethodologischen und erkenntnistheoretischen Vorzüge der Perspektiventriangulation Interviewsituation: Denn nicht nur, dass sich die Rolle der Schülerinnen und Schüler von beforschten Objekten zu informierenden Subjekten wandelt (vgl. Mead 1978), es bietet sich auch die Möglichkeit, den limitierenden Rahmen des Rückschließens von Performanz auf Kompetenz dahingehend zu erweitern, dass Fertigkeiten und Fähigkeiten nicht nur thematisiert und damit - im Sinne eines Abgleichens von Beobachtung und Thematisierung - gesättigt werden, sondern dass zudem - auch weil die Situation kommunikativ durch die Verwendung der Mutterbzw. Zweitsprache entlastet ist - über Teilleistungen, aber auch über den gesamten Vorgang der unterrichtlichen Auseinandersetzung reflektiert werden kann (cf. Hopf 2000b). Und darin zeigt sich, dass die Schülerinnen und Schüler weitaus mehr wissen und können, es zudem verstehen, dies darzustellen und auszudrücken, als die Analyse und Interpretation allein der zu beobachtenden Situationen im Unterrichtsgeschehen offenbart. In dem, was die Lernenden kommunizieren, sind Aspekte enthalten, die sich auf das Wirkpotential literarischer Texte, auf die verstehensleitenden Fragestellungen und den Lernprozess mit literarischen Texten beziehen. Ausschließlich dieser Metakommunikation ist es zu verdanken, dass bestimmte Bestandteile bzw. Teilleistungen überhaupt berücksichtigt werden können. Auch hinsichtlich der Auswertung gelten Besonderheiten, denn die Interviews sind anders zu behandeln als die Codierungen im Unterrichtsgeschehen. Besonders gilt dies für Elemente in den Interviews, die sich auf das kommunikative Handeln und Aspekte der unterrichtlichen Lenkung beziehen. Da die Interviews auf Deutsch geführt wurden, gilt für erstere, dass Codierungen nicht für aktiv angewendete rezeptive und produktive Fertigkeiten stehen, sondern für Ereignisse, in denen diese von den Lernenden retrospektiv thematisiert werden. Für Codierungen, die sich auf Elemente der unterrichtlichen Lenkung beziehen, gilt dies auch, da über problemlösende Strategien gesprochen wird. Hinzu kommt, dass vorgenommene Codierungen nicht mit den Arbeitsschritten und Kompetenzbereichen im Modell von Burwitz- Melzer (2007a) abzugleichen sind. Dies liegt vor allem darin begründet, da <?page no="187"?> 187 sich das Modell ausschließlich auf das unterrichtliche Geschehen bezieht, die Interviewsituation aber darüber hinausgeht. Daher auch der Verzicht, einen Zusammenhang gewollt zu konstruieren, der zwar zugegebenermaßen zu erstellen wäre - zeigen sich doch Fähigkeiten der Lernenden, die besonders den Bereichen der affektiven und kognitiven sowie der interkulturellen Kompetenzen zugeordnet werden könnten -, allerdings innerhalb einer doch vom Unterrichtsgeschehen zu unterscheidenden Situation. Mit dem Verzicht wird also auch darauf gezielt, das genuin Eigene der Interviewsituation als solches anzuerkennen und in die Analyse und Interpretation einfließen zu lassen. Die bis hier dargelegten Spezifika des Datensatzes werden nun auf konkrete Beispiele der Fallstudie bezogen. Das zu untersuchende Schülerinterview fand einen Tag nach der letzten Stunde der Einheit in einem Nebenraum der Schulbibliothek statt. Es konnten je drei Schülerinnen und Schüler für die Teilnahme am Interview gewonnen werden. Alle Lernenden fielen durch besonders gelungene Beiträge im Unterricht auf, die aber unterschiedlich zu gewichten sind: S 3 , S 1, S 15 und S 23 zeigten im Verlauf der ganzen Einheit konstante und interessierte Mitarbeit im Unterricht, S 22 fiel besonders durch gelungene Schülerprodukte auf und durch die Teilnahme der Schülerin S 26 - im Unterrichtsgeschehen eher zurückhaltend - konnte auch ein Mitglied der Recherchegruppe gewonnen werden. Die Interviewsituation erwies sich als unkompliziert, da die Lernenden keine Scheu vor der Kamera und den Fragen zeigten, und sich eine konstruktive Atmosphäre bereits im Vorgespräch zu Datenschutz und Auswertungsverfahren etablieren konnte. Die Bereitschaft der Schülerinnen und Schüler, von ihren Erfahrungen im Unterricht zu erzählen, steuerte dabei maßgeblich den Verlauf des Interviews. Eine der ersten Leitfragen des Interviews zielt auf die Schreibanlässe im Unterrichtsgeschehen: I War auch sehr gut geschrieben, also--Worauf achtet ihr so, wenn ihr-wenn ihr weiterschreibt, so, ne Geschichte, was muss man da machen beim Schreiben? […] 9: 05 S 15 Also, es sollte sich noch in einem gewissen Rahmen halten, und ja, aber schon vielleicht ein bisschen Spannung, so, wo man auch persönlich Spaß dran hätte. 30, spricht über individuelle Ziele, Zwecke und Absichten des Lesen (38), [spricht beim Lesen entstehende Gefühle an (39)] I Ja. S 15 Also- I Wie macht man Spannung? S 15 Ach- <?page no="188"?> 188 S 3 Ich denke mal in erster Linie, ähm, dem Leser dann die Möglichkeit geben, sich mit reinzuversetzen, mit rein zu fühlen in die Geschichte. - Finde ich ganz wichtig. (nickt, schaut in die Runde) (spricht die anderen an, unverständlich) 30, 38, versetzt sich in Charaktere (40) Tabelle 43: Schülerinterview G10 I (§ 76 - 89) S 15 reagiert als erster auf die Frage und bezieht sich auf die den Text als Anlass nehmende eigene Textproduktion (30). Der Schüler betont dabei, dass ihm in diesem Zusammenhang die Erzeugung von Spannung wichtig ist, und umschreibt dies damit, dass er in die eigene Textproduktion einfließen lasse, woran er als Leser selbst Freude hätte. Hier wird etwas berührt, das sich einem Umgang mit ästhetischen Wirkfaktoren zuordnen lässt, spricht der Schüler doch die individuellen Ziele, Zwecke und Absichten des Lesens an (38), die zudem - zwar klingt dieser Aspekt hier nicht explizit an, ist aber implizit zu unterstellen - für die literarische Sinnbildung fruchtbar gemacht werden. So lässt der Verweis auf das, was man selber gerne lesen würde, woran man als Rezipient Spaß hätte, auf die Lesehaltung des Schülers schließen, in der die beim Lesen als affektiver Respons entstehenden Gefühle - gewissermaßen als zugrundeliegende Teilkomponenten und daher in eckige Klammern gesetzt - eine tragende Rolle zu spielen scheinen (39). Dass Aussagen über die eigene Textproduktion eine Möglichkeit bieten, auf die Lesehaltung rückzuschließen, darauf deutet auch der Einwurf von S 3 hin. Der Schüler führt als Antwort auf die Frage, wie Spannung zu erzeugen sei, die Möglichkeit des Hineinversetzens in die Charaktere (40) an und unterstreicht damit die beim Lesen entstehenden Eindrücke und Gefühle als für ihn zentrale Aspekte der Interaktion zwischen Leser und Text. Die Lesehaltung wird auch im folgenden Beispiel thematisiert. Hier sind vor allem Phänomene von Interesse, die darauf schließen lassen, dass die Lernenden auf den im Text präsentierten kulturellen Kontext reagieren und daher mit ästhetischen Wirkfaktoren umgehen. I Mhm. - Meint ihr, ihr habt was erfahren über die Kultur? S 22 Ja (lacht). Lachen S 22 Allein schon Ta-Na-E-Ka da was die Mary halt gemacht hat, man hat ja am Anfang viele Informationen gekriegt, was es eigentlich ist. Und dass ihr Großvater ja so traditionell war, und alles. Und da wusste man dann eigentlich schon, man hat schon was gelernt da drüber jetzt. 31, spricht über die ästhetische Erfahrung als neue Einsicht (42) 9: 11 Ja, aber auch nur über Ta-Na-E-Ka, über sonst eigentlich 31, <?page no="189"?> 189 S 26 nicht so viel. Was die sonst machen. Also es war halt das eine Ritual. deutet kulturelle Praxis als heterogen (43) I Also ein Aspekt. S n Ja. S 3 Also, ich denk mal, das Hauptthema der Geschichte war eigentlich auch nicht das Ta-Na-E-Ka an sich, sondern einfach die Art und Weise, die die Mary genutzt hat, in ner Welt, die nicht mehr für Indianer gemacht ist, einfach zu überleben. Also das Zusammenkommen der amerikanischen und der Native American Kultur. 12, 34, 43 Tabelle 44: Schülerinterview G10 I (§ 150 - 160) Auf die Frage, ob durch die Auseinandersetzung mit dem literarischen Text im Unterricht etwas über die fremde Kultur zu erfahren war, äußert sich zunächst S 22 bestätigend. Sie deutet an, dass sie sich durch das im Text Verhandelte auf die fremde Sichtweise einlassen und so etwas über kulturelle Begebenheiten erfahren konnte (31). Indem sie im nächsten Satz betont, etwas gelernt zu haben, kommt sie auf die ästhetische Erfahrung als Teil des Leseprozesses zu sprechen, und die Aussage, etwas aus ihr gelernt zu haben, erkennt die ästhetische Erfahrung als Mittel zur Erlangung neuer Einsichten an (42). Darauf reagiert S 26 und gibt zu bedenken, dass die Einblicke in kulturelle Begebenheiten (31) jedoch auf das Ritual zu beschränken seien, sich kulturelle Praxis durchaus vielfältiger und heterogener zeigen könnte (43). S 3 greift dies auf und gibt zu verstehen, dass er die ästhetische Erfahrung anders gewichtet, zu anderen Einsichten kommt, die er, indem er den Text auf eine außerliterarische Realität (34) bezieht und unterschiedliche kulturelle Perspektiven nicht nur identifiziert, sondern koordiniert (12), in der interkulturellen Konstellation verortet und diese als Hauptthema der Geschichte bezeichnet. Der Stellungnahme liegt ein weit gefasster Begriff von Kultur zugrunde, wobei die Fähigkeit, über kulturelle Zusammenhänge reflektierend nachzudenken und kulturelle Praxis als vielfältig und heterogen anzuerkennen (43), als Voraussetzung für diese Einsichtnahme gewertet werden kann. Und zwar insofern, als es dem Schüler gelingt, die fiktionalisierten Handlungen Marys und ihr Erleben des Rituals als eine Vermittlung zwischen zwei Kulturen aufzufassen und damit anzudeuten, dass das Textthema die Prozesshaftigkeit kulturellen Wandels wiederspiegelt - ein Hinweis darauf, dass der Schüler über die Fähigkeit verfügt, Innen- und Außenperspektive zu koordinieren (vgl. Bredella 2002). Zudem wird die Aussage implizit von einer weiteren Codierung begleitet, muss doch für die Schlussfolgerung des Schülers ein Orientierungsrahmen konstruiert werden, der den im Text enthaltenen Wirklichkeitsentwurf <?page no="190"?> 190 auf eine außerliterarische Realität bezieht (34), die als Vergleichsmoment für das im Text Verhandelte dient. Wenn auch vielleicht nur im Ansatz, so zeigt sich hier doch, wie verkürzend Vorstellungen über das Lesen literarischer Texte im Unterricht sind, wenn sie - wie in den bildungspolitischen Dokumenten, aber auch in DESI geschehen - auf Informationsentnahme reduziert werden. Solche Konzeptionen vom Lesen zeichnen nicht nach, was die Lernenden über die Bildungsrelevanz literarischer Texte denken. Zwar ließe sich hier anführen, dass die Form der Fragestellung bereits die Antwort suggerierend einleitet, aber die Art und Weise, wie S 3 das im Text Dargestellte und die Auseinandersetzung darüber im Unterricht zu seinem eigenen Sinnentwurf synthetisiert, entkräftet diesen (möglichen) Einwand. Die in dem von ihm verwendeten Begriff „Hauptthema“ zu findende Synthese ist es, mit der sich die Codierung begründen lässt, entlang derer abzuleiten ist, dass die ästhetische Erfahrung etwas erfahrbar macht, das zur Erlangung neuer Einsichten genutzt werden kann. Einsichten, genauer gesagt interkulturelle Lernprozesse, stehen in der folgenden Sequenz im Mittelpunkt. Hier reagieren die Lernenden auf die Frage, ob die Vorgehensweise, erst nach der Auseinandersetzung mit der Geschichte Informationen durch eine Recherchegruppe einholen zu lassen, einen Vorteil für die Beschäftigung mit interkulturellen Inhalten gebracht habe. I […] meint ihr die Vorgehensweise war sinnvoll, erst die Geschichte zu lesen und dann - Informationen von einer Gruppe holen zu lassen? S 3 Ja, ich denke schon, weil dieses Kurzreferat hat dann irgendwie den Teil, der der Geschichte noch gefehlt hat (betont) kulturell irgendwie ergänzt. 12 I Mhm…Wa-was ich meine, man hätte es ja auch anders rum machen können, w-wir hätten Sachtexte euch geben können- S 15 lacht 9: 13 I Hätte man auch machen können. S 3 Ja gut, aber auch bei mir war es jetzt so, ich wollt dann halt auch wissen, wie das jetzt wirklich war, und wenn ich das Referat vorher gehört hätte, wäre ich bei dem Referat vielleicht nicht so aufmerksam gewesen, wie wenn wir die Geschichte erst danach bekommen hätten. 34, spricht über Inszenierung und Perspektivierung im Text (44) I Mhm. Schweigen S 1 Kann ich mich nur anschließen (lacht). <?page no="191"?> 191 I (an S 26 ) Meinst du auch, es war leichter für euch, gezielt nach Informationen zu suchen? S 26 Ja- I Durch die Geschichte? S 26 Ja, wenn wir jetzt die Begriffe gehabt hätten, Ta-Na-E-Ka und ähm, irgendwie - Indianer, Amerika, ja wonach sollen wir dann suchen. Also es ist schon besser, dass wir vorher die Geschichte gelesen haben…Weil, ich glaub nicht, dass da so viel im Internet über Ta-Na-E-Ka steht. äußert sich zum eigenständigen Informieren über Themen des Textes (45) Tabelle 45: Schülerinterview G10 I (§ 180 - 193) Erneut antwortet S 3 als erster auf die Frage, bejaht sie und führt aus, dass der Vortrag der Recherchegruppe eben jene kulturellen Aspekte ergänzt habe, die ihm zufolge in der Geschichte gefehlt haben. Wenn man diese Einsichtnahme in Zusammenhang mit den bereits vorangegangenen Leistungen des Schülers als Kombination von Wissen und Können betrachtet, so indiziert seine Aussage, dass es ihm gelingt, unterschiedliche kulturelle Perspektiven zu identifizieren und dabei zu koordinieren und Unterschiede herauszuarbeiten (12). Diese Fähigkeit ist in gewisser Weise als Voraussetzung für seine Bemerkung zu werten, da - betont er doch das Attribut kulturell - nur durch die Koordinierung der im Text enthaltenen Perspektiven darauf geschlossen werden kann, dass sie einer Ergänzung bedürfen. Auf Nachfragen bekräftigt der Schüler dann diese Aussage. Auf das ihm eigene Verständnis des Rezeptionsprozesses lässt schließen, dass er davon spricht, mehr wissen zu wollen. Interpretieren lässt sich seine Äußerung dahingehend, dass es dem Schüler gelingt, den literarischen Text als inszenierten und perspektivierten Sinnentwurf wahrzunehmen (44), er ja davon spricht, wissen zu wollen, wie es „wirklich war“. In einen Code übersetzt lautet dies, dass das kulturelle Bezugssystem im Sinn von zusätzlich einzuholender Information gemeint ist, der Schüler so den Text auf eine außerliterarische Realität bezieht (34). Dem geht der Schluss voraus, dass der Schüler die unterschiedlichen Kommunikationsebenen des literarischen Textes problematisiert. Diese Problematisierung bezieht den inner- und außerliterarischen Diskurs mit ein: Letzterer wird dabei als Bereicherung bzw. Ergänzung für die inszenierte und perspektivierte Ebene des literarischen Textes verstanden. Die außerliterarische Diskursebene wird auch von S 26 thematisiert, die als Mitglied der Recherchegruppe auf die Frage, ob ihr durch das Lesen der Geschichte die gezielte Suche nach Informationen und Fakten leichter gefallen sei, bestätigend reagiert. Die Schülerin spricht die unterschiedlichen im Text repräsentierten Bezugssysteme an und gibt zu verstehen, dass es ihr erst durch deren Koordinierung möglich wurde, sich eigenständig über die zentralen <?page no="192"?> 192 Themen des Textes zu informieren (45). Dass sie auf den Titel verweist und anmerkt, nicht zu glauben, dass eine Recherche dazu ertragreich gewesen wäre, unterstreicht die Codierung, ist es doch das zentrale Thema des Textes, sprich die Position der Ich-Erzählerin zwischen den zwei Kulturen, das durch eigenständiges Informieren auf den außerliterarischen Diskurs bezogen wird. Zwar wird hier - bedingt auch durch die gebotene komprimierte Darstellung bzw. Analyse der einzelnen Sequenzen - nur verkürzt auf den eigentlichen Recherchevorgang eingegangen, die Aussagen der Schülerin lassen aber das ergänzen, was in der vorangegangenen Unterrichtssequenz der letzten Stunde der Einheit nur anzudeuten war. Ein vorbereitetes Referat in der Zielsprache umzusetzen, hier als spezifisches Verhalten in der konkreten Situation zu werten, geht die Leistung voraus, sich eigenständig über die zentralen Themen des Textes zu informieren. Die Lernenden gewichteten dabei eigenständig; soll heißen, dass die im Referat dominierenden sozio-kulturellen, politischen und ökonomischen Aspekte von den Vortragenden bzw. Recherchierenden als Ergänzung im Sinne der Themen des Textes verstanden wurden. Hier sind es dann besonders die von den Lernenden auch in den Schülerprodukten thematisierte Prozesshaftigkeit kulturellen Wandels und die damit einhergehenden cultural clashes, die durch gezielt recherchierte Informationen ergänzt wurden. Dem Stellenwert, den die Schülerinnen und Schüler dem Realitätsbezug einräumen, wird im Interview die erzählte Zeit gegenübergestellt. Nachdem im Gespräch geklärt wurde, dass die Geschichte von Geschehnissen in den späten vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts erzählt, werden die Lernenden gefragt, ob der verhandelte Konflikt noch heute Aktualität besitzt. I Gilt der Konflikt heute noch? Was meint ihr? S 15 Ja. Denke ich mal schon. S-hm ich denk mal, der gilt auch noch in den nächsten Jahren. Es ist immer noch das Problem von vielen Indianern, dass die halt auch wie auch im Vortrag genannt wurde arm sind, vielleicht gar nicht richtig, ähm, in ein richtiges Berufsleben rein können also modern werden können, sag ich mal, aber auch an ihren Traditionen festhalten wollen, die wollen das vielleicht nicht aufgeben. Und in diesen Reservaten zu leben, das ist ja das ist ja eigentlich ne eigene Welt für sich. Die sind ziemlich abgekapselt, Das ist ich weiß nicht, die sind auch glaub nicht so wahnsinnig riesig groß im Vergleich zu dem Land was sie früher hatten. Und das ist für die bestimmt nicht leicht. 34, 31, spricht über kulturelle Gegebenheiten aus der Außenperspektive (46) I Mhm. 9: 15 S 1 Ja, ich denk auch, dass es immer noch schwierig für die ist. Dass die halt wahrscheinlich auch ausgeschlossen werden vielleicht von anderen. 34, 46 Tabelle 46: Schülerinterview G10 I (§ 211 - 215) <?page no="193"?> 193 Die Antwort von S 15 lässt auf die Reflexion von Handlungen und Motiven schließen, da das im Text Enthaltene auf eine außerliterarische Realität bezogen wird (34), somit auch personale Reaktionen auf das Erfahrene im kulturellen Kontext in den Einsichten des Schülers als Verbindung von Wissen und Können eine Rolle spielen, indem sich auf die im Text präsentierte Sichtweise eingelassen wird, wobei dafür die kulturellen Begebenheiten hinzugezogen werden (31). Hinsichtlich der Vermittlung zwischen inner- und außerliterarischem Diskurs lässt der Schüler in seiner Aussage zudem erkennen, dass er die kulturellen Gegebenheiten aus der Außenperspektive betrachtet (46), äußert er sich doch wertend und parteiergreifend über die sozio-kulturelle und sozio-ökonomische Situation der Native Amercians und führt so eigene Wertvorstellungen an, mithilfe derer er die erfahrenen Zusammenhänge in einem von außen betrachteten Wertesystem verortet. Codierungsseitig zeigt sich Ähnliches in der Auslegung von S 1 . Hier spricht die Schülerin von der Diskriminierung der indigenen Minderheit, die sie in der sozio-kulturellen Praxis als wahrscheinlich erachtet. S 22 Es ist bestimmt nicht so passiert, aber es könnte passieren. [34], 44 S 15 Ja es könnte. I Mhm. S 22 Es wäre schon realistisch. 44 S 15 Ja es könnte 9: 28 S 22 Dass sowas mal passiert, aber ich denke jetzt nicht, dass es jetzt irgendwie wirklich passiert ist, dass es dann die Geschichte einfach so noch mal aufgeschrieben ist, wie es einer gemacht hat. I Ja. S 3 Und ich mein, dass man das halt glaubt gut das ist halt die Kunst vom Geschichteschreiben, also, wenn man ein Buch schreibt, sollte man das schon können, dass man’s hinkriegt, dass die Leute einem glauben. 36 I Mhm…wie erzählt sie denn, die Mary? S 3 Ja, aus ihrer Sicht halt. setzt Inhalt und Darstellungsweise miteinander in Bezug (47), 40/ spricht Aspekte der literarischen Produktion an (48) I Mhm. S 3 So, dass es halt für den Leser einfacher ist, sich in sie reinzuversetzen, und das dann halt mit zu erleben. S 13 Sie bringt auch Gefühle rein, am Anfang, dass sie Angst vorm Ta-Na-E-Ka. 44, 48 I Ja. <?page no="194"?> 194 S 13 Und das würde ich sagen, macht nicht jeder da rein. Also, wenn das jetzt na klar, fiktiv ist es, aber wenn’s jetzt nicht passiert wäre, dann - und das sich einer erfunden hätte, würde nicht sagen, dass der unbedingt so viele Gefühle da rein bringt. Tabelle 47: Schülerinterview G10 I (§ 403 - 418) Tab. 47 zeigt eine Sequenz, die ebenfalls dazu dienen kann, die ästhetische Lesehaltung der Lernenden im fremdsprachlichen Literaturunterricht zu erhellen. Das Gespräch entwickelt sich auf die Frage, woran man die Zuverlässigkeit der Ich-Erzählerin festmachen könne. Diese Frage ist in Zusammenhang mit der ästhetischen Erfahrung zu sehen, deren Stellenwert entlang der zuvor untersuchten Schüleräußerungen bereits angedeutet wurde. Denn die Frage wird von den Schülerinnen und Schülern besonders auf die interkulturellen Lernerfahrungen bzw. auf das durch die Verknüpfung von inner- und außerliterarischem Diskurs konstruierte kulturelle Bezugssystem bezogen. Widerhall findet diese Interpretation gleich zu Beginn der Sequenz in der Aussage von S 22 . Indem die Schülerin zu verstehen gibt, dass ihr durchaus bewusst ist, dass es sich nicht um wiedergegebene Fakten handelt, die Ereignisse so zwar nicht passiert sind, es aber hätten können, bezieht sie den im Text enthaltenen Wirklichkeitsentwurf auf eine außerliterarische Realität (34). Dass dieser Indikator in Klammern gesetzt ist, lässt sich damit erklären, dass der Realitätsbezug zwar nicht explizit von der Schülerin erwähnt wird, die präsentierten Handlungen und Motive aber auf ihre Plausibilität hin kommentiert werden. Neben dieser Reflexion von Handlungen und Motiven, für die die Konstruktion des Bezugsystems zentral ist, scheint in der Aussage auch eine Fähigkeit durch, die sich auf das ästhetische Lesen bezieht und Umgang mit ästhetischen Wirkfaktoren zuzuordnen ist: Die Schülerin erkennt die Besonderheiten der literarischen Präsentation an und gibt zu erkennen, dass sie sie damit als inszenierten und perspektivierten Sinnentwurf wahrnimmt (44), der sich „bestimmt“ von der außerliterarischen Realität unterscheide, aber hinsichtlich der logisch-kausalen Zusammenhänge Sinn im kulturellen Kontext entwirft, der der eigenen Sinnerwartung nicht entgegen läuft. Verstärken lässt sich diese Lesart, nimmt man die Formulierung hinzu, sie erachte das Dargestellte als realistisch, ohne dabei aber zwingend davon auszugehen, dass es sich so ereignet haben müsse. Ähnlich argumentiert S 3 . Der Schüler führt die Glaubwürdigkeit und Eigenständigkeit der Fiktionalisierung auf literarische Produktionsaspekte zurück (48), die er evaluierend betrachtet, indem er der literarischen Komposition Zuverlässigkeit als Merkmal und Kriterium zuordnet. Auf die Frage nach der erzählerischen Präsentation lässt der Schüler erkennen, dass es ihm gelingt, Inhalt und Darstellungsweise miteinander in Bezug zu setzen (47). De- <?page no="195"?> 195 ren Funktion macht er dann am ästhetischen Wirkpotential fest, betrachtet so kritisch die Produktionsaspekte (48), was wiederum dazu dient, Aufschluss über seine Vorstellung des Rezeptionsprozesses abzuleiten. Denn das von ihm thematisierte Empathievermögen deutet darauf, dass der Schüler die Fähigkeit, sich in die literarischen Charaktere hineinzuversetzen (40), als wichtigen Bestandteil der Auseinandersetzung mit literarischen Texten erachtet und eben auch als Faktor für die Glaubwürdigkeit sieht. Auch S 13 hebt diesen Gesichtspunkt hervor, indem er darauf verweist, dass es die Erzählsituation ermögliche, Gefühle darzustellen und auf den Leser wirken zu lassen, wodurch ebenfalls Plot und Darstellungsweise als Aspekte der literarischen Gestaltung angesprochen werden (48). Aufschlussreich in Hinsicht auf auszumachende Bestandteile ästhetischer Fähigkeit ist, was der Schüler mit der Unterscheidung von „fiktiv“ und „erfunden“ auszudrücken scheint. Hier ist darauf zu schließen - ähnlich wie bei der Bemerkung von S 22 -, dass der Schüler den Sinngehalt des perspektivierten Sinnentwurfs (44) als fiktional kategorisiert und damit von Erfundenem abgrenzt. 6.3 Zur Verbindung von Wissen und Können innerhalb der Einheit Es wurde schon an anderer Stelle betont, dass literarische Kompetenz nicht von Inhalten zu trennen ist. Um dieser Prämisse Rechnung zu tragen, soll der Darstellung der Fallstudie nachgelagert zusammengefasst werden, welche Verbindung von Wissen und Können die Lernenden im Unterrichtsgeschehen und auch in den Interviews zeigen und wie diese verstehende Auseinandersetzung auf den literarischen Text als Inhalt zu beziehen ist. Voranzustellen ist, dass sich dieser Bezug von den einzelnen Schülerinnen und Schülern löst. Dies hat zwei Gründe: Zum einen ist es auf die Einschränkungen der Beobachtungssituation und der zunächst deskriptiven Analyse zurückzuführen, denn es wäre zwar verführerisch zu versuchen, einen Unterschied zwischen tendenziell mehr bzw. weniger kompetenten Lernenden zu beschreiben und anhand von spezifischem Verhalten zu charakterisieren. Es ist allerdings so, dass sich die das Unterrichtsgeschehen tragenden Lernenden, die durch Beiträge die soziale Situation mitgestalten und voranbringen, von vornherein durch ein Mehr auszeichnen, und die (vermeintlich bzw. vermutlich) weniger kompetenten Schülerinnen und Schüler gar nicht zu beobachten sind, da die einzige Evidenz - das spezifische Verhalten in der konkreten Situation - ausbleibt. Unterschiede zwischen den einzelnen Schülerleistungen wurden bereits immer dann in der Darstellung der Unterrichtsstunden aufgezeigt, wenn diese anhand der konkreten Situation zu beschreiben waren. Zum anderen ist anzuführen, dass die vorgenommene datenbezogene Modellierung auf die <?page no="196"?> 196 Individuen innerhalb der Lerngruppe fokussiert, wobei die individuelle Rezeption in dem Maße zugänglich wird, in dem sie als Ergebnis in der Lerngruppe kommuniziert und wahrgenommen wird. Konkret bedeutet dies, dass Individuen die soziale Situation Unterricht gestalten und Unterrichtsbeobachtung darauf zielt, diese Situation nachzuzeichnen. Dadurch unterscheidet sich das Forschungsvorhaben von Verfahren, die psychometrisch Kompetenzen evaluieren und mittels discrete point testing isolierte Teilleistungen überprüfen. Um die Verbindung von Teilleistungen aus der Analyse abzuleiten, ist eine höhere Abstraktionsstufe der zu beobachtenden Teilleistungen zentral, die nun im Vordergrund stehen soll. Das, was die Schülerinnen und Schüler innerhalb der Einheit an spezifischem Verhalten bzw. an literarischen Teilverstehensleistungen zeigen, lässt sich gruppieren, indem man Prozessebenen rekonstruiert. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass es den meisten Lernenden gelingt, den fremdsprachlichen Text zu entschlüsseln. Bei Burwitz-Melzer (2007a) wird diese Leistung dem Arbeitsschritt „Sinnkonstitution I“ und den kognitiven und affektiven Kompetenzen zugeordnet: „Sie sollen selbständig automatisierte, hierarchieniedrige und strategisch-zielbezogene, hierarchiehöhere Leseprozesse bewältigen“ (ebd.: 140). Innerhalb der Einheit ist auf diese Lesefertigkeiten, die den in 4.1 und 4.1.1 beschriebenen cognitive und language processing strategies im Sinne eines text und situation model of the text nahe sind, anhand der kommunizierten Auseinandersetzung mit dem Gelesenen zu schließen, der keine Missverstehensleistungen zu entnehmen sind. Im Falle der untersuchten Einheit - wie auch für fast alle anderen Fallstudien des Samplings - kommt hinzu, dass der Text abschnittweise im Unterricht erarbeitet, also nicht im Ganzen gelesen wurde, sodass hier zudem Aspekte der Gedächtnisleistung eine Rolle spielen, gelingt es den Lernenden doch, ein mentales Modell vom Text aufzubauen und dieses über den Zeitraum der Unterrichtseinheit hinweg zu erhalten und zu differenzieren. Dass es sich dabei um keine Selbstverständlichkeit handelt, und dies gerade im Fremdsprachenunterricht einen möglichen Engpass der verstehenden Auseinandersetzung mit Gelesenem darstellt, wird an anderer Stelle deutlich werden, kommt es doch in einer der Hauptschulfallstudien gerade aufgrund eines nicht elaborierten mentalen Modells dazu, dass sich Handlungs- und Produktionsanlässe nicht auf den Ausgangstext zu beziehen scheinen (cf. H9 II). Damit sind die bei Burwitz-Melzer im Arbeitsschritt „Sinnkonstitution I“ dargelegten Lesefertigkeiten jedoch noch nicht erschöpfend dargestellt, denn zu kognitiven und affektiven Kompetenzen wird auch gezählt, dass die Lernenden „von der Graphem-Phonem-Ebene bis zur Ebene des Weltwissens alle Ebenen des Leseprozesses ihrem Sprachvermögen in der Fremdsprache entsprechend beherrschen, um ein globales und detailliertes Verständnis des <?page no="197"?> 197 Inhalts, der Charaktere und der zentralen Konflikte zu erreichen“ (ebd.). Diese doch sehr umfassend und allgemein gehaltene Beschreibung soll genutzt werden, um eingehender aufzuzeigen, auf welche Prozessebenen der Lernenden innerhalb der Einheit zu schließen ist. Aus der Rückschau betrachtet ist festzustellen, dass die gemeinsame Unterrichtsplanung mit ihren Handlungs- und Kommunikationsanlässen die verstehende Auseinandersetzung der Lernenden mit der Short Story befördert hat. Genauer gesagt bedeutet dies, dass es den Lernenden gelungen ist, sich kritisch-verstehend mit den Charakteren zu beschäftigen, ihre Motive zu hinterfragen, zu begründen, ihnen auch im Falle von Marys regelwidriger Entscheidung kritisch zu widersprechen und dies in einem Begründungszusammenhang auf die Perspektive Rogers zu beziehen, und letztlich den zeitlich-kausalen Zusammenhang der Handlungen zu beleuchten. Kompetent zeigen sich die Schülerinnen und Schüler dahingehend, dass Perspektiven der einzelnen Charaktere koordiniert werden, dass Leerstellen, die mit diesen Perspektiven bzw. mit den Handlungen und Motiven der Charaktere einhergehen, gefüllt werden und dass sich im Interview zudem zeigt, dass die Lernenden es vermögen, mit ästhetischen Wirkfaktoren reflektierend umzugehen, sich in die literarischen Charaktere zu versetzten, um deren Innensichten nachzuzeichnen, und die sich so ausgestaltende ästhetische Erfahrung als Mittel zur Erlangung neuer Einsichten wertzuschätzen. Blickt man auf die zentralen Konflikte, so sind es Leistungen der Lernenden, die sich dahingehend beschreiben lassen, dass der kulturelle Kontext hinzugezogen wird, um Handlungen verstehend zu ergründen, Entscheidungen abzuwägen und zu kommentieren, dass personale Reaktionen im kulturellen Kontext eine Rolle spielen, indem unterschiedliche Positionen erkannt, koordiniert und gewichtet werden, indem sich die Lernenden auf kulturelle Begebenheiten einlassen, sich aber auch kritisch mit kulturellen Gegebenheiten auseinandersetzen und eine (wenn auch in den Schülertexten fiktional vermittelte) eigene Position beziehen. Hiermit ist vor allem das Weltwissen berührt, wird doch der fiktionale Sinnentwurf von den Lernenden auf eine außerliterarische Realität bezogen, werden Orientierungsrahmen durch textuelle und außertextuelle Wissensbestände konstruiert, werden die im Text verhandelten Themen (im Falle der Recherchegruppe) durch eigenes Recherchieren ergründet. Verwandt mit dem Weltwissen zeigt sich dann auch Erfahrungswissen, wobei sich Teilleistungen hier zwischen den zentralen Konflikten und der Auseinandersetzung mit den Charakteren bewegen, gilt es doch, auf in den Handlungen, Motiven und Perspektiven durchscheinende Wertvorstellungen, Normen und ethischen Fragen zu reagieren, lassen sich die Lernenden dazu anregen, Position zu beziehen und bewerten Erfahrenes, weisen es kritisch zurück bzw. widersprechen der literarisch vermittelten Perspektive. <?page no="198"?> 198 Für die hier angesetzte Vorgehensweise kann die Formulierung von einem detaillierten und globalem Verständnis des Inhalts als Sammelbegriff dafür dienen, Leistungen der Lernenden zusammenzufassen, die sich auf das kommunikative Handeln beziehen, indem der rezeptive und produktive Gebrauch der Zielsprache dazu dient, sich den Inhalt überhaupt erst kommunikativ zu erschließen, was zugleich auch bedeutet, die eigenen Reaktionen auf das Gelesene zu kommunizieren. Berührt sind damit nicht nur das fremdsprachliche System, das Leistungen der Lernenden hinsichtlich des Umgangs mit unbekannten Wörtern und den Rückgriff auf Reparaturstrategien beinhaltet, sondern vor allem handlungs- und produktionsorientierte Aspekte im Unterrichtsgeschehen. Denn in Zusammenhang mit dem hier verwendeten Inhaltsbegriff sind diese als konkrete Situation zu verstehen, die sich im Unterricht auch deshalb entwickelt, weil ihre Anlage im Verlauf der Einheit als didaktischmethodisch geplant zu sehen ist, in der die Lernenden mit problemlösenden Strategien auf die tasks bzw. die Handlungs- und Kommunikationsanlässe reagieren. Darunter fallen einerseits die Arbeitsschritte, die innerhalb der Einheit identifiziert worden sind, also beispielsweise das Formulieren von Erwartungen, von Hypothesen über den weiteren Verlauf, aber auch Situationen, in denen die Schülerinnen und Schüler den Inhalt und die Darstellungsweise mit einander in Bezug setzten und in denen - stets auf die Sinnkonstitution und Bedeutungskonstruktion der Lernenden zielend - der Text als Anlass für die eigene Textproduktion genommen wird. Andererseits sind damit aber auch Teilleistungen als kompetent zu fassen, die darauf schließen lassen, dass die Lernenden literarische Produktion reflektieren, indem sie sich mit Produktionsaspekten auseinandersetzen und beispielsweise storylines, den Plot, die Darstellung und die Spannungsbögen des literarischen Textes betrachten, verdichten und für Eigenes verwenden. Resümierend ist auf den Inhalt zu beziehen, dass die Lernenden kompetent mit dem präsentierten Außergewöhnlichen der Geschichte umzugehen wissen. Es gelingt ihnen, die im Initiationsritual enthaltenen fremdkulturellen Werte und Normen auf unterschiedliche Perspektiven zu beziehen und diese Unterschiede auch zu kommunizieren. Sie zeigen sich dabei sensibel für die im Text dargestellte Veränderung, fügen - dort, wo es der Text erlaubt bzw. einfordert und es in den Handlungs- und Kommunikationsanlässen im Vordergrund steht - selbst narrativerend hinzu, erweitern das im Text Dargestellte und treten somit als Interaktionspartner in die Transaktion (vgl. Rosenblatt 1981) zwischen Leser und Text ein. Die Potentiale, die der Text für fremdsprachliches aber auch für interkulturelles Lernen bereithält, können innerhalb der Einheit - wenn schon nicht als ausgeschöpft - so doch als größtenteils genutzt betrachtet werden. Kompetent ist dabei vor allem die Eigenständigkeit, mit der die Lernenden die Zusammenhänge von Inhalt, Charakteren und zent- <?page no="199"?> 199 ralen Konflikten erspüren und ausgestalten. Wissen und Können zeigt sich derart, dass der rezeptive und produktive Gebrauch der Zielsprache thematisch und situativ zielführend eingesetzt wird, dass intellektuell-diskursive wie affektiv-emotionale Reaktionen auf das Gelesene für die Sinnstiftung herangezogen werden, dass weltliches und literarisches Wissen für die verstehende Auseinandersetzung von den Lernenden genutzt wird, dass die Lernenden mit fremdkulturellen Konzepten umgehen und sich auf das dargestellte Fremde einlassen, und auch dass sie die Fähigkeit zeigen, auf die im Unterricht entstehenden Situationen mit adäquaten problemlösenden Strategien zu reagieren. Die Rolle der Lehrkraft ist dabei nicht zu unterschätzen, denn ihr obliegt es, das Unterrichtsgeschehen nicht nur durch Planung vorzubereiten und einzuleiten, sondern auch durch Impulse, durch Nachfragen und Kommentieren zu steuern. Dass sich als verstehend zu wertende Teilleistungen im Unterricht zeigen können, ist abhängig von der jeweiligen Situation, da sich nur dort spezifisch Verhalten entfalten kann. Bezogen auf die Einheit, aber auch auf die noch folgenden, lassen sich unterschiedliche Schwerpunktsetzungen der die Situation formenden tasks festhalten. Zunächst sind dabei die Formen der Begegnung mit Text zu nennen, denn der Auseinandersetzung müssen Lesephasen vorausgehen. In der Einheit lassen sich dabei orientierende sowie selektive Leseaufträge ausmachen. Das, was bei Burwitz-Melzer (2007a: 140) als „Erwartungshaltung aufbauen und erhalten“ bezeichnet wird, zeigt sich derart, dass zum einen (allerdings mit Abstrichen) als Einstieg mit dem Titel gearbeitet wurde, und zum anderen Hypothesen über den weiteren Verlauf des Textes gebildet und dann mit dem Gelesenen abgeglichen werden. Mit der „Sinnkonstitution“ in Verbindung stehende Anlässe lassen sich mit den Begriffen Plot und Story unterscheiden. Zu ersterem zählen Aufgabenstellungen, in denen sich die Lernenden mit dem Inhalt des Textes, mit dem Thema und mit den zentralen Konflikten befassen und sich über den Text hinausgehend eigeständig informieren. Zu letzterem sind Formate und Impulse zu zählen, in denen die Charaktere, deren Konstellation, aber auch Einstellungen und Motive, Handlungen und Absichten sowie der Handlungsort, Kommunikationsebenen und der Bezug von Inhalt und Darstellungsweise im Vordergrund stehen. Die Teilverstehensleistungen der Lernenden innerhalb dieser zwei Auseinandersetzungsformen stimmen - wie an entsprechender Stelle gezeigt wurde - weitgehend mit den Deskriptoren der „Sinnkonstitution I und II“ im Modell von Burwitz-Melzer (vgl. ebd.) überein. Plot- und Storyorientierte Aufgaben spielen auch für textproduktive Verfahren eine Rolle, in denen der Text als Schreibanlass dient, oder in anderen Fallstudien als Modell für das Verfassen eigener Texte genutzt wird. Dadurch, dass der Text innerhalb der Fallstudie abschnittsweise gelesen wurde, sind auch Aufgabenforma- <?page no="200"?> 200 te zu nennen, die die Aufmerksamkeit lenken. Damit können sowohl selektive als auch orientierende Leseaufträge einhergehen, indem beispielsweise, wie in der Einheit geschehen, Elemente der Charakterisierung dem Text entnommen oder zentrale Konflikte, die mit dem interkulturellen Konzept Ta-Na-E-Ka in Verbindung stehen, erschlossen werden sollen. Wie sich die Rolle der Lehrkraft auf den Unterrichtsverlauf auswirkt, zeigt sich auch und gerade in deren Verhalten innerhalb der untersuchten Daten. Die Lehrkraft ist Teil der sozialen Situation Unterricht und „muss anleiten, motivieren und den Lernprozess durch geschickte und interessante Aufgaben in Gang halten“ (ebd.: 156). Gelingen kann dieser hohe Anspruch nicht immer. So zeigt sich bereits in der ersten Doppelstunde der Fallstudie (6.2.2.1), dass gerade die Aufforderung, über den Titel der Short Story nachzudenken, das methodisch-didaktischen Potential der Aufgabenstellung nicht ausschöpft. Dazu wäre ein Aufgreifen der geäußerten Vermutungen in späteren Phasen nötig gewesen, die diese in den Kontext der Geschichte hätten rückbinden können, um dann Vermutungen auf den Lese- und Lernprozess beziehen zu können. Berührt sind damit vorbereitende Leistungen, die sich in der Fallstudie vor allem darin zeigen, dass sich die Lehrerin dafür entscheidet, Lesetechniken vorzugeben (Schlüsselbegriffe und unbekannte Wörter farbig markieren), die sich an den in den Bildungsstandards zu findenden Techniken der methodischen Kompetenzen orientieren (vgl. KMK 2004a). Ein Rückgriff auf die markierten Schlüsselwörter erfolgt, indem in der letzten Doppelstunde (6.2.2.5) diese dafür genutzt werden, Titel bzw. Überschriften für die einzelnen Textteile zu finden. Bezogen auf die Vermutungen zu Beginn der Einheit hätte ein Rückgriff das Textthema in den Fokus gerückt. Produktiv wird das Aufgreifen von bereits erbrachten Teilleistungen bzw. von vorbereitenden Arbeitsschritten in der dritten Stunde (6.2.2.2), indem die Lernenden die eigenen Hypothesen über Rogers Erlebnisse mit dem Gelesenen abgleichen. Hier zeigt sich die Entscheidung der Lehrkraft dahingehend, Produkte aufzugreifen, die mit dem Aufbau einer Erwartungshaltung gegenüber dem Text in Verbindung stehen. Strategien und Taktiken, die beim Codieren immer wieder eine Rolle spielen, lassen sich auf die Interaktion zwischen Lernenden und Lehrkraft zurückführen. So steht beispielsweise in der ersten Doppelstunde im Vordergrund, dass die Lernenden angehalten werden, nach Textstellen zu suchen, die Roger charakterisieren. Die Lehrkraft legt damit einen Schwerpunkt auf das textnahe Lesen, indem immer wieder dazu aufgefordert wird, Textbelege zu nennen. Explizit werden von der Lehrkraft in diesen Phasen Beiträge abgelehnt, die vom Text gelöst Roger zu charakterisieren bzw. zu bewerten suchen (6.2.2.1). Teilleistungen, die durch diesen Fokus hervorgerufen werden, lassen sich auf Informationsentnahme beziehen und sind auch in der vierten Stunde auszu- <?page no="201"?> 201 machen, wenn die Lernenden aufgefordert werden, fremdkulturelle Konzepte im Text zu identifizieren und zu benennen (6.2.2.3). Die mit dem Verhalten der Lehrkraft einhergehende Interaktion bedingt damit die im Unterricht Verwendung findenden Strategien und Taktiken, wodurch die Lernenden durch die Anweisungen und Kommentare der Lehrkraft in ihrer Auseinandersetzung mit dem Gelesenen gelenkt werden. Die von den Lernenden schon bei der Charakterisierung Rogers geäußerten eigenen Reaktionen auf das Gelesene werden als zielführende Strategien von der Lehrkraft erst in der in der dritten Stunde (6.2.2.2) bei der Bewertung der Motive und Handlungen im kulturellen Kontext sowie in der fünften Stunde (6.2.2.4) bei der auf die Handlungen bezogenen Koordinierung unterschiedlicher kultureller Perspektiven eingefordert. Teil des Auseinandersetzungsprozesses ist die Wortschatzarbeit im Unterricht. Hier zeigt sich in der ersten Doppelstunde (6.2.2.1), dass die Lehrkraft die Frage nach unbekannten Wörtern der Auseinandersetzung mit einem zentralen Themenkomplex der Short Story („What is Ta-Na-E-Ka? “) nachlagert. Entscheidungen wie diese deuten auf Taktiken, die darauf zielen, topdown Prozesse bei der Wortschatzarbeit zu initiieren. Beispielsweise indem der erlesene Kontext als semantischer Hintergrund fungiert und so den Lernenden die Möglichkeit eröffnet wird, unbekannte Wörter aus dem literarischen Kontext zu erschließen. Zu den Auseinandersetzungsprozessen sind auch Aspekte der Feedback-Kultur zu zählen, die sich im Unterricht zum Beispiel dadurch zeigen, dass die Lehrkraft lobend und bestätigend auf gelungene Schülerbeiträge reagiert (6.2.2.2). Sprachliche Korrekturen, die auch zum Bereich der Feedback-Kultur zu zählen sind, zeigen sich besonders bei der thematischen Auseinandersetzung durch indirektes Korrigieren der Lehrkraft, indem sie die Schüleräußerungen korrigiert wiederholt (6.2.2.4). In Situation aber, in denen Schülerprodukte vorgelesen werden und der sprachlichen Korrektheit durch die Lehrkraft ein höherer Stellenwert eingeräumt wird, werden Korrekturen direkt vorgenommen (6.2.2.3). Im nun folgenden Schritt des verstehenden Umgangs mit komplexen Daten soll darauf gezielt werden, aus den mit Codes belegten Phänomenen Indikatoren zu entwickeln, die auf ein erklärendes Konzept verweisen, mit denen es dann möglich wird, sich vom Geschehen einer einzelnen Fallstudie zu lösen und die verbleibenden komparativ zu untersuchen. Es gilt also, strukturelle Zusammenhänge zu erkennen und die verhaltensrelevanten Einflussfaktoren zu identifizieren. Zentrale Angelpunkte bei dieser Analyse sind die entdeckten Muster, nämlich die Kommunikationssituation im Unterricht und bei der Textbegegnung, die damit einhergehende Diskurstüchtigkeit der Lernenden, präliminierte Operationalisierungen der Begriffe Lesen und Verstehen sowie Aushandlungsprozesse der Teilnehmer der Fallstudie als Lesegemein- <?page no="202"?> 202 schaft bei den zu beobachtenden Konstruktionsleistungen. Es wird darauf hingearbeitet, eine weiterführende Struktur zu etablieren, diese im Verlauf der Auseinandersetzung mit den Daten zu erweitern, zu verfeinern und entsprechend der durch die Bildungsstandards gestellten Anforderungen an Kompetenzmodelle zu systematisieren, wobei dieser Schritt erst im Ordnungsprozess III abschließend vollzogen werden wird. <?page no="203"?> 203 7. Lese- und Verstehensleistungen im Vergleich: Ordnungsprozess II Der hier einzuführende zweite Ordnungsprozess nimmt seinen Ausgang bei der dichten Beschreibung und offenen Codierung der Fallstudie als Ankerbeispiel. Hier ist es vor allem die herausgearbeitete Verbindung von Wissen und Können, die dafür genutzt werden soll, einen Katalog von Indikatoren zu entwickeln, der innerhalb der weiteren komparativen Analyse der Fallstudie die Codierung leiten soll. Dabei ist zu betonen, dass dieser Katalog der komparativen Analyse entstammt, indem durch die Prozesse der Minimierung und Maximierung von Differenz Indikatoren entwickelt wurden, die für verstehende Teilleistungen und Prozessebenen stehen. Da die komparative Analyse im Sinne der Präsentation von Forschungsergebnissen nachgezeichnet werden soll, spielt der Katalog von Indikatoren kapiteleinleitend eine tragende Rolle (cf. 5.4). In diesem Ordnungsprozess sind es also Phänomene, die durch Indikatoren repräsentiert werden, indem zum einen der im ersten Ordnungsprozess begonnene Verlauf des Schlussfolgerns über die Stufen der Abduktion, Deduktion und Induktion weiterverfolgt wird (vgl. Reichertz 2000), und zum anderen „weder auf theoretisches Vorwissen noch auf kreative und interessante Neuschöpfungen von Konzepten verzichtet“ wird (Strübing 2008: 63). Diese Stufenfolge ist in allen folgenden Analyseschritten präsent, gilt es doch, aus der Vielzahl an Indikatoren belastbare Theorieelemente zu abstrahieren. Diese theoriegeladene Auseinandersetzung muss im Prozess immer wieder auf das verhandelte Ausgangswissen zurückgreifen. Schrittweise werden dadurch die Stufen der Abduktion, Deduktion und Induktion immer zielgerichteter, wobei die theoriegeladene Auseinandersetzung ihren Höhepunkt und Abschluss erst am Ende der Arbeit findet, in dem das Modell und seine Komponenten ausführlich besprochen werden (cf. 8). Nach Charles Sanders Pierce bedeutet Abduktion, eine Hypothese zu formulieren, die von einer Folge auf ein Vorangegangenes schließt (vgl. Hildenbrand 2000: 34). Durch die Deduktion „werden die abduktiv gewonnenen Hypothesen in ein Typisierungsschema überführt“ (ebd.: 35). Mit der Induktion wird schließlich überprüft, inwiefern „observations made under certain conditions ought to have certain results, and then causing those conditions to be fulfilled, and noting the results, and, if they are favourable, extending a certain confidence to the hypothesis” (Peirce 1955: 152). Strauss spricht in diesem Zusammenhang eher vage vom Kontextwissen des Forschers, das „nicht nur die Sensitivität bei der Theoriebildung erhöht, sondern eine Fülle von Möglichkeiten liefert, um Vergleiche anzustellen“ (1994: 37). Zu diesem Vorwis- <?page no="204"?> 204 sen - sozusagen dem theoretischen Rahmen - sind die als Stand der Forschung dargestellten Beziehungen zwischen der theoretischen Abstraktion literarischer Kompetenz, kommunikativer Kompetenz (cf. 2.), den das Sprachvermögen der Lernenden beschreibenden Skalen der bildungspolitischen Dokumente (cf. 3.) sowie der Schnittstellen zwischen Lesekompetenz und den Ansätzen und Modellen literarischer Kompetenz der Literaturdidaktiken (cf. 4.) zu zählen. Besonders der im literaturdidaktischen Kontext verwendete Kompetenzbegriff im Modell von Burwitz-Melzer (cf. 4.2.2) spielten bereits im ersten Ordnungsprozess der entdeckenden Vorgehensweise eine gewichtige Rolle. 7.1 Von Phänomenen zu Indikatoren Sich in diesem Ordnungsprozess nicht länger auf die dichte Beschreibung (Geertz 1987) einer Fallstudie zu beschränken, ist vor allem auf den Theoriebildungsprozess zurückzuführen. Der zentrale Gegenstand der Untersuchung wandelt sich vom Speziellen zum Allgemeinen. Damit ist gemeint, dass der gesamte Corpus an Daten, sprich das pragmatische Sampling (cf. 5.2.1, 5.3), Berücksichtigung finden soll. Dementsprechend ist es nötig, nicht so sehr die Phänomene in den Mittelpunkt zu rücken, sondern Abstraktionen des Geschehens in Form von Indikatoren, die allerdings - und diesen Aspekt gilt es zu betonen - Geltung vor allem dadurch entfalten, dass sie auf alle Fallstudien des Samplings bezogen werden. Indikatoren sind deshalb so zentral, weil sie zum einen selbst aus den Vorgängen des offenen, axialen und selektiven Codierens hervorgegangen sind. Zum anderen lassen sich diese Prozesse aber auch beispielhaft an den Indikatoren veranschaulichen, wandelt sich doch die Annäherung an die Daten dahingehend, dass deskriptive Momente mit eher normativen in Verbindung gebracht werden müssen. Es ist dieser Absicht geschuldet, dass von unterschiedlichen Ordnungsprozessen gesprochen wird, die sich auf die Indikatoren beziehen und mit denen versucht wird, die in den Indikatoren selbst innewohnenden Codiervorgänge auf die Konstruktion von Modellbestandteilen und somit auf eine höhere Abstraktionsstufe zu beziehen. Dieses Vorgehen ermöglicht es auch, die Komplexität der Daten zu reduzieren bzw. einen systematischeren Umgang mit diesen zuzulassen, wodurch dann auch Abkürzungsstrategien Verwendung finden können. Jede Fallstudie einzeln zu beschreiben, würde zu viel Raum einnehmen und es schließlich nicht leisten, empirische Komplexität zu reduzieren. So betrachtet dienen Indikatoren dann auch als Begrifflichkeiten, um Relevantes, das sich auf die Interaktion, die Bedingungen und die Strategien und Taktiken bezieht, zusammenfassend zu präsentieren und paraphrasierend nachzeich- <?page no="205"?> 205 nen zu können. Daher wird zunächst darauf fokussiert, diejenigen Verbindungen von Wissen und Können, die in der Codierung der Fallstudie als Ankerbeispiel immer dann aufgegriffen bzw. herausgestellt wurden, wenn sie sich im Material entdecken und dicht beschreiben ließen, zu strukturieren und in Gruppen zu ordnen (7.1.1). Daran anschließend wird auf die Indikatoren selbst eingegangen, die als Katalog präsentiert werden (7.1.2). An dieser Stelle gilt es dann auch zu diskutieren, inwiefern das, was sich in den Daten zeigt, in Relation zu anderen Ergebnissen - seien sie phänomenologischer oder empirischer Natur - über als verstehend zu wertenden Konstruktionsleistungen und dazugehörige Handlungs- und Kommunikationsanlässe im fremdsprachlichen Literaturunterricht gesetzt werden kann. Oder anders gesagt: Während den Codierungen der Fallstudie als Ankerbeispiel, besonders jenen, die innerhalb der Einheit nur durch einige wenige Ereignisse vertreten sind, noch der Status von Hypothesen zu eigen ist, wird dadurch, dass bei der komparativen Analyse sowohl die Minimierung als auch die Maximierung von Differenz im Mittelpunkt steht, untersucht, inwieweit sich diese Codierungen am empirischen Material bestätigen. Erneut ist dabei zu betonen, dass die komparative Analyse nicht Gegenstand der Darstellung ist, sondern nachgezeichnet werden soll. Das heißt, dass die präsentierten Indikatoren als aus den Codierungshypothesen hervorgegangen zu verstehen sind. Damit geht einher, dass begründet werden muss, wie sich das in den Daten enthaltene spezifische Verhalten in konkreten Situationen zu einer Vielzahl möglicher literaturdidaktischer Kompetenzbereiche und Teilkompetenz verhält, wie also zu erklären ist, dass gerade jene Aspekte, die mit Indikatoren im Katalog zu fassen sind, in den Daten enthalten sind und ob sich in anderen Situationen auch anderes Verhalten manifestieren könnte. Diese zentralen Fragestellungen können allerdings erst gegen Ende der Arbeit, in der das aus den Daten entwickelte aber nicht ausschließlich auf sie begrenzte Kompetenzmodell im Vordergrund steht (cf. 8), zielführend diskutiert werden. 7.1.1 Strukturelle Zusammenhänge und Wirkfaktoren Das in den Daten auszumachende spezifische Verhalten der Schülerinnen und Schüler in konkreten Situationen zu ordnen und damit einer Interpretation und Analyse entlang der Indikatoren zugänglich zu machen, bedeutet, dass zunächst einmal Faktoren zu identifizieren sind, die dazu dienen, die Auseinandersetzung mit den Daten zu dimensionieren. Es geht vornehmlich darum, die schriftlich und mündlich realisierte Verbindung von Wissen und Können mittels Oberbegriffen zu ordnen. Mit dem Ziel, die Konstruktionsleistungen der Lernenden auf die konkrete Situation zu beziehen, steht zuallererst die Interaktion im Vordergrund. Nicht zuletzt deshalb, da dieser As- <?page no="206"?> 206 pekt mit low-inference descriptors zu fassen ist. Außerdem - und dieser Aspekt ist vielleicht der gewichtigere - kann mithilfe der Interaktion die Kommunikationssituation, die der komplexe Begriff ‚Lesen im fremdsprachlichen Literaturunterricht‘ darstellt, beschrieben werden (cf. 2.). Und zwar insofern, als dadurch herausgearbeitet werden soll, welche Kommunikationsinstanzen auf welcher der inner- und außertextuellen Kommunikationsebenen die Interaktion beeinflussen. Damit geht auch einher, die Diskursebenen, die mit der jeweiligen Sender- oder Empfängerinstanz in Verbindung stehen, beschreibend zu erfassen. Es geht also vornehmlich darum, Faktoren, die auf Verstehensleistungen beim Lesen einwirken, zu identifizieren und mittels einer ersten Stufe der Systematisierung für weitere Analysen zugänglich zu machen. Wolfgang Iser (vgl. 1994: 7) fasst den Lesevorgang als eine Auseinandersetzung des Lesers mit dem Text und beschreibt diese Interaktion als Kommunikation entlang des Textpols und des Leserpols. In dem, was sich bei der Analyse und Interpretation der ersten Fallstudie gezeigt hat, lässt sich allerdings ausmachen, dass für die Zwecke der Studie diese zwei Pole nicht ausreichend sind. Denn die Interkation zwischen Leser und Text ist im Unterricht keine individuelle, sondern eine gemeinschaftlich geteilte, womit durch die Interaktion, die zudem durch die Lehrkraft gelenkt bzw. initiiert wird, sowohl die Strategien und Taktiken als auch die sich ergebenen Konsequenzen beeinflusst werden. Für die hier verfolgten Ziele ergibt sich, dass das verstehende Lesen im fremdsprachlichen Literaturunterricht als erste heuristische Stufe in einem Interaktionsmodell mit drei Polen darzustellen ist, die für die weitere Argumentation als interdependente Wirkfaktoren bezeichnet werden: E XOGENE F AKTOREN Die Ebene der Zielsprache und des Unterrichts E NDOGENE F AKTOREN Die Ebene des literarischen Texts A UTOGENE F AKTOREN Die Ebene der Lernenden Abbildung 5: Der Lesevorgang im FU als triadischer und zirkulärer Prozess Nicht zufällig sind die die Interaktion betreffenden Angelpunkte und deren Faktoren in einem Dreieck angeordnet: Diese Einordnung des auszumachenden spezifischen Verhaltens folgt einem triadischen und zirkulären Wirkverstehendes Lesen <?page no="207"?> 207 zusammenhang, der vor allem die Wirkrichtung beschreiben lässt, die die Interaktion beeinflusst. Die Interaktion zwischen Leser und Text - „weitgehend mit der Analyse des Lesevorgangs“ verbunden (Iser 1994: 7) - ist durch ein Zusammenspiel autogener und endogener Faktoren gekennzeichnet, denn „im Lesen erfolgt eine Verarbeitung des Textes, die sich durch bestimmte Inanspruchnahme menschlicher Vermögen realisiert“ (ebd.). Entsprechend eines Verständnisses literarischer Kompetenz im Fremdsprachenunterricht als „eine wirkungsästhetisch orientierte Interpretation der Literatur“ (Iser 1994: VII) muss ein Kompetenzmodell für den fremdsprachlichen Literaturunterricht auch dem kommunikativen Handeln im fremdsprachlichen System - sowohl bei der Lektüre als auch bei der Anschlusskommunikation - gerecht werden (vgl. Hallet 2007). Diese exogenen Faktoren, die auch den Austausch untereinander fassen, ergänzen Isers Text- und Leserpol um einen dritten und schließen dann im Unterricht mit literarischen Texten den Zirkel zwischen „der Funktion, die Texte in Kontexten ausüben, der Kommunikation, durch die Texte Erfahrungen vermitteln, […] und der Textverarbeitung, durch die die ‚Rezeptionsvorgabe‘ des Textes“ fokussiert wird (Iser 1994: VII; Hervorhebung im Original). In den Daten selbst zeigen sich diese durch die Codierung repräsentierten Faktoren jedoch nicht mono-, sondern stets multidimensional realisiert. Schon deshalb ist der zirkuläre Zusammenhang für das Nachzeichnen der „durch sie in Anspruch genommenen Vermögen und Kompetenzen des Lesers“ (ebd.) zentral. Um die Analyse voranzutreiben, muss daher von der Induktion zur Deduktion zurückgekehrt werden, was auch bedeutet, in diesen Schritt das theoretische Vorwissen zu integrieren und die Gewinnung von Indikatoren auf die Gesamtheit der Fallstudien zu beziehen. Ziel ist es, die deduktiv gewonnenen typisierenden Schlüsse mit den in den Daten enthaltenen Konsequenzen in Einklang zu bringen und diese auf die Strategien und Taktiken der Lernenden bei der Auseinandersetzung im Unterricht zu beziehen. Auch stellt die Umschreibung der Interaktionspole im fremdsprachlichen Literaturunterricht als Faktoren noch keine zureichende Annäherung an die Daten dar. Es gilt daher, das zu beobachtende und in den Interviews thematisierte Verhalten einer weiteren Analyse zu unterziehen, und es dadurch mit Begriffen zu beschreiben, die in der Kompetenzdiskussion Verwendung finden. Autogene Faktoren können in diesem Licht betrachtet als das individuelle Potential der Lernenden gelten; sie sind also jene Dispositionen, entlang derer sich das wirkungsästhetische Potential entfaltet. Endogene Faktoren können analog dazu als konkrete Situationen umschrieben werden, in denen der Akt der Erfassung des literarischen Texts (vgl. Iser 1994: 38) hinsichtlich der Rezeptionsvorgaben zum Tragen kommt. Exogene Faktoren repräsentieren die bedingenden Umstände, die die Entfaltung des individuellen Potentials herbei- <?page no="208"?> 208 führen, und die sich innerhalb des Unterrichtsgeschehens als Produktions- und Handlungsanlässe, Sinnstiftungsprozesse, unterrichtliche Lenkung und Auseinandersetzung mit dem zielsprachlich und zielkulturell vermittelten Inhalt realisieren. Dieser Dimensionierung folgend handelt es sich bei literarischer Kompetenz „um ein Konstrukt, das im Gegenstandsbereich des Lesens literarischer Texte im Fremdsprachenunterricht relevante aufgabenorientierte Fertigkeiten, aber auch situationsgebundene generelle Fähigkeiten zusammenfasst“ (Burwitz-Melzer 2007a: 137), mit denen eine zeitüberdauernde Handlungsdisposition zu beschreiben ist (vgl. Groeben 2002: 13). Dem Prozess des Rekurrierens von Induktion auf Deduktion und Abduktion entsprechend, wird die oben dargelegte Triade im Verlauf des Codierens um weitere, die Phänomene beschreibende Indikatoren ergänzt. Es ändert sich aber der Fokus, indem vor allem den Strategien und Taktiken der Lernenden, also dem spezifischen Verhalten bei der Sinnstiftung nachgegangen wird, das individuell realisiert ist, im Unterrichtsgeschehen aber durch Wechselwirkungen zwischen Individuum, Lerngruppe und Lehrkraft getragen, vorangetrieben und kontrolliert wird. Hier spielen erneut die Konstruktionsleistungen und die Diskurstüchtigkeit der Lernenden eine gewichtige Rolle. Mit ihnen sollen „Aspekte des rezeptiven und kommunikativen Verhaltens“ (Jauß 1982: 39) dazu genutzt werden, auf Verstehensprozesse im fremdsprachlichen Literaturunterricht zu schließen; repräsentiert auf der inner- und außerliterarischen Diskursebene. Diskurse wirken sowohl auf den Text als auch auf den Leser bei der ästhetischen Erfahrung ein (vgl. Dewey 1988: 21-23), da literarische Texte gar nicht anders können als „sich auf eine außerliterarische Welt zu beziehen“ (Bredella 2002: 366). Der innerliterarische Diskurs ist dann als ein durch spezifisch literarische Mittel generierter Wirklichkeitsentwurf zu verstehen (vgl. Nünning 2000: 102), der zwar in seiner Fiktionalität die Ebenen der außerliterarischen Realität spiegeln, erweitern, brechen und umgehen kann, sich aber - wie bereits erwähnt - stets auf diese bezieht. Diese Sinnentwürfe (vgl. Glaap/ Rück 2003: 133) verlangen vom Leser eine aktive Teilnahme am Prozess der Sinnstiftung, da Deutungsspielräume, die durch Perspektivierung, Standortwechsel und Schnitte entstehen, vom Leser gefüllt werden müssen. In diesem Zusammenhang sind Indikatoren zu sehen, die darauf verweisen, dass die Lernenden in konkreten Situationen zu klären versuchen, was die innervon der außerliterarischen Welt unterscheidet, woraus der fiktionale Wirklichkeitsentwurf besteht, wie er beim Lesen erzeugt wird und welche Rolle Symbole bei der Erzeugung spielen (vgl. Goodman 1990: 13). Die Interaktion der autogenen, exogenen und endogenen Faktoren ist als Kombination von Wissen und Können zu verstehen, die es den Lernenden ermöglicht, das im Text Dargestellte samt seiner spezifisch literarischen Darstellung durch subjektivierende Einsichtnahme für sich selbst zugänglich zu <?page no="209"?> 209 machen (vgl. Steininger 2010a: 86). Dabei reagieren die Lernenden auf das, „was im Text die Freiheit der Interpretation zugleich reguliert und stimuliert“ (Eco 1998: 5). Die Reaktionen der Lesenden sind verbunden mit dem „continuing stream of choices on the reader’s part” (Rosenblatt 1981: 21). Diese Entscheidungen resultieren aus der Interaktion zwischen Leser und Text, zwischen autogenen und endogenen Faktoren, sind aber bedingt durch die Umstände der unterrichtlichen Situation. Sie zeigen sich als Akzente der selektiven Aufmerksamkeit, die darauf fokussiert „what he [the reader] is living through during the reading event. He is attending both to what the verbal signs designate and to the qualitative overtones of the ideas, feelings, images, situations, characters that he is evoking under guidance of the text“ (ebd.: 22; Hervorhebung im Original). Neben die individuell realisierte Interaktion zwischen Leser und Text sowie die damit verbundene Lenkung der selektiven Aufmerksamkeit tritt im fremdsprachlichen Literaturunterricht auch noch die durch exogene Faktoren bestimmte Rezeptionssituation: Im unterrichtlichen Kontext wird der Rezeptionsprozess auch vermittels der verbindlichen unterrichtlichen Ziele, der gemeinschaftlichen Interaktion, der Impulse und Fragen von Lernenden und Lehrkraft sowie der damit einhergehenden Reaktionen geleitet. Hinzu kommt, dass literarische Kompetenz im fremdsprachlichen Literaturunterricht unter aufgabenorientierten Aspekten nicht nur eine rezeptive, sondern auch eine produktive Seite aufweist: Die Lernenden werden durch kreative Aufgabenstellungen zur tiefergehenden Auseinandersetzung mit dem im Text Dargestellten angeregt. Dabei fließen Elemente der außertextuellen Welt - aus dem eigenen oder dem zielkulturellen Kontext bzw. aus einer Verbindung beider stammend - mit ein. Die Lernenden werden so selbst zum literarischen Produzenten, wodurch ihnen nicht nur die rezeptive und kommunikative Seite der ästhetischen Erfahrung zugänglich gemacht werden kann, sondern auch „die ästhetische Erfahrung vom produktiven Vermögen des Menschen“ (Jauß 1982: 41). Besonders in den Schülertexten auszumachende Phänomene zeigen sich deutlich mit diesem Aspekt verbunden. 7.1.2 Zu den verwendeten Indikatoren Konkretisieren lässt sich die Dimensionierung durch Wirkfaktoren anhand der dazugehörigen Indikatoren. Für die exogenen Faktoren gilt, dass sie sich in die Gruppen kommunikatives Handeln, fremdsprachliches System und Handlung und Produktion unterteilen lassen. Sie sind eng verbunden mit der Interaktion der Beteiligten, aber auch mit Strategien und Taktiken sowie den bedingenden Umständen der Situation. Zur Interaktion gehört, dass die Lernenden kommunikativ handeln. Alle Indikatoren dieses Bereichs sind bereits <?page no="210"?> 210 im Ankerbeispiel entdeckt worden und bestätigen sich auch in hinreichend ähnlichen Situationen über das gesamte Sampling hinweg: E XOGENE F AKTOREN I Die Ebene der Zielsprache und des Unterrichts Kommunikatives Handeln Die Schülerinnen und Schüler… A1a  lesen den literarischen Text. A1b  lesen Teile des literarischen Textes laut vor. A1c  lesen ihre eigenen Produkte laut vor. A1d  sprechen in der Zielsprache. A1e  gehen in der Zielsprache auf die Beiträge anderer ein. A1f  setzten ein vorbereitetes Referat in der Zielsprache um. A1g  schreiben eigene Texte in der Zielsprache. A1h  bearbeiten geschlossene Aufgabenformate. Tabelle 48: Indikatoren Exogene Faktoren I Die Indikatoren des kommunikativen Handelns stehen für Phänomene in den Daten, die erkennen lassen, dass der Text gelesen wird, dass in der Zielsprache über den Text und die mit ihm verbundenen Aspekte gesprochen wird und dass der Text als Anlass dafür genutzt wird, selbst schreibhandelnd tätig zu werden. Einfluss auf die Ausgestaltung der Interaktion zwischen den Beteiligten nimmt zudem das fremdsprachliche System. Mit dieser Gruppe soll eine heuristische Nähe zu der Unterscheidung der Bereiche „funktionalen Kommunikativen Kompetenzen“ und „Verfügung über die sprachlichen Mitteln“, die in den nationalen Bildungsstandards zu finden ist (vgl. KMK 2004a: 8), hergestellt werden. In anderen Worten bedeutet dies, dass damit versucht wird, entlang der Pole Wissen und Können Unterschiede deutlich zu machen: Während das kommunikative Handeln dem Können zuzuordnen ist, zeigen sich Indikatoren des fremdsprachlichen Systems eher mit Aspekten des Wissens verbunden, beziehen sich diese doch vornehmlich auf Wortschatzarbeit im Unterricht. Sie ergeben sich aus den Codierungen des Ankerbeispiels und sind in den restlichen Fallstudien vertreten: <?page no="211"?> 211 E XOGENE F AKTOREN II Die Ebene der Zielsprache und des Unterrichts Fremdsprachliches System Die Schülerinnen und Schüler… A2a  fragen zielsprachlich nach unbekannten Wörtern. A2b  schlagen unbekannte Wörter in Wörterbüchern nach. A2c  umschreiben unbekannte Wörter zielsprachlich. A2d  erschließen unbekannte Wörter aus dem literarischen Kontext. A2e  greifen auf mutterbzw. zweitsprachliches Handeln zurück. Tabelle 49: Indikatoren Exogene Faktoren II Da es sich bei allen im Sampling verwendeten Texten um authentische handelt, zeigt sich das kommunikative Handeln in der Fremdsprache im Unterricht begleitet von Geschehnissen, die sich zum einen auf die Wortschatzarbeit beziehen lassen. Indikatoren können für Ereignisse im Unterricht stehen, in denen nach unbekannten Wörtern gefragt wird oder diese eigenständig im Wörterbuch nachgeschlagen werden. Sie können sich aber auch auf Einsichtnahmen der Lernenden im Interview beziehen, die erkennen lassen, dass es den Lernenden gelingt, unbekannte Wörter aus dem Kontext zu erschließen. Zum anderen sind aber auch Reparaturstrategien auszumachen, die immer dann im Unterricht eingesetzt werden, wenn die Lernenden auf mutterbzw. zweitsprachliches Handeln zum Fragen oder Rechtfertigen zurückgreifen. Dieser Indikator stellt eine Ausnahme dar, ist er doch nicht auf die Ebene des Wortschatzes zu beschränken. Mit ihm in Zusammenhang stehende Situationen sind aber vom fremdsprachlichen kommunikativen Handeln zu unterscheiden, zeigen sich doch Phänomene vor allem dann, wenn durch Reparaturstrategien etwaige Kommunikationsabbrüche abgewendet werden sollen, die - allerdings lässt sich dies nicht direkt aus der Beobachtung ableiten - auf fehlendes sprachliches Wissen bzw. Fehlleistungen im fremdsprachlichen System zurückzuführen sein können. Bedingende Umstände und damit einhergehende Strategien und Taktiken sind im Unterrichtsgeschehen nicht von den durch die Lehrkraft als Impuls bzw. Auftrag gesetzten Handlungs- und Kommunikationsanlässen zu trennen. Dass die Rolle der Lehrkraft nicht zu unterschätzen ist, wurde bereits an anderer Stelle angemerkt (cf. 6.3). Da allerdings in einem Kompetenzmodell für den fremdsprachlichen Literaturunterricht die Ebenen zwischen Lehrenden und Lernenden nicht vermischt werden dürfen, die Verbindung von Wissen und Können im Modell alleinig auf die Fertigkeiten und Fähigkeiten der Lernenden bezogen sein soll, müssen Faktoren der Handlung und Produktion, die sich aus Aufgabenstellungen ergeben und sich immer auf die Auseinandersetzung mit dem Text beziehen, die sprachhandelnde Tätigkeit der Lernenden <?page no="212"?> 212 innerhalb der durch die Aufgabenstellung initiierten Situationen im Unterricht beschreiben: E XOGENE F AKTOREN III Die Ebene der Zielsprache und des Unterrichts Handlung und Produktion Die Schülerinnen und Schüler… A3a  wenden unterschiedliche Lesemodi (orientierend/ selektiv) entsprechend der Aufgabenstellung an. A3b  äußern Vermutungen über die Bedeutung des Titels. A3c  formulieren anhand von Informationen über den Text (Titel, Charaktere, Konstellationen, ausgewählte Bilder/ Geräusche) Erwartungen an den Inhalt. A3d  formulieren Hypothesen über den weiteren Verlauf des Textes. A3e  gleichen die eigenen Hypothesen mit dem Gelesenen ab. A3f  nehmen Stellung zu Textinhalten. A3g  äußern sich zum Textsinn. A3h  setzten Inhalt und Darstellungsweise miteinander in Bezug. A3i  identifizieren Kommunikationsebenen im Text. A3j  benennen dargestellte Veränderungen. A3k  informieren sich eigenständig über zentrale Themen des Textes. A3l  recherchieren Informationen (Autor, literarische Motive, Epoche). A3m  nehmen den Text als Anlass für die eigene Textproduktion. A3n  erweitern den Textsinn durch kreative Verfahren. A3o  nutzen die Struktur/ Form des Ausgangstextes als Modell für die eigene Textproduktion. A3p  setzten die im Text transportierte Stimmung darstellend lesend um. A3q  präsentieren eigene performative Produkte. A3r  setzten Aspekte des Textes performativ um. Tabelle 50: Indikatoren Exogene Faktoren III Während Indikatoren der vorangegangen dargestellten Bereiche als deckungsgleich zum Ankerbeispiel zu werten sind, gilt für Indikatoren der Handlung und Produktion, dass zwar ein Gros ebenfalls im Ankerbeispiel entdeckt werden konnte, sie sich aber zudem aus der komparativen Analyse aller Fallstudien ergeben. Gefasst werden kann damit Verhalten der Lernenden, das aus den Formen der Begegnung mit dem Text im Unterricht hervorgeht, das sich als orientierende oder selektive Lesetätigkeit zeigt, in dem die Auseinandersetzung mit Erwartungen und Hypothesen im Vordergrund steht, das den Textinhalt und den interpretierend erschlossenen Textsinn zum Gegenstand hat, das auf Kommunikationsebenen oder die dargestellte Verände- <?page no="213"?> 213 rung im literarischen Text fokussiert oder in dem sich die Lernenden über den Text hinausgehend eigeständig informieren. Schreibhandeln wird in diesem Zusammenhang als textproduktiver Handlungsanlass ebenfalls zur unterrichtlichen Lenkung gezählt. Ebenso sind es performative Aspekte, die durch Indikatoren zugänglich gemacht werden können und sich als Handlungen zeigen, in denen die Stimmung des Textes durch lautes Lesen transportiert wird oder aber eigene Texte bzw. Teile des Ausgangstextes performativ umgesetzt werden. Endogene Wirkfaktoren wurden bereits als mit der konkreten Situation verbunden beschrieben. Sie stehen stets in Zusammenhang mit Aspekten der unterrichtlichen Lenkung, geht es doch bei der deskriptiven Annäherung mit Indikatoren darum, Verhalten zu beschreiben, das sich aus der Auseinandersetzung mit transportierten Textinhalten und Rezeptionsvorgaben entwickelt. In den Daten tauchen sie zumeist in Verbindung mit Indikatoren der unterrichtlichen Lenkung auf, die dadurch gewissermaßen als Strategien und Taktiken zu werten sind. Im Zusammenspiel mit den endogenen Wirkfaktoren - wobei hier auch die noch näher zu besprechenden autogenen Faktoren eine Rolle spielen - ergeben sich dann als verstehend zu wertende Konsequenzen der lesenden Auseinandersetzung. Die Indikatoren der endogenen Faktoren sind in drei Gruppen zu unterteilen, die nun näher betrachtet werden sollen: E NDOGENE F AKTOREN I Die Ebene des literarischen Textes Konflikte, Motive, Handlungen, Orte Die Schülerinnen und Schüler… B1a  identifizieren zentrale Konflikte des Textes. B1b  kommentieren Handlungen/ Motive der Charaktere. B1c  kommentieren Einstellungen/ Gefühle der Charaktere. B1d  führen Handlungsort/ Schauplatz an. Tabelle 51: Indikatoren Endogene Faktoren I Das, was es im Text zu erfassen gibt und sich als Bestandteil der Rezeptionsvorgaben beschreiben lässt, setzt sich u.a. daraus zusammen, dass die Lernenden auf die enthaltenen Konflikte sowie die damit einhergehenden Motive und Handlungen reagieren und diese zu einem Teil der kommunizierten Auseinandersetzung werden lassen. Gleiches gilt für die Rolle des Handlungsorts als Schauplatz der Handlungen und Konflikte. Bei der Formulierung der Indikatoren wird deutlich, dass der Grad der deskriptiven Eindeutigkeit, mit der zuvor entlang der Codierungshypothesen Phänomene deskriptiv zu fassen waren, zugunsten einer höheren Abstraktionsstufe nivelliert wird. Geschuldet ist dies der Absicht, hinreichend ähnliches Verhalten in den Situationen der Fallstudien zu beschreiben, sie empirisch wie theoretisch zu sättigen, sodass sich Hypothe- <?page no="214"?> 214 sen am Material bestätigen lassen. Selbstredend unterscheidet sich die jeweilige Art und Weise des Identifizierens von Konflikten oder des Kommentierens von Handlungen, Motiven sowie Einstellungen und Gefühlen in Abhängigkeit vom jeweiligen Ausgangstext, sprich von der konkreten Rezeptionsvorgabe. Als Begriffe stehen sie für das, auf das die Lernenden als Teil der Lesergemeinschaft im Unterricht reagieren (vgl. Rosenblatt 1981: 21). In dem, was die Lernenden im Text erkennen und „die Freiheit der Interpretation zugleich reguliert und stimuliert“ (Eco 1998: 5), kann in einem Wechselverhältnis mit autogenen Faktoren und Indikatoren der Handlung und Produktion die Interaktion zwischen Leser und Text, zwischen Leser und Leser nachgezeichnet werden. Endogene Faktoren stehen somit für den vorgenommenen Fokus und sind als charakteristisch für den „continuing stream of choices on the reader’s part” (Rosenblatt 1981: 21) zu werten. E NDOGENE F AKTOREN II Die Ebene des literarischen Textes Perspektiven, Leerstellen Die Schülerinnen und Schüler… B2a  identifizieren Charaktere und deren Konstellationen. B2b  koordinieren die Perspektiven der einzelnen Charaktere. B2c  füllen Leerstellen des literarischen Textes durch den Bezug unterschiedlicher Textelemente. B2d  gestalten Leerstellen durch eigene Erfahrungen aus. Tabelle 52: Indikatoren Endogene Faktoren II Konflikte, Motive, Handlungen und Orte gehen mit Perspektivierungen im Text einher, die von den Lernenden erkannt, durchdrungen, koordiniert und ausgestaltet werden müssen. Das schließt auch Leerstellen mit ein, die von der Interpretationsgemeinschaft Klasse bzw. Kurs ausgestaltet werden müssen, sowohl durch den Bezug unterschiedlicher Textelemente aufeinander als auch durch Einbringen eigener Wirklichkeitserfahrungen. E NDOGENE F AKTOREN III Die Ebene des literarischen Textes Kultureller Kontext Die Schülerinnen und Schüler… B3a  identifizieren fremdkulturelle Konzepte im Text. B3b  deuten unbekannte Konzepte. B3c  benennen fremdkulturelle Werte und Normen. B3d  benennen fremdkulturelle Konflikte. B3e  identifizieren unterschiedliche kulturelle Perspektiven. Tabelle 53: Indikatoren Endogene Faktoren III <?page no="215"?> 215 Bedingende Umstände sind nicht nur Teil der unterrichtlichen Auseinandersetzung, sondern lassen sich auch im literarischen Text finden. Gemeint ist damit, dass Konflikte, Motive, Handlungen, Orte und auch Perspektiven in kulturelle Kontexte eigebunden sind, die im Fremdsprachenunterricht beinhalten, dass Lernende die Bereitschaft zeigen, unbekannte Konzepte, fremdkulturelle Werte und Normen wie fremdkulturelle Konzepte zu erkennen und zu benennen. Dazu gehört dann auch, im Text transportierte fremdkulturelle Konzepte vor dem Hintergrund des Erfahrenen zu deuten und unterschiedliche kulturelle Perspektiven im Text zu identifizieren. Dieser dritte Bereich der endogenen Faktoren zeigt große Nähe zu den von Byram formulierten Komponenten der interkulturellen kommunikativen Kompetenz (vgl. Byram 1997: 34) Betrachtet man - wie hier geschehen - das mit dem ästhetischen Wirkpotential in Zusammenhang stehende Transportierte in literarischen Texten als endogene Faktoren, die als das zu verstehen sind, auf das die Lernenden innerhalb der Interaktion mit dem Gelesenen und untereinander zu reagieren haben, dann ist die Reaktion der Lernenden auf das wirkungsästhetische Potential als individuelles Potential zu werten, das für die Interaktion zwischen Leser und Text zentralen Stellenwert einnimmt und in Form von Indikatoren als autogene Wirkfaktoren gruppiert wird. A UTOGENE F AKTOREN I Die Ebene der Lernenden Umgang mit ästhetischen Wirkfaktoren Die Schülerinnen und Schüler… C1a  versetzen sich in die literarischen Charaktere. C1b  erweitern den eigenen Erfahrungshorizont durch ein Hineinversetzten in die Charaktere. C1c  nutzen die beim Lesen als affektiver Respons entstehenden eigenen Gefühle für den literarischen Verstehensprozess. C1d  machen sowohl die individuellen als auch die unterrichtlich verbindlichen Ziele, Zwecke und Absichten des Lesens für die literarische Sinnbildung fruchtbar. C1e  begreifen Subjektivität und Diversität als für die Sinnstiftung zentral. C1f  nehmen literarische Texte als inszenierte und perspektivierte Sinnentwürfe wahr. C1g  erkennen ästhetische Erfahrung als Mittel zur Erlangung neuer Einsichten. Tabelle 54: Indikatoren Autogene Faktoren I Sich auf das Gelesene einzulassen und in der Interaktion einen eigenen Textsinn aufzubauen (vgl. Rosenblatt 1983; Eskey/ Grabe 1998; Grabe 2009), erfordert von den Lernenden einen reaktiven und responsiven Umgang mit ästhetische Wirkfaktoren, der entweder den Handlungen und Äußerungen im <?page no="216"?> 216 Unterrichtsgeschehen zugrunde liegt oder aber in den Interviews als Einsichtnahmen explizit thematisiert werden kann. Dazu zählt, dass es den Lernenden gelingt, sich in die literarischen Charaktere zu versetzen und so literarische Motive und Handlungen, Einstellungen und Gefühle nachzuvollziehen und die damit verbundene ästhetische Erfahrung dafür zu nutzen, Erfahrungen zu sammeln und zu thematisieren. Dazu zählen auch die sogenannten affektiven Mobilisatoren (vgl. Karcher 1996: 124 f.), die den Leseprozess begleiten und Konstruktionsleistungen leiten und sich als Indikatoren dahingehend fassen lassen, dass die eigenen Gefühle beim Leseprozess von den Schülerinnen und Schülern thematisiert werden und dass von ihnen die mit dem Lesen im Unterricht (aber auch die individuellen) Ziele, Zwecke und Absichten für Verstehensleistungen genutzt werden. Wechselwirkungen lassen sich besonders mit Indikatoren der Handlung und Produktion ausmachen, wobei dann der Umgang mit ästhetischen Wirkfaktoren entweder als zugrundeliegende Teilleistung zu werten ist oder sich direkt zeigt, wenn bspw. der Textsinn durch kreative Verfahren erweitert wird (A3n) und so Handlungen, Einstellungen und Gefühle der Charaktere nachvollzogen werden oder Lernende die Position des Charakters spielerisch einnehmen (A3q: präsentieren eigene performative Produkte). Die letzten drei Indikatoren sind solchen Fällen in den Daten vorbehalten, in denen über den Umgang mit ästhetischen Wirkfaktoren gesprochen wird und die erkennen lassen, dass die Lernenden die mit der Interaktion einhergehende Diversität der Sinnentwürfe wertschätzen, aus denen abzuleiten ist, dass sie literarische Texte als inszenierte und perspektivierte Sinnentwürfe wahrnehmen und in denen die ästhetische Erfahrung und deren Potential thematisiert werden. Zu finden sind diese Indikatoren vor allem in den retrospektiven Interviews. A UTOGENE F AKTOREN II Die Ebene der Lernenden Personale Reaktionen im kulturellen Kontext Die Schülerinnen und Schüler… C2a  lassen sich auf die kulturellen Begebenheiten der präsentierten Sichtweise ein. C2b  betrachten kulturelle Gegebenheiten aus der Außenperspektive. C2c  erkennen Unterschiede/ Gemeinsamkeiten zwischen der eigenen und der fremden Kultur. C2d  deuten Kulturen und kulturelle Praxis als vielfältig und heterogen. Tabelle 55: Indikatoren Autogene Faktoren II Der bereits unter den endogenen Faktoren gefasste kulturelle Kontext ruft ebenfalls personale Reaktionen innerhalb der Interaktion hervor bzw. ist auf diese für die verstehende Auseinandersetzung angewiesen. Sie zeigen sich in den Daten derart, dass sich die Lernenden auf die präsentierte Sichtweise <?page no="217"?> 217 einlassen, sie eine Außenperspektive auf die transportierten kulturellen Gegebenheiten einnehmen und diese kritisch betrachten (cf. Bredella/ Christ 1995; Bredella 2002). Ebenso zeigen sich personale Reaktionen, wenn Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten zwischen der eigenen und der im Text präsentierten Kultur erkannt und thematisiert werden, oder wenn die Schülerinnen und Schüler über Kulturen und kulturelle Praxis sprechen und diese als vielfältig anerkennen. A UTOGENE F AKTOREN III Die Ebene der Lernenden Reflexion von Handlungen und Motiven Die Schülerinnen und Schüler… C3a  beziehen den Wirklichkeitsentwurf auf eine außerliterarische Realität. C3b  setzten zentrale Konflikte im Text mit Gegebenheiten des eigenen Lebensumfelds in Bezug. C3c  bewerten Handlungen und Motive der Charaktere kritisch. C3d  weisen Einstellungen und Gefühle der Charaktere kritisch zurück. Tabelle 56: Indikatoren Autogene Faktoren III Die im Text präsentierten Handlungen und Motive werden ebenfalls zum Gegenstand der Reflexion und gehen im Unterrichtsgeschehen mit Interaktionen einher, in denen der Wirklichkeitsentwurf auf eine außerliterarische Realität bezogen wird und in denen zentrale Konflikte mit eigenen Wirklichkeitserfahrungen in Beziehung gesetzt werden. Als reflexiv zu wertendes Verhalten zeigt sich aber auch in Situationen, in denen Handlungen und Motive der Charaktere kritisch bewertet oder Einstellungen und Gefühle von den Lernenden zurückgewiesen werden. A UTOGENE F AKTOREN IV Die Ebene der Lernenden Reflexion von Sprache Die Schülerinnen und Schüler… C4a  unterscheiden metaphorischen Sprachgebrauch und wörtliche Bedeutung. C4b  erfassen Konnotationen und sprachliche Unbestimmtheiten. C4c  betrachten sprachliche Aspekte analysierend. C4d  verbinden sprachliche Strukturen mit literarischen Funktionen. C4e  benennen die Selbstreferentialität literarischer Sprache. Tabelle 57: Indikatoren Autogene Faktoren IV Die Auseinandersetzung mit literarischen Inhalten geht mit der Betrachtung von Sprache bzw. der sprachlichen Vermittlung der Inhalte einher. In den Daten zeigt sich, dass sich die Lernenden sprachlichen Aspekte analysierend nähern, metaphorischen Sprachgebrauch von wörtlicher Bedeutung unter- <?page no="218"?> 218 scheiden, Konnotationen und sprachliche Unbestimmtheiten erfassen sowie sprachliche Strukturen mit literarischen Funktionen verbinden. Bis auf den letzten Indikator zeigt sich entsprechendes Verhalten vornehmlich in den retrospektiven Lernerinterviews, in denen über den Umgang mit dem literarischen Material gesprochen wird und in denen die Lernenden erkennen lassen, dass sie die sprachliche Vermittlung auf die literarisch repräsentierten Themen beziehen. A UTOGENE F AKTOREN V Die Ebene der Lernenden Reflexion von literarischer Produktion Die Schülerinnen und Schüler… C5a  nutzen die Eigenheiten von Genres für die Sinnstiftung C5b  betrachten Produktionsaspekte reflektierend (storylines, den Plot, den Handlungsort, die Darstellung und die Spannungsbögen des literarischen Textes). C5c  nutzen die Stimmung/ Atmosphäre für die Sinnstiftung. C5d  gehen mit sprachlicher Ambiguität, Formen der Symbolik, der Andeutung und Mehrdeutigkeit und der Verfremdung um. Tabelle 58: Indikatoren Autogene Faktoren V Setzen sich die Lernenden mit literarischen Merkmalen auseinander, so kommen in der Codierung Indikatoren zum Einsatz, die sich der Gruppe Reflexion von literarischer Produktion zuordnen lassen. Gefasst werden kann damit kommunikatives Verhalten, das eng verbunden mit den bedingenden Umständen des ästhetischen Wirkpotentials und den entsprechenden Strategien und Taktiken zu sehen ist. Realisieren kann sich dies in den Daten insofern, als die Lernenden auf die Eigenheiten von Genres zurückgreifen oder Produktionsaspekte reflektierend betrachten, indem sie über storylines, den Plot, den Handlungsort die Darstellung und Spannungsbögen sprechen. Dazu gehört dann auch, die im Text angelegte Stimmung bzw. Atmosphäre zu kommentieren und für Sinnstiftungsprozesse fruchtbar zu machen und mit sprachlicher Ambiguität, Formen der Symbolik, der Andeutung und Mehrdeutigkeit und der Verfremdung umzugehen. Die hier vorgestellten Indikatoren können keinen Anspruch auf Vollständigkeit bzw. Abgeschlossenheit erheben. Sie sind aus der Analyse und Interpretation der Datenlage des Samplings hervorgegangen und mit Bedacht so formuliert, dass sie für hinreichend ähnliche Situationen repräsentativ sind. Sie entstammen der komparativen Analyse, sind allerdings noch nicht als vollwertige Theorieelemente zu werten, da der Schritt von Indikatoren zu Deskriptoren eines aus Kompetenzbereichen und Teilbereichen bestehenden Kompetenzmodells noch nicht vollzogen ist (cf. 8.2), der erst gegen Ende der <?page no="219"?> 219 Arbeit im Mittelpunkt stehen wird, wobei dann auch ausführlicher darzulegen ist, wie sich Indikatoren und Deskriptoren für die Verwendung des Modells in der unterrichtlichen Praxis zueinander verhalten (cf. 9). An dieser Stelle ist allerdings schon anzumerken, dass Indikatoren in Abhängigkeit zu den im Unterricht verwendeten Texten zu sehen sind und stets im Vergleich unterschiedlicher unterrichtlicher Situationen bestätigt werden müssen. Mit diesem Gedanken hängt auch die Generierung der Indikatoren zusammen, beziehen sie sich doch auf die Daten. Dass eben nur diese und nicht andere vertreten sind, ist auf das Sampling zurückzuführen, das mit acht Fallstudien schon quantitativ begrenzt ist und zudem ausschließlich Klassen und Kurse der Sekundarstufe I berücksichtigt. In der Sekundarstufe II - und nicht nur dort - könnten sich andere Indikatoren zeigen. Um diesen sinnvoll begrenzten Anspruch auf theoretische Verallgemeinerbarkeit zu verdeutlichen, sollen verschiedene Beispiele herangezogen werden. So ist beispielsweise der im Modell von Burwitz-Melzer (2007a: 141) vertreten Arbeitsschritt der „Sinnkonstitution II“, der als Fähigkeit beschrieben wird „die Interpretationsweise des close reading beherrschen“ zu können, indem Lernende „Stil, Syntax, Narrativik und Metaphern analysieren“ (ebd.; Hervorhebung im Original), im Indikatorenkatalog eher unterrepräsentiert. Grund dafür ist, dass sich besonders mit Stil und Syntax in Verbindung stehendes Verhalten so nicht in Daten finden lässt. Bereits durch die Auswahl der Texte für die Durchführung der Fallstudien zeigt sich eine klare Präferenz narrativer Texte. Lyrische Texte sind nur in zwei Fallstudien vertreten und dramatische finden überhaupt keine Verwendung. Damit bleiben deren Eigenheiten zu einem gewissen Grade unberücksichtigt, kann doch bspw. für erstere der Umgang mit deskriptiven Differenzierungskriterien zur Bestimmung lyrischer Merkmale, wie Komprimierung und Reduktion des Dargestellten, der erhöhte Grad an Subjektivität, Musikalität und Sangbarkeit sowie die in der syntagmatischen und paradigmatischen Beziehung begründete poetische Funktion von Sprache, aber auch der Umgang mit Metrum, Versfüßen, Rhythmik und Strophik (vgl. Nünning/ Nünning 2001: 48-61) nur eingeschränkt eine Rolle spielen. Gleiches gilt - und dies lässt sich auf den oben angesprochenen Bereich der „Sinnkonstitution II“ von Burwitz- Melzer beziehen - für den Umgang der Lernenden mit auf der strukturellen Analyseebene anzusiedelnden rhetorischen Figuren (vgl. Thaler 2008: 130-134). Die Auseinandersetzung mit lyrischen Texten kann sich im Unterricht ganz anders als in den hier zugrundeliegenden Daten realisieren (cf. Ehlers 2011; Winkler 2010; Jäkel 2001; Kelchner 1994). Was sich innerhalb der Daten zeigt und auf einen Umgang der Lernenden mit der Komprimierung des Dargestellten und dem erhöhten Grad an Subjektivität zu beziehen ist, kann durch Indikatoren, die der Handlung und Produktion (A3f, A3g, A3h, A3i) zuzuord- <?page no="220"?> 220 nen sind, repräsentieren werden. Verhalten, das auf eine Auseinandersetzung entlang der strukturellen Analyseebene schließen lässt, wird in den Daten durch Indikatoren der Reflexion von Sprache (C4a, C4b, C4c, C4d, C4e) und der Reflexion von literarischer Produktion (C5d) codiert. Merkmale werksinterner und -externer Kommunikationsebenen dramatischer Texte (vgl. Nünning/ Nünning 2001: 81-85) tauchen im Sampling nicht auf, ließen sich aber ebenfalls durch Indikatoren der Handlung und Produktion im Ansatz deskriptiv fassen; allerdings mit als Forschungsdesiderat zu wertenden Einschränkungen hinsichtlich der Informationsvergabe, der Perspektivenstruktur, der Relation von Haupt- und Nebentext sowie der Kommunikationsspezifik (vgl. Pfister 2001; cf. Thaler 2008; Ahrens 2008). Ein weiterer Bereich, der in den Daten nicht auftaucht, ist der der Intertextualität. Intertextualitätskonzepte gehen davon aus, dass Texte miteinander in Verbindung stehen, dass Textthemen und -gestaltungen in einem kulturellen Raum entstehen und sich Geschriebenes und Rezipierte gegenseitig beeinflusst, realisiert durch ein Geflecht von Anspielungen, Zitaten und Referenzen, die beim Lesen in einen Bedeutungszusammenhang gebracht werden müssen (cf. Härle 2006; Olson 2006; Allen 2000). Deskriptiv lässt sich die Tätigkeit des Textbezugs mit keinem der hier formulierten Indikatoren fassen, die dabei zum Einsatz kommenden Vergleichsmomente, die sich auf die Indikatoren beziehen ließen, allerdings schon. Intertextualität kann somit als weiteres Forschungsdesiderat gefasst werden, das zwar in dieser Form in den Bildungsstandards für die erste Fremdsprache nicht angeführt wird, dafür aber in den Bildungsstandards Deutsch (vgl. KMK 2004b: 14) eine Rolle spielt. Besonders in der Oberstufe - und dann auch unter fachübergreifenden Gesichtspunkten - könnte sich dieser Form der Auseinandersetzung und Sinnkonstitution zuzurechnendes spezifisches Verhalten auch im fremdsprachlichen Literaturunterricht zeigen, wobei sich gerade hinsichtlich des Textbezugs der Stellenwert der Unterrichtsplanung und -gestaltung für das potentiell zu erwartende bzw. sich zeigende spezifische Verhalten in konkreten Situationen verdeutlichen lässt. Generell gilt, dass Ergebnisse und Einsichten forschender Anstrengung in Abhängigkeit zum jeweiligen Erkenntnisinteresse zu sehen sind (vgl. Kromrey/ Strübing 2009; Flick/ Kardorff/ Steinke 2000; Strauss 1994). In jüngerer und jüngster Vergangenheit sind im Rahmen des Gießener Graduiertenkollegs Didaktik des Fremdverstehens und darauf aufbauend Studien entstanden, die den Einsatz literarische Texte im Unterricht unter Aspekten des interkulturellen Lernens untersuchen (cf. Freitag-Hild 2009; Burwitz-Melzer 2003; Müller- Hartmann 1999). Auch in diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass Indikatoren, die innerhalb der vorliegenden Arbeit entlang des kulturellen Kontexts und der personalen Reaktionen im kulturellen Kontext geordnet werden, entsprechend einer interkulturellen Akzentsetzung zu ergänzen wären. Einschrän- <?page no="221"?> 221 kungen dieser Art sind also vor allem auf das Generieren von Indikatoren (und späteren Theorieelementen) aus den Daten zurückzuführen, denn mit den hier vorgestellten Indikatoren wird darauf gezielt, sowohl das zu beobachtende Verhalten (Unterrichtsgeschehen und Schülerprodukte) als auch die Einsichtnahmen der Lernenden hinsichtlich des Lese- und Verstehensprozesses (retrospektive Interviews) so zu fassen, dass damit zunächst deskriptive Momente im Vordergrund stehen. Zunächst bedeutet in diesem Zusammenhang, dass damit Beschränkungen einhergehen, denn die Indikatoren werden zwar so formuliert, dass sie in größtmöglicher Eindeutigkeit für zu beobachtendes Verhalten bzw. für Teilleistungen stehen, sie sind aber notwendigerweise nicht alle in gleichem Maße konkret, muss doch auch bei der Formulierung von Indikatoren gelten, dass sie nicht ausschließlich für Einzelphänomene, sondern - im Sinne der Minimierung von Differenz - für hinreichend ähnliche Phänomene Geltung beanspruchen können. Auf ihre Verankerung in den Daten wurde bereits durch die dichte Beschreibung der Fallstudie als Ankerbeispiel eingegangen. Dies soll nun aber innerhalb der komparativen Analyse an exemplarischen Stellen weitergeführt werden. Schon deshalb, da die mit den Indikatoren zu fassende Leistung der Schülerinnen und Schüler stets in Zusammenhang mit der konkreten Situation im Unterrichtsgeschehen zu sehen ist, Indikatoren und die damit auf einer bereits höheren Abstraktionsstufe gefassten Phänomene also nicht losgelöst vom Kontext betrachtet werden sollten, sondern eingebunden in die Interaktion der Akteure, die dabei durchscheinenden Strategien, Taktiken und sich ergebenden Konsequenzen, worin letztlich auch die bedingenden Umstände der domänenspezifischen Kombination an Wissen und Können enthalten sind. <?page no="222"?> 222 7.1.2 Die verwendeten Indikatoren im Überblick E XOGENE F AKTOREN Die Ebene der Zielsprache und des Unterrichts Kommunikatives Handeln Die Schülerinnen und Schüler… A1a  lesen den literarischen Text. A1b  lesen Teile des literarischen Textes laut vor. A1c  lesen ihre eigenen Produkte laut vor. A1d  sprechen in der Zielsprache. A1e  gehen in der Zielsprache auf die Beiträge anderer ein. A1f  setzten ein vorbereitetes Referat in der Zielsprache um. A1g  schreiben eigene Texte in der Zielsprache. A1h  bearbeiten zielsprachliche Aufgabenstellungen. Fremdsprachliches System Die Schülerinnen und Schüler… A2a  fragen zielsprachlich nach unbekannten Wörtern. A2b  schlagen unbekannte Wörter in Wörterbüchern nach. A2c  umschreiben unbekannte Wörter zielsprachlich. A2d  erschließen unbekannte Wörter aus dem literarischen Kontext. A2e  greifen auf mutterbzw. zweitsprachliches Handeln zurück. Handlung und Produktion Die Schülerinnen und Schüler… A3a  wenden unterschiedliche Lesemodi (orientierend/ selektiv) entsprechend der Aufgabenstellung an. A3b  äußern Vermutungen über die Bedeutung des Titels. A3c  formulieren anhand von Informationen über den Text (Titel, Charaktere, Konstellationen, ausgewählte Bilder/ Geräusche) Erwartungen an den Inhalt. A3d  formulieren Hypothesen über den weiteren Verlauf des Textes. A3e  gleichen die eigenen Hypothesen mit dem Gelesenen ab. A3f  nehmen Stellung zu Textinhalten. A3g  äußern sich zum Textsinn. A3h  setzten Inhalt und Darstellungsweise miteinander in Bezug. A3i  identifizieren Kommunikationsebenen im Text. A3j  benennen dargestellte Veränderungen. A3k  informieren sich eigenständig über zentrale Themen des Textes. A3l  recherchieren Informationen (Autor, literarische Motive, Epoche). A3m  nehmen den Text als Anlass für die eigene Textproduktion. A3n  erweitern den Textsinn durch kreative Verfahren. A3o  nutzen die Struktur/ Form des Ausgangstextes als Modell für die eigene Textproduktion. A3p  setzten die im Text transportierte Stimmung darstellend lesend um. A3q  präsentieren eigene performative Produkte. A3r  setzten Aspekte des Textes performativ um. Tabelle 59: Überblick Indikatoren Exogene Faktoren <?page no="223"?> 223 E NDOGENE F AKTOREN Die Ebene des literarischen Textes Konflikte, Motive, Handlungen Die Schülerinnen und Schüler… B1a  identifizieren zentrale Konflikte des Textes. B1b  kommentieren Handlungen/ Motive der Charaktere. B1c  kommentieren Einstellungen/ Gefühle der Charaktere. Perspektiven, Leerstellen Die Schülerinnen und Schüler… B2a  identifizieren Charaktere und deren Konstellationen. B2b  koordinieren die Perspektiven der einzelnen Charaktere. B2c  füllen Leerstellen des literarischen Textes durch den Bezug unterschiedlicher Textelemente. B2d  gestalten Leerstellen durch eigene Erfahrungen aus. Kultureller Kontext Die Schülerinnen und Schüler… B3a  identifizieren fremdkulturelle Konzepte im Text. B3b  deuten unbekannte Konzepte. B3c  benennen fremdkulturelle Werte und Normen. B3d  benennen fremdkulturelle Konflikte. B3e  identifizieren unterschiedliche kulturelle Perspektiven. Tabelle 60: Überblick Indikatoren Endogene Faktoren <?page no="224"?> 224 A UTOGENE F AKTOREN Die Ebene der Lernenden Umgang mit ästhetischen Wirkfaktoren Die Schülerinnen und Schüler… C1a  versetzen sich in die literarischen Charaktere. C1b  erweitern den eigenen Erfahrungshorizont durch ein Hineinversetzten in die Charaktere. C1c  nutzen die beim Lesen als affektiver Respons entstehenden eigenen Gefühle für den literarischen Verstehensprozess. C1d  machen sowohl die individuellen als auch die unterrichtlich verbindlichen Ziele, Zwecke und Absichten des Lesens für die literarische Sinnbildung fruchtbar. C1e  begreifen Subjektivität und Diversität als für die Sinnstiftung zentral. C1f  nehmen literarische Texte als inszenierte und perspektivierte Sinnentwürfe wahr. C1g  erkennen ästhetische Erfahrung als Mittel zur Erlangung neuer Einsichten. Personale Reaktionen im kulturellen Kontext Die Schülerinnen und Schüler… C2a  lassen sich auf die kulturellen Begebenheiten der präsentierten Sichtweise ein. C2b  betrachten kulturelle Gegebenheiten aus der Außenperspektive. C2c  erkennen Unterschiede/ Gemeinsamkeiten zwischen der eigenen und der fremden Kultur. C2d  deuten Kulturen und kulturelle Praxis als vielfältig und heterogen. Reflexion von Handlungen und Motiven Die Schülerinnen und Schüler… C3a  beziehen den Wirklichkeitsentwurf auf eine außerliterarische Realität. C3b  setzten zentrale Konflikte im Text mit Gegebenheiten des eigenen Lebensumfelds in Bezug. C3c  bewerten Handlungen und Motive der Charaktere kritisch. C3d  weisen Einstellungen und Gefühle der Charaktere kritisch zurück. C3e  widerstehen den fiktionalen/ fiktiven Gesetzmäßigkeiten des literarischen Textes. C3f  reflektieren die im Text geltenden Normen und Werte kritisch. Reflexion von Sprache Die Schülerinnen und Schüler… C4a  unterscheiden metaphorischen Sprachgebrauch und wörtliche Bedeutung. C4b  erfassen Konnotationen und sprachliche Unbestimmtheiten. C4c  betrachten sprachliche Aspekte analysierend. C4d  verbinden sprachliche Strukturen mit literarischen Funktionen. C4e  benennen die Selbstreferentialität literarischer Sprache. Reflexion von literarischer Produktion Die Schülerinnen und Schüler… C5a  nutzen die Eigenheiten von Genres für die Sinnstiftung C5b  betrachten Produktionsaspekte reflektierend (storylines, den Plot, den Handlungsort, die Darstellung und die Spannungsbögen des literarischen Textes). C5c  nutzen die Stimmung/ Atmosphäre für die Sinnstiftung. C5d  gehen mit sprachlicher Ambiguität, Formen der Symbolik, der Andeutung und Mehrdeutigkeit und der Verfremdung um. Tabelle 61: Überblick Indikatoren Autogene Faktoren <?page no="225"?> 225 7.2 Die Fallstudien im Überblick: Zwei Fälle pro Schulform Nachdem nun eine Fallstudie ausführlich dargestellt worden ist, sollen die weiteren Fallstudien im Folgenden nur noch überblicksartig vorgestellt werden. Das Ankerbeispiel dient dabei gewissermaßen als Bezugsystem, werden doch im Überblick vor allem jene Situationen nur zusammenfassend angesprochen, die Ähnlichkeiten zu den bereits dargestellten Codierungen aufweisen. Überblicksartig meint, Zusammenhänge von Unterrichtsgeschehen - im Sinne von Schülerverhalten, das mit Indikatoren exogener, endogener und autogener Faktoren codiert wird - und den rahmenden Situationen anzuzeigen. Mit dieser Vorgehensweise geht die Absicht einher, die Codierungen und deren Verhältnisse im empirischen Material komparativ zugänglich zu machen, indem abzuleiten ist, welche Modellbestandteile sich in den Datensätzen als beständig und besonders häufig auszumachen herausstellen (Minimierung von Differenz). Der Blick auf grundlegende Unterschiede, auf Besonderheiten der Fallstudien soll zwar bei dieser Annäherung auch berücksichtigt werden, die Maximierung von Differenz spielt aber besonders im Abschnitt zu den Indikatoren in der Diskussion eine wichtige Rolle (cf. 7.3). Hier stehen dann jene Indikatoren im Vordergrund, die dann zu Deskriptoren der Kompetenzbereiche gewandelt werden, die als Codierungen im Datenmaterial nur selten bzw. als Einzelfall auftauchen. 7.2.1 G10 II - Gymnasium (städtisch) Bei der zweiten Gruppen der Schulform handelt es sich um eine Klasse eines städtischen Gymnasiums (Oberzentrum; Sekundarstufe I und II). Zum Zeitpunkt der Untersuchung wird die Schule von ca. 1100 Schülerinnen und Schülern besucht, die auf 46 Klassen verteilt sind. Die teilnehmende Gruppe setzt sich aus fünfundzwanzig Schülerinnen (14) und Schülern (11) im Alter zwischen fünfzehn und sechszehn Jahren zusammen. Die Kontaktaufnahme über Schulleitung und Fachbereich erwies sich als durchweg kooperativ. Die teilnehmende Lehrperson zeigte großes Interesse, war aber mit den vorgeschlagenen Handlungs- und Produktionsanlässe nach eigenen Angaben nicht vertraut, setzt sie doch bei der Arbeit mit literarischen Texten im Englischunterricht andere Schwerpunkte. Im Lehrerfragebogen gibt sie an, literarische Texte in den Jahrgangsstufen fünf/ sechs, sieben/ acht der Sekundarstufe I sowie elf bis dreizehn in der Sekundarstufe II einzusetzen. Als speziell durch literarische Texte zu vermittelnde Lerninhalte nennt sie „Empathievermögen, Figurenkonstellationen, Literatur als Therapie und Spiegel der jeweiligen Gesellschaft“. Ihre bisherigen Erfahrungen mit literarischen Texten umschreibt sie als positiv, gibt an, dass sie Literatur liebe, und dass die Lernenden <?page no="226"?> 226 dies spürten und sich anstecken ließen: „Literatur lässt alle Gedanken zu, ohne richtig oder falsch“. Den Einsatz kreativer Methoden beschreibt sie als „Gegenpol zum analytischen Unterricht“, der den Lernenden „Freiraum für eigene Gedanken“ ließe (LFB G10 II; S. 1-3). Als Ausgangstext für die Gestaltung des Unterrichts diente die Short Story T HE K ILLERS von Ernest Hemingway (1972: 58-69). Neben der relativen Kürze waren auch hier die sich aus der Geschichte ergebenden Motive der Handelnden, der zeitlich-kausale Zusammenhang von Handlungen, der kulturelle Kontext der Handlungen, die dabei durchscheinenden Normen, Wertvorstellungen und ethischen Fragen, die Perspektiven der Handelnden sowie die Darstellung des Außergewöhnlichen für die Auswahl richtungsweisend. In Dialogform werden Geschehnisse in der US-amerikanischen Kleinstadt Summit präsentiert. Nick ist Kunde in Henry’s Lunchroom, in dem neben George noch der Koch Sam arbeitet. Zwei Männer, die sich gegenseitig mit Max und Al anreden, betreten das Gebäude, nehmen Platz und verhalten sich bereits bei der ersten Kontaktaufnahme mit George äußerst aggressiv. Sie bestellen Essen und bedrohen darauf George und Nick. Sam wird aus der Küche gerufen, worauf einer der beiden Männer mit Sam und Nick in die Küche geht, sie dort fesselt und knebelt. George wird instruiert, jedem Kunden zu sagen, Sam hätte frei, und dann selbst in die Küche zum Kochen zu gehen. Die beiden Männer offenbaren ihren Plan, geben zu verstehen, dass sie gekommen seien, um einen Schweden namens Ole Anderson zu töten. Als dieser nicht zur gewöhnlichen Uhrzeit im Gastraum auftaucht, nehmen die Männer ihre auf dem Tresen abgelegten Waffen und verlassen das Gebäude. George befreit Nick und Sam. Nick beschließt, Ole zu warnen, verlässt den Gastraum und macht sich auf den Weg zur Unterkunft des Schweden, die Pension Hirsch. Der ehemalige Schwergewichtspreisboxer Ole liegt apathisch in seinem Bett, als Nick die Tür öffnet. Auf Nicks Warnung reagiert er nur teilnahmslos, lehnt das Angebot ab, die Polizei zu rufen, und erklärt, dass er das Wegrennen leid habe. Nick kehrt verstört ob der Reaktion Oles zu George und Sam zurück. Die Geschichte endet mit Georges Rat an Nick, besser nicht über das Ganze nachzudenken. Nick, dem Protagonisten der Short Story T HE K ILLERS , ist ein ganzer Zyklus an Kurzgeschichten Hemingways gewidmet (vgl. Lynn 1987). Thematisch kreisen diese sogenannten Nick Adams Stories zumeist um den Verlust der Unschuld, das Hineinwachsen Nicks in eine Gesellschaft, in der die ihm durch seine Erziehung nahegebrachten ‚alten Werte‘ nicht mehr gelten, und die Konflikte, die Nick in diesen Initiationssituationen bewältigen muss (vgl. Felming 1990: 313). Teil des Verlusts der Unschuld ist in der Geschichte Nicks zufällige Verwicklung in die Geschehnisse um Ole Anderson, die ihm widerfahrene Gewalt durch die Gangster, seine Bereitschaft, Ole zu warnen und sich dadurch selbst in Gefahr zu bringen, und die empfundene Hilflosigkeit zum <?page no="227"?> 227 Ende der Geschichte, als er von Oles apathischer Reaktion berichtet und von George nur den wenig hilfreichen Rat erhält, besser nicht darüber nachzudenken. Das Hineinwachsen in eine verwirrende Welt wird in der Geschichte bildlich dadurch transportiert, dass bspw. die Uhr im Diner vorgeht: Just as menus, clocks, signs, and names mislead the trusting people who accept them and rely upon them, so too the moral and spiritual code passed down from previous generations will prove an inadequate and deceptive guide to Nick’s troubled twentieth-century generation. (ebd.) Gerade diese inhaltlich-thematischen und erzähltechnischen Aspekte lassen die Short Story T HE K ILLERS im Vergleich zur vorangegangen dargestellten Geschichte Ta-Na-E-Ka (cf. 6.2.1) komplexer erscheinen, sind doch mit story und discourse (vgl. Chatman 1978) in Zusammenhang stehende Unterschiede vor allem daran festzumachen, dass für erstere in T HE K ILLERS gerade der nicht explizierte zeitlich-kausale Zusammenhang von Handlungen konstruiert werden muss und dass für letzere gilt, dass sowohl die Dialogform als auch die bildlichen Elemente der Geschichte durchdrungen werden müssen. Um den Lernenden der Sekundarstufe I eine Auseinandersetzung damit in reduzierter Form im Unterricht zu ermöglichen, waren bei der gemeinsamen Unterrichtsplanung mit der Lehrkraft die in der Geschichte zu koordinierenden Perspektiven zentral. Besonderes Augenmerk lag auf den darin enthaltenen Motiven sowie den im Text nur angedeuteten zeitlich-kausalen Zusammenhängen der Handlungen, die als zu füllende Leerstellen Ausgangspunkte für Handlungs- und Produktionsanlässe boten. Das Außergewöhnliche der Geschichte zu ergründen, das sich im dargestellten menschlichen Leid, in der Bereitschaft Nicks zur Hilfe sowie in dessen Hilflosigkeit gegenüber der Apathie Oles konkretisiert, stand bei den Konstruktionsleistungen der Lernenden im Unterricht im Vordergrund. Welche tasks bei den insgesamt sechs Unterrichtsstunden der Fallstudie Kommunikations-, Handlungs- und Produktionsanlässe bereitstellten, ist der Tabelle zu entnehmen: Task Stunde  Hypothesen über den Inhalt der Geschichte anhand von setting und characters bilden  Präsentation der Hypothesen zu Handlungsort und Handlung  Anhand des Titels Erwartungen an die Geschichte äußern  Lesephase  Konstellationen der Charaktere und Konflikte benennen  Lesephase  What is the plan?  Produktionsanlass: Innerer Monolog Nick/ George 1. / 2. Stunde <?page no="228"?> 228  Präsentation der Produkte  Warm up: Handlungsverlauf in Kleingruppen mündlich zusammenfassen  Handlungsoptionen: Nick/ Sam  Hypothesen der ersten Stunde mit dem Gelesenen vergleichen  Hypothesen über den weiteren Verlauf bilden  Lesephase  Motive und Handlungen bewerten und Leerstellen füllen  Produktionsanlass: Fragen an Ole Anderson 3. Stunde  Präsentation der Produkte:  Produktionsanlass: What could have happened in Chicago? Write a news paper article.  Präsentation der Produkte  Time line of events  Präsentation der time line  Dialogform der Geschichte reflektieren  Produktionsanlass: Re-write the story from Sam’s point of view. 4. / 5. Stunde  Peer editing Schülerprodukte  Über die Perspektivenübernahme reflektieren  Präsentation der Produkte  Präsentation der Expertengruppe Hemmingway  (Beispielaufgaben) 23 6. Stunde Tabelle 62: Überblick tasks G10 II 7.2.1.1 Das Unterrichtsgeschehen im Überblick Die für die Fallstudie vorgenommenen Codierungen, die hier zusammenfassend besprochen werden sollen, bevor Besonderheiten - im Sinne der Maximierung von Differenz - entlang ausgewählter Beispiele aus dem Unterrichtsgeschehen dargestellt werden, weisen im Vergleich mit dem Ankerbeispiel nur wenige Indikatoren auf, die sich auf den kulturellen Kontext (endogene Faktoren) und auf personale Reaktionen im kulturellen Kontext (autogene Faktoren) beziehen. Zurückzuführen ist dies vor allem auf das Textthema, das im Vergleich zur Short Story Ta-Na-E-Ka nur wenig Raum für eine verstehende Auseinandersetzung mit speziell kulturellen Aspekten bereithält. Auffällig ist auch, dass die Bereitschaft zur Beteiligung (an der Häufigkeit der 23 Die Beispielaufgaben stellen einen Sonderfall im Sampling dar, finden in insgesamt drei Fallstudien Verwendung (G10 II, E10 I, R10 I) und werden am Ende des Kapitels gesondert besprochen (cf. 7.3.3). <?page no="229"?> 229 Meldungen aller SuS im Unterricht festgemacht) im Vergleich zur vorangegangenen Fallstudie wesentlich geringer ausfällt. Hinzukommt, dass - aus den Transkripten ersichtlich - der Redeanteil der Lehrkraft den höchsten der gesamten Untersuchung darstellt. Entsprechend der Zielsetzung, Codierungen der Fallstudie überblicksartig darzustellen, lohnt es sich, Indikatoren der unterrichtlichen Lenkung auf die im Unterricht auszumachenden Handlungs- und Produktionsanlässe zu beziehen und so den Verlauf der Unterrichtseinheit entlang der entstehenden Situationen zu beschreiben, die hier exemplarisch an den Indikatoren Erwartungen an den Inhalt formulieren (A3c) und Hypothesen über den weiteren Verlauf des Textes (A3d) verdeutlicht werden sollen. In der ersten und zweiten Stunde sind es vor allem Handlungsanlässe, die darauf zielen, dass die Lernenden eine Erwartungshaltung gegenüber dem Text, seiner zentralen Konflikte und seiner Charaktere aufbauen (vgl. Burwitz-Melzer 2007a: 140), indem die Lernenden es leisten, anhand von Informationen über den Text (in diesem Fall eine Folie zu setting und Charaktere) Erwartungen zu formulieren (A3c). Die Situation wird durch einen Impuls der Lehrkraft eingeleitet: 10: 08 L Ok, so listen,ähm here you have the setting (zeigt auf Folie Diner) right? Ok? And here you have the characters (zeigt auf Folie Characters). This is probably very unusual that you are given the characters beforehand. Ok. I have never done this before. Butlet’s see. I want you you have no headline. Ok. Maybe just be aware when you have the title you can write it down, ähm, the title and then by Hemingway. So my first question to you is (betont) what happens. What is your impression. So (zeigt auf Folie) these are some hints for, äh, the plot of our story. You just write down in s-sentences. Ok? So what do you think is the story about? What happens? (zeigt auf Tafelanschrieb) Where is set up? Ok? Very briefly. Maybe three or four sentences. Ok? So. L formuliert Aufgabenstellun g S x (an L) What? Where? S fragt klärend nach L nickt zustimmend L Questions? 10: 09 Areitsphase beginnt Tabelle 63: G10 II (1. u. 2. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§13 - 18) Die Lehrerin weist auf die für ihre Unterrichtsgestaltung ungewöhnliche Vorgehensweise hin und fordert die Lernenden auf, ohne bekannten Titel, dafür aber mittels der Folien zu setting und Charakteren, Hypothesen über den Plot des Textes aufzustellen. Klärend fragt ein Lernender nach, ob damit die whquestions what/ where gemeint seien. Nach der vierminütigen Partnerarbeits- <?page no="230"?> 230 phase werden die Lernenden aufgefordert, ihre Ergebnisse in Kleingruppen vorzustellen und Rückmeldung zu geben. Danach wird im Unterrichtsgespräch zunächst das setting geklärt, worauf sich die folgende Sequenz zu den Hypothesen über einen möglichen Handlungsverlauf anschließt. L […] Ok. So, absolutely correct. It will be America. Diner. What will happen in your story, or what happens in your story. Come on. S 15 wanted. Ja (zeigt auf S 15 ). L kommentiert Schüleräußerung 10: 20 S 15 Ähm, I think it’s about a conversation of a couple of peoples. Ähm, the people who are mentioned. A1d, A3c L Mhm (schreibt paraphrasierend an Tafel) L paraphrasiert Schülerantwort S 15 Ähm, I think it’s between Al and Max, and who get’s, äh, into a conversation with ol-Ole Anderson and Mrs. Bell. A1d, A3c, [B2a] L Ok. L kommentiert Schüleräußerung S 15 And later they talk with George, Sam and Nick. A1d, A3c, [B2a] L Other ideas. Come on. L S 12 Come one. S 12 (liest ihre Ideen vor) The story takes place in a diner where Al, Max and Ole Anderson, the main characters, get in to eat something. Mrs. Bell, the waiter, brings them something to eat, where suddenly three other men, George, Sam and Nick, come in and sit next to the others. The three men were drunk and they start to bother Mrs. Bell. A1c, A3c, [B2a] [B1a] L (lacht) that is, that is beautiful. L kommentiert Schüleräußerung S 15 lächelt freudig 10: 21 L (unverständlich) That’s like in a movie. Yeah. It’s real life too. I think it happens-maybe right now it’s happening somewhere in America. So. Maybe a third idea. Very briefly. Yeah it’s nice (bezüglich S 15 ) because she also, as you can see, she had the contact (geht zur Folie). Like, this contrast. First these (zeigt) characters and then these ones, and the conflict between them. So the last one, anyone? Yeah, S 19. L kommentiert Schüleräußerung L kommentiert Konstellationen S 19 Ähm, I think Al and Max are some guests of the-ähm, the diner, and they will, ähm, complain about something, ähm, and the- (gestikuliert) or drinkand, ähm, Ole Anderson and the waitress and, äh, they, nein, she will or he will, ähm…keine Ahnung, wird die, also Mrs. Bell informieren, because Mrs. is the chef, A1d, A3c, [B2a] A2e <?page no="231"?> 231 and George, Sam and Nick are some, ähm, other waitress, waiters- L Waiters. 10: 22 S 19 Ähm, who will talk about, ähm, (unverständlich)- L About what? L fragt nach S 19 Ja, Vorfall. A2e L Ah, oh, what’s happening. So you have a very good gut-feeling. Because he is absolutely right. Al and Max will come into the diner. A hundred point for you. Yeah. And George and Sam and Nick, of course you have-äh, one of these (zeigt auf Folie), ähm, works there. So this will be, ok. […] L kommentiert Schüleräußerung L bezieht Schülerantwort auf denText Tabelle 64: G10 II (1. u. 2. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§74 - 94) Die Schülerin S 15 reagiert als erstes auf die Fragestellung, spricht dabei in der Zielsprache (A1d) und formuliert Erwartungen an den Inhalt (A3c). Dies äußert sich dahingehend, dass die Charaktere und deren Konstellation (B2a) in eine Konversation als möglichen Handlungsverlauf eingebunden werden. In Klammern ist die Codierung der Konstellation vor allem deshalb gesetzt, da diese nicht im Gelesenen identifiziert, sondern als mögliche Konstellation - im Sinne einer Erwartung an den Handlungsverlauf - erstellt wird. Anders verhält es sich mit der Äußerung der Schülerin S 12 , die ihre Ideen fremdsprachlich vorliest (A1c). Auch sie formuliert Erwartungen an den Inhalt (A3c). Fragt man aber nach Unterschieden zwischen den Schülerbeiträgen, so ist der zweiten Äußerung zudem zu entnehmen, dass sie die möglichen Konstellationen (B2a) mit Funktionen versieht, spricht sie doch von Haupt- und Nebencharakteren. Hinzukommt, dass sie die Situation im Diner sich dahingehend entwickeln lässt, dass ein Konflikt zwischen Gästen (bei ihr Nick, Sam und George) sowie der Besitzerin entsteht (B1a). Auch diese Codierung ist in Klammern gesetzt, da Konflikte nicht im Text erkannt werden können, sondern als Erwartungen imaginiert werden. Interessant ist dabei, wie nah sich Schülerin S 12 am Verlauf des literarischen Texts bewegt. Dies zeigt sich auch in der Reaktion der Lehrerin. Sie würdigt die Schüleräußerung und stellt als besonders heraus, dass auf die unterschiedlichen Gruppen der Charaktere eingegangen und zudem ein Konflikt zwischen diesen konstruiert wird. Ähnlich gestaltet der Schüler S 19 seine Konstellationen (B2a), der es in seinen formulierten Erwartungen zu Konflikten zwischen den Gruppen kommen lässt (B1a). Bei ihm sind es Max und Al, die ins Diner kommen und in einen Konflikt mit Ole Anderson geraten, der Mrs. Bell (in der Schülerhypothese die Besitzerin) informiert, wobei Sam, Nick und George als Angestellte eine Funktion einnehmen. Dem Schüler gelingt es allerdings nur durch Rückgriff <?page no="232"?> 232 auf muttersprachliches Handeln (A2e) seine Erwartung zu kommunizieren (A1d). Auch hier reagiert die Lehrerin insofern würdigend, als sie die Schülerantwort auf den Text bezieht und zu verstehen gibt, dass die Erwartung, Al und Max kommen ins Diner, sich im Text bestätigen wird, wobei sie auch auf die Rolle von Sam und George eingeht, die tatsächlich im Diner arbeiten. Wie bereits einleitend erwähnt, spielt der Umgang im Unterricht mit Erwartungshaltungen eine tragende Rolle. Beispielsweise, indem die Lernenden in der dritten Stunde zunächst die eigenen Hypothesen, die als Hausaufgabe schriftlich festgehalten wurden (A1g), mit dem Verlauf des Textes abgleichen. Gemeinsam gelesen (A1a) wurde bis zu der Stelle, in der Nick den nicht im Diner aufgetauchten Ole vor den Männern warnt und mit dessen apathischer Reaktion konfrontiert wird. Der Sequenz geht im Unterricht voraus, dass die Lernenden in Gruppen den Plot mündlich zusammenfassen (A3j): 12: 01 L […] Ok. Come on, other ideas. Come on. S 25. S 25 Ähm, (liest vor) I think the story tells us about some relationships between people in the restaurant. The waiters and the people who are sitting and eating something. They tell us about the day, what happened and so on. A1c A3c L Ok. Yeah. S 25 It’s very in general, butäh- L So what is different in your story? Or what is different in Hemingway’s story? The constellation of the characters, or what? The themes? L fragt nach S 25 Öh no, it’s, äh it’s a-a normal day in a restaurant. A1d A3e [B1a] L Ok. S 25 I thought it. L Good. So because, if two killers come in that is not a normal day. L kommentiert Schüleräußerung S 25 No. L That is not a normal incident. Ok. L kommentiert Schüleräußerung Tabelle 65: G10 II (3. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§76 - 87) Der Ausschnitt beginnt damit, dass die Lehrerin nach weiteren Beispielen fragt. Darauf meldet sich der Schüler S 25 , der seine schriftlich festgehaltenen Ideen über den möglichen Inhalt (A3c) vorliest (A1c). Auf seine Anmerkung, es sei sehr allgemein gehalten, reagiert die Lehrkraft mit einer weiterführenden Frage, die auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Hypothesen und Gelesenem zielt. Der Schüler, der nun nicht länger vorliest, sondern in <?page no="233"?> 233 der Zielsprache spricht (A1d), gleicht darauf die eigenen Hypothesen mit dem Gelesenen ab (A3e) und gibt zu verstehen, dass er Unterschiede vor allem am präsentierten Außergewöhnlichen der Situation festmache. Dies geschieht, indem er seine Hypothesen als „a normal day in a restaurant“ umschreibt, die er den Geschehnissen der Short Story gegenüberstellt. Implizit, und daher in Klammern gesetzt, ist darin enthalten, dass gewissermaßen als Grundlage für diesen Vergleich, die zentralen Konflikte - eingebettet im Außergewöhnlichen der Situation - identifiziert werden (B1a). Anzumerken ist allerdings, dass diese Interpretation der Schülerleistung nur durch die S-L-Interaktion und die zugrundeliegenden Leistungen zu rechtfertigen ist. Damit ist gemeint, dass die Gegenüberstellung von Hypothesen und Gelesenem durch die Frage der Lehrkraft initiiert wird und dass das Erkennen von zentralen Konflikten sich zunächst auf die außergewöhnliche Situation im Diner bezieht. In der S- L-Interaktion ist es sodann die Lehrkraft, die die Schüleräußerung kommentiert und eine wertende Aussage anbietet, die dann vom Schüler bestätigt wird. Solche Art von Interaktionsmustern (L initiiert, S reagiert, L kommentiert, S bestätigt) sind als symptomatisch für die Gruppe zu werten und resultieren nicht zuletzt in einem hohen Redeanteil der Lehrkraft. Anders als in der vorausgegangenen Fallstudie, in der durch die Paraphrasierungen der Lehrkraft vorrangig Ziele der impliziten sprachlichen Korrektur der Schülerbeiträge zu unterstellen sind, werden hier sich auf die Schüleräußerungen beziehende Interpretationsansätze von der Lehrerin geboten. Auf die gezeigte Sequenz folgen noch zwei weitere Schülerbeiträge, die dann aber als Ausgangspunkt dafür im Unterrichtsgespräch genutzt werden, Hypothesen über den weiteren Verlauf mündlich zu formulieren: 12: 05 L […] What will happen? So we have the situation, Nick is there. This Ole as who is seeing it. Someone is lying on the bed, you were saying it, S 13, no? Ähm, what will happen now? We will read it now together, but what do you think? S 2. L formuliert Fragestellung L fasst Plot zusammen S 2 Maybe, ähm Max and Al are coming to Ole. A1d A3d L Mhm. S 2 And just want to kill him. L Mhm. Ähm, the two men will come up, or will-will turn up. Ähm, will Nick really be part of the whole thing? L fragt nach S 2 Ähm, yes because he is ähm, in the near of Ole Anderson. And so he gets in trouble with him. A1d, A3d L Mhm. Ok. He is near him. Yeah, S 23. L paraphrasiert S 23 I think, äh, Nick will, ähm, talk to him a little bit, and then he will, äh, go again because he is scared- A1d, A3d, B1c L Mhm. S 23 Of äh, the two men come. <?page no="234"?> 234 L Mhm. S 1. 12: 06 S 1 Maybe Ole knows that he should be killed. A1d, [A3d], B1b L Yeah, good feeling. Yes. Ole knows that. Ok. In what mood is the style here? What impression does he make on you? For the way Hemingway tells us the story here? S 15. L kommentiert L fragt nach S 15 He’s been quiet and he’s been see that he’s sad, because of something, but we don’t know why. ‘cause he äh, ähm do - A1d, B1c, [A3h] L He is not very emotional about it, you mean? L kommentiert S 15 Yeah. L Yeah. S 16. S 16 He’s relaxed. [A1d-B1c-Fragment] L Ja. (ruft S 5 auf). S 5 Yeah, ähm, it also seemäh, seems that he doesn’t care. A1d, B1c, [A3h] L Ja. S 5 About it. L zeigt auf S 9 S 9 I think he ended up his life because he knows that he will be killed someday, and maybe he’s been running away for a long time. A1d, B1c/ B1b [C1a] 12: 07 S 9 And now he’s sick of running away, fleeing always. Because when you know you will get killed, you get paranoid. You always see, oh my God, there could be the killers. And so he just said, it’s not worth it to live so I just wait here and let them do their work. Tabelle 66: G10 II (3. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§108 - 135) Die Schülerin S 2 reagiert als erste auf die Fragestellung der Lehrerin, spricht in der Zielsprache (A1d) und formuliert als Hypothese über den weiteren Verlauf (A3d), dass Max und Al nach Ole suchen, um ihn umzubringen. Von der Lehrerin nach Nicks Rolle gefragt - der gelesene Abschnitt endet mit Nicks Entschluss, Ole zu warnen -, gibt die Schülerin zu verstehen, dass dieser durch seine Nähe zu Ole auch in Schwierigkeiten mit den beiden Killern gerät. Sprachlich ist dieser Aspekt allerdings nicht korrekt formuliert, wobei die Lehrkraft nicht korrigiert. Als nächstes beteiligt sich der Schüler S 23 am Unterrichtsgespräch und formuliert als Hypothese (A3d), dass Nick Ole findet, sich mit ihm unterhält, ihn dann aber allein lässt. Dabei kommt er mit grammatischen Schwierigkeiten auch auf Einstellungen und Gefühle Nicks zu sprechen (B1c), verlässt dieser Ole doch aus Angst vor den zwei Männern. Die Lehrerin korrigiert dies sprachlich nicht, sondern ruft S 1 auf. Die Schülerin scheint indirekt auf den vorangegangenen Beitrag einzugehen, da sie we- <?page no="235"?> 235 niger - und daher in Klammern gesetzt - Hypothesen formuliert (A3d), als Oles Motive und möglichen Handlungen zu kommentieren (B1b), indem sie anführt, er wisse bereits, dass er getötet werden soll. Die Lehrerin kommentiert diese Aussage bestätigend und fragt nach den literarischen Mitteln, nach Stimmung und Stil und der Wirkung auf die Lernenden. Interessant ist, dass hier die Lernenden aufgefordert werden, Inhalt und Darstellungsweise mit einander in Bezug zu setzten (A3h), und dies implizit auch tun, die Lernenden aber vor allem Oles Einstellungen und Gefühle kommentieren (B1c). So gibt die Schülerin S 15 in ihrer Antwort mit grammatischen und lexikalischen Schwierigkeiten zu verstehen, dass Ole auf sie traurig wirke, man aber den Grund dafür nicht kenne. Die von der Lehrerin angebotene Formulierung, Ole reagiere wenig emotional auf die Warnung, bestätigt die Schülerin. S 5 greift dies auf und gibt zu verstehen, dass Oles Verhalten so auf sie wirke, als sei ihm die drohende Gefahr egal (B1c). Und auch der Schüler S 9 kommt auf Einstellung und Gefühle (B1c) zu sprechen, die er zudem mit möglichen Motiven verbindet (B1b), indem er Oles Apathie mit einem sich Ergeben in die Unausweichlichkeit erklärt. In der Begründung des Schülers findet sich ein Hineinversetzen in die Lage des Charakters (C1a). Darauf lässt neben seiner Formulierung „when you…“ auch schließen, dass der Schüler die Motivlage Oles auf dessen Defätismus zurückführt. Das Unterrichtsgeschehen im Überblick daran festzumachen, Situationen zu besprechen, die mit der Erwartungshaltung in Zusammenhang stehen, dient zweierlei Zwecken. Zum einen sind die ausschnittartig gezeigten Codierungen als Varietäten der im Ankerbeispiel entdeckten Teilleistungen zu sehen, die als Vertreter sowohl exogener, endogener als auch autogener Wirkfaktoren beim Umgang mit literarischen Texten im Unterricht zu sehen sind. Zum anderen ist das Wechselspiel von Erwartungshaltung und Abgleich des Gelesenen mit den zuvor erstellten Hypothesen als repräsentativ für die methodische Linienführung innerhalb der Fallstudie zu sehen, die dann zum Ende der 3. Stunde sowie in den Folgestunden um Bewertungen der Handlungen und Motive, das Füllen von Leerstellen, der Auseinandersetzung mit Handlungsstrukturen und der literarischen Präsentation sowie Aspekten der Re-Perspektivierung ergänzt werden. Durch Schreibhandlungen werden beispielsweise Fähigkeiten der Lernenden gefordert, den Text als Anlass für die eigene Textproduktion zu nehmen (A3m). Die literarische Präsentation wird textanalytisch orientiert in den Fokus genommen, indem die Lernenden innerhalb der mündlichen Auseinandersetzung Inhalt und Darstellungsweise miteinander in Bezug setzen (A3h) sowie Kommunikationsebenen identifizieren und die im Text dargestellte Veränderung benennen (A3i). Besonders bei den Schreibhandlungen der dritten Stunde (Fragen an Ole Anderson) sowie der vierten und fünften Stunde (What could have happened in Chicago? ) <?page no="236"?> 236 scheint die Fähigkeit der Lernenden auf, den Textsinn durch kreative Verfahren zu erweitern (A3n), wird hier doch der im Text nur angelegte zeitlichkausale Zusammenhang von Handlungen erweiternd konstruiert. Die Präsentation der Expertengruppe in der sechsten und letzten Stunde der Einheit zeugt codierungsseitig von der Fähigkeit der präsentierenden Schülerinnen und Schüler, (A3l) Informationen über den Autor und literarische Motive zu recherchieren. Allerdings gilt auch hier, dass diese Leistungen nur durch die Interviewsituation zu codieren sind, in der die Lernenden von der eigentlichen Recherchetätigkeit berichten. Im Unterrichtsgeschehen zeigt sich lediglich die dem kommunikativen Handeln zuzuordnende Fertigkeit (A1f), ein vorbereitetes Referat in der Zielsprache umzusetzen. Elemente der unterrichtlichen Lenkung zusammenfassend zu beschreiben, ist nicht zuletzt der Absicht geschuldet, Minimierung von Differenz innerhalb der komparativen Analyse an Indikatoren festzumachen, die sich auf potentiell planbare Situationen beziehen. Es wird mit diesem Vorgehen stets darauf gezielt, die Entscheidung für die Darstellung der prototypischen Situationen zu begründen (cf. 8.3). Und zwar insofern, dass die prototypischen Situationen mit der Planbarkeit von Unterrichtssituationen und dem zu erwartenden potentiellem Verhalten als Kombination von Wissen und Können in Verbindung stehen. Daher müssen die sich in den Datensätzen abzeichnenden Regelmäßigkeiten im Sinne eines einleitenden Schritts auf die durch Unterrichtsplanung hervorgerufenen Situationen bezogen werden. Damit lassen sich zudem erste Hinweise auf ein mit der anvisierten Formulierung von Typologien in Verbindung stehenden backward planning ableiten. Mit backward planning ist gemeint, dass Indikatoren, indem sie ein definiertes outcome als spezifisches Verhalten beschreiben, dafür genutzt werden können, die für die Aufgabenbewältigung benötigte Kombination an Wissen und Können zu identifizieren. Wenn also - wie in der Einheit geschehen - die Auseinandersetzung mit den Motiven der Handelnden im Text bei der Planung einer task im Vordergrund steht, dann lässt sich mittels der verwendeten Indikatoren auf das spezifische Verhalten schließen. Rückschlüsse auf die Übereinstimmung zwischen Unterrichtsplanung und Unterrichtsgeschehen sind gemäß des verwendeten Beispiels wie folgt zu treffen: Für die Auseinandersetzung mit den Motiven der Handelnden werden im Bereich Wissen mit dem Leseverstehen in Verbindung stehende Indikatoren produktiv, die dem kommunikativen Handeln (lesen den literarischen Text; A1a) sowie der unterrichtlichen Lenkung (wenden unterschiedliche Lesemodi an; A3a) zuzuordnen sind, müssen doch Informationen bzw. Handlungen und Ereignisse der Textoberfläche entnommen werden. Um aber die Handlungen und Motive im Sinne einer Texttiefenstruktur nachzuzeichnen, sprich ein situation model of the text durch eigenaktive Konstruktionsleistungen zu bilden, müssen von <?page no="237"?> 237 den Lernenden Fähigkeiten eingesetzt werden, die dem Bereich Können und damit endogenen Faktoren zuzuordnen sind und sich so realisieren, dass die Lernenden Handlungen und Motive (B1b) sowie Einstellungen und Gefühle (B1c) der Charaktere kommentieren. Konstruktionsleistungen zeigen sich auch in den Codierungen, die mit der unterrichtlichen Lenkung einhergehen, denn entsprechend der Aufgabenstellung erfordert das Nachzeichnen Eigenaktivität bei der Ausgestaltung und Interpretation, indem die Schülerinnen und Schüler sich zum Textsinn äußern (A3g). Ausgestaltung kann gewissermaßen als Stichwortgeber für einen weiteren Indikator der endogenen Faktoren gesehen werden, spielen doch Situationen im Unterrichtsgeschehen eine tragende Rolle, in denen die Lernenden Leerstellen durch den Bezug unterschiedlicher Textelemente füllen (B2c). 7.2.1.2 Besonderheiten im Unterrichtsgeschehen Kapiteleinleitend wurde bereits die Maximierung von Differenz erwähnt, auf die im Folgenden einzugehen ist. Hier stehen Besonderheiten der Fallstudie im Vordergrund, sprich Ereignisse, die als Situation zwar ähnlich, so realisiert aber in keiner der anderen Fallstudien wiederzufinden sind. Um dem nachzugehen, sollen zwei Beispiele aus dem Unterrichtsgeschehen herangezogen werden. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht im ersten Beispiel Oles Reaktion auf die Warnung durch Nick als das Außergewöhnliche der Geschichte im Vordergrund. Eine Schülerin nimmt dafür als Ole auf dem ‚heißen Stuhl‘ Platz und wird von Mitschülern befragt. Im zweiten Beispiel reflektieren die Lernenden über das erkenntnisleitende Potential einer schriftlichen Aufgabenstellung zur Perspektivenübernahme. S 14 Why did you not come? Do you know that they’re going to kill you? A1d 10: 14 S 17 Ähm, well I knew it all the time. But this time, I was so-just tired and äh - I justäh, didn’t want to go to (unverständlich) äh (schüttelt mit dem Kopf und zuckt mit den Achseln) yeah. S 3. A1d, B1b S 3 Ähm, do you know why the (unverständlich) wants to kill you? A1d S 17 Ja, of course, they, ähm, in Chicago - I - (lacht) - I, äh, dealed, ähm, with drugs and cars and women - A1d [A3n] B2c Lachen S 17 And, ähm -I also had a girl - Lola, she was lonely Lachen S 17 And she was- Lautes Lachen S 17 She was well built, great bottom and, well, ähm, yeah that - (hebt den Arm) that’s why-that’s the reason why I have to die. <?page no="238"?> 238 S x Because of women? A1e S 17 Ja. Gemurmel, ehemaliger S kommt in den Raum, wird von L begrüßt 10: 15 S 17 Ruft S 16 auf S 16 (unverständlich) Ähm, (unverständlich) you spent your last hours, waiting, ähm- A1d S 17 Ähm, well, (unverständlich) used my last hours - Ähm, äh, I tried to take, ähm, every opportunity in my life - And. Ähm, Iäh, I’ve done all the things I wanted to. Yeah (nickt) and I believe in myself. A1d, B1b C1a, [A3n] Tabelle 67: G10 II (4. und 5. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 87-104) Die Interaktion wird von S 14 eröffnet, wobei die die Schüleräußerung begleitenden Codierungen des kommunikativen Handelns (sprechen in der Zielsprache; A1d) die gesamte Sequenz begleitet. Die Schülerin richtet ihre Frage an den von S 17 verkörperten Ole und bezieht sich auf dessen Nichterscheinen in Henry’s Lunchroom. Was der Frage der Schülerin nicht direkt zu entnehmen ist, die Situation im Unterricht aber maßgeblich prägt, ist die Tatsache, dass hier nach Handlungen und Motiven des literarischen Charakters gefragt wird, dass die Schülerin insofern zielgerichtet auf die durch die Aufgabenstellung gesetzten Bedingungen reagiert, als sie eine Interpretation des Dargestellten einleitet, nach Bedeutungsebenen fragt, die dem Text nicht direkt zu entnehmen sind, und versucht, diese durch die Frage nach den Motiven zugänglich zu machen. Der von S 14 gespielte Ole antwortet, dass er die ganze Zeit von dem geplanten Anschlag aus sein Leben gewusst habe, aber dieses Mal zu müde zum Weglaufen gewesen sei. Indem die Schülerin direkt auf die Frage antwortet, erhält sie die fremdsprachliche Kommunikation aufrecht, spricht in der Zielsprache (A1d) und kommentiert dabei die imaginierten Handlungen und Motive des Charakters (B1b). Die Frage von S 3 bezieht sich ebenfalls auf Motive und Hintergründe, diesmal stehen aber nicht die Oles, sondern die der Auftraggeber im Vordergrund. In der Antwort von S 17 sind es Leerstellen des literarischen Textes, die gefüllt werden (B2c), indem sowohl unterschiedliche Textelemente mit einander in Bezug gesetzt werden als auch - und dieser Indikator ist in Klammern gesetzt, bezieht er sich doch auch auf die Methode ‚heißer Stuhl‘, in der das imaginierende Übernehmen der literarischen Perspektive kreatives Potential bereithält - den Textsinn durch kreative Verfahren erweitert (A3n). Das Füllen der Leerstellen durch kreative Verfahren lässt sich dahingehend beschreiben, dass es der Schülerin in Oles Rolle gelingt, <?page no="239"?> 239 einen Bezugsrahmen zu konstruieren, der dadurch ausgestaltet wird, dass sie Oles kriminelle Aktivitäten beschreibt, die einen logisch-kausalen Zusammenhang von Handlungen erstellen. Und zwar in dem Sinne, dass die Schülerin auf das im Text Angelegte reagiert und zusätzliche Ebenen als Teil der eigenen Interpretationsbzw. Konstruktionsleistung durch das Füllen der Leerstellen zugänglich macht. Sie veranschaulicht dann in den folgenden Äußerungen, die Funktion, die Oles Verhältnis zu Frauen für den Konflikt haben könnte. Die Schülerin, die als Ole spricht, überzeichnet interessanterweise ihre Rolle durch klischeehafte und beinahe sexistische Beschreibungen der ‚körperlichen Vorzüge‘ des hinzugedachten Charakters Lola. Interessant ist dabei der Bruch, da zu Beginn der Äußerung noch auf die Gefühle der hinzugefügten Lola eingegangen wird („she was lonely“), worauf dann erneut eine Verbindung zwischen kriminellen Taten und der ‚Frauengeschichte‘ hergestellt wird. Der Bruch wird auch von einem nicht mehr zuzuordnenden Mitschüler erkannt, der ungläubig nachhakt und somit in der Zielsprache auf den Beitrag der Mitschülerin eingeht (A1e). S 17 antwortet darauf allerdings nicht vertiefend, sondern bejaht die Frage schlicht. Die letzte Schülerfrage an Ole wird von S 16 gestellt, die sich - da unterbrochen - auf Oles emotionale Verfassung nach der Warnung durch Nick zu beziehen scheint. In ihrer Antwort kommentiert S 17 Handlungen und Motive des Charakters (B1b), spricht von genutzten Gelegenheiten und erreichten Zielen, sodass der bedeutungsschwangere und nicht näher spezifizierte Schluss ihrer Ausführung, dass Ole an sich glaube, sehr gut mit dem offenen Ende des Ausgangstextes korrespondiert, bleibt doch im Raum schweben, ob dieses An-Sich-Glauben nicht doch einen Ausweg aus der Situation beinhaltet. Gerade diese gebotenen Innensichten sind es, die in der Situation eine weitere Codierung rechtfertigen, denn die Schülerin geht über das Kommentieren von Handlungen und Motiven hinaus, scheint sie sich doch in den literarischen Charakter zu versetzten (C1a), dessen Perspektive zu übernehmen und diese im Unterrichtsgeschehen zu beschreiben. Hier wirkt sich dann die verwendete Methode dahingehend aus, dass - und auch deshalb erneut in Klammern gesetzt - der Textsinn durch kreative Verfahren erweitert wird, indem der eingenommenen Perspektive eine Stimme verliehen wird, indem aus der imaginierten Ich-Perspektive das, was im Text als Stimmung bzw. als Atmosphäre angelegt ist, erweitert und ausgestaltet wird. Versucht man das zu Beobachtende mit den Arbeitsschritten und Kompetenzbereichen im Modell von Burwitz-Melzer (2007a) in Einklang zu bringen, so fällt erneut auf, dass sich das Schülerverhalten einer eindeutigen Zuschreibung entzieht. Denn obwohl die durch die Methode ‚heißer Stuhl‘ eingenommene Rolle performative Merkmale aufweist, lässt sie sich nicht im Arbeitsschritt „Aufführung und Vortrag“ verorten (ebd.: 145). Kritisch ist hier <?page no="240"?> 240 besonders anzumerken, dass sich die vorzufindende Beschreibung für den Bereich der kognitiven und affektiven Kompetenzen lediglich darauf bezieht, dass die Lernenden den Ausgangstext „nach ausreichenden Proben vorlesen, vortragen oder aufführen können“ (ebd.). Das, was aber gerade das gegebene Beispiel an literarischer Verstehensleistung auszeichnet, nämlich, dass es der Schülerin gelingt, durch eigenes Hinzufügen eine Interpretationsleistung zu vollführen, die sich auf das im Text Angelegte bezieht, kommt darüber in der Kompetenzbeschreibung zu kurz. Auch in den anderen Feldern der Matrix lässt sich die zu beobachtende und zu interpretierende Eigenleistung, die mit der Situation im Unterricht einhergeht, nicht wirklich verorten. Die eigene Auseinandersetzung mit dem Gelesenen, die sich in den Schülerleistungen manifestiert und gewissermaßen einen von vielen möglichen Bauplänen des situation model of the text beschreibt, wird im oben gegebenen Beispiel situativ durch einen kreativen Handlungsanlass ausgelöst. Dass es auch reflexive Annäherungen im Unterricht an die eigenen Konstruktionsleistungen geben kann, soll anhand des folgenden Beispiels aufgezeigt werden, in dem die Lernenden nach der empfundenen Sinnhaftigkeit einer Aufgabe zur Perspektivenübernahme gefragt wurden. Die Lernenden wurden aufgefordert, die Geschehnisse in Henry’s Lunchroom zu Beginn der Geschichte aus der Perspektive von Sam zu erschreiben. Diese Aufgabe ist im Zusammenhang mit der Schreibhandlung der ersten Doppelstunde zu sehen (innerer Monolog Nick oder George), bildet zusammen mit dieser gewissermaßen einen task cycle, da mit beiden darauf gezielt wird, die durch die Dialogform vorherrschende Kameraperspektive textproduktiv zu verändern und eine Fokalisierungsinstanz mit einzubeziehen. Die Perspektive von Sam rückt vor allem deshalb abschließend in den Mittelpunkt, da diesem im Geschehen nur eine erleidende Rolle zukommt. Diesem Charakter eine eigene Stimme zu verleihen, aus seiner Perspektive die Geschehnisse zu rekapitulieren und neu zu strukturieren, ist das zentrale Anliegen der Aufgabe. L So, ähm (an S 13 ) how did you like this kind of homework. Ähm, is it quite useful? To do it? Or not? And so on. Ok, S 23. 11: 51 S 23 I think it’s useful because, äh, when you write this story again. A1d A3m L Mhm. S 23 You need to remember all, äh-äh at everything what happens, of- L Mhm. Ok. Good. What do you think (an S 13 ). S 13 Äh, I think it’s useful too, because if you, eh, write in äh a-as a point of view of Sam? A1d A3m B2b L Ja. From the point of view. Mhm. S 13 Ähm, you had to think about what he had, ähm thought. L Yes. Yeah. Think. Ok. Yes. You are very close to his to his feelings as a <?page no="241"?> 241 character. S 13 And ähm, the, was heißt das noch mal, Stil, so. A2e L The style. S 13 The style, yeah, ähm, it has a little bit to be like he could talk maybe. A3m C4d L I like that. Yes. So that is very typical of this person. S 16. S 16 I found it hard to, ähm, think about what Sam could ähm . think. A1d A3m B2b (A3h) 11: 52 L Mhm. S 16 Because I don’t know, he sits there all the time. And you didn’t get to know about him. But I found it was a good idea for homework. Because it was - (Geste) äh, you must think about it very much. Tabelle 68: G10 II (6. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 23-40) S 23 reagiert als erster auf die Frage von L, bejaht sie und rechtfertigt seine Aussage in der Fremdsprache (A1d). Der Schüler bezieht in seine Antwort verschiedene Aspekte mit ein, die sich damit beschreiben lassen, dass neben dem von ihm erwähnten Leseverstehen besonders das eigene Schreiben genannt wird, dass der Schüler beschreibt, wie er in der Aufgabe den Text als Anlass für die eigene Textproduktion nimmt (A3m). S 13 antwortet auch bestätigend (A1d), spricht allerdings explizit von Sams Perspektive, sodass das Identifizieren der Perspektiven der einzelnen Charaktere (B2b) als Codierung endogener Faktoren zusätzlich zum Indikator der unterrichtlichen Lenkung eine Rolle spielt. In ihrer nächsten Äußerung kommt die Schülerin dann auf Aspekte der literarischen Produktion zu sprechen, indem sie zunächst auf muttersprachliches Handeln zurückgreift (A2e) und nach der Vokabel für ‚Stil‘ fragt. Stil bezieht sie auf die eigene Textproduktion (A3m), den es beim Schreiben zu beachten gilt, und sie gibt damit zu erkennen, dass es ihr gelingt, sprachliche Strukturen mit literarischen Funktionen (hier: narrativen) zu verbinden (C4d), denn die Re-Perspektivierung wird von ihr derart gefasst, dass es mit sprachlichen Mitteln zu realisieren galt - und dies ist in diesem Kontext als literarische Funktion zu fassen -, einen inneren Monolog des Charakters zu kreieren. Die Schülerin S 16 kommentiert die Aufgabenstellung und spricht von Schwierigkeiten, die sie auf die Anlage des Textes bezieht. Hier sind es die Perspektiven der einzelnen Charaktere (B2b), die von ihr angesprochen werden, wobei die Fähigkeit, diese zu koordinieren bzw. auszugestalten, als für die Aufgabenbewältigung zentral zu werten ist. Indem sie hervorhebt, dass sie die Aufgabe als sinnvoll einschätzt, eben weil ein so großer Anteil an Eigenleistung gefordert wird, lässt sich ableiten, dass es der Schülerin gelingt, dadurch, dass sie den Text als Anlass nimmt und eigenständig erweitert (A3m), auch Inhalt und Darstellungsweise miteinander in <?page no="242"?> 242 Bezug gesetzt werden (A3h), was schließlich dazu führt, dass diese Beziehung aufgrund der Schreibhandlung neu situiert werden muss. Dieser Indikator ist allerdings in Klammern gesetzt, da er nicht explizit erwähnt wird und auch den anderen Schüleräußerungen mehr oder weniger implizit zugrunde liegt. Dass er nur hier Verwendung findet, ist darauf zurückzuführen, dass die Schülerin Sams erleidende Funktion eher für ihre Begründung hinzuzieht als ihre Mitschüler. Indem sie auf die Eigenleistung bei der Re-Perspektivierung verweist, werden gerade die Unterschiede - auf Inhalt und Darstellungsweise bezogen - zwischen literarischem Ausgangstext und Schülerprodukt hervorgehoben. Anders als im ersten Beispiel lässt sich diese Situation sehr gut mit den von Burwitz-Melzer (2007a) formulierten Deskriptoren fassen. In der Sequenz zeigen sich Leistungen, die dem Arbeitsschritt „Eigene Textproduktion“ und darin der Reflexion zuzuordnen sind, denn es ist aus der Beobachtung zu schließen, dass es den Lernenden gelingt, „die Ergebnisse und Erfahrungen dieses Lernprozesses“ in der Fremdsprache auszudrücken (ebd.: 145). Hinzu kommt, dass sie es zudem vermögen, die verbalisierten Erfahrungen auf den literarischen Sinnstiftungsprozess zu beziehen - wenn vielleicht auch nur in Ansätzen. Es zeigt sich aber entlang des Beispiels und der vorgenommenen Codierungen, dass die Rolle der Lernenden als informierende Subjekte, als Einsichtgebende in sonst nicht zu beobachtende Teilleistungen und Prozessebenen, nicht nur auf die Situation Interview beschränkt bleiben muss, können doch Aspekte und Zielsetzung der Metakommunikation auch im Unterrichtsgeschehen selbst eine für den literarischen Verstehensprozess förderliche Funktion ausüben. Aus den Beispielen - für ersteres gilt dies allerdings nur implizit - lässt sich ableiten, welchen Stellenwert auch hier die Lernenden der eigenen Teilhabe am Prozess der Sinnstiftung beimessen. Es werden direkt Teilprozesse der Konstruktionsleistungen angesprochen, die zudem immer im Kontext der Interpretation des Gelesenen zu sehen sind. Sie verdeutlichen zudem die Schrittfolge der verstehenden Auseinandersetzung im fremdsprachlichen Literaturunterricht: Das kommunikative Handeln stellt den Schlüssel sowohl für Rezeption als auch für Produktion in der Anschlusskommunikation bereit, der Verbund von endogenen und autogenen Wirkfaktoren ermöglicht eine Auseinandersetzung mit Konflikten, Handlungen und Motiven, mit Perspektiven wie Leerstellen und zugleich auch ein Sich-Einlassen auf das im Text Enthaltene, das personale Reaktionen und eine reflexive Haltung hervorruft, die als Könnens-Basis der subjektivierenden Einsichtnahme dienen. Dabei ist die Anwendung der Kombination von Wissen und Können stets gerahmt durch die mit Indikatoren der unterrichtlichen Lenkung repräsentierten Fähigkeiten, auf die im Unterricht entstehenden konkreten Situationen angemessen und mit problemlösenden bzw. zielführenden Strategien zu reagieren. <?page no="243"?> 243 7.2.2 E10 - Integrierte Gesamtschule Beide Fallstudien der Schulform IGS wurden an derselben Schule in Mittelhessen durchgeführt. Bei E10 I handelt es sich um die erste Fallstudie des zirkulären Designs. E10 II wurde als letzte durchgeführt. Sich für die gleiche Schule zu entscheiden - was eine Ausnahme im Sample darstellt -, liegt vor allem darin begründet, dass hier der Zugang über die gatekeeper am einfachsten und schnellsten erfolgen konnte. Die Integrierte Gesamtschule wird zum Zeitpunkt beider Fallstudien von 584 Schülerinnen (297) und Schülern (287) besucht (71 mit Migrationshintergrund) und ist pro Jahrgang vierzügig organisiert - im zehnten Jahrgang dreizügig. Die durchschnittliche Klassenbzw. Kursstärke beträgt etwa 25 SuS. Die erste Fremdsprache ist Englisch, die zweite Französisch oder Latein. Ab der Klasse 6 wird der Englisch- und Mathematikunterricht in Grund- und Erweiterungskurse differenziert. Deutsch und die zweite Fremdsprache ab Jahrgang 8. Die naturwissenschaftlichen Fächer ab Jahrgang 9. Zum Zeitpunkt der Untersuchung bestand zudem ein Deutsch- Intensivkurs für eine Gruppe chinesischer SuS. Die Unterrichtsstunden dauern lediglich 40 Minuten, da die Schule ein sogenanntes Lernzeit-Konzept eingeführt hat, das es SuS erlauben soll, anhand von Kompetenzzielen eigenständig und selbstgesteuert zu lernen und etwaige Defizite zu kompensieren. 7.2.2.1 E10 I (mittelstädtisch) Bei dem teilnehmenden Kurs der Gruppe E10 I handelt es sich um einen Erweiterungskurs aus dem zehnten Jahrgang. Der Kurs setzt sich aus insgesamt 25 Schülerinnen (14) und Schülern (11) zusammen, wobei zwei Schüler den Deutsch-Intensivkurs besuchten. Bis auf diese zwei chinesischen Schüler gibt es keine SuS mit Migrationshintergrund. Eine Schülerin stammt aus einer deutsch-afrikanischen Familie mit Deutsch als Muttersprache. Die erfahrene Lehrerin unterrichtet den Kurs seit der neunten Jahrgangsstufe. Sie gibt an, etwa einmal im Monat literarische Texte im Unterricht einzusetzen, die sie aus dem Schulbuch, aus der eigenen Schul- und Studienzeit, auf Empfehlungen von Kollegen hin und gemeinsam mit den SuS auswählt (LFB E10). Hinsichtlich der Frage, ob man mit literarischen Texten etwas Anderes lernen könne als mit nicht-literarischen Lehr-/ Lernmaterialien nennt die Lehrkraft „genaues Lesen“ und das „Hineinversetzen in Sprache“. Die Frage, ob man bestimmte Lerninhalte und Lernziele mit literarischen Texten besser transportieren könne, beantwortet die Lehrerin damit, dass sie Anreize zu Diskussionen bieten würden, „da Vokabular mit Text schon eingeführt wurde“. Nach dem Einsatz kreativer Methoden gefragt, gibt sie an, dass sie sie häufiger im Schuljahr (3 Mal) einsetzen und sie auf Empfehlungen von Kollegen, aus dem Lehrbuch oder aus Fachbüchern und Fachzeitschriften auswählen würde. Ihre <?page no="244"?> 244 Erfahrungen damit seien positiv, weil „Schüler auf verschiedenen Wegen Zugang zur Sprache finden“ und damit eine „Förderung der Selbstständigkeit“ einherginge. Hinsichtlich der Erfahrungen mit literarischen Texten gibt sie an, dass diese abhängig von der jeweiligen Lerngruppe seien. Als zentrale Fähigkeiten und Fertigkeiten für die Arbeit mit literarischen Texten im Fremdsprachenunterricht nennt sie auf Seiten der Lehrenden „Erfahrung mit literarischen Texten“ und „fundierte alltagssprachliche Kenntnisse“ sowie „Spaß am Lesen“ und ein gefestigtes Grundwissen auf Seiten der Lernenden. Von einem Kompetenzmodell für den fremdsprachlichen Literaturunterricht erhofft sich die Lehrerin, Anreize und Hilfen „mit literarischen Texten umzugehen“ und so die „Vielfalt im Unterricht“ zu fördern. Als globales Lernziel der Einheit nennt sie „die Vertiefung des Umgangs mit literarischen Texten“ im Fragebogen. Obwohl die Lehrerin angab, öfters mit literarischen Texten im Unterricht zu arbeiten, schienen ihr einige vom Untersuchungsleiter vorgeschlagene Methoden, die sich auf das Füllen von Leerstellen bezogen, nicht vertraut. Auch die Berichte und Auskünfte der Lernenden (siehe SI E10) widersprechen der gegebenen Selbstauskunft ein wenig. Den vorgeschlagenen Text befand die Lehrerin als für die Lerngruppe hinsichtlich des Vokabulars, der Thematik und Stimmung passend. Als literarischer Text diente die Short Short Story oder „Flash Fiction“ (Thomas/ Sharpard 2006: 11) S LEEPING der US-amerikanischen Autorin Katharine Weber (2006: 40-41) 24 . Die Geschichte wurde erstmals 2003 in der Zeitschrift Vestal Review veröffentlicht (vgl. ebd.: 237) und fand dann Eingang in verschiedene Anthologien. 2008 erschien eine Kurzfilmadaption der Group Six Films Produktionsfirma. Die Geschichte erzählt in 486 Wörtern von den Erlebnissen des Teenagers Harriet, die - obwohl unerfahren im Umgang mit Kindern - von Mr. und Mrs. Winter gebeten wird, auf das Baby Charles aufzupassen. Die Geschichte ist durch insgesamt sechs Absätze strukturiert (sie wurde so auch mit den Lernenden gelesen). Der in medias res Erzählanfang stellt die Bedingungen des Babysittens heraus: Die Eheleute betonen, dass sie sich nicht um das Baby zu kümmern brauche, es weder füttern und noch nach ihm sehen solle. Begründet wird dies mit der Aussage, Charles sei ein sehr gesunder Schläfer und das Quietschen der Schlafzimmertür würde ihn beim Öffnen nur unnötig wecken. Im zweiten Abschnitt wird Harriets Qualifikation thematisiert. Ihre einzige Erfahrung mit Babys sammelte sie sieben Jahre zuvor im Alter von sechs, als sie das Kind der Nachbarin für einen kurzen Moment in den Armen hielt. Der dritte Abschnitt widmet sich Harriets 24 Der Volltext der Geschichte ist unter http: / / www.vestalreview.net/ sleeping.htm abrufbar (letzter Zugriff am 19.1.2014). <?page no="245"?> 245 Verhalten im Hause der Winters: Als diese das Haus verlassen, um ins Kino zu gehen, schaut sich Harriet gelangweilt im Haus um und macht dabei auch vor privaten Fotoalben und der Post nicht Halt. Zaghaft versucht sie, die Tür zu Charles‘ Zimmer zu öffnen. Sie erscheint ihr verschlossen, Harriet unternimmt aber keinen weiteren Versuch. Im vierten Abschnitt lauscht sie stattdessen an der Tür, um vielleicht Geräusche des schlafenden Babys zu hören. Im fünften und kürzesten Abschnitt der Geschichte erfährt der Leser, dass Harriet bei der Rückkehr der Winters bis auf die gelben alle M&M’s aufgegessen hat, die in einer Glasschüssel auf einem Beistelltisch im Wohnzimmer stehen. Zum Schluss der Geschichte fragen die vom Kinobesuch zurück gekommenen Winters Harriet nicht nach dem Baby, sehen auch nicht nach ihm und geben ihr mehr Geld als vereinbart. Schweigend fährt Mr. Winter sie dann nach Hause. Noch im Auto sagt er zu ihr „my wife“, zögert und fügt dann hinzu: „you understand, don‘t you? “ (ebd.: 41). Harriet bejaht, ohne ihn anzusehen oder wirklich sicher zu sein, über was sie gerade gesprochen hatten; „although she did really know what he was telling her“ (ebd.). Das offene Ende der Geschichte gibt nur preis, dass Harriet aussteigt und dem wegfahrenden Auto nachschaut. Gerade das offene Ende und die darin enthaltene uneindeutige Kommunikation zwischen Harriet und Mr. Winter lassen darauf schließen, dass Beweggründe für die als Fassade zu wertende Babysitting-Situation entweder auf einen unerfüllten Kinderwunsch oder einen Verlust des Kindes zu beziehen sind. Diese im Ende zugespitze Uneindeutigkeit ist im gesamten Aufbau der Geschichte angelegt und zeigt sich in den jeweiligen Abschnitten zum Beispiel daran, dass nach der als seltsam zu wertenden Anweisung der Eltern Harriets Erfahrung als Babysitter thematisiert wird. Transportiert durch die personale Erzählsituation erlebt der Leser sodann das Zögern und die Unentschlossenheit in Harriets Handeln beim Versuch, nach dem Baby zu sehen. Der in der Geschichte berührte Themenbereich ist aus Sicht der Protagonisten als Friktion zwischen der eigenen jugendlichen Erfahrens- und Erlebenswelt und der durch Geheimnisse und Andeutungen gekennzeichneten erwachsenen der Winters zu deuten, die auf eine Familientragödie und den Umgang mit Trauer schließen lassen. Für den unterrichtlichen Einsatz ist die Geschichte nicht nur aufgrund ihrer Kürze und der sprachlichen Angemessenheit interessant, sondern auch wegen des enthaltenen Lebensweltbezugs, da der Rahmen Babysitting - wenn auch vielleicht nicht aus eigener Erfahrung, so dann doch als Konzept - den SuS bekannt sein sollte, wobei die personale Erzählsituation mit der Fokalisierungsinstanz Harriet förmlich zu einer Perspektivenübernahme und -ausgestaltung einzuladen scheint. Neben diesen Aspekten spielen vor allem die Unbestimmtheiten und Leerstellen innerhalb der Geschichte für die unterrichtliche Aus- <?page no="246"?> 246 einandersetzung eine tragende Rolle. Durch die Stimmung und Atmosphäre des Texts wird der Leser zwar geleitet, muss aber Andeutungen und Unstimmigkeiten selbst interpretatorisch miteinander in Bezug setzen und für das Verstehen zugänglich machen. Der Leser wird vom Text aufgefordert, die Motive der Charaktere zu deuten, mit dem Außergewöhnlichen des zentralen Konflikts in Beziehung zu setzen und schließlich das offene Ende subjektivierend zu deuten. Diese Ko-Konstruktion von Bedeutung, sprich die gemeinschaftlichen Sinnstiftungsprozesse im Unterrichtsgeschehen, standen bei der gemeinsamen Unterrichtsplanung mit der Lehrkraft im Vordergrund. Ansatzpunkte hierbei waren jene textual clues, die auf das Außergewöhnliche, die Normverletzung sowie auf den Umgang mit dieser verweisen. Dazu zählen (1) die ungewöhnliche Anweisung der Eltern, die darin gespiegelten Motive und Beweggründe, (2) Harriets fragwürdige Eignung für die Betreuung, (3) ihr unangebrachtes Verhalten alleine im Haus der Winters, (4) Harriets Motiv, nicht erneut zu versuchen, die Tür des Kinderzimmers zu öffnen, (5) das seltsame Benehmen der Eltern nach dem Kinobesuch (6) sowie die undurchsichtige Andeutung von Mr. Winter im offenen Ende. Diese Ansatzpunkte wurden im Unterrichtsgeschehen entlang folgender tasks eingebunden: Task Stunde  Brainstorming zu sleeping  Lesephase  Wortschatzarbeit  Hypothesen zum Inhalt der Geschichte formulieren  Konstellationen der Charaktere erarbeiten  Lesephase  Harriets Qualifikation bewerten  Textproduktion: What does Harriet do? 1. Stunde  Präsentation der Produkte  Konstellation der Charaktere (Wiederholung)  Lesephase  Hypothesen über ein mögliches Ende bilden  Textproduktion: Write your own ending! 2. Stunde  Präsentation der Produkte  Lesephase  Wortschatzarbeit  Offenes Ende interpretieren  Textproduktion: Write a dialog between Mr Winter and Harriet! 3. / 4. Stunde <?page no="247"?> 247  Präsentation der Produkte  (Beispielaufgaben) 25 Tabelle 69: Überblick tasks E10 I 7.2.2.1.1 Das Unterrichtsgeschehen im Überblick Für die Auseinandersetzung mit der Fallstudie soll ein anderes Verfahren gewählt werden als für die zweite Gruppe der gymnasialen Schulform. Und zwar derart, dass die vier Unterrichtsstunden in Verbindung mit den Handlungs- und Kommunikationsanlässen zu besprechen sind. Auch hier wird neben der akzentuierten Minimierung von Differenz dann später auf die Besonderheiten der Fallstudie eingegangen, die sich speziell aus der im Text angelegten Stimmung ergeben, entlang des Schülerinterviews verdeutlicht werden sollen und besonders Bereiche der autogenen Faktoren betreffen. Die Anfangstask der Einheit zielt darauf, die Lernenden auf die erste Begegnung mit dem Text vorzubereiten und das eigene konzeptuelle und sprachliche Vorwissen durch die Einführung des Themenbereichs zu aktivieren. Da die Lernenden Assoziationen zum Wortfeld sleeping äußern und dies in Einwortsätzen geschieht, findet der A3b Indikator (äußern Vermutung über die Bedeutung des Titels) keine Verwendung. Gleiches gilt für das kommunikative Handeln, denn - bedingt durch die Einwortsätze - ist ebenso auf eine Codierung mit dem A1d Indikator (sprechen in der Zielsprache) zu verzichten. Zurückführen lässt sich dieser Umstand zum Teil auf die als niedrig einzustufende fremdsprachliche Leistungsfähigkeit der Untersuchungsgruppe. Nicht nur die sprachliche correctness der Beiträge fällt defizitär ins Gewicht, auch die fluency der Lernenden erscheint im Vergleich zu den anderen Gruppen nicht unbedingt lernjahrkonform. So ist hervorzuheben, dass bei der Codierung stets der Ausdrucksaspekt zugunsten des Inhaltsaspekts der Beiträge vernachlässigt wird. Die darauf folgende Lesephase ist in den Transkripten durch den A1a Indikator (lesen den literarischen Text) vertreten. Codierungsseitig wird die sich anschließende Wortschatzarbeit sowohl durch den A2c (umschreiben unbekannte Wörter zielsprachlich) als auch durch den A2e Indikator (greifen auf muttersprachliches Handeln zurück) repräsentiert. Es sind Ereignisse, in denen die Lehrerin bzw. die SuS nach unbekannten Wörtern im Text fragen, die entweder zielsprachig umschrieben und erklärt oder - von der Lehrerin bzw. anderen SuS - direkt übersetzt werden. In der darauffolgenden task werden 25 Die Beispielaufgaben stellen einen Sonderfall im Sampling dar, finden in insgesamt drei Fallstudien Verwendung (G10 II, E10 I, R10 I) und werden am Ende des Kapitels gesondert besprochen (cf. 7.3.3). <?page no="248"?> 248 die Lernenden angehalten, über den Inhalt und den weiteren Verlauf der Geschichte nachzudenken und eigene Hypothesen zu bilden (sprechen in der Zielsprache; A1d). Es werden Beiträge der Lernenden codiert, die erkennen lassen, dass Hypothesen über den weiteren Verlauf des Textes formuliert werden (A3d). In Zusammenhang mit diesem Indikator der unterrichtlichen Lenkung sind die sich anschließenden Ereignisse im Unterrichtsgeschehen zu sehen, da zunächst die Charaktere und deren Konstellation gemeinsam im Plenum identifiziert (B2a) und danach die im Text enthaltenen Informationen hinsichtlich Harriets Qualifikation als Babysitter bewertet werden. Letzteres realisiert sich dahingehend, dass den Schülerbeiträgen zu entnehmen ist, dass für die eigene Stellungnahme nicht nur der Wirklichkeitsentwurf auf eine außerliterarische Realität bezogen wird (C3a), sondern auch Handlungen und Motive der Charaktere kritisch bewertet werden (C3c). Für den die Stunde abschließenden Schreibauftrag wird ein Indikator der unterrichtlichen Lenkung produktiv, denn in der Planungsphase werden die Lernenden angehalten, unterschiedliche Lesemodi (orientierend/ selektiv) entsprechend der Aufgabenstellung anzuwenden (A3a). Hier wird der Text von den Lernenden nach Handlungen Harriets durchsucht, wobei die textproduktive Hausaufgabe darauf zielt, den zeitlichen und kausalen Zusammenhang der Handlungen zu konstruieren. Um diesen Überblick der ersten Stunde an einem Beispiel festzumachen, soll eine Sequenz näher betrachtet werden, die sich auf die Lesephase des ersten Abschnitts anschließt und sich entlang der Fragenstellung der Lehrerin „what do you think is this story about“ als (fragmentarisches) Unterrichtsgespräch realisiert: 10: 07 L So if you, if you have heard and read äh, the first paragraph, what do you think is the story about? And don’t read further. We just talk about the first paragraph. What do you think is the story about? Let’s speculate a little bit. S 16 ? L formuliert Aufgabenstellung S 16 About a baby. [A1d-A3f-Fragment] L (Schreibt an die Tafel) So you think it’s about a baby? S 3 ? L paraphrasiert, nutzt Medien S 3 Ähm, I think it’s about a family with a baby. A1d, A3f, [B2a] L (Schreibt an) Family. With a baby. S 23 ? L paraphrasiert, nutzt Medien S 23 I think it’s a new little family, also (deutsch), with young people. A1d, A3f, B2a 10: 08 L (unverständlich) It’s a young family (schreibt an). Anything else? S 14 ? L paraphrasiert, nutzt Medien S 14 I think it’s about a family tragedy. A1d, A3f, [B1a] L Aha (überrascht; schreibt an). Why do you think that? Because, it’s in, in comparison to the other three ones very different. L kommentiert Schüleräußerung S 14 Yes. L What why do you think it’s a tragedy? L fragt nach <?page no="249"?> 249 S 14 Äh, I don’t know. It’s a… [A1d] L Just your feeling? L bietet Kommentar S 14 Yes. Tabelle 70: E10 I (1. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 40-55) Richtet man das Augenmerk zunächst auf die Interaktion der Beteiligten, so ist zu erkennen, dass die Lernenden in der Zielsprache sprechen (A1d), ihre Beiträge direkt an die Lehrkraft richten, dabei allerdings auf das zuvor Gesagte einzugehen scheinen, indem sie es ergänzen. Ausgelöst durch die Lehrerfrage, worum es in der Geschichte gehen könne, reagiert der Schüler S 16 als erster. In der Codierung ist seine Äußerung, die Geschichte handele von einem Baby, als Fragment markiert, handelt es sich doch nicht um einen vollständigen Satz und wird von ihm nur ein Schlüsselbegriff des Textes genannt, der der Textoberfläche zu entnehmen ist und - so scheint es - zum Thema der Geschichte verallgemeinert wird. Die Schülerin S 3 ergänzt den Schlüsselbegriff um die im gelesenen Abschnitt repräsentierten Charaktere und äußert sich damit zu den erarbeiteten Textinhalten (A3f). Zwar werden Charaktere identifiziert, der B2a Indikator ist aber in Klammern gesetzt, denn der Aspekt der Konstellation kommt erst durch die Äußerung der Schülerin S 23 deutlicher ins Spiel, die mit einer Erweiterung reagiert und die Charaktere attribuiert, indem sie von einer jungen Familie spricht. Hier lässt sich von einer impliziten Stufenfolge sprechen, die vom selektiven Lesen als Informationsentnahme (Schlüsselbegriff wird genannt) über Eigenleistungen bei der Konstruktion möglicher Konstellationen, die mit dem Textinhalt in Verbindung stehen, reicht. Dieses Erweitern findet dann im Beitrag von S 14 seinen Höhepunkt, indem von ihm mit der Bemerkung „family tragedy“ der zentrale Konflikt des Textes angesprochen wird (B1a). Codierungsseitig ist der Indikator allerdings in Klammern zu setzten, da aufgrund der gelesenen Textinhalte dieser Konflikt nicht identifiziert werden, sondern als Hypothese nur projiziert werden kann. Überrascht über diese treffende Hypothese, fordert die Lehrerin S 14 auf, seine Annahme zu erläutern. Dieser kann sie nicht weiter spezifizieren, worauf er von der Lehrerin unterbrochen wird, die einen Verweis auf feelings anbietet, der von S 14 bejaht wird. High inference behaviour dieser Art lässt sich mit deskriptiv orientierten Codierungen nicht fassen. Versucht man aber die Inferenz zu deuten, so scheint S 14 die oben umschriebene Stufenfolge noch um das Nutzen der literarischen Stimmung für die Sinnstiftung zu erweitern, indem das Außergewöhnliche der Situation, nämlich die Anweisung, nicht nach dem Baby zu sehen, als Normverletzung gewertet wird. Aus dieser resultiert dann der Rückschluss, dass das im Text Dargestellte etwas Tragisches sei, was von anderen Lernenden im Interview als dramatische Stimmung umschrieben wird (siehe 7.2.2.1.2). <?page no="250"?> 250 Die zweite Stunde der Einheit beginnt damit, dass die eigenen Produkte vorgelesen (A1c) werden. In einzelnen Schülertexten werden Handlungen und Motive (B1b) sowie Einstellungen und Gefühle (B1c) der Charaktere kommentiert. Auffällig ist bei der Präsentation der Schülerprodukte, dass einige Schülerinnen und Schüler nicht zwischen Haupt- und Nebencharakteren der Geschichte unterscheiden, worauf die Lehrerin mit einer nicht vorab geplanten und auf die Konstellation der Charaktere zielenden Phase reagiert. Hier treten in der Codierung neben dem kommunikative Handeln (sprechen in der Zielsprache; A1d) auch Indikatoren der unterrichtlichen Lenkung (Lesemodi selektiv anwenden; A3a) sowie der endogenen Faktoren auf, gilt es doch Charaktere und deren Konstellationen im Text zu identifizieren (B2a). Der vierte Abschnitt des Textes wurde von den Schülern zu Hause vorbereitet, und im Unterricht gelingt es den Vorlesenden, die im Text transportierte Stimmung darstellend lesend umzusetzen (A3p). Von diesem Abschnitt ausgehend werden die Lernenden aufgefordert, Hypothesen über das Ende der Geschichte zu bilden (A3d). Diese Ereignisse werden zudem mit einem Indikator endogener Faktoren codiert, leisten es die Lernenden doch, durch ihre Hypothesen im Text angelegte Leerstellen zu füllen (B2c) und nicht nur unterschiedliche Textelemente aufeinander zu beziehen, sondern auch - und hier zeigt sich ein den reflexiven Umgang mit literarischer Produktion beschreibender Indikator - die Stimmung und Atmosphäre des Textes für die Sinnstiftung zu nutzen (C5c). Die im Plenum gesammelten Ideen und Schlussfolgerungen dienen als Grundlage für die sich anschließende und als Hausaufgabe fortgeführte Textproduktion, die sowohl mit einem Indikatoren des kommunikativen Handelns (schreiben eigene Texte in der Zielsprache; A1g) als auch mit einem der unterrichtlichen Lenkung (nehmen den Text als Anlass für die eigene Textproduktion; A3m) versehen sind. Eine mit der Erwartungshaltung in Verbindung stehende Sequenz, in der zwei Lernende mögliche Enden für den Text formulieren, soll zur Verdeutlichung der Codierung herangezogen werden: 10: 18 L So…so now, the next task is ähm think about a possible ending of the story. We, we collect first some ideas, and then w-we see how you can go from there. Who would like to say something? S 18 ? L formuliert Aufgabenstellung S 18 Ähm, because she never’s äh because she never seen - Charles before, maybe ähm - Charles there also there isn’t a baby there. Baby Charles isn’t in the room. A1d, A3d L (schreibt paraphrasierend an) So the ending shows there is no baby there. There isn’t a baby. What other ending might be possible? Think about it (unverständlich)... S 23 ? L paraphrasiert, nutzt Medien S 23 Maybe, ähm, it’s a test for her. To ähm to see ähm -a-ähm - if they can trust her. A1d, [A3d] B1b Tabelle 71: E10 I (2. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 167-171) <?page no="251"?> 251 Die Schülerin S 18 reagiert als erste auf die Fragestellung der Lehrkraft und formuliert als Hypothese über den weiteren Verlauf des Textes (A3d), dass es vielleicht gar kein Baby Charles gebe, dieses sich nicht im Raum befinde. Die zielsprachlichen Äußerungen der Schülerin (A1d) zeugen dabei zunächst von Schwierigkeiten in Tempus und Syntax, was von der Lehrerin nicht korrigiert wird, die es dabei belässt, den verständlichen Teil der Schüleräußerung paraphrasierend an die Tafel zu schreiben. Die Schülerin S 23 geht indirekt auf diesen Beitrag ein und spricht davon (A1d), dass es sich um einen Test des Ehepaars Winter handeln könnte, um herauszufinden, ob sie Harriet trauen können. Mit dieser Bemerkung formuliert die Schülerin auch eine Hypothese über den weiteren Verlauf (A3d), und zwar derart, dass sie die Idee der Vorrednerin ergänzt (daher der in Klammern gesetzte Indikator). Die Ergänzung findet sich vor allem darin, dass sie die Motive der Charaktere (B1b) kommentiert und damit eine mögliche Erklärung für das ungewöhnliche Verhalten der literarischen Akteure gibt. Wie von der Lehrerin zu Beginn der Sequenz formuliert, werden die von den Lernenden geäußerten Ideen als Sammlung für eine Phase der Textproduktion genutzt. Die daraus resultierenden Produkte präsentieren die Lernenden in der die Einheit abschließenden Doppelstunde. In dieser Doppelstunde sind sowohl im Einstieg als auch im Ende vor allem die mit dem Schreibhandeln in Verbindung stehenden Indikatoren als Codierung vorherrschend, werden doch eigene Produkte zielsprachlich vorgelesen (A1c) und wird am Ende der Stunde der Text als Anlass für die eigene Textproduktion (A3m) genommen, indem die Lernenden eigene Texte in der Zielsprache schreiben (A1g). Dadurch, dass die Lernenden das offene Ende der Short Short Story als Schreibanlass nehmen, zeigt sich, dass sie entlang der eigenen Interpretation den Textsinn durch kreative Verfahren erweitern (A3n). Hinzukommt, dass in den Produkten Handlungen und Motive der Charaktere kritisch bewertet werden (C3c) und die Lernenden Leerstellen im Text durch die eigene Erweiterung füllen (B2c). Leerstellen stehen besonders in der Produktion eines möglichen Dialogs zwischen Harriet und Mr. Winter im Vordergrund: 10: 09 L So S 3 and S 5. S 3 (liest vor) Mr. Winter drove her home in silence. When they reached her house he said. A1b S 5 My wife. S 3 He hesitated (spricht falsch aus). S 5 You understand, don’t you. S 3 Harriert answered. S 5 Yes. <?page no="252"?> 252 S 3 But she won-wasn’t sure äh, what they were talking about. Mr. Winter explained that his wife lost her baby in the pre- (schaut S 5 fragend an) wie? A1c, A3n B2c B1b, B1c S 5 Pregnancy. S 3 Pregnancy (spricht falsch aus). She can’t cope with that, but she tried to live with thethought to have a baby. Harriet was sad and thoughtful about. Then she got out of his car and watched him drive away. 10: 10 L Mhm. So - I think one more[…] Tabelle 72: E10 I (3. u. 4. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 229-240) Die Schülerinnen S 3 und S 5 , die ihren Dialog in der Klasse vortragen, erzählen vom Verlust des Babys während der Schwangerschaft. Dabei lesen sie zunächst Teile des literarischen Textes laut vor (A1b), um dann ihr eigenes Produkt (A1c) anzuschließen. In der Schülererzählung ist enthalten, dass die im Text angelegte und durch das offene Ende noch zusätzlich verstärkte Leerstelle (B2c) gefüllt wird, und mit diesem Ausgestalten gelingt es den Lernenden, den Textsinn durch kreative Verfahren zu erweitern (A3n), indem sie den Bezug unterschiedlicher Textelemente dafür nutzen, im eigenen Produkt ausgestaltet zu werden. Dafür gehen sie auf Handlungen und Motive der Charaktere ein und kommentieren zugleich Einstellungen und Gefühle, die sie am Verlust des Babys während der Schwangerschaft festmachen. Den Lernenden gelingt es mit der eigenen Textproduktion, die Sinnkonstitution dahingehend auszuarbeiten, dass sie über die Textoberfläche hinausgeht: Sie setzten dabei die unterschiedlichen Perspektiven samt den ihnen unterstellten Motiven mit einander in Bezug und gestalten die Leerstellen aus. Die ästhetische Erfahrung, die während des Verlaufs der Unterrichtseinheit mit den eigenen Reaktionen auf das Gelesenen, dem Abgleich und Austausch der Hypothesen und Inferenzen in der Anschlusskommunikation untereinander zunimmt und Kontur erfährt, wird durch die kreativen Schülertexte um produktive Elemente erweitert. Die Lernenden haben so Teil am Gestalten der ästhetischen Erfahrung und schließen mit einer für sie stimmigen Interpretation. 7.2.2.1.2 Beispiele aus dem Schülerinterview Es wurde bereits angeführt, dass die fremdsprachlichen Leistungen der Lernenden im Vergleich mit den anderen Gruppen des zehnten Jahrgangs als defizitär zu bezeichnen sind. Dass aber Fertigkeiten und Fähigkeiten literarischer Kompetenz auch in dieser Fallstudie auszumachen sind, ist nicht nur der überblicksartige gebotenen Codierung zu entnehmen, sondern zeigt sich auch in der Einsichtnahme der am Interview teilnehmenden Schülerinnen <?page no="253"?> 253 und Schüler. Eine Besonderheit des literarischen Textes, worin er sich maßgeblich von den anderen im Sampling unterscheidet, liegt darin, dass die Leerstellen vornehmlich mit Andeutungen, Unbestimmtheiten und Stimmungen spielen, die sich aus der Komposition von Ereignis- und Handlungsstruktur sowie Motivlage ergeben. Diese Elemente sind unter dem Vorzeichen der Maximierung von Differenz als charakteristisch für die Fallstudie zu werten und sollen anhand eines Beispiels aus dem Schülerinterview verdeutlicht werden. Da ausschließlich Sequenzen aus dem Interview diskutiert werden, spielt für diese Fallstudie eine Verortung der auszumachenden Teilleistungen innerhalb des von Burwitz-Melzer (2007a) formulierten Kompetenzmodells für den fremdsprachlichen Literaturunterricht, dessen Matrix eine solche dem Unterricht nachgelagerte Situation nicht vorsieht, keine Rolle. 10: 45 I Was ich euch zuerst fragen wollen würde ist, hat euch denn der Text gefallen? S n (alle zusammen) jo, ja eigentlich schon. S 23 Ich fand er war leicht zu verstehen. Man konnte gut mitarbeiten. Also, ich mag so freie Texte schreiben also also da kann gibt’s so verschiedene Aufgaben, die man also - Dialog fand ich jetzt gut, oder halt auch selber dann immer so weiterschreiben, wenn man nur Abschnitte bekommt. Hat mir schon gefallen. C1d S 3 Ja, also ich stimm da schon zu, nur was ich ein bisschen schade fand war am Text ist, dass dieser Schluss wirklich so offen war. Dass man selbst so’n bisschen überlegen musste, ja was ist jetzt passiert - und man war schon so’n bisschen gespannt dadrauf, was wirklich passiert, aber im Grunde wusste man’s eigentlich überhaupt nicht. C1d C5b I Mh, was fand’s du jetzt da genau schade? S 3 Dass man den wahren Grund nicht erfahren hat, wieso sie nicht ins Zimmer durfte und ja. S 11 Ja, da stimm ich der S 3 eigentlich so’n bisschen ein. War halt nicht so ganz mein Thema. Also ich hab nicht so viel mit Babys zu tun. 10: 46 S 23 Ja, ich find auch wenn man also man sagt automatisch dann, dass dann irgendwas (betont) Dramatisches ist. Also man ,wenn das ein offenes Ende ist, ist halt normalerweise so, dass man auch sagen könnte, ja das ist dann ein ‚happy ending‘, aber so man denkt sich selber im Kopf, dass es dramatisch ist. C5b C5c I Wieso dramatisch? (unverständlich) S 23 Ja, weil der Text auch so traurig geschrieben ist. Der fängt schon so an irgendwie so, das allein, dass die der das verbieten, ins Zimmer zu gehen. Ich find das ist nun nun, das zieht die Stimmung irgendwie so runter, das ist dass man sich nicht denken kann, dass das irgendwie…keine Ahnung (unverständlich) glückliches Ende gibt, dass das nur ’n Test war, oder so was also ich find eher, dass das eher sowas mit dem Baby dann zu tun hat, dass es echt wirklich tot ist, oder irgendwie so was. C4d C5c <?page no="254"?> 254 I Und ihr meint, das war schon so im Anfang in der Geschichte drin S n (Alle zusammen) mhm (nicken zustimmend, S 21 nickt nur) I Ja? S 3 (unverständlich) grad schon von Anfang an. I Ist das merkt ihr das schnell bei Geschichten? S 23 Ja. S 21 Ja schon. S 3 Eigentlich schon. S 23 Und auch das ist ja auch beim Film also, wenn man den zehn Minuten sieht, dann weiß man (unverständlich) C5c 10: 47 Unbekannter Lehrer kommt in den Raum […] Lehrer geht wieder I Jetzt ist leider eh jetzt haben wir die Frage vergessen… S 21 Lacht S 3 Ja S 23 Ich glaub ich weiß es noch also ich find beim Film da weiß man auch schon so nach zehn Minuten, so, ob das jetzt irgendwie so n glücklicher Film ist so also ich find eh man stellt sich drauf ein, wie er beginnt. C5c S 3 Ich denk auch mal, so Texte haben wie Filme auch so ver-verschiedene Genre wo sie nach geschrieben werden. Und das war halt eher mehr so n trauriges - Genre. C5a 10: 48 S 11 Ich find das merkt man auch schon ähm, auf Deutsch ist‘s natürlich einfacher, das zu merken, aber trotzdem find ich ist das aufgefallen, dass es eher so traurige Stimmung ist, oder dramatisch. C5c I Mhm. S 11 Obwohl s nich ja, so richtig gezeigt wurde. C1f (C1c) S 16 Wurd‘ net direkt so beschrieben. S 23 Eigentlich wurde es von einem verlangt - Tabelle 73: Schülerinterview E10 I (§ 4 - 47) Die zum Einstieg gedachte Frage nach dem Gefallen der Geschichte wird von den Lernenden gleich auf den Unterricht bezogen. S 23 spricht von den unterrichtlich verbindlichen Zielen (C1d), die mit der Aufgabenorientierung einhergehen, und hebt dabei besonders die textproduktiven Verfahren hervor, wobei von ihr auch das abschnittsweise Lesen angesprochen wird, was darauf schließen lässt, dass die Schülerin die unterrichtlichen Ziele für die literarische Sinnbildung nutzen konnte. S 3 hingegen akzentuiert in ihrer Stellungnahme eher die individuellen Ziele, Zwecke und Absichten (C1d) und betrachtet in diesem Zusammenhang Produktionsaspekte des Ausgangstextes kritisch (C5b), indem sie auf das offene Ende verweist und anmerkt, es als unbefriedigend zu empfinden, keine Erklärung für die Situation im Hause <?page no="255"?> 255 Winter erfahren zu haben. S 11 sagt darauf, dass er nicht so leicht Zugang zu der Thematik des Textes finden konnte, belässt aber die literarischen Konflikte und Motive unberücksichtigt . S 23 greift das zuvor von S 3 Geäußerte auf, spricht die Stimmung des literarischen Textes (C5c) im Zusammenhang mit literarischen Produktionsaspekten (C5b) an und weist so auch auf die lenkende Funktion dieser Elemente hin, die eine aktive Teilhabe am Prozess der Sinnstiftung voraussetzen. Auf die Frage, was sie mit „dramatisch“ meine, lässt die Schülerin erkennen, dass es ihr gelingt, sprachliche Strukturen mit literarischen Funktionen zu verbinden (C4d), indem sie auf den sprachlichen Stil verweist und ihn auf die dadurch erzeugte Stimmung des Textes bezieht (C5c). Diesen für die Sinnstiftung zentralen Aspekt vergleicht die Schülerin mit der Rezeptionssituation bei Spielfilmen, was von S 3 um den Hinweis auf Genre und Schemata (C5a) ergänzt wird, deren Eigenheiten es für die Sinnstiftung zu nutzen galt. Hier wird deutlich, dass die Lernenden im Unterricht situationsgebunden auf vorhandenes literarisches Wissen zurückgreifen, das aus der formellen (Unterricht) wie informellen (Lebenswelt) Mediensozialisation stammen könnte 26 . Die Codierungen am Ende der Sequenz beziehen sich auf alle drei Schüleräußerungen, denen zu entnehmen ist, dass die Lernenden den Text als inszenierten und perspektivierten Sinnentwurf wahrnehmen (C1f), wobei besonders die Inszenierung im Zusammenhang mit der transportierten Stimmung eine Rolle spielt. Dabei ist es der Hinweis von S 23 , dass „es von einem verlangt“ wurde, der von den Einsichtnahmen der Lernenden in die Interaktion zwischen Leser und Text zeugt und als Indiz dafür genommen wird - daher auch hier die in Klammern gesetzte Codierung -, dass die Lernenden auf eigene Reaktionen auf das Gelesene achten und die beim Lesen als affektiver Respons entstehenden eigenen Gefühle für den Verstehensprozess nutzen (C1c). Auf- 26 Leider wurde darauf nicht nach der kognitiven Modellierung des Begriffs Genre gefragt, sodass über dessen Ursprung und semantischen Gehalt keine weiteren Informationen erworben werden konnten. Fehler wie diese sind besonders zu Beginn der Forschungstätigkeit leider nicht immer zu vermeiden, stellt doch der Forschungsprozess gleichzeitig einen Lernprozess des Untersuchungsleiters dar. Aufgrund der relativ hohen Einbindung innerhalb der sozialen Situation tritt der Grad der Reflexion zeitweise in den Hintergrund. Denn der Forscher muss einer Doppelrolle gerecht werden: Einerseits gilt es, die Äußerungen der Kommunikationspartner in ihrer Spontaneität und in ihrer Wirkung auf die anderer Teilnehmer nicht durch (unangebrachte) Unterbrechungen zu behindern bzw. durch suggestive Fragestellungen zu beeinflussen, und andererseits müssen Gesprächsfäden so aufgenommen werden, dass die Dimension der Begrifflichkeiten ausgelotet werden kann. In anderen Worten: Nicht antizipierte Äußerungen werden oftmals erst in der Retrospektive als untersuchungsrelevant und klärungsbedürftig erkannt, weil die Aufmerksamkeit des Forschers auf andere Faktoren der Kommunikationssituation gerichtet war. <?page no="256"?> 256 schlussreich sind gerade die thematisierten Aspekte der Interaktion zwischen Leser und Text, die in der Interviewsequenz enthalten sind. Die Schülerinnen und Schüler sprechen davon, auf textuelle Elemente des Erzählanfangs zu reagieren, die Stimmung des Textes zu erspüren und an dieser ihre Erwartungen hinsichtlich des weiteren Verlaufs der Geschichte auszurichten. Es sind dabei keine reinen Oberflächenphänomene, sondern vielmehr Hinweise, Andeutungen und Zweideutigkeiten, die sich aus der Stillage und der Komposition der Textteile ergeben und auf die die selektive Aufmerksamkeit der Lernenden durch die Interaktion mit dem Text gelenkt wird. Die Äußerungen der Lernenden lassen zudem darauf schließen, dass die methodischen Aspekte hinsichtlich des geleiteten Rezeptionsprozesses als spezifische Situationen, in denen eine Anwendung von Wissen und Können gelingen kann, die angewandten Strategien und damit den Verstehensprozess der Lernenden begünstigten. Waren es doch die Formen der Textbegegnung, der Sinnkonstitution sowie der Textproduktion, die die Lernenden zur Auseinandersetzung mit den zentralen Konflikten im Text, dem Außergewöhnlichen der Geschichte sowie mit den Motiven und Einstellungen der Charaktere im Unterricht bewegten. Um dem Stellenwert, der dem Zusammenspiel von endogenen und autogenen Faktoren bei der Auseinandersetzung mit dem Gelesenen im Interview beigemessen wird, nachzugehen, soll ein weiteres Beispiel heran gezogen werden. Auch hier sind es die Einsichten, die die Lernenden hinsichtlich des eigenen Rezeptions- und Verstehensprozess‘ bieten, die als untersuchungsrelevant zu werten sind. I Das würd‘ mich auch interessieren. Findet ihr da gab’s Sachen im Text also waren da Dinge drin, die ihr für euch gelernt habt und die auch mit eurem eigenen Leben zu tun haben? S 23 Teils (unverständlich) ich glaub, ich würd‘ mir nicht sagen lassen, dass ich mir dass das dass ich mich nicht also das Kind nicht wecken soll. Also ich vergewisser mich dann lieber auch, wenn ich auf meine kleine Cousine oder so was aufpasse ich gehe nach der gucken weil das kann ja wohl mal passieren, dass die sich wirklich auf den Bauch drehen oder so was n baby. Net dass da was passiert also ich vergewisser, weil, man kann ja auch leise sein, und nicht so n unfesten Schlaf haben jetzt Kinder auch net, dass die dann keine Ahnung aufwecken, wenn man da mal n C3d C3b S 3 Ja. Schritt zu laut macht. I Mhm. 10: 51 S 3 Vor allem ich würd mir mir auch nicht von irgendwie von Leuten sagen lassen ja hier, so und so, du darfst das nicht aufwecken. Dann würd ich auch erst mal misstrauisch werden, überhaupt mal denken, ja für was bin ich dann babysitter, wenn ich nicht ins Zimmer gehe…Also von daher war das C3c C3b <?page no="257"?> 257 n bisschen unlogisch I S 21 bei dir irgendwas? S 21 Ja, das hat schon bisschen warum ist man dann babysitter, wenn man kriegt dafür Geld, wenn man nicht zum Baby darf und nicht ins Zimmer rein gehen darf das ist schon irgendwie. C3b S 3 Und die M&M’s isst. S 21 Ja, genau, und dann die ganzen M&M’s verdrückt (lacht). S 23 Ich finde, dass auch grad das macht es auch wieder so irgendwie, dass man wieder was Dramatisches denkt. Das - C5c I Wieso? S 23 Das ist auch wieder so ne Stelle. Ich mein n normaler, also wenn man beauftragt wird Babys zu sitten ich glaub nicht, dass man, also, die hat das Kind ja vorher auch noch nicht gesehen, ich find das sind so lauter Sachen also, dass sie das Kind vorher nicht gesehen hat, dass sie dann beim Babysitten nicht dahin darf dass die da nicht den richtigen Grund genannt hat - (unverständlich) das find ich die drei wichtigsten, dass man denkt, dass das irgendwie was - Trauriges ist. B2d C5c Tabelle 74: Schülerinterview E10 I (§ 79 - 92) Die Schülerin S 23 reagiert als erste auf die Frage. Ihre kritische Haltung lässt erkennen, dass sie durch die Frage eingeleitet einen Zusammenhang zwischen den eigenen und im Text geltenden Normen und Werten erkennt und die damit zusammenhängenden Einstellungen der Charaktere kritisch zurückweist (C3d). Der verhandelte Konflikt wird von ihr erfasst und reflektierend mit Gegebenheiten des eigenen Lebensumfelds in Bezug gesetzt (C3b), indem sie ihr eigenes Weltwissen heranzieht, um über den Inhalt des Textes und dessen Themen zu sprechen. Ähnlich reagiert S 3 , hebt die elterliche Anweisung als Handlung hervor, die sie als gegenläufig zu ihren eigenen Wertvorstellungen fasst, bewertet damit Handlungen und Motive kritisch (C3c) und benennt dies als für sie unlogischen Aspekt des Sinnentwurfs, indem sie ihn auf das eigene Lebensumfeld bezieht (C3b). Der fiktionale Wirklichkeitsentwurf wird dabei von den Schülerinnen vor der Folie der eigenen Erfahrung wahrgenommen und in seiner Konsequenz imaginiert, bewertet und zurückgewiesen. S 21 nimmt nach Aufforderung auch am Gespräch teil, bestätigt das zuvor Gesagte und führt als weiteren Hinweis im Text an, dass die Unterlassung der für die Situation zentralen Handlung im Widerspruch zum bezahlten Auftrag eines Babysitters stehe (C3b). S 23 greift dies auf und spricht davon, dass sie auf diese atmosphärischen Anlagen im Text reagiert habe (C5c), sie dazu führten, dass vor allem Leerstellen im literarischen Text durch eigene Erfahrungen ausgestaltet (B2d) werden mussten. Der Aussage ist zudem zu entnehmen, dass die Schülerin diese Textanlagen im Widerspruch mit den <?page no="258"?> 258 eigenen Wirklichkeitserfahrungen als Moment bzw. Wirkmechanismus zur Erzeugung der Stimmung des literarischen Textes erkennt (C5c). 7.2.2.2 E10 II (mittelstädtisch) Dass die nun zu verhandelnde Fallstudie eine Besonderheit im Sample darstellt, wurde bereits erwähnt. Die Einheit wurde als letzte des Samples durchgeführt. Die Idee dabei war, einerseits der Schulform IGS eine weitere Fallstudie zur Seite zu stellen und andererseits durch das erneute Aufgreifen des Textes (Short Story T A -N A -E-K A ; cf. 7.1.1) Bestandteile des kulturellen Kontextes und der personalen Reaktionen im kulturellen Kontext theoretisch zu sättigen. Sich für den gleichen Text zu entscheiden, hat somit weniger auf Vergleichbarkeit der Fallstudien zielende Gründe, sondern ist vielmehr praktischen Aspekten geschuldet, die sich vor allem auf Unterrichtsplanung - beeinflusst durch die Ergebnisse der vorangegangenen Fallstudien - und Erwartungen in Verbindung mit den planbaren Situationen und dem zu projizierenden potentiellem Verhalten beziehen. Bei der teilnehmenden Gruppe handelt es sich ebenfalls um einen E-Kurs des zehnten Jahrgangs. Die sehr erfahrene Lehrerin unterrichtet den Kurs seit dem siebten Schuljahr. Sie gibt im Lehrerfragebogen an, literarische Texte häufiger im Schuljahr (4-5 Mal) und dann in den Jahrgangsstufen neun und zehn einzusetzen. Ihren Angaben zu Folge nutzt sie Texte aus dem Schulbuch, greift auch auf aus dem Studium bekannte Texte zurück und sucht nach passenden Texten in Anthologien oder Lehrmaterialien. Als Lerninhalte nennt sie: „Mehr Sprachanlässe, Textverständnis wird gefördert (z.B. das Verstehen eines Textes, auch ohne, dass man jede einzelne Vokabel weiß)“. Sie ergänzt dies, nach durch literarische Texte besonders zu transportierende Lerninhalten gefragt, um das „Erwecken von Verständnis für andere Völker“. Ihre Erfahrungen mit literarischen Texten im Unterricht beschreibt sie als abhängig von der jeweiligen Lerngruppe und fügt an: „Manche Schüler lesen nicht gern! “. Als für die Arbeit mit literarischen Texten im Unterricht zentral spricht sie auf Seiten der Lehrenden von der „Fähigkeit, geeignete Texte auszusuchen“, auf Seiten der Lernenden von der „Bereitschaft, sich auf längere Texte (=Lesephase) einzulassen“. Das globale Lernziel der Einheit beschreibt sie wie folgt: „Verständnis für andere Kulturen entwickeln, Durchhaltevermögen entwickeln zum Lesen eines längeren Textes in der Fremdsprache“ (LFB E10 II; S. 1-3). <?page no="259"?> 259 7.2.2.2.1 Die Einheit im Überblick Wie bereits bei den anderen Fallstudien soll zunächst ein Überblick der tasks der insgesamt acht Unterrichtsstunden umfassenden Einheit geboten werden, um das sich entwickelnde Unterrichtsgeschehen dann im Folgenden zusammenfassend zu besprechen: Task Stunde  brainstorming zum Titel Ta-Na-E-Ka (anhand von Bildern & Geräuschen)  Lesephase  Gruppenarbeit zu setting, characters, Ta-Na-E-Ka, storylines  Präsentation Ergebnisse  Produktionsanlass: What is Mary‘s plan? 1. / 2. Stunde  Präsentation Schülerprodukte  Lesephase: Rekonstruktion Textpuzzle  Präsentation  Motive der Handelnden bewerten  Produktionsanlass: Rogers Erlebnisse 3. Stunde  Roger gemeinsam charakterisieren  Präsentation Leerstellen  Lesephase: Focus on Ernie  Charakterisierung Ernie  Hypothesen über den weiteren Verlauf bilden  Lesephase  Textteil erspielen: den Dialog zwischen Mary und Ernie umsetzten  Präsentation Dialoge I 4. / 5. Stunde  Präsentation Dialoge II  Lesephase: Original vs. Fälschung  Diskussion über Versionen  Produktionsanlass: How is Mary‘s family going to react? 6. Stunde  Präsentation Schülerprodukte  Lesephase  Abgleich der eigenen Hypothesen mit dem Gelesenen  Produktionsanlass: You are Roger. Write a letter to your Grandpa!  Präsentation Schülerprodukte  Produktionsanlass: Write a dialog between Mary and a white girl  Präsentation Dialoge 7. / 8. Stunde Tabelle 75: Überblick tasks E10 II Im Sinne der Minimierung von Differenz ist festzuhalten, dass sich in der Einheit ganz ähnliche Codierungen zeigen, wie sie auch in den vorangegan- <?page no="260"?> 260 genen Fallstudien vorherrschend sind. Bezogen auf die tasks der Einheit ist zu sagen, dass sich schriftliche und mündliche Schülerleistungen ungefähr die Waage halten, mit einem leichten Übermaß an mündlich orientierten Kommunikationsanlässen im Unterricht, sodass das Verhältnis der Verteilung codierungsseitig den planerischen Erwartungen entspricht. Hier sind es vor allem zwei Indikatoren des kommunikativen Handelns, die den kommunikativen Modus anzeigen: mündlich ist es der A1d Indikator (sprechen in der Zielsprache) und schriftlich zeigt sich der A1g Indikator vorherrschend (schreiben eigene Texte in der Zielsprache). Endogene Faktoren, die sich auf den Umgang der Lernenden mit Konflikten, Motiven, Handlungen, Perspektiven und Leerstellen beziehen, zeigen sich vornehmlich derart, dass Handlungen und Motive der Charaktere (B1b) sowie Einstellungen und Gefühle kommentiert (B1c) werden. Hiermit werden vor allem Leistungen der Schülerinnen und Schüler in tasks der dritten, vierten und fünften sowie der siebten und achten Stunde der Einheit codiert. Dies ist unter anderem auch darauf zurückzuführen, dass die einleitenden Formulierungen der Handlungs- und Produktionsanlässe die Situationen zugunsten der Auseinandersetzung mit den Charakteren gestalten, und so Teilleistungen der Lernenden für diesen Bereich vor allem dann im Unterrichtsgeschehen auszumachen sind, wenn Hypothesen gebildet werden (vierte und fünfte sowie siebte und achte Stunde), die Lernenden sich zu Handlungen äußern (dritte und sechste Stunde) oder Leerstellen eigenständig gefüllt werden (erste und zweite, vierte und fünfte Stunde). Verbunden zeigen sich damit zudem Leistungen, in denen aufscheint, dass die Lernenden die Perspektiven einzelner Charaktere identifizieren und koordinieren (B2b). Codierungen lassen sich vor allem entlang der tasks ausmachen, in denen die Lernenden Rogers Erlebnisse im Ta-Na-E-Ka ausformulieren, Dialoge zwischen den Charakteren ausgestalten und als post-reading-activity einen Dialog erweiternd ausarbeiten. Codierungen, die sich auf eine kritische Auseinandersetzung der Lernenden mit den im Text enthaltenen Handlungen und Entscheidungen der Charaktere beziehen und der Reflexion von Handlungen und Motiven und damit den autogenen Faktoren zuzuordnen sind, werden allen voran durch den C3c (bewerten Handlungen und Motive kritisch) sowie den C3d Indikator (weisen Einstellungen und Gefühle der Charaktere kritisch zurück) realisiert. Leistungen, die sowohl den kulturellen Kontext als auch personale Reaktionen im kulturellen Kontext betreffen, sind innerhalb der Fallstudie durch Indikatoren vertreten, die beschreiben, dass die Schülerinnen und Schüler fremdkulturelle Konzepte, wie das Ritual Ta-Na-E-Ka, im Text identifizieren (B3a), diese unbekannten Konzepte deuten (B3b) und fremdkulturelle Konflikte benennen (B3d). Hier ist es vor allem die Auseinandersetzung in der ersten Doppelstunde der Einheit, die mit diesen Indikatoren codiert wird. Lässt das Verhalten der Schülerinnen und Schüler erkennen, <?page no="261"?> 261 dass sie sich auf die kulturellen Begebenheiten der präsentierten Sichtweise einlassen, so wird mit dem C2a Indikator codiert, der vor allem in den Schülerprodukten Verwendung findet. In mündlichen Kommunikationsanlässen zeigt sich als Indikator der unterrichtlichen Lenkung besonders häufig, dass die Lernenden Stellung zu Textinhalten nehmen (A3f). Als situativer Rahmen beschreibt die darin gefasste problemlösende Fähigkeit der Lernenden einen Großteil der unterrichtlichen Auseinandersetzung. Flankiert wird der Indikator von Situationen, die erkennen lassen, dass es den Schülerinnen und Schülern gelingt, sich zum Textsinn zu äußern (A3g). Auch hier sollen zwei Sequenzen herangezogen werden, um die beschriebenen Codierungen beispielhaft zu verdeutlichen. Die erste Sequenz entstammt der ersten Doppelstunde der Einheit und entwickelt sich als Unterrichtsgespräch im Anschluss an eine Gruppenarbeitsphase. Die Lernenden wurden aufgefordert, den ersten Abschnitt des Textes (Mary entschließt sich, zum Anleger zu gehen) unter unterschiedlichen Fragestellungen zu lesen: Setting (Gruppe A), Charaktere (Gruppe B), Ta-Na-E-Ka (Gruppe C) und Handlungslinien (Gruppe D). L […]OK. group C. What is the idea of Ta-Na-E-Ka? L formuliert Aufgabenstellung S 12 The idea of Ta-Na-E-Ka is to begin the life as an adult. A1d, B3a, [A3f] 8: 50 L OK. Mmh - To begin your growing up-life? How it is different from times when Mary’s grandfather had to do it? S 21 . L paraphrasiert Schüleräußerung, fragt nach S 21 (liest vor) Ta-Na-E-Ka is different from the times when Mary’s grandfather had to do it-this, because today this is a lot more simple. (unverständlich) And in the past it was very important. A1c, B3a, B3e L Yes, but that’s not the only thing that’s different. Who else is C? One of you is C? S 23 . What’s different, ähm. L kommentiert, fragt nach S 23 (unverständlich) L Come on read it. S 23 His grandfather was only eleven years old. He wanted to be a warrior and the people who don’t want to do that Ta-Na-E- Ka (unverständlich)- A1c, B3a L Yes, but, ähm, the kids do it when they are eleven today as well. So. It’s not different. Who is C? OK. S 16 . L kommentiert / korrigiert S 16 Ähm, in the past it was only five days into the wilderness. A1d, [Fehlleistung A3a] L No. No. No. S 9 . L kommentiert S 9 Eighteen days. [A1d-A3a-Fragment] L Eighteen days. Until the white paint came off. L wiederholt und ergänzt Schülerantwort 8: 51 S 16 (unverständlich) <?page no="262"?> 262 L No, that’s wrong. Today is five and then it was eighteen. You mixed that up. L korrigiert S 16 (nickt) L OK. Mmh. And - so today it’s only five days, earlier it was eighteen days. And S 12 ? L paraphrasiert S 12 Can I read mine? L Yes. S 12 Ähm, Mary’s grandfather was painted white with the juice of a sacred herb and sent out into the wilderness without so much than a knife. He had to survive eighteen days in-in the wilderness, naked and had to be careful of the animals. Mary and her cousin Roger only have to go into the woods and have to survive five days. A1c [A3a] B3e L And they were allowed to wear their bathing suits. L kommentiert ergänzend S 12 Yes. Tabelle 76: E10 II (1. u. 2. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 346-369) Der Ausschnitt, der das Ritual Ta-Na-E-Ka zum Gegenstand hat, wird von der Lehrerfrage eingeleitet, auf die die Schülerin S 12 reagiert. Sie spricht in der Zielsprache (A1d) über das fremdkulturelle Konzept (B3a) und umschreibt es als Beginn des Erwachsenenalters. In dieser Umschreibung ist eine Verdichtung des Gelesenen enthalten, die drauf schließen lässt - und daher in Klammern gesetzt -, dass die Schülerin mit ihrer Äußerung Stellung zu den erfahrenen Textinhalten nimmt (A3f). Sie Lehrerin reagiert darauf paraphrasierend und fragt nach den Unterschieden zwischen Marys Ta-Na-E-Ka und dem ihres Großvaters. Darauf liest der Schüler S 21 seinen vorbereiteten Text vor (A1c) und beschreibt das fremdkulturelle Ritual (B3a) dahingehend, dass es zu Großvaters Zeiten nach strengeren Regeln zu absolvieren war und einen höheren Stellenwert innehatte. Diesem Vergleich liegt zugrunde, dass der Schüler die darin angelegten unterschiedlichen kulturellen Perspektiven im Text identifiziert und Unterschiede erkennt (B3e). Die Lehrerin reagiert bestätigend, fragt aber nach weiteren Unterschieden und ruft S 23 auf. Die Schülerin liest ihre Ergebnisse vor (A1c), wobei als neu zu werten ist, dass sie dem Ritual als fremdkulturelles Konzept (B3a) die Initiationsfunktion als Krieger beiordnet. Die Lehrerin kommentiert dies korrigierend, indem sie anmerkt, das Eintrittsalter sei gleich. Daraufhin merkt der Schüler S 16 an, dass das Ritual früher nur fünf Tage gedauert habe, was hier als Fehlleistung - die Lehrerin reagiert entsprechend - zu werten ist. Inhaltlich korrigierend merkt die Schülerin S 9 fragmentarisch an, dass das Ritual 18 Tage dauerte. Leider unverständlich äußert sich S 16 erneut, wird aber von der Lehrerin korrigierend drauf hingewiesen, dass er die Dauer verwechselt habe. Zum Ende der Sequenz fragt <?page no="263"?> 263 die Schülerin S 12 , ob sie ihre Ergebnisse vorlesen könne (A1c). Im ersten Teil finden sich direkte Zitate aus dem Ausgangstext, sodass hier der A3a Indikator (selektiver Lesemodus) - im Sinne einer zugrunde liegenden Leistung - Verwendung findet. Im zweiten Teil stellt sie dieser Perspektive auf das Ritual dann die für Mary und Roger geltenden Regeln gegenüber, wodurch die zwei angelegten kulturellen Perspektiven im Text identifiziert werden (B3e). Die Lehrerin führt darauf ergänzend an, dass den beiden - im Gegensatz zum Großvater, der das Ritual nackt absolvieren musste (von der Schülerin angemerkt) - mit Badesachen bekleidet sein dürfen, was die Schülerin bestätigt. Angelegt ist in dieser Sequenz, dass es den Lernenden gelingt, das im Text präsentierte fremdkulturelle Konzept und die damit einhergehenden Regeln zu identifizieren und darüber hinaus unterschiedliche kulturelle Perspektiven, die mit dem Ritual in Verbindung stehen - zu erkennen. In der nun folgenden Sequenz aus der dritten Stunde steht die Reflexion von Handlungen und Motiven im Vordergrund, die auf die Regeln des Rituals zu beziehen sind. Das Unterrichtsgespräch entwickelt sich auf die Frage, ob Marys Wahl des Territoriums Einfluss auf den Verlauf des Rituals haben wird. Als Ausgangspunkt wurde dabei im Unterricht die Textstelle gewählt, in der Roger auf Marys Wahl des Flusses mit „what difference does it make“ reagiert (Whitebird 1994: 109): L Aha. (Ermahnung an S 9 ) Does it make any difference for Roger? L formuliert Fragestellung S 9 Ähm. Yes, because he can’t - can’t. Ähm, doesn’t- A1d B2b/ [C3c] L Can’t is OK. S 9 He can’t buy some food. He has to catch something to eat. L Mmh. S 1 . S 1 Maybe Roger won’t win the Ta-Na-E-Ka and she will win, because she buy, buys foot in the market. A1d B2b/ [C3c] L Can you, can you win. Is that a situation where you can win? L kommentiert S 1 Yes, or you can lose. If you win the five days into the wilderness. (unverständlich) A1d 9: 55 L You can survive five days without food - You need definitely something to drink. But food? Five days? You wants, you won’t die. L kommentiert S 1 But maybe he will - (unverständlich) … because she L You think he won’t come back (unverständlich) Roger will die? L fragt nach S 1 Yes. Maybe. L Maybe. Aha. Only the strong survive? Five days? S 23 . L kommentiert S 23 I think you can’t win this. It’s not a competition or something. A1e, B3a L Very good word. It’s not a competition. Mmh. L kommentiert, wieder- <?page no="264"?> 264 holt Schülerantwort 9: 56 S 23 And -ähm, I think you can be proud of yourself when you- A1d L Survive. Would you be more proud of yourself if you survive without cheating? S 12 . L kommentiert/ fragt nach S 12 Of course. Because if you, if you haven’t cheat- A1d, C3c L cheated S 12 Cheated. Ähm. It’s the. Other way and it’s fair. L S 15 . S 15 The thing of cheating is always in your head. Tabelle 77: E10 II (3. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 201-224) Die Schülerin S 9 reagiert als erste auf die Frage und gibt - unterbrochen von einer sprachlichen Hilfestellung der Lehrerin - zu verstehen (A1d), dass es für ihn sehr wohl einen Unterschied mache, hat Roger doch nicht die Möglichkeit, vielleicht Essen zu kaufen. Darin ist enthalten, dass sie Rogers Perspektive Marys gegenüberstellt und so beide koordiniert (B2b). Eng verbunden ist damit auch, dass die Schülerin, indem sie Rogers Nachteile erwähnt, Mary Handlungen indirekt kritisch kommentiert (C3c). Ähnliches zeigt sich in der Äußerung des Schülers S 1 . Er spricht vom Gewinnen des Rituals, dass sich Mary durch das Geld ermöglichen könnte. Kritisch fragt darauf die Lehrerin nach, ob man in der Situation tatsächlich von Gewinnen sprechen könne, worauf S 1 bestätigend reagiert, allerdings ist seine Rechtfertigung nicht zu verstehen. Die Lehrerin fragt, ob er meine, Roger könne unter Umständen das Ritual nicht überleben. Der Schüler bestätigt dies mit „maybe“. Es ist die Schülerin S 23 , die auf diesen Beitrag in der Zielsprache eingeht (A1e), und zu verstehen gibt, dass man im Falle des Ta-Na-E-Ka Rituals (B3a) nicht von einem Wettbewerb sprechen könne. Auf den bestätigenden Kommentar der Lehrerin fügt sie an (A1d), dass man lediglich Stolz auf seine Leistung sein könne. Dies nutzt die Lehrerin dafür, die Schülerin S 12 anzusprechen und zu fragen, ob sie stolzer darauf wäre, das Ritual ohne Mogeln absolviert zu haben. S 12 bejaht dies nachdrücklich (A1d) und weist das Mogeln kritisch zurück (C3c), indem sie anführt, dass das eigene Wissen darum einen immer belasten würde. Diese Sequenz lässt sich mit jener aus dem Ankerbeispiel vergleichen, in der die Lernenden aufgefordert wurden, Mary Entscheidung, im Diner zu nächtigen, zu bewerten (cf. 6.2.2.2). Unterschiede lassen sich vor allem daran festmachen, dass dort die personalen Reaktionen eher im Vordergrund standen, die zudem deutlicher am Ritual und dessen Regeln festgemacht wurden, während hier schon durch die einleitende Frage der Lehrerin eher die Perspektiven von Mary und Roger im Vordergrund stehen. Dass Unterschiede <?page no="265"?> 265 wie diese maßgeblich von den die Unterrichtsgestaltung betreffenden Entscheidungen und Anweisungen der Lehrenden abhängig sind, lässt sich für die Fallstudie auch an der auszumachenden Häufigkeit des A3r Indikators ablesen (setzen Aspekte des Textes performativ um). Denn im Gegensatz zu den anderen Fallstudien, in denen diesem Indikator zumeist das Dasein einer Randerscheinung zu bescheinigen ist, fällt er hier vermehrt ins Gewicht. Zurückzuführen ist dies, wie bereits angedeutet, auf die Vorschläge bei der gemeinsamen Unterrichtsplanung mit der Lehrkraft, aber besonders auf deren Entscheidungen während der Unterrichtsgestaltung. Mit Blick auf die tasks, in denen performative Aspekte eine weitaus größere Rolle spielen als in vorangegangen dargestellten Einheiten, ist das häufige Vorkommen dieses Indikators also nicht verwunderlich. 7.2.2.2.2 Besonderheiten im Unterrichtsgeschehen Von besonderem Interesse soll hier ein Beispiel sein, in dem auf einen Indikator autogener Faktoren eingegangen werden kann, der so in den anderen Fallstudien nicht anzutreffen ist. Dabei handelt es sich um den C1b Indikator (erweitern den eigenen Erfahrungshorizont durch ein Hineinversetzen in die Charaktere), der Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler beschreibt, die das Empathievermögen als konzeptuellen Bestandteil der ästhetischen Wirkfaktoren konkretisieren. Gemäß des für die Hausaufgabe formulierten Arbeitsauftrags If you were in Mary’s shoes, what would you do? präsentieren die Schülerinnen und Schüler ihre schriftlichen Produkte zu Beginn der dritten Stunde der Einheit. Entsprechend des zugrundeliegenden Codierparadigmas werden die Bedingungen der Situation codierungsseitig durch Indikatoren der unterrichtlichen Lenkung gerahmt. Das, was in den Schülertexten enthalten ist, bezieht sich auf eine Stellungnahme zu Textinhalten (A3f), und zwar ganz konkret auf die von den Schülerinnen und Schülern empfundene Sinnhaftigkeit des Initiationsritus‘. Dieser Indikator begleitet die gesamte Sequenz. Konstanten innerhalb der vorgenommen Codierungen lassen sich in Bezug auf die Interaktion innerhalb der Situation zudem entlang des kommunikativen Handelns beschreiben, lesen die Lernenden doch ihre fremdsprachlich verfassten eigenen Produkte laut vor (A1c). Darüber hinaus gibt es allerdings auch Unterschiede zwischen den drei exemplarischen Schülerbeiträgen, die nun eingehender betrachtet werden sollen: S 20 If I were Mary I wouldn’t do this ritual- A1c, A3f C1b [C3a] B3d L OK. Good. 9: 25 S 20 Ähm, I would explain my parents why I wouldn’t want to do this. And I would tell them that in year 1948 it’s not very important to learn how to survive in the wildness with eleven. When Mary’s parents were eleven maybe then it was important to learn how to survive in wilderness, but <?page no="266"?> 266 not today. L OK. Mmh. I agree. S 12 . S 12 If you were, if you were Mary what would you do? I think I would do Ta- Na-E-Ka if I were Mary. I would be interested in the old tribe (unverständlich) many years ago. I think I would have a curious feeling about the five days. And afterwards I would be proud of my experience and also of myself. I suppose it would be hard to do it, but I would try it out. A1c, A3f C1b [C2a] L OK. Mmh. S 23 . 9: 26 S 23 Ähm, if I were Mary I were excited about my first Ta-Na-E-Ka. She have to stay five days in the nature without any real food and her home. But when she did this one can be very proud of herself. She learn to survive in the wilderness and this could be useful in a few parts in her life. A1c, A3f [C2a] Tabelle 78: E10 II (3. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 19 - 27) Neben den oben genannten Codierungen ist es der Bezug auf die eigene Person, der die Aussage von S 20 so interessant macht, von der persönlichen Reaktion auf das Gelesene zeugt und als Konstruktionsleistung auf die Interaktion zwischen Leser und Text verweist, die hier fremdsprachlich thematisiert, problematisiert und legitimiert wird. Der Teilleistung liegt zugrunde, dass es dem Schüler gelingt, sich in den Charakter (nämlich Mary) hineinzuversetzen und durch das Durchdenken möglicher Handlungen und Motivlagen den eigenen Erfahrungshorizont zu erweitern (C1b). Es ist hier die Möglichkeit, an durch den literarischen Text vermittelten Erfahrungen teilzuhaben, die zum Gegenstand des unterrichtlichen Produktions- und Kommunikationsanlasses wird. Der Schüler, der sich in die Lage versetzt, bezieht dazu ganz klar Stellung und spricht davon, das Initiationsritual nicht absolvieren zu wollen. Er liefert dafür auch eine gelungene Begründung, für die er auf Teilleistungen zurückgreift, die den autogenen Faktoren zuzurechnen sind. Der Schüler rechtfertigt seine Entscheidung gegen die Teilnahme und bezieht sie auf die im Text erzählte Zeit und Marys Alter. Dies lässt darauf schließen, dass es ihm gelingt, ausgelöst durch die eigene Reaktion auf das Gelesene, einen Orientierungsrahmen zu konstruieren - ganz ähnlich wie es auch in Schülerleistungen in der Fallstudie G10 I geschehen ist - und damit das im Text Präsentierte, sprich den Wirklichkeitsentwurf, auf eine außerliterarische Realität zu beziehen (C3a). In Klammern ist dieser Indikator vor allem deshalb gesetzt, da von der Schüleräußerung nur implizit auf diese Teilleistung zu schließen ist. Allerdings ist es auch hier so, dass die Stellungnahme des Schülers sich dahingehend interpretieren lässt, dass mit dem sozio-kulturell konstruierten Orientierungsrahmen einer der zentralen Konflikte des Textes berührt wird, nämlich die Frage danach - die so ähnlich auch in der Fallstudie G10 I von den Lernenden aufgeworfen wird -, ob das Ritual zu sehr in der Tradition verhaftet und damit gegenläufig zu der im Text auch durch die erzählte Zeit anklingen- <?page no="267"?> 267 den Moderne ist. Indem der Schüler den von ihm eingenommenen Standpunkt Marys mit dem ihrer Eltern vergleicht, zeigt sich zudem, dass er über die Fähigkeit verfügt, die im Text angelegten unterschiedlichen kulturellen Perspektiven zu identifizieren (B3d), dabei auch zu koordinieren und Unterschiede herauszuarbeiten. Diese Unterschiede werden vor der Folie des übernommenen Erfahrungshorizonts wahrgenommen und bewertet. Und es sind die aus dem Text entnommenen und koordinierten Perspektiven, die der Schüler in seiner Stellungnahme für die Begründung verwendet. Etwas anders zeigt sich der Beitrag von S 12 . Die Schülerin versetzt sich auch in Mary (C1b) und beschreibt in ihrem Beitrag den möglichen Erfahrungshorizont, indem sie sich auf die kulturellen Begebenheiten der präsentierten Sichtweise einzulassen scheint (C2a). Sie spricht aus der eingenommenen Position im Konditional, beschreibt mit dem möglichen Erfahrungshorizont in Verbindung stehendes Interesse an der Tradition, Gefühle der Neugier und des Stolzes ob der durch die Herausforderung gesammelten Erfahrungen. Im Beitrag der Schülerin wird durch diesen Bezug auf die Gefühlslage und den persönlichen Zuwachs das Sich-Einlassen auf die literarisch vermittelte Erfahrung noch deutlicher als im ersten Beispiel. Die personale Reaktion im kulturellen Kontext in Klammern zu setzen, ist auch hier damit zu begründen, dass diese Teilleistung implizit in der Schüleräußerung enthalten ist. Mit ihr lässt sich auch der Unterschied zwischen den beiden Schüleräußerungen beschreiben: Während sich S 20 aus der eingenommenen Perspektive von der mit dem Ritual einhergehenden kulturellen Sichtweise, die sich an den enthaltenen Werten und Normen konkretisieren lässt, distanziert, betrachtet die Schülerin S 12 die im Text und damit mit dem Initiationsritus verbundenen Begebenheiten als potentiell wertvolle Erfahrung. Gemeinsam haben beiden Schülerleistungen, dass sie sich aus der angenommenen Perspektive heraus mit dem zentralen Konflikt des Textes beschäftigen, für ihre Stellungnahmen Rechtfertigungen und Begründungen in der Fremdsprache liefern, dabei unterschiedliche Standpunkte, die so im Text angelegt sind, abwägen und zu eigenen Positionen finden, die sie dem Text als Interaktionspartner entgegen treten lassen. Damit ist gemeint, dass die Lernenden den Text als Anlass dafür nehmen, den eigenen Erfahrungshorizont als Hintergrund zu nutzen, vor dem sich die ästhetischen Wirkfaktoren der ästhetischen Erfahrung entfalten können. Und während der Schüler eine kritische Position einnimmt und damit dem im Text angelegten System an Normen und Werten, an Regeln und Ritualen kritisch widersprechend gegenüber tritt, erkennt die Schülerin für sich selbst den Handlungsspielraum, der darin enthalten ist und die damit zu gewinnende Erfahrung. Anders verhält es sich hingegen in der die Sequenz abschließenden Äußerung von S 23 , in der sich keine Form des Hineinversetzens in den literarischen <?page no="268"?> 268 Charakter zeigt. Die Schülerin spricht nur im ersten Satz in der ersten Person und erwähnt die Vorfreude, die sie empfinden würde. Danach ändert sich die Perspektive, geht die Schülerin doch explizit auf Marys potentielle Erfahrung ein. Die Schülerin gewichtet damit den Arbeitsauftrag anders als die zwei Mitschüler und zeigt in ihrer Aussage, dass es ihr gelingt, sich auf die kulturellen Begebenheiten der präsentierten Sichtweise einzulassen (C2a). Auch hier ist der Indikator in Klammern gesetzt, handelt es sich doch erneut um eine Interpretation dessen, was in der Schüleräußerung implizit enthalten ist. Die potentielle Erfahrung, die von der Schülerin als Hauptgrund angeführt wird, das Ritual regelkonform zu absolvieren, kann als Brennpunkt der kulturellen Begebenheiten betrachtet werden, wenn man annimmt, dass die in dem ihr fremden Ritus enthaltenen Wertvorstellungen und Normen als positive Bestandteile betrachtet werden, die - auf Marys Situation bezogen - positiven Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung haben könnten. Bezogen auf das Modell von Burwitz-Melzer (2007a) zeigen sich hier vor allem Teilleistungen, die dem Arbeitsschritt „Sinnkonstitution I“ zuzuordnen sind. Den Lernenden gelingt es zum einen, Fähigkeiten, die zu den interkulturellen Kompetenzen zählen, in der Situation einzusetzen. Und zwar insofern, als sie „fremdkulturelle Elemente, Werte und Konflikte im Text erkennen und diese evtl. mit den eigenkulturellen“ Erfahrungen und Standpunkten in Beziehung setzen (ebd.: 140). Darüber hinaus zeigen sich auch Aspekte kognitiver und affektiver Kompetenzen, sind die Lernenden doch durchaus in der Lage, ausgehend von einem detaillierten „Verständnis des Inhalts, der Charaktere und der zentralen Konflikte“ (ebd.), Stellung zu zentralen Textinhalten zu nehmen, dabei die eigene Position einzubeziehen und für den literarischen Verstehensprozess fruchtbar zu machen, wofür sie „sowohl kognitive wie auch affektive Kompetenzen wie Identifikation und Empathie“ einsetzen (ebd.). <?page no="269"?> 269 7.2.3 R10 - Realschule 7.2.3.1 R10 I (ländlich) Bei der nun vorzustellenden Fallstudie handelt es sich um die dritte im zirkulären Design. Voranzustellen ist, dass sich diese Fallstudie durch Besonderheiten auszeichnet, die sich auf die Auswahl der Texte, die Unterrichtsplanung und die Art und Weise der teilnehmenden Beobachtung auswirken. Zunächst aber ein paar Hinweise zur teilnehmenden Gruppe: Dabei handelt es sich um eine zehnte Klasse einer Haupt- und Realschule in einem hessischen Unterzentrum in der Nähe von Limburg. Zum Zeitpunkt der Untersuchung wird der Haupt- und Realschulzweig (zur Schule gehört eine angeschlossene Grundschule mit Eingangsstufe) von 550 SuS (970 insgesamt) besucht. Ähnlich des Konzeptes der bereits vorgestellten IGS (vgl. E10 I, II) sind an der Haupt- und Realschule die Unterrichtsstunden vierzigminütig gestaltet, sodass die gewonnene halbe Stunde im Schulalltag als individuelle Lernzeit zur Vertiefung der Lerninhalte oder zum individuellen Ausbau der Methodenkompetenzen genutzt werden können 27 . Die Klasse setzt sich aus insgesamt einundzwanzig Schülerinnen (12) und Schülern (9) im Alter zwischen fünfzehn und sechzehn Jahren zusammen. Einer der Schüler (S 14 ) stammt aus einer zweisprachigen Familie (Englisch), sodass sich in diesem Fall ein Vorsprung der fremdsprachlichen (hier: zweitsprachlichen) Kompetenzen klar erkennen und auf den familiären Hintergrund zurückführen lässt. Ansonsten ist Deutsch die Muttersprache aller anderen Schülerinnen und Schüler. Der sehr erfahrene Lehrer, wohlgemerkt die einzig männliche Lehrkraft im Sample, stand der Durchführung der Studie äußerst aufgeschlossen gegenüber. Im Fragebogen gibt er an, literarische Texte zwei Mal im Schuljahr in der Jahrgangsstufe neun und zehn zu verwenden. Als literarische Lerninhalte nennt er für die Auseinandersetzung mit „authentischen Texten (nicht adaptiert)“ unter anderem „Interpretationsansätze“, „sinnerfassendes Lesen“ und „Erkennen von Strukturen“. Die bisherigen Erfahrungen mit literarischen Texten beschreibt er als abhängig von der jeweiligen Lerngruppe. Als für den Unterricht mit literarischen Texten wichtige Fähigkeiten nennt er auf Seiten der Lehrenden „Einschätzung der Schülermotivation zu Themen und Inhalten, Einschätzung des Schwierigkeitsgrads“, und auf Seiten der Lernenden ein Sich-Einlassen auf literarische Texte. Von einem Kompetenzmodell erwartet er sich laut Fragebogen „Hilfe bei der Textauswahl, Verknüpfung Textarbeit - Methodenkompetenz“ sowie Anregung für die „Erstellung lehrbuchunabhän- 27 Informationen bezüglich der schulformbezogenen Schülerzahlen, Klassenstärken, Mehrzügigkeit, Fremdsprachenunterricht sowie der SuS mit Migrationshintergrund liegen leider nicht vor. <?page no="270"?> 270 giger Unterrichtseinheiten“. Das globale Lernziel der Einheit formuliert er wie folgt: „Verstehen, welche historischen Ursachen die Diskriminierung der Schwarzen in den USA hat, Auswirkungen bis in die Gegenwart“ (LFB R10 I; S. 1-3). Die bereits angesprochenen Besonderheiten der Planung der insgesamt sechs Stunden umfassenden Einheit lassen sich wie folgt beschreiben: Ausschlaggebend war zunächst der Fokus auf die mögliche Sättigung von Bestandteilen des kulturellen Kontexts und der personalen Reaktionen im kulturellen Kontext. Es wurde daher so geplant, dass sich durch die verwendeten Texte ein Themenbereich entfalten konnte, der sich auf das Civil Rights Movement der US-amerikanischen Gesellschaft bezog. Um den Rahmen zu setzten, wurde für die ersten beiden Stunden ein Auszug des Romans H OLES (Sachar 1998: 112-115) gewählt: Es handelt sich hierbei um eine von insgesamt drei storylines des Romans, die von der Liebe zwischen der weißen Schullehrerin Katherine und dem schwarzen onion picker Sam in Texas am Ende des neunzehnten Jahrhunderts erzählt. Im Exzerpt erfährt der Leser, wie die Kleinstadt auf einen öffentlichen Kuss der beiden reagiert. Ein Mob, geführt von Trout Walker, einem einflussreichen, wohlhabenden und von Katherine zurückgewiesenen Mann, legt Feuer im Schulhaus. Katherine läuft hilfesuchend zum Sheriff, der sie, statt zu helfen, belästigt und zu verstehen gibt, dass Sam für seine gesetzeswidrige Annäherung an eine Weiße gehängt werden wird. Katherine warnt Sam, beide fliehen auf einem Ruderboot, werden aber von Trout Walker und seinen Schergen auf einem Motorboot eingeholt, worauf Sam von diesem erschossen wird und Katherine als outlaw Rache an den Peinigern nimmt. Dieses in sich als abgeschlossen zu betrachtende Teilkapitel wurde gewählt, um den Lernenden einen narrativen Zugang zur rassistischen Problematik zu eröffnen. Der im Text verhandelte Rassismus ist dabei auf die gesellschaftlichen und durch Sheriff und Gesetz repräsentierten Zusammenhänge zu beziehen, wobei besonders die Zeile „this happened one hundred and ten years ago“ (ebd.: 115) als Ausgangspunkt für die folgende Auseinandersetzung mit den Veränderungsprozessen der Bürgerrechte der schwarzen Bevölkerung zu sehen ist. Anders als in allen anderen Fallstudien wurde die Gruppe für zwei Unterrichtstunden nicht beobachtet, in denen mit dem sehr erfahrenen Lehrer Stationen des Civil Rights Movement als soziokulturelle Fakten erarbeitet wurden. Darauf folgten erneut zwei Unterrichtsstunden, die sich auf die Arbeit mit dem Gedicht A LABAMA C ENTENNIAL (Madgett 1965) beziehen 28 . In dem in sechs Strophen gegliederten und ansonsten formlosen 28 Online verfügbar unter http: / / www.crmvet.org/ poetry/ amadgett.htm. Letzter Zugriff am 19.01.2014 <?page no="271"?> 271 Gedicht berichtet ein Lyrisches-Ich von den Phasen und Stationen des Civil Rights Movement, angefangen bei Situationen der Sklaverei, über die der Segregation hin zu Landmarken und Ikonen der Bewegung, wie bus boykott, don’t buy campaigns, freedom march, Rosa Parks und Martin Luther King. Der im Gedicht verhandelte Themenbereich der Bürgerrechtsbewegung wird unter anderem sprachlich dadurch transportiert, indem das Lyrische-Ich, das als Aktivist der Bürgerrechtsbewegung verstanden werden kann, unterschiedliche Sprecher und deren Äußerungen auftreten lässt. So beginnt die erste Strophe mit der Aufforderung „wait“. In Zusammenhang mit dem Titel lässt sich diese Weisung der weißen Oberschicht zu Zeiten des US-amerikanischen Bürgerkriegs zuordnen (Alabama schaffte als letzer Staat die Sklaverei ab). Darauf reagiert das Lyrische-Ich mit „for a hundred years I waited“ und zählt Situationen des Wartens auf Bürgerrechte auf. In der zweiten Strophe wird mit der Trope des neuen Windes, der eine neue Stimme mit sich führt, Veränderung eingeführt, die sich in der dritten Strophe dahingehend manifestiert, dass der Anordnung zum Warten, zur Geduld widersprochen wird und die Strophe mit dem Imperativ „walk! “ endet. Neben diesem Wechselspiel aus Rede und Gegenrede von Skeptikern bzw. Gegnern der Bürgerrechtsbewegung auf der einen und Befürwortern bzw. Aktivisten und Ikonen auf der anderen Seite werden im Gedicht Imperativkonstruktionen (wait, walk, sit down, ride, march) aufgegriffen und auf konkrete Ereignisse bezogen (siehe oben). In der letzten Strophe wird die Dringlichkeit und Unaufhaltsamkeit der Bewegung dahingehend dargestellt, dass sie auch nicht durch drastische Mittel der staatlichen Exekutive (Birmingham, Selma, jails) aufgehalten werden könne. Beschlossen wird das Gedicht durch den Anruf des American Dream, der als Chiffre mit Gleichheit und Würde verbunden wird, dem eine hundertjährige Überfälligkeit bescheinigt und der mit dem Ausruf „Now! “ eingefordert wird. Bei der Planung der unterrichtlichen Arbeit wurde der Akzent für diese beiden Stunden vor allem auf die Interpretation der im Gedicht angelegten Symbole und Anspielungen bzw. -deutungen durch Rückgriff der Schülerinnen und Schüler auf das erarbeitete soziokulturelle Orientierungswissen gelegt. Hinzu kam - bedingt durch den Zeitraum der Untersuchung und die damals noch aktuelle Präsidentschaftskandidatur Barack Obamas -, ein Transfer des Verhandelten auf die aus der Lebenswelt der Lernenden stammenden Kenntnisse und Erfahrungen. Hierfür wurde eine Schreibaufgabe so formuliert, dass die Schülerinnen und Schüler eine weitere Strophe an das Gedicht anfügen sollten, in der durch den Bezug auf Obamas Kandidatur gewissermaßen ein Abschluss der Bewegung formuliert werden sollte. <?page no="272"?> 272 Task Stunde  Informierender Einstieg: Working on a unit about racism  Lesephase  Hypothesen über die Reaktionen des Sheriffs bilden  Lesephase  Motive bewerten: Why didn’t the Sheriff help Miss Katherine?  Lesephase  Hypothesen über den weiteren Verlauf bilden: Will they run away?  Arbeitsblatt mit reading comprehension questions  Produktionsanlass: ein mögliches Ende für die Geschichte schreiben 1. Stunde  Präsentation der Produkte  Lesephase  Eigenes Ende mit dem der Geschichte vergleichen  Arbeitsblatt mit reading comprehension questions  Einen Titel für die Geschichte formulieren  Charaktere kategorisieren: tolerance vs. racism  Ausblick auf Civil Rights Movement 2. Stunde  Lesephase Gedicht  Wortschatzarbeit  Verhandelte Konflikte identifizieren: What is the poem about?  Arbeitsblatt mit Interpretationsfragen  Präsentation  Strophen timline des Movement zuordnen 3. Stunde  Stummer Impuls: Folie Wahlkampfplakat Obama  Produktionsanlass: Isn’t there a part of the poem missing? How could it go on? Think of Obama.  Präsentation  Diskussion: How long did it take to have a black candidate? 4. Stunde Tabelle 79: Überblick tasks R10 I 7.2.3.1.1 Die Einheit im Überblick Auch für diese Fallstudie soll die Einheit dahingehend im Überblick dargestellt werden, dass die in den Transkripten vorgenommenen Codierungen auf die durch Handlungs- und Kommunikationsanlässe hervorgerufenen Situationen im Unterricht bezogen werden. In der ersten Stunde stehen die rezeptiven Fertigkeiten (lesen den literarischen Text; A1a) vor allem in Verbindung mit der unterrichtlichen Lenkung, indem die Schülerinnen und Schüler entsprechend der Aufgabenstellung unterschiedliche Lesemodi anwenden (A3a), die sich auf reading comprehension questions beziehen, die in abgewandelter <?page no="273"?> 273 Form auch in der dritten Stunde als Interpretationsfragen zum Einsatz kommen. Die Interpretationsfragen (im Sinne von Beispielaufgaben) sollen an dieser Stelle zunächst keine Rolle spielen, sondern werden gesondert besprochen (cf. 7.3.3). Anzumerken ist allerdings schon hier, dass sich ein Indikator des kommunikativen Handelns ausschließlich auf die Auseinandersetzung mit vorgefertigten Leseverstehensaufgaben bezieht, die somit auch von offenen Antwortformaten bzw. Aufgabenstellungen zu unterscheiden sind, und damit codiert wird, dass die Schülerinnen und Schüler zielsprachliche Aufgabenstellungen bearbeiten (A1h). Auf die gesamte Einheit bezogen ist im produktiven kommunikativen Modus dem Mündlichen (sprechen in der Zielsprach; A1d) mehr Gewicht als dem Schriftlichen (schreiben eigene Texte in der Zielsprache; A1g) zu bescheinigen. Die erste Stunde zeichnet sich weiterhin dadurch aus, dass die Schülerinnen und Schüler entlang der tasks Hypothesen über den weiteren Verlauf des Textes formulieren (A3d), Stellung zu Textinhalten nehmen (A3f) und den Text als Anlass für die eigene Textproduktion nutzen (A3m). Endogene Faktoren spielen dabei derart eine Rolle, dass von den Lernenden sowohl zentrale Konflikte im Text identifiziert (B1a) als auch Handlungen und Motive (B1b) sowie Einstellungen und Gefühle der Charaktere kommentiert (B1c) werden. Mit der Präsentation der Schülerprodukte zu Beginn der zweiten Stunde gehen vor allem Codierungen einher, die sich auf das kommunikative Handeln (lesen ihre eigenen Produkte laut vor; A1c), Perspektiven und Leerstellen (füllen Leerstellen des literarischen Textes; B2c) und auf den kulturellen Kontext beziehen (benennen fremdkulturelle Konflikte; B3d). Indem das eigene Ende mit dem der Geschichte verglichen wird, zeigt sich ein Aspekt der unterrichtlichen Lenkung (die eigenen Hypothesen mit dem Gelesenen abgleichen; A3e) mit der Reflexion von literarischer Produktion verbunden (betrachten Produktionsaspekte reflektierend; C5a), wobei dieser Indikator sich auch in der Situation produktiv zeigt, in der die Lernenden einen Titel für die Geschichte formulieren. Die Reflexion von Handlungen und Motiven (C3c, C3d), aber auch Indikatoren, die sich auf den kulturellen Kontext (z.B. fremdkulturelle Konflikte benennen; B3d) und personale Reaktionen im kulturellen Kontext beziehen (z.B. kulturelle Gegebenheiten aus der Außenperspektive betrachten; C2b) zeigen sich in der Aufgabe, die Charaktere entlang der Begriffe tolerance vs. racism zu kategorisieren. Das ab der dritten Stunde im Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens stehende Gedicht ruft Teilleistungen der Schülerinnen und Schüler hervor, die sich dadurch kennzeichnen, dass die Lernenden sich zum Textsinn äußern (A3g), dabei Inhalt und Darstellungsweise miteinander in Bezug setzen (A3h), fremdkulturelle Konflikte benennen (B3d), unterschiedliche kulturelle Perspektive identifizieren (B3e) und den Wirklichkeitsentwurf auf eine außer- <?page no="274"?> 274 literarische Realität beziehen (C3a). In Verbindung stehen all diese Teilleistungen mit den Begründungen, die die Lernenden für ihre Interpretationsleistungen des im Gedicht Verhandelten anbieten und sich entlang der Interpretationsfragen und der verhandelten Konflikte konkretisieren. So ist beispielsweise die Fähigkeit, den Wirklichkeitsentwurf auf eine außerliterarische Realität zu beziehen, besonders in der tasks gefragt, in der die Lernenden dazu angehalten werden, die im Gedicht verarbeiteten Stationen des Civil Rights Movement strophenweise einer timeline zuzuordnen. In der vierten und letzten Stunde tritt auf den Impuls folgend die produktive Dimension hinzu, schreiben die Lernenden doch nicht nur eigene Texte in der Zielsprache (A1g), sondern erweitern durch Hinzufügen den Textsinn durch kreative Verfahren (A3n). Auszumachen sind hier erneut Leistungen, die sich auf den kulturellen Kontext und auf personale Reaktionen im kulturellen Kontext beziehen und dabei auch die Reflexion von Handlungen und Motiven erkennen lassen. Auf die Präsentation der Produkte (lesen ihre eigenen Produkte laut vor; A1c) folgt eine fremdsprachliche Diskussion, die Obamas Präsidentschaftskandidatur im Zusammenhang mit dem Civil Rights Movement fokussiert. 7.2.3.1.2 Beispiele aus dem Unterrichtsgeschehen Die als erstes zu diskutierende Sequenz enthält ein Unterrichtsgespräch, das nach dem Lesen des ersten Abschnitts, in dem Katherine zum Sheriff läuft und um Hilfe bittet, entstanden ist. Entsprechend der Indikatoren der unterrichtlichen Lenkung sind es Hypothesen, die die Lernenden über den weiteren Verlauf des Textes bilden (A3d), wobei in den Äußerungen enthalten ist, dass Handlungen und Motive kommentiert (B1b) sowie Charaktere und Konstellationen identifizieret werden (B2a). Eingeleitet wird die Sequenz von einer Lehrerfrage, die auf die mögliche Reaktion des Sheriffs auf Katherine Hilfegesuch zielt: 8: 12 L Questions? - My question is, what do you think? - Is the sheriff going to help Miss Katherine…or is he not? L formuliert Fragestellung L S 2 ? S 2 I think the sheriffs don’t help ähm, Miss Katherine. A1d, A3d L Mhm. 8: 13 L Can somebody give a reason for why one can think that he will not help Miss Katherine… S 3 ? L fragt nach S 3 Äh, I think Charles Walker is an very important person- A1d B2a L Mhm. S 3 In the little town. L Ja. S 3 And he loves ähm, Katherine nee, doch net, doch net. (unverständlich) <?page no="275"?> 275 L But the question is about the sheriff now, is the sheriff going to help - Miss Katherine. L kommentiert, wiederholt Schülerantwort, fragt nach S 3 Mhm. L S 2 said, he doesn’t think so. Why not? L She came to the sheriff - 8: 14 L Something extraordinary had-had happened. Something that does not happen every day…What had happened? - Why did she come, or why did she go the sheriff? - Hu (fragend, ironisch an die Schüler)? S n Schmunzel S 3 Ah, äh, few people, ähm set the school house on fire. A1d L Ja, ok. this is an emergency. L kommentiert S 12 (unverständlich) S 18 Notfall. [A2e] L So of course the sheriff would have to help. But S 2 thinks he won’t do that. - Is there anything in the text that indicates that he won’t help? - S 4 ? L kommentiert, fragt 8: 15 S 4 Ähm, maybe because he’s drunken. A1d, [B1b] L Mhm. Ja. S 14 ? S 14 Ähm, one of the men burning the school house is Charles Walker, perhaps the sheriff doesn’t want to do anything against Charles Walker because he’s, äh, the richest man in town. A1d, B1b/ B2a L Mhm. Ok - let’s go on reading. Tabelle 80: R10 I (1. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§19-47) Auf die Frage der Lehrkraft reagiert der Schüler S 2 als erstes. Er formuliert seine Hypothese (A3d) in der Zielsprache (A1d), die er mit dem Meinungsmarker „I think“ versieht, dahingehend, dass Katherine keine Hilfe von den Sheriffs (hier abweichend vom Text im Plural verwendet) zu erwarten habe. Von der Lehrkraft wird diese Aussage genutzt, nach möglichen Gründen zu fragen, warum der Sheriff Katherine nicht helfen wird. Darauf meldet sich der Schüler S 3 , der zielsprachlich zu verstehen gibt (A1d), dass er Charles Walker für einen wichtigen Mann in der Kleinstadt und zudem an Katherine interessiert halte, wodurch Aspekte der Konstellation der Charaktere (B2a) ins Unterrichtsgespräch eingebracht werden. Allerdings führt der Schüler dies nicht weiter aus, sondern bricht seinen Beitrag ab. Die thematisierte Konstellation wird von der Lehrekraft nicht vertiefend aufgegriffen, vielmehr entscheidet sich der Lehrer dafür, den Fokus durch seine Frage erneut auf die möglichen Motive des Sheriffs zu lenken. Dafür wiederholt er die von S 2 gegeben Schülerantwort und fragt nach dem Außergewöhnlichen der Situation. Erneut meldet sich S 3 zu Wort und erklärt die Situation, indem er anmerkt, der Mob <?page no="276"?> 276 setze das Schulhaus in Brand (A1d). Der Kommentar des Lehrers „this is an emergency“, wird nach einer unverständlichen Äußerung (S 12 ) von S 18 um den Einwurf „Notfall“ ergänzt, was darauf schließen lässt, dass der Schüler auf muttersprachliches Handeln zurückgreift (A2e), um eine Wortschatzfrage eines Mitschülers zu klären. Die Notfallsituation wird von der Lehrkraft so gedeutet, dass der Sheriffs helfen müsse, er hebt aber die Äußerung von S 2 hervor, der dem bereits widersprochen habe und fragt nach Indizien im Text, die diese Hypothese belegen könnten. Hier ist es der Schüler S 4 , der den beschrieben Grad der Alkoholisierung angibt und so indirekt Handlungen und Motive kommentiert (B1b). Als letztes beteiligt sich der Schüler S 14 am Unterrichtsgespräch, der ähnlich wie zuvor S 2 die Konstellation der Charaktere thematisiert (B2a) und zu verstehen gibt, er deute die Motive des Sheriffs so (B1b), dass dieser sich nicht gegen Walker stellen wolle. Quittiert wird dies durch den Lehrer mit einem „Ok“, worauf sich im Unterricht die Lesephase mit dem nächsten Abschnitt anschließt. Exemplarisches der Sequenz lässt sich zunächst an der Interaktion festmachen, die sich hier stärker als in den vorangegangenen Fallstudien am IRE-Pattern zu orientieren scheint, reagieren die Lernenden doch auf Lehrerfragen, die danach evaluierend kommentiert werden, wobei den Kommentaren verstärkt Lenkungsfunktion zuzukommen scheint. Dies findet sich in den ersten beiden Stunden der Einheit besonders häufig, in den letzten beiden Stunden entwickelt sich die Interaktion eher entlang der verwendeten Beispielaufgaben und der präsentierten Schülerprodukte. Interessantes zeigt sich in der Sequenz entlang der Strategien und Taktiken, die besonders in den Beiträgen von S 2 und S 14 aufscheinen, die ihre Hypothesen und die damit auch die kommentierten literarischen Handlungen mit möglichen Konstellationen der Charaktere verbinden. Dass diese von der Lehrkraft nicht weiterführend aufgegriffen werden, mag darauf zurückzuführen sein, dass diese in der Unterrichtsplanung erst zum Ende der zweiten Stunde (kategorisieren der Charaktere) eine Rolle spielen. Es zeigt sich aber in den Äußerungen, dass den beiden Schülern die im Text zu findende soziale Konstellation wichtig für die Erwartungshaltung gegenüber dem weiteren Verlauf des Textes ist. Nachdem der zweite Abschnitt des Textes gelesen wurde, stehen die Motive des Sheriffs im Mittelpunkt des sich entwickelnden Unterrichtsgesprächs: 8: 16 L Now we know that the sheriff did not help - Miss Katherine. Why didn’t the sheriff help Miss Katherine? L formuliert Fragestellung 8: 17 L S 3 ? S 3 Ähm, because she had, äh, has kissed a negro (spricht falsch aus). A1d, S n Negro (wiederholt ungläubig) <?page no="277"?> 277 S 4 Oder, heißt doch? B1a/ B3d L Ja. Ok. S 4 And it’s against the law. L Mhm… S 2 ? S 2 And I think he, also, he drinked much. A1d, B1b L He drank too much? S 2 Ja. L Aha. L But there is one sentence in this paragraph which is very important. - S 3 has already mentioned it. L kommentiert, fragt nach L A sentence that says about the situation concerning the law and the sheriff represents the law. 8: 18 L S 2. S 2 Ähm, line thirty-tow, thirty-three (liest vor) It ain‘t against the law ähm. A1b, A3a L Not thirty not thirty-two. S 2 Hä? L Twenty twenty-two…Ja, can you read again twenty-two? L Sorry, I was-no I was wrong. S 3 (liest vor) It ain’t against the law for you to kiss him, the sheriff explained, just for him to kiss you. L It was two lines before. You were right before. I think two lines before line twenty. S 3 (liest) so, it’s against the law for a negro to kiss a white woman. L Ja, ok. (schreibt den Satz an die Tafel) L nutzt Medien 8: 19 L Well, why does he want to hang Sam? L fragt nach L In line eighteen he says (liest vor) I always get drunk before a hanging…then Katherine asked, a hanging who. And he says, it’s against the law for negro to kiss a white woman…What does he say, and what do you think is the real reason (unverständlich)…His idea. S 14 ? S 14 I think he’s jealous of the onion picker. A1d, B1c L Ja. Mhm…ok. - Let’s go on reading. Tabelle 81: R10 I (1. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§49-80) Auf die Frage nach den Motiven antwortet erneut der Schüler S 3 und gibt zielsprachlich zu verstehen (A1d), dass das Küssen eines Schwarzen gegen das Gesetz sei. Er verwendet dabei den der Textoberfläche entnommenen Begriff „negro“, den ein Mitschüler ungläubig wiederholt, worauf S 3 rechtfertigend und von der Lehrkraft bestätigt reagiert. In der über mehrere Paragraphen reichenden Schüleräußerung ist enthalten, dass der Schüler den zentralen Konflikt (B1a), der sich aufgrund des kulturellen Kontexts als fremdkulturel- <?page no="278"?> 278 ler Konflikt (B3d) spezifizieren lässt, identifiziert. Es sind also keine auf den Charakter des Sheriffs bezogenen Motive, die angeführt werden. Diese spielen erst im Beitrag von S 2 eine Rolle, der auf den bereits angeführten Alkoholkonsum hinweist (B1b), womit allerdings der fremdkulturelle Konflikt unberücksichtigt bleibt. Diesen greift der Lehrer wieder auf, indem er auf die Aussage von S 3 aufgreift und nach einer bestimmten Stelle im Text fragt, die als Beleg dafür genommen werden könne. Hier ist es S 2 , der die entsprechende Stelle anführt (unterbrochen von der Lehrkraft, wobei diese Unterbrechung auf ein Missverständnis zurückzuführen ist). Codierungsseitig sind die damit einhergehenden Teilleistungen so zu fassen, dass es dem Schüler gelingt, einen selektiven Lesemodus anzuwenden (A3a) und die Textstelle vorzulesen (A1b). Die Aussage, es sei gesetzlich verboten, dass ein Schwarzer eine Weiße küsst, wird vom Lehrer an der Tafel festgehalten. Er fragt darauf, welche anderen Gründe der Sheriff für sein Handeln haben könne, worauf S 14 anmerkt, dieser könnte eifersüchtig auf den „onion picker“ Sam sein. Darin ist enthalten, dass der Schüler Einstellungen und Gefühle des Sheriffs kommentiert und dessen Handlungen auf diese zurückführt. Leider unterbleibt im Unterrichtsgeschehen, dass der erarbeitete zentrale Konflikt auf die zuvor formulierten Hypothesen und Konstellationen bezogen wird, um einen Abgleich zu thematisieren. Der Lehrer entscheidet sich stattdessen dafür, mit dem abschnittsweisen Lesen fortzufahren. Neben diesen zwei Beispielen aus der ersten Unterrichtsstunde sollen im Folgenden zwei Schülerprodukte eingehender diskutiert werden, die in der vierten Stunde der Einheit entstanden sind und sich auf das Gedicht beziehen. Die Lernenden wurden aufgefordert, in Hinblick auf Obamas Präsidentschaftskandidatur eine weitere Strophe für das Gedicht zu schreiben. Dafür erhielten sie ein Arbeitsblatt, das neben dem Impuls (oder prompt; vgl. McNamara 2000) auch aus dem politischen Wortfeld stammende Lexeme als Entlastung bzw. Anregung enthielt. Das zu erwartende outcome (oder rubric; vgl. ebd.) wurde durch die Zeilenangabe und den Bezug auf das Gedicht umrissen. Please write another stanza for the poem (4-8 lines). Below you find some words to help you. CANDIDATE , CAMPAIGN , ELECTION , VOTE , RUNNING FOR PRESIDENT , HOPE , CHANCE , OPTI- MISM , OPTION , MOVEMENT , EQUALITY , EQUAL OPPORTUNITIES <?page no="279"?> 279 10: 45 L […] S 14 what about yours? You wrote a lot. S 14 Mhm. L Would you mind reading it out? S 14 (räuspert sich) Jo…(liest vor) ok, äh, Now for the first time a black man is running for President. People, vote for a man who brings us new hope for equality and optimism for new options and chances for everyone. Believe in his campaign, and equal opportunities for everyone will be brought to you. Vote for a man who thinks of the people, not only of himself. We must vote, and we must vote a true leader to guide us into (better? ) world. A1c A3n [C3a] B3d/ C2a L Ok. Fine. Thank you…Ähm, maybe S 6 or S 7, too. I don’t know who had the most good ideas. S 7 ? Ok? 10: 46 S 7 (liest vor) So they hope for a new President. They hope for a movement in their lives. There is the chance for change. In their heads, a feeling of optimism. They’ll be free, free like the other people. The vote will change their life, their life in America with Obama. A1c [A3o/ C4d] A3n [C3a] B3d/ C2a Tabelle 82: R10 I (4. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§168-174) Interessant sind die in beiden Schülertexten auszumachenden Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Von Interesse für die Analyse und Interpretation - fragt man nach Gemeinsamkeiten - ist zunächst einmal die Codierung. Finden lassen sich für beide Schülerprodukte beinahe identische Interaktionen von Indikatoren. Es gilt nun zuerst die Gemeinsamkeiten der Codierung zu verdeutlichen, bevor auf die ganz unterschiedliche Ausgestaltung der Schülerstrophen eingegangen werden soll, die ja auch - und das ist das eigentlich Aufschlussreiche an der Sequenz - davon zeugen, wie vielfältig sich die Kombination von Wissen und Können als spezifisches Verhalten in konkreten Situationen entfalten kann. Den Strophen der beiden Schüler ist in Hinblick auf das kommunikative Handeln gemein, dass sie ihre eigenen Produkte laut vorlesen (A1c). Mit dem unterrichtlichen Handeln steht in Verbindung, dass beide Lernenden entlang der schreibhandelnden Aufgabenstellung den Textsinn durch kreative Verfahren erweitern (A3n), wird doch durch die selbst verfasste Strophe der im Text enthaltene sozio-kulturelle Orientierungsrahmen ergänzt. Damit geht einher, dass es beiden Lernenden gelingt - und da dies hier als Voraussetzung für die Leistung zu verstehen ist, wird die Codierung mit diesem Indikator <?page no="280"?> 280 mit Klammern versehen - den Wirklichkeitsentwurf auf eine außerliterarische Realität zu beziehen (C3a). Gemein ist beiden Schülerstrophen auch, dass fremdkulturelle Konflikte benannt und eingebunden werden (B3d), ja als Anlass bzw. als eigentliches Thema der Produkte zu sehen sind, und zudem zu erkennen ist, dass sich die beiden Lernenden auf die kulturellen Begebenheiten der präsentierten Sichtweise einlassen (C2a) - allerdings ganz unterschiedlich ausgestaltet. Neben diesen Unterschieden, die an den personalen Reaktionen im kulturellen Kontext festgemacht werden sollen, fallen bei der Codierung Aspekte der unterrichtlichen Lenkung aber auch der Reflexion von Sprache auf, denn die Schülerin S 7 gestaltet ihre Strophe in Anlehnung an die Struktur des Gedichtes - der Schüler S 14 wählt einen anderen Weg -, sodass hier aufscheint, dass die Schülerin die Form des Ausgangstextes als Modell für die eigene Textproduktion nutzt (A3o). Zwar werden beide Schülerprodukte gekonnt mit literarischen Mitteln gestaltet, aber - und deshalb ist die Codierung mit den beiden Indikatoren für die Strophe der Schülerin in Klammern gesetzt - durch die im Schülerprodukt festzustellende Nähe zum Originaltext scheint doch durch, dass mit der Form auch die Besonderheiten literarischer Sprache produktiv genutzt werden, dass es der Schülerin dadurch gelingt, sprachliche Strukturen mit literarischen Funktionen - in diesem Falle poetischen - zu verbinden (C4d). In Klammern ist die Interaktion dieser beiden Indikatoren auch deshalb gesetzt, da hier nur durch die Leistung implizit auf den vorausgegangenen Schritt zu schließen ist, gilt für den Fall des der Reflexion von Sprache zugeordneten C4d Indikators doch besonders, dass nicht vordergründig im Unterrichtsgeschehen über die literarische Funktion reflektierend geredet wird, sondern sie vielmehr im eigenen Schreiben eingesetzt wird. Unterschiede zwischen den beiden Strophen lassen sich vor allem entlang der Codierung der personalen Reaktionen im kulturellen Kontext beschreiben, oder lassen sich besser gesagt anhand der verschiedenartigen Ausgestaltung dieser Teilleistung durch die Lernenden verdeutlichen: S 14 verwendet auffallend viele der in der Aufgabenstellung angeführten Wortvorschläge und gestaltet seine Strophe als Appell, als Aufruf an die black community. Dabei sind es zwei Aspekte, die darauf deuten, dass es ihm gelingt, sich auf die kulturellen Begebenheiten der präsentierten Sichtweise einzulassen (C2a): Zum einen wird die im Gedicht angelegte Dringlichkeit zum Protest, zur politischen Aktivität - durch das lyrische-Ich an den Stationen des Civil Rights Movement festgemacht - vom Schüler auf die Kandidatur Obamas übertragen, was sich nicht zuletzt in der sprachlichen Gestaltung mittels wiederholender Imperativkonstruktionen und Adressierungen niederschlägt. Und zum anderen ist es die anaphorisch gestaltete Verwendung des Personalpronomens in Kombination mit dem Verb vote in der letzten Zeile, die davon zeugt, <?page no="281"?> 281 dass die fremde Perspektive durch das vom Schüler gestaltete lyrische-Ich übernommen wird. Es sind also die fremdkulturellen Konflikte (B3d), die im Schülertext eine vordergründige Rolle spielen, auf die literarische Präsentation im Ausgangstext bezogen werden und im Zusammenhang mit der eigenen lebensweltlichen Erfahrung des Schülers als Erweiterung des literarischen Texts Ausdruck im eigenen Produkt erfahren. Und obwohl die Strophe der Schülerin (S 7 ) nicht nur anders aufgebaut, sondern auch sprachliche gänzlich unterschiedlich realisiert ist, wirkt auch hier die gleichen Kombinationen an Wissen und Können. Sie ist allerdings in leiseren Tönen zu finden, spielt doch in der Strophe der Schülerin der appellative bzw. persuasive Stil keine Rolle. Im Fall der Schülerin scheint sich besonders das Einlassen auf die kulturelle Perspektive anders zu gestalten (C2a), werden hier doch Innensichten geboten, werden Hoffnungen und Gefühle thematisiert. Man könnte in diesem Zuge darauf schließen, dass die Schülerin, die in der dritten Person schreibt, anstelle einer Inneneine Außenperspektive einnimmt. So leicht lässt sich jedoch eine Unterscheidung zwischen den beiden Indikatoren der personalen Reaktion im kulturellen Kontext allerdings nicht treffen. Nicht die Identifikation ist für ein Einnehmen der Innenperspektive ausschlaggebend, sondern das Nachvollziehen bzw. die Legitimierung fremd-kultureller Positionen, die in der Schnittmenge von Ausgangs- und Schülertext als ein Nachvollziehen der Veränderungsprozesse der prekären soziokulturellen Situation der afroamerikanischen Bevölkerungsgruppe zu werten ist, wobei Obamas Präsidentschaftskandidatur von den Lernenden als das erkannt wird, was sie nicht nur im Kontext der unterrichtlichen Auseinandersetzung ist: eine symbolträchtige Landmarke des Civil Rights Movement. Ästhetisches Lesen erfordert immer auch ein Einbringen empathischer Fähigkeiten, das selbst dann im Hintergrund wirkt, wenn sich die auszumachenden Teilleistungen nicht mit einem den Umgang mit ästhetischen Wirkfaktoren beschreibenden Indikator codieren lassen. Situationsadäquat zu codieren meint im Falle der oben präsentierten Schülerstrophen, das Auszumachende anhand der zu beobachtenden Leistung mit Indikatoren zu belegen und interpretierend auf die Ausgestaltung zu beziehen, sodass die mit der Leistung einhergehenden Prozessebenen, die implizit zugrundeliegen oder mitschwingen, beschrieben werden können. <?page no="282"?> 282 7.2.3.2 R10 II (mittelstädtisch) Bei der zweiten teilnehmenden Gruppe der Schulform Realschule handelt es sich um die zehnte Klasse einer kooperativen Gesamtschule in einem mittelhessischen Mittelzentrum. Zum Zeitpunkt der Untersuchung wird die Schule von 668 SuS, verteilt auf 28 Klassen, besucht 29 . Die Schule verfügt über eine Förderstufe, aber über keinen gymnasialen Zweig. Die Klasse setzt sich aus 26 Schülerinnen (17) und Schülern (9) zusammen. Für drei türkischstämmige Mädchen ist Deutsch eine Zweitsprache. Die jüngste Lehrkraft im Sample gibt im Fragebogen an, literarische Texte lediglich einmal im Schuljahr und dann in den Jahrgangsstufen neun und zehn einzusetzen. Als Lerninhalte führt sie „Stimmungen von Texten und unterschiedliche Bedeutung von Synonymen erfassen“ sowie „Authentizität von Sprachgebrauch“ an. Als Textgrundlage wurde die Short Story T HE H ITCHHIKER von Roald Dahl gewählt (2000: 25-41). Ganz im Sinne der bereits mehrfach angeführten und auch für die Typisierung der prototypischen Situationen relevanten Ansatzpunkte für die Auseinandersetzung mit literarischen Inhalten im Unterricht standen bei der Unterrichtsplanung vor allem die Motive der Handelnden, der zeitlich-kausale Kontext der Handlungen, die damit einhergehende Normverletzung sowie die Perspektive der Handelnden im Vordergrund. Der Ich-Erzähler berichtet, wie er als Autoliebhaber in seinem neuen BMW auf dem motorway Richtung London einen recht zwielichtigen Anhalter mitnimmt. Der als ratty faced man umschriebe Anhalter bewundert das Auto und fragt nach dem Beruf des Fahrers, der sich als Schriftsteller zu erkennen gibt. Allerdings weicht der Anhalter auf die Frage nach seinem eigenen Beruf aus, gibt an, nach Epsom zu wollen, um dort Geschäften nachzugehen. Im Verlauf des Gesprächs zwischen den beiden Männern macht der Anhalter immer wieder Andeutungen, sein Beruf hätte mit Fingerfertigkeit zu tun. Dem verblüfften Fahrer hält er darauf hin immer wieder ihm entwendete Gegenstände vor Augen, sodass schließlich ersichtlich wird, dass es sich um einen Taschendieb handelt. Während der Fahrer, der sich vom Anhalter zum Überschreiten der Geschwindigkeitsbegrenzung provozieren lässt, merklich erschrocken auf diese Enthüllung reagiert, wird das Auto von einem Motorradpolizisten überholt und zum Anhalten gebracht. Als sich der Polizist dem Fahrzeug nähert, malt sich der Fahrer bereits die Konsequenzen des Regelverstoßes aus, wird aber vom Anhalter beschwichtigt. Der herrische Polizist nimmt Name und Adresse in sein schwarzes Notizbuch auf und droht mit strengen Strafen. Wieder im Auto unterwegs gibt der Anhalter zu verstehen, 29 Informationen bezüglich der schulformbezogenen Schülerzahlen, Klassenstärken, Mehrzügigkeit, Fremdsprachenunterricht sowie der SuS mit Migrationshintergrund liegen leider nicht vor. <?page no="283"?> 283 es gäbe überhaupt nichts, über das man sich Sorgen machen müsse, habe der Polizist doch nichts gegen sie in der Hand, worauf er mit dem schwarzen Notizbuch in der selben dem Fahrer verstohlen zuwinkt. Als Themenbereiche der Short Story lassen sich ethisch-moralische Fragen festmachen, die mit Richtig und Falsch, mit strafbaren und fehlbaren Handlungen in Verbindung zu bringen sind. Bereits durch die beschriebene Äußerlichkeit des Anhalters wird ein Kontext eröffnet, in dem der Fahrer (und mit ihm der Leser) auf eine unterschwellige Bedrohung reagiert, wobei sich diese Vorurteile durch die Handlungen des Anhalters beim Vorführen seiner Profession bestätigen. In dem Moment, als das Fahrzeug nach der Geschwindigkeitsübertretung durch den Polizisten angehalten wird und der Fahrer sein Wissen über die illegale Tätigkeit des Anhalters als Ablenkung nutzen könnte, schweigt der Fahrer darüber jedoch und wird durch das Stehlen des Notizbuches, zwar ungewollt aber nicht unwillkommen, zum Komplizen. Interessant ist dabei, dass beide Insassen des Fahrzeugs eine Gesetzesübertretung begehen: Der Anhalter beim Diebstahl des Notizbuchs, der Fahrer beim Überschreiten der Geschwindigkeitsbeschränkung und bei der Komplizenschaft im Zuge der Verbrennung des Notizbuchs. Die Situation, in der auch der Fahrer das eigene Wohl über die Einhaltung von Regeln und Gesetzen stellt, macht die Ungleichen in ihrer Handlung gleich, wobei der Fokus der anfänglichen Ungleichheit neben der Profession auch in der Charakterisierung zu finden ist. Genau wie in den vorangegangen dargestellten Fallstudien wurde auch hier der Text abschnittsweise gelesen. So standen im Unterricht vor allem die Reaktionen der Lesenden auf die impliziten und expliziten Charakterisierungen der Handelnden im Vordergrund sowie die damit einhergehenden Erwartungen an den weiteren Verlauf der Geschichte. Beispielsweise wurden im Unterricht Hypothesen über die Reaktion des Fahrers auf die Information - besonders im Zusammenhang mit dem Polizeikontakt -, es handelt sich bei seinem Mitfahrer um einen Taschendieb, thematisiert und fanden Eingang in Schülerprodukte. Die Normverletzung als das Außergewöhnliche der Geschichte, die sich in den Motiven, Einstellungen, Werten und Normen der Charaktere finden lässt, nämlich der gemeinschaftlich begangene Regelverstoß durch das Übertreten der Geschwindigkeit und die Freude des Fahrers über den ihn von den Konsequenzen befreienden Diebstahl, war als Leitmotiv der unterrichtlichen Auseinandersetzung angesetzt. Neben der Behandlung der Geschichte in den ersten fünf Stunden der Einheit kam in der sechsten und letzten Stunde ein weiterer literarischer Text, eine sogenannte urban legend, zum Einsatz. Die Erzählung T HE T WO H ITCH- HIKERS (Jüngst 1999: 60 f.) diente dazu, das im ersten Text enthaltene Spiel mit Erwartungen, Wertvorstellungen, äußerer Erscheinung und Vorurteilen zu erweitern. Hier nimmt ein Handlungsreisender auf dem Weg von Seattle <?page no="284"?> 284 nach Spokane einen abgerissen aussehenden Anhalter mit, der sich auf dem Beifahrersitz immer wieder nach hinten dreht und nach etwas zum Stehlen Ausschau zu halten scheint. Zum Schutz vor vermeintlichen Übergriffen nimmt der Fahrer einen weiteren Anhalter ins Auto. Diesmal einen gepflegten jungen Mann, der auf dem Rücksitz Platz findet. Dieser Anhalter holt beim Losfahren eine Waffe hervor, richtet sie auf den Fahrer und befiehlt ihm anzuhalten. Nachdem gestoppt wurde, gibt er den beiden mit einem Wink der Waffe zu verstehen, sie sollen aus dem Fahrzeug steigen. Diesen Moment nutzt der ältere Anhalter, springt auf den Räuber zu und schlägt ihn bewusstlos. Daraufhin durchsucht er dessen Taschen, nimmt das Geld aus der Brieftasche und bietet die Hälfte davon dem verblüfften Fahrer an. Zum Schluss der urban legend gibt der ältere Anhalter zu verstehen, dass heute sein freier Tag sei, der jüngere als Anfänger noch lernen müsse, dass es sich bei einer Waffe nicht um einen Zeigestockt handelt. Anders als in der ersten Short Story wird hier die Devise „appearances are deceptive“ (ebd.: 60), die so auch wörtlich in der urban legend zu finden ist, zugespitzt umgesetzt: Der als Schutz mitgenommene Mann mit der gepflegten äußeren Erscheinung stellt sich als größere Bedrohung heraus, und der Fahrer wird von dem abgerissen aussehenden Anhalter gerettet. Allerdings verdankt er diese Rettung nicht etwa der Gesetzestreue des ersten Anhalters, sondern vielmehr der Tatsache, dass dieser - selbst ein Räuber - nicht dulden wollte, an seinem freien Tag Opfer eines Raubs zu werden. Neben diesen thematischen Unterschieden zeigen sich sprachliche und den Umfang betreffende dahingehend, dass die längere Short Story mit einer Vielzahl von Dialogen arbeitet, die wörtliche Rede des Anhalters dialektal gefärbt ist und die Geschichte von einem Ich- Erzähler präsentiert wird, während in der nur wenige Zeilen umfassenden urban legend nur vereinzelt wörtliche Rede (der erste Anhalter nach der Überwältigung des zweiten Anhalters) zu finden ist und die Erzählung auktorial präsentiert wird. Wie sich die Auseinandersetzung mit beiden Texten im Unterricht der Einheit realisierte, ist dem task-Überblick zu entnehmen: Task Stunde  Anhand des Titels Hypothesen über den Inhalt der Geschichte formulieren  Lesephase  Charaktersierung driver  Lesephase  Charakterisierung hitchhiker  Perspektiven koordinieren: What could the hitchhiker think of the driver? 1. Stunde <?page no="285"?> 285  Lesephase  Hypothesen formulieren: Where does the hitchhiker want to go? What could be his plan?  Leseauftrag als Hausaufgabe (Beispielaufgaben)  Präsentation Hausaufgabe  Lesephase als Textpuzzle  Presentation der Reihenfolge  Lautes Lesen des vorbereiteten Abschnitts  Motive der Charaktere I: What’s so special about the hitchhiker?  Motive der Charaktere II: What could be the hitchhiker’s job?  Lesephase  Reformulieren: What does the hitchhiker do?  Präsentation  Hypothesen mit dem Verlauf der Geschichte abgleichen  Hypothesen über den weiteren Verlauf bilden: What are the driver’s plans given the information about the hitchhiker?  Schülertexte als Hausaufgabe 2. / 3. Stunde  Präsentation Schülerprodukte  Lesephase  Das Ende der Geschichte bewerten  Zusammenfassung der Handlung  Gruppenarbeit freeze frame (drei Gruppen, Anfang, Mitte, Schluss)  Präsentation freeze frame  Das Außergewöhnliche benennen: What does the story tell us?  Fragen an die Charaktere 4. / 5. Stunde  Lesephase Anfang  Hypothesen über den weiteren Verlauf bilden: Charakterisierung einbeziehen  Lesephase zweiter Abschnitt  Hypothesen über den weiteren Verlauf bilden: Motive einbeziehen  Lesephase letzter Abschnitt  Zusammenfassung der Ereignisse  Gruppenarbeit: a) work on characters; b) work on actions  Präsentation  Vergleich der beiden Geschichten 6. Stunde Tabelle 83: Überblick tasks R10 II Insgesamt ist für die Einheit festzustellen, dass die Analyse der Codierung wenig Neues an Erkenntnis sowohl für die Maximierung als auch die Minimierung von Differenz innerhalb der komparativen Analyse bietet. Entlang der <?page no="286"?> 286 Faktoren des Indikatorenkatalogs beschrieben ist auch hier in den Transkripten festzustellen, dass Situationen, in denen die Schülerinnen und Schüler in der Zielsprache sprechen (A1d), vorherrschen, dass mündliche Leistungen innerhalb der Einheit ganz klar als kommunikative Präferenz zu erkennen sind. Als grundlegende Fähigkeit ist damit verbunden, dass die Lernenden unterschiedliche Lesemodi (orientierend und selektiv) entsprechend der Aufgabenstellung anwenden (A3a). Es ist zudem festzustellen, dass die die Fertigkeit Leseverstehen und die die Situationen im Unterrichtsgeschehen rahmenden mit der unterrichtlichen Lenkung und auf ein Verständnis des Textes zielenden Fähigkeiten, z.B. das Formulieren von Hypothesen über den weiteren Verlauf (A3d) oder das Stellungnehmen zu Textinhalten (A3f), auch hier die meisten Codierungen im Datensatz stellen. Es handelt sich dabei um grundlegende Leistungen der Schülerinnen und Schüler, ohne die eine schriftliche und mündliche Auseinandersetzung mit dem Außergewöhnlichen, den Motivlagen und Handlungen nicht denkbar wäre, die sich codierungsseitig an endogenen (bspw. B1b: kommentieren Handlungen und Motive der Charaktere) und autogenen Faktoren (bspw. C3c: bewerten Handlungen und Motive der Charaktere kritisch) festmachen lassen. Dass die codierungsseitige Auswertung der Einheit wenig zum Erkenntnisgewinn beiträgt, liegt auch daran, dass die Gruppe im Vergleich zu den anderen vorgestellten Fallstudien, bezogen auf Ausdrucks- und Inhaltsaspekte, eher zurücksteht. Es ist daher anzumerken, dass es sich bei den codierten Leistungen um Schwundstufen der etablierten Indikatoren handelt. Dies zeigt sich insofern, dass die Leistungen der Schülerinnen und Schüler eher als basale Ausprägungen spezifischen Verhaltens gewertet werden können, was vor allem auf die defizitären fremdsprachlichen Fertigkeiten zurückzuführen ist. So gab es - retrospektiv formuliert - hinsichtlich der in Abschnitt 5.3 beschriebenen Codierprozesse weniger zu entdecken als zu sättigen. Für den Theoriebildungsprozess, den eine Modellierung nun mal darstellt, ist eine solche Eigenschaft im Sample unerlässlich und wertvoll, für die Darstellung der Ergebnisse, auch unter Einbeziehung der Besonderheiten und des Spezifischen einer Fallstudie, wohl eher nicht. Eine Besonderheit, die die Fallstudie von den anderen unterscheidet, ist als sich im Unterricht entwickelnde Situation mit dem A3r Indikator der unterrichtlichen Lenkung zu fassen (setzen Aspekte des Textes performativ um): Die Lernenden werden in der fünften Stunde der Einheit in drei Gruppen eingeteilt. Jede Gruppe erhält den Auftrag, sich mit dem jeweiligen Textteil (Anfang, Mitte und Schluss) auseinanderzusetzten und eine Schlüsselszene des Abschnitts in Form eines freeze frame zu gestalten. Performativ umsetzten heißt in diesem Zusammenhang, dass die Lernenden eine für sie als wichtig und zentral empfundene Episode (oder wie im Falle des gegebenen Beispiels - <?page no="287"?> 287 und hier kommt ein Aspekt der aktiven Teilhabe an der Sinnstiftung ins Spiel - eine Verdichtung von narrativ strukturierten und aufeinanderfolgenden Ereignisse) in eine Szene bzw. in ein Standbild übertragen, und so auch einen Medienwechsel des literarisch Verhandelten vollziehen, indem das Erzählte bildlich transformiert wird. In der Anschlusskommunikation ist es die Schülerin S 5 , die in der Zielsprache spricht (A1d) und die wahrgenommene Szene unter erheblichen sprachlichen Schwierigkeiten auf den Ausgangstext bezieht. L And the others look at it and try to find out what scene they’re showing. Gruppe bereitet freeze frame vor 9: 05 S 9 ist der Fahrer, S 16 der Hitchhiker. S 26 als Officer steht neben dem imaginären Auto. S 19 ist das Motorrad. Der Fahrer reicht dem Officer die Papiere. Dieser schaut sie gründlich durch. Der Hitchhiker blickt interessiert hinüber. A3r S 20 Das ist ja cool! L Ok. What scene are we seeing? -- S 5. S 5 Äh, the policeman stopped the driver, and-no the (unverständlich)- A1d L Ok. S 5 And S 19 is the (unverständlich) L Mo-Motorbike. S 5 Yes. L Motorcycle. Ok (lacht) Tabelle 84: Unterrichtsgeschehen R10 II (§ 527 - 537) Das eigentlich Interessante an der dargestellten Szene ist die darin enthaltene Interpretation der Gruppe. Der Leistung der Lernenden, das im Text Dargestellte zu verdichten, geht als Teilleistung voraus, gemäß des Arbeitsauftrags, eine passende Textstelle (je nach Gruppe entweder Anfang, Mitte oder Schluss) auszuwählen. Indem sich die Gruppe hier eine Szene auswählt, die dem Schluss zuzuordnen ist, entscheiden sich die Lernenden zugleich bei ihrer Darstellung für einen mit den Motiven und den Perspektiven von Handelnden in Verbindung stehenden Wendepunkt, der zudem auf das mit der Normverletzung einhergehende Außergewöhnliche der Geschichte verweist. Die Auswahl der Szene erfolgt also keineswegs beliebig, sondern zeugt von der zugrundeliegenden Verstehensleistung der Lernenden bei der Auseinandersetzung mit dem literarischen Text, wird doch für die szenische Verdichtung nicht nur der zeitliche und kausale Zusammenhang der literarischen Handlungen benötigt, sondern darüber hinaus auch ein Wissen über die literarischen Funktionen der dargestellten Handlung, der beteiligten Charaktere sowie des Settings. All diese Aspekte werden von den Schülerinnen und Schülern in der Darstellung berücksichtigt. Können bezieht sich somit auf die Umsetzung <?page no="288"?> 288 dessen, was hier für die Szene als relevant erkannt wird. Darin ist auch enthalten, dass mit den szenischen Mitteln, die in der Transkription leider nur unzureichend zu vermitteln sind, Spannung insofern aufgebaut wird, als die Mimik und Gestik der beteiligten auf Motive, aber auch auf Einstellungen und Gefühle innerhalb der Szene verweist. Aus der Sequenz lässt sich somit auch der Stellenwert nonverbaler Handlungsanlässe im fremdsprachlichen Literaturunterricht ableiten, besitzt doch der performative Aspekt das Potential, auf literarische Verstehensleistungen schließen zu lassen, die vom Ausdrucksaspekt der fremdsprachlichen Kommunikation - der vor allem in sprachlich weniger leistungsstarken Lerngruppen als Engpass zu sehen ist - befreit sind. Im Interview auf die Standbilder angesprochen, äußerten sich die Lernenden, die sich als Gruppe mit dem Ende der Geschichte auseinandersetzten, folgendermaßen: S 5 Ja bei uns, also ich hatte nur eine Partnerin, und bei uns war’s so, dass wir eigentlich ähm die Szene spielen wollten, da wo ähm der-der Hitchhiker das Notizbuch schon hatte. A3r B1a A3j I Ja. S 5 Das war glaub ich der Höhepunkt für mich, weil ähm, da-somit war er gerettet. Der Fahrer. Und äh, diese Szene war eigentlich, finde ich ähm etwas Wichtiges, weil ähm, damit waren sozusagen die Probleme wieder ganz schnell gelöst. I Mhm. S 5 Weil er das Notizbuch hatte. A3j I Mhm. S 5 Und der Polizist dann gar nichts mehr und deswegen haben wir uns dann die - Szene ausgesucht. 12: 03 S 20 Ja, ich glaub weil, das dann halt wie so ne Freundschaft rüberkam. B1c S 5 Ja genau. S 20 Weil die sich so gegenseitig einen Gefallen getan haben, so nach dem Motto, ja, ich hab-du hast mich mitgenommen und ich sorg dafür, dass du net von d‘ Polizei da noch irgendwie Ärger bekommst. B1b A3j Tabelle 85: Schülerinterview R10 II (§ 324 - 334) Die Schülerin S 5 berichtet als erste von der gemeinsamen Auswahl bzw. der Vorgehensweise, sich mit ihrer Partnerin für eine Szene für das Standbild zu entscheiden (A3r; Aspekte des Textes performativ umsetzen). Die Auswahl begründet sie, indem sie auf deren Eigenschaft als Höhepunkt verweist, und damit zu erkennen gibt, dass es ihr nicht nur gelingt, die zentralen Konflikte des Textes zu identifizieren (B1a), sondern auch - im Sinne einer problemlösenden Fähigkeit, die sich auf Handlung und Produktion bezieht und mit <?page no="289"?> 289 dem Arbeitsauftrag in Verbindung steht-, die dargestellten Veränderungen zu benennen und darüber hinaus für die Planung des Standbildes zu nutzen (A3j). Darauf reagiert die Schülerin S 20 . Ihrer Anmerkung lässt sich entnehmen, dass auch sie den dargestellten Handlungsverlauf als zentral für die Geschichte erachtet (A3j). Zudem geht sie auf die Motivlage der beiden Protagonisten ein, und lässt damit erkennen, dass es ihr gelingt, die Kooperation zwischen Fahrer und Anhalter als sich entwickelndes freundschaftliches Verhältnis zu deuten, was so auszulegen ist, dass sie sowohl Handlungen und Motive (B1b) als auch Einstellungen und Gefühle der Charaktere kommentiert (B1c), die sie in ihren Anmerkungen stets auf die im Text dargestellten Veränderungen bezieht (A3j). 7.2.4 H9 - Hauptschule Was oben bereits einschränkend bezüglich des Erkenntnisgewinns der Codierungsanalyse der teilnehmenden Gruppe angemerkt wurde, gilt für die beiden Fallstudien der Schulform Hauptschule in besonderem Maße. Und zwar in der Hinsicht, dass in beiden Fallstudien ein eklatanter Unterschied zu den Leistungen der Schüler der restlichen teilnehmenden Gruppen festzustellen ist. Bemerkbar macht sich dies sowohl auf der Ausdrucksals auch der Inhaltsseite der fremdsprachlichen Kommunikation, lässt sich in der Varianz der vorzufindenden Codierungen wiederfinden (sprich in der Bandbreite der zum Tragen kommenden Indikatoren, auf die noch gesondert eingegangen werden soll) und äußert sich im Fall der Gruppe H9 II sogar als Engpässe, die den Verstehensprozess und besonders das hierarchiehöhere Leseverstehen betreffen. Bevor diese Problemlagen ausführlicher diskutiert werden, gilt es Faktoren hinzuzuziehen, die zur Klärung des festgestellten Umstands beitragen können. Dafür werden Ergebnisse der DESI-Studie bemüht. Hier ist voranzustellen, dass die Rückschlüsse, die aus der Kopplung von Codierung und deren Analyse mit den Ergebnissen der large scale assessment Studie getroffenen werden, keinen Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit in Hinblick auf das potentielle Entfalten spezifischen Verhaltens innerhalb der Schulform erheben. Denn in anderen Gruppen, zu anderen Zeitpunkten, mit anderer Unterrichtsgestaltung könnten sich die zu beobachtenden und rückgeschlossenen Leistungen der Schüler als individuelles Potential anders bzw. kompetenter 30 realisieren. 30 Den Kompetenzbegriff adverbial zu nutzen, und dann auch noch als Komparativ, lässt Aspekte der Skalierbarkeit literarischer Kompetenz im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I anklingen. Überhaupt spielen Niveaustufen in der durch Ergebnisse der DESI-Studie unterstützen Argumentation hinsichtlich der Leistungsspezifik der Schulform Hauptschule im Sampling eine Rolle. Generelle An- <?page no="290"?> 290 Auf Ergebnisse der DESI-Studie zurückzugreifen, ist für die hier gewählten Ziele legitim, selbst wenn eine generelle Skepsis in Bezug auf die Objektivierbarkeit von apriorisch festgesetzten Skalierungen durch psychometrische Verfahren nicht nur dem Erkenntnisinteresse der hier vorgestellten Studie, sondern auch dem Methodenrepertoire, den Zielsetzungen sowie den Verallgemeinerungszielen zutiefst innewohnt. Um diesen latent inhärenten Widerspruch aufzulösen, wird später ein weiterer Gedanke einzuführen sein. Zunächst gilt es aber, auf die der DESI-Studie entlehnten Erkenntnisse einzugehen: In DESI werden für die Bereiche Hörverstehen, Textrekonstruktion (mittels eines sogenannten C-Tests erhoben), mündliche Sprachproduktion und sonstige Kompetenzbereiche (Leseverstehen, semikreatives Schreiben, Sprachbewusstheit, fachspezifische interkulturelle Kompetenz 31 ) Skalen definiert, die sich laut den Autoren der Studie am GER orientieren, aber auch Aspekte der Bildungsstandards sowie der länderspezifischen Bildungspläne merkungen, Gedanken und Folgerungen die sich daraus für das Modell literarischer Kompetenz ergeben, die zudem hinsichtlich der weiteren und durchaus notwendigen Entwicklung des Modells ergeben, können nicht vollständig an dieser Stelle geführt werden. Diese werden in Abschnitt 9.1 und besonders in 9.2 erneut aufgegriffen und abschließend diskutiert. 31 Das Verständnis von interkultureller Kompetenz in der DESI-Studie unterscheidet sich grundlegend von dem hier verwendeten: „Das im DESI-Projekt eingesetzte Verfahren zur Erfassung fachspezifischer interkultureller Kompetenz besteht aus zwei Situationsbeschreibungen von critical incidents mit insgesamt 42 Items. Die Schülerinnen und Schüler sollten mögliche Konflikte im Kontakt zwischen Deutschen und Engländern identifizieren, unterschiedliche Erklärungen und Reaktionsweisen einschätzen“ (DESI 2006: 20). Mit der für die Modellierung favorisierten Koordination von Innen- und Außenperspektive, mit dem sich einfühlenden Nachvollzug, mit Offenheit für (fremd-)kulturelle Konzepte, Werte, Normen, ethischen Fragen, mit der Verstehen wollenden Reaktion auf das dargestellte Fremde, mit Vermittlung zwischen Eigenem und Fremden hat der Testansatz in DESI nur wenig gemein, geht es doch vor allem um die Auswertung von Antwortmustern (vgl. Hesse/ Göbel 2007). Allein aus diesem Grund spielt der DESI- Ansatz innerhalb der Studie keine Rolle. Hinzukommt, dass das DESI-Konzept mit der hier angesetzten Konstruktivitätshypothese vom Lesen kollidiert (cf. 4.1.1 aber auch 4.1.2 und 4.3). In Abschnitt 4.1.2, der sich dem Verständnis vom Lesen innerhalb der DESI-Studie widmet, wurden interkulturelle Kompetenzen nicht gesondert erwähnt. Dass es hier in der Fußnote geschieht, liegt vor allem darin begründet, dass erneut auf die Studie eingegangen wird und erstmals interkulturelle Kompetenzen als Bereich in DESI angesprochen werden. Sich vom DESI-Konzept dezidiert zu distanzieren, dient auch der eigenen Legitimierung: Es wurde nicht flüchtig übersehen, sondern bewusst außen vor gelassen. <?page no="291"?> 291 einbeziehen (vgl. DESI 2006 32 ). In allen Bereichen zeigt sich für die Schulform Hauptschule, dass ein erheblicher prozentualer Anteil sogar unter der niedrigsten angesetzten Niveaustufe liegt (vgl. ebd.: 11-20): • Hörverstehen 3 Niveaustufen (A - C)  Etwa 70% der SuS liegen zum Ende des 9. Schuljahrs unter der niedrigsten Niveaustufe (vgl. ebd.: 12). • Textrekonstruktion 5 Niveaustufen (A - E)  Hier bleiben ca. 30% der SuS in der Hauptschule hinter dem Niveau A zurück (vgl. ebd.: 16). • Mündliche Sprachproduktion basiert auf GER: 7 Niveaustufen (unter A1, A1, A2, B1, B2, C1, C2)  In der Hauptschule in etwa 30% der SuS unter A1 (vgl. ebd.: 18). • Sonstige Kompetenzbereiche des Englischen Keine quantifizierenden Angaben zur Schulform. Die Autoren der DESI-Studie treffen für den Bereich Hörverstehen folgenden erklärenden Schluss, der hier exemplarisch für die Situation der Hauptschultestergebnisse herangezogen wird: Obwohl für die Hauptschulbildungsgänge eigens leichtere Aufgaben entwickelt worden waren, deckt das Kompetenzmodell den untersten Bereich des Leistungsspektrums leider nicht sehr differenziert ab. Die Leistungsanforderungen der Lehrpläne und die Erwartungen von Experten setzen offensichtlich noch zu hoch an. (DESI 2006: 12) Auch in der hier vorgestellten Studie ist festzustellen, dass die Gruppen der Schulform Hauptschule hinter den Leistungen der Lernenden der anderen Schulformen zurückbleiben. Es ist allerdings so, dass dies zwar im Vorfeld anzunehmen war - auch in Hinblick auf die Ergebnisse der DESI-Studie -, aber darauf verzichtet wurde, die Gruppen der Hauptschulen bei der Codierung anders zu behandeln als die restlichen Gruppen des Samplings. Lediglich bei der Unterrichtsplanung wurden im Vorfeld angesetzte Einschränkungen einbezogen, die im Zusammenhang mit den ausgewählten Texten und den Arbeitsschritten im Unterricht zu sehen sind. Der große Vorteil, der daraus für die deskriptive Annäherung an die Daten entsteht, ist der, dass nicht im Vorhinein eine Schwelle formuliert wurde, die nur a priori festgesetzte Leistungen erfasst, sondern dass dem Entfalten von Wissen und Können - und sei 32 Als Dokument online abrufbar: http: / / www.dipf.de/ de/ projekte/ pdf/ biqua/ desizentrale-befunde. Letzter Zugriff am 19.01.2014. <?page no="292"?> 292 es auch nur in Form einer basalen Schwundstufe - innerhalb der Unterrichtseinheiten Raum gelassen werden konnte. 7.2.4.1 H9 I (städtisch) Bei der ersten Gruppe der Schulform handelt es sich um eine neunte Hauptschulklasse einer Haupt- und Realschule eines hessischen Oberzentrums. Zum Zeitpunkt der Untersuchung wird die Schule von 301 Schülerinnen und Schülern besucht, die sich auf 15 Klassen verteilen 33 . Neben Englisch, das ab Jahrgangsstufe 5 unterrichtet wird und Französisch (ab Jahrgangsstufe 7; Realschulzweig), bietet die Schule herkunftssprachlichen Unterricht in Arabisch an. Zu den Besonderheiten im Schulprofil zählen u.a. Deutschförderung, SchuB-Klasse, Hilfen zur Berufsorientierung, Intensivklassen und kurse und eine Förderstufe. Die Klasse setzt sich aus 19 Schülerinnen (11) und Schülern (8) zusammen. Für lediglich zwei Lernende (1 Mädchen, 1 Junge) ist Deutsch die Muttersprache. Für die restlichen Lernenden der Klasse handelt es sich bei Deutsch um eine Zweitsprache. Die sehr erfahrene Lehrerin gibt im Fragebogen an, keine literarischen Texte im Unterricht einzusetzen. Nach spezifisch literarischen Lerninhalten gefragt, nennt sie „Texte nachspielen, eigene Meinung und Vermutungen zu Bildern äußern“. Die Frage, ob man bestimmte Lerninhalte und Lernziele mit literarischen Texten besser transportieren könne, verneint die Lehrerin. Als globales Lernziel der Unterrichtseinheit gibt sie Folgendes an: „einen Text verstehen und in die Rolle der Beteiligten schlüpfen (und die Geschichte eventuell weiterentwickeln)“ (LFB H9 I: 1-3). Aus den Antworten der Lehrkraft wird bereits ersichtlich, dass ihr die Arbeit mit literarischen Texten nicht vertraut ist. Dies bestätigte sich auch in der gemeinsamen Unterrichtsplanung. Die vom Untersuchungsleiter gemachten Vorschläge wurden von der Lehrerin sehr interessiert angenommen, schienen ihr aber nicht bekannt. Generell empfand sie die Auseinandersetzung mit einem literarischen Text in der Lerngruppe als ‚interessantes Experiment‘. Besonders auf die vorgeschlagene Weiterentwicklung des Textes reagierte sie, was das Gelingen betrifft, skeptisch, zeigte sich aber durchaus neugierig und bereit, die für sie neuen Handlungs- und Kommunikationsanlässe im Unterricht auszuprobieren. Als Textgrundlage wurde die Mini-Saga T HE C ANAL P ATH M URDERS gewählt (Hodgson 2007: 136). Das Besondere der Gattung liegt neben ihrem hohen Grad der Formalisierung (im Sinne der Begrenzung auf exakt fünfzig Wörter) vor allem darin begründet, dass es sich bei ihr um „eine vollwertige 33 Informationen bezüglich der schulformbezogenen Schülerzahlen, Klassenstärken, Mehrzügigkeit, Fremdsprachenunterricht sowie der SuS mit Migrationshintergrund liegen leider nicht vor. <?page no="293"?> 293 Kurz- oder besser Kürzestgeschichte mit Anfang, Mitte und Schluss“ handelt, „die gattungskonform ein kohärentes und bedeutungsvolles Ereignis erzählt“ (Proges 2007: 168). Gerade in der Verbindung von Kürze und transportiertem Inhalt liegen die Stärken dieser Gattung, die sie für den Einsatz im fremdsprachlichen Unterricht prädestinieren. Denn die formale Struktur zwingt „zur Komprimierung bei der Darstellung, zur Beschränkung auf das Wesentliche des Geschehens, das der Geschichte zugrunde liegt, und zum Verzicht auf Ausschmückungen“ (ebd.: 170). Dies wiederum bietet den Lernenden die Möglichkeit, selbst interpretierend und sinnstiftend tätig zu werden. Die Mini-Saga eignet sich für den Einsatz im Unterricht neben ihrer sprachlichen Zugänglichkeit (Parataxen, semantische Klarheit der Wörter) vor allem aufgrund des Außergewöhnlichen, das verhandelt wird und sich in den Motiven der Handelnden, den zeitlich-kausalen Zusammenhängen und den Perspektiven finden lässt. Erzählt wird von einer Frau, die nachts einen dunklen Kanalpfad entlang geht und schwere Schritte hinter sich hört. Als ein Mann grob ihren Ärmel greift, dreht sie sich angsterfüllt um. Der Mann hält eine Pistole in der Hand und sagt, sie habe diese fallen gelassen. Das Außergewöhnliche, das dem stark komprimierten Inhalt der Geschichte innewohnt, ist aber erst in den Blick zu bekommen, wenn man die Motivlagen der beiden Charaktere nachzeichnet. Hier stellt sich die Frage, wie der Leser, der zunächst empathisch mit der Frau mitfühlt, ihre Angst vor den Schritten und der groben Berührung am Ärmel präsentiert bekommt, auf die Wendung reagiert. Es sind die Charaktere, deren Innensichten zu konstruieren sind, die Aufschluss darüber geben können, warum die Frau eine Waffe bei sich trägt, oder warum der Mann sie ihr sorglos übergibt. Die erste Stunde der insgesamt vier Stunden umfassenden Arbeit mit dem literarischen Text konzentrierte sich zunächst auf formale Merkmale. Hier steht die Aktivierung des Vorwissens im Vordergrund, indem die Lernenden angehalten werden, verschiedene Genre zu benennen, sich mit unterschiedlichen kurzen literarischen Gattungen und deren Umfang sowie basalen Konstituenten von Erzählungen wie Anfang, Mitte, Schluss oder Handlungsveränderung, Schauplatz, Erzähler und Charaktere auseinanderzusetzten. Die inhaltliche Arbeit bezieht sich vor allem auf die Reaktionen der Lernenden auf Bilder, in denen zum einen der Schauplatz und zum anderen das Geschehen und die Charaktere dargestellt sind. Die Motivlagen werden in einer Gruppenarbeit fokussiert, in der vorgefertigten Eigenschaften dem Mann bzw. der Frau zugeordnet werden, die Schülerinnen und Schüler aber auch aufgefordert werden, Gefühle und Gedanken der Charaktere schriftlich festzuhalten. Den Abschluss der Einheit bildet ein szenischer Produktionsanlass, in dem die Lernenden eine Vorbzw. eine Nachgeschichte erarbeiten und aufführen. <?page no="294"?> 294 Task Stunde  Brainstorming: What kind of stories do you know?  Hinweise zur Portfolioarbeit in der Einheit  Merkmale einer Geschichte erarbeiten  Hypothesen über den Inhalt der Geschichte anhand von setting und characters bilden  Hörphase (Text von CD)  Setting thematisieren 1. Stunde  Merkmale Mini-Saga  Wiederholung setting und characters  Erneute Hörphase (Text von CD)  Beispielaufgaben zum Inhalt  Textteile in die richtige Reihenfolge bringen  Beispielaufgaben zu den Charakteren:  The man/ the woman feels…; the gun belongs to…; Who would you be more afraid of? 2. Stunde  Working on the characters  Gruppenarbeit:  Eigenschaften den Charakteren zuweisen  Gedanken der Charaktere formulieren  Präsentation  Szenischer Produktionsanlass: What could have happened before? What could happen after?  Präsentation 3. / 4. Stunde Tabelle 86: Überblick tasks H9 I In der Codierung der Transkripte sind am häufigsten Indikatoren des kommunikativen Handelns vertreten. Dabei gilt allerdings zu berücksichtigen, dass es sich um sehr basale Leistungen handelt, die im Vergleich zu den vorangegangen dargestellten Fallstudien abfallen. Besonders die Fertigkeit, in der Zielsprache zu sprechen (A1d), ist lediglich fragmentarisch realisiert. Es wird allerdings darauf verzichtet, Leistungen zu codieren, die ausschließlich in der - für diese Gruppe zutreffend - Zweitsprache Deutsch angeboten werden. Wird auf deutschsprachiges Handeln als Reparaturstrategie zurückgegriffen, kommt der A2e Indikator (SuS greifen auf zweitsprachliches Handeln zurück) zur Anwendung. Ebenfalls zu den exogenen Faktoren gehörig zeigen sich die verwendeten Codierungen, die sich auf das Leseverstehen beziehen (A1a: lesen den literarischen Text; A1b: lesen Teile des literarischen Textes laut vor; A3a: wenden unterschiedliche Lesemodi entsprechend der Aufgabenstellung an). Auszumachen sind daneben auch auf die Textproduktion verweisen- <?page no="295"?> 295 de Indikatoren (A1g: schreiben eigene Texte in der Zielsprache). Ergänzt werden diese durch endogene Faktoren, die sich dahingehend äußern, dass die Lernenden Handlungen und Motive der Charaktere kommentieren (B1b) und die Perspektiven der einzelnen Charaktere identifizieren (B2a) und koordinieren. Dass die Lernenden bei der Auseinandersetzung im Unterricht durchaus zu Interpretationsleistungen fähig sind, lässt sich an Indikatoren festmachen, in denen Leerstellen im literarischen Text gefüllt werden (B2c) und die Lernenden sich zum Textsinn äußern (A3g). Dass autogene Faktoren nur durch einen die Reflexion von literarischer Produktion konkretisierenden Indikator vertreten sind (C5a; nutzen die Eigenheiten von Genres für die Sinnstiftung), ist auf die Unterrichtsgestaltung zurückzuführen. Hiermit werden Ereignisse in der zweiten Stunde der Einheit codiert, die darauf schließen lassen, dass die Lernenden das zuvor Erarbeitete als Wissen in der Situation anwenden und für Prozesse der Sinnstiftung nutzen. Analyse und Auslegung der Datenlage deuten an, dass es sich bei allen Interpretationsleistungen der Lernenden zwar um sehr einfache Formen handelt, sich aber zeigt, dass der authentische Text nicht nur inhaltlich und auf die Textoberfläche bezogen verstanden wurde (Stichwort: text model), sondern die Lernenden durchaus in der Lage sind, das Außergewöhnliche im Spiel der Perspektiven zu erkennen und durch eigenes Hinzufügen auszugestalten (Stichwort: situation model of the text). Aus der Beobachtung sind also keine gravierenden und auf das hierarchieniedere und -höhere Leseverstehen zurückzuführenden Verständnisschwierigkeiten abzuleiten. Anders verhält es sich hingegen bei der nun vorzustellenden Lerngruppe. 7.2.4.2 H9 II (ländlich) Bei der zweiten Gruppe der Schulform handelt es sich um eine neunte Hauptschulklasse einer kooperativen Gesamtschule eines hessischen Grundzentrums in der Nähe von Limburg. Zum Zeitpunkt der Untersuchung wird die Schule von 670 Schülerinnen und Schülern besucht, die sich auf 30 Klassen verteilen 34 . Die Schule verfügt über eine Förderstufe, wobei der gymnasiale Zweig bereits aber der Jahrgangstufe 5 separiert organisiert ist. Zu den Besonderheiten im Schulprogramm zählen u.a. der schulformübergreifende Wahlpflichtbereich, bilingualer Unterricht (Englisch) im Gymnasialzweig ab Klasse 7 und Berufsschultage für den Hauptschulzweig. Die sehr erfahrene Lehrerin unterrichtet die Klasse seit der achten Jahrgangsstufe und gab in Gesprächen 34 Informationen bezüglich der schulformbezogenen Schülerzahlen, Klassenstärken, Mehrzügigkeit, Fremdsprachenunterricht sowie der SuS mit Migrationshintergrund liegen leider nicht vor. <?page no="296"?> 296 an, mehrmals im Schuljahr literarische Texte einzusetzen (seltener im Hauptschulzweig), selbst eine Vorliebe für englische Lyrik zu haben und beschreibt ihre Erfahrungen damit im Unterricht als abhängig von der jeweiligen Lerngruppe. Im Gegensatz zu den anderen Gruppen kam es hier leider nicht zu einem Rücklauf des Lehrerfragebogens. In den Vorgesprächen und bei der Planung zeigte sich aber ein ganz ähnliches Bild wie bei der anderen Gruppe der Schulform: Die Lehrerin nahm die gemachten Vorschläge sehr interessiert auf, gab Hinweise auf das zu erwartende Schülerverhalten in den geplanten Situationen, schien aber mit den vorgeschlagenen Methodik nicht wirklich vertraut. Als Textgrundlage für die Arbeit im Unterricht wurde das Gedicht B ESTLOOKING G IRL des englischen Lyrikers Roger McGough gewählt (1991: 75). Neben der sprachlichen Zugänglichkeit ist das Gedicht vor allem deshalb für die Studie als Textgrundlage interessant, da ganz unterschiedliche Perspektiven auf das im Text Verhandelte imaginiert werden können, anhand derer es das vom Bestlooking Girl preis Gegebene zu gewichten und zu interpretieren gilt. Die sprachliche Struktur zeigt sich dabei als nicht zu komplex für die Lerngruppe und durch den wiederkehrenden Aufbau der Zeilen, mit je der zweiten eines Paares dreisilbig verfasst, lässt sich der Grad der Formalisierung gerade dazu nutzen, die Schülerinnen und Schüler auf eines der Merkmale der Gattung aufmerksam zu machen. Bevor auf die Merkmale und auf daraus in der Einheit resultierende Missverständnisse eingegangen wird, ist der Inhalt zu erwähnen, durch den sich das Gedicht für die Auseinandersetzung im Unterricht eignet, werden doch lebensweltliche Erfahrungen der zwischen vierzehn und fünfzehn Jahre alten Lernenden angesprochen. Verhandelt werden Aspekte, die die Suche nach der eigenen Persönlichkeit thematisieren, das Verhältnis zwischen Individualität und Gemeinschaft, als Form der Abgrenzung und Zugehörigkeit, sowie Themenbereiche der Selbstdarstellung und Sex mit Minderjährigen. Letzteres ist vor allem dem logischen Sprung des auf den Freund bezogenen Ausdrucks „He thinks I’m sixteen so I let him“ (McGough 1991: 75) der vorletzten Zeile zu entnehmen, lässt sich diese Formulierung doch im Kontext sowohl auf das Vorgeben des vermeintlichen Alters des Lyrischen-Ichs als auch auf das Zulassen von sexuellen Handlungen beziehen. Bereits die in der ersten Zeile getroffene Aussage „I’m the best looking girl in our year. It’s a fact“ (ebd.), die als symptomatisch für die Art und Weise der Selbstdarstellung des Lyrischen-Ichs, des Bestlooking Girl gelten kann, lädt dazu ein, dem Dargebotenen kritisch zu begegnen, es auf Widersprüchlichkeit und Anmaßung hin zu untersuchen. Es ist somit das gegebene Selbstbild, das im Unterricht im zentralen Fokus der Auseinandersetzung stand, das es aus der Perspektive der imaginierten Mitschüler, über die das Lyrische-Ich so <?page no="297"?> 297 wenig Gutes zu sagen hat, zu beleuchten galt. Im Überblick sind die tasks der insgesamt sechs Stunden umfassenden Einheit wie folgt zu beschreiben: Task Stunde  Einstieg: working with the poem Bestlooking Girl  Erwartungen an das Bestlooking Girl formulieren  Leseauftrag: Strophenform rekonstruieren  Präsentation  Reaktionen auf das Bestlooking Girl formulieren (Steckbrief) 1. Stunde  (Abweichen vom Plan) Rekonstruieren der Form durch Silbenstruktur  Zeilenweises lautes Lesen  Produktionsanlass: Steckbrief Bestlooking Girl  Präsentation Steckbrief Bestlooking Girl  Textproduktion/ Gruppenarbeit I: Perspektive des Bestlooking Girl übernehmen  There is a contest at the Bestlooking Gilr‘s school. She wants to be the most popular girl. So she writes about herself in the School Paper.  Präsentation 2. / 3. Stunde  Erneute Phase Gruppenarbeit  Präsentation  Textproduktion/ Gruppenarbeit II: Perspektiven von Mitschülern imaginieren (what could they think about her? ) Jack: the Bestlooking Girl didn’t want to go out with him Emma: she is her best friend John: he is in love with the bestlooking girl Brittany: she doesn’t like the bestlookgin girl  Präsentation 4. / 5. Stunde  Vortrag poem  Hypothesen bilden: What could happen to the girl after school? Will she have friends? Will she have a good job? Will she have a family?  Textproduktion: Gedicht um zwei Strophen erweitern 6. Stunde Tabelle 87: Überblick tasks H9 II Es wurde bereits angemerkt, dass sich die Fallstudie vor allem durch Engpässe hinsichtlich der Verstehensleistungen der Lernenden von allen anderen unterscheidet. Diese zu thematisieren und dabei auch auf die Besonderheiten bei der Codierung einzugehen, soll nun im Vordergrund stehen. Den ersten Eng- <?page no="298"?> 298 pass bei der Arbeit mit dem Text stellt der von der Lehrerin gewählte und nicht gemeinsam geplante Einstieg mit einem mündlich vorgetragenen achtzeiligen Reim dar. Dabei wurden Reime von den Lernenden als Merkmale für die Arbeit mit Gedichten genannt, was dazu führte, dass die Schülerinnen und Schüler den ersten Handlungsanlass der Einheit, nämlich das als Fließtext präsentierte Gedicht in seine durch Linien auf einem Arbeitsblatt vorgegebene Form zu überführen, insofern missverstanden, als sie versuchten, im Gedicht nicht vorhandene Reime eigenständig zu finden. Die Fallstudie ist im Sampling vor allem deshalb von besonderem Interesse, da hier Engpässe im Leseverstehen auszumachen sind, die so in keiner der anderen teilnehmenden Gruppen vorzufinden sind. Der A1a Indikator des kommunikativen Handelns (lesen den literarischen Text) wird in allen anderen Fallstudien immer dann als Codierung in den Transkripten verwendet, wenn im Unterrichtsgeschehen der Text gelesen wird und sich anschließend Handlungs- und Kommunikationsanlässe zeigen, die darauf schließen lassen, dass das Gelesene von den Lernenden verstanden wurde bzw. dass der Inhalt des Gelesenen für die Lernenden mental zugänglich ist. Innerhalb der Einheit ist dieses In-Kontakt-Treten mit dem Text im ersten Handlungsanlass gegeben, nämlich in der Aufgabenstellung, die Strophenform aus dem Fließtext zu rekonstruieren. Da sich hier aber zeigt, dass es den Schülerinnen und Schülern weder gelingt, die Struktur des Gedichts sprachlich noch inhaltlich zu rekonstruieren, darf beim Codieren das Lesen eigentlich keine Rolle spielen. Um dies zu verdeutlichen, muss erneut darauf hingewiesen werden, dass der Indikator nur für zu beobachtende Ereignisse im Datensatz verwendet wird. Allerdings wird die zu beobachtende Leistung, nämlich den literarischen Text zu lesen, von einer Vielzahl von nicht zu beobachtenden Prozessebenen begleitet, die im Modell von Burwitz-Melzer (2007a: 140) im Arbeitsschritt „Sinnkonstitution I“ den kognitiven und affektiven Kompetenzen zugeordnet und als „automatisierte, hierarchieniedrige und strategisch-zielbezogene, hierarchiehöhere Leseprozesse“ (ebd.) umschrieben werden. Gerade das hierarchieniedere Leseverstehen steht dabei insbesondere mit Kohäsions- und Kohärenzbildungsprozessen in Verbindung (cf. 4.1.1), müssen es die Lernenden doch leisten, zunächst einmal das Wortmaterial des Textes visuell und phonologisch zu rekodieren und das Erkennen von Wort- und Satzbedeutung zu bewältigen. Erst darauf kann erfolgen, dass Elemente einer (linguistischen und textuellen) Ebene zu Sinneinheiten und -abschnitten verknüpft werden, womit auch einhergeht, dass die Lesenden anaphorische und kataphorische Beziehungen innerhalb des Textes selbstständig erkennen und auch herstellen. Kommt es somit zu Engpässen bereits in den hierarchieniedrigeren Leseprozessen, so können hierarchiehöhere nicht erfolgreich bewältigt werden. Dies gilt dann auch für das Erkennen und die verstehende Auseinanderset- <?page no="299"?> 299 zung mit dem Gelesenen, das auf eine Konstruktion von zeitlichen und kausalen Zusammenhängen (in der auch grammatische und semantische eine Rolle spielen) angewiesen ist, die den Zugang zu den Perspektiven von Erzähler und Handelnden, zu Motiven und zum kulturellen Kontext der Handlungen überhaupt erst ermöglichen. Will also ein Kompetenzmodell für den fremdsprachlichen Literaturunterricht als hilfestellendes und auch unterrichtspraktisches Werkzeug verstanden werden, das dazu genutzt werden kann, Lernfortschritt zu beschreiben, Arbeitsschritte zu operationalisieren und auch als deskriptives Mittel zu Diagnostik von Förderbedarf einzusetzen ist, dann sollten hierarchieniedere Leseprozesse eingehender als im Modell von Burwitz-Melzer (2007a, b) geschehen beschrieben werden. Es sind daher die hier festgestellten Kohäsions- und Kohärenzbildungsprozesse, die in Hinblick auf die anvisierte Modellierung später erneut aufgegriffen werden (siehe 8.2) und auch in der noch folgenden Auseinandersetzung mit den verwendeten Beispielaufgaben eine Rolle spielen werden (siehe 7.3.3). Bezogen auf die Unterrichtseinheit bedeuten die festgestellten Engpässe beim Lesen, dass auf eine Codierung mit dem Leseverstehens-Indikator weitgehend verzichtet wird, was als Entscheidung vor allem damit zu begründen ist, dass die für die restlichen Fallstudien geltenden Codierregeln nicht gebrochen werden sollen. Widersprüchlich mag erscheinen, dass im Datensatz Situationen auszumachen sind, in denen die Lernenden unterschiedliche Lesemodi entsprechend der Aufgabenstellung anwenden (A3a). Aufzulösen ist dies damit, dass im Verlauf der Auseinandersetzung - also in Hinsicht auf die Handlungs- und Kommunikationsanlässe, aber auch auf die lenkenden und entlastenden Impulse der Lehrkraft - als verstehen zu wertende Leseleistungen zu erkennen sind. Und zwar insofern, dass sich die aus der Gruppenarbeit entstehenden Produkte auf den Ausgangstext beziehen, somit rückzuschließen ist, dass die Lernenden auf den Inhalt des literarischen Textes zurückgreifen bzw. Lesemodi orientierend und selektiv bei der in der zweiten Stunde erneut aufgegriffenen Rekonstruktion der Strophenform anwenden. Zurückzuführen ist dies wiederum weniger auf individuelle Leseleistungen als auf die sozial geteilte Auseinandersetzung mit dem literarischen Text im Unterricht, die in Verbindung mit der didaktisch-methodischen Lenkung durch die Lehrkraft als engpassausgleichend zu sehen ist. Allerdings sind diesbezügliche Leistungen, die darauf schließen lassen, dass Handlungen und Motive (B1b) sowie Einstellungen und Gefühle (B1c) des lyrischen-Ichs und der imaginierten Charaktere nachvollziehend kommentiert werden, dass deren Perspektiven als Erweiterung des im Text Enthaltenen identifiziert und koordiniert werden (B2b), oder auch - und hier zeigt sich ein massiver Unterschied zu den vorangegangenen Fallstudien, fällt doch der Indikator kaum ins Gewicht -, dass die Ler- <?page no="300"?> 300 nenden sich zum Textsinn äußern (A3g), längst nicht bei allen Schülerinnen und Schülern der Gruppe festzustellen. Sowohl bei der Einzelarbeit zum Steckbrief des Mädchens als auch in der Gruppenarbeit zeigt sich, dass etliche der Jungen (und im Falle der Gruppenarbeit eine der zwei Jungengruppen) gar nicht auf den Text Bezug zu nehmen scheinen, sondern irgendein Mädchen beschreiben. Eine interpretierende und sinnstiftende Konstruktionsleistung bei der Auseinandersetzung mit dem Gelesenen im Unterricht kann aber nur dann zustande kommen, wenn nicht nur der Text gelesen wurde (Stichwort: text model), sondern es den Lernenden auch gelingt, ein Verständnis des Inhalts, der Charaktere (hier: des Lyrischen-Ichs) und der verhandelten Konflikte aufzubauen. Für das von der betreffenden Schülergruppe im Unterricht Geäußerte ist dies nicht zutreffend. Zurückführen lässt sich dieser Umstand auf die Gestaltung der Phase im Unterricht, hätten doch präzise und wiederholt formulierte Arbeitsanweisungen sowie situationsadäquate Hilfestellung durch die Lehrkraft für eben diese Schülergruppen der Problematik entgegen wirken können. Bei der hier vorgestellten Fallstudie handelt es sich um die einzige im Sample, in der Engpässe, die das Leseverstehen betreffen, so frappierend festzustellen sind. Charakterisieren lassen sich diese sowohl entlang des hierarchieniederen als auch des hierarchiehöheren Leseverstehens. Zu beobachten ist nämlich auch, dass autogene Faktoren wie beispielsweise die Reflexion von Handlungen und Motiven eigentlich gar keine Rolle spielen, denn Indikatoren, die damit in Verbindung stehende Ereignisse beschreiben, können eben nur für Leistungen stehen, die den im Unterricht verhandelten literarischen Text als Ausgangspunkt nutzen. Es ist daher zu betonen: Sprechen und Schreiben im fremdsprachlichen Literaturunterricht beinhalt immer auch ein über etwas Sprechen und Schreiben. Bezieht sich dies nicht auf den literarischen Text, so sind die Leistungen innerhalb der Handlungs- und Kommunikationsanlässe auch nicht der aktiven Teilhabe am Prozess der Sinnstiftung zuzuordnen. Dies bedeutet aber auch, dass durch die codierungsseitigen Einschränkungen hinsichtlich der Modellkomponenten Missverstehensleistungen und das Leseverstehen betreffende Engpässe in die Codierungsanalyse einzubinden sind und so (individueller) Förderbedarf auf Ebene der Teilleistungen zu identifizieren ist. Und für das hier Ausgemachte lässt sich retrospektiv folgern, dass ein gezieltes Aufgreifen der verhandelten Themen, Inhalte und Konflikte an zentralen Schnittstellen der Folgestunden - beispielsweise die Vorstellung des Bestlooking Girl in der fiktiven Schülerzeitung oder die Formulierung der imaginierten Perspektiven auf das Bestlooking Girl - die verstehende Auseinandersetzung mit dem Gedicht befördert hätte. <?page no="301"?> 301 7.3 Maximierung von Differenz Die auf die Fallstudie G10 I als Ankerbeispiel folgende Darstellung des Samplings im Überblick dient vor allem dem Zweck, trotz der Fülle an Daten und Interpretationen, die auch eine auf acht Fallstudien begrenzte qualitative Studie hervorbringt, Ergebnisse so zu komprimieren, dass Gemeinsamkeiten der Codierung aufgezeigt werden können. Wichtig ist es, in der Rückschau erneut zu betonen, dass es sich dabei um einen Versuch handelt, Komplexität, die sich auf dem beforschten Feld - besser: Feldern - zeigt, so zu übersetzten, dass dem Ziel der anvisierten Modellierung zugearbeitet werden kann. Es liegt auf der Hand, dass damit Typisches herausgestellt wird, dass ein Überblick eine Vorauswahl darstellt und dass somit nicht alles Beachtung finden kann, was die Fallstudien im Einzelnen unterscheidet. Begegnet wurde diesen Einschränkungen mit dem Ansatz, den Zusammenhang zwischen Inhalt (Text), Unterrichtsplanung (tasks) und verstehendem Verhalten darzustellen und diesen auf das sich in den konkreten Situationen entfaltende spezifische Verhalten der Lernenden zu beziehen, um die Verbindung von Wissen und Können beschreibend und interpretierend zugänglich zu machen. So sind es vor allem die Beispiele aus Unterrichtsgeschehen und Interviews, die neben den zusammenfassenden Bemerkungen über den Verlauf der Einheit sowohl dazu dienen, Typisches - und zwar im Sinne von sich wiederholend zeigenden Mustern - herauszustellen und damit Indikatoren in ihrer Verwendung zu sättigen, als auch Spezifisches - hier im Sinne der Eigenheiten der jeweiligen Situation - aufzudecken und somit der Maximierung von Differenz zuzuarbeiten. Unterschiede wurden dabei bislang eher auf einer Mikroebene betrachtet, indem fallstudienintern darauf fokussiert wurde, Schülerleistungen differenziert darzustellen und auszumachende Verschiedenheiten vermittels der verwendeten Indikatoren unter Bezug auf das projizierte Wissen und Können zu beschreiben. Diese Perspektive soll nun durch eine Makroebene ergänzt werden, indem Unterschiede zwischen den einzelnen Fallstudien in den Blick gerückt werden. Gewählt wird dafür ein gruppierendes Vorgehen, das auf einer höheren Abstraktionsstufe darauf zielt, Unterschiede anhand der Bandbreite der vorgenommenen Codierungen zu beschreiben. Gruppen zu bilden, berührt ganz klar die Frage nach der Skalierbarkeit literarischer Kompetenz und stellt hier einen ersten anbahnenden Schritt hin zu einer empirisch begründeten Antwort dar, die im Fazit dieser Arbeit eingehender erörtert werden wird. Unterschiede zwischen den Fallstudien sind aber nicht nur auf die Bandbreite der Codierung zu beziehen, sondern stehen auch in direktem Zusammenhang mit den Indikatoren. Damit ist gemeint, dass Maximierung von Differenz im Sinne der Modellierung auch beinhaltet, dass es spezifische Situationen gibt, die eher selten im Datenmaterial auszumachen sind. Diese <?page no="302"?> 302 seltenen Fälle, in denen Indikatoren Verwendung finden, die bis jetzt nicht anhand von Beispielen veranschaulicht wurden, stehen dann in Abschnitt 7.3.2 im Vordergrund. 7.3.1 Unterschiede zwischen den Fallstudien Ein wenig widersprüchlich ist das nun zu unternehmende Vorgehen insofern, als hier Ungleiches gleichgemacht werden soll. Damit ist gemeint, dass sich Unterricht schon aufgrund der von außen nicht zu beeinflussenden Faktoren immer unterscheidet, dass sich nämlich die soziale Interaktion entlang der Potentiale der gemeinschaftlich Handelnden entfaltet und dass insbesondere im fremdsprachlichen Literaturunterricht Lehrende und Lernende ganz unterschiedliche Vorkenntnisse, Vorerfahrungen und Einstellungen mit- und einbringen, die die sich entwickelnde Situation maßgeblich steuern. Ausgleichend wirkt dabei innerhalb der Studie nur die gemeinsame Unterrichtsplanung mit den Lehrkräften, mit der darauf gezielt wird, Handlungs-, Kommunikations- und Produktionsanlässe auf gleichbleibende Faktoren zu beziehen. Anzusprechen sind diese Prämissen vor allem deshalb, da sich aus der Gruppierung der Fallstudien (vgl. Tab. 88) ergibt, dass die graduelle Stufung auszumachender Differenz die Schulformen des Sample reproduziert. Dass dieses Muster wiederzufinden ist, ist schon aufgrund der Auswahl der Gruppen nicht verwunderlich. Es soll allerdings nicht der Eindruck erweckt werden, es handele sich dabei um eine bewiesene empirische Regelmäßigkeit, ist doch dafür das Sample mit nur acht Fallstudien nicht breit genug aufgestellt. Das, was geleistet werden soll, ist einzig und allein eine heuristische Dimensionierung auszumachender Differenz, die sich sowohl an den Verwendung findenden Indikatoren innerhalb der Fallstudie ausrichtet als auch Aspekte der Skalierbarkeit von literarischer Kompetenz berücksichtigt und für die Gruppierung der Differenzmerkmale die im GER erwähnte Grobskalierung (absteigend) kompetent, selbstständig und elementar zu nutzen (vgl. Europarat 2001: 34). <?page no="303"?> 303 Gruppierte Differenzmerkmale K O M P E T E N T S E L B S T S T Ä N D I G E L E M E N T A R Teilnehmende Gruppen G10 I G10 II E10 II R10 I E10 I R10 II H9 I H9 II Interaktion der Wirkfaktoren Exogen  Kommunikatives Handeln  Fremdsprachliches System  Handlung und Produktion Endogen  Konflikte, Motive Handlungen  Perspektiven, Leerstellen  Kultureller Kontext Autogen  Umgang mit ästhetischen Wirkfaktoren  Personale Reaktionen im kulturellen Kontext  Reflexion von Handlungen und Motiven  Reflexion von Sprache  Reflexion von literarischer Produktion Exogen  Kommunikatives Handeln  Fremdsprachliches System  Handlung und Produktion Endogen  Konflikte, Motive Handlungen  Perspektiven, Leerstellen  [Kultureller Kontext] Autogen  Umgang mit ästhetischen Wirkfaktoren  Personale Reaktionen im kulturellen Kontext  Reflexion von Handlungen und Motiven  Reflexion von Sprache*  Reflexion von literarischer Produktion Exogen  Kommunikatives Handeln  Fremdsprachliches System  Handlung und Produktion Endogen  Konflikte, Motive Handlungen  Perspektiven, Leerstellen Autogen  Reflexion von Handlungen und Motiven  Reflexion von literarischer Produktion Freiheitsgrad der Produktions- und Handlungsanlässe frei angeleitet gelenkt Tabelle 88: Unterschiede zwischen den Fallstudien entlang der Bandbreite der vorgenommenen Codierung <?page no="304"?> 304 Mit Blick auf die Gruppierung fällt auf, dass anhand der Unterschiede zwischen den Fallstudien eine Stufung auszumachen ist. Eine kompetente literarische Auseinandersetzung lässt sich den zwei gymnasialen Fallstudien (G10 I und II) sowie einer der Schulform Integrierte Gesamtschule (E10 II) zuweisen, wobei sich G10 I von den anderen absetzt und am äußeren Spektrum der Stufung anzuordnen ist. Damit soll angedeutet werden, dass es sich bei den auszumachenden Leistungen der Lernenden dieser Gruppe um besonders herausstechende handelt, die sich von den anderen beiden, die in der Mitte der Stufung angesiedelt sind, unterscheidet. Bezogen auf die Niveauanforderungen in den Bildungsstandards ist damit das spezifische Verhalten innerhalb der Fallstudie G10 I als Maximalleistung zu verstehen, die im Vergleich des Samples das obere Leistungsniveau markieren und sich darauf beziehen, „was die besten Schülerinnen und Schüler der jeweiligen Jahrgangsstufe können“(KMK 2005b: 9). Die in der Mitte positionierten würden demnach mit Regelleistungen korrelieren, „die im ‚Durchschnitt, ‚in der Regel‘ von den Schülerinnen und Schülern“ der Stufung erreicht werden (ebd.). Minimalleistungen sind nur für die Stufungen selbstständig und elementar auszumachen, die den qualitativen Unterschied dahingehend beschreiben, dass es sich um spezifisches Verhalten handelt, das eher dem unteren Bereich der jeweiligen Stufung zuzuordnen ist 35 . Neben dieser Einordnung der Gruppen innerhalb einer Stufung lassen sich Unterschiede vor allem entlang der Bandbreite der verwendeten Indikatoren beschreiben. In Tab. 88 werden dafür die Wirkfaktoren samt der sie differenzierter beschreibenden Überbegriffe verwendet, um die Interaktion der Wirkfaktoren ansatzweise abzubilden. Eine kompetente Auseinandersetzung innerhalb der teilnehmenden Gruppe zeichnet sich vornehmlich dadurch aus, dass sich eine hohe Varianz aller Indikatoren in den Leistungen der Lernenden wiederfinden lässt. Diese Leistungen sind entlang der Wirkfaktoren wie folgt zu beschreiben: Bezogen auf ihre Funktion (cf. 7.1.2) zeigen sich eine Vielzahl von Indikatoren, die das kommunikative Handeln, die Auseinandersetzung mit dem fremdsprachlichen System sowie Aspekte der Handlung und Produktion konkretisieren. Gleiches gilt für die die endogenen Faktoren repräsentierenden Indikatoren, die sich auf die Auseinandersetzung der Lernenden mit Konflikten, Handlungen und Motiven, mit Perspektiven und Leerstellen sowie mit dem kulturellen Kontext beziehen. Die einzige Einschränkung bezieht sich auf autogene Faktoren, denn es zeigt sich zwar in der Stufung eine hohe 35 Hier über Mindestleistungen nachzudenken, setzt allerdings voraus, dass „ein definiertes Minimum an Kompetenzen“ festzusetzen wäre (KMK 2005b: 9), dem hier schon aufgrund der Zielsetzung der Studie nicht weiter nachgegangen werden soll. <?page no="305"?> 305 Bandbreite von Indikatoren, die sich auf den Umgang mit ästhetischen Wirkfaktoren, auf personale Reaktionen im kulturellen Kontext, sowie auf die Reflexion von Handlungen und Motiven wie von literarischer Produktion beziehen, die Reflexion von Sprache ist allerdings nicht gleichermaßen codierungsseitig breit aufgestellt, was in Tab. 88 dadurch repräsentiert wird, dass dieser die Funktion beschreibende Überbegriff in einer kleineren Schriftgröße gesetzt ist. Die selbstständige literarische Auseinandersetzung lässt sich im Unterschied zu einer kompetenten dahingehend beschreiben, dass sich im Bereich der exogenen Faktoren weitaus weniger Codierungen des kommunikativen Handelns zeigen - auch hier mittels der kleineren Schriftgröße visualisiert -, denen zudem Einschränkungen hinsichtlich der fremdsprachlichen Ausdrucksfähigkeit zu bescheinigen sind. Auch die Bandbreite der zur unterrichtlichen Lenkung zählenden Indikatoren fällt im Vergleich zur kompetenten Stufung geringer aus. Unterschiede zeigen sich auch in den Indikatoren des fremdsprachlichen Systems, denn hier ist ein vermehrter Rückgriff der Lernenden auf muttersprachliches Handeln festzustellen. Dass sich in den Codierungen zudem Bezüge auf den kulturellen Kontext weniger häufig zeigen, ist nicht allein auf die Stufung zurückzuführen. Dies steht vielmehr mit dem kulturellen Kontext des Textthemas in Verbindung, und ist daher in runde Klammern gesetzt, denn bis auf die Fallstudie R10 I fanden Texte Verwendung, die nur wenig Anlässe für eine interkulturell ausgerichtete Auseinandersetzung bieten konnten. Innerhalb der autogenen Faktoren sind es vor allem Unterschiede, die sich auf den Umgang mit ästhetischen Wirkfaktoren und auf personale Reaktionen im kulturellen Kontext beziehen. Für letztere gilt, dass auch hier das Textthema als Grund angeführt werden kann. Für erstere, die sich vor allem in den Interviews mit den Lernenden zeigen, ist hingegen ein qualitativer Unterschied zwischen den beiden Stufungen festzustellen. Besonders die Lernenden der Fallstudie R10 II boten im Vergleich zur kompetenten Stufung weitaus weniger Einsichtnahmen in die eigenen Reaktionen auf das Gelesene. Ausgleichend - im Sinne einer hohen Bandbreite der Indikatoren des Bereichs - wirken innerhalb der Stufung die Gruppen R10 I und E10 I, die besonders viele Leistungen der Schülerinnen und Schüler enthalten, die sich der Reflexion von Handlungen und Motiven sowie - besonders im Falle der Gruppe E10 I im Interview ersichtlich - der Reflexion von literarischer Produktion zuordnen lassen. Einen Sonderfall stellt dabei die Reflexion von Sprache dar, die in Tab. 88 zusätzlich durch ein Sternchen (*) gekennzeichnet ist, sind es doch Indikatoren dieses Bereichs, die sich ausschließlich in der Fallstudie R10 I im Datensatz Interview zeigen und auch nur deshalb Eingang in den Indikatorenkatalog finden konnten und somit <?page no="306"?> 306 eine besondere Rolle hinsichtlich der Maximierung von Differenz einnehmen (hierauf wird in den noch folgenden Abschnitten ausführlicher eingegangen). Die nur noch elementare literarische Auseinandersetzung lässt sich dahingehend charakterisieren, dass sich - mittels einer Graustufe dargestellt - fremdsprachliches kommunikatives Handeln inhalts- und ausdrucksseitig nur noch in rudimentären Formen feststellen lässt (vermehrte Kommunikationsabbrüche, Einwortsätze, formale Fehler). Hier zeigt sich dann im Bereich des fremdsprachlichen Systems fast ausschließlich der Rückgriff der Lernenden auf zweitbzw. muttersprachliches Handeln. Auch hinsichtlich der unterrichtlichen Lenkung sind nur einige wenige Indikatoren auszumachen. Der Umgang der Lernenden mit Konflikten, Motiven und Handlungen sowie Perspektiven und Leerstellen ist im Vergleich zu den anderen Stufungen auch nur als minimal zu beschreiben, denn zumeist bleiben bei der Auseinandersetzung Motive für Handlungen außen vor, auch zeigen die Lernenden im Vergleich zu den Gruppen der anderen Stufungen weitaus geringer ausgeprägt, dass sie fähig sind, unterschiedliche Perspektiven zu koordinieren oder Leerstellen durch eigene Erfahrungen auszugestalten. Allenfalls das Dasein einer Randerscheinung ist dann den autogenen Faktoren zu bescheinigen, die sich lediglich anhand der Bereiche der Reflexion von Handlungen und Motiven sowie der literarischen Produktion konkretisieren und auch nur durch einige wenige Indikatoren in Ausnahmefällen innerhalb der Datensätze Unterrichtsgeschehen und Interview vertreten sind, hier sind es Leistungen der Lernenden, die sich auf das Bewerten von Handlungen und sich (eingeschränkt) auf eine Auseinandersetzung mit dem Plot beziehen. Dass gerade Unterschiede zwischen den Stufungen besonders an der auffälligen Graduierung (Schriftgröße/ Graustufe) der Indikatoren der unterrichtlichen Lenkung auszumachen sind, ist in Zusammenhang mit dem in der Gruppierung zusätzlich angeführten Merkmal des Freiheitsgrads der Produktions- und Handlungsanlässe zu sehen. Während sich in der kompetenten Stufung Indikatoren des unterrichtlichen Handelns vor allem deshalb in einer hohen Bandbreite zeigen, da die Impulse der Lehrkräfte als tendenziell frei zu beschreiben sind, den Lernenden vor allem in offenen Aufgabenstellungen und -formaten problemlösender Handlungsspielraum geboten wird, sind sie in der Stufung selbstständig schon als angeleitet zu charakterisieren. Die Unterscheidung zwischen frei und angeleitet beinhaltet auch Aspekte der Reziprozität der unterrichtlichen Lenkung, denn wohingegen die Lernenden der kompetenten Stufung selbst zu Impulsgebern der unterrichtlichen Auseinandersetzung und damit auch der unterrichtlichen Lenkung durch ihre Beiträge werden, sind die Lernenden der selbstständigen Stufung stärker auf Impulse durch die Lehrkraft angewiesen, sodass sich das Unterrichtsgeschehen in höherem Maße an der im Vorfeld geplanten Phasierung ausrichtet. Gänzlich <?page no="307"?> 307 abhängig von der methodisch-didaktischen Führung durch die Lehrkraft sind die Lernenden der Stufung elementar, zeigt sich hier doch, dass einzelne Impulse wiederholt werden müssen, dass sich eine als elementar zu fassende verstehende Auseinandersetzung nur durch eine gelenkte Beschäftigung mit den literarischen Inhalten herbeiführen lässt 36 . Es ist hier erneut wichtig zu betonen, dass es sich bei der vorgenommenen Gruppierung lediglich um einen im Datenmaterial auszumachenden Trend handelt. Tatsächliche Vergleichbarkeit kann damit nicht erlangt werden. Zu unterschiedlich sind dafür schon die verwendeten Texte, wobei dies besonders bei der Entfaltung von Indikatoren, die dem kulturellen Kontext und den personalen Reaktionen im kulturellen Kontext zuzuordnen sind, ins Gewicht fällt. Zwar werden Aspekte der Skalierbarkeit literarischer Kompetenz mit der Gruppierung berührt, es geht aber vordergründig um die Einordnung von auszumachenden Unterschieden. Will man reliable Vergleichsmomente schaffen - so viel sei an dieser Stelle schon erwähnt, bevor darauf im Fazit der Arbeit vertiefend eingegangen werden soll -, muss man Differenz nicht nur minimieren, sondern reduzieren. Damit ist gemeint - und deshalb wird hier auch nur darauf verwiesen, kann die Studie in ihren Anlagen diesen nachfolgenden Schritt doch nicht leisten -, dass, Vergleichsmomente dadurch zu gestalten sind, indem man versucht, diejenigen Variablen zu kontrollieren, die sich nicht gänzlich einer Kontrolle entziehen. Dies betrifft dann vor allem die Texte. Geleistet werden kann dieser Schritt allerdings erst, nachdem ein Kompetenzmodell im Sinne einer datengestützten Generierung via Mini- und Maximierung von Differenz und entlang der Schritte des offenen, axialen und selektiven Codierens (wobei letzterer noch ausstehen), entwickelt wurde. Denn erst dadurch, dass in Fallstudien die gleichen Texte, und dann auch eine abgestimmte Unterrichtsplanung, die zwischen der Graduierung frei, angeleitet und gelenkt vermittelt, Verwendung finden, werden Schülerleistungen miteinander vergleichbar. Dem gegenüber steht hier der Vergleich von Fallstudien untereinander, und zwar mit dem Fokus darauf, Differenz im Sample zu maximieren. 36 In Verbindung mit angeleiteten und gelenkten Freiheitsgraden sind auch die verwendeten Beispielaufgaben zu sehen, auf die allerdings nicht hier, sondern erst an späterer Stelle eingegangen werden soll, da sie zudem in Beziehung mit den einzelnen Indikatoren zu setzen sind. <?page no="308"?> 308 7.3.2 Komparative Analyse der Indikatoren Nachdem nun der Vergleich der Fallstudien untereinander im Vordergrund gestanden hat, soll diese Perspektive auch auf die Indikatoren ausgeweitet werden. Die Indikatoren eingehender zu betrachten, die in den vorangegangenen Darstellungen der Fallstudien kaum bis gar keine Rolle gespielt haben, liegt vor allem in der Absicht begründet, Elemente zu entdecken. Und zwar solche, die nicht in allen Fallstudien aufzufinden sind, sich aber als eingeschränkt empirisch und theoretisch relevant erweisen. Mit letzterem ist gemeint, dass diese Indikatoren eine Rolle hinsichtlich der Konzeption von literarischer Kompetenz im Fremdsprachenunterricht einnehmen. Sie sind innerhalb der theoretischen Bezüge der Domäne zu verorten und dienen dazu, Komponenten des Modells zu generieren. Gegründet im Erkenntnisinteresse der Studie fokussiert auch dieser Abschnitt darauf, Facetten und Schattierungen der Verbindung von Wissen und Können als spezifisches Verhalten in konkreten Situationen aus dem zu beobachtenden Verhalten abzuleiten, rückzuschließen bzw. zu projizieren. Trianguliert werden diese Verbindungen von Wissen und Können durch Einsichtnahmen und Auskünfte der beforschten Subjekte hinsichtlich ihrer Konstruktions- und Verstehensleistungen. Literaturdidaktische Grundlagenforschung unter der Fragestellung der Kompetenzmodellierung zu leisten, bedeutet so gesehen, dass es Fertigkeiten und Fähigkeiten aber auch deren Zusammenspiel auf dem beforschten Feld zu entdecken gilt. Im zirkulären Design der Studie greifen die Schritte Entdecken und Sättigen von Indikatoren, die später als Konzepte, Kategorien und Eigenschaft zu Modellkomponenten gewandelt werden, ineinander. Nun ist es aber nicht zuletzt der zeitlichen, finanziellen und personellen Limitierung der Studie geschuldet, dass nicht alle entdeckten Indikatoren in ausreichendem Maße zu sättigen sind. Dass diese dennoch als Elemente berücksichtigt werden, ist zu legitimieren, indem man bildungssystemische Forderungen an Kompetenzmodelle zu Rate zieht (cf. 3.2.1 und besonders 5.1, 8.1). Kompetenz als Verbindung von Wissen und Können bedeutet u.a., dass die Schülerinnen und Schüler fähig sind, „konkrete Anforderungssituationen eines bestimmten Typs zu bewältigen“ (BMBF 2003: 72). Ausschlaggebend ist dabei der Typ der Anforderungssituation. Dies bedeutet, dass Indikatoren, die nur selten im Datensatz auftauchen, für die Modellierung immer dann von Interesse sind, wenn die darin gefasste Anforderungssituation als Typ gewertet werden kann, wenn also potentiell weitere Situationen möglich sind, in denen der Typ der Anforderungssituation zum Tragen kommen kann. Oder anders gesagt: Das in den Daten Entdeckte, das zunächst als Phänomen erkannt wird und dann in einen Indikator für spezifisches Verhalten überführt wird, muss für einen bestimmten Typ einer Anforderungssituation stehen, die <?page no="309"?> 309 sowohl potentiell in anderen Situationen Gültigkeit erfahren kann als auch Bestandteil eines übergeordneten Kompetenz-Clusters ist (vgl. Hartig 2008: 22), wobei der letzte Aspekt erst in Abschnitt 8 eine Rolle spielen wird. Dass es sich bei den nun vorzustellenden Indikatoren um Typen einer Anforderungssituation handelt, liegt auch in ihrer theoretischen Relevanz begründet. Denn ihr geringes Vorkommen ist auch auf nur schwer im Vorfeld zu kontrollierende Faktoren wie Unterrichtsgestaltung und Schülerverhalten zurückzuführen, die Versuchen der gezielten Sättigung von Indikatoren durch Unterrichtsplanung mit den Lehrkräften entgegenlaufen können. Sättigung ist Teil der komparativen Analyse der Fallstudien. Und nachdem nun im vorangegangenen Abschnitt vor allem Muster der Codierung im Vordergrund standen, gilt es im Folgenden jene Indikatoren eingehender zu diskutieren, die zwar als Randerscheinungen aber dennoch als Typen einer Anforderungssituation innerhalb der Codierung verstanden werden können. Dieser die komparative Analyse abschließende Schritt dient nicht zuletzt der Maximierung von Differenz. Es werden daher vor allem jene Deskriptoren diskutiert, die auch in den beispielhaft angeführten Besonderheiten der Fallstudien (Unterrichtsgeschehen und Interviews 37 ) wenig bis gar nicht vertreten waren. Geschehen soll dies entlang der den Indikatorenkatalog ordnenden Wirkfaktoren. Dabei gibt es zwei Ausnahmen. Zum einen sind in der Betrachtung keine Indikatoren enthalten, die den endogenen Faktoren zuzuordnen sind, und zum anderen gilt dies auch für Indikatoren der Handlung und Produktion. Und zwar deshalb, da alle Komponenten dieser Bereiche bereits im vorangegangenen Schritt berücksichtigt wurden, sodass auf eine separate Auflistung des Bereichs verzichtet wird, um unnötige Wiederholungen zu vermeiden. Dies gilt allerdings nicht für den A3q Indikator (präsentieren eigene performative Produkte), der in Zusammenhang mit einem sich auf die personalen Reaktionen im kulturellen Kontext beziehenden Indikator diskutiert werden wird. 37 Es wurde schon an anderer Stelle betont (cf. 5.2.4, 6.2.3), dass aus den Interviews gewonnene Indikatoren einen anderen Stellenwert einnehmen als Indikatoren, die im Unterrichtsgeschehen entdeckt wurden. Bei den retrospektiven Interviews handelt es sich um Metaphasen, die von der fremdsprachlichen Kommunikation befreit sind. Thematisiert werden Verstehens- und Konstruktionsleistungen im Rückblick, die wertvolle Einsichten in die Verbindung von Wissen und Können der Lernenden eröffnen und deshalb relevant für die Modellierung sind. Die auf Freiwilligkeit basierende Zusammensetzung der Interviewgruppen erfolgte dabei stets so, dass vier bis sechs Lernende zur Teilnahme aufgefordert wurden, die im Unterrichtsgeschehen entweder durch besondere Leistung oder durch Passivität aufgefallen waren. <?page no="310"?> 310 7.3.2.1 Fremdsprachliches System Bezogen auf die exogenen Faktoren sind Randerscheinungen vor allem im Bereich des fremdsprachlichen Systems auszumachen: Exogene Faktoren Die Ebene der Zielsprache und des Unterrichts Fremdsprachliches System Die Schülerinnen und Schüler … A2a  fragen zielsprachlich nach unbekannten Wörtern. A2b  schlagen unbekannte Wörter selbständig in Wörterbüchern nach. A2c  umschreiben unbekannte Wörter zielsprachlich. A2d  erschließen unbekannte Wörter aus dem literarischen Kontext. Tabelle 89: Maximierte Differenz Exogene Faktoren Dabei ist zunächst einmal der A2d Indikator zu nennen (erschließen unbekannte Wörter aus dem literarischen Kontext). Festzustellen sind Indikatoren ausschließlich in den Schülerinterviews (G10 I, R10 I, R10 II, E10 II, H 9 I). Dieses den Fertigkeiten des rezeptiven und produktiven Gebrauchs der Zielsprache zuzuordnende Verhalten ist eng mit dem Leseverstehen verbunden, da es in Zusammenhang mit einem rekursiven Lesefluss zu sehen ist, und wird von den Lernenden direkt thematisiert: 11: 07 I Wenn jetzt - Versucht mal zu überlegen, wenn ihr gelesen habt und da war ein Wort, was ihr nicht kanntet konntet ihr dann trotzdem den Satz verstehen, oder musste dieses eine Wort habt ihr wirklich alles nachgeschlagen. S 3 Nee. Manches konnte man auch so herleiten. A2d I Mhm. S 4 Aus dem Kontext. A2d Tabelle 90: Schülerinterview R10 I (§ 125 - 128) Im ersten Beispiel wird vom Interviewer nach der eigenen Wortschatzarbeit und dabei vor allem nach dem gezielten Nachschlagen von unbekannten Wörtern gefragt. Darauf reagieren die beiden Schüler und sprechen vom „Herleiten“ unbekannter Wörter und den dafür benötigten Kontext. Etwas anders verhält es sich im zweiten Beispiel (vgl. Tab. 91). Hier kommt die Schülerin von selbst auf das Erschließen auf der Wortebene zu sprechen, denn gefragt wurde lediglich, ob den Schülerinnen und Schüler die Arbeit mit dem literarischen Text gefallen habe. So ist auch zu begründen, warum der erste Beitrag der Schülerin S 21 neben dem hier relevanten Indikator zudem mit einer Komponenten der autogenen Faktoren codiert ist (C1d: machen sowohl individuelle als auch unterrichtlich verbindliche Ziele, Zwecke und Absichten des Lesens für die literarische Sinnbildung fruchtbar): <?page no="311"?> 311 S 21 Also, ich fand’s einfach mal gut, Textverständnis zu machen, also einfach so mal ein bisschen längeren Text zu lesen und dann einfach mal zu gucken, was kann man, also welche Wörter kann man so vom Geschehen her ableiten, weil das- C1d A2d I Ja. S 21 Wir haben ja eigentlich, wir lesen zwar schon Geschichten und Texte, aber die sind dann meistens eher so kurz, höchstens ne Seite. Und wir konnten jetzt. 11: 49 S 20 Unverständlich S 21 Ja, genau, und dann konnten wir jetzt auch-jetzt auch mal so, halt eh gucken, was versteht man was versteht man net. Und das machen wir halt so im Unterricht eher selten. A2d Tabelle 91: Schülerinterview R10 II (§ 36 - 41) Die Schülerin bezieht das Erschließen unbekannter Wörter direkt auf das Leseverstehen, das sie als Textverständnis umschreibt, und erklärt, dass sie unbekannte Wörter „vom Geschehen her“ ableite. Sie empfindet dies als Vorteil der unterrichtlichen Auseinandersetzung mit einem längeren authentischen literarischen Text gegenüber dem ihr sonst gewohnten Unterricht mit Texten. Und in ihrer letzten Bemerkung scheint durch, wie eng verbunden der Indikator mit eigenen Entscheidungen beim Lesen ist, denn zur Strategie zählt auch die Fähigkeit, Lücken im Wortverständnis zuzulassen und selbst einzuschätzen, inwieweit das nicht verstandene Wort für den Leseprozess relevant ist. Die Schülerin spricht dies indirekt an, indem sie erwähnt, man müsse beim Lesen selbst einschätzen, „was versteht man - was versteht man net“. Etwas mehr Aufschluss über die damit verbundene Strategie bietet eine weitere Codierung mit dem Indikator: S 18 Ja, durch Überlegen, aber meistens habe ich’s dann auch nicht verstanden. (undeutlich) A2d I Ja, und was machst du dann? Hast du da ne Strategie? 10: 53 S 18 Ich hab’ dann einfach nur den Text weiter gelesen und dann hat sich das meistens ergeben vom Sinn her. Tabelle 92: Schülerinterview E10 II (§ 46 - 48) Der Aussage ist zu entnehmen, dass Verständnislücken beim Lesen zugelassen werden, da eben erkannt wird, dass nicht alle nicht verstandenen Wörter für den Leseprozess relevant sind und dass die Lücke im Verlauf des weiteren Leseprozesses semantisch zu füllen ist. Und bezogen auf Lücken im Wortverständnis ist ein weiterer Indikator zentral, der als Codierung für Ereignisse <?page no="312"?> 312 steht, in denen die Lernenden unbekannte Wörter selbstständig in Wörterbüchern nachschlagen (A2b). Dieser Indikator zeigt sich sowohl im Unterrichtsgeschehen (G10 I; R10 II, E10 II) als auch in den Interviews (R10 I, R10 II). Zur Veranschaulichung sei hier je ein Beispiel aus den beiden Datensätzen gegeben: S 24 The cheating begins. (Gemurmel, weil ähnlich wie S 4 ) - Ich hab noch - Ich hab noch deception rausgesucht, aber ich glaub das heißt (unverständlich). A2b L Was? S 24 Deception oder so. L What do you mean? 12: 41 S 24 Betrug. (schaut in ihr Heft) beginnt. Deswegen hab ich deception rausgesucht. Tabelle 93: G10 I (6. und 7. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 335 - 339) Die Sequenz aus dem Unterrichtsgeschehen der Gruppe G10 I bezieht sich auf die Präsentation der Titel, die die Lernenden für die einzelnen Textteile der Short Story T A -N A -E-K A formulierten (cf. 6.2.2.5). Da an dieser Stelle nicht auf die Konstruktionsleistung der Schülerin eingegangen werden soll, die dem formulierten Titel innewohnt, werden die restlichen Codierungen nicht berücksichtigt. Die Schülerin nennt mit „deception“ eine Alternative zu ihrem ersten Titelvorschlag und rechtfertigt dies, indem sie angibt, dieses Wort nachgeschlagen zu haben. Hier ist es demnach eine Schwundstufe des Indikators, die dem Phänomen abzuleiten ist, da die Strategie weniger für eine rezeptive denn für eine produktive Auseinandersetzung mit dem benötigten fremdsprachlichen Wortmaterial eingesetzt wird: Die Schülerin schlägt ein unbekanntes Wort nach, weil sie es für eine eigene Formulierung nutzen möchte. Im unten gegeben Beispiel aus dem Schülerinterview ist es hingegen die rezeptive Seite, die thematisiert wird. Hier geht es um das Nachschlagen von Wörtern, die der Textoberfläche entnommen sind und als für das Verstehen zentral empfunden werden: S 3 Aber (lacht selbst), ja halt mit dem Lesen, klappt’s eigentlich wiederum gut und bei den schweren Wörtern hat man schon manche nicht verstanden, da konnte man nachschlagen, und das hat dann wieder geklappt. […] A2b Tabelle 94: Schülerinterview R10 I (§ 105) Die Schülerin spricht von Engpässen beim Wortverständnis, die sie auf den Leseprozess bezieht. Sie führt schwere Wörter an (die Schülerin bezieht sich auf die Auseinandersetzung mit dem Gedicht A LABAMA C ENTENNIAL ; cf. <?page no="313"?> 313 7.2.3.1) und erklärt, dass sie im Falle eines Nichtverstehens diese im Wörterbuch nachgeschlagen habe, worauf das Lesen „dann wieder geklappt“ habe. In Verbindung mit Aspekten der Wortschatzarbeit sind auch die beiden letzten hier anzuführenden Indikatoren im Bereich des fremdsprachlichen Systems zu sehen. Mit einem von ihnen werden Ereignisse codiert, die darauf schließen lassen, dass es den Schülerinnen und Schülern gelingt, unbekannte Wörter zielsprachlich zu umschreiben (A2c). Mit dem Indikator zu fassendes spezifisches Verhalten zeigt sich dann, wenn Lücken im Wortschatz - vornehmlich für produktive Zwecke - repariert werden müssen. Als Beispiel sei hier eine Interviewsequenz gegeben, in der sprachliche Reparaturvorgänge angesprochen werden: S 25 Zum Beispiel bei mir, ich hab manchmal find ich die richtigen Wörter nicht im Englischen, aber irgendwie hat’s auch da so gepasst. I Mhm. S 25 Sag ich mal. S 9 Ja, man findet andere Möglichkeiten, was man jetzt bei so ner Aufgabe im Buch (betont) nicht hat, die Möglichkeit, weil da speziell dann Vokabeln, oder eben diese Grammatik abgefragt wird. A2c I Ja. S 9 Wenn man jetzt so, im normalen Sprachgebrauch irgendwas nicht weiß, dann umschreibt man das halt. A2c S 17 Ja. S 9 Oder umgeht das in ner anderen Satzbildung. A2c I Ja. S 9 Was aber nicht geht, wenn genau diese Satzbildung abgefragt wird. Tabelle 95: Schülerinterview G10 II (§402 - 411) Der Schüler S 25 geht mit seiner Antwort auf eine Frage nach Ausdrucksaspekten sowohl des schriftlichen als auch des mündlichen kommunikativen Modus‘ im Unterrichtsgeschehen ein. Er gibt zu verstehen, dass es ihm zwar nicht immer gelang, die richtigen Wörter zu finden, er aber dennoch einen gangbaren Weg zum sprachlichen Ausdrücken gefunden habe. Den Aspekt der zielsprachlichen Umschreibung bringt S 9 ein. Der Schüler spricht davon, dass man „andere Möglichkeiten“ finden könne. Er unterscheidet dabei die Arbeit mit literarischen Texten von der Schulbucharbeit im Unterricht, und hebt hervor, dass diese Möglichkeiten der ausdrucksseitigen Umschreibung eben nur bei offenen Formaten gegeben seien. Er verstärkt diesen Unterschied, in dem er noch den „normalen Sprachgebrauch“ hinzuzieht, wobei seine Aussage hier so zu interpretieren ist, dass er die Auseinandersetzung im Unterricht mit dem literarischen Text, die eigene Freiheit der Deutung, das <?page no="314"?> 314 Ausdrücken und Rechtfertigen von Konstruktionsleistungen näher am „normalen Sprachgebrauch“ verortet als den Schulbuchunterricht. Ein weiteres Beispiel, in dem sich der Indikator als Schwundstufe zeigt, ist dem Unterrichtsgeschehen der Gruppe E10 II (Text: T A -N A -E-K A ) entnommen: L In English to fill up. It’s not complicated S 11 Ähm, ähm. L (Es klopft, zwei SuS verspätet) Yes. Come in. 9: 40 S 11 (unverständlich) Eat something before he went to… A2c Tabelle 96: E10 II (3. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 85 -89) Hier wird die Situation von der Lehrkraft eingeleitet, indem nach einer zielsprachlichen Umschreibung der zuvor als deutsche Übersetzung angebotenen Vokabel „to fill up“ gefragt wird. Die Schülerin bezieht ihre Umschreibung auf den literarischen Kontext, und zwar insofern, dass sie „to fill up“ mit dem zu erwartenden Mangel an Nahrung verbindet, der den Charakteren Mary und Roger beim regelgerechten Absolvieren des Initiationsritus‘ bevor steht. Hier wird die Kollokation als kolloquial gewendetes Polysem durch den Kontext eindeutig semantisiert. Als letzter des Bereichs fremdsprachliches System ist hier der A2a Indikator anzuführen, mit dem Verhalten gefasst wird, das sich dahingehend realisiert, dass die Schülerinnen und Schüler zielsprachlich nach unbekannten Wörtern fragen. Ein Beispiel dafür ist dem Unterrichtsgeschehen der Gruppe E10 I entnommen: 10: 06 L Is there an unknown word in the text? S 18 ? S 18 Ähm, what’s the meaning of ‘diaper’? A2a L A diaper? Oh, a baby needs that around his bottom. For the… S x Windel! L liquids and the solids. S 18 Ah ja ok. S 23 Pampers? (A2a) Tabelle 97: E10 I (1. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 31 - 38) Zielsprachlich formuliert nennt S 18 die Vokabel „diaper“ als unbekanntes Wort. Darauf reagiert die Lehrkraft mit einer zielsprachlichen Erklärung und wird von einem der Lernenden mit einer reingerufenen Übersetzung unterbrochen. S 18 gibt zu verstehen, das Wort verstanden zu haben - wobei nicht zu erschließen ist, ob die Erklärung oder die Übersetzung ausschlaggebend ist. <?page no="315"?> 315 Die Sequenz endet allerdings erst damit, dass die Schülerin S 23 - Bestätigung suchend an die Lehrerin gerichtet - einen englischsprachigen Markennamen als Gattungsbegriff nennt und damit, wenn auch verkürzt und daher in Klammern gesetzt, eine zielsprachliche Umschreibung anbietet (A2a). Die vier vorgestellten Deskriptoren sind durchaus als Typen einer Anforderungssituation zu werten, denn die Beschäftigung mit zielsprachlichen Wörtern, mit dem ausdrucksseitigen Umschreiben, das als Mittel zum Transport von Inhalten im kommunikativen Modus zu werten ist, aber auch die Einsicht, Lücken im Wortverständnis zuzulassen oder aber angesichts der eigenständigen Einschätzung deren Relevanz für das Leseverstehen, sich dafür zu entscheiden, diese nachzuschlagen, sind als Bestandteile der Strategien der Lernenden beim Lesen wie bei der produktionsorientierten Auseinandersetzung mit dem Gelesenen zu verstehen. Es handelt sich dabei vornehmlich um high inference behaviour, da zwar beispielsweise das Nutzen von Wörterbüchern zu beobachten ist (dies wird hier allerdings schon deshalb nicht angeführt, da eine Beschreibung von Handlungen als wenig erkenntnisförderlich erachtet wird), die zugrundeliegenden Entscheidungen und mentalen Vorgänge sich aber nur ergründen lassen, wenn man die Lernenden darum bittet, Stellung zu den eingesetzten Strategien zu nehmen. Dass Indikatoren des kommunikativen Handelns gewissermaßen den Schlüssel sowohl für Rezeption als auch für Produktion in der Anschlusskommunikation bereitstellen, wurde bereits mehrfach angemerkt. Die hier angeführten Bestandteile des fremdsprachlichen Systems sind demnach als Vorstufen zu werten, als Voraussetzungen auf einer der kleineren Ebene - eben der Wortebene, aber auch der Satzebene, da sich eine zielsprachliche Umschreibung, so wie von Schüler S 9 angemerkt auch syntagmatisch auswirken kann (vgl. Tab. 95) -, die es den Schülerinnen und Schülern, sofern erfolgreich eingesetzt, ermöglichen, an der Interaktion zwischen Leser und Text sowie an der fremdsprachlichen Kommunikation über literarische Texte teilzuhaben. Dass bestimmte Schattierungen des high inference behaviour nur durch eine Befragung der Informanten zu erhellen sind, deutet darauf, wie wichtig es sowohl für Lehrende als auch Lernende ist, die eingesetzten Strategien zu thematisieren: Für erstere, weil nur so Einsichten in eine black box ermöglicht werden können, und für letztere, weil sie so als Experten für ihren eigenen Leseprozess, aber auch für die lernende Auseinandersetzung mit Sprache im produktiven und rezeptiven Kontinuum ernst genommen und dazu angehalten werden, über Vorgänge zu sprechen - wobei bereits dem darüber Sprechen ein Lernpotential innewohnt -, die sonst vielleicht als selbstverständlich erachtet werden, aber eine komplexe Leistung darstellen. Und schließlich ist forschungsmethodologisch die Konsequenz zu ziehen, dass Komplexität zunächst einmal erkannt werden muss, bevor sie durch eine wie auch immer <?page no="316"?> 316 geartete Modellierung heuristisch reduziert wird, wobei dies als Plädoyer für eine Einbeziehung derer, deren Kompetenz beobachtet, analysiert oder gar gemessen werden soll, in den Prozess der Modellierung zu verstehen ist. Und in besonderem Maße gilt dies für die nun folgenden als Teilleistungen zu wertenden Prozessebenen des literarischen Verstehens. 7.3.2.2 Umgang mit ästhetischen Wirkfaktoren Randerscheinungen sind besonders häufig innerhalb der autogenen Faktoren vertreten. Im Bereich des Umgangs mit ästhetischen Wirkfaktoren sind es drei Indikatoren, die näher zu diskutieren sind. Autogene Faktoren Die Ebene der Lernenden Umgang mit ästhetischen Wirkfaktoren Die Schülerinnen und Schüler … C1e  begreifen Subjektivität und Diversität als für die Sinnbildung zentral. C1f  nehmen literarische Texte als inszenierte und perspektivierte Sinnentwürfe wahr. C1g  erkennen ästhetische Erfahrung als Mittel zur Erlangung neuer Einsichten. Tabelle 98: Maximierte Differenz Autogene Faktoren I Der erste Indikator des Bereichs, der Verhalten fasst, das darauf schließen lässt, dass die Schülerinnen und Schüler Subjektivität und Diversität als für die Sinnbildung zentral erachten (C1e), zeigt sich ausschließlich in den retrospektiven Interviews. Veranschaulicht werden soll der beschreibende Gehalt des Indikators an drei Sequenzen. Die erste stammt aus dem Interview mit der Gruppe R10 I (Textgrundlage: Auszug H OLES ). S 3 Also, also erst mal habe ich halt den Text durchgelesen. Halt auf Anhieb hab ich ihn noch nicht verstanden, aber als wir drüber geredet haben, wurd‘ er schon wie soll ich sagen halt verständlicher. Und, ähm dann hab ich halt mal überlegt so, in der Fantasie halt jetzt, wie könnt’s weitergehen […]. C1e Tabelle 99: Schülerinterview R10 I (§ 45) Der Schüler reagiert mit seiner Antwort auf eine Frage, die auf Vorgänge und Strategien beim Weiterschreiben der Geschichte gerichtet ist. Interessant ist dabei, dass er die gemeinschaftlich geteilte Auseinandersetzung über das Gelesene erwähnt, die er als hilfreich für das eigene Verstehen beschreibt. Mit dem gemeinsamen Austausch wird so in der Interpretationsgemeinschaft Klasse die Ebene der Diversität der Sinnbildung berührt. Und indem der Schüler auf die eigene Fantasie beim Weiterschreiben der Erzählung zu sprechen kommt, wird - wenn auch indirekt - die Ebene der Subjektivität thema- <?page no="317"?> 317 tisiert, ist es doch die eigene Vorstellungskraft, die für die Textproduktion zentral ist. Subjektives spielt auch im folgenden Ausschnitt eine Rolle, indem die Schülerin auf eine Frage reagiert, die sich auf den Stundeneinstieg (Textgrundlage T HE K ILLERS ) und den darin enthaltenen Arbeitsauftrag bezieht, anhand von Informationen über den Text (Charaktere und Setting) Erwartungen an den Inhalt zu formulieren: S 25 Man macht sich ja auch dann sein eigenes Bild von den Leuten, die, wo man eh wo man liest, wer das ist. Und, eh, macht sich jeder, wahrscheinlich von jedem Charakter ein anderes Bild erst mal. Weil man’s noch nicht weiß, wie er im Prinzip ist. C1e Tabelle 100: Schülerinterview G10 II (§ 67) Die Schülerin streift in ihrer Aussage lediglich die Erwartungsformulierung, bezieht sich doch ihre Bemerkung eher im Allgemeinen auf das beim Lesen entstehende Bild der Charaktere. Sie spricht davon, dass sich diese Vorstellungen über die Charaktere unterscheiden und dass sie auch als im Leseprozess veränderlich zu begreifen sind. Subjektivität erscheint in ihren Ausführungen in einem Wechselverhältnis zum Leseprozess zu stehen - und so ist dann auch der Bogen zurück zur einleitenden Fragestellung der Sequenz zu schlagen -, in dem die Vorstellung des Lesers mit dem im Text Angelegten interagiert und sich so das individuelle Bild der Charaktere formen kann. Die Handelnden im Text stehen auch in der nächsten Sequenz im Mittelpunkt der Fragestellung, die sich auf die Rekonstruktion der Perspektiven in der die Einheit abschließenden task bezieht: I War das sinnvoll (unverständlich) Szenen zu entwickeln in der Story? […] 10: 14 S 15 Ja, ich fand’s auch vor allem interessant so die, ähm. Das was die anderen geschrieben haben. Also zu hören- C1e I Ja. S 15 Wie die anderen das so sehen. Weil zum Beispiel das von S 12 war ja besonders gut. Und dann fand ich das hat schon geholfen, weil man kann sich dann auch irgendwie so ein bisschen auch eine andere Sicht vorstellen. Ich find das gut. Tabelle 101: Schülerinterview G10 II (§ 278 - 281) Auch hier ist es eine Schülerin, die auf die Frage reagiert. Sie spricht dabei den Stellenwert des Austauschs untereinander an, den sie als besonders interessanten Aspekt beschreibt. Den Mehrwert, den die Schülerin in der erfahrenen Diversität erkennt, bezieht sie beispielhaft auf ein besonders gelungenes Schü- <?page no="318"?> 318 lerprodukt und hebt hervor, dass es ihr dadurch im Unterricht möglich wurde, die eigene Sichtweise um einen gänzlich anderen Blickwinkel zu erweitern. Mit Blickwinkeln und Gesichtspunkten klingen Aspekte an, die auch für einen weiteren den Umgang mit ästhetischen Wirkfaktoren beschreibenden Indikator zentral sind. Denn die Schülerinnen und Schüler zeigen in den Interviews auch, dass sie in der Lage sind, literarische Texte als inszenierte und perspektivierte Sinnentwürfe wahrzunehmen (C1f): S 4 Ja ich fand schon, weil man hat ja auch persönliche Erfahrungen, waren ja im Gedicht mit drinne, weil es aus der Ich-Perspektive erzählt wurde, und ich finde, da konnte man sich schon eher in das Thema reinversetzten. C1f Tabelle 102: Schülerinterview R10 I (§ 201) Der Schüler S 4 reagiert auf die Frage, ob das Gedicht A LABAMA C ENTENNIAL dazu beigetragen habe, die mit dem Civil Rights Movement in Verbindung stehenden sozio-kulturellen Gegeben- und Begebenheiten besser nachvollziehen zu können. In dem, was der Schüler anmerkt, ist enthalten, dass er gerade die persönliche Erfahrung, die im als perspektivierten Sinnentwurf zu wertenden Gedicht enthalten ist, als wertvoll für die ästhetische Erfahrung erachtet. Er spricht davon, dass es ihm aufgrund der durch das Lyrisch-Ich vermittelten persönlichen Erfahrung ermöglicht wurde, sich in das Thema, sprich in die verhandelten Konflikte und deren Wirkung auf die durch das Lyrische- Ich repräsentierten Mitglieder des Movement, hineinzuversetzen. Zwar bringt der Schüler die gattungsbezogenen Kommunikationsebenen in seiner Aussage durcheinander, spricht er doch von „erzählen“ und „Gedicht“ in einem Atemzug und weiß auch den Begriff „Lyrisches-Ich“ nicht zu verwenden. Dies ändert allerdings wenig an dem hier durchscheinenden Können, vielmehr bezieht es sich auf Aspekte des Wissens. Können meint, dass der Schüler die Wirkung der literarischen Darstellung auf ihn selbst einzuschätzen weiß, und dass es ihm darüber hinaus auch noch gelingt, diese Wirkung an Aspekten der literarischen Gestaltung festzumachen, die sich eben auf die Inszenierung bezieht, die im Indikator auch enthalten ist. Können meint auch, dass er hier über Aspekte der individuellen und gemeinschaftlich geteilten Sinnstiftung nachdenkt und sich dazu äußert, inwieweit er die Auseinandersetzung mit dem Gedicht als relevant für das Lernen von und mit literarischen Texten erachtet. Ansichten über das Lernen von und mit literarischen Texten werden besonders deutlich in der Fähigkeit der Lernenden, ästhetische Erfahrung als Mittel zur Erlangung neuer Einsichten zu erkennen (C1g). Dieser Indikator spielte zwar schon bei der Codierungsanalyse der Fallstudie G10 I (Schülerin- <?page no="319"?> 319 terview; cf. 6.2.3) eine Rolle, soll aber hier erneut aufgegriffen und diskutiert werden. Der Indikator ist eng mit dem verbunden, was die Schülerinnen und Schüler über das Lernpotential der gemachten Erfahrung denken, ob sie anerkennen, dass mit dem Lesen eines literarischen Textes und durch die Interaktion zwischen Leser und Text Erfahrungen gesammelt werden können, die den eigenen Erfahrungshorizont erweitern. S 3 Und so was halt in einer Geschichte zu finden, find ich eigentlich mit am Wichtigsten. Weil man wird dann eigentlich durch ne andere Person in die Situation reinversetzt, in die man selbst eigentlich nie kommen könnte. C1g 9: 35 I Mhm. S 3 Und so kann man halt doch was lernen, denke ich. C1g Tabelle 103: Schülerinterview G10 I (§ 501 - 504) Der oben gegebene Ausschnitt entwickelt sich im Interview auf die einleitende Frage, ob durch Geschichten etwas zu lernen sei (Text der Einheit: T A -N A - E-K A ). Die Anmerkung von S 3 ist als Reaktion auf einen anderen Schülerbeitrag zu verstehen, in dem die Identifikation mit Charakteren in einer Geschichte angesprochen wird. In dem, was der Schüler sagt, ist viel Aufschlussreiches über dessen Verständnis von der eigenen ästhetischen Lesehaltung enthalten. Er spricht von Situationen, in die man sich als Leser durch Anteilnahme an den Handlungen, Gefühls- und Motivlagen der Charaktere hineinversetzten kann. Eine Situation - und hier klingen Aspekte des Außergewöhnlichen in Geschichten als Teil des ästhetischen Wirkpotential an -, „in die man selbst eigentlich nie kommen könnte“. Und dass der Schüler diese vermittelte Erfahrung als wertvoll erachtet, wird daran deutlich, dass er abschließend bemerkt, man könne so „halt doch was lernen“. Lernen von Geschichten steht auch in der folgenden Aussage im Vordergrund: S 20 Ja und in der Geschichte wird einem halt auch noch extrem klar, dass man halt net vom Aussehen her sagen kann, wie die Menschen einzuschätzen sind. C1g Tabelle 104: Schülerinterview R10 II (§ 397) Im Sinne einer Schwundstufe ist es hier allerdings so, dass die Schülerin davon spricht, was die Auseinandersetzung mit der Urban Legend T HE T WO H ITCHHIKERS ihr gewissermaßen als Moral, als zugrundeliegende Botschaft, die sich aus den verhandelten Werten und Normen, die in den zentralen Konflikten durchscheinen, verdeutlicht hat. Dies deutet auch darauf, dass eine <?page no="320"?> 320 Erfahrung, die der Lebenswelt nur deshalb nahe ist, da Menschliches dargestellt und nachvollzogen bzw. ausgestaltet wird, von der Schülerin als Lernanlass interpretiert wird; auch wenn sie vielleicht nur zur exemplarischen Verdeutlichung bereits Bekanntem dient, spricht die Schülerin doch davon, dass es ihr im Zusammenhang mit der Erzählung „extrem klar“ wird. Indikatoren, die den Umgang der Lernenden mit ästhetischen Wirkfaktoren beschreiben, sind besonders häufig im Schülerinterview der Gruppe G10 I auszumachen (cf. 6.2.3), daher ist auf das dort Rückgeschlossene zu verweisen, das hier durch weitere Beispiele ergänzt wurde und nochmals zusammenfassend beschrieben werden soll. Die Indikatoren des Bereichs haben allesamt mit dem ästhetischen Lesen, mit einer ästhetischen Lesehaltung der Lernenden zu tun. Und zwar insofern, als hier neben den individuellen und gemeinschaftlichen, aber auch den im Text enthaltenen Perspektiven Wahrhaftigkeitsaspekte des literarisch Vermittelten berührt werden. Die Lernenden schätzen dabei die ästhetische Erfahrung als eigenständig, indem sie das Dargestellte als realistisch erachten und die Eigenständigkeit der Fiktionalisierung daran festmachen, dass ihnen bewusst ist, dass die Geschichte nicht auf Fakten beruht und keine Nacherzählung von Erlebtem ist. Anforderungssituationen, die die ästhetische Erfahrung, die Inszenierung und Perspektivierung literarischer Texte sowie die literarischen Gesetzmäßigkeiten betreffen, können im Unterricht nur dann realisiert werden, wenn die Schülerinnen und Schüler Gelegenheit erhalten, von ihren Erfahrungen zu berichten und über ihre Lesehaltung zu sprechen. Dies deutet darauf hin, dass im Sinne eines rezeptionsästhetischen und kommunikativ akzentuierten Verständnis‘ von literarischer Kompetenz im fremdsprachlichen Unterricht eine Metaphase, die es in den Unterricht zu integrieren gilt, unumgänglich ist. Im Unterricht sollte auch das von Interesse sein, was die Lernenden über die Auseinandersetzung mit dem literarischen Text denken, was sie über den literarischen Rezeptionsprozess, dessen wirkungsästhetisches Potential aber auch über die zu sammelnde vermittelte Erfahrung zu berichten haben. Zugegebenermaßen sind die hier angeführten Indikatoren in totaler Abhängigkeit zum individuellen Grad der Einsichtnahme der Lernenden der Interviewgruppe zu sehen, die bestimmt auch damit zusammenhängen, dass Inhaltsaspekte nicht mit fremdsprachlichen Ausdrucksaspekten interferieren, die muttersprachliche Kommunikation also die Entfaltung der Einsichtnahme begünstigt. Und dass Indikatoren vornehmlich in einer gymnasialen Schülergruppe vorzufinden sind, lässt nicht zuletzt auf den für die Entfaltung nötigen Reifegrad der Lernenden schließen, zumal es sich um Reflexionen handelt, die sowohl affektive als auch kognitive Reaktionen auf das Gelesene und die den Unterricht begleitende, aber auch die das gemeinsame Gespräch im Interview konstituierende gemeinschaftlich geteilte Sinnkonstitution bzw. deren Rekon- <?page no="321"?> 321 struktion oder eine retrospektive Transferleistung betreffen. Hier den Bogen auf Aspekte der Skalierbarkeit literarischer Kompetenz bzw. auf Niveaustufen indizierende Teilleistungen zu schlagen, ist reizvoll. Es ist daher zu betonen, dass damit nicht der Eindruck erweckt werden soll, entsprechende Einsichtnahmen und Teilleistungen des literarischen Verstehensprozesses seien vor allem auf diese Schulform beschränkt. Vielmehr sollte anerkannt werden, dass hier die Sättigung betreffende Desiderate angesprochen werden, denn besonders die Fähigkeit, sich auf die ästhetische Erfahrung und die Sinnbildung im Spannungsfeld von Inszenierung und Perspektivierung einzulassen, kann als abhängig zum verwendeten Genre, zu den Handlungs- und Produktionsanlässen im Unterricht und nicht zuletzt auch zur Gesprächsführung im Interview gesehen werden. Diese Randerscheinungen der autogenen Wirkfaktoren auch trotz ihrer geringeren empirischen Relevanz hinsichtlich ihrer theoretischen argumentativ zu stärken, ist auch der Absicht geschuldet, die Rolle der lesenden Schülerinnen und Schüler stark zu machen, ihnen Fähigkeiten mündiger Leser zuzusprechen und sie nicht im Sinne einer Auffassung des Leseverstehens als Informationsentnahme zu Erfüllungsgehilfen der die Testformate der large scale assessment Studien ausmachenden Antwortstruktur zu degradieren. 7.3.2.3 Personale Reaktionen im kulturellen Kontext Generell gilt für diesen Bereich, dass Randerscheinungen nicht so auffallend festzustellen sind, wie das bei anderen der Fall ist. Zu thematisieren sind an dieser Stelle vor allem Indikatoren, die dem Fremdverstehen und dabei dem Einnehmen der Außenperspektive zuzuordnen sind: Autogene Faktoren Die Ebene der Lernenden Personale Reaktionen im kulturellen Kontext Die Schülerinnen und Schüler … C2b  betrachten kulturelle Gegebenheiten aus der Außenperspektive. C2c  erkennen Unterschiede/ Gemeinsamkeiten zwischen der eigenen und der fremden Kultur. C2d  deuten Kulturen und kulturelle Praxis als vielfältig und heterogen. Tabelle 105: Maximierte Differenz Autogene Faktoren II Dass es den Schülerinnen und Schülern gelingt, kulturelle Gegebenheiten aus der Außenperspektive zu betrachten (C2b), zeigt sich u.a. in einem Ausschnitt aus dem Schülerinterview der Gruppe R10 I. Hier wird durch die Auseinandersetzung mit der Unterrichtseinheit racsim und besonders mit dem Gedicht A LABAMA C ENTENNIAL Erfahrenes vom eigenen Standpunkt der Schülerinnen und Schüler aus betrachtet und hinterfragt. Die Lernenden reagieren auf die <?page no="322"?> 322 Frage, ob sie durch das Gedicht die Situation der schwarzen Bevölkerung in den USA besser nachvollziehen konnten: 11: 12 S 3 Mhm. Ja, es wurden ja auch die Situationen beschrieben, halt wie sie früher waren, und da fand ich’s auch nachvollziehbar, dass die solche Situationen nicht mehr haben wollen, auch wie normale Menschen leben möchten. Halt sowas. C2b I Mhm. S 18 Ja im Gedicht stand ja auch, dass die heute noch zum Teil wie Sklaven behandelt werden (unverständlich). Dass-a-dass eigentlich sich viel, also so richtig viel eigentlich bis jetzt auch noch net verändert hat. C2b C3a I Aber du musst aufpassen, welches heute du meinst. S 18 Ja. Das-Also jetzt, in jetzt unserer Zeit. In hier der Zeit auch, ähm, dass die jetzt auch noch zum Teil schlecht behandelt werden. Also schlechter behandelt werden wie Weiße. C2b Tabelle 106: Schülerinterview R10 I (§ 203 - 208) In der Aussage des Schülers S 3 zeigt sich die Fähigkeit, kulturelle Gegebenheiten aus der Außenperspektive zu betrachten und ihnen zu widerstehen (C2b) in Verbindung mit anderen Teilleistungen: Was der Schüler aus der Außenperspektive kritisch bewertet, ist die im Gedicht präsentierte Situation der schwarzen Bevölkerung. Den im Gedicht enthaltenen kulturellen Gegebenheiten zu widerstehen, bedeutet zunächst einmal, sich in den durch das Lyrische-Ich präsentierten Erfahrungshorizont hineinzuversetzen. Von „nachvollziehbar“ spricht der Schüler selbst, und er gibt zu verstehen, dass er den beschriebenen prekären kulturellen Gegebenheiten widersteht; er ergreift Partei für die im Gedicht angelegte Perspektive, solidarisiert sich mit ihr und weist auf die Gültigkeit der angeprangerten Missstände hin. Auf Ähnliches verweist S 18 in seiner Anmerkung, in der er den im Gedicht enthaltenen Wirklichkeitsentwurf interpretierend auf eine außerliterarische Realität bezieht (C3a) und den darin enthaltenen Gegebenheiten ebenfalls kritisch begegnet. Dass er im Zusammenhang mit dem Gedicht von „heute“ spricht, erklärt er, indem er weiter ausführt, dass „in hier der Zeit auch“ Schwarze in der Bevölkerung benachteiligt werden. Damit gelingt es den Lernenden, das im Text Dargestellte auf die heutige Situation zu beziehen und so einen Bezug zur eigenen lebensweltlichen Erfahrung herzustellen, was dann dazu genutzt wird, die im Text kritisierten kulturellen Gegebenheiten ebenfalls kritisch zu hinterfragen und eine eigene Position zu beziehen. Der zweite Indikator des Bereichs der personalen Reaktionen im kulturellen Kontext wurde bereits in der als Ankerbeispiel dienenden Gruppe G10 I diskutiert (6. u. 7. Stunde; cf. 6.2.2.5). Dort sind es Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der eigenen und der fremden Kultur (C2c), die vor allem <?page no="323"?> 323 entlang der Tradition erkannt werden. Hier sei ein weiterer Ausschnitt als Beispiel gegeben, der aus dem Interview mit der den gleichen Text im Unterricht verhandelnden Gruppe E10 II stammt: I […] Habt ihr da selber mal Erfahrungen gemacht, dass ihr irgendwas nicht gemacht habt, obwohl’s Tradition war? 11: 03 S 18 Ich hab’ vielleicht. Ja, ich hab’ keine Konfirmation gehabt, oder so was. Das ist vielleicht vergleichbar. C3b C2c I Hat da jemand auf dich hinab geblickt? S 18 Ja, meine Oma war da so en bisschen sauer, dass ich das net gemacht hab’… Ja. Tabelle 107: Schülerinterview E10 II (§ 165 - 169) Der Aussage der Schülerin ging ein Abschnitt im Gespräch voraus, in dem die Reaktionen der anderen Stammesmitglieder auf Marys T A -N A -E-K A thematisiert wurden. Dort wurde angemerkt, dass diejenigen, die das Ritual traditionsgemäß absolviert haben, missbilligend auf Mary hinabblicken könnten. In diesem Zusammenhang wurde gefragt, ob die Lernenden selbst Erfahrungen damit haben, etwas nicht gemacht zu haben, obwohl es Tradition ist. Der Antwort der Schülerin ist zu entnehmen, dass sie den im Text verhandelten Konflikt erkennt und diesen mit Gegebenheiten des eigenen Lebensumfelds in Bezug setzt (C3b). Gemeinsamkeiten zwischen eigener und fremder Kultur (C2c) führt sie an, indem sie davon berichtet, nicht konfirmiert worden zu sein: „Das ist vielleicht vergleichbar“. Der Einschränkung „vielleicht“ ist zu entnehmen, dass der Schülerin durchaus bewusst ist, dass diese beiden als Initiationsrituale zu wertenden Tradition nicht eins zu eins gleich zu setzten sind, sie zwar beide einen kulturellen bzw. religiösen Wendepunkt im Prozess der Adoleszenz markieren, Konfirmation sich aber grundlegend von einem endurance ritual unterscheidet. Es zeigt sich aber, dass die von der Schülerin gemachte Erfahrung, dass ihre Großmutter enttäuscht darauf reagierte, das Ritual nicht vollzogen zu haben, einen Anknüpfungspunkt zu dem im Text verhandelten zentralen Konflikt darstellt. Indem die Schülerin den Aspekt der gesellschaftlichen Missbilligung, der zuvor im Interview erwähnt wurde, aufgreift, bezieht sie das Verhandelte auf sich selbst, eröffnet so einen subjektiven Zugang, durch den dann Gemeinsamkeiten aufgezeigt werden können, sodass Eigenes im Fremden und Fremdes im Eigenen entdeckt werden kann. Dass dabei auch das Fremde zu akzentuieren ist, Gemeinsamkeiten nicht unbedingt mit Übereinstimmung gleichzusetzen sind, soll mit einem Beispiel aus dem Unterrichtsgeschehen angedeutet werden: <?page no="324"?> 324 8: 48 S 22 Hi Mary. Where have you been the last five days? A3q C2c C2a S 23 I did my Ta-Na-E-Ka. S 22 What’s that? It’s like a confirmation? S 23 No, it’s an old Indian tradition. S 22 And what did you do there? S 23 Ähm, I have to spend five days in the wilderness and sleep (falsche Aussprache), äh, sleep in the forest without any food or money. I have to eat berries or grasshoppers That’s what my family do since hundred years. S 22 Grasshoppers? Wäh! ? Mary you are very disgusting. S 22 No, I’m not. Ähm, but I cheated, I didn’t eat grasshoppers. I ate hamburgers and milkshakes at, at Ernie’s. I slept there, too. And that’s against the rules. S 22 Mary, you’re clever but it’s unfair. You made holidays during we have to learn. Tabelle 108: E10 II (7. u. 8. Stunde) Unterrichtsgeschehen (§ 279 - 288) Die Lernenden wurden in Partnerarbeit angehalten, eine Konversation zwischen Mary und einer Mitschülerin nach dem T A -N A -E-K A zu erfinden. Die gesamte Sequenz wird codierungsseitig von Indikatoren der exogenen und endogenen Faktoren begleitet, die hier aber nicht von Interesse sein sollen und deshalb auch außen vor gelassen werden. Interessant ist neben den personalen Reaktionen im kulturellen Kontext allerdings die Situation, die in Form der unterrichtlichen Lenkung so gefasst ist, dass ein eigenes performatives Produkt in der Zielsprache präsentiert wird (A3q). Relevant ist dies insofern, als die beiden Schülerinnen hier eine Konstellation erspielen, in der zwei Repräsentanten unterschiedlicher Kulturen aufeinandertreffen und Sinn verhandeln. Dies ist im Text zwar durchaus angelegt, das, was präsentiert wird, ist aber in Verbindung mit der Aufgabenstellung als Erweiterung zu verstehen, als Erweiterung, in der Mary ein Gegenüber imaginiert wird, das als ein Dazwischen, als eine Synthese von eigener und fremder Kultur zu verstehen ist, da die Schülerinnen die Konversation zwar vor der Folie des Textes stattfinden lassen, aber Eigenes eingebracht wird. Mary, von S 23 verkörpert, antwortet auf die von der Mitschülerin gestellte Frage, ob T A -N A -E-K A mit Konfirmation zu vergleichen sei. Hier scheint durch, dass die beiden Schülerinnen Anknüpfungspunkte in der eigenen Lebenswelt suchen, mit der sie das Erspielte ausgestalten. Konfirmation wird als Gemeinsamkeit stiftend verwendet. Dass die Schülerin aber Mary diese Frage verneinen lässt, deutet darauf, dass zwar Eigenes im Fremden erkannt wird, dies aber eben nicht auf Deckungsgleichheit angewiesen ist, der beschriebene Unterschied darauf deutet, dass nämlich die kulturellen Begebenheiten der präsentierten Sichtweise (C2a) <?page no="325"?> 325 im Ritual von den Schülerinnen als eigenständig erkannt werden. Dies kann sich nur dann realisieren, wenn Innen- und Außenperspektive ineinandergreifen und wenn sich durch das Wechselspiel der Perspektiven die eine durch die andere verändert: Denn indem sich Lernende auf die Innenperspektive von Mary und ihren Angehörigen einlassen, verändert sich die Außenperspektive automatisch, da diese um ein Mehr an Erfahrungen ergänzt wird. Dass damit eine Koordinierung einer Vielzahl von Perspektiven einhergeht, ist im letzten Indikator der personalen Reaktionen im kulturellen Kontext angelegt. Hiermit werden Fähigkeiten beschrieben, die sich dahingehend konkretisieren, dass die Lernenden Kulturen und kulturelle Praxis als vielfältig und heterogen anerkennen (C2d): S 15 Also ich hab das probiert, irgendwie als einen Artikel über den Streit zwischen Kultur und Moderne, ähm zu verpacken - und das als Beispiel zu nehmen, ähm, weil, ich denk mal grad in diesen Reservaten ist das bestimmt ein aktuelles Thema wie kann man das kombinieren. Ist man jetzt nur traditionell oder modern, oder geht auch beides. Ich hab dann probiert, das dann als Beispiel für diesen ja, für den Mittelweg zu nehmen. B3e C2d Tabelle 109: Schülerinterview G10 I (§ 269) Der Schüler knüpft an Teile des Gesprächs im Interview an, die sich auf die Frage hin entwickelten, wie sich die Lernenden einer der Schreibaufgaben im Unterricht näherten, einen Artikel für eine imaginierte Reservatszeitung zu schreiben, wobei eines der Schülerprodukte bereits anderenorts vorgestellt wurde (cf. 6.2.2.5). In dem, was der Schüler über die zu erbringende Leistung beim Schreiben zu berichten weiß, ist enthalten, dass es ihm gelingt, unterschiedliche kulturelle Perspektiven zu identifizieren und dabei auch Unterschiede herauszuarbeiten (B3e). Enthalten ist dieser Aspekt in der Äußerung, dass er beim Schreiben versucht habe, „den Streit zwischen Kultur und Moderne, zu verpacken“. Dass darin zudem eingeschlossen ist, dass der Schüler Kulturen und kulturelle Praxis als vielfältig und heterogen (C2d) erachtet, darauf deutet, dass er davon spricht, dass dies seines Erachtens in dem für den Schreibauftrag imaginierten Reservat ein aktuelles Thema sei. Er fasst diesen Aspekt darin, dass er das als zentralen Konflikt der Geschichte empfundene Kombinieren von Tradition und Moderne thematisiert, wobei er Marys Form als Mittelweg bezeichnet und voranstellt, dass zwischen den Polen traditionell und modern auch eine Schnittstelle zu finden sei. Kulturelle Praxis als vielfältig anzuerkennen äußert sich hier also vornehmlich in Kombination mit einer Koordinierung unterschiedlicher kultureller Perspektiven, die nicht verabsolutiert werden. Dass der Schüler diese vermittelnde Position einnimmt, zeugt gerade davon, dass es ihm gelingt anzuerkennen, „dass Kulturen keine homo- <?page no="326"?> 326 genen, sondern heterogene Gebilde sind, in denen es zu Auseinandersetzungen kommt“ (Bredella 2010a: 21). Heterogenität steht auch im nachfolgenden Interviewausschnitt im Vordergrund. Hier ist es ein Schüler der Gruppe R10 I, der sich auf die Frage hin äußert, ob der Aufbau der Einheit, mit dem Erzähltextexzerpt als Einstieg, von den Lernenden als vorbereitend auf die thematische Auseinandersetzung gewertet wird: 11: 15 S 3 Und in der Geschichte kam ja auch halt halt der Schwarze oder der Farbige vor, und die weiße Frau, also die sich dann in einander verliebt haben, dass hat dann auch schon, und dann die Leute, die noch dagegen waren, das hat dann auch gut ausgedrückt, ähm, was, unter was, also wie man Rassismus einordnen sollte. B2b B3e I Mhm. S 3 Und dass nicht jeder, ähm gegen Schwarze sind, sondern nur ein bestimmter Teil, ähm, ja, nur ein bestimmter Teil. B3e C2d Tabelle 110: Schülerinterview R10 I (§ 234 - 237) Gleich zu Beginn seiner Äußerung spricht der Schüler die unterschiedlichen im Erzähltext zu findenden Perspektiven der Charaktere an (B2b), die er sodann in Bezug zu den darin enthaltenen kulturellen Perspektiven (B3e) setzt und dabei auf Unterschiede verweist. In Verbund mit diesen koordinierten Perspektiven spricht der Schüler das an, was man der Fähigkeit, kulturelle Praxis als heterogen aufzufassen (C2d), zuordnen kann: Er leitet aus dem durch die Auseinandersetzung mit dem Text Erfahrene, „also wie man Rassismus einordnen sollte“, ab, dass bestimmte Extrempositionen einem Spektrum zuzuordnen sind. Ihm gelingt es damit, die im Text durch Protagonisten und Antagonisten präsentierten kulturellen Perspektiven im Zusammenhang mit dem Themenbereich Rassismus nicht verallgemeinernd, sondern differenziert auf kulturelle Praxis zu beziehen. Interessant ist, dass er es der im Text enthaltenen Multiperspektivität zuschreibt, durch die historische Fiktionalisierung erfahren zu haben, dass das Beschriebene kein kulturelles Merkmal, sondern Gegenstand der kulturellen Auseinandersetzung ist. Für den thematisierten Bereich von Typen einer Anforderungssituation zu sprechen, ist schon auf das nicht unbedingt als Randerscheinung in den Datensätzen zu wertende häufige Auftreten der Indikatoren zurückzuführen. Neben dieser durchaus auszumachenden empirischen Relevanz sind es vor allem Aspekte, die die theoretische Relevanz des Bereichs betreffen, die ihn als wichtig für die Modellierung kennzeichnen. Denn die Auseinandersetzung mit literarischen Texten im fremdsprachlichen Unterricht sollte immer auch eine Auseinandersetzung mit der zielsprachlichen Kultur beinhalten. Literarische Texte als Sinnentwürfe vermögen es wie kein weiteres Unterrichtsmaterial, Innensichten zu transportieren, laden zum Einfühlen und Nachvollzie- <?page no="327"?> 327 hen ein, und diese Einladung ist - so es das Textthema hergibt - angefüllt mit Werten, Normen und ethischen Fragen, mit kulturellen Begeben- und Gegebenheiten, die es als eigenständig wahrzunehmen und anzuerkennen gilt. Es sind kulturelle Sekundärerfahrungen, die so in den Unterricht eingebunden werden können, die in den Motiven und Handlungen der Charakteren Widerhall finden, stellen sie doch neben dem zeitlichen und kausalen auch einen kulturellen Zusammenhang bei der Auseinandersetzung bereit. Ausgehend von der Anerkennung der Eigenständigkeit des Präsentierten, gewissermaßen durch das Entdecken von vielleicht zuvor Unbekanntem und deshalb Neuem, kann es für die Schülerinnen und Schüler innerhalb der Anforderungssituation dazu kommen, dass Eigenes im Fremden erkannt wird, dass Gemeinsamkeiten aufgespürt und differenziert ausgewertet werden. Typen einer solchen Anforderungssituation dienen schließlich als Rahmen für die Entfaltung jener Fähigkeiten, die es den Lernenden ermöglichen, Kulturelles und mit Kultur und deren heterogenen Eigenschaften Zusammenhängendes selbst zum Gegenstand der Betrachtung werden zu lassen. Lernen von, mit und über Kultur ist Teil des Fremdsprachenunterrichts und somit auch Teil eines Kompetenzmodells, das die verstehende literarische Auseinandersetzung im Fremdsprachenunterricht aufzuschlüsseln sucht. Dass diese Sicht keine rein akademische ist, soll, wenn schon nicht vollständig verdeutlicht, so doch dadurch veranschaulicht werden, dass die Meinung eines Schülers herangezogen wird (G10 I), der schon häufiger zu Wort gekommen ist: 9: 23 S 15 Also ich finde, das gehört auch so ein bisschen dazu, zu jeder Fremdsprache, dass man auch über die dazugehörige Kultur was erfährt. Also ich hab jetzt damals im siebten Schuljahr auch Latein genommen, weil mich Rom interessiert hat. So finde ich auch Englisch interessant, wie mich auch Amerika und England interessiert. Also ich finde das gehört einfach dazu, so macht’s Lernen mehr Spaß. So lernt man vielleicht besser, man hat auch Themen, über die man überhaupt was unter-unterrichten kann. Tabelle 111: G10 I Schülerinterview (§ 320) Ernst zu nehmen sind seine Aussagen nicht nur, weil sie so gut zur oben angelegten Argumentation passen. Hinzu tritt nämlich, dass es sich um die Ansichten eines Experten handelt, der auf immerhin knapp zehn Schuljahre Erfahrung mit Unterricht zurückblicken kann. Nicht nur, dass der Schüler Kultur und Fremdsprachenlernen als zusammengehörig erachtet. Das vielleicht Interessanteste der Äußerung ist im letzten Satz zu finden: Denn neben der Tatsache, dass man seines Erachtens so besser lernen könne, führt er die kulturelle Auseinandersetzung im Unterricht als Themenbereiche an, „über die man überhaupt was unterrichten kann“. Sprache wird hier nicht als alleinig gültiger Inhalt des Fremdsprachenunterrichts gefasst. Ihr zur Seite muss auch etwas Thematisches, etwas Inhaltliches stehen, über das sich eine sprachliche <?page no="328"?> 328 Auseinandersetzung überhaupt lohnt. Und so wie der Schüler es in seiner Äußerung fasst, ist dies auch und vor allem mit (inter)kulturellen Lernanlässen verbunden. 7.3.2.4 Reflexion von Handlungen und Motiven Die hier zu diskutierenden Randerscheinungen, die sich auf den Bereich der Reflexion von Handlungen und Motiven beziehen, sind ausschließlich in den Schülerinterviews zu finden. Dabei sind es zwei Indikatoren, die nur selten auszumachen sind, dafür aber Verhalten beschreiben, das Teil einer verstehenden Auseinandersetzung mit literarischen Texten ist. Autogene Faktoren Die Ebene der Lernenden Reflexion von Handlungen und Motiven Die Schülerinnen und Schüler … C3e  widerstehen den fiktionalen/ fiktiven Gesetzmäßigkeiten des literarischen Textes. C3f  reflektieren die im Text geltenden Normen und Werte kritisch. Tabelle 112: Maximierte Differenz Autogene Faktoren III Der als erstes zu diskutierende C3e Indikator ist in sehr engem Zusammenhang zu den Fähigkeiten des Umgangs mit ästhetischen Wirkfaktoren und dem erörterten Einlassen auf Fiktionalität zu sehen. Und zwar insofern, als es sich hier um das Widerstehen der fiktionalen/ fiktiven Gesetzmäßigkeiten des literarischen Textes handelt. Die Schülerin bezieht sich mit ihrer Aussage auf die Textarbeit mit der Short Story T HE K ILLERS und betrachtet dabei die fiktionalen Gesetzmäßigkeiten kritisch: 10: 06 S 17 Ja, aber was wirklich irgendwie-irgendwie so ein bisschen unverständlich war, warum die denn wussten, wo der ist. Aber nicht wo der wohnt das war irgendwie- C3e S 25 Ja. I Mhm. S 25 Wir haben jetzt auch, äh, angefangen, den Film zu gucken, und da wissen sie es ja, und da gehen sie nach dem - Restaurant da hin, das ist ja wieder das entwickelt dann wieder einen völlig anderen Stil. Also, völlig andere Struktur von dem ganzen, find ich. C3e I Mhm. S 15 Ja, warum die nicht gleich einfach zum Haus gegangen sind. S 25 Ja. S 15 Das ist ja unlogisch. C3e Tabelle 113: Schülerinterview G10 II (§ 155 - 162) <?page no="329"?> 329 Was sie anspricht und als für sie unverständlich beim Lesen erklärt, bezieht sich auf den logisch-kausalen Zusammenhang von literarischen Handlungen: Die beiden Männer (Max und Al), die nach Ole Anderson suchen, wissen zwar, dass er sich in dem Städtchen Summit aufhält und auch dass er regelmäßiger Gast (selbst die genaue Uhrzeit ist ihnen bekannt) im örtlichen Diner ist, kennen aber nicht seinen Aufenthaltsort, also die Pension Hirsch. Dass der Schülerin diese Diskrepanz auffällt, spricht dafür, dass sie ein sehr genaues mentales Modell des Textes bei der retrospektiven Auseinandersetzung im Interview vor Augen hat und dass sie die im Text enthaltenen Gesetzmäßigkeiten, die sich hier als Informiertheit der Akteure niederschlagen, als problematisch erachtet. Der Schüler S 4 ergänzt dies und verweist auf die Verfilmung, die im Anschluss an die Einheit gesehen wurde, in der diese von den Lernenden als widersprüchlich empfundene Handlungslogik aufgebrochen wird, da die Männer direkt nach dem Zwischenfall im Diner zur Pension gehen. Indem er auf eine „völlig andere Struktur“ der Handlung verweist, spricht auch der Schüler die Gesetzmäßigkeiten in der Short Story implizit an. (Hier kommt es zudem zu einem transmedialen Vergleich, wird doch die Art und Weise der medialen Präsentation angesprochen. Da die Arbeit mit Filmen im Unterricht in der Studie nicht zum Erkenntnisinteresse gehört - nicht alle literarischen Gattungen können berücksichtigt werden - und auch der Einsatz des Films im Anschluss an die Einheit von der Lehrkraft spontan entschieden wurde, ist hier erneut ein Bereich berührt, der weitere Forschungsdesiderate anzeigt.) S 15 reagiert darauf und führt erneut an, dass die als widersprüchlich empfundene Logik der fiktionalen Gesetzmäßigkeiten daran festzumachen sei, dass die beiden nicht gleich zum Haus bzw. zur Pension Hirsch gegangen seien. Und die Schülerin schließt damit, dass sie diesen Aspekt der Handlungslinie als „unlogisch“ bezeichnet. Als Schwundstufe auf einer anderen, einer allgemeineren Ebene zeigt sich der Indikator (zudem in Verbindung mit einem weiteren des Bereichs) im folgenden Interviewausschnitt: S 15 Ja, wenn ich jetzt ne Geschichte lese, zum Beispiel, wo dann, keine Ahnung, ein Freund verraten wird, in so ner Situa-würd ich sagen, oh, das hätte ich jetzt vielleicht net gemacht, oder ich hätt’s anders gemacht. Ja, aber, ähm, das ist jetzt vielleicht nur, wenn man so drüber liest, weil-das war-das stand schon vorher fest, das wurde, eh, net durch die Geschichte erst klar, dass ich das nie tun würde. C3e C3f Tabelle 114: Schülerinterview G10 I (§ 495) Den fiktionalen Gesetzmäßigkeiten zu widerstehen (C3e), kann auch bedeuten, dass die Lernenden die im Text geltenden Normen und Werte kritisch reflektieren (C3f). Was der Schüler S 15 ausdrückt, lässt beide Indikatoren <?page no="330"?> 330 anklingen. Er spricht auf einer abstrakteren Ebene von den eigenen Reaktionen auf Gelesenes und nimmt als Beispiel eine hypothetische Handlung, in der ein Freund verraten wird. Widerstehen und Zurückweisen werden im Zusammenhang mit den eigenen Wertvorstellung und eigenen Wirklichkeitserfahrungen thematisiert, spricht er doch davon, dass er die in den fiktionalen Gesetzmäßigkeiten der Handlungsstruktur eingebundenden Normen und Werte zurückweist, weil für ihn schon vorher fest stand, „dass ich das nie tun würde“. Weitaus deutlicher zeigt sich die Fähigkeit, auf eigene Wertvorstellung zurückzugreifen und den im Text geltenden Normen und Werten zu widerstehen, in der bereits vorgestellten Fallstudie E10 I (cf. 7.2.2.1.2). Dort widersprechen die Schülerinnen und Schüler im Interview (Short Short Story S LEEPING ) direkt den Anweisungen der Eltern an den Babysitter Harriet, und geben an, dass sie sich so nicht würden behandeln lassen bzw. diesen Anweisungen auf Basis eigener Wirklichkeitserfahrungen und eigener Wertvorstellungen nicht Folge leisten würden. Im Sinne einer Sättigung sei hier jedoch noch ein weiteres Bespiel aus einem Schülerinterview (E10 II; Short Story T A - N A -E-K A ) angeführt, das den Deskriptor in einer weiteren Schwundstufe zeigt: S 12 Also, ich würd’ schon sagen, dass sie, ähm ja geschummelt hat. Weil, ähm, sie hat sich ja nicht an die Regeln gehalten. Und eigentlich en Regelverstoß ist ja eigentlich schon. C3c C3f Tabelle 115: Schülerinterview E10 II (§ 81) Die Schülerin reagiert auf die Frage, wie Marys Handeln beim Initiationsritual zu bewerten sei. Hier zeigt sich zunächst ein weiterer Bestandteil der Reflexion von Handlungen und Motiven, widerspricht die Schülerin doch den Handlungen des Charakters (C3c), markiert sie als Schummeln, und weist damit die in der Handlung aufscheinenden Normen und Werte kritisch reflektierend zurück (C3f). Implizit enthalten ist in der Schwundstufe auch, dass die Reaktion des Großvaters, die Regelverletzung als moderne Version zu sehen, für die Schülerin nicht ausreicht, Marys Handlung als gerechtfertigt anzusehen. Die bis hier gezeigten Teilleistungen und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler, für die Sinnstiftung auf weltliches Wissen zurückzugreifen, sind als Typen einer Anforderungssituation zu verstehen, zeigen sich doch Konstruktionsleistungen, die nicht nur darauf deuten, dass die Lernenden sensibel auf die Interaktion mit dem Text reagieren und das Gelesene im Sinne eines situation model of the text damit bereichern, dass sie es in Bezug zu textuellen und außertextuellen Wissensbeständen zu setzten vermögen, son- <?page no="331"?> 331 dern auch, dass sie sich kritisch mit dem Verhandelten auseinandersetzen und den Text und das ihm eigene Wertebild nicht als unumstößlich erachten. Die in den Indikatoren angelegte Fähigkeit ist mithin als Bestandteil einer Lesermündigkeit zu erachten, sozusagen als Emanzipation der Lernenden vom Text, aber auch von der Deutungshoheit über literarische Interpretation, die bisweilen in anderen Formen der literarischen Auseinandersetzung, aber auch der Modellierung (man führe sich nur das in 4.2.1 erörterte Modell von Huber vor Augen) nicht den Lernenden zugesprochen wird. So verstanden sind diese Typen an Anforderungssituationen in Verbund mit dem Umgang mit ästhetischen Wirkfaktoren als Konstruktionsleistungen der Schülerinnen und Schüler zu sehen, die die aktive Teilhabe am Prozess der Sinnstiftung betonen und ganz unterschiedliche Aspekte der Interpretationsleistungen darstellen. Als wie wichtig dies von den Lernenden erachtet wird, ist dem unten angefügten Interviewausschnitt zu entnehmen, der sich auf die Frage, was Interpretieren bedeutet, entwickelte und hier für sich alleine, ohne weiteren Kommentar wirken soll: S 25 Eigentlich interpretiert man ja äh, die Sachen daraus, die man erkennt. I Mhm. S 25 Also, nimmt die Sachen aus dem Text also, die man für sich erkennt. Und äh, das Problem ist, die müssen dann so umgeformt werden für den Lehrer. Und wenn manwenn man es frei machen kann, dann kann man äh, so, äh, lassen, wie man sie auch rausgenommen hat. Und v-vielleicht, gut man bildet sich vielleicht noch was eigenes dazu, aber was vielleicht auch manchmal gar nicht falsch ist. Und äh, ja- I Mhm. 10: 24 S 21 Ich find auch immer, also jetzt im Deutschunterricht oder so, da gibt’s dann f-für diese Bücher immer ne genaue, feste Form, was jetzt erarbeitet werden soll und da macht der Lehrer dann solange äh, bis genau das von den Schülern erarbeitet wurde. S 15 Ja. S 21 Praktisch. Und hier konnt man ja dann auch selber sich einbringen. Und da wird dann halt solang nachgehakt und alles, äh, bis dann dieses Vorgegebene erreicht wurde. I Mhm. S 15 Ich fand L hat das auch ganz anders gemacht als zum Beispiel wie wir’s jetzt in Deutsch gemacht haben. Weil, wir konnten halt da sagen, was wir gedacht haben. Und dann hieß das nie, ja, jetzt denkt doch mal in die Richtung, oder so, sondern einfach, ja das ist ja auch ne interessante Art, das zu denken. Also. I Ja. S 15 Es war immer. Also, ich weiß nicht, das war ganz anders. Weil (unverständlich) dann sagt der Lehrer zum Beispiel, ja jetzt denkt doch mal in die Richtung, was der jetzt da denken könnte, und da wird uns immer so ne Richtung irgendwie so eingedrückt. I Aha. <?page no="332"?> 332 S 15 Wo-was wir dann vielleicht irgend-dass wir dann irgendwann da mal drauf kommen, was -was der Lehrer dann hören will. Und das war jetzt in Englisch ganz anders, fand ich. Tabelle 116: Schülerinterview G10 II (§ 446 - 459) 7.3.2.5 Reflexion von Sprache und literarischer Produktion Für den nun im Mittelpunkt stehenden Bereich sind auch gehäufte Randerscheinungen innerhalb der Codierung auszumachen. Zunächst soll auf den Bereich der Reflexion von Sprache eingegangen werden. Autogene Faktoren Die Ebene der Lernenden Reflexion von Sprache Die Schülerinnen und Schüler … C4a  unterscheiden metaphorischen Sprachgebrauch und wörtliche Bedeutung. C4b  erfassen Konnotationen und sprachliche Unbestimmtheiten. C4c  betrachten sprachliche Aspekte analysierend. C4e  benennen die Selbstreferentialität literarischer Sprache. Tabelle 117: Maximierte Differenz Autogene Faktoren IV Hier sind es gleich mehrere Indikatoren des Bereichs, die nur wenige codierte Ereignisse in den Daten aufweisen. Und so gilt beispielsweise für den ersten Indikator (C4a), dass dieser nur in Verbund mit weiteren Deskriptoren des Bereichs zu diskutieren ist: S 16 Aber man konnte es gut verstehen eigentlich. Weil bei Gedichten fällt einem das Verstehen, Verstehen eigentlich bisschen schwerer, weil, weiß net. C4e S 18 Ja. Weil Gedichte meistens noch irgendwie ne zweite Meinung haben. C4b S 16 Metaphern und so. C4a I Mhm. S 18 Versteckt irgendwie die Bedeutung ist irgendwie versteckt, bei den meisten Gedichten. C4b I Ja. S 18 Dass das irgendwie die Wörter bedeuten eigentlich nicht das, was sie eigentlich bedeuten. C4b I Ja. S 18 Dass das irgendwie hinten rum erst entschlüsselt werden muss. Also war zumindest bei mir im Deutschunterricht bei den meisten Gedichten so - Das da eigentlich was anderes stand, wie es bedeutet hat. C4b Tabelle 118: Schülerinterview R10 I (§ 153 - 161) <?page no="333"?> 333 Die Schülerinnen und Schüler sprechen über die Auseinandersetzung mit dem Gedicht A LABAMA C ENNTENIAL . Gleich zu Beginn des Ausschnitts wird von S 16 etwas angesprochen, was codierungsseitig so interpretiert wird, dass die Schülerin auf die Selbstreferentialität literarischer Sprache hinweist (C4e). Der Schülerin gelingt es zwar nicht zu verdeutlichen, woran sie die Schwierigkeiten beim Verstehen von Gedichten festmacht, sie spricht aber implizit die Besonderheiten literarischer Sprache an. Hier also von einer Anforderungssituation zu sprechen, ist darauf zurückzuführen, dass Situationen, in denen literarische Sprache zum Gegenstand der Auseinandersetzung gemacht werden, potentiell im Unterricht und auch in Phasen der Metareflexion über Gelesenes denkbar sind 38 . Neben den angeführten Einschränkungen ist es so, dass die Schülerinnen und Schüler Sprache zum Gegenstand der Auseinandersetzung machen. S 18 greift die Schwierigkeiten beim sprachlichen Verstehen auf und spricht von einer „zweiten Meinung“, die er in Gedichten erkennt. Codierungsseitig ist dies so zu interpretieren, dass der Schüler Konnotationen und sprachliche Unbestimmtheiten (C4b) anspricht. S 16 geht darauf ein und erwähnt „Metaphern und so“. Auch hier wird das explizit Erwähnung Findende dazu genutzt, einen Indikator abzuleiten, der in ähnlichen Situationen, aber auch im Unterrichtsgeschehen, zum Beschreiben von literarischen Teilleistungen Verwendung finden könnte. Denn im Erwähnen des Begriffs wird deutlich, 38 Die Frage dabei lautet, inwiefern solche Situationen einen eigenen Indikator rechtfertigen, insbesondere wenn man bedenkt, dass literarische Sprache im weiteren Verlauf der Sequenz durchaus Gegenstand der Auseinandersetzung ist. Zu rechtfertigen ist dies nur, indem man die theoretische Relevanz der abstrahierten Leistung anführt. Zugegebenermaßen mag dies auf eine heuristische Überstrukturierung zurückzuführen sein. Und zwar insofern, dass ein Ereignis dahingehend interpretiert wird, dass es als Indikator für eine Teilleistung gesehen wird, der sich in der angesetzten Feinheit der Abstufung von artverwandten unterscheidet. Den Indikator eigenständig anzuführen, soll auch dazu dienen, offene Fragen innerhalb der Modellierung anzusprechen und solche als Randerscheinung zu wertende Elemente des Modells durchaus zur Disposition zu stellen. Ausschlaggebend für die vorgenommene Codierung ist die Situation im Interview, da über das Verstehen von Sprache gesprochen wird. Und das, was die Schülerin thematisiert, bezieht sich auf die sprachliche Gestaltung des im Unterricht behandelten Gedichts, die sie verallgemeinernd von anderen ihr bekannten Gedichten unterscheidet. Zu folgern ist also, dass das im Indikator Enthaltene weiterer Forschung bedarf und nur damit zu legitimieren ist, dass es theoretisch relevant für literarisches Verstehen im fremdsprachlichen Unterricht ist und zudem innerhalb der abstrahierten Dimensionierung des Bereichs eine verbindende Funktion einnimmt, die - wenn auch nur deskriptiv als Schwundstufe zu interpretieren - doch normativen Aspekten gerecht wird. Hier zeigt sich gewissermaßen, dass theoretisches Vorwissen den Blick auf empirisch zu Beschreibendes verändert. <?page no="334"?> 334 dass es dem Schüler bei der Auseinandersetzung mit Gedichten gelingt, metaphorischen Sprachgebrauch und wörtliche Bedeutung voneinander zu unterscheiden (C4a). Was die beiden Schüler hier beinahe in einem Zwiegespräch verhandeln, hat mit verstehenden Konstruktionsleistungen zu tun, denn S 18 reagiert erneut, sprich von einer versteckten Bedeutung, die es aufzuspüren gilt und verweist damit auf Konnotationen und sprachliche Unbestimmtheiten, die es zu erfassen gilt (C4b). Besonders den Ausführungen von S 18 ist zu entnehmen, dass es dem Schüler zwar nicht gelingt, die Besonderheiten der sprachlichen Gestaltung in Gedichten spezifisch zu benennen, dies aber eher auf fehlendes Fachwissen bzw. Fachsprache zurückzuführen ist als auf ein Übersehen dieser Merkmale, denn in seinen Umschreibungen werden sie thematisiert: Die Unterscheidung von metaphorischem Sprachgebrauch und wörtlicher Bedeutung sind in dem zu finden, was er als „hinten rum entschlüsselt“ umschreibt, Konnotationen und Unbestimmtheiten in „die Wörter bedeuten eigentlich nicht, was sie eigentlich bedeuten“. Symbolisches Wissen, das dann eingesetzt werden muss, wenn „eines oder mehrere Textelemente pragmatisch keinen Sinn machen, wenn sich also eine weitere Bedeutung aufdrängt“ (Kammler 2006c: 196), wird vom Schüler eindringlich beschrieben. Im oben Gesagten werden Teilleistungen angesprochen, die auch einen weiteren Indikator betreffen, der sich auf die Reflexion literarischer Produktion bezieht. Autogene Faktoren Die Ebene der Lernenden Reflexion von literarischer Produktion Die Schülerinnen und Schüler… C5d  gehen mit sprachlicher Ambiguität, Formen der Symbolik, der Andeutung und Mehrdeutigkeit um. Tabelle 119: Maximierte Differenz Autogene Faktoren V Auch hier ist es so, dass die Formulierung des Indikators normativen Momenten geschuldet ist, sich also deskriptiv auszumachende Phänomene lediglich als Schwundstufe zeigen, die nicht alles in der Formulierung Enthaltene als Eigenschaft vereinen. Dies liegt vor allem in der Absicht begründet, für potentiell weitere Phänomene offen zu sein, die als Typ einer Anforderungssituation gelten können und dann eine Vielzahl hinreichend vergleichbarer Situationen beschreibbar machen, wodurch sich im Sinne einer Anforderungssituation normative Momente mit deskriptiven vereinbaren lassen. I Mmh… Ähm. Ich weiß nicht. Vielleicht könnt’ ihr euch noch dran erinnern. Am Anfang als es los ging, hatten wir ja nur den Titel. Ja? Die Geräusche und die Bilder. Und ihr solltet ja dann schon Vermutungen darüber anstellen, worum es in der Geschichte gehen kann. Wie macht <?page no="335"?> 335 man das, wenn man nur Titel, Bilder und Geräusche hat? S 12 Ähm, irgendwie nach dem Klang - Also - Es gibt ja irgendwie - so bestimmte Begriffe, die. Da kann man schon aus’em Klang heraus hören nach was sich das anhören könnte. C5d I Mmh. S 12 Und Ta-Na-E-Ka ist ja schon irgendwie so was - Kulturelles. Irgendwie - Historisches denk’ ich mal. Tabelle 120: Schülerinterview E10 II (§ 172 - 175) Die Schülerin reagiert auf die vom Untersuchungsleiter gestellte Frage nach den Vorgängen, die zu Beginn der Einheit dazu führten, dass die Lernenden in Verbindung mit Geräuschen und Bildern Erwartungen an den Titel Ta-Na- E-Ka und den Inhalt der Geschichte formulierten. Die Schülerin spricht den Titel als „Begriff“ an und verweist auf den ihm eigenen Klang. Indem sie angibt, dass man „heraus hören“ könne, „nach was sich das anhört“, spricht sie Aspekte der sprachlichen Gestaltung an, die sie für die Hypothesenbildung nutzen kann. Berührt wird hier zudem, was bereits oben erwähnt wurde, nämlich, dass die Fremdartigkeit des Klanges auf eine weitere Bedeutung hinweist, hier also von der Schülerin der Umgang mit sprachlicher Ambiguität und mit Formen der Symbolik (C5d) thematisiert wird. Deutlicher wird dies in der zweiten Hälfte ihrer Aussage, denn hier spricht sie die im Titel enthaltene Symbolik direkt an, umschreibt die sich ihr aufdrängende weitere Bedeutung als „irgendwie so was - Kulturelles“: Die Schülerin sprich von der Fähigkeit, sich durch die Bedeutungszuschreibung der dem Titel anhaftende Symbolik auf ein unbekanntes Konzept einzulassen. Wichtig ist es hier erneut, den Kontext zu bemühen, in dem sich diese hier retrospektiv verhandelten Leistungen zeigen, denn im Unterrichtsgeschehen wurde der Titel im Austausch untereinander entschlüsselt, wurde von den Schülerinnen und Schülern entlang der unterrichtlichen Situation das unbekannte Konzept gemeinschaftlich ausgestaltet. In etwas anderer Form zeigt sich der Indikator in einer Sequenz, die dem Schülerinterview der Fallstudie G10 II entnommen ist. Die Lernenden reagieren auf die Frage, ob die in der Einheit eingesetzten Arbeitsschritte ihnen beim Verstehen der Short Story T HE K ILLERS geholfen haben. S 9 Ja, aber jetzt auch in Deutsch immer dann, wenn wir dann sagen, ja, ich denke das ist so und so, dann sagt die L, ja und was ist mit Textbelegen und so. S 25 Ja (nickt). S 9 Manchmal muss man halt auch zwischen den Zeilen lesen. Und. C5d I Mhm. Mhm. S 9 Das, naja (lacht). <?page no="336"?> 336 S 12 Ja in Deutsch bekommen wir ja meistens so n, so ne Textstelle, die wir lesen sollen und dazu dann irgendeinen Arbeitsauftrag, den wir dann auf die Textstelle beziehen sollen. Und dann muss man halt daraus immer - Zitate nehmen und dann damit belegen, also- I Mhm. 10: 17 S 12 Deswegen eigentlich immer (räuspert sich), man muss halt immer gucken, was da steht. I A-aber das haben wir ja auch gemacht, oder? S 17 Ja. S 25 Aber in anderer Form, haben wir, also das- S 17 Hatten wir mehr-mehr Freiraum. Tabelle 121: Schülerinterview G10 II (§ 319 - 331) Interessant ist, dass die Lernenden auf für sie Grundsätzliches bei der unterrichtlichen Arbeit mit literarischen Texten zu sprechen kommen. Die mit dem C5d Indikator codierte Äußerung von S 9 bezieht sich auf die als gängelnd empfundene Lenkung durch die Lehrkraft im Deutschunterricht, die der Schüler den Handlungs- und Produktionsanlässen der Unterrichteinheit gegenüberstellt. Er spricht sich dagegen aus, Lesarten und geäußerte Sinnaspekte ausschließlich an Textbelegen festzumachen, die der Textoberfläche zu entnehmen sind, und dass er dabei nicht etwa eine textferne Bedeutungszuweisung rechtfertigt, sondern zu erkennen gibt, dass er die Polyvalenz literarischer Texte mit unterschiedlichen Bedeutungsebenen verbindet und damit implizit Aspekte des close reading anspricht, ist in der Aussage enthalten, man müsse manchmal „auch zwischen den Zeilen lesen“. Damit kommt der Schüler auf einen Bereich des Wissens und Könnens zu sprechen, der es ihm erlaubt, mit Formen der Andeutung und Mehrdeutigkeit in literarischen Passagen umzugehen (C5d). S 12 geht darauf weiter ein und führt Textstellen und Zitate an, die dann für die Aufgabenbearbeitung benutzt werden müssen. Anknüpfend an die Aussage, man müsse „halt immer gucken, was da steht“ wird vom Untersuchungsleiter gefragt, ob das nicht in der Einheit auch der Fall gewesen sei. Darauf reagieren zwei Lernende und heben betont hervor, dass Textnähe zwar auch eine Rolle gespielt habe, den Lernenden aber entlang der Handlungs- und Kommunikationsanlässe weitaus mehr „Freiraum“ und Freiheiten eingeräumt wurde. Auch hier scheint eine Lesehaltung durch, die besonders die Lernenden dieser Fallstudie auch schon in anderen Sequenzen zum Ausdruck gebracht haben, dass nämlich eine verstehende Auseinandersetzung bedeutet, unterrichtliche Lenkung - bezogen auf die Rolle der Lehrkraft und der Aufgabenstellung - so zu gestalten, dass die Diversität und Subjektivität der Sinnstiftung als bereicherndes Merkmal des gemeinsamen Unterrichts fungieren kann, in dem dann auch die Fähigkeit der Schülerinnen <?page no="337"?> 337 und Schüler gefordert und gefördert wird, mit Andeutungen und Unbestimmtheiten, mit Formen der Symbolik und sprachlicher Ambiguität umzugehen. Berührt ist damit erneut der Aspekt der Deutungshoheit über literarische Texte, die immer auf Seiten der Interpretationsgemeinschaft liegen sollte, wobei die Lehrkraft als Teil dieser Gemeinschaft zu verstehen ist, die zwar lenkt, aber nicht beschränkt, die den Lernenden dabei hilft, sich vom Text und den Lesearten innerhalb der Gemeinschaft leiten zu lassen, in der eigenen Deutung aber Freiheit vom Text zu erlangen. 7.3.3 Sonderfall Beispielaufgaben Dass mit den Beispielaufgaben Besonderheiten einhergehen, ist bereits in der Überschrift angelegt. Zu ergründen sind diese, indem man zunächst auf Aspekte eingeht, die in Zusammenhang mit dem explorativen Charakter der Studie und dem zirkulären Design zu sehen sind. Zwar wurde bereits an früherer Stelle der Arbeit deutlich gemacht, dass Überprüfbarkeit bzw. Objektivierung literarischer Kompetenz nicht Teil des Erkenntnisinteresses ist (cf. 5.). Es ist allerdings so, dass im Verlauf der Forschung damit in Verbindung stehende Fragen nicht völlig ignoriert wurden. Auf diese einzugehen, setzt voraus, den Fokus der Fragestellung zu schärfen: Von Interesse ist dabei vornehmlich der Leitgedanke der Modellierung, dass von der zu beobachtenden Performanz auf eine zugrundeliegende Kompetenz geschlossen wird (cf. 5.1; vgl. Beck/ Klieme 2007: 4). Es ist jedoch zu betonen, dass dafür bei der Modellierung die Schülerleistungen im Kontext der Domäne zentral sind, dass das Leistungsspektrum der Lernenden im Unterricht dazu dient, von konkretem Verhalten auf Handlungsdispositionen rückzuschließen, was zusätzlich um die Einsichtnahmen in den retrospektiven Interviews ergänzt wurde. Beispielaufgaben, die in den Gruppen G10 II, E10 I, R10 I und II sowie H9 I Verwendung finden, sind daher nicht als Testformate literarischer Kompetenz zu verstehen. Vielmehr steht im Vordergrund auszuloten, inwiefern Aufgabenformate dazu beizutragen vermögen, Wissen und Können zu elizitieren und als Impulsgeber für Handlungs- und besonders Kommunikationsanlässe im Unterricht zu dienen. Dass zudem auch interessiert im Blick behalten wird, ob Ansätze der Objektivierbarkeit aufscheinen, ist nicht zuletzt als Teil der Grundlagenforschung zu verstehen. Als ersten Schritt der eingehenderen Analyse bietet es sich an, die Beispielaufgaben zu typisieren. Diesem Schritt haftet auch ein Grund für die Namensgebung an, denn die verwendeten Aufgaben sind gerade deshalb beispielhaft, weil damit angezeigt werden kann, für welche Zwecke Aufgabenformate im fremdsprachlichen Literaturunterricht geeignet sind. Die namentliche Nähe zu den kommentierten Aufgabenbeispielen der Bildungsstandards <?page no="338"?> 338 (vgl. KMK 2004a, 2005; cf. 3.2.2) spiegelt sich auch in dem Versuch wieder, einen Bezug zu der damit einhergehenden Leistung zu etablieren. Beispielaufgaben sind auch deshalb von den durch die Impulse der Lehrkraft eingeleiteten Situationen, die bei der Analyse der Fallstudien stets als tasks bezeichnet wurden, im Unterricht zu unterscheiden und haben keinen Einfluss auf die noch folgende Typisierung prototypischer Situationen, die auf abstrahierte Merkmalsräume zur Beschreibung der Interaktion der Komponenten des Kompetenzmodells im Sinne von planbarem, potentiellem Verhalten zielen. Mit Beispielaufgaben kann auf das text model oder das situation model fokussiert werden (vgl. Grabe 2009; cf. 4.1.1). Ersteres ist vor allem durch fixed response formats (multiple choice questions, true-false questions, cloze test) zu realisieren, letzteres durch sogenannte constructed response Formate, beispielsweise durch short answer questions (vgl. McNamara 2000: 30). Beispielaufgaben werden entweder am Ende der Einheit (E10 I, G10 II) oder im Verlauf der Einheit eingesetzt (R10 I und II, H9 I). Wendet man sich zunächst den auf das text model fokussierenden Aufgabenformaten zu, so ist anzumerken, dass hier vor allem mit dem Leseverstehen in Verbindung stehende Teilleistungen zugänglich gemacht werden können. Hier kommt erneut das ins Spiel, was bereits innerhalb der Analyse der Fallstudie H9 II am Modell von Burwitz-Melzer (2007a) kritisiert wurde (cf. 7.2.4.2) und sich auf die Vielzahl von nicht zu beobachtenden Prozessebenen bezieht, die dort (vgl. ebd.: 140) im Arbeitsschritt „Sinnkonstitution I“ den kognitiven und affektiven Kompetenzen zugeordnet werden. Beispielaufgaben, die mit dem text model in Verbindung stehen, lassen sich dazu verwenden, Kohäsions- und Kohärenzbildungsprozesse zumindest ansatzweise in Aufgabenstellungen zu übertragen. Fixed response Formate können sich auf Leistungen beziehen, in denen beispielsweise räumliche, zeitliche und logische Strukturen rekonstruiert werden müssen, indem dem Text entnommene Abfolgen von Handlungen in die richtige Reihenfolge gebracht werden müssen (E10 I). Oder aber es stehen anaphorische und kataphorische Beziehungen im Vordergrund, indem beispielsweise in einem cloze test enthaltene Lücken in Form von Proformen gefüllt werden müssen (E10 I). Multiple choice und true-false questions können auf zweierlei Weise Verwendung finden. Mit dem Einsatz innerhalb der Einheit kann auf einen selektiv anzuwendenden Lesemodus (A3a) gezielt werden, indem zwischen Distraktoren und Lösung unterschieden werden muss (R10 II, H9 I). Setzt man solche Aufgabenformate am Ende der Einheit und damit dem Leseprozess nachgelagert ein, so muss zur Lösung auf ein mentales Modell des Textes zurückgegriffen werden (E10 I). Für beide Formen gilt, dass so nur Informationen, die der Textoberfläche zu entnehmen sind, eingebunden werden können. Das, was bereits bei der Auseinandersetzung mit den Aufgabenformaten der DESI-Studie kriti- <?page no="339"?> 339 siert wurde (cf. 4.1.2), gilt auch hier: Leseverstehen beschränkt sich bei fixed response Formaten auf Informationsentnahme. Da aber das text model auf eine Rekonstruktion der in der Textoberflächenstruktur enthaltenen Information angewiesen ist, stellt sich dieses Aufgabenformat besonders in ausdrucksseitig eher leistungsschwächeren Gruppen als Hilfsmittel dar, können so doch informationsentnehmende Leseleistungen im Unterricht als Ausgangspunkt auch für inhaltliche Gespräche dienen (denn Formulierungen im Aufgabenformat können als sprachliche Hilfestellung genutzt werden), die dann Interpretationsleistungen im Sinne eines Verständnisses der im Text verhandelten Konflikte und der agierenden Charaktere darstellen. Da fixed response Formate mit richtig und falsch bewertet werden können (auf eine Ausnahme wird später noch eingegangen), ist es mit ihnen möglich, Rückschlüsse auf das mit dem text model in Verbindung stehende Leseverstehen zu treffen. Weil aber, wie bereits angemerkt, dieser Aspekt nicht im Vordergrund des Erkenntnisinteresses der Studie steht - und aus den Ergebnissen gewonnene Einsichten gewissermaßen als Nebenprodukt zu verstehen sind -, wurden der Einheit nachgelagerte Beispielaufgaben nicht in allen teilnehmenden Gruppen eingesetzt. Zur Veranschaulichung werden an dieser Stelle die fixed response Formate vorgestellt, die in der Gruppe E10 I (cf. 7.2.2.1) der Einheit nachgelagert Verwendung fanden: Stimulus Format 1) Tick the correct answer. The Baby’s name is…. Charles Harriet Bob The baby’s name is not in the text. Multiple Choice Questions 2) Name two things Harriet is doing while the Winters are away! Short Answer Question 4) Please fill in the missing words! Harriet stood outside the __door__ and tried to hear the sound of a ___baby___ breathing but __she__ couldn’t hear anything. Why had Harriet agreed to babysit when Mr. Winter asked __her__ at the swim club? She had never seen ___him__ before, and it was nice that __he__ thought __she__ was qualified to be a babysitter. Cloze Test / Gap-Filling Activity 5) Please number the following sentences. Bring them into a correct order! __5___ Mr. Winter drives Harriet home. __3___ Harriet turns the knob on the baby’s door. __2___ Harriet should not look in on the sleeping baby. __4___ The baby’s door seems to be locked. __1___ Harriet had never held a baby, except for one brief moment. Structuring- Activity <?page no="340"?> 340 7) Tick the correct answers (there is more than one correct answer). The Winters…. wanted Harriet to leave before checking on the baby. asked Harriet a lot of questions. gave Harriet too much money. played with the baby. didn’t ask her about anything. were disappointed in Harriet. Multiple Choice Questions 8) Tick the correct answer. Whose thoughts do we ‘hear’ in the Story? the baby’s thoughts. Harriet’s thoughts. Mr. Winter’s thoughts. Mrs. Winter’s thoughts. Multiple Choice Questions Tabelle 122: Der Einheit nachgelagerte fixed response Formate (E10 I) Allen Aufgaben ist gemein, dass sie entsprechend der Kriterien richtig und falsch beurteilt werden können. Dies gilt auch für die einzige short answer question in der Liste, müssen doch für die Lösung Informationen der Textoberfläche entnommen werden. Die Lösungsverteilung stellt sich wie folgt dar: Abbildung 6: Lösungsverteilung auf das text model zielender Aufgabenformate Blickt man auf die Lösungsverteilung, so fällt auf, dass die Aufgaben 4, 5 und 7 von zehn bzw. elf Schülerinnen und Schülern nicht richtig gelöst wurden. In diesem Zusammenhang ist kritisch anzumerken, dass diese Ergebnisse nicht unbedingt auf mit dem text model in Verbindung stehende Leseverstehensleistungen verweisen, da durch die der Einheit nachgelagerte Bearbeitung der Aufgabe 1 Aufgabe 2 Aufgabe 4 Aufgabe 5 Aufgabe 7 Aufgabe 8 Lösungsv erteilung 24 20 14 13 13 18 Schüleranzahl 24 24 24 24 24 24 0 5 10 15 20 25 30 Anzahl SuS mit richtigen Lösungen Fixed Response Formats <?page no="341"?> 341 Aufgaben der Faktor Gedächtnisleistung einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Lösungsverteilung haben kann. Mit der Lehrkraft wurde eigentlich verabredet, dass die Lernenden zur Beantwortung der Fragen den Text nutzen konnten. Bei der Bearbeitung der Aufgabenformate im Unterricht wurden die Lernenden allerdings angewiesen, den Text nicht zu verwenden. Problematisch ist dies insofern, da sich dadurch verschiedene Ebenen vermischen: Die der Lesephase und die der Bearbeitung der Aufgaben, wobei zwischen beiden mehrere Schulstunden liegen. Die Aufgabenformate werden hier auch deshalb angeführt, weil mit ihnen auf Problemlagen zu verweisen ist, denn als potentielle Testformate sind sie nur geeignet, wenn - ähnlich wie dies im PISA Konstrukt zum Leseverstehen realisiert ist (cf. 4.1.2) - nicht „zwischen einer Lesebzw. Lernphase einerseits und einer Testphase andererseits unterschieden“ wird (Baumert/ Stanat/ Demmrich 2001: 24). Abzuleiten ist daher aus dem in der Fallstudie E10 I unternommenen Versuch, Beispielaufgaben der Einheit nachgelagert einzusetzen, dass mit dem text model in Verbindung stehende fixed response Formate nur dann eine Bereicherung für die unterrichtliche Auseinandersetzung darstellen, wenn sie als Ausgangspunkt für inhaltliche Gespräche dienen und in die Einheit eingebettet Verwendung finden. Weitaus problematischer, weil nicht eindeutig, ist die Bewertung von constructed response Formaten zu sehen. Hier steht das situation model im Vordergrund. Und mit diesem sind die Konstruktionsleistungen der Schülerinnen und Schüler verbunden. Zum Einsatz kamen vor allem short answer questions, sowohl im Verlauf der Einheit (R10 I) als auch nachgelagert (E10 I, G10 II). Die gegebenen Antworten zu bewerten, erfordert Interpretationsleistungen, die in Zusammenhang mit dem Inhalt des Stimulus der Aufgabe und der Lösungserwartung zu sehen sind. Teilleistungen, die damit zugänglich gemacht werden können, beziehen sich vornehmlich auf Bestandteile endogener und autogener Faktoren. So können die gegebenen Schülerantworten beispielsweise dahingehend untersucht werden, ob im Sinne einer Interpretationsleistung Stellung zu Textinhalten genommen wird (A3f), ob Leerstellen des literarischen Textes gefüllt werden (B2c), ob Handlungen und Motive (B1b) sowie Einstellungen und Gefühle (B1c) der Charaktere kommentiert werden, ob diesen kritisch widersprochen wird (C3c, C3d), ob der Wirklichkeitsentwurf auf eine außerliterarische Realität bezogen wird (C3a), oder ob literarische Produktionsaspekte reflektierend betrachtet werden (C5b). Für die Gruppe E10 I stellt sich die Lösungserwartung wie folgt dar: <?page no="342"?> 342 Stimulus Lösungserwartung 3) What do you think? Is Harriet’s behavior ok? Would you have done the same? Ü BERDURCHSCHNITTLICH : Wenn Harriets Verhalten problematisiert wird, oder aber die Normverletzung der Situation, nämlich nicht nach dem Babys zu sehen, Gegenstand der Ausführung ist. D URCHSCHNITTLICH : Wenn SuS Harriets Verhalten lediglich auf die elterliche Anweisung beziehen und damit den zentralen Konflikt der Geschichte außen vor lassen. U NTERDURCHSCHNITTLICH : Wenn die Frage ohne Begründung bejaht bzw. verneint wird. 6) In a few words, write down what you think the story is about! Ü BERDURCHSCHNITTLICH : SuS reflektieren und deuten den zentralen Konflikt und das Außergewöhnliche im Text und imaginieren Motive und Beweggründe der Charaktere. D URCHSCHNITTLICH : SuS benennen das Außergewöhnliche, ohne es zu deuten. U NTERDURCHSCHNITTLICH : SuS führen entweder lediglich das Setting Babysitting als Thema an oder lassen die Frage unbeantwortet. 9) Is Harriet telling the story? Or is the story told by a narrator (Erzähler)? What do you think? Please give reasons for your opinion. Ü BERDURCHSCHNITTLICH : SuS identifizieren den Erzähler und veranschaulichen ihre Entscheidung für diese Antwortmöglichkeit mittels Beispielen der Erzählsituation und erklären diese in ihrer Funktion. D URCHSCHNITTLICH : SuS beschränken sich auf einige wenige Beispiele und deuten diese nicht. U NTERDURCHSCHNITTLICH : In einem Fall wird nur der Erzähler erwähnt und im anderen Fall die Frage überhaupt nicht beantwortet. Tabelle 123: Der Einheit nachgelagerte constructed response Formate (E10 I) <?page no="343"?> 343 Die Auswertung der Antworten entlang der Kriterien überdurchschnittlich, durchschnittlich und unterdurchschnittlich lässt sich grafisch wie folgt abbilden: Abbildung 7: Lösungsverteilung auf das situation model zielender Aufgabenformate (E10 I) Interessant an der Lösungsverteilung ist besonders im Zusammenhang mit den vorangegangen dargestellten fixed response Formaten, dass hier eher auf Leseverstehensleistungen geschlossen werden kann. Denn selbst bei als unterdurchschnittlich zu wertenden Leistungen der Schülerinnen und Schüler (außer in jenen Fällen, in denen die Aufgabe unbeantwortet bleibt), kongruieren die gegebenen Antworten mit dem text model, rekonstruieren die Schülerinnen und Schüler aus der Textoberfläche zu entnehmende Informationen und deren Beziehungen untereinander. In Hinblick auf das situation model und damit auf als interpretierend zu wertende Konstruktionsleistungen ist dagegen anzumerken, dass durch die der Einheit nachgelagerte Bearbeitungssituation der Aufgaben, die zudem eine individuelle darstellt, das Aufgabenformat im Vergleich zu den tasks der Einheit weitaus weniger geeignet ist, spezifisches Verhalten in konkreten Situationen zu binden. Dies liegt zum einen daran, dass der Stimulus der Aufgabe weit weniger als trigger für spezifisches Verhalten fungieren kann, als dies bei Kommunikations- und Handlungsanlässen im Unterricht der Fall ist. Oder anders gesagt: Konkrete Situationen sind domänenspezifisch im unterrichtlichen Kontext verortet, dahingegen präliminieren Beispielaufgaben - vor allem der Einheit nachgelagerte - die Situation derart, dass eine Lösungserwartung bereits der Formulierung der Stimuli innewohnt, was nicht zuletzt die Bandbreite der Antwortmög- Aufgabe 3 Aufgabe 6 Aufgabe 9 überd urchschnittlich 9 6 12 durchschnittlich 8 9 10 unterdurchschnittlich 7 9 2 Schüleranzahl 24 24 24 0 5 10 15 20 25 30 Anzahl SuS Constructed Response Formats <?page no="344"?> 344 lichkeiten, des individuellen Lösungswegs im Sinne einer Konstruktionsleistung beschränkt. Zum anderen ist diesbezüglich anzuführen - und hier spielt die Bearbeitungssituation eine bedeutsame Rolle -, dass die sozial geteilte Auseinandersetzung mit literarischen Texten im Unterricht, also der Austausch der Lesenden untereinander und in Verbindung mit der didaktischmethodischen Lenkung durch die Lehrkraft, die als Faktoren auf die elaborierte Entwicklung von Konstruktionsleistungen in einer als Interpretationsgemeinschaft verstandenen Lerngruppe einen so wesentlichen Einfluss nehmen, durch constructed response Formate nicht zu integrieren ist. Was also als Vorteil der vorangegangen besprochenen fixed response Formate beschrieben wurde, nämlich, dass sie in die Einheit eingebunden die unterrichtliche Auseinandersetzung als Ausgangspunkte für die inhaltliche und damit als interpretierend zu wertende Handlungs- und Kommunikationsanlässe dienen können, gilt für constructed response Formate nicht in gleichem Maße. Im Vergleich zu echten tasks fehlt ihnen die soziale Komponente, und die Lösungserwartung beschränkt die Entfaltung individuellen Potentials in konkreten Situationen, allein schon deshalb, da die durch das Aufgabenformat herbeigeführte Situation eine artifizielle, eine der gemeinschaftlichen Auseinandersetzung nachgelagerte ist. Aus diesem Grund wurde auf einen Einsatz von constructed response Formaten im Verlauf der Einheiten verzichtet. Nachgelagert kommen sie nur noch in der Gruppe G10 II zum Einsatz. Hier sind es vor allem Teilleistungen, die der Reflexion von Sprache und von literarischer Produktion zuzuordnen sind, auf die bei der Formulierung von Stimulus der Aufgabe und Lösungserwartung gezielt wurde. Dass diese Aufgaben hier nur von der konzeptionellen Seite besprochen werden, dass keine Lösungsverteilung angefügt wird, liegt an der sehr geringen Rücklaufquote innerhalb der Gruppe (lediglich fünf der nachgelagert eingesetzten Aufgabenblätter wurden abgegeben). Bei der Konzeptionierung der Aufgaben stand im Vordergrund zu eruieren, inwieweit die Stimuli sich geeignet zeigen, Leistungen hervorzurufen, die dahingehend zu interpretieren sind, dass die Lernenden Aspekte der sprachlichen Gestaltung analysierend betrachten (C4c) oder mit Formen der Symbolik, der Andeutung und Mehrdeutigkeit umgehen (C5d). Bezogen auf die Textgrundlage T HE K ILLERS sind hier beispielhaft zwei Stimuli gegeben, die wie folgt gestaltet sind: 1) The town where the story takes place is called “Summit”. What could it stand for? Please give reasons for your choice. Here are some words to help you: Summit: Noun THE HIGHEST POINT OR PART ; THE HIGHEST POSSIBLE DEGREE OR STATE <?page no="345"?> 345 2) Please have a look at page three, line 18: “Henry’s [lunchroom] had been made over from a saloon into a lunch counter”. Do you think this information is important for the understanding of the story? Can you give reasons? Zwei Antworten von Schülerinnen auf Stimulus 1 sind von besonderem Interesse: S 12 Summit could stand for the highest point of Ole Anderson’s life. He accepted his death and waits for it. His life story turns now and gets closer to his end. It’s like a classic drama [Zeichnung: Einleitung, Höhepunkt, Schluss: I.S.]. S 15 Maybe the story takes place at a town called ‘summit’ because Ole Anderson was sick of running away and a summit is obviously and he wanted the ‘killers’ to find him because he was ready to die. Entsprechend der Lösungserwartung und entlang der angebotenen einsprachigen Semantisierungshilfe deuten beide Schülerinnen den Namen der Stadt als Chiffre, die es zu entschlüsseln gilt. Trotz der auszumachenden grammatischen und lexikalischen Schwierigkeiten zeigen sie dabei , dass sie den im Text verhandelten Konflikt, die erzählte Ausweglosigkeit und damit einhergehende Apathie Oles nutzen, um mit der im Stadtnamen enthaltenen sprachlichen Ambiguität umzugehen und die darin enthaltene Symbolik auf den eigenen Interpretationsansatz beziehen. S 12 fasst Summit als Wendepunkte in Oles Leben, als Klimax, auf den nur das Ende folgen kann, und in dem sie Parallelen zum dramatischen Aufbau sieht. Ähnlich und doch anders formuliert S 15 ihre Deutung: Auch hier spielt der Gipfel als Wendepunkt eine Rolle, allerdings wird Summit hier eher als Trope interpretiert, indem die Schülerin einen bildlichen Vergleich zur Exponiertheit erstellt: Summit wird als etwas Ausgesetztes, etwas weithin Sicht- und Erkennbares gefasst - darauf deutet zumindest die grammtisch nicht korrekt verwendete Struktur „a summit is obviously“. In diese Semantisierung des literarischen Ortes bindet die Schülerin sodann das Fanal Oles mit ein und ergänzt dies um dessen Entscheidung, durch Passivität sein eigenes Schicksal zu besiegeln. Obwohl sich die Schülerantworten unterscheiden, spiegelt sich doch in beiden der Horizont der Lösungserwartung. Schon aufgrund der geringen Rücklaufquote ist allerdings nicht zu entscheiden, ob es sich dabei um überdurchschnittliche, durchschnittliche oder unterdurchschnittliche Antworten handelt. Hier ist erneut die Problematik der Bewertung von offenen Antwortformaten berührt. Ein weiterer damit in Zusammenhang stehender Aspekt wird deutlich, wenn man sich dem zweiten Stimulus zuwendet. Hier ist in der Lösungserwartung enthalten, dass die Lernenden saloon als begriffliche Mehrdeutigkeit erkennen, in der auch eine historische Vorstellung von der <?page no="346"?> 346 frühen Besiedlung, der gewaltsamen Vertreibung der Native Americans und dem mit Waffengewalt durchgesetzten Recht des Stärkeren enthalten ist, die es auf den Schauplatz des ersten Teils der Handlung zu beziehen gilt. Kritisch anzumerken ist, dass darin gewisse Stereotype enthalten sind, dass ein saloon als ein Ort der Aggression, als gesetzesfreier Ort gedeutet wird, indem ein Merkmal eines Merkmalsraumes - und dann auch noch ein negatives - gewissermaßen zum Typus erhoben wird. Und unter diesem Vorzeichen ist es vielleicht sogar als positiv zu werten, dass keiner der Lernenden die Information, dass Henrys lunchroom einst ein saloon war, als für das Verstehen der Geschichte relevant erachtet. Dass damit die Lösungserwartung nicht erfüllt wird, verweist ausschließlich auf Schwächen des Stimulus, die auch darin zu finden sind, dass lediglich ein Baustein als Form der Symbolik reduziert abgefragt wird und damit weder auf mit dem situation model in Verbindung stehende Konstruktionsleistungen zu schließen, noch der Polyvalenz literarischer Deutung und Interpretation gerecht zu werden ist. Hinzukommt, dass hier ein Aspekt berührt wird, der schon an anderer Stelle der Arbeit thematisiert wurde, ist doch abzuleiten, dass die Deutungshoheit der Interpretation im fremdsprachlichen Literaturunterricht mitnichten auf Seiten derer liegt, die Stimuli für Antwortformate formulieren, sondern den Lernenden zugesprochen werden sollte. Es wurde bereits angemerkt, dass innerhalb der Studie geschlossene Antwortformate eingesetzt wurden, die nicht mit richtig und falsch zu bewerten sind. Diese sollen nun im Vordergrund der Auseinandersetzung stehen. Es handelt sich dabei um Beispielaufgaben, die im Verlauf der Einheit R10 I eingesetzt wurden und sich auf die verstehende Auseinandersetzung mit dem Gedicht A LABAMA C ENTENNIAL beziehen (cf. 7.2.3.1). Die Idee, mulitple choice questions als Entlastung für die Auseinandersetzung mit einem fremdsprachlichen Gedicht einzusetzen, ist auf die eher geringe Bereitschaft der teilnehmenden Gruppe zur mündlichen Beteiligung im Unterrichtsgeschehen zurückzuführen. Damit sollte auch jenen Schülerinnen und Schülern eine Gelegenheit zur durch die Aufgabenformate gestützten Kommunikation gegeben werden, die sich in den zwei vorangegangenen Stunden sehr zurückhaltend zeigten. Entlehnt ist die Struktur der multiple choice questions der Deutschdidaktik und findet sich in ähnlicher Form bei Clemens Kammler (2006c). <?page no="347"?> 347 Zeilen Aufgabenformat [For a hundred years I waited] In cotton fields, kitchens, balconies, In bread lines, at back doors, on chain gangs, In stinking "colored" toilets, And crowded ghettos… 2) 1 st stanza Take a look at line 3-6. What could they stand for? Please make a choice. Jobs black people had to do. Places where white people didn’t want to be or work. Symbols of the injustice towards black people. Not all the dogs and hoses in Birmingham, Nor all the clubs and guns in Selma, [Can turn this tide.] 4) 6 th stanza Take a look at line 34 & 35. What could they stand for? Please make a choice. The police attacking demonstrators. Brutality of the police against black people. The power of white people who didn’t want any changes. Tabelle 124: Gedichtzeilen und dazugehöriges Aufgabenformat Beide Aufgaben sind zwar als multiple choice questions konstruiert, verfügen jedoch nicht über die sonst üblichen Distraktoren im Aufgabenformat, sondern bieten drei unterschiedliche Lösungsvorschläge an, die allesamt als richtig zu werten sind. Sie unterscheiden sich vornehmlich in dem ihnen innewohnenden Grad des Symbolverstehens: „Unter literarischen Symbolen werden solche sprachlichen Bilder verstanden, die […] Binnenelemente literarischer Texte sind“ (Kammler 2006c: 197) und sowohl eine anzeigende als auch eine zu bestimmende Bedeutung haben (vgl. Kurz 2009: 81), „denn gerade literarische Symbole zeichnen sich häufig durch semantische Unbestimmtheit aus, die eine Deutung herausfordert“ (Kammler 2006c: 198). Unterschiedliche Deutungen werden in den Auswahlantworten präsentiert. In der jeweils ersten Antwort wird für das in den Zeilen Enthaltene eine Art Überbegriff angeboten, in denen Subjekte, die die literarische repräsentierte Handlung ausführen oder erleiden, Erwähnung finden. In der jeweils zweiten Antwortmöglichkeit ändert sich der Grad der Konkretisierung, indem weniger die Textoberfläche in der Antwort eine Rolle spielt, als die Übertragung des darin Enthaltenen auf einen weiteren Bereich, indem den „Textsignalen, die symbolische Deutung provozieren“ (ebd.: 203), ein Perspektivenwechsel zur Seite gestellt wird. Die jeweils dritten Antwortmöglichkeiten sind dann so gefasst, dass „andere Textpartien bzw. der kohärente Zusammenhang der einzelnen Elemente des Textes“ (ebd.) Anklang in der angebotenen Deutung finden. Die Antworten unterscheiden sich demnach in ihrer Nähe bzw. Ferne zur jeweiligen Textstelle. So gesehen ist jede der Antwortmöglichkeiten rich- <?page no="348"?> 348 tig, die jeweils dritten sind aber richtiger - sofern dies eine zulässige Attribuierung ist -, da hier der Bezug zur Interpretation des gesamten Textes, und nicht nur eines einzelnen Bestandteils, eher gegeben ist. Eine solche Typisierung verführt dazu, sie als Skalierung zu werten, was durchaus als problematisch zu werten ist, denn die Formulierung der Auswahlantworten - die in den gegebenen Beispielen durchaus kritisch zu sehen ist (bspw. uneinheitliche Länge, Verwendung des Begriffs symbol) - hat keinen geringen Einfluss auf die Wahl. In der Gruppe R10 I entschied sich ein Gros der Schülerinnen und Schülern je für die dritte Antwortmöglichkeit, für die zweite Frage wurde aber auch die zweite Antwortmöglichkeit im Unterrichtsgeschehen genannt. Selbst wenn die je dritte Antwortmöglichkeit richtiger erscheinen mag, so hat dies doch wenig Aussagekraft hinsichtlich der Konstruktionsleistungen der Lernenden bei der verstehenden Auseinandersetzung. Denn eine wie in den Aufgabenformaten vorgenommene Typisierung richtet sich tendenziell eher an der Inhärenzhypothese vom Lesen aus, als an der hier favorisierten Konstruktivitätshypothese, wird die Deutungshoheit über Symbolhaftes im Text doch durch die Antwortstruktur beschnitten. Derjenige, der die Antworten vorformuliert, gewichtet und bewertet im Vorhinein. Die Aufgabenformate hier anzuführen, ist also nicht der Absicht geschuldet, sie als Instrumente der Überprüfbarkeit literarischer Verstehensleistungen zu legitimieren. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Literarische Verstehensleistungen im Sinne von Konstruktionsleistungen sind nur dann einzubinden, wenn die Entscheidung für eine der Auswahlantworten im Unterrichtsgeschehen thematisiert werden, denn das eigentlich Interessante an der Auswahl ist die Begründung durch die Lernenden, die dann erst auf das schließen lässt, was die jeweiligen Leser an Informationsebenen mit einbringen, sprich an Diskurswissen, vorangegangenen Leseerfahrungen, Einstellungen gegenüber Text, Lesezweck und dem Lesen allgemein sowie spezifische Inferenzen und Erwartungen. Erst so kann das im Unterricht eingebracht werden, was Rosenblatt als transaction bezeichnet: „what he [the reader] is living through during the reading event. He is attending both to what the verbal signs designate and to the qualitative overtones of the ideas, feelings, images, situations, characters that he is evoking under guidance of the text“ (1981: 22; Hervorhebung im Original). Zu ganz ähnlichen Befunden kommt auch Kammler, der die Formulierung von Auswahlantworten, die auf die Fähigkeiten zum Symbolverstehen schließen lassen, wie folgt betrachtet: „[Es] stellt sich bei solchen Aufgaben ein grundsätzliches Problem: Die Möglichkeit von Bedeutungszuschreibung ist nicht nur text-, sondern auch kontextabhängig und der Konstruktion neuer Kontexte sind prinzipiell keine Grenzen gesetzt. Je uneindeutiger ein Symbol ist, je mehr kontextabhängige Bedeutungszuschreibungen es innerhalb seiner Wirkungsgeschichte erfahren <?page no="349"?> 349 hat und noch erfahren kann […], desto willkürlicher werden Beurteilungsprozeduren, die eine interpretatorische Festlegung erfordern.“ (Kammler 2006c: 210) Auswahlantworten in multiple choice Formaten machen für die verstehende Auseinandersetzung also nur dann Sinn, wenn sie in den unterrichtlichen Kontext rückgebunden werden. Was damit für geschlossene Antwortformate festgestellt wird, gilt auch für offene. Hier sei erneut auf die Deutschdidaktik verwiesen, genauer gesagt auf eine Untersuchung von Karlheinz Fingerhut (2006), der vierzig Interpretationsaufsätze anhand der von ihm formulierten Niveaustufen konkret, symbolisch und abstrahierend untersucht (die deutliche Parallelen zu den zuvor verwendeten Kategorien überdurchschnittlich, durchschnittlich, unterdurchschnittlich innerhalb der Lösungserwartung aufweisen), und dabei zwar positiv anführt, dass „die von den Probanden hergestellten Fließtexte (Interpretationsaufsätze) gute Einblicke in den Prozess ihres Textverstehens“ ermöglichen (2006: 153), am Ende aber zu folgendem und für die hier verfolgte Fragestellung relevanten Schluss kommt: „Die hier vorgelegte kleine Untersuchung sollte die keineswegs bescheidene Frage aufwerfen, ob es nicht vielleicht doch sinnvoll wäre, sich intensiver hermeneutischer Traditionen des Fachs auch bei der Leistungsbeurteilung zu bedienen“ (ebd.: 154). In gewisser Weise ist dieses Zitat nicht nur als Fazit für die hier vorgestellten Beispielaufgaben zu werten, sondern dient auch als Überleitung in den nächsten Teil der Arbeit, beinhaltet es doch einen zentralen Aspekt, der sich auf die Konzeptionierung literarischer Kompetenz im fremdsprachlichen Unterricht bezieht. Nachdem nun also die Auseinandersetzung mit dem empirischen Material der Studie als abgeschlossen (insofern dies überhaupt ansatzweise möglich ist) gewertet werden kann, gilt es nun, die aus der Beobachtung und deren Analyse und Interpretation gewonnenen Indikatoren in Bestanteile eines Kompetenzmodells zu überführen und dafür theoretisches Vorwissen bzw. zentrale Zusammenhänge der Domäne fremdsprachliche Literaturdidaktik heranzuziehen. <?page no="350"?> 350 8. Lese- und Verstehensleistungen in einem Modell literarischer Kompetenz: Ordnungsprozess III 8.1 Etablieren von Konzepten Bezogen auf die Indikatoren gelingt es zwar mit der bis jetzt vorgenommenen Strukturierung, Wirkrichtungen und Wirkfaktoren zu dimensionieren, die auf Leseverstehensprozesse im fremdsprachlichen Literaturunterricht Einfluss nehmen. Es kann damit jedoch noch nicht gelingen, Teiloperationen literarischer Verstehensprozesse und damit Teilkomponenten literarischer Kompetenz im Fremdsprachenunterricht im Sinne eines abstrahierten Ordnungsprozesses zu klassifizieren. Schon deshalb nicht, weil das spezifische Verhalten in der konkreten Situation so noch nicht als Kombination von Wissen und Können zu beschreiben ist, ordnen die Faktoren doch nur Wirkrichtungen und geben dabei nicht an, wie sich domänenspezifisches Verhalten über die zunächst deskriptive Ebene hinaus typisieren lässt. Außerdem bleiben zu viele Überschneidungen und Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Faktoren unberücksichtigt. Zwar dienen sie dazu, als erste Stufe der Abstraktion das interne Beziehungsgefüge der zu generierenden Theorie zu indizieren (vgl. Glaser/ Strauss 2005: 70 f.). Die Modellierung literarischer Kompetenz erfordert jedoch „die Bildung von übergeordneten Kompetenzkategorien oder ‚Clustern‘“, um auch mit der den Bildungsstandards zugrundeliegenden „Arbeitsdefinition von Kompetenz“ vereinbar zu sein (Hartig 2008: 22). Es muss also nach der „Dimensionalität von Kompetenzen“ gefragt werden (Hartig/ Klieme 2006: 132), die wiederum in der „inhaltlichen Binnendifferernzierung von Kompetenzen“ Ausdruck findet (ebd.: 128). Dabei gilt es, jene Bereiche literarischer Kompetenz zu ermitteln, die die Teilleistungen bei der Auseinandersetzung mit der rezeptiven, kommunikativen und produktiven Seite der ästhetischen Erfahrung im fremdsprachlichen Literaturunterricht, die damit verbundenen endogenen, autogenen und exogenen Wirkrichtungen sowie die Wirkungszusammenhänge von Umständen, Situationen und spezifischem Verhalten zu fassen vermögen. Damit soll nicht zuletzt der konzeptuellen Charakteristik von Kompetenzen zugearbeitet werden, die als kontextualisierte „Fähigkeiten, spezifische Situationen und Anforderungen zu bewältigen“, dadurch gekennzeichnet sind, „durch Erfahrungen mit den spezifischen Anforderungen und Situationen erworben“ (ebd.: 131) werden zu können. Daraus lässt sich ableiten, dass die Binnenstruktur aus eben jenen Situationen und Anforderungen resultiert. Außerdem steht damit in Zusammenhang, dass die bis lang vornehmlich deskriptiv gehaltenen Indikatoren mit <?page no="351"?> 351 Hilfe von Konzepten gruppiert werden müssen, in die dann - bedingt durch die höhere Stufe der Abstraktion - auch normative Momente mit einfließen. Innerhalb des hier thematisierten Ordnungsprozesses wird darauf gezielt, entlang der Indikatoren den Schritt vom offenen zum axialen Codieren zu verdeutlichen. Axiales Codieren bedeutet so gesehen, dass die in der offenen Phase entdeckten Codes (Indikatoren aus Unterrichtsgeschehen und Interviews) und deren Beziehungen einer tiefergehenden Analyse zu unterziehen sind (vgl. Böhm 2000: 479). Hier lassen sich zwei unterschiedliche Ebenen von Codes ausmachen: Die explizite Ebene zeigt sich in den Daten selbst, indem Indikatoren in den Phänomenen direkt thematisiert und benannt werden sowie Teil der Produktion sind. Die implizite Ebene wiederum liegt den Daten zugrunde und bedingt die Thematisierung, sie geht der Produktion voraus oder ist mit eingeschlossen. Das axiale Codieren fokussiert dabei auf die sich im Leseprozess offenbarenden und sich aus den Interaktionen sowie den Strategien und Taktiken der Schülerinnen und Schüler ergebenden Konsequenzen. Ziel ist es, kategoriale Konzepte zu bilden, die als Klassifizierung der in den Daten enthaltenen Ordnung fungieren und den dabei zu Tage tretenden Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Konstituenten bestmöglich gerecht werden. Im Ergebnis zeichnet sich eine Hypothese hinsichtlich der konzeptuellen Struktur literarischer Kompetenz im Fremdsprachenunterricht ab, die durch wechselseitig abhängige Kompetenzbereiche innerhalb eines holistischen Fertigkeits- und Fähigkeitskonstrukts gekennzeichnet ist. Zudem gelingt es durch diese Dimensionierung, theoretische Ausgangsbedingungen, Angelpunkte der Konzepte kommunikativer Kompetenz, literaturdidaktische Prämissen und Zielsetzungen sowie rezeptionsästhetische Grundannahmen in die konzeptuelle Struktur zu integrieren: <?page no="352"?> 352 Kommunikative Kompetenzen Psycho-soziale Kompetenzen Reflexive Kompetenzen Interkulturelle Kompetenzen Methodische Kompetenzen Fertigkeiten des rezeptiven und produktiven Gebrauchs der Zielsprache im fremdsprachlichen Literaturunterricht. Fähigkeiten, die affektivemotionalen wie die intellektuelldiskursiven Reaktionen auf das Gelesene für die Sinnstiftung zu nutzen. Fähigkeiten, für die Sinnstiftung auf weltliches, sprachliches und literarisches Wissen zurückzugreifen und den Leseprozess zu beurteilen. Fähigkeiten, mit fremdkulturellen Konzepten umzugehen und sich auf das dargestellte Fremde einzulassen. Fähigkeiten, auf die im Unterricht entstehenden Situationen mit problemlösenden Strategien zu reagieren. Zuordnung der die Wirkfaktoren konkretisierenden Indikatorbereiche  Kommunikatives Handeln  Fremdsprachliches System  Umgang mit ästhetischen Wirkfaktoren  Konflikte, Motive, Handlungen,  Perspektiven, Leerstellen  Reflexion von Handlungen und Motiven  Reflexion von Sprache  Reflexion von literarischer Produktion  Kultureller Kontext  Personale Reaktionen im kulturellen Kontext  Handlung und Produktion Tabelle 125: Strukturelle Elemente literarischer Kompetenz im FU der Sekundar stufe I Aspekte kommunikativer Kompetenzen sind in allen Stunden auszumachen, begleiten den gesamten Unterrichtsverlauf und zeigen sich als Mittel der Lernenden, in Form von Informationsaustausch und Zielgerichtetheit (cf. 2.), situativ und thematisch zu handeln (cf. 2.). Sie beinhalten sowohl rezeptive als auch produktive Gesichtspunkte, die sich in Prozessen der Decodierung und mentalen Repräsentation (cf. 4.1.1) sowie in der Formulierung von Leseeindrücken und der schriftlichen Produktion niederschlagen, wobei dann der expliziten Produktion eine implizite Rezeption zugrunde liegt. Teilbereiche kommunikativer Kompetenzen fassen also jene exogenen Faktoren, die zuvor als das fremdsprachliche System umschrieben wurden und sich im Wissen und Können der Lernenden realisieren, „selbständig automatisierte, hierarchieniedrige und strategisch-zielbezogene, hierarchiehöhere Leseprozesse“ zu bewältigen (Burwitz-Melzer 2007a: 140). Darin ist auch enthalten, über das Gelesene und Erfahrene in der Zielsprache mündlich wie schriftlich kommunizieren zu können (cf. 3.1, 3.2), sprich kommunikativ zu handeln. Sie sind nicht unbedingt spezifisch literarisch; sie bilden aber als kontextualisierte Fertigkeiten einerseits jene Voraussetzungen und Zugänge, entlang derer sich <?page no="353"?> 353 das wirkungsästhetische Potenzial entfalten kann. Andererseits sind sie als Mittel zu verstehen, mit dem es möglich wird, das Erfahrene in der Anschlusskommunikation zu thematisieren (cf. 4.2.2). Damit können sie als Vorstufe dessen gelten, was die rezeptive und kommunikative Ebene der ästhetischen Erfahrung ausmacht. Denn die kommunikativen Kompetenzen der Lernenden machen die entdeckende Funktion der ästhetischen Erfahrung erst möglich, was sowohl „die Rollendistanz des Zuschauers als auch die spielerische Identifikation“ mit einschließt (Jauß 1982: 40). In Bezug auf die Kompetenzbereiche im Modell nach Burwitz-Melzer (2007a) sind kommunikative Kompetenzen als Bindeglied zwischen den dort beschriebenen affektiven und kognitiven Kompetenzen sowie den Kompetenzen der Anschlusskommunikation zu sehen. Sie dienen im hier vorgestellten Modell vor allem dazu, die als automatisierte Leseprozesse (vgl. ebd.: 140) beschriebenen Teilleistungen differenziert anzuführen, um auch die dort nicht Entsprechung findenden Engpässe bzw. bottelnecks der fremdsprachlichen Leseteilleistungen (cf. 7.2.4) durch Prozessebenen zu repräsentieren. Dieser Aspekt wird im noch folgenden selektiven Codieren deutlicher hervortreten, wenn zu den als Kompetenzbereich gefassten Konzepten deren Kategorien und die sie beschreibenden Eigenschaften hinzutreten. Elemente psycho-sozialer Kompetenzen 39 sind eng mit der rezeptiven und kommunikativen Ebene der ästhetischen Erfahrung verbunden, repräsentieren endogene wie autogene Faktoren und sind besonders in den Stunden festzustellen, die sich auf Hypothesenbildung, Perspektivenübernahme und die Thematisierung von zentralen Konflikten konzentrieren. Bei der schriftlichen wie der mündlichen Textproduktion offenbaren sie sich in einer impliziten Form, indem die Lernenden ihrem affektiven Respons folgend (vgl. Caspari 1994; Heller 1992) Leseeindrücke verbalisieren und/ oder schriftlich umsetzen. In den retrospektiven Interviews benennen die Schülerinnen und Schüler diese Aspekte sogar explizit, indem sie Gesichtspunkte einer ästhetischen Lesehaltungen (cf. Delanoy 2002: 55), einer lesebegleitenden Empathie und Emotionalität (cf. Burwitz-Melzer 2003: 23 f.) sowie eines Umgangs mit den fiktionalen Wirklichkeitsentwürfen (cf. Nünning 2000: 102) thematisieren. Diese Akte, die auf kontextualisierten Fähigkeiten der Lernenden beruhen, unter dem Label psycho-soziale Kompetenzen zu subsumieren, folgt der Absicht, hier im Unterschied zu den anderen Modellen vom Lesen (cf. 3.1, 3.2, 4.1.2) das genuin Literarische in den Vordergrund zu stellen. Zu betonen 39 In Vorauspublikationen wurde dieser Bereich noch als affektive Kompetenzen gefasst (cf. Steininger 2011, 2010c). Warum sich hier von dieser als vorläufiges Ergebnis zu wertenden Konzeptionierung verabschiedet wird, ist der weiteren Argumentation zu entnehmen. <?page no="354"?> 354 ist, dass sich die Wechselwirkung zwischen Leser und Text, zwischen autogenen und endogenen Faktoren eben als Interaktion zwischen kognitiven und affektiven Leistungen der Lernenden realisiert; gefasst werden damit also sowohl intellektuell-diskursive als auch affektiv-emotionale Reaktionen auf das Gelesene. Verstehende Leistungen in diesem Kompetenzbereich vollziehen sich demnach nicht rein affektiv. Der literarische Lesevorgang und somit die ihm zugrundeliegende literarische Kompetenz sollte nicht mit Affekt gleichgesetzt werden (vgl. Rosenblatt 1981: 22). Affektive Reaktionen sind also nur ein Teil des Spektrums der Interaktion (cf. Bredella 2007a, b), wobei sich die Interaktion zwischen Leser und Text erst im Zusammenspiel von kognitiven und affektiven Dispositionen entfaltet. Von psycho-sozialen Kompetenzen zu sprechen, beinhaltet auch, dass zwei weitere Pole für die Konzeptionierungen des Kompetenzbereichs als Cluster zentral sind. Das ist zum einen der individuell und zum anderen der interindividuell realisierte. Gemeint ist dabei, dass mit dem Wortbestandteil ‚psycho‘ die individuellen Reaktionen auf das Gelesene repräsentiert werden sollen. Hiermit ist eine Seite der Wirkrichtung und des Ursprungs des spezifischen Verhaltens thematisiert, die in der Inanspruchnahme individueller bzw. personaler Reaktionen und Dispositionen zur Geltung gebracht werden. Ist es doch für die wirkungsästhetische Interpretation zentral, dass der Leser eigene Zugangsweisen zur Textwelt finden muss, die ihn ansprechen und auf die es zu reagieren gilt. Das Gelesene muss zunächst einmal Wirkung entfalten können, muss auf den Leser einwirken, der dann daraus in die Interbzw. Transaktion (vgl. Rosenblatt 1981) mit dem Text treten kann. Im zweiten Wortbestandteil ‚sozial‘ klingt diese Transaktion an und wird erweitert, gilt doch hier, dass der Leser das im Text Dargestellte zunächst einmal als Handlung wahrnehmen muss, der - damit sich Interbzw. Transaktion überhaupt entfalten kann - soziale Bedeutung beigemessen wird. Und zwar in dem Sinne, dass Konflikte, Motive und Handlungen auf ein vom Leser ausgehendes und auf den Text projiziertes soziales Schema zu beziehen sind, in dem dann auch Perspektiven und Leerstellen eine Rolle spielen. Damit ist ‚sozial‘ einerseits eng mit dem Umgang mit ästhetischen Wirkfaktoren verbunden, bedeutet es doch, dass der Leser den im Text Handelnden als anderen gewahr werden muss, er eine durch spezifisch literarische Mittel initiierte soziale Interaktion entstehen lassen muss, um überhaupt eine stellungnehmende Haltung zu entwickeln. Und hier lässt sich der Bogen zurück zum ersten Wortbestandteil ‚psycho‘ schlagen, verlangt diese Haltung doch personale Reaktionen, und zwar als Fähigkeit, das respondierende Zwischen innerhalb der Transaktion zu koordinieren, zu kanalisieren. Aspekte des ‚Sozialen‘ sind dann wiederum damit berührt, dass Lesen im fremdsprachlichen Literaturunterricht eine gemeinschaftlich geteilte Situation ist, in der sich die Lesenden gegenseitig durch <?page no="355"?> 355 Leseeindrücke und kommunizierte Reaktionen bereichern. Zu beziehen sind psycho-soziale Kompetenzen vor allem auf jene Mischbereiche, die bei der empirischen Auseinandersetzung in der komparativen Analyse mit den im Modell von Burwitz-Melzer (2007a) zu findenden Deskriptoren der kognitiven und affektiven Kompetenzen und der Kompetenzen der Anschlusskommunikation entdeckt worden sind. Aspekte reflexiver Kompetenzen ergänzen sodann die Wechselwirkung zwischen autogenen und endogenen Faktoren, indem sie die als (inter- )kulturellen Lebensweltbezug gefassten exogenen Faktoren mit einbeziehen. Sie sind explizit in den Interviews auszumachen, aber auch in Stunden erkennbar, in denen literarische Motive und Handlungen reflektiert werden und liegen dann der lektürebegleitenden Kommunikation implizit zugrunde, wobei neben Handlungen und Motiven auch die Reflexion von Sprache und von literarischer Produktion eine Rolle spielt. In allen auszumachenden Teilleistungen zeigt sich die Diskursfähigkeit (cf. 2., 3.3) der Lernenden, indem metakommunikative und reflexive Fertigkeiten und Fähigkeiten zum Problematisieren, Erklären und Durchschauen der literarisch repräsentierten Diskurse herangezogen werden (cf. 2.) und auch der eigene Leseprozess beurteilt wird. Dabei werden die literarischen Gegebenheiten unter Rückgriff auf weltliches, sprachliches und literarisches Wissen interpretiert und mit den eigenen Erwartungen, Erfahrungen und Sinnentwürfen abgeglichen. Denn es sind die Erfahrungen, Kenntnisse und das Wissen der Lernenden, die „als virtualisierter Hintergrund“ fungieren, „der als latente Vergleichsdimension - zumindest aber als ‚Projektionsfläche‘ - notwendig ist, um die Textwelt zu erfassen“ (Iser 1991: 391). Bezogen auf das Modell von Burwitz-Melzer (2007a) beschreiben reflexive Kompetenzen ebenfalls Mischbereiche, die sich den dort enthaltenen Deskriptoren der kognitiven und affektiven sowie den Kompetenzen der Anschlusskommunikation und der Reflexion zuordnen lassen. Als einziger der hier vorgestellten Kompetenzbereiche sind die interkulturellen Kompetenzen (beinahe) deckungsgleich mit dem entsprechenden Bereich im Modell von Burwitz-Melzer (2007a), denn für den fremdsprachlichen Literaturunterricht muss auch die Auseinandersetzung mit dem endogen realisierten zielkulturellen Kontext mitgedacht werden, der sich zudem autogen entlang der personalen Reaktionen der Lernenden im kulturellen Kontext entfaltet. Gefasst wird dies durch Komponenten interkultureller Kompetenzen, die allerdings nicht in allen Stunden in gleichem Maße zu erkennen sind, da sie entsprechend dem Kontext des Textthemas variieren. Vor allem in Verbindung mit psycho-sozialen und reflexiven Kompetenzen sind sie als ein Auseinandersetzen mit dem enthaltenen kulturspezifischen Denken, Handeln und den damit einhergehenden Normen und Werten auszumachen. Besonders in den Schülerprodukten zeigt sich ein Einfühlen in die fremde <?page no="356"?> 356 Sichtweise, indem die Motive der Charaktere nachvollzogen und um subjektivierende Einsichtnahmen erweitert werden, was auf ein Einnehmen der Innenperspektive der fremden Kultur deutet (cf. Bredella/ Christ 1995). In den Interviews wird Erfahrenes explizit vom eigenen Standpunkt aus betrachtet, indem über den Weg einer Außenperspektive Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Kulturen thematisiert werden (cf. Bredella 2002). Die Projektionsfläche changiert somit zwischen Eigenem und Fremdem, d.h. das in der Textwelt zu findende Fremde wird vor dem Hintergrund des Eigenen wahrgenommen, wobei die durch die ästhetische Erfahrung gewonnenen Einsichten die eigenen Vorkenntnisse erweitern und ergänzen. Die ästhetische Erfahrung zielt darauf, interkulturelle Kompetenzen zu aktivieren, und durch Fremdverstehen ein Dazwischen zu schaffen, einen Ort der Begegnung zwischen zwei Kulturen (cf. Woo/ Gansen 2010; Kramsch 1993), der der Entwicklung und Förderung eines (inter-)kulturellen Bewusstseins auf Seiten der Lernenden dient. Konstituenten methodischer Kompetenzen, die exogene Faktoren der Ebene des Unterrichts und der unterrichtlichen Lenkung repräsentieren, begleiten den gesamten Unterrichtsverlauf, zeigen sich in der Bearbeitung von Aufgabenstellungen und den jeweiligen Ergebnissen und sprechen unterschiedliche Bedeutungsebenen an, die spezifische Verstehensleistungen voraussetzen (cf. Ehlers 2007). Produkt-, persönlichkeits- und prozessorientierte (cf. Burwitz-Melzer 2003; Brusch/ Caspari 1998) Handlungsanlässe bedingen und initiieren dabei den ästhetischen Rezeptionsprozess, indem textanalytische und textinterpretatorische Aufgabenstellungen zum Tragen kommen (cf. Nünning/ Surkamp 2006). Kompetenzen der Lernenden meinen in diesem Fall, auf die im Unterricht entstehenden Situationen mit den entsprechenden problemlösenden Strategien zu reagieren. Von methodischer Kompetenz kann dann gesprochen werden, wenn die Kombination von Wissen und Können dazu eingesetzt wird, in der konkreten Situation erfolgreich zu handeln und die Arbeitsaufträge im Unterricht zielführend zu bearbeiten. Durch methodische Kompetenzen werden gleichsam Aspekte kommunikativer, psycho-sozialer, reflexiver und interkultureller Kompetenzen aktiviert und elizitiert. Hier steht der Kontext im Vordergrund: „Die Definition des für ein Kompetenzkonstrukt relevanten Kontextes kann jedoch auch problematisch werden, wenn sie zu eng ausfällt“ (Hartig 2008: 20). Daher müssen methodische Kompetenzen zum einen spezifisch literarische Anforderungsbereiche fassen und zum anderen auch allgemeinere, mit „Bezug auf eine Menge hinreichend ähnlicher realer Situationen, in denen bestimmte, ähnliche Anforderungen bewältigt werden müssen“ (ebd.: 21; Hervorhebung im Original). Bei dem hier generierten Modell ist vor allem die Interdependenz von Aufgaben- und Handlungsorientierung sowie dem wirkungsästhetisch ausgerichteten Leseprozess von Interesse. In Bezug <?page no="357"?> 357 auf das Modell von Burwitz-Melzer (2007a) umfasst der Bereich jene Aspekte, die dort mit Arbeitsschritten des fremdsprachlichen Literaturunterrichts umschrieben werden. Der große Unterschied, in dem auch ein Vorzug gegenüber der dort vorliegenden Matrixstruktur erkannt wird, ist die Konzeptionierung als eigenständiger Kompetenzbereich, mit dem es auf der deskriptiven Ebene möglich wird, eben Interaktionen von Komponenten sowohl innerhalb des Bereichs als auch mit anderen Konstituenten des Modells beschreibbar zu machen, ohne auf die eher rigide Fixierung einer Matrix beschränkt zu sein. Abbildung 8: Vernetztheit der Kompetenzbereiche Literarische Kompetenz im Fremdsprachenunterricht als Verstehensprozess und „Verbindung zwischen Wissen und Können“ (Klieme 2004: 13) ist ein holistischer Vorgang, der den Menschen samt seiner intellektuell-diskursiven wie emotional-affektiven Fähigkeiten fordert. Einzelne Aspekte und Teiloperationen dieses Prozesses zu akzentuieren bedeutet auch, die genuine Vernetztheit der beteiligten Konstituenten isolierend zu reduzieren. Sie heuristisch zu klassifizieren, ist für die Modellierung unumgänglich - in der empirischen Praxis verlaufen sie jedoch weitgehend parallel. Es gelingt aber mit den fünf bis hier vorgestellten konzeptuellen Kompetenzbereichen, das aus den Unterrichtsmitschnitten, den Schülerprodukten sowie den retrospektiven Interviews gewonnene Datenmaterial axial zu codieren - sprich eine erste Stufe der Kongruenz zwischen Empirie und phänomenologischer Erkenntnisse zu ermöglichen. <?page no="358"?> 358 Besonders die Konzeptionierung als interaktives holistisches Konstrukt wird hier gegenüber der im Modell von Burwitz-Melzer (2007a) zu findenden Matrixstruktur als Vorteil empfunden. Durch die Vernetztheit der Kompetenzbereiche und ihrer Elemente untereinander ist zunächst einmal die sich zeigende empirische Komplexität heuristisch zugänglich zu machen. Darüber hinaus wird damit beschreibbar, was in der vorangegangenen komparativen Analyse immer wieder angemerkt wurde und sich als Changieren der Teilleistungen sowohl zwischen den Deskriptoren der jeweiligen Bereiche als auch zwischen den damit verbundenen Arbeitsschritten zeigte, nämlich, dass die verstehende Auseinandersetzung der Lernenden als spezifisches Verhalten im reziproken Verhältnis zu konkreten Situationen steht. Oder anders gesagt: Nicht nur die konkrete Situation ruft spezifisches Verhalten hervor, konkrete Situationen werden eben auch durch spezifisches Verhalten geprägt und gestaltet. Dies auf einer deskriptiven Ebene zugänglich zu machen, kann nur dann realisiert werden, wenn die Zuweisung bzw. die Codierung mit Indikatoren, die Deskriptoren, Teilkompetenzen und Kompetenzbereiche konkretisieren, selbst als dynamisches und nicht statisches System konzipiert ist. 8.2 Die Kompetenzbereiche in der Sekundarstufe I Im dritten und letzten Schritt des Codierens und damit auch des hier vorgenommenen abschließenden Ordnungsprozesses, dem selektiven Codieren, kommt es zu einer „Neujustierung der analytischen Perspektive“ (Strübing 2008: 22). Die axial etablierten Konzepte werden in den Mittelpunkt gerückt und weiter differenziert, indem „ihre Bezüge zu anderen nachgeordneten Kategorien und Subkategorien“ dargelegt werden (ebd.: 21). Es wird darauf hingearbeitet, die etablierten Konzepte mittels korrespondierender Kategorien zu konkretisieren, sprich den Kompetenzbereichen Teilkompetenzen bzw. Voraussetzungen für die Anwendung von Wissen und Fähigkeiten zuzuordnen (vgl. Hartig 2008: 21). Selektiv zu codieren bedeutet in diesem Zusammenhang, die Beziehung der einzelnen Codes untereinander sowie auf der höchsten Ebene der Abstraktion (Konzepte) zu typisieren und einer Operationalisierung zugänglich zu machen. Die Indikatoren werden dahingehend untersucht, die Systematisierung der in den Daten enthaltenen Ordnung abzuschließen, sodass die in der offenen und axialen Phase etablierten Teiloperationen den entsprechenden Kontexten zugeordnet werden können. Um dies zu veranschaulichen, soll im Folgenden die Binnenstruktur der Kompetenzbereiche beschrieben werden, wodurch gleichsam die Bedingungen etabliert werden, unter denen die Indikatoren einer Eigenschaft, einer Kategorie und damit einem selektiven <?page no="359"?> 359 Code zugewiesen werden können. Die hier vorgestellten Kompetenzbereiche (Konzepte), Teilkompetenzen (Kategorien) und Deskriptoren (Eigenschaften) sind als Struktur des Modells zu verstehen. Da es sich hierbei um theoriegeladene Ordnungsprozesse handelt, spielt die Integration von literarturdidaktischen Überlegungen eine zentrale Rolle. Gewissermaßen wird darauf gezielt, die Abstraktionsvorgänge mit theoretischem Vorwissen zu vereinbaren. Zu betonen ist erneut, dass Indikatoren nicht zwangsläufig als Theorieelemente gewertet werden können. Begründet liegt dies vor allem in der Zielsetzung, die deskriptive Analyse, aus der Indikatoren hervorgegangen sind, mit theoretischem Vorwissen, sprich mit den zentralen Zusammenhängen der Domäne fremdsprachlicher Literaturunterricht, zu vereinbaren, wodurch zwangsläufig deskriptive Aspekte mit normativen in Relation gesetzt werden müssen. Damit geht einher, dass Eigenschaften als Kann-Deskriptoren anders zu formulieren sind, dass weniger das an den Daten überprüfbare und aus der Beobachtung gewonnene Beschreiben im Vordergrund steht, als das Formulieren von Fertigkeiten und Fähigkeiten auf einer höheren Abstraktionsstufe. Konkret bedeutet dies, dass drei Varianten möglich sind, Indikatoren im Ordnungsprozess Kategorien (Teilkompetenzen) und Eigenschaften (Deskriptoren) zuzuweisen. Bei der ersten ergibt sich der Deskriptor aus einer reinen Umformulierung des Indikators. In der zweiten werden der höheren Abstraktionsstufe, die den Deskriptor kennzeichnet, ein oder mehrere Indikatoren zugeordnet. Bei der letzten Variante handelt es sich schließlich um einen äußerst theoriegeladenen Ordnungsprozess, in dem - bezogen auf die den Teilkompetenzen zugeordneten Eigenschaften - ein Deskriptor aus der Datenlage im Spannungsfeld von Empirie und Theorie dahingehend abstrahiert wird, dass das in den Daten Auszumachende zulässt, den Deskriptor anhand der Phänomene auf der impliziten Ebene sowohl deduzierend (im Sinne der theoretischen Auseinandersetzung vom Allgemeinen für den Einzelfall abgeleitet) als auch induzierend (im Sinne der empirischen Auseinandersetzung vom Einzelfall auf Allgemeines geschlossen) in eine Formulierung einer Anforderungssituation zu überführen. Es wurde bereits an anderer Stelle der Arbeit erwähnt, dass Kompetenzbeschreibungen als Globalform zu verstehen sind, die in ihrer Formulierung einer Vielzahl ähnlicher Anforderungssituationen gerecht werden müssen. Es liegt also auch in dieser Prämisse begründet, dass im Folgenden eine höhere Abstraktionsstufe zielführend ist und dass Eigenschaften so formuliert werden, dass sie Kategorien als Theorieelemente, wenn schon nicht konkretisieren, so doch illustrieren. <?page no="360"?> 360 8.2.1 Kommunikative Kompetenzen Kommunikative Kompetenzen bezeichnen die Fertigkeiten des rezeptiven und produktiven Gebrauchs der Zielsprache im fremdsprachlichen Literaturunterricht. Das Wissen und Können der Lernenden im fremdsprachlichen System lässt sich entlang der Kategorien Sprachvermögen, Leseverstehen und Textproduktion beschreiben, die nacheinander vorgestellt werden sollen. Konkretisiert werden die Kategorien mittels der ihnen zugeordneten Deskriptoren. Zur Konkretisierung gehört auch, dass beschrieben wird, in welchem Datensatz (Unterrichtsbeobachtung, Schülerinterview, Schülerprodukte, Beispielaufgaben) und auf welcher Ebene (explizit thematisiert vs. implizit enthalten) die Codierung vorherrschend ist. Kommunikative Kompetenzen I C ODE K ATEGORIE E IGENSCHAFT / D ESKRIPTOR A1 Sprachvermögen Die Schülerinnen und Schüler können… A1a1 Wortschatz  unbekannte Wörter aus dem literarischen Kontext erschließen. SuS erschließen unbekannte Wörter aus dem literarischen Kontext. A1a2  Lücken im Wortverständnis zulassen, indem sie selbst einschätzen, inwieweit das nicht verstandene Wort für den Leseprozess relevant ist. A1a3  unbekannte Wörter selbstständig in Wörterbüchern nachschlagen und semantisieren. SuS schlagen unbekannte Wörter in Wörterbüchern nach. A1b1 Reparaturstrategien  ungewohnte neue Abstrakta und Konkreta zielsprachlich umschreiben bzw. nach Hilfestellungen fragen. SuS fragen zielsprachlich nach unbekannten Wörtern. SuS umschreiben unbekannte Wörter zielsprachlich. A1b2  wenn nötig sprachmittelnd auf mutterbzw. zweitsprachliches Handeln zurückgreifen. SuS greifen auf mutterbzw. zweitsprachliches Handeln zurück. A1c1 Grammatik  räumliche, zeitliche und logische Strukturen eigenständig erkennen und für den Verstehensprozess nutzbar machen. SuS ordnen Handlungsfolgen (cf. Beispielaufgaben). A1c2  Vor-, Nach- und Gleichzeitigkeit von literarischen Hand- <?page no="361"?> 361 lungen und Ereignissen erkennen und richtig einordnen. SuS ordnen Handlungsfolgen (cf. Beispielaufgaben). A1c3  sprachliche Strukturen mit literarischen (narrativen, dramatischen, poetischen) Funktionen verbinden. SuS verbinden sprachliche Strukturen mit literarischen Funktionen. Tabelle 126: Kommunikative Kompetenzen I Die grundlegendste Prozessebene des Sprachvermögens ist die des Wortschatzes. Unter dieser Teilkomponente werden jene Deskriptoren zusammengefasst, die sich auf die Wortschatzarbeit bzw. -klärung sowie Semantisierungsprozesse beziehen. Da die verwendeten literarischen Texte authentisch, also nicht didaktisiert sind, spielt der Umgang der Lernenden mit unbekannten Abstrakta und Konkreta in allen Unterrichtsstunden eine wichtige Rolle. Die einzelnen Strategien bei der gemeinschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Wortmaterial werden selektiv codiert. In den Interviews nennen die Lernende zudem Aspekte der selbstständigen Erschließung des Wortmaterials aus dem literarischen Kontext (A1a1). Somit fasst diese Komponente sowohl individuelle als auch kooperative Strategien und Taktiken, die auch so als Indikatoren bei der Codierung der Datensätze eine Rolle spielen. Anders verhält es sich hingegen mit der Fähigkeit, Lücken im Wortverständnis zuzulassen (A1a2), die keine direkte Entsprechung im Indikatorenkatalog findet, die aber aus der Thematisierung bzw. der beschriebenen Einsichtnahmen der Lernenden in das nicht zu beobachtende high-inference behaviour zu projizieren ist. Es handelt sich dabei gewissermaßen um eine höhere Abstraktionsstufe bzw. eine monitoring-Fähigkeit der Lernenden, die mit Metakognition in Verbindung steht, sich aber auf die von den Lernenden explizit angesprochene Leistung, Wörter aus dem literarischen Kontext zu erschließen, bezieht. Weitaus eindeutiger in den Daten zu beobachten und daher auch mit einem Indikator versehen zeigt sich die Fähigkeit, unbekannte Wörter selbstständig nachzuschlagen und zu semantisieren (A1a3). Eng mit den Deskriptoren der Wortschatzarbeit verbunden erweisen sich die Reparaturstrategien der Lernenden. Hierunter können Aspekte der sprachlichen Umschreibung, der Fragen nach sprachlicher Hilfestellung an die Lehrenden sowie des Rückgriffs auf mutterbzw. zweitsprachliches Handeln gefasst werden. Indikatoren, die unter dem A1b1 Deskriptor zu subsumieren sind und sich auf zielsprachliches Nachfragen und Umschreibungen beziehen, zeigen sich im Unterrichtsgeschehen. Der Rückgriff auf mutterbzw. zweitsprachliches Handeln ist durch den A1b2 Deskriptor vertreten, der sich aus einer Umformulierung des entsprechenden Indikators ergibt, um für potenti- <?page no="362"?> 362 ell denkbare Situationen offen zu sein. Im Datenmaterial zeigt sich der Deskriptor in den jeweiligen Fallstudien ganz unterschiedlich gewichtet: Die Bandbreite reicht vom Anbieten von Übersetzungen für unbekannte Wörter (häufiger) über Einwortantworten bis hin zur Formulierung von Phrasen und ganzen Sätzen (seltener). Grammatik als letzte Komponente des Sprachvermögens meint im literaturdidaktischen Kontext vor allem die Verbindung von Wissen und Können hinsichtlich der im literarischen Text vorzufindenden räumlichen, zeitlichen und logischen Strukturen (A1c1), die für die Verstehensprozesse grundlegend, aber auch für die gemeinschaftliche Sinnkonstitution innerhalb der Anschlusskommunikation zentral sind und sich neben ihrer Rolle als zugrundeliegende Prozessstufe auch in den Beispielaufgaben zeigt, indem Schülerinnen und Schüler Handlungsfolgen ordnen, wenn beispielsweise der Lektüre nachgelagert Aussagen und Schlüsselsequenzen in eine zeitliche Abfolge gebracht werden müssen. In diesen räumlichen, zeitlichen und logischen Strukturen sind auch Aspekte der Vor-, Gleich- und Nachzeitigkeit literarischer Handlungen sowie der Handlungsperspektiven (A1c2) enthalten. Diese grammatikalischen Elemente sind in den Bildungsstandards im Teilbereich „Verfügung über die sprachlichen Mittel“ beschrieben (vgl. KMK 2005a: 15), sie sind aber im Kontext der Studie unter spezifisch literarischen Gesichtspunkten akzentuiert. Zudem weisen sie eine starke Verbindung zum Leseverstehen auf - sowohl hierarchieniederer als auch hierarchiehöherer Art -, denn logische, zeitliche und räumliche Beziehungen fördern und fordern zugleich Kohäsions- und Kohärenz-Prozesse, indem die Lernenden einerseits kleinere Sinneinheiten bilden müssen und sie andererseits erst durch diesen Schritt Kohärenz als mentale Repräsentation der endogenen Ebene, also dem Textinhalt, bilden können. Es wurde bereits angedeutet, dass Grammatik als Kategorie der Teilkompetenz Sprachvermögen in engem Zusammenhang mit den Leseleistungen der Lernenden zu sehen ist und aus eben diesen abzuleiten ist. Im Unterrichtsgeschehen selbst zeigt sich hingegen nur der sich auf die Verbindung von sprachlichen Strukturen mit literarischen Funktionen beziehende A1c3 Deskriptor, der aus dem entsprechenden Indikator gewonnen wird. Hier sind es explizite Aussagen der Lernenden, die sich auf textliche Phänomene beziehen und die im Unterrichtsgespräch thematisiert werden. Anders verhält es sich mit den beiden anderen Deskriptoren, die sich nicht auf eine explizite, sondern eine implizite Ebene beziehen. Implizit meint in dem hier verwendeten Sinne, dass von der Leseleistung, die im Unterricht nur dann zu beobachten ist, wenn über Gelesenes gesprochen oder geschrieben wird, auf eben weitere Vorstufen der Prozessebenen rückgeschlossen wird. Somit sind diese Deskriptoren - und auch die noch für das Leseverstehen folgenden - als im Spannungsfeld zwischen empirischer Beschreibung und phänomenologi- <?page no="363"?> 363 scher Erkenntnis befindlich zu verstehen. Anders ausgedrückt bedeutet dies, dass beide Deskriptoren (A1c1, A1c2) deshalb für das Modell relevant sind, weil sie der thematischen Auseinandersetzung über das Gelesene vorausgehen. Mit den Deskriptoren der Kategorie sind dann auch potentiell solche Situationen zu fassen, in denen bewusste Verstöße gegen grammatikalische Regeln in literarischen Texten thematisiert werden (so nicht in den Fallstudien enthalten), die sich neben lyrischen Texten auch in narrativen und dramatischen zeigen können. Gerade logische Strukturen können auch in deren Widersprüchlichkeit Gegenstand der Thematisierung im Unterricht werden (A1c1), dies gilt dann auch für die in sprachlichen Unstimmigkeiten enthaltenen Strukturen, die auf ihre spezifische Funktion im literarischen Text zu beziehen sind (A1c3). Um den Indikator die Schülerinnen und Schüler lesen den literarischen Text (A1a) weiter aufzuschlüsseln, sollen im Folgenden Prozessebenen entlang des Kompetenzbereichs Leseverstehen geordnet werden, die als hierarchiehöhere und hierarchieniedere Teilleistungen zu klassifizieren sind. Sie sind ebenfalls als Produkt der Projektion zu verstehen und stehen in engem Zusammenhang mit den in 4.1.1 beschriebenen Verarbeitungsprozessen beim Lesen. Kommunikative Kompetenzen II C ODE K ATEGORIE E IGENSCHAFT / D ESKRIPTOR A2 Leseverstehen Die Schülerinnen und Schüler können… A2a1 hierarchienieder  das Wortmaterial des Textes visuell und phonologisch rekodieren. A2a2  Teiloperationen wie das Erkennen von Wort- und Satzbedeutung automatisiert bewältigen. A2a3  Elemente einer Ebene zu Sinneinheiten und -abschnitten verknüpfen, um so den Lesefluss im Gedächtnis zu repräsentieren. A2a4  anaphorische und Kataphorische Beziehungen innerhalb des Textes selbstständig herstellen und erkennen. A2b1 hierarchiehöher  den Inhalt des literarischen Textes erfassen und als mentale Repräsentation für sich zugänglich machen. A2b2  Lesemodi orientierend und selektiv anwenden, indem sie sowohl den globalen Textinhalt wie auch Details zielgerichtet erfassen (bspw. für einen Arbeitsauftrag). SuS wenden unterschiedliche Lesemodi (orientierend/ selektiv) entsprechend der Aufgabenstellung an. Tabelle 127: Kommunikative Kompetenzen II <?page no="364"?> 364 Hierarchieniedere Aspekte des Leseverstehens beziehen sich vor allem auf Kohäsionsbildungsprozesse beim Lesen, also auf die Verarbeitung von symbolisch-sprachlichen Teilinformationen (A2a1, A2a2). Gefasst werden damit zunächst bottom-up Prozesse (vgl. Nunan 1999: 253-257), die sich aus einem Wechselspiel zwischen „language processing strategies“ der Lernenden mit ihrer „knowledge base for language“ ergeben (Birch 2007: 6). Dabei sind es syntaktische, lexikalische und orthographische Strategien, die ineinandergreifen und sowohl unbewusst automatisiert wie bewusst selektiv ablaufen können (vgl. ebd.: 3). Diese Strategien leiten dann eine Textrepräsentation ein, indem durch „lokale Kohärenzbildung“ (Richter/ Christmann 2002: 30) Sinneinheiten gebildet werden (A2a3, A2a4). Alle Deskriptoren der hierarchieniederen Leseverstehensprozesse sowie die zwei der Grammatik (A1c1, A1c2) beschreiben im Datenmaterial (Unterrichtsbeobachtung) jene Ereignisse, in denen die Lernende den literarischen Text lesen. Sie spielen auch in geschlossenen Formaten der Beispielaufgaben eine Rolle, wenn bspw. Lücken mit Proformen gefüllt werden müssen (cf. 7.3.3). Hierarchiehöhere Operationen des Leseverstehens führen zu einer mentalen Repräsentation des Textinhalts (vgl. Hurrelmann 2002: 278), indem die Lernenden globale Kohärenz „durch Abstraktion übergeordneter Konzepte“ bilden (Ehlers 2007: 116). Anhand dieser können jene Leistungen beschrieben werden, mittels derer der Lernende als Leser das im Text Enthaltene „aufnehmen, bewerten, filtern, ordnen und mit dem verbinden [kann], was er zuvor gelesen hat und was er an Wissen und Erfahrungen mitbringt“ (ebd.). Das Wissen und die Erfahrungen, die die Lernenden beim Lesen einbringen, weisen starke Bezüge zu Komponenten psycho-sozialer und reflexiver Kompetenzen auf, die erneut auf die Vernetztheit der beteiligten Konstituenten deuten. Die zwei Deskriptoren dieses Teilbereichs beziehen sich also auf bereits als verstehend zu wertende Leseprozesse. Der A2b1 Deskriptor nimmt dabei eine Schlüsselposition ein, denn er beschreibt, dass der Text den Lernenden bei der Auseinandersetzung als mentale Repräsentation zur Verfügung steht 40 . Zu fassen sind damit also 40 In weniger als zehn Fällen wird in den Datensätzen ein Missverständnis hinsichtlich des Textinhaltes thematisiert. Diese beziehen sich insgesamt auch eher auf Details (Konstellation der Charaktere, einzelne Handlungen und deren Konsequenzen) als auf Schlüsselaspekte, die den Textsinn bzw. das im Text verhandelte Außergewöhnliche betreffen würden. Einen Sonderfall stellt in diesem Zusammenhang die Fallstudie H9 II dar: Hier werden Missverstehensleistungen ausführlich thematisiert (cf. 7.2.4.2). Dass jedoch die Dunkelziffer der nicht thematisierten Missverstehensleistungen weitaus höher sein könnte, ist einzugestehen. Schon deshalb, da diese auch in den Schülerinterviews nicht angesprochen werden (geklärt werden ausschließlich die im Unterricht zu beobachtenden). Dies deutet darauf hin, dass besonders die sozial geteilte Auseinandersetzung mit literarischen Texten im Unterricht dazu <?page no="365"?> 365 Ereignisse, in denen auf das Gelesene aufbauend thematisch und situativ in der Fremdsprache gehandelt wird. Wenn gewissermaßen die mentale Repräsentation als Superstruktur der kognitionsorientierten Leseleistung verstanden werden kann, dann ist die Verwendung unterschiedlicher Lesemodi als Makrostruktur zu sehen (A2b3). Konkretisieren lässt sich dieser Deskriptor anhand des ihm zugrunde liegenden Indikators, mit dem Situationen codiert werden, die sich auf die Textarbeit der Lernenden beziehen und in denen für einen Arbeitsauftrag zielführende Lesemodi angewendet werden. Selektive Codes hierarchieniederer wie hierarchiehöherer Teiloperationen der Kategorie Leseverstehen fassen somit jenes spezifische Verhalten im fremdsprachlichen Literaturunterricht der Sekundarstufe I, das Gesichtspunkten der (kognitionspsychologischen) allgemeinen Lesekompetenz entspricht (vgl. Groeben/ Hurrelmann 2002; cf. 4.1.1). Kommunikative Kompetenzen III C ODE K ATEGORIE E IGENSCHAFT / D ESKRIPTOR A3 Textproduktion Die Schülerinnen und Schüler können… A3a1 Sprechen  über Textinhalte und Leseeindrücke in der Zielsprache sprechen. SuS sprechen in der Zielsprache. A3a2  auf die Beiträge anderer eingehen und die fremdsprachliche Kommunikation aufrecht erhalten. SuS gehen in der Zielsprache auf die Beiträge anderer ein. A3a3  ein vorbereitetes Referat in der Zielsprache umsetzten und fremdsprachliche Texte (eigene Produkte oder Teile des Ausgangstexts) vorlesen. SuS lesen Teile des literarischen Textes laut vor. SuS lesen ihre eigenen Produkte laut vor. SuS setzen ein vorbereitetes Referat in der Zielsprache um. A3b1 Schreiben  kreative Aufgabenstellungen zielsprachlich umsetzten (produkt-, persönlichkeits- und prozessorientiert). SuS schreiben eigene Texte in der Zielsprache. A3b2  Aufgabenstellungen in der Zielsprache schriftlich bearbeiten. SuS bearbeiten zielsprachliche Aufgabenstellungen. Tabelle 128: Kommunikative Kompetenzen III beizutragen vermag, dass einfache bzw. einfachste Verständnislücken, die zweifelsohne individuell bestehen, durch den Austausch der Lesenden untereinander und in Verbindung mit der didaktisch-methodischen Lenkung durch die Lehrkraft ausgeglichen werden können. Diese Aspekte werden von den Lernenden in den Interviews angesprochen und stehen im Zusammenhang mit den psychosozialen Kompetenzen des Modells. <?page no="366"?> 366 Als Teilaspekte der Textproduktion sind das Sprechen und Schreiben im fremdsprachlichen Literaturunterricht zu nennen, die die produktiven Mittel der Lernenden repräsentieren, im fremdsprachlichen System kommunikativ zu handeln. Sie sind Bestandteile der lektürebegleitenden Anschlusskommunikation (vgl. Rupp 2002), denn „zum Lesen als kulturelle Praxis gehört die Fähigkeit, mit anderen in einen diskursiven Austausch über subjektive Textverständnisse einzutreten“ (Hurrelmann 2002: 279). Die Deskriptoren der Textproduktion abstrahieren so das Medium des Austauschs: Die Komponente Sprechen umfasst die von den Lernenden in der Zielsprache verbalisierten Leseeindrücke und Lesarten im Unterrichtsgeschehen (A3a1), also Situationen, in denen über den Text und die Leseeindrücke in der Zielsprache gesprochen wird. Wird im Unterricht die fremdsprachliche Kommunikation durch die Lernenden dahingehend aufrecht erhalten, dass sie auf die Beiträge anderer eingehen, so wird der A3a2 Deskriptor produktiv, mit dem Situationen zu fassen sind, in denen die Lernenden direkt auf einen vorangegangenen Beitrag eingehen, das zuvor Gesagte aufgreifen, es ergänzen, ihm widersprechen oder es kommentieren. In den Daten läuft die Kommunikation im Unterrichtsgeschehen hauptsächlich über die Lehrkraft, d.h., in allen Fallstudien gehen die Lernenden nur in ihren Beiträgen auf Vorangegangenes ein, direkt adressiert werden die Mitschüler und Mitschülerinnen kaum. Etwas problematisch, weil mehrschichtig, erweist sich der A3a3 Deskriptor. Hierunter werden Ereignisse gefasst, in denen textgestützt gesprochen oder ein vorbereiteter Text vorgelesen wird. Dabei kann es sich um ein vorbereitetes Referat, aber auch um das Vorlesen eigener Produkte bzw. um Teile des Ausgangstextes handeln. Die Entscheidung, die im Deskriptor enthaltenen Aspekte des Vorlesens vom Leseverstehen abzugrenzen, rührt daher, dass es sich um (schriftlich) vorbereitete Leistungen handelt, die dem verarbeitungsbezogenen Leseprozess nachgelagert sind. Die konzeptuelle Kategorie Schreiben repräsentiert jene Geschehnisse im Unterricht, innerhalb derer die Lernenden Arbeits- und Handlungsanweisungen zielsprachlich schriftlich umsetzen. Dazu zählen Situationen, in denen die Schülerinnen und Schüler kreative Aufgabenstellungen zielsprachlich umsetzen (A3b1), indem beispielsweise produkt-, persönlichkeits- oder prozessorientierte Aufgabenstellungen zu einer textproduktiven Auseinandersetzung mit dem Text und seinen Inhalten im Unterricht führen. Ebenso sind damit Leistungen der Lernenden zu fassen, in denen Aufgabenstellungen - wobei hier der kreative Aspekt in den Hintergrund rückt - in der Zielsprache schriftlich bearbeitet werden (A3b2). Der Unterschied zwischen beiden Deskriptoren ist vor allem im Schöpferischen zu suchen, denn wobei erstere Situationen vorbehalten bleibt, in denen die Lernenden ausgehend vom Text kreative Produkte erarbeiten, sind mit letzterem auch analytischere Aufga- <?page no="367"?> 367 benstellungen zu codieren, wenn beispielsweise eine Zeitleiste der Geschehnisse oder aber ein Diagramm zu Konstellation der Charaktere anzufertigen ist. Anschlusskommunikation im Sinne von mündlicher und schriftlicher Textproduktion bedeutet so gesehen, dass das Gelesenen, nachdem es kommunikativ erschlossen wurde, „in verschiedene soziale und kulturelle Kontexte eingebettet“ wird (Sutter 2002: 99). Diese Kontexte sind unterrichtlich (exogen), textuell (endogen) wie personell (autogen) bedingt (cf. 7.1.2), d.h. Sprechen und Schreiben dienen dazu, Gelesenes zu erweitern, zu verhandeln und mit den Deutungen anderer rückzukoppeln. Die die Kategorien konkretisierenden Deskriptoren beziehen sich in diesem Zusammenhang jedoch nur auf die Ausdrucksseite der Kommunikation; inhaltliche Aspekte beinhalten sie nur in Ansätzen. Diese Dimension des kommunizierten Textverständnisses lässt sich nur im Wechselspiel von kommunikativen, psycho-sozialen, reflexiven und interkulturellen Kompetenzen finden, das die Ko-Konstruktion von Bedeutung im fremdsprachlichen Literaturunterricht kennzeichnet. 8.2.2 Psycho-soziale Kompetenzen Psycho-soziale Kompetenzen bezeichnen jene Fähigkeiten, die es den Lernenden ermöglichen, die eigenen intellektuell-diskursiven wie affektiv-emotionalen Reaktionen auf das Gelesene für die Sinnstiftung zu nutzen. Wie bereits angemerkt, ist der Bereich der psycho-sozialen Kompetenzen dadurch gekennzeichnet, dass hier kognitive wie affektive Dimensionen ineinandergreifen und sich wechselseitig beeinflussen. Betont werden soll demnach die leserseitige Teilhabe am Verstehensprozess und das individuelle Angesprochensein, mit all seinen subjektiven Reaktionen und Wirkkonsequenzen, die durch die Inanspruchnahme der individuellen Dispositionen entstehen. Damit wird gewissermaßen darauf gezielt, das genuin Literarische bzw. Wirkästhetische beim Leseprozess ins Modell zu integrieren und sich dadurch von auf die Inhärenzhypothese rekurrierenden Lesekompetenzmodellen abzugrenzen (cf. 4.1.1, 4.1.2). Diese Prämissen sollen entlang der Beschreibung der Teilkomponenten des Kompetenzbereichs weiter differenziert werden. <?page no="368"?> 368 Psycho-soziale Kompetenzen I C ODE K ATEGORIE E IGENSCHAFT / D ESKRIPTOR B1 Psycho-soziale Fähigkeiten Die Schülerinnen und Schüler können… B1a1 Empathievermögen  sich in die Charaktere hineinversetzen und so den eigenen Erfahrungshorizont erweitern. SuS versetzen sich in die literarischen Charaktere. SuS erweitern den eigenen Erfahrungshorizont durch ein Hineinversetzen in die Charaktere. B1a2  Handlungen, Motive sowie Einstellungen und Gefühle der Charaktere nachvollziehen und erklärend-deutend kommentieren. SuS kommentieren Handlungen/ Motive der Charaktere. SuS kommentieren Einstellungen/ Gefühle der Charaktere. B1a3  die zentralen Konflikte des Textes erkennen und erklärend-deutend kommentieren. SuS identifizieren zentrale Konflikte des Textes. B1b1 Affektive Mobilisatoren  die beim Lesen als affektiver Respons entstehenden eigenen Gefühle für den literarischen Verstehensprozess nutzen. SuS nutzen die beim Lesen als affektiver Respons entstehenden eigenen Gefühle für den Verstehensprozess. B1b2  sowohl die individuellen als auch die unterrichtlich verbindlichen Ziele, Zwecke und Absichten des Lesens für die literarische Sinnbildung urbar machen. SuS machen sowohl die individuellen als auch die unterrichtlich verbindlichen Ziele, Zwecke und Absichten des Lesens für die literarische Sinnbildung fruchtbar. Tabelle 129: Psycho-soziale Kompetenzen I Die Kategorie Empathievermögen, die für die Koordinierung der im literarischen Text enthaltenen Perspektiven zentral ist (vgl. Nünning 2000: 110), realisiert sich affektiv als ein Einfühlen (vgl. Ropers 1990: 115) der Lernenden in die literarisch repräsentierten Motive, Einstellungen und Empfindungen und kognitiv als ein Nachvollziehen der Gedankengänge der literarisch präsentierten anderen (vgl. Nünning 2000). Kognition und Emotion sind also <?page no="369"?> 369 „nicht eigentlich trennbar, vielmehr muß von einer wechselseitigen Beeinflussung ausgegangen werden“ (House 1998: 91), denn „Affekte lenken das Interesse des Individuums auf bestimmte Sachverhalte und regulieren damit die kognitiven Handlungen des Menschen“ (Wolff 2004: 91). Empathievermögen als selektiver Code bezeichnet somit jene Fähigkeiten der Lernenden, sich - durch bewusste Lenkung der eigenen Aufmerksamkeit - auf die Charaktere als andere einfühlend einzulassen, deren Perspektive eindenkend zu übernehmen und durch eigenes Imaginieren auszugestalten, und darüber hinaus das Spiel zwischen der erlesenen, erfühlten und erdachten Perspektive mit der je eigenen zu koordinieren und so auch die zentralen Konflikte des Textes aufzuspüren. Innerhalb der Binnenstruktur literarischer Kompetenz nehmen diese Komponenten des Konzepts eine Schlüsselposition für die Teilhabe der Lernenden am Sinnstiftungsprozess ein. Die beim Lesen entstehenden Eindrücke, Gefühle und Empfindungen werden durchdacht und in eine bestimmte Form überführt, wobei Kognition und Emotion „gemeinsam das menschliche Handeln, und deshalb auch das Sprachhandeln“ bestimmen (ebd.: 92) - im Kontext der Studie dann das literarische Handeln der Lernenden unter spezifisch wirkungsästhetischen Aspekten. Empathievermögen als Kategorie konkretisiert sich in den Daten entlang der damit verbundenen Indikatoren, die ein Hineinversetzen der Lernenden in die literarisch repräsentierten Charaktere (B1a1) beschreiben. Davon entfallen nur einige wenige Phänomene auf das Unterrichtsgeschehen, die restlichen Codierungen beziehen sich auf Äußerungen der Lernenden in den Interviews. Dabei sind die Ereignisse des Deskriptors im Unterrichtsgeschehen nur in einer der acht Fallstudien festzustellen (E10 II, cf. 7.2.2.2). Dies ist zum einen auf das zirkuläre Design der Studie zurückzuführen (Erkenntnisse vorangegangener Fallstudien beeinflussen die Planung nachfolgender) und zum anderen auf die nicht zu unterschätzende Rolle der Lehrkraft bzw. auf die von ihr formulierten Arbeitsanweisungen. Denn nur in diesem Fall werden Schreibanlässe so formuliert, dass die Lernenden dazu angeregt werden, sich in die Charaktere hineinzuversetzen (Imagnine you were XY. How would you act/ feel/ react in his or her shoes? ). Als weiterer Einflussfaktor ist das auf die Sekundarstufe I beschränkte Sampling zu nennen, denn mit dem Deskriptor in Zusammenhang stehendes spezifisches Verhalten kann sich in der Sekundarstufe II in anderer Form zeigen. Häufiger zeigen sich hingegen die mit dem B1a2 Deskriptor zusammenhängenden Indikatoren in den Daten enthalten, die sich auf Ereignisse im Unterrichtsgeschehen und auf solche in den Schülerprodukten beziehen, in denen es darum geht, die Handlungen, Motive, Einstellungen und Gefühle der Charaktere nachzuvollziehen, zu deuten und auszugestalten. Beiden Deskriptoren ist gemein, dass sie mehrere zuvor unterschiedlichen Wirkfaktoren <?page no="370"?> 370 zugeordnete Indikatoren zu einer Kompetenzbeschreibung zusammenfassen. Wie bereits erwähnt zählt zur Kategorie Empathievermögen auch, dass es den Lernenden gelingt, die zentralen Konflikte des Textes aufzuspüren (B1a3), diese zu identifizieren und stellungnehmend zu kommentieren, wobei sich dieser Deskriptor aus einer Umformulierung des zugehörigen Indikators ergibt. Dies gilt auch für die beiden Deskriptoren der nachfolgenden Kategorie. Affektive Mobilisatoren sind so zu verstehen, dass sie das literarische Lesen lenken und somit auch - bis zu einem gewissen Grade - den Verstehensprozess der Lernenden bestimmen (vgl. Karcher 1996: 124 f.). Hier sind besonders die beim Lesen als affektiver Respons entstehenden Gefühle von Interesse (B1b1), die für den literarischen Verstehensprozess zentral sind, indem sie im Zusammenspiel zwischen Text und Leser zusätzliche Bedeutungsebenen eröffnen, denn es ist der Leser, der auch „aus seiner affektiven Einstellung und seiner momentanen Stimmung heraus seinen Textsinn aufbaut“ (ebd.: 124; Hervorhebung im Original). Ereignisse lassen sich im Datenmaterial sowohl im Unterrichtsgeschehen (seltener) als auch in den retrospektiven Interviews (häufiger) ausmachen. Affektive Mobilisatoren fassen zudem die individuellen wie die unterrichtlich verbindlichen Ziele, Zwecke und Absichten des Lesens literarischer Texte, die bei der Sinnbildung eine Rolle spielen (vgl. Caspari 1994: 93). Der B1b2 Deskriptor, der diesen Bereich konkretisiert, ist allerdings ausschließlich auf Äußerungen in den Interviews bezogen. Beide Deskriptoren resultieren - wie bereits erwähnt - aus einer Umformulierung von entsprechenden Indikatoren. Psycho-soziale Kompetenzen II C ODE K ATEGORIE E IGENSCHAFT / D ESKRIPTOR B2 Ästhetische Fähigkeiten Die Schülerinnen und Schüler können… B2a1 Ästhetisches Lesen  aktiv am Prozess der Sinnstiftung teilnehmen, indem sie sich vom Text leiten lassen, jedoch in der Deutung Freiheit vom Text erlangen. SuS nehmen Stellung zu Textinhalten. SuS äußern sich zum Textsinn. B2a2  Leerstellen des literarischen Textes durch den Bezug unterschiedlicher Textelemente eigenständig und im Austausch untereinander füllen und differenzieren. SuS füllen Leerstellen des literarischen Textes durch den Bezug unterschiedlicher Textelemente. B2a3  die Perspektiven der einzelnen Charaktere koordinieren. SuS koordinieren die Perspektiven der einzelnen Charaktere. <?page no="371"?> 371 B2a4  Subjektivität und Diversität als für die Sinnstiftung zentral begreifen. SuS begreifen Subjektivität und Diversität als für die Sinnstiftung zentral. B2a5  ästhetische Erfahrung als Mittel zur Erlangung neuer Einsichten erkennen und für sich nutzen. SuS erkennen ästhetische Erfahrung als Mittel zur Erlangung neuer Einsichten. B2a6  literarische Texte als inszenierte und perspektivierte Sinnentwürfe wahrnehmen. SuS nehmen literarische Texte als inszenierte und perspektivierte Sinnentwürfe wahr. Tabelle 130: Psycho-soziale Kompetenzen II Ästhetische Fähigkeiten, zu denen das ästhetische Lesen bzw. eine spezifisch ästhetische Lesehaltung zu zählen sind, greifen die oben beschriebenen affektiven Zugänge auf. Konkret bedeutet dies, dass die aktive Teilhabe der Lernenden am Prozess der Sinnstiftung für die Kategorie zentral ist (B2a1): Die Lernenden müssen sich vom Text leiten lassen, jedoch in der Deutung Freiheit vom Text erlangen (vgl. Bredella 2002: 53). Abzuleiten ist dieser normativ aufgeladene Deskriptor auf einer höheren Abstraktionsstufe aus Indikatoren, die für Phänomene in den Daten stehen, in denen die Lernenden interpretierend Stellung zu Textinhalten nehmen und sich zum Textsinn äußern. Mit dem Deskriptor ist eine Zielsetzung des Bereichs im Sinne von Wissen und Können zu repräsentieren. Wissen ist in der Textebene enthalten. Können wiederum bezieht sich auf die Leistung der Lernenden, eben Eigenes zur Sinnstiftung beizutragen, das sich aus der Interaktion zwischen Leser und Leser und selbstredend dem Text ergibt. Mit den darin notwendigerweise enthaltenen normativen Momenten wird es möglich, die Konstruktionsleistung, die grundlegende Charakteristik der verstehenden literarischen Auseinandersetzung der Lernenden ist, in das Modell auf einer höheren Abstraktionsstufe einzubinden, denn Konstruktionsleistungen im Sinne von Verstehen erfordern ein Ausbilden eines eigenen Textverständnisses. Und zwar derart, dass ein bestimmter Leser mit einem bestimmten Text in Kontakt tritt, der Text dem Leser zwar Führung bietet und damit auch Grenzen auferlegt, er aber zudem insofern offen gestaltet ist, als er des Lesers Beteiligung nicht nur erfordert, sondern auch einfordert (vgl. Rosenblatt 1981). Projiziert wird diese Globalform aus Phänomenen, die darauf schließen lassen, dass die Lernenden des Gelesene deuten und interpretieren, dabei Aspekte ansprechen und Argumentationen aufbauen, die über die bloße Wiedergabe des im Text Enthal- <?page no="372"?> 372 tenen hinausgehen. In Unterrichtsgeschehen und Schülerprodukten zeigt sich auch der Umgang mit literarischen Leerstellen (B2a2), und zwar als Füllen und Ausgestalten dieser, indem die Lernenden unterschiedliche Textelemente mit einander in Beziehung setzten und eigene Deutungsvarianten als Bestandteil der gemeinschaftlichen Sinnstiftung ins Spiel bringen, wobei der Deskriptor aus einer Umformulierung des entsprechenden Indikators hervorgeht. Ebenfalls in Unterrichtsgeschehen und Schülerprodukten wiederzufinden ist der die Koordinierung der Perspektiven der Charaktere beschreibende Indikator, der den B2a3 Deskriptor im Datenmaterial repräsentiert und in besonderem Zusammenhang mit dem Empathievermögen zu sehen ist. Ausschließlich in den Interviews auszumachen sind allerdings die verbleibenden Deskriptoren, die allesamt einer Umformulierung der jeweiligen Indikatoren entstammen. So ist beispielsweise der B2a4 Deskriptor für jene Äußerungen reserviert, in denen die Lernenden die Vorzüge der gemeinschaftlichen Auseinandersetzung und Deutung im Unterricht direkt thematisieren und die Bedeutung von Subjektivität und Diversität für die im Unterricht auszumachenden Sinnstiftungsprozesse (cf. Nünning 2004: 230) in ihren Kommentaren anerkennen. Äußerungen, die den Stellenwert der ästhetischen Erfahrung sowohl als Mittel zu Erlangung neuer Einsichten (vgl. Bredella 1996: 128; Delanoy 2002: 139) als auch für eigene Lernprozesse und die Persönlichkeitsbildung zum Gegenstand haben (B2a6), lassen sich ebenso ausschließlich im Datensatz Interview ausmachen. Dort sind auch explizit Ereignisse zu finden, die darauf deuten, dass es den Lernenden auf einer Metaebene gelingt, literarische Texte als inszenierte und perspektivierte Sinnentwürfe nicht nur wahrzunehmen, sondern diesen Aspekt auch reflektierend zu betrachten (B2a6). All diese Teilkomponenten illustrieren die Fähigkeit der Lernenden, sich auf die ästhetische Darstellung einzulassen und damit Leselust zu erfahren (vgl. Decke-Cornill/ Gebhard 2007). Damit wird zudem abstrahierend die Bereitschaft der Lernenden beschrieben, die fiktionalen Gesetzmäßigkeiten des literarischen Textes als eigenständig wertzuschätzen (willing suspension of disbelief), denn „literarische Texte konfrontieren die Leser/ innen […] mit alternativen Weltmodellen; um sie zu verstehen, ist es daher erforderlich, über die Strukturen der realen Welt hinauszugehen“ (Christmann/ Schreier 2003: 264). <?page no="373"?> 373 8.2.3 Reflexive Kompetenzen Reflexive Kompetenzen bezeichnen die Fähigkeiten der Lernenden, im Verlauf des Sinnstiftungsprozesses auf weltliches, sprachliches und literarisches Wissen zurückzugreifen. Es wurde bereits bei der Diskussion der kommunikativen Kompetenzen (cf. 8.2.1) darauf hingewiesen, dass der Inhaltsaspekt der Schüleräußerungen (sowohl in Unterrichtsgeschehen als auch in den Schülerprodukten) stets im Wechselspiel der Modellbestandteile zu sehen ist. Neben den psycho-sozialen Kompetenzen, die einen persönlichen Zugang zum Gelesenen überhaupt erst ermöglichen - denn ohne Angesprochen-Sein kann es zu keiner tiefer gehenden Auseinandersetzung kommen, so die hier vertretene These - sind es vor allem reflexive Kompetenzen, die die Lernenden dafür nutzen, den literarischen Text, die Charaktere und seine zentralen Konflikte hermeneutischinterpretierend zu durchdringen. Im Prinzip dient der Bereich der reflexiven Kompetenzen dazu, den vagen und doch semantisch so geladenen Begriff des Verstehens zu erhellen (cf. 3.2.2., 3.3). Innerhalb des Modells bezeichnen reflexive Kompetenzen auf einer abstrakten Ebene Fähigkeiten der Lernenden, mit unterschiedlichen Wissensbeständen umzugehen und eigene Erfahrungen und eigenes Vorwissen bei der Sinnstiftung im Unterricht einfließen zu lassen. Gefasst werden diese Wissensbestände aus rein heuristischen Zwecken entlang der Kategorien Weltwissen, Sprachwissen und literarisches Wissen. Der Konkretisierung des Kompetenzbereichs ist ein deduktiver Schluss voranzustellen, der in Anlehnung an die Hermeneutik Gadamers impliziert, dass „jedes Verstehen vom Vorverständnis und dem Interesse an einer konkreten Fragestellung geprägt ist“ (Hammermeister 2006: 69). Es sind hier also vornehmlich jene Strategien und Taktiken von Interesse, die als Teil des spezifischen Verhaltens darauf deuten, dass die Lernenden das bei der Auseinandersetzung mit dem literarischen Text Erfahrene „in das Ganze der eigenen Weltorientierung und des eigenen Selbstverständnisses zu integrieren“ vermögen (Gadamer [1964] 1997: 117). Durch den bei der ästhetischen Erfahrung entstehenden „Blick von dem Objekt auf die Beziehung zwischen Objekt und Rezipient“ kommt beim Lesen „ein reflexives, metakommunikatives Element ins Spiel“ (Bredella 1996: 129). Dabei geht es um das Verstehen, das zwei Dimensionen umfasst: Zum einen das direkte „Verstehen der in der fiktiven Welt dargestellten Handlung“ und zum anderen das reflexive „Verstehen des dem literarischen Text inhärenten Weltbildes“ (Glaap 2002: 4; vgl. Bredella 1996). <?page no="374"?> 374 Reflexive Kompetenzen I C ODE K ATEGORIE E IGENSCHAFT / D ESKRIPTOR C1 Weltwissen Die Schülerinnen und Schüler können… C1a1 Textdeixis  den fiktionalen Wirklichkeitsentwurf interpretierend auf die außerliterarische Realität beziehen. SuS beziehen den Wirklichkeitsentwurf auf eine außerliterarische Realität. C1a2  Leerstellen und Deutungsspielräume des literarischen Textes durch Bezugnahme auf Vorkenntnisse und Vorerfahrungen ausgestalten. SuS gestalten Leerstellen durch eigene Erfahrungen aus. C1a3  zentrale Konflikte erkennen und diese hermeneutischinterpretativ mit Gegebenheiten des eigenen Lebensumfelds in Bezug setzten. SuS setzen zentrale Konflikte im Text mit Gegebenheiten des eigenen Lebensumfelds in Bezug. C1b1 Wissensdeixis  den fiktionalen/ fiktiven Gesetzmäßigkeiten des literarischen Textes durch eigene Wirklichkeitserfahrungen widerstehen. SuS widerstehen den fiktionalen/ fiktiven Gesetzmäßigkeiten des literarischen Textes. C1b2  Handlungen, Motive sowie Einstellungen und Gefühle der Charaktere auf Basis eigener Wertvorstellungen zurückweisen und diesen kritisch reflektierend widersprechen. SuS bewerten Handlungen und Motive der Charaktere kritisch. SuS weisen Einstellungen und Gefühle der Charaktere kritisch zurück. C1b3  im Text geltende Normen und Werte kritisch reflektieren und auf Basis eigener Wertvorstellungen zurückweisen. SuS reflektieren die im Text geltenden Werte und Normen kritisch. Tabelle 131: Reflexive Kompetenzen I Um als Kategorien für das selektive Codieren produktiv zu werden, sind diese zwei Formen des Verstehens (direkt/ reflexiv) als Textdeixis und Wissensdeixis gefasst: Textdeixis beschreibt als Teilkomponente die Fähigkeiten der Lernen- <?page no="375"?> 375 den, für die Handlungen im Text mögliche Konsequenzen zu imaginieren und damit auch einen Bezugsbzw. Orientierungsrahmen zu konstruieren, in dem logische Verläufe, Wenn-Dann-Beziehungen und Kausalketten verortet werden können. Der erste Deskriptor, der diese Form der Auseinandersetzung in den Datensätzen repräsentiert, beschreibt die Fähigkeit der Lernenden, den Wirklichkeitsentwurf auf eine außerliterarische Realität zu beziehen (C1a1) und ist als eine höhere Abstraktionsstufe des korrespondierenden Indikators zu verstehen. Mit dieser bewusst offen gehaltenen Formulierung sind Ereignisse zu codieren, die erkennen lassen, dass die Lernenden versuchen, eine wie oben beschriebene Beziehung zwischen Text und Realität herzustellen. Der ebenfalls der Formulierung des Indikators entlehnte C1a2 Deskriptor rekurriert auf Geschehnisse, in denen die Lernenden die eigenen Vorkenntnisse und Vorerfahrungen dazu nutzen, Leerstellen und Deutungsspielräume auszugestalten. Werden zudem die zentralen Konflikte des Textes mit dem eigenen Lebensumfeld in Verbindung gesetzt, indem eine Beziehung zwischen sich selbst und dem Text aufgebaut wird, so ist mit dem C1a3 Deskriptor zu codieren. Fallstudienübergreifend ist allen mit den bislang genannten Deskriptoren in Verbindung stehenden Indikatoren im Datensatz Unterrichtsgeschehen gemein, dass sie sich nicht zu Beginn der Unterrichtssequenzen zeigen, denn „solche Erfahrungen des Verstehens setzen offenkundig immer Schwierigkeiten im Verstehen voraus […]. So beginnt alle Anstrengung des Verstehenwollens damit, daß einem etwas, was einem begegnet, befremdlich, herausfordernd, desorientierend entgegentritt“ (Gadamer [1970] 1997: 72). Das Weltwissen der Lernenden ist also gefragt, Bezugspunkte des Verstehens zu erstellen, die mit dem im Text Dargestellten in Verbindung gebracht werden können, sodass das Befremdliche und Herausfordernde imaginiert und in den Kontext der eigenen Erfahrung eingeordnet werden kann, auf das eigene Vorverständnis rückwirkt und in eigenen Fragestellungen Ausdruck erfährt. Man kann jedoch „nicht verstehen, ohne verstehen zu wollen“, denn es bedarf einer „Art Sinnerwartung“, die „von Anfang an die Bemühung um Verständnis“ regelt (Gadamer [1964] 1997: 117). Diese Sinnerwartung, die sich unter anderem aus dem Weltwissen der Lernenden speist, kann auch zu Dissens mit dem im literarischen Text Repräsentierten führen, denn „Verstehen ist in diesem Zusammenhang nur eine Voraussetzung für Verständigung“ (Bredella/ Christ 1995: 14); eine einleitende Bedingung für die Interaktion zwischen Leser und Text sowie zwischen Leser und Leser im fremdsprachlichen Literaturunterricht - Konsens ist daher weder als Automatismus noch als unbedingte Zielsetzung der Auseinandersetzung zu sehen. Dem oben Dargelegten folgend werden unter der Kategorie Wissensdeixis diejenigen Fähigkeiten zusammengefasst, die es den Lernenden ermöglichen, sich kritisch mit dem im Text transportierten Weltbild auseinanderzusetzten. Hier ist Widerstehen das Stichwort, gehört doch zu einer mündigen Interaktion <?page no="376"?> 376 zwischen Leser und Text, dass - ganz im Sinne des Diskursbegriffs bei Habermas (vgl. 1971: 115) - Verständigung nötig ist, wenn Kommuniziertes zu problematisieren ist. Verständigung meint in diesem Sinne vor allem das Verhalten auf Seiten der Lernenden, denn der literarische Text kann auch den lesereigenen Wahrhaftigkeitsregeln zuwiderlaufen. In den Datensätzen lassen sich Ereignisse, in denen solche Vorgänge explizit thematisiert werden oder implizit eingebunden sind, mit drei unterschiedlichen Deskriptoren fassen, die auch weitgehend aus einer Umformulierung der entsprechenden Indikatoren im Sinne einer höheren Abstraktionsstufe hervorgegangen sind. So repräsentiert der C1b1 Deskriptor Handlungen, in denen den Gesetzmäßigkeiten des literarischen Textes widerstanden bzw. widersprochen wird. Ereignisse in den Datensätzen, die erkennen lassen, dass die Schülerinnen und Schüler Handlungen, Motiven, Einstellungen und Gefühlen der Charaktere kritisch begegnen und diesen widersprechen, werden dem C1b2 Deskriptor zugeordnet. Sind Phänomene auszumachen, in denen die im Text geltenden Normen und Werte kritisch betrachtet und gegebenenfalls auch zurückgewiesen werden, so sind sie mit dem C1b3 Deskriptor zu codieren, wobei entsprechend Ereignisse vornehmlich in den Interviews verankert sind. Reflexive Kompetenzen II C ODE K ATEGORIE E IGENSCHAFT / D ESKRIPTOR C2 Sprachwissen Die Schülerinnen und Schüler können… C2a1 Sprachbewusstheit  metaphorischen Sprachgebrauch und wörtliche Bedeutung erkennen und voneinander unterscheiden. SuS unterscheiden metaphorischen Sprachgebrauch und wörtliche Bedeutung. C2a2  Konnotationen und sprachliche Unbestimmtheiten erfassen und für den Verstehensprozess nutzen. SuS erfassen Konnotationen und sprachliche Unbestimmtheiten. C2b1 Metasprachliche Fähigkeiten  sprachliche Aspekte für die Sinnstiftung analysierend betrachten. SuS betrachten sprachliche Aspekte analysierend. C2b2  die Selbstreferentialität literarischer Sprache erkennen und analysierend benennen. SuS benennen die Selbstreferentialität literarischer Sprache. Tabelle 132: Reflexive Kompetenzen II Zum reflektierten Umgang mit dem Gelesenen gehört es auch, die sprachlichen Besonderheiten literarischer Texte zu erkennen. Der C2a1 Deskriptor <?page no="377"?> 377 für die Teilkomponente Sprachbewusstheit beschreibt die Fähigkeiten der Lernenden, mit wörtlichem und metaphorischem Sprachgebrauch sinnstiftend umzugehen, der sich allerdings nur im Datensatz Interview finden lässt (R10 I; cf. 7.2.3.2). Der für das Lesen literarischer Texte nicht außer Acht zu lassende Umgang mit sprachlichen Unbestimmtheiten und Konnotationen (vgl. Mummert/ Krumm 2001: 950) wird durch den C2a2 Deskriptor repräsentiert, wobei mit dem zugehörigen Indikator Phänomene in Unterrichtsgeschehen und Interviews codiert werden. Zum Teilbereich des Sprachwissens, das sich auf die Darstellungsebene der enthaltenen Handlungen bezieht, sind auch metasprachliche Fähigkeiten der Lernenden zu zählen, die sich im Umgang mit sprachlichen Aspekten sowie deren jeweiligen literarischen Funktionen ausdrücken (vgl. ebd.) und mit dem C2b2 Deskriptor zu fassen sind. Ereignisse, in denen auf die Selbstreferentialität literarischer Sprache verwiesen wird, sind in der Studie ebenso im Datensatz Interview auszumachen (cf. 7.2.3.2) und können durch den C2b3 Deskriptor repräsentiert werden. Alle vier Deskriptoren der Kategorie Sprachwissen gehen aus den zuvor formulierten Indikatoren hervor, sind innerhalb des Modells spezifisch literarisch gefasst und deshalb von Teilbereichen der kommunikativen Kompetenzen zu unterscheiden. Die Trennschärfe ist aber nicht als absolut zu verstehen, denn die beschriebenen Fähigkeiten sind - aller heuristischen Aufschlüsselung zum Trotz - stets als multidimensional realisiert zu verstehen. Dass die Grenzbereiche der Beschreibung als durchlässig angesehen werden müssen, tritt deutlich zu Tage, wenn man sich dem letzten Teilbereich der reflexiven Kompetenzen zuwendet. Denn auch hier spielt das Vorwissen der Lernenden eine zentrale Rolle. Zu rechtfertigen ist die Kategorisierung jedoch damit, dass hier nicht lebensweltliches oder sprachliches, sondern eben literarisches Wissen im Vordergrund steht. Reflexive Kompetenzen III C ODE K ATEGORIE E IGENSCHAFT / D ESKRIPTOR C3 Literarisches Wissen Die Schülerinnen und Schüler können… C3a1 Gattungswissen und Genreschemata  Gattungen und die geläufigsten Genre voneinander unterscheiden und deren Eigenheiten für die Sinnstiftung urbar machen. SuS nutzen die Eigenheiten von Genres für die Sinnstiftung. C3a2  Produktionsaspekte reflektierend betrachten: storylines, den Plot, den Handlungsort die Darstellung und die Spannungsbögen des literarischen Textes erkennen und darüber in einen reflektierten Austausch untereinander <?page no="378"?> 378 treten. SuS betrachten Produktionsaspekte reflektierend (storylines, den Plot, den Handlungsort die Darstellung und die Spannungsbögen des literarischen Textes). C3a3  Charaktere und deren Konstellation im literarischen Text erkennen und charakterisieren und dabei die Erzählhaltung und die Erzählperspektive berücksichtigen. SuS identifizieren Charaktere und deren Konstellationen. C3b1 Symbolisches Wissen  die Stimmung des Textes für die Sinnstiftung nutzen. SuS nutzen die Stimmung/ Atmosphäre im Text für die Sinnstiftung. C3b2  mit sprachlicher Ambiguität, Formen der Symbolik, der Andeutung und Mehrdeutigkeit und der Verfremdung umgehen. SuS gehen mit sprachlicher Ambiguität, Formen der Symbolik, der Andeutung und Mehrdeutigkeit und der Verfremdung um. Tabelle 133: Reflexive Kompetenzen III Zur Kategorie literarischen Wissens, die für das Verstehen und Durchschauen der Inszenierung literarischer Handlungen zentral ist und als Bestandteil eines bedachten Umgangs mit den Besonderheiten literarischer Textkomposition zu werten ist, sind als Teilkomponenten Gattungswissen und Genreschemata zu zählen, die eine spezielle Form des - in diesem Fall literarischen - Vorwissens darstellen. Um also die dargestellte Handlung im Text unter einer konkreten Fragestellung zu betrachten, können sich die Leser einleitend „auf das Genrewissen und dann auf das Weltwissen beziehen“ (Jannidis 2004: 71). Genreschemata (vgl. Kramsch 1993: 124) und Wissen über die Charakteristika der Gattungen sind „als Kodifizierung des Anforderungsprofils literarischer Werke“ (Eggert 2002: 188) zu werten. In den Daten, und dann vor allem in den Interviews, zeigen sich Ereignisse, in denen dieses Vorwissen für die Sinnstiftung reflektierend genutzt wird, mit dem C3a1 Deskriptor verbunden. Den C3a2 Deskriptor repräsentierend kann der Umgang der Lernenden mit Spannungsbögen, Charakterisierungen, storylines, dem Plot, dem Handlungsort und der Erzählhaltung sowie der Erzählperspektive gewertet werden; vornehmlich in solchen unterrichtlichen Situationen, in denen Eigenheiten im Text identifiziert oder eigene Produkte (beispielsweise das Schreiben eines möglichen Endes) mit dem Ausgangstext verglichen werden. Unter den letz- <?page no="379"?> 379 ten Deskriptor der Kategorie Gattungswissen und Genreschemata werden Ereignisse subsumiert, die erkennen lassen, dass die Lernenden das Inventar an Charakteren mit einander in Bezug setzten können, diese auch attribuieren und dabei die Erzählhaltung und die Erzählperspektive berücksichtigen (C3a3), wobei die letzeren Aspekte als Projektion aus den korrespondierenden Indikatoren zu verstehen ist. Symbolisches Wissen als weitere Teilkomponente der Kategorie literarisches Wissen kommt dann zum Tragen, „wenn eines oder mehrere Textelemente pragmatisch keinen Sinn machen, wenn sich also eine weitere Bedeutung aufdrängt“ (Kammler 2006c: 196). Symbolisches Wissen bezeichnet dann die Fähigkeit der Lernenden, mit sprachlicher Ambiguität, „Formen der Symbolik, der Andeutung und Mehrdeutigkeit (Konnotation) und der Verfremdung von Alltagssprache bzw. etablierter literarischer Formsprache“ (Eggert 2002: 187) umzugehen. Dazu zählen dann auch rhetorische Figuren, Tropen und Chiffren. Zum Tragen kommen Teilkomponenten der Kategorie in Ereignissen, in denen die Lernenden Bedeutungen in der Stimmung des literarischen Textes suchen (C3b1). Phänomene, die sich auf eine Beschäftigung mit Aspekten der sprachlichen Gestaltung beziehen und in denen die Schülerinnen und Schüler mit sprachlicher Ambiguität, mit Formen der Symbolik, der Andeutung, Mehrdeutigkeit und Verfremdung umgehen (C3b2) sind vor allem in den Interviews auszumachen. 8.2.4 Interkulturelle Kompetenzen Interkulturelle Kompetenzen bezeichnen die Fähigkeiten der Lernenden, mit fremdkulturellen Konzepten umzugehen und sich auf das dargestellte Fremde einzulassen. Neben die in den reflexiven Kompetenzen beschriebenen Fähigkeiten im Zusammenhang mit dem direkten und reflexiven Verstehen tritt im fremdsprachlichen Literaturunterricht auch eine interkulturelle Dimension, die sich besonders auf das im Text enthaltene Welt- und Wertebild bezieht. Denn literarische Kompetenz im Fremdsprachenunterricht bedeutet immer auch eine Auseinandersetzung mit (fremd-)kulturellen Wirklichkeitsentwürfen. Die damit in Verbindung stehenden Fähigkeiten werden im Modell entlang der Kategorien soziokulturelles Wissen und Fremdverstehen beschrieben. <?page no="380"?> 380 Interkulturelle Kompetenzen I C ODE K ATEGORIE E IGENSCHAFT / D ESKRIPTOR D1 Soziokulturelles Wissen Die Schülerinnen und Schüler können… D1a1 Umgang mit fremdkulturellen Konzepten  fremdkulturelle Konzepte im Text identifizieren und benennen. SuS identifizieren fremdkulturelle Konzepte im Text. D1a2  sich auf unbekannte Konzepte einlassen und versuchen, diese gemeinschaftlich und durch im Text enthaltene Hinweise auszugestalten. SuS deuten unbekannte Konzepte. D1a3  fremdkulturelle Werte, Normen und Konflikte erkennen und benennen. SuS benennen fremdkulturelle Werte und Normen. SuS benennen fremdkulturelle Konflikte. Tabelle 134: Interkulturelle Kompetenzen I Zum soziokulturellen Wissen, das eine besondere Form des Vorwissens der Schülerinnen und Schüler darstellt, gehört der Umgang mit fremdkulturellen Konzepten. Diese Teilkomponente beschreibt den sprachlichen und kulturellen Kontakt der Lernenden mit dem im Text enthaltenen Fremden als das Befremdliche und Herausfordernde, das es zu verstehen gilt, um den Text und das in ihm Repräsentierte in diskursive Kontexte einzuordnen. Der Kontakt mit fremdkulturellen Konzepten kann sich dabei auf Schlüsselwörter beziehen (vgl. Burwitz-Melzer 2003: 498), die in einen kulturellen Zusammenhang gebracht werden. In den Datensätzen konkretisieren sich dafür relevante Phänomene, die als unterste Stufe der interkulturellen Auseinandersetzung Ereignisse beschreiben, in denen fremdkulturelle Konzepte im Text als solche erkannt und benannt werden (D1a1). Das Identifizieren „fremdkultureller Elemente in einem fremdsprachigen Text“ (ebd.) beschränkt sich in diesem Fall im Unterrichtsgeschehen zumeist auf die Nennung von Schlüsselwörtern, die Konkreta, Abstrakta sowie Diskurse repräsentieren können. Zeigen sich im Unterrichtsgeschehen über das Identifizieren hinausgehende Leistungen, die darauf deuten, dass die Lernenden sich auf die unbekannten Konzepte einlassen und gemeinschaftlich versuchen diese auszugestalten, so wird mit dem Indikator codiert, aus dem der D1a2 Deskriptor hervorgeht. Hingegen bleibt der D1a3 Deskriptor solchen Geschehnissen im Unterrichtsverlauf vorbehalten, in denen fremdkulturelle Werte, Normen und Konflikte <?page no="381"?> 381 von den Schülerinnen und Schülern thematisiert werden, wobei diese von zwei Indikatoren in den Datensätzen repräsentiert werden. Allen Deskriptoren der Kategorie Umgang mit fremdkulturellen Konzepten ist gemein, dass die Beschäftigung im Unterricht auf kulturelles Wissen aufbaut bzw. dieses fördert. Eine kompetente Auseinandersetzung mit fremdkulturellen Konzepten stellt eine „Wahrnehmungs- und Aneignungsfähigkeit fremder Bedeutung“ dar, die es in „fremdkulturelle Bedeutungssysteme einzubinden“ gilt (Müller-Jacquier 2001: 1230 f.; Hervorhebung im Original). Und zwar insofern, als fremde Bedeutung identifiziert (D1a1), ausgestaltet (D1a2) und hinsichtlich der fremdkulturellen Relevanz differenziert wird (D1a3). Dabei ist der Umgang mit fremdkulturellen Konzepten als kommunikativer wie reflexiver Schlüssel zum Verstehenwollen zu sehen, bei dem aber auch psycho-soziale Aspekte eine Rolle spielen können:  Kommunikativ ist er in dem Sinne, dass hier eine Nähe zur Wortschatzarbeit besteht, wobei die Semantisierungsprozesse unter kulturellen Bezügen zu akzentuieren sind.  Das reflexive Moment kommt ins Spiel, indem durch das Wahrnehmen der kulturellen Besonderheit zunächst das jeweilige Bedeutungssystem nachgezeichnet bzw. konstruiert werden muss (D1a1 D1a2). In dieses System wird das Befremdliche eingeordnet, kontextualisiert und in seiner Bedeutung gewichtet (vgl. Burwitz-Melzer 2003). Mittels des Schritts von Wahrnehmen und Erkennen über Aneignen (D1a1 D1a2 D1a3) ändert sich relational zum Vorverständnis der Lernenden auch die verständnisleitenden Fragestellungen, indem sie auf kulturelle Gegeben- und Begebenheiten fokussieren (was als Übergang bzw. Bindeglied zur noch folgenden Kategorie Fremdverstehen zu werten ist).  Die psycho-sozialen Aspekte prägen den Grad der eigenen Involviertheit. Dabei ist davon auszugehen, dass sich ein reflexives Einlassen auf das Dargestellte aus einem subjektivierenden Zugang der Lernenden zu den (fremd-)kulturellen Elementen speist und sich die psycho-sozialen Reaktionen sowie die erkenntnisleitenden Reflexionen wechselseitig bedingen. Die hier angedeuteten Wechselwirkungen stehen in engem Zusammenhang mit dem Inhaltsaspekt der kommunikativen Auseinandersetzung mit und über literarische Texte. Dies bedeutet, dass kommunikative, psycho-soziale und reflexive Fertigkeiten und Fähigkeiten nicht nur in Bezug auf die Kategorie soziokulturelles Wissen, sondern für die Entfaltung des gesamten Kompetenzbereichs zentral sind. In den Daten realisiert sich dieses Zusammenspiel dahingehend, dass Codierungen interkultureller Kompetenzen nicht isoliert auftauchen (bis auf wenige Ausnahmen in den Interviews). Dass dabei das <?page no="382"?> 382 Konzept bzw. der Kompetenzbereich der reflexiven Kompetenzen eine besondere Rolle spielt, geht aus dem bis hier Dargelegten hervor. Vertiefend darstellen lässt sich diese Nähe der Kompetenzbereiche anhand des Begriffs des Vorverständnisses, das für die Konzeptionierung der nachfolgenden Kategorie von Bedeutung ist. Interkulturelle Kompetenzen II C ODE K ATEGORIE E IGENSCHAFT / D ESKRIPTOR D2 Fremdverstehen Die Schülerinnen und Schüler können… D2a1 Einnehmen der Innenperspektive  sich auf die fremde Sichtweise einlassen und die kulturellen Begebenheiten als eigenständig anerkennen. SuS lassen sich auf die kulturellen Begebenheiten der präsentierten Sichtweise ein. D2a2  unterschiedliche kulturelle Perspektiven koordinieren und Unterschiede herausarbeiten. SuS identifizieren unterschiedliche kulturelle Perspektiven. D2b1 Einnehmen der Außenperspektive  kulturelle Gegebenheiten aus der Außenperspektive reflektierend betrachten und ihnen gegebenenfalls widerstehen. SuS betrachten kulturelle Gegebenheiten aus der Außenperspektive. D2b2  gemeinschaftlich versuchen, Gemeinsamkeiten zwischen der eigenen und der fremden Kultur zu erkennen. SuS erkennen Unterschiede/ Gemeinsamkeiten zwischen der eigenen und der fremden Kultur. D2b3  Kulturen und kulturelle Praxis als vielfältig und heterogen anerkennen. SuS deuten Kulturen und kulturelle Praxis als vielfältig und heterogen. Tabelle 135: Interkulturelle Kompetenzen II In einem engen Zusammenhang zum Vorverständnis und den reflektierenden, konkreten Fragestellungen stehen auch die Teilkomponenten der Kategorie Fremdverstehen, welche das Verstehenwollen unter interkulturellen Gesichtspunkten fasst. Um sich dem Befremdlichen verstehend zu nähern, muss zunächst das Dargestellte nachvollzogen werden. Die Lernenden imaginieren die Perspektive der literarisch Handelnden. Das Einnehmen der Innenperspektive bedeutet, dass sich die Lernenden bewusst auf das durch die literarischen Charaktere repräsentierte kulturspezifische Denken und Handeln sowie <?page no="383"?> 383 die dabei zugrundliegenden Einstellungen, Werte und Normen einlassen. Fremdverstehen meint unter diesem Vorzeichen betrachtet, dass man aus dem eigenen Kontext heraustritt und sich in einen anderen versetzt. Dazu bedarf es einer temporären Suspendierung eigenkultureller Erfahrungen, Konzepte und Deutungsmuster sowie der imaginativen Übernahme eines anderen Wahrnehmungszentrums, d.h. der Perspektive des Anderen bzw. Fremden. (Bredella / Meißner/ Nünning/ Rösler 2000: XIX) Die Perspektive zu übernehmen bedeutet, sich auf die fremde Sichtweise einzulassen und das kulturell Verhandelte als eigenständig anzuerkennen (D2a1), wobei hier der Indikator lediglich Phänomene beschreiben lässt, in denen das Sich-Einlassen auf die fremde Sichtweise anhand der Leistungen rückzuschließen ist. Der Deskriptor ist demnach als Projektion der Dispositionen auf einer höheren Abstraktionsstufe zu verstehen. In Verbindung mit dem Verstehen der verhandelten Werte und Normen sind solche Ereignisse in den Datensätzen zu sehen, die darauf deuten, dass die Lernenden unterschiedliche kulturelle Perspektiven im Text koordinieren können und dabei auch Unterschiede herausarbeiten (D2a2). Der interkulturelle Verstehensprozess ist jedoch nicht nur auf das Einnehmen der Innen-, sondern auch auf das der Außenperspektive angewiesen, etwa wenn daran gezweifelt wird, „dass sich die Anderen richtig sehen“, und wenn „die Auffassungen der Anderen nicht“ (ebd.: XX) gebilligt oder übernommen werden können. Die Lernenden werden bei der Auseinandersetzung mit dem literarischen Text dazu aufgefordert, die eigene Position einzubringen und die des literarisch repräsentierten Anderen zu prüfen und gegebenenfalls zu kritisieren (vgl. Bredella 2002: 149; Bredella 2010b). Durch den kritischen Umgang mit den im Text enthaltenen Motiven, Einstellungen und Handlungen sowie den damit einhergehenden Normen und Werten der entsprechenden Gesellschaft bzw. Kultur werden Unterschiede zwischen der eigenen kulturellen Prägung und denen der Zielkultur aufgezeigt (Krumm 2003: 119). Von diesen Unterschieden ausgehend kann es zu einem dialogischen Einfühlen der Lernenden in das dargestellte Fremde kommen, das dem Nachvollziehen und Verstehen dient und somit einem Fremdverstehen den Weg bereitet (vgl. Bredella/ Christ 1995: 8). Das Fremde, das es zu verstehen gilt, setzt sich im Kontext des fremdsprachlichen Literaturunterrichts aus drei Teilen zusammen: Erstens der fremden Sprache, die zweitens Teil und Ausdrucksmittel einer fremden Kultur ist und drittens die in diese Bezugsgrößen eingebundenen Charaktere (vgl. ebd.: 11). Um ein Fremdverstehen zu ermöglichen, müssen sich Lerner zunächst in die fremde Sichtweise einfühlen, also die Innenperspektive der fremden Kultur annehmen und die Motive ihrer Mitglieder nachvollziehen (vgl. ebd.: 16). Auf die Innenperspektive folgt das <?page no="384"?> 384 Einnehmen der Außenperspektive, die es den Lernenden erlaubt, Erfahrenes vom eigenen Standpunkt aus zu betrachten und zu hinterfragen. Im Modell sind diese Fähigkeiten durch den D2b1 Deskriptor vertreten, mit dem Ereignisse in Unterrichtsgeschehen und Schülerprodukten gefasst werden können, die dadurch gekennzeichnet sind, dass die Lernenden kulturelle Gegebenheiten reflektierend betrachten, kritisch thematisieren und ihnen gegebenenfalls auch widerstehen. Konkretisiert wird das Einnehmen der Außenperspektive zudem durch Leistungen der Schülerinnen und Schüler, die erkennen lassen, dass in Unterrichtsgeschehen und retrospektiven Interviews Gemeinsamkeiten zwischen der eigenen und fremden Kultur erkannt werden (D2b2). Ebenfalls in den Interviews verankert zeigen sich Phänomene, in denen kulturelle Praxis durch eine explizite Thematisierung als vielfältig und heterogen anerkannt wird (D2b3). Das Wechselspiel von Innen- und Außenperspektive ermöglicht es den Lernenden langfristig, die im Text zu findenden Normen und Werte kritisch zurückzuweisen oder aber bislang fremde Standpunkte und Wertvorstellungen in den eigenen Wertekanon zu integrieren. Dadurch, dass sich Lernende auf die Innenperspektive einlassen, verändert sich die Außenperspektive automatisch, da diese um ein Mehr an Erfahrungen ergänzt wird, womit sich die Trennschärfe zwischen dem Eigenen und dem Fremden verringert. Die Auseinandersetzung mit dem Fremden schafft etwas Neues im Sinne eines „Dazwischen“; einen Ort der Begegnung zwischen zwei Kulturen (vgl. Kramsch 1995, zit. nach Bredella/ Christ 1995: 16), der der Entwicklung und Förderung eines interkulturellen Bewusstseins (cultural awareness) auf Seiten der Schüler dient (vgl. Nünning 1997: 5). Zu betonen ist jedoch, dass „Kulturen nicht monolithisch sind“ und Lernende daher mehrere Perspektiven einnehmen müssen, „um eine fremde Kultur zu verstehen“ (Bredella/ Meißner/ Nünning/ Rösler 2000: XX). Dies gilt in gleichen Maßen auch für die Perspektiven der eigenen Kultur, denn Kulturen sind nicht homogene, sondern heterogene Gebilde, die sich in Subkulturen ausdifferenzieren und „in denen es zu Auseinandersetzungen kommt“ (Bredella 2010a: 21). Die Lernenden nehmen somit nicht einzelne Perspektiven ein, sondern koordinieren eine Vielzahl unterschiedlicher Blickwinkel (vgl. Nünning 2000). Eine Besonderheit der interkulturellen Kompetenzen ist, dass sie nicht in allen Fallstudien in gleichem Maße wiederzufinden sind. Dies lässt sich vor allem auf die verwendeten Texte zurückführen, denn nicht alle Texte verhandeln explizit fremdkulturelle Aspekte. Nur dann, wenn die Auseinandersetzung bzw. das Verstehenwollen der Lernenden auf kulturell Befremdliches und Ungewöhnliches stößt, das zu Perspektivenwechsel und Perspektivenkoordination einlädt, und so ein Zusammenwirken von Innen- und Außenperspektive einleitet, sind Ereignisse in den Daten mit Codierungen interkultu- <?page no="385"?> 385 reller Kompetenzen zu versehen. Dies ist insgesamt in drei Fallstudien der Fall (G10 I; R10 I; E10 II). 8.2.5 Methodische Kompetenzen Methodische Kompetenzen bezeichnen die Fähigkeiten der Lernenden, auf die im Unterricht entstehenden Situationen mit problemlösenden Strategien zu reagieren. Methodische Kompetenzen sind in allen Fallstudien festzustellen und beziehen sich bei der Codierung fast ausschließlich auf den Datensatz der Unterrichtsbeobachtung (vereinzelt werden sie auch in den Interviews zur Sprache gebracht). Dass methodische Kompetenzen und die mit ihnen in Verbindung stehenden Kategorien als fester Bestandteil im Modell integriert sind, lässt sich u.a. auf folgende Überlegung zurückführen, die mit der Konzeptionierung und Dimensionierung der Bildungsstandards korrespondiert: „Der Unterricht in der ersten Fremdsprache entwickelt systematisch methodische Kompetenzen“ (KMK 2004a: 10); dies gilt dann auch für den fremdsprachlichen Literaturunterricht und zwar besonders im Hinblick auf die Aufgabenorientierung der Fallstudien. Um das spezifische Verhalten der Lernenden zu fassen, das in den konkreten Situationen aufscheint, werden Kategorien generiert, mit denen sich sowohl aufgabenorientierte Fertigkeiten als auch situationsgebundene Fähigkeiten (vgl. Groeben 2002: 13) - kontextualisiert im Unterrichtsgeschehen - abbilden lassen. Methodische Kompetenzen dienen gewissermaßen dazu, die im Unterricht entstehenden konkreten Situationen zu identifizieren und diese mit den Arbeitsschritten der aufgabenorientierten fremdsprachlichen rezeptionsästhetischen Literaturdidaktik in Einklang zu bringen. Damit geht einher, dass Indikatoren stets als implizite Ereignisse in den Daten auszumachen sind und im vorangegangenen Ordnungsprozess dem Funktionsbereich der unterrichtlichen Lenkung und damit den exogenen Faktoren zugeordnet wurden. Zwar zeigen methodische Kompetenzen konkrete Situationen an; diese sind aber wiederum erst dadurch zu konkretisieren, indem das in ihnen aufscheinende spezifische Verhalten eingebunden wird. Oder anders gesagt: Methodische Kompetenzen begleiten das durch die anderen Kompetenzbereiche zu beschreibende Wissen und Können der Lernenden im fremdsprachlichen Literaturunterricht, ermöglichen es dabei, Arbeitsschritte zu gruppieren und demnach zu beschreiben, in welchen Situationen welche Form von Auseinandersetzung vorzufinden ist. Sie spielen somit eine anders geartete Rolle als die übrigen Komponenten des Modells, nehmen eine spezifisch didaktische Funktion ein und sind als implizite Elemente des Modells so zu verstehen, <?page no="386"?> 386 dass sie als Grundlage für die Entfaltung von Kompetenzen fungieren, indem die Schülerinnen und Schüler auf die Unterrichtssituationen bzw. -phasen mit zielführenden Strategien und Taktiken reagieren. Eng mit der Zielsetzung der Gruppierung von Arbeitsschritten ist die Planbarkeit von Unterricht verbunden, da durch eine Korrelation von spezifischem Verhalten in konkreten Situationen Vorhersagen über potentiell zu erwartendes Unterrichtsgeschehen getroffen werden können (cf. 8.3). So gesehen übernehmen methodische Kompetenzen eine Funktion als Schnittstellen zwischen Unterrichtsplanung und Unterrichtsverlauf. Für das selektive Codieren der in den Daten enthaltenen Ordnung erweisen sich die Komponenten im Lesekompetenzmodell nach Burwitz-Melzer (2007a, b; cf. 4.2.2) als besonders produktiv. In Anlehnung an die Modellkomponenten können hier als Kategorien die Formen der Textbegegnungen, der Sinnkonstitution, der Textproduktion sowie der Aufführung und des Vortrags im Unterricht etabliert werden. Methodische Kompetenzen I C ODE K ATEGORIE E IGENSCHAFT / D ESKRIPTOR E1 Textbegegnung Die Schülerinnen und Schüler können… E1a1 Erwartungshaltung aufbauen  eine Erwartungshaltung gegenüber dem Text, seiner zentralen Konflikte und seiner Charaktere aufbauen. E1a2  anhand von Informationen über den Text (Titel, Charaktere, Konstellationen, ausgewählte Bilder/ Geräusche) Erwartungen an den Inhalt formulieren. SuS äußern Vermutungen über die Bedeutung des Titels. SuS formulieren anhand von Informationen über den Text Erwartungen an den Inhalt. E1b1 Erwartungshaltung erhalten  Hypothesen über den Inhalt, die Charaktere und den weiteren Verlauf des Textes bilden und in der Zielsprache formulieren. SuS formulieren Hypothesen über den weiteren Verlauf des Textes. E1b2  eine Erwartungshaltung im Verlauf des Leseprozesses aufrecht erhalten und die eigenen Hypothesen mit dem Gelesenen abgleichen. SuS gleichen die eigenen Hypothesen mit dem Gelesenem ab. Tabelle 136: Methodische Kompetenzen I <?page no="387"?> 387 Das Aufbauen einer Erwartungshaltung gegenüber dem Text als Teilaspekt der Kategorie Textbegegnung zielt auf die Fruchtbarmachung des wirkungsästhetischen Potenzials der literarischen Texte im Sinne eines einleitenden Schritts. Hierunter werden die Fähigkeiten der Lernenden gefasst, Überlegungen hinsichtlich des Themas und seiner Darstellung im Text anzustellen, dafür auf das eigene Weltwissen und die eigene Erfahrung zurückzugreifen sowie die Relevanz des Themas zu erkennen (vgl. Burwitz-Melzer 2007a: 140). Es sind somit die Konstruktionsleistungen der Lernenden, die im Unterrichtsgeschehen eingeleitet werden. Wird im Unterrichtsgeschehen eher allgemein und im Verlauf des Lektürebzw. Auseinandersetzungsprozesses eine Erwartungshaltung gegenüber Text, Konflikten und Charakteren aufgebaut, so kann der E1a1 Deskriptor als beschreibendes Element fungieren, der allerdings nicht mit einem Indikator versehen ist, hier also angeführt wird, weil im Zusammenhang mit den in den Daten zu beobachtenden Handlungen der Lernenden auf diese Globalform zu schließen ist. Differenzieren lässt sich der Aufbau der Erwartungshaltung mit dem E1a2 Deskriptor, der speziellere Situationen beschreibt, und zwar solche, die als Einstieg in die Unterrichtsarbeit zu werten sind. Hier werden Ereignisse mit den zugehörigen Indikatoren codiert, die darauf schließen lassen, dass die Lernenden, ausgehend von ausgewählten Informationen über den Text und bereits vor der eigentlichen Lektüre, eigene Erwartungen an den Text formulieren, in denen zwar hypothetische aber auf Erfahrungsbzw. Genre- und Gattungswissen beruhenden Konstruktionsleitungen aufscheinen. In der Erwartungshaltung der Lernenden gegenüber dem Text ist eine der vielen Wechselwirkungen der Modellkomponenten enthalten; genauer gesagt zwischen psycho-sozialen und reflexiven Kompetenzen, die besonders bei der Teilkomponente des Erhaltens zum Tragen kommt: Die Lernenden reagieren auf das im Text Dargestellte und werden im Unterrichtsgeschehen dazu angehalten, den weiteren Verlauf, die möglichen Wendungen sowie die Leerstellen zu imaginieren und diese Hypothesen in der Fremdsprache zu äußern. Verhalten, das auf solche Prozesse schließen lässt, wird in den Daten mit dem Indikator des E1b1 Deskriptors codiert. Zum Erhalten einer Erwartungshaltung ist ebenfalls zu zählen, dass die Lernenden „in der Rückschau möglichst selbstständig erkennen, ob ihre Hypothesen richtig oder eher falsch waren und weshalb dies so ist“ (ebd.). Ereignisse dieser Art zeigen sich in den Daten in Situationen, die entlang des E1b2 Deskriptors und dem entsprechenden Indikator zu fassen sind. <?page no="388"?> 388 Methodische Kompetenzen II C ODE K ATEGORIE E IGENSCHAFT / D ESKRIPTOR E2 Sinnkonstitution Die Schülerinnen und Schüler können… E2a1 Textinterpretatorisch orientiert  ein globales/ detailliertes Verständnis des Inhalts, der Charaktere und der verhandelten Konflikte aufbauen. E2a2  entsprechend der jeweiligen Aufgabenstellung das im Text Dargestellte interpretieren und dabei Bedeutungsebenen aufzeigen. SuS nehmen Stellung zu Textinhalten SuS äußern sich zum Textsinn. E2b1 Textanalytisch orientiert  Inhalt und Darstellungsweise mit einander in Bezug setzen. SuS setzen Inhalt und Darstellungsweise miteinander in Bezug. E2b2  Kommunikationsebenen identifizieren und die im Text dargestellten Veränderungen benennen. SuS identifizieren Kommunikationsebenen im Text. SuS benennen dargestellte Veränderung. E2c1 Eigenständiges Informieren  sich eigenständig über die zentralen Themen des Textes informieren. SuS informieren sich eigenständig über zentrale Themen des Textes. E2c2  Informationen über den Autor, literarische Motive und die Epoche recherchieren. SuS recherchieren Informationen (Autor, literarische Motive, Epoche). Tabelle 137: Methodische Kompetenzen II Richtet sich das Augenmerk der selektiven Aufmerksamkeit planvoll auf „ein globales und detailliertes Verständnis des Inhalts, der Charaktere und der zentralen Konflikte“ des Textes (Burwitz-Melzer 2007b: 45), so werden Fertigkeiten und Fähigkeiten der Lernenden angesprochen, die sich unter der Teilkomponente textinterpretatorisch orientierte Sinnkonstitution subsumieren lassen. Hier ergibt sich erneut eine direkte Verbindung zu Fähigkeiten der Lernenden aus dem Bereich der psycho-sozialen Kompetenzen, indem - affektiv mobilisiert - ihr Empathievermögen und ihre ästhetische Lesehaltung gefordert werden. Zwar ist diese allgemeine Form der Auseinandersetzung, die sich entlang einer auf Sinnkonstitution zielenden Textarbeit entwickelt, in <?page no="389"?> 389 denen ein Verständnis des Inhalts, der Charaktere und der Konflikte im Vordergrund steht (E2a1), nicht direkt an den Daten festzumachen, lässt sich aber als Projektion ableiten, da sie als Grundform der damit in Verbindung stehenden Teilleistungen gewertet werden kann. Spezieller zeigt sich hingegen der E2a2 Deskriptor, der durch solche Phänomene konkretisiert werden kann, die darauf schließen lassen, dass die aktive Teilhabe am Sinnstiftungsprozess (cf. 6.3.2) dahingehend realisiert wird, dass die Schülerinnen und Schüler das Dargestellte interpretieren und über die Textoberfläche hinausgehende Bedeutungsebenen, in schriftlicher oder mündlicher Form, erarbeiten. Indikatoren, die zu diesem Deskriptor gehören, machen deskriptiv zugänglich, dass beispielsweise Stellung zu Textinhalten genommen oder aber der Textsinn von den Lernenden thematisiert wird. Von einer textanalytisch orientierten Sinnkonstitution ist dann zu sprechen, wenn „rhetorische und gattungsspezifische Merkmale und deren Funktionen in einem fremdsprachigen literarischen Text selbstständig“ erkannt und benannt werden (Burwitz-Melzer 2007b: 45), die im Zusammenhang mit der Kategorie literarisches Wissen und deren Teilkomponenten zu sehen sind (cf. 8.2.3); und zwar in dem Sinne, dass spezifisches Verhalten durch konkrete Situationen hervorgerufen wird. Mit dem E2b1 Deskriptor können dann Ereignisse codiert werden, in denen explizit Inhalt und Darstellungsweise des Textes miteinander in Bezug gesetzt werden und die sich entlang des entsprechenden Indikators in den Daten konkretisieren. Geht es im Unterrichtsgeschehen als Situation darum, Kommunikationsebenen zu identifizieren und Veränderungen im Text zu benennen, so lässt sich dies mit dem E2b2 Deskriptor fassen, der auf Ereignisse im Datensatz Unterrichtsgeschehen verweist. Ebenfalls relevant für Teilleistungen der Sinnkonstitution zeigt sich das eigenständige Informieren der Lernenden, das in Verbindung mit interkulturellen Kompetenzen (cf. 8.2.4) beispielsweise darauf zielen kann, „spezielle fremdkulturelle Informationen, die im Text gegeben werden, selbständig und in der Fremdsprache“ zu recherchieren (Burwitz-Melzer 2007b: 45). In den Daten zeigen sich dafür relevante Ereignisse lediglich in zwei Fallstudien (E2c1). Zurückzuführen ist dieser Umstand erneut auf die Unterrichtsplanung, da lediglich in den Gruppen G10 I und II Lernende mit Rechercheaufgaben betraut wurden. Zum eigenständigen Informieren gehört auch, „Informationen über das literarische Werk selbst, seinen Autor, seinen Inhalt sowie seine Interpretationen“ einzuholen (ebd.). Dazu zählt dann auch, die Ergebnisse der Recherche mit den anderen Lernenden zu teilen, zu ergänzen, zu verhandeln und zu situieren. Lediglich in einer Fallstudie (G10 II) wurde der Unterricht so gestaltet, dass sich mit dem E2c2 Deskriptor zu beschreibendes Verhalten in den Daten wiederfinden lässt. <?page no="390"?> 390 Methodische Kompetenzen III C ODE K ATEGORIE E IGENSCHAFT / D ESKRIPTOR E3 Schreibhandeln Die Schülerinnen und Schüler können… E3a1 Text als Anlass  den literarischen Text und dessen Themen für die eigene Textproduktion als Anlass nehmen und eigenständig erweitern. SuS nehmen den Text als Anlass für die eigene Textproduktion. E3a2  durch kreative Verfahren den Textsinn um subjektivierende Einsichtnahme erweitern und ergänzen SuS erweitern den Textsinn durch kreative Verfahren. E3b1 Text als Modell  die Struktur/ Form des Ausgangstextes als Modell für die eigene Produktion nutzen. SuS nutzen die Struktur/ Form des Ausgangstextes für die eigene Textproduktion. Tabelle 138: Methodische Kompetenzen III Der Text als Anlass für Schreibhandlungen im Unterricht bezieht sich als Teilkomponente auf Situationen, in denen die Lernenden als Textproduzenten tätig werden. Das im Text Dargestellte wird zum Schreibanlass genommen, dabei durch eigenes Hinzufügen erweitert, ergänzt und/ oder vertieft, wobei die Lernenden bei der Umsetzung der Schreibaufgaben „evtl. auch fremdkulturelle Inhalte oder Struktur- und Gattungsmerkmale“ beachten müssen (Burwitz-Melzer 2007a: 145). Der Ausgangspunkt liegt demnach beim Originaltext; er dient als Impulsgeber für die eigenen kreativen Leistungen der Lernenden (vgl. Nünning/ Surkamp 2006; Brusch/ Caspari 1998). Die Schülertexte werden im Unterricht vorgestellt und in der Fremdsprache gewürdigt. Beide Deskriptoren sind aus einer Umformulierung der entsprechenden Indikatoren hervorgegangen, wobei ersterer Situationen in Unterrichtsgeschehen und Schülerprodukten fasst, in denen die literarisch verhandelten Themen eigenständig erweitert werden (E3a1), beispielsweise beim Weiterschreiben der Texte oder beim Entwerfen von möglichen Enden. Erfahren zentrale Passagen des Textes durch kreative Verfahren eine Erweiterung des Textsinns, indem die SuS gezielt Dargestelltes interpretieren bzw. Leerstellen im Text ausgestalten oder aber Motive für Handlungen und Entscheidungen imaginieren, so lässt sich dies dem E3a2 Deskriptor zuordnen. Fungiert hingegen der Text als Modell, so sind damit Situationen zu fassen, „in denen Texte nach einer Vorlage erstellt werden“ (Burwitz-Melzer 2007b: <?page no="391"?> 391 40). Der Text samt seiner Bauformen dient als Ansatzpunkt und steht im produktiven Fokus: „Seine Besonderheiten, sein kreatives Potential soll mit Hilfe kreativer Verfahren erkannt und nachvollzogen werden“ (Caspari 1995: 242). Dadurch, dass die Lernenden den Ausgangstext als Modell für die eigene Textproduktion nutzen, „wird eine Art spielerische, implizite Textanalyse in Gang gesetzt, bei der auch literaturwissenschaftliches Wissen genutzt werden kann“ (ebd.). Dass der zugehörige E3b1 Deskriptor im Vergleich zu den Deskriptoren der Kategorie Text als Anlass durch weitaus weniger Vorkommnisse in den Datensätzen konkretisiert werden kann, lässt sich erneut auf die Unterrichtsplanung zurückführen: Der Text dient in zwei Einheiten als Modell für Schreibanlässe (R10 I, H9 II). In beiden Fällen handelt es sich bei dem Text um ein Gedicht, und hier sind es besonders die Bauformen, die Modellcharakter für die Textproduktion einnehmen. Beiden Kategorien ist gemein, dass sie die wichtige Rolle der Textproduktion bei der Auseinandersetzung mit dem Gelesenen betonen. Somit ist es die Schriftlichkeit im fremdsprachlichen Literaturunterricht, die „einen viel größeren Stellenwert erlangt“ (Burwitz-Melzer 2007a: 153) und nicht nur dem Fixieren von Informationen oder zur Vorbereitung einer Präsentation dient, sondern als Mittel der Sinnkonstitution fungiert. Methodische Kompetenzen IV C ODE K ATEGORIE E IGENSCHAFT / D ESKRIPTOR E4 Aufführung und Vortrag Die Schülerinnen und Schüler können… E4a1 Präsentation des Texts  die im Text transportierte Stimmung erkennen und ausgestalten und darstellend lesen oder umsetzten. SuS setzen die im Text transportierte Stimmung darstellend lesend um. E4a2 Präsentation der eigenen performativen  eigene performative Produkte in der Zielsprache präsentieren. SuS präsentieren eigene performative Produkte. E4a3 Produkte  Aspekte des Textes performativ umsetzten. SuS setzen Aspekte des Textes performativ um. Tabelle 139: Methodische Kompetenzen IV Ebenfalls zu den Produktionsformen gehörig zeigt sich die aus den Daten abstrahierte Kategorie der Aufführung und des Vortrags. Mit der Teilkomponente Präsentation des Texts sind jene Situationen zu fassen, innerhalb derer die Lernenden den Text vorlesen, vorsprechen oder darstellen. In die Darstellung fließen ebenfalls Interpretationsleistungen mit ein, da es das im Text Enthaltene zu inszenieren gilt, was eigene Einsichtnahmen erfordert und be- <?page no="392"?> 392 fördert. Entlang des E4a1 Deskriptors können Situationen im Unterrichtsgeschehen gefasst werden, die darauf schließen lassen, dass es den Lernenden gelingt, die im Text enthaltene Stimmung zu erkennen und entsprechend umzusetzen. Ausgehend von der Kategorie Präsentation der eigenen performativen Produkte verschiebt sich der Akzent vom Ausgangstext auf die eigenständig erarbeiteten Schülerprodukte. Mit dem E4a2 Deskriptor sind Situationen verbunden, in denen die Lernenden eigene performative Produkte in der Zielsprache präsentieren. Phänomene zeigen sich auch hier bedingt durch die Unterrichtsplanung nur in drei der Fallstudien, da nur dort Arbeitsanweisungen so formuliert werden, dass die Lernenden Dialoge zwischen den Charakteren selbst verfassen und im Unterricht präsentierten. Einen weiteren Schritt in Richtung Performativität - vom Lernertext zur Lernerinszenierung - repräsentiert der E4a3 Deskriptor, der für Ereignisse steht, die erkennen lassen, dass die Schülerinnen und Schüler Aspekte des Textes und damit der eigenen Sinnkonstitution performativ umsetzten. Allen Deskriptoren ist gemein, dass sie sich durch die Umformulierung von Indikatoren zu Kann- Beschreibungen wandeln lassen. <?page no="393"?> 393 8.2.6 Übersicht der Kompetenzbereiche in der Sekundarstufe I Kommunikative Kompetenzen C ODE K ATEGORIE E IGENSCHAFT / D ESKRIPTOR A1 Sprachvermögen Die Schülerinnen und Schüler können… A1a1 Wortschatz  unbekannte Wörter aus dem literarischen Kontext erschließen. A1a2  Lücken im Wortverständnis zulassen, indem sie selbst einschätzen, inwieweit das nicht verstandene Wort für den Leseprozess relevant ist. A1a3  unbekannte Wörter selbstständig in Wörterbüchern nachschlagen und semantisieren. A1b1 Reparaturstrategien  ungewohnte neue Abstrakta und Konkreta zielsprachlich umschreiben bzw. nach Hilfestellungen fragen. A1b2  wenn nötig sprachmittelnd auf mutterbzw. zweitsprachliches Handeln zurückgreifen. A1c1 Grammatik  räumliche, zeitliche und logische Strukturen eigenständig erkennen und für den Verstehensprozess nutzbar machen. A1c2  Vor-, Nach- und Gleichzeitigkeit von literarischen Handlungen und Ereignissen erkennen und richtig einordnen. A1c3  sprachliche Strukturen mit literarischen (narrativen, dramatischen, poetischen) Funktionen verbinden. A2 Leseverstehen A2a1 hierarchienieder  das Wortmaterial des Textes visuell und phonologisch rekodieren. A2a2  Teiloperationen wie das Erkennen von Wort- und Satzbedeutung automatisiert bewältigen. A2a3  Elemente einer Ebene zu Sinneinheiten und -abschnitten verknüpfen, um so den Lesefluss im Gedächtnis zu repräsentieren. A2a4  anaphorische und Kataphorische Beziehungen innerhalb des Textes selbstständig herstellen und erkennen. A2b1 hierarchiehöher  den Inhalt des literarischen Textes erfassen und als mentale Repräsentation für sich zugänglich machen. A2b2  Lesemodi orientierend und selektiv anwenden, indem sie sowohl den globalen Textinhalt wie auch Details zielgerichtet erfassen (bspw. für einen Arbeitsauftrag). <?page no="394"?> 394 A3 Textproduktion A3a1 Sprechen  über Textinhalte und Leseeindrücke in der Zielsprache sprechen. A3a2  auf die Beiträge anderer eingehen und die fremdsprachliche Kommunikation aufrecht erhalten. A3a3  ein vorbereitetes Referat in der Zielsprache umsetzten und fremdsprachliche Texte (eigene Produkte oder Teile des Ausgangstexts) vorlesen. A3b1 Schreiben  kreative Aufgabenstellungen zielsprachlich umsetzten (produkt-, persönlichkeits- und prozessorientiert). A3b2  Aufgabenstellungen in der Zielsprache schriftlich bearbeiten. Tabelle 140: Kommunikative Kompetenzen Psycho-soziale Kompetenzen C ODE K ATEGORIE E IGENSCHAFT / D ESKRIPTOR B1 Psycho-soziale Fähigkeiten Die Schülerinnen und Schüler können… B1a1 Empathievermögen  sich in die Charaktere hineinversetzen und so den eigenen Erfahrungshorizont erweitern. B1a2  Handlungen, Motive sowie Einstellungen und Gefühle der Charaktere nachvollziehen und erklärend-deutend kommentieren. B1a3  die zentralen Konflikte des Textes erkennen und erklärend-deutend kommentieren. B1b1 Affektive Mobilisatoren  die beim Lesen als affektiver Respons entstehenden eigenen Gefühle für den literarischen Verstehensprozess nutzen. B1b2  sowohl die individuellen als auch die unterrichtlich verbindlichen Ziele, Zwecke und Absichten des Lesens für die literarische Sinnbildung urbar machen. B2 Ästhetische Fähigkeiten B2a1 Ästhetisches Lesen  aktiv am Prozess der Sinnstiftung teilnehmen, indem sie sich vom Text leiten lassen, jedoch in der Deutung Freiheit vom Text erlangen. B2a2  Leerstellen des literarischen Textes durch den Bezug unterschiedlicher Textelemente eigenständig und im Austausch untereinander füllen und differenzieren. <?page no="395"?> 395 B2a3  die Perspektiven der einzelnen Charaktere koordinieren. B2a4  Subjektivität und Diversität als für die Sinnstiftung zentral begreifen. B2a5  ästhetische Erfahrung als Mittel zur Erlangung neuer Einsichten erkennen und für sich nutzen. B2a6  literarische Texte als inszenierte und perspektivierte Sinnentwürfe wahrnehmen. Tabelle 141: Psycho-soziale Kompetenzen Reflexive Kompetenzen C ODE K ATEGORIE E IGENSCHAFT / D ESKRIPTOR C1 Weltwissen Die Schülerinnen und Schüler können… C1a1 Textdeixis  den fiktionalen Wirklichkeitsentwurf interpretierend auf die außerliterarische Realität beziehen. C1a2  Leerstellen und Deutungsspielräume des literarischen Textes durch Bezugnahme auf Vorkenntnisse und Vorerfahrungen ausgestalten. C1a3  zentrale Konflikte erkennen und diese hermeneutischinterpretativ mit Gegebenheiten des eigenen Lebensumfelds in Bezug setzten. C1b1 Wissensdeixis  den fiktionalen/ fiktiven Gesetzmäßigkeiten des literarischen Textes durch eigene Wirklichkeitserfahrungen widerstehen. C1b2  Handlungen, Motive sowie Einstellungen und Gefühle der Charaktere auf Basis eigener Wertvorstellungen zurückweisen und kritisch reflektierend widersprechen. C1b3  im Text geltende Normen und Werte kritisch reflektieren und auf Basis eigener Wertvorstellungen zurückweisen. C2 Sprachwissen C2a1 Sprachbewusstheit  metaphorischen Sprachgebrauch und wörtliche Bedeutung erkennen und voneinander unterscheiden. C2a2  Konnotationen und sprachliche Unbestimmtheiten erfassen und für den Verstehensprozess nutzen. C2b1 Metasprachliche Fähigkeiten  sprachliche Aspekte für die Sinnstiftung analysierend betrachten. C2b2  die Selbstreferentialität literarischer Sprache erkennen und analysierend benennen. <?page no="396"?> 396 C3 Literarisches Wissen C3a1 Gattungswissen und Genreschemata  Gattungen und die geläufigsten Genre voneinander unterscheiden und deren Eigenheiten für die Sinnstiftung urbar machen. C3a2  Produktionsaspekte reflektierend betrachten: storylines, den Plot, den Handlungsort, die Darstellung und die Spannungsbögen des literarischen Textes erkennen und darüber in einen reflektierten Austausch untereinander treten. C3a3  Charaktere und deren Konstellation im literarischen Text erkennen und charakterisieren und dabei die Erzählhaltung und die Erzählperspektive berücksichtigen. C3b1 Symbolisches Wissen  die Stimmung des Textes für die Sinnstiftung nutzen. C3b2  mit sprachlicher Ambiguität, Formen der Symbolik, der Andeutung und Mehrdeutigkeit und der Verfremdung umgehen. Tabelle 142: Reflexive Kompetenzen Interkulturelle Kompetenzen C ODE K ATEGORIE E IGENSCHAFT / D ESKRIPTOR D1 Soziokulturelles Wissen Die Schülerinnen und Schüler können… D1a1 Umgang mit  fremdkulturelle Konzepte im Text identifizieren und benennen. D1a2 fremdkulturellen Konzepten  sich auf unbekannte Konzepte einlassen und versuchen, diese gemeinschaftlich und durch im Text enthaltene Hinweise auszugestalten. D1a3  fremdkulturelle Werte, Normen und Konflikte erkennen und benennen. D2 Fremdverstehen D2a1 Einnehmen der Innenperspektive  sich auf die fremde Sichtweise einlassen und die kulturellen Begebenheiten als eigenständig anerkennen. D2a2  unterschiedliche kulturelle Perspektiven koordinieren und Unterschiede herausarbeiten. D2b1 Einnehmen der Außenperspektive  kulturelle Gegebenheiten aus der Außenperspektive reflektierend betrachten und ihnen gegebenenfalls wi- <?page no="397"?> 397 derstehen. D2b2  gemeinschaftlich versuchen, Gemeinsamkeiten zwischen der eigenen und der fremden Kultur zu erkennen. D2b3  Kulturen und kulturelle Praxis als vielfältig und heterogen anerkennen. Tabelle 143: Interkulturelle Kompetenzen Methodische Kompetenzen C ODE K ATEGORIE E IGENSCHAFT / D ESKRIPTOR E1 Textbegegnung Die Schülerinnen und Schüler können… E1a1 Erwartungshaltung aufbauen  eine Erwartungshaltung gegenüber dem Text, seiner zentralen Konflikte und seiner Charaktere aufbauen. E1a2  anhand von Informationen über den Text (Titel, Charaktere, Konstellationen, ausgewählte Bilder/ Geräusche) Erwartungen an den Inhalt formulieren. E1b1 Erwartungshaltung erhalten  Hypothesen über den Inhalt, die Charaktere und den weiteren Verlauf des Textes bilden und in der Zielsprache formulieren. E1b2  eine Erwartungshaltung im Verlauf des Leseprozesses aufrecht erhalten und die eigenen Hypothesen mit dem Gelesenen abgleichen. E2 Sinnkonstitution E2a1 Textinterpretatorisch orientiert  ein globales/ detailliertes Verständnis des Inhalts, der Charaktere und der verhandelten Konflikte aufbauen. E2a2  entsprechend der jeweiligen Aufgabenstellung das im Text Dargestellte interpretieren und dabei Bedeutungsebenen aufzeigen. E2b1 Textanalytisch orientiert  Inhalt und Darstellungsweise mit einander in Bezug setzen. E2b2  Kommunikationsebenen identifizieren und die im Text dargestellten Veränderungen benennen. E2c1 Eigenständiges  sich eigenständig über die zentralen Themen des Textes informieren. E2c2 Informieren  Informationen über den Autor, literarische Motive und die Epoche recherchieren. E3 Schreibhandeln E3a1 Text als Anlass  den literarischen Text und dessen Themen für die eigene Textproduktion als Anlass nehmen und eigenständig <?page no="398"?> 398 erweitern. E3a2  durch kreative Verfahren den Textsinn um subjektivierende Einsichtnahme erweitern und ergänzen E3b1 Text als Modell  die Struktur/ Form des Ausgangstextes als Modell für die eigene Produktion nutzen. E4 Aufführung und Vortrag E4a1 Präsentation des Texts  die im Text transportierte Stimmung erkennen und ausgestalten und darstellend lesen oder umsetzten. E4a2 Präsentation der eigenen performativen Produkte  eigene performative Produkte in der Zielsprache präsentieren. E4a3  Aspekte des Textes performativ umsetzten. Tabelle 144: Methodische Kompetenzen <?page no="399"?> 399 8.3. Prototypische Situationen: Zur Interaktion der Kompetenzbereiche Bereits innerhalb der Auseinandersetzung mit den Theorien und Modellen kommunikativer Kompetenz (cf. 2.) wurde angemerkt, dass die Interaktion der Kompetenzbereiche gerade dann problematisch zu handhaben und für den Verwendenden zu rekonstruieren ist, wenn es eine Vielzahl von Modellkomponenten zu koordinieren gilt, die spezifisches Verhalten als Prozessebenen aufschlüsseln. Auch das hier generierte Modell ist davon nicht ausgenommen. Zentral ist also, Muster zu beschreiben, in denen die Interaktion der Modellkomponenten enthalten ist. Sie sind für die hier verfolgten Zwecke als Abstraktionen empirischer Muster zu verstehen, die aus dem Umgang mit den Daten hervorgegangen sind und im Sinne einer Typenbildung (cf. 5.3) Merkmalsräume darstellen, die einen gewissen Typus der Auseinandersetzung im Unterricht beschreiben und dadurch die in den Fallstudien auszumachenden verstehenden Teilleistungen der Schülerinnen und Schüler entlang der Textarbeit im Unterricht bündeln. Es handelt sich dabei um Merkmalsräume, die der Datenlage entstammen. Sie beschränken sich somit ausschließlich auf Situationen im Unterricht der Sekundarstufe I. In der Sekundarstufe II können sich bedingt durch die Verwendung komplexerer Texte (Gattungsvielfalt, Themenbereiche, Erzählstrukturen, Umfang, sprachliche Komplexität) auch komplexere Handlungen zeigen. In diesem Zusammenhang von prototypischen Situationen zu sprechen, zielt darauf, ein heuristisches Hilfsmittel bereitzustellen, mit dem Unterricht und somit potentielles Verhalten in konkreten Situationen einer methodischdidaktischen Planung zugänglich gemacht werden kann. Sie sind als literaturdidaktische Schwerpunkte bei der Textarbeit zu sehen, zwischen denen es notwendigerweise zu Überschneidungen kommt. Als Begrifflichkeiten werden die für alle Fallstudien bei der gemeinsamen Unterrichtsplanung relevanten Angelpunkte der literarischen Auseinandersetzung genutzt (vgl. Bredella 2003: 48-51): a) Die Motive der Handelnden im literarischen Text, b) der zeitlich-kausale Zusammenhang von Handlungen, c) der kulturelle Kontext der Handlungen, d) die dabei durchscheinenden Normen, Wertvorstellungen und ethischen Fragen, e) die Perspektiven von Erzähler und Handelnden <?page no="400"?> 400 f) sowie die Darstellung des Außergewöhnlichen in Geschichten, mitsamt den daraus resultierenden Normverletzungen und dem Umgang mit diesen. Sie hier im Weiteren vorzustellen, lässt sich auch dahingehend begründen, dass zwar anzuerkennen ist, dass eine Form der Konkretisierung bzw. Veranschaulichung der Interaktion von Kompetenzen nicht nur sinnvoll, sondern eigentlich unerlässlich ist - besonders dann, wenn ein Strukturmodell auch unterrichtspraktischen Zwecken genügen soll -, die Form aber, die dafür in den Bildungsstandards gewählt wird, nämlich in Aufgabenbeispielen einen Standardbezug zu erstellen, für die hier vertretene Position nicht zuträglich ist. Beispielaufgaben können es nicht leisten, den Gegenstand der Auseinandersetzung über das Maß der konkreten Aufgabenstellung hinaus zu illustrieren. Vor allem dann nicht, wenn nicht nur isolierte Fertigkeiten und Fähigkeiten im Vordergrund stehen sollen, sondern die Interaktion der Bestandteile; denn allzu leicht wird das Was der Auseinandersetzung gegen das methodische Wie der Aufgabenstellung ausgespielt. Die hier verfolgte Absicht lässt sich gewissermaßen als abschließender Ordnungsprozess verstehen. Es gilt die aus den empirischen Mustern der komparativen Analyse gewonnenen Erkenntnisse über die Interaktion der Modellkomponenten so zu ordnen, dass sie an planbaren Situationen festgemacht werden können. Im Vordergrund stehen vor allem die Situationen als Ergebnis dieses implizit vorgenommenen Ordnungsprozesses, nicht jedoch die Typenbildung als solches. Schon allein deshalb, weil auf unnötige Wiederholungen verzichtet werden soll, sind diese als Gemeinsamkeiten aus der komparativen Analyse hervorgegangenen empirischen Muster doch bereits im Sinne der Minimierung von Differenz ausführlich und anhand der Datenlage beschrieben worden (cf. 7.1, 7.2). Was dabei stets mitschwingt, und daher an dieser Stelle besonders hervorgehoben werden soll, betrifft die Charakteristik der prototypischen Situationen. Es handelt sich keineswegs um Reinformen. Vielmehr sind sie als Mischformen zu sehen, deren Übergänge fließend sind und die sich teilweise sogar gegenseitig bedingen, d.h. die entlang der prototypischen Situationen vorgenommenen Ordnungsprozesse beschreiben allein zu heuristischen Zwecken mögliche Interaktionen der Modellkomponenten für eine prototypische Situation. Möglich ist in diesem Zusammenhang ein grundlegender Begriff, denn die tatsächliche Gestaltung der konkreten Situation im Unterricht ist nicht vorhersehbar, ist sie doch abhängig von der didaktischmethodischen Lenkungslinie der Lehrkraft und der Fähigkeit und Bereitschaft der Lernenden, Wissen und Können im Unterricht anzuwenden. Zu betonen ist daher, dass darauf gezielt wird, Zusammenhänge anzudeuten und zu strukturieren. Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann damit nicht ein- <?page no="401"?> 401 hergehen. Hinzukommt, dass ganz grundlegende Entscheidungen für die Unterrichtssituation getroffen werden müssen. Und zwar betreffen diese die Art der Textbegegnung im Unterricht. Die zentrale Frage lautet, wie gelesen werden soll. Denkbar sind mehrere Möglichkeiten, von denen hier einige, die so auch in den Fallstudien Verwendung gefunden haben, exemplarisch vorgestellt werden sollen (vgl. Brusch/ Caspari 1998: 173 f.): Wie soll gelesen werden?  Titel/ Charaktere/ Konstellationen/ Bilder werden isoliert präsentiert (Spekulation über Inhalt),  Leseaufträge werden erteilt (selektives Lesen vs. orientierendem Lesen): Original vs. Fälschung, Textpuzzle, Gruppenlesen (Fokus: Charaktere, Setting, zentrale Konflikte, Erzähler, Darstellung).  Textteile erspielen/ erlesen,  absatzweises Lesen (Hypothesen über den weiteren Verlauf bilden). Ausgehend von diesen Entscheidungen, gilt es zu berücksichtigen, welche Situationen geplant werden sollen und welches spezifische Verhalten sich diesen zuordnen lässt. Dabei geht eine Besonderheit mit den Entscheidungen der Lehrkraft einher, die hier einleitend erwähnt werden soll und die mit den prototypischen Situationen zusammenhängt. Es handelt sich dabei um Deskriptoren methodischer Kompetenzen, die vor allem die Kategorien Schreibhandeln und Aufführung und Vortrag betreffen. Da diese zwar auch als problemlösende Strategien der Lernenden zu verstehen sind, aber gewissermaßen als weitere Charakteristik auch unterrichtsmethodische Aspekte enthalten, die eng mit den gewählten Handlungs- und Kommunikationsanlässen verbunden sind, sind sie in besonderem Maße abhängig von den didaktischmethodischen Entscheidungen, die die Situation im Unterricht einleiten. Oder anders gesagt: Da sie potentiell in jeder der prototypischen Situationen enthalten oder nicht enthalten sein können - je nach Akzent innerhalb der konkreten Situation - werden sie hier, statt bei jeder der prototypischen Situationen gesondert erwähnt zu werden, gebündelt dargestellt. Die Auseinandersetzung mit dem Gelesenen in einem schreibhandelnden Sinne wird vom kommunikativen Modus bestimmt. Im schriftlichen Bereich dann eben insofern, als der Text als Anlass oder als Modell für die Schreibhandlungen der Lernenden genutzt werden kann. Im mündlichen Bereich kann wiederum die im Text transportierte Stimmung darstellend lesend umgesetzt werden, oder aber eigene performative Produkte werden präsentiert bzw. Aspekte des Textes werden von den Lernenden performativ umgesetzt. Schreibhandlungen wie Aufführung und Vortrag können sich dabei in der Auseinandersetzung <?page no="402"?> 402 mit Motiven der Handelnden, mit dem zeitlich-kausalen Zusammenhang von Handlungen, mit dem kulturellen Kontext von Handlungen, mit Normen, Wertvorstellungen und ethischen Fragen, mit den Perspektiven von Erzähler und Handelnden, mit dem Außergewöhnlichen in Geschichten sowie mit den Normverletzungen und dem Umgang mit diesen als produktiv im Unterricht erweisen. Die erste prototypische Situation, die es hier vorzustellen gilt, lässt sich als Auseinandersetzung mit den (a) Motiven der literarisch Handelnden beschreiben. Um sich diesen im Unterricht zu nähern, muss zunächst einmal der kommunikative Modus berücksichtigt werden, der maßgeblich Einfluss auf die sich zeigenden produktiven Fertigkeiten der Lernenden ausübt. Die damit anzubahnenden textproduktiven Kompetenzen können entsprechend der Aufgabenstellung im Unterricht sowohl schriftliche als auch mündliche Leistungen umfassen, sodass die Lernenden entweder über Textinhalte und Leseeindrücke in der Fremdsprache sprechen oder kreative Aufgabenstellungen zielsprachlich umsetzen. Implizit enthalten, da als kommunikativer Schlüssel zum Austausch zu verstehen, sind darin auch Leistungen der Lernenden, die sich der Kategorie Grammatik und vor allem dem hierarchieniederen Leseverstehen zuordnen lassen und gewissermaßen als Vorstufen zu verstehen sind, ohne die die produktiven Leistungen nicht möglich wären. Im Bereich der psycho-sozialen Kompetenzen ist es vor allem die Bereitschaft und Fähigkeit der Lernenden, Motive der Charaktere nachzuvollziehen und erklärend-deutend zu kommentieren, die in dieser Situation ausschlaggebend ist und die Verstehensleistung kennzeichnet. Je nach Gewichtung bzw. entsprechend der sich entwickelnden Situation ist zudem die Fähigkeit gefragt, zentrale Konflikte im Text zu erkennen und auf die Motivlage der Handelnden zu beziehen. Reflexive Kompetenzen sind in der Situation insofern relevant, als zunächst einmal - im Sinne einer Voraussetzung der wertenden Auseinandersetzung - der zentrale Konflikt interpretierend durchdrungen werden muss, um dann zu ermöglichen, dass die Lernenden den präsentierten Handlungen, Motiven sowie Einstellungen und Gefühlen der Charaktere kritisch reflektierend widersprechen. Generell gilt für interkulturelle Kompetenzen, dass diese in ihrer Entfaltung abhängig vom jeweiligen Text sind. Ermöglicht der Text eine interkulturell ausgerichtete Fragehaltung, so lebt die Auseinandersetzung mit den Motiven der Handelnden in diesem Bereich vor allem dadurch, dass die Schülerinnen und Schüler unterschiedliche kulturelle Perspektiven und damit auch Handlungsmotive nicht nur identifizieren, sondern auch gewichten und koordinieren müssen. Methodische Kompetenzen lassen sich entlang der Textbegegnung und der Sinnkonstitution beschreiben. Für erstere sind problemlösende Handlungen der Lernenden denkbar, die sich dahingehend entfalten, dass Hypothesen über den Inhalt, die Charaktere <?page no="403"?> 403 und den weiteren Verlauf des Textes gebildet werden und dass - je nach Ausrichtung - eine Erwartungshaltung aufgebaut oder erhalten wird, indem im Verlauf des Leseprozesses die eigenen Hypothesen mit dem Gelesenen abgeglichen werden. Bezogen auf die Sinnkonstitution kann durch die Situation Verhalten evoziert werden, das darauf zielt, ein globales/ detailliertes Verständnis der Charaktere und verhandelten Konflikte aufzubauen oder das im Text Dargestellte entlang der Aufgabenstellung, in diesem Fall bezogen auf die Motive der Handelnden, zu interpretieren. Entwickelt sich die Auseinandersetzung im Unterricht entlang des (b) zeitlichen und kausalen Zusammenhangs von Handlungen, so ist auch hier der kommunikative Modus zentral. Es gilt sowohl Vor-, Nach- und Gleichzeitigkeit literarischer Handlungen zu erkennen und einzuordnen als auch logische Strukturen eigenständig zu erkennen und für die Sinnstiftung zu nutzen und diese Erkenntnis sodann schriftlich oder mündlich zu kommunizieren. Im Bereich der psycho-sozialen Kompetenzen sind Fähigkeiten der Lernenden gefragt, die zentralen Konflikte im Text zu erkennen und erklärenddeutend zu kommentieren, Handlungen und deren Folgen nachzuvollziehen und im Sinne einer ästhetischen Lesehaltung Leerstellen des literarischen Textes durch den Bezug unterschiedlicher Textelemente eigenständig und im Austausch untereinander zu füllen, zu differenzieren und die mit den Handlungen einhergehenden Perspektiven der einzelnen Charaktere zu koordinieren. Mit Handlungen und Leerstellen in Zusammenhang stehen auch Aspekte der reflexiven Kompetenzen, können sich doch Leistungen der Lernenden zeigen, die sich dahingehend konkretisieren, dass sie Leerstellen und Deutungsspielräume des literarischen Textes durch Bezugnahme auf Vorkenntnisse und Vorerfahrungen ausgestalten und Produktionsaspekte reflektierend betrachten, indem sie beispielsweise die Spannungsbögen des literarischen Textes erkennen und darüber in einen reflektierten Austausch untereinander treten. Interkulturelle Kompetenzen kommen vor allem dadurch ins Spiel - so der Text es hergibt -, indem sich die Lernenden auf ein Fremdverstehen einlassen, dabei die im Text präsentierten Gegebenheiten als eigenständig anerkennen und diese aber auch aus der Außenperspektive reflektierend betrachten. Neben den bereits oben erwähnten Bestandteilen methodischer Kompetenzen begünstigt diese Situation vor allem Leistungen, in denen die Lernenden Inhalt und Darstellungsweise miteinander in einen zeitlichkausalen Bezug setzen oder im Text dargestellt Veränderungen benennen. Setzt die unterrichtliche Auseinandersetzung am (c) kulturellen Kontext von Handlungen an, so sind es eben besonders interkulturelle Kompetenzen, die eine Rolle spielen, indem beispielsweise fremdkulturelle Konzepte aber auch Werte, Normen und Konflikte erkannt und benannt werden, indem die Lernenden es leisten neben der bereits oben erwähnten Koordinierung unter- <?page no="404"?> 404 schiedlicher kultureller Perspektiven und dem Wechsel zwischen Innen- und Außenperspektive auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der eigenen und der fremden Kultur zu erkennen sowie Kulturen und kulturelle Praxis als vielfältig und heterogen anzuerkennen. Auch hier ist der kommunikative Modus im Unterrichtsgeschehen zentral, binden doch schriftliche oder mündliche Leistungen andere Komponenten innerhalb der Situation. Als grundlegende Prozessebene ist dabei das hierarchiehöhere Leseverstehen zu werten, müssen die Lernenden doch für die Auseinandersetzung den literarischen Text erfasst haben und als mentale Repräsentation für sich zugänglich machen. Psycho-soziale Kompetenzen können sich in einer solchen Situation derart zeigen, dass die Lernenden neben der Kommentierung zentraler Konflikte und der interpretierenden aktiven Teilnahme am Prozess der Sinnstiftung bezogen auf den kulturellen Kontext von Handlungen eben auch literarische Texte als inszenierte und perspektivierte Sinnentwürfe wahrnehmen. Leistungen, die mit reflexiven Kompetenzen in Verbindung stehen, sind in einer solchen Situation entlang der Fähigkeit der Lernenden vorstellbar, den fiktionalen Wirklichkeitsentwurf auf eine außerliterarische Realität zu beziehen und die im Text und daher im kulturellen Kontext verorteten Normen und Werte kritisch zu reflektieren und gegebenenfalls auf Basis eigenen Wertvorstellungen zurückzuweisen. Neben der Erwartungshaltung, die sich hier ganz ähnlich zu den vorangegangenen Situationen mit Bestandteilen methodischer Kompetenzen beschreiben lässt, ist es vor allem die Sinnkonstitution, die im Geschehen durch die Auseinandersetzung zu begünstigen wäre, und zwar insofern, als die Lernenden sich eigenständig über zentrale Themen des Textes informieren und sozio-kulturell relevante Informationen recherchieren. Gerade die Beschäftigung mit (d) Normen, Wertvorstellungen und ethischen Fragen kann als eine weitere prototypische Situation gelten. Entscheidend ist erneut der kommunikative Modus, denn er bestimmt, ob über Textinhalte gesprochen wird, oder ob kreative Aufgabenstellungen in der Zielsprache umgesetzt werden. Teilleistungen psycho-sozialer Kompetenzen lassen sich vor allem dahingehend beschreiben, dass sich die Situation dafür eignet, Fähigkeiten hervorzurufen, die dafür genutzt werden, die zentralen Konflikte des Textes zu erkennen und erklärend-deutend zu kommentieren, die in den Perspektiven der Charaktere enthaltenen Wertvorstellungen zu hinterfragen und in der gemeinschaftlichen Auseinandersetzung, die sich auch auf Leerstellen beziehen kann, zu erfahren, dass Subjektivität und Diversität für die Sinnstiftung in der Unterrichtssituation einen hohen Stellenwert einnehmen. Reflexive Kompetenzen können sich insofern entfalten, als die Lernenden zentrale Konflikte erkennen und hermeneutisch-interpretativ mit Gegebenheiten des eigenen Lebensumfelds in Bezug setzen, dabei den fiktionalen/ fiktiven Gesetzmäßigkeiten des literarischen Textes durch eigene Wirk- <?page no="405"?> 405 lichkeitserfahrungen widerstehen und Handlungen, Motive sowie Einstellungen und Gefühle der Charaktere zurückweisen und kritisch-reflektierend widersprechen. Interkulturelle Kompetenzen wirken sodann mit hinein, wenn die Lernenden Normen, Wertvorstellungen und ethische Fragen auf die präsentierte fremde Sichtweise beziehen und unterschiedliche kulturelle Perspektiven koordinieren. Auch hier sind es Aspekte methodischer Kompetenzen, die mit dieser Situation einhergehen und sich auf die Textbegegnung (Hypothesen über den weiteren Verlauf bilden; Hypothesen mit dem Gelesenen abgleichen) oder die Sinnkonstitution (globales/ detailliertes Verständnis; Dargestelltes interpretieren) beziehen lassen. Stehen die (e) Perspektiven von Erzähler und Handelnden im Vordergrund der prototypischen Situation, so sind die Lernenden im Bereich der kommunikativen Kompetenzen, neben dem Richtung weisenden kommunikativen Modus, gefordert, sprachliche Strukturen mit literarischen Funktionen zu verbinden, unterschiedliche Lesemodi anzuwenden und dies schriftlich wie mündlich zu kommunizieren. Neben den bereits für die anderen Situationen zentralen Fähigkeiten psycho-sozialer Kompetenz sind hier vor allem Leistungen zu erwarten, die sich dahingehend konkretisieren, dass die Lernenden literarische Texte als inszenierte und perspektivierte Sinnentwürfe wahrnehmen, die das Spiel der Perspektiven für die Inszenierung und damit das ästhetische Wirkpotential nutzen. Entlang der reflexiven Kompetenzen sind es besonders dem Sprachwissen und dem literarischen Wissen zuzuordnende Teilleistungen, die sich entfalten können, indem Lernende metaphorischen Sprachgebrauch und wörtliche Bedeutung erkennen und voneinander unterscheiden, Konnotationen und sprachliche Unbestimmtheiten erfassen und für den Verstehensprozess nutzen, Gattungen und die geläufigsten Genre voneinander unterscheiden und deren Eigenheiten für die Sinnstiftung urbar machen, Charaktere und deren Konstellation im literarischen Text erkennen und charakterisieren und dabei die Erzählhaltung und die Erzählperspektive berücksichtigen. Interkulturelle Kompetenzen können sich vor allem entlang der unterschiedlichen kulturellen Perspektiven entwickeln, die im Text angelegt sind und die es von den Lernenden zu koordinieren gilt. Methodische Kompetenzen, die in der Auseinandersetzung aufscheinen können, beziehen sich vor allem darauf, dass Kommunikationsebenen im Text identifiziert werden und die im Text dargestellte Veränderung erkannt wird. Rechercheleistungen könnten sich dahingehend zeigen, dass die Lernenden eigenständig Informationen über den Autor, literarische Motive und die Epoche recherchieren. Die Auseinandersetzung mit dem (f) Außergewöhnlichen in Geschichten, mit den Normverletzungen und dem Umgang mit diesen als Situation zu fassen, erfordert von den Lernenden kommunikative Fertigkeiten wie das <?page no="406"?> 406 Anwenden unterschiedlicher Lesemodi und ebenso das schriftliche und mündliche Kommunizieren. Psycho-soziale Kompetenzen können sich neben der nachvollziehenden Auseinandersetzung mit Handlungen, Motiven sowie Einstellungen und Gefühlen der Charaktere auch dahingehend entfalten, dass die Schülerinnen und Schüler ästhetische Erfahrung als Mittel zur Erlangung neuer Einsichten erkennen und für sich nutzen. Ein Bestandteil reflexiver Kompetenzen, der in dieser Situation zum Tragen kommen kann und sich von den vorangegangenen unterscheidet, ist die Fähigkeit, die im Text transportierte Stimmung, die mit dem Außergewöhnlichen in Verbindung steht, für die Sinnstiftung zu nutzen. Bestandteile methodischer Kompetenzen sind sodann auch auf die Sinnkonstitution der Schülerinnen und Schüler zu beziehen, können hier doch problemlösende Strategien so eingesetzt werden, dass ein detailliertes Verständnis des Inhalts, der Charaktere und der verhandelten Konflikte befördert wird oder das im Text Dargestellte entsprechend der Aufgabenstellung interpretiert wird. <?page no="407"?> 407 Motive der Handelnden Kommunikative Kompetenzen Leseverstehen  Lesemodi orientierend und selektiv anwenden, indem sie sowohl den globalen Textinhalt wie auch Details zielgerichtet erfassen (bspw. für einen Arbeitsauftrag). Textproduktion (kommunikativer Modus)  Über Textinhalte und Leseeindrücke in der Zielsprache sprechen. (mündlich)  Kreative Aufgabenstellungen zielsprachlich umsetzten. (schriftlich)  Aufgabenstellungen in der Zielsprache schriftlich bearbeiten. (schriftlich) Psycho-soziale Kompetenzen Psycho-soziale Fähigkeiten  Sich in die Charaktere hineinversetzen und so den eigenen Erfahrungshorizont erweitern.  Handlungen, Motive sowie Einstellungen und Gefühle der Charaktere nachvollziehen und erklärend-deutend kommentieren.  Die zentralen Konflikte des Textes erkennen und erklärend-deutend kommentieren. Ästhetische Fähigkeiten  Aktiv am Prozess der Sinnstiftung teilnehmen, indem sie sich vom Text leiten lassen, jedoch in der Deutung Freiheit vom Text erlangen.  Die Perspektiven der einzelnen Charaktere koordinieren. Reflexive Kompetenzen Weltwissen  Zentrale Konflikte erkennen und diese hermeneutisch-interpretativ mit Gegebenheiten des eigenen Lebensumfelds in Bezug setzten.  Handlungen, Motive sowie Einstellungen und Gefühle der Charaktere auf Basis eigener Wertvorstellungen zurückweisen und diesen kritisch reflektierend widersprechen. Literarisches Wissen  Charaktere und deren Konstellation im literarischen Text erkennen und charakterisieren und dabei die Erzählhaltung und die Erzählperspektive berücksichtigen. Interkulturelle Kompetenzen Sozio-kulturelles Wissen  Fremdkulturelle Werte, Normen und Konflikte erkennen und benennen. Fremdverstehen  Sich auf die fremde Sichtweise einlassen und die kulturellen Begebenheiten als eigenständig anerkennen.  Unterschiedliche kulturelle Perspektiven koordinieren und Unterschiede herausarbeiten.  Kulturelle Gegebenheiten aus der Außenperspektive reflektierend betrachten und ihnen gegebenenfalls widerstehen. <?page no="408"?> 408 Methodische Kompetenzen Textbegegnung  Hypothesen über den Inhalt, die Charaktere und den weiteren Verlauf des Textes bilden und in der Zielsprache formulieren.  Eine Erwartungshaltung im Verlauf des Leseprozesses aufrecht erhalten und die eigenen Hypothesen mit dem Gelesenen abgleichen Sinnkonstitution  Ein globales/ detailliertes Verständnis des Inhalts, der Charaktere und der verhandelten Konflikte aufbauen.  Entsprechend der jeweiligen Aufgabenstellung das im Text Dargestellte interpretieren und dabei Bedeutungsebenen aufzeigen. Tabelle 145: Motive der Handelnden Zeitlicher und kausaler Zusammenhang von Handlungen Kommunikative Kompetenzen Sprachvermögen  Räumliche, zeitliche und logische Strukturen eigenständig erkennen und für den Verstehensprozess nutzbar machen.  Vor-, Nach- und Gleichzeitigkeit von literarischen Handlungen und Ereignissen erkennen und richtig einordnen. Leseverstehen  Lesemodi orientierend und selektiv anwenden, indem sie sowohl den globalen Textinhalt wie auch Details zielgerichtet erfassen (bspw. für einen Arbeitsauftrag). Textproduktion (kommunikativer Modus)  Über Textinhalte und Leseeindrücke in der Zielsprache sprechen. (mündlich)  Kreative Aufgabenstellungen zielsprachlich umsetzten. (schriftlich)  Aufgabenstellungen in der Zielsprache schriftlich bearbeiten. (schriftlich) Psycho-soziale Kompetenzen Psycho-soziale Fähigkeiten  Handlungen, Motive sowie Einstellungen und Gefühle der Charaktere nachvollziehen und erklärend-deutend kommentieren. Ästhetische Fähigkeiten  Leerstellen des literarischen Textes durch den Bezug unterschiedlicher Textelemente eigenständig und im Austausch untereinander füllen und differenzieren.  Die Perspektiven der einzelnen Charaktere koordinieren. Reflexive Kompetenzen Weltwissen  Leerstellen und Deutungsspielräume des literarischen Textes durch Bezugnahme auf Vorkenntnisse und Vorerfahrungen ausgestalten. <?page no="409"?> 409  Handlungen, Motive sowie Einstellungen und Gefühle der Charaktere auf Basis eigener Wertvorstellungen zurückweisen und diesen kritisch reflektierend widersprechen. Literarisches Wissen  Produktionsaspekte reflektierend betrachten: storylines, den Plot, die Darstellung und die Spannungsbögen des literarischen Textes erkennen und darüber in einen reflektierten Austausch untereinander treten. Interkulturelle Kompetenzen Sozio-kulturelles Wissen  Fremdkulturelle Werte, Normen und Konflikte erkennen und benennen. Fremdverstehen  Sich auf die fremde Sichtweise einlassen und die kult